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German Pages 298 Year 2019
Sandra Markewitz (Hg.) Grammatische Subjektivität
Edition Moderne Postmoderne
Sandra Markewitz (Dr. phil.) ist Habilitandin an der Universität Vechta und lehrt dort Philosophie. Ihre Arbeitsschwerpunkte sind Wittgenstein, Sprachphilosophie, Philosophie der Sprache im Vormärz, Ethik und Ästhetik, Kulturphilosophie.
Sandra Markewitz (Hg.)
Grammatische Subjektivität Wittgenstein und die moderne Kultur
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Inhalt
Vorwort | 7 Einleitung: Grammatische Subjektivität
Sandra Markewitz | 9 Das grammatische Subjekt. Konstitutionsformen von Subjektivität in der Moderne
Sandra Markewitz | 23 Subjekt und Regelbefolgung in der ethischen Handlung oder Hat der späte Wittgenstein eine Ethik gehabt?
Katalin Neumer | 61 Sichtbarmachung von Ethik, Ästhetik und Religion durch grammatische Subjektivität
Ilse Somavilla | 97 Über Anscombes grammatische Untersuchung: „Ich“ ist kein Bezug nehmender Ausdruck
Jens Kertscher | 125 Grammatik des Wissens
Mariele Nientied | 147 „Geometrische Überzeugungskraft“ – Wittgensteins Konzeption performativer Bildevidenz
Ulrich Richtmeyer | 173 The Ethics and Politics of Grammatical Subjectivity
Chantal Bax | 199 Lebensform, degenerierte Hyperbeln und das Gemeinte – PU 19
Anja Weiberg | 221
Grammatische Fiktionen. Close Reading PU 307
Sandra Markewitz | 237 Wittgenstein über die logische Struktur der Farbe
Elena Tatievskaya | 253 Das Ich bei Descartes und Wittgenstein: Subjektivität im Tractatus
Elena Tatievskaya | 275 Siglenverzeichnis der Werke Wittgensteins | 291 Autorinnen und Autoren | 293
Vorwort Die Grammatik gibt der Sprache den nötigen Freiheitsgrad. (MS 107, 282, 3.2.1930)
Dieser Band beleuchtet einen Aspekt der Frage nach der Grammatik in Wittgensteins Werk, der mit der Beschreibung von Subjektivität zu tun hat. Es ist eine Entzauberungsanordnung, die das Wort „ich“ als bezugnehmenden Ausdruck kritisch befragt, aber auch den Drang der Subjekte kennt, sich nur in jene Freiheitsformen zu fügen, von denen sie den Eindruck haben, sie selbst hervorgebracht zu haben. Die Beschreibung der Grammatikkategorie ist ein Schlüssel zu Wittgensteins Werk, dessen Anwendung – als Konstituente des nötigen Freiheitsgrades der Sprache – nicht ausgedacht ist. Den Beiträgerinnen und Beiträgern des Bandes sei herzlich gedankt. Ilse Somavilla danke ich für ihr Verständnis in allen Wittgenstein-Belangen und darüber hinaus; anregend war die Atmosphäre am Wittgenstein-Archiv in Bergen, wo Alois Pichler und Wilhelm Krüger, wie auch Kirsten Bang, eine wunderbare Zeit ermöglichten. Dank für die Förderung durch Erasmus+. Jean-Christophe Merle danke ich besonders für hilfreichen Rat. Mariele Nientied danke ich für das sorgfältige Korrekturlesen. Dem transcriptVerlag danke ich für die Aufnahme des Bandes in sein Programm. Sandra Markewitz, im Oktober 2018
Einleitung: Grammatische Subjektivität S ANDRA M ARKEWITZ
Wittgensteins Werk hat viele Deutungen erfahren, die auf Einzelaspekte rekurrieren und diese im Gesamtwerk verorten; mit Akzent auf Früh-, Spätwerk, middle period oder auch der Infragestellung solcher Einteilungen überhaupt waren Deutungen gegeben, die die vielbeschworene Flut der Wittgenstein-Literatur vermehrten und aus dem Beklagen ihres Anwachsens einen eigenen Topos machten. Die Frage nach der Legitimität einer neuen Arbeit, eines neuen Aspekts im Konzert der Stimmen lässt sich mit Rekurs auf einen Satz Wittgensteins selbst beantworten: „Ich suche nun nach dem grammatischen Unterschied.“1 Die Suche nach Unterschieden kommt nicht an ein Ende; neue entstehen aus den alten Fragen, sinngenerativ ergänzen sich Fragen, Antworten, Einwände, erneute Antworten im Erkenntnisspiel. Die Suche nach dem grammatischen Unterschied kann – neben der Bedeutung des eben zitierten Satzes innerhalb eines argumentativen Kontexts – darin gesehen werden, dass er nicht nur eine partikulare, sondern eine grundsätzliche Bewegung im Muster von Wittgensteins Denkbewegung beschreibt. Die Suche nach dem grammatischen Unterschied ist – vor allem in den Philosophischen Untersuchungen, aber auch auf einer allgemeinen programmatischen Ebene – der Grundbass einer sprachkritischen Philosophie und eines Philosophierens, das als Tun, als Tätigkeit den ausgedeuteten Wegen scholastischer Sinnfixierung abgeschworen hat. Unterschiede zeugen sich fort, bedingen sich, knüpfen aneinander an, bilden eine Sicht auf sprachliche Phänomene, die panoramatisch darstellt, was durch Orientierung an Phänomenen, die in einer Sinnfixierung belassen würden,
1
Ludwig Wittgenstein, Letzte Schriften über die Philosophie der Psychologie (19491951), Das Innere und das Äußere, Frankfurt am Main 1993, S. 17 (zugl. PU II viii, S. 507d; LS I, 395).
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nicht sichtbar werden würde. Interessant ist der epistemologische Status des Unterschieds und der Unterschiede bei Wittgenstein: Sie lenken ab von unreflektiertem Identitätsdenken (wie noch sichtbar in der in Sozialitäten semantisch prägenden Gewohnheit, Ordnung als Entsprechung aufzufassen2) und zwingen dazu, Annahmen zu machen, zu überdenken, wiederholt zu reformulieren etc. Das ist zum einen der gewöhnliche Argumentationsgang, aber es ist auch ein zeitgeschichtliches Emblem, das besagt, wie mit Wissen umgegangen wird und umzugehen sei nach der Erfahrung einer „Kultur ohne Zentrum“3, einer Zerstreuung von Sinn, einem Andrängen postmoderner Kategorien in der Betrachtung wissenschaftlicher Fragen. Nach der Erfahrung der Katastrophe des 20. Jahrhunderts, in der das Wort angesichts des Barbarischen bestehen blieb, haben Wörter nicht mehr die Unschuld, die noch von adamitischer Benennung herrührte – sie sind säkular, angreifbar, verhandelbar, gültig nur temporär (und dieser Befund wird geäußert wie ein Unvermeidliches). Wenn die Kategorie der Grammatik etwas ist, das lebensbestimmend ist wie argumentativ verpflichtend, ist es auch ihre anthropologische Bewandtnis: Grammatik ist etwas Hinzunehmendes wie unsere Lebensformen4 und es ist u. a. dieser uns prägende hinnehmende Gestus, der die Suche nach dem grammatischen Unterschied über eine Finesse im theoretischen Denkspiel hinaushebt. Im Zuge der Abkehr von großen Fragen, manchmal „Scheinproblemen“, manchmal Überresten aus einer Zeit, als Denker ebenso autoritativ auftraten, wie sie hoffen konnten, einschlägige Filiationsreihen zu begründen, im Zuge dieser Abkehr entwickelte sich langsam ein Erkennen: Das sogenannte Ich, den Urheber einer Idee oder philosophischen Überlegung nicht mehr zentral zu setzen. Damit
2
Vgl. Werner Maihofer, Vom Sinn menschlicher Ordnung, Frankfurt am Main 1956.
3
Vgl. Richard Rorty, Eine Kultur ohne Zentrum. Vier philosophische Essays, aus dem Englischen übersetzt von Joachim Schulte, Stuttgart 1993.
4
Vgl. Ludwig Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen, Werkausgabe, Band 1, Frankfurt am Main 1984, S. 226/S. 572, und Joachim Schulte, Die Hinnahme von Sprachspielen und Lebensformen, in: Wilhelm Lütterfelds/Andreas Roser (Hgg.), Der Konflikt der Lebensformen in Wittgensteins Philosophie der Sprache, Frankfurt am Main 1999, S. 156-170. Die hier zitierte weitere Stelle aus dem sogenannten zweiten Teil der Untersuchungen (Abschnitt xi): „Es ist für uns die ungeheure Gefahr: feine Unterschiede machen zu wollen […]“ soll uns im Zusammenhang des bisher Gesagten nicht beunruhigen – die Suche nach dem grammatischen Unterschied und seiner nicht zuletzt methodischen Bewandtnis heißt nicht, sich in unerhörter Verfeinerungsabsicht in Differenzierungen zu verlieren, d. h. Ebenen von Erklärungen im Dienste einer überzogenen Vorstellung von Exaktheit zu vermischen, wo es auf die Hinnahme dessen ankommt, was ist (ohne dabei auf den „Mythos des Gegebenen“ (Sellars) hereinzufallen).
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ist zum einen etwas über die Entstehung von Wissen und eine autoritative Vorstellung des leitenden Überlieferungszusammenhangs hermeneutischer Provenienz gesagt; zum anderen darüber, dass das Subjekt sowohl auf der theoretisierenden (das Subjekt als Wissensproduzent) als auch auf der praktischen Ebene, die für theoretische Gedanken gerade in Wittgensteins Spätwerk einzustehen hat, ganz anders in den Blick kommt, wenn die Hinnahme dessen, was ist, sich von einer Option zu einer Lebensgrundlage wandelt und philosophisch bedeutsam wird. „Unsere Betrachtung ist daher eine grammatische“5, sagt Wittgenstein in PU 90; das Wort „daher“ schließt dabei argumentativ an die Einsicht an, dass Wittgensteins Untersuchung sich nicht auf das Durchschauen von Erscheinungen richtet, sondern auf die „Möglichkeiten der Erscheinungen“6, d. h. nicht auf ein ontologisch eingrenzbares Reservoir von Untersuchungsgegenständen, kantisch getönt, sondern auf „die Art der Aussagen, die wir über die Erscheinungen machen.“7 Damit ist, initial in der Rede über Grammatik und Subjekt, ein Wechsel benannt: Von der modalen Beschreibung einer Wirklichkeit führt kein Weg zurück zu ihrer scheinbar nicht anzweifelbaren ruhenden Faktizität. Der Ausdruck „Art der Aussagen“ ist dabei offen gehalten, Anschlussstellen bietend für kontextrelative Äußerungen aus ganz unterschiedlichen theoretischen Richtungen. Bevor diese theoretischen Richtungen näher bestimmt oder eingegrenzt sind, ist es wichtig, alle Aussagen potenziell zuzulassen, damit das philosophische Gespräch zu dynamisieren und, speziell in PU 90, die analytische Methode als geeignet für das Thema der Grammatik anzuzeigen, die nicht verordnet wird als sei sie ohne Alternative, sondern ein Vorschlag bleibt, für den es gute Gründe gibt: „Unsere Betrachtung ist daher eine grammatische. Und diese Betrachtung bringt Licht in unser Problem, indem sie Mißverständnisse wegräumt. Mißverständnisse, die den Gebrauch von Worten betreffen; hervorgerufen, u. a. durch gewisse Analogien zwischen den Ausdrucksformen in verschiedenen Gebieten unserer Sprache. Manche von ihnen lassen sich beseitigen, indem man eine Ausdrucksform durch eine andere ersetzt; dies kann man ein ‚Analysieren‘ unserer Ausdrucksformen nennen, denn der Vorgang hat manchmal Ähnlichkeit mit einem Zerlegen.“8
Die Bezeichnung „unserer Betrachtung“ als grammatisch leitet in PU 90 zur Plausibilisierung der analytischen Methode hin. Hierin sieht man, dass – auch in der
5
Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen, a. a. O., PU 90, S. 292.
6
Ebd.
7
Ebd.
8
Ebd.
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Verwendung des Wortes „unsere“ – die Kategorie der Grammatik bei Wittgenstein sowohl innerhalb konkreter Argumentationsgänge als auch grundsätzlich methodologisch wichtig ist: Ihre Rolle ist zentral für die philosophische Untersuchung, gerade weil Wittgenstein von „Grammatik“ in einem umfassenden Sinne spricht, nicht nur in der Unterscheidung von Syntax und Semantik, sondern im Sinne einer Schlüsselkategorie.9 Grammatik ist etwas, „das sich aufdrängen will“, wie es in PU 304 im Kontext der Diskussion des Schmerzbenehmens heißt;10 sie ist kategorial nicht zu umgehen, nur zu verpassen. Wir können sie, in einer Weise, die über schulgrammatische syntaktische Standards und Regelfolgekompetenz mit Normativitätsimplikation hinausgeht, nicht übersehen. Grammatik ist in dieser frühen Zeit eine Quelle des Misstrauens. Das initiierende „distrust of grammar is the first requisite of philosophizing“11 der Notes on Logic setzt den Ton, der in Grammatik zunächst etwas sieht, das produktiv mit Vorsicht anzuschauen ist, das darauf hinweist, dass mit der Sprache, wie wir sie kennen und die wir gewohnt sind, nicht alles in der Ordnung ist. Wer der Grammatik nicht glaubt, glaubt dem nicht, was er in eingrenzbaren Situationen gelernt hat; diese sind notwendigen Instituierungen in eine gegebene Sozialität vergleichbar und werden zunächst nicht kritisch befragt. Wie der
9
Dies hebt sehr gut Marie McGinn in ihrem Überblick über die Rolle der Grammatik in den Philosophischen Untersuchungen hervor; vgl. Marie McGinn, Grammar in the Philosophical Investigations, in: Oskari Kuusela, Marie McGinn (eds.), The Oxford Handbook of Wittgenstein, Oxford 2011, S. 646-666; weitere Hinweise u. a. in: Newton Garver, Philosophy as Grammar, in: Hans Sluga, David Stern (eds.), The Cambridge Companion to Wittgenstein, Cambridge 1996, S. 139-170; Hans-Johann Glock, A Wittgenstein Dictionary, Oxford 1996, „Grammar“, S. 150-155; Cressida J. Heyes (ed.), The Grammar of Politics. Wittgenstein and Political Philosophy, Ithaca/London 2003; Michael N. Forster, Wittgenstein on the Arbitrariness of Grammar, Princeton 2004; Antonia Soulez, Wittgenstein et le Tournant grammatical, Paris 2004; Hans Julius Schneider, Wittgenstein und die Grammatik, in: Hans Julius Schneider, Matthias Kroß (Hgg.), Mit Sprache spielen. Die Ordnungen und das Offene nach Wittgenstein, Berlin 1999, S. 11-30; Gordon Baker, Wittgenstein’s Method: Neglected Aspects, Oxford 2006; Mauro Luiz Engelmann, Wittgenstein’s Philosophical Development, Phenomenology, Grammar, Method and the Anthropological View, Basingstoke 2013.
10 PU 304, S. 376. 11 Vgl. Ludwig Wittgenstein, Notes on Logic, in: Ludwig Wittgenstein, Notebooks 191416, ed. G.E.M. Anscombe and G.H. von Wright, tr. G.E.M. Anscombe, Oxford 1979, S. 93-107, S. 106.
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Knabe – mit Varro, Rousseau und v. Hentig12 – zunächst in die Gesellschaft eingeführt werden muss (über ein Stufenprogramm, dessen Mechanizität angesichts des organischen Werdens auf das Problem der vorgestellten Invarianz der Entwicklung hinweist), gibt Grammatik deshalb Anlass zu Misstrauen im philosophischen Kontext, weil die Art, wie wir mit ihr bekannt werden, uns unfertig antrifft. Bildung ist mehr als Schulbildung, Grammatik nicht, wie Garver richtig bemerkt, „the stodgiest and dullest of school subjects“13, sondern eine zweistufig zu denkende Initiation in soziale Gepflogenheiten und Handlungsfelder, die nach dem unkritischen Aufnehmen, das in der schulgrammatischen Form einen Wert hat, ihre Weiterentwicklung und Ausdehnung als kritisches Werkzeug philosophischer Untersuchung kennt. Bei Wittgenstein lässt sich dies an der Unterscheidung von Oberflächen- und Tiefengrammatik in PU 664 ablesen: Tiefengrammatik hat ein weiteres Operationsfeld, bezieht sich nicht nur darauf, „was man mit dem Ohr erfassen“14 kann, und gibt Aufschluss über Verbindungen sprachlicher Ausdrucksformen untereinander. Die Redeweise „mit dem Ohr erfassen“ verneint hier ein absehbares Verständnis des Offensichtlichen – die Implikation ist, dass Sprache reicher ist als ihre lautliche Anmutung, neben dem Oberflächenklang etwas Differenzierteres, das andere Sinne zum Erfassen braucht. Wenn das „Ohr“ für das offensichtliche Verständnis steht, eines, dem man sich nicht entziehen kann, es sei denn, man würde das Ohr und den Hörsinn willentlich unschädlich machen, braucht die Erkenntnis tiefengrammatischer Verbindungen andere Wege. Welche könnten dies sein? Zunächst ist Tiefengrammatik in PU 664 so beschrieben: „Und nun vergleiche die Tiefengrammatik des Wortes ,meinen‘ etwa, mit dem, was seine Oberflächengrammatik uns würde vermuten lassen. Kein Wunder, wenn man es schwer findet, sich auszukennen.“15 Der Begriff der Tiefengrammatik wird nicht direkt eingeführt, sondern über einen Vergleich mit der bereits näher erläuterten Oberflächengrammatik und dem Beispiel des Meinens. Dies ist kein Zufall, sondern entspricht der Rolle der Tiefengrammatik in Wittgensteins Werk: Die Rede von der Grammatik beginnt dem Gestus nach mit einem Vergleich, dessen Teil die Tiefengrammatik werden kann, weil uns die Oberflächengrammatik vertraut ist. Mit Hans-Julius Schneider geht es darum, Oberflächen- und Tiefengrammatik zu sehen – beide sind nicht plump dichotom gegeneinander zu stellen, sondern bezeichnen, wenn man ihre Genese in menschlichen Lernvorgängen bedenkt, unterschiedliche Lernschritte. Daneben kann man sagen, dass der Begriff der
12 Vgl. Hartmut v. Hentig, Bildung, Weinheim und Basel 2004, S. 143 ff. 13 Garver, Philosophy as Grammar, a. a. O., S. 139. 14 Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen, a. a. O., S. 478 f. 15 Ebd.
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Grammatik in den Philosophischen Untersuchungen ein gesättigter Begriff ist, d. h. einer, der, obwohl PU 664 spät in den Untersuchungen vorkommt, aufgeladen ist mit Bedeutungen, die an unterschiedlichen Orten der Diskussion ihre Facetten erhalten. Es geht daher nicht darum, den Begriff der Grammatik oder des Grammatischen auf eine einfache Formel zu bringen, sondern zu sehen, dass er sich nicht erschöpft, wenn man auf Stellen in Wittgensteins Werk verweist, an denen er sich findet. Vielmehr ist „Grammatik“ eine konstitutive, kohäsiv wirksame Kategorie, die eine philosophische Denkbewegung zeichnet, die mit bestimmten älteren Konzepten (Wesen, Substanz, „Ich“ als bezugnehmendem Ausdruck,16 dem Wahrheitsverständnis des aristotelischen to tien einai17) bricht, um die Entwicklungen der Moderne auf eine Weise wiederzugeben, die nicht nur einem, sondern mehreren Denkansätzen gerecht wird, indem sie diese wie eine Familienähnlichkeit verbindet. Grammatik als Familienähnlichkeit aufzufassen, also ein Schlüsselkonzept Wittgensteins auf ein anderes anzuwenden, hat noch eine weitere Wirkung: Es zeigt, dass Philosophie, wissenschaftsgeschichtlich, im 20. Jahrhundert eine Sache der Bezogenheiten wird, nicht der Setzungen. Sie wird relational in ihrem Umgang mit Gegnern, die zu Verbündeten werden können (Neurowissenschaft u. a.18) und zeigt dies bei Wittgenstein innerwerklich. Die Schlüsselbegriffe erläutern einander, ihre Reichweite wird innerhalb der verwendeten Begriffe von diesen nicht begrenzt, sondern ihre Aussagekraft potenziert. Grammatik, die Anlass zu Misstrauen gab, ist als Konzept verwendbar, allerdings als eines mit unscharfen Grenzen (wobei eine Erkenntnis von PU 71 war, auf die Eigenschaft von Konzepten, verschwommene Ränder zu haben, überhaupt hinzuweisen: dies sei es, was wir brauchten). Im Bereich der produktiven Unschärfe ist die Grammatikkategorie situiert. Es sind viele Stellen aufzählbar (man schaue auf den Index der Philosophischen Untersuchungen); jede hat eine eigene Konnotation, einen eigenen Schwerpunkt. Unterschieden werden können die permissiven und die begrenzenden Verwendungsweisen: Letztere sind zu finden, wo vor Grammatik gewarnt wird, distrust empfohlen wird, um den Fallen der Sprache zu entgehen, die Verwendungsweisen mit permissivem Charakter scheinen Wittgensteins Gesamtintention eher zu treffen. Wie im Big Typescript gesagt wird, sei
16 Vgl. den Beitrag von Jens Kertscher in diesem Band. 17 Aristoteles, Metaphysik. Schriften zur Ersten Philosophie, übersetzt und hrsg. von Franz F. Schwarz, Stuttgart 1984, 983a 25, 988a 30, 993a 15 u. a. 18 Vgl. nur Dieter Sturma (Hg.), Philosophie und Neurowissenschaften, Frankfurt am Main 2006; Gerhard Roth, Aus Sicht des Gehirns, Frankfurt am Main 2003; Edmund Runggaldier, Was sind Handlungen? Eine philosophische Auseinandersetzung mit dem Naturalismus, Stuttgart 1996.
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die Grammatik „keiner Wirklichkeit Rechenschaft schuldig“.19 Diese Bemerkung ist indes nicht als Aussage über einen ontologischen Status der Grammatikkategorie zu sehen, sondern verbindet Grammatik mit dem Begriff der Verantwortung: „Die grammatischen Regeln bestimmen erst die Bedeutung (konstituieren sie) und sind darum keiner Bedeutung verantwortlich und insofern willkürlich.“20 Nicht, weil Grammatik wirklichkeitsfern wäre, ist sie aus einem Verpflichtungszusammenhang entlassen, sondern, weil sie als willkürliche Größe keiner Bedeutung verpflichtet ist, die vor ihr da wäre und die Verwendungsweise eines Wortes oder Ausdrucks bestimmen würde. Dieser Aspekt einer Geltung der Grammatik durch Selbstkonstitution ist zum einen die Einsicht in die Kontingenz nicht nur der Benennungen, der Wörter, mit denen wir etwas bezeichnen, sondern auch der Art, wie diese Wörter strukturell zueinander in Beziehung gesetzt werden. Zum anderen geht die Ablehnung einer Rechenschaft der Grammatik der Wirklichkeit gegenüber, deren Sprachverwendung sie ordnet, mit der Einsicht in die unabweisbare Gegenwart der jeweils gegebenen Sprache einher: „Eine Sprache ist, was sie ist, und eine andere Sprache ist nicht diese Sprache.“21 Dies ist nicht trivial oder tautologisch, sondern ein Schlüssel zu einem Begriff von Grammatik, der die Intuitionen der Oberflächengrammatik übersteigt. Die Beharrungskraft einer Sprache in ihrer spezifischen Umgebung zeigt, dass es nicht darum geht, eine Grammatik zu rechtfertigen (ihrer Geltung mit Blick auf umfassendere Standards vorzugreifen), sondern an ihre Willkürlichkeit zu erinnern, die durchaus verpflichtenden Charakter für ihren Geltungsbereich hat; Wittgenstein vergleicht die Willkürlichkeit der Grammatik mit der einer Maßeinheit.22 Die Einrichtung der Maßeinheit war willkürlich, bezieht sich aber trotzdem auf alle Sprachbenutzer, die im Geltungsbereich der Maßeinheit operieren und sich an diese zu halten haben. Es geht immer darum, grammatische Standards in ihrer Gegebenheit zu verstehen und anzuerkennen, nicht darum, sie in einer anderen Größe zu fundieren. Permissiv ist das Absehen von der Annahme immer weiter ausdeutbarer kausaler Ketten für Geltungsverhältnisse im Geistigen; Grammatik erlaubt es, sich ganz auf einen gegebenen Sprachgebrauch zu beziehen, ohne weiter nach der Erfüllung von Geltung fragen zu müssen. So ist denn ein Element der tiefengrammatischen Betrachtungsweise eines, das sich mit
19 Vgl. Ludwig Wittgenstein, Wiener Ausgabe, The Big Typescript, hrsg. von Michael Nedo, Wien 2000, S. 165. 20 Ebd. 21 Ebd. 22 Ebd., S. 166.
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einem der Oberflächengrammatik deckt: Beide Formen der Grammatik sind ausreichend legitimiert – die Oberflächengrammatik durch ihre Funktion in Lernsprachspielen und als nach Korrektheit beurteilte Form des Regelfolgens im engeren Sinne, die Tiefengrammatik durch das Gelingen ihrer ordnenden Beschreibungsfunktion, die auf übliche Handlungsfolgen verweist und damit nicht durch etwas bestimmt wäre, was in einer sie definierenden Weise vor ihrer eigenen Geltung läge. Jenseits eines Apriorischen, das Geltung an Erfahrungslosigkeit bzw. Notwendigkeit und Allgemeinheit bindet, eröffnet die Grammatikkategorie einen Zugang zur Sprache, der das Subjekt im Sprachvollzug identifiziert. Das Subjekt ist eine Prozesskategorie, deren Charakter von Sprachpraxen abhängt, die stetig veränderbar sind, anschließend an „the idea that selfhood is best conceived as a matter of non-self-identity (for example, as becoming or self-overcoming, or as being what one is not and not being what one is, or as being doubled or divided).“23 Die Absage an Identitätskonstruktionen in der Sprache geht indes nicht so weit, die Kategorie grammatischer Subjektivität jenseits des Selbstgefühls anzusiedeln, das handelnde Menschen in ihren wechselnden Zusammenhängen haben. Nur folgt aus der Empfindung, ein Ich zu sein, die anthropologisch tröstend sein kann (und Handlungssicherheit geben kann), nicht, dass dieses Selbstgefühl theoretisch konzeptuell bestimmend wäre, wenn es um die Beschreibung von Sprachformen und den entsprechenden Lernpraxen geht. Im Gegenteil, das Selbstgefühl taugt nicht zur konstitutiven Rolle in Erkenntnisprozessen, da der sprachliche Diskurs mit Öffentlichkeit konnotiert ist, Öffentlichkeit aber ist das Merkmal nachmetaphysischer Sprachverwendung und eine Forderung. Eine Vorstellung des Subjekts, die dieses mit einem wandelbaren Selbstgefühl verbinden würde, das zugleich Kriterium seiner Konstitution wäre, würde jene Vorstellung von Öffentlichkeit, die bei Wittgenstein etwa das Privatsprachenargument trägt, konterkarieren und minimieren. Anders als die Vorstellung des Sprachspiels als Sprechsituation positiver Primitivität, in der der Aspekt des Regelfolgens deutlich wird, es zunächst vermuten lässt, ist das Subjekt als handelndes nicht zentral, weil es etwas tut, das es als Subjekt bestimmte, sondern weil es den Raum, in dem es als Subjekt überhaupt bestimmbar ist, mit anderen teilt. Ein Selbstgefühl, das Grundlage nicht nur einer Denkbewegung wird, sondern darüber entscheidet, wer in einer Gemeinschaft an der Subjektvorstellung Anteil hat, ist mit einer Aufgabe belastet, die das bei Wittgenstein wichtige Öffentlichkeitskriterium irritiert. Es reicht nicht aus, einen bestimmten Schmerz zu haben oder eine große Freude zu fühlen,
23 Stephen Mulhall, The Self and its Shadows. A Book of Essays on Individuality as Negation in Philosophy and the Arts, Oxford 2013, iv.
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um ein Ich zu sein. Nicht nur aus den Gründen, die man gegen eine Ontologisierung der Lebenswelt anführen könnte, z. B. dass die Redeweise vom Seienden veraltet und irreführend wäre, da unsere Lebenspraxen sich mithilfe solcher Begriffe nicht mehr beschreiben lassen. Es ist vielmehr ein grundsätzlich retardierendes Moment in der Erklärung der Fabrikation von Erkenntnis zu glauben, Individualisierung sinngenerativ fassen zu können. Mit der Distanzierung der Sinnqualität durch Zerstreuung und Modernisierung – die modernité Baudelaires wie jene der Diversifizierung der Wege, wie etwas zu erkennen sei – begann eine Entwicklung, die nicht reversibel ist, da im Labor der Nachmoderne Subjekte keine Spielmarken mehr sind, die in Regelkanones ohne Weiteres abzusichern wären. Sicherung zerstreut sich auf das Innewerden verschiedener Handlungsstellen. Diese sind räumlich bestimmt, eher Nebeneinander als Beziehungsfolge. Die Ordnungsform der Kontiguität, des Nebeneinanders, lässt grammatische Strukturen wichtig werden, da sie hier vom Gedanken des Urhebers loskommen und diesen diversifizieren: Orientiert an Konversation,24 Austausch, Miteinander gibt es Reihen von Urhebern, die in der Verbundenheit jene hinnehmende Qualität den Lebensformen gegenüber besitzen, die durch deren Gegebensein mit Wittgenstein impliziert wird. Grammatik als Konzept, das uns die Bindung des Menschen an die Sprache als seine Bestimmung erscheinen lässt, da nur dem sprachlich bestimmten Subjekt deutlich werden kann, was sein anthropologisches Differenzmerkmal ist, ist von besonderer Wichtigkeit.25 Als Anthropologikum lange bekannt, dennoch variabel in den Kontexten des Lebens, die wechseln und im Wechsel die Konstanz der Grammatik bestätigen als etwas, das auf Selbstvertrautheit26 bezogen ist. In Kontexten der Grammatik wird die Vertrautheit mit sich selbst durch Regeln gestützt und beglaubigt. Mit Wittgenstein ist Selbstvertrautheit eine, die über das Selbstgefühl hinausgeht, dessen Kriterien nicht zuordbar wären. Die Äußerlichkeit der grammatischen
24 Vgl. ebd., xi. 25 Vgl. die Bemerkung von David Bell, dass unter Wittgensteins Beiträgen zur Philosophie jene besonders wertvoll seien, die im Ringen um Einsicht in die menschliche Subjektivität zum Vorschein kommen, vgl. David Bell, Solipsismus, Subjektivität und öffentliche Welt, übersetzt von Joachim Schulte, in: Wilhelm Vossenkuhl (Hg.), Von Wittgenstein lernen, Berlin 1992, S. 29-52, S. 29. Ohne mit der Kategorie der Grammatischen Subjektivität das Privatsprachenargument in dem Sinne umdeuten zu wollen (vgl. Bell, a. a. O., S. 48 ff.), dass Wittgenstein hier den Solipsismus „in einer Anzahl entscheidender Hinsichten billigt und weiterführt“ (S. 49), ist die Relevanzzuschreibung bezeichnend. 26 Vgl. Manfred Frank, Ansichten der Subjektivität, Berlin 2012, S. 353 ff.
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Standards – dass sie durch Handlungen zu beglaubigen sind und dann weiter bestehen – bindet das Selbstgefühl an die Frage nach den Handlungen und Handlungsfolgen. Damit ist ein deontologisches Element in das Grammatikthema gebracht: Wer verhält sich angesichts grammatischer, eben auch tiefengrammatischer Vorgaben wie? Wie sollten wir uns verhalten, da wir grammatisch bestimmt sind? Gibt es Pflichten, die mit einem richtigen Verständnis nicht nur der Oberflächen-, sondern auch der Tiefengrammatik einhergehen? Ohne diese Punkte in diesem Rahmen ausführlich behandeln zu können, seien zwei Aspekte hervorgehoben: Erstens das Spannungsfeld von Subjektivitätsglauben idealistischer Prägung und der Abkehr von substantialistischen Ideen auf der anderen Seite. Es wäre zu einfach, grammatische Subjektivität eindimensional auf der prozessual-nichtfundierenden-relativen Seite zu verorten. Gleichwohl ist die Betonung von Subjektivität im Sinne eines Äquivalents zu Personalität, Ichgefühl, Selbstwissen eine Intuition, die an Diskurse anschließt, die ihrer Natur nach solche der Vergangenheit sind. Das Interessante der grammatischen Subjektivität ist die Verbindung von Begriffen, die bisher nicht explizit zusammen gedacht wurden. Bisher schien die Kategorie der Grammatik (sofern sie als solche deutlich werden konnte, wenn man an Wittgensteins heterogene Ideen zu dem Thema denkt) nolens volens mit einem Abschied von Regularien der Identität verbunden, von solchen, die auf Entsprechung abzielten, nicht auf Differenz, von jenen, die den einzelnen Fall in den Rahmen der Grammatik integrierten und dort festhielten. Wenn der einzelne Fall, die Sprachäußerung von Sprecher x, aber von dieser Grammatikalisierung ausgehend definierend auf den Menschen wirkt, der spricht, liegt die Sache anders. Mit der Erkenntnis, in einem Spannungsfeld aus Subjektstärke (mit der ganzen gravitas dieses Wortes in der Ordnung der Begriffe) und einem durch die Zeitläufte theoretisch nahegelegten Abschied vom Ideal des starken Subjekts zu operieren, hängt der zweite wichtige Punkt zusammen: Jenseits „unklar spiritualistische(r) Optionen […] (Subjektivität als [den] Anker im metaphysischen Meeresgrund)“27 zu sehen, geriet das Pronomen „ich“ in den Blick, die Frage bewusster Selbstreferenz ohne Selbstidentifizierung (Shoemaker),28 die nach der Fremderfahrung und der dieser innewohnenden Erfahrung reziproker Koexistenz (Husserl)29 oder jene nach dem Zusammenhang von Selbstbezug und
27 Manfred Frank, Vorwort, in: Manfred Frank (Hg.), Analytische Theorien des Selbstbewußteins, Frankfurt am Main 1994, S. 7. 28 Sydney Shoemaker, Identity, Cause and Mind. Philosophical Essays, Cambridge u. a. 1984. 29 Vgl. Dan Zahavi, Subjectivity and Selfhood. Investigating the First-Person Perspective, Cambridge/Mass. 2005, S. 173 f.; vgl. auch Sören Overgaard, Wittgenstein and Other
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Normativität.30 Es liegt auf der Hand, dass diese und weitere ineinander verschlungene Fragen, die Begriffsunschärfen fördern und zum Teil zu fordern scheinen, nicht trennscharf bearbeitet werden können, ohne jeweils Implikationen zu kappen, die für einige Theorien konstitutiv wurden, von anderen abgewiesen wurden, von weiteren überboten wurden. Wenn beispielsweise gesagt wird, dass, mit Husserl, „ich“ ein „wesentlich subjektiver“ Ausdruck sei, ist darin zum einen der Zusammenhang von Subjektivität und Selbstreferenz betont.31 Hieran kann Verschiedenes hervorgehoben werden, etwa die Identifizierungsfrage,32 den Vorwurf des Speziesismus,33 die Frage nach der Bezogenheit von System und Subjektivitätsbegriff34 u. a. In Bezug auf die heterogenen Fragestellungen des Untersuchungsfeldes wirkt die Kategorie der Grammatik wie eine Klammer, deren Vielgesichtigkeit bei Wittgenstein die Vielzahl von Fragen spiegelt, die ausgehend vom Begriff der Subjektivität und verwandter Begriffe gestellt wurden. Das heißt, beide Begriffe befinden sich in einer Spannung, die daher rührt, mehr Anschlüsse zuzulassen, als theoretisch zu übersehen sind, sofern ein – mit der Idolqualität von Bacons idola fori aus dem Novum Organon behafteter – Vollständigkeitsgedanke nicht aufgegeben wird. Aber auch jenseits dieser Idee, deren irreführende Seite durch eine eindimensionale Logik der Entsprechung naheliegt (in beiden Fällen wird ein Gegebenes erst akzeptiert, wenn ein (Eben)maß, ein positiv bewertetes Gleichgewicht, erreicht ist), fächert sich das Bild der Grammatik auf, wenn sie auf Subjektivität bezogen wird. Die vielen Begriffe des Selbst, die es doch nicht auf den Begriff bringen können, lähmen in der differenzierenden Bewegung. Die Differenzierungen, die im Sinne des „I’ll teach you differences“ aus King Lear bedeutungsgenerativ gedacht werden können, scheinen so komplikationslos zu sein wie eine sprachliche Regel, die im Funktionieren ihre Gewordenheit, d. h. die Unwahrscheinlichkeit des Anfangs, vergessen hat. Direkt ergebnisorientiert ist aber Grammatik nur, wenn die Oberflächenform bevorzugt wird, nicht die Tiefengrammatik. Da Letztere mit Handlungsformen verschwistert ist, die
Minds. Rethinking Subjectivity and Intersubjectivity with Wittgenstein, Levinas, and Husserl, New York und London 2007. 30 Vgl. Sebastian Rödl, Selbstbezug und Normativität, Paderborn u. a. 1998; vgl. auch Sebastian Rödl, Self-Consciousness, Cambridge/Mass., London 2007. 31 Christoph Jäger, Selbstreferenz und Selbstbewußtsein, Paderborn 1999, S. 27 ff. 32 Vgl. Christoph Hubig, Identifizierte Subjektivität. Über die Rolle der Sprache für die Genese des Selbstbewußtseins, in: Wolfram Hogrebe (Hg.), Subjektivität, München 1998, S. 73-85. 33 Vgl. Carl Friedrich Gethmann, Praktische Subjektivität und Spezies, in: Wolfram Hogrebe (Hg.), Subjektivität, a. a. O., S. 125-145. 34 Vgl. Reiner Wiehl, Subjektivität und System, Frankfurt am Main 2000.
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zum Zeitpunkt der tiefengrammatischen Regelgenese noch nicht feststehen, geht es nicht darum, ein bekanntes Ergebnis zu sichern, wie es bei der angestrebten Korrektheit der Regelanwendung im Kontext der Oberflächengrammatik der Fall ist. Es wird deutlich, dass die Erschlossenheit des Selbst insofern vom Widerschein der Welt35 herrührt, als dieser grammatisch organisiert ist – er steht nicht mehr im Widerspruch zu einem ursprünglichen Selbstbewusstein, sondern löst dieses als Grundlage der Bedeutungsgenese ab. Das heißt nicht, dass „Selbstbewusstsein“ als Terminus obsolet würde, weil Menschen nicht mehr fühlen, dass sie ein Ich sind, dass sie etwas und jemand sind. Vielmehr gibt es unter der Voraussetzung, dieses Selbstgefühl sei grammatisch zu fassen, eine grundsätzliche Änderung: Die phänomenalen Eigenschaften mentaler Zustände36 lassen sich nicht erfahren, ohne ihr sprachliches Durchwirktsein, das die Vorstellung, etwas sei erfahrbar, erst konstituiert. Auch wenn der Leib mitwirkt (und eine lange philosophische Tradition aufruft), ist das Phänomen der Grammatik eines, das etwa die Frage, Terminologien für leibliches Erleben (Schmitz) zu finden,37 berührt, ohne eine schnelle Lösung anzubieten. Entscheidbarkeit hat mit Warten zu tun, einer Zeitspanne, in der sich Evidenzen bilden, entfalten, bewähren; manchmal werden sie verworfen, da das Leben reicher ist, als zeichenhafte Verständigung, die zum Signal minimiert wird. Jenseits der bloßen Signalqualität der Zeichen, die nach dem Reiz-Reaktionsmuster Kommunikation absehbar werden lässt und im Blick auf kurzfristig zu erreichende Zwecke funktionalisiert, betrifft die Betrachtung der Subjektivität nach dem Muster der Grammatik den Punkt der Angemessenheit im Blick auf das Eigene und das Allgemeine.38 In der Frage, welcher Umgang mit den Möglichkeiten des Lebens im Blick auf eine Situation jeweils passend erscheint, spielt dieser Begriff eine wichtige Rolle, da das aptum mehr ist, als die individuelle Wahl, da es aber auch etwas anderes ist, als die vom KollektivInstitutionalisierten auferlegten Zwänge. Wer sich der grammatischen Prägung der Subjektivitätskategorie bewusst ist, hat ein Gefühl für die Notwendigkeit, Konstituenten der Bedeutungsgenese zu externalisieren. Damit ist nicht gemeint, behaviouristisch zu verkürzen, sondern zu sehen, dass, mit Castañeda, „mysteries
35 Manfred Frank, Selbstbewußtsein und Selbsterkenntnis. Essays zur analytischen Philosophie der Subjektivität, Stuttgart 1991, S. 12. 36 Vgl. Heinz-Dieter Heckmann, Sven Walter (Hgg.), Qualia. Ausgewählte Beiträge, Paderborn 2006 (2.Aufl.). 37 Vgl. Christoph Demmerling, Hilge Landweer, Philosophie der Gefühle. Von Achtung bis Zorn, Stuttgart 2007. 38 Vgl. Ulrich Pothast, Lebendige Vernünftigkeit. Zur Vorbereitung eines menschenangemessenen Konzepts, Frankfurt am Main 1998, S. 240 ff.
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and perplexities arise easily when problems are treated in isolation“.39 Dies spiegelt das Kontextprinzip und seine Verdienste. Bedeutungsgenese erwächst aus so vielen heterogenen Elementen, dass sie nicht auf einen Begriff gebracht werden kann, von dem sie ausginge. Die Kategorie der Grammatik jedoch bietet, wenn nach der menschlichen Subjektivität gefragt wird, den Vorteil, dass ihre Formen sich nicht erschöpfen. Die exhausted forms Spenglerscher Provenienz40 führen bei einer an grammatischen Standards orientierten Betrachtung nicht zu einem Ende raumzeitlich individuierter Kulturkonzepte, sondern ersetzen diese, in Übereinstimmung mit dem, was Spengler kosmischen Takt genannt hat,41 durch die unifizierende Kraft symbolischer Medien. Die Sprache belässt in einer Ordnung, was nicht versucht, den Gang des Lebens zu stören. Anthropologisch verbinden sich Sprachspiele mit dem, was in einer Gemeinschaft als geteiltes Gut gilt.42 Geteilte Güter verpflichten nicht nur zu bestimmten Schutzmaßnahmen (auch bezogen auf geistige Güter). Sprachlich bestimmte Güter einer Gemeinschaft brauchen vielmehr eine konstante Absicherung von Geltung, deren Mechanismen nicht in finiten Sätzen erschöpfend beschreibbar sind, sondern sich verschiedenen Sachlagen, die abzusichern für eine Sozialität temporär notwendig ist, anpassen. Wenn Subjektivität grammatisch gedacht ist, hat dies einen Einfluss auf die Form von Absicherungsbewegungen in einer Gemeinschaft. Das grammatisch bestimmte Subjekt vermag etwa jene Staats- und Eigentumssicherungsprogramme, die mit Hobbes, Kant und anderen virulent wurden, anders zu fassen. Das grammatische Subjekt ist gesichert durch Veränderung, durch positive Irritierbarkeit von Gewohnheiten, Dinge auf diese Weise zu tun. Da der Umgang mit den Dingen, wie wir sie vorfinden, divers ist (ein Echo der Bemerkung Wittgensteins, dass „Existenzaussagen über Klassen sehr verschiedene Grammatiken“43 haben), liegt in der Verschieb-
39 Hector-Neri Castañeda, The Self and the I-Guises, Empirical and Transcendental, in: Konrad Cramer et al. (Hgg.), Theorie der Subjektivität, Frankfurt am Main 1987, S. 105-140, S. 105. 40 Vgl. William James DeAngelis, Ludwig Wittgenstein – A Cultural Point of View. Philosophy in the Darkness of this Time, Aldershot 2007, S. 72. 41 Oswald Spengler, Der Untergang des Abendlandes. Umrisse einer Morphologie der Weltgeschichte, Band 2, München 1972, S. 559. 42 Vgl. in Bezug auf Cavell: DeAngelis, Ludwig Wittgenstein – A Cultural Point of View, a. a. O., S. 73. 43 Ludwig Wittgenstein, Vorlesungen 1930-1935, Cambridge 1930-1932, aus den Aufzeichnungen von John King und Desmond Lee, hrsg. von Desmond Lee; Cambridge 1932-
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barkeit und Offenheit der grammatischen Standards, die nun als Orientierung dienen, nichts Bedrohliches. Vielmehr ist hier eine Entsprechung ohne Idolimplikation hergestellt, wenn, anders als bei Maihofer, die Regelgeleitetheit einer sprachlichen Äußerung bereits als geordnet und in Übereinstimmung mit einer gegebenen Ordnung gelten kann, ohne auf eine Rangordnung zu verweisen, die ein Recht jeweils als Vorrecht versteht.44 Die Ordnung der Grammatik ist gleichberechtigt auf der prozeduralen Seite – bezogen darauf, wie mit sprachlichen Äußerungen, die zu ordnen sind, verfahren wird, aber nicht im Sinne einer vorherbestimmenden Festlegung auf der Inhaltsseite. Die Offenheit der Grammatikkategorie perspektiviert das Subjekt, das sich nicht mehr als Einheit erfahren muss, so vielschichtig wie die Zeit, in der, historisch gesehen, Subjektivität auf Vernunft bezogen wurde.45 Die Bezogenheit wirkt fort, sie ist nicht zu beenden oder zu korrigieren. Stattdessen verschafft die Orientierung an Grammatik einen Freiraum, in dem Bedeutungsgenese Sache solcher Subjekte ist, die grammatisch bestimmt sind. Die grammatische Bestimmtheit lässt sich erfahren als Verkleinerung eines Anspruchs auf Repräsentation, als Rückzug des Subjekts aus der Rolle des direkten Verursachers, als Rückweisung der fortunes of self-consciousness46 auf den rauhen Boden. Der grammatische Unterschied bleibt bezeichnend, wenn nach Bedeutung gefragt wird, weil er jene betrifft, die nach Bedeutung fragen. Wünsche nach Dauer und Festigkeit eines Ich treffen auf die Variabilität der grammatischen Bestimmung, die nicht an ein Ende kommt, weil der Begriff des Ich wie der des Selbst eine Aufgabe ist, nicht eine Antwort. Die Aufgabe bleibt bestehen, wenn bei Wittgenstein philosophisch nachmetaphysisch, aber nicht absehbar verfahren wird: A modest person does not act under the title of modesty (Williams).47 Von jener Art ist die Zurücknahme von Ansprüchen an philosophische Erläuterungen von Subjektivität, die die Reichweite des zu beschreibenden Problems sehen, aber an der zurückhaltenden Form des Lösungsweges festhalten.
1935, aus den Aufzeichnungen von Alice Ambrose und Margaret Mcdonald, hrsg. von Alice Ambrose, übersetzt von Joachim Schulte, Frankfurt am Main 1989 (1984), S. 371. 44 Vgl. Werner Maihofer, Vom Sinn menschlicher Ordnung, a. a. O., S. 36. 45 Vgl. Rüdiger Bubner, Wie wichtig ist Subjektivität? Über einige Selbstverständlichkeiten und mögliche Mißverständnisse der Gegenwart, in: Wolfram Hogrebe (Hg.), Subjektivität, a. a. O., S. 235-246. 46 Vgl. Richard Moran, Authority and Estrangement. An Essay on Self-Knowledge, Princeton and Oxford 2001. 47 Zit. nach ebd., S. 170.
Das grammatische Subjekt Konstitutionsformen von Subjektivität in der Moderne S ANDRA M ARKEWITZ Das Ich, das Ich ist das tief Geheimnisvolle!
Wenn die Geschichte der Subjektivität die Geschichte ihrer Irrtümer ist, wie man meinen könnte, da neue Lesarten die alten Selbstgewissheiten einebnen und in Imperativen der Zerstreuung von Sinn und Bedeutung obsolet werden lassen, bleibt doch das Gefühl, zu handeln mit durchaus festen Rändern, aufzumerken in Vorgängen des „Ich bin ein Ich“, zu wissen, dass kein finites Wissen uns schützt und doch jenes Set von Regeln kommunikative Kompetenz und Performanz in einer Weise regelt, die es den einzelnen Teilnehmern des Kommunikationsspiels ermöglicht, regelgeleitetes Tun in genügender Weise für finit zu halten, um sich danach zu richten. Die Geschichte der Subjektivität in ihrer Ambivalenz – Sich-Wissen in der Tradition Hegels, das von der Leistung des Einzelnen zu konkreten Verkörperungen in einem Staatswesen als Identität von Wirklichem und Vernünftigem als Grundlage von Handlungserfolg kommen wollte und die Fähigkeit, gegebene Anordnungen der kontingent verdichteten Wissensbestände durch Imagination zu überschreiten – begleiten bis heute philosophische Konzepte, die vom Menschen sprechen, ohne in eindimensionales Pathos auf der einen oder Prägungen der Provenienz technizistischer Mechanik auf der anderen Seite zu verfallen. Der Mittelweg, der die Vorstellung der guten Mitte (Mesotes) mit dem Wissen um das mögliche Ende solcher Einwilligung in Phänomenen von Bruch, Schock und Spaltung verbindet, hält sich an das implizite Wissen der Kommunikation in Mittellagen – was sie übersteigt, die Mitte zum Extrem zu führen scheint, aktiviert die Ausschlussmechanismen, die dafür sorgen, ein Ideal zu bewahren, das formal in seiner regulativen Kraft auf die Inhaltswerte einwirkt, die kommunikative Beziehungen konstituieren.
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Romantik und Moderne in einem vielfach beschriebenen Antizipationsverhältnis1 lassen Motive der romantischen Weltannäherung als Annäherung an das Absolutum, die Gewohnheit einer Übersteigung, erscheinen, die die Abkehr von der illusio einer stabilen Mittellage zum Programm gemacht hat: Wittgensteins philosophische Erkundungen machen diese, bei gleichzeitiger Transformation genialischer Subjektivität zu fortgesetzter mundaner Rekontextualisierungskompetenz in alltäglichen Umgebungen, rückgängig. Zugleich wird der Traum der Sprache bewahrt in dessen Verschiebung in den Raum, in dem ethische Fragen verhandelt werden – der ethische Anspruch verträgt sich mit der Welt um den Preis, nicht das zu sprechen und nicht von dem zu sprechen, was Menschen in einem absoluten Sinne erwarten. Der Abschied von Mittellagen im romantischen Absolutheitsstreben, das widersetzliche Momente hat und als Emblem einer Zeit nur unter Ausklammerung bestimmter Bekenntnisse zu Ordnung, Einbildungskraft im Dienste der Idee oder Philosophemen der Subjektfeier, der das Denken zufällt wie das Wunderbare, gesehen werden kann, erfährt nun von Wittgenstein einen Schnitt: Das Subjekt der neuen, dunklen Zeit fern der Feier ist das grammatische. Grammatische Subjektivität ist die Kategorie, die die Orientierung an Tiefengrammatik (die fragt, wie ein Wort verwendet wird, wobei die Einbeziehung des im weiten Sinne pragmatischen Kontexts entscheidend ist, der, wie man früher in Rekurs auf Austin gesagt hätte, stabilisierenden und variierenden Macht der Perlokution) mit dem Aufmerken auf eine veränderte und sich sukzessive verändernde Sicht auf das Subjekt verbindet; es ist mit der Etymologie des Wortes Subjektivität insoweit im Bunde, als es sich den Wirkungen jener stark gedachten grammatischen Kraft zu unterwerfen hat, die nicht als illocutionary, eher als grammatical force beschrieben werden kann, der die Übersetzung des Ausdrucks als grammatische Rolle den Blick auf den Darstellungsaspekt addiert, wie die grammatische Kraft von etwas noch Ungerichtetem spricht, das durch deambiguierende Prozesse seine Einbettung in jene Kontexte erfährt, die durch grammatische Subjekte kontextsensitiv konstituiert werden. Das grammatische Subjekt steht im Zentrum der Kreuzungspunkte von Zuschreibungen: Autonomie als Kraft des selbstbildenden, selbstgegebenen Gesetzes, heteronome Prägung durch histo-
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Vgl. nur M.W. Rowe, Wittgenstein’s Romantic Inheritance, Philosophy 69, 1994, 327351, Richard Eldridge, Leading a Human Life. Wittgenstein, Intentionality and Romanticism, Chicago 1997, Karl Heinz Bohrer, Der romantische Brief. Die Entstehung ästhetischer Subjektivität, Frankfurt am Main 1989, Andrea K. Henderson, Romantic Identities. Varieties of Subjectivity 1774-1830, Cambridge 1996, Richard Eldridge, The Persistence of Romanticism: Essays in Philosophy and Literature, Cambridge 2001.
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risierte Gewohnheit, Möglichkeit deren imaginativer Überschreitung, oft im Einklang mit dem, was überschritten wird, erwartete Einwilligung in einen bestehenden Regelkanon durch Handlungen, die dem Kriterium der Übereinstimmung mit vorgegebenen Mustern folgen. Die drei Punkte (Zuschreibungspraxen) der Autonomie, der heteronomen Prägung und erwarteten Übereinstimmung mit vorgegebenen Mustern sollen der Reihe nach auf das Paradigma „grammatisches Subjekt“ befragt werden: Wie weicht diese Figur (denn eher als ein habbares Etwas ist es eine wechselnde Konfiguration im Raum der Wissensspiele) von den drei Punkten ab? Welche Zuschreibungspraxis wird von dem Konzept der grammatischen Subjektivität aufgenommen, welche abgelehnt? Wo in Wittgensteins Werk finden sich Hinweise darauf, wie ein grammatisches, nachmetaphysisches Subjekt beschaffen ist? Welche seiner Merkmale lassen sich in Rekurs auf Wittgenstein belegen und welche Punkte sind den Ausgangsfragen nach Autonomie, Fremdprägung und Musterübereinstimmung zu addieren? Um diesen Fragen nachzugehen, wird zunächst der Begriff der Grammatik in Wittgensteins Werk beleuchtet, insofern er mit der Konstitution eines Subjektes zusammengedacht ist, für dieses bedeutsam ist. Nachdem wichtige Beispielstellen auf unsere drei vorläufigen Kriterien abgeklopft sind und die Frage nach neuen Merkmalen des Begriffs grammatischer Subjektivität bedacht wird, geht es abschließend um die erste Konturierung der grammatical force – jenes Elements, das sprachlich wirksam wird in Akten der Regelorientierung und dem Aufmerken auf die Verwendung eines Wortes in der Sprache (PU 43 grammatisch zu lesen, bedeutet insbesondere, auf die hier übliche Verallgemeinerung zum Gebrauchstheorietheorem zu verzichten2). Anders gesagt: das grammatische Subjekt handelt in Zuschreibungen, die auch losgelöst von der Subjektstelle wirksam sind (als historische Konstanten), grammatisches Subjekt und grammatical force stehen in einem Verhältnis, das je nach Standpunkt die anthropologische Basis sprachlichen Handelns oder dessen überindividuelle, sozial verbindliche, die Ichstelle zum Handeln des Man anonymisierende Größe betont. Beides – man erinnere sich an das Ideal der Mittellage – hat etwas für sich und verzichtet auf die Belohnung, die in der Entscheidung für eine Ausdrucksform geistiger Prägekraft liegt. Wie es schwierig ist, etwas „im Sinne Wittgensteins“ oder „wie in Wittgensteins Theorie“ zu sagen, geht es um die Orientierung an der
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Vgl. zur korrekten Lesart von PU 43: Eike von Savigny, Der Mensch als Mitmensch, Wittgensteins „Philosophische Untersuchungen“, München 1996, darin: Kapitel 3: „Die Bedeutung eines Wortes ist sein Gebrauch in der Sprache“: Schlusswort zu „Philosophische Untersuchungen“ § 43a, S. 70-73. Vgl. auch Katalin Neumer, Die Relativität der Grenzen. Studien zur Philosophie Wittgensteins, Amsterdam 2000, S. 115 ff.
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Anwendung des Denkens: dem Prozess jenseits der Standards, die jeder erwartet, der Einlösung des „Was der Leser auch kann, das überlaß dem Leser“3, dem ehrwürdigen Begriff, sofern man ihn bei ihm noch findet? Die Idee liegt nahe, dass der Begriff, in dem vom Selbst geredet wird, selbst zerstreut ist auf Kapazitäten der grammatischen Beschreibung. Das Reden vom Ich erscheint als Aufgabe einer Subjektivität – auch jenseits der scheinbaren Quelle im Innern. Dass auf Descartes die Einsicht zurückgehe, „daß dem Selbstbewußtsein ein besonderer erkenntnistheoretischer Status zukommt, da es – in der Flexionsform der ersten Person Singular, als Cogito – zum ersten Prinzip allen wahrheitsfähigen Vorstellens auserkoren wird“4, ist bis heute die starke Prägung des Sprechens über Subjekt und Ich, dessen Zweifel und Glaubensgewissheit, Blüte und Anfechtung. Schon das kurze Zitat wirft neben seinem erklärenden Gehalt (die gegenwärtige Diskussion dieses Begriffs wird hier ausgeklammert) eine Vielzahl von Fragen auf, die auf Begriffsklärung abzielen, von der Wahrheitsfähigkeit, mit der das „Vorstellen“ auftreten solle, zu schweigen. Nehmen wir zur Kenntnis, dass Begriffsklärung Not tut. Dass das Cogito „auserkoren“ wurde, legt das ursprüngliche Nebeneinander mehrerer potenzieller Prinzipien in ihrer potenziellen Funktion als Leitkategorie nahe. Selbstbewusstsein ist Epochenprägung (Gründungsakte des Deutschen Idealismus und Ursache, diesen Gründungsmythos selbst – im doppelten Sinne – in Zweifel zu ziehen) und Explanandum, das hier auf seine Wirksamkeit als Explanans befragt wird: Was tut Wittgenstein mit dem „Selbstbewusstsein“, der „Seele“? Wenn wie oben gesagt, Wittgenstein in die heile Welt der Selbstrede hineinschneidet, indem er auf deren grammatische Bewandtnis hinweist, sind die graduellen Unterschiede unter den Ausdrücken, die ein selbstredefähiges Subjekt verbürgen, zweitrangig. Wovon man nicht mehr sprechen kann, kann in der Differenzierung nicht weiterleben, sie erhält etwas, dessen Zeit vorbei ist. Auch dies eine Bewandtnis des mittleren Weges: Grammatik und Subjektivität erläutern einander um den Preis, sich im Blick auf eine ursprüngliche Emphase zu neutralisieren. Grammatische Subjektivität spricht vom Ich, als werde es nicht durch Tiefengrammatik, sondern durch Wesens- und Zentrumsglauben bestimmt, Grammatische Subjektivität löst sich wie gewohnheitsmäßig von dem Substantiv, das sie erläutert. Wenn wir mit Austins Sense and Sensibilia unzeitgemäße Substantivierung als gängige Fehlerquelle des Philosophierens identifizieren, auch als
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Ludwig Wittgenstein, Werkausgabe, Band 8, Über Gewißheit, Bemerkungen über die Farben, Zettel, Vermischte Bemerkungen, Frankfurt am Main 1984, VB, S. 560.
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Thomas Grundmann et al. (Hgg.), Anatomie der Subjektivität. Bewusstsein, Selbstbewusstsein und Selbstgefühl, Frankfurt am Main 2005, S. 10.
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Warnung davor, was passiert, wenn man die vorhandenen Entitäten gegen Ockhams weisen Ratschlag doch ohne Not vermehrt, zeigt sich der Sinn der Mittellage. Innerhalb des Begriffs Grammatische Subjektivität gibt es eine Spannung, die mal zu diesem, mal zu jenem Pol tendiert. Wittgensteins Philosophische Untersuchungen helfen, das Begriffspaar in einer Mittellage zu halten, indem die grammatische Seite betont wird. Das heißt, von einem überlieferten Überhang auszugehen, der das Ich als Ordnungsform wirksam werden ließ, wo es einmal sprechen konnte. Um diesen Hang zur wesenhaft gedachten Subjektivität auszugleichen, bedarf es der Betonung grammatischer Standards; erst dann entfaltet sich eine Anatomie der Subjekte, die nicht von ihrem Erbe der unbefragten Subjektivität allzu sehr geprägt wird. Das Gleichgewicht (ein freundliches Equilibrium der dem Begriff immanenten Kräfte) ist Arbeit, nicht dauernde Interpretation, aber Reaktion – und dass diese nicht passiv ist, sondern in ihrer zur Erwartbarkeit geformten scheinbaren Selbstverständlichkeit etwas Konfigurierendes, bestimmt den Blick auf sie in der im Rekurs auf grammatische Standards argumentierenden Zeit. Subjektivität ist ein „altes Rätsel“5, das sich immer wieder bedenken lässt, eine Frage, die mit einem Selbstverhältnis auch diejenigen befragt, die es befragen, eine Selbstversicherung im Gewand des philosophischen Diskurses, nicht zuletzt ein Traum der Sprache und ihrer Möglichkeiten. Subjektivität ist Begriff, der auf eine Differenz weist, zu den anderen zum Leben Individuierten und zugleich Identität beschwört: das, was sich unterwirft, in einem gemeinsamen, dauernden, anhaltenden Akt des Regelfolgens und der Einwilligung in die konventionale Beschaffenheit von Sprachkörper und Lebensweltprägung durch Mithandeln. Dieser pragmatische Punkt des Subjektivitätsbegriffs ist entscheidend, der besagt, dass Subjektivitätsorganisation in der Konzentration auf Handlungsanteile von Akteuren aufrufbar ist (und eine Entsprechung in der Forderung findet, Begründungen einer These oder Theorie „nur in bezug auf eine intendierte oder unterstellte Anwendung vorgeschlagener Unterscheidungen“6 als zureichend bewertbar anzusehen). Pragmatisch verliert sich das romantische Erbe in laufenden Handlungsvollzügen. Diese sind noch immer Teil des Rätsels, Teil eines Wissens, das über propositionale Finitismen hinausgeht und doch Geltung beansprucht und somit an Legitimationsdiskurse, die auf Durchsetzung abzielen, notwendig angeschlossen
5
Vgl. Oswald Schwemmer, Die symbolische Gestalt der Subjektivität oder Ein altes Rätsel, noch einmal bedacht, in: Wolfram Hogrebe (Hg.), Subjektivität, München 1998, S. 49-71.
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Vgl. Pirmin Stekeler-Weithofer, Das Subjekt des Handelns als Objekt der Reflexion, in: Hogrebe (Hg.), Subjektivität, a. a. O., S. 147-166.
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ist. Das Sprechen über das Subjekt als methodisch nicht indifferente, sondern Unterschiede gerade suchende Orientierung an Anwendung und Praxis zu verstehen, lässt Kategorien als Redeformen sichtbar werden.7 Subjektivität ist auch façon de parler im Selbstbeschreibungsspiel; mit Selbstbeschreibungskompetenz kommt das Wissen von sich selbst, das das Subjekt in eine Praxis einsetzt, die seine wird, das sich fernerhin als in diese Praxis eingesetzt erkennt. Wie Differenzierung hier mit Diskursivierung einhergeht, erfolgt Bewertung mit Rekurs auf Anwendung: Kategorien als Redeformen bewahren sich in Akten von Anerkennung, wiederholter Bestätigung von Rede durch Gegenrede und Tun und zureichender Nähe zu Initiationsdiskursen, die Neues sagen, es an Altes binden und so eine Kontinuität der kategorialen Bestimmung im langfristig operierenden Semantisierungsgeschehen ermöglichen. Wenn nun die grammatische Bewandtnis als vorrangig vor essenzieller Bestimmung, Substanzglauben und Letztbegründung deutlich werden kann, hat sich eine Redeform in einer bestimmten Weise organisiert. Es wurde ihr, durch Vollzüge von Mehreren, etwas addiert, das neue Seiten an einem alten Begriff sichtbar werden lässt, d. h. diese zum ersten Mal so konstituiert, dass sie gesehen werden können. Grammatik ist auch die Änderung einer Redeform, und diese Änderung geschah in der Moderne. Wie man eben diesen Ausdruck, „die Moderne“ kaum benutzen kann, ohne sich im Geflecht der Fährten und Vorurteile zu verlieren, die von diesem Substantiv ausgehen, hat die modernité aus der Not eine Tugend gemacht: Das vielstimmig-zerstreute Sinnzentrum wurde neue Richtschnur. So wurde an der Idee des signifizierenden Zentrums durchaus festgehalten, es hatte sich nur in mannigfaltigen Vollzügen gleichsam vervielfältigt und ermöglichte – prozesshaft – die Zentrumswahl. Ein Zentrum selbst zu wählen entspricht dann der Ansicht, es gebe keines mehr, wenn es nicht als solches begriffen und nicht mehr durch Handlungen beglaubigt wird, die sich als Teil eines Sinnprojekts (und der Sinnprojektion auf das, was den Sinn erklären soll) begreifen. Die Zentren werden verteilt, es gibt ihrer mehrere, es gibt nicht mehr die Verbindlichkeit eines Zentrumsglaubens, der, auf der Stufe kategorialer Bestimmung, das Subjekt beträfe. Gerade weil sich in Zeiten moderner Selbstbeschreibungsformeln (Bruch, Kälte, Schock, Diskontinuität, Augenblicksbewusstsein usw.) das Selbst von seinen Beschreibungen emanzipiert, kann die Zeit der grammatischen Subjektivität kommen. Sie ist eine Anschauung, die das Angeschaute, das Subjekt, nicht im Bilde feststellt. Es ist eine Eigentümlichkeit, dass uns, im Falle der grammatischen Subjektivität, ein Bild nicht mehr gefangen hält, das doch den Anlass gab, der sprachlichen Repräsentation von Subjektivität nicht mehr zu glauben,
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Ebd., S. 147.
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unseren alten Redeweisen, denen das Ich Herr im Hause war, das jetzt nicht mehr zu gebieten hat. In Spannung zu dem gewöhnlichen Verständnis von „Grammatik“ ist hier eine Ordnungsform nicht mehr nur als diese Ordnungsform gesehen, sondern in besonderer Weise als Anwendungsform: das Geordnete erhält sich in wiederholten Kontextualisierungen der Sprachbenutzer. Man erinnere sich an die Kategorie als Redeweise; auch im Falle der Grammatik trifft diese Beobachtung zu: In einem durch grammatische Standards (Standards die sich auf Verwendungsweisen von Wörtern mit weitem Hof konzentrieren, die mit Handlungsformen verschwistert sind) geprägten Umgang mit philosophischen Problemen ist auch die Rede von uns selbst betroffen. Wer die Kategorie der Grammatik vor der Essenz privilegiert, privilegiert eine Form der Selbstrede, die sich dieser kategorialen Differenz verpflichtet weiß. Die Anwendung der Kategorie „Grammatik“ ist fast tautologisch (im herkömmlichen Sinn des Wortes, der dem tauto logos nichts Positives abgewinnen kann), da der Umgang mit der Kategorie ebenso anwendungsbezogen ist wie sie selbst. Wir können unter grammatischen Vorzeichen reden, wir können den pragmatischen Impuls, der auf Verwendungsformen von Wörtern abstellt, noch einmal pragmatisieren, indem er als Kategorie Redeform wird8 und das heißt: in einer Weise Gegenstand der Rede wird, die, wie oben gesagt, konstitutiv mit Handlungsformen verbunden ist. Wie diese doppelte Bewandtnis der Kategorie „Grammatik“ als Verwendungs- und als Redeform (Pragmatisierungs- und Diskursivierungsstrategie in steter Überlagerung) wichtig für die Rede vom Subjekt wird, soll im Blick auf Abschnitte der Philosophischen Untersuchungen herausgearbeitet werden. Autonomie, heteronome Prägung und Musterübereinstimmung sind Kriterien, die von einer Sprache sprechen, die auch als zweite Sprache hinter der ersten9 anwendungsbezogenen die Landkarte kognitiver Situierungen bestimmt: Wie der Riss zwischen Vorder- und Hinterbühne sprachlichen Ausdrucks Philosophen in Gruppen einteilen lässt (Wittgenstein mit Austin und Davidson gegen Saussure,
8
Im vorliegenden Kontext der moderneindizierten Abkehr von substantia und Subjektpathos sowohl wider die „Anmaßung transzendenten Wissens“ (vgl. Stekeler-Weithofer, Das Subjekt des Handelns als Objekt der Reflexion, a. a. O., S. 147) als auch gegen die scheinbare Finitsetzung einzelner Bezugsweisen; das grammatische Subjekt ist im Fluss der Anwendungen aufgehoben, die es konstituieren, es wird ebenso zeitweilig verdichtet wie der Strom der Sprache in Wittgensteins Flussbett-Metapher in den erkenntnistheoretischen Überlegungen in Über Gewißheit.
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Vgl. Sybille Krämer, Sprache, Sprechakt, Kommunikation. Sprachtheoretische Positionen des 20. Jahrhunderts, Frankfurt am Main 2001, S. 9 ff.
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Chomsky und Searle), ist der Glaube an die Sprache hinter dem Sprechen ein Prüfstein für die grammatische Prägung des Explanans, die auf die Explananda einwirkt. Das heißt in erster Linie: Die Frage nach Autonomie des Selbst wird gestellt in Zeiten der autonomy of language or arbitrariness grammar; ein „provocative claim […] against linguistic foundationalism, the view that language should mirror the essence of the world.“10 Diese Ansicht des foundationalism ist so alt wie intuitiv wie durch neue Intuitionen überholt. Grammatik ist nicht das Ende von Logosauszeichnung und Subjektstärke. Das Subjekt kam vielmehr mit dem Logos, von dem es sich getrennt sah; dass es dies konnte, sich selbst zum Bild werden konnte in Prozessen des Denkens über das Denken ist eine Operation eben des vernünftigen Tieres – das über die Vernunftannahme sich selber fand. Dieses Findenkönnen ist ein komplexes Unterfangen, das in als längsschnittig verstandene geistesgeschichtliche Semantik hineinschneidet, sich aber auch durch diese unterstützt weiß: Wovon man abweicht, ist, wie überbordende Exzentrizität, ans Zentrum definitorisch gebunden, es muss von dem sprechen, was es nicht ist, um etwas über sich zu erfahren. Dem Gehaltenwerden in der Grammatik entspricht die Anwendung einer Semantik, die sich von ihren tragenden Ursprüngen immer mehr entfernte. Diese waren Verfahren der Bewahrung vor denen der ars inveniendi, Kanäle des noch unbewussten Mittuns von Mehreren, prozedurale Vorgänge der Sicherung einer verpflichtenden Ätiologie. Worin nun besteht Wittgensteins im Einklang mit den ingeniösen Neuerungen des 20. Jahrhunderts in Gedanke und Übertragungsweg stehende Privilegierung der Grammatik, die er, im Großteil seiner Geschmacksurteile ein Mann des 19. Jahrhunderts, im Fall der Bedeutungsbildung als konstitutive Kraft ansah? Zunächst ist Grammatik jene Größe, der es „an Übersichtlichkeit (fehlt)“11, die davon geprägt ist, „daß wir den Gebrauch unserer Wörter nicht übersehen.“12 Übersicht ist, was grammatische Bestimmungen in ihrer Oberflächenform geben. Als Tiefengrammatik verstanden, wird die ordnende Kraft der Grammatik mit den Problemen konfrontiert, die ihre Anbindung an weite Handlungskontexte mit sich bringt: Es genügt nun nicht mehr, eine gelernte Regel anzuwenden, den Gebrauch in der Sicherheit eines Lernkontextes zu befestigen. Tiefengrammatisch sind die Sprachbenutzer als jene angesprochen, die an einer Lebensform partizipieren, die mit ihren Wortverwendungen vieles bewirken, das
10 Hans-Johann Glock, A Wittgenstein Dictionary, Oxford 1996, „Autonomy of Language“, S. 45-50, S. 45. 11 Ludwig Wittgenstein, Werkausgabe, Band 1, Tractatus logico-philosophicus, Tagebücher 1914-1916, Philosophische Untersuchungen, Frankfurt am Main 1984, PU 122, S. 302. 12 Ebd.
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über die bloße Korrektheit hinausgeht – es sind Teilhaben an Kontexten, in denen sie zur Rechenschaft gezogen werden können, eine Korrektheit, die Interpretationen offen steht. Über die Sanktionsmöglichkeiten der peer user hinaus besagt die in PU 122 angesprochene normative Komponente, dass Gebrauchsformen in einem Überblick ansichtig zu machen sind. Dieser Überblick ist nicht nur die Sammlung deskriptiv verfügbaren Wissens, sondern wirft Fragen nach den Orten auf, die diejenigen einnehmen, die gehalten sind, übersichtliche Darstellungen zu geben, Fragen nach einem Sollen. Die konkrete Vorstellung einer Übersicht stellt die Frage nach Normativität in grammatischen Kontexten. In der Tat ist die Methode der Begriffsanalyse nicht normativ unschuldig.13 Die „bloße Beschreibung“ ist Konstrukt vieler Einflussfaktoren, ihre „Blöße“ noch Rückgriff auf ein Idol der Unmittelbarkeit und normativen Uneinholbarkeit des philosophisch mit Blick auf empirische Gegebenheiten Gesagten. Der Status des Satzes „Sie läßt alles, wie es ist“14, bezogen auf die Philosophie, ist darum ein ambivalenter: Was die Philosophie lässt, wie es ist, ist das Instrumentarium einer Sprache; wie es angewendet, kombiniert und rekombiniert wird, bringt normative Orientierungen ins Spiel. Grammatik als Tiefengrammatik hat sich dem Problem des normativen Einflusses auf Anordnungsabsichten zu stellen; auch wenn Intentionen nicht bedeutungskonstitutiv sind, ist die scheinbar bloße Schau des Deskriptiven Ergebnis von Auswahlprozessen, die durch Faktoren determiniert werden, die über die Rechenschaft hinausweisen, die sich einzelne ablegen können. Das grammatische Subjekt ist eines, das in diesem Sinne zwischen Autonomie (der Sprache wie ihrer Benutzung) und Heteronomie steht, dass diese Positionierung in der Moderne prägend wurde, ist kein Zufall. Habermas schreibt: „Zwischen den deklarierten und den verschleierten normativen Grundlagen besteht ein Mißverhältnis, das sich aus der undialektischen Zurückweisung der Subjektivität erklärt. Mit diesem Prinzip der Moderne werden nicht nur die versehrenden Konsequenzen eines vergegenständlichenden Selbstbezuges, sondern auch die anderen Konnotationen verworfen, die die Subjektivität einst als uneingelöstes Versprechen mit sich geführt hatte: die Aussicht, auf eine selbstbewußte Praxis, in der sich die solidarische Selbstbestimmung aller mit der authentischen Selbstverwirklichung eines jeden einzelnen sollte verbinden können.“15
13 Vgl. nur Peter Böke, Die begriffsanalytische Methode in der Spätphilosophie Wittgensteins, Marburg 2003. 14 Vgl. Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen, a. a. O., PU 124, S. 302. 15 Jürgen Habermas, Der philosophische Diskurs der Moderne. Zwölf Vorlesungen, Frankfurt am Main 1998 (6. Auflage), S. 391.
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Rätsel, Versprechen, Aufgabe – Subjektivität bündelt die Wünsche wie sie Option auf Handlungsformen ist; in einer Zukunft werden sich die Dinge, so der hoffnungsvolle Unterton bei Habermas, so durchdringen, dass keine Seite der Unterscheidung zu kurz kommt. Selbstbewusstsein, Solidarität, Selbstverwirklichung, Authentizität – es ist das Arsenal der Tugenden, die mit Entfaltung des Subjekts aufkamen, jenen Markierungen einer Entwicklung, die weitergehen sollte, ohne an einem Gipfelpunkt in ihr Gegenteil umzuschlagen. Wann ist Selbstbestimmung solidarisch, wann verlässt sie den Grund der Solidarität? Es gibt ihn nicht als ansichtig zu machende substanzielle Größe. Er ist in den prozesshaften Handlungen jener verkörpert, die durch strenge Lernsprachspiele auf den Sprachgebrauch der Mehrheit als einer Konfrontation mit dem schon Entschiedenen eingeschworen wurden. Und Imagination, das, was von der Pragmatik der ineinander greifenden Mechanismen von Machtausübung und Reaktion, verstelltem Urteil als adaptiver Präferenz wegführt, ist mitnichten solidarisch und selbstverwirklichend, es ist die Hingabe an etwas, das anders ist und andere Reaktionsformen fordert – der stumpfe16 Kriterienkatalog der Richtung Hegel, Marx, Weber, Lukács hilft hier nicht. Das grammatische Subjekt ist der Polarität von Autonomie und Heteronomie nicht enthoben, da sein dominantes Ausdrucksmittel, die Sprache, von einer Autonomie durchdrungen ist, die mit ihrer Arbitrarität, die mit Saussure gerade nicht Willkür bedeutet, sondern Zuordnungskontingenz, verbunden ist. Grammatik ist die Sichtweise, die die Frage nach der Sprache hinter dem Sprechen negativ beantwortet; die Autonomie der Grammatik ist dem Sprechen, der aktuellen Performanz, verpflichtet. Diese wird wiederum von Regeln gehalten, die nicht mehr als Ausdruck von Substanzkategorien gelten. Grammatik als Verallgemeinerung eines früheren logischen Prinzips zu sehen, geht noch in diese Richtung.17 Die neue, grammatische Verpflichtung besteht nicht zuletzt darin, Übersicht zu schaffen. Grammatik als Funktion einer Subjektivität, die ihr Ende überlebt hat,18 fordert bestimmte Fähigkeiten, um sich zu diesem Rest einer verlorengeglaubten Kategorie zu verhalten: Subjektivität kommt hier, wie Grammatik, als
16 Ebd., S. 392. 17 Vgl. Marie McGinn, Wittgenstein on colour: from logic to grammar, in: Annalisa Coliva, Eva Picardi (Hgg.), Wittgenstein Today, Padova 2004, S. 101-119; Newton Garver, Philosophy as Grammar, in: Hans Sluga, David G. Stern (Hgg.), The Cambridge Companion to Wittgenstein, Cambridge 1996, S. 139-170. 18 Vgl. Reto Luzius Fetz, Roland Hagenbüchle, Peter Schulz (Hgg.), Geschichte und Vorgeschichte der modernen Subjektivität, Band 1, Berlin/New York 1998 (Vorwort der Herausgeber).
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Form in den Blick, an der Ordnung zu schaffen ist. Sie ist noch da, aber die Zeitläufte haben sie scheinbar überholt. Sich zu etwas zu verhalten, das halb verloren ist, dessen unhinterfragte Blütezeit vorbei ist, bedarf der interpretativen Behutsamkeit. Ebenso wenig wie der Tod der Autorstimme im Subjekt selbstverständlich erscheinen kann, der sich an Selbstbeschreibungen, Fiktionsbrüche, Folgen romantischer Ironie delegiert haben mag und so im fiktionalen Text gegenwärtig ist, ist das Leben des Subjekts in moderner Zeit ein selbstverständlich grammatisches. Das alte Verständnis von Subjektivität wirkt weiter, auch der Wechsel von der Substanz- zur Modalstelle sieht nicht gänzlich von ihm ab. Die grammatische Lösung des Problems der Subjektivität als Frage nach Instanzen, die die Identifizierung von Subjektivität ermöglichen,19 verschiebt das Problem zudem in den Diskurs von Macht und Anerkennung. Grammatik als Größe, der es an Übersicht fehlt, lässt, wie Subjektivität, nach Methoden fragen, diese Übersicht als Eintritt in ein positives, gegebenes Feld der Anerkennung zu erreichen. Anerkennungsund Übersichtsmoment fallen zusammen; im übersichtlich bereiteten Feld kann Anerkennung wirksam werden, kann Sprachgebrauch sich als unbestreitbare Konfiguration konventionaler Gebrauchsbedeutungen zeigen.20 Die „Willkür“ auf der signifizierenden Seite des Bedeutungsgeschehens ist im Zaum gehalten in der übersichtlichen Anordnung, als deren Teilaspekt der eigene Gebrauch der Zeichen in Kontexten verstanden werden kann, die durch früheren und gegenwärtigen Gebrauch bestimmt werden. Die Willkürlichkeit der Regeln der Grammatik, von der in PU 497 die Rede ist, ist so handhabbar gemacht, der Sprachzweck erläutert sie: „Man kann die Regeln der Grammatik ‚willkürlich‘ nennen, wenn damit gesagt sein soll, der Zweck der Grammatik sei nur der der Sprache. Wenn einer sagt ‚Hätte unsere Sprache nicht diese Grammatik, so könnte sie diese Tatsachen nicht ausdrücken‘ – so frage man sich, was hier das ‚könnte‘ bedeutet.“21
Die „Willkürlichkeit“ der Regeln der Grammatik besagt, dass sie keine vorhersehbare Beziehung zu Entstehungsprozessen sprachlicher Bedeutung haben. Die Oberflächengrammatik ist ein Ordnungssystem, das bestehende Aktivitäten des Sprachkörpers reguliert (keine Entität als substantia, sondern Überlagerungen
19 Vgl. Christoph Hubig, Identifizierte Subjektivität. Über die Rolle der Sprache für die Genese des Selbstbewußtseins, in: Hogrebe (Hg.), Subjektivität, a. a. O., S. 73-85, S. 73. 20 Rainer Enskat, Personale Identifikation. Wie man mit Wittgenstein an einer Metaphysik der Subjektivität arbeiten kann, in: Hogrebe (Hg.), Subjektivität, a. a. O., S. 167-204. 21 Ludwig Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen, a. a. O., PU 497, S. 432.
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prozesshafter Gebrauchsweisen). Diese Regulierungsarbeit der Oberflächengrammatik findet aber gleichsam statt, ohne in die veränderbaren Handlungsanteile, die Sprache konstituieren, einzugreifen; ihr Ziel ist die Korrektheit der Anwendung, nicht deren Erweiterung. Erst das Eingreifen der Tiefengrammatik stellt eine direkte Beziehung mit den Gebrauchsweisen der Sprache her, sofern sie veränderbar sind. Nun hat auch die Funktion der Oberflächengrammatik mit dem Gebrauch von Wörtern in der Sprache zu tun. Aber es ist ein Gebrauch, der behandelt wird, als habe er einen bestimmten Reichtum nicht: den von Auslegung und Deutung, der Reichweite von Wortfeldern, der Kapazität, längerfristig operierende Semantiken zu bilden usw. Was heißt der provozierende Satz: „… wenn damit gesagt sein soll, der Zweck der Grammatik sei nur der der Sprache“? Wie ist das einschränkende „nur“ zu verstehen, wo es doch, mit einem Substantiv im schönsten Glanz der substantia, ums Ganze geht, um „die Sprache“? Das einschränkende „nur“ bezieht sich auf eine bestimmte Vorstellung von „der Sprache“: Die Regeln der Oberflächengrammatik greifen gleichsam nicht in das Leben der Sprache ein, in die Operationen, die in und mit der Sprache getätigt werden; die Oberflächengrammatik ist pragmatisch genügsam. Oberflächengrammatisch betrachtet reicht die Erfüllung des Standards der Korrektheit. Es geht nicht um Veränderung. Ihre Wirkungsweise ist funktional begrenzt wie die Lernsprachspiele, in denen sie vermittelt wird (vgl. PU 496: „Grammatik sagt nicht, wie die Sprache gebaut sein muß, um ihren Zweck zu erfüllen, um so und so auf Menschen zu wirken. Sie beschreibt nur, aber erklärt in keiner Weise, den Gebrauch der Zeichen.“22). Das Einwirken auf die Menschen geschieht bereits in Übereinstimmung mit ihren Funktionen, wobei sich ein Schließungseffekt ergibt: Kein Raum einer imaginativen Entgrenzung oder Überschreitung öffnet sich, keine Exploration von Regeländerungen, die eine Forderung wären, findet statt. Grammatik in ihrer Oberflächenform ist eine bewahrende. Sie erzielt absehbare, statuserhaltende, legitimierende Wirkungen, generiert keine Änderungen, die sich allein aus ihrer Anwendung ergäben. Der nur beschreibende Gebrauch der Zeichen ist der, in dem
22 Ebd., PU 496. Der Abschnitt hat eine doppelte Bewandtnis: Er lässt sich zum einen mit Blick auf die Oberflächengrammatik lesen, als Beleg für deren legitimierenden, Veränderungen nicht beabsichtigenden Charakter, zum anderen mit Blick auf die Tiefengrammatik in Analogie zu PU 109 – der beschreibende Charakter der Philosophie wie der Grammatik wäre dann eine grundsätzliche Feststellung. Das Wort „erklärt“ in PU 496 bezieht sich dann, wie das Wort „Erklärung“ in PU 109, auf Erklärungen der Naturwissenschaft – hier klingt auch die Einteilung des Dilthey’schen Ordnungssatzes nach, Erklären gehöre für uns zu den Naturwissenschaften, Verstehen zu den Geisteswissenschaften.
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Funktionen nicht angetastet werden. Um Erweiterungen zu vollziehen, muss der weite Hof der Gebrauchsweisen sprachlicher Äußerungen in den Blick genommen werden; der Rekurs auf die Tiefengrammatik tut genau das. Was heißt hier aber „Tiefe“?23 Wie ist das grammatische Subjekt an die Auslotung dieser Tiefe gebunden? Tiefe ist keine räumlich zu verortende Größe, in die man wie in ein Erdreich immer weiter nach unten vordringt. „Tief“ ist hier ein Gegenbegriff zu „oberflächlich“, der eigentlich „Weite“ bedeutet. Tiefe im Sinne eines weiteren Umfangs als die Verfasstheit der Oberflächengrammatik; wie auch der Vorstellung des Subjekts nicht mehr dadurch entsprochen werden kann, besonders tief zu schürfen. Sie, die Tiefengrammatik, hat nur insofern eine Beziehung zum Verborgenen, als die gegebenen Handlungsanteile von Äußerungen, die im tiefengrammatischen Blick wichtig werden, nicht immer ohne Weiteres zu sehen sind.24 Die Oberfläche der Oberflächengrammatik ist eine Ebene des Denkens, auf der nicht
23 Vgl. hierzu Hans Julius Schneider, Wittgenstein und die Grammatik, in: Hans Julius Schneider, Matthias Kroß (Hgg.), Mit Sprache spielen. Die Ordnungen und das Offene nach Wittgenstein, Berlin 1999, S. 11-29. Der Autor verteidigt die Wichtigkeit der Schulgrammatik (S. 20) und wendet sich von einer Tiefengrammatik als Sammlung „tieferliegender Regeln“ (S. 14) ab. Die Trennung von Oberfläche und Tiefe, die in metaphysikfernen Zeiten Widerspruch hervorruft, wenn nicht provoziert, wird im Lichte grammatischer Subjektivität anders verstanden, so dass ein Angriffspunkt entfällt: Schulgrammatik ist nicht gering zu achten, aber in ihrer direkten Einflussnahme auf die Entstehungsweise sprachlicher Bedeutung reduziert. Ihr Fundament bedarf der Erweiterung, des pragmatischen Ins-Werk-Setzens durch Sprachbenutzer, die über ihre konfrontativ erlernten basalen sprachlichen Fähigkeiten hinaus in weitere Zusammenhänge eingebunden sind, die in Hinsicht auf Bedeutungsentstehung wichtig sind. Die „Tiefe“ ist eben eine Weite, ein weiter Zusammenhang, in dem tiefengrammatische Sprachverwendungsregeln ihre schulgrammatische Seite nicht deshalb überbieten, weil diese zu kritisieren sei, sondern weil sie von vornherein funktional anders bestimmt waren. 24 Hierin liegt eine Differenz zu Goethes Satz, man suche nur nichts hinter den Phänomenen, sie selbst seien die Lehre (Goethe, Maximen und Reflexionen 488), auf den sich Wittgenstein in Abschnitt 889 der Bemerkungen über die Philosophie der Psychologie bezieht. Die Phänomene, die mit der Anwendung der Oberflächengrammatik getroffen werden, sind gleichsam nur eine funktional begrenzte Lehre, nicht die Wahrheit, nach der man nicht weiter suchen solle. Die Tiefengrammatik ruft Handlungsanteile auf und verweist auf Verflechtungen von Sprache und Handlung, die der Oberflächengrammatik entgehen – die Tiefengrammatik enthält gleichsam die „Lehre“, die bei Goethe in den Phänomenen enthalten ist.
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gedeutet, sondern bestehenden Regeln genau entsprochen wird. Funktionen werden gesichert. Die Tiefe der Tiefengrammatik ist dagegen potenziell funktionserweiternd; ein weiter Bereich wird vermessen, verwandt der Definition des Symbols als „Umfangsbestimmung“ bei Aby Warburg,25 der in diesem Sinne als modern gelten kann: Die Gegebenheit des Objekts ist wichtiger als die Vorstellung von diesem Objekt selbst. Die Rolle der Grammatik kommt in den Blick als spezifisch moderne Beschreibungsform der Konstitution von Subjekten, die zwischen Höhe und Tiefe situiert sind, aus dieser Situierung aber keine Verkörperlichungen mehr ableiten können.26 Es geht nicht um den Platz eines einzelnen Ich in einer Welt, das „seine Welt“ (TLP 5.63) ist.27 Merkmale einer grammatischen Orientierung des Subjektivitätsbegriffs sind, wie etwa die Suche nach der übersichtlichen Darstellung, dadurch gekennzeichnet, mehreren Sprachbenutzern als Ordnungsmuster dienen zu können. Wie ist diese Herrschaft der Mehrheit (Majoritätsargument) zu verstehen, die „Grammatik“ in einer Weise begreift, die das Subjekt zwischen Rehabilitierung des Humanum28 und Subjekttod anders aufzufassen bestrebt ist – wie es eine Lage gebietet, in der die angesprochene Mehrzahl Anerkennung nicht willentlich gibt, sondern Anerkennung nur geben kann, weil sie an Strukturen partizipiert, die die Individuen, aus denen die Mehrheit sich zusammensetzt,
25 Vgl. Aby Warburg, Symbolismus aufgefaßt als primäre Umfangsbestimmung, in: Frauke Berndt, Heinz J. Drügh (Hgg.), Symbol. Grundlagentexte aus Ästhetik, Poetik und Kulturwissenschaft, Frankfurt am Main 2009, S. 75-91. 26 Vgl. Klaus Puhl, Subjekt und Körper. Untersuchungen zur Subjektkritik bei Wittgenstein und zur Theorie der Subjektivität, Paderborn 1999, S. 88 ff. Puhl bezieht sich auf Arbeiten, die im Hinblick auf die Kategorie der Grammatischen Subjektivität interessant sind – Voraussetzungen des grammatischen Solipsismus, eines ernstzunehmenden Solipsismus, sind bei Bell: dieser dürfe „keine empirisch falschen Aussagen behaupten oder implizieren“, „dass sie (eine solipsistische Theorie, S.M.) mit allen normalen Verhaltensformen in Einklang gebracht werden kann“, dass der Solipsismus „in sich widerspruchsfrei“ sei (vgl. Wilhelm Vossenkuhl, Von Wittgenstein lernen, Berlin 1992, darin: David Bell, Solipsismus, Subjektivität und öffentliche Welt, S. 29-52). Vgl. auch: David Bell, Solipsism and Subjectivity, in: European Journal of Philosophy (1996), S. 155-174. 27 Vgl. hierzu, im Kontext der Diskussion zwischen Susan Stebbing und Richard Braithwaite: Joachim Schulte, „Ich bin meine Welt“, in: Ulrich Arnswald, Anja Weiberg (Hgg.), Der Denker als Seiltänzer. Ludwig Wittgenstein über Religion, Mystik und Ethik, Düsseldorf 2001, S. 193-212. 28 Ralf Konersmann, Spiegel und Bild. Zur Metaphorik neuzeitlicher Subjektivität, Würzburg 1988, S. 9.
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durch eben diese Anerkennung konstituiert haben. Individuen können Anerkennung geben, weil sie in einem grammatischen Rahmen (der auf Wortverwendungen im weiten Sinne aufbaut) Anerkennung bekommen. Die Frage nach Autonomie und heteronomer Prägung des Subjekts, das eine Sprache spricht, ist dann mehr als die Verknüpfung heterogener Bestandteile zu einem Ganzen, ist nicht nur harmonisierender Einheitsgenerator, sondern bezieht sich grundsätzlich auf die Schaffung eines Raumes, in dem die Mittel, Anerkennung ausdrücken zu können, erst bereitgestellt werden. Grammatik als Tiefengrammatik ist, wie oben gesagt, mit einer normativen Komponente behaftet, die diese Grammatik, die so viel über den tatsächlichen Sprachgebrauch mit seinen Fallen weiß, als Vorbild taugen lässt. Wittgenstein beschreibt dies auf der Ebene von Sätzen, die als Äußerungen gelten: „‚Elliptisch‘ ist der Satz nicht, weil er etwas ausläßt, was wir meinen, wenn wir ihn aussprechen, sondern weil er gekürzt ist – im Vergleich mit einem bestimmten Vorbild unserer Grammatik.“29 Der Ruf „Platte“ statt „Bring mir eine Platte!“ in PU 20 partizipiert an den bedeutungstragenden Voraussetzungen, die elliptische Sätze verstehbar machen. Der elliptische Satz ist, wie Wittgenstein in diesem Abschnitt betont, nicht einer der etwas „auslässt“. Er ist „gekürzt“. Dass er aber abkürzbar ist, verdankt sich der kontextualen Rahmung, die konventionale Gebrauchsbedeutungen erkennen lässt – mit der Verwendung der gekürzten Version eines längeren Satzes verlässt man sich auf dessen Gebrauchsbedingungen. Grammatik ist indes Vorbild nicht als Idol, sondern Vorbild als Vorbild-inFunktion. Man wendet dieses in bestimmter Weise an, weil die Mehrzahl es versteht; der Bereich, den die Sprachbenutzer teilen, ist der, in dem ihnen Grammatik anstrengungslos zum Vorbild werden kann. Wie verhielten sich die Beziehungen zwischen Vorbild und an diesem orientierten Sprachgebrauch in Zeiten, als nicht Grammatik, sondern das Wesen einer Sache oder eines Vorgangs unsere Vorstellung von Sache und Vorgang bestimmte? Ein zentraler Satz für die Konturierung des grammatischen Subjekts findet sich in PU 371: „Das Wesen ist in der Grammatik ausgesprochen.“30 Hier fand, geistesgeschichtlich, eine Verwandlung antik-scholastischer in moderne Kategorien statt. Lies: Was früher in Form des Wesens gesehen wurde, erhält nun das Ansehen der Grammatik. Ein „nun“ ist mitgedacht, eine zeitliche Einordnung. Die Langform des Satzes „Das Wesen ist in der Grammatik ausgesprochen“ geht so: „Was sich früher in Wesensform aussprach, ist nun in der Form der Grammatik ausgesprochen.“ Wir sind heute, recht verstanden, wesensblind, sofern wir bean-
29 Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen, a. a. O., PU 20, S. 247. 30 Ebd., PU 371, S. 398.
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spruchen, mit unseren theoretischen Überlegungen auf der Höhe unserer tatsächlichen Sprachverwendung zu sein. Das Wesen ist ein veralteter Modus der Darstellung31 (eine veraltete Art, in der uns philosophische Probleme entgegentraten). Die Grammatische Subjektivität kennt nicht mehr den Essenzialismus, nicht die Metaphysik. Das alte Wesensmodell dauert nicht in anderer Form fort, dies ließe Wittgensteins Innovation einer vordergründigen Bewahrungsfreude anheimfallen, es ist aber eine starke Erinnerung. Den Überlegungen, die sich mit dem grammatischen Subjekt befassen, bedeutet der Satz in PU 371 vielmehr die Thematisierung eines Fundierungsverhältnisses: Wesen und Grammatik scheinen sich wie einander entgegengesetzte Entitäten zu konfrontieren, Marken, mit denen man etwas tun kann. (Man könnte den Essenzialismus wählen.) Aber so scheint es nur. Man hüte sich vor reifizierenden Substantiven und den Vereinfachungen, die sie versprechen. De facto ist die Frage nach Fundierungsverhältnissen deutlich beantwortet, schaut man genau auf den Wortlaut des Abschnitts: Was sich aus-sprechen lässt, das gibt es nicht mehr, es ist nicht mehr in der Weise gegeben, wie wir es kannten, es hat seine Erscheinungsform geändert: sie ist nicht mehr die des Wesens. „Erscheinung“ ist dabei keine dunkle Vokabel erkenntnistheoretischer Tradition, wie Austin sie in Sense and Sensibilia so trefflich attackierte, sondern bezeichnet die Art und Weise, wie wir etwas wahrnehmen – darüber so sprechend, dass andere uns verstehen. Unsere Sprachhandlungen sind nun von anderen Grenzen bestimmt, nicht die Vorstellung eines angebbaren Wesens wirkt grenzsetzend, sondern Sprachverwendungsweisen im starken Sinne. Stärke, das ist in diesem Zusammenhang die Orientierung an der Tiefengrammatik. Wird das Subjekt hier vergessen? Wird „anhand der anonymen Zirkulation von Sprachspielen oder Systemen“32 vergessen, dass es „auch als ein Jemand fungiert“?33 Der Status des Subjekts zwischen, überspitzt gesagt, anonymer Funktionsstelle und pathetischem Selbstvergewisserungselement ist ein zu verhandelnder. Das Subjekt ist, in der
31 Gegen die Annahme, Wittgenstein behalte mit PU 371 einen essenzialistischen Blick auf die Sprache bei, spricht deutlich der Satz aus dem Nachlass: „Man kann nicht in der Sprache das Wesen der Sprache beschreiben.“ (Vgl. Nedo (Hg.), Ludwig Wittgenstein, Wiener Ausgabe, Band 3, S. 30, Wien/New York 1995.) Wir können eben die Sprache nicht „von außen betrachten“ (a. a. O.). 32 Vgl. Käte Meyer-Drawe, Illusionen von Autonomie. Diesseits von Ohnmacht und Allmacht des Ich, München 1990, S. 36. 33 Ebd., S. 37.
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Zeit der Moderne, die sich in ihren Grundzügen seit der Zeit „um 1800“34 datieren lässt, auf dem Weg einer Entwicklung, die durch Schweigen und Diskontinuitätserfahrung ebenso geprägt ist, wie durch die Erfahrung, angesichts der sich beschleunigenden Zeit in den modernen Metropolen keine festen Grenzen mehr zu besitzen – die Auflösungen alter Gewissheiten in modernen Lebenswelten wirken auf die illusio des stabilen Selbstverhältnisses ein. Aber es passiert noch mehr: Fragt man, wie hier, nach der sprachlichen Realisierung von Subjektivität ist es aufschlussreich, von einem Prozess der subjectivisation (subjectification) auszugehen; ein Prozess, der nicht zufällig in der Grammatikalisierung des Subjekts ansichtig wird: „Regarding subjectification as a pragmatic-semantic process whereby meanings become increasingly based in speaker’s beliefs about, or attitudes towards, what they are discussing, she (Elizabeth Closs Traugott, S.M.) illustrates how certain expressions that initially articulate concrete, lexical and objective meanings have come – through repeated use in local syntactic contexts – to serve abstract, pragmatic, interpersonal, speaker-based functions. Grammaticalisation, by contrast, the process whereby lexical items or phrases come to be ‚reanalyzed as having syntactic or morphological functions‘. For example, the grammaticalization of be going to relies on pragmatic reanalysis that entails the experiencer of an abstract sense of motion being identified with the speaking subject, thus realigning and strengthening speaker perspective.“35
Aus dem linguistischen Kontext lässt sich übersetzen: In Prozessen der Grammatikalisierung36 wird pragmatisch reanalysiert, diese Prozesse betreffen das Subjekt. Grammatische Subjektivität finden wir nicht vor wie die früheren wesenhaften Entitäten aristotelischer Provenienz, sie werden aktiv hergestellt, bis die Identifizierung des Subjekts mit Rekurs auf grammatische Standards stattfinden kann. Die linguistische Referenz ist hilfreich, um aufzuzeigen, dass Grammatik ein work in progress ist, etwas, das sich durch analysierende und reanalysierende Schritte ausbildet, wobei die engeren Strukturzusammenhänge der linguistischen Analyse durch jene weiten tiefengrammatischen Zusammenhänge eingenommen
34 Zur euphemistischen Qualität dieser zeitlichen Markierung vgl. Georg Stanitzek, Brutale Lektüre „um 1800“ (heute), in: Joseph Vogl, Poetologien des Wissens um 1800, München 1999, S. 249-265. 35 Subjectivity and subjectivisation. Linguistic perspectives, edited by Dieter Stein and Susan Wright, Cambridge 1995, S. 8. 36 Vgl. Elizabeth Closs Traugott, Subjectification in Grammaticalisation, in: Dieter Stein, Susan Wright (Hgg.), Subjectivity and Subjectivisation, a. a. O., S. 31-54.
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werden, die sich mit Blick auf die Kontexte jener Verwendungen auf die Verwendungsweisen von Wörtern in der Sprache beziehen und die Sprecherperspektive stärken. Die gestärkte Sprecherperspektive ist die, in der das grammatische Subjekt sich zunehmend als selbstverständlich begreifen kann. Dieses Begreifen schützt wieder die Mittellage, auf deren Sicherung Wittgensteins Überlegungen in den Untersuchungen auch abzielen; im Gegensatz zu Gedanken, die das Subjekt der Moderne mit Heidegger als Ort des worldpicturing verstehen und als solches perspektivieren.37 Die aktive Rolle des Subjekts, die hier eine Modernität ausdrückt, ist bei Wittgenstein verbunden mit der Integration des aktiven Handlungsanteils in ein bestehendes Regelgefüge. Wer also mit seinen Handlungen Anspruch auf Erweiterungen des bestehenden Regelkanons macht, muss sich zunächst in diesen so integrieren, dass die Etymologie von „Subjektivität“ (Unter-werfung) wieder aktualisiert wird. Das moderne Subjekt wird so durch einen Begriff bezeichnet, der von diesem Subjekt wieder absieht; dies ist ein grundsätzliches Paradox und Paradoxien sind es, die die Entwicklung und Ausdifferenzierung von Subjektivität in der Moderne tragen. All die Erlebnisse von Bruch, Schock und Spaltung, die das Ich (hier synonym gebraucht mit „Subjekt“) als unrettbar ausweisen. Die Formel aus Ernst Machs Die Analyse der Empfindungen, die etwa Hermann Bahr weitertrug,38 konstatiert einen Endpunkt, der zum Ausgangspunkt wurde: „Es (das Ich, S.M.) ist nur ein Name. Es ist nur eine Illusion. Es ist ein Behelf, den wir praktisch brauchen, um unsere Vorstellungen zu ordnen.“39 Als Ordnungsbegriff wird das Ich (wie das Subjekt) getroffen von der paradoxalen Qualität seiner Darstellungsform, der Art, wie es gegeben wird. Die Ordnung, die der Begriff „Ich“ schaffen kann, ist immer nur eine vorläufige. Hochschätzung wie Kritik treffen das Subjekt nie ganz. Es ist eine Stelle in der Ordnung der Begriffe, die nie zur Zufriedenheit besetzt ist, es gibt stets etwas zu ändern, anzugleichen, vorzuenthalten, da der Zustand der Kategorien von Faktoren abhängt, die auf einer Ebene liegen, über die die Subjekte nicht verfügen können. Ihre Fähigkeit, auf die Begriffe einzuwirken, die von ihnen sprechen, ist
37 Anthony J. Cascardi, The Subject of Modernity, Cambridge 1992, Introduction, S. 1-15, S. 1. 38 Vgl. Hermann Bahr, Das unrettbare Ich, in: Gotthart Wunberg unter Mitarbeit von Johannes J. Brakenburg (Hgg.), Die Wiener Moderne. Literatur, Kunst und Musik zwischen 1890 und 1910, Stuttgart 1984, S. 147-148; weiterhin: Allan Janik, Stephen Toulmin, Wittgensteins Wien, aus dem Amerikanischen von Reinhard Merkel, München 1989 (2. Auflage). 39 Hermann Bahr, Das unrettbare Ich, in: Wunberg et al. (Hgg.), Die Wiener Moderne, a. a. O., S. 147-148, S. 147.
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durch Instanzen beschränkt, die Regelkompetenz erst einmal verbürgen. Diese Verbürgung stellt das basale Funktionieren sprachlicher Interaktionen sicher (mit weitem Hof zu denken: dann auch der nichtsprachlichen Elemente) und ist daher von großer Wichtigkeit. Das Subjekt greift sich selbst an, wenn seine Bestimmungen alle gemeinsam auf es angewendet werden; der Bruch, der das Subjekt zersplittern lässt, prägt seine moderne Begrifflichkeit jenseits absolutierender Träume. Die Tatsache, dass die Beschaffenheit des Subjekts paradox ist, kommt in der modernen Zeit zu Bewusstsein, die Zeit der Romantik setzte Anhaltspunkte, die bis ins 20. Jahrhundert reichten.40 Wie verhält sich die grammatische Sicht auf das Subjekt mit dessen paradoxaler Konstitution (es soll Orientierung geben, ist „Ordnungsbegriff “ und zugleich unrettbar)? Paradoxierungen sind Produktivkräfte. Die Kraft, einen Bruch anzuzeigen, wiederholt sich im Subjekt. In diesem Sinne wird das Paradox als Katachrese41 deutlich. Katachrese, das ist der Bildbruch, die kühne oder gemischte Metapher, lat. abusio.42 Die grammatische Bestimmung des Subjekts widerruft in gewisser Weise seine paradoxierenden Elemente; die Einsetzbarkeit in Handlungszusammenhänge verlangt vom grammatischen Subjekt eine aktive Deambiguierung. So wächst das moderne Subjekt als grammatisches, positiv gesagt, über seine paradoxale Konstitutionsform43 hinaus:
40 Vgl. nur Andrew Bowie, Aesthetics and Subjectivity: From Kant to Nietzsche, Manchester 2003 (second edition), Eldridge, The Persistence of Romanticism a. a. O. 41 Vgl. Dieter Mersch, Das Paradox als Katachrese, in: Ulrich Arnswald, Jens Kertscher, Matthias Kroß (Hgg.), Wittgenstein und die Metapher, Berlin 2004, S. 81-113. 42 Vgl. Gerald Posselt, Katachrese. Rhetorik des Performativen, München 2005, S. 17. 43 David Carr bezieht sich, um dieses Paradox anzuzeigen, noch auf den Tractatus, dessen Rede über das Ich er in einer transzendentalen Tradition verortet, später im innerwerklichen Zusammenhang geht es um die paradoxe Qualität des Subjekts, das grammatisch bestimmt wird, vgl. David Carr, The Paradox of Subjectivity. The Self in the transcendental tradition, Oxford 1999, hier S. 131: „The real point is that the transcendental subject is not any kind of thing – it is more like an ‚absence‘ or ‚exemption‘, as I have called it. But in its paradoxical role as inescapable condition of the possibility of experience, it cannot be denied […]. Paradoxical forms of expression may be unavoidable when trying to articulate philosophically this difficult notion. The existentialists, with their love of paradox, were not the only ones to see this. It is well known that Ludwig Wittgenstein, in his Tractatus, sketched a notion of what he called the ‚philosophical self‘ (das philosophische Ich) (5.641) or the ‚metaphysical subject‘ (metphysisches Subjekt) (5.633) that can be compared to the transcendental self of Kant or Husserl. ‚The philosophical self is not the human being, not the human body, with which philosophy deals‘, he writes (5.641). ‚The subject does not belong to the world: rather, it is a
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es muss, als durch Bruch und Schock gekennzeichneter Ordnungsbegriff von einigen seiner prägenden Zuschreibungen absehen, um die ordnungssichernde Qualität des Begriffs zu bewahren. Das grammatische Subjekt tut etwas dafür, sich als bruchlos denken zu können, dieses Tun ist auch heuristisch, eine Anwendung sichernd, neue Sichtweisen hervorbringend. Aufschlussreich für die Annahme, das grammatische Subjekt stelle sich aktiv als bruchlos her, worauf letztlich auch die deambiguierenden Prozesse zielen, in deren Durchführung es verwickelt ist, ist ein Satz in PU 29. Grammatik, verstanden als Tiefengrammatik, ist, anders als das „Wesen“, nicht etwas, das wir vorzufinden scheinen, sondern an deren In-Geltung-Setzung wir mitarbeiten. Wittgenstein schreibt: „Vielleicht sagt man: Die Zwei kann nur so hinweisend definiert werden: ‚Diese Zahl heißt „zwei“‘. Denn das Wort ‚Zahl‘ zeigt hier an, an welchen Platz in der Sprache, der Grammatik, wir das Wort setzen. Das heißt aber, es muß das Wort ‚Zahl‘ erklärt sein, ehe jene hinweisende Definition verstanden werden kann. – Das Wort ‚Zahl‘ in der Definition zeigt allerdings diesen Platz an; den Posten, an den wir das Wort stellen.“44
Das „wir setzen“ zeigt die Offenheit der Bedeutungskonstitution der modernen Zeit; das grundsätzliche Paradox der Subjektkonstitution besteht dann wieder darin, dass unsere Kompetenz, Wörter auf einen bestimmten „Posten“ zu setzen, weniger Freiheitsmoment ist, als in den Diensten der Bedeutungskonstitution das Zurücktreten des Subjekts bedeutet. Gleichwohl wird Bedeutung nicht mehr offensichtlich verordnet, wie zu Zeiten scholastischer Dringlichkeiten, die mit Blick auf Autoritäten vorgaben, was zu glauben und zu denken war. Wir setzen das Wort an einen Platz der Sprache, der Grammatik (Wittgenstein nimmt hier en passant eine Identifizierung vor: Sprache ist gleichbedeutend mit Grammatik). Grammatik ist nicht selbstgenügsam; der Satz aus PU 29 gibt einen starken Hinweis auf die pragmatische Bewandtnis der Grammatik, die unsere Sprache ist: Um unsere „Erklärungen“ (hier nicht als „Erklärungen der Naturwissenschaft“ verwendet) einsetzen, an einen Posten stellen zu können, bedarf es der Erklärungen, die bereits an ihre Posten gestellt sind (nicht von uns). Wieder zeigt sich Sprachgeschehen als Konfrontationsgeschehen; wir können an der Geltung der Sprache,
limit of the world‘ (5.632). ‚Where in the world is a metaphysical subject to be found?‘ (5.633). ‚Thus, there really is a sense in which philosophy can talk about the self in a non-psychological way‘ (5.641). But while we may talk about it, we must also say of this subject, according to Wittgenstein, that ‚there is no such thing‘ (Das denkende, vorstellende Subjekt gibt es nicht) (5.631, my emphasis.).“ 44 Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen, a. a. O., PU 29, S. 253.
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ihrer zeitlich begrenzten und kontingenten Verfestigung, mitarbeiten, weil die ebenso kontingent verfestigten Haltestrukturen gelten, in denen die Kombinations- und Einsetzarbeit möglich ist. Im Lichte des bisher Gesagten: Die Vorgänge, die der Deambiguierung des paradoxal verfassten Subjektbegriffs gelten, sind von dem Paradox begleitet, die deambiguierenden Schritte nur tun zu können, wo bereits Fakten geschaffen wurden, mit denen das Subjekt, im strikten Sinne von PU 5, konfrontiert wird. Das lässt erneut die Frage der heteronomen Verankerung autonomer Bewegungen des Subjekts unter grammatischen Vorzeichen stellen: Die Autonomie, die unter diesen Vorzeichen denkbar ist, ist eine entzauberte. Autonomie, von der, mit Max Weber, im Entzauberungszusammenhang gesprochen wird, folgt der Semantik des entzauberten Subjekts in der entzauberten Welt, deren Schlüsselwort die Rationalisierung ist.45 Katachrestisch verfasst sich das moderne Subjekt angesichts des Bildbruchs, der sich auf die Vorstellungen dieses Subjekts von sich selbst bezieht; seine fortgesetzte Kontextualisierungskompetenz (die einen Begriff an einen Posten zu stellen vermag), ist in früheren Kontexten begründet, die ein schwaches Verständnis von „begründen“ implizieren, das aber stark genug ist, um Bedeutung verlässlich herzustellen und abzuändern. Der Widerspruch zwischen autonomer Macht des Subjekts als Imago, an die man zu glauben gelernt hat und der Heteronomie der vorbereiteten Mitsprachemöglichkeiten in der Sprache, der relativen Einsetzungskompetenz (Vgl. PU 29) lässt sich auflösen in die Möglichkeit, die paradoxe Konstitution eines Gegenstandsbereichs gerade als prägend aufzufassen: „Zur Reflexion gehört der Widerspruch; wo dieser fehlt, wird jene beschnitten, nichts anderes demonstriert die
45 Vgl. Cascardi, The Subject of Modernity, a. a. O., S. 17: „The list of phenomena that Weber subsumes under the heading of ‚rationalization‘ is remarkably diverse. It only begins with the presupposition that theoretical knowledge can be expressed in mathematical form and tested empirically in controlled experiments. […] we can see that for Weber Western rationalism extends to encompass everything from the development of a fixed perspective in painting and architecture, to the institutionalization of art in theatres and museums and the development of keybord instruments. Weber further sees Occidental rationalism as marked by the emergence of the modern State and as bound to the standards of scientific jurisprudence, administered by professionally trained jurists according to the principle of rational natural law.“ Die Trennung des Rechts in Sphären gehöre zu diesen Besonderheiten des Westens. Segregationen dienen der weiteren Ausdifferenzierung des Subjektbegriffs, die Eingriffsmöglichkeiten des Individuums sind unter Säkularisierungseinfluss scheinbar gewachsen, aber unter Entzauberungsbedingungen mit Grenzen konfrontiert: Autonomie stößt an die Grenze, als die Entzauberung aufzufassen ist.
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Russell’sche Lösung der Antinomie, ihre Auflösung in eine Stufenhierarchie von Objekt- und Metasprache bei Verbot ihrer ‚Sprachstufenmischung‘.“46 Das grammatische Subjekt hat die Verbote inhäriert, um sie zu umgehen. Es ist gemischt im Blick auf eine Unterscheidung von Kompetenz- und Performanzanlage: Worin das grammatische Ich normierend eingreifen kann, ist begrenzt dadurch, dass es etwas zu sagen imstande ist. Performanz begrenzt Kompetenz. Nur deshalb kann es Bedeutungen tragen und durch diese getragen werden, also die Verwendungsweisen von Wörtern in der Sprache als bezeichnende Konstituenten besitzen, weil es anderes hinnehmen muss. Die heteronome Verfasstheit der sprachlichen Struktur lässt sich nicht abschütteln; Grammatik als Tiefengrammatik beruhigt über die übertriebene Autorität der früheren Wesensvorstellungen, aber sie tut es, indem sie das grammatische Subjekt von einer möglichen eigenen Autorität als Autonomie trennt. Die Autorität des grammatischen Subjekts ist fundiert in seiner paradoxalen Bestimmung; das moderne Subjekt ist nicht, was es behauptet, wenn es Autonomie behauptet, und es ist vice versa nicht, was es sein würde, wenn es sich als abhängig von Wesensvorstellungen begriffe. Das Subjekt, als Ordnungsbegriff vorgestellt, ist in der modernen Zeit mit dem Startpunkt neuzeitlicher Fokussierung des Ich in cartesischer Tradition in der Krise. Diese Krise ist etwas anderes als ein Krisenbewusstsein, das plötzlich aufbricht und eine geistige Landschaft unvorbereitet trifft. Es ist vielmehr eine Krise, die, mit der Marke 1800, im Laufe des 20. Jahrhunderts zur Gewohnheit wird. Koselleck betont, das Jahrhundert der Kritik habe „die ‚Krise‘ als zentralen Begriff nicht gekannt.“47 Fortschritt und Aufklärung waren eingebettet in einen Zustand, dessen grundsätzliches Gleichgewicht, zumindest in der Oberflächenwahrnehmung, nicht erschüttert werden konnte. Das Subjekt dagegen war von vornherein als krisisch angelegt. Seine Macht als Ordnungsbegriff war von vornherein bedroht. Im 20. Jahrhundert erscheint mit dem lingustic turn diese krisische Disposition des Subjekts als Krisis einer Form der Rede: Sprechen wie in Zeiten der Autorität des göttlichen Wortes ist gefährdet und später auch die scheinbar säkulare, gleichsam pagane Vorstellung der Isomorphien. Sprache, nicht ein isoliert gedachtes Subjekt, macht einen Bruch ansichtig, da deutlich wird: Sie ist nur noch Bühne48 für die Handlungen des Subjekts, Bühne und Medium zugleich,
46 Vgl. Dieter Mersch, Das Paradox als Katachrese, a. a. O., S. 104. 47 Reinhart Koselleck, Kritik und Krise. Eine Studie zur Pathogenese der bürgerlichen Welt, Frankfurt am Main 1973, S. 132. 48 Vgl. zur Verortung Wittgensteins im Kontext von Bühne, Probe und Aufführung: Sandra Markewitz, Spiele des Wissens. Ethik und Ästhetik als Pole von Wissenszuschreibung im Werk Ludwig Wittgensteins, in: Regine Strätling (Hg.), Spielformen des
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wenn dieses als grammatisch aufgefasst wird. Die Wortverwendungweisen gewinnen, da sie nun als mit Lebens- als Handlungsformen verschwistert aufgefasst werden, in Fragen der Bedeutungsentstehung an Gewicht. Ein Muster ist zu erkennen, das in einer Übereinstimmung von Regel und Handlung besteht, an der der Einzelne teilhat. Muster, die zu erkennen sind, bestehen nun nicht mehr in der adaequatio-Kombination von Wort und Sache, sondern begreifen Sache wie Wort als angewiesen auf den pragmatisierenden Schritt des Individuums: Es handelt regelkonform und vervollständigt so ein Muster, das auf eine bestimmte Umgebung angewiesen ist. Die Umgebung, etwa der Äußerung „Ja, ich will“, ist eine, die das Muster vervollständigt, es gibt die kleine Kirche, einen Pfarrer, Gäste und den blauen Sommerhimmel. Nicht nur Performativa brauchen das Muster, Äußerungen, mit denen wir zugleich etwas tun, sondern die Umgebung selbst kann nur Umgebungsqualität – eine bestimmte Rolle im größeren Muster – haben, weil von der Vorstellung des autonomen Status des Ich Abschied genommen wurde. Auch das Ideal der Selbsterhaltung des Individuums ist betroffen – es erscheint, gerade „in der polemischen Komponente des Begriffs der conservatio sui“49 von dem Ideal der Selbstbehauptung als Pathosformel. Selbstbehauptung als Selbsterhaltung betrachtet den Faktor Subjektivität unter ganz bestimmten Vorzeichen; Vorzeichen, die von göttlicher Teleologie absehen lassen (der Gegründetheit dessen, was auf der Erde vorgeht in einer Gottesvorstellung) sind vor allem solche, die Selbstbehauptung als Einwilligung in spezifisch moderne Markt- und Ökonomiezusammenhänge denken lassen: „Im Begriff der Selbstbehauptung ist die polemische Note nicht zu übersehen, er opponiert der teleologischen Deutung der menschlichen Natur in einem Universum, das als Zwecksystem aufgefasst ist. Die Kriterien für die Richtigkeit seines Handelns kann der Mensch nur in sich selbst finden: – er selbst, das ist die Struktur einer Aktivität, nicht ein erstes Ziel alles seines Strebens, das er seinem Tun vorgeordnet findet und in Beziehung auf das seine von Ruhe unterscheidbare Aktivität allein verständlich ist, – als eine Bedingung nämlich, unter der Ziele verwirklicht werden können.“50
Selbst. Das Spiel zwischen Subjektivität, Kunst und Alltagspraxis, Bielefeld 2012, S. 77-102. 49 Dieter Henrich, Die Grundstruktur der modernen Philosophie, in: Hans Ebeling (Hg.), Subjektivität und Selbsterhaltung. Beiträge zur Diagnose der Moderne, Frankfurt am Main 1976, S. 97-121, S. 99; vgl. auch Dieter Henrich, Denken und Selbstsein. Vorlesungen über Subjektivität, Berlin 2007 (2016). 50 Ebd.
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Das zweckrationale Bündnis von Subjekt und Absicht ist in der Moderne nicht ohne Einschränkungen zu haben, Einschränkungen, die nicht zuletzt das Subjekt selbst treffen. Als Subjekt, das an der gemeinsamen Orientierung an Mustern teilhat, dem also eine intersubjektiv nachvollziehbare Vollständigkeit akzeptiertes Kriterium ist (das es nicht in jedem Einzelfall explizit billigen muss), ist das Subjekt der Moderne als grammatisches auf Kriterien angewiesen, die nicht aus ihm selbst kommen. Der individuell verfolgte Zweck gebiert nicht sein Kriterium, sondern beruht auf einer Disposition mitzutun, die durch ein frühes Konfrontationsgeschehen stabilisiert wurde. Wer an Mustern so mitwirkt, dass andere sie erkennen und adäquat reagieren können, ist nicht nur für den Musterteil verantwortlich, dessen Fehlen er wahrnehmen kann, sondern dafür, dass er zu den Musterteilen, die andere in sprachlichen Interaktionen mitzuteilen bereit sind, passt. Das „Musterrezept“51 fordert, von der Annahme der Überlegenheit individueller Selbsterhaltung im Bedeutungsspiel abzusehen. Das Subjekt mag Zwecke verfolgen; in einer grammatisch bestimmten Umgebung kann es dies aufgrund seiner Teilhabe an den Kompetenzen, die seine Mitspieler in der Sprache auch haben (womit noch etwas anderes gemeint ist als Intersubjektivität – die idealische Komponente dieses Konzepts, die die Menschennatur bei allen Einschränkungen sehr optimistisch einschätzt, fehlt beim grammatischen). Grammatik ist so auch verstehbar als die Einsicht, dass man mittun muss – und dass man nur mittun kann, wenn man sich an bestehende Sprachverwendungsweisen anschließt. Selbsterhaltung ist nun kein subjektiver Faktor mehr, sondern relativ zu erlernbaren Kompetenzen, eben der Sprache. So wird die Selbsterhaltung des grammatischen Subjekts in eine Teleologie zurückgeführt, die ein starkes pragmatisches Moment hat: Einem Zweck wird handelnd Genüge getan. Das Musterrezept ist nicht wählbar, sondern hat unsere Sehgewohnheiten (mit denen ein Tun verschwistert ist) geprägt – Vollstän-
51 Vgl. hierzu Eike von Savigny, Wittgensteins „Philosophische Untersuchungen“. Ein Kommentar für Leser, Band 1, Abschnitte 1-315, Frankfurt am Main 1988, S. 14-24, S. 15: „Wittgenstein macht sich vom Gebrauch aller Wörter für Seelisches ein Bild, das ich mangels eines besseren Wortes sein ‚Musterrezept‘ nenne; ‚Rezept‘, weil es weniger Ähnlichkeit mit einer Theorie hat als mit einem Vorschlag, wie man diese Wörter mit Gewinn anschauen sollte, ‚Muster‘ in Anleihe bei PU II i und PU II xi […]. Das Musterrezept gilt wohl nicht nur für diese Wörter, und es könnte wahrscheinlich auch benutzt werden, wenn man das Bild von den Familienähnlichkeiten weiter konkretisieren möchte. Genausowenig, wie Wittgensteins grundlegende Vorstellungen sonst ist das Rezept irgendwo zusammenhängend vorgestellt (Beobachtungen, die es darauf abgesehen haben, finden sich gehäuft in PU 151-184 sowie in PU II xi, erste Hälfte)“.
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digkeit wird als richtig empfunden, Vervollständigung gegebener Muster als korrektes Handeln. Das grammatische Subjekt weiß, dass Vollständigkeit kontingenzabhängig ist (die Vorstellung davon, was vollständig sei, immer auch anders sein könnte), ebenso wie die Muster, die ein Sprachbenutzer sehend und sprechend vervollständigt. Der Kontingenzaspekt ist hier, unter grammatischen Bestimmungen des Subjekts, mit dessen paradoxer, krisischer Anlage, die in der Moderne deutlich wird, verbunden: Es muss sich befestigen und die hergebrachte Krisis des Subjekts mit Orientierung an grammatischen Standards heilen. Hierin liegt auch eine Form der Philosophie als Therapie,52 sie sagt, lass’ die Kugel fallen,53 die die philosophischen Probleme versinnbildlicht, auch jene, die das denkende Ich betreffen. Es ist als denkendes Ich nicht mehr als die anderen. Grammatische Bestimmungen des Subjekts kommen daher in Gestalt von Begrenzungen einher; sie enthalten eine implizite Neudefinition dessen, was als Freiheitsmoment gilt. Theo Kobusch hebt hervor, dass Subjektivität sich als Liebe erfülle; im Begehren einer anderen Subjektivität als der eigenen, fundiert im christologischen Diskurs im 13. Jahrhundert.54 Diese theologisch-metaphysische Fundierung des Subjektbegriffs scheint der grammatischen Bestimmung wie der Anwendung des Musterrezepts unendlich fern zu sein. Das moderne, grammatisch bestimmte Subjekt erscheint als defizitär; es hat nichts zu glauben und sein Wissen ist flüchtig. An dieser Stelle ist es interessant, an die „Sprache hinter dem Sprechen“ zu erinnern, auf die Sybille Krämer hingewiesen hat und die Denker wie ein Schibboleth voneinander trennt. Das Freiheitsmoment der Sprache in einer Metaphysik zu fundieren, glaubt nicht nur an die Sprache hinter dem Sprechen, sondern scheint den Raum der Argumentation ins Unendliche zu öffnen – es ist nicht mehr jener Raum der triftigen Gründe, in dem für den Wittgenstein der Bemerkungen in Über Gewißheit Diskussionen sinnvoll möglich sind. Wenn die Freiheit der anderen Person meine
52 Vgl. nur Jonardon Ganeri, Clare Carlisle, Philosophy as Therapeia. Royal Institute of Philosophy Supplement: 66, Cambridge 2010, darin besonders: Gary Hagberg, The Thinker and the Draughtsman: Wittgenstein, Perspicous Relations and „Working on Oneself “, S 67-81. 53 Vgl. Ludwig Wittgenstein, „Philosophie“, §§ 86-93 aus dem sogenannten „Big Typescript“ (Katalognummer 213), hrsg. von Heikki Nyman, Revue internationale de Philosophie 169, 1989, S. 175-203, S. 187. 54 Vgl. Theo Kobusch, Person und Subjektivität: Die Metaphysik der Freiheit und der moderne Subjektivitätsgedanke. In: Reto Luzius Fetz, Roland Hagenbüchle, Peter Schulz. (Hgg.), Geschichte und Vorgeschichte der modernen Subjektivität, Band 2, Berlin, New York 1998, S. 743-761.
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Freiheit erfüllen und vollenden kann,55 haben wir uns weit von der Pragmatik des Musterrezepts entfernt. Indes sind beide Gedanken nicht von der Art, dass man sich für einen entscheiden müsste, um die Geltung des anderen Gedankens zu sichern. Es gehört zur grammatischen Bestimmung des Subjekts, die Ebenen unterschiedlich zu markieren, auf denen von diesem Subjekt gesprochen wird – eine adäquate Weise vom Subjekt zu sprechen, das den Freiheitsgedanken trägt, ist das Schweigen.56 Dies ist wiederum keine Sicherung des blanken Status quo, sondern schließt an die Einsicht Wittgensteins über die Ethik an: keine absoluten Werturteile, nur relative Faktenaussagen, gut Tennis spielen statt gut „sein“. Die ethische Herausforderung und der ethische Anspruch von Wittgensteins Werk gebietet, Unterschiede zu machen – und zugleich, die Dinge der Welt so zu lassen, wie sie sind.57 Die paradoxe Seite der ethischen Bestrebungen, über das Unsagbare zu sprechen und scheinbar nur in diesem Sprechen Beruhigung zu finden, wird durch die grammatische Bestimmung handhabbar gemacht. Sie benennt ein zutiefst weltliches Prinzip, das der Metaphysik fern ist, und stellt zugleich die sprachlichen Mittel bereit, gegen die Grenze der Sprache anzurennen. Die Mittel der Sprache indes, die die ästhetische Rede zu tragen vermögen, die vom ganz Anderen träumt, sind nicht die dessen, der glaubt. Zu erinnern ist hier, dass die religiöse Rede von der der Kunst verschieden ist,58 es also nicht nur der imaginativ-entgrenzende Charakter der Rede ist, der die Vorstellungen von Freiheitsmomenten überhaupt mit der Fähigkeit, von gegebenen Dingen träumend abzusehen zusammenfallen lässt, um den es hier geht. Die Dringlichkeit der Ethik ist die einer religiösen Empfindung, dieser geht es nicht um Vermittlung. Das Musterrezept dagegen steht auf der Seite der gelingenden Vermittlung. Mit der Terminologie der linguistischen
55 Ebd., S. 760. 56 Vgl. hierzu: Emmanuel Alloa, Alice Lagaay (Hgg.), Nicht(s) sagen. Strategien der Sprachabwendung im 20. Jahrhundert, Bielefeld 2008, darin zu Wittgenstein: Fabian Goppelsröder, Der Rest ist Schweigen – Wittgensteins Philosophie als Sprechverweigerung, S. 61-78. 57 Vgl. Ulrich Arnswald, Das Paradox der Ethik – „Sie läßt alles, wie es ist.“, in: Ulrich Arnswald, Anja Weiberg (Hgg.), Der Denker als Seiltänzer, a. a. O., S. 11-33, sowie Jens Kertscher, Der Sinn der Ethik und der ethische Sinn, in: Arnswald, Weiberg (Hgg.), Seiltänzer, a. a. O., S. 89-112 und Dieter Mersch, ‚Es gibt allerdings Unaussprechliches‘. Wittgensteins Ethik des Zeigens, in: Arnswald, Weiberg (Hgg.), Seiltänzer, a. a. O., S. 133-155. 58 Ilse Somavilla, Religion und Kunst in Wittgensteins Philosophieren: Parallelen und Unterschiede, in: Arnswald, Weiberg (Hgg.), Seiltänzer, a. a. O., S. 231-254.
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Referenz59 kann es als Teil einer Grammatikalisierung gelten. Diese ist prägend für die moderne Zeit, das moderne Subjekt und die Fluchtformen des philosophischen Diskurses (Träume, Ahnungen, Wünsche) – auch wie es aus den Träumen zurückkehrt in die Mittellage des gewöhnlichen Diskurses ist grammatisch bestimmt. Grammatik ist das, was nach der Erschütterung wartet. Das Musterrezept als Teil eines Grammatikalisierungsprozesses hat in diesem auch die Aufgabe, die weiter oben genannten Deambiguierungsprozesse zu ermöglichen, die für die Möglichkeit, ein Subjekt als grammatisch zu bestimmen, wichtig sind. Unsere Wahrnehmung wird dadurch gelenkt und wir selbst werden dadurch bestimmt; die Kontingenz dessen, was uns als vollständig gilt, erhielte sich nicht in einem Kontext, der etwa die Gottesreferenz zentral setzte. Die säkulare Form, Eindeutigkeit zu schaffen, die nicht mehr die Eindeutigkeit eines Glaubens ist, an dem man nicht grundsätzlich zweifelt, sondern in der Fähigkeit besteht, kontextrelativ und -sensitiv mitzutun, besteht darin, sich mit jener Vorstellung von Vollständigkeit und dem Genügetun zufriedenzugeben, die, in historisch in die Vergangenheit reichender Perspektive, die Sprachbenutzer selbst hergestellt haben. Niemand steht jedoch auf den Schultern von Riesen; die Vorstellungen von Recht und Unrecht werden von übernatürlich gedachten Sanktionen entkoppelt, mit den weltlichen Sanktionen kommt erneut die Frage nach Heteronomie und Autonomie ins Spiel. Wenn die Freiheitsvorstellung der Moderne eine grammatische ist, d. h., man Freiheit als Versprechen unter Gleichen ansieht, nicht mehr als metaphysisches Konstrukt oder regulative Idee, besteht die Autonomie des einzelnen Sprachbenutzers in der Besetzung jenes Freiheitsraumes, der durch die heteronome Begrenzung der sprachlichen Tätigkeiten anderer Sprachbenutzer als peer user begrenzt wird. Diese Grenze ist auf den ersten Blick unauffällig und wird pragmatisch, in Handlungsmomenten, ausdifferenziert und gespürt, in den meisten Fällen nicht als Posten, der explizit-demonstrativ aufgestellt ist – dies nur in Formen von Normenkatalogen, die als Verordnungen niedergelegt sind, aber eben in Handlungsgefügen umgesetzt werden – die Grenze des verbietenden Buchstabens wird in der Grenze der sanktionierenden Handlung desjenigen erfahren, der auch ein Sprachbenutzer ist. Das grammatische Subjekt erfährt sich im Öffentlichen. Es ist von der Privatsprachenkritik der Untersuchungen gleichsam durchdrungen; wie Fogelin anmerkt, sind gerade die Überlegungen im Privatsprachenargument grammatisch: „Since I will argue that Wittgenstein’s reflections on the possibility of a private language should also be understood as notes on the grammar of various expressions, it is important
59 Vgl. Closs Traugott, Subjectification, a. a. O.
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to be clear about what Wittgenstein has in mind in speaking of the grammar of an expression. Wittgenstein, of course, is not using the notion of the grammar of an expression in the narrow sense of its syntax. For Wittgenstein, the grammar of an expression concerns its role or use in the language. According to him, a standing source of philosophical confusion […] is the tendency to transpose a remark concerning the grammar of an expression into a seemingly substantive claim about the things referred to in this expression.“ 60
Grammatik darf nicht mit Empirie verwechselt werden, die „things referred to“ sind ein zu statischer Referenzpunkt, die Grammatik eines Ausdrucks anzugeben bedeutet, eine Rolle zu benennen, die ein Ausdruck in der Sprache spielt. Denkbar ist hier wieder ein möglicher Begriff der grammatical force, ein in Rekurs auf Austins Terminologie der Sprechakttheorie gedachter Ausdruck, der die Kategorie Grammatische Subjektivität näher bestimmen lässt: Grammatik als Tiefengrammatik befasst sich mit Rollen von Ausdrücken in der Sprache, diese Komponente kommt zu der Orientierung an der Verwendungsweise hinzu und spezifiziert sie. Gleichzeitig ist die grammatical force, wie oben gesagt, verständlich als grammatische Kraft, die neben der Rollenkomponente des Ausdrucks ungerichteter ist und eine Kapazität bezeichnet, Dinge jenseits bloßer syntaktischer Bezogenheit zu betrachten. Verstehensprozesse brauchen diese doppelte Belichtung: Schulgrammatik (syntaktische Orientierung, Korrektheitsstandards) und Tiefengrammatik in einer signifizierenden Bewegung (von der die Tiefengrammatik den Löwenanteil der veränderbaren Sprachvorgänge zu tragen scheint (es ließen sich Beispiele denken, die den nichtmetaphysischen konfrontativ erfahrenen Grund von Tiefe als Weite aufwerteten)). Eine Fülle von Bestimmungen lagert sich um ein Zentrum, definiert das Wort „Grammatik“ in einer alltagsaffinen Weise. Der Topos von der Grammatik, die sich „aufdrängen“ 61 will (PU 304) im Kontext des Privatsprachenarguments und der Diskussion des Schmerzbenehmens schreibt ihr eine regulierende Kraft zu jenseits der Steuerung; mit breiterem Hintergrund wird hier in mannigfaltigen Vollzügen verdeckt, dass auch diese Vollzüge nicht die ganze Wahrheit sind („Und Wahrheit ist von Natur und Anspruch her lieblos, sie kann nicht anders sein, das muß man wissen.“ 62). Wenn wir das Wort „Natur“ aus dem Satz in der Klammer relativieren, das auf eben jenes lieblose Sprechen auf der Suche nach Wesenswas und Letztbegründungsevidenz abzielte, zeigt er die ethi-
60 Robert J. Fogelin, Taking Wittgenstein at his word: a textual study, Princeton and Oxford 2009, S. 57 f. 61 Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen, a. a. O., PU 304, S. 376. 62 Vgl. A.R. Bodenheimer, Verstehen heißt Antworten, Stuttgart 1992, S. 45.
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sche Seite des Redens von Grammatik, Sprachregeln und Sprachbenutzern – Letztere werden behandelt, als ob sie keine Seele hätten, diese wird verstanden als zu diskutierendes Phänomen, nicht als Voraussetzung bestimmter Umgangsweisen. Hier sind Krankheitsbilder aufschlussreich, etwa das der Borderline-Störung: Sie heißt so, weil sie sich zwischen zwei Krankheitsbildern befindet, nicht, wie man meinen könnte, weil die Kranken Grenzen überschreiten, ohne es zu wollen und ändern zu können (was sie auch tun). Die Spur des Wortes Lieblosigkeit weist hin auf die Eigenschaft der Kontexte, auch schlechte Rede zu perpetuieren, weiterzutragen, zu stabilisieren, auch wenn ein Ende wünschbar wäre. Die Krankheit des Subjekts scheint hier die grammatische Bestimmung zu widerlegen als ethischer Einspruch: Gerade das gleichförmige Signifizieren und Resignifizieren der schlechten, verletzenden Rede durch einen gegebenen, grammatisch bestimmten Kontext, dessen Bedeutung man immer erkennen kann, in den kleinsten Andeutungen wie ein plötzlich einbrechendes Böses, erschwert eine Änderung. Grammatik kümmert die Seele zunächst nicht – jenseits ebenfalls grammatisch bestimmter psychologischer Rede. Positiv dagegen scheint die Bedeutungsbildung mit ihren Merkmalen der Wiederholbarkeit und Implementierung der heteronomen Prägung des Sprachgeschehens, sofern es auf plane Verständigung abzielt und die imaginative Komponente in den Bereich der nachweisbaren infelicities auslagert, in einen Erweiterungskontext gestellt zu sein. Ein Kontext, dessen Funktionieren Erweiterung und Fortschreiten zu implizieren scheint, befindet sich damit auf der Seite der weitgehend unbefragten Positivität. Wir kommen der Grammatik nahe, wenn die Negativität, die sich aus ihr als positive, gegebene für ihre Protagonisten ergibt, nicht ausgeblendet wird – die Sprache, die ein Schweigen nahelegt, damit die Trauer verstummen kann, ist ein Kind der eindimensionalen Positivität. Eine Sprache hingegen, die um den Leidcharakter weiß, den sie in ihren mannigfaltigen Funktionen annehmen kann, hat sich der Wirkung der Funktion der Grammatik gestellt und Grammatische Subjektivität um eine unverzichtbare Nuance bereichert. Auch das grammatische Subjekt kennt das Leiden jenseits der Anthropologeme, es kennt das Leiden, weil es in der grammatischen Bestimmung als Kapazität der Irreführung der Sprachbenutzer enthalten ist. In PU 304 spricht Wittgenstein davon, wie eine „Grammatik“ uns falsch über die Dinge der Seele denken lässt. Der Schmerz der Seele ist eben nicht nur, was wir als Schmerzbenehmen lernen, die Wahrheit dieses Schmerzbenehmens ist bei Wittgenstein, wovon die Grammatik wegführt. Sie hat die Möglichkeit, zu täuschen, eine Positivität zu verstellen und unseren Schmerz in die Logik der Verwendungsweisen zu verkleinern. Gerade Negativität ist Merkmal der Moderne und der hier initiierten Entwicklungen, man denke an Dieter Merschs Arbeit an einer negativen Me-
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dienphilosophie63 oder Karl Heinz Bohrers Ästhetische Negativität.64 Die Positivität der Grammatik ist das Pfund, mit dem sie wuchert, ihr Air von Selbstverständlichkeit und Eindeutigkeit, wo man nicht in den Unsinn „abgleiten“ wolle (die übliche Semantik von guter Höhe und zu fliehender Tiefe, die das abendländisch Denken zu einer paradoxen Größe führte, die das Klein-Abseitige mit Bann belegte), ihr selbsterhaltender Aspekt. Das starke Argument der Grammatik ist ihre differenzierende Funktionalität. So kann man fragen, ob diese Funktion, die zur Bestimmung des grammatischen Subjekts führt, also eine Festigkeit und Identifizierbarkeit mit sich bringt, die dem Kranken und der kranken, fehlgehenden Sprache mangelt, nicht Teil jenes aufklärerischen Erbes ist, das zwar ausmisst nach Klaftern und nach Schuhen (den alten Maßeinheiten), dabei aber etwa zur Infragestellung der Vorurteile beitragen kann, die Gadamer im Blick auf den Überlieferungszusammenhang als Auslegungszusammenhang rehabilitieren wollte. Wenn Wittgenstein in den Tagebüchern 1914-1916 den diese Gedanken perspektivierenden Satz „Das Ich, das Ich ist das tief Geheimnisvolle!“65 schreibt, verweist die doppelte Emphase (Wiederholung und Ausrufungszeichen) auf einen Leitkomplex seines Werkes, der unterschiedliche Antworten bekam: In der Frühphase des Werks die Vorstellung des Solipsismus, der, recht verstanden, mit dem reinen Realismus zusammenfalle, später die Hinwendung zur Grammatik, die auch das Subjekt grammatisch bestimmte und entzauberte. Der Zauber war eine Täuschung, die die Menschen leben ließ, bis sie Bestätigungen ihres Ichgefühls im Äußeren suchten. Hier war das Wort der anderen, das ihnen antwortete im Verweis auf Regelkompetenz. Das grammatische Subjekt ist das entzauberte, das seine Freiheitsmomente neu definieren musste – Mittun, Beruhigung der Familienähnlichkeiten statt der verpflichtenden Starre des Wesenswas, Wahrnehmung der Mitmenschen. Es geht um die Entfaltung jenes Anteils am Grammatikbegriff, der als Rolle gelesen wurde und Veränderungsfähigkeit bedeutet durch Rollenbruch. Ein katachrestisches Erbe, Variante des Bildbruchs als Bruch der Rolle, die ein gemeinschaftlich geteiltes Bild anzuzeigen schien. Wenn, wie im oben genannten Beispiel des Krankheitsbildes, jede Interaktion eine sprachlich und nichtsprachlich vorgenommene Verletzung bedeutet (auch hier lässt sich eine Grenze nicht
63 Vgl. nur Dieter Mersch, Medialität und Undarstellbarkeit. Einleitung in eine „negative“ Medientheorie, in: Sybille Krämer (Hg.), Performativität und Medialität, München 2004, S. 75-96. 64 Karl Heinz Bohrer, Ästhetische Negativität, München, Wien 2002. 65 Wittgenstein, Werkausgabe Band 1, Tagebücher 1914-1916, a. a. O., Eintrag vom 5.8. 1916, S. 175.
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finden), entspricht diese Sonderform der Kommunikation einem Element der grammatischen Bestimmungen, das man deren Gleichgültigkeit nennen könnte – die Neudefinition der Freiheitsmomente im Blick auf den Mitmenschen geht damit einher, Abweichungen grammatisch nicht auffangen zu können: diese stellen die ethische Frage, der produktive Rollenbruch ist meist von pragmatischer Art: Wer die Verletzung durch eine Interaktion sprachlich ahnden will, gerät in eine sinnlose Schleife von Rede und Gegenrede; es ist diese Immunität der grammatischen Bestimmung gegen den Einzelfall, aus der ihre anonymisierende moderne Qualität erwächst – und eine Grenze, die den Unterschied zur ethischen Bestimmung markiert, über die nur geschwiegen werden kann. „The grammar of various expressions“ (Fogelin) ist die prosaische Form des im Krankheitsbild ansichtig Gemachten; Variation der Ausdrücke, ihre Vielfalt, die in Vorurteilen verstummt, damit der Vorurteilshalter leben kann. Grammatik, die Autonomie neu definiert als Fähigkeit, Begrenzungen der sprachlich determinierten Freiheitsräume anderer zu akzeptieren, die in der Sprache sichtbar werden, ist auch ein verdichtetes Wissen davon, dass die Grenze, die ein Subjekt um sich fühlt, von diesen anderen abhängt. Die fremden Blicke sind es, die es konturieren, es muss sich in diesen nicht erkennen. So überschneiden sich Fremd- und Selbstblick in der Konstitution des Subjekts. Es bleiben ein Rätsel und eine Frage, die nicht zu lösen sind. Das Subjekt ist in seiner Rätselhaftigkeit zu belassen als „eines, das neu bedacht werden kann“ 66. Die Grammatische Subjektivität scheint jenseits der Träume oder des Inkommensurablen zu liegen, ist Modus der praxeologischen Konkretisierung, nicht der ahnenden Abschweifung, die um das Rätsel weiß. Handlungsverläufe bilden sich absehbar. Wittgenstein hat in PU 304 einen Hinweis auf den ablenkenden Charakter der Grammatik gegeben: Sie gibt auch Bilder, die nicht zutreffen (nicht im Blick auf verbürgte Handlungen verifizierbar sind). Diese sind etwas, das wie beiläufig verworfen werden kann („Wir verwarfen nur die Grammatik, die sich uns hier aufdrängen will.“ 67), d. h., genau gelesen, die Grammatik reicht eben nicht in alle Gegenden, es gibt etwas Weiteres. Es ist möglich, „nur“ die Grammatik zu verwerfen, was verwundern mag. Trägt die Grammatik nicht alles? Ist sie nicht die Definitionsweise der menschlichen Handlungen (von der Art und Weise der Verwendung von Wörtern in der Sprache geprägt)? Dieses „nur“ ist recht so zu verstehen: es weist nicht auf die Unwichtigkeit der Grammatik hin, sondern darauf, dass man – im Kontext des Abschnitts gesehen – mit dem Verwerfen einer bestimmten Grammatik nicht die Schmerzen des Anderen verwirft.
66 Schwemmer, Die symbolische Gestalt der Subjektivität, a. a. O. S. 71. 67 Wittgenstein, Werkausgabe, Band 1, Philosophische Untersuchungen, a. a. O., PU 304, S. 376.
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Diese werden nicht mit Forderungen belastet. Der Satz aus PU 304 über das Verwerfen der Grammatik besagt in seinem argumentativen Kontext, dass Grammatiken im Plural wenigstens denkbar sind, wenn es auch klar geregelt ist, welche grammatische Bestimmung unsere Lebenswelt korrekt bestimmt. Wenn man eine Grammatik „verwerfen“ kann, die sich aufdrängt, steht sie, nach PU 304, in gewisser Weise in unserer Macht. Aber auch nur in einer gewissen Weise. Mittel gegen die Verwerfung ist abgesicherte Geltung – eine grammatische Bestimmung trifft zu, wenn sich Sprachbenutzerinnen und Sprachbenutzer danach richten (schon die Formulierung „gemeinsam geeinigt haben“ würfe viele Fragen auf). Genau gelesen, verwarfen „wir“ eine Grammatik, die sich aufdrängen wollte, d. h. nicht die richtige, sondern eine, die herkam aus falschen Analogien, die etwa den Schmerz zu einem Etwas oder einem Nichts reifizierten. Wie der Schmerz kein Gegenstand ist, hat die grammatische Prägung des Subjekts auch in sich selbst ein Freiheitsmoment: von der Gegenstandsanalogie zu befreien. Das grammatische Subjekt ist kein Etwas, auch kein Nichts, sondern getragen von den pragmatischen Beziehungen (auf Handlungen beruhend), die die Sprachbenutzer untereinander verbinden. George Pitcher hat schon 1964 „our craving for unity“68 für das Auftreten mannigfaltiger philosophischer Probleme verantwortlich gemacht und Wittgensteins Philosophie unter dem Emblem des Attack on Essentialism diskutiert. Was heute wohlbekannt ist, schnitt damals kalt in die gängigen philosophischen Vorstellungen; viele gehörten der „Dahinter-Ideologie“69 an, der „Sucht, Erklärungen zu suchen, wo es keine geben kann“70, die etwas anderes ist als die Diskussion der „Sprache hinter dem Sprechen“. Das Streben nach Einheit im Begrifflichen, dem Entdecken des Wesens, und der Wunsch nach dem Blick „dahinter“ gehören zusammen. Grammatik hat hier eine Härte, die jene der Attacke auf essenzialistische Konzepte ist. Die hehren Substantive stehen ausgestellt wie plastinierte Leichen im Museum; sie leben nicht, scheinen ihren Anwendungskontext zu vermeiden, ihre Eindrücklichkeit verdankt sich gerade dem – scheinbaren – Absehen von der kleinteiligen Bindung an pragmatische Bedingungen. Das Wort „craving“ im Pitcher-Zitat hat darüber hinaus noch eine andere Konnotation: Es ist etwas drängend Ethisches in dem Verlangen, das Ganze und Gute zu sehen
68 George Pitcher, The Philosophy of Wittgenstein, Englewood Cliffs 1964, S. 215. 69 Eike von Savigny, Die Philosophie der normalen Sprache. Eine kritische Einführung in die „ordinary language philosophy“, Frankfurt am Main 1993 (3. Auflage), S. 81. 70 Ebd.
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(von Savigny übersetzt es mit „Sehnen“71), das, was ohne unser Einwirken dauert, was besteht gegen den Fluss der Zeit und die Tyrannei der Sekunde. Ein Wissen um ethische Bewandtnisse (und darum, dass Wissen mehr ist als der justified true belief) begleitet unsere grammatische Einsetzung, die ein Eingesetztsein in sprachliche Zusammenhänge ist, von lat. institutio. Mit dem Einsetzen des Kindes in den Sozialkörper, die oben genannte Konfrontation mit dem schon Entschiedenen, beginnt die Geschichte der Grammatik im Leben eines Menschen. Zunächst als Kenntnis der Oberflächengrammatik, dann als Integration in die weiten Handlungszusammenhänge, die zum Großteil etabliert sind, aber auch veränderbare Anteile haben, an denen sich die verändernde Kraft der neu in die Sprachgemeinschaft Eingetretenen beweisen kann. Grammatik sichert nicht nur den Status quo einer sprachlichen Gemeinschaft, weil sie, von kontingenter Herkunft, diese als ständige Möglichkeit, Veränderungen an sich selbst vorzunehmen (über die, die sie benutzen) bewahrt. Man kann mit Hunter in Bezug auf den Komplex von Einsetzung und das Bild der Folge von Oberflächen- und Tiefengrammatik im Entwicklungsgang eines Menschen (de facto bedarf auch die Oberflächengrammatik der operationalisierenden tiefengrammatischen Mechanismen, die sie als solche festlegen) sagen: Oberflächengrammatik erzeugt Erwartungen, die durch die Tiefengrammatik geprüft werden.72 Schauen wir genauer auf PU 664: „Man könnte im Gebrauch eines Wortes eine ‚Oberflächengrammatik‘ von einer ‚Tiefengrammatik‘ unterscheiden. Das, was sich uns am Gebrauch eines Worts unmittelbar einprägt, ist seine Verwendungsweise im Satzbau, der Teil seines Gebrauches – könnte man sagen – den man mit dem Ohr erfassen kann. – Und nun vergleiche die Tiefengrammatik, des Wortes ‚meinen‘ etwa, mit dem, was seine Oberflächengrammatik uns würde vermuten lassen. Kein Wunder, wenn man es schwer findet, sich auszukennen.“73
Denken wir an das Thema der Subjektivität als Rätsel. Gibt PU 664 einen Hinweis, wie das Rätsel, wenn nicht zu lösen, aufzufassen sei, in Bezug auf die Unterscheidung von Oberflächen- und Tiefengrammatik? Mit einer Formulierung Wittgensteins berühren sich (mit Hunter) in der Grammatik, als Kombination ihrer
71 Vgl. George Pitcher, Die Philosophie Wittgensteins. Eine kritische Einführung in den Tractatus und die Spätschriften, Freiburg/München 1967, S. 251. 72 John F.M. Hunter, „Depth Grammar“ (Understanding Wittgenstein, John F.M. Hunter 1984, S. 204-210), in: John V. Canfield (ed.), The Philosophy of Wittgenstein. A Fifteen Volume Collection, Volume 5, Method and essence, edited and with an introduction by John V. Canfield, New York/London 1986, S. 152-158. 73 Wittgenstein, Werkausgabe, Band 1, a. a. O., PU 664, S. 478 f.
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Oberflächen- und Tiefenform verstanden, Erwartung und Erfüllung. Auffällig ist, wie spät Wittgenstein in den Untersuchungen diese Unterscheidung benennt, das Wort „einführen“ wäre, nicht nur wegen des Ortes am Ende des Werkes, zu stark. Ob die Trennung dieser Aspekte, Oberfläche und Tiefe, eine Dichotomie etabliert, ist eine andere Frage, Hunter nimmt ein funktional aufeinander bezogenes, ergänzendes Verhältnis an, Oberflächen- wie Tiefengrammatik haben ihre Rolle. Wie weiter oben gesagt muss Tiefe – verstanden als Weite je bedeutungskonstitutiver Handlungszusammenhänge – nicht als Feind der Oberflächengrammatik gesehen werden (und vice versa). Auch die Grammatik, die wir in der Schule lernen, hat ihre Berechtigung. Genau betrachtet kann sie nicht aus dem Nichts kommen, d. h. die legitimierenden Strukturen des tiefengrammatischen testing ermöglichen das Institut der schulgrammatischen Regeln, das für Kohärenz in der Anwendung und Minimierung von Willkürlichkeit auf einer frühen Stufe des Einsetzungsprozesses (Institutio) in die Sozialität sorgt. Die Evidenz des testing erschließt sich indes nicht expressis verbis, sondern ist eine stille Voraussetzung. Das scheinbare Gegeneinanderstehen von Oberflächen- und Tiefengrammatik hat seinen Punkt auch methodisch: eine neue Behandlungsweise des Faktums Subjekt ermöglichend durch die Einführung einer Dichotomie, über deren Strenge diskutiert werden kann. Das grammatische Subjekt erhält seine Prägung dann von einem Wort, dessen Status nicht in letzter Weise zu klären ist: es ist selbst prozesshaft, deshalb verlässlich, und verbindet den gläubigen Umgang mit den schulgrammatischen Lektionen mit der Möglichkeit, diese Lektionen in weiten Zusammenhängen anzuwenden und zu erweitern. Sie sind ein Rüstzeug, deshalb schätze man sie hoch. Gleichwohl ist der Grammatikbegriff der Untersuchungen eben keiner, der sich auf den Begriff bringen ließe wie man Dinge über einen Leisten schlägt. Das Wort „Grammatikbegriff“ ist selbst ein Erbe der Glanzzeiten der Substanzvokabeln; man schaue nun, bescheiden und ohne captatio, wie wir Sprache tatsächlich gebrauchen. „Tiefe“ ist nicht mehr Fluchtort des tiefen Denkers, auch nicht Charakteristikum des deutschen Nationalcharakters, sondern eine Herausforderung zur Klarheit. Diese Herausforderung zur Klarheit kann man den „De-facto-Test“ nennen (er ist nicht mit Hunters tiefengrammatischem Test der Oberflächengrammatik verwandt). De facto wissen wir, wie wir Sprache gebrauchen müssen, und wissen damit, wie wir sie gebrauchen können. Der normative Anteil der Tiefengrammatik macht sie tauglich zur Richtschnur unserer sprachlichen (und nichtsprachlichen) Handlungen; wieder bedeutet das „Laß die Grammatik wie sie ist“ kein Absehen von verpflichtenden Standards, sondern eine Neufassung ihrer Form:
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„Die Grenzen des Empirismus (BGM S. 197) zeichnen sich dort ab, wo wir uns nachhaltig außerstande sehen, eine Beobachterperspektive einzunehmen: Im alltäglichen Sprachverhalten haben wir in der Regel gar nicht die Freiheit, eine Regel als bloße Konvention anzusehen. Solche Fälle, in denen wir einer Regel ‚blind‘ folgen (PU 219), veranschaulichen auf paradigmatische Weise, daß die Anwendung einer Regel nicht willkürlich ist.“74
Sprache ist konventional verfasst auf eine Weise, die uns die Übereinkunft nicht immer nachvollziehen lässt. Ist das Wort „nachvollziehen“ ohnehin Zeichen eines falschen Kollektivitätsideals, das paradoxerweise in der individuellen Handlung zu sich kommen soll (ein Einzelner prüft nach und akzeptiert tautologisch, was für alle gilt, in verdächtiger Nähe zum redundanten I accept the universe, das in keinem Anwendungszusammenhang je eine Rolle spielen kann), ist auch „billigen“ im Kontext gültiger Konventionen nicht vielversprechend: darauf kommt es schlicht nicht an. Nun kann man fragen, wo denn überhaupt noch die Eingriffsstelle des Subjekts in die Sprache markiert werden kann, wo es sich, auch in grammatischer Prägung auf den weiten Handlungszusammenhang, der mit Lebensformen (im Plural) verschwistert ist, in der Sprache findet, die es spricht. Wieder bedeutet der De-facto-Test einen Abschied von den Idealen der Mitbestimmung als Selbstbestimmung: Wie wir sprachlich handeln, ist uns auf einer frühen Stufe bestimmt. Das Werkzeug der Sprache ist ein erprobtes Instrument; es wird für jeden Sprachbenutzer nicht neu geschaffen, auch macht er die Sprache nicht durch Änderungen konventionaler Standards zu seiner, macht sie sich nicht zu eigen, sondern bejaht sie durch ungetrübte Performanz in vorgegebenen Bahnen. Das Träumen, das Phantasieren, das Schweigen der Ethik sind Zeichen anderer Gegenden; sie streben vom Äußerungsstatus weg, bleiben gleichsam in der Potenzialität einer Satzform. Wittgensteins Beispiel in PU 664, an dem der Unterschied zwischen Oberflächen- und Tiefengrammatik ansichtig gemacht wird, ist das Wort „meinen“. Die Oberflächengrammatik dieses Wortes würde uns etwas vermuten lassen, was – de facto – nicht zutrifft. Die Fakten der Tiefengrammatik sprechen hier eine andere Sprache, sie sprechen davon, dass nicht Meinensakte bedeutungsverleihend sind, dass nicht unsere Erklärungen: „ich meine …“ den Worten ihren Sinn verleihen. „Meinen“ ist nicht verschärftes Sagen (mit Autoritätspointe, der indirekt noch das Prinzip der Ausdrückbarkeit anhängt), „Meinen“ ist nachträgliches erläuterndes Instrument bei Missverständnissen und Verteidigung eines Bereichs unserer Erfahrung, in dem wir uns die Mitsprache anderer verbitten.
74 Peter Böke, Die begriffsanalytische Methode in der Spätphilosophie Wittgensteins, a. a. O., S. 99.
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Beziehen wir die späte Explizitsetzung der Begriffe Oberflächen- und Tiefengrammatik in das Nachdenken über das grammatische Subjekt mit ein: Es ist bestimmt, durch die tatsächlichen regelgeleiteten Aktivitäten, die es in einer Sprache vollzieht (der De-Facto-Test lenkt die Aufmerksamkeit auf eben diese). Wittgensteins Unterscheidung in PU 664 benennt das Offensichtliche, das wir wie so oft durch perspektivierende Erwartungen nicht sehen. Das grammatische Subjekt ist in gewisser Weise immer schon bestimmt; die Abkehr von essenzialistischen Subjektkonstruktionen erscheint als Rückerinnerung an das tatsächliche Funktionieren der Sprache. Wittgensteins späte Benennung von Oberflächen- und Tiefengrammatik in den Untersuchungen spiegelt innerwerklich den Status der Unterscheidung als Erinnerung an das Selbstverständliche; der distrust of grammar als first requisite of philosophizing (NL 106) legt hier die frühe Spur. Ist die Grammatik etwas, das uns in die Irre zu führen vermag (dieser Aspekt bleibt in den Untersuchungen bestehen), ist sie doch auch, in der Hinwendung zur Alltagssprache etwas, das uns Vertrauen in die bestehende Sprache lehrt. Im Gegensatz zur Hochschätzung der Alltagssprache im Traktat wird sie nun weniger unter ihrem – logischen – Ordnungsaspekt (TLP 5.5563), als unter ihrem Gebrauchsaspekt wahrgenommen. Die Kontinuierungslinie ist hier also mit sehr spezifischen Akzenten versehen, das grammatische Subjekt ist nicht mehr das der Logisch-philosophischen Abhandlung. So wird es, nach dem Solipsismus, in die Sprache geführt, die es wirklich spricht. Die sprachliche Bewandtnis der Subjektbestimmung in der Moderne ist entscheidend für ihre Vorstellung vom Subjekt – die Selbstverständlichkeit dieses Satzes wurde, wie nicht zu vergessen ist, einer einflussreichen Tradition abgerungen. Letztlich ist der Satz noch Teil eines Problemfeldes, das von der Trennung von techné und episteme ausging und schließlich die Fähigkeit hervorbrachte, den instrumentellen Charakter von techné zu kritisieren – Grammatik als prägende Bestimmung von Subjektivität ist ein Teil dieses kritischen Geschehens. Die normative Konnotation der Grammatik, wider den bloßen Empirismus (wie auch das berühmte Denk nicht, sondern schau! in PU 66 keinen verkürzten Empiriebegriff bedeutet), ergibt sich mit der normativen Funktion der grammatischen Sätze: Sie sind nicht, wie die empirischen Sätze, moves in our languagegames75, sondern Sätze über die Regeln dieser konkreten Schritte im sprachlichen Geschehen. So ist das grammatische Subjekt eines, das zwischen Normativität und Empirie angesiedelt ist – nicht in einem ominösen Raum der Individuationen, in dem es nicht nachprüfbar subsistierte, sondern bezogen auf die Funktionalität sei-
75 Glock, A Wittgenstein Dictionary, a. a. O., S. 151.
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ner Bestimmungen. Wenn Dinge tatsächlich funktionieren, beschneidet dies Imaginationen über diese Dinge. Das Funktionieren der Sprache wie sie ist, ist ein Einspruch gegen Beschreibungen, die von den Realisierungsformen dieser Sprache wegstreben, sich in Ontologien der Sprache verlieren und den Gebrauch geringschätzen. So wandelt sich in den Bestimmungen der grammatischen Subjektivität die Rolle der Funktionen: Sie sind nun nicht mehr nur Ort heteronomer Bestimmung, sondern ermöglichen die Vorstellung des autonomen Subjekts auf einer basalen Stufe. Damit verbinden lässt sich Wittgensteins Formulierung der Grammatik als Freiheitsmoment – wie oben gesagt, haben sich die Gesichter der Freiheitsmomente unter grammatischen Vorzeichen verändert. Auf einen Freiheitswunsch kommen zu können, bedeutet indes nicht, die grammatischen Voraussetzungen der Subjektkonstitution der Moderne tautologisch werden zu lassen. Freiheit und Grammatik sind verbunden im Geschehen normativer Versicherung; diese ist nicht zuletzt die Selbstversicherung des Subjekts. Ichgefühle, Wissen vom Selbst, glamorous self-knowledge76 sind erst einmal Spielsteine; sie werden in verschiedenen Kontexten unterschiedlich funktionalisiert, erwartet, vermieden. Die Haltung, sagen zu können, wer ich bin, und dabei scheinbar auf Rekurse auf andere zu verzichten, hat eine lange Tradition. Das Subjekt als Regisseur im inneren Theater bestimme, was die Figur sagt. Unter diesem Umstand kommt Normativität schleichend daher. Nicht die expliziten Gesetzestafeln und Vorschriften sind hier gemeint, sondern der normative Teil der Bedeutungsentstehung, die doch auf eine Sprache zurückzugreifen scheint, die uns zu freiem Selbstausdruck offensteht – das Medium macht seine Entstehungsbedingungen in diesem Punkt vergessen, wenn ein Ich als Herr in seinem Hause spricht. Der Entzauberungscharakter der grammatischen Bestimmung im Gegensatz zur essenzialistischen, der nicht allein der Individualisierung dient, tritt hier klar zutage: Der Glanz des to ti en einai ist nurmehr einer der gelingenden Funktion, des funktionierenden Ablaufs, der einen Zweck, mit allen Implikationen dieses Gelingens, ganz erfüllt.
76 Andreas Kemmerling, First Person Authority without Glamorous Self-Knowledge, in: C. Jäger, W. Löffler (Hgg.), Epistemology: Contexts, Values, Disagreement, Frankfurt am Main 2012, S. 401-433.
Subjekt und Regelbefolgung in der ethischen Handlung oder Hat der späte Wittgenstein eine Ethik gehabt?1 K ATALIN N EUMER
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E THIK , Ä STHETIK , P HILOSOPHIE IM F RÜH - UND IM S PÄTWERK
Wittgenstein hat in der Logisch-philosophischen Abhandlung bekanntlich Philosophie, Ästhetik und Ethik nebeneinander gestellt und u. a. dadurch der Philosophie eine ethische Intention zugeschrieben. Diese dreifache Zuordnung verschwindet in seinen späteren Bemerkungen. Der Grund dafür ist – so möchte ich im Folgenden argumentieren –, dass die Ethik in der späten Konzeption zumindest in einem Sinne des Wortes keinen Platz hat, bzw. diejenige, die doch einen Platz haben könnte, lässt sich nicht mehr im eigentlichen Sinne des Wortes Ethik nennen. Philosophie und Ästhetik, ohne die Erwähnung der Ethik, erscheinen allerdings in einigen Stellen doch miteinander verbunden. Man zitiert öfter den von Wittgenstein wiederholt notierten Satz „Philosophie dürfte man eigentlich nur dichten“ aus dem Jahr 1933 (MS 115: 30; Vorstufe: MS 146: 50), etwas seltener die Worte, dass „der Philosoph ein Dichter sein sollte“ aus dem Jahr 1938 (MS 120: 145r). Die letzteren fallen wohl weniger ins Gewicht, denn Wittgenstein
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Für wertvolle Hinweise und Korrekturvorschläge bedanke ich mich bei Nicole L. Immler und Peter Keicher.
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hat sie durchgestrichen, ohne sie an anderer Stelle nochmals benutzt zu haben.2 Die beiden Stellen parallelisieren nach den gängigen Interpretationen die Sprache der Philosophie mit jener der Ästhetik und weisen somit darauf hin, dass die Sprache der Wittgensteinschen Philosophie eine der Vergleiche sei, mit der eine indirekte Mitteilung bezweckt werde. Die Auslegung der beiden Zitate steht allerdings auf unsicheren Beinen, denn Hinweise auf sie sind weder in den sie beinhaltenden Bemerkungen selbst noch in deren Kontext zu finden – beide Bemerkungen sind in der Tat ziemlich kontextlos. In anderen Textstellen geht es darum, die Philosophie dichte in dem Sinne, dass sie etwas erdichte (MS 116: 247; Vorstufe: MS 120: 73r). Diese Stellen könnten eventuell dafür sprechen, dass die Philosophie Dichtkunst in dem Sinne ist, dass sie fiktive Fälle erdichtet. Die letztere Methode gehört wiederum zweifelsohne zu den zugestandenen Methoden der Spätphilosophie. Viel klarer erweist sich eine andere Bemerkung, welche „[d]ie seltsame Ähnlichkeit einer philosophischen Untersuchung […] mit einer Ästhetischen“ behauptet und in Klammern dazu die Erklärung „Z. B., was an diesem Kleid schlecht ist, wem es gehörte, etc.“ hinzufügt (MS 116: 56). Aus dieser Bemerkung ergibt sich, dass Ästhetik und Philosophie dadurch verwandt sind, dass sie nicht vorschreiben, sondern nur beschreiben dürften. Letzteres verbindet sie mit einer ethischen Untersuchung, wie auch ihre Eigenschaft, dass sie keine Definitionen, d. h. scharfe Bilder anstreben, sondern sich stattdessen mit unscharfen, verschwommenen Bildern begnügen sollten. Diese Idee wird in PU § 77 formuliert. Hier werden zwar nur Ethik und Ästhetik explizit, das Gesagte gilt aber auch für die Verfahrensweise der Philosophie: „Und in dieser Lage befindet sich z. B. der, der in der Ästhetik, oder Ethik nach Definitionen sucht, die unseren Begriffen entsprechen. Frage dich in dieser Schwierigkeit immer: Wie haben wir denn die Bedeutung dieses Wortes (‚gut‘ z. B.) gelernt? An was für Beispielen; in welchen Sprachspielen? (Du wirst dann leichter sehen, dass das Wort eine Familie von Bedeutungen haben muß.)“ (PU 77)
Diesem Gedanken wird dadurch besondere Bedeutung verliehen, dass die Bemerkung von der Urfassung 1936 bis zur Endfassung der Philosophischen Untersuchungen so gut wie unverändert die viermalige Überarbeitung überlebt hat (MS 142: 66; TS 220: 57; TS 239: 57; „Zwischenfassung“, in Wittgenstein 2001:
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Bei vielen Abschriften aus den Notizbüchern in die Manuskriptbände und auch in mehreren anderen Fällen ist eher die Regel, dass durchgestrichene Bemerkungen wieder verwendet werden, die Durchstreichung steht dabei sozusagen für „verwendet“. Von einer zweiten Benutzung der oben zitierten Bemerkung ist aber keine Spur.
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618). Andererseits ist dies aber die einzige Stelle der PU, wo die Wörter „Ethik“ und „Ästhetik“ überhaupt vorkommen. Philosophie und Ethik bzw. Moral werden zusammen nur in einem einzigen Manuskript explizit erwähnt: „Die Denkbewegung in meinem Philosophieren müßte sich in der Geschichte meines Geistes, seiner Moralbegriffe und dem Verständnis meiner Lage wiederfinden lassen.“ (MS 183: 125)
Diese Notiz wurde in einem Manuskriptband eingetragen, der so gut wie ausschließlich Tagebuchaufzeichnungen enthält. Im Kontext spricht Wittgenstein u. a. über seine Beichte, wodurch auf eine ethische Dimension hingewiesen wird. Dabei erscheinen aber nicht nur seine Moralbegriffe, sondern gleichzeitig auch sein Geist und seine Lage als Pendant zur Philosophie. Der Umstand, dass die Moral hier nur eine von drei Komponenten ist, lässt vermuten, dass die Ethik nun eine weniger hervorgehobene Rolle spielt als noch in der Logisch-philosophischen Abhandlung.
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D IE E THIK DES SPÄTEN W ITTGENSTEIN NACH DEN Z EUGNISSEN SEINER S CHÜLER UND F REUNDE ( DIE E NTSTEHUNG EINER I NTERPRETATION )
Die Erinnerungen und Interpretationen der Freunde, Kollegen und Schüler Wittgensteins haben wahrscheinlich maßgeblich dazu beigetragen, dass die Auslegung, der zufolge nicht nur das Früh-, sondern auch das Spätwerk eine ethische Botschaft vermitteln würde, in der Wittgenstein-Forschung trotz der spärlichen textuellen Evidenzen Oberhand hat gewinnen können. In den nämlichen Erinnerungen und Interpretationen tritt das ethische Moment im Hinblick auf das Spätwerk allmählich immer stärker hervor. Als Moore 1955 Wittgensteins Vorlesungen von 1932 bis 33 rekonstruiert hat, hat er noch kaum mehr behauptet, als worauf sich auch aus unseren obigen Zitaten schließen lässt: Wittgenstein habe zwar Ethik und Ästhetik einander zugeordnet und dabei vorgehabt, über die Grammatik der ethischen Ausdrücke und des Wortes „Gott“ zu reden, er habe aber in Wirklichkeit so gut wie nur über Ästhetik gesprochen und gesagt: „Practically everything which I say about ,beautiful‘ applies in a slightly different way to ,good‘“.3 Der Wittgenstein-Schüler Georg
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Vgl. George Edward Moore, Philosophical Papers, London/New York 1959, S. 312.
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Henrik von Wright spricht 1955 nur noch über Wittgensteins strenge moralische Prinzipien und seine, der religiösen ähnliche leidenschaftliche Einstellung, ohne dass er seinen Meister selbst im eigentlichen Sinne des Wortes für religiös halten würde.4 Malcolm, der andere Schüler Wittgensteins, entdeckt in seinen Erinnerungen an Wittgenstein nicht den religiösen Glauben, aber doch „in some sense, the possibility of religion“ in seinem Lehrer.5 Rhees gibt 1965 – auf der Grundlage von zwei Wittgenstein-Texten (der Logisch-philosophischen Abhandlung und Lecture on Ethics) und seiner eigenen Aufzeichnungen von Gesprächen, die er mit Wittgenstein geführt hat – einen Überblick der Entwicklung der Ansichten Wittgensteins über Ethik. Dabei misst er aber immer noch der Ethik im Spätwerk keine grundlegende Bedeutung bei.6 1957, sechs Jahre nach Wittgensteins Tod, veröffentlicht sein Freund, Ludwig Hänsel, den Band Begegnungen und Auseinandersetzungen mit Denkern und Dichtern der Neuzeit, der auch einige Seiten über Wittgenstein enthält.7 Hier spricht Hänsel bezüglich des Tractatus über „die Gewißheit nicht sagbarer, nicht denkbarer Wirklichkeit, und [trotzdem] gerade der einzigen Wirklichkeit, die Bedeutung hat, ethische Bedeutung“ und schlägt vor, Wittgenstein nicht nur mit den Augen der Logiker, sondern mit jenen der Existenzphilosophen zu betrachten, da es „merkwürdige Parallelen, z. B. gerade zwischen Jaspers und Wittgenstein“ gebe. Darüber hinaus stellt Hänsel einen „engsten Zusammenhang“ zwischen Leben und Werk seines Freundes fest und dabei spricht er über sein Verhältnis zum Religiösen.8 1967 wird ein Sammelband pu-
4
Georg Henrik von Wright, „Ludwig Wittgenstein, a Biographical Sketch“, in: The Philosophical Review, 64/4, S. 527-545.
5
Norman Malcolm, Ludwig Wittgenstein. A Memoir, London 1958/1966, S. 72. Malcolm hat später der Hypothese, Wittgenstein habe alles aus einer religiösen Perspektive gesehen, ein ganzes Buch gewidmet. Das Buch – an dem Malcolm bis zum Ende seines Lebens gearbeitet hat – wurde von Peter Winch posthum mit einem eigenen Beitrag, in dem er sich mit Malcolms Auslegung kritisch auseinandersetzt, herausgegeben. Vgl. Norman Malcolm, A Religious Point of View? Ed. with a response by Peter Winch, London 1993/2002.
6
Rush Rhees, „Some Developments in Wittgenstein’s View of Ethics“, in: The Philosophical Review, 74/1, S. 17-26.
7
Wien, München: Österreichischer Bundesverlag 1957, wieder abgedruckt in Ludwig Hänsel – Ludwig Wittgenstein. Eine Freundschaft. Briefe. Aufsätze. Kommentare, hrsg. von Ilse Somavilla, Anton Unterkircher und Christian Berger unter der Leitung von Walter Methlagl und Allan Janik, Innsbruck 1994, S. 242-247.
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Vgl. Ludwig Hänsel – Ludwig Wittgenstein, a. a. O., S. 244-246.
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bliziert, dessen Titel den Menschen und den Philosophen Wittgenstein miteinander verbindet.9 Die Erinnerungen und Artikel dieser Textsammlung sind ursprünglich zwischen 1942 und 1966 erschienen; ein Text10 wurde eigens für den Band geschrieben. Im Buch wird der Aufsatz Erich Hellers – des Cambridger Germanisten deutscher Abstammung – aus dem Jahr 1959 wieder abgedruckt, in dem Wittgensteins Philosophie mit derjenigen Nietzsches verglichen und in einem breiteren europäischen ideen- und kulturgeschichtlichen Kontext dargestellt wird. Rush Rhees behauptet in seinem erstmals 1960 veröffentlichten Text: „it is wrong to suggest that Wittgenstein ever turned away from the interests and the questions which had occupied him particularly in his early days“11 – obschon er dabei nicht auf die Ethik hinweist. Der Band wird mit einer Abhandlung abgerundet, die zwar wiederum keine ethischen Fragen behandelt, dafür aber schon in ihrem Titel („The Unity of Wittgenstein’s Thought“ von Dennis O’Brien) die Einheit der Philosophie Wittgensteins behauptet. Ebenfalls sind 1967 Paul Engelmanns Erinnerungen zuerst in englischer Übersetzung erschienen. In diesen liefert er nicht nur die Basis für eine ethische Auslegung der Logisch-philosophischen Abhandlung, sondern öffnet den Weg auch in der Richtung einer ähnlichen Interpretation des Spätwerkes, indem er auch die Periode nach dem Frühwerk ausgiebig behandelt. (Die beiden Freunde waren ab 1916 15 Jahre lang im intensiven, sodann immer mehr nur noch im sporadischen Kontakt miteinander.12 Engelmann schreibt wie folgt: „Das, was das Leben und das Werk Wittgensteins zeigt, ist die Möglichkeit einer neuen geistigen Haltung des Menschen. Es ist ‚eine neue Lebensform‘, in der er gelebt hat und wegen der er bisher nicht verstanden wird. Denn eine neue Lebensform bedingt eine neue Sprache. Seine Lebensform ist dieselbe wie die mancher großer Menschen der Vergangenheit, aber ihre besondere Bedeutung liegt darin, dass sie erst in unserer Epoche das geworden ist, was auf eine allgemeine neue Lebensform hinweist.“13
9
Vgl. K.T. Fann (Hg.), Ludwig Wittgenstein. The Man and his Philosophy, New Jersey/Sussex 1967.
10 Wolfe Mays: „Recollections of Wittgenstein“, in: K.T. Fann, Ludwig Wittgenstein. The Man and his Philosophy, a. a. O., S. 79-88. 11 Fann, a. a. O., S. 75. 12 Paul Engelmann, Briefe, Begegnungen, Erinnerungen, hrsg. von Ilse Somavilla unter Mitarbeit von Brian McGuinness, Innsbruck/Wien 2006, S. 137. 13 Engelmann, a. a. O., S. 133.
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Janik und Toulmin sehen 1973 in ihrer Monografie die wichtigste Anregung Engelmanns darin, dass er auf das Wiener kulturelle Milieu hingewiesen hat, aus dem der Tractatus hervorgegangen und wodurch seine ethische Lehre bestimmt worden sei. Sie behaupten, der Tractatus erscheine aus Wien gesehen ganz anders als aus Cambridge, nämlich als eine ethische Abhandlung, und weisen dabei auf ihre Gespräche mit Wittgensteins Wiener Freunden und Bekannten im Frühjahr und Winter 1969 und mit seiner Familie hin.14 Sie meinen, „Wittgenstein had entered philosophy with both intellectual and ethicoreligious preoccupations“,15 was auch sein Spätwerk mitbestimmt habe: „[e]ven the ,private-language‘ argument that played a large part in Wittgenstein’s later writings may, for him personally, have had an implicit ethical significance“, obschon sie gleich hinzufügen: „As to this, we can only speculate.“16 Wittgensteins Schüler, Drury, kommt 1976 aufgrund seiner Gespräche mit Wittgenstein zu der Schlussfolgerung – obschon ihm diese noch als etwas gewagt erscheint –, dass selbst die Schriften nach der Logischphilosophischen Abhandlung dieselbe „fundamental idea“ fortsetzen, indem sie „point to an ethical dimension. And they do this by a rigorous drawing of the limits of language so that the ethical is put firmly into place. This limitation has to be done from the inside so that whereas nothing is said about the ethical it is shewn by the rigour of the thinking.“17 Von Wright veröffentlicht 1977 eine Kompilation aus verschiedenen Manuskriptquellen unter dem Titel Vermischte Bemerkungen. Diese enthält Bemerkungen zu persönlichen Inhalten, darüber hinaus vor allem zu Fragen der Künste, der Kultur, Religion, Ethik und Methode der Philosophie. Die Bemerkungen zeichnen sich dadurch aus, dass sie in einem persönlicheren Stil formuliert sind als die Texte, die in den anderen Druckausgaben publiziert worden sind. Diese Erstauflage erscheint in deutscher Sprache und wird erst 1980 auf Englisch (in Peter Winchs Übersetzung) publiziert – während Engelmanns Erinnerungen zehn Jahre zuvor zuerst umgekehrt in englischer Übersetzung erschienen sind. Mit von Wrights Kompilation ist Wittgenstein sozusagen endgültig zuhause angekommen. Diese skizzenhafte Übersicht zeigt, dass die ethische Interpretation des Spätwerkes hierzu parallel gelaufen ist und die Kontinuität anstatt der Unterschiede
14 Vgl. Allan Janik, Stephen Toulmin, Wittgenstein’s Vienna, London 1973, S. 23-25, 277 n18. 15 Ebd., S. 224. 16 Ebd., S. 235. 17 Rush Rhees (Hg.), Ludwig Wittgenstein: Personal Recollections, Totowa/New Jersey 1981, S. 97.
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zwischen Früh- und Spätwerk allmählich immer mehr betont wurde. Darüber hinaus hat eine „Repatrialisierung“ und „Kontinentalisierung“ von Wittgensteins Philosophie, eine Zurückeroberung von Oxford und Cambridge aus Wien begonnen.18 Beide Tendenzen konnten die ethischen Auslegungen anspornen und untermauern. Die ethischen Interpretationen hatten zwei Thesen vorausgesetzt, und zwar, dass (1) die Ethik im Spätwerk unausgesprochen bleibt, noch mehr: unaussprechlich ist (wie hätte man sonst erklären können, dass die ethische Lehre in den späteren Texten noch weniger expliziert wurde als im Frühwerk, in dem zumindest in einigen, sogar wichtigen Stellen [TLP 6.4] auf die Ethik hingewiesen wurde); dass (2) Wittgensteins Leben und Werk eine Einheit bilden. Die erste Voraussetzung könnte freilich etwas maliziös damit hinterfragt werden, worin sich der Text der Philosophischen Untersuchungen (unabhängig davon, in welcher Fassung) von dem jetzigen unterscheiden würde oder sollte, wenn sie eben keine ethische Lehre vermitteln würde. Möglicherweise in nichts – und das sollte uns jedenfalls Anlass zu Bedenken geben. Ich möchte freilich nicht in Frage stellen, dass man für die zweite Prämisse bezüglich der Einheit von Leben und Werk Wittgensteins – die in der Wittgenstein-Literatur eine verbreitete Position ist – sogar Wittgenstein-Stellen anführen kann. Aus dem obigen Zitat aus MS 183 lassen sich in der Tat auch Folgerungen in diese Richtung ziehen – obschon die Bemerkung kryptisch genug ist, um ausführlich darlegen zu können, was Wittgenstein damit gemeint haben soll. Es ist weder klar, was die Glieder der Aufzählung miteinander verbindet, noch, was unter ihnen zu verstehen ist. (Mithilfe von welchen Textstellen könnte man z. B. entziffern, was Wittgenstein hier
18 Ausgerechnet die österreichische Wittgenstein-Rezeption – die erst relativ spät, in den 1970er Jahren, stärker geworden ist – ist einen anderen Weg gegangen. Dieser wurde nämlich u. a. dadurch bestimmt, dass Werner Leinfellner – der gerade aus den USA zurückgekehrt war –, darüber hinaus Rudolf Haller – von den intellektuellen Erlebnissen eines Jahresaufenthalts in Oxford tief beeindruckt – in der österreichischen Rezeption eine gewichtige Rolle spielten. Sie wollten in Wittgenstein den Vertreter der wissenschaftlichen bzw. analytischen Philosophie sehen, unter der sie auch die österreichische Philosophie haben einordnen wollen. Letzteres war möglicherweise auch dadurch motiviert, dass sie (wohl auch von der Nachkriegssituation bestimmt) für die intellektuelle und philosophische Unabhängigkeit Österreichs von Deutschland haben plädieren wollen. (In diesem Zeichen ist schon Hallers erster Aufsatz zum Thema „Ludwig Wittgenstein und die österreichische Philosophie“ 1968 geschrieben worden.) Vgl. Rudolf Haller, „Ludwig Wittgenstein und die österreichische Philosophie“, in: Wissenschaft und Weltbild 21, S. 77-87.
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unter dem „Verständnis meiner Lage“ versteht?) Es ist ohnehin ratsam, Geständnisse dieser Art seitens des Autors nicht für bare Münze zu nehmen. Selbst wenn so eine Autorenintention fortwährend vorhanden wäre, sollte man unvoreingenommen und textkritisch überprüfen, ob sie in die Tat umgesetzt worden ist. Es ist z. B. durchaus fraglich, inwieweit der ethische Rigorismus, Maximalismus und die Ungeduld, mit denen Wittgenstein sich selbst gequält hat und die er auch häufig im Umgang mit seinen Mitmenschen gezeigt hat, sich mit der pluralen Welt des Spätwerkes vereinbaren lassen. In der Sekundärliteratur wurde die vermeintliche Einheit von Wittgensteins Leben und Werk in den letzten Jahren in Frage gestellt.19 Das Konzept der einheitlichen Person, das hinter dieser Annahme steckt, kann ebenfalls fragwürdig erscheinen. Im Folgenden werde ich die Fragen der Ethik mit jenen der Einheit von Leben und Werk verbinden und dabei meine Argumentation in erster Linie auf die Nachlasstexte basieren. Auf Erinnerungen der Wittgenstein-Schüler werde ich hingegen nur sporadisch hinweisen: nicht nur, weil es immer eine Frage bleibt, inwieweit sie in der Gegenwart der Ereignisse imstande gewesen sind, Wittgensteins Ausführungen zu verstehen, richtig zu notieren bzw. sich zu merken (in ihren Erinnerungen kommt jedenfalls wiederholt das Motiv vor, dass sie sich nicht sicher sind, was Wittgenstein in den Vorlesungen und Gesprächen wirklich hat sagen wollen); sondern, weil ihre Erinnerungen durch die seither vergangenen Jahre, den Zeitpunkt des Erinnerns und andere persönliche und historische Motive geprägt sind.
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W ITTGENSTEINS A RBEITSWEISE , T AGEBÜCHER UND G EHEIMSCHRIFT
Geht man die Textstellen im Nachlass durch, in denen die Wörter „Ethik“, „ethisch“, „Moral“, „moralisch“ etc. vorkommen, so wird schnell deutlich, dass diese – mit Ausnahme des bereits zitierten § 77 aus dem Typoskript der Philosophischen Untersuchungen und drei von seinen vier Vorstufen – nur in Manuskripten vorkommen. Darüber hinaus sind die erwähnte Stelle der PU und ihre Vorstufen die einzigen, die eine mehrfache Bearbeitung desselben Textes darstellen; und drittens wird das Thema Ethik und Moral mit der Zeit so gut wie kaum mehr berührt. Angesichts der Arbeitsmethode Wittgensteins ist das mehr als merkwürdig: wir wissen ja, dass er diejenigen Bemerkungen, welche er für die weitere Nutzung
19 Vgl. Nicole L. Immler, Das Familiengedächtnis der Wittgensteins. Zu verführerischen Lesarten von (auto-)biographischen Texten, Bielefeld 2011, S. 56-57.
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für geeignet gehalten hat, immer wieder in neue Manuskripte übernommen und in diesen sodann meistens weiter bearbeitet hat. In einem Stadium der Arbeit hat er sie dann einem Typisten diktiert, um mit ihnen weiter arbeiten zu können. Diese Arbeitsstufe haben die einschlägigen Bemerkungen nicht nur gar nicht erreicht, sondern sie wurden überhaupt nicht mehrfach bearbeitet. Das lässt uns vermuten, dass Wittgenstein sie entweder nicht für gut genug, für die weitere Nutzung für nicht geeignet gehalten hat, oder aber er hat sie von Anfang an nicht als eine später noch zu bearbeitende Ausführung bzw. als eine, die später in „seinem Buch“ wieder verwendet werden sollte, aufgefasst.20 Für das Letztere könnte auch der Umstand sprechen, dass ein bedeutender Teil dieser Bemerkungen von persönlichem Charakter ist und ein Teil von ihnen in Tagebüchern bzw. in Geheimschrift notiert wurde. Ohne hier auf die Diskussionen bezüglich Wittgensteins Geheimschrift in allen Details eingehen zu können, möchte ich einige, für meine folgende Argumentation relevante Punkte hervorheben: Wer ist der Adressat der kodierten Texte? Wollte Wittgenstein mittels dieser Schrift Arbeit und Privates auseinanderhalten? Die Geheimschrift wurde von den Wittgenstein-Geschwistern als gemeinsames Spiel angesehen und untereinander benutzt. Gegen die Hypothese, die kodierten Notizen Wittgensteins wären bloß für die Familie gedacht, spricht allerdings der Umstand, dass ihr System so einfach gewesen ist, dass er sie auch in Anweisungen, wie im Falle seines Todes mit seinem Nachlass umzugehen sei, verwendet hat. Zumindest diese Stellen waren also an einen breiteren Kreis adressiert als die Familie, mehr noch: in diesen Fällen wollte er „augenscheinig, dass diese Passagen gelesen würden“.21 Bezüglich einiger Stellen (in denen er z. B. über die konkreten Einzelheiten seines Sexuallebens berichtet) scheint es mir hingegen sogar fraglich, dass er diese (wenn überhaupt jemanden) seine Schwester hätte lesen lassen wollen. Die Interpreten sind sich darin einig, dass Wittgenstein mittels der Geheimschrift Textteile von ihrem Kontext trennen wollte. Wollte er dabei aber (immer)
20 Obschon Wittgenstein nach der Logisch-philosophischen Abhandlung kein Buch mehr publiziert hat, hat er fortwährend versucht, seine Bemerkungen zu einem Buch zusammenzustellen, das er wiederholt mit der Wendung „mein Buch“ bezeichnet hat. Davon, dass diese Absicht ernst zu nehmen ist, zeugen seine Vorworte und Vorwortentwürfe (vgl. Peter Keicher, „Ich wollte, alle diese Bemerkungen wären besser als sie sind.“ Vorworte und Vorwortentwürfe in Wittgensteins Nachlaß, in: Tamàs Demeter (ed.), Essays on Wittgenstein and Austrian Philosophy, Amsterdam/New York 2004). 21 Alois Pichler, Wittgensteins Philosophische Untersuchungen. Vom Buch zum Album, Amsterdam/New York 2004, S. 48.
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Arbeit und Privates unterscheiden? Das mag für einen Teil der Fälle zutreffen: Während des Ersten Weltkrieges wird dieses System relativ folgerichtig, obschon selbst zu dieser Zeit nicht ausnahmslos,22 in der Periode 1929-1951 schon viel inkonsistenter angewendet,23 insbesondere in den Jahren 1931 und 1936-1937.24 Die Stellen, die Wittgenstein noch in seinen Notizbüchern unchiffriert, doch mit eckigen Klammern von ihrem Kontext abgesondert, sodann aber in den weiteren Manuskriptbänden schon chiffriert geschrieben hat, könnten Beispiele dafür sein, dass er einige Bemerkungen für den Privatgebrauch gedacht hat.25 Manchmal wechselt er aber sogar inmitten einer Bemerkung oder – wie wir es im Folgenden in MS 183 sehen werden – innerhalb von persönlichen Tagebuchnotizen die Schriftart. Fallweise ist dies motiviert, ab und zu kann die Wahl bzw. der Wechsel der Schriftart meiner Meinung nach einen eher zufälligen Grund haben (wie etwa die Eile oder aber den Wunsch, Gefühle und Leidenschaften möglichst schnell auszudrücken). Die Geheimschrift wird also von Wittgenstein nicht konsequent angewendet. Es gibt weder inhaltliche Merkmale, die für alle verschlüsselten Passagen gelten, noch solche, die die verschlüsselten Passagen von den unverschlüsselten eindeutig abheben: einige Themen kommen sowohl verschlüsselt als auch unverschlüsselt vor, „viel Privates [bleibt] unkodiert“ und „viel Kodiertes [ist] belanglos alltäglich“.26 Verschlüsselte Bemerkungen berühren auch Themen wie Ethik, Religion, Kulturgeschichte und die Methode des Philosophierens – also Themen, die ebensogut unverschlüsselt bzw. in „echten philosophischen“ Bemerkungen besprochen
22 Ilse Somavilla, Verschlüsselung in Wittgensteins Nachlaß, in: Volker Munz, Klaus Puhl, Joseph Wang (eds.), Language and World. Part One. Essays on the Philosophy of Wittgenstein, Frankfurt am Main 2010, S. 375-376, S. 372. 23 Peter K. Westergaard, „… predestination in St Paul, is …“ Wittgenstein’s religiousphilosophical notes of August-December 1937, in: Wilhelm Krüger, Alois Pichler (Hgg.), Arbeiten zu Wittgenstein (= Working papers from the Wittgenstein Archives at the University of Bergen, 15). Bergen 1998, S. 145-160, S. 147. 24 Ilse Somavilla, Verschlüsselung in Wittgensteins Nachlass, a. a. O., S. 382; Westergaard, „… predestination in St Paul is …“, a. a. O. 25 Alois Pichler, „Wittgensteins spätere Manuskripte: einige Beispiele zu Stil und Schreiben“, in: Mitteilungen aus dem Brenner-Archiv, Nr. 12 (1993), S. 8-26, S. 17; Alois Pichler, Wittgenstein und das Schreiben. Ansätze zu einem Schreiberporträt. Diplomarbeit zur Erlangung des Magistergrades der Philosophie an der Geisteswissenschaftlichen Fakultät der Leopold-Franzens-Universität Innsbruck 1997, S. 69. 26 Nicole L. Immler, Das Familiengedächtnis der Wittgensteins, a. a. O., S. 165.
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werden. Die genannten Themenbereiche sind auch öfter Gegenstand der Tagebuchnotizen in MS 183, sowohl kodiert als auch unkodiert. Inwieweit können diese Aufzeichnungen überhaupt zum Privatbereich und nicht vielmehr zur Arbeit gezählt werden? Eine Parallele mit den Tagebuchnotizen der Hermine Wittgenstein – der Schwester, mit der Wittgenstein sich am besten verstanden hat – mag hier einleuchtend sein. In Hermines Heft steht die Anweisung: „Nach meinem Tode zu verbrennen“27 – also derselbe Wunsch, den auch Wittgenstein im Hinblick auf seine Notizen immer wieder geäußert hat. Im Sommer 1919 notiert Hermine das Folgende: „Ludwig hält gewiss das Lesenlassen des Tagebuchs für schamlos. Ich würde Meines vielleicht lesen lassen, wenn ich nicht dächte dass es einen grossen Stiefel am Anfang enthält. Ich glaube aber selbst dass wir das Tagebuch nicht lesen liessen wenn wir im eigentlichen Heiligtum wären. 1921 liesse ich es schon nicht mehr lesen.“28
Hermines Tagebuch ist kein herkömmliches Tagebuch in dem Sinne, dass es die Ereignisse und privaten Gefühle ihres Alltags festhalten würde, sondern es beinhaltet vielmehr persönliche, öfter gefühlsgeladene, in poetischem Ton formulierte Berichte und Kommentare über Hermines Lektüren, Überlegungen und innere Kämpfe bezüglich moralischen und weltanschaulichen Fragen – dem ähnlich also, wie ihr Bruder in vielen Stellen des MS 183 vorgeht. Hermines Notizen liefern also ein Beispiel dafür, wie einem „öffentliche“ Themen als Teile eines Privatlebens, die keinen anderen angehen, erscheinen können. In diesem Sinne kann MS 183 ebenfalls ein Tagebuch darstellen, das im Gegensatz zu anderen Nachlassstücken nicht Arbeit und Privates mischt, sondern persönliche Aufzeichnungen enthält. Letzteres räumt ihm im Nachlass eine besondere Stellung ein. (Es könnte auch weitere ähnliche Hefte gegeben haben, diese wurden aber entweder von Wittgenstein vernichtet oder sind verschollen.29) Dafür, dass die Trennung der Arbeit von Privatem in diesem Manuskript von Wittgenstein intendiert gewesen ist, kann auch der Umstand sprechen, dass Wittgenstein nach einer mehr als viereinhalbjährigen Unterbrechung das Schreiben in demselben alten Notizbuch nicht
27 Hermine Wittgenstein, „Ludwig sagt …“ Die Aufzeichnungen der Hermine Wittgenstein, hrsg. von Mathias Iven, Berlin 2006, S. 59. 28 Ebd., S. 88. 29 Immler, Das Familiengedächtnis der Wittgensteins, a. a. O., S. 76, 78.
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nur wieder aufgenommen, sondern sogar auf derselben Seite, auf der er Jahre zuvor aufgehört hat, ohne Leerzeile30 fortgesetzt hat. Dieser Manuskriptband enthält nämlich Aufzeichnungen aus mehreren Perioden: 26. April 1930 bis 28. Jänner 1932, größtenteils Cambridge (S. 1-142); 19. November 1936 bis 30. April 1937, größtenteils Skjolden (S. 142-242); 24. September 1937, Skjolden (S. 242-243). Sowohl für die Zeit in Cambridge als auch in Skjolden ist charakteristisch, dass Wittgenstein sich mit einer neuen Umgebung, darüber hinaus mit neuen Aufgaben bzw. privaten Problemen hat auseinandersetzen müssen.31 Die erste Periode in Cambridge (unterbrochen von mehreren Aufenthalten in Österreich und einem Urlaub in Norwegen) ist von den Schwierigkeiten seiner Liebe zu Marguerite Respinger und Minderwertigkeitsgefühlen sowohl in intellektueller als auch in moralischer Hinsicht geprägt. Darüber hinaus muss er sich auch noch in Cambridge einleben, wobei das Letztere ihm ebenfalls einige menschliche und berufliche Probleme bereitet. Diese Situation bewirkt, dass er schreibt, „nur um etwas zu schreiben & mit mir selbst zu reden“, und um dadurch „nach & nach mit mir ins Gespräch kommen“ zu können (MS 183: 45-46). Mithilfe dieser schriftlichen Monologe will er wohl auch ein sprachliches Problem lösen, und zwar das des „Zwiespalt[s] in mir der englischen & deutschen Ausdrucksweise. Ich kann nur dann wirklich arbeiten, wenn ich mich andauernd deutsch mit mir unterhalten kann. Nun muß ich aber für meine Vorlesungen die Sachen englisch zusammenstellen & so bin ich in meinem deutschen Denken gestört; wenigstens bis sich ein Friedenszustand zwischen den beiden gebildet hat & das dauert einige Zeit, vielleicht sehr lang.“ (MS 183: 48)
Die deutschsprachigen Monologe – egal, zu welchem Thema – sind also die Basis dafür, dass er überhaupt denken, philosophische Gedanken formulieren kann. Die Zeit in Skjolden (mit Unterbrechungen in Österreich und England) war für ihn möglicherweise weniger von Sprachproblemen geprägt: Er hat zwar das Norwegische beherrscht, aber in dieser Sprache keine philosophischen Themen diskutiert. Skjolden war für ihn auch eine fruchtbare Arbeitsperiode, die dennoch immer wieder von depressiven Phasen unterbrochen wurde, in denen er sich u. a. mit dem Gedanken seiner Wertlosigkeit sowohl als Mensch wie auch als Philosoph, seinem Verhältnis mit Francis Skinner und – als Ausweg aus all dem – mit
30 Oder eventuell nur mit einer einzigen Leerzeile, in der er erst nachträglich das Datum eingetragen hat. Schon eine Leerzeile wäre für Wittgenstein für einen Neuanfang uncharakteristisch. Er pflegte nämlich die Bemerkungen voneinander mit zwei Leerzeilen zu trennen. 31 Nicole L. Immler, Das Familiengedächtnis der Wittgensteins, a. a. O., S. 77.
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dem Kampf um den religiösen Glauben gequält hat. Diese trüben Gedanken und Gefühle haben ihren Niederschlag in kodierten und unkodierten Tagebuchnotizen gefunden. Die Sekundärliteratur hat bis jetzt den stilistischen Merkmalen von Wittgensteins kodierten Texten relativ wenig Aufmerksamkeit gewidmet, außer zu bemerken, dass sie in einem persönlichen, tagebuchartigen Stil geschrieben worden sind – wenn auch dies nicht ausnahmslos gilt.32 Auf diese Frage geht Ilse Somavilla dezidiert ein. Sie stellt fest, dass die kodierten Stellen – im Gegensatz zu den philosophischen Texten – keine Dialoge, sondern Selbstgespräche sind; sie sind dem Stil nach manchmal in einem autobiografischen bzw. narrativen Ton geschrieben; oder aber sie sind spontaner, lyrischer, poetischer, persönlicher, leidenschaftlicher im Vergleich mit ihrem unverschlüsselten bzw. nüchtern-philosophischen Kontext.33 Hierzu finden sich freilich wieder Gegenbeispiele. Daher wäre es meiner Meinung nach für Somavilla zweckmäßiger gewesen, Tendenzen und Texttypen zu bestimmen, wobei die Kodierung nur eines der Merkmale ist, das aber mit keinem Texttyp zwangsläufig verbunden ist. Es mag sein, dass auffallend viele unter den ca. 450 kodierten Stellen34 sowohl stilistisch als auch inhaltlich eher persönlich, der Form nach öfter monologisch sind, als Wittgensteins andere Bemerkungen; dass dieser Stil zudem auch noch den Tagebuchaufzeichnungen eigen ist; und dass selbst „öffentliche“ Themen wie Philosophie, Ethik, Religion in den verschlüsselten Texten bzw. in Tagebüchern häufig in diesem Stil besprochen werden. Nachdem dieser Schreibstil aber in unkodierten Texten bzw. in Manuskripten, die in erster Linie für die Arbeit bestimmt waren, ebenfalls vorkommt, könnte man meiner Meinung nach eher eine Textsorte festlegen, in der – ob verschlüsselt oder unverschlüsselt, in Tagebüchern oder Arbeitsheften – Fragen der Ethik und Religion in einem persönlichen, monologischen Schreibstil angesprochen werden. Die Tatsache, dass einige Texte Wittgensteins nicht die stilistischen Merkmale aufweisen, die für seine philosophischen Bemerkungen sonst – und sogar aus konzeptionellen Gründen – charakteristisch sind, mag allerdings – im Gegensatz zu Somavillas Schlussfolgerungen – ebenso auf eine Grenze zwischen Leben und Werk hinweisen. Wie auch andere Momente denselben Dienst tun können: z. B., dass Wittgenstein einige Bemerkungen nicht wieder aufgenommen und schon gar
32 Alois Pichler, Wittgensteins spätere Manuskripte: einige Bemerkungen zu Stil und Schreiben, a. a. O., S. 16. 33 Ilse Somavilla, Verschlüsselung in Wittgensteins Nachlass, a. a. O., S. 369. 34 Ebd., S. 368.
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nicht weiter korrigiert und neu formuliert hat, obschon er sonst gewöhnlich auf diese Weise gearbeitet hat,35 dass er einiges in Tagebüchern geschrieben hat; und in einigen Fällen wohl auch, dass er etwas in Geheimschrift notiert hat. Eine gewisse Grenze zwischen Leben und Werk wird also dann selbst in den Texten Wittgensteins gezogen. Ob es aber wirklich um eine Grenze zwischen Leben und Werk geht oder gerade umgekehrt: um eine Verbindung zwischen den beiden, soll selbstverständlich jeweils einzeln untersucht werden. Man kann sich die Arbeit nicht ersparen, die einzelnen Bemerkungen aufgrund ihrer Kontexte auszulegen, ihr Gewicht auf der Grundlage ihres Inhalts, Platzes, Wiederholungen etc. zu bestimmen. Seitdem Wittgensteins Nachlass zugänglich geworden ist, vertreten einige Interpreten die Meinung, alles im Nachlass sei gleichermaßen bedeutsam. Nicht jedes Wort, nur weil es niedergeschrieben worden ist, hat aber dieselbe Relevanz und auch nicht jedes hat zwangsläufig eine philosophische Bedeutung. (Man sollte jedenfalls einen geeigneten Interpretationsrahmen entwerfen und besondere Argumente vorbringen, um jede Tagebuchnotiz, in der Wittgenstein etwa klagt, Marguerite Respinger sei seinem Kuss ausgewichen, oder wiederholt auf sexuell selbstbezogenes Tun zu sprechen kommt, als philosophisch relevante Passagen einzustufen.)
35 Auf so eine Trennung zwischen dem „philosophischen Werk“ und den aphorismenartigen Bemerkungen zu kulturgeschichtlichen, ethischen und ästhetischen Themen hat bereits Keicher hingewiesen, und zwar mit einer Begründung, die meiner obigen ähnlich ist: „Die Bemerkungen ‚aphoristischer‘ Art finden sich nämlich fast ausschließlich in handschriftlichen Manuskripten […]. Wittgenstein hat solche Bemerkungen, von nur wenigen Ausnahmen abgesehen, bereits beim Diktat seiner Manuskripte in die Typoskripte konsequent ausgelassen. Diese während aller Schaffensperioden nach 1929 beibehaltene, konsequente Trennung zwischen ‚aphorismenartigen‘ und ‚philosophischen‘ Bemerkungen fand somit schon zu einem sehr frühen Zeitpunkt der Werkkonstitution statt, nämlich bei der Herstellung maschinenschriftlicher Materialsammlungen in Form von Typoskripten.“ (Vgl. Peter Keicher, Wittgenstein und Lichtenberg. Literarische Aphorismen, philosophische Bemerkungen und kongeniale Methoden, in: Matthias Kroß, Esther Ramharter (Hgg.), Ungesellige Geselligkeiten. Wittgensteins Umgang mit anderen Denkern, Berlin 2011, S. 167-199, S. 187.) Wie ich im Folgenden zeigen werde, ist diese Trennung – zumindest was die in der Skjolden-Periode zu Ethik und Religion geschriebenen Bemerkungen betrifft – bereits in Manuskripten, die nicht bloß Notizen, sondern schon ihre weitere Bearbeitung beinhalten, vollzogen.
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Wir machen es uns leichter (zumindest im Hinblick auf die Anzahl der für die Analyse zur Verfügung stehenden Bemerkungen), wenn wir den Textkorpus von den Bemerkungen zu ethischen Inhalten auf jene zu religiösen erweitern. Dazu könnte uns etwa die folgende – in Geheimschrift notierte – Bemerkung vom November 1929 ermutigen: „Wenn etwas gut ist, so ist es auch göttlich. Damit ist seltsamerweise meine Ethik zusammengefaßt.“ (MS 107: 192) In diese Richtung deutet auch, dass Wittgenstein für sich selbst den Gott als Schöpfer als nicht konzipierbar betrachtet hat – im Gegensatz zu dem Gott des Jüngsten Gerichts, der über alle Lebenden und Toten urteilen wird. (Mehrere seiner Freunde und Schüler – Engelmann36, Malcolm37, Drury38 – erinnern sich einstimmig an solche Behauptungen. Wittgenstein muss sie also öfter wiederholt haben.) Fragen der Religion werden in der Tat in mehr Bemerkungen besprochen als jene der Ethik. Einige der Bemerkungen zur Religion hat Wittgenstein sogar mehrfach bearbeitet. „ ‚Gott kannst Du nicht mit einem Andern reden hören, sondern nur, wenn Du der Angeredete bist.‘ Das ist eine grammatische Bemerkung.“ Diese Sätze hat Wittgenstein zuerst vermutlich nach der Zwischenfassung der PU, möglicherweise im Frühjahr (und bestimmt nicht später als im August) 1945 in einem Manuskriptband aufgezeichnet (MS 130, S. 7)39 und sodann in die maschinenschriftlichen Vorarbeiten der Spätfassung der PU übernommen (TS 228: 158; TS 230: 92). Schließlich hat er sie dennoch nicht in der Spätfassung verwendet. In Wittgensteins letzter Zeit nach den Philosophischen Untersuchungen kommen einschlägige Bemerkungen nicht nur häufiger vor, sondern zwei von ihnen werden sogar mehrmals wieder bearbeitet. Eine von diesen wurde in dem einzigen Typoskript nach 1946 diktiert,40 was ihr besonderes Gewicht gibt:
36 Engelmann, Briefe, Begegnungen, Erinnerungen, a. a. O., S. 97. 37 Malcolm, Wittgenstein: A Religious Point of View?, a. a. O., S. 9-10. 38 Rhees, Ludwig Wittgenstein: Personal Recollections, a. a. O., S. 174-175. 39 Für die Datierung der Seiten 1-23 des MS 130 bin ich Peter Keicher dankbar. 40 Dieses Typoskript ist früher als Teil II der PU erschienen. Heute betrachten wir es nicht mehr als Teil der PU. In der neuen, von P.M.S. Hacker und Joachim Schulte betreuten und übersetzten Ausgabe wurde es als selbstständiger Text unter dem Titel Philosophie der Psychologie – Ein Fragment abgedruckt. (Ludwig Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen – Philosophical Investigations. Revised fourth edition by P.M.S. Hacker and Joachim Schulte, Oxford 2009).
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„Die Religion lehrt, die Seele könne bestehen, wenn der Leib zerfallen ist. Verstehe ich, was sie lehrt? – Freilich versteh ich’s – ich kann mir dabei manches vorstellen. Man hat ja auch Bilder von diesen Dingen gemalt. Und warum sollte so ein Bild nur die unvollkommene Wiedergabe des ausgesprochenen Gedankens sein? Warum soll es nicht den gleichen Dienst tun, wie die gesprochene Lehre? Und auf den Dienst kommt es an.“41
Die andere Bemerkung wurde von Wittgenstein im Dezember 1947 notiert, sodann in einem Manuskript ins Reine geschrieben, das eine Auswahl aus den Bemerkungen des Zeitraums 1947-1949 darstellt:42 „Es kommt mir vor, als könne ein religiöser Glaube nur ein leidenschaftliches Sich-Entscheiden für ein Bezugssystem sein. Also, obgleich es Glaube ist, doch eine Art des Lebens, oder eine Art, das Leben zu beurteilen. Ein leidenschaftliches Ergreifen dieser Auffassung. Und die Instruktion in einem religiösen Glauben müßte also die Darstellung, Beschreibung jenes Bezugssystems sein und zugleich ein In’s-Gewissen-Reden. Und diese beiden müßten am Schluß bewirken, dass der Instruierte selber, aus eigenem, jenes Bezugssystem leidenschaftlich erfaßt. – Es wäre, als ließe mich jemand auf der einen Seite meine hoffnungslose Lage sehen, auf der andern die rettende Zuflucht, bis ich, aus eigenem, – aber ganz gewiß nicht von dem Instruktor an der Hand geführt – auf den Rettungsanker zustürzte und ihn ergriffe.“ (MS 168: 4r – 4v; Vorstufe: MS 136: 16b)
Welche sind nun die inhaltlichen Elemente, die, wenn auch in unterschiedlichen Formulierungen, mehrmals vorkommen? 4.1 Sprachspiele mit „Gott“ und „gut“ Die Religion – wie auch die Ethik – stellt ein Sprachspiel dar, das nach Regeln gespielt wird und das wir uns auf dieselbe Weise aneignen, wie jedes andere Sprachspiel. Die Philosophie hat nicht die Aufgabe zu definieren, was Gott ist und worin das Gute besteht, sondern stattdessen den Gebrauch der Wörter „Gott“ und „gut“, also die Sprachspiele, die mit ihnen gespielt werden, zu beschreiben. (Einschlägige, oben bereits zitierte Stellen: MS 116: 56; MS 130: 7 und zwei spätere
41 Wittgenstein 2009: 187 = Philosophie der Psychologie – Ein Fragment; Vorstufen: MS 131: 69-70; MS 144: 10; TS 229: 252-253; TS 245: 184-185. Diese Ausführungen werden in MS 131, TS 229 und TS 245 nach einem schlagartigen kurzen Dialog noch von dem folgenden einleuchtenden Satz gefolgt: „Der Nutzen, d. h. Gebrauch, gibt dem Satz seinen besondern Sinn, das Sprachspiel gibt ihm ihn.“ 42 Georg Henrik von Wright, Wittgenstein, Frankfurt am Main 1986, S. 55.
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Typoskriptversionen; PU 77 und vier Vorstufen; Wittgenstein 2009, S. 187 und vier Versionen; Moore 1959: 312.) Diese Bemerkungen fügen sich zweifelsohne nahtlos in die späte Sprachspielkonzeption ein. Dies wird schon daraus ersichtlich, dass Wittgenstein die meisten sogar mehrmals bearbeitet hat. Diese mehrfache Bearbeitung ändert aber dennoch nichts daran, dass die Idee, Ethik und Religion seien Sprachspiele, in Anbetracht des Gesamtumfangs des schriftlichen Nachlasses überraschend spärlich verwendet wird. Wittgensteins umfangreichste Ausführungen zum Thema sind – selbst wenn wir sowohl die ethischen als auch die religiösen Bemerkungen in Betracht ziehen – mündlich geblieben: Sie finden sich in Moore’s Vorlesungsaufzeichnungen 1930-1933;43 in den Aufzeichnungen seiner Studenten über seine Seminare zu den Sprachspielen der Religion gegen 1938;44 in einigen Gesprächen, die er mit Bouwsma, der an Fragen der Ethik und Religion interessiert gewesen ist, zwischen 1949 und 1951 geführt hat.45 Die mündlichen Mitteilungen einschließlich der Vorlesungen waren aber in Wittgensteins Augen sowohl dem Inhalt als auch der Formulierung nach vielleicht noch unreifer als seine schriftlichen Arbeiten. Deshalb wollte er auch nicht, dass die Aufzeichnungen seiner Studenten von diesen „spontanen Bemerkungen“, die er frei, „so, wie sie [ihm] eingefallen sind“, vorgetragen hat, veröffentlicht werden.46 Die folgenden drei thematischen Schwerpunkte, obwohl sie sich entweder mit diesem ersten oder aber mit einem der anderen drei in Zusammenhang bringen lassen, entfernen sich schon – wie ich im Abschnitt 4.4 darlegen werde – Schritt für Schritt von der Wittgenstein’schen „Standardkonzeption“. 4.2 Vernunft und Tatsachen kontra Herz, Einleuchten und Glauben Das Definitionsverbot wird in den Passagen fortgesetzt, in denen behauptet wird, die Religion ließe sich nicht mit Theorien und Vernunftwahrheiten untermauern, und sie könne auch nicht solche mitteilen, denn
43 Ludwig Wittgenstein, Lectures, Cambridge 1930-1933: From the Notes of G.E. Moore, herausgegeben von David Stern, Gabriel Citron and Brian Rogers, Cambridge 2015. 44 Ludwig Wittgenstein, Lectures & Conversations on Aesthetics, Psychology and Religious Belief, compiled from Notes taken by Yorick Smithies, Rush Rhees and James Taylor, herausgegeben von Cyril Barrett, Berkeley and Los Angeles 1966, S. 53-72. 45 O.K. Bouwsma, Ludwig Wittgenstein: 1889-1951, ed. with an intr. by J.L. Craft and Ronald E. Hustwit, Indianapolis 1986. 46 Vgl. Drurys Aufzeichnungen in Rhees, Ludwig Wittgenstein: Personal Recollections, a. a. O., S. 155.
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„der Glaube ist Glaube an das, was mein Herz, meine Seele braucht, nicht mein spekulierender Verstand. Denn meine Seele, mit ihren Leidenschaften, gleichsam mit ihrem Fleisch und Blut muß erlöst werden, nicht mein abstrakter Geist.“ (MS 120: 55r)
Der religiöse Glaube hat aber mit empirischen, historischen Wahrheiten und Wahrscheinlichkeiten auch nichts zu tun: Die Wörter der Bibel oder die Bibel als Dokument können uns nicht dem Glauben näherbringen. Die Glaubenslehren „müssen mir vielmehr einleuchten […] Nicht die Schrift, nur das Gewissen kann mir befehlen – an Auferstehung, Gericht etc. zu glauben. […] Die Predigt kann die Vorbedingung des Glaubens sein, aber sie […] kann den Glauben nicht bewegen wollen. (Könnten diese Worte zum Glauben verbinden, so könnten andere Worte auch zum Glauben verbinden.) Das Glauben fängt mit dem Glauben an. Man muß mit dem Glauben anfangen; aus Worten folgt kein Glaube.“ (MS 183: 149-151)
4.3 Bezugssystem, Attitüden und Lebensfragen Die Idee, wir hätten es mit einem Bezugssystem, keinesfalls aber mit empirischen Wahrheiten zu tun, kann uns zu der Behauptung weiterführen, dass der Glaube eine Betrachtungsweise, Auffassung, Einstellung: „nicht eine Meinung […], sondern eine Attitüde den Dingen und dem Geschehen gegenüber“ (MS 183: 216) ist, die die gesamte Lebensführung, das gesamte Leben des Gläubigen bestimmt. Einen Glauben ergreifen heißt, einen Aspektwechsel erleben, zu einer neuen Auffassung, neuen Lebensführung wechseln: „Eine religiöse Frage ist nur entweder Lebensfrage oder sie ist (leeres) Geschwätz. Dieses Sprachspiel – könnte man sagen – wird nur mit Lebensfragen gespielt. Ganz ähnlich, wie das Wort ‚Au-weh‘ keine Bedeutung hat – außer als Schmerzensschrei. {Ich will sagen: Wenn eine ewige Seligkeit nicht für mein Leben, meine / Ich will sagen: Wenn eine ewige Seligkeit nicht für mein Leben, meine} Lebensweise, etwas bedeutet, dann habe ich mir über sie nicht den Kopf zu zerbrechen; kann ich mit Recht darüber denken, so muß, was ich denke, in genauer Beziehung zu meinem Leben stehen, sonst ist, was ich denke, Quatsch, oder mein Leben in Gefahr. – Eine Obrigkeit, die nicht wirkt, nach der ich mich nicht zu richten habe, ist keine Obrigkeit.“ (MS 183: 203-204)47
47 In Somavillas Transkription wird nicht angemerkt, dass Wittgenstein über den kodierten Worten am Anfang des zweiten Absatzes den Text nachträglich auch noch dekodiert wiederholt hat.
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Exkurs zu 4.2 und 4.3 mit Folgen: Arbeit und Privates, kodiert und unkodiert – in MSs 118, 119, 120 und 183 Alle Zitate aus den Abschnitten 4.2 und 4.3 stammen aus der Zeit 1936-1937, die Wittgenstein zum großen Teil in Skjolden verbracht hat.48 Wittgenstein hat MS 120 im letzten Monat seines Skjolden-Aufenthalts, am 19. November 1937 begonnen. Die zitierte Stelle wurde von ihm nach dem 12. Dezember schon unterwegs aus Norwegen nach Wien notiert, wo er am 19. Dezember seine erste Notiz eingetragen hat. Nach dem Wiener Aufenthalt über Weihnachten ist er endgültig nach Großbritannien zurückgekehrt: vorerst war er kurz in Cambridge, sodann eine längere Zeit in Dublin, ab dem 18. März – wenige Tage nach dem „Anschluss“ – wieder in Cambridge. MS 183 stellt die bereits erwähnten Tagebücher dar. Das erste obige Zitat (MS 183: 149-151 – s. unter [4.2]) aus diesen hat Wittgenstein am 27. Jänner 1937 „[a]uf der Rückkehr von Wien & England, auf der Reise von Bergen nach Skjolden“ aufgezeichnet (MS 183: 148 – s. unter [4.3]), das zweite (MS 183: 216) am 14. März und das dritte (MS 183: 203-204 – s. unter [4.3]) am 23. Februar desselben Jahres in Skjolden. Ein auffallendes Merkmal der angeführten Stellen ist, dass sie größtenteils in Geheimschrift notiert wurden. Die Kodierung in den Manuskriptbänden, denen wir die Zitate entnommen haben, wurde in der Sekundärliteratur im Hinblick auf Wittgensteins Auseinandersetzung mit Fragen der Religion ausgiebig behandelt. So untersucht Westergaard in diesem Zusammenhang MSs 118, 119 und 120, an denen – wie er festlegt – Wittgenstein zwischen dem Spätsommer und Winter 1937 in Skjolden gearbeitet hat.49 Westergaard bemerkt eine merkwürdige Inkonsistenz, Unsicherheit, sogar Unentschiedenheit Wittgensteins bei der Anwendung der Geheimschrift, die darin gipfeln, dass er öfter selbst inmitten einer Bemerkung kodierte und unkodierte Texte wechselt.50 Das lässt sich seiner Meinung nach darauf zu-
48 Ankunft in Skjolden: 27.08.1936. Unterbrechungen: 1./ 8.12.1936: Abreise nach Wien; ab Anfang Jänner bis 27.01.1937: Cambridge. 2./ Anfang Mai 1937: Abreise nach Wien; ab Anfang Juni: Cambridge; 16.08.1937: Ankunft in Skjolden. Endgültige Abreise aus Skjolden: 11.12.1937. 49 Wie oben schon gesagt, wurde MS 120 in der Tat größtenteils nicht mehr in Skjolden, sondern in Wien, Cambridge und Dublin geschrieben. Wittgenstein beginnt seine letzte Eintragung auf dem Schiff noch in Norwegen auf S. 48r und seine erste Eintragung in Wien auf S. 55v. Die letzte Seite des Bandes ist 147r. 50 Westergaard, „… predestination in St Paul, is …“, a. a. O., S. 147-148.
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rückführen, dass Wittgenstein in dieser Lebensphase eine persönliche, existenzielle Krise durchmacht, die bewirkt, dass Fragen der Religion zu dieser Zeit zu einem philosophischen Hauptinteresse geworden sind. In dieser intensiven und schwierigen seelischen Lage hat Wittgenstein „difficulty in deciding whether he is making a statement about his personal faith and tribulations, or whether he is noting a strictly philosophical, conceptual investigation.“51
MSs 118, 119 und 120 wären also klare Beispiele dafür, dass bei Wittgenstein keine Grenze zwischen Arbeit und Persönlichem gezogen werden kann. Die Feststellungen Westergaards bezüglich der religiös-ethischen Bemerkungen bestehen aber leider nicht die Gegenprobe eines Vergleichs mit Wittgensteins rein privaten Aufzeichnungen (etwa über seinen Alltag, seine privaten Probleme oder darüber, dass er mit seiner Arbeit nicht richtig vorankommt), welche in diesen drei Bänden die philosophischen Ausführungen sogar häufiger unterbrechen als jene zu Fragen der Religion. In diesen privaten Bemerkungen mischt Wittgenstein nämlich häufig – manchmal sogar inmitten eines einzigen Satzes oder aber mehrmals inmitten einer einzigen Bemerkung – die kodierten Texte mit den unkodierten, und zwar ohne dass sich darin irgendein System entdecken ließe.52 Man kann sich schwerlich vorstellen, dass er in diesen Fällen unsicher gewesen wäre, ob er nun eben Philosophie treibt oder doch über seine Privatangelegenheiten berichtet.53 Ab und zu scheint er sogar mit dem mehrfachen Wechsel der Geheimschrift bloß zu spielen.54 Dann ist es aber auch nicht berechtigt, aus dem ähnlichen Phänomen in den
51 Ebd., S. 149. 52 Einige Beispiele: MS 118: 5r-6v, 8r–8v, 9v-10r; MS 119: 117, 123-124, 94v; MS 120: 7v-8r, 20v, 48r, 128v-129r. 53 Zum Beispiel hier: „Ich fühle mich sehr seltsam; ich weiß nicht ob ich ein Recht oder einen guten Grund habe, jetzt hier zu leben. Ich habe kein wirkliches Bedürfnis nach Einsamkeit, noch einen überwältigenden Trieb zu arbeiten. Eine Stimme sagt: warte noch, dann wird es sich zeigen. Eine Stimme sagt: Du wirst es hier unmöglich aushalten können; Du gehörst nicht mehr hierher! – Aber was soll ich machen? Nach Cambridge? Dort werde ich nicht schreiben können. Ich sehne mich nach Fr.“ (MS 118: 5r; Fr. = Francis Skinner). 54 Wie etwa in den folgenden, rein philosophischen Ausführungen: „Er weiß doch, was es heißt selbst Träume haben! Aber versteht er dadurch auch was es heißt, daß, sagen wir, ein Waschschaff Träume hat? Und liegt also das Wesentliche in der Organisation dem Bau des Menschen? Man möchte in so einem Fall sagen: ‚Das Waschschaff hat eben keinen Kopf.‘ Und hier sieht man worauf es bei solchen Vorstellungen ankommt. Man
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religiösen Bemerkungen darauf zu schließen, dass Wittgenstein unschlüssig gewesen ist, zwischen Arbeit und Privatem einen Unterschied zu machen. Wenn das Gesagte für die religiösen Bemerkungen überhaupt zutrifft: Westergaard führt nämlich kein einziges Wittgenstein-Zitat an, um seine These zu untermauern. Er stuft alle seine Zitate entweder als kodiert oder als unkodiert ein. Zwei von den von ihm als rein kodiert dargestellten Zitaten sind in Wirklichkeit dennoch gemischt: MS 118: 17r-17v und 56r-56v.55 Im ersten geht es Wittgenstein zwar um Lebensfragen, aber doch nicht um die Religion. Die zweite Stelle – die das Thema Christentum bespricht – folgt im Original einer kodierten, rein privaten Feststellung. Darauf beginnt Wittgenstein zwar die neue Ausführung zur Religion in Geheimschrift, merkt aber schnell den Themenwechsel und schreibt schon den zweiten Nebensatz unverschlüsselt. Es gibt also keinen Grund, in diesem Fall über Wittgensteins Unsicherheit, ob es um Arbeit oder Privates geht, zu reden. Das System der Kodierung der religiösen Bemerkungen in den nämlichen Manuskripten ist in der Tat – abgesehen von sehr wenigen schwankenden Fällen – sogar sehr übersichtlich. Die drei Bände beinhalten 12 längere Ausführungen zur Religion, von diesen sind drei kodiert.
MS 118 MS 119 MS 120
kodiert — 140r-140v 17r-18r, 54r-55v
unkodiert 30v, 88v, 117v-119r 71-73, 76r-77v 4r-4v, 41v-42r56, 42r-43r
gemischt 56r-56v — —
Die einzige gemischte Stelle (die aufgrund des vorhin Gesagten besser als unkodiert einzustufen ist) und die unkodierten beinhalten im Großen und Ganzen – wenn auch manchmal mit einigen persönlichen Bezügen (Ms 118: 30v; Ms 120: 4r-4v) – religionsphilosophische Ausführungen. Dieses Thema weicht allerdings
wird nämlich so aufmerksam, darauf was die Vorstellung ist, die uns hier als Verständnis gilt; oder wie wir vom eigenen Traum zum Traum das Andern gelangen. Ich habe jetzt wohl eine Erinnerung an einen Traum, aber doch keinen Traum.“ (MS 119: 140v141r, Hervorhebungen an dieser und anderen Stellen durch die Autorin.) 55 Westergaard, „… predestination in St Paul, is …“, a. a. O., S. 145. 56 Die Bemerkung auf 41v beginnt mit den Worten „Das Christentum“, wo der Artikel noch verschlüsselt, die Fortsetzung aber schon unverschlüsselt ist. Wittgenstein hat also hier noch rascher als in MS 118 56r-56v realisiert, dass die Kodierung überflüssig sei. So kann die Bemerkung schlicht als unkodiert kategorisiert werden.
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von der philosophischen Hauptthematik der MSs 118-119-120 ab und stellt daher einen Themenwechsel dar, der von Wittgenstein systematisch bemerkt wird.57 Die drei kodierten Bemerkungen sind von privatem Charakter. Nachdem die meisten privaten Bemerkungen in diesen Manuskriptbänden ohnehin kodiert sind, kann man aus diesen dreien keine Schlussfolgerungen, die spezifisch für die Verbindung zwischen Kodierung und Religion gelten, ziehen. In MS 119: 140r-140v geht es um Wittgensteins Beichte und in MS 120: 17r-18r um die Mängel seiner eigenen Frömmigkeit. Die dritte Stelle (Ms 120: 54r-55v) – der wir unser erstes Zitat oben unter (4.2) entnommen haben – wurde von Wittgenstein unterwegs aus Norwegen nach Wien notiert. Dieser Umstand alleine macht schon nachvollziehbar, warum er diesen Text mittels der Geheimschrift vor zufälligen fremden Blicken hat schützen wollen. (Wenn auch die Geheimschrift der Wittgenstein-Geschwister ziemlich einfach gewesen ist, hat Wittgenstein dennoch mit Recht annehmen können, dass ein Fremder, der bei Gelegenheit flüchtig in seine Notizen hineinschaut, sie nicht gleich entschlüsseln werde.) Diese Ausführungen behandeln in einem von Wittgensteins philosophischen Texten abweichenden rhetorisch-poetischen Ton die Natur des wahren Glaubens: die erste Hälfte ist durch die erste Person Singular Präsens geprägt, die dann in eine fast schon sachliche Beschreibung übergeht, welche schließlich wieder poetisch formuliert an ein Du – ob an das Ich der ersten Hälfte des Textes oder aber an einen Anderen im Allgemeinen – gerichtet wird und als solche die Funktion der Aufforderung, wie der Angeredete den richtigen Glauben erreichen könnte, erfüllt. Unser Zitat unter 4.2 steht noch in der ersten, aus der Ich-Perspektive erzählten Hälfte der Bemerkungskette.
57 In der Mehrzahl der Fälle stehen vor diesen Stellen entweder kodierte private Aufzeichnungen oder eine Trennungslinie, nach ihnen das Datum des nächsten Tages oder eine Linie. Einmal stehen die religiösen Ausführungen mit einer Linie von dem Rest des Bandes abgehoben auf den letzten Seiten des Manuskriptes (MS 118: 117v-119r). MS 118: 30v steht auf einer Versoseite, während die beiden Rectoseiten vor und nach ihr (30r, 31r) eine zusammenhängende Ausführung darstellen. Die gemischte Stelle MS 118: 56r-56v – die abgesehen von dem ersten Nebensatz unkodiert ist – haben wir oben schon geschildert. Sie folgt auf einen kodierten Teil und nach ihr kommt das Datum des nächsten Tages. Am allerwenigsten werden MS 118: 88v und MS 120: 41v42r von dem vorigen Kontext abgehoben: nur durch eine einzige Leerzeile statt der üblichen zwei, mit denen Wittgenstein, wie bereits gesagt, die Bemerkungen voneinander getrennt hat. Nach MS 118: 88v wurde aber schon eine horizontale Linie gezogen. Nach der Bemerkung auf MS 120: 41v-42r wird der Tag beendet – danach kommt schon das Datum des nächsten Tages.
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Neben den längeren religionsphilosophischen Schilderungen enthalten MSs 118-119-120 recht viele kürzere – meistens nur aus ein-zwei Sätzen bestehende – Textteile, die religiös gefärbt sind, wie etwa: „Bin irreligiös, aber mit Angst.“ (MS 118: 62v); „In dem Sturm und Unwetter war ich versucht Gott zu verfluchen, was doch böse und abergläubisch ist.“ (MS 118: 63v); „Konnte heute besser Arbeiten. Gott sei Dank.“ (MS 120: 10v); „Nur Ruhe in Gott würde mir helfen können.“ (MS 120: 16v) Die Mehrzahl der kurzen Textabschnitte dieser Sorte ist in privaten, fast immer verschlüsselten Schilderungen zu lesen. In diesen Stellen orientieren sich auch die religiösen Sätze selbstverständlich an der Schriftart ihrer Umgebung. So kann man hier der Kodierung des religiösen Inhalts wieder keine themenspezifische Bedeutung beimessen. Die Anzahl der von diesem durchaus klaren System abweichenden Fälle ist so gering,58 dass ich es für gewagt halte, nur auf dieser Grundlage der Geheimschrift in den kürzeren religiösen Textstellen eine besondere philosophische Deutung zu geben: Sie belegen weder ausreichend, dass Wittgenstein keinen Unterschied zwischen Arbeit und Privatleben, Werk und Leben zu machen wusste, noch, dass „die verschlüsselten, ethische und religiöse Fragen betreffenden Bemerkungen auch als zum wesentlichen, nicht geschriebenen Teil seines Werks gehörend gedacht sein“ könnten.59 Eben umgekehrt: zumindest diese drei Manuskripte (über den Gesamtnachlass möchte ich hier keine definitiven Thesen aufstellen) machen einen klaren Unterschied zwischen privaten und philosophischen Fragen der Religion. Die Letzteren werden in einigen unkodierten längeren Ausführungen ausgiebig behandelt. Die Ersteren werden hingegen fast immer nur ganz kurz, in kodierten privaten Notizen, im Rahmen von anderen Themen erwähnt. Die philosophischen Probleme können, wie es nun ausschaut, ohne Weiteres unkodiert ausgesprochen werden.
58 Es könnte insgesamt um drei Stellen gehen, von denen zwei aber beim näheren Hinsehen zu Westergaards These nicht im Geringsten beitragen können. 1./ MS 118: 10v. In dieser mit zwei kodierten Sätzen kapriziös unterbrochenen unkodierten privaten Bemerkung kommt Gott in drei unkodierten Sätzen vor. Die Letzteren folgen also ihrem Kontext und weichen daher von dem obigen System nicht ab. 2./ MS 119: 77. „Lese im Evangelium, aber ohne Verständnis.“ Diese unkodierte private Bemerkung in einem unkodierten philosophischen Kontext könnte alleine als Beleg für Westergaards These dienen. 3./ „Wenn Du den Vollkommenen siehst, wie willst Du ihn anders nennen, als Gott?!“ (MS 119: 147) Der Satz, der sich auf die Grammatik des Wortes „Gott“ bezieht, befindet sich in einem unkodierten philosophischen Kontext. Somit kann die Kodierung einfach bloß auf den Themenwechsel hinweisen. 59 Somavilla, Verschlüsselung in Wittgensteins Nachlass, a. a. O., S. 385.
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Um auf der anderen Seite in den kodierten Bemerkungen das Unaussprechbare aufzufinden, sollten wir das Privatleben eines Menschen im Allgemeinen als unaussprechlich einstufen. Mit dieser Folgerung würden wir aber m. E. schon zu weit gehen. Man könnte hier noch einwenden, dass schon das Mischen von Privatem und Philosophischem in denselben Bänden für Wittgensteins Intention spricht, die beiden miteinander zu verbinden und zusammen lesen zu lassen, damit das eine auf das andere Licht werfen kann. Ohne diese Möglichkeit für alle Fälle im Gesamtnachlass kategorisch auszuschließen, möchte ich doch (wie bereits in anderem Zusammenhang unter Abschnitt 3) auf aus philosophischem Gesichtspunkt zufällige, dafür aber viel natürlichere Gründe hinweisen. Schreibt jemand in einem Manuskriptband, kommt aber nicht richtig mit der Arbeit voran, so wäre es lebensfremd zu erwarten, dass er nicht in dem gleichen Band seiner Unzufriedenheit mit und Zweifeln an sich Luft gibt, sondern vorerst nach einem anderen Manuskriptband sucht. Geht man mit einem Notizbuch in der Tasche spazieren (wie es Wittgenstein zu tun pflegte) und fällt einem dabei etwas ein, so schreibt man – egal, ob es Philosophie oder Persönliches ist – in das Heft, das man eben bei sich hat; wie auch wenn man unterwegs etwa an Bord eines Schiffes sitzt, läuft man nicht schnell in seine Kajüte, um in den passenden Band schreiben zu können. Zieht man auch noch die weiteren Texte in Betracht, an denen Wittgenstein während dieser Periode gearbeitet hat, so löst sich die Hypothese in Luft auf. Es geht um die folgenden Nachlassstücke: MS 11660, MS 11761, MS 141 (= Anfang einer frühen deutschen Fassung des Braunen Buchs), MS 142 (= Urfassung der PU), MS 143 (= Bemerkungen zu Frazers The Golden Bough, an losen Blättern verschiedenen Formats), MS 115ii (ab S. 118 = Philosophische Untersuchungen. Versuch einer Umarbeitung), MS 157a (ab S. 46r) und 157b, TS 220 (= ein Teil der Frühfassung der PU). Unter diesen enthält ausschließlich MS 157a kodierte Sätze und selbst dieses nur sehr spärlich: insgesamt in sechs Stellen jeweils einen einzigen Satz über die bei Wittgenstein üblichen persönlichen Themen, einmal mit Hinweis auf Gott.62 Unkodierte persönliche oder religiöse Bemerkungen sind weder in diesem, noch in den anderen Quellen zu finden.
60 Bis S. 135 – vgl. von Wright, Wittgenstein, a. a. O., S. 62. 61 Bis S. 97 – vgl. von Wright, Wittgenstein, a. a. O., S. 62. 62 MS 157a: 60v: „‚Mir gehts eigentlich jetzt gut; es scheint mir gelungen zu sein Gott zu täuschen.‘“; 62v: „In meiner Seele ist Winter“; 62v-63r: „(Mein Gedanke geht so langsam, als ob er durch tiefen Schnee waten müßte.)“; 66r: „(Es ist ein wenig wie Morgengrauen bei mir im Geist.)“; 67v: „Wenn Du ein Opfer bringst und dann darauf eitel bist, so wirst du mit samt {deinem / dem} Opfer verdammt.“; 68v: „Das Licht der Arbeit ist
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MS 157a ist ein Taschennotizbuch, das Wittgenstein leicht auf Spaziergänge hat mitnehmen können. Die vorhin besprochenen MSs 118, 119 und 120 sind schon größer, aber immer noch nicht von dem großen Format, wie MSs 115 oder 142. Das spricht für unsere obige Hypothese, dass auch alltägliche, rein praktische Gründe dabei mitgespielt haben könnten, dass Wittgenstein ab und zu philosophische und persönliche Notizen in einem Manuskriptband gemischt hat. Nicht nur das Format, sondern auch die Funktion des Bandes hat offenbar beeinflusst, ob Wittgenstein in ihnen neben den unkodierten bzw. philosophischen Bemerkungen auch noch kodierte bzw. persönliche eingetragen hat. Es ist augenfällig, dass er die philosophischen Texte, an denen er schon konzentriert mit Blick auf ein Buch gearbeitet hat, bzw. die Bände, welche schon entweder als eine Auswahl für spätere Zwecke oder aber als Reinschrift gedacht waren, gewöhnlich weder mit kodierten noch mit unkodierten persönlichen Bemerkungen unterbrochen hat – selbst dann nicht, wenn sie von ähnlichem Format gewesen sind wie die MSs 118-119-120. Letzteres trifft auf MS 117 zu, das „in dem [für uns hier] relevanten Teil (bis S. 97) den Charakter einer Reinschrift“ trägt.63 MS 116 „beginnt mit einer Auswahl und Bearbeitung von Stellen aus den frühen Teilen von Ms. 213 (Großes Typoskript)“, sodann wird es „nicht so sehr eine weitere Überarbeitung des Inhalts des Großen Typoskripts […], sondern eher eine Auswahl (mit einigen Überarbeitungen) von Bemerkungen“.64 MS 115 hat es schon in seinem Titel, dass es um ein Buch geht, das gerade umgearbeitet wird. In MS 141 versucht Wittgenstein, das Brown Book ins Deutsche zu überarbeiten. MS 142, die Urfassung der PU – ein Geschenk an die Schwester Margarete zu Weihnachten 1936 – basierte u. a. auf TS 213 und MS 115 und hatte wieder „den Charakter einer Reinschrift“, die aber „an vielen Stellen stark überarbeitet worden ist“.65 TS 220, ein Teil der Frühfassung der PU war ein Diktat, mit wenigen handschriftlichen Korrekturen. MS 157b (datiert auf der ersten Seite vom 27. Februar 1937) ist ein Notizbuch. Notizbücher enthalten zumeist nicht mehrere Datierungen und meistens auch kaum tagebuchartige Notizen; in den Jahren von 1929 bis etwa 1933 oder 1934
ein schönes Licht, das aber nur dann wirklich schön leuchtet, wenn es von noch einem andern Licht erleuchtet wird.“ 63 Joachim Schulte, Historisch-philologische Nachbemerkungen, in: Ludwig Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen. Kritisch-genetische Edition, hrsg. von Joachim Schulte in Zusammenarbeit mit Heikki Nyman, Eike von Savigny u. Georg Henrik von Wright, Frankfurt am Main 2001, S. 1102. 64 Von Wright, Wittgenstein, a. a. O., S. 61-62. 65 Schulte, Einleitung, in: Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen: Kritisch-genetische Edition, a. a. O., S. 18.
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wurden in ihnen die römisch nummerierten Manuskriptbände MSs 105-115 (I-XI) vorbereitet. All das spricht dafür, dass Wittgenstein sehr gut zwischen Arbeit und Privatem, Philosophie und Persönlichem zu unterscheiden wusste. Er hat die beiden Bereiche nur unter bestimmten Umständen bzw. dann gemischt, wenn alles noch sozusagen fließend gewesen ist, nicht mehr aber in den vorangeschrittenen Arbeitsphasen. MS 157a mit seinen sechs kurzen tagebuchartigen Eintragungen weicht also kaum von den „Regeln“ der Notizbücher ab. MSs 118-120 entsprechen hingegen weniger Regeln, sondern sie haben vielmehr eine Sonderstellung in dieser Periode, aber wahrscheinlich auch im Gesamtnachlass. Diese Sonderstellung zeigt sich auch darin, dass sie – wahrscheinlich zumindest teilweise erst nachträglich – eine römische Nummerierung (XIV-XVI) bekommen haben, die Wittgenstein (wie auch die späteren alphabetischen Kennzeichnungen der Bände) sonst nur für umfangreiche Manuskriptbände verwendet hat, nicht aber für Manuskripte, die er als „Heft“ bezeichnet hat. (MS 120 enthält auch die Formulierung „Fortsetzung des Heftes XV“ [= MS 119].) Sie erfüllen jeweils innerhalb des jeweiligen Bandes unterschiedliche Funktionen, so u. a. auch die Vorbereitung von späteren Bänden, womit sie teilweise an die Funktionen von Notizbüchern erinnern. Sie enthalten andererseits aber auch zahlreiche tagebuchartige Eintragungen, bzw. insgesamt neun längere Ausführungen zu Fragen der Religion, die aber alle einmalig bleiben: weder Bearbeitungen von früheren noch Vorbereitung für spätere Bemerkungen sind.66 Das Gesagte wirft auch die Frage auf, ob Religion zu dieser Zeit wirklich zu einem der philosophischen Hauptthemen Wittgensteins geworden ist – um so mehr, weil diese Schlussfolgerung selbst aufgrund der Manuskripte 118-119-120 (in denen doch einige Stellen zum Thema zu lesen sind) nicht gerade zwingend ist. Zumindest dem Umfang nach nehmen die religionsphilosophischen Ausführungen jedenfalls selbst in diesen drei Manuskriptbänden einen geringen Platz ein: vom Gesamtumfang der 826 Seiten nur 13 Seiten (= 1,57 %). Selbst wenn wir die einschlägigen privaten Textstellen hinzuzählen, kann das immer noch nur 2,2 bis 3 % ausmachen (davon abhängig, welche Textstellen wir auch noch als religiös auslegen, in denen die Religion explizit nicht zum Ausdruck kommt). Die Tagebuchnotizen aus 1936-1937 in MS 183 befassen sich hingegen recht ausführlich mit Fragen des Glaubens und Gott. Der Großteil dieser Notizen ist in
66 Für die Charakterisierung der Notizbücher und Manuskriptbände, insbesondere für diejenige der Sonderstellung von MSs 118-119-120 hat mir Peter Keicher seine Forschungsergebnisse freundlicherweise zur Verfügung gestellt.
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Normalschrift geschrieben; sie enthalten trotzdem auch einige, sogar längere kodierte Passagen. Laut Somavilla habe Wittgenstein allgemeine persönliche Eintragungen in Normalschrift geschrieben. Auf der anderen Seite stehen Gedanken und Gefühle, die ihm besonders nahe gegangen sind; darüber hinaus Äußerungen in einem leidenschaftlichen Ton über moralische und religiöse Probleme, bzw. seine ganz persönliche Auseinandersetzung mit Ethik und Religion, dem Bereich des Metaphysischen, des Unsagbaren, das sich nur in einer Geste zeigen ließe, in Geheimschrift.67 Somit würde das Spätwerk nach Somavilla in Hinblick auf die ethische Lehre den Tractatus nahtlos fortsetzen. Gesten und Handlungen haben aber in der Sprachspielkonzeption ihren guten Platz: es gehört ja eben zu den Spezifika des Spätwerks, dass es mit einem weiteren Begriff der Sprache arbeitet als das Frühwerk. Gesten, Mimik und Handlungen sind im Spätwerk auf der gleichen Ebene wie die Wörter. „Ist also die Gebärdensprache keiner Erklärung fähig? – Gewiß; z. B. {durch Worte / durch {eine / die}Wortsprache}“ – so schreibt Wittgenstein in der Skjolden-Periode (MS 116: 121). Wenn der Satz: „Ich habe Schmerzen“ eine primäre Schmerzäußerung (einen Schrei, einen schmerzhaften Gesichtsausdruck, eine Geste oder Körperbewegung) ersetzt, dann wird dadurch nicht das Unsagbare durch das Sagbare ersetzt, sondern der Schmerz bloß auf eine andere öffentliche Weise ausgedrückt: Gebärden, Mimik und Sprache unterscheiden sich nicht dadurch, dass die eine weniger öffentlich wäre als die andere. Das Unaussprechbare scheint in der Spätkonzeption wenig zu suchen zu haben. So brauchte die These, Gesten würden auf das Unsagbare hinweisen, eine überzeugendere Begründung als jene von Somavilla. Wie ich später ausführen werde, hat Ethik aus anderen Gründen keinen Platz im Spätwerk, auf welche sich – ohne etwas Unsagbares voraussetzen zu müssen – aus Wittgensteins expliziten Aussagen schließen lässt. Was nun den Gebrauch der Geheimschrift in den Tagebüchern betrifft, gilt Somavillas Schema in der Tat für viele Bemerkungen, besteht aber nicht wirklich überzeugend eine Gegenprobe,68 die uns vor voreiligen Schlüssen aus dem Umstand alleine, dass eine Passage in MS 183 kodiert ist, warnen soll.
67 Somavilla, Verschlüsselung in Wittgensteins Nachlass, a. a. O., S. 378-379. 68 Es ist z. B. schwer zu erklären, warum Wittgenstein es weniger intim hätte finden sollen, dass er am 21. November 1936 ein Geständnis an seine Schwester Hermine geschrieben hat, als dass er an sie das nämliche Schreiben am 24. November mit der Post abgeschickt hat: die erste Mitteilung ist nämlich in Normal-, die zweite in Geheimschrift geschrieben worden (MS 183: 144, 145). Der Grund scheint ihm weniger seine Privatangelegenheit zu sein: „Ich winde mich unter der Qual, nicht arbeiten zu können, mich matt zu fühlen, nicht von Anfechtungen ungestört leben zu können“, als wenige
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So dürfte etwa die Kodierung unseres zweiten Zitats unter Abschnitt 4.2 aus MS 183 auch dadurch beeinflusst werden, dass es Teil einer längeren Eintragung (MS 183: 148-153) vom 27.1.1937 ist, die von Wittgenstein unterwegs aus Bergen nach Skjolden auf dem Schiff notiert wurde. Der Tag beginnt mit Privatnotizen von der Art, die eine Verschlüsselung unter diesen Umständen durchaus erklärt. Der zweite und der dritte Absatz (dem Letzteren haben wir unser Zitat entnommen), die Themen wie Gewissen, Glauben, Wahrheit, den Weg zum Glauben besprechen, sind immer noch kodiert. Unter anderen Umständen hätten sie aber ebensogut unkodiert bleiben können: Sowohl dem Inhalt als auch der Form nach ähnliche Ausführungen sind jedenfalls in den Tagebüchern auch unverschlüsselt reichlich zu finden (z. B. MS 183: 179-183, 186-191). Der zweite Absatz und die Hälfte des dritten sind von der ersten Person Singular Präsens geprägt, die zum Teil persönlich, zum Teil aber dozierend Gedanken vorführt. Sodann wird ein Du angesprochen. Ob der Angeredete das redende Ich selbst oder ein allgemeines Du ist, bleibt schillernd unentschieden, bis am Ende des dritten Absatzes endlich ein allgemeines „man“ den Platz des Subjekts einnimmt: „Das Glauben fängt mit dem Glauben an. Man muss mit dem Glauben anfangen; aus Worten folgt kein Glaube.“ (MS 183: 151) Im vierten Absatz fängt ein unkodierter Textteil an, den Wittgenstein auch noch mit den Zeichen „– – –“ von dem davorstehenden abhebt, und mit dem der frühere Text vielmehr nur assoziativ verbunden ist. Die umgekehrte Bewegung wird in der unkodierten Eintragung am 15. März 1937 (MS 183: 213-216) gemacht, der wir unser erstes Zitat unter Abschnitt 4.3, demzufolge der Glaube weder eine Meinung noch eine Überzeugung, „sondern eine Attitüde den Dingen & dem Geschehen gegenüber“ sei, entnommen haben.
Zeilen danach noch an demselben Tag: „Und ich kann wirklich jetzt nicht arbeiten. Der Quell ist mir versiegt & ich weiss ihn nicht zu finden.“ (MS 183: 174-175)? Er wendet sich in der Tat öfter mit kodiert geschriebenen „leidenschaftliche[n] Gebeten und Anrufungen an Gott“ (Somavilla, Verschlüsselung in Wittgensteins Nachlass, a. a. O., S. 378.), dasselbe kommt aber häufig auch unverschlüsselt vor (z. B. MS 183: 217, 222, 223). Auf der anderen Seite ist es schon merkwürdig, dass er die Kodierung einer Eintragung über seine Versuche, für Anna Rebni ein Dienstmädchen zu finden, für nötig gehalten hat. Beginnt Wittgenstein eine Bemerkung kodiert bzw. unkodiert und wechselt nicht innerhalb der Bemerkung trotz Themenwechsels die Schriftart, so erklärt sich das ohne Weiteres mit dem Automatismus während des Schreibens. Um so mehr bedarf es aber einer Erklärung, wenn er in einem Textabschnitt mehrmals zwischen Verschlüsselung und Unverschlüsselung pendelt: das müsste schon einen Grund haben. So ein Grund lässt sich aber häufig nicht entdecken (z. B. MS 183: 200-202, 21.2.1947; 222, 8.3.1947).
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Die Ausführung beginnt mit einer neutralen „Man“-Perspektive. Ein Absatz berichtet – wie viele „offizielle“ Texte Wittgensteins – in der ersten Person Plural darüber, für welche Vorstellungen man das Wort „Gott“ zu gebrauchen pflegt (MS 183: 213-214). Der Text ist aber größtenteils vielmehr ein distanzierter Dialog zwischen einem Ich und einem Du, so dass er sich auch in eine philosophische Ausführung Wittgensteins hätte relativ gut einfügen können. Unser gerade wiederholt zitierter, nüchtern-philosophisch formulierter Satz als vorletzte Behauptung des Tages steht allerdings in einem zweifellos persönlichen Kontext: Kurz davor hat Wittgenstein nämlich plötzlich einen persönlichen Standpunkt eingenommen und behauptet, immer noch unkodiert: „Mein Glaube ist zu schwach.“ (MS 183: 216). Schließlich geht der Tag dennoch mit einem kodierten Satz, dessen Zusammenhang mit den vorigen Ausführungen auch nicht gerade klar ist, zuende: „Möge ich nicht frivol werden!“ (MS 183: 216) Der Eintrag am 23. Februar 1937 (MS 183: 202-204), an dem unser zweites Zitat unter Abschnitt 4.3 notiert worden ist, beginnt mit unkodierten Beispielsätzen mit dem Wort „Gott“, aus denen man laut Wittgenstein „die Grammatik des Wortes ,Gott‘“ lernen solle. Diese Ausführung fügt sich in dem Maße in die Spätkonzeption ein, dass Wittgensteins Hinweis auf seine Luther-Lektüre „die Theologie sei die ,Grammatik des Wortes Gottes‘, der heiligen Schrift“, den er zu den Beispielen hinzufügt (MS 183: 203), auch in späteren Manu- und Typoskripten und schließlich selbst in den PU erscheint (MS 116: 340, TS 228: 698, TS 230: 92, PU § 373). Der Satz steht schon in MS 183 in eckigen Klammern, was wohl darauf hinweist, dass Wittgenstein gleich eine spätere philosophische Verwendung im Auge gehabt hat.69 Unmittelbar nach diesen philosophischen Ausführungen ändern sich Thema und Perspektive in zwei kodierten Sätzen: Die Perspektive nähert sich derjenigen der Privatperson Wittgenstein bzw. die erstere fällt mit der letzteren zusammen. Daran schließen sich die zwei Absätze an, die wir zitiert haben: Der erste, obwohl er dem Inhalt nach zweifelsohne Philosophie und sogar aus der neutral-unbestimmten Perspektive eines „man“ geschrieben worden ist („Dieses Sprachspiel – könnte man sagen – wird nur mit Lebensfragen gespielt.“ [MS 183: 203]), bleibt trotzdem weiterhin verschlüsselt. Den zweiten Absatz beginnt Wittgenstein immer noch kodiert, wechselt aber die Schriftart schon inmitten des ersten Satzes und korrigiert nachträglich auch noch die Schriftart am Anfang des Satzes. Das Subjekt dieses Absatzes ist nicht mehr das „man“, sondern ein „ich“: es geht ja um Fragen – „Lebensfragen“ –, die Wittgenstein selbst zu dieser Zeit bedrückt haben. Es kann aber ebensogut ein fiktives „Ich“ sein, das aus
69 In einer anderen Stelle des MS 183 weist Wittgenstein ebenfalls mit eckigen Klammern auf Arbeitsmaterialien hin (MS 183: 153).
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den kurz davor aufgestellten philosophischen Prämissen für sich selbst die philosophischen Konsequenzen zieht. (Der Satz „Eine Obrigkeit, die nicht wirkt, nach der ich mich nicht zu richten habe, ist keine Obrigkeit“ lässt sich am besten so auslegen.) In diesem letzteren Sinne könnte diese Bemerkung auch in einem für Wittgensteins philosophische Texte charakteristischen fiktiven Dialog ihren Platz haben. Im Gegensatz zu den für die Arbeit gedachten Manuskripten ist also ein häufiger Perspektivwechsel vielen Teilen der Tagebücher eigen, der auch mit einem Wechsel des Genres in Verbindung steht. Einige Texte werden aus der persönlichen Perspektive Wittgensteins, der von dem Gesagten unmittelbar betroffen ist, vorgetragen. Am anderen Ende der Skala stehen Texte, die stilistisch Wittgensteins philosophischen Texten ähnlich sind: Sie sind aus der Perspektive des allgemeinen Subjekts „man“ bzw. aus jener eines „Wir“, das den Redenden und den Angeredeten zusammenbringt, formuliert; oder aber sie wenden die Form des Dialogs eines fiktiven „Ich“ und „Du“ an. Zwischen den beiden Möglichkeiten stehen aber unzählige Übergangsfälle, deren Perspektive und daher auch ihr Genre gemischt oder unbestimmt sind. Ob ein Text verschlüsselt oder unverschlüsselt notiert wurde, scheint zwar nicht unabhängig von den Perspektiven- und Themenwechseln zu sein, ist aber von diesen nicht zwangsläufig bestimmt: Manchmal fällt mit ihnen der Wechsel der Schriftart zusammen, manchmal folgt er ihnen etwas später oder aber gar nicht. Manchmal kann die Kodierung nicht an dem Inhalt, sondern vielmehr an den äußeren Umständen oder aber an anderen nebensächlichen Ursachen – die sich leider nur selten erschließen lassen – liegen, und manchmal kann sie auch rein zufällig sein oder bloß spielerisch verwendet werden. Ausführungen zum religiösen Glauben kommen also in den Tagebüchern 1936-37 aus allen möglichen – von persönlichen bis zu philosophischen – Perspektiven vor. Hat Wittgenstein in seinen Arbeitsheften im Schwung der Gefühle auch private Bemerkungen notiert, so ist es nicht verwunderlich, dass er in einem privaten Heft ab und zu auch eine philosophische Idee eingetragen hat, die ihm gerade eingefallen ist, ebenso wenig, dass er selbst in persönlichen Bemerkungen manchmal versucht, seine persönlichen ethischen Probleme philosophisch zu fassen. Der fortwährende und öfter rasche Wechsel der Perspektive und des Genres bewirkt, dass die Tagebuchnotizen eher als Verkörperung der Idee der Einheit von Leben und Werk angesehen werden können, als die anderen Manuskripte. Im Großen und Ganzen sind die Tagebücher trotzdem für private Zwecke bestimmt in dem Sinne, dass Wittgenstein mittels des Schreibens vor allem seine eigenen psychologischen und moralischen Probleme mit sich selbst hat besprechen und lösen wollen – wie er früher, nach seiner Rückkehr nach Cambridge mit sich selbst Deutsch hat reden wollen, um sich von dem Einfluss der englischen Sprache zu
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befreien und weiterhin deutsch philosophieren zu können; und auch, wie seine Schwester Hermine ihre – intellektuelle und geistig-moralische Fragen behandelnden – Tagebücher für durchaus privat gehalten hat. Geht es um persönliche Probleme, so kann das allein ausreichend begründen, warum Wittgenstein diese Aufzeichnungen von seiner philosophischen Arbeit in dem Sinne auseinanderhält, dass er sie später in seinen Arbeitsheften nicht mehr bearbeitet, sondern sie so belässt, wie sie sind: als einmalige Ereignisse oder Stadien des persönlichen Seelenlebens, die an bestimmte Zeitpunkte gebunden sind. Selbst wenn Wittgenstein später auf ähnliche Probleme zurückkommt, greift er auf diese Ausführungen nicht mehr zurück. Dieser Umstand erfordert seitens des Interpreten zumindest etwas Vorsicht, wenn er die persönlich gemeinten Passagen im philosophischen Kontext auslegen will. 4.4 Ethik und die späte Konzeption Es hat dennoch Sinn, die Frage zu stellen, inwieweit die ethische Position, die in diesen Aufzeichnungen zum Ausdruck kommt, sich in die späte Konzeption einfügen lässt. Die Themenschwerpunkte, die wir unter den Abschnitten 4.2 und 4.3 genannt haben, können zumindest teilweise einwandfrei im begrifflichen Rahmen des Spätwerkes formuliert werden. Wittgenstein will nicht nur, dass die Religion, sondern, dass auch die Philosophie auf Definitionen, Systeme, Vernunftwahrheiten und wissenschaftliche Erfahrungssätze und somit auch auf Hypothesen und Meinungen verzichtet. Der Aspektwechsel hat ebenfalls nicht nur bezüglich der religiösen Lehre, sondern auch in der philosophischen Therapie seinen Platz, indem Letztere gleichfalls bezweckt, den Leser zu einer Änderung seiner Anschauungsweise zu bewegen und ihn dadurch zu einem Aspektwechsel zu führen. Der Begriff des Aspektwechsels führt aber hinaus aus der Wittgenstein’schen Konzeption der Sprachspiele, die auf dem öffentlichen Sprachgebrauch und der Regelbefolgung beruhen: Mit dem Begriff „Aspektwechsel“ unternimmt Wittgenstein nämlich Schritte u. a. in der Richtung einer Privatsprachenkonzeption. Letzteres habe ich an anderer Stelle bezüglich Wittgensteins letzter, „dritter“ Periode gezeigt.70
70 Katalin Neumer, Die Relativität der Grenzen. Studien zur Philosophie Wittgensteins, (= Studien zur österreichischen Philosophie, hrsg. von Rudolf Haller, Bd. 29), Amsterdam/Atlanta 2000, S. 115-136, 174-182; Katalin Neumer, Sklaven und Automaten. Wittgenstein zu Fragen der Seele in den Jahren 1946-1951, in: Wilhelm Lütterfelds (Hg.), Das Sprachspiel der Freiheit (= Wittgenstein-Studien 16), Frankfurt am Main 2004, S. 31-54, 46-53; Katalin Neumer, Das Innere, das Äußere und ihr Durcheinander
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Unsere Zitate weisen noch mehr auf die Privatsphäre hin, und zwar trotz des Tatbestandes, dass sie – außer der Stelle aus MS 120 (zitiert unter Abschnitt 4.2) – ihrer Formulierung nach mehr oder weniger dazu geeignet wären, in eine philosophische Ausführung Wittgensteins eingearbeitet zu werden. Die Passagen in MS 183: 203-204 (zitiert unter Abschnitt 4.3) könnten noch am besten benutzt werden: Diese operieren nämlich mit Begriffen wie Sprachspiel und Lebensweise, obwohl das Moment des Eigenen dadurch etwas ungewöhnlich betont wird, dass das Possessivpronomen „meine“ vor dem Wort „Lebensweise“ mit Unterstreichung hervorgehoben ist. Im zweiten Absatz des Zitats, der im Gegensatz zu der eher neutral-unpersönlichen Betrachtungsweise des ersten in der ersten Person Singular geschrieben ist, kommt das Possessivpronomen „mein“ insgesamt dreimal vor. In unseren anderen Zitaten wird auch noch in der ersten Person Singular über „mein Herz“, „meine Seele, mit ihren Leidenschaften“ gesprochen (MS 120: 55r); noch mehr: über Einleuchten (mit Unterstreichung hervorgehoben: MS 183: 149), das vom öffentlichen Sprachgebrauch sich loszulösen scheint („aus Worten folgt kein Glaube“ [MS 183: 151]). (Alle drei Zitate s. unter Abschnitt 4.2). Diese Überbetonung des Ich passt freilich nicht zu der Spätkonzeption. Das erklärt, warum Wittgenstein seine Gedanken zur Religion und Ethik in dieser Richtung später nicht weiterentwickelt hat, nicht aber, warum er so selten auch auf die Gegenseite, nämlich auf die Sprachspiele der Religion und Ethik zu sprechen gekommen ist. Eine Bemerkung in MS 183 weist auf ein im Rahmen der Sprachspielkonzeption schwer lösbares, begriffliches Problem bezüglich der Ethik hin: „Ein ethischer Satz lautet ‚Du sollst das tun!‘ oder ‚Das ist gut!‘ aber nicht ‚Diese Menschen sagen das sei gut‘. Ein ethischer Satz ist aber eine persönliche Handlung. Keine Konstatierung einer Tatsache.“ (MS 183: 76)
Die Bemerkung legt nahe, dass der dritte von den drei Beispielsätzen nicht als ethischer Satz zu betrachten ist, und zwar weil er einen Tatbestand beschreibt, während die ethische Handlung an einen Agens gebunden ist, weil sie eine eigene,
in Wittgensteins letzten psychologischen Aufzeichnungen, in: Thomas Mohrs, Andreas Roser, Djavid Salehi (Hgg.), Die Wiederkehr des Idealismus? Festschrift für Wilhelm Lütterfelds zum 60. Geburtstag, Frankfurt am Main 2004, S. 105-125, 105-106, 112123; Katalin Neumer, Verdächtige Bilder und Töne: Wittgenstein 1946-1951, in: Alois Pichler, Herbert Hrachovec (Hgg.), Wittgenstein and the Philosophy of Information (= Publications of the Austrian Ludwig Wittgenstein Society, New Series, vol. 6), Frankfurt am Main Bd. I, S. 61-80.
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persönliche Tat des Subjekts des Handelns darstellt. Fassen wir die Lehre der Bemerkung in den Termini der reifen Spätkonzeption zusammen, so heißt es Folgendes: Im begrifflichen Rahmen des Spätwerkes lassen sich Sätze formulieren, die beschreiben, was die Menschen in diesem oder jenem Kultur- und Gewohnheitssystem für gut halten; welche Regeln in welcher kulturellen etc. Umgebung sie befolgen, wenn sie moralisch richtig handeln wollen etc. Die Termini der Sprachspielkonzeption können die ethische Handlung als regelfolgendes Verhalten adäquat beschreiben. So eine Beschreibung sagt aber ziemlich wenig über die persönliche Entscheidung, die für das Ethische charakteristisch sein soll. Wittgenstein hat es sich aber selbst an seinem Lebensabend nicht anders überlegt, wovon sein Gespräch mit Bouwsma am 24. Oktober 1949 zeugt: „The serious problem in ethics is asked by a man who has some terribly important decision to make: What shall I do? Perhaps the matter becomes ethical just at the point when the question or the decision is felt to be serious or important.“71
Mit Beschreibungen der Sprachspielkonzeption können wir nicht unsere Entscheidungen und ethischen Urteile begründen, und auf sie auch nicht unsere Handlungen gründen. Man kann nicht sagen: Das ist gut, weil es den Regeln entspricht; das ist gut, weil man es in unserer Kultur für gut hält. Tut man etwas nur, weil die anderen es sagen, weil man mit ihnen konform handeln möchte, so handelt man eben nicht aus ethischen Gründen. Ein charakteristisches Merkmal der ethischen Handlung ist nämlich, dass man sie aus eigener Entscheidung durchführt; dass es an die Person, an das Subjekt gebunden ist, die/das sie durchführt – diese Thesen lassen sich jedenfalls einigen Bemerkungen Wittgensteins entnehmen. Und das kann die Ursache für sein symptomatisches Schweigen über die Ethik in den Aufzeichnungen sein, die er in Vorbereitung für sein „Buch“ aufs Papier gebracht hat: nämlich, dass diese Schlussfolgerung sich in einer ersten Annäherung schwerlich in die Spätkonzeption einordnen lässt. Dieses Dilemma hat Wittgenstein in seinen letzten Jahren offensichtlich beschäftigt – zu einer Zeit also, als er ohnehin schon versucht hat, über die Verknüpfung der Begriffe des Aspektsehens und -wechsels, der sekundären Bedeutung und des Bedeutungserlebnisses in einem gemeinsamen begrifflichen Netz die individuellen „feinen Abschattungen“, die dem Netz der Regeln entgleiten, zu konzeptualisieren,72 und als er möglicherweise begonnen hat, an einem Buchprojekt zum
71 Bouwsma, Ludwig Wittgenstein: 1989-1951, a. a. O., S. 50-51. 72 Vgl. Neumer, Verdächtige Bilder und Töne: Wittgenstein 1946-1951, a. a. O., S. 3846.
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Thema zu arbeiten. Im Gespräch mit Malcolm und Bouwsma am 8. August 1949 hat er z. B. formuliert, dass, wenn jemand sich selbst für seine Taten nicht für verantwortlich hält, dies bedeutet, dass er aufhört, ein Mensch zu sein.73 Am 2. Februar desselben Jahres schreibt er in dem für seine philosophischen Schriften charakteristischen dialogischen Stil, dass die Lehre von der göttlichen Erwählung (die der Naturgesetzlichkeit analog wäre) mit dem Ethischen unvereinbar sei – im Gegensatz zu der Lehre, der zufolge Gott jemanden für seine Sünden bestraft (MS 138: 13b-14a), also ihn zur Verantwortung zieht. Im März 1950 wird der Akzent auf die Determiniertheit verschoben, und zwar mit der Frage: „Wie könnte die Umgebung den Menschen, das Ethische in ihm zwingen?“ Die Antwort Wittgensteins lautet, „dass er zwar sagen mag ‚Kein Mensch muss müssen‘, aber doch unter {solchen / so gearteten} Umständen so und so handeln wird. ,Du mußt nicht, ich kann Dir einen (andern) Ausweg sagen, – aber Du wirst ihn nicht ergreifen!‘“ (MS 173: 17r)
Den Satz „Kein Mensch muss müssen“ zitiert Wittgenstein aus dem dritten Auftritt des ersten Aktes von Lessings Nathan der Weise: Hier will Nathan mit diesen Worten dem Derwisch Al-Hafi sagen, dass er der Freiheit der Wahl nicht beraubt werden kann. Wittgenstein deutet wohl auf das Umgekehrte hin: Selbst wenn es so scheinen mag, dass man zwischen Alternativen wählen kann, wird in der Tat durch die Umstände bestimmt, welche Möglichkeit man ergreifen kann. Das spricht also gegen die ethische Wahl. Anscheinend schlug sich Wittgenstein also selbst in seinen letzten Jahren mit mehreren Positionen herum – und trotz des Umstandes, dass er in einer Bemerkung, die er im Dezember 1947 sogar zweimal bearbeitet hat, eine Art Ausweg aus dem Dilemma gefunden hat. (Die Bemerkung [MS 168: 4r-4v] habe ich oben am Ende von Abschnitt 4 bereits in voller Länge zitiert.) Der erste Teil dieser Eintragung vor dem Gedankenstrich versucht, das Bezugssystem – also das öffentliche Sprachspiel – mit der individuellen Entscheidung, Leidenschaft und dem Gewissen, d. h. mit dem eigenen Beitrag des Subjekts des Glaubens zum Glauben, zu verbinden. Dieser Textteil ist trotzdem eine philosophische Beschreibung, für die die „ethnologische Betrachtungsweise“ charakteristisch ist. Die Letztere besteht laut Wittgenstein darin, „daß wir unsern Standpunkt weit draußen einnehmen, um die Dinge objektiver sehen zu können“ (MS 162b: 67v). Dieser objektive Standpunkt zeigt sich auch darin, dass die erste Hälfte der Bemerkung entweder
73 Bouwsma, Ludwig Wittgenstein: 1889-1951, a. a. O., S. 16.
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keinen Agens nennt oder aber über ihn in der dritten Person Singular spricht. Mit dieser Beschreibung sind wir also noch keineswegs bei der Person und ihrer Perspektive angekommen, die die ethische Entscheidung trifft. Die zweite Hälfte der Bemerkung nach dem Gedankenstrich löst dann das Problem: Sie lässt nämlich schon das Subjekt des Glaubens, das das entsprechende Bezugssystem zu ergreifen hat, in der ersten Person Singular sprechen. Dadurch nähert sich die Perspektive, aus der die Beschreibung der ethischen Entscheidung gegeben wird, der Perspektive dessen, der die Entscheidung trifft und die Handlung durchführt. Damit geht sie so weit, wie eine philosophische Beschreibung überhaupt gehen kann. Der sprachliche Ausdruck des nächsten Schrittes kann schon keine Beschreibung sein: Es geht ja um die Leidenschaften, inneren Kämpfe, das Grübeln, den eigenen Weg des Subjekts, das nach dem ethischen Leben trachtet, bis zur Entscheidung. Dieser Weg des Einzelnen hat nur noch in Tagebüchern und Bekenntnissen seinen Platz.
Sichtbarmachung von Ethik, Ästhetik und Religion durch grammatische Subjektivität I LSE S OMAVILLA
Im Bereich des Unerklärbaren – sei es Religion, Ethik und Ästhetik – von Wittgenstein außerhalb des Bereichs des Erklärbaren bzw. des Tatsachenbereichs angesiedelt, treffen sich Philosophie, Dichtung und Kunst. Obgleich von unterschiedlichen Methoden des Zugangs, ähneln sie sich insofern, als Sprache eine eigene Bedeutung erfährt. Eine Bedeutung, die aus dem Bewusstsein der Grenzen von Sprache in einem achtsamen Umgang mit ihr besteht – einem Umgang, der gerade im Nichtausgesprochenen dieses „sichtbar“ macht. Dies kann auf verschiedene Weise geschehen: In der darstellenden Kunst durch Bilder bzw. Malerei, in der Musik durch Töne, in der Literatur durch Worte bzw. deren Aussparung, in der Philosophie durch Einhaltung der Grenzen des Sagbaren bzw. der Ausklammerung metaphysischer Spekulationen, in Ethik und Religion durch die Lebensweise des Einzelnen. Immer aber gilt es, durch das Dargestellte auf das nicht Darstellbare im Sinne von direkter verbaler Wiedergabe hinzuweisen, es also implizit im explizit nicht Ausgesprochenen auszudrücken. Bereits im Tractatus unternahm es Wittgenstein, durch Darstellung des klar Sagbaren auf das nicht Sagbare, nur Zeigbare hinzuweisen, um den Unterschied zwischen sinnvollen Sätzen und sinnlosen Sätzen klar zu machen und somit das Undenkbare durch das Denkbare zu begrenzen (vgl. TLP 4.114). In späteren Jahren distanzierte er sich von seiner damals analytischen Methode und machte auf die Bedeutung von Beschreibung anstatt Erklärung aufmerksam, wobei sein Interesse zunehmend der Bedeutung von Grammatik galt.
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Bei allen Entwicklungen bzw. Veränderungen der Methode blieb er sich in einem treu: Dem Respekt gegenüber Sprache, dem Bewusstsein ihrer Möglichkeiten und Grenzen. Damit ging unvermeidbar ein Kampf mit Sprache, ein Leiden an ihr einher. Doch ahnte er Wege anderen Zugangs, die die durch rationale Erklärung nicht zu erwartende Antwort als etwas „Sich-Zeigendes“ vermitteln, das wie in der Kunst oder Lebensweise eines Menschen auch in der Sprache – durch die Grammatik – sichtbar werden kann. Ausgangspunkt ist dabei das Subjekt, das bereits in den frühen Schriften Wittgensteins eine entscheidende Rolle innehat und dabei in mehrfacher Hinsicht interpretiert werden kann.
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D AS S UBJEKT ALS A USGANGSPUNKT ZUM V ERSTÄNDNIS DER W ELT
1.1 Tagebücher 1914-1916 und Tractatus „Nur aus dem Bewußtsein der Einzigkeit meines Lebens entspringt Religion – Wissenschaft – Kunst.“1
In den Tagebüchern 1914-1916 werden Wittgensteins philosophische Überlegungen als eine Art Vorstufe zum Tractatus sichtbar, in dem sie schließlich zu ihrer endgültigen Form komprimiert werden. Für das Verständnis des Tractatus sind sie eine wichtige Quelle, da sie in demselben Geist geschrieben worden sind und nicht im Geist der Philosophischen Untersuchungen, wie auch Joachim Schulte betont.2 Dabei wird immer wieder der Einfluss Schopenhauers deutlich – insbesondere hinsichtlich mystisch-pantheistischer Tendenzen sowie des Subjektbegriffs. In ähnlicher Weise wie Schopenhauer vom unmittelbaren Erleben des eigenen Leibes ausgehend sich Zugang zum Verständnis der Welt erhoffte – da nach seiner Metaphysik der Natur der Wille als „An sich“ sich in jeder Erscheinung objektiviert, allen Wesen der Welt somit zugrunde liegt, ging Wittgenstein von sich – als
1
Ludwig Wittgenstein, Tagebücher 1914-1916, Werkausgabe Band 1, Frankfurt am Main 1984, S. 173, 1.8.1916.
2
Joachim Schulte, „Ich bin meine Welt“. In: Der Denker als Seiltänzer. Wittgenstein über Religion, Mystik und Ethik. Hg. von Ulrich Arnswald und Anja Weiberg. Düsseldorf, 2001. S. 193-213, S. 211.
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betrachtendes Subjekt – aus, um die Welt aus seiner Sicht zu interpretieren. Er will die Welt beurteilen – berichten, wie er sie vorfand. Die Geschichte gehe ihn nichts an, da seine Welt die „erste und einzige“ sei (TB, 2.9.1916). Während er aber das vorstellende Subjekt als „leeren Wahn“ bezeichnet, spricht er vom wollenden Subjekt als real gegeben, als „Zentrum der Welt“, damit als „Träger der Ethik“ (TB, 5.8.1916), wobei die Parallele zu Schopenhauer deutlich wird. Und so wie dieser den Künstler oder Philosophen als denjenigen darstellt, der sich über seinen Willen bzw. über seine Triebhaftigkeit erhebt und nur mehr als geistiges Subjekt des Erkennens existiert, schreibt Wittgenstein vom philosophischen Ich: „Das philosophische Ich ist nicht der Mensch, nicht der menschliche Körper oder die menschliche Seele mit den psychologischen Eigenschaften, sondern das metaphysische Subjekt, die Grenze (nicht ein Teil) der Welt.“ (Vgl. 2.9.1916 und TLP 5.641)
Den menschlichen Körper hingegen betrachtet Wittgenstein als einen Teil der Welt unter anderen Teilen der Welt, unter Tieren, Pflanzen, Steinen – ohne ihm eine bevorzugte Stelle einzuräumen. Für Schopenhauer ist der Mensch die deutlichste Manifestation des Willens; Steine, Tiere und Pflanzen befinden sich auf einer niedrigeren Objektivationsstufe des Willens. Dieser objektiviert sich in jeder einzelnen Erscheinung, die als empirisches Einzelding Zeit, Raum und Kausalität unterworfen und daher vergänglich und unbedeutend ist, während der Wille metaphysisch betrachtet das Ansich der Welt darstellt. In ähnlicher Weise bemerkte Wittgenstein in seinen Tagebüchern am 8.10.1916: „Als Ding unter Dingen ist jedes Ding gleich unbedeutend, als Welt jedes gleichbedeutend.“
Am 15.10.1916 setzt er sich mit diesem Punkt noch genauer auseinander: „Bedenke nur, daß der Geist der Schlange, des Löwen, dein Geist ist. Denn nur von dir her kennst du überhaupt den Geist. […] Ist das die Lösung des Rätsels, warum die Menschen immer glaubten, ein Geist sei der ganzen Welt gemein? Und dann wäre er freilich auch den unbelebten Dingen gemeinsam.“
Am 17.10.1916 heißt es:
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„Und in diesem Sinne kann ich auch von einem der ganzen Welt gemeinsamen Willen sprechen. Aber dieser Wille ist in einem höheren Sinne mein Wille. Wie meine Vorstellung die Welt ist, so ist mein Wille der Weltwille.“
Und wie Schopenhauer der Ansicht war, mit seiner, von der Erkenntnistheorie zur Metaphysik übergehenden Philosophie eine Brücke vom Idealismus zum Realismus geschlagen zu haben, vermerkte Wittgenstein am 2.9.1916, dass der „Solipsismus streng durchgeführt mit dem reinen Realismus“ zusammenfalle.3 Wie sind diese Gedankengänge von Schopenhauer und Wittgenstein zu verstehen, d. h. was könnten sie mit einer Brücke bzw. Verbindung zwischen einem idealistischen und einem realistischen Standpunkt gemeint haben? Wie könnte das erkennende Subjekt von einer solipsistischen Position aus zu einem Verständnis der Welt gelangen? Wie Schopenhauer in weiteren Teilen seines Werks detailliert ausführt, gibt es zwei Wege, wobei der eine über die Kunst, der andere über die Ethik bzw. die Askese führt. In beiden Fällen geht es um eine sogenannte höhere Betrachtungsweise, die – im Gegensatz zur gewöhnlichen Betrachtung der Dinge – nicht an den Satz vom Grunde, d. h. an Zeit, Raum und Kausalität gebunden ist, nicht mehr den Relationen bzw. Interessen des Willens folgt, sondern als reines willenloses Subjekt des Erkennens zum eigentlichen Kern der Phänomene vordringt – wenn auch nicht zum An sich selbst, da dieses anschaulich nicht denkbar ist. Doch das sich in ästhetischer Kontemplation befindliche Subjekt des Erkennens erfasst dessen adäquate, unmittelbare Objektivität, die Schopenhauer als „Idee im ursprünglichen Platonischen Sinne“ bezeichnet.4 Allerdings besteht zwischen seiner Vorstellung der Ideen und der von Platon der entscheidende Unterschied darin, dass bei Platon die Ideen die ewigen unveränderlichen Urbilder bzw. die Dinge an sich im Gegensatz zu den vergänglichen unvollkommenen Abbildern bedeuten, bei Schopenhauer jedoch nur als eine Art Zwischenglied zwischen dem Willen als metaphysischem Prinzip bzw. An sich und den Erscheinungen der phänomenalen Welt stehen.
3
Vgl. auch TLP 5.64, wo es heißt: „Das Ich des Solipsismus schrumpft zum ausdehnungslosen Punkt zusammen, und es bleibt die ihm koordinierte Realität.“
4
Vgl. Arthur Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung I, 3. Buch: Der Welt als Wille zweite Betrachtung: Die Vorstellung, unabhängig vom Satze des Grundes: die Platonische Idee: das Objekt der Kunst. In: Arthur Schopenhauer. Werke in zehn Bänden, hg. von Angelika Hübscher, Zürich 1977.
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Indem der ästhetische Betrachter als reines Subjekt des Erkennens die Ideen erkennt, erfasst er das Allgemeine, Wahre, Eigentliche im Gegensatz zur einzelnen, konkreten, vergänglichen Erscheinung. Auf einer noch höheren Stufe – der Betrachtung des mitleidenden Menschen oder des Asketen – fühlt sich dieser derart in andere Erscheinungen – Mensch oder Tier – hinein, dass die Trennwand – das principium individuationis – zwischen ihm und diesen aufgehoben, die egoistische, solipsistische, Raum und Zeit unterworfene Betrachtung der Dinge überwunden wird. Somit gelangt er zum eigentlichen Verständnis des wahren Wesens der Welt. Man sieht, dass auch bei Schopenhauer Kunst und Ethik zu einem Verständnis des Unerklärbaren führen, dieses „sichtbar“ machen und dass der Ausgangspunkt im Individuum, im Subjekt liegt, dessen Erkenntnis jedoch sich durch die ästhetische und ethische Betrachtung auf das Wesentliche – die reale Welt – erweitert. Den Zusammenhang zwischen Ethik und Kunst erörtert auch Wittgenstein – dies unter dem Blickwinkel sub specie aeternitatis, dem von Spinoza geprägten Begriff, den Wittgenstein aller Wahrscheinlichkeit nach von Schopenhauer übernahm, der in seiner Darstellung der ästhetischen Kontemplation sich ausdrücklich auf Spinoza beruft. „Das Kunstwerk ist der Gegenstand sub specie aeternitatis gesehen; und das gute Leben ist die Welt sub specie aeternitatis gesehen. Dies ist der Zusammenhang zwischen Kunst und Ethik. Die gewöhnliche Betrachtungsweise sieht die Gegenstände gleichsam aus ihrer Mitte, die Betrachtung sub specie aeternitatis von außerhalb. So daß sie die ganze Welt als Hintergrund haben. Ist es etwa das, daß sie den Gegenstand mit Raum und Zeit sieht statt in Raum und Zeit? Jedes Ding bedingt die ganze logische Welt, sozusagen den ganzen logischen Raum. (Es drängt sich der Gedanke auf): Das Ding sub specie aeternitatis gesehen ist das Ding mit dem ganzen logischen Raum gesehen.“ (TB, 7.10.1916)
In diesem Sinne – d. h. der Betrachtung sub specie aeternitatis – werden an sich gewöhnliche Dinge, wie etwa ein Ofen, zu etwas Besonderem: Wird dieser in ästhetischer Kontemplation betrachtet, so wird er zur Welt des Betrachters, während alles andere dagegen verblasst. Er wird sozusagen zur „wahren Welt unter Schatten“, während er unter gewöhnlicher, an Zeit und Raum gebundener Betrachtung, unscheinbares, nichtiges, momentanes Bild ist (vgl. TB, 8.10.1916). Das Subjekt – der Mensch – ist der Mikrokosmos, in dem sich der Makrokosmos – die Welt – sozusagen spiegelt, mit ihm eines wird.
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Abgesehen vom solipsistischen Ansatz spielen mystisch-pantheistische Tendenzen in den Tagebüchern eine nicht übersehbare Rolle. Diese sind auch noch im Tractatus zu erkennen. Dort greift Wittgenstein den Begriff sub specie aeternitatis wieder auf, identifiziert ihn mit einer mystischen Betrachtung der Welt: „Die Anschauung der Welt sub specie aeterni ist ihre Anschauung als – begrenztes – Ganzes. Das Gefühl der Welt als begrenztes Ganzes ist das mystische.“ (TLP 6.45)
Während Richard Braithwaite behauptete, dass Wittgenstein auch in späteren Jahren eine solipsistische Position vertrat, die die legitime Nachfolge des Solipsismus im Tractatus sei, betont Joachim Schulte, dass man nur im Tractatus (wie in den frühen Tagebüchern), nicht aber in den Philosophischen Untersuchungen von einem Solipsismus sprechen könne. Dort werde der Solipsismus nur als eine von mehreren Möglichkeiten des Umgangs mit philosophischen Problemen erörtert, die jedoch nicht zu einer Lösung führe, wie auch folgendes Zitat zeige: „Der Solipsismus flattert und flattert in der Fliegenglocke, stößt sich an den Wänden, flattert weiter. Wie ist er zur Ruhe zu bringen?“5 (MS 149, 67) In den Tagebüchern 1914-1916 und im Tractatus kann man jedoch von einer solipsistischen Position Wittgensteins sprechen, wenn auch nicht im herkömmlichen, eigentlichen Sinn. Laut Norman Malcolm muten die Sätze „Ich bin meine Welt“ und „Die Welt ist meine Welt“ zwar nicht widerlegbar solipsistisch an, doch sei das Ich, von dem Wittgenstein spricht, kein in der Welt vorzufindendes Etwas, wie der Satz „Das Subjekt gehört nicht zur Welt, sondern es ist eine Grenze der Welt“ (TLP 5.632) beweise.6 Das Subjekt ist das metaphysische Subjekt im Gegensatz zum denkenden, vorstellenden Subjekt, dem Wittgenstein jegliche Existenz abspricht. Wittgensteins Solipsismus sei deshalb auch nicht wirklich als ein transzendentaler Solipsismus zu betrachten, so Schulte, sondern vielmehr als eine „spezifische Ich-Perspektive, die mit herkömmlichen Formulierungen nicht einzuholen ist.“7 Die Bemerkung, dass sich das, was der Solipsismus meint, nicht sagen ließe, sondern nur zeige (TLP 5.62), weist meines Erachtens darauf hin, dass ihn Wittgenstein auf einer Ebene mit Wesentlichem, daher dem nicht Sagbaren, nur Zeigbaren, sah – der Logik, Ethik und Ästhetik. Wie auch der Grammatik, in der sich in der Sprache das zeigt, was nicht erklärt werden kann. „Gesprochenes kann man
5
Vgl. Schulte, „Ich bin meine Welt“, a. a. O., S. 196.
6
Vgl. Norman Malcolm, „Wittgenstein and Idealism“, in: G. Vesey (Hg.), Idealism Past and Present, Cambridge 1982, S. 249-267. Zit. nach Schulte, a. a. O., S. 198.
7
Vgl. Schulte, „Ich bin meine Welt“, a. a. O., S. 199.
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nur durch die Sprache erklären, drum kann man die Sprache selbst, in diesem Sinn, nicht erklären.“8 Darüber später. Die Bedeutung des Subjekts als Ausgangspunkt zum Verständnis der Welt erstreckt sich über eine philosophische Erfassung hinaus vor allem auf ethische und religiöse Fragestellungen, wobei das Ich als erkennendes Subjekt zum empfindenden wird und Aspekte der Erfahrung und Einfühlung eine Rolle spielen. Dies wird insbesondere in Wittgensteins Vortrag über Ethik sowie in zahlreichen, über den ganzen Nachlass verstreuten, teils tagebuchartigen Bemerkungen deutlich. 1.2 Der Vortrag über Ethik In den Beginn der „neuen Phase“ von Wittgensteins Philosophieren fällt sein Vortrag über Ethik, den er im November 1929 im Rahmen einer Veranstaltung der Heretics hielt und von dem zwei Manuskripte und ein Typoskript erhalten sind.9 Der Vortrag über Ethik stellt das einzige überlieferte Dokument einer mündlichen Konfrontation mit Zuhörern, also mit einem realen Gegenüber, dar. Das heißt, die Manuskripte wurden von Wittgenstein selbst verfasst, während die Aufzeichnungen über seine Gespräche mit Mitgliedern des Wiener Kreises uns nur aus zweiter Hand, d. h. aus den Notizen von Waismann, erhalten sind. Ebenso verhält es sich mit anderen Aufzeichnungen über seine Vorlesungen, wie die der Vorlesungen und Gespräche über Ästhetik, Psychoanalyse und religiösen Glauben und weitere, die uns lediglich in Mitschriften von Zuhörern bzw. Studenten zugänglich geworden sind. Die Wahl des Themas im Vortrag über Ethik, wie auch die Wahl der Worte – Wittgensteins Sprache – ist auf ein „breiteres Publikum“ abgestimmt, der „Ton“ unterscheidet sich dementsprechend von Wittgensteins philosophisch geführten Manuskripten wie auch von seinen persönlichen Tagebucheintragungen. Dabei gelingt es ihm auf faszinierende Art und Weise, philosophische Probleme der Ethik durch anschauliche Beispiele aus persönlich Erlebtem und durch den Erzählton seiner Sprache sichtbar zu machen; d. h. es scheint ihm geglückt zu sein, sein großes Anliegen – die Ethik – auf hermeneutische Weise zu vermitteln
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Ludwig Wittgenstein, Philosophische Grammatik, Werkausgabe Band 4, Frankfurt am Main 1990, S. 40.
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Vgl. The Lecture on Ethics, MS 139a (23 Seiten) und MS 139b, beide in Englisch geschrieben. MS 139b wurde zuletzt 1952 in Gmunden gesehen, galt dann als verschollen und wurde 1993 im Nachlass von Rudolf Koder aufgefunden. Beim Typoskript der Lecture on Ethics handelt es sich um das TS 207 (10 Seiten).
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und zwar durch lebendige Beispiele, durch eine verwirklichte „Praxis des Sprachgebrauchs“, die in seiner Auffassung von Ethik das Entscheidende war, um Anwesenden Probleme aus sich heraus sichtbar zu machen, zu „zeigen“. Dies war nur durch ein Sich-Öffnen, eine Darlegung seiner persönlichen Lage möglich: Wittgenstein tritt als Mensch direkt auf den Anderen zu und bekennt sozusagen sein persönliches und philosophisches Dilemma – sein Leiden an den Grenzen der Sprache. Probleme des Ethischen werden im Vortrag in unmittelbarer Verbindung mit Problemen der Sprache vorgebracht: die Auseinandersetzung mit Ethik wird zu einer Auseinandersetzung mit Sprache, d. h. mit unserem fehlerhaften Umgang mit ihr, unserem Missbrauch des Worts. Um diese Probleme zu verdeutlichen, bringt Wittgenstein Beispiele aus persönlicher Erfahrung, bei denen er das Gefühl hatte, zu verstehen, was Ethik und absoluter Wert seien. Diese waren das Erlebnis des Staunens über die Existenz der Welt, das Gefühl der absoluten Sicherheit und Geborgenheit in Gott und das Gefühl der Schuld, wobei er das erstgenannte Erlebnis als sein „Erlebnis par excellence“ bezeichnet. Im Gefühl der absoluten Sicherheit – „egal“ was immer auch geschehe – wird das Wort „Sicherheit“ in einem völlig anderen Sinn verwendet als im normalen Sprachgebrauch, wo es in unterschiedlichen Kontexten vorkommen und dementsprechend relativiert werden kann. In dem genannten, entscheidenden Erlebnis jedoch wurde Wittgenstein – als Individuum – bewusst, was die Bedeutung der absoluten Sicherheit ausmache. Gleichzeitig wird aber in der absoluten oder ethischen Bedeutung der Worte wie „sicher“ und „staunen“ ihre Unsinnigkeit freigelegt. Im „normalen“ Sprachverständnis wäre es Unsinn zu sagen, man fühle sich sicher, gleichgültig, was passiert. Hier stoßen wir an die Grenze zwischen „vernünftigen“ und „unsinnigen“ Ausdrücken, an die Grenze zum Unsagbaren und Ethischen: Jenseits dieser Grenze erweisen sich alle Versuche sprachlicher Erfassung als unsinnig. Unsinnig aber nicht, weil – wie Wittgenstein betont – der korrekte Ausdruck dafür nicht gefunden wurde, sondern weil das Unsinnige gerade das „Wesen“ dieser ethischen und religiösen Ausdrücke ausmache. Ebenso verhält es sich mit den anderen Beispielen. Wenn wir sagen „Ich staune über die Existenz der Welt“, so ist das ein anderes Staunen als das über etwas noch nie Dagewesenes, etwas Ungewöhnliches, was – im normalen Sprachverständnis – unser Staunen erregen würde. Auch hier liegt die ethische Bedeutung des Wortes „staunen“ wiederum in der Unsinnigkeit im Gebrauch des Wortes „staunen“.
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Demnach ergibt sich aus allen von Wittgenstein genannten Beispielen, dass das Charakteristische bzw. die Merkmale des Ethischen an der Unsinnigkeit aller sprachlichen und religiösen Ausdrücke zu erkennen wären. Diese unterscheiden sich grundlegend von Ausdrücken, die sich auf Tatsachen beziehen. Zu sagen, man staune über die Existenz der Welt, sei insofern unsinnig, als „staunen“ normalerweise in Zusammenhang mit etwas Ungewöhnlichem gebraucht wird. Dieses Staunen über die Existenz der Welt setzt eine andere Art der Betrachtung voraus als die gewöhnliche – es ist eine Betrachtung sub specie aeternitatis, in der die Welt als Wunder gesehen wird, und eben darin sieht Wittgenstein das Ethische. In ähnlicher Weise wie bei Spinoza die Betrachtung sub specie aeternitatis zur Erkenntnis Gottes führt, wurde Wittgenstein in seiner staunenden Betrachtung das Ethische – das für ihn mit dem Göttlichen identisch ist – bewusst. 1.3 Subjekt und existenzielle Erfahrung von Einsamkeit Wittgensteins Leiden an der Grenze des Sagbaren und damit auch das Problem des Sich-Mitteilens liegen auf einer Ebene mit dem Bewusstsein der einsamen Stellung des philosophierenden Ichs. Das bereits in den frühen Tagebüchern angestrebte Leben im Geist – in der Erkenntnis – bleibt trotz einer sich in den 1930er Jahren ankündigenden Richtungsänderung vom abstrakten, analytischen Denken zu einem pragmatisch orientierten Umgang mit philosophischen Problemen und der daraus resultierenden Auseinandersetzung mit Sprache im Gebrauch latent bestehen. Der Auftrag, im Geistigen zu leben und aus ihm – für andere – zu wirken: Etwas vom Schicksal Auferlegtes, dem man nicht entrinnen kann? Gnade oder Fluch? „Halb Himmel, halb Hölle“10 – so beschrieb Wittgenstein einmal seine Situation und in seinem Nachlass finden sich zahlreiche Bemerkungen über seine einsame Stellung im Philosophieren, – im Kampf mit Sprache, im Ringen um Erkenntnis – über seine „Leiden des Geistes“.11 In der Suche nach Ausdruck befindet er sich zeitweise in einem Zustand von Erstarrung – so dass sein Herz sich wie ein „Klumpen“ anfühlt, der, „wenn er
10 Ludwig Wittgenstein, Denkbewegungen, Tagebücher 1930-1932, 1936-1937, hg. von Ilse Somavilla, Innsbruck 1997, S. 223, 24.3.1937. 11 DB, S. 191. Ingeborg Bachmann beispielsweise empfand den Zwang zu schreiben als eine andere, „eine seltsame, absonderliche Art zu existieren, asozial, einsam, verdammt […]“. Vgl. http://www.ingeborg-bachmann-forum.de/ibpreis.htm, abgerufen am 15.4.2012.
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schmelzen würde“, ihn weinen oder „die richtigen Worte (oder vielleicht sogar eine Melodie)“ finden ließe.12 „Aber dieses Etwas (ist es das Herz?) fühlt sich bei mir an wie Leder & kann nicht schmelzen. Oder ist es dass ich nur zu feig bin die Temperatur steigen zu lassen?“13 Ihm fehlt der Mut, sich in die Nähe des Feuers, durch das der Salamander geht14, zu begeben. Angst oder, wie er selbst bekennt, Feigheit hindern ihn daran. Dieser fehlende Mut bezieht sich nicht nur – wie bei Bachmann – auf die Nähe der Liebe, sondern auch darauf, sich zu artikulieren, um seiner seelisch-geistigen Isolation zu entkommen. Die Musik, die lebenslang eine zentrale Rolle für ihn spielte, schien ihm das geeignete Metier, sich auszudrücken, mehr noch als die Philosophie, in der er immer wieder an die Grenzen seiner Sprache stieß. Deshalb war es sein größter Wunsch, „einmal eine Melodie zu komponieren“, um damit sein Leben quasi zusammenfassen und es „krystallisiert“ hinstellen zu können, auch wenn es nur ein „schäbiges Krystall“ sein würde.15 Die Unmöglichkeit, diesen Wunsch zu realisieren, war ihm ebenso bewusst wie die Unmöglichkeit, in seinen philosophischen Schriften verstanden zu werden.16 Doch bereits in den Tagebüchern 1914-1916 sprach er von der Musik in Zusammenhang mit Logik, die auf derselben „höheren“ Ebene liegt, wo es das Wesen der Dinge zu erforschen gilt.17 In den Philosophischen Untersuchungen befasst er sich häufig mit dem Zusammenhang zwischen Sprache und Musik, u. a. in § 527: „Das Verstehen eines
12 DB, S. 9. 13 DB, S. 4. 14 Vgl. dazu Ingeborg Bachmanns Gedicht: „Erklär mir, Liebe“, worin das einsame Leben des geistig Schaffenden sowie die Problematik von Erklärung, von Sprache überhaupt, auf eine Weise zum Ausdruck kommt, die auf Wittgenstein zutreffen mag. Vgl. Ingeborg Bachmann, Anrufung des Großen Bären, München, Zürich 1991, S. 38 f. 15 DB, S. 9 f. 16 Maurice O’C. Drury, „Bemerkungen zu einigen Gesprächen mit Wittgenstein“, in: Ludwig Wittgenstein: Porträts und Gespräche, hg. von Rush Rhees, Frankfurt am Main 1992, S. 117-141, S. 120. 17 Für Arnold Schönberg war die „musikalische Logik“ von größter Bedeutung: „In der Musik gibt es keine Form ohne Logik und keine Logik ohne Einheit“. Auch Schönberg betonte die vielseitige Darstellung des Gedankens durch die Musik – ohne dass dieser direkt ausgesprochen werden müsse. Der Glaube an „Wissenschaft und Technik müßte unterdrückt, das Bestreben nach Wahrhaftigkeit hingegen gefördert werden.“ (Vgl. Arnold Schönbergs Aufsatz „Probleme des Kunstunterrichts“, zit. nach Allan Janik/Stephen Toulmin, Wittgensteins Wien, Wien 1998, S. 128).
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Satzes der Sprache ist dem Verstehen eines Themas in der Musik viel verwandter, als man etwa glaubt.“ Neben der Musik suchte und fand Wittgenstein trotz der Gefahr der Einsamkeit Zuflucht im Geist – dies so ausgeprägt, dass er über die Logik schrieb, als wäre sie ein menschliches Wesen, seine Gefährtin: „Es ist merkwürdig, seltsam, wie sehr es mich beglückt wieder irgend etwas über Logik schreiben zu können obwohl meine Bemerkung gar nicht besonders inspiriert ist. Aber das bloße mit ihr beisammen sein zu können gibt mir das Glücksgefühl. Wieder geborgen, wieder zu Hause, wieder in der Wärme sein zu können ist es wonach mein Herz sich sehnt & was ihm so wohl tut“.18
Nicht immer aber ist ihm die philosophische Tätigkeit Trost: Als sich ein Ende seiner Beziehung mit Marguerite Respinger abzuzeichnen beginnt, vergleicht er seine Situation mit einem „Trümmerfeld der Häuser“, in denen er gewohnt zu leben war. Jetzt, da er auf den Trümmern herumirre, wisse er, dass er seine Freude von der Wärme und Behaglichkeit der Zimmer genommen hatte und notiert: „Man weiß daß jetzt nur der Geist wärmen kann & daß man gar nicht gewohnt ist sich vom Geist wärmen zu lassen.“19 Und ein paar Wochen vorher schreibt er: „Ich fühle mich in meinem Zimmer nicht allein sondern exiliert.“20 Einsamkeit als Preis für geistiges Schaffen, freiwilliger Rückzug zu Philosophie, Dichtung und Musik in Ermangelung von „gelebtem Leben“? Sich fügen in Gegebenheiten in einer Haltung stoischer Gelassenheit, spinozistischer Erkenntnis der Notwendigkeit? Wie Bachmann schreibt, ist Schmerz notwendig, um „sehend“ und damit empfindlich für die Erfahrung und die Wahrheit zu werden. Um zu „begreifen, was wir doch nicht sehen können“ und was die Kunst zuwege bringen soll, um das
18 DB, S. 51; 16.10.1930. Das „Sich-zu-Hause“-Fühlen im Geistigen zeigt sich in ähnlicher Weise bei Bachmann im Hinblick auf Sprache: Sie, die unter Menschen nicht leben könne, fühle sich in der (deutschen) Sprache zu Hause, die sie wie eine Wolke umhülle. (Vgl. das Gedicht „Exil“, in: Ingeborg Bachmann, Gedichte und Erzählungen, ausgewählt von Helmut Koopmann, Stuttgart/München 1978, S. 63). 19 DB, S. 118 f., 7.11.1930. 20 DB, S. 47, 9.10.1930.
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„Absolute zu erreichen.“21 Es sind die Grenzsituationen, in denen nach Jaspers die „Chiffren der Transzendenz“ aufleuchten.22 Somit fand Wittgenstein, wie Bachmann, doch Erfüllung und vermutlich Trost in kreativer Tätigkeit, in der Darstellung subjektiven Erlebens als Ausgangspunkt für ein Verstehen, das über die eigene, persönliche Begrenztheit hinausgeht. Im Falle Bachmanns durch das lyrische Ich, das trotz aller Subjektivität auch für Andere Gültigkeit hat, im Falle Wittgensteins durch die philosophische Auseinandersetzung mit der „Welt, wie ich sie vorfand“23 – als metaphysisches Subjekt, als „Grenze der Welt“24 –, doch zu deren Entdeckung und Verständnis er lange, verschlungene Pfade unterschiedlicher Formen beschritt und sich mit der Zeit einem, wenn oft auch nur fiktivem Du, zuwandte. Nach der aus dem Tractatus bekannten logischen Analyse von Sprache setzt er sich in späteren Jahren mit der Mannigfaltigkeit von Sprache im Gebrauch – mit ihren Konfusionen, Dunkelheiten, ihrer Unbestimmbarkeit und Vagheit – auseinander, wobei er anstelle des Erklärens Wert auf das Beschreiben legt und der Grammatik eine entscheidende Rolle zuspricht: in philosophischer, religiöser sowie persönlicher Hinsicht.
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2.1 Bedeutung der Grammatik in der Philosophie „Die Logik muß für sich selber sorgen“, notierte Wittgenstein bereits 1914 – als erste Eintragung in den philosophischen Tagebüchern 1914-1916, gleich einer „Eröffnung“, eines Einstiegs in sein Denken. Die Erforschung der Logik bedeutet die Erforschung aller Gesetzmäßigkeit (TLP 6.3.), womit außerhalb der Logik alles Zufall ist. Da die Bilder, die wir uns von der Wirklichkeit machen, mit der Wirklichkeit nur eines gemeinsam haben, nämlich die logische Form, kann das logische Bild die Welt abbilden. (vgl. TLP 2.19) Doch es ist unmöglich, die logische Form selbst darzustellen. Diese zeigt sich. Sie spiegelt sich im Satz. Da die
21 Ingeborg Bachmann: „Die Wahrheit ist dem Menschen zumutbar.“ Rede zur Verleihung des Hörspielpreises der Kriegsblinden, in: Gedichte und Erzählungen. Bibliothek des 20. Jahrhunderts, hg. von Walter Jens und Marcel Reich-Ranicki, ausgewählt von Helmut Koopmann, Stuttgart, München 1978, S. 454-456. 22 Karl Jaspers, Die Chiffren der Transzendenz, München 1970. 23 TLP 5.631. 24 TLP 5.641.
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Logik die Welt erfüllt, ist ihre Grenze im Sinne des Satzes „Die Grenzen meiner Sprache bedeuten die Grenzen meiner Welt“ (TLP 5.6) zu verstehen. Das im Tractatus erkennbare Schwergewicht auf der Logik der Sprache und der analytischen Untersuchung von sinnvollen und nicht sinnvollen Sätzen weicht nun der Betonung des Gebrauchs von Sprache, der Beschreibung anstatt Erklärung – der Grammatik. „Die Sprache muß für sich selbst sprechen.“25
Im Zuge seiner Auseinandersetzung über den Sinn des Satzes bemerkt Wittgenstein, dass sein früherer Begriff von Bedeutung aus einer „primitiven Philosophie der Sprache“ stamme, und er verweist auf das Lernen von Sprache bei Augustinus.26 Wittgenstein jedoch sieht in den Wörtern auch ganz andere Funktionen als die Benennung von Tischen, Stühlen usw. Die Bedeutung eines Worts sei nicht nur in seinem Gebrauch, sondern in der „Art, wie dieser Gebrauch in das Leben eingreift“.27 Wörter wie „herrlich“, „ach“ usw. könnten jeweils Ausdruck für ein Gefühl sein, doch dieses Gefühl sei nicht als die Bedeutung des Wortes zu bezeichnen. Dadurch, dass diese Wörter als Ausdruck für Gefühle stehen, greifen sie in unser Leben ein. Statt der Empfindungen könne man auch Tonfall und Gebärden setzen, wie umgekehrt das Wort „ach“ z. B. als Gebärde aufzufassen sei.28 Immer wieder weist Wittgenstein auf die Möglichkeit, ja Kraft des „Ausdrucks“ hin. Begriffe wie Tonfall, Mimik, Geste, Gebärde stehen im Zentrum seiner philosophischen Untersuchungen über das Verständnis von dem, was durch Worte oder gar Theorien schwer zu fassen ist. „Das Verstehen einer Geste“ hingegen bedeutet, „dass diese mir etwas sagt“.29 Der Grammatik kommt nun die Aufgabe zu, den Gebrauch der Wörter in der Sprache zu beschreiben. „Sie verhält sich also zur Sprache ähnlich wie die Beschreibung eines Spiels, wie die Spielregeln, zum Spiel“.30 Und doch kann die Grammatik bei Wittgenstein nicht auf diese Definition reduziert werden, sondern bedeutet das in die Tiefe Gehende: Ähnlich der Logik, die er bereits im Tractatus als „Spiegelbild“ der Welt bezeichnete, spricht er der
25 Ludwig Wittgenstein, Philosophische Grammatik, Werkausgabe, Band 4, Frankfurt am Main 1984, 2/39, S. 5. 26 Ebd., 19/56, S. 8. 27 29/65, S. 9. 28 Vgl. 30/66, S. 9 f. 29 Vgl. 5/42, S. 5. 30 23/S. 60.
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Grammatik zu, das in der Tiefe der Sprache Verborgene sozusagen aus dem Dunkel hervorzuholen und ans Licht zu bringen, wobei das Wesentliche aber nicht in der erkennbaren Oberfläche, sondern in der Tiefe bleibt, die Grammatik der Sprache nun ähnlich der Logik nur wie ein Spiegelbild fungiert. In dieser Funktion steht sie jedoch über jedem Erklärungsversuch, agiert mehr in der Rolle des Zeigenden als des Sagenden. Mit zunehmender Distanz zu einer analytisch orientierten Philosophie und einer kritischen Haltung gegenüber dem Erklären betont Wittgenstein das Ganze, das Sehen der Zusammenhänge und plädiert für eine weniger rationale, vielmehr intuitive, nicht wissenschaftliche Betrachtungsweise. Selbst der Logik wird nur eine „trübe Beleuchtung“31 eingeräumt. Im MS 142, 90, hebt er die Bedeutung der „Beschreibung“ zum Erhellen philosophischer Probleme hervor: „Alle Erklärung mußte fort – & an ihre Stelle nur Beschreibung treten. Und diese Beschreibung empfängt ihr Licht, d. i. ihren Zweck, von den philosophischen Problemen. Diese sind nun keine empirischen, sondern sie werden durch eine Einsicht in das Funktionieren unserer Sprache gelöst. Und zwar so, daß dieses enthüllt wird: entgegen einer Neigung es mißzuverstehen.“
Wenig später fährt er fort: „Unsere Betrachtung ist daher also eine grammatische. – Wenn sie aber zum Ziele führt, so geschieht dies dadurch, daß sie Mißverständnisse wegräumt. Und diese Betrachtung sie bringt Licht in unser Problem: indem sie Mißverständnisse wegräumt.“
Erklären könne nicht heißen „Verborgenes ans Licht zu ziehen“ – da hier nichts verborgen sei. Man könne nur die Grammatik des jeweiligen Wortes (wie hier z. B. die Grammatik des Wortes „wünschen“ oder „denken“) explizit machen. Diese neue Art des Herangehens an philosophische Probleme sei, „die Dinge auf eine neue, ungewöhnliche Weise darstellen; nicht aber, weil die alte Weise nicht richtig ist, sondern weil die neue neben die alte gestellt ein neues Licht auf diese wirft & philosophische Fragen behebt.“ (MS 133, S. 70v). Trotz tiefgreifender Veränderungen in Wittgensteins philosophischer Auseinandersetzung und Methode kann man in mancher Hinsicht von einer Kontinuität sprechen – dies nicht nur in der Beibehaltung der Auffassung einer Grenze des
31 Vgl. TS 211, S. 362: „Das Dunkel, welches über den Möglichkeiten der Lage etc. herrscht, ist die gegenwärtige logische Situation. Sowie trübe Beleuchtung auch eine bestimmte Beleuchtung ist.“
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Sagbaren in wesentlichen Fragen, sondern auch im Übergang von logischer Erklärung zur Grammatik. Peter Hacker betont, dass auch in den Philosophischen Untersuchungen die Struktur der Sprache Gegenstand der Untersuchung ist und (wie im Tractatus) immer noch mit der Struktur der Wirklichkeit gleichgestaltig, „nicht, weil die Sprache die logische Struktur der Welt spiegeln muss, sondern weil das, was als die ‚Struktur der Wirklichkeit‘ erscheint, nur der Schatten der Grammatik ist.“32 Beschreiben und Erklären stehen jedoch in unmittelbarem Zusammenhang, d. h. die Beschreibung ist Voraussetzung zur Erklärung und dabei zum „Klarwerden von Sätzen“, was Wittgenstein bereits im Tractatus als Ziel der Philosophie definiert hat. Das Streben nach Klarheit und Durchsichtigkeit, das er auch im Vorwort zu den Philosophischen Bemerkungen als sein wesentliches philosophisches Anliegen, als „Selbstzweck“ präzisiert, sieht er später durch eine analytische Betrachtungsweise nicht erreichbar. Diese entbehre das dazu notwendige Licht, so seltsam dies angesichts der durch Analyse erreichbaren übersichtlichen Darstellung erscheinen mag. Sein Interesse gilt jedoch nicht dem vordergründig Sichtbaren, an der Oberfläche Haftenden, sondern dem Verborgenen, das ans Licht zu holen er sich müht, um es transparent zu machen. „Die Schwierigkeit tief fassen, ist das Schwere. Denn seicht gefaßt, bleibt sie eben Schwierigkeit. Sie ist mit der Wurzel auszureißen; & das heißt, man muß auf neue Art anfangen, über diese Dinge zu denken. Die Änderung ist z. B. eine so entschiedene, wie die von der alchemistischen zur chemischen Denkungsweise. – Es ist die neue Denkweise, die so schwer festzulegen ist.“33
Das an der Oberfläche sich Befindliche, sofort Erkennbare und durch analytische Verfahren zu Erklärende unterscheidet sich grundlegend von dem unter der Oberfläche, in der Tiefe Verborgenen, durch herkömmliche wissenschaftliche Methoden nicht Zugängliche. Auf diesen Grund aber kommt es Wittgenstein an. In der Auseinandersetzung mit diesem Bereich und seinen Bemühungen, ihn transparent zu machen, verwendet er häufig die Metapher des Lichts:
32 Vgl. Peter M.S. Hacker, Einsicht und Täuschung. Wittgenstein über Philosophie und die Metaphysik der Erfahrung, übersetzt von Ursula Wolf, Frankfurt am Main 1978, S. 199. 33 MS 131, 48, 15.8.1946, zit. nach Ludwig Wittgenstein, Vermischte Bemerkungen, hg. von G.H. von Wright unter Mitarbeit von Heikki Nyman, Neubearbeitung des Textes durch Alois Pichler, Frankfurt 1994, S. 98.
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„ unseren Gedanken, wahren & falschen, liegt immer wieder ein dunkler Grund, den wir erst später in’s Licht ziehen, & als einen Gedanken aussprechen können.“ (MS 102, S. 54r)
Ähnlich einem Künstler, der sich in seinem Schaffen Schicht für Schicht fortarbeitet, um das Gedachte, Erfahrene und Empfundene „freizulegen“, für den Betrachter „transparent“ zu machen, so durchgeht Wittgenstein in seinem Philosophieren alle Schattierungen an sprachlichen Möglichkeiten für seine Gedanken, um deren Bedeutung durch die richtige Wahl der Worte und der Formulierung in aller Klarheit darzustellen. Diese Bedeutung erweist sich oft als etwas gleich einem „Spiegelbild“ bereits im Wort Enthaltenes, das nun ans Licht geholt, wie eine „Tiefe gespiegelt“ da steht. (Vgl. MS 137, S. 44)34 Wie ein Bild, das uns plötzlich scheinbar längst Entschwundenes, oder nur undeutlich Gefühltes, klar vor Augen führt, ins richtige, oder in ein neues Licht rückt – die Tiefe seiner Bedeutung enthüllt.35 Die Erhellung von sprachphilosophischen Problemen durch die Grammatik, wie sie Wittgenstein vorschwebt, kommt auf persönlicher Ebene der Darstellung von existenziellen Problemen in Literatur und Kunst nahe, wo die Erfahrung von Leid den Künstler „sehend“ macht und damit fähig, seine Erfahrung an Andere weiterzugeben. Auch hier kann man von einer „Sichtbarmachung“ sprechen: durch Sprache, Bilder oder Musik. Die Sprache des Denkenden – als Dichter oder Philosoph – steht in krassem Gegensatz zur Sprache im Gebrauch. Dies nicht nur im direkten, konkreten Sinn – als poetische Sprache oder als philosophischer Diskurs – sondern in der Haltung des Schreibenden gegenüber Sprache, die von vornherein „belastet“ ist, d. h. Sprache kritisch reflektierend gegenübersteht und somit Probleme sieht, die Andere nicht wahrnehmen. In ähnlicher Weise wie Wittgenstein die Problematik der Sprache aus der Sicht des Philosophen bewusst wurde, nicht aus der Sicht desjenigen, der sie im alltäglichen Sprachgebrauch verwendet, bemerkte Bachmann: „Wir meinen, wir kennen sie doch alle, die Sprache, wir gehen doch mit ihr um; nur der Schriftsteller nicht,
34 Von einer Transparenz wie ein „Spiegel im Spiegel“ – um auf die Analogie mit der Musik Arvo Pärts hinzuweisen, der seine Kompositionen mit „reinem Licht“ vergleicht. 35 Vgl. Ilse Somavilla: „Wittgensteins Metapher des Lichts“, in: Wittgenstein und die Metapher, hg. von Ulrich Arnswald, Jens Kertscher und Matthias Kroß, Berlin 2004, S. 361-387, S. 374.
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er kann nicht mit ihr umgehen. […] Die Sprache ist zum Gebrauch bestimmt, von dem er keinen Gebrauch machen kann.“36 Problematisch wird Sprache erst durch einen skeptischen Umgang mit ihr, durch Hinterfragung des Schriftstellers wie des Philosophen.37 Sie erweist sich als unzulänglich, wenn es darum geht, das Absolute zu erreichen: Doch wie bereits erwähnt, ahnte Wittgenstein die Möglichkeit, das in der Sprache nicht Erreichbare in der Kunst, vor allem in der Musik, auszudrücken – und dabei Dunkles zu erhellen. Nicht von ungefähr scheint er daher so oft vom „Licht“ zu sprechen, das er als Metapher bei seinen philosophischen, aber auch persönlichen Gedankengängen anwendet. Als Metapher zur Beleuchtung von Problemen, zur Entbergung von Verborgenem, schwer Zugänglichem – augenscheinlich nicht Sichtbarem. Abgesehen vom philosophischen Kontext, gilt dies insbesondere für Fragen jenseits des Sagbaren, die dem Bereich des nicht Sichtbaren zugeordnet sind. 2.2 Religiöse Aspekte Der Unterschied zwischen sinnvollen und sinnlosen Sätzen, die Grenzen rationaler Erklärung, wie insgesamt die Grenzen seiner Sprache wurden Wittgenstein vor allem hinsichtlich ethischer und religiöser Fragen, damit auch des Glaubens bewusst. Hier erweisen sich alle Ausdrücke als „unsinnig“ und Wittgensteins Ringen um Gewissheit als eine Erweiterung ins Unendliche, da der Versuch einer Begründung des Glaubens sich als ein regressus in infinitum erweist.38 Wie jedoch aus seinen persönlichen Tagebucheintragungen hervorgeht, gibt es eine Annäherung – den Weg der Liebe: „Wenn ich aber WIRKLICH erlöst werden soll, – so brauche ich Gewißheit – nicht Weisheit, Träume, Spekulation – und diese Gewißheit ist der Glaube. Und der Glaube ist Glaube an das, was mein Herz, meine Seele braucht, nicht mein spekulierender Verstand. Denn
36 1. Frankfurter Vorlesung Fragen und Scheinfragen, zit. nach Barbara Agnese, „,Das Absolute, das ich nicht erreicht sehe in der Sprache‘. Zwischen Musik und Literatur: Das Unsagbare bei Bachmann“, in: Susanne Kogler/Andreas Dorschel (Hgg.), Die Saite des Schweigens. Ingeborg Bachmann und die Musik, Wien 2006, S. 22-34, S. 22. 37 Vgl. dazu Wittgensteins Auseinandersetzung mit G.E. Moore in Über Gewißheit. 38 Selbst bei der Bemerkung, er zweifle nicht, dass er zwei Hände habe, meint Wittgenstein: „Am Grunde des begründeten Glaubens liegt der unbegründete Glaube“ (MS 175, S. 20r).
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meine Seele, mit ihren Leidenschaften, gleichsam mit ihrem Fleisch & Blut muß erlöst werden, nicht mein abstrakter Geist. Man kann vielleicht sagen: Nur die Liebe kann die Auferstehung glauben. Oder: Es ist die Liebe, was die Auferstehung glaubt.“ (VB, S. 74 f.)
In ähnlicher Weise wie Pascal von der logique du coeur spricht, können Sicherheit und Gewissheit im Glauben nach Wittgenstein nur mit dem Herzen, nicht durch den Verstand erfahren werden. Selbst das Wort „Denken“ scheint ihm in Zusammenhang mit Glauben nicht das richtige Wort; im religiösen Glauben wird Denken völlig ausgeschaltet, in der allgemeinen Bedeutung des Wortes „Glauben“ erfährt Denken eine Art Abschwächung. Während er zwischen Glauben, Erwarten und Hoffen eine gewisse Affinität sieht, wird Denken hingegen als etwas Anderes, Eigenes betrachtet, der Glaube als ein „Farbton der Gedanken“ beschrieben (PU, § 578). Sein Hinweis, dass seine Bemerkung „Glauben ist nicht Denken“ eine grammatische Bemerkung sei, stellt den Bezug zur Religion her. Wie auch Luther geschrieben habe, dass die Theologie die „Grammatik des Wortes Gottes“, der heiligen Schrift sei (DB, S. 203),39 so bedeutet bei Wittgenstein die Grammatik mehr als bloße Grammatik der Sprache: wie vorhin erörtert, geht es in der Grammatik (wie in der Ethik und Logik) um das tiefer Liegende, den Kern bzw. das Wesen der Dinge. Für Luther war der Glaube eine Sache des Herzens; Wittgenstein verweist darauf: „‚Ich habe mich in meinem Herzen dazu entschlossen.‘ Und man ist dabei auch geneigt, auf die Brust zu zeigen. Diese Redeweise ist psychologisch ernst zu nehmen. Warum sollte sie weniger ernst zu nehmen sein als die Aussage, der Glaube sei ein Zustand der Seele? (Luther: ‚Der Glaube ist unter der linken Brustzitze.‘)“ (PU, § 589).
In der grammatischen Unterscheidung zwischen religiöser und theoretisch-wissenschaftlicher Sprache greift Wittgenstein den Hl. Paulus dort an, wo dessen Terminologie sich einer Doktrin oder Theorie nähert.40 Er selbst äußert sich immer wieder kritisch gegenüber jeder Form von Theorie in Glaubensfragen:
39 Vgl. auch PU, § 373: „Welche Art von Gegenstand etwas ist, sagt die Grammatik. (Theologie als Grammatik.)“. 40 Vgl. Peter K. Westergaard, Some Remarks on Wittgenstein and St Paul, in: Ilse Somavilla/James M. Thompson (Hgg.), Wittgenstein und die Antike/Wittgenstein and Ancient Thought, Berlin 2012, 215-258, S. 241.
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„Das Christentum ist keine Lehre, ich meine, keine Theorie darüber, was mit der Seele des Menschen geschehen ist und geschehen wird, sondern eine Beschreibung eines tatsächlichen Vorgangs im Leben des Menschen. Denn die Erkenntnis der Sünde ist ein tatsächlicher Vorgang, und die Verzweiflung desgleichen und die Erlösung desgleichen. Die, die davon sagen, (wie Bunyan), beschreiben einfach, was ihnen geschehen ist, was immer einer dazu sagen will!“ (VB, S. 64)
Wittgensteins Ablehnung jeder rationalen Erklärung oder Begründung des Glaubens zeigt sich in seiner kritischen Haltung selbst dem Wort „glauben“ gegenüber. Dieses Wort, so notiert er am 19.4.1937, habe in der Religion „furchtbar viel Unheil“ angerichtet und er fährt fort: „Alle die verzwickten Gedanken über das ‚Paradox‘, die ewige Bedeutung einer historischen Tatsache u. dergl. Sagst Du aber statt ‚Glaube an Christus‘: ‚Liebe zu Christus‘, so verschwindet das Paradox, d. i., die Reizung des Verstandes. Was hat die Religion mit so einem Kitzeln des Verstandes zu tun? (Auch das kann für den oder den zu seiner Religion gehören) Nicht daß man nun sagen könnte: Ja jetzt ist alles einfach – oder verständlich. Es ist gar nichts verständlich, es ist nur nicht unverständlich.“ (DB, 238 f.)41
Der Glaube liegt auf einer Ebene jenseits philosophischer Reflexion, ist, wie bereits erörtert, eine Sache des Herzens, der Liebe. Dieser Glaube sei jedoch eine „Gnade“ und die Bedingung dazu, unser Äußerstes zu tun, auch wenn es zu nichts führe, wir trotz aller Mühe „unversöhnt“ blieben. Dann käme die Versöhnung zu Recht.42 Und doch kann Wittgenstein nicht glauben, dass jener verloren sei, der nicht dieses Glaubens ist; wenn hier vom „Geheimnis“ jenes Opfers gesprochen werde, so müsse man die Grammatik des Wortes „Geheimnis“ verstehen.43 Rationale Erklärungen und Begründungen des Glaubens werden schon Jahre zuvor abgelehnt: Ein Gespräch mit Ludwig Hänsel über Frömmigkeit und Spekulation (während der gemeinsamen Kriegsgefangenschaft bei Monte Cassino) führt zu dem Schluss, dass der Glaube fromm sei, der die Dogmen impliziert, ohne sie
41 Vgl. auch VB, S. 67 f.: „Die Religion sagt: Tu dies! – Denk so! aber sie kann es nicht begründen, & versucht sie es auch nur, so stößt sie ab; denn zu jedem Grund, den sie gibt, gibt es einen stichhaltigeren Gegengrund. Überzeugender ist es, zu sagen: ‚Denke so! – so seltsam dies scheinen mag. –‘ Oder: ‚Möchtest Du das nicht tun? – so abstoßend es ist. –‘“. 42 DB, S. 220. 43 DB, S. 220.
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explizieren zu müssen, der nicht von der Liebe abkomme, der nicht abstrakt werde. Wären nur Fromme gewesen, so wäre keine Orthodoxie. Denn Rechthaberei (Eitelkeit) steckt in der Rechtgläubigkeit. – Und darum auch „Eitelkeit“ in ihren Sätzen, in ihren Versuchen, das Unbestimmbare in Begriffe zu drängen.44 Später, 1930, in seinen Gesprächen mit Waismann, betont Wittgenstein, dass das Reden für die Religion nicht wesentlich sei, er sich eine Religion denken könne, in der es keine Lehrsätze gebe, in der also nicht gesprochen werde. Denn das Wesen der Religion könne nicht mit dem Reden darüber etwas zu tun haben, oder: wenn geredet wird, dann nur als Bestandteil der religiösen Handlung, nicht als Theorie.45 In den Vorlesungen und Gesprächen über religiösen Glauben versucht er zu erläutern, dass zwischen Gläubigen und Nichtgläubigen völlig unterschiedliche Denkweisen46 bestehen und dementsprechend auch deren Auseinandersetzungen und Begründungen ganz anders als normale Auseinandersetzungen und normale Begründungen aussehen, ihre Grammatik der Sprache im Sinne, wie der Gebrauch der Sprache ins Leben eingreift, sich somit grundlegend unterscheidet. Das, was ein Gläubiger ausdrücken will, liege auf einer anderen Ebene und erscheine einem Nichtgläubigen als Torheit.47 Es gebe so etwas wie einen „unerschütterlichen Glauben“: dieser zeige sich nicht „durch Vernunftschlüsse oder durch Anruf von gewöhnlichen Glaubensgründen, sondern vielmehr dadurch, dass er sein ganzes Leben regelt.“48 Ebenso verhält es sich mit Fragen der Ethik, die durch keine Theorie erklärt werden können, sondern sich in der Lebensweise des Einzelnen zeigen, wie auch von diesem für sich allein verstanden und entschieden werden müssen. Deshalb
44 Vgl. Ludwig Hänsels Eintragung vom 13.10.1921 in: Ilse Somavilla (Hg.), Begegnungen mit Wittgenstein. Ludwig Hänsels Tagebücher 1918/1919 und 1921/1922, Innsbruck 2012, S. 67. 45 Wittgenstein und der Wiener Kreis. Gespräche aufgezeichnet von Friedrich Waismann, Werkausgabe, Band 3, Frankfurt am Main 1984, S. 117. 46 Vgl. Ludwig Wittgenstein, Vorlesungen und Gespräche über Ästhetik, Psychoanalyse und religiösen Glauben, hg. aus Notizen von Yorick Smythies, Rush Rhees und James Taylor von Cyril Barrett, deutsche Übersetzung von Ralf Funke, Düsseldorf und Bonn 1996, S. 78. 47 Ebd., S. 81. 48 Vgl. VG, S. 76.
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habe Wittgenstein, wie erörtert, am Schluss des Vortrags über Ethik in der ersten Person gesprochen, und diese Subjektivität sei etwas ganz Wesentliches.49 Eine Subjektivität, die auch für die Grammatik der Sprache des Dichters gilt? Eine Brücke dazu kann hinsichtlich des Sich-Zeigenden gesehen werden, das sich von einer theoretischen Erörterung, überhaupt von jedem Erklärungsversuch entschieden abhebt. In Gedichten tritt der Dichter als lyrisches Ich auf, wobei subjektive Wahrnehmung und Empfindung durch die Sprache gestaltet werden, sich darin „zeigen.“ 2.3 Die Bedeutung von Kunst In seiner Dissertation Wittgensteins sprachphilosophische Hermeneutik betont Jörg Zimmermann den ästhetischen Charakter in Wittgensteins Art zu philosophieren.50 In seinem späteren Buch Sprachanalytische Ästhetik. Ein Überblick51 führt er seine Überlegungen weiter aus und behandelt das Phänomen des intransitiven Verstehens in Wittgensteins Philosophie und Ästhetik. Der Ausdruck „intransitives Verstehen“ stammt von einer Stelle am Beginn der Philosophischen Grammatik, wo Wittgenstein sich mit dem Unterschied zwischen interpretierendem und unmittelbarem Verstehen bei Bildern auseinandersetzt. Das unmittelbare Verstehen wird dabei einmal als „intransitives Verstehen“ bezeichnet. In den Philosophischen Untersuchungen (§§ 522-536) wird eine ähnliche Unterscheidung getroffen, wo Wittgenstein die Ähnlichkeit zwischen dem Verstehen von Sprache und dem Verstehen von Kunst erörtert.
49 Vgl. WWK, S. 117. In weiteren Gesprächen mit Schlick über Werte bekundet Wittgenstein dieselbe Haltung gegenüber jeder Form von Theorie bzw. Erklärung und Begründung: „Was immer man mir sagen mag, ich würde es ablehnen, und zwar nicht darum, weil die Erklärung falsch ist, sondern weil sie eine Erklärung ist.“ (WWK, S. 116). „Das Ethische kann man nicht lehren. Wenn ich einem andern erst durch eine Theorie das Wesen des Ethischen erklären könnte, so hätte das Ethische gar keinen Wert.“ (WWK, S. 117). 50 Jörg Zimmermann, Wittgensteins sprachphilosophische Hermeneutik, Frankfurt am Main 1975. 51 Vgl. Jörg Zimmermann, Sprachanalytische Ästhetik. Ein Überblick, Stuttgart/Bad Cannstatt 1980.
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Auch Kjell S. Johannessen geht auf diesen Aspekt ein, wobei er auf Wittgensteins Bemerkung über die „seltsame Ähnlichkeit einer philosophischen Untersuchung […] mit einer Ästhetischen“ (VB, S. 60) hinweist.52 Wittgensteins Anweisung an den Betrachter eines Kunstwerks, dieses auf diese oder jene Weise zu betrachten, sei, so Johannessen, in Verbindung mit seinem philosophischen Diskurs zu sehen: auch hier – wie z. B. in den Philosophischen Untersuchungen – wende Wittgenstein dasselbe Muster des „sehen als“ an. In den fiktiven Dialogen der Philosophischen Untersuchungen wird der Leser aufgefordert, ein philosophisches Problem einmal so, einmal anders zu betrachten. Indem er uns fortwährend dazu führt, an dieses Problem von verschiedenen Blickwinkeln aus heranzugehen und Vergleiche mit anderen Situationen anzustellen, geht er wie ein Kunstkritiker vor, der in ähnlicher Weise uns zwar keine neuen Informationen liefert, jedoch durch seine Art der Beschreibung uns neue Facetten am Kunstwerk entdecken lässt, die uns bisher nicht aufgefallen sind. Diese wechselnde Sichtweise der Dinge geht meiner Meinung nach auch aus Wittgensteins Stil und Schreibweise hervor: In seinen ständigen Änderungen wird der Wechsel der Perspektiven aus seiner Sicht der Dinge deutlich – so wie er auch in seinen fiktiven Dialogen den Leser dazu auffordert, die Dinge von verschiedensten Blickwinkeln aus zu betrachten. Diese für Wittgenstein typische Methode betrachte ich als Ausdruck bzw. Folge seines philosophischen Staunens, das eine stete Änderung der Perspektiven – den Aspektwechsel – mit sich bringt. Um jemand anderen dazu zu bringen, die verschiedenen Aspekte der Dinge zu sehen, sind rationale Erklärungen nicht geeignet, sondern nur Beschreibungen der eigenen Sichtweise. Das Verstehen eines Kunstwerks, so Johannessen, habe bei Wittgenstein sehr viel mit Gefühl, mit einem unmittelbaren Erfassen zu tun, dem Gefühl der Vertrautheit, des Wohlbekannten. Dieses „intransitive Verstehen“, das Wittgenstein mit dem Gefühl des „Wohlbekannten“, der „Wohlvertrautheit“53 beschreibt, richte sich ganz auf das sinnlich Angeschaute, nicht auf irgendeine transzendente Idee. Dieser Behauptung stimme ich nur teilweise zu, da meines Erachtens das kognitive Element bei Wittgensteins „intransitivem Verstehen“ nicht übergangen werden darf, wenn auch sinnliche Anschauung und Emotionen überwiegen. Das Gefühl der Wohlvertrautheit, des sich glücklich Fühlens in der ästhetischen
52 Vgl. Kjell S. Johannessen, Philosophy, Art and Intransitive Understanding, in: Wittgenstein and Norway, ed. by Kjell S. Johannessen, Rolf Larsen and Knut Olv Åmås, Oslo 1994, S. 217-250, vgl. Ludwig Wittgenstein, Vermischte Bemerkungen, a. a. O. 53 Vgl. PG, S. 78 f.
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Betrachtung setzt voraus, dass der Betrachter im angeschauten Objekt etwas erkennt, das mehr als die sichtbare Erscheinung bedeutet. Das bloße Anschauen eines konkreten Gegenstandes – wie z. B. die Wahrnehmung der einzelnen Striche einer Zeichnung – könnte das von Wittgenstein beschriebene Gefühl der Vertrautheit nicht bewirken. Das heißt nicht, dass nur der Intellekt – wie bei Schopenhauers Darstellung des „reinen Subjekts des Erkennens“ – tätig ist; bei Wittgensteins „intransitivem Verstehen“ spielen sinnliche Anschauung und Emotionen ebenso hinein wie das Geistige. „Staunen ist Denken“, sagte er einmal, wobei er sich meines Erachtens auch auf das in der sinnlichen Anschauung immanente kognitive Element und die damit zusammenhängende, über das sinnlich Wahrgenommene hinausgehende Erkenntnis bezog. Wittgenstein schreibt ausdrücklich, dass es sich beim unmittelbaren bzw. intransitiven „Verstehen“ eines Bildes nicht um ein Erkennen handelt, wie beim Erkennen eines alten Bekannten auf der Straße. Uns sei dabei auch bewusst, dass es sich bei der Darstellung eines Bildes nicht um wirkliche Gegenstände handelt, die Wohlbekanntheit des Bildes sei auch nichts Historisches in dem Sinne, dass wir solche Gegenstände schon oft gesehen hätten. Die Wohlbekanntheit liege vielmehr darin, dass „ich sofort einen bestimmten Rhythmus des Bildes ergreife und bei ihm bleibe, sozusagen in ihm ruhe“.54 Wittgenstein ist sogar dermaßen „gefangen“, dass er nicht einmal mehr das Bedürfnis verspürt, neue Aspekte zu entdecken. Er hat aufgehört, weiter zu fragen, nach dem Aspektwechsel Ausschau zu halten, der ein Umdeuten des Wohlbekannten mit sich bringen würde: „Nicht das findet statt, daß sich dieses Symbol nicht mehr deuten läßt, sondern: ich deute nicht. Ich deute nicht, weil ich mich in dem gegenwärtigen Bild heimisch fühle. Wenn ich deute, so schreite ich auf dem Gedankenweg von Stufe zu Stufe.“55 (Z, 234)
Ein weiterer Grund dafür, dass es sich nicht nur um das rein sinnlich Angeschaute handelt, geht aus der Bemerkung Wittgensteins hervor, dass er das Gefühl der Wohlvertrautheit nicht bei jedem Bild erfahre, wie er auch nicht jedes Bild sofort „erfasst“. Sähe er also nur die einzelnen Striche etc. bzw. die konkrete Form der Darstellung, so würde ihm das Künstlerische am Bild, das „Sprechen“ des Bildes entgehen. Es muss also noch etwas anderes in ihm vorgehen, und das bedeutet zugleich, dass er „mehr“ als die bloße Form der sinnlich wahrgenommenen Zeichnung erblickt. Wittgenstein spricht von einem „Erleben“ des Bildes, das ihn erfasst
54 PG, S. 78 f. 55 Ludwig Wittgenstein, Zettel, in: Ludwig Wittgenstein, Über Gewißheit, Werkausgabe Band 8, § 234, S. 324.
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und ihm aus unerklärlichen Gründen sofort vertraut ist, „wohlbekannt“, so dass er in seinem Anblick „ruht“. Hier könnte man nicht zu Unrecht von einer ästhetischen Kontemplation sprechen, einem Aufgehen im angeschauten Objekt, was ein Loslösen des betrachtenden Subjekts von seinem Ich bzw. „Willen“ impliziert. Dieses Loslösen beinhaltet eine ethische Dimension, wie sie Schopenhauer in der ästhetischen Betrachtung beschreibt und wie sie bei Wittgenstein, wie erörtert, in früheren Jahren anzutreffen ist. Was Wittgenstein nun im Bild erkennt, kann zwar nicht als Idee im Sinne Platons interpretiert werden, doch ist es wohl mehr als das rein sinnlich Wahrgenommene, mehr als die konkrete, äußere Form der Darstellung. Das von ihm beschriebene Erlebnis des unmittelbaren Verstehens eines Kunstwerks könnte als ein ästhetisch-kontemplatives gesehen werden, ein Erlebnis intuitiven Erfassens, in dem Sinnlichkeit und Intellekt zusammenwirken. Im Braunen Buch findet sich eine Stelle, wo Wittgenstein sich ebenfalls mit der Frage auseinandersetzt, was der Grund dafür sei, eine Zeichnung als Gesicht und nicht bloß als Striche zu sehen: ob es außer dem Erlebnis, die Zeichnung als bloße Striche zu sehen, noch ein weiteres Erlebnis gebe, um diese als Gesicht zu sehen – es also zwei Erlebnisse nebeneinander oder zusammengesetzt gebe? Dies sei ähnlich dem Erlebnis beim Lesen, wo er ein „ständiges Summen“ spüre, während er lese. Doch anstatt der Frage, „Wo ist das ständige Erlebnis, das sich durch all mein Lesen zieht?“, sollten wir fragen: „Was ist es, dem ich diesen Fall gegenüberstelle, wenn ich sage ‚Eine bestimmte Atmosphäre umhüllt die Wörter, die ich lese‘?“.56 Es sei „die Form dieser Frage, die die Verwirrung stiftet“, meint er schließlich und beruft sich auf Hertz’ Äußerung „Aber offenbar irrt die Frage in bezug auf die Antwort, welche sie erwartet.“57 Indem wir ein geschriebenes Wort nicht bloß als Gekritzel, sondern als eine „deutliche Physiognomie“ identifizieren, wären wir geneigt zu sagen: „das Wort fällt […] in ein Futteral in meinem Geist, das lange dafür bereit war.“ (BLB, S. 261) Da wir aber das Wort und ein Futteral nicht wahrnehmen, wäre auch diese Metapher für ein Erlebnis des Vergleichens zwischen der „Hohlform und der Vollform, bevor sie zusammengefügt werden“, unangebracht; vielmehr passe die Metapher auf ein Erlebnis, die „Vollform durch einen bestimmten Hintergrund hervorgehoben zu sehen.“ (BLB, S. 261)
56 Ludwig Wittgenstein, Das Blaue Buch. Eine philosophische Betrachtung (Das Braune Buch), Werkausgabe, Band 5, Frankfurt am Main 1984, S. 260. 57 Vgl. Heinrich Hertz, Die Prinzipien der Mechanik: in neuem Zusammenhange dargestellt, Darmstadt 1963, Einleitung, S. 9.
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Um sinnvoll zu sagen, was man sehe, müsse man das, was man sehe, für sich sprechen lassen. „Es scheint, als ob die Farbe, die ich sehe, ihre eigene Beschreibung sei.“ (BLB, S. 268) Was man sieht oder fühlt, trete in unseren Satz ein, „wie ein Muster“, von dem jedoch kein Gebrauch gemacht wird, d. h. die Wörter unseres Satzes dienen nur dazu, uns „das Muster darzureichen.“ (BLB, S. 268) Denn in Wirklichkeit sprechen wir nicht über das, was wir sehen, sondern zu dem, was wir sehen.58 Wenn man „durch das Lesen eines Satzes beeindruckt“ ist, dieser „Satz mir etwas gezeigt hat“, so sei dies mit folgendem Beispiel zu vergleichen: Wittgenstein und ein Freund betrachteten einmal Beete mit Stiefmütterchen, von denen jedes eine andere Art zeigte und den Freund beeindruckte. Dieser bemerkte dazu: „‚Was für eine Vielfalt von Farbenmustern, und ein jedes sagt etwas.‘“ (BLB, S. 272.) Dies sei genau das gewesen, was auch Wittgenstein sagen wollte. Insofern bedeutet das „Erlebnis“ einer Farbe oder eines Bildes, wie es Wittgenstein nennt, zwar das Sprechen, die Mitteilung des Bildes, dies wäre aber ohne einen inneren Erlebnisvorgang im Betrachter nicht möglich. Im Gegenteil, der Betrachter selbst muss – von sich ausgehend – erst das „Leben“ und damit das „Erlebnis“ des Bildes entdecken und dies setzt Einfühlungsvermögen, Phantasie und Intellekt voraus. Den Gedanken der Aufgabe der Kunst, im Flüchtigen, Vergänglichen das Bleibende darzustellen, kann man bei Wittgenstein auf seine Sprachphilosophie übertragen: In der Philosophischen Grammatik schreibt er davon, dass wir beim wirklichen Gebrauch eines Wortes etwas Fluktuierendes sehen. Diesem Fluktuierenden in unseren Betrachtungen stellen wir nun etwas Festeres entgegen – „wie wenn man von dem sich stets veränderlichen Bild einer Landschaft ein ruhendes Abbild malt.“ (PG, III, S. 77.) Wenn wir nun die Sprache unter dem Gesichtspunkt des Spiels nach festen Regeln betrachten, so stellen wir dem fluktuierenden Gebrauch des Wortes einen andern an die Seite, indem wir einen charakteristischen Aspekt des ersten in Regeln fassen. „So könnte man sagen, der Gebrauch des Wortes ‚gut‘ (im ethischen Sinne) sei aus einer überaus großen Anzahl einander verwandter Spiele zusammengesetzt. Sozusagen Facetten des Gebrauchs. Es ist aber gerade der Zusammenhang dieser Facetten, ihre Verwandtschaft, was hier einen Begriff erzeugt.“ (PG, III, S. 77.)
Denn Denken und Sprache sind „fließende Begriffe.“ (PG, V, § 65, S. 17.)
58 Vgl. BLB, S. 268.
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Alles erhält seine Bedeutung in der konkreten Anwendung des gegenwärtigen, doch flüchtigen Augenblicks: „Das Gespräch, die Anwendung und Ausdeutung der Worte fließt dahin, und nur im Fluß hat das Wort seine Bedeutung.“59 Trotz der Betonung des gegenwärtigen Gebrauchs bleibt der Hinweis auf das Bleibende, Ewige vorhanden. Und demnach könne sich das „Sublime“, „Ätherische“ in Kunst und Philosophie – im Schreibstil oder im Baustil – zeigen. „Stil ist der Ausdruck einer allgemein menschlichen Notwendigkeit. Das gilt vom Schreibstil wie vom Baustil (und jedem anderen). Stil ist die allgemeine Notwendigkeit sub specie eterni gesehen.“ (DB, S. 28)
Dieser Eintragung aus den 1930er Jahren folgte ca. drei Monate später eine weitere Bemerkung Wittgensteins zum Begriff sub specie aeternitatis, wobei er diesen hinsichtlich der Betrachtung der Kunst sowie der Philosophie – als Weg des Gedankens, der über die Welt hinfliegt und sie so lässt, wie sie ist – erörterte.60 Die Anspielung auf eine Philosophie als schweigende – staunende – Betrachtung der Welt, ohne Eingriff durch rationale Analyse, liegt nahe. Dabei ist die ethische Komponente nach wie vor gegeben, wobei diese nicht nur im Verzicht auf Eingriff in Unantastbares, sondern auch in der Akzeptanz von Gegebenem im Sinne von Spinozas deterministischer Betrachtung der Welt zu sehen ist, worin jedoch eigentliche Freiheit liegt. Wittgenstein wies darauf schon in den Tagebüchern 1914-1916 hin – mit dem implizit enthaltenen Appell, auf einen Einfluss auf die Geschehnisse zu verzichten. (vgl. TB, 11.6.1916)
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ALS ULTIMA RATIO
Trotz Erfüllung und Freude, die Wittgenstein im Philosophieren erlebt haben mag, war die Beschäftigung mit Geistigem auch Auslöser für seine Leiden: Für die Angst, in Wahnsinn zu enden, da sein Gehirn die geistige Beanspruchung einmal
59 Zettel, § 135. 60 Vgl.: „Nun scheint mir aber, gibt es außer der Arbeit des Künstlers noch eine andere, die Welt sub specie äterni einzufangen. Es ist – glaube ich – der Weg des Gedankens der gleichsam über die Welt hinfliegt & sie so lässt wie sie ist, – sie von oben im Fluge betrachtend.“ (MS 109, 28; 22.8.1930).
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nicht mehr aushalten werde,61 die Furcht vor einem Nachlassen seiner Denkfähigkeit und seine Einsamkeit, die zuweilen an Isolation und Verstummung grenzte.62 Doch dies war notwendig – als jener „geheime Schmerz“63, den der Denkende nicht leugnen darf, um sich der Wahrheit zu nähern. Der ethische Anspruch im Schreiben bedeutet die Orientierung an absoluter Wahrhaftigkeit und die Einhaltung der Grenze vor dem, was sich nicht sagen lässt. „Was ist das, S c h w ä t z e n ? Es ist die Aufhebung der leidenschaftlichen Disjunktion zwischen Schweigen und Reden. Nur der, der wesentlich schweigen kann, kann wesentlich reden, nur der, der wesentlich schweigen kann, kann wesentlich handeln. Verschwiegenheit ist Innerlichkeit.“64
Dieses Zitat Kierkegaards trifft auf Wittgensteins Umgang mit Sprache zu – einen Umgang, der sich Satz für Satz in einem achtsamen Gebrauch des Worts zeigt, in der Vermeidung alles Überflüssigen, das als „Geschwätz“ oder „Schwefeln“ verurteilt wird. Diese Ökonomisierung von Sprache führt zu einer stilistischen Intensität, die das Wesentliche umso deutlicher hervorzuheben vermag, wobei Wittgensteins Anliegen – die Scheidung des Sagbaren von dem nur Zeigbaren – sowie sein philosophisches Ziel – das „Klarwerden von Sätzen“ – deutlich werden. Sein Streben nach „Durchsichtigkeit“, nach „Transparenz“, wird in der Sprache vollzogen. Bei allen Veränderungen im Laufe seines Philosophierens ging es ihm stets um Sprache und um Ethik, wobei diese Bereiche nicht voneinander zu trennen sind, sondern, wie erörtert, unmittelbar zusammenhängen. Trotz des Bewusstseins der Grenzen von Sprache, auf die er im Tractatus hinwies, auf anderer Ebene im Vortrag über Ethik in Zusammenhang mit der Unsinnigkeit ethischer und religiöser Ausdrücke als ein „Anrennen gegen die Wände unseres Käfigs“ bezeichnete, gab Wittgenstein es nicht auf, das Unerreichbare anzustreben. Trotz der Erfahrung der Vergeblichkeit, des Scheiterns – des Leidens –, da diese Suche nur auf einsamen Wegen stattfinden kann.
61 Vgl. DB, S. 4. 62 Vgl. Ilse Somavilla, Wittgensteins Staunen. Schweigen und Denkbewegung, in: Sandra Markewitz (Hg.), Jenseits des beredten Schweigens. Neue Perspektiven auf den sprachlosen Augenblick, Bielefeld 2013, S. 45-71. 63 Vgl. Bachmann, „Die Wahrheit ist dem Menschen zumutbar“, in: Gedichte und Erzählungen, a. a. O., S. 454. 64 Sören Kierkegaard, Kritik der Gegenwart. Übers. und mit einem Nachwort von Theodor Haecker, zweite Auflage, Innsbruck 1922, S. 49.
Über Anscombes grammatische Untersuchung „Ich“ ist kein Bezug nehmender Ausdruck
J ENS K ERTSCHER
1 Grammatische Untersuchungen erinnern an die sprachlichen Voraussetzungen typischer philosophischer Problemformulierungen. Sie machen die sprachlichen und praktischen Orientierungen bewusst, die Sprecher auf unproblematische Weise schon deshalb verstehen, weil sie eine Sprache beherrschen und mit der Vielfalt ihrer Formen praktisch vertraut sind. So sollen die Probleme verschwinden. Diese Lehre, die wir dem späten Wittgenstein verdanken, genießt in der heutigen Philosophie kein besonders hohes Ansehen. Sie steht im Ruf, die Ernsthaftigkeit philosophischer Probleme zu unterschätzen und ihre anhaltende Dringlichkeit mit einer schlichten Banalisierungsstrategie verharmlosen zu wollen. Die folgenden Überlegungen können als Plädoyer für die Produktivität von Wittgensteins Methode verstanden werden. Dazu werde ich ein philosophisch höchst relevantes Beispiel diskutieren. Es soll um die Grammatik des Ausdrucks „ich“ gehen, über die Wittgenstein immer wieder nachgedacht hat; auch hat er andere Philosophen in dieser Beziehung inspiriert. Typische philosophische Probleme im Zusammenhang mit Themen wie „Subjektivität“ oder „Selbstbewusstsein“ entstehen dadurch, dass der Gebrauch des Personalpronomens „ich“ missverstanden wird. Ein solches Missverständnis könnte darin bestehen, den Ausdruck „ich“ als Namen für eine Person oder ein „Selbst“ zu begreifen. So schreibt Wittgenstein: „‚Ich‘ benennt keine Person,
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‚hier‘ keinen Ort, ‚dieses‘ ist kein Name. Aber sie stehen mit Namen in Zusammenhang. Namen werden mittels ihrer erklärt.“ (PU 410)1 Elizabeth Anscombe, um die es neben Wittgenstein im Folgenden hauptsächlich gehen soll, hat in ihrem Aufsatz The First Person eine ganz ähnlich lautende These vertreten: „‚I‘ is neither a name nor another kind of expression whose logical role is to make a reference, at all.“2 Das klingt eigenartig, denn es scheint doch ganz selbstverständlich anzunehmen, dass sich der Studienberater des Instituts für Philosophie der TU Darmstadt mit seiner Antwort auf die Frage „wer bist Du?“ auf sich selbst bezieht, wenn er sinnvoll und wahrheitsgemäß sagt: „Ich bin der Studienberater des Instituts für Philosophie der TU Darmstadt.“ Indem er so antwortet, greift er die Person heraus, auf die das in diesem Satz Behauptete zutrifft. Wer einen solchen Satz äußert, drückt damit einen wahrheitsfähigen Gedanken aus. Welche Probleme ergeben sich aber nun, wenn man „ich“ als einen Bezug nehmenden Ausdruck versteht? Schließlich wollen weder Wittgenstein noch Anscombe bestreiten, dass Aussagen des Typs „ich bin ein Mensch“ wahr sein können; auch die Aussagen „ich bin Elizabeth Anscombe“ oder „ich bin dieses Ding hier“ können, zumindest Anscombe zufolge, wahr sein. Es handelt sich dabei aber nicht um Identitätssätze. Diese logisch-grammatische Feststellung liefert den Ausgangspunkt für ihre These, dass „ich“ kein Bezug nehmender Ausdruck ist. Anscombe problematisiert in ihrem Aufsatz einen Aspekt von Descartes’ Cogito-Argument, der in der neuzeitlichen cartesianischen bzw. empiristischen Tradition eine Reihe von Folgeproblemen nach sich gezogen hat. Das Cogito-Argument soll sichern, dass die Bezugnahme auf sich selbst mittels des Personalpronomens „ich“ die Existenz desjenigen garantiert, der auf diese Weise einen Ich-Gedanken ausdrückt: „In these writers there is the assumption that when one says ‚I‘ or ‚the mind‘, one is naming something such that the knowledge of its existence, which is a knowledge of itself as thinking in all the various modes, determines what it is that is known to exist.“3 Für diese Position ergibt sich nun das Problem, dass in ihrem Rahmen eine grammatische Eigenschaft des Ausdrucks „ich“ erstaunlicherweise nicht verständlich gemacht werden kann, nämlich
1
Auf Wittgensteins Bemerkungen zum „ich“ im Tractatus gehe ich in diesem Beitrag nicht ein. Die Philosophischen Untersuchungen werden mit der üblichen Abkürzung als PU zitiert. Das so genannte Blaue Buch als BLB.
2
Elizabeth Anscombe, The First Person, in: The Collected Papers of G.E.M. Anscombe, Vol. 2, Oxford 1981, S. 21-36, S. 32. Ich zitiere Anscombes Aufsatz im englischen Original.
3
Anscombe, The First Person, a. a. O., S. 21.
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die Immunität gegen Fehlidentifikation eines mit „ich“ bezeichneten Gegenstandes über die Zeit hinweg: „His position has, however, the intolerable difficulty of requiring an identification of the same referent in different ‚I‘-thoughts.“4 Immunität gegen Fehlidentifikation muss als ein grammatisches Merkmal des Personalpronomens der ersten Person Singular bezeichnet werden.5 So hat auch Wittgenstein in einer viel zitierten Passage aus dem Blauen Buch zwei Verwendungsweisen von „ich“ unterschieden: den Objekt- und den Subjektgebrauch. Für die erste Gebrauchsweise nennt er als Beispiele Sätze wie „mein Arm ist gebrochen“ oder „der Wind zerweht meine Haare“; für den Subjektgebrauch nennt er „ich habe Zahnschmerzen“ oder „ich denke, dass es regnen wird.“ Zur Begründung dieser Unterscheidung heißt es dann: „Die Fälle der ersten Kategorie machen es erforderlich, daß man eine bestimmte Person erkennt, und in diesen Fällen besteht die Möglichkeit des Irrtums.“ 6 Das ist beim Subjektgebrauch ausgeschlossen: „Die Frage ‚bist du sicher, daß du es bist, der Schmerzen hat?‘ wäre unsinnig.“7 Wittgenstein kommt im Anschluss daran zu Ergebnissen, die Anscombes Thesen vorweg zu nehmen scheinen: „Das Wort ‚ich‘ bedeutet nicht dasselbe wie ‚L.W.‘, selbst wenn ich ‚L.W.‘ bin, noch bedeutet es dasselbe wie der Ausdruck ‚die Person, die jetzt spricht‘. Das bedeutet jedoch nicht, daß L.W. und ‚ich‘ zwei verschiedene Dinge bedeuten. Es bedeutet nichts weiter, als daß diese Wörter verschiedene Instrumente in unserer Sprache sind.“8
4
Anscombe, a. a. O., S. 31.
5
Diese Terminologie („immunity to error through misidentification“) stammt von Shoemaker, vgl. Sidney Shoemaker, „Self-reference and Self-awareness“, in: Journal of Philosophy 65/19 (1968), S. 555-567.
6
BLB, S. 106.
7
Ebd., S. 107.
8
Ebd. Wittgenstein schließt dann wie Anscombe aus, dass „ich“ wie ein Demonstrativpronomen funktioniert. Er kommt schließlich zu dem Ergebnis, dass Descartes’ CogitoArgument eine Verwechslung des Subjekt- mit dem Objektgebrauch von „ich“ zugrunde liegt, vgl. ebd. 110. Was diesen letzten Punkt betrifft, unterscheidet sich Anscombes Argument von demjenigen Wittgensteins signifikant, wie noch deutlich werden wird. Trotzdem kann man Anscombes Aufsatz als einen Versuch interpretieren, die Konsequenzen aus Wittgensteins Unterscheidung zwischen dem Subjekt- und dem Objektgebrauch von „ich“ herauszuarbeiten.
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Wie immer Wittgensteins Untersuchung mit Anscombes Thesen zusammenhängen mag: Das systematische Problem, das sich für beide aus der Auseinandersetzung mit Descartes zu ergeben scheint, ist das Phänomen der für den Ausdruck „ich“ charakteristischen Immunität gegen Fehlidentifikation. Deren Implikationen müssen grammatisch aufgeklärt werden, um den philosophischen Irrtümern und Problemformulierungen zu entkommen, die für die „cartesianische“ Tradition so typisch sind. Die referenztheoretische Auffassung von „ich“ scheint ein Aspekt der fehlenden Übersicht zu sein, was die Grammatik von „ich“ betrifft, die sich durch diese Tradition zieht. Das ist Anscombes (und Wittgensteins) systematischer, auch unabhängig von ihrer Descartes-Kritik relevanter Punkt. Im Folgenden will ich der Frage nachgehen, wie Anscombe ihre These, wonach „ich“ kein Bezug nehmender Ausdruck sein soll, begründet. Dazu werde ich in den folgenden beiden Abschnitten Anscombes Argumentation rekonstruieren und ihren Implikationen nachgehen. Sodann werde ich ihre These im Lichte eines Versuchs, in Anlehnung an Frege „ich“ als einen Bezug nehmenden Ausdruck zu verstehen, diskutieren. Das bietet sich deshalb an, weil Anscombe von Freges Semantik ausgeht. Offensichtlich nimmt Anscombe aber auch die Unterscheidung Wittgensteins auf, die ich bereits zitiert habe. Ihre Überlegungen stimmen aber nicht in jeder Hinsicht mit denen Wittgensteins überein. Auch davon soll im Folgenden die Rede sein.9
2 In Anscombes Aufsatz sind beide Argumentationslinien – die Descartes-Kritik und die referenztheoretische Fragestellung – auf eigentümlich Weise verschränkt. Es ist dabei zunächst einmal bemerkenswert festzustellen, dass Anscombe ihre Überlegungen zum Ausdruck „ich“ im Rahmen einer an Frege orientierten Semantik entwickelt. Das heißt: Für semantische Analysen ist von der Unterscheidung
9
Eine Rekonstruktion des Zusammenhangs von Anscombes Position mit derjenigen von Wittgenstein findet sich bei Norman Malcolm, „Whether ‚I‘ is a Referring Expression“, in: Cora Diamond & Jenny Teichmann (eds.), Intention and Intentionality. Essays in Honour of G.E.M. Anscombe, Ithaca/New York 1979, S. 15-24. Die Einschränkung auf Anscombe ist für den Zusammenhang dieses Aufsatzes unumgänglich. Die Literatur zu diesem Themenfeld ist kaum zu überblicken; eine systematische Untersuchung, die alle relevanten Aspekte des Themas berücksichtigt, ist im Rahmen eines Aufsatzes nicht zu leisten.
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zwischen Sinn und Bedeutung auszugehen. Das soll auch für indexikalische Ausdrücke – typischerweise Demonstrativ- oder Personalpronomina – gelten. Diese methodische Vorentscheidung ist nicht selbstverständlich. Zum einen haben die Diskussionen nach Frege und Russell gezeigt, dass es fraglich ist, ob alle Typen von Ausdrücken neben einer Bedeutung auch einen Sinn haben. Zum anderen hat Frege, der sich selbst nur sehr beiläufig zur Semantik von indexikalischen Ausdrücken geäußert hat, eine Lösung skizziert, die sich signifikant von den Vorschlägen so genannter Neofregeaner unterscheidet.10 Anscombes Herangehensweise, wonach auch im Falle von „ich“ zunächst gefragt werden kann, was eigentlich der Sinn dieses Ausdrucks sein soll, wenn man klären will, was er bedeutet, ähnelt dementsprechend auch eher einem Vorschlag, den Gareth Evans in Bezug auf Frege, insbesondere aber auch hinsichtlich des Ausdrucks „ich“ systematisch ausgearbeitet hat.11 Bekanntlich hat Frege die Unterscheidung zwischen Sinn und Bedeutung eingeführt, um die Bedeutung von wahren, aber nicht-trivialen Identitätssätzen zu erklären. So beziehen sich die beiden Sätze (1) „der Studienberater des Instituts für Philosophie der TU Darmstadt im Sommersemester 2013“ und (2) „der Autor dieses Beitrags“ auf dieselbe Sache (Person), haben also dieselbe Bedeutung. Sie haben außerdem beide dieselbe Bedeutung wie der Eigenname „Jens Kertscher“. Die betreffende Person ist aber mit den Sätzen (1) und (2) auf verschiedene Weise gegeben. Daher haben sie auch einen unterschiedlichen Sinn. Man kann also auf einen und denselben Gegenstand auf unterschiedliche Weise (in unterschiedlichem Sinne) Bezug nehmen.12 So wird Russells Bemerkung verständlich: „[…]
10 Als Neofregeaner bezeichnet man Sprachphilosophen, die an der Unterscheidung von Sinn und Bedeutung festhalten wollen. Dazu werden üblicherweise Gareth Evans, John McDowell und Christopher Peacocke gezählt. Richtungsweisend hierfür war die FregeDeutung von Michael Dummett. Ich werde auf diese Diskussion und ihren Hintergrund noch eingehen. Freges eigene Überlegungen finden sich in Gottlob Frege, „Der Gedanke“, in: Gottlob Frege, Logische Untersuchungen, hrsg. von Günter Patzig, Göttingen 1986 (1918), S. 30-53, S. 38 f. 11 Vgl. Gareth Evans, The Varieties of Reference, ed. by John McDowell, Oxford 1982, insbesondere Kap. 1 und 7. Freilich unterscheidet sich ihre Lösung von derjenigen Evans‘. Der Grund ist, dass nach Evans der Frege’sche Sinn nicht generell mit einer Russell’schen Beschreibung identifiziert werden darf. Diese Möglichkeit erwägt Anscombe nicht. 12 Vgl. Gottlob Frege, „Über Sinn und Bedeutung“, in: Gottlob Frege, Funktion, Begriff, Bedeutung. Fünf logische Studien, hrsg. von Günter Patzig, Göttingen 1986 (1892),
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there is no backward road from denotations to meanings, because every object can be denoted by an infinite number of different denoting phrases.“13 Wenn wir also davon ausgehen, dass jede Bezugnahme durch einen Sinn vermittelt ist, kann man auch fragen, was der Sinn von „ich“ ist. Der Sinn von „ich“ muss den Sprecher in die Lage versetzen, sich mit diesem Ausdruck auf sich selbst zu beziehen (was immer das heißen mag), und zwar so, dass Fehlidentifikation ausgeschlossen wird. Anscombes erster Argumentationsgang läuft nun folgendermaßen: Wenn man davon ausgeht, dass mit „ich“ eine Beschreibung verbunden werden muss, damit der Selbstbezug gelingt, dann kann Fehlidentifikation gerade nicht ausgeschlossen werden. Das gilt sowohl für Ansätze, die „ich“ der Semantik von Eigennamen angleichen, als auch für solche, die es der Semantik von Demonstrativpronomina angleichen. Man sollte an dieser Stelle zunächst einen Schritt zurückgehen und fragen, warum Anscombe der Auffassung ist, dass eine Erklärung der bezugnehmenden Funktion von „ich“ auf diese fregeanisch-deskriptivistische Modellierung angewiesen ist. Der Grund ist, dass der Versuch, die bezugnehmende Funktion von „ich“ durch eine bloß funktionale Bestimmung der Art „ich = das Wort, das jeder gebraucht, um von sich selbst zu sprechen“ am Problem der Fehlidentifikation scheitert. Sich auf sich selbst zu beziehen, ist nämlich damit verträglich, dass der Sprecher nicht weiß, dass der Gegenstand, von dem er spricht, er selber ist.14 Es reicht also nicht zu wissen, worauf eine Person sich bezieht, wenn sie „ich“ sagt, sondern es muss auch gesichert sein, dass die Person selber weiß, worauf sie sich in diesem Fall bezieht. Die Frage ist also, was die Person in diesem Fall wissen
S. 40-65, S. 40 ff. Im Sinn, schreibt Frege, ist „die Art des Gegebenseins enthalten“ (ebd., S. 41). 13 Bertrand Russell, „On Denoting“, in: Mind. New Series 14/56 (1905), S. 479-493, S. 487. Eigentümlicherweise schreibt Anscombe diese Bemerkung Frege zu (Anscombe, The First Person, a. a. O., S. 23). Das mag ein zufälliger Irrtum sein. Es kann aber auch ein Hinweis darauf sein, dass Anscombe hier einer gängigen von Russell geprägten Frege-Deutung folgt, wonach der Sinn eines Ausdrucks eine Rusell’sche Beschreibung ist. Diese generalisierte deskriptivistische Semantik führt bei einer bestimmten Klasse von Ausdrücken, vor allem Eigennamen und indexikalischen Ausdrücken zu Problemen, die zur Entwicklung von kausalen Theorien der Bedeutung und zu Theorien direkter Referenz geführt haben. Man kann also die Frage stellen, ob Anscombes These von dieser Frege-Deutung abhängt. Darauf wird zurückzukommen sein. 14 Vgl. Elizabeth Anscombe, The First Person, a. a. O., S. 22: „When John Smith spoke of John Horatio Auberon Smith (named in a will perhaps) he was speaking of himself, but he did not know this.“
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muss, um zu wissen, dass sie sich auf sich bezieht. Und damit sind wir bei der Unterscheidung Freges angelangt: Es muss die Frage beantwortet werden können, was der Sinn von „ich“ ist, so dass der einzige im Gebrauch von „ich“ identifizierte Gegenstand identisch mit dem Sprecher ist. Es fragt sich allerdings, ob diese Argumentation ausreicht, um zu zeigen, dass die Unterscheidung von Sinn und Bedeutung auch für die Erklärung der Semantik von „ich“ unverzichtbar ist. Auf diese Frage wird noch zurückzukommen sein. Um Anscombes weiteren Gedankengang zu verstehen, soll jedoch zunächst diese Voraussetzung zugestanden werden. Funktioniert „ich“ also wie ein Eigenname? Die Fähigkeit, einen Eigennamen korrekt zu gebrauchen, ist verbunden mit dem Besitz eines Begriffs, der es erlaubt, den Bezugsgegenstand des fraglichen Namens zu identifizieren.15 Wer auf einen Gegenstand Bezug nehmen will, muss wissen, um was für einen Gegenstand es sich handelt. Anders formuliert: er muss über einen Begriff dieses Gegenstandes verfügen. Um mich auf die Stadt „Chicago“ beziehen zu können, so Anscombes Beispiel, muss ich über den Begriff „Stadt“ verfügen, zudem muss ich noch wissen, was für eine Stadt Chicago ist.16 Es geht bei Eigennamen demnach nicht bloß um eine die Person spezifizierende Beschreibung ((3) Paul = dieser Φer oder jener Ψer), sondern es ist ein die Identifizierung ermöglichender sortaler Begriff erforderlich.17 Das wäre im Falle von (3) „Mensch“ und – wie bereits erwähnt – im Falle von Chicago „Stadt“.18 Genau in diesem Sinne müssen wir also fragen, welcher Begriff sich für jeden Sprecher mit dem Gebrauch von „ich“ verknüpfen lassen könnte. Einen solchen Begriff gibt es nach Anscombe aber nicht: „That is why some philosophers have elaborated the notion of ‚selves‘ (or ‚persons‘ defined in terms of self-consciousness) and conducted investigations to see what such things may be. And just as we must be continuing our reference to the same city as we if we continue
15 Vgl. ebd., S. 26. 16 „Chicago“ ist nicht nur der Name einer Stadt (im Allgemeinen), sondern auch der Namen für eine ganz bestimmte Stadt. Für diese Unterscheidung vgl. Peter Thomas Geach, Reference and Generality. An Examination of Some Medieval and Modern Theories, Ithaca/London 1980, S. 70. 17 Vgl. Peter Frederick Strawson, Individuals. An Essay in Descriptive Metaphysics, London 1959, S. 168: „A sortal universal supplies a principle for distinguishing and counting individual particulars which it collects.“ 18 Zur erfolgreichen Identifizierung ist der sortale Begriff freilich nicht hinreichend, sondern es muss noch eine spezifizierende Beschreibung hinzutreten (Chicago = die drittgrößte Stadt der USA; Paul = der beste Schwimmer seines Jahrgangs).
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to use ‚London‘ with the same reference, so we must each of us be continuing our reference to the same self (or ‚person‘ if we continue to use ‚I‘ with the same reference.“ (Anscombe 1981, 26)
Die Rede von einem „Selbst“ lässt sich also als Hypostasierung aufdecken, die durch die Angleichung der Semantik von „ich“ an Eigennamen nahe gelegt wird. Dieser unangenehmen Konsequenz könnte man entgehen, indem man „ich“ als Demonstrativpronomen versteht. Logisch funktionieren Demonstrativa wie Namen. Tatsächlich sind sie aber keine, denn sie zeigen eine Bezugnahme auf Einzelnes an. Das ändert allerdings nichts daran, dass auch Demonstrativa einen Begriff für den angezeigten Gegenstand erfordern.19 Wer einen demonstrativen Gedanken denken oder ausdrücken will, muss wissen, auf was für eine Art Gegenstand er sich bezieht. Die Frage „dieses was?“ kann immer sinnvoll gestellt werden.20 Das verdeutlicht aber auch, dass Demonstrativa ihren Bezugsgegenstand verfehlen können: „Someone comes with a box and says ‚This is all that is left of poor Jones.‘ The answer to ‚this what?‘ is ‚this parcel of ashes‘; but unknown to the speaker the box is empty. What ‚this‘ has to have, if used correctly, is something that it latches on to (as I will put it): in the example it is the box. In another example it might be an optical presentation.“ (Ebd., 28)
Dieses Beispiel zeigt, dass Demonstrativa nicht immun gegen Fehlidentifikation sind, so dass sie ebenso wenig wie Eigennamen als Modell für die Möglichkeit der Bezugnahme mit „ich“ dienen können. Anscombe schließt hier noch eine weitere Überlegung an: Wenn „ich“ wie ein Demonstrativpronomen Bezug nehmen würde, dann müsste es ein ganz besonderes Demonstrativpronomen sein, nämlich eines, das immun gegen Fehlidentifikation ist. Das wäre wiederum nur dann möglich, wenn es zugleich die Anwesenheit, ja sogar die Existenz des Bezugsgegenstandes garantieren würde. „Ich“ würde dann bedeuten: „der Denker dieser Gedanken.“ Auf die Frage „dieser was?“ könnte man dann antworten: „Dieser Gedanken.“ Anders als im Fall der Asche des armen Jones könnte man die Existenz des „Denkers dieser Gedanken“ nicht anzweifeln, denn es kann kein Denken ohne Denkenden geben. Nun fragt sich aber, welcher sortale Begriff mit dem Terminus „Denker“ verknüpft ist. Ein formales Schema wie „ein so und so (z. B. ein
19 Vgl. Anscombe, The First Person, a. a. O., S. 27. 20 Ebd., S. 27 f.: „Thus a singular demonstrative, used correctly, does provide us with a logical subject so long as it does not lack a ‚bearer‘ or ‚referent‘, and so it conforms to the logician’s requirement for a name.“
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Mensch), das denkt“ kommt nicht in Frage, da der dazugehörige sortale Begriff („ein so und so“ (z. B. ein Mensch) wiederum nicht immun gegen Fehlidentifikation wäre. Der gesuchte Denker entpuppt sich als das Cartesische Ego: „Thus we discover that if ‚I‘ is a referring expression, then Descartes was right about what the referent was.“ (Ebd., 31) Wenn „ich“ also ein Bezug nehmender Ausdruck wäre, dann wäre Descartes’ Lösung immerhin die konsequenteste und plausibelste. Wie schon erwähnt, kommt aber auch Descartes mit dem Problem der Immunität gegen Fehlidentifikation nicht klar, und zwar, wie man nun genauer festhalten kann, ganz besonders in Bezug auf die Reidentifikation eines mit „Ich“ bezeichneten Gegenstandes über die Zeit hinweg. Seine äußerst konsequente Theorie bietet also ebenfalls keine zufrieden stellende Erklärung dafür, worauf sich der Ausdruck „ich“ bezieht. Das Problem bleibt auch dann bestehen, wenn man es unabhängig von der Diskussion um Descartes‘ Ego betrachtet. Es könnte nun zunächst so aussehen, als stelle sich dieses Problem dann gar nicht erst, denn Descartes‘ Lösung muss vor dem Hintergrund des methodischen Zweifels verstanden werden. Unabhängig davon scheint es nicht sinnvoll zu sein, an der Existenz des eigenen Körpers zu zweifeln, wenn man unterstellen würde, dass „ich“ einfach „dieser Körper“ bedeutet. Wittgensteins Bemerkungen zum Objektgebrauch von „ich“ könnte man dagegen als Fehlidentifikationen unter der Voraussetzung anführen, dass „ich“ soviel wie „dieser Körper“ bedeutet. Da Anscombe nun diese Fälle ausschließen will, muss sie noch ein anderes, von ihrer Descartes-Kritik unabhängiges Argument liefern. Sie tut das in Form eines Gedankenexperiments: „And now imagine that I get into a state of ‚sensory deprivation.‘ Sight is cut off, and I am locally anaesthetized everywhere, perhaps floated in a tank of trepid water; I am unable to speak, or to touch any part of my body with any other. Now I tell myself ‚I won’t let this happen again!‘ If the object meant by ‚I‘ is this body, this human being, then in those circumstances it won’t be present to my senses; and how else can it be ‚present to‘ me? But have I lost what I mean by ‚I‘? Is that not present to me?“21
Die Antwort kann nur lauten: Nein. Im Gegensatz zu meinem Gebrauch von „dieser Körper“ ist mein Gebrauch von „ich“ sicher, daher kann das eine nicht das andere bedeuten. Wenn ich meiner Sinneswahrnehmung beraubt bin, gibt es nichts, also auch keinen „Körper“, woran sich das Demonstrativum gleichsam „anheften“ (latch on) könnte. Und das würde wiederum heißen, dass eine Aussage
21 Ebd., S. 31.
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„es gibt nichts, das ich bin“ wahr sein könnte.22 Auch das Gedankenexperiment bestätigt also die These, dass „ich“ kein Bezug nehmender Ausdruck ist.
3 Da es möglich ist, eine Situation zu konstruieren, wonach die Aussage „Ich bin dieser Körper“ nicht wahr ist, sind Aussagen des Typs „ich bin dieser Körper“ oder „ich bin XYZ“ keine Identitätssätze.23 Was für eine Art Sätze sind sie dann? Diese Frage erlaubt es, darauf einzugehen, wie Anscombes eigene Auffassung zur Bedeutung von „ich“ aussieht, nachdem sie nun ausgeschlossen hat, dass es sich um einen Bezug nehmenden Ausdruck handeln soll. Eine Antwort deutet sich in folgender Passage an: „It means: this thing here is the thing, the person (in the ‚offences against the person‘ sense) of whose action this idea of action is an idea, of whose movements these ideas of movements are ideas, of whose posture this idea of posture is the idea. And also, of which these intended actions, if carried out, will be the actions.“24
Nach allem, was bisher herausgearbeitet wurde, muss diese Auskunft erstaunen. Denn Anscombe hatte doch eindringlich dafür argumentiert, dass Aussagen wie „ich bin dieses Ding“ nicht immun gegen Fehlidentifikation sind. Nun behauptet sie, dass „ich bin dieses Ding“: „diejenige Person, von deren Handlung diese Idee einer Handlung eine Idee ist usw.“ bedeutet. Die behauptete Bedeutungsrelation kann wohl nicht im Sinne einer Definition verstanden werden, denn beide Ausdrücke lassen sich nicht salva veritate austauschen. Um zu verstehen, was die von Anscombe angebotene Erläuterung für „ich bin dieses Ding“ auszeichnet, muss man sich klarmachen, was einen solchen Satz („ich bin dieses Ding hier“) wahr macht. Es ist die Tatsache, dass dieses Ding diese Person ist. Es handelt sich dabei allerdings nicht um eine Wahrheit, die ich durch Beobachtung zu verifizieren vermag: „But observation does not show me which body is the one“25 – und hier kann
22 Ebd., S. 34. Die Aussage „es gibt nichts, das ich bin“ sollte hier so verstanden werden, dass aus ihr folgt: Es ist möglich, dass keine Aussage des Typs „ich bin x“ wahr ist. Genau das sollte das Gedankenexperiment zeigen. 23 Vgl. Anscombe, The First Person, a. a. O., S. 33. 24 Ebd. 25 Ebd., S. 34.
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man ergänzen: der meine Ich-Gedanken wahr macht. Nicht beobachtungsbedingtes Wissen haben wir von unseren eigenen Bewegungen oder der Lage unserer Körperteile.26 Ich weiß beispielsweise nicht durch Beobachtung, dass ich gerade an meinem Schreibtisch sitze und schreibe. Die entscheidende Frage ist hier aber nicht nur, woher ich weiß, dass ich gerade schreibe, sondern vielmehr, woher ich weiß, dass es mein Körper ist, der schreibt, wenn der Gedanke „ich schreibe gerade“ wahr sein soll. Dazu Anscombe: „There is the question: in happenings, events, etc. concerning what objects are these verified or falsified? The answer is ordinarily easy to give because I can observe, and can point to, my body; I can also feel one part of it with another. ‚This body is my body‘ then means ‚my idea that I am standing up is verified by this body, if it is standing up‘. And so on. But observation does not show me which body is the one. Nothing shows me that.“27
Diese Bemerkung zielt auf die Reflexivität von „ich.“ Die Antwort auf die Frage, welcher Körper denn aufstehen muss, damit ich es bin, der steht, wird davon abhängen, woran sich das „dieser“ in der selbstverständlichen Antwort „dieser Körper“, wobei ich auf mich selbst zeige, „heften“ (to latch on) kann. Die Beschreibung des Vorgangs verweist auf den Sinn der Antwort: Indem ich bei der Antwort auf diese Frage genau das tue, nämlich aufstehen, indem ich auf mich zeige, fällt das, worauf sich „ich“ bezieht, mit dem zusammen, woran sich das Demonstrativum heftet. Eine Fehlidentifikation, die es nötigen würde, „ich“ und „dieser Körper“ zu trennen scheint hier ausgeschlossen. Nicht ausgeschlossen ist allerdings, dass der Ausdruck „dieser Körper“ keinen Bezug hat, z. B. dann, wenn „ich“ meiner sinnlichen Wahrnehmung beraubt bin. Vor dem Hintergrund dieser Überlegung scheint es plausibel, wenn Anscombe behauptet, dass die Aussage „dieser Körper ist mein Körper“ erläutert werden kann durch: „Meine Idee, dass ich aufstehe wird verifiziert durch diesen Körper, sofern er aufsteht.“ „Aufstehen“ ist eine Handlungsform, genauso wie „auf etwas zeigen.“ Beide werden vom Handelnden aus seiner eigenen erstpersonalen Perspektive ohne Beobachtung gewusst. Diese Tatsache liefert einen Grund dafür, dass auch mein Wissen, wonach es mein Körper ist, der aufstehen muss, damit ich es bin, der aufsteht, seinerseits nicht auf Beobachtung beruht. Es scheint daher auch seltsam, weiter fragen zu wollen, ob man gelernt haben muss, dass es dieser Körper ist, auf den ich zeigen muss, wenn ich auf mich selbst zeige. Was allerdings gelernt oder jeweils erst herausgefunden werden muss, ist, was mein Name
26 Vgl. Elizabeth Anscombe, Intention, Cambridge/Mass. 1957, S. 13 ff. 27 Ebd., S. 33 f.
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ist oder, dass das Ding, das ich bin, ein Mensch ist: „These I-thoughts (allow me to pause and think some!) … are unmediated conceptions (knowledge or belief, true or false) of states, motions, etc. of this object here, about which I can find out (if I don’t know it) that it is E.A. about which I did learn that it is a human being.“28 „Ich bin XYZ“ und „ich bin ein Mensch“ fallen nicht unter dieselbe Kategorie wie „ich bin dieses Ding.“ Ich lerne nicht oder beobachte nicht, dass ich dieses Ding bin. Ich bin überhaupt kein Ding. Dagegen muss ich sehr wohl lernen, was ein Mensch ist, was ein menschlicher Körper ist und dass ich dieser besondere Mensch namens XYZ bin. Habe ich es aber einmal gelernt, benötige ich keine zusätzlichen Belege, um zu einem bestimmten Zeitpunkt sinnvoll sagen zu können, dass es dieser Körper sein muss, der aufstehen muss, wenn ich es bin, der aufsteht. Eine andere Kategorie heißt also, um es noch einmal zu betonen: Ich ist kein Name – und das passt zu Anscombes kritischen Ausführungen zur Semantik von „ich“: „These I-thoughts are examples of reflective consciousness of states, actions, motions, etc., not of an object I mean by ‚I‘, but of this body.“29 Die hier angesprochene Reflexivität des Ausdrucks „ich“ erweist sich als eine grammatische Eigenschaft von „ich“; um Ich-Gedanken ausdrücken zu können, ist es durchaus erforderlich, verschiedene sortale Begriffe erworben zu haben (u. a. den des Menschen). Der gelingende Gebrauch von „ich“ hängt aber nicht von einem bestimmten sortalen Begriff ab, der den Ausdruck „ich“ mit mir selbst als Bezugsgegenstand verknüpft. Anscombe löst den sortalen Begriff, der den Sinn von „ich“ ausmachen kann, von den verschiedenen konkreten Sprechakten oder Instanzen von Ich-Gedanken, die den Gebrauch dieses Ausdrucks konstituieren. Die Antwort „ich bin ein Mensch“ auf die Frage, wer ich denn nun bin, ist demnach zwar genauso selbstverständlich wie die Antwort „eine Stadt“ auf die Frage, „was ist Chicago?“ Sie ist aber nicht deshalb selbstverständlich, weil mit dem Ausdruck „ich“ ein sortaler Begriff verknüpft ist, der den Sprecher zum Bezugsgegenstand führt, also wie ein Frege’scher Sinn funktioniert, sondern weil ich ein Mensch bin, der gelernt hat, den Ausdruck „ich“ zu gebrauchen. Meine Ich-Gedanken werden durch die Tatsachen über den Menschen wahr gemacht, der ich bin (XYZ = dieser Φer und jener Ψer usw.) und in deren Licht ich mich selbst beschreiben kann. Die Wahrheit von solchen Aussagen bzw. Gedanken muss ich lernen bzw. erwerben. Ich erwerbe sie aber nicht in dem Sinne, wie ich lerne, dass es wahr ist, dass ich dieser Mensch bin, so dass ich mich fortan erfolgreich mit einem Ich-Gedanken auf mich selbst beziehen kann.
28 Ebd., S. 34. 29 Ebd.
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4 Anscombes eigene Position hängt, wenn diese Interpretation plausibel ist, wesentlich davon ab, dass der Gebrauch von „ich“ von einem bestimmten sortalen Begriff abgelöst wird, der den Ausdruck „ich“ mit einem Bezugsgegenstand vermittelt. „Ich“ ist kein Bezug nehmender Ausdruck. Diese Position ist ungewöhnlich genug und wirft einige Fragen auf. Sie zu diskutieren, wird helfen, diese eigentümliche Abgrenzung besser zu verstehen. Eine Reihe von Fragen, das hatte ich bereits angedeutet, richten sich an Anscombes Fregeanische Voraussetzung, dass auch bei einem Ausdruck wie „ich“ zwischen Sinn und Bedeutung zu unterscheiden ist. Wenn sich diese Annahme nicht halten lässt, würde Anscombes These, wonach „ich“ kein Bezug nehmender Ausdruck ist, eine Grundlage verlieren. Anscombes Argumente sollen jeden Versuch abweisen, „ich“ nach dem Vorbild Bezug nehmender Ausdrücke zu modellieren. Wie immer man die Bezug nehmende Funktion von „ich“ rekonstruiert, keinem dieser Vorschläge gelingt es, eine solche Funktion wirklich verständlich zu machen. Wir haben es anscheinend mit einer anderen Grammatik zu tun als der von Bezug nehmenden Ausdrücken. Anscombe geht so vor, dass sie diesen grammatischen Unterschied an der Fregeanischen Semantik aufweist. Eine Möglichkeit, den Bezug von „ich“ festzulegen, könnte darin bestehen, eine Gebrauchsregel zu unterstellen, die Sprecher beherrschen müssen. Einen Vorschlag für einen solchen Regelausdruck für „ich“ schreibt Anscombe einem imaginierten Logiker zu: „To point this up, let me imagine a logician, for whom the syntactical character of ‚I‘ as a proper name is quite sufficient to guarantee the existence of the object it names […]. ‚I‘ is a name governed by the following rule: ‚If X makes assertions with „I“ as subject, then those assertions will be true if and only if the predicates used thus assertively are true of X.‘“30
Es handelt sich bei diesem Vorschlag um den Idealtypus eines wahrheitskonditionalen Ansatzes, da der Bezug von „ich“ im Hinblick auf den Beitrag bestimmt werden soll, den dieser Ausdruck zu den Wahrheitsbedingungen des Satzes leistet, in dem er vorkommt. Gestützt wird dieses Modell durch eine weitere Überlegung, die die Angleichung von „ich“ an die Semantik von Eigennamen rechtfertigen könnte. Eine logische Eigenschaft von Eigennamen besteht nämlich darin, dass man aus Sätzen, in denen sie vorkommen, Sätze ableiten kann, in denen sie salva
30 Ebd., S. 29.
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veritate durch „jemand“ bzw. „etwas“ ersetzt wurden.31 In der Tat kann man nach diesem Kriterium von „ich habe Hunger“ auf „jemand hat Hunger“ schließen, so wie man von „Paul hat Hunger“ auf „jemand hat Hunger“ schließen kann. Man könnte dann sogar folgenden gültigen Schluss ziehen: „Wenn ich Hunger habe und ich Paul bin, dann hat Paul Hunger“, wobei hier unterstellt ist, dass „Ich“ und „Paul“ tatsächlich co-referenzielle Ausdrücke sind. Und das würde wiederum heißen, dass der Satz „ich bin Paul“ ein Identitätssatz wäre. Wenn nun solche inferenziellen Eigenschaften hinreichend wären, um den Sinn von „ich“ zu erfassen, dann könnte man diesen Ausdruck nicht nur der Semantik von Eigennamen angleichen, man könnte darüber hinaus auf die Bestimmung eines vermittelnden sortalen Begriffs verzichten. Die wahrheitskonditionale Regel wäre hinreichend. Das Problem ist aber, dass diese Regel das nicht leistet. Selbst wenn man zugestehen würde, dass sie den Bezugsgegenstand determinieren kann, dann leistet sie das für den Sinn von „ich“ gerade nicht, denn, wie Anscombe mit Russells (bzw. Freges) Slogan betont, führt kein Weg von der Bedeutung zum Sinn. Gerade weil diese Regel allenfalls den Bezug von „ich“ determiniert, bestimmt sie seinen Sinn nicht. Dieses Ergebnis gilt natürlich nur unter der Voraussetzung, dass man die Unterscheidung von Sinn und Bedeutung für unverzichtbar hält. Lässt man diese Voraussetzung fallen und löst sich vom Frege-Russell’schen Rahmen, hätte man vielleicht doch ein elegantes Modell, das zudem die Aussicht bietet, das Problem der Immunität gegen Fehlidentifikation zu lösen. Der Verzicht auf die Unterscheidung zwischen Sinn und Bedeutung wäre dagegen nur ein geringfügiger Nachteil. Anscombes Punkt war aber, dass das wahrheitskonditionale Modell gerade auch am Problem der Immunität gegen Fehlidentifikation scheitert. So ist es zwar für die Wahrheit des Satzes „ich bin F“ notwendig, dass die Person, die diesen Satz ausspricht, tatsächlich existiert und dass sie somit der Bezugsgegenstand von „ich“ ist. Diese Bedingung ist aber nicht hinreichend. Wer nämlich „ich bin F“ ausspricht, kann sich darin irren, F zu sein. Die fragliche Person müsste darüber hinaus beabsichtigen, sich mit „ich“ auf sich selbst zu beziehen. Nach der wahrheitskonditionalen Regel ist es nicht ausgeschlossen, dass diese Bedingung nicht erfüllt ist. Sie muss aber erfüllt sein, wenn man mit „ich“ erfolgreich (auf sich selbst) Bezug nehmen will. Wer sich auf sich selbst bezieht, bezieht sich auf sich als auf sich. Selbst wenn man also die Richtigkeit der wahrheitskonditionalen Regel akzeptieren würde, hätte man weder eine zufriedenstellende Auskunft über den Sinn
31 Vgl. Michael Dummett, Frege. Philosophy of Language, Cambridge/Mass. 1981, S. 59: „[R]oughly speaking, it is a necessary condition for an expression ‚a‘ to be a proper name that it should be possible to infer from a sentence containing it the result of replacing in that sentence the expression ‚a‘ by the word ‚something‘.“
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von „ich“ noch würde sie ausreichen, um den Bezug von „ich“ festzulegen. Diese Argumentation wird durch eine weitere, allerdings entscheidende Überlegung gestützt: Im Regelausdruck „im Satz ‚ich bin F‘ bezieht sich der Sprecher mit ‚ich‘ selbstverständlich auf sich selbst“ funktioniert das Reflexivpronomen („sich selbst“) nicht wie ein gewöhnliches Reflexivpronomen, sondern im Sinne des „indirekten Reflexivs.“32 Es kann also nur verstanden werden mit Bezug auf sein in direkter Rede gebrauchtes Äquivalent „ich“. Wenn wir also sagen, dass ein Sprecher beabsichtigt, sich auf sich selbst zu beziehen, dann ist „sich selbst“ im Sinne eines indirekten Reflexivpronomens gemeint. Die wahrheitskonditionale Regel deckt diesen Fall nicht ab. Der Selbstbezug entspricht hier nämlich nur dem gewöhnlichen Reflexivpronomen. Nach dieser Analyse scheint eine Absicht, sich auf sich selbst zu beziehen, für den Gebrauch von „ich“ notwendig zu sein. Um erfolgreich eine Behauptung zu machen, muss ein Sprecher über ein sprachliches Hintergrundwissen verfügen, zu dem auch die Fähigkeit gehört, Absichten verschiedener Art zu formulieren. Zu diesem Hintergrundwissen gehören ferner die Bedingungen für die Beherrschung des Personalpronomens „ich.“ Jemand, der „ich bin F“ äußert, spricht aus der Perspektive der ersten Person, d. h. er bezieht sich auf sich als sich. Anscombe nennt hierfür das entscheidende Kriterium: „Selbstbewusstsein.“ (Ebd., 24 ff.) Nur ein Wesen, das über Selbstbewusstsein verfügt, kann sinnvoll „ich“ sagen. Nach ihrer Darstellung gehört zu Selbstbewusstsein die Fähigkeit, unvermittelte Vorstelllungen von Handlungen oder Zuständen zu haben, aber auch die Fähigkeit, sich auf sich selbst im Sinne des indirekten Reflexivs beziehen zu können, so dass die Aussage „ich bin F“ wahr von einem selbst ist. Das alles ist aber nur verständlich, wenn Aussagen in der ersten Person nicht die Funktion haben, eine bestimmte Person als Gegenstand unter anderen Gegenständen herauszugreifen. Die Absicht, etwas wahrheitsgemäß über sich selbst auszusagen, ist etwas anderes als sich auf eine Person als einen Gegenstand zu beziehen. Für das Personalpronomen „ich“ gilt eine andere logische Grammatik als für Bezug nehmende Ausdrücke wie Eigennamen oder Demonstrativpronomina, auch wenn sich oberflächengrammatisch eine Angleichung daran nahe legt. Der grammatische Hinweis auf Absichten sollte daher auch nicht als Psychologismus missverstanden werden: Intentionen sind Beschreibungsformen und damit ebenso wenig etwas „Privates“ wie es sprachliche Bedeutungen sind.33 Um es also noch einmal zusammenzufassen:
32 Vgl. Anscombe, The First Person, a. a. O., S. 22. 33 Zu Intentionen als Beschreibungsformen vgl. Anscombe, Intention, a. a. O., S. 84 f. Ich kann diesen Punkt hier nicht vertiefen. Wenn man an die Attraktivität denkt, die kausale Theorien der Referenz seit den 1970er Jahren bekommen haben, ist es bemerkenswert,
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Wenn wir die Grammatik von „ich“ untersuchen, kommen wir nicht daran vorbei, nach dem Sinn von „ich“ zu fragen. Es erweist sich dann allerdings, dass der Sinn von „ich“ einer anderen Grammatik folgt als derjenigen von Bezug nehmenden Ausdrücken. Damit verlässt Anscombe allerdings den Boden von Freges Semantik. Sie fungierte in ihrer Untersuchung gleichsam wie eine Leiter, die man abwerfen muss, nachdem man auf sie hinaufgestiegen ist und die Grammatik von „ich“ verstanden hat. Das wirft aber noch einmal die Frage auf, ob Freges eigener Ansatz nicht ausreicht, um die Semantik von „ich“ zu rekonstruieren.
5 Frege hat sich nicht ausführlich mit dieser Thematik befasst. Sein Paradigma sind bekanntlich ewige und zeitlose Sätze, deren Sinn ein Gedanke ist. In seinem späten Aufsatz Der Gedanke findet sich eine der wenigen Passagen, in denen er sich mit indexikalischen Ausdrücken und in der ersten Person formulierten Gedanken auseinandersetzt. Frege diskutiert dort zunächst Dimensionen des Satzsinnes, die nicht zum Inhalt selbst gehören, z. B. das, was er die „Färbung“ nennt.34 Für solche Fälle gilt, dass der Inhalt des Satzes den in ihm ausgedrückten Gedanken „überragt“.35 Es kommt aber auch der umgekehrte Fall vor, nämlich, dass „der bloße Wortlaut, welcher durch die Schrift oder den Phonografen festgehalten werden kann, zum Ausdruck des Gedankens nicht hinreicht“.36 Ein Beispiel wäre ein Satz wie „heute regnet es in Heidelberg.“ Ein solcher Satz drückt nach Frege nur dann einen vollständigen Gedanken aus, wenn er durch einen Zeitpunkt spezifiziert wird. Nur dann kann der Satz wahr oder falsch sein, also einen Gedanken ausdrücken. Auch Sätze, in denen indexikalische Ausdrücke oder „ich“ vorkommen, müssen demnach als unvollständig begriffen werden, denn der „gleiche das Wort ‚Ich‘ enthaltende Wortlaut wird im Munde verschiedener Menschen verschiedene
dass Kripke ausdrücklich eine Absicht, einen Namen auf gleiche Weise zu verwenden, für notwendig erklärt (vgl. Saul Kripke, Naming and Necessity, Oxford 1981, S. 96). Mit diesem Zugeständnis bekommt seine kausale Theorie der Bezugnahme einen gebrauchstheoretischen Zug. Nach Anscombes Analyse von „ich“ verbindet sich mit diesem Ausdruck jedenfalls weniger eine Absicht, sich auf sich selbst zu beziehen, als vielmehr die Absicht, etwas Wahrheitsgemäßes über sich selbst zu sagen. 34 Vgl. Gottlob Frege, Der Gedanke, a. a. O, S. 36 f. 35 Ebd., S. 37. 36 Ebd.
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Gedanken ausdrücken, von denen einige wahr, andere falsch sein können.“37 Sätze wie „ich bin verwundet worden“ (so Freges eigenes Beispiel) oder gar „ich habe Schmerzen“ stellen seine Konzeption vor einige Schwierigkeiten: Aufgrund der Indexikalität ist der Satz nicht ewig; er handelt von einem Subjekt in einer nur diesem Subjekt zugänglichen Weise der Bezugnahme; er ist auch nur demjenigen verständlich, der ihn verwendet (jedenfalls scheint Frege das anzunehmen), und es gibt Fälle, bei denen er von einer subjektiven Befindlichkeit (Schmerzen) handeln kann. Dieser letzte Punkt kann entschärft werden, wenn man zwischen objektiver Wahrheit und intersubjektiver Verifikation unterscheidet. Dann kann man behaupten, dass der Satz „Dr. Lauben hatte am 1. März 1918 um 14 Uhr Schmerzen“ einen objektiv wahrheitsfähigen Gedanken ausdrückt, auch wenn ihn möglicherweise nur eine einzige Person verifizieren kann.38 Wie geht Frege aber mit den anderen Punkten um? Seine Lösung für das Problem der Indexikalität sieht so aus, dass der Äußerungskontext hinzukommen muss, um den Gedanken zu vervollständigen. Schauen wir uns noch einmal das Beispiel des Satzes „heute regnet es in Heidelberg“ an. Frege schreibt dazu: „Wenn mit dem Praesens eine Zeitangabe gemacht werden soll, muß man wissen, wann der Satz ausgesprochen worden ist, um den Gedanken richtig aufzufassen. Dann ist also die Zeit des Sprechens Teil des Gedankenausdrucks.“39 Der Satz „heute regnet es in Heidelberg“ drückt keinen vollständigen Gedanken aus, denn es ist unklar, auf welchen Tag sich „heute“ bezieht. Zur Vervollständigung des Gedankens gehört also nicht nur der Satz, sondern auch ein Zeitpunkt. Saul Kripke schlägt vor, den tatsächlichen und im strengen Sinne vollständigen Gedankenausdruck als ein geordnetes Paar < S, t > zu begreifen, wobei t der Zeitpunkt der Äußerung ist und S der sprachliche Äußerungstyp, z. B. „es regnet heute in Heidelberg.“40 Fragt man nun, worauf sich „t“ bezieht, dann lautet die Antwort nach Kripkes Interpretation: Es bezieht sich autonym auf sich selbst.41 Führt man diese Überlegung weiter und überträgt sie auf „ich“, dann kann der Satz „ich habe Schmerzen“ ebenfalls
37 Ebd., S. 38. 38 So Andreas Kemmerling, „Frege über den Sinn des Wortes ‚ich‘“, in: Grazer Philosophische Studien 51 (1996), S. 1-22, S. 9. 39 Gottlob Frege, Der Gedanke, a. a. O., S. 37 f. 40 Vgl. Saul A. Kripke, „Frege’s Theory of Sense and Reference: Some Exegetical Notes“, in: Theoria 74 (2008), S. 181-218, S. 201 ff. 41 Dazu Kripke, a. a. O., S. 202: „[I]f uttered with the ordinary present-tense ‚is’, the completion is the time of utterance used autonymously. It therefore stands in place of a specific date and time, or definite description […], which are conventional pieces of language.“ Der Sprecher muss mit dem Zeitpunkt bekannt sein, aber ebenso mit dem
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als ein geordnetes Paar dargestellt werden, bestehend aus dem sprachlichen Ausdruck und einem Subjekt, nämlich dasjenige, das den Satz äußert: < S, s >. Nach Kripke muss das Subjekt selbst Teil des Satzes sein; der sprachliche Ausdruck ist ein unvollständiges, von Menschen auszusagendes Prädikat: „‚I‘ must denote a function, mapping each person to herself (himself), just as ‚now‘ functions for times. And the sense of the corresponding complete thought is one given by autonymous designation, just as in the tensed case. Only here it is the subject who is the autonymous designator.“42 Vor diesem Hintergrund interpretiert Kripke auch die Bemerkung Freges, wonach „jeder sich selbst in einer besonderen und ursprünglichen Weise gegeben [ist], wie er keinem anderen gegeben ist.“43 Kripke hat kein Problem damit, das so zu verstehen, dass – wie in anderen Fällen autonymer Bezeichnung – der Sprecher mit dem Gegenstand bekannt sein muss. So wie ein Sprecher also mit einem Zeitpunkt bekannt sein kann, so auch mit sich selbst: „One need not to be a rigid follower of Descartes to see that indeed each of us is acquainted with her/himself in a special first person way. There is nothing mysterious about this.“44 Der Reiz von Kripkes Deutung besteht darin, „ich“ als Funktionsausdruck auffassen zu können, ohne die Vorstellung aufgeben zu müssen, dass wir uns mit diesem Ausdruck auf etwas beziehen. Dazu nutzt er Russells erkenntnistheoretische Kategorie des Wissens durch Bekanntschaft.45 Kripke legt damit zudem eine kohärente Lesart dieser nicht ohne Weiteres mit Freges sonstigen logisch-semantischen Überlegungen“ in Einklang zu bringenden Bemerkungen vor.46
Sinn des Gedankens, der nichts anderes ist als der der autonymen Bezeichnung, wie bei einem Zitat. Indem Kripke sich der Kategorie des Wissens durch Bekanntschaft bedient, interpretiert er Frege von Russell her. Dieser Punkt wird noch deutlicher beim Personalpronomen „ich“. 42 Saul A. Kripke, „Frege’s Theory of Sense and Reference“, a. a. O., S. 212. 43 Gottlob Frege, Der Gedanke, a. a. O., S. 39. 44 Saul A. Kripke, Frege’s Theory of Sense and Reference, a. a. O., S. 214. 45 So heißt es am Ende seines Aufsatzes ausdrücklich: „But to apply these rules [viz. of a language, JK], and indeed to understand them, a user of the language or a thinker must have something very like Russellian acquaintance with directly or indirectly quoted material, senses, times, subjects, and inner mental states. Despite their differences over the analysis of descriptions, Frege and Russell are basically more similar than is usually thought.“ (Kripke, Frege’s Theory of Sense and Reference, a. a. O., S. 216.) 46 Für eine kritische Diskussion von Kripkes Deutung vgl. Wolfgang Künne, „Sense, Reference and Hybridity. Reflections on Kripke’s Recent Reading of Frege“, in: Dialectica
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Abgesehen von Fragen der Frege-Exegese hat diese Interpretation allerdings auch eine systematische Bedeutung. Sie erlaubt es nämlich, den entscheidenden Punkt von Anscombes grammatischer Untersuchung zu bekräftigen: „Bekanntschaft mit sich selbst“ – was immer das genau heißen mag – ist etwas anderes als Sprechen aus der Perspektive der ersten Person, wofür sprachlich das indirekte Reflexiv das spezifische, differenzierende grammatische Merkmal ist. Für die Perspektive der ersten Person ist „Bekanntschaft mit sich selbst“ eine notwendige, aber keine hinreichende Bedingung. Anscombes Haupteinwand gegen die Auffassung von „ich“ als Bezug nehmendem Ausdruck war: Für jeden Bezug nehmenden Ausdruck ist die Möglichkeit der Fehlidentifikation wesentlich. Es muss möglich sein, sich bezüglich des Gegenstandes zu täuschen, auf den sich der Ausdruck beziehen soll, andernfalls verliert die Rede von Identifikation und Bezugnahme ihren Sinn. Die Möglichkeit der Fehlidentifikation ist also, wenn Anscombe Recht hat, ein grammatisches Merkmal von Bezug nehmenden Ausdrücken. Die Grammatik von „ich“ unterscheidet sich davon auf charakteristische Weise. Denn beim Ausdruck „ich“ ist diese Möglichkeit ausgeschlossen. Genau diesen Unterschied gilt es aber zu begreifen und durchsichtig zu machen, ohne dabei von metaphysischen bzw. semantischen Modellierungen auszugehen, die ihn der Grammatik Bezug nehmender Ausdrücke angleichen. Ein Sprecher mag sich über die Wahrheit eines Ich-Gedankens irren, aber er kann sich nicht darin irren, dass von ihm selbst die Rede ist. Ich kann mich darin irren, mich jetzt in der Schillerstraße in Heidelberg zu befinden. Ich habe, als ich dachte „ich befinde mich in der Schillerstraße“, nicht bemerkt, dass ich mich eigentlich in der Goethestraße befinde. Ich kann mich aber nicht darin irren, dass ich es bin, von dem in diesen (von mir formulierten) Sätzen die Rede ist. Das ist die grammatische Besonderheit des schon von Wittgenstein bemerkten Subjektgebrauchs von „ich“. Es ist also systematisch irrelevant, für welche Frege-Deutung man sich hier entscheidet, denn offensichtlich gelingt es auch Frege nicht, diesen grammatischen Unterschied im Rahmen seiner Rekonstruktion der Semantik von „ich“ einzufangen.47 Dieses Ergebnis muss nicht über-
64/4 (2010), S. 529-551. Der Autor verteidigt dabei seine eigene Deutung indexikalischer Ausdrücke bei Frege als hybride singuläre Termini. Weitere Argumente gegen die Interpretation indexikalischer Ausdrücke als Funktionsausdrücke (bei Frege) finden sich bei Wolfgang Künne, Die Philosophische Logik Gottlob Freges. Ein Kommentar, Frankfurt am Main 2010, S. 465 f. 47 Auch nach Kemmerling, Frege über den Sinn des Wortes „ich“, a. a. O., S. 10, muss „ich“ bei Frege als Funktionsausdruck aufgefasst werden. Er wäre demnach auf ähnliche Weise unvollständig wie „( ) ist ein Säugetier.“ Für Kemmerling folgt daraus, dass
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raschen, denn Frege entwickelt seine Bemerkungen zu indexikalischen Ausdrücken explizit vom Modell Bezug nehmender Ausdrücke her. Anscombes Punkt ist, dass bereits mit dieser Vorentscheidung ein grammatischer Unterschied verdeckt wird.
6 Wittgensteins Unterscheidung zwischen dem Subjekt- und dem Objektgebrauch von „ich“ bildete den Einstieg für die Diskussion von Anscombes Thesen zur Grammatik der Rede aus der Perspektive der ersten Person. Beim Subjektgebrauch von „ich“ muss der Sprecher wissen, dass er auf sich selbst Bezug nimmt. Es kann keinen Irrtum geben, dass es derjenige ist, der spricht, von dem die Rede ist, wenn jemand auf sich selbst Bezug nimmt. Ich kann mich hinsichtlich der Wahrheit eines mir selbst zugeschriebenen Prädikats irren, nicht aber darin, dass ich das Subjekt dieses Gedankens bin. Wie bereits Wittgenstein, zeigt Anscombe, dass die aus dem cartesianischen Cogito-Argument folgenden Probleme sich aus einem Missverständnis dieser Grammatik ergeben. Man kann verstehen, warum „ich“ immun ist gegen Fehlidentifikation; es ist eine besondere Art der reflexiven Rede. Daraus folgt aber nicht, dass „ich“ einen Gegenstand bezeichnet, ein „Selbst“ oder gar ein „Ich“. Ebenso wenig folgt daraus, dass sich aus der Unmög-
„ich“ aufgrund seines sprachlogischen Zuschnitts als Funktionsausdruck überhaupt keinen Gegenstand bezeichnen kann, auch keine Person: „Es bezeichnet etwas kategorial anderes, etwas, das nach Ergänzung durch ein Argument verlangt, bevor ein logisch gesehen Ganzes wie ein Gegenstand dadurch bezeichnet werden kann.“ (Ebd.) Nach dieser Deutung sind die Argumente der von diesem Wort bezeichneten Funktion Äußerungsumstände und ihre Werte Personen. Nach Kemmerling unterscheidet Frege zwischen einem kommunikativen Gebrauch von „ich“, der dieser funktionslogischen Analyse entspricht und nach dem „ich“ denjenigen bezeichnet, der das Wort verwendet, und einem privaten Gebrauch, wonach sich eben jeder in einer besonderen Weise gegeben ist (ebd., 12 ff.). Kemmerling interessiert sich für den Zusammenhang dieser beiden Gebrauchsweisen von „ich“. Im Hinblick auf Anscombe gilt für die systematischen Implikationen von Kemmerlings Deutung das zu Kripke Gesagte: Die besondere Grammatik der Rede aus der Perspektive der ersten Person wird davon nicht angemessen erfasst. Kemmerling muss hier private Gedanken zulassen, deren Objektivität aber unangetastet bleiben soll. Vgl. ebd., S. 15.
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lichkeit eines Irrtums im Subjektgebrauch antiskeptische Argumente für grundlegende unbezweifelbare Gedanken, die das Fundament unseres übrigen empirischen Wissens sein könnten, gewinnen lassen. Anscombes grammatische Untersuchung hat die Form einer reductio ad absurdum, die von der Annahme ausgeht, dass die Grammatik von „ich“ tatsächlich nach dem Vorbild der Frege-Russell’schen Referenzsemantik erklärt werden kann.48 Spielt man diesen Ansatz durch, zeigt sich, dass „ich“ nicht wie andere Ausdrücke funktioniert, die dazu dienen, einen Gegenstand zu identifizieren. Diese Art der identifizierenden Bezugnahme ist bei „ich“ unverständlich, denn der Ausdruck ist immun gegen Fehlidentifikation. Man könnte auch sagen: Fehlidentifikation ist eine notwendige Bedingung für die Möglichkeit identifizierender Bezugnahme mit einem singulären Terminus oder einem indexikalischen Ausdruck. Wie verhält es sich aber mit dem Objektgebrauch? Ich hatte eingangs bemerkt, dass man Anscombes Untersuchung so verstehen kann, dass sie genau diesen Unterschied zwischen zwei Gebrauchsweisen von „ich“ aufklären will. Wittgensteins Beispiele haben gezeigt, dass man immer auch auf sich Bezug nehmen kann, wie auf einen Körper. Mehr erfahren wir bei ihm dazu nicht. In einer Passage, aus der bereits zitiert wurde, bemerkt Anscombe: „But ‚I‘ is not a name: these I-thoughts are examples of reflective consciousness of states, actions, motions, etc., not of an object I mean by ‚I‘, but of this body […]. The I-thoughts now that I have that have this connection with E.A. are I-thoughts on the part of the same human being as the I-thoughts that had that connection twenty years ago. No problem of the reidentification of ‚the I‘ can arise. There is no such thing. There is E.A., who, like other humans, has such thoughts like these. And who probably learned to have them through learning to say what she had done, was doing etc.“49
Und ferner: „Self-knowledge is knowledge of the object that one is, of the human animal that one is.“50 Diese Überlegung geht über Wittgensteins knappe Bemerkungen im Blauen Buch hinaus. Ergänzend zu der in Abschnitt 3. vorgeschlagenen Interpretation des Zusammenhangs von „ich“ mit sortalen Begriffen kann man sie folgendermaßen verstehen: Wenn ich von mir selbst als demjenigen rede, der dieses oder jenes getan hat oder dabei ist zu tun, dann rede ich einerseits aus der Perspektive der ersten Person im Subjektgebrauch, aber ich biete auch eine Beschreibung meiner selbst als die eines bestimmten Menschen, der dieses oder jenes
48 Vgl. Anscombe, The First Person, a. a. O., S. 31. 49 Ebd., S. 34. 50 Ebd.
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tut und denkt. Das ist der Objektgebrauch von „ich“, der anfällig gegen Irrtümer aller Art ist. Ein alltägliches Beispiel habe ich im vorherigen Abschnitt diskutiert. Man könnte weitere hinzufügen: Eine Selbstbeschreibung wird von einer anderen Person korrigiert, so dass ich mein „Selbstverständnis“ im Lichte dieser neuen Beschreibung ändern muss. Auch in diesen Fällen beziehe ich mich nicht auf mich wie auf ein Ding, sondern spreche als selbstbewusst denkender und handelnder Mensch. Die Differenz von Subjekt- und Objektgebrauch versteht man daher am besten als eine notwendige Unterscheidung von praktisch vermittelten Perspektiven, aus denen heraus Menschen über sich selbst (selbstbezüglich und immer auch objektivierend) sprechen können.51 Die vorangehenden Überlegungen sollten in erster Linie Anscombes von Wittgenstein inspirierte grammatische Untersuchung zum Ausdruck „ich“ und damit vor allem ihre zunächst verblüffend erscheinende These, dass es sich dabei um keinen Bezug nehmenden Ausdruck handelt, erörtern. Daran anschließende Fragen, z. B. nach der Natur des Selbstbewusstseins, wurden nicht berührt. Ich musste außerdem darauf verzichten, Anscombes These eingehender im Lichte konkurrierender Ansätze zu diskutieren. Ich hoffe aber trotzdem deutlich gemacht zu haben, dass ihr Vorschlag, die Grammatik von „ich“ aufzuklären, eine unverzichtbare Einsicht artikuliert.
51 Nach Ernst Tugendhat, Egozentrizität und Mystik. Eine anthropologische Studie, München 2006, S. 27 f. referiert „ich“ auf den Sprecher, ohne ihn zu identifizieren. Darin unterscheidet sich dieser Ausdruck von anderen singulären Termini. Das nimmt einen Aspekt auf, den auch Wittgensteins Rede vom Subjektgebrauch erfasst. Es trifft den Punkt aber nicht ganz, denn Tugendhat hält daran fest, dass „ich“ durchaus referiert. Alle Prädikate, die ich mir zuspreche, beziehen sich nämlich auf eine bestimmte, von allen anderen Personen unterschiedene Person. Mit Anscombe bzw. Wittgenstein müsste man sagen, dass von Bezugnahme hier nur in einem metaphorischen Sinn die Rede sein kann. Die Unterscheidung von Subjekt- und Objektgebrauch soll die Grammatik von „ich“ erhellen, aber nicht als Grammatik eines Bezug nehmenden Ausdrucks.
Grammatik des Wissens M ARIELE N IENTIED Verschiedene Begriffe berühren sich hier und laufen ein Stück Wegs miteinander. Man muß eben nicht glauben, daß die Linien alle Kreise seien.1 […] entangled in words, as a bird in lime-twiggs; the more he struggles, the more belimed.2 Es ist, als ob das „Ich weiß“ keine metaphysische Betonung vertrüge.3
Wittgenstein ist Sprachphilosoph, genauer: der Sprachphilosoph, dem die Philosophie des 20. Jahrhunderts gleich zwei linguistic turns verdankt. Die Aufmerksamkeit richtet sich demzufolge vornehmlich auf den frühen Tractatus logico-philosophicus und auf die als zweites Hauptwerk geltenden Philosophischen Untersuchungen. Dass die epochalen Sprachphilosophien Wittgensteins erkenntnistheoretische Konsequenzen zeitigen, ist auf dieser Grundlage unbestritten, epistemologische Fragen im traditionellen Sinn sind allerdings darin eher sekundär. Umso deutlicher dominieren sie die Überlegungen, die Wittgenstein in den letzten 18 Monaten seines Lebens (1949-1951) beschäftigt haben und die unter dem Titel Über Gewissheit posthum 1969 von G.E.M. Anscombe und G.H. von Wright herausgegeben wurden. Obschon das, was uns unter diesem Titel vorliegt, alles andere als publikationsreif war, ist eine thematische Einheit ersichtlich – dies
1
Ludwig Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen (im Folgenden PU), Teil 2, x, Werkausgabe Band 1, Frankfurt am Main 1989, S. 517.
2
Thomas Hobbes, Leviathan, Part 1, Chapter 4, London 1957, S. 15.
3
Ludwig Wittgenstein, Über Gewißheit, § 482 (im Folgenden ÜG), Werkausgabe, Band 8, Frankfurt am Main 1994.
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ist bei den Philosophischen Untersuchungen nicht vergleichbar deutlich der Fall.4 Strenggenommen bliebe kaum mehr als der Tractatus übrig, wollte man nur das als autorisierte Werke diskutieren, was Wittgenstein selbst veröffentlicht hat. Die Form, in der Über Gewißheit sich uns darbietet, dürfte keine provisorische sein: auch die Philosophischen Untersuchungen, deren erstes Drittel (mindestens5) Wittgenstein für hinreichend überarbeitet hielt, besteht aus nummerierten Bemerkungen, deren Zusammenhang nicht auf der Hand liegt. Durch diese lose Form verweigert sich Wittgensteins Denken einer definitiven Fassbarkeit in Resultaten, stattdessen involviert Wittgenstein seine Leser in ein Philosophieren als klärende Tätigkeit an einzelnen, regionalen Verstrickungen ohne umfassende Systematik oder neutralen Standpunkt außerhalb. Der von den Herausgebern gewählte Titel Über Gewissheit ist trefflich und bezeichnet den Wittgenstein zufolge fundamentalen Modus jenseits der Fragen nach wahren und falschen Sätzen und damit den Ermöglichungskontext für epistemologische Themen. So gibt Wittgenstein der philosophischen Beschäftigung mit dem Wissen eine neue Akzentuierung, die dessen traditionell hohen Status relativiert. Kern dieser Entwertung ist, dass das Wissen nicht für Gewissheit sorgen kann, sondern ihrer bedarf, um überhaupt entstehen zu können. Es stellt sich heraus, dass diese Gewissheit durch ungefragt akzeptierte, also vorreflexive Selbstverständlichkeiten konstituiert wird und ermöglicht, dass man sich existenziell in einem Weltbild beheimaten kann. Gewissheit zeigt sich in der Alltagspraxis und muss nicht behauptet werden: it goes without saying. Mit Wittgenstein – so versuche ich in diesem Aufsatz zu zeigen – ergibt sich die kontraintuitive Einsicht, dass Gewissheit eher Sache des Glaubens als des Wissens ist. Während Wissen auf Gründe angewiesen ist, um seinen Geltungsanspruch auszuweisen und allgemein nachvollziehbar zu machen, während es somit der Prüfung unterliegen und wahr oder falsch sein kann, es also durch Zweifel
4
De facto ist diese thematische Einheit auch auf die Herausgeber zurückzuführen: Wittgensteins Manuskripte zeigen Überlegungen zu Gewissheit und Wissen, zuweilen unterbrochen von dem, was unter dem Titel Bemerkungen über die Farben (wie Über Gewissheit in Werkausgabe Band 8) sowie Bemerkungen über die Philosophie der Psychologie und Letzte Schriften über die Philosophie der Psychologie (Werkausgabe Band 7) erschienen ist. Allerdings dürfte hier die thematische Zuordnung keine großen Schwierigkeiten bereiten und wurde von Wittgenstein im Manuskript signalisiert, so dass den Herausgebern kein Vorwurf zu machen ist.
5
In ihrem Vorwort der ersten Veröffentlichung der Philosophischen Untersuchungen 1952 meinen die Herausgeber sogar, der gesamte erste Teil sei von Wittgenstein für publikationsreif befunden worden – dies ist strittig.
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angreifbar ist, kann Glaube auch grundlos gelten oder sogar gegen gute Gründe aufrechterhalten werden. Unbefragte Sicherheit, die für das Weltbild eines Menschen konstitutiv ist und sein Handeln prägt, ist vorreflexiv und nicht-propositional; sie wird allenfalls geglaubt und bietet den Kontext, in dem Wissen und Zweifel aufkommen können. Verkennt man den sekundären und derivierten Status des Wissens und fordert eine kontextindifferente, gar absolute Sicherung, gerät man in skeptische Zweifel, mit denen die Philosophie seit jeher zu kämpfen hat – von der pyrrhonischen Skepsis über Descartes bis hin zu G.E. Moore, der Wittgensteins Überlegungen provoziert hat und die explizite Folie ist, vor der Über Gewißheit argumentiert.6 Wittgenstein zeigt in der Auseinandersetzung mit den skeptischen Traditionen, dass ein Wissensanspruch keine metaphysische Wucht verträgt, weil er nur dann sinnvoll ist, wenn er kontextualisiert erhoben wird.7 Wissen basiert nicht auf anderem, zweifelsresistenten Wissen, sondern auf Gewissheit, die mit Selbstverständlichkeiten implizit einhergeht und eine existenziell relevante, praxeologisch sich zeigende Vertrautheit mit der eigenen Welt meint. Ungleich komplexer und umfassender als die bipolaren Präpositionen eines Wissensdiskurses, der einer Fundierungslogik gehorchen oder zumindest kohärent sein muss, zeugt Gewissheit von einer lebensweltlichen Beheimatung, die trotz
6
G.E. Moore, „A Defense of Common Sense“ (1925) und „Proof of an External World“ (1939), beide in: Philosophical Papers, London 1959. Die Anregung, sich mit dieser Problematik auseinanderzusetzen, ging von Norman Malcolm aus, den Wittgenstein Mitte 1949 in den USA besuchte. Malcolm selbst hat sich mit Moores Texten befasst und dies mit Wittgenstein diskutiert. Moores Argumente sowie der genaue Entstehungszusammenhang von Wittgensteins Überlegungen, also ob und wie intensiv sich Wittgenstein mit Moore auseinandergesetzt hat, spielt in meinem Zusammenhang keine Rolle. Avrum Stroll geht auf Moore näher ein in: Moore and Wittgenstein on Certainty, New York/Oxford 1994. Hans-Johann Glock ist einer der wenigen, die ihn verteidigen: „Knowledge, Certainty and Scepticism: In Moore’s Defence“, in: Danièle MoyalSharrock (Hg.), The Third Wittgenstein, Ashgate 2004, Kap. 4, S. 63-78.
7
Bereits der Tractatus 6.51 (im Folgenden: TLP, Werkausgabe Band 1 wie die PU) geht – wahrscheinlich mit Stoßrichtung gegen Russell – in diese Richtung: „Skeptizismus ist nicht unwiderleglich, sondern offenbar unsinnig, wenn er bezweifeln will, wo nicht gefragt werden kann. Denn Zweifel kann nur bestehen, wo eine Frage besteht; eine Frage nur, wo eine Antwort besteht und diese nur, wo etwas gesagt werden kann.“
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aller letztlichen Grundlosigkeit skeptische Fragen nur in Krisensituationen,8 bei Missverständnissen und bei Geistesstörung nötig hat. Im Folgenden erarbeite ich auf der Basis vor allem von Über Gewissheit eine Grammatik des Wissens im Zusammenhang mit und unter Abgrenzung von Gewissheit und Glauben, um eine Epistemologie nach Wittgenstein zu verorten. Damit einher geht eine Klärung gängiger Ismen, die in diesem Zusammenhang auch Wittgensteins Denken (seinem Philosophieverständnis zum Trotz) als Etiketten angeheftet werden: Behaviourismus, Kontextualismus, Relativismus, foundationalism,9 Pragmatismus, Naturalismus, Fideismus, Konventionalismus und Konsenstheorie. Inwiefern dieser Glaube ein religiöser sein kann, also was Wittgenstein abgesehen von den im Anschluss an die Philosophischen Untersuchungen oft bemühten „religiösen Sprachspielen“ oder der pathetischen Beschwörung eines mystischen Unsagbaren auf Grundlage des Tractatus für eine Religionsphilosophie zu bieten hat, kommt ebenfalls zur Sprache.10
8
Biografisch ist bemerkenswert, dass Wittgenstein in der Zeit, in der er sich mit Fragen der Gewissheit befasste, schwer krank war. Der bereits in den Philosophischen Untersuchungen aufkommende Quietismus (vgl. PU 133) erscheint in dieser existenziellen Situation noch verstärkt: die Bemerkungen zeugen von Zuversicht, Gelassenheit und der Fähigkeit, mit den quälenden philosophischen Fragen aufhören zu können. – Wenngleich Wittgenstein faktisch nicht damit aufhören konnte, sich dessen selber zu versichern, indem er diese Bemerkungen noch bis zwei Tage vor seinem Tod niederschrieb. „[…] the effort to deny skepticism is itself an expression of skepticism“, sagt Stanley Cavell in „Declining Decline. Wittgenstein as a Philosopher of Culture“ (1989), zitiert nach The Cavell Reader, ed. Stephen Mulhall, Oxford 1996, S. 326.
9
Hier hat sich kein deutsches Pendant eingebürgert: „Fundamentalismus“ ist religiös konnotiert und „Fundierungstheorie“ ungebräuchlich.
10 In meiner Dissertation habe ich erste Überlegungen zu diesem Thema angestellt, allerdings geht es darin – anders als hier – vornehmlich um die religionsphilosophische und weltanschauliche Dimension des Glaubens. Mariele Nientied, Kierkegaard und Wittgenstein. „Hineintäuschen in das Wahre“, Kierkegaard Studies Monograph Series Band 7, Hg. H. Deuser, Berlin/New York 2003, Kapitel IV.3 „Weltbild, Glaube und Bekehrung in Über Gewißheit“, S. 262-310. Danièle Moyal-Sharrock hat mit Understanding Wittgenstein’s On Certainty (New York 2004) ein ganzes Buch Über Gewissheit gewidmet und ebenfalls Gewissheit als Frage des Glaubens, nicht des Wissens herausgearbeitet. In dem von ihr herausgegebenen Sammelband The Third Wittgenstein folgt sie ihrem Lehrer Avrum Stroll darin, den eigenen Charakter des Wittgensteinschen Denkens nach 1946 zu betonen und sich von
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Ich gehe dabei so vor, dass ich viele Zitate vor allem aus Über Gewissheit auswähle und präsentiere, um durch intensive Bezüge zu Wittgensteins Texten Klärungen vorzunehmen. Die Zitate sind folglich mehr als nur Belegstellen für meine Argumentation, sie sind, um es mit Wittgensteins Metapher zu sagen, das Gelände, welches ich durchstreife,11 um Anhaltspunkte zu einer Epistemologie nach Wittgenstein zu gewinnen. Seit der Antike 12 gilt Wissen als privilegierter Modus des Fürwahrhaltens, da es durch Gründe stabilisiert werden muss und deshalb sicher und allgemein einsehbar ist.13 Zumindest vorläufig vor Falsifizierung gesichert, vermag es einen Wahrheitsanspruch zu erheben und so unser Denken verbindlich mit der Wirklichkeit in Kontakt zu bringen: adaequatio intellectus ad rem. Wissenschaft basiert weitgehend auf diesem Selbstverständnis und genießt deshalb bis heute hohe Autorität und weltbildkonstitutive Relevanz. Was wissenschaftlich erwiesen ist, gilt. Andere Modi des Fürwahrhaltens, etwa Meinen, Vermuten, Annehmen und Glauben, gelten als schwächere Varianten: „Weißt Du das, oder glaubst Du es nur?“ sagt man, wenn man in Erfahrung bringen will, wie sicher eine Behauptung ist.14 Zudem sind Meinen und Glauben subjektiv, standpunktgebunden und ohne Anspruch auf allgemeine Gültigkeit. Diesen etablierten Standards gemäß gibt es folglich ein graduelles, hierarchisches Kontinuum von objektiver Sicherheit eines Fürwahrhaltens, das von der durch Unsicherheit gekennzeichneten Vermutung
der gängigen Zweiteilung, die sich am Tractatus und den Philosophischen Untersuchungen orientiert, genauso abzugrenzen wie von denen, die eine Einheit des Wittgensteinschen Ansatzes finden. Bezogen auf Über Gewissheit spricht gegen eine solche Einteilung, dass grundlegende Überlegungen zum Thema Wissen und Zweifel bereits 1937 von Wittgenstein angestellt wurden, in „Ursache und Wirkung. Intuitives Erfassen“, veröffentlicht in: Vortrag über Ethik und andere kleine Schriften, hrsg. von Joachim Schulte, Frankfurt am Main 1995, S. 101-139. Auch in den Philosophischen Untersuchungen gibt es versprengte Bemerkungen, vor allem aber Grundlegendes zu Wittgensteins Philosophieren, ebenfalls in Tagebüchern – einiges greife ich in diesem Aufsatz auf. Für meine Diskussion ist die Frage, wie viele Wittgensteins es nun gibt, wie diese sich profilieren und wann welcher Wittgenstein in Erscheinung tritt, ohne Belang. 11 Vgl. die vielzitierte Metaphorik im Vorwort der PU. 12 Platon, Theaitetos, Aristoteles, Metaphysik 1.1. 13 Wittgenstein bringt diese traditionelle Auffassung des Wissens mit Bertrand Russell in Verbindung (ÜG 91, ferner 14-16). 14 Wittgenstein spielt diese Formulierung durch in ÜG 483-492.
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oder Annahme über die leicht änderbare subjektive Meinung und den stärker weltanschaulichen aber dennoch subjektiven Glauben bis zum objektiv und allgemein durch Gründe und Nachweise legitimierbaren Wissen reicht.15 Wittgenstein bricht mit dieser traditionellen epistemologischen Rangordnung und stellt zur Klärung auch für das Wort „wissen“ eine „grammatische Untersuchung“ an. Grammatik in Wittgensteins Verständnis ist mehr als linguistisch im Sinne der Schulgrammatik und logisch im Sinne von Carnaps „logischer Syntax“, sie erschöpft sich nicht in einem Regelwerk oder einer formalen Struktur, denn sie umfasst die Kontexte und Sprachpraxen, die ein bestimmtes Wort sinnvoll verwenden lassen und seine Bedeutung mitkonstituieren.16 Die Grammatik eines Wortes zu kennen, heißt demzufolge, dass man mit den vielfältigen Gebrauchsweisen und Funktionen eines Wortes oder Ausdrucks vertraut ist. Eine grammatische Regel in Wittgensteins Verständnis ist etwas, das Aufschluss gibt über den korrekten, d. h. etablierten Sprachgebrauch, die Verwendung eines Wortes. Man hat gelernt, dass die richtige Verwendung eines Wortes eine Funktion mit sich bringen kann, die zu der schulgrammatischen Form nicht zu passen scheint. Wittgenstein zufolge entstehen philosophische Probleme und Theorien zuweilen durch eine falsche Grammatik in diesem Sinne: man lädt einen sprachlichen Ausdruck mit Bedeutungen auf, die dieser im alltäglichen Sprachgebrauch nicht hat. Die viel beachteten Bemerkungen §§ 89-133 der Philosophischen Untersuchungen beschreiben als Aufgabe der Philosophie, dem Abhilfe zu schaffen, den „Leerlauf“17 von kontextenthobenen Wörtern zu diagnostizieren und Wörter in die „Heimat“18 ihrer alltäglichen Verwendung zurückzuführen. Dies betrifft auch das Wort „wissen“ in erkenntnistheoretischen Zusammenhängen, besonders mit Rekurs auf
15 Immanuel Kant formuliert es so: „Meinen ist ein mit Bewußtsein sowohl subjektiv als objektiv unzureichendes Fürwahrhalten. Ist das letztere nur subjektiv zureichend und wird zugleich für objektiv unzureichend gehalten, so heißt es Glauben. Endlich heißt das sowohl subjektiv als objektiv zureichende Fürwahrhalten das Wissen.“ Kritik der reinen Vernunft, Transzendentale Methodenlehre 2. Hauptstück 3. Abschnitt, A 822/B850 Hamburg 1990, S. 741. 16 Ausführlich zu Wittgensteins Grammatikverständnis: Hans Julius Schneider, Wittgenstein und die Grammatik, in: Hans Julius Schneider, Matthias Kross (Hg.), Mit Sprache spielen. Die Ordnung und das Offene nach Wittgenstein, Berlin 1999, S. 11-29. Newton Garver: Philosophy as Grammar, in: The Cambridge Companion to Wittgenstein, eds. H. Sluga und D. G. Stern, Cambridge 1996, S. 139-170. 17 PU 132. 18 PU 116.
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Moore.19 Wittgensteins viel zitierter Satz „Das Wesen ist in der Grammatik ausgesprochen“20 hat also neben der metaphysischen21 auch eine epistemische Dimension. „Man sieht eben nicht, wie sehr spezialisiert der Gebrauch von ,Ich weiß‘ ist.“22 „Wenn die Philosophen ein Wort gebrauchen – ,Wissen‘, ,Sein‘, ,Gegenstand‘, ,Ich‘, ,Satz‘, ,Name‘ – und das Wesen des Dings zu erfassen trachten, muß man sich immer fragen: Wird denn dieses Wort in der Sprache, in der es seine Heimat hat, je tatsächlich so gebraucht? […]“23 „Man wird oft von einem Wort behext. Z. B. vom Wort ,wissen‘.“24
Die letzte Bemerkung spielt auf eine bekannte Formulierung aus den Philosophischen Untersuchungen an, in der die Aufgabe der Philosophie beschrieben wird: das Entstehen solcher Hexerei durch dezidiert deskriptive25 grammatische Untersuchungen zu klären. „[…] Die Philosophie ist ein Kampf gegen die Verhexung unseres Verstandes durch die Mittel unserer Sprache.“26
19 ÜG 112, 151, 178, 407, 481, 521. 20 PU 371. Vgl. PU 373: „Welche Art von Gegenstand etwas ist, sagt die Grammatik. […]“. 21 Explizit: „Wie alles Metaphysische ist die Harmonie zwischen Gedanken und Wirklichkeit in der Grammatik der Sprache aufzufinden.“ Zettel (im Folgenden Z, zitiert aus Werkausgabe, Band 8) 55. 22 ÜG 11. 23 PU 116. 24 ÜG 435. 25 „[…] Alle Erklärung muß fort, und nur Beschreibung an ihre Stelle treten. Und diese Beschreibung empfängt ihr Licht, d.i. ihren Zweck, von den philosophischen Problemen. […]“ PU 109. „Die Philosophie darf den tatsächlichen Gebrauch der Sprache in keiner Weise antasten, sie kann ihn am Ende also nur beschreiben. Denn sie kann ihn auch nicht begründen. Sie läßt alles, wie es ist. […]“ PU 124. „Einmal muß man von der Erklärung auf die bloße Beschreibung kommen.“ ÜG 189. 26 PU 109. Vgl. ÜG 31: „Die Sätze, zu denen man, wie gebannt, wieder und wieder zurückgelangt, möchte ich aus der philosophischen Sprache ausmerzen.“
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Schon in den Philosophischen Untersuchungen klingt an, dass das Wort „wissen“ ebenfalls von Verhexung betroffen ist; es gibt vereinzelte grammatische Erkundungen dazu: „Vergleiche wissen und sagen: wieviele m hoch der Mont Blanc ist – wie das Wort ,Spiel‘ gebraucht wird – wie eine Klarinette klingt. […]“ 27
Die Pointe bleibt durch das Aufzeigen von Beispielen implizit. Wittgenstein fordert den Leser auf, eine Asymmetrie festzustellen: Wer weiß, wie hoch der Mont Blanc ist, kann es auch sagen. Aber kann man sagen, wie das Wort „Spiel“ gebraucht wird, wenn man es weiß? Jeder Muttersprachler dürfte in der Lage sein, das Wort „Spiel“ sinnvoll einzusetzen, genau so, wie er in der Lage ist, den grammatischen Regeln konform zu sprechen. Kann er dieses implizite Wissen auch explizieren? Wer sich nie mit linguistischen Termini und Theorien vertraut gemacht hat, dürfte dabei auf Schwierigkeiten stoßen, obschon er ein kompetenter Sprecher ist. Dass Wissen und Sagen nicht deckungsgleich sind, wird noch deutlicher bei dem letzten Beispiel, der Klarinette. Den Klang einer Klarinette zu identifizieren, ihn etwa von dem einer Oboe zu unterscheiden, das dürfte jeder können, der diese beiden Instrumente kennengelernt hat. Vermag er aber auch diesen Unterschied in Worte zu fassen? Wittgenstein lenkt hier die Aufmerksamkeit darauf, dass nicht jedes Wissen sagbar ist. Es gibt implizites Wissen, z. B. desjenigen, der eine Praxis beherrscht, deren theoretische Grundlagen er nie gelernt hat. „Die Grammatik des Wortes ,wissen‘ ist offenbar eng verwandt der Grammatik der Worte ,können‘, ,imstande sein‘. Aber auch eng verwandt der des Wortes ,verstehen‘ (Eine Technik ,beherrschen‘.)“28
An dieser Stelle kommt bereits auf, was Wittgenstein in Über Gewissheit sehr viel ausführlicher bespricht: Praktische Kompetenz, die Fähigkeit, eine Tätigkeit sinnvoll und erfolgreich auszuüben, impliziert Wissen, ohne dass dies bewusst reflektiert, gezielt angewandt oder gar theoretisch ausgesagt wird. Wissen, dass etwas so oder so ist, ist implizit im Wissen, wie zu agieren ist in einem bestimmten Kontext. Dies gilt für Alltagswissen genauso wie für das Wissen der Philosophie und
27 PU 78, vgl. 75. 28 PU 150.
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der Wissenschaften. Wittgenstein zufolge entsteht Wissen erst auf der Basis unbegründeter Praktiken und gelernter Handlungen unseres Alltags. Es erwächst somit aus unserem jeweiligen soziokulturellen Kontext und beruht nicht auf propositional sagbaren Gründen. „[…] Als ob die Begründung nicht einmal zu Ende käme. Aber das Ende ist nicht die unbegründete Voraussetzung, sondern die unbegründete Handlungsweise.“29 „Jeder ,vernünftige‘ Mensch handelt so.“30 „[…] … und schreib getrost ,Im Anfang war die Tat.‘“31
Deshalb strebt Wittgenstein nicht an, Wissen auf ein solides Fundament stringenter Begründungen, letztlich basierend auf Evidenz, Sinnesdaten oder logischen Axiomen, zurückzuführen, um Sicherheit der Erkenntnis zu gewährleisten. Vielmehr hält er ein solches Projekt für verfehlt, denn die Praxis als letzter Grund ist ihrerseits nicht begründet und deshalb nicht auf Wahrheit oder Falschheit zu prüfen. „Wenn das Wahre das Begründete ist, dann ist der Grund nicht wahr, noch falsch.“32 „,Der Satz ist wahr oder falsch‘ heißt eigentlich nur, es müsse eine Entscheidung für oder gegen ihn möglich sein. Aber das sagt nicht, wie der Grund zu so einer Entscheidung ausschaut.“33 „Die Begründung aber, die Rechtfertigung der Evidenz kommt zu einem Ende; – das Ende aber ist nicht, daß uns gewisse Sätze unmittelbar als wahr einleuchten, also eine Art Sehen unsrerseits, sondern unser Handeln, welches am Grunde des Sprachspiels liegt.“34
29 ÜG 110. 30 ÜG 254. Vgl. ÜG 220: „Der vernünftige Mensch hat gewisse Zweifel nicht.“ 31 ÜG 402. 32 ÜG 205. Vgl. zur wahr/falsch-Unterscheidung ÜG 197 ff., 514 f. 33 ÜG 200. 34 ÜG 204. Vgl. ÜG 229: „Unsere Rede erhält durch unsre übrigen Handlungen ihren Sinn.“ Schon in den vieldiskutierten Überlegungen Wittgensteins zum Regelfolgen in PU 201 ff. ist zentral, dass Vertrautheit mit der Praxis, nicht die richtige Deutung und
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Die traditionelle Einteilung der Philosophie in theoretische und praktische ist vor diesem Hintergrund nicht trennscharf zu machen. Deutlich wird, dass diese Handlungen keine überlegten, durch moralische Reflexion gestützten Taten sind. Sie sind gelerntes Verhalten, machen unsere Alltagspraxis aus und stehen nicht zur Debatte. In diesem Zusammenhang stellt Wittgenstein Gewissheit (bzw. Sicherheit) und Wissen einander gegenüber, erstere zeigt sich in meinem Handeln, letzteres basiert darauf und kann verifiziert werden: „Wenn ich sage ,Natürlich weiß ich, daß das ein Handtuch ist‘, so mache ich eine Äußerung. Ich denke nicht an eine Verifikation. Es ist für mich eine unmittelbare Äußerung. […] Ganz so, wie ein unmittelbares Zugreifen; wie ich ohne zu zweifeln nach einem Handtuch greife. Aber dieses unmittelbare Zugreifen entspricht doch einer Sicherheit, keinem Wissen. […]“35
Für die oben erwähnten „gewissen Sätze“36 hat die Wittgensteinforschung in Anlehnung an eine Bemerkung aus Über Gewißheit den Ausdruck hinge propositions geprägt: „D. h. die Fragen, die wir stellen, und unsere Zweifel beruhen darauf, daß gewisse Sätze vom Zweifel ausgenommen sind, gleichsam die Angeln, in welchen jene sich bewegen.37 Es ist aber damit nicht so, daß wir eben nicht alles untersuchen können und uns daher notgedrungen mit der Annahme zufriedenstellen müssen. Wenn ich will, daß die Türe sich drehe, müssen die Angeln feststehen.“38
Auffällig ist, dass Wittgenstein selbst nur die Metapher (Angeln) benutzt, doch nicht von Sätzen oder Propositionen spricht.39 Aufschlussreich ist, dass Wittgenstein noch andere Metaphern dafür parat hat und wie er sie einsetzt:
Interpretation der Regel, dafür verantwortlich ist, dass eine Regel angemessen befolgt wird. 35 ÜG 510 f. 36 ÜG 204, zitiert in Fußnote 34. 37 ÜG 341. 38 ÜG 343. 39 Was Wittgenstein im deutschen Original mit „Satz“ bezeichnet, wird oft in englischen Übersetzungen mit proposition wiedergegeben, was einen präzisen und technischen Einsatz dieses Wortes suggeriert. Tatsächlich sind Sätze bei Wittgenstein durchaus auch Propositionen, aber nicht in allen Zusammenhängen. Wittgensteins Sprachgebrauch
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„Die Sätze, die für mich feststehen, lerne ich nicht ausdrücklich. Ich kann sie nachträglich finden wie die Rotationsachse eines sich drehenden Körpers. Diese Achse steht nicht fest in dem Sinne, daß sie festgehalten wird, aber die Bewegung um sie herum bestimmt sie als unbewegt.“40 „Man könnte sich vorstellen, daß gewisse Sätze von der Form der Erfahrungssätze erstarrt wären und als Leitung für die nicht erstarrten, flüssigen Erfahrungssätze funktionierten; und daß sich dies Verhältnis mit der Zeit änderte, indem flüssige Sätze erstarrten und feste flüssig würden.“41 „Ja, das Ufer jenes Flusses besteht zum Teil aus hartem Gestein, das keiner oder einer unmerkbaren Änderung unterliegt, und teils aus Sand, der bald hier bald dort weg- und angeschwemmt wird.“42 „Wäre es aber nicht möglich, daß etwas geschähe, was mich ganz aus dem Geleise würfe? Evidenz, die mir das Sicherste unannehmbar machte? oder doch bewirkte, daß ich meine fundamentalsten Urteile umstoße? […]“43
Anhand dieser Metaphern (Angeln, Rotationsachse, Flussbett, Geleise, Verankerung44) und auch der häufig verwendeten Formulierung „es steht für mich
ist – vor allem seit den Philosophischen Untersuchungen – selten terminologisch. Vgl. ÜG 329: „Hier muß man, glaube ich, daran denken, daß der Begriff ‚Satz‘ selbst nicht scharf ist.“ Er strebt dies auch nicht an und weist darauf hin, dass Genauigkeit von Bedeutungen auf Kosten von Brauchbarkeit geht, z. B. in PU 28 ff. 40 ÜG 152. 41 ÜG 96. 42 ÜG 99. 43 ÜG 517. 44 ÜG 103. Danièle Moyal-Sharrock widmet ihr halbes Buch zu Über Gewißheit (vgl. Fußnote 10) einer Untersuchung und Taxonomie der hinges und unterscheidet linguistische, die sie bereits in den PU findet, von nicht-linguistischen, die sie nur beim späten (dritten) Wittgenstein diagnostiziert: persönliche, lokale und universale. Mit ihrer Klassifizierung setzt sie zwar bei Wittgenstein an, geht aber zum Zwecke der Systematisierung darüber hinaus und ignoriert weitgehend, dass Wittgenstein gerade hier fast nur metaphorisch spricht. Jerry H. Gill hingegen hat den Metaphern in Wittgensteins Texten viel Aufmerksamkeit gewidmet und sie mit dem jeweiligen Sprachverständnis in TLP, PU und ÜG in Beziehung gebracht. Auf dieser Basis versucht er, eine Wittgensteinsche Metapherntheorie
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fest“45, wird deutlich, dass hinge propositions keine Propositionen im Sinne bipolarer Erfahrungssätze sind, die behauptet und abgestritten werden können: Es handelt sich um Überzeugungen, die sich im Handeln zeigen und kontextuell gesichert sind, d. h. sie drücken kein Wissen, sondern Gewissheit aus. Wichtig ist, dass Erfahrungssätze ihren Status und die Funktion ändern können, auch sie können die Rolle einer hinge spielen: „Daß unsre Erfahrungsaussagen nicht alle gleichen Status haben, ist klar, da man so einen Satz festlegen und ihn vom Erfahrungssatz zu einer Norm der Beschreibung machen kann. […]“46 „Aber müßte man dann nicht sagen, daß es keine scharfe Grenze gibt zwischen Sätzen der Logik und Erfahrungssätzen? Die Unschärfe ist eben die der Grenze zwischen Regel und Erfahrungssatz.“47
Wenn die Grenze zwischen logischen und empirischen Sätzen nicht trennscharf ist, gewinnt Logik eine andere Bedeutung als sie gängigerweise und auch noch im Tractatus hatte: Sie ist die Grammatik der Sprachpraxis. „Komme ich nicht immer mehr und mehr dahin zu sagen, daß die Logik sich am Schluß nicht beschreiben lasse? Du mußt die Praxis der Sprache ansehen, dann siehst du sie.“48
zu erarbeiten und Parallelen zu den gängigen Theorien zu finden (vgl. Jerry H. Gill, Wittgenstein and Metaphor, Washington 1981). Manfred Frank untersucht, inwiefern Wittgensteins Ansatz Stilfragen relevant werden lässt, „warum ein so paradox angelegter Diskurs wie der Wittgensteinsche nicht nur ungemein häufig zu Metaphern greifen muss, sondern geradezu als ein Gang ins Gleichnishafte angelegt ist.“ Wittgensteins Gang in die Dichtung, in: Manfred Frank/Gianfranco Soldati, Wittgenstein. Literat und Philosoph, Pfullingen 1989, S. 8-72, S. 28. Allerdings hat Wittgenstein seine Verwendung von Metaphern selbst kaum reflektiert, geschweigen denn eine Metapherntheorie konzipiert oder gar eine Metaphorologie im Sinne Blumenbergs. 45 ÜG 151 f., 155, 210, 225, 234 f., 343 u. ö. 46 ÜG 167, vgl. 213. 47 ÜG 319. Vgl. die folgenden Bemerkungen: „Ich sage doch: Jeder Erfahrungssatz kann umgewandelt werden in ein Postulat – und das wird dann eine Norm der Darstellung. […]“, ÜG 321. Auch ÜG 309: „Ist es, daß Regel und Erfahrungssatz ineinander übergehen?“ 48 ÜG 501.
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„[…] zur Logik gehört alles, was ein Sprachspiel beschreibt.“49 „Was als ausreichende Prüfung einer Aussage gilt, – gehört zur Logik. Es gehört zur Beschreibung des Sprachspiels.“50
Wichtig ist, dass sich Wittgenstein zufolge kein stabiles Fundament ein für alle Mal herausarbeiten lässt, so dass sich alles Wissen darauf aufbauen ließe, wie es etwa Descartes in seinem cogito zu finden meinte.51 Für den klassischen foundationalism ist charakteristisch, dass es basale, gesicherte Grundlagen der Erkenntnis gibt, auf denen man alles andere aufbauen kann. Auffallend sind architektonische Metaphern in der Geschichte der Philosophie, die Rede von der Architektonik etwa bei Kant, dem sicheren Fundament etc. Wittgenstein, der bekanntlich selbst als Architekt gearbeitet hat, als er den Hausbau für seine Schwester in der Wiener Kundmanngasse immer mehr in seine Verantwortung gebracht hat, verwendet die architektonischen Metaphern ebenfalls, doch nicht ohne sie subversiv zu dynamisieren: „Ich bin auf dem Boden meiner Überzeugungen angelangt. Und von dieser Grundmauer könnte man beinahe sagen, sie werde vom ganzen Haus getragen.“52
Hier ist die Schwerkraft außer Kraft gesetzt, die systemische Bezugnahme von stabilen und weniger sicheren Annahmen kann sich ändern in alle Richtungen. Anstelle der grundsätzlichen Unterscheidung von basalen und darauf aufbauenden Überzeugungen gibt es bei Wittgenstein einen Kontextualismus, da dem Satz an sich nicht anzumerken ist, welche Rolle er spielt. Erfahrungssätze, Hypothesen, Sätze der Logik, Behauptungen etc. können die Funktion einer hinge haben und Selbstverständlichkeiten zum Ausdruck bringen, die nicht zur Debatte stehen, aber das Fragen und Forschen möglich machen.53 Um den Status eines Satzes zu ermitteln, bedarf es der Berücksichtigung nicht nur des linguistischen, sondern auch des
49 ÜG 56. 50 ÜG 82. 51 In Z 394-408 geht Wittgenstein auf die cartesische Variante der Frage nach dem sicheren Wissen ein und fragt nach der Unterscheidungsmöglichkeit von Traum und Bewusstsein. 52 ÜG 248. 53 ÜG 401 ff. und 87.
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lebensweltlichen Kontexts, des Handelns und der konkreten Situation. Wenn Wittgenstein in diesem Zusammenhang immer wieder von einem System spricht, meint er keine starre, hierarchische Struktur, sondern ein Netzwerk heterogener Aspekte. Es handelt sich somit eher um ein Gefüge von Faktoren, die in Wechselwirkung stehen. „Nicht einzelne Axiome leuchten mir ein, sondern ein System, worin sich Folgen und Prämissen gegenseitig stützen.54 Unser Wissen bildet ein großes System. Und nur in diesem System hat das Einzelne den Wert, den wir ihm beilegen.55 Das Kind lernt eine Menge glauben. D. h. es lernt z. B. nach diesem Glauben handeln. Es bildet sich nach und nach ein System von Geglaubtem heraus, und darin steht manches unverrückbar fest, manches ist mehr oder weniger beweglich. Was feststeht, tut dies nicht, weil es an sich offenbar oder einleuchtend ist, sondern es wird von dem, was darum herumliegt, festgehalten.“56
Mit dem foundationalism teilt Wittgenstein die Auffassung von basalen Überzeugungen, die Wissen ermöglichen und nicht bezweifelt werden. Allerdings wurde oben deutlich, dass diese nicht aus Sinneswahrnehmungen hergeleitet werden, wie es der Empirismus denkt, oder durch Nachdenken ermittelt, wie im Rationalismus beispielsweise von Descartes, sie zeigen sich im Handeln57 und gehorchen nicht den Standards des Wissensdiskurses. Deshalb sind sie auch nicht für Zweifel anfällig. Nur wenn Gewissheit hergeleitet oder abgeleitet wird, gibt es eine Angriffsfläche für Skepsis. Anders als bei den traditionellen Spielarten des foundationalism gibt es folglich eine Asymmetrie zwischen der basalen Gewissheit und dem Wissen, die weder durch Erklärung überbrückbar noch anders theoretisch handhabbar ist.58
54 ÜG 142. Vgl. ÜG 141 und 105. 55 ÜG 410. 56 ÜG 144. 57 Deshalb spricht Rudolf Haller von einem praxeological foundationalism: „Justification and Praxeological Foundationalism“, in: Inquiry 31, 1988, S. 335-345. 58 Dan Hutto diagnostiziert deshalb bei Wittgenstein einen heterogeneous foundationalism und findet diesen von Anfang an in Wittgensteins Ansatz: Two Wittgensteins too Many: Wittgenstein’s foundationalism, in: Moyal-Sharrock, (s. o, Fußnote 6.), S. 2541, bes. S. 28 und 30. Wie der Titel dieses Aufsatzes ansagt, hinterfragt Hutto MoyalSharrocks und Strolls Einteilung des Wittgensteinschen Denkens in drei Phasen. Kri-
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Drastisch wird die nicht-epistemische Qualität dessen, was als sicher gilt, ohne hinterfragt zu werden, wenn Wittgenstein es zuweilen als instinktiv und tierisch akzentuiert: „Das Eichhörnchen schließt nicht durch Induktion, daß es auch im nächsten Winter Vorräte brauchen wird. Und ebensowenig brauchen wir ein Gesetz der Induktion, um unsre Handlungen oder Vorhersagen zu rechtfertigen.“59 „Ich will den Menschen hier als Tier betrachten; als ein primitives Wesen, dem man zwar Instinkt, aber nicht Raisonnement zutraut. Als ein Wesen in einem primitiven Zustande. Denn welche Logik für ein primitives Verständigungsmittel genügt, deren brauchen wir uns auch nicht zu schämen. Die Sprache ist nicht aus einem Raisonnement hervorgegangen.“60 „Das heißt doch, ich will sie [Sicherheit] als etwas auffassen, was jenseits von berechtigt und unberechtigt liegt; also gleichsam als etwas Animalisches.“61 „[…] Unser Sprachspiel ist ein Ausbau des primitiven Benehmens. (Denn unser Sprachspiel ist Benehmen.) (Instinkt.)“62 „Es ist immer von Gnaden der Natur, wenn man etwas weiß.“63
Die hier anklingende Naturalisierung gewinnt eine behaviouristische Tendenz, wenn Wittgenstein als damit verwobene zweite Natur erlernte Verhaltensweisen einbezieht – man denke an seine Akzentuierung des Lernens als „Abrichtung“ in
tisch gegen Strolls Aufsatz versucht er sogar zu argumentieren, dass bereits im Tractatus entscheidend für sinnvolle Sprache eine Handlung, nämlich die Anwendung ist (T 3.262, 3.326, 3.5), dass sich dies in den Überlegungen zum Regelfolgen in den PU fortsetzt (besonders PU 185-242) und in ÜG wieder auftaucht, insofern der Übergang zwischen Gewissheit und Wissen im Handeln deutlich wird und durch keine rationale Herleitung geregelt ist. Weder die logische Form im Tractatus noch die Lebensform in den PU noch die Gewissheit in ÜG seien theoretisierbar, doch unabdingbar für die Entstehung von Wissen. 59 ÜG 287. 60 ÜG 475. 61 ÜG 359. 62 Z 545. 63 ÜG 505.
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den Philosophischen Untersuchungen.64 Gleichwohl handelt es sich nicht um einen Humeschen oder Quineschen Naturalismus, weil die Praktiken, in denen Gewissheit sich zeigt, keine automatischen Reflexe sind, die sich in ihrer instinktiven Qualität erschöpfen. Wittgenstein ist kein Empirist und kein Positivist, der meint, Normativität auf Kausalität zurückführen zu können. Was hier mit zweiter Natur gemeint ist, hat eine soziogenetische Qualität, die nicht auf Ursache-Wirkung-Relationen reduzierbar ist.65 In diesem Zusammenhang ist aufschlussreich, dass Wittgenstein immer wieder in unterschiedlichen Kontexten auf den Unterschied von Ursache und Grund zu sprechen kommt: „Die Ursachen, warum wir einen Satz glauben, sind für die Frage, was es denn ist, das wir glauben, allerdings irrelevant; aber nicht die Gründe, die ja mit dem Satz grammatisch verwandt sind und uns sagen, wer er ist.“66 „Welchen Grund habe ich jetzt, da ich meine Zehen nicht sehe, anzunehmen, daß ich fünf Zehen an jedem Fuß habe? Ist es richtig zu sagen, der Grund sei der, daß frühere Erfahrung mich immer das gelehrt hat? Bin ich früherer Erfahrung sicherer als dessen, daß ich zehn Zehen habe? Jene frühere Erfahrung mag wohl die Ursache meiner gegenwärtigen Sicherheit sein; aber ist sie ihr Grund?“67
Wenn Wittgenstein in den Philosophischen Untersuchungen einige Aufmerksamkeit dem Lernen widmet, wird deutlich, dass es um normative Standards und Techniken68 geht, also Sozialisierung, Kultivierung und intersubjektives Agieren zentral sind. Ein naturalistischer oder behaviouristischer foundationalism ist folglich bezogen auf Wittgenstein kein zutreffendes Etikett. Genauso wenig aber handelt es sich um einen Konventionalismus, bei dem die Macht der instinktiven (ersten) Natur des Menschen unterschätzt wird. Dies spricht ebenfalls gegen eine Konsenstheorie, wie sie einzelne Bemerkungen suggerieren mögen,69 genauso gegen
64 PU 5, 27, 86, 206; Z 383, 419. 65 Vgl. PU 307 f. und dazu den Beitrag von Sandra Markewitz in diesem Band, außerdem PU 2, v. 66 Z 437. Interessant ist hier die Personifizierung des Satzes. 67 ÜG 429. 68 Schon der Anfang der PU setzt damit ein, wenn aus den Confessiones des Augustinus eine Passage zum Spracherwerb zitiert wird und als Hintergrund der folgenden Erörterungen dient. 69 PU 241 f., Z 428 ff.
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einen Relativismus: die biologische Ausstattung des Menschen als „erste“ Natur ist eine gegebene Größe, ohne die keine kulturelle Prägung stattfinden kann. Allein das in der Wittgensteinforschung vieldiskutierte Wort „Lebensform“ integriert das „Leben“ als biologische (instinktive, natürliche) Grundausstattung und die „Form“ als soziokulturelle Prägung, ohne eine Trennschärfe dieser Bereiche festmachen zu können.70 Diese Verwobenheit erübrigt den Abgleich mit der Realität, um Wahrheit feststellen zu können. Die Lebensform ist real und zeigt, was jemand für wahr hält. Wichtig ist, dass die kulturelle Dimension Varianten kennt und keine naturgesetzliche Qualität hat, damit kommt ein relativistisches Moment hinzu. Auffällig ist, dass Wittgenstein in diesem Zusammenhang auch in vielen der bereits zitierten Stellen fast immer von „glauben“ spricht. Was als zweite Natur gelernt und selten hinterfragt wird, ist kein Wissen, weil es weder explizit ist noch auf Wahrheit und Falschheit überprüft wird. „Ich glaube, was mir Menschen in einer gewissen Weise übermitteln. So glaube ich geographische, chemische, geschichtliche Tatsachen etc. So lerne ich die Wissenschaften. Ja, lernen beruht natürlich auf glauben. Wer gelernt hat, der Mont Blanc sei 4000 m hoch, wer es auf der Karte nachgesehen hat, sagt nun, er wisse es. Und kann man nun sagen: Wir messen unser Vertrauen so zu, weil es sich so bewährt hat?“71
Der letzte Satz dieses Zitats suggeriert einen Pragmatismus: Was sich bewährt, ist gerechtfertigt und gilt. Doch distanziert sich Wittgenstein davon als einer „Weltanschauung“72 und macht auch hier den Unterschied von Ursache und Grund geltend:
70 PU 241, 372, PU 2 i und xi, S. 572. In PU 2, xii und in den Bemerkungen über die Philosophie der Psychologie (1947/8) spricht Wittgenstein häufig von Naturtatsachen und der Naturgeschichte des Menschen und meint damit auch die kulturellen Prägungen. Vgl. José Medina: Wittgenstein’s Social Naturalism: The Idea of Second Nature After the Philosophical Investigations, in: Moyal-Sharrock (s. o. Fußnote 6), S. 79-92. 71 ÜG 170. Vgl. ÜG 286: „Woran wir glauben, hängt von dem ab, was wir lernen. […]“ ÜG 147: „Das Bild der Erde als Kugel ist ein gutes Bild, es bewährt sich überall, es ist auch ein einfaches Bild – kurz, wir arbeiten damit, ohne es anzuzweifeln.“ 72 ÜG 422: „Ich will also etwas sagen, was wie Pragmatismus klingt. Mir kommt hier eine Art Weltanschauung in die Quere.“
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„Dieses Spiel bewährt sich. Das mag die Ursache sein, weshalb es gespielt wird, aber es ist nicht der Grund.“73
Gleichwohl wird auch an dieser Stelle deutlich, dass der Gewissheit verbürgende Glaube theoretisch anfechtbar wäre, man könnte zweifeln, tut es de facto aber nicht.74 Vor allem bedarf jeder Zweifel einer unbezweifelten, aber durch Glauben affirmierten Grundlage.75 Immer wieder betont Wittgenstein, dass dieser basale Glaube – anders als Wissen – grundlos ist. „Die Schwierigkeit ist, die Grundlosigkeit unseres Glaubens einzusehen.“76 „,Ich weiß es‘, sage ich dem Andern; und hier gibt es eine Rechtfertigung. Aber für meinen Glauben gibt es keine.“77 „Wenn Einer etwas glaubt, so muß man nicht immer die Frage beantworten können, ,warum er es glaubt‘; weiß er aber etwas, so muß die Frage ,Wie weiß er es?‘ beantwortet werden können.“78 „Am Grunde des begründeten Glaubens liegt der unbegründete Glaube.“79 „Es gibt freilich Rechtfertigung; aber die Rechtfertigung hat ein Ende.“80
Kontraintuitiv ist angesichts von Wittgensteins Kontrastierung von Wissen und Glauben, dass Wittgenstein einerseits einen Wissensbegriff hat, der traditionelle Züge trägt: Wissensansprüche müssen nachvollziehbar sein, durch Gründe legitimiert und auf Wahrheit überprüfbar. Glaube hingegen ist auch subjektiv und standpunktbezogen, so dass das Geglaubte nicht der Wirklichkeit entgegensteht
73 ÜG 474. Vgl. ÜG 74. 74 ÜG 524. 75 ÜG 159-160, 522 f. 76 ÜG 166. 77 ÜG 175. 78 ÜG 550. 79 ÜG 253. 80 ÜG 192. Vgl. 164 „Hat das Prüfen nicht ein Ende?“
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und auf Adäquatheit überprüfbar wäre, sondern für sie mitkonstitutiv ist.81 Ungewöhnlich ist, dass Glaube in vielen Bemerkungen trotzdem für Wittgenstein basaler ist und für Gewissheit sorgt. Gewissheit ist nicht durch Wissen gesichert, sondern Ermöglichungskontext für seine Entstehung. Glaube und Gewissheit erschöpfen sich nicht in konstativen Äußerungen, sondern haben auch performative und expressive82 Qualität, die sich nicht durch die Frage nach wahr oder falsch sinnvoll ausweisen lassen. Vielmehr leisten dies der individuelle Standpunkt und die Gestaltung der Lebensführung. Deshalb ist fraglich, ob Wittgenstein so dem Skeptizismus wirksame Argumente entgegensetzen kann.83 Die Tatsache, dass nicht alles bezweifelt werden kann, wenn man überhaupt eine Frage formulieren will, hat bereits Descartes erkannt und dennoch den methodischen Zweifel in aller Konsequenz erhoben. Wittgenstein verweigert dies, ohne die durch Glauben stabilisierte und stabilisierende Gewissheit theoretisch auszuweisen und zu legitimieren.84 Der Regress, in den konsequentes Zweifeln führt, ist für ihn kein interessantes Thema, weil er nur Denksport ist und außerhalb philosophischer Diskurse ohne jede Relevanz ist. Der theoretisch immer mögliche Zweifel hält uns nicht davon ab, Wissen zu behaupten.
81 „No Gap to Mind“ ist die Conclusion von Danièle Moyal-Sharrock (Fußnote 10) betitelt: Mit diesem Wortspiel, das an die Londoner U-Bahn erinnert, wo Passagiere beim Aussteigen zur Vorsicht ermahnt werden („Mind the Gap“) erläutert sie, dass Wittgenstein zufolge zwischen unseren basalen Glaubensüberzeugungen und der Welt keine Kluft besteht, die eine Erkenntnistheorie überbrücken müsste. 82 Oft in den Vermischten Bemerkungen (VB, in Werkausgabe, Band 8), z. B. S. 570 (1950), auch in den Bemerkungen zur Philosophie der Psychologie sowie in: Bemerkungen über Frazers Golden Bough, in: Vortrag über Ethik und andere kleine Schriften, hrsg. von Joachim Schulte, Frankfurt am Main 1995, S. 29-46. Auch die Grammatik von „glauben“ wäre eine ausführliche Untersuchung wert – Wittgenstein bringt ein heterogenes Spektrum an Verwendungsweisen in die Diskussion. 83 Dazu ausführlich: Marie McGinn, Sense and Certainty. A dissolution of scepticism, Oxford 1989; Michael Williams, Unnatural Doubts. Epistemological Realism and the Basis of Scepticism, Princeton 1996; Stanley Cavell, The Claim of Reason: Wittgenstein, Scepticism, Morality and Tragedy, Oxford 1979; Michael Kober, Gewißheit als Norm. Wittgensteins erkenntnistheoretische Untersuchungen in Über Gewißheit, Berlin/New York 1993. Norman Malcom: „Wittgenstein’s Scepticism in On Certainty“, in: Inquiry 31/1988, S. 277-293. 84 ÜG 509: „Ich will eigentlich sagen, daß ein Sprachspiel nur möglich ist, wenn man sich auf etwas verläßt. (Ich habe nicht gesagt ‚auf etwas verlassen kann‘.)“.
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„Wer an allem zweifeln wollte, der würde auch nicht bis zum Zweifel kommen. Das Spiel des Zweifelns selbst setzt schon die Gewißheit voraus.“85 „D. h. es gehört zur Logik unserer wissenschaftlichen Untersuchungen, daß Gewisses in der Tat nicht angezweifelt wird.“86 „Was ich zeigen muß, ist, daß ein Zweifel nicht notwendig ist, auch wenn er möglich ist. Daß die Möglichkeit des Sprachspiels nicht davon abhängt, daß alles bezweifelt werde, was bezweifelt werden kann. […]“87
Was den Zweifel stoppt, ist bei Wittgenstein kein besonders sicheres Wissen, sondern sind pragmatische, biologische, behavouristische und kulturrelative Aspekte. Gewissheit ist keine monokausal kognitiv zu ermittelnde Größe. Wittgenstein sortiert die Zuständigkeiten anders als es die philosophische Tradition tut und ordnet das Wissen und den Zweifel in eine sekundäre, vom Glauben und der Gewissheit abhängige Kategorie, ein.88 „,Wissen‘ und ,Sicherheit‘ gehören zu verschiedenen Kategorien. […]“89 „Nicht alle Korrekturen unsrer Ansichten stehen auf der gleichen Stufe.“90
Wissen muss begründet werden,91 ist angreifbar durch Zweifel92 und kann nicht aufrechterhalten werden, sobald es widerlegt ist. Wissen erlischt, sobald es sich als falsch herausstellt, auch rückwirkend. Anders beim Glauben: Wer etwas glaubt, macht nicht nur eine Aussage über etwas, sondern auch über sich selbst.
85 ÜG 115, vgl. PU 2, v, S. 498. 86 ÜG 342, vgl. 232, 450, 458, 625. 87 ÜG 392. 88 Dass Wissen und Zweifel zusammengehören, wird bereits in den PU 244 ff. bei der Diskussion von Schmerzen deutlich: Es hat keinen Sinn, zu behaupten „Ich weiß, dass ich Schmerzen habe.“ Nur wo Zweifel möglich ist, kann Wissen behauptet werden. 89 ÜG 308. 90 ÜG 300. Thomas Kuhns Unterscheidung zwischen dem Paradigma und dem Wissen innerhalb eines Paradigmas schließt wissenschaftstheoretisch an Wittgenstein an. Thomas Kuhn, The Structure of Scientific Revolutions, Chicago 1962. 91 ÜG 14 f., 243, 441, 484, u. ö. 92 ÜG 480, PU 2, xi, S. 564.
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Glaubenssätze sind auch Bekundungen, die die Haltung oder Einstellung des Sprechers zu seiner Aussage indizieren. In seinen „Bemerkungen über Frazers Golden Bough“93 macht Wittgenstein geltend, dass Glaube keine schwache oder schlechte Hypothese ist, die primitive Völker mangels Wissenschaft nötig haben, um ihre Welt zu verstehen. Vielmehr handelt es sich um eine komplexere Art des Fürwahrhaltens, weil man nicht nur glaubt, dass etwas so und nicht anders ist, sondern auch jemandem oder an jemanden glauben kann. Während Wissen unabhängig von der Person ist, die es hat, kommt beim Glauben zuweilen eine persönliche und dezidiert subjektive Dimension ins Spiel. In dieser Hinsicht ist Glaube im Sinne des englischen Wortes belief auch faith, der durch Vertrauen gekennzeichet ist und Autorität braucht.94 Wittgenstein spricht auch (metaphorisch) von einem „Farbton“ oder „Tonfall“ eines Gedankens, der damit einher geht, dass er geglaubt wird.95 Er untersucht die Asymmetrie der ersten und dritten Person Singular bei Glaubenssätzen ausführlich und akzentuiert Glauben als „Zustand der Seele“, „Disposition“ oder „Geisteszustand“.96 Subjektivität tut also der Gewissheit keinen Abbruch, qualifiziert sie eher.97 Auch aus einer Wissensaussage ist sie nicht herauszukürzen, denn eine solche Behauptung bewahrheitet das Behauptete nicht.98 Die Standarddefinition von Wissen als gerechtfertigter, wahrer Glaube ist für Wittgenstein unbrauchbar. „Ja, ist nicht der Gebrauch des Wortes Wissen, als eines ausgezeichneten philosophischen Worts, überhaupt ganz falsch? Wenn ,wissen‘ dieses Interesse hat, warum nicht ,sicher sein‘? Offenbar, weil es zu subjektiv wäre. Aber ist wissen nicht ebenso subjektiv? Ist man nicht nur durch die grammatische Eigentümlichkeit getäuscht, daß aus ,ich weiß p‘ ,p‘ folgt?
93 Vgl. ÜG 167: Das Beispiel sind chemische Experimente, die Lavoisier durchführt vor dem Hintergrund seines Weltbilds. „Ich sage Weltbild und nicht Hypothese, weil es die selbstverständliche Grundlage seiner Forschung ist und als solche auch nicht ausgesprochen wird.“ 94 Vgl. ÜG 150, 337, 509, 600, 604, 672. Lars Hertzberg: „On the Attitude of Trust“, in: Inquiry 31/1988, S. 307-322. 95 PU 578. Vgl. PU 574 und ÜG 42. 96 PU 2, x. Dazu Joachim Schulte: Es regnet, aber ich glaube es nicht, in: Wittgenstein über die Seele, Hgg. Eike von Savigny und Oliver R. Scholz, Frankfurt am Main ²1996, S. 194-212. 97 ÜG 194, 174, 563, 179. 98 ÜG 487 f.: „Was ist der Beweis dafür, daß ich etwas weiß? Doch gewiß nicht, daß ich sage, ich wisse es. Wenn also Autoren aufzählen, was sie alles wissen, so beweist das gar nichts.“ Vgl. ÜG 13.
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,Ich glaube es zu wissen‘, müsste keinen mindern Grad der Gewißheit ausdrücken. – Ja, aber man will nicht subjektive Sicherheit ausdrücken, auch nicht die größte, sondern dies, daß gewisse Sätze am Grunde aller Fragen und alles Denkens zu liegen scheinen.“99 „Es ist, als ob das ,Ich weiß‘ keine metaphysische Betonung vertrüge.“100
Aus diesen Zitaten erhellt, dass die philosophische Skepsis nach Wittgenstein dadurch zustande kommt, dass das Bedürfnis nach solidem, nicht angreifbarem Wissen besteht. Die psychologisch motivierte Suche nach festem Halt kann aus existenziellen Gründen nicht erfolgreich sein. Im Glauben bin ich mir dessen bewusst und halte an einer Überzeugung fest, obschon sie nicht vollkommen sicherbar ist. Auch wenn das Geglaubte angreifbar oder gar widerlegbar ist, muss das nichts daran ändern, dass ich es glaube. Diese spezifische Qualität des Glaubens trotz der theoretischen Unbegründbarkeit eröffnet einen Spielraum für ein Fürwahrhalten auch gegen Gründe. Beim Wissen sind Gründe zwingend, beim Glauben nicht. „[…] Gründe sind hier nicht Sätze, aus denen das Geglaubte logisch folgt. Aber nicht, als ob man sagen könnte: fürs Glauben genügt eben weniger als für das Wissen. – Denn hier handelt es sich nicht um eine Annäherung an das logische Folgen.“101 „Die Frage ist doch die: ,Wie, wenn du auch in diesen fundamentalsten Dingen deine Meinung ändern müßtest?‘ Und darauf scheint mir die Antwort zu sein: ,Du mußt sie nicht ändern. Gerade darin liegt es, daß sie „fundamental“ sind.‘“102 „Liegt es denn in meiner Macht, was ich glaube? oder was ich unerschütterlich glaube? Ich glaube, daß dort ein Sessel steht. Kann ich mich nicht irren? Aber kann ich glauben, daß ich mich irre? Ja, kann ich es überhaupt in Betracht ziehen? – Und könnte ich nicht auch an meinem Glauben festhalten, was immer ich später erfahre?! Aber ist nun mein Glaube begründet?“103
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ÜG 415.
100 ÜG 482. 101 PU 481. 102 ÜG 512. 103 ÜG 173.
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„[…] ,Trotz allem, was er tat, hielt ich an dem Glauben fest,…‘ Hier wird gedacht, und etwa immer wieder eine bestimmte Einstellung erkämpft.“104
Dieses Festhalten am Geglaubten ohne Wissen erfordert, was Stanley Cavell acknowledgment nennt. Ausgehend von der Schmerz-Diskussion in den Philosophischen Untersuchungen und der einschlägigen Diskussion der Wittgensteinianer105 entwickelt Cavell seine Gegenüberstellung von „Knowing and Acknowledging“.106 Über die Schmerzen anderer Menschen kann ich nichts wissen, hier hat der Skeptiker Recht, doch weist Cavell darauf hin, dass es gar nicht um Wissen gehe: die Schmerzen (oder Schmerzäußerungen) eines Mitmenschen erfordern eine Reaktion. Anerkennung fremden Leids führt in der Regel zu Mitleid, Hilfe, Trost o. Ä. Der existenziellen seperateness, meinem kognitiv unüberbrückbaren Getrenntsein von anderen Menschen, kann ich nur emotional, praktisch und moralisch begegnen. Mit dem Satz „Ich weiß, dass Du Schmerzen hast“ wird Cavell zufolge kein Wissen ausgedrückt, sondern Empathie und Anerkennung. „Acknowledgment goes beyond knowledge. (Goes beyond not, so to speak, in the order of knowledge, but in its requirement that I do something or reveal something on the basis of that knowledge).“107
Wie oben gesehen, macht dieses Tun das Anerkannte zur hinge, die feststeht und um die sich meine Lebensführung inklusive des Fürwahrhaltens und der Prioritäten dreht. Durch Anerkennung in diesem Sinne, verschwistert mit dem oben erwähnten Vertrauen, das belief als faith qualifiziert, kommt die unbezweifelte Stabilität des Geglaubten zustande und sorgt für Gewissheit, die kognitiv allein nicht zu erlangen ist. Cavell widmet sich vor allem den Philosophischen Untersuchungen, doch er könnte hier Über Gewissheit zitieren, denn dort heißt es: „Das Wissen gründet sich am Schluß auf Anerkennung.“108 Seine Ausführungen stehen im Zusammenhang der Debatte um other minds und external world, weswegen er selten auf Glaubensfragen zu sprechen kommt. Doch ist seine Auffassung von acknowledgment anschlussfähig für eine Diskussion des Glaubens bei Wittgenstein auch in
104 PU 575. 105 PU 244 ff.; Cavell bezieht sich vor allem auf Norman Malcolm und John W. Cook. 106 Der gleichnamige Aufsatz erschien in Must we mean what we say (1969), wieder abgedruckt im Cavell-Reader, S. 47-71. 107 Ebd., S. 63. 108 ÜG 378.
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religiöser Hinsicht:109 Wie die Befindlichkeit eines Mitmenschen irrreduzibel fremd bleibt und nur durch Anerkennung eine Bezugnahme erlaubt, so in eminenter Weise auch der radikal Andere, Gott. Ausgehend von der epistemischen Situierung des Glaubens im Gegensatz zum Wissen bei Wittgenstein haben religionsphilosophische Überlegungen Sinn, die nicht auf private Äußerungen rekurrieren müssen.110 Vor allem gelingt es auf dieser Basis, dem mit Bezug auf die Philosophischen Untersuchungen gerne unterstellten Fideismus der religiösen Sprachspiele zu begegnen. Dem Fideismus zufolge gehorcht Glaube eigenen Gesetzen, die nicht rational ausweisbar sind und sein müssen. Ein religiöses Sprachspiel etwa müsste sich nur intern plausibilisieren, so dass Teilnehmer dieses Sprachspiels keine Legitimationsprobleme haben. Damit ginge eine Hermetik einzelner Sprachspiele einher – sobald ein Gläubiger rationale Standards kennenlernt, geriete er in Konflikt mit den Plausibilitätskriterien innerhalb des Religiösen.111 Auf der Basis von Über Gewissheit ist deutlich geworden, dass es bei Wittgenstein tatsächlich kulturrelative Aspekte gibt. Eine natürliche Theologie jedenfalls lässt
109 Cavells vielfältige Arbeiten zum Umgang mit Skepsis angesichts der theoretischen Unwiderlegbarkeit führen meist in die Literatur. Es gibt allerdings auch Anklänge an religiöse Themen: „Here is a source of our gratitude to poetry. And this sense of unknownness is a competetitor of the sense of childish fear as an explanation for our idea, and need, of God.“ a. a. O., S. 70. Vgl. auch Cavells „Declining Decline“, wo die Philosophischen Untersuchungen als „spiritual struggle“ akzentuiert werden und Wittgenstein als Philosoph „in exile from oneself“ charakterisiert wird, Cavell Reader (Fußnote 8), S. 325 f. 110 Auffällig ist, dass die religionsphilosophische Wittgensteinforschung – sofern sie sich nicht mit religiösen Sprachspielen oder dem mystischen Unsagbaren zufrieden gibt – gerne auf Tagebücher, Gespräche oder Vorlesungsmitschriften Bezug nimmt. Etwa in den von Ilse Somavilla herausgegebenen Denkbewegungen (Tagebücher 1930-1932 und 1936-1937, Frankfurt am Main 1999) zeigt sich Wittgenstein als jemand, der mit religiösen Fragen ringt und immer wieder Kierkegaard und Luther etc. kommentiert. Biografisches Material gibt ihn als Leser der Confessiones des Augustinus oder von Tolstojs Evangelien zu erkennen. So interessant all dies ist, die Spuren, die die private Religiosität in den philosophischen Texten hinterlassen hat, sind dürftig und nur sehr forciert argumentativ zu nutzen. 111 In meiner Dissertation über Kierkegaard und Wittgenstein (Fußnote 10) habe ich ausführlich diskutiert, inwiefern der viel zitierte Sprung bei Kierkegaard etwas mit Fideismus zu tun hat und ob Wittgenstein zufolge eine ähnliche Denkfigur in der Religion besteht. Auch die einschlägige Sekundärliteratur dazu findet sich darin.
G RAMMATIK
DES
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sich mit Wittgenstein nicht konzipieren.112 Doch erlaubt die Rekonstruktion des Glaubens und die Cavellsche Auffassung von acknowledgment einen starken, weil epistemisch ansetzenden religionsphilosophischen Bezug. Wittgenstein gibt selber Ansätze dazu und bezieht sein Glaubensverständnis auf religiöse Dimensionen: „Aber was Menschen vernünftig oder unvernünftig erscheint, ändert sich. Zu gewissen Zeiten scheint Menschen etwas vernünftig, was zu andern Zeiten unvernünftig schien. […] Aber gibt es hier nicht ein objektives Merkmal? Sehr gescheite und gebildete Leute glauben an die Schöpfungsgeschichte der Bibel, und andere halten sie für erwiesenermaßen falsch, und diese Gründe sind jenen bekannt.“113 „Ist dies nicht ganz so, wie man einem Kind den Glauben an einen Gott, oder daß es keinen Gott gibt, beibringen kann, und es je nachdem für das eine oder andere triftig scheinende Gründe wird vorbringen können?“114
In den Vermischten Bemerkungen wird man mit dieser Stoßrichtung besonders fündig, hier nur eine kleine Auswahl: „Der feste Glaube. (An eine Verheißung z. B.) Ist er weniger sicher als die Überzeugung von einer mathematischen Wahrheit? – Aber werden dadurch die Sprachspiele ähnlicher?“115 „Die Religion ist sozusagen der tiefste ruhige Meeresgrund, der ruhig bleibt, wie hoch auch die Wellen oben gehen. –“116
Auch die Tagebücher sind in diesem Zusammenhang ergiebig und besetzen die epistemische Grundlosigkeit mit religiöser Autorität: „,Es ist gut, weil Gott so befohlen hat‘ ist der richtige Ausdruck für die Grundlosigkeit.“117
112 Der oben bereits zitierte PU 373 lautet vollständig: „Welche Art von Gegenstand etwas ist, sagt die Grammatik. (Theologie als Grammatik)“. 113 ÜG 336. Vgl. ÜG 239. 114 ÜG 107. 115 VB, S. 554, Eintrag von 1948. 116 VB, S. 525, 1946. 117 Vgl. Denkbewegungen, Eintrag vom 6.5.1931, S. 43.
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Dieser Eintrag zeigt beispielhaft, inwiefern sich die epistemische Verortung des Glaubens bei Wittgenstein für religionsphilosophische Anverwandlungen anbietet. Religiöser Glaube ist damit eine Sorte Glaube unter vielen anderen. Wer nicht religiös ist, glaubt dennoch, er muss es sogar, wenn er die Grundlosigkeit bewältigen will, um Gewissheit zu etablieren und Wissen möglich zu machen. Wittgenstein zeigt, wie eine Vielzahl heterogener Faktoren für die Stabilisierung von Gewissheit zuständig ist und damit Glauben zu einer komplexen Angelegenheit werden lässt. So eröffnet Glaube nicht nur einen Spielraum für weltanschauliche Dimensionen und Subjektivität, er gewährt auch die Entstehungsbedingungen für die kognitiven Leistungen, die für Wissen sorgen. „Was ich weiß, das glaube ich.“118
118 ÜG 177.
„Geometrische Überzeugungskraft“ Wittgensteins Konzeption performativer Bildevidenz U LRICH R ICHTMEYER „Mich interessiert […] das Phänomen des unmittelbaren Einsehens […] als einer Erscheinung im Handeln des Menschen.“ (Wittgenstein)
Das als Motto vorangestellte Zitat findet sich inmitten jener nachgelassenen Texte Ludwig Wittgensteins, die zwischen 1937 und 1944 geschrieben und dann posthum unter dem Titel Bemerkungen über die Grundlagen der Mathematik1 veröffentlicht wurden. Sie sind in einem auch für Wittgensteins Texte auffällig hohen Maße von Zeichnungen durchzogen, allerdings handelt es sich bei diesen geometrisch anmutenden Strichgrafiken immer bereits um mehr als um eine bloße Ansammlung kommentierter Illustrationen. Vielmehr nimmt Wittgenstein, indem er mit Zeichnungen argumentiert, zugleich eine intensive Befragung der spezifischen Qualitäten grafischer Bilder sowie der Prozesse ihrer Hervorbringung vor, so dass wir hier eine philosophische Praxis kennenlernen, die mit Zeichnungen und teilweise auch im Zeichnen die Eigenheiten bildlichen Argumentierens eruiert. In
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Die mehrteilige Textsammlung umfasst Typoskripte aus den Jahren zwischen: Teil 1 (1937-38), Teil 2 (1938), Teil 3 (1939-40), Teil 4 (1942-44), Teil 5 (1942-44), Teil 6 (ca. 1943-44), Teil 7 (1941-44). Herausgegeben von: G.E.M. Anscombe, Rush Rhees, G.H. von Wright, Oxford 1956. Zitiert wird nach der deutschen Ausgabe: Ludwig Wittgenstein: Werkausgabe in 8 Bänden, Frankfurt am Main 1984, Band 6 (im Text abgekürzt als BGM).
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weiten Passagen der Bemerkungen über die Grundlagen der Mathematik tritt der anerkannte Sprachphilosoph deshalb als Bildphilosoph in Erscheinung.2 Alain Badiou hat Wittgenstein jüngst eine hohe Unkenntnis mathematischer Probleme attestiert und sein Projekt bereits vor diesem Hintergrund als „antiphilosophisch“ ausgewiesen.3 Diese Kritik darf aber, unabhängig von der Frage nach ihrer Berechtigung, zweierlei nicht unterschlagen: Erstens hat der von den Herausgebern durch eine posthume Auswahl von Manuskripten und Typoskripten zusammengestellte und als Bemerkungen über die Grundlagen der Mathematik thematisch einschlägig titulierte Nachlassband zuallererst ein eigenständig mathematisches Werk des Philosophen annonciert, so dass die Frage nach der mathematischen Qualität der Texte nicht als alleingültiger Bewertungsmaßstab für Wittgensteins philosophische Argumentationen zulässig ist.4 Zweitens impliziert eine eventuelle mathematische Unkenntnis, die diesen Texten entnehmbar sein soll, auch dann, wenn sie zurecht kritisiert würde, noch keinen Hinweis auf ein grundsätzlich antiphilosophisches Projekt ihres Autors. Denn da sich die philosophische Insistenz von Wittgensteins Nachfragen keineswegs ausschließlich auf mathematische Themen konzentriert,5 sondern vielmehr, wie ich im Folgenden
2
Wittgensteins Alleinstellungsmerkmal besteht gegenüber anderen zeichnenden Philosophen darin, dass er die philosophische Reflexion direkt auf das zeichnerische Handeln, auf die Geltungsfragen und Eigenheiten des Bildbeweises richtet und in diesem Sinne Bildphilosophie betreibt. In der Vielzahl und Nachdrücklichkeit entsprechender Fragen zum bildlichen Argumentieren und Beweisen haben die oft nur noch als wohlfeiles Bonmot kursierenden Analogiebildungen zwischen Denken und Zeichnen ihre philosophische Berechtigung: „Das Denken ist ganz dem Zeichnen von Bildern zu vergleichen.“; oder: „Der Denker gleicht sehr dem Zeichner, der alle Zusammenhänge nachzeichnen will.“ (Wittgenstein, Werkausgabe, Band 8, Frankfurt am Main 1984, S. 466.), sind Sätze, die erst im Kontext der Gedankengänge des zeichnenden Philosophen ihre volle Berechtigung entfalten.
3
Alain Badiou, Wittgensteins Antiphilosophie, Berlin u. Zürich 2008.
4
Der Titel ist teilweise gerade wegen der „bildlastigen“ Argumentation Wittgensteins kritisiert worden. So z. B. von Joachim Schulte: „‚Die mathematischen Probleme der sogenannten Grundlagen liegen für uns der Mathematik so wenig zu Grunde, wie der gemalte Fels die gemalte Burg trägt‘ (BGM VII, § 16). Angesichts solcher Bemerkungen fragt man sich, mit welcher Begründung die Herausgeber den Titel ‚Bemerkungen über die Grundlagen der Mathematik‘ gewählt haben.“ (Joachim Schulte, Wittgenstein. Leben. Werk. Wirkung, Frankfurt am Main 2005, S. 101 f.).
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Eine entsprechende thematische Vielschichtigkeit hat ebenfalls Schulte hervorgehoben: „Man darf nicht glauben, für Wittgenstein habe es eine klare Trennung zwischen seinen
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ausführen möchte, in hohem Umfang bild- und medientheoretische Probleme diskutiert, wäre ihre philosophische Tragweite auch in diesem Kontext zu bewerten. Was aufgrund mathematischer Defizite als antiphilosophisch erscheint, ist durch seine intensive Erörterung der Wirkung und Geltung von Beweisbildern jedoch als Beitrag zu einer Medienphilosophie des Bildes zu verstehen, die einen Schwerpunkt auf die epistemische Heuristik wissenschaftlicher Visualisierungen legt. Warum die vorliegenden Bemerkungen über die Grundlagen der Mathematik als ein mathematisches Textkonvolut interpretierbar sind, liegt wohl unter anderem daran, dass sie durchgehend und wiederholt Fragen nach der Funktionsweise des Beweises stellen. Allerdings versteht Wittgenstein hierunter nahezu ausschließlich „Bildbeweise“ oder „Beweisbilder“ (BGM, S. 161).6 Auch spricht er den Beweis buchstäblich als ein „Vorbild“ (BGM, S. 161) an. Ein „Bild (oder eine Bilderreihe) wirkt wie ein Beweis“ (BGM, S. 235) heißt es da z. B., und spätestens, wenn Wittgenstein diese Betrachtungen illustriert, wird klar, dass sie die wenigen expliziten Bezüge zur euklidischen Geometrie7 schnell verlassen und mit der zentralen Frage nach der Spezifik ihres bildlichen Überzeugens keine mathematische Problemlage mehr verhandeln.8 Die bild- und medientheoretische Kernfrage dieser Notate und Zeichnungen lautet: Wie wirken und gelten Bildargumentationen? Beantwortet wird sie mit philosophischen Bemerkungen über die Grundlagen der Medialität des Bildes, in denen Wittgenstein vor allem das Thema der bildlichen Evidenz gänzlich neu konturiert, indem er es an die Performativität des Zeichnens und die Eigenheiten bildlichen Zeigens bindet. Mich interessiert nun im vorliegenden Aufsatz, wie Wittgenstein dabei das „Phänomen des unmittelbaren Einsehens“ als eine Erscheinung im zeichnerischen
Reflexionen über mathematische Fragen und seinen übrigen philosophischen Gedanken gegeben. In vielen Manuskripten gehen mathematikbezogene Bemerkungen und solche über Sprache oder seelische Vorgänge kunterbunt durcheinander.“ (Schulte, Wittgenstein. Leben. Werk. Wirkung, a. a. O., S. 99). 6
„Der Beweis (das Beweisbild) zeigt uns das Resultat eines Vorgangs (der Konstruktion); und wir sind überzeugt, dass ein so geregeltes Vorgehen immer zu diesem Bild führt.“ (BGM, S. 159).
7
BGM, S. 44, 75, 118, 186, 307.
8
Selbst dort, wo das Phänomen des Überzeugens nicht explizit an Beweisbilder sondern auch einmal an mathematische Beweise gebunden ist, werden disziplinär weitreichendere Themen, wie das des Regelfolgens angeführt: „Bedenken wir, wir werden in der Mathematik von grammatischen Sätzen überzeugt; der Ausdruck, das Ergebnis, dieser Überzeugtheit ist also, dass wir eine Regel annehmen.“ (BGM, S. 162, Hervorhebungen im Original).
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Handeln des Menschen problematisiert. Damit tritt das Phänomen des unmittelbaren Einsehens als eine spezifische Qualität des Überzeugtseins im Kontext der Hervorbringung von Bildern auf und somit als das Resultat einer besonderen Praxis, die für Wittgensteins Bildbegriff insgesamt leitend ist.9 Wittgenstein verwendet für dieses Phänomen besonders in den Bemerkungen über die Grundlagen der Mathematik den Ausdruck des „einprägsamen Bildes“ oder vielmehr der Einprägsamkeit, er spricht synonym aber auch von der „Übersehbarkeit“ (z. B. BGM, S. 174), der „Übersichtlichkeit“ (BGM, S. 95), der „geometrische[n] Überzeugungskraft“ (z. B. BGM, S. 174) oder „Beweiskraft“ (BGM, S. 158) des entstehenden Bildes sowie insgesamt immer wieder vom Überzeugen. Da Wittgenstein als zeichnender Philosoph keineswegs ein Theoretiker der Zeichnung sein möchte, interessiert ihn an dem exemplarisch besprochenen Phänomen natürlich immer auch anderes, etwa das Problem des Regelfolgens, das anhand der Zeichnungen und besonders in Befragung der Bedingungen des Nachzeichnens reflektiert werden soll.10 Im Kontext einer Diskussion mathematischer Probleme geht Wittgenstein dabei wiederholt auf die zeichnerischen Demonstrationen der euklidischen Geometrie ein.11 Offensichtlich geht es im Kern dieser Fragen aber nicht um mathematische, sondern um bildtheoretische Fragen im Umkreis der Evidenz, die mit dem Eigensinn bildlichen Überzeugens verschiedene Aspekte erfassen. Der Titel der geometrischen Überzeugungskraft bindet das
9
„Ein Bild ist für Wittgenstein etwas, das wir herstellen wie ein Artefakt“. Vgl. Allan Janik und Stephen Toulmin, Wittgensteins Wien, München/Zürich 1987, S. 247; „Was Wittgenstein aber tatsächlich besonders macht, ist, dass er nicht von einer Theorie des Verstehens faselt, sondern mit seinen Objekten arbeitet, er tut etwas.“ Vgl. Allan Janik, Philosophie kann nie Theorie sein, in: Fabian Goppelsröder, WittgensteinKunst, Berlin 2006, S. 140; „So kommt es bei ihm zu einer das künstlerische Moment des Zeigens grundlegend integrierenden philosophischen Praxis, die weder einfach die Auflösung der Philosophie zugunsten der Kunst ist noch akademisches Besitzstandsdenken. Die Zwischenstellung war Wittgenstein wichtig. Sie ist wohl das wichtigste Zeichen seiner – dann eben doch – künstlerischen Philosophie.“ (Goppelsröder, WittgensteinKunst, a. a. O., S. 142).
10 Vgl. hierzu Ulrich Richtmeyer: Ist Nachzeichnen ein Regelfolgen?, in: Rheinsprung 11, Nr. 3, Die Händigkeit der Zeichnung, Internet Journal, Ausgabe hg. v. Hana Gründler, Toni Hildebrandt, Omar Nasim, Wolfram Pichler, Basel 2012, S. 110-126. 11 Wittgenstein argumentiert damit in unmittelbarer Zeitgenossenschaft zu Gaston Bachelards Neuem wissenschaftlichen Geist (1934), der ebenfalls das „Schicksal“ wissenschaftlicher Visualisierungen emblematisch aus der Geschichte der Geometrie und in Abgrenzung zu ihr entwickelt hat.
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Thema des bildlichen Überzeugens an die besonderen Bedingungen einer strikt reglementierten Bildproduktion – auf die die Ergebnisse der Überlegungen allerdings nicht eingeschränkt zu werden brauchen. Die geometrische Überzeugungs- oder auch Beweiskraft fußt auf einer synoptischen Wahrnehmung, die das Beweisbild als etwas Übersichtliches auffasst, dessen Plausibilität ein Sollen impliziert: „Zum Beweis gehört Übersichtlichkeit. Wäre der Prozess, durch den ich das Resultat erhalte, unübersehbar, so könnte ich zwar das Ergebnis, daß diese Zahl herauskommt, vermerken – welche Tatsache aber soll es mir bestätigen? Ich weiß nicht: ‚was herauskommen soll‘.“ (BGM, S. 95 (1937-1938))12
Zur Übersichtlichkeit des Beweisbildes gehört, im Unterschied zu Deduktionen der formalen Logik oder auch der Mathematik, also zunächst der Zwang einer Überzeugung, die sich visuell konstituiert: „Wenn wir beim Beweis sagen: ‚Das muss herauskommen‘ – so nicht aus Gründen, die wir nicht sehen.“ (BGM, S. 171), heißt es mit systematischer Deutlichkeit. Die an der hervorgebrachten Zeichnung mögliche Überzeugung stellt sich also im Bereich der visuellen Wahrnehmung des Zeichnenden und auf der Basis der Sichtbarkeit des Bildes ein. Sie hat einen deutlichen Handlungsbezug, der schon in der ungekürzten Fassung des oben angeführten Mottos betont und nach zwei Seiten abgegrenzt wird: „Mich interessiert nicht das unmittelbare Einsehen einer Wahrheit, sondern das Phänomen des unmittelbaren Einsehens. Nicht (zwar) als einer besonderen seelischen Erscheinung, sondern als einer Erscheinung im Handeln des Menschen.“ (BGM, S. 241) In zahlreichen weiteren Einlassungen bekräftigt Wittgenstein, dass ihn am Beweis(bild) allein der Modus des bildlichen Überzeugens interessiert, nicht seine psychologische Dimension oder sein Wahrheitsbezug: „Der Beweis überzeugt uns von etwas – aber nicht der Gemütszustand des Überzeugtseins interessiert uns – sondern die Anwendungen, die diese Überzeugung belegen.“ (BGM, S. 161)
12 Hier korreliert der Begriff der Übersehbarkeit mit dem später von Wittgenstein verwendeten der „übersichtlichen Darstellung“. „Die Forderung nach Übersichtlichkeit der Darstellung (PhU, § 122) korrespondiert mit der Feststellung, dass unübersichtliche Beweise in einem gewissen Sinn überhaupt keine Beweise sind (BGM III, § 43)“ (Schulte, Wittgenstein. Leben, Werk. Wirkung, a. a. O., S. 99).
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Wenn man nun fragt, wie sich in solchen Anwendungen der Erfolg des Überzeugens zeigt, so sind auch die Wahrheitsfragen uninteressant. Die Überzeugung, die Wittgenstein am Bildbeweis beschreibt, soll jedoch von deutenden Auslegungen des Bildes unabhängig sein. „Daher lässt uns die Aussage kalt: der Beweis überzeuge uns von der Wahrheit dieses Satzes, – da dieser Ausdruck der verschiedensten Auslegungen fähig ist.“ (BGM, S. 161) Auch die empirischen Bedingungen des Überzeugens hält Wittgenstein für uninteressant: „Erfahrung lehrt mich freilich, wie die Rechnung ausgeht; aber damit erkenne ich sie noch nicht an.“ (BGM, S. 98) Vielmehr sieht er das Phänomen des unmittelbaren Einsehens mit den Regeln und Bedingungen geometrischer Beweiszeichnungen verknüpft, denen es zugleich auch als ein genuin Unverfügbares widerspricht. „Wenn ich schrieb ,der Beweis muss übersichtlich sein‘, so hieß das: Kausalität spielt im Beweis keine Rolle.“ (BGM, S. 246) Überzeugung lässt sich nicht in Ursache-Wirkungs-Relationen erzwingen. Auch die konstruktive Herleitung des Beweises ergibt für die Konstitution von Überzeugung keine hinreichende Bedingung: „Die Überzeugung also, die der Beweis hervorbringt, kann nicht nur von der Beweiskonstruktion herrühren.“ (BGM, S. 167) Vielmehr gelten Wittgenstein die Phänomenalität des Bildes und die visuelle Wahrnehmung als Grundlage einer Evidenz, die es jenseits seiner Erfahrungsfundamente, genauer im bildgebenden „Handeln des Menschen“, zu konturieren gilt: „Während des Beweises wird unsere Anschauung geändert – und daß das mit Erfahrungen zusammenhängt, tut dem keinen Eintrag.“ (BGM, S. 239) Anhand dieser systematischen Differenzierungen gewinnen die Überlegungen ihre medienphilosophische Brisanz und auch ihre mögliche bildtheoretische Geltung, die über den geometrischen Bezug weit hinausreicht.
1
R EPRODUKTION UND DIE PERFORMATIVE S INGULARITÄT VON B EWEISZEICHNUNGEN
Wittgenstein bezeichnet das „Bild (Beweisbild) [als] ein Instrument des Überzeugens“ (BGM, S. 435), allerdings wäre diese These zunächst am gewählten Gegenstand quasi geometrischer Zeichnungen einzugrenzen. Ihre stark schematisierte Zeichensprache schränkt die grafisch möglichen Mehrdeutigkeiten des Bildes ein.13 Die argumentative Überzeugungsleistung des Bildes kann deshalb nicht als
13 „Die definitiv ,richtige‘ Zeichnung etabliert möglichst eindeutige Verhältnisse, indem sie die Ambivalenz der Linie tilgt. Sie stattdessen auf eine Vorlage, einen Riss oder Bauplan festlegt, der sich daran messen lassen will, der Hervorbringung eines Artefakts
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eine künstlerische Wirkung oder ein ästhetischer Effekt gelten, sondern muss mit einer anderen Auffassung von bildlicher Evidenz erklärt werden. Begründen lässt sich eine solche veränderte Auffassung mit dem ebenfalls aus der Geometrie bezogenen, eigentlich trivialen aber systematisch zugleich folgenschweren Hinweis, dass das überzeugende Beweisbild auf eine Selbstbeteiligung des oder der Überzeugten an der Aktivität seiner Hervorbringung notwendig angewiesen ist. Die von Wittgenstein am Beweisbild diskutierte Überzeugungsleistung wird damit auf den Prozess der zeichnerischen Hervorbringung verwiesen, wodurch, vorausgreifend gesprochen, die singuläre Performativität des Bildes als unverzichtbare Bedingung seiner Evidenz behauptet werden kann. Eine solche These stünde allerdings quer zu den bei Wittgenstein diskutierten geometrischen Beweiszeichnungen. Als grundsätzlich reproduzierbare behaupten sie eine tendenzielle Irrelevanz der zeichnerischen Handlung, womit es schwer wird, die Überzeugungskraft des Beweisbildes mit der jeweiligen Singularität seiner Ausführung zu begründen. Die Qualität der einzelnen zeichnerischen Ausführung kann vom Bildbeweis offenbar sogar vollkommen ignoriert werden: „Die Zeichnung eines Euklidischen Beweises kann ungenau sein, in dem Sinne, daß die Geraden nicht gerade sind, die Kreisbögen nicht genau kreisförmig etc. etc. und dabei ist die Zeichnung doch ein exakter Beweis und daraus sieht man […], daß sie einen Satz der Geometrie, nicht einen über die Eigenschaften von Papier, Zirkel, Lineal und Bleistift beweist. [Hängt zusammen mit: Beweis ein Bild eines Experiments].“ (BGM, S. 143)
Man kann diese Praxis mit den Worten zusammenfassen, dass die geometrische Beweiszeichnung eben immer nur eine hinreichende Genauigkeit aufweisen muss. Befragt man jedoch, wie es Wittgenstein tut, diesen pragmatisch legitimen modus operandi des Beweisbildes nach den Bedingungen der „geometrischen Überzeugungskraft“ so tritt ein bildtheoretisches Paradox zutage. Die Zeichnung eines euklidischen Beweises hebt sich ja nicht nur von ihrer singulären Ausführung ab, indem sie mit einem „Satz der Geometrie“ einen allgemeinen Sachverhalt demonstriert und behauptet, der bereits etwas Begriffliches sehen lässt.14 Vielmehr wird die Bildlichkeit des Beweises damit sowohl auf- als
zu dienen oder dessen Gebrauchsanweisung.“ (Gottfried Boehm, Spur und Gespür. Zur Archäologie der Zeichnung, in: Friedrich Teja Bach, Wolfram Pichler (Hgg.), Öffnungen. Zur Theorie und Geschichte der Zeichnung, München 2009, S. 43-59). 14 „Wenn wir beim Lesen nicht Einzelmarkierungen, sondern Konfigurationen und Relationen sehen, so ist zugleich klar, dass wir in einer empirischen Konfiguration in all ihrer kontingenten Individualität und konkreten Geformtheit etwas Allgemeines sehen.
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auch abgewertet. Abgewertet wird sie, weil die grafische Demonstration allgemeingültiger geometrischer Gesetze die einzelne Ausführung immer in einen sekundären Status versetzt, aufgewertet wird sie umgekehrt aber schon deshalb, weil jede grafische Demonstration allgemeiner Regeln unverzichtbar auch eine Reproduktion im Medium des Bildes ist und ohne es nicht auskommt. Allein das Gebot der Reproduzierbarkeit geometrischer Beweisbilder fundiert ihre Überzeugungsleistung also immer schon im Medium des Bildes und damit zugleich in der Performativität ihrer Hervorbringung. Dass geometrische Gesetze schriftsprachlich kommuniziert werden können und letztlich auch algorithmisierbar sind,15 schwächt nur den Umfang dieser Implikation von Bildlichkeit ab, hebt sie aber nicht grundsätzlich auf: Was mit den Mitteln des Bildes als geometrisch allgemeingültig demonstriert wird, muss immer auch bildlich reproduzierbar sein. „Zeichne!“ lautet der zentrale Imperativ der euklidischen Geometrie.16 Damit wird die je singuläre Ausführung des bloß Anschaulichen aber zur Grundlage einer bildlichen Materialisation der geometrischen Regel und auch zur Bedingung der Möglichkeit ihres Überzeugens. Allerdings entspricht die Forderung nach seiner Reproduzierbarkeit nach wie vor einer „ikonoklastischen“ Tendenz im Beweisbild, und zwar auch deshalb, weil
Wir sehen in einem geometrischen Diagramm nicht einfach einen Kreis, sondern den Kreis, identifiziert als eine mathematische Entität, die mit den empirisch auftretenden Kreisen nie zur Deckung kommen kann. Wir ‚sehen‘ etwas Begriffliches.“ (Sybille Krämer, Operative Bildlichkeit. Von der ‚Grammatologie‘ zu einer ‚Diagrammatologie‘? Reflexionen über erkennendes Sehen, in: Martina Heßler/Dieter Mersch (Hgg.), Logik des Bildlichen. Zur Kritik der ikonischen Vernunft, Bielefeld 2009, S. 94-122, S. 102). 15 Bereits Bachelard hatte für die überkommene euklidische Geometrie eine algebraische Übersetzbarkeit konstatiert, die auf eine Ersetzbarkeit der Zeichnung hinausläuft: „Bekanntlich war die Äquivalenz der diversen geometrischen Bilder endgültig gesichert, als man herausfand, dass sie alle derselben algebraischen Form entsprechen. […] Den Schlußstein im Beweisgebäude bildet daher die algebraische Form“. (Gaston Bachelard, Der Neue wissenschaftliche Geist (1934), Frankfurt am Main 1988, S. 32). Hierzu Krämer: „Die Eigenschaften der gezeichneten Figur, welche ein geometrisches Objekt vorstellig macht, werden nicht mehr mit den Eigenschaften des mathematischen Objektes selbst identifiziert“. (Sybille Krämer, Sprache-Stimme-Schrift. Sieben Gedanken über die Performativität als Medialität, in: U. Wirth, Performanz. Zwischen Sprachphilosophie und Kulturwissenschaften, Frankfurt am Main 2002, S. 323-346, S. 323). 16 Dieser Imperativ des Zeichnens wird gleichwohl in verschiedenen Synonymen formuliert, die allesamt grafische Operationen meinen: Man zeichne, ziehe, teile, errichte usw. Zit. nach Euklid, Die Elemente. Bücher I bis XIII, Thun/ Frankfurt am Main 1997.
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sich die geometrische Konstruktionsanleitung als diskursiver Kontext natürlich mitreproduziert: „[…] die Figur ist nicht der Beweis“ (BGM, S. 151), hebt Wittgenstein entsprechend hervor, denn wird sie als Beweis gebraucht, muss vom Bildlichen abgesehen werden, weil der Beweis selbst „keine charakteristische visuelle Gestalt hat“ (BGM, S. 151). So ist die Größe der Zeichnung oder das gewählte Material hinsichtlich ihrer geometrischen Regelhaftigkeit ebenso irrelevant wie die Präzision der jeweiligen grafischen Ausführung. Diese ikonoklastische Tendenz des Beweisbildes korreliert deutlich mit der prinzipiell unterstellten Möglichkeit seiner Reproduktion: „Wie reproduzieren wir, kopieren wir einen Beweis? – Nicht zum Beispiel, indem wir Messungen an ihm anstellen“ (BGM, S. 150), heißt es deshalb bei Wittgenstein. So richtet sich die Gebrauchsweise des Bildes als Beweis ausschließlich an seinen reproduzierbaren Bildeigenschaften aus: „‚Beweis‘ nennen wir nur eine Struktur, deren Reproduktion eine leicht lösbare Aufgabe ist. […] Der Beweis muß ein Bild sein, welches sich mit Sicherheit genau reproduzieren lässt. Oder auch: was dem Beweise wesentlich ist, muss sich mit Sicherheit genau reproduzieren lassen. Er kann zum Beispiel in zwei verschiedenen Handschriften oder Farben niedergeschrieben sein. Zur Reproduktion eines Beweises soll nichts gehören, was von der Art einer genauen Reproduktion eines Farbtons oder einer Handschrift ist.“ (BGM, S. 143)
Das Gebot der Reproduzierbarkeit des Beweisbildes markiert daher ein ikonoklastisches Prinzip – allerdings eben nur insoweit, und das ist der entscheidende Punkt, den Wittgenstein herausarbeitet, als damit Bildlichkeit nicht generell in Frage steht. Mit der Unverzichtbarkeit des Bildlichen wird aber auch seine spezifische Weise des Überzeugens innerhalb geometrisch konventionalisierter Beweise rehabilitiert und behauptet. Oder positiv formuliert: die geometrische Überzeugungskraft thematisiert eine genuin ikonische Evidenz der Beweiszeichnung. Der geometrische Beweis kann mit einer durchgehend ikonoklastischen Kritik nicht vollständig beschrieben werden, weil für seine genuine „Überzeugungskraft“ eine visuelle Demonstration in jedem Einzelfall konstitutiv ist, argumentiert Wittgenstein. Mit der erforderlichen systematischen Schärfe wird diese Bedingung in folgenden Sätzen formuliert: „Das ist der Beweis, was uns überzeugt: Das Bild, was uns nicht überzeugt, ist der Beweis auch dann nicht, wenn von ihm gezeigt werden kann, daß es den bewiesenen Satz exemplifiziert.“ (BGM, S. 171)17
17 Oder auch mit einer Analogiesetzung von Überzeugen und Verstehen: „Alles was ich sage, kommt eigentlich darauf hinaus, dass man einen Beweis genau kennen und ihm Schritt für Schritt folgen kann, und dabei doch, was bewiesen wurde, nicht versteht.“ (BGM, S. 282).
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Beweiskräftig wird das Beweisbild also erst, wenn es in seiner konkreten bildlichen Demonstration überzeugt. Damit ist aber die jeweilige Singularität der zeichnerischen Aus- und Vorführung für das Beweisziel unverzichtbar. Sie ermöglicht erst jenes Zusätzliche, auf das das überzeugende Beweisbild angewiesen ist und das Wittgenstein in den Bemerkungen über die Grundlagen der Mathematik auch unter den Begriffen seiner Einprägsamkeit oder Übersehbarkeit thematisiert: „Ich möchte sagen, daß, wo die Übersehbarkeit nicht vorhanden ist, wo also für einen Zweifel Platz ist, ob wirklich das Resultat dieser Substitution vorliegt, der Beweis zerstört ist. Und nicht in einer dummen und unwichtigen Weise, die mit dem Wesen des Beweises nichts zu tun hat.“ (BGM, S. 174) Zum Beweis wird das Bild also zuallererst durch eine spezifische Evidenz, die sich im Erfahrungshorizont seiner Hervorbringung allererst einstellt oder ausbleibt. Erst die Singularität der zeichnerischen Ausführung eines Beweisbildes macht die erhoffte geometrische Überzeugungskraft möglich,18 denn dass ein bestimmter Bildgebrauch das Beweisbild bloß als ein solches kontextualisiert, ergibt für seine Überzeugungskraft wiederum keine hinreichende Bedingung, wie Wittgenstein hervorhebt. Sie ist damit auch unabhängig von einem deklarativen Kontext, der dem Bild die Beweiseignung bloß zuschreiben oder an der Präzision der Ausführung nachweisen würde. Denn: „Sagst du eigentlich etwas anderes als: der Beweis wird als Beweis genommen?“ (BGM, S. 173) Das macht Wittgenstein allerdings, indem er die Zeichnung innerhalb ihres Entstehungsprozesses als ein wahrnehmbares Ereignis diskutiert: „Der Beweis muss ein anschaulicher Vorgang sein. Oder auch: der Beweis ist der anschauliche Vorgang.“ (BGM, S. 173)19 Die Überzeugungsleistung des Bildes konstituiert sich demnach erst in der Anschaulichkeit des zeichnerischen Handelns und bedarf dieser als einer notwendigen Bedingung der diskutierten bildlichen Evidenz. Wittgenstein beschreibt damit
18 Dies kann auch als Nachbesserung oder Modifikation der Zeichnung erfolgen: „Ich will sagen: Wenn man eine nicht übersehbare Beweisfigur durch Veränderung der Notation übersehbar macht, dann schafft man erst einen Beweis, wo früher keiner war.“ (BGM, S. 143). Die heuristische und letztlich auch epistemisch bedeutsame Produktivität des Beweisens gründet demnach auf einer visuellen Synoptik, die in der Bildproduktion entsteht. 19 Goodman unterschied dahingegen eine künstlerische Grafik von einem Diagramm unter Hinweis auf ihre unterschiedliche syntaktische Natur (vgl. Nelson Goodman, 1997, S. 212 f.). In der ersteren sind Farbigkeit, Größe, Materialität der Ausführung „konstitutive Merkmale ihrer Darstellung“, vgl. Astrit Schmidt-Burkhardt, Wissen als Bild. Zur diagrammatischen Kunstgeschichte, in: Heßler/Mersch, Logik des Bildlichen, a. a. O., S. 166. Wittenstein unterläuft diese Differenz, womit seine Betrachtungen auch auf ein bildtheoretisch Allgemeines abzielen.
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das „Phänomen des unmittelbaren Einsehens“ tatsächlich als eine „Erscheinung im zeichnerischen Handeln des Menschen“. Diese Überzeugungsleistung des Bildes ist damit aber auch nicht mehr und nicht weniger als ein bloß möglicher Effekt im zeichnerischen Handeln, der sich keineswegs schon durch die Transitivität der absichtsvollen Hervorbringung, ihre kalkulierte und erbrachte Zweckhaftigkeit garantieren lässt. Damit ist aber auch gesagt, dass dieser von Wittgenstein so intensiv erörterte und mit den systematisch entscheidenden Fragestellungen eingekreiste Begriff einer spezifisch bildproduktiven Evidenz die Performativität des Zeichnens zur Bedingung hat. Denn: „Nicht etwas hinter dem Beweise, sondern der Beweis beweist.“ (BGM, S. 173), betont Wittgenstein. So wird die singuläre Ausführung einer jeden Demonstration trotz aller Irrelevanz der gewählten Mittel für die Regelhaftigkeit des Beweisziels unverzichtbar. Und sei es nur, wie sich im Anschluss an eine Überlegung von Peirce nahelegen lässt, um überhaupt die Interpretierbarkeit konventioneller geometrischer Figuren zu ermöglichen.20 Berücksichtigt werden damit auch jene singulären Bildqualitäten, auf die der Beweis unter der Bedingung seiner bildlichen Reproduzierbarkeit verzichtet hat, die er aber selbst dort noch benötigt, wo er sich seine eigene Genauigkeit demonstriert: „Man könnte z. B. die Figur
20 „Ein Diagramm ist eine besonders brauchbare Art von Icon, weil es gewöhnlich eine Menge von Details auslässt und es dadurch dem Geist gestattet, leichter an die wichtigen Eigenschaften zu denken. Die Figuren der Geometrie sind, wenn die Zeichnung genau ist, derart getreue Ähnlichkeiten ihrer Objekte, dass sie fast zu Fällen von ihnen werden. Aber jeder, der die Geometrie studiert hat, weiß, dass es nicht notwendig und nicht einmal nützlich ist, sie so genau zu zeichnen, denn selbst dann, wenn sie nur grob gezeichnet sind, sind sie ihren Objekten immer noch genügend ähnlich in den Einzelheiten, auf die die Aufmerksamkeit gelenkt werden soll.“ (Charles Sanders Peirce, Semiotische Schriften, Band 1, Frankfurt am Main 2000, S. 205).
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als Beweis dafür nehmen, dass 100 Parallelogramme, so zusammengesetzt, einen geraden Streifen geben müssen. Wenn man dann wirklich 100 zusammenfügt, erhält man nun etwa einen schwach gebogenen Streifen. – Der Beweis aber hat uns bestimmt, das Bild und die Ausdrucksweise zu gebrauchen: Wenn sie keinen geraden Streifen geben, waren sie ungenau hergestellt.“ (BGM, S. 58)
Das singuläre Beweisbild, das bereits ebenso ungenau ist, wie die durch es denkbar werdende experimentelle Ausführung, ist gleichwohl hinreichend überzeugend, um sich als Kriterium der Genauigkeit zu präsentieren. Anders ausgedrückt: Der Gebrauch einer in ihrer bildlichen Singularität tendenziell bereits mit Mängeln behafteten Zeichnung als Beweisbild macht es überhaupt erst möglich, ihre singulären Bildqualitäten in sekundäre zu überführen. Die Überzeugung geht hier vom missratenen Bild aus, macht seine singuläre Verfehlung gegenüber einem geometrischen Ideal zu jenem Maßstab, ohne den das Ideal gar nicht vorstell- und formulierbar ist. So kehrt Wittgenstein die Begründungshierarchie geometrischer Beweisbilder um, indem er darauf hinweist, dass die Idealfigur selbst nicht überzeugen kann, weil sie notorisch auf prinzipiell mangelhafte, nämlich singuläre Ausführungen angewiesen ist.
2
H YBRIDITÄT UND S YNOPSIS
Die spezifische Überzeugungsqualität des Beweisbildes wird von Wittgenstein explizit in seine zeichnerische Hervorbringung verlegt, so etwa wenn es heißt, dass erst „das Ziehen der Linien überzeugt“, dass der „Beweis der anschauliche Vorgang ist“ oder auch, dass während des Beweises „unsere Anschauung geändert“ wird. Sie wird damit zugleich als etwas aufgefasst, das sich auf unvorhersehbare und damit unverfügbare Weise einstellt. Denn ob der Beweis überzeugt, lässt sich nun nicht mehr aus seinen Konstruktionsanweisungen deduzieren, sondern ist der Offenheit des jeweiligen zeichnerischen Ausführungsprozesses überlassen. Gleichwohl stellt sich die Frage, wie sich die „Überzeugungskraft“ geometrischer Beweisbilder zu den widerstrebenden Komponenten ihrer spezifischen Hybridität verhält, zu der Tatsache also, dass sich in ihnen immer eine singuläre Ausführung mit einem universalen Geltungsanspruch vermittelt. Ist das von Wittgenstein als zentrales Problem seiner Überlegungen zu Beweisbildern hervorgehobene Phänomen der Überzeugung oder auch des „unmittelbaren Einsehens“ im bildproduktiven Handeln ein einstelliges oder ein mehrstelliges Phänomen?
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Das heißt, werden in der überzeugenden Evidenz geometrischer Beweiszeichnungen Differenzstrukturen aktiv, wie sie bereits für künstlerische Bilder behauptet wurden?21 Das Phänomen des unmittelbaren Einsehens, das als ein im bildproduktiven Handeln konstituiertes Ereignis aufgefasst wird, ist ja keineswegs voraussetzungslos. Es tritt in der zielstrebigen, instrumentalen Hervorbringung einer hybriden, grafischen Struktur mit ausdifferenzierter Semantik auf und erscheint damit als ein auf vielfältige Weise vermitteltes. Beschrieben wird dieses „unmittelbare Einsehen“ andererseits jedoch mit dem Ausdruck der „Übersehbarkeit“, der eine synoptische Operation nahelegt, die entsprechend als ein einstelliges Wahrnehmungsphänomen beschrieben werden müsste. Wittgensteins Rede von der „Übersehbarkeit“ des Beweisbildes enthält damit die ganze Etymologie des Synoptischen, weil sie nicht nur als eine Zusammenschau, sondern auch als ein Entwurf gilt, und sie integriert die Doppeldeutigkeit des Übersehens, das ja nicht nur Ausdruck einer visuellen Ordnung sein kann, sondern auch einer spezifischen Blindheit, die über eigenlich Sichtbares hinweggeht. Wittgenstein befragt dieses Verhältnis zwischen der synoptischen Phänomenalität und der hybriden Struktur des Beweisbildes in den Bemerkungen über die Grundlagen der Mathematik zunächst an einigen eigenen Zeichnungen, wobei weiterhin die performativen Aspekte des bildlichen Argumentierens als notwendige Bedingung einer möglichen Überzeugung betont werden: „Wie ist es aber, wenn ich mich davon überzeuge, daß das Schema dieser Striche:
(a)
21 Etwa im Anschluss an Gottfried Boehms Konzept der ikonischen Differenz: „So unterschiedlich Evidenzen in Erscheinung treten mögen, sie beruhen mithin auf der doppelten Sicht- beziehungsweise Lesbarkeit einer ins Auge gefassten Sache. Sie steigert den Präsenzgrad eines Gegebenen, hebt oder stellt es heraus.“ (Gottfried Boehm, Augenmaß. Zur Genese der ikonischen Evidenz, in: Ders. u. a. (Hgg.), Movens Bild. Zwischen Evidenz und Affekt, München 2008, S. 14-43, S. 16).
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gleichzahlig ist mit dem Schema dieser Eckpunkte:
(b) (ich habe die Schemata absichtlich einprägsam gemacht), indem ich zuordne:
(c)“22
Obwohl hier also die Handlung des Zeichnens rein instrumental motiviert ist und in der Ausführung zweckmäßig präzise agiert, gehört der Vollständigkeit des zeichnerischen Beweises der Modus der Ausführung auf unverzichtbare Weise selbst an. Im Ziehen der Projektionslinien entsteht jene Überzeugung, die den geführten Beweis vom Einzelfall löst und für weitere Anwendungen qualifiziert. „Und so prägt der Beweis durch Ziehen der Projektionslinien einen Vorgang ein, den der eins-zu-eins Zuordnung der H[and] und des D[rudenfußes]. – Aber überzeugt er mich nicht auch davon, dass diese Zuordnung möglich ist?“ (BGM, S. 53)
Was der Beweis „einprägt“, scheint zunächst nur die Ausführung in ihrer Singularität zu betreffen. Die angefügte Frage, ob die Überzeugungsqualität auch die Möglichkeit einer Zuordnung der Figuren betrifft, spricht wiederum die Universalität der Beweiszeichnung an. Damit geraten jedoch die beiden Komponenten „einprägsamer Schemata“ in Konflikt. In einer Randbemerkung problematisiert
22 BGM, S. 46 f. Zur motivischen Herkunft und Benennung dieser grafischen Figuren, die in den BGM etwas erratisch auftreten, befindet sich z. Zt. ein Artikel in Vorbereitung: „Pentagon und Pentagramm – Wittgensteins grafische Transformation der Kappschen Technikphilosophie“.
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Wittgenstein entsprechend: „Heißt hier ‚diese Zuordnung‘ die der Figuren des Beweises selbst? Es kann nicht etwas zugleich Maß und Gemessenes sein.“ (BGM, S. 53) Allerdings ist dieses Zugleich für die bildliche Existenz der Beweiszeichnung konstitutiv, denn „diese Zuordnung“ vereint immer schon beides: ein reproduzierbares Maß und seine Ausführungen im Einzelfall des Gemessenen. Wittgenstein bezeichnet diese in der Hybridität des Beweisbildes vereinten und doch widerstrebenden Komponenten konsequent als das Wie und das Dass des Bildes: „Aber kann ich denn nicht sagen, die Figur zeige, wie eine solche Zuordnung möglich ist – und muss sie darum nicht auch zeigen, daß sie möglich ist?“ (BGM, S. 53)
Das Dass betont die strukturellen Komponenten des Beweises, es ist gleichsam der Übergang des Bildes zur Propositionalität, zu einer Auslegung seines Gehalts in der propositionalen Einheit des Satzes. Das Dass der Beweiszeichnung impliziert eine jenseits des singulären Bildes und jenseits von Bildern überhaupt gegebene Wiederholbarkeit des Bewiesenen. Das Wie des Beweisbildes steht im Unterschied hierzu für die visuelle Exemplifikation im Einzelfall, für die Kausalität und Prozessualität eines jeweils singulären Bildvorkommens. Das Wie steht dabei also für die Tatsache, dass ich erst „durch das Ziehen der Projektionslinien […] überzeugt“ (BGM, S. 48) werde, wie Wittgenstein hervorhebt. Diese unvermeidbare Hybridität zwischen dem Dass und dem Wie der Beweiszeichnung wird offenbar im Ziehen der Linien nivelliert, allerdings geschieht dies nicht pauschal, sondern immer nur dann, wenn es in eine Einprägsamkeit oder Übersehbarkeit des Bildes umschlägt,23 oder anders ausgedrückt, wenn sich in Selbstwahrnehmung zeichnerischen Handelns bildliche Evidenz einstellt. Offensichtlich in der Absicht, dieses „Phänomen des unmittelbaren Einsehens im zeichnerischen Handeln des Menschen“ präziser zu fassen, fragt sich Wittgenstein, wie sich dieser Effekt in anderen, nicht beweisenden Bildpraktiken verhält.
23 „Die Transfiguration von Anschaulichem in Denkbares und von Denkbarem in Anschauliches ist die epistemische Grundfunktion der Linie“ (Sybille Krämer, Übertragen als Transfiguration, in: Lorenz Engell/Bernhard Siegert (Hgg.), Zeitschrift für Medien und Kulturforschung (Heft 2/2010), Hamburg 2010, S. 77-93, S. 93.), heißt es bei Krämer. Ich möchte diesen Effekt im Anschluss an Wittgenstein als Inhalt einer spezifisch performativen Auffassung der Bildevidenz behaupten, die man nicht mehr ‚linear‘ als Transfiguration sondern vielmehr synoptisch, als das Ineinander von Anschaulichem und Denkbarem im Moment bildlichen Überzeugens beschreiben müsste.
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Dabei zeigt sich, dass in einem nicht beweisenden Bildgebrauch beide Funktionen durchaus als unterschiedliche Perspektiven der Bildinterpretation gelten können, denn die konstitutive Differenz im geometrischen Bildbeweis ist in anderen Gebrauchskontexten durchaus beherrschbar, indem entweder das Dass oder das Wie einer Zeichnung bevorzugt werden (z. B. PU, S. 95). Im rechnerischen Beweis dominiert das regelhafte Dass ein performatives Wie der Ausführung, das zwar nicht unverzichtbar ist, aber kaum als eigenständige Deutungsperspektive agieren würde: „Wenn man vom Beweis sagt, er zeige wie (z. B.) 25 × 25 625 ergeben; so ist das natürlich eine seltsame Redeweise, da das arithmetische Ergebnis ja kein zeitlicher Vorgang ist. Aber nun zeigt ja der Beweis auch keinen Vorgang.“ (BGM, S. 301)
Anders als bei einem Beweis in der Mathematik verhält es sich jedoch bei der Demonstration des Beweisbildes, also bei bildlichen Argumentationen, von denen es umgekehrt heißt, der „Beweis ist der anschauliche Vorgang“. Er überzeugt letztlich erst durch das Wie seiner Bildgenese, in dem wiederum explizit deren Performativität hervorgehoben wird, denn hier „prägt der Beweis durch Ziehen der Projektionslinien einen Vorgang ein“.
3
E INPRÄGSAME
UND NEUE
B ILDER
Wittgenstein stellt hierzu allerdings nicht einfach nur Thesen auf, sondern unterzieht die hierbei gewonnenen Gewissheiten immer wieder einer kritischen Selbstbefragung, die auf viele denkbare Einwände reagiert. So ist die These, dass die geometrische Überzeugungskraft eine Form der Bildevidenz behauptet, bei der eine synoptische Wahrnehmung oder auch „Übersehbarkeit“ die beteiligte Hybridität des Bildes nivelliert, sein Dass und sein Wie im Modus des Überzeugens also indifferent werden, gerade durch die hohe Konventionalität geometrischer Beweise in Frage gestellt. Wie prägt der Beweis einen Vorgang ein, wenn die am Prozess beteiligten grafischen Elemente bereits vorab definiert sind und damit das Wie der Ausführung immer schon seinem Dass untersteht – und nicht, wie Wittgenstein mit dem Begriff der Überzeugung umgekehrt argumentiert, ein beweiskräftiges Dass überhaupt erst möglich macht? Denn indem in Wittgensteins Beispiel Hand und Drudenfuß Namen erhielten, wurden die Figuren der ausgeführten Zeichnung bereits typologisiert und in eine sprachliche Universalität überführt. Wittgenstein fragt sich nun, ob unter dieser Bedingung nicht auch die performative Evidenz des Bildes verzichtbar wird:
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„Was ist damit geschehen, daß sie Namen erhalten haben? Es wird dadurch etwas über die Art des Gebrauchs dieser Figuren angedeutet. Nämlich – daß man sie auf einen Blick als die und die erkennt. Man zählt dazu nicht ihre Striche oder Ecken; sie sind für uns Gestalttypen, wie Messer und Gabel, wie Buchstaben und Ziffern.“ (BGM, S. 54)
Der Gebrauch des Beweisbildes setzt geradezu solche typologisierten Komponenten voraus, die man „auf einen Blick“ erkennt und „unmittelbar wiedergeben“ [s. o.] kann. Man denke nur an die Bezeichnung der Elemente eines geometrischen Beweises, an Linien die Radius, Tangente, Diagonale oder Hypotenuse heißen. Und obwohl der sprachlich legendarische Kontext der Beweiszeichnung oder der gezeichneten Bildargumentation, von der Wittgenstein spricht, sie auf diese Weise eindeutig macht, wird die Einmaligkeit konkreter Bildgebungen damit aber nicht wirkungslos: „Ich möchte sagen, es seien in dem Beweis nicht bloß diese individuellen Figuren zugeordnet, sondern die Formen selbst. Aber das heißt doch nur, daß ich mir jene Formen gut einpräge; als Paradigmen einpräge.“ (BGM, S. 54)
Die Einprägsamkeit überzeugender Beweisbilder nivelliert die Differenz zwischen ihrem Dass und ihrem Wie und macht es unmöglich, sie als getrennte Perspektiven der Bildinterpretation zu gebrauchen. Obwohl der Bildgebrauch „Gestalttypen“ und allgemeine Formen etabliert, sind es erst die jeweils bildlich demonstrierten individuellen Formen selbst, die sich laut Wittgenstein als mögliche Paradigmen empfehlen. Wittgenstein versteht die Einprägsamkeit des Bildes geradezu buchstäblich als seine Eignung für eine Prägung, die wir durch ein gegenwärtiges Bild erhalten:
„Und wenn ich das Gesicht sich mir einprägen lasse […] dann finde ich keinen Prototyp dieses Ausdrucks in meinem Geist; vielmehr breche ich gleichsam ein Siegel von dem Eindruck.“ (BLB, S. 254 f.)
Die paradigmatische (oder prototypische) Qualität des einprägsamen Bildes verdankt sich seiner singulären Bildwirkung und das hatte Wittgenstein schon im Bereich der Bildrezeption konstatiert. Letztlich heißt das jedoch, dass jedes Bild, das als überzeugendes wahrgenommen wird, erst auf der Basis seiner eigenen singu-
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lären Erscheinungsweise ein paradigmatisches Format erhält, und nicht etwa deshalb, weil es einem bestehenden, empirisch konstituierten Paradigma mehr oder weniger gut entspricht. Unter dem Begriff der Einprägsamkeit hinterfragt Wittgenstein Bildwirkungen, die die Zeichnung im Moment ihrer Ausführung begleiten, und konzentriert sich dabei auf die Überzeugungsleistung der gezogenen Linien. Sie überzeugen, wenn sie Neues denkbar machen und diesem zugleich eine paradigmatische Fernwirkung zugestehen. Der Modus der Einprägsamkeit meint eine Wahrnehmung der Sinnhaftigkeit einer Zeichnung im Moment ihrer Hervorbringung und damit mehr als eine bloß pauschale Wirkung der Linien.
4
P ARADIGMEN
UND
E XPERIMENTE
Der Modus, in dem die wirksame Linie in den Prozess der Bildproduktion eintritt, ist also der der Wahrnehmung von etwas Neuem. Zwar heißt es, der „Beweis sei ein Bild.“ (BGM, S. 365), aber erst als „neues Bild“ lässt er Neues denken. Dargestellt wird damit ein Bruch, den Wittgenstein unter Verweis auf das Experiment von seiner Kausalität zu lösen versucht und mit dem Begriff des Paradigmas an seine zukünftige Wirkung bindet. „Es gibt ein Geduldspiel, das darin besteht, eine bestimmte Figur, z. B. ein Rechteck, aus gegebenen Stücken zusammenzusetzen. Die Teilung der Figur ist eine solche, daß es uns schwer wird, die richtige Zusammensetzung der Teile zu finden. Sie sei etwa diese:
[…] Kann man nicht sagen: die Figur, die dir die Lösung zeigt, beseitigt eine Blindheit; oder auch, sie ändert deine Geometrie? Sie zeigt dir gleichsam eine neue Dimension des Raumes. (Wie wenn man einer Fliege den Weg aus dem Fliegenglas zeigte.)“ (BGM, S. 55 f.)
Das einprägsame Bild schafft neue Denkmöglichkeiten, weil es selbst ein „neues Bild“ (BGM, S. 64) ist. „‚Ich meine, ich habe an diese Art der Zusammensetzung
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garnicht gedacht.‘“ (BGM, S. 55) Das Beweisbild hat damit offensichtlich poietische oder heuristische Qualitäten: „Die neue Lage ist wie aus dem Nichts entstanden. Dort, wo früher nichts war, dort ist jetzt auf einmal etwas.“ (BGM, S. 56) Die „Überzeugungskraft“ des Beweises bezeichnet daher eine heuristische Qualität des Bildes und auch jenes Prozesses, in dem es hervorgebracht wird. „Aber, wenn wir auch geneigt sind, einen Beweis ein solches neues Paradigma zu nennen – was ist die genaue Ähnlichkeit eines Beweises zu so einem Begriffsvorbild? Man möchte sagen: der Beweis ändert die Grammatik unserer Sprache, ändert unsere Begriffe. Er macht neue Zusammenhänge, und er schafft den Begriff dieser Zusammenhänge. (Er stellt nicht fest, daß sie da sind, sondern sie sind nicht da, ehe er sie nicht macht.)“ (BGM, S. 166)
Wittgenstein fragt sich, wie sich das Neue als Neues im Prozess der Bildgenese allererst konstituiert. Obwohl im überzeugenden Beweis, das Dass und das Wie des Bildes ununterscheidbar werden, distanziert er sich als neues Bild sowohl von der experimentellen Genese als auch von seiner begrifflichen Geltung. Das „neue“ (BGM, S. 64), „übersehbare“, „überzeugende“, „einprägsame“ (BGM, S. 68) Bild wird von Wittgenstein systematisch zwischen der Bildproduktion und seiner begrifflichen Regelhaftigkeit positioniert, von denen es sich jeweils qualitativ unterscheidet. Zwar heißt es: „Ich möchte sagen: der Beweis zeigt mir einen neuen Zusammenhang, daher gibt er mir auch einen neuen Begriff“ (BGM, S. 297) Und doch versucht Wittgenstein die qualitative Differenz zwischen dem überzeugenden Bild und seiner begrifflich fassbaren Regel herauszustellen: „Ja, aber ist der Beweis als Beweis betrachtet, gedeutet, eine Figur? Als Beweis, könnte ich sagen, soll er mich von etwas überzeugen. Ich will, auf ihn hin, etwas tun oder lassen. Und auf einen neuen Begriff hin tue oder lasse ich nichts. Ich will also sagen: der Beweis ist das Beweisbild in bestimmter Art verwendet. Und das, wovon er mich überzeugt, kann nun sehr verschiedener Art sein. (Denke an Beweise Russellscher Tautologien, Beweise in der Geometrie und in der Algebra.)“ (BGM, S. 298)
Weil nach Wittgenstein der Beweis notwendig überzeugen muss, kann er weder in der Variabilität des Experiments noch in einer bloßen Begrifflichkeit verankert sein. Stattdessen wird er als Beweisbild klassifiziert, dessen Überzeugungskraft bereits den Gedanken an eine bestimmte Anwendung impliziert und ihm damit eine paradigmatische Geltung zugesteht.
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„Soll ich nun sagen: ‚wir sind überzeugt, dass immer wieder dasselbe Resultat herauskommen wird‘? Nein, das ist nicht genug. Wir sind überzeugt, dass immer dieselbe Rechnung herauskommen, gerechnet werden, wird. Ist das nun eine mathematische Überzeugung? Nein – denn würde nicht immer dasselbe gerechnet, so könnten wir nicht folgern, dass die Rechnung einmal ein Resultat, das andre mal ein anderes ergibt. Wir sind freilich auch überzeugt, daß wir beim wiederholten Rechnen das Bild der Rechnung wiederholen werden. –“ (BGM, S. 247 f.)
Als „vorbildliches“ Bild evoziert das Beweisbild zugleich paradigmatische „Anwendungen“: „Etwas hört auf, Beweis zu sein, wenn es aufhört, Paradigma zu sein“ (BGM, S. 154). Das überzeugende Bild steht somit zwischen Bildproduktion und Bildgebrauch. Dem überzeugenden Bild kommt deshalb eine „Fernwirkung“ zu, die darin besteht, „[…] daß ich es anwende.“ (BGM, S. 62) Dieser prognostische Effekt lässt sich vermeintlich von der vorgeführten Bildproduktion distanzieren: „Ich wußte nicht wie es gehen werde, – aber ich sah ein Bild, und nun wurde ich überzeugt, daß es so gehen werde, wie im Bilde. Das Bild verhalf mir zur Vorhersage. Nicht als ein Experiment – es war nur der Geburtshelfer der Vorhersage.“ (BGM, S. 241)
Doch sind es die konkreten Bildqualitäten, mit denen der Beweis für seine Regelhaftigkeit plädiert: „Und wenn dieses Bild die Voraussage rechtfertigt – das heißt, wenn du es nur sehen brauchst und überzeugt bist, ein Vorgang werde so und so verlaufen – dann rechtfertigt dieses Bild natürlich auch die Regel. In diesem Fall steht der Beweis hinter der Regel als Bild, das sie rechtfertigt.“ (BGM, S. 305)
Der Beweis rechtfertigt die Regel also mit den Mitteln des jeweils überzeugenden Bildes. Die übersehbare Notation hat eine „Fernwirkung“, das ist eines ihrer Charakteristika: ihre Paradigmatik: „Aber wenn ich sie [die Notation, U.R.] nun nach einer halben Stunde wieder anschaue, kann sie sich da nicht verändert haben? Sie ist ja nicht übersehbar.“ (BGM, S. 144 f.) umgekehrt versteht Wittgenstein die Übersehbarkeit des Beweises als einen überzeugenden Zwang, der seine Darstellungen immer bereits als paradigmatisch vorstellt.
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„‚Der Beweis muß übersehbar sein‘ – heißt: wir müssen bereit sein, ihn als Richtschnur unseres Urteilens zu gebrauchen.“ (BGM, S. 159)
Was geschieht aber, wenn man den Vorgang der bildlichen Demonstration als ein Experiment auffasst und nur sein Resultat als Beweisbild gilt? Anders gefragt, lässt sich das, wovon das Bild überzeugt, von der Singularität seiner Hervorbringung ablösen. „Die Tätigkeit der Prüfung brachte das und das Resultat hervor. Die Prüfung war bis jetzt also sozusagen experimentell. Nun wird sie als Beweis aufgefaßt. Und der Beweis ist das Bild einer Prüfung.“ (BGM, S. 304) Oder: „Der Beweis, könnte man sagen, muss ursprünglich eine Art Experiment sein – wird aber dann einfach als Bild genommen.“ (BGM, S. 160) Wenn Wittgenstein feststellt, dass „das Bild eines Experiments […] doch nicht selbst ein Experiment“ (BGM, S. 51) ist, so wird die Beweiseignung des Bildes entsprechend separiert: „Ich könnte also sagen: der Beweis dient mir nicht als Experiment, wohl aber als Bild eines Experiments.“ (BGM, S. 51) denn die jeweilige visuelle Ausführung und Vorführung ist für den Beweis irrelevant, nicht aber die Tatsache, dass es eine solche gibt. Zum Beweis wird das Bild demnach durch eine spezifische Gebrauchsweise, in der es als Beweisbild „dient“ und die die Komplexität des bildlichen Experiments bereits reduziert auffasst. Weil sich das Bild aber nicht von seiner experimentellen Bildgenese abheben lässt, bleiben die singulären ikonischen Eigenschaften auch im Resultat des Beweisbildes sichtbar. Daraus entstehen Unterscheidungsschwierigkeiten: Was ist das Resultat des Experiments? „[…] das Rechnungsergebnis, oder das Rechnungsbild, oder die Zustimmung (worin immer diese besteht) des Rechnenden?“ (BGM, S. 385). Die Zustimmung, könnte man sagen, „besteht“ eben gerade in jener Einprägsamkeit, die das regelhafte Rechnungsresultat und das singuläre Rechnungsbild zu einem überzeugenden Paradigma vereint. „Das Experimenthafte verschwindet, indem man den Vorgang bloß als einprägsames Bild ansieht.“ (BGM, S. 68) Die Einprägsamkeit nivelliert alle konstitutiven Widersprüche des Beweisbildes. Aber sie erlöst es nur von der Singularität seiner bildproduktiven Vorgeschichte, wenn es sich der jeweils aktuellen bildlichen Evidenz unterwirft. „Wenn man einen Beweis als Experiment auffaßt, so ist das Resultat des Experiments jedenfalls nicht das, was man das Resultat des Beweises nennt. Das Resultat der Rechnung ist der Satz, mit welchem sie abschließt; das Resultat des Experiments ist: daß ich von diesen Sätzen durch diese Regeln zu diesem Satz geführt wurde.“ (BGM, S. 98)24
24 So bereits die Überlegung aus der Philosophischen Grammatik: „Nicht das findet statt, dass sich dieses Symbol nicht mehr deuten lässt, sondern: ich deute nicht. Ich deute
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Das Resultat eines Experiments kann nicht von dem Prozess seiner Durchführung getrennt werden, weil sich erst in ihm das neue Bild als überzeugendes zeigt. Der Begriff des Experiments erscheint Wittgenstein deshalb als zu schwach, weil er ein Erproben impliziert. „‚Der Beweis muss übersehbar sein‘ heißt eigentlich nichts anderes als: der Beweis ist kein Experiment. Was sich im Beweis ergibt, nehmen wir nicht deshalb an, weil es sich einmal ergibt, oder weil es sich oft ergibt. Sondern wir sehen im Beweis den Grund dafür zu sagen, dass es sich so ergeben muß.“ (BGM, S. 170)
Während das Experiment somit ein geregelter Prozess ist, zu dem man ein distanziertes Verhältnis haben kann, würde der exklusivere Begriff des Beweises in Wittgensteins Darstellung immer notwendig mit der Vereinnahmung durch einen Überzeugungseffekt verbunden sein: „‚Der Beweis muß übersehbar sein‘ will unsre Aufmerksamkeit eigentlich auf den Unterschied richten der Begriffe: ‚einen Beweis wiederholen‘, ‚ein Experiment wiederholen‘. Einen Beweis wiederholen, heißt nicht: die Bedingungen reproduzieren, unter denen einmal ein bestimmtes Resultat erhalten wurde, sondern es heißt, jede Stufe und das Resultat wiederholen. Und obwohl so der Beweis etwas ist, was sich ganz automatisch muss reproduzieren lassen, so muß doch jede solche Reproduktion den Beweiszwang enthalten, das Resultat anzuerkennen.“ (BGM, S. 187)
Allerdings ergibt sich diese zusätzliche Bildevidenz eben nicht im Zuge jener „automatischen Reproduktion“ eines Regelsystems. Vielmehr lässt sich die Evidenz einer bildgebenden Handlung nur retrospektiv konstatieren und an den von Wittgenstein beschriebenen Symptomen ablesen: das Beweisbild ist übersehbar, wenn ihm eine paradigmatische Wirkung zugestanden wird.
5
S CHLUSS
Beweiszeichnungen sind überzeugende Zeichnungen. Sie überzeugen zunächst denjenigen oder diejenige, die sie hervorbringen, um mit ihnen für etwas zu argumentieren. Und sie überzeugen in einer zweiten Hinsicht, weil sie, wenn sie ge-
nicht, weil ich mich in dem gegenwärtigen Bild natürlich fühle. Wenn ich deute, so schreite ich auf meinem Gedankenweg von Stufe zu Stufe.“ (PG 147; Zettel 324, § 234).
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lungen sind, das aufweisen, was man eine „Fernwirkung“ nennen kann. Die Überzeugungsleistung der Zeichnung verdankt sich keiner bloßen Deklaration. Stellt sie sich ein, bringt sie die zeichnerische Handlung zum Abschluss und macht sie zum paradigmatischen Bild. Sie markiert den Übergang des Zeichnens zur Zeichnung. Vorher gibt es grafische Erscheinungen, ab dem Moment, wo sie überzeugen, wird das Ganze zum Bild. Hier korreliert das Thema der Einprägsamkeit mit dem der Prägnanz, wie es Ernst Cassirer oder auch die Gestaltpsychologie beschrieben haben. Gleichzeitig geht es um die Betonung einer Vollständigkeit, allerdings wiederum nicht im Sinne der kompletten Aufzählung aller am Beweis beteiligten Komponenten, sondern einer Integration der beiden widersprüchlichen Elemente: der Ausführung und der Konklusion (Resultat) des Beweises. Mit anderen Worten: der überzeugende Zwang des Beweises ist vor dem Hintergrund einer Bildwahrnehmung nicht analytisch sondern synthetisch strukturiert. „Man kann die Berechtigung eines Ausdrucks, weil seine Verwendung, damit nicht übersehen, dass man eine Facette seiner Verwendung ansieht; etwa ein Bild, das sich mit ihm verbindet.“ (BGM, S. 142) Vielmehr gilt es, als den Überzeugungsgrund des Beweisbildes das Bild in seiner Verwendung anzusehen. Wenn sich Wittgenstein in den Bemerkungen über die Grundlagen der Mathematik zentral mit der Frage des Überzeugens von Bildbeweisen beschäftigt, thematisiert er kein mathematisches, sondern ein genuin bildtheoretisches Problem. Wittgenstein situiert es im Kontext bildlicher Hervorbringungen. Die dabei entwickelte performative Evidenz meint eine nichtdiskursive Sinnhaftigkeit des Bildes, die im Kontext fester Regelsysteme, Methoden und konkreter Erwartungen auftritt, diese aber gleichwohl unerwartet überschreiten kann und sogar muss, wenn mit den Mitteln des Bildes neue Anwendungen, Lösungen oder Regeln sichtbar werden. Diese Überlegungen zu einer bildspezifischen Heuristik überschneiden sich massiv mit epistemologischen Themen. Denn mit Wittgensteins zentraler Frage, inwiefern und wodurch das Beweisen ein Überzeugen mit Bildern ist, wird offenbar das Thema der Geltung und Funktionsweise bildlicher Argumente verhandelt. Der Begriff des Neuen zeigt, dass Wittgenstein hier die Heuristik des Bildes als Effekt seiner Evidenz diskutiert. Neue Bilder, Begriffe, Geometrien, Denkmöglichkeiten werden genannt. Die epistemische Relevanz dieser bildproduktiven Heuristik lässt sich bei Wittgenstein daran ablesen, dass es keineswegs um „neue Bilder“ im Sinne einer künstlerischen Originalität geht (es werden ja vorrangig konventionalisierte Strichgrafiken in Anlehnung an die Geometrie diskutiert), sondern um neue Begriffe, Geometrien, Grammatiken, Denkmöglichkeiten, die auf der Grundlage des überzeugenden Bildes möglich sind. Es handelt sich also
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um die bildliche Produktion von Sinn, die Wittgenstein unter dem Thema des Überzeugens zugleich als Gehalt bildlicher Evidenz versteht. Der Begriff des Experiments markiert einen Bruch zwischen dem, was prozessiert wird, und dem, was in ihm auf evidente Weise aufscheint, also sinnhaft sichtbar wird. Damit verschiebt Wittgenstein die Perspektive der Untersuchung weg von Herkunftsfragen hin zu Begründungsfragen. Es geht nun um die Bestimmung des Wie, mit dem sich die Evidenz des Bildes an der durch es möglich werdenden Heuristik beteiligt. Gezeigt wird, dass das, was entsteht, nicht aus den jeweils in Anspruch genommenen Bedingungen des Sichtbarmachens deduziert werden kann: es ist vielmehr ein „Zusätzliches der Tat“.25 Bildevidenz erscheint damit als nicht instrumentalisierbar. Einerseits wird so auf der Seite der Phänomenalität des zeichnerischen Handelns jener nicht vorwegnehmbare Übergang thematisiert, wodurch der Prozess des Zeichnens, in dem zunächst nur Visuelles oder Grafisches hervorgebracht und arrangiert wird, allererst in ein Bild übergeht, das plötzlich von etwas handelt, indem es von ihm überzeugt und es als ein „neues Bild“ hervorbringt. Andererseits handelt es sich dabei nicht nur um die bekannten Auffassungen zur Evidenz des Bildes, sondern vielmehr um eine Fundierung seiner Evidenz innerhalb des zeichnerischen Handelns selbst. Diese thematische Reduktion impliziert noch eine weitere Einschränkung die Wittgensteins Vorgehen an dieser Stelle ungewöhnlich macht, weil die Singularität des entstehenden Bildes hier als eine Erfahrungsqualität in der Wahrnehmung des Zeichnenden angenommen wird. Das entstehende Bild überzeugt zunächst denjenigen, der es wahrnehmend prozessiert. In diesem Sinne gründet sich Bildevidenz auf einen schwachen Begriff der Subjektivität, der der Idee einer souveränen Verfügung oder schöpferischen Konzeption des entstehenden Bildes entsagt und doch das wahrnehmende Individuum in der singulären zeichnerischen Handlung als unersetzbare Instanz eines heuristischen Ereignisses annimmt.26
25 Hier handelt es sich um einen Ausdruck Roland Barthes’, vgl. Ulrich Richtmeyer, Das „Zusätzliche der Tat“ – die gestische Konstitution des Neuen in der Performativität zeichnerischer Bildproduktionen, in: Ulrich Richtmeyer, Fabian Goppelsröder, Toni Hildebrandt (Hgg.), Bild und Geste. Figurationen des Denkens in Philosophie und Kunst, Bielefeld 2014, S. 85-106. 26 Vgl. Ulrich Richtmeyer, Zum Begriff der Bildevidenz in wissenschaftlichen Visualisierungen – vier Anmerkungen zu Michael Lynch, in: Fabian Goppelsröder, Martin Beck (Hgg.), Präsentifizieren. Zeigen zwischen Körper, Bild und Sprache, Publikationsreihe Sichtbarkeiten, Bd. 2, Zürich/Berlin 2014, S. 167-189.
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Wittgenstein ermöglicht mit dem Fokus auf der überzeugenden Wahrnehmung des selbst gezeichneten Bildes eine Grundlage für alle Theorien der Bildproduktion, des Disegno, der Entstehung von Neuem etc. ebenso wie für die Frage der Reproduzierbarkeit oder des experimentellen Charakters der Bildproduktion. Da Zeichnen eine Handlung ist, die sich in hohem Maße technisch handwerklicher Virtuosität (besonders bei künstlerischen Zeichnungen), konventionalisierter grafischer Elemente (besonders bei geometrischen Zeichnungen), präziser Darstellungs- und Deutungsregeln (besonders bei technischen Zeichnungen) und instrumentaler Erwartungen (besonders bei Beweiszeichnungen) verdankt, betont das von Wittgenstein untersuchte „Phänomen des unmittelbaren Einsehens“, das mit den materiellen Bedingungen, subjektiven Dispositionen und konventionellen Regeln jeweils kontrastierende Singuläre einer jeden Zeichnung, das selbst dort noch anzutreffen ist, wo man mit so strikt reglementierten Bildproduktionen zu tun hat wie in der Geometrie, deren Konventionalität Wittgenstein zugleich mit dem Ausdruck der Grammatik benennt. Können diese von Wittgenstein auf quasi-geometrische Beweisbilder und ihre spezifischen Überzeugungsqualitäten zugespitzten Fragen auch für andere Bilder gelten? Ich möchte diese Frage nicht nur mit ja beantworten, sondern sogar argumentieren, dass gerade die methodische Einschränkung auf Beweiszeichnungen ermöglicht, von einer Geltung der Überlegungen für andere und letztlich alle Bildtypen auszugehen. Denn wenn es innerhalb einer so regelkonformen, grafisch konventionalisierten und methodisch präzise instruierten Bildgenese wie der geometrischen Beweiskonstruktion nicht gelingt, das unbeherrschbare Moment einer unverfügbaren Überzeugungsleistung des Bildes auf den instrumentalen und konventionellen Kontext zurückzuführen, dann stellt die Darstellung dieses Phänomens in Wittgensteins Überlegungen ein Beispiel für die prinzipielle Geltung für alle Bilder auf. Anders ausgedrückt: Wenn es möglich ist, an Bildern, die in ihrer Hervorbringung und Lektüre so stark reglementiert sind, etwas Nicht-Regelhaftes als konstitutive Qualität ihrer Geltung nachzuweisen, dann wird damit letztlich ein genuin ikonisches Merkmal separiert, das dem Medium des Bildes insgesamt eignet und nicht bloß seinen unterschiedlichen Verwendungsweisen folgt. Obwohl also die Wahl der Beweiszeichnung eine Übertragbarkeit auf andere Bildpraktiken impliziert, zeigt sich an ihr auch: Die philosophische Zeichnung, die Wittgenstein an die Stelle geometrischer Beweiskonstruktionen setzt, erlaubt andere und neue Einsichten über Bilder als sie in der Untersuchung künstlerischer Zeichnungen demonstriert werden können. Dass hierbei vordergründig quasi-geometrische „Beweisbilder“ untersucht werden, spricht also genau dafür, dass die
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ermittelten Probleme und Qualitäten letztlich für jede Form des bildlichen Argumentierens Geltung beanspruchen können und nicht auf einen bestimmten Bildtyp einzuschränken wären.
The Ethics and Politics of Grammatical Subjectivity C HANTAL B AX
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Along with continental thinkers such as Heidegger, Foucault and Derrida, Wittgenstein can be held responsible for the radical reconceptualization of human subjectivity that has occupied much of philosophy since the previous century. Taking issue with the traditional or Cartesian view on the nature of man, these thinkers all argued that human being does not come in the form of an ethereal and isolated self; the subject rather is a thoroughly bodily being that is moreover formed and shaped by its socio-cultural context. According to the rethinkers of Cartesianism, the human subject is a situated or—to put it in Wittgensteinian terms—is a grammatical subject. This anti- or post-Cartesian turn has been highly influential, but that does not mean that the grammatical subject has replaced the Cartesian Ego without objections raised or questions asked. Post-Cartesianism has met with plenty of protests, too, and this has got to do with the fact that there may be something unsettling about saying that there is no self outside socio-cultural practices or no subject without grammar. For does this not have rather unwelcome consequences, for instance in the ethical and political domain? How can we still talk about matters such as agency and autonomy once the self is dissolved into a multitude of language games and can no longer be said to exist in its own right? It is for reasons
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such as these that commentators like Manfred Frank1 and Seyla Benhabib2 have argued that the critique of Cartesianism cannot be followed through completely. On their view, the subject is the indispensable locus for ethics and politics, so for the sake of the ethico-political, we cannot do away with everything that the Ego represents. In this contribution, I will respond to this argument by showing that it does not apply to post-Cartesianism in its Wittgensteinian variety. I will first of all explain that the notion of a grammatical subjectivity is meant to rethink rather than “unthink” the Cartesian subject. His numerous remarks on psychological phenomena like pain do not just aim to understand where Cartesianism goes wrong; Wittgenstein subsequently uses this understanding to develop a more adequate account of the very same things Cartesianism wants to explain.3 I will moreover show that, even if Wittgenstein never tires of emphasizing the grammatical nature of human beings, he does not go so far as to say that the subject does not exist in its own right. Wittgenstein may hold that much of what we call “inner” is in fact acquired in the course of our upbringing, he also makes clear that such training can only take place on the basis of primitive or natural behaviour. To say that the Wittgensteinian subject is the mere product of its upbringing is to neglect the naturalism that informs his writings.
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See e.g. Manfred Frank, What is neostructuralism? Transl. S. Wilke & R. Gray, Minneapolis 1989; Manfred Frank, The subject v. language: Mental familiarity and epistemic self-ascription, transl. L.K. Schmidt & B. Allan, Common Knowledge 4(2) 1995, S. 30-50.
2
See e.g. Seyla Benhabib, Situating the self: Gender, community and postmodernism in contemporary ethics, Cambridge 1992; Seyla Benhabib (ed.), “Feminism and postmodernism”, in: Feminist contentions: A philosophical exchange, London 1995, S. 17-34. I will discuss both Frank’s and Benhabib’s arguments in a little more detail in the third section.
3
This means that my reading of Wittgenstein’s “philosophy of psychology” differs from those defended in e.g. Malcolm Budd, Wittgenstein’s philosophy of psychology, London 1989; Joachim Schulte, Experience and expression: Wittgenstein’s philosophy of psychology, Oxford 1993 and M.R. Bennet & P.M.S. Hacker, Philosophical foundations of neuroscience, Oxford 2003. These interpreters hold that it was Wittgenstein’s main aim to dissolve the philosophies of mind put forward by other thinkers, not to give a new account of subjectivity himself. In the second chapter of Chantal Bax, Subjectivity after Wittgenstein. The post-Cartesian subject and the “death of man”, London 2011, I give a more general defence of my constructive reading of Wittgenstein, arguing that PI’s methodological remarks need not be read as putting all philosophy to a stop.
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In what follows, in other words, I will offer a reading of Wittgenstein’s “philosophy of psychology” that does not give rise to the worry that he negates human subjectivity altogether, and thus to the worry that he eliminates each and every site for ethics and politics. This will however not suffice to truly counter the ethicopolitical objections voiced by commentators such as Frank and Benhabib. For even if Wittgenstein cannot be said to dispose of all things subjective and underpins his social view of the self with a number of naturalistic observations, he may still seem to present us with a subject that, after initiation into the practices of its community, can only conform to pre-given ways of living and thinking. Wittgenstein for instance describes children as having to “swallow” their parents’ worldview “down” 4 without further ado; declares that “forms of life” simply “[have] to be accepted”5; and unregretfully observes that when we meet someone not sharing our outlook on things, “we should not just not share his opinion: we should regard him as demented.” 6 Passages such as these suggest that Wittgenstein’s grammatical subject is inherently averse to the novel and the uncommon. If this was Wittgenstein’s definitive account of human subjectivity, his view could indeed be deemed to be ethically and politically wanting, regardless of his saving Cartesianism from itself and regardless of his naturalistic observations. It could in that case for instance—à la Benhabib—be said to be incompatible with a feminist project, for how could an inherently neophobic subject ever cause or accept changes in a patriarchal status quo? In a similar vein, such a view on selfhood can be said to be problematic with regard to the focal point of this collection: modern culture. For if contemporary culture is characterized by continuous transformation and irreducible pluriformity, and if Wittgenstein indeed defends the account of human being sketched a moment ago, his philosophy could be used to support a reactionary agenda according to which the only true culture is an unchanging and homogeneous one.7 I will however explain that Wittgenstein shows no such thing and does not justify condemning all that is different out of hand. This contribution thus takes up the challenge posed by the critics of post-Cartesianism in three consecutive steps. I will first of all give an overview of Witt-
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Ludwig Wittgenstein, On Certainty, ed. G.E.M. Anscombe & G.H. von Wright, transl. D. Paul & G.E.M. Anscombe, New York 1972, OC 143.
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Ludwig Wittgenstein, Philosophical Investigations, Third Edition, Transl. G.E.M. Anscombe, Oxford 1995, PI II § xi S. 226.
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OC 155.
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Commentators like Nyíri and Bloor have explicitly ascribed Wittgenstein such a conservative outlook; I will discuss these readings in some more detail later on.
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genstein’s alternative to Cartesianism, showing how he rethinks rather than “unthinks” the Cartesian account of the self. In the third section, I will discuss the naturalism underlying this reorientation in order to show that Wittgenstein does not take the grammatical subject to be a pure and simple social construction. In the fourth section, I will turn to the entries seemingly suggesting that the grammatical subject is inherently reactionary, even if it is not entirely socially produced. I will however explain that Wittgenstein emphasizes the groundlessness rather than the inexorability of inherited customs and conventions. Pace the critique of post-Cartesianism, then, I will show that the Wittgensteinian subject is not necessarily ethically and politically defective.
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A good starting point for explaining Wittgenstein’s grammatical alternative to Cartesianism are his remarks on first and third person asymmetry: the fact that the person saying “I am in pain” is generally not mistaken about the feelings she confesses to have, whereas someone stating “He is in pain” might very well be wrong about the feelings she is attributing to another person. This asymmetry can in fact be said to be the main motivation behind the Cartesian idea of a private Ego. Cartesianism explains psychological asymmetry by claiming that statements like “I am in pain” are knowledge claims based on inward observation, or descriptions of the things someone perceives inside. The third person, by contrast, is said to lack such direct access, and Cartesianism accordingly takes statements like “She is in pain” to amount to educated guesses at best. Wittgenstein contests this account of psychological asymmetry in its entirety. He first of all points out that the Cartesian explanation of first person expressions effectively violates the certainty characteristic of such statements. For if someone hurting should be said to observe her pain, a person might on occasion also misinterpret or overlook the pain inside: feel pain without having it, or have pain without feeling it.8 By explaining our relationship to our own thoughts and feelings in terms of observation, Cartesianism thus unwittingly reintroduces the possibility of doubt and mistake. It is for the same reason that Wittgenstein makes the provocative claim: “I can know what someone else is thinking, not what I am
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The phenomenon of phantom pain may seem to invalidate Wittgenstein’s argument here. Yet is this phenomenon really best described by saying that someone who suffers from it erroneously believes to be in pain? Is he or she not actually feeling pain?
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thinking.”9 One can strictly speaking not be said to know such a thing because only statements for which proof can be given—and that can thus also be proved wrong—really count as knowledge claims.10 Precisely because of the certainty characterizing first person expressions, they can neither be said to be observation statements nor be said to be knowledge claims. This is confirmed by a closer look at our everyday practices. When someone exclaims “I am in pain”, Wittgenstein observes, he is usually not giving a report of his inner occurrences: “Does someone crying out ‘Help!’ want to describe how he is feeling? Nothing is further from his intentions.”11 This is not to say that we never can or do give descriptions of our thoughts and feelings; Wittgenstein gives several examples of descriptive psychological statements, like “I’m less afraid of him now than before.”12 What these examples however show is that it is usually only for specific reasons and in specific situations—during a meeting with one’s psychotherapist, say—that we give descriptions of our thoughts and feelings.13 Apart from such contexts, a person saying “I am hurt” or simply crying “Help!” is typically not using the first person descriptively. The fact that someone in pain might just as well shout “Help!” or “Ouch!” also enables Wittgenstein to provide a non-Cartesian account of first person expressions. For as he continues, “[p]erhaps this word ‘describe’ tricks us here.”14 Perhaps we should not compare a statement like “I am hurt” to a description of, say, the furniture found in a particular room, but rather draw on its affinity with the groan a person emits after stubbing her toe, or the cry she utters when faced with an unexpected danger. It is on the basis of cries and groans that a person acquires a psychological vocabulary to begin with, as Wittgenstein famously observes: “A child has hurt himself and he cries; and then adults talk to him and teach him
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PI II § xi S. 222; see also Ludwig Wittgenstein, Remarks on the Philosophy of Psychology, Volume I, Ed. G.E.M. Anscombe & G.H. von Wright, transl. G.E.M. Anscombe, Oxford 1998 reprint, PPi 573, Ludwig Wittgenstein, Last Writings on the Philosophy of Psychology, Volume I, Ed. G.H. von Wright & Heikki Nyman, transl. C.G. Luckhardt & M.A.E. Aue, Chicago 1990 reprint, LWi 228.
10 Wittgenstein most elaborately discusses what does and does not count as a knowledge claim in OC; see e.g. OC 23, OC 91, OC 178, OC 243, OC 504. 11 LWi 48; see also RPPii 724. 12 Ludwig Wittgenstein, Remarks on the Philosophy of Psychology, Volume II, ed. G.H. von Wright & H. Nyman, transl. C.G. Luckhardt & M.A.E. Aue, Oxford 1998 reprint, RPPii 726. 13 See e.g. RPPii 726, LWi 27. 14 PI 290.
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exclamations and, later, sentences.”15 We would not call a child’s crying a report of its emotions, so why apply the label “descriptive” to the statements that have their roots in these basic forms of expression?16 Putting to work the continuity between exclamations like “Ouch!” and statements like “I am in pain”, Wittgenstein suggests that first person expressions are signals rather than descriptions, or manifestations rather than reports of someone’s psychological state.17 Wittgenstein also contests the Cartesian account of third person statements, according to which these are mere speculations reflecting our inability to directly access other minds. As he observes, it is not quite correct to say that in our everyday dealings with other people, we first take stock of what they do and say and then speculate about what might be going on inside of them: “We do not see facial contortions and make the inference that he is feeling joy, grief, boredom. We describe a face immediately as sad, radiant, bored.”18 This is not to deny that we are sometimes unsure or mistaken in our ascription of emotions to others; Wittgenstein merely argues that we are not forced to fall back on conjectures every time we are faced with another human being. Indeed, he notes, for every case in which someone else’s thoughts and feelings are a complete mystery to us, there is a case in which they could not be clearer. If I for instance “see someone writhing in pain with evident cause I do not think: all the same, his feelings are hidden from me.”19 According to Wittgenstein, then, we may not be able to observe our own mental occurrences—at least not in the Cartesian definition thereof—but we can indeed be said to observe those of others—even if this does not mean that we can literally look inside their heads. What is more, Wittgenstein holds that we do not always need an explicit first person avowal in order to identify someone else’s thoughts and feelings.20 Taking the continuity between groans and grimaces on the one hand and statements like “I am in pain” on the other to its full conclusion,
15 PI 244. 16 See RPPii 728. 17 See PI 180, PI 582, PI 585, RPPi 691, RPPi 313. 18 RPPii 570; see also RPPii 170 RPPii 719, LWi 767, PI 537. 19 PI II § xi S. 223; see also RPPi 927, LWI 964. 20 Cf, Eike von Savigny, Der Mensch als Mitmensch. Wittgensteins “Philosophische Untersuchngen”, München 1996, S. 183-186. He argues that linguistic utterances are simply more conspicuous than non-linguistic ones, and by no means the only means of expression.
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Wittgenstein contends that both verbal and non-verbal behaviour is expressive of the psychological: “If one sees the behaviour of a living thing, one sees his soul.”21 This brings me to the fact that just as Wittgenstein’s denying that one knows one’s own mind does not negate first person certainty, his claim that we can indeed observe another’s thoughts and feelings does not disregard the uncertainty characterizing the third person perspective. While someone’s thoughts and feelings are in principle manifest in his or her conduct, we sometimes still fail to see or be certain about other minds because thoughts and feelings are materialized, not so much in what a person says or does, but in how she says and does it: with a trembling voice and a shaking hand, for instance. Third person statements are often, and perhaps more often than not, based on “fine shades of behaviour”22 rather than well-defined and well-definable activities. Wittgenstein accordingly calls the evidence we draw on in making claims like “He is sad” “imponderable”.23 This imponderability is furthermore due to the fact that in addition to someone’s fine shades of behaviour, the circumstances of her doings and sayings should also be taken into account in a third person statement.24 The same behavioural characteristics may after all be manifestations of very different emotions; a trembling voice and a shaking hand can for instance be part of both nervousness and grief. Which of the two they are elements of depends on whether the context is a wake or a public speech, say. Certain thoughts and feelings, moreover, are not limited to one specific time and place—think of love, hate and depression. In so far as statements like “He loves her” are meant as faithful descriptions of another person’s psyche, they are accordingly only uttered after witnessing a person’s (fine shades of) behaviour over a larger number of occasions. To very succinctly summarize my reading of Wittgenstein’s philosophy of psychology so far, he maintains that the inner is not enclosed by the outer but abides in the outer itself. This slogan can however only partly capture Wittgen-
21 PI 357; see also RPPi 595, RPPi 450. Let me use this opportunity to underscore that this perspective on the inner-outer relationship does not make Wittgenstein into a behaviourist (see e.g. PI 244, PI 304, PI 308, RPPi 288, LWi 406, LWii 2). As I will explain in the next paragraphs, Wittgenstein maintains that psychological phenomena are not just a matter of someone’s concrete doings and sayings but are also a matter of the “fine shades” and the context of this behaviour. When Wittgenstein talks about behaviour he does not mean “mere behaviour”. 22 PI II § xi pp. 203, 204, 207; LWii 65. 23 PI II § xi p. 228, LWi 922-924, LWi 936, LWii 95. 24 See PI 581, PI 583, RPPi 314, RPPi 1066, RPPii 148, RPPii 149, RPPii 150, LWi 861.
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stein’s reconceptualization of subjectivity, for the grammatical subject is, in addition to being inherently bodily and expressive, intrinsically social too. This can in fact already be seen from the passage quoted earlier to explain Wittgenstein’s account of first person statements: § 244 of the Investigations. Let me therefore quote this paragraph more fully here. After raising the question as to how “words refer to sensations,” Wittgenstein submits: “Here is one possibility: words are connected with the primitive, the natural, expressions of the sensation and used in their place. A child has hurt himself and he cries; and then adults talk to him and teach him exclamations and, later, sentences. They teach the child new pain-behaviour.”25 As this remark suggests, there are certain very basic psychological phenomena that children always already manifest in very basic and natural ways. It is on the basis of these primitive phenomena that infants can interact with their caretakers, who then enable them to develop the psychological part of their existence from an elementary to a more sophisticated state. The child first of all obtains ever more refined expressions for the sensations it has or undergoes. It is taught that cries and groans can be replaced with statements like “I am in pain”, and can also be said to learn the difference between pains and itches, say, as well as between things like dull and throbbing pains. Yet infants do not merely learn to refine the way in which they manifest basic sensations; Wittgenstein also holds that children gradually enhance the reservoir of psychological phenomena they can have or undergo in the first place. He for instance notes: “One does not say that a suckling hopes,” but “bit by bit daily life becomes such that there is a place for hope in it.” 26 That children can only be said to hope at a later stage in life is due to the fact that a person can, on Wittgenstein’s view, only be ascribed such more sophisticated psychological phenomena after being initiated into the practices of her community. Or as Wittgenstein puts it with regard to pretence: “[The child] has to learn a complicated pattern of behaviour before he can pretend.”27 This notion of a psychological pattern is important when it comes to understanding the sociality of grammatical subjectivity, so it needs to be unpacked in a little more detail. Psychological phenomena may not come in a pure and precise form, as I explained earlier, but this does not mean that there is nothing to bind the delicate and dispersed components that make up instances of hope, grief or thankfulness.
25 PI 244. 26 RPPii 15; see also RPPii 151, LWi 940, LWi 942. 27 LWi 869 (italics mine); see also PI II § i p. 174, PI II § i pp. 228-229, RPPii 624, RPPii 651, LWi 365, LWi 862, LWii 40, LWii 55.
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What accounts for the fact that two constellations of contextualized behaviour both form occurrences of gratitude, for instance—even though only in one case a “Thank you” is uttered and the other case involves tears rather than smiles—is the fact that the persons displaying this behaviour, being members of the same community, share an understanding of the kind of things one can be grateful for and have both learned to respond in certain ways to such thankworthy phenomena. Given this shared background, different behaviour can be expressive of the same emotion, for although the one person may be more talkative and the other more lachrymose, both find themselves in circumstances that are generally considered to call for gratitude. Neither of them, moreover, is clenching their fists or grinding their teeth, say. It is this broad reactive prefiguration that Wittgenstein’s notion of a psychological pattern is meant to bring to the fore: “‘Grief’ describes a pattern which recurs, with different variations, in the weave of our life.”28 Reflecting the manners and morals of a particular community, a psychological pattern is something that a person can only partake in after having made certain ways of living her own. Hence, that Wittgenstein takes the inner to reside in the outer does not just mean that he takes thoughts and feelings to have their life in an individual’s (shades of) behaviour; it means that he takes mental matters—or at least certain non-basic ones—to reside in constellations of behaviour that are social in nature. This has implications for the third person perspective too. In order for an onlooker to recognize a certain combination of behavioural and contextual elements as an instance of gratitude or grief, she has to be able to take this behaviour as an instance of these larger communal patterns. And the familiarity with such patterns, Wittgenstein suggests, is the kind of thing one learns “only through long experience and not from a course in school.”29 It is something that a person has to acquire and only acquires by participating in the relevant psychological practices: “How could you explain the meaning of ‘simulating pain’? […] One is inclined to say: ‘Just live among us for a while and then you’ll come to understand’.”30 No less than the first person perspective, Wittgenstein takes the third person perspective to be obtained in a socialization process rather than at one’s disposal from the start. This means that there is a further non-Cartesian explanation for the uncertainty of third person statements, in addition to the reasons I mentioned earlier. For
28 PI II § i p. 174; see also LWi 406. 29 LWi 925; see also LWi 918. 30 RPPii 630; see also RPPii 29.
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someone could also be at a loss as to what is going on inside another person because she is simply unfamiliar with the pattern of which the other person’s behaviour is an instance. Her upbringing within a different socio-cultural context may have prevented her from encountering something like ennui or Wanderlust before. And “there it is,” Wittgenstein points out, “an external fact”31—this uncertainty is not due to our being unable to look inside another’s head but can wholly be explained in terms of a public pattern someone happens to be unaccustomed with. On Wittgenstein’s view, then, thoughts and feelings are not Cartesian inner objects existing separate from and prior to a person’s doings and sayings. He rather takes mental matters to be non-thing-like, highly multifaceted phenomena that can be situated in someone’s (contextualized shades of) behaviour when seen against the background of a recurring, supra-individual pattern of behaviour. For it is only against this larger social backdrop that a person’s doings and sayings make for, and can be taken as, instances of e.g. hope or grief. Wittgenstein concludes: “Not what one man is doing now, but the whole hurly-burly [of the actions of a variety of humans] is the background against which we see an action.”32
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As I mentioned in the introduction, many have applauded the reconceptualization of human subjectivity offered by Wittgenstein and others, but anti- or post-Cartesianism has met with plenty of protests too. Manfred Frank has for instance argued that if there is no self outside social-cultural practices or no subject without grammar, there is no longer a locus for commitment and (com)passion either; “a dead subject,” after all, “emits no more cries of pain.”33 Seyla Benhabib similarly contends that to the extent that the rethinkers of the Ego present the self as the mere product of supra-individual practices, they render the subject politically inert. As she observes: “Along with [the] dissolution of the subject […] disappear of course concepts of intentionality, accountability, self-reflexivity, and autonomy.”34 According to these critics of post-Cartesianism, then, the subject is the indispensable
31 RPPii 568. 32 RPPii 629. 33 Manfred Frank, What is neostructuralism?, Transl. S. Wilke & R. Gray. Minneapolis: Minnesota University Press 1989, S. 10. 34 Seyla Benhabib, “Feminism and postmodernism”, in: Feminist contentions: A philosophical exchange, ed. S. Benhabib [et al.], pp. 17-34. London: Routledge 1995, S. 20.
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site for ethics and politics, so in so far as the rethinkers of subjectivity eradicate each and every notion of the self, their undertaking should be rejected on ethicopolitical grounds. In the preceding section, I have taken a first step towards countering these objections, or towards showing that they do not apply to post-Cartesianism in its Wittgensteinian variety. For in clarifying Wittgenstein’s philosophy of psychology, I have explicitly presented the notion of grammatical subjectivity as a correction to rather than a complete reversal of the Cartesian view on the nature of man. I explained that Wittgenstein starts from the same psychological asymmetry as Cartesianism and subsequently tries to give a better account of both the first and the third person perspective. He may deny that thoughts and feelings are literally inner and radically private objects, this does not mean that his embodied and embedded account of subjectivity does away with mental matters altogether. Hence, pace the worries voiced by a critic like Frank, Wittgenstein’s grammatical subject is not completely dead and without feeling. It will only look that way if one requires psychological phenomena to come in a Cartesian form—yet as Wittgenstein has shown, it is precisely from such a starting point that one is unable to account for several important characteristics of our psychological practices. Indeed, it is a Cartesian rather than a grammatical account of subjectivity that unwittingly jeopardizes our concept of the inner. After thus explaining Wittgenstein’s overall approach to Cartesianism as a rethinking rather than an “unthinking” of human subjectivity, my aim in the current section is to highlight one particular element of his grammatical account in order to further support my claim that Wittgenstein does not eradicate each and every notion of the self. For Wittgenstein nowhere claims that the subject cannot be said to exist in its own right—what is more, a closer look at his remarks on the way children learn to participate in psychological practices shows that this is, on Wittgenstein’s view, only possible because of certain primitive or natural forms of expressive behaviour.35 As I will now bring to attention, in other words, Wittgenstein’s account has a naturalistic component
35 Cf. José Medina, “Wittgenstein’s social naturalism”, in: The Third Wittgenstein: The post-“Investigations” work, ed. D. Moyal-Sharrock, S. 79-92, Aldershot 2004; K. Dromm, “Imaginary Naturalism: The natural and primitive in Wittgenstein’s later thought”, in: British Journal for the History of Philosophy 11 (4), 2003, S. 673-690, on the other hand argues that Wittgenstein cannot be attributed a naturalistic view on the child’s (linguistic) development. He however does so because he holds that Wittgenstein cannot be ascribed any substantive views in the first place; an interpretation of his method with which I beg to differ (cf. note 3).
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that prevents him from maintaining that there is no subjectivity outside socio-cultural practices.36 That the notion of grammatical subjectivity has a naturalistic basis was actually already touched upon in the preceding section: I quoted § 244 of the Investigations, according to which the words and phrases by means of which we learn to talk about things like pain “are connected with the primitive, the natural, expressions of the sensation”.37 As I explained this remark, it is thanks to certain very basic psychological phenomena manifested in certain very basic ways that infants are enabled to refine and enhance the thoughts and feelings they can be said to have or undergo. This means that, even though I have mainly focused on the social or cultural side of this insight up until now, there is in fact an element of nature as well as of nurture in Wittgenstein’s account of psychological development. He holds that without certain natural expressions as a stepping-stone, the subject would be unable to become a participant in supra-individual psychological patterns. For “if human beings shewed no outward signs of pain (did not groan, grimace, etc.),”38 the fact that children end up knowing how words like “pain” and “joy” are used would become an almost magical feat; it would then require either superhuman insight or a great deal of luck on the part of both infants and their caretakers. What is more, Wittgenstein feels that when it comes to basic psychological expressions, it makes no sense to talk about teaching and learning at all: “Suppose someone knew, guessed, that a child had sensations but no expression of any kind for them. And now he wanted to teach the child to express the sensations. […] Can he teach the child: ‘Look, this is how one expresses something—this, for example, is an expression of this—and now you express your pain!’”39
36 To the extent that this will not become clear below, let me point out here that when I ascribe a “naturalism” to Wittgenstein, I do no mean to suggest that he e.g. reduces everything to scientific facts or offers a strictly causal account of human nature. In line with the work of the interpreters I just mentioned, I merely use the term “naturalism” to underscore that instinctive or natural behaviour forms a core component of Wittgenstein’s account of subjectivity, one that accordingly serves to moderate his otherwise essentially social outlook. 37 PI 244. 38 PI 257. 39 RPPi 309-310; see also RPPi 308.
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Groans and grimaces, Wittgenstein maintains, are not learned but belong to the behaviour that human beings instinctively or naturally display. In addition to these primitive expressions of basic sensations, Wittgenstein points to another, perhaps even more fundamental kind of instinctive behaviour that is a precondition for initiation into social practices. This comes out most clearly in On Certainty, to already mention the remarks that I will discuss in more detail in the next section. It should be noted that when Wittgenstein remarks “As children we learn facts; e.g. that every human being has a brain, and we take them on trust. […] The child learns by believing the adult,”40 he not only repeats the insight that human beings acquire a world picture by inheritance rather than by investigation and experimentation—he also points out that this inheritance is only possible because it comes natural for the infant to believe or trust its parents and teachers.41 In On Certainty, in other words, Wittgenstein identifies a kind of instinctive behaviour that enables the acquisition, not just of particular psychological expressions, but of language or of world pictures more generally. On his view, children exhibit an instinctive trust without which instructors would be unable to teach them that every human being has a brain, or what words like “pain” and “hope” mean.42 Indeed, if infants would not be predisposed to go along with what their caretakers do and say, the latter would be unable to impart anything whatsoever. Hence, at the same time as Wittgenstein emphasizes the sociality of subjectivity, he indicates that the subject is not socially produced all the way through. In so far as Wittgenstein argues that much of what we call “inner” is acquired in the course of a socialization process, he maintains that such training can only take
40 OC §§ 159-160; see also OC § 34, OC § 161, OC § 170, OC § 263. 41 Cf. Bob Plant, Wittgenstein and Levinas: Ethical and religious thought, London: Routledge 2005, S. 47; cf. Stanley Cavell, The claim of reason: Wittgenstein, skepticism, morality, and tragedy, Oxford: Oxford University Press 1979, S. 178. 42 Of course, children cannot be said to trust in the same sense that adults can, but Wittgenstein does not rule out the ascription of basic psychological phenomena to infants, as witnessed by his remarks on pain. Moreover, although this instinctive trust does not have the same natural expressivity as a sensation like pain, we do grant children trust, which perhaps comes out most clearly when we notice their reluctance to interact with people they are unfamiliar with. That this strikes us goes to show that we take their trusting attitude to be default; cf. Danièle Moyal-Sharrock, Understanding Wittgenstein’s “On Certainty” Basingstoke: Palgrave Macmillan 2004, S. 197. (This also means that I am using a much less intellectualistic notion of trust than Lagerspetz objects to; cf. Olli Lagerspetz, Trust: The tacit demand, Dordrecht: Kluwer 1998, S. 96-102).
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place because infants instinctively trust their caretakers and because they already have the capacity to undergo rudimentary psychological phenomena. According to Wittgenstein, a very basic first person perspective is always already given. Something similar can be said with regard to the third person perspective, for as Wittgenstein observes, instinctive behaviour underlies the ability to make statements like “She is hurt” as well. He remarks: “Believing that someone else is in pain, doubting whether he is, are so many natural kinds of behaviour towards other human beings; and our language is but an auxiliary to and extension of this behaviour.”43 Wittgenstein may thus hold that it is only after being initiated into the relevant social practices that we are able to understand the psychological patterns that other people display, he does not think that this is something we learn from scratch. The third person perspective is, on Wittgenstein’s view, not a completely social construction either. Wittgenstein’s naturalism can furthermore explain certain individual differences in psychological development, for the biological basis for refining and enhancing the first and the third person perspective may not be exactly the same for everybody. If certain psychological phenomena should be situated in highly specialized doings, sayings and contexts, persons who are unable to exhibit such behaviour and/or partake in such contexts cannot be attributed these thoughts and feelings either. Similarly, whereas some persons may be born with difficulties in seeing human behaviour as expressive of mind in the first place,44 others may be capable of developing “‘expert judgment’ about the genuineness of expressions of feeling.”45 This means that, in addition to forming a precondition for psychological development, natural facts also place restrictions on what the socialization of subjectivity can ultimately achieve. These observations have important consequences for Wittgenstein’s version of the claim that subjectivity is always already situated or grammatical. The naturalism that is present throughout Wittgenstein’s later writings indicates that, on his view, the subject is not the mere effect of its upbringing in the sense that this upbringing cannot wholly determine how a person will develop. Moreover, given that it is only on the basis of certain natural facts that the socialization of subjectivity can take place, the subject cannot be considered to be the simple product of
43 RPPi 131; see also LWi 874. 44 They may be called “soul blind”, on analogy with Wittgenstein’s notion of aspect blindness; cf. Cavell, The claim of reason, a. a. O., S. 378-380; cf. Mulhall, On being in the world, a. a. O., S. 78-90. Soul blind persons are unable to take the other’s behaviour as expressive of e.g. pain or joy – as more than mere behaviour. 45 PI II § xi S. 227; see also LWi 915, LWi 916.
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its rearing in the sense that this rearing does not proceed from scratch. On a Wittgensteinian view, the child’s upbringing neither has the first nor the final word. This does not make the child’s psychological development into a less social affair, but it does mean that the infant’s initiation into the patterns and practices of its community is more matter of enhancement and attunement than a matter of construction or production, according to Wittgenstein. And to come back to my main aim in this contribution, this further undermines the arguments against postCartesianism formulated by critics like Frank and Benhabib, at least to the extent that they are intended to apply to Wittgenstein. For in so far as the rethinking of subjectivity jeopardizes the possibility of ethics and politics by stating that there is no subject without grammar—and thus by leaving us without a locus for the ethico-political—this claim cannot be attributed to Wittgenstein without reserve. The Wittgensteinian subject is not produced by grammar all the way through.
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I have so far argued that Wittgenstein’s overall aim is to rethink rather than “unthink” the Cartesian idea of the self, and that he moreover takes a basic or natural form of subjectivity to precede socio-cultural instruction. This need however not fully convince its critics of the ethico-political sufficiency of grammatical subjectivity, for even if Wittgenstein thinks that developing one’s subjectivity is a matter of nature as well as of nurture, this process may still seem to result in a subject that can only be intolerant of what is new or different—and that is thus opposed to, say, emancipatory politics beforehand, to once more mention Benhabib’s main concern. A number of interpreters have indeed defended such a neophobic reading of Wittgenstein. According to Kristóf Nyíri and David Bloor, for instance, Wittgenstein supports a conservative outlook according to which “one can very well imagine” societies with different customs and conventions but cannot “entertain a liberal attitude as regards irregularities in [one’s] own society.”46 On such a reading, the Wittgensteinian subject would “deplore any movement away from the order and organic unity”47 that it takes or wants its community to form.
46 J.C. Nyíri, Wittgenstein’s later work in relation to conservatism, in: Wittgenstein and his times, ed. A. Kenny (et al.), S. 44-68, Oxford: Blackwell 1982, S. 61. 47 David Bloor, Wittgenstein: A social theory of knowledge, London: Macmillan Press 1983, S. 161.
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This reactionary interpretation seems to find support in the passages in which Wittgenstein examines the epistemological implications of the grammatical nature of subjectivity, most notably in On Certainty. Here, Wittgenstein famously takes issue with the idea that human life can be understood in strictly rationalistic terms. He argues that knowledge claims are only possible on the basis of so-called certainties: unspoken assumptions about life and the world that one does not entertain after thorough investigation but because one has “swallow[ed]” them “down”48 in the course of one’s upbringing. Moreover, as that which makes investigation and discussion possible in the first place, certainties themselves cannot come up for debate: “We just can’t investigate everything, and for that reason we are forced to rest content with assumption. If I want the door to turn, the hinges must stay put.”49 This means that one can only have a rational exchange with people who share one’s frame of reference, and that when two persons do not have the same picture of the world, they cannot make this difference into the topic of a reasoned conversation. Wittgenstein even observes: “Where two principles really do meet which cannot be reconciled with one another, then each man declares the other a fool and heretic.”50 Since one’s certainties determine what one considers to be reasonable to begin with, as Wittgenstein mentions in another entry: “One might simply say ‘O, rubbish!’ to someone who wanted to make objections to the propositions that are beyond doubt. That is, not reply to him but admonish him.”51 At first sight, such remarks may seem to confirm that the Wittgensteinian subject is fundamentally averse to change and difference. And if this was Wittgenstein’s definitive account of human subjectivity, his view could indeed be said to be ethically and politically wanting—for being incompatible with a feminist project, for instance, but also for being incompatible with the continuous transformation and irreducible pluriformity of contemporary culture. I will however show that a neophobic reading of Wittgenstein is not the only possible one. To round off my discussion of the ethics and politics of grammatical subjectivity, I will explain why On Certainty does not automatically lend itself for making Wittgenstein into a thoroughly conservative thinker. It should first of all be noted that Wittgenstein does not maintain that the only right response to someone who sees things differently is “O, rubbish!”. On Wittgenstein’s view, scolding is not the only possible or even the only warranted response, for if someone contradicts one’s picture of the world one might, as he
48 OC 143. 49 OC 343. 50 OC 611. 51 OC 495.
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states elsewhere, simply “have to put up with it”52—just register the difference and leave it at that. That such a response is possible too means that, rather than always already reverting to name-calling, it should be said to be a practical question how we will approach someone contradicting our fundamental attitudes. Depending on several factors like our relation to this person and the certainty at issue, we might react in several possible ways. In inheriting a particular frame of reference, after all, we have only been prepared to deal with what falls within, and not with what falls outside its scope. Moreover, Wittgenstein’s observation that one might admonish rather than reply to a diverging voice is first and foremost motivated by his holding that it would be inappropriate to try and provide grounds in support of one’s outlook.53 “Where two principles really do meet which cannot be reconciled with one another,” the problem precisely is that there is no (or not enough) shared ground on the basis of which these principles could be (in)validated. The conflict concerns the very grounds on the basis of which one normally distinguishes between true and false, and they can accordingly not be proved true or false themselves.54 It is for this reason—but it is also only for this reason—that it might be more appropriate to respond to a diverging voice with admonishment instead of with arguments. This however does not provide a positive justification for calling the other a fool or heretic. It only goes to show that we are at a justificational loss when it comes to the very foundations of our everyday practices. We have to “realize the groundlessness of our believing,”55 Wittgenstein points out. Indeed, it is precisely the groundlessness of one’s practices that one is confronted with when one faces a person with a different set of certainties and finds that, here, normal ways of arguing break down. This means that, rather than only holding fast to one’s groundless assumptions all the firmer, a confrontation with a deviant or diverging voice could also give one a little pause. It is perhaps one of those events that might, as Wittgenstein observes, “put me into a position in which I could not go on with the old language-game any further. In which I was torn away from the sureness of the game.”56 This may then bring one to realize that
52 OC 238. 53 See OC 498, OC 611-612. 54 See OC 94, OC 199, OC 205, OC 403. 55 OC 166. 56 See also OC 617. Elsewhere Wittgenstein claims that no matter what one is confronted with, no matter how “much the facts bucked,” one could always “stay in the saddle” (OC 616; see also OC 497, OC 512, OC 657). Yet that one could stay in the saddle does
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one always already takes a host of things for granted simply because one is a member of a particular community, and that these things are not self-evident from all perspectives. So what starts out as a confrontation with a diverging voice could develop into a confrontation with oneself and one’s community: with the fact that there is no other reason for our distinguishing between genders and placing men above women, say, than that we have always done so until now. Instead of responding by calling the other person names, we can also turn to ourselves and respond with some soul-searching. That is to say, a realization of the groundlessness of our believing need not lead to an immediate renouncing of any one of the community’s certainties. Having been incorporated over the course of a lifetime, certainties are not things one can simply step out and dispose of like an old and worn-out coat. Yet what a confrontation with a different perspective could bring about is a discovery of what one takes for granted in the first place. Certainties are, after all, not things one consciously entertains; in line with Wittgenstein’s insistent distinguishing certainty from knowledge claims,57 we cannot be said to know what we take to stand fast. But as Wittgenstein remarks, even though one has unwittingly come to swallow a system of certainties down in the course of one’s upbringing, one can “discover them subsequently like the axis around which a body rotates.”58 Being confronted with a different world picture pre-eminently allows one for coming to see what one’s own certainties are. Given that this requires temporarily bracketing their status as certainties—for as Wittgenstein explains, they function precisely by normally going unexpressed 59—such a discovery may in time turn a particular assumption from being part of “the river-bed of thoughts” 60 into one of the many “fluid propositions” 61 we can debate and disagree about.62 But even if it does not
not mean that one must. Moreover, see OC 368 and OC 641, explaining that when evidence faces evidence, it is a matter of decision what is to give way, and that the choice to stay in the saddle is not an irreversible one. 57 See e.g. OC 6, 8, 91, 243, 308, 510, 511, 550. 58 OC 152. 59 See e.g. OC 87, 110, 159, 204, 402, 427. 60 OC 97. 61 OC 96. 62 My interpretation of OC thus sharply contrasts with that of Stroll, who – regardless of remarks like OC 96 and 97 – repeatedly claims that certainties cannot be revised and does not seem to allow for changes in world pictures (see e.g. Avrum Stroll, Moore and Wittgenstein on Certainty, Oxford: Oxford University Press 1994, S. 110, 159, 164, 167, 177, 180).
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lead to an active questioning of (one of) the community’s certainties, a discovery of what has always been taken to stand fast can lead to self-examination in the sense of self-knowledge. This places Wittgenstein’s seemingly dogmatic remarks in a very different light and brings to mind Stanley Cavell’s interpretation of Wittgenstein rather than that of Nyíri and Bloor. Indeed, and even though Cavell is a reader of the Philosophical Investigations rather than of On Certainty,63 he offers non-reactionary means of explaining the fact that certainties cannot be the topic of a rational debate, or a means of explaining that this need not imply complete irrationality. These resources can be found in the third part of The Claim of Reason, where Cavell examines what the nature of moral judgment can be said to be, given that this normally does not involve arguing from shared premises to shared conclusions. Philosophers often take this as a sign of “the failure or irrationality of morality,”64 yet as Cavell maintains, there is a different moral to be drawn. For even if the participants in a moral conversation do not have any premises in common and will never arrive at a shared conclusion, this does not disqualify morality as such; it only shows that these particular persons cannot be said to live in the same moral universe.65 Moreover, such a delineation of moral worlds cannot be said to leave the discussants empty-handed. Far from it, for it allows them to understand more fully, or even for the first time, where they stand with regard to the other and with regard to themselves. On Cavell’s view, the rationality of morality consists in its ability to lead “to a knowledge of our own position, of where we stand; […] to a knowledge and definition of ourselves.”66 Something similar can be said about a situation in which “two principles really do meet which cannot be reconciled with one another”. To be sure, when confronted with someone who contradicts one’s basic beliefs one might respond with dogmatism and with name-calling, but such responses are not the only possible or even the most valid ones. As I explained above, it cannot be stated beforehand how a confrontation with different certainties should always be reacted to, and as
63 In Chantal Bax, “Reading On Certainty through the lens of Cavell: Scepticism, dogmatism and the ‘groundlessness of our believing’”, in: International Journal of Philosophical Studies 21(4), 2013, S. 515-533 I argue in more detail why Cavell’s reading of PI can also be applied to OC, even though this last collection may seem to invalidate Cavell’s notion of the “truth of skepticism”. 64 Stanley Cavell, The Claim of Reason: Wittgenstein, Skepticism, Morality, and Tragedy, Oxford: Oxford University Press 1979, S. 255. 65 See Stanley Cavell 1979, S. 268, 326. 66 Stanley Cavell 1979, S. 312.
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Cavell points out, “if I say ‘They are crazy’ or ‘incomprehensible’ then that is not a fact but my fate for them.”67 Yet if a confrontation with a different perspective should on final analysis be said to form a confrontation with the very groundlessness of believing, that fact would be more accurately reflected, not by automatically dismissing the dissenter, but by turning one’s attention to what one takes for granted oneself.68 For even if normal ways of arguing break down at such a point, it provides one with an opportunity for coming to see what one takes to be indisputable, and that one does so on no other grounds than one’s upbringing within a particular community. Who responds with name-calling should in any case be said to pretend that it is only the other whose beliefs are without grounds. Or to once more put it in Cavellian terms, the name-caller “suffer[s] a kind of blindness, but [avoids] the issue by projecting this darkness upon the other.”69 To come back to my main aim in this contribution, this completes my tripartite answer to the challenge posed by the critics of post-Cartesianism. Contrary to the worries voiced by commentators like Frank and Benhabib, Wittgenstein’s grammatical subject need not be said to be ethically and politically defective. For as I explained in the second and third section, he still offers a locus for matters such as rights and responsibility: his rethinking of Cartesianism does not do away with all things subjective and does not make the self into a pure product of its sociocultural context. The latter, as I moreover argued in this final section, is not just a hollow claim, or does not just concern the preconditions for the social construction of subjectivity—Wittgenstein maintains that the subject can also distance itself from inherited customs and conventions after initiation into the practices of its community. That is not to say that such distancing is easy, or that it can always be stated beforehand what its outcome will be. A process of self-examination may in some cases lead to an embracing of the novel and uncommon, in other cases it may not. But this does not mean that the grammatical subject is ethically and politically inadequate after all. It simply means that the grammatical subject is human all the way through.
67 Stanley Cavell 1979, p. 118. 68 See Stanley Cavell 1979, p. 125. 69 Stanley Cavell 1979, p. 368.
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A BBREVIATED R EFERENCES LWi
LWii
OC
PI
RPPi
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Last Writings on the Philosophy of Psychology, Volume I 1990 reprint. Ed. G.H. von Wright & H. Nyman, transl. C.G. Luckhardt & M.A.E. Aue. Chicago: University of Chicago Press. Last Writings on the Philosophy of Psychology, Volume II Paperback edition, 1993. Ed. G.H. von Wright & H. Nyman, transl. C.G. Luckhardt & M.A.E. Aue. Oxford: Blackwell. On Certainty 1972 edition. Ed. G.E.M. Anscombe & G.H. von Wright, transl. D. Paul & G.E.M. Anscombe. New York: Harper & Row. Philosophical Investigations Third edition, 1995 reprint. Transl. G.E.M. Anscombe. Oxford: Blackwell. Remarks on the Philosophy of Psychology, Volume I 1998 reprint. Ed. G.E.M. Anscombe & G.H. von Wright, transl. G.E.M. Anscombe. Oxford: Blackwell. Remarks on the Philosophy of Psychology, Volume II 1998 reprint. Ed. G.H. von Wright & H. Nyman, transl. C.G. Luckhardt & M.A.E. Aue. Oxford: Blackwell.
Lebensform, degenerierte Hyperbeln und das Gemeinte – PU 191 A NJA W EIBERG
PU 19 der Philosophischen Untersuchungen stellt insofern einen Übergangsparagrafen dar, als Wittgenstein in ihm sowohl einige zuvor schon behandelte Aspekte erneut aufgreift bzw. zu einem vorläufigen Abschluss führt (Frage nach Vollständigkeit bzw. Unvollständigkeit einer Sprache, Hinterfragung von Klassifizierungen) als auch andere Themen erstmals anschneidet (Begriff der Lebensform, Begriff des Meinens), die u. a. in den folgenden Paragrafen weiter behandelt werden. Interessant ist dieser Paragraf aber nicht nur wegen seiner zurück- und vorausweisenden Struktur, sondern auch wegen der Zusammenführung der verschiedenen Überlegungen: Wird im ersten Absatz die Frage nach Vollständigkeit oder Unvollständigkeit einer Sprache mit dem Begriff der Lebensform in Verbindung gebracht, so stellt der weitaus längere zweite Absatz einen Bezug her zwischen der Frage nach Kriterien für die grammatikalische Kategorisierung des Rufs „Platte!“ als Wort oder Satz einerseits und dem Begriff des Meinens andererseits. Gemeinsam ist diesen verschiedenen Überlegungen, dass Wittgenstein mit ihnen auf die Normativität wie auch die Unproduktivität vieler philosophischer Untersuchungen abzielt, denen er seine eigene Methode der grammatischen Untersuchungen gegenüberstellt, mittels derer dieser normative bzw. unproduktive Charakter (etwa eines essenzialistischen Philosophierens oder bestimmter mentalistischer Positionen) deutlich aufgezeigt werden kann. Anders formuliert: Wo andere Philosophen beispielsweise nach dem einen, wesentlichen, Merkmal der
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Danke an Franz Schörkhuber und Johanna Gaitsch für die genaue Lektüre und kritische Kommentierung der Rohfassung sowie an Esther Ramharter für ihre Erläuterungen zu den Kegelschnitten.
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Sprache, der Bedeutung, des Satzes u. Ä. fragen und hierbei eine sachliche Untersuchung eines bestimmten Phänomens vorzunehmen beabsichtigen (vgl. z. B. PU 383), nimmt Wittgenstein mithilfe der Beschreibung realer wie auch fiktiver Sprachspiele grammatische Untersuchungen von Begriffen vor, deren Ergebnis nicht zuletzt darin besteht, die Mängel der oben genannten Fragestellungen deutlich zu machen. PU 19 stellt ein sehr eindrückliches Beispiel dieser Vorgehensweise dar. Darüber hinaus schließlich verdient dieser Paragraf meines Erachtens auch deshalb Aufmerksamkeit, da er ein sehr anschauliches Beispiel für Wittgensteins gelegentlich äußerst subtile Ironie darstellt. Im folgenden close reading des PU 19 sollen alle soeben genannten Aspekte näher beleuchtet werden.
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S PRACHE
UND
L EBENSFORM
„Man kann sich leicht eine Sprache vorstellen, die nur aus Befehlen und Meldungen in der Schlacht besteht. – Oder eine Sprache, die nur aus Fragen besteht und einem Ausdruck der Bejahung und der Verneinung. Und unzählige Andere.“ (PU 19)
Bereits in PU 2, im Anschluss an die Einführung der Bauarbeitersprache, hatte Wittgenstein uns aufgefordert, diese „als vollständige primitive Sprache“ anzusehen (PU 2). In PU 6 werden wir zur Sicherheit daran erinnert, dass Wittgenstein selbst diese Vorstellung nicht einmal ansatzweise so absonderlich findet wie wahrscheinlich die meisten von uns: „Wir könnten uns vorstellen, dass die Sprache im § 2 die ganze Sprache des A und B ist; ja, die ganze Sprache eines Volksstamms“ (PU 6). In PU 18 greift er die ihm wohl bewusste Irritation der Leser explizit auf, wenn er ihnen nahelegt, sie sollten sich nicht daran stören, dass die Bauarbeitersprache (sowie ihre erweiterte Form aus PU 8) nur Befehle umfasse.2 Danach wird nun jene Frage nach Vollständigkeit oder Unvollständigkeit einer Sprache aufgeworfen, die zumindest implizit bereits in PU 2 über die oben genannte Aufforderung ins Spiel gebracht wurde und die zu Beginn von PU 19 noch nachhallt. Denn unsere Irritation beruht ja vor allem darauf, dass der Bauarbeitersprache so enorm viele der uns bekannten und wichtigen Ausdrucksmöglichkeiten fehlen; daher widerstrebt es manchen von uns eventuell sogar, sie überhaupt als Sprache zu bezeichnen, ganz sicher aber werden wir sie nicht als vollständige Sprache ansehen wollen. Und genau an diesem Kern unserer Irritation setzt Wittgenstein in PU 18 nun an: Denn wer etwas als unvollständig beurteilt, muss sich
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Auf die Erweiterung der Bauarbeitersprache in PU 8 gehe ich hier nicht ein, da sie in PU 19 nicht thematisiert wird.
L EBENSFORM ,
DEGENERIERTE
H YPERBELN UND DAS G EMEINTE – PU 19 | 223
die Gegenfrage gefallen lassen, was er selbst denn unter „Vollständigkeit“ verstehe bzw. konkreter, auf den vorliegenden Fall bezogen, nach welchen Kriterien er eine Sprache als vollständig oder unvollständig ansehe: Ist sie beispielsweise nicht vollständig gewesen, bevor der Symbolismus der Chemie oder eine bestimmte mathematische Notation entwickelt wurden? Kann man klare Kriterien angeben, welche Elemente eine Sprache beinhalten oder welchen Anforderungen sie genügen muss, um als vollständig zu gelten? Die gerade genannten Beispiele (chemischer Symbolismus und mathematische Notation) deuten übrigens darüber hinaus an, dass zumindest ein Aspekt der Diskussion über Vollständigkeit oder Unvollständigkeit der Anspruch der Exaktheit einer Sprache ist: Wie kann eine Sprache vollständig sein, wenn sie nur über vier Wörter verfügt, keine syntaktischen Strukturen aufweist usw.? Wie soll man in einer derart beschränkten Sprache, etwa im Fall eines Missverständnisses, erklären, was man selbst meint bzw. was der andere tun soll? Dieser Hinweis macht uns daher auf (oftmals unausgewiesene) Voraussetzungen vieler unserer philosophischen Fragestellungen aufmerksam. Denn die Frage nach Vollständigkeit oder Unvollständigkeit kann ja nur dann sinnvoll gestellt werden, wenn man Sprache bereits im Vorfeld einen bestimmten Zweck zuschreibt, gleichgültig, ob dieser Zweck nun in Kommunikation, in der exakten Abbildung von Tatsachen der Welt, im Ausdruck innerer Vorgänge oder Ähnlichem gesehen wird.3 „Kurz gesagt: zu sagen, eine Sprache sei vollständig, heißt, sie sei vollständig relativ zu einem Zweck oder einer Praxis, nicht in sich selbst oder an und für sich.“4 Wer daher die Bauarbeitersprache – etwa im Vergleich mit unserer Sprache – für unvollständig hält, müsste zunächst erläutern, welchen (allgemeinen) Zweck Sprache seiner Ansicht nach hat und nach welchen Kriterien die Erfüllung dieses Zwecks festgestellt werden kann. Wenig überraschend ist wohl, dass Wittgenstein diese Frage nicht stellt, um sie in der Folge auch zu beantworten. Geht es ihm hier doch, wie so oft, vielmehr darum, uns auf die Unproduktivität bestimmter philosophischer Fragestellungen (sowie auf die Vorannahmen oder Ansprüche, aus denen diese resultieren) hinzuweisen. In diesem Fall zielt sein Hinweis zunächst darauf ab, dass wir in der Regel
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Daher kann Wittgenstein selbst uns in PU 2 übrigens auch ohne Weiteres dazu auffordern, die Bauarbeitersprache als vollständige Sprache anzusehen – denn diese Sprache dient einem klaren Zweck, den Wittgenstein zuvor auch bereits beschrieben hatte: „Die Sprache soll der Verständigung eines Bauenden A mit einem Gehilfen B dienen.“ (PU 2)
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Richard Raatzsch, Eigentlich Seltsames. Wittgensteins Philosophische Untersuchungen, Band 1: Einleitung und Kommentar PU 1-64, Paderborn u. a. 2003, S. 213.
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weder klare, allgemeine Kriterien dafür haben, welche Elemente eine Sprache aufweisen muss, damit wir sie als Sprache bezeichnen, noch dafür, ab wann eine Sprache als vollständig bzw. bis wann sie als unvollständig anzusehen ist. Nun könnte man diese Bemerkung so verstehen, dass Wittgenstein hier eine Aufgabe formuliert: Wenn wir noch nicht über Kriterien zur Beurteilung einer Sprache als vollständig oder unvollständig verfügen, dann müssen wir solche Kriterien eben entwickeln. Allerdings denkt Wittgenstein in keiner Weise daran, sich einer derartigen Aufgabe zu stellen, hält er sie doch für ein unnützes, die philosophische Verwirrung allenfalls verstärkendes Unterfangen.5 Dies zeigt sich nicht nur daran, dass an keiner Stelle der Philosophischen Untersuchungen auch nur der Ansatz eines solchen Versuches unternommen wird, sondern lässt sich bereits daran erkennen, dass Wittgenstein direkt im Anschluss an die in PU 18 aufgeworfene Frage nach Vollständigkeit oder Unvollständigkeit einer Sprache, gleichsam völlig unbeeindruckt, weitere Sprachen skizziert, denen wir üblicherweise kaum Vollständigkeit attestieren würden (wie beispielsweise jener Sprache, „die nur aus Fragen besteht und einem Ausdruck der Bejahung und der Verneinung“; PU 19). Es ist also, zusammenfassend bis hier, eine Frage, ob es wirklich leicht für uns vorstellbar ist, die Bauarbeitersprache oder eine jener von Wittgenstein zu Beginn von PU 19 genannten Sprachen als vollständige Sprachen anzusehen, eine andere Frage aber ist, ob es wirklich unsere Vorstellungskraft ist, die uns hier im Stich lässt, oder ob nicht doch eher eine bestimmte normative Sichtweise dessen, was wir überhaupt als Sprache gelten lassen und was nicht – also ein bestimmtes Sprachbild –, für unsere Schwierigkeiten verantwortlich zeichnet. Wittgenstein geht es im Rahmen dieser Ausführungen, wie bereits angedeutet, nicht darum, nun seinerseits einen bestimmten Zweck der Sprache festzulegen. Vielmehr möchte er uns u. a. vor Augen führen, dass wir bereits ein bestimmtes Sprachbild in eine Untersuchung hineintragen, wenn wir die Bauarbeitersprache als unvollständig beurteilen; ein Sprachbild, das – wie auch immer es im Einzelnen beschaffen sein mag – zumindest im Rahmen philosophischer Untersuchungen eine oftmals einengende und irreführende Perspektive mit sich bringt. Daher bekräftigt Wittgenstein zu Beginn von PU 19 nochmals, dass es sehr wohl leicht sei (nämlich dann, wenn man sich von dieser normativen Sichtweise frei gemacht hat), sich etwa eine Sprache vorzustellen, „die nur aus Befehlen und Meldungen in der Schlacht besteht“, aber auch „unzählige Andere“. Geht man nicht automatisch von einem bestimmten Sprachbild aus, wird vieles vorstellbar.
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Siehe hierzu z. B. PU 75 f., 92, 108 f., 132.
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Im letzten Satz dieses ersten Absatzes ergänzt Wittgenstein die gerade beschriebene Auffassung noch durch den Hinweis, dass die Vorstellung einer solchen Sprache mit der Vorstellung des damit verknüpften Handelns einhergehe: „Und eine Sprache vorstellen heißt, sich eine Lebensform vorstellen.“ Es ist hier nicht der Ort, die Debatte um den Begriff der Lebensform nachzuzeichnen. Daher sei nur kurz vermerkt, dass ich mich der Interpretation Stefan Majetschaks anschließe, wonach der Begriff der Lebensform weder im Sinne „eine[r] gemeinsame[n] Lebensform für alle Menschen“6 noch „in einem anthropologisch-soziokulturellen Sinne“7 zu verstehen ist, sondern Wittgenstein mit diesem Begriff lediglich abzielt auf „eine Konstellation von Regelmäßigkeiten sprachlichen und nicht-sprachlichen Handelns, die wir als mit Variationen wiederkehrende Struktur in unserem Leben betrachten“.8 Vor dem Hintergrund dieser Interpretation des Lebensformbegriffs lässt sich die gerade zitierte Bemerkung folgendermaßen verstehen: Anstatt die hier vorgestellten Sprachen von vornherein aus dem Blickwinkel eines bestimmten Sprachbilds zu betrachten und zu beurteilen, gilt es, sich eine bestimmte Form des Lebens vorzustellen, in die die jeweilige Sprache eingebettet ist, ein Handeln (bzw. ein Handlungsmuster), das mit bestimmten sprachlichen Äußerungen verknüpft ist. Auch wenn der Verweis auf das Handeln an dieser Stelle etwas unvermittelt ins Spiel gebracht zu werden scheint, so könnte man ihn dennoch eventuell als Bindeglied der zwei Teile dieses Paragrafen ansehen:9 Zum einen macht Wittgenstein im ersten Absatz gegen die u.a. in PU 18 thematisierten mit Sprache verknüpften Zwecksetzungen den Aspekt der Verwobenheit
6
Newton Garver, „Die Lebensform in Wittgensteins Philosophischen Untersuchungen“, in: Rudolf Haller (Hg.), Grazer Philosophische Studien, Band 21, Amsterdam 1984, S. 33-54, S. 49.
7
Rudolf Haller, „Lebensform oder Lebensformen? Eine Bemerkung zu N. Garvers ‚Die Lebensform in Wittgensteins Philosophischen Untersuchungen‘“, in: Rudolf Haller (Hg.), Grazer Philosophische Studien, Band 21, Amsterdam 1984, S. 55-63, S. 57.
8
Stefan Majetschak, Lebensformen und Lebensmuster: Zur Deutung eines sogenannten Grundbegriffs der Spätphilosophie Ludwig Wittgensteins, in: Volker Munz, Klaus Puhl, Joseph Wang (Hgg.), Language and World, Part One, Essays on the Philosophy of Wittgenstein, Heusenstamm bei Frankfurt am Main 2010, S. 265-290, S. 286.
9
„Eventuell“, da meines Erachtens nicht zuletzt aufgrund der interpretatorischen Unsicherheiten in Bezug auf den Lebensformbegriff vor allem in diesem Paragrafen keine „völlig abgesicherte“ Interpretation möglich ist, diese also bis zu einem gewissen Grad spekulativ bleibt.
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von Sprache und Handeln stark; eine Verwobenheit, die philosophische Begründungs-, Erklärungs- oder Verbesserungsprojekte in Bezug auf Sprache hinfällig erscheinen lässt (sofern wir mit Wittgenstein das Handeln als jenen „harten Felsen“ ansehen, an dem sich der Begründungsversuchs-Spaten zurückbiegt; PU 217; vgl. hierzu auch PU 654 f.) und deren Berücksichtigung uns „eine Einsicht in das Arbeiten unserer Sprache“ verschafft (PU 109). Zum anderen kann man den hier angesprochenen Zusammenhang von Sprache und Lebensform als „Vorwarnung“ in Bezug auf die nun folgende Debatte verstehen: Denn – um das „Ergebnis“ dieser Debatte vorwegzunehmen – die Frage, ob der Ruf „Platte!“ in der Bauarbeitersprache als Wort oder Satz zu klassifizieren sei, kann nur jemanden interessieren, der sich nicht darauf beschränkt, genauer zu betrachten bzw. zu überlegen, wie sich das Sprechen und Handeln dieser Bauenden darstellt, sondern diese Sprache nach den Kategorien der zum Vorbild genommenen Schulgrammatik untersucht.
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E LLIPTISCHE S ÄTZE
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Die zuvor behandelte Frage nach Vollständigkeit oder Unvollständigkeit fügt sich ein in eine Reihe anderer Fragen aus den vorausgegangenen Paragrafen, mit denen Wittgenstein darauf abzielt, uns mit unseren nicht immer deutlich vor Augen stehenden Untersuchungsinteressen zu konfrontieren: Schreiben wir der Sprache einen allgemeinen Zweck zu? Sind wir beispielsweise der Meinung, dass der Zweck der Wörter im Bezeichnen besteht (vgl. PU 10, 13, 15) oder darin, eine „Taste auf dem Vorstellungsklavier“ anzuschlagen (PU 6)? Würden wir Farbmuster als Teil der Sprache qualifizieren oder nicht (vgl. PU 16)? Nach welchen Arten teilen wir die Worte ein (vgl. PU 17)? Am Beispiel der letzten Frage hält Wittgenstein explizit fest: „Wie wir aber die Worte nach Arten zusammenfassen, wird vom Zweck der Einteilung abhängen, – und von unserer Neigung.“ (PU 17) Was er damit meint, wurde nicht nur im Rahmen der bereits behandelten Ausführungen von PU 18 deutlich, sondern wird nun in PU 19 an einem weiteren Beispiel herausgearbeitet, nämlich der Unterscheidung von Wort und Satz: „Wie ist es aber: Ist der Ruf ,Platte!‘ im Beispiel (2) ein Satz oder ein Wort?“ Der Gesprächspartner stört sich zunächst an beiden Zuordnungsmöglichkeiten: Im Fall der Zuordnung zu den Worten sei einzuwenden, dass „Platte!“ nicht gleichbedeutend sein könne mit dem Wort in unserer Sprache, da es sich in der Bauarbeitersprache ja um einen Ruf handle (und nicht etwa um ein Wort, das einen Gegenstand bezeichnet): „Wenn ein Wort, so hat es doch nicht dieselbe Bedeutung wie das gleichlautende unserer gewöhnlichen
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Sprache, denn im § 2 ist es ja ein Ruf.“ Gegen die Zuordnung zu den Sätzen hingegen spräche, dass man „Platte!“ nicht, wie in unserer Sprache, als „elliptische[n] Satz“ klassifizieren könne: „Wenn aber ein Satz, so ist es doch nicht der elliptische Satz ,Platte!‘ unserer Sprache“ – und zwar deshalb, wie etwas später deutlich gemacht wird, weil die Bauarbeitersprache nicht über in unserem Verständnis unverkürzte Sätze wie „Bring mir eine Platte“ verfüge. Wittgensteins erster Kommentar zu diesen Ausführungen des Gesprächspartners macht zunächst sehr lapidar deutlich, dass er nicht nur dessen Bedenken nicht teilt, sondern dass ihm darüber hinaus die Antwort auf diese Frage als solche grundsätzlich gleichgültig ist: „Was die erste Frage anbelangt, so kannst du ,Platte!‘ ein Wort, und auch einen Satz nennen […].“ Nichtsdestoweniger scheint er sich trotz dieser zunächst eher brüsken Zurückweisung in der Folge doch auf dessen Überlegungen einzulassen: „Was die erste Frage anbelangt, so kannst du ,Platte!‘ ein Wort, und auch einen Satz nennen; vielleicht treffend einen ,degenerierten Satz‘ (wie man von einer degenerierten Hyperbel spricht), und zwar ist es eben unser ,elliptischer‘ Satz.“ Hier entsteht also zunächst der Eindruck, Wittgenstein schließe sich jener Sichtweise an, der zufolge der Ruf „Platte!“ in der Bauarbeitersprache als ein „elliptischer“, ein „degenerierter“ Satz zu qualifizieren sei (denn er scheint diese beiden Ausdrücke synonym zu setzen: „und zwar ist es …“). Dass dieser Eindruck täuscht, sieht man allein schon am weiteren Verlauf der Diskussion: Auf den Einwand: „Aber der ist doch nur eine verkürzte Form des Satzes ,Bring mir eine Platte!‘ und diesen Satz gibt es doch in Beispiel (2) nicht“, folgt prompt eine von Wittgensteins berüchtigten Gegenfragen: „Aber warum sollte ich nicht, umgekehrt, den Satz ,Bring mir eine Platte!‘ eine Verlängerung des Satzes ,Platte!‘ nennen?“ Liest man diese Passage zum ersten Mal, kann der Verlauf der Diskussion allerdings leicht so erscheinen, als würde Wittgenstein hier, von der Argumentation des Gesprächspartners überzeugt, nun einfach ein anderes Argument wählen bzw. die Argumentation abbrechen und – nach wie vor streitlustig – mit einer Gegenfrage reagieren. Dass diese Lesart nicht nur nicht stimmt, sondern Wittgenstein sogar von Anfang an in keiner Weise ernsthaft auf die Bedenken des Gesprächspartners eingeht, erkennt man dann, wenn man die Verwendung der Ausdrücke „elliptischer Satz“, „degenerierter Satz“ und „degenerierte Hyperbel“ genauer betrachtet. Sehen wir uns hierzu vorweg nochmals den Gesprächsverlauf im Ganzen an: „Wie ist es aber: Ist der Ruf ,Platte!‘ im Beispiel (2) ein Satz oder ein Wort? – Wenn ein Wort, so hat es doch nicht dieselbe Bedeutung wie das gleichlautende unserer gewöhnlichen
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Sprache, denn im § 2 ist es ja ein Ruf. Wenn aber ein Satz, so ist es doch nicht der elliptische Satz ,Platte!‘ unserer Sprache. – Was die erste Frage anbelangt, so kannst du ,Platte!‘ ein Wort, und auch einen Satz nennen; vielleicht treffend einen ,degenerierten Satz‘ (wie man von einer degenerierten Hyperbel spricht), und zwar ist es eben unser ,elliptischer‘ Satz. – Aber der ist doch nur eine verkürzte Form des Satzes ,Bring mir eine Platte!‘ und diesen Satz gibt es doch in Beispiel (2) nicht. – Aber warum sollte ich nicht, umgekehrt, den Satz ,Bring mir eine Platte!‘ eine Verlängerung des Satzes ,Platte!‘ nennen?“ (PU 19)
Auffällig ist zunächst Folgendes: Der Gesprächspartner spricht ganz selbstverständlich von einem elliptischen Satz, ohne diesen Ausdruck in irgendeiner Form zu kennzeichnen. („Wenn aber ein Satz, so ist es doch nicht der elliptische Satz ,Platte!‘ unserer Sprache.“) Wittgenstein hingegen setzt sowohl den Ausdruck „degenerierter Satz“ als auch das Wort „elliptisch“ in „,elliptischer‘ Satz“ in Anführungszeichen, hält aber keine solche Kennzeichnung im Fall des Vergleichs mit einer „degenerierten Hyperbel“ für nötig („vielleicht treffend einen ,degenerierten Satz‘ (wie man von einer degenerierten Hyperbel spricht), und zwar ist es eben unser ,elliptischer‘ Satz“). Bevor diese Auffälligkeit ausgewertet werden kann, ist zunächst die Frage zu klären, was der – alles andere als selbsterklärende – Vergleich mit einer degenerierten Hyperbel besagen soll. Die Begriffe Ellipse (griech. élleipsis – Mangel, Ermangelung), Parabel (griech. parabolé – Vergleichung, Nebeneinanderstellung) und Hyperbel (griech. hyperbolé – Überschuss, Übertreibung) finden sowohl in der Sprach- und Literaturwissenschaft als auch in der Mathematik Verwendung, genauer in der Darstellenden Geometrie, im Zusammenhang mit den Kegelschnitten. Von degenerierten Ellipsen, Parabeln oder Hyperbeln ist meines Wissens in der Sprach- und Literaturwissenschaft nicht die Rede, sondern nur im Bereich der Mathematik: Degenerierte Ellipsen, Parabeln oder Hyperbeln entstehen im Fall von Kegelschnitten dann, wenn die Schnittebene durch die Kegelspitze geht. Das Resultat besteht im Fall der Ellipse in einem Punkt, im Fall der Parabel in einer Geraden, im Fall der Hyperbel in zwei Geraden. „Degeneriert“ bedeutet hier also, dass man es mit einem Grenzfall zu tun hat, und zwar mit einem Grenzfall, der dem ursprünglichen Phänomen nicht mehr sonderlich ähnlich sieht und auch an Variantenreichtum einbüßt (z. B. Ellipse – Punkt, Parabel – Gerade). Damit können wir nun wieder zu der Diskussion in PU 19 zurückkehren. Wittgensteins Gesprächspartner wendet also gegen die potenzielle Zuordnung des Rufs „Platte!“ aus der Bauarbeitersprache zu den Sätzen ein, dass dieser Ruf nicht einem elliptischen, also verkürzten Satz unserer Sprache entspreche (weil die Sprache der Bauarbeiter keine „unverkürzten“ Sätze beinhaltet). Wittgensteins vermeintliches Entgegenkommen besteht darin zu sagen, dass man ihn „vielleicht
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treffend einen ,degenerierten Satz‘“ nennen könne, also den Grenzfall eines Satzes, der mit dem uns bekannten Phänomen eines Satzes sowie der Vielfalt seiner Formen nicht mehr allzu viel zu tun hat. Lassen einen allerdings schon die Anführungszeichen im Fall von „,degenerierter Satz‘“ und „,elliptischer‘ Satz“ an der Ernsthaftigkeit dieses Entgegenkommens zweifeln, so macht der Klammerhinweis „(wie man von einer degenerierten Hyperbel spricht)“ die Ironie des Ganzen endgültig deutlich, wenn man sich vor Augen führt, dass hier von einer „rückgebildeten Übertreibung“ bzw. dem „nicht variantenreichen Grenzfall einer Übertreibung“ die Rede ist.10 Interessant ist in diesem Zusammenhang, dass Wittgenstein im MS 142 (1936 / 1937) noch von einer „degenerierten Parabel“ gesprochen hatte.11 Bereits im TS 220 aber (wahrscheinlich 1937) war die Ersetzung durch „degenerierte Hyperbel“ vorgenommen. Das legt nahe, dass Wittgensteins Konzentration zunächst anscheinend nur auf dem Ausdruck „degeneriert“ lag. Entsprechend hat sich die Rede von einer degenerierten Parabel im Vergleich mit dem sogenannten degenerierten, elliptischen Satz auch vorrangig darauf bezogen, dass der Ruf „Platte“ vor dem Hintergrund unserer Grammatik den Grenzfall eines Satzes darstellt, der mit dem normalen Satzbild (Subjekt, Verb, Objekt usw.) nicht viel zu tun hat und eben auch nicht so variantenreich ist. Durch die Ersetzung von „Parabel“ durch „Hyperbel“ aber wird Wittgensteins Angriffspunkt und sein ironisches Unterlaufen der gesamten Diskussion viel deut-
10 In dieser Lesart würde Wittgenstein bei der Rede von einer degenerierten Hyperbel also die mathematische Bedeutung des Begriffs „degeneriert“ mit der sprachwissenschaftlichen und wissenschaftlichen Bedeutung des Begriffs „Hyperbel“ zusammenführen. Meines Erachtens scheint dies durchaus möglich zu sein. Doch auch, wenn man eine solche „Mischform“ nicht für überzeugend hält und auf eine ausschließlich mathematische Begriffsverwendung pocht, geht die ironische Spitze nicht verloren; zumindest dann nicht, wenn man sich auf die Namensgebung „Hyperbel“ durch Apollonius bezieht, die darauf zurückgeht, dass der Flächeninhalt eines Rechtecks, das in Zusammenhang mit der Konstruktion der Hyperbel steht, den eines anderen Rechtecks „übersteigt“ (s. Morris Kline, Mathematical Thoughts from Ancient to Modern Times, Volume 1, Oxford / New York / Toronto 1972/1990, S. 92). Auch hier ist also von einem „Überschuss“ die Rede. 11 Siehe die kritisch-genetische Edition der Philosophischen Untersuchungen, hg. v. Joachim Schulte in Zusammenarbeit mit Heikki Nyman, Eike von Savigny und Georg Henrik von Wright, Frankfurt am Main 2001; (Lizenzausgabe für die Wissenschaftliche Buchgesellschaft), S. 69.
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licher. Denn hier wird auf sehr subtile und amüsante Art bereits jene Frage vorbereitet, die Wittgenstein etwas später auch explizit stellt: „Aber warum sollte ich nicht, umgekehrt, den Satz ,Bring mir eine Platte!‘ eine Verlängerung des Satzes ,Platte!‘ nennen?“ Denn der Gesprächspartner geht ja unhinterfragt davon aus, dass wenn man „Platte!“ überhaupt den Sätzen zuordnen könne, dann sicher nur den elliptischen, also verkürzten (und damit nicht vollständigen, nicht ganz korrekten) Sätzen. Dass er dies angesichts der Bauarbeitersprache aber nicht für möglich erachtet, zeigt nur noch deutlicher, wie unhinterfragt die Einteilung in „vollständiger / exakter Satz“ versus „unvollständiger / unexakter Satz“ ist und bleibt. Und Wittgensteins vermeintliches Entgegenkommen besteht in nichts anderem als dem wohl kaum ernst gemeinten Vorschlag, dass man den Ruf „Platte!“ ja auch als eine rückgebildete Übertreibung bezeichnen könne … So betrachtet macht Wittgenstein seine Zielrichtung im Rahmen dieser Debatte von vornherein klar: Auch hier werden wir mit einer vermeintlichen Selbstverständlichkeit und mit einem Vorurteil konfrontiert, nämlich jenem, dass der längere Satz („Bring mir eine Platte!“) der korrekte, der exakte Satz ist, der kürzere Satz hingegen (sofern man ihn denn den Sätzen zuordnen will) der ungenaue, missverständliche Satz. Das Ziel besteht entsprechend auch hier in einer Hinterfragung unserer Selbstverständlichkeiten – etwa der Selbstverständlichkeit, unsere Grammatik als Vorbild und Maßstab anzunehmen (vgl. PU 20). Denn von „elliptisch“ im Sinne einer Verkürzung, einer Ermangelung, kann man natürlich nur reden, wenn man sie mit einer Norm, einem Ideal vergleicht. Die Rede von „elliptischen Sätzen“ stellt hier im Kontext philosophischer Zusammenhänge also von vornherein eine Beurteilung, nicht aber den Versuch einer Beschreibung im Sinne einer Betrachtung dessen, was beim Sprechen und Handeln der Bauarbeiter geschieht, dar. Und mit dem Vergleich mit einer „degenerierten Hyperbel“ ironisiert Wittgenstein genau jene Vorgehensweise.
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MEINEN UND WOLLEN
Unabhängig davon, ob der Gesprächspartner nun Wittgensteins ironischen Unterton bemerkt haben sollte oder nicht – er lässt sich nicht so schnell unterkriegen. Auf Wittgensteins Frage „Aber warum sollte ich nicht, umgekehrt, den Satz ,Bring mir eine Platte!‘ eine Verlängerung des Satzes ,Platte!‘ nennen?“ kontert er sofort: „Weil der, der ,Platte!‘ ruft, eigentlich meint: ,Bring mir eine Platte!‘“ Wäre der Gesprächspartner ein Mensch aus Fleisch und Blut und die Situation real, dann wäre spätestens jetzt der Moment erreicht, in dem man Mitleid mit ihm empfinden müsste – tritt er doch so bereitwillig in die für ihn aufgestellte Falle.
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Denn das nun ins Spiel gebrachte Stichwort des Meinens lädt Wittgenstein zu einer regelrechten Flut an nachhakenden und die Idee des Gesprächspartners desavouierenden Fragen ein: 1. Wie tut man das – das eine meinen, während man das andere sagt? Spricht man sich z. B. im Geiste den längeren Satz vor? Eine eher unangenehme Vorstellung, wäre unser Leben doch ein sehr anstrengendes, wenn man sich zu jedem oder zumindest zu vielen unserer gesagten Sätze „inwendig“ noch einen weiteren, nämlich den „gemeinten“ Satz dazusagen müsste (vgl. hierzu auch PU 20). Unsere tatsächlich getätigte Aussage würde dieser Vorgang darüber hinaus für unser Gegenüber in keiner Weise deutlicher oder klarer machen – denn in unseren Geist, in unser Inneres, kann er ja doch nicht hineinsehen. 2. Wieso geht man davon aus, dass durch die Übersetzung des Rufs „Platte!“ in einen anderen Ausdruck das Gemeinte deutlich(er) wird? Könnte ich (wenn ein solcher Bedarf bestünde, was zumindest bei den Bauarbeitern selbst nicht der Fall zu sein scheint) dies nicht auch einfach anhand einer Beschreibung der Bauarbeitersprache aufzeigen? Denn dort funktioniert der Ruf ja problemlos, die postulierte mangelnde Exaktheit („elliptischer Satz“) scheint das Handeln in keiner Weise zu beeinträchtigen. 3. Aus der Aussage des Gesprächspartners, „Weil der, der ,Platte!‘ ruft, eigentlich meint: ,Bring mir eine Platte!‘“, lässt sich schließen, dass implizit von einer Bedeutungsgleichheit ausgegangen wird („wenn er dies sagt, meint er eigentlich das“). Wenn man nun also davon ausgeht, dass die Bedeutung des ursprünglichen und des „übersetzten“ Ausdrucks im Wesentlichen die gleiche sein soll – wozu sollte man dann überhaupt eine solche Übersetzung vornehmen und sich nicht statt dessen darauf beschränken zu sagen: „wenn er ,Platte!‘ sagt, meint er ,Platte!‘“? 4. Für den Gesprächspartner scheint es problemlos möglich zu sein, mit „Platte!“ „Bring mir eine Platte!“ zu meinen. Dass man mit „Platte!“ hingegen „Platte!“ meinen könne, wie Wittgenstein dies in der zuvor gestellten Frage in den Raum gestellt hatte, ist für ihn den bisherigen Ausführungen zufolge keine Option. Eine Option, die Wittgenstein hier aber ganz dezidiert nochmals thematisiert: „Oder: warum sollst du nicht ,Platte‘ meinen können, wenn du ,Bring mir die Platte‘ meinen kannst?“ 12 Gibt es irgendeine Grenze, was man meinen kann und was nicht? Und wenn ja, wo verläuft diese?
12 Ich bin mir nicht ganz im Klaren, wie diese Frage Wittgensteins genau zu lesen ist: a) wie oben behandelt: Wenn man mit „Platte!“ „Bring mir die Platte!“ meinen kann, warum sollte mit „Platte!“ nicht auch „Platte!“ gemeint werden können? b) Wenn ich
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Hierauf versucht es der Gesprächspartner abschließend noch mit einem anderen Argument: „Aber wenn ich ,Platte!‘ rufe, so will ich doch, er soll mir eine Platte bringen!“. Wenn Wittgenstein also mit dem Unterschied zwischen Gesagtem und Gemeintem nicht zufriedenzustellen ist, dann wird er doch wenigstens zugestehen müssen, dass der Ruf „Platte!“ die Aufforderung zum Ausdruck bringe, eine Platte herbeizutragen. Und das tut Wittgenstein auch, sogar ohne Wenn und Aber („Gewiß“), was ihn allerdings nicht davon abhält, im Anschluss gleich eine weitere Frage zu formulieren: „Gewiß, aber besteht ,dies wollen‘ darin, daß du in irgend einer Form einen andern Satz denkst als den, den du sagst?“ Hierdurch wird deutlich, dass der Gesprächspartner das – wohlgemerkt von ihm selbst aufgeworfene Problem – nicht dadurch lösen kann, dass er „das eigentlich Gemeinte“ durch „das eigentlich Gewollte“ ersetzt. Denn seine ursprüngliche Idee – es ist eine Sache, was man sagt; eine zumindest potenziell aber ganz andere Sache ist es, was man mit dieser Aussage meint – wird durch diese Umformulierung ja im Wesentlichen nicht verändert. Daher hat Wittgenstein hier auch äußerst leichtes Spiel und kann sich mittels der gerade zitierten Frage darauf beschränken anzudeuten, dass er in Bezug auf dieses „eigentlich Gewollte“ ganz ähnliche Fragen stellen könnte, wie er sie angesichts des „eigentlich Gemeinten“ bereits gestellt hat. (Wie macht man das – das eine wollen und das andere sagen? Usw.)
4.
A USWERTUNG
Versucht man die verschiedenen Themen und Argumentationslinien von PU 19 zusammenzuführen, so ergibt sich meines Erachtens folgendes Bild: Es geht Wittgenstein letztlich nicht darum, darauf zu pochen, dass die Bauarbeitersprache oder eine der in PU 19 genannten Sprachen tatsächlich reale vollständige Sprachen seien. Sein Ziel besteht vielmehr zum einen darin, etwa die Bauarbeitersprache als Beispiel zu verwenden, um bereits anhand dieses einen Beispiels die Schwächen verschiedener Bedeutungstheorien herausarbeiten zu
mit „Platte!“ „Bring mir die Platte!“ meinen können soll, warum soll es dann nicht umgekehrt möglich sein, dass ich mit „Bring mir die Platte!“ „Platte!“ meine? Diese zweite Lesart hätte insofern einen gewissen Witz, als damit die ironische Auseinandersetzung im Zusammenhang mit der Rede von der degenerierten Hyperbel wiederholt würde (warum sollte „Bring mir die Platte!“ nicht auch als Verlängerung von „Platte!“ aufgefasst werden können). Für Lesart a) spricht allerdings das vorangestellte „Oder:“, das darauf hindeutet, dass die zuvor aufgeworfene Frage hier in modifizierter bzw. zugespitzter Form nochmals thematisiert wird.
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können (so etwa gleich in den ersten 17 Paragrafen der Philosophischen Untersuchungen) bzw., grundsätzlicher, aufzuzeigen, „inwiefern der allgemeine Begriff der Bedeutung der Worte das Funktionieren der Sprache mit einem Dunst umgibt, der das klare Sehen unmöglich macht“ (PU 5). Zum anderen verfolgt er mit der durchaus provokanten Aufforderung, die Bauarbeitersprache als vollständige Sprache anzusehen, das Ziel, unsere Beurteilungen bzw. deren Kriterien zu hinterfragen: Hat man nicht bereits eine das philosophische Blickfeld einschränkende Perspektive eingenommen, wenn man urteilt, dass die Bauarbeitersprache nicht vollständig sein kann? Kann man selbst Kriterien benennen, die es erlauben, eine vollständige von unvollständigen Sprachen klar zu unterscheiden? Welche Ansprüche bzw. Zwecke werden hierbei mit dem Sprechen einer Sprache verknüpft? Eine ganz ähnliche Strategie verfolgt Wittgenstein zunächst auch mit der – von seiner Seite aus in keiner Weise ernsthaft geführten – Debatte, ob der Ruf „Platte!“ aus der Bauarbeitersprache als Wort oder als Satz zu klassifizieren sei. Auch hier möchte er unsere Zugangsweise, unsere Untersuchungsmethode hinterfragen: Lässt sich das Sprechen und Handeln der Bauarbeiter mittels der Unterscheidung in Wort und Satz (bzw. der implizit hier wohl angesprochenen Idee des Satzes als einer Verbindung von Worten, die im Tractatus ja von großer Bedeutung war) produktiv untersuchen oder adäquat beschreiben? Oder geht es nicht auch hier wieder um ein Verschleiern des Blicks auf die Bauarbeitersprache, wenn man mit Einteilungen wie „vollständiger / exakter Satz“ versus „unvollständiger / unexakter Satz“ an die Untersuchung herantritt? Auch der Rückgriff auf das mit dem Ruf „Platte!“ Gemeinte als Unterstützung der Idee, dass „Bring mir eine Platte!“ der vollständigere, exaktere Ausdruck für „Platte!“ sei, kann diese Unterscheidung in Wittgensteins Augen nicht retten, wie seine erste kurze Ausführung zum im Verlauf der Philosophischen Untersuchungen noch oftmals aufgegriffenen Begriff des Meinens deutlich macht und mit der er die Hinterfragung von Klassifizierungen in Richtung eines anderen Aspekts verschiebt, indem er sich der vom Gesprächspartner ins Spiel gebrachten Unterscheidung von (nach außen) Gesagtem und („inwendig“) Gemeintem widmet. Wie gesagt, den Begriff des Meinens wird Wittgenstein noch in vielen Bemerkungen behandeln, doch bereits an dieser Stelle wird sein Angriff auf das Verständnis des Meinens als „geistige[r] Tätigkeit“ (PU 693) überaus deutlich, wenn er in einem ersten Schritt darauf verweist, dass diese Konzeption des Meinens als geistiger Tätigkeit viele nachfolgende – und nicht befriedigend zu beantwortende – Fragen aufwirft: Was ist es genau, das man da im Geiste tut? Meint man „im Kopf“ deutlicher, präziser, als man mit dem Mund dann spricht? An welcher Stelle auf dem Weg nach „draußen“ geht diese größere Deutlichkeit oder Präzision verloren und warum? Und wieso soll die Bedeutung des Gemeinten und des Gesagten dann
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letztlich doch wieder die gleiche sein? (Ähnliche Fragen kann man auch in Bezug auf das Wollen bzw. das Gewollte stellen.) Typisch für Wittgensteins Vorgehensweise hier wie auch an anderen Stellen der Philosophischen Untersuchungen ist, dass aufgeworfene Fragen von ihm nicht beantwortet werden (bzw. nicht in der Form beantwortet werden, wie man es sich erwarten würde) – des Öfteren, wie hier in PU 19, mit dem „Argument“, dass ihn eine Entscheidung für die eine oder andere, durch die Fragstellung bereits vorgegebene, Antwortmöglichkeit schlicht nicht interessiere. Sind Farbmuster Teil der Sprache? – „Nun, wie man will.“ (PU 16) Wie sollen wir „die Worte nach Arten zusammenfassen“? – Das „wird vom Zweck der Einteilung abhängen, – und von unserer Neigung.“ (PU 17) Könnte man die Bauarbeitersprache ernsthaft als vollständig ansehen wollen? – Ist „unsere Sprache vollständig“? War sie es, „ehe ihr der chemische Symbolismus und die Infinitesimalnotation einverleibt wurden“? (PU 18) Sollen wir den Ruf „Platte!“ aus der Bauarbeitersprache als Wort oder Satz klassifizieren? – Im Prinzip „kannst du ,Platte!‘ ein Wort, und auch einen Satz nennen.“ (PU 19) Hier wird der Charakter der grammatischen Untersuchungen Wittgensteins sowie eines seiner Ergebnisse besonders deutlich: Mit der Zurückweisung dieser Fragen und ihrer Kontrastierung durch die Beschreibung einfacher Sprachspiele versucht Wittgenstein uns darauf aufmerksam zu machen, dass wir, wenn wir solche Fragen stellen, bereits sehr viele Vorannahmen getroffen bzw. Idealvorstellungen der Sprache gebildet haben, die wir als solche nicht ausweisen und die uns eventuell auch gar nicht bewusst sind. Das Desinteresse an der Beantwortung dieser Art von Fragen hält ihn aber in der Folge in keiner Weise davon ab, erstens die Fragestellung als solche ausführlich zu kritisieren, wenn er uns etwa vor Augen führen will, welche unhinterfragten Vorannahmen mit ihr mittransportiert werden; zweitens uns andere Sichtweisen, Fragestellungen und philosophische Untersuchungsmethoden anzubieten. In Bezug auf den zweiten Absatz des PU 19 hält Wolfgang Kienzler hierzu fest: „Dieser Unterschied [zwischen Satz und Wort; A.W.] scheint ein schwieriges theoretisches Problem aufzuwerfen; – allerdings nur, wenn man die Rede von ‚Bedeutung‘ wieder in die Betrachtung einführt. Wenn man die Situation konsequent unter der Perspektive des Gebrauchs betrachtet, dann ist man gar nicht erst gezwungen, diese Frage zu entscheiden, denn das Sprachspiel hatte man bereits beschrieben, und mehr gibt es nicht zu erklären. Es ist ein
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Vorurteil, daß die Sprache aus Sätzen und Wörtern besteht, also sozusagen aus diesen beiden Komponenten zusammengesetzt ist, und daß man daher jede Äußerung entweder als Satz oder als Wort klassifizieren muß.“13
Lassen wir davon ab, eine philosophische Untersuchung von sprachlichen Ausdrucksformen von vornherein nur mittels bestimmter Klassifizierungen vorzunehmen, können wir uns stattdessen darauf konzentrieren, den Gebrauch der Worte in bestimmten Handlungszusammenhängen zu betrachten, d. h. ihre Grammatik zu beschreiben. Für die Beschreibung des Gebrauchs „Platte!“ in der Sprache der Bauarbeiter sowie der Rolle dieses Rufs im Kontext ihres Handelns beispielsweise spielt es schlicht keine Rolle, ob wir ihn als Wort oder als (wie auch immer gearteten) Satz klassifizieren. Ebenso ist es völlig irrelevant für eine solche Beschreibung, was im Inneren der Bauarbeiter vorgeht. Und schließlich hat es für die Beschreibung des Gebrauchs ebenfalls keinerlei Bedeutung, ob wir – aus der Perspektive eines bestimmten Sprachbilds – eine solche Sprache als vollständig oder unvollständig klassifizieren würden. Von Interesse für eine Beschreibung des Gebrauchs ist ausschließlich, welche Worte in welchen Handlungszusammenhängen verwendet werden, welche allfällige Funktion ein bestimmtes sprachliches Element in einer bestimmten Form des Lebens hat und wie bestimmte sprachliche Ausdrücke in bestimmte Handlungsmuster der SprachbenutzerInnen eingebettet sind.
13 Wolfgang Kienzler, Ludwig Wittgensteins „Philosophische Untersuchungen“, Darmstadt 2007, S. 30.
Grammatische Fiktionen Close Reading PU 307
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S ANDRA M ARKEWITZ
Im Kontext der Diskussion um Schmerz und Schmerzbenehmen findet sich in PU 307 der Ausdruck der „grammatischen Fiktion“. Diesen Begriff möchte ich näher untersuchen. Es geht um die Verbindung von Fiktion und Grammatik, die Verbindung der verschiedenen Weisen, in denen die Rede davon, dass etwas Fiktion sei, sich auf den Begriff der Grammatik beziehen kann. Dieser ist in Wittgensteins Werk vielgestaltig und nicht durch eine einzige Antwort auszumessen. Auf den Abschnitt PU 307 soll mit Bezug auf die umliegenden Abschnitte eingegangen werden, gezeigt werden soll die Rolle dieses Ausdrucks für das Konzept einer grammatisch bestimmten Subjektivität. Was ist Fiktion? Die Frage ist groß. Sie muss anders gestellt werden, nicht so sehr in einem Bescheidenheitsgestus, aber in einem der Angemessenheit, aptum, mit Blick auf das, was von einem Begriff in endlichen Kontexten verlangt und erwartet werden kann. Wittgenstein hat den Begriff „Fiktion“ in einer Weise verwendet, die sich nicht so sehr an gegebene Debatten anschließen lässt,2 sondern im Kontext der Argumentation gesehen werden muss. Es scheint um etwas zu gehen, das, bedenkt man die Wichtigkeit des Grammatikbegriffs in Wittgensteins Werk, ebenso wichtig ist, aber nicht so offensichtlich. Der Begriff des Fiktiven, der der gleichsam stehenden „Fiktion“ ein Handlungsmoment addiert, wurde in der Forschung gesehen im Blick auf die Unterscheidung, Geschichten zu erzählen
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Für einen hilfreichen Kommentar zu einer früheren Fassung dieses Textes danke ich
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Etwa an Gérard Genette, Fiktion und Diktion, aus dem Französischen von Heinz Jatho,
Ilse Somavilla. München 1992.
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und Geschichten wiederzuerzählen.3 Wer Geschichten erzählt, initiierend, wie zum ersten Mal, das Publikum mit einer Präsenz konfrontierend, die es zuvor nicht gab, wird von diesem Publikum durch Nach- und Wiedererzählungen ergänzt, die sich von der Vorgängergeschichte unterscheiden können. Es geht nicht um Wiedergabe wie auf einer Tonspur, die kein Wort vergisst, sondern um jenen Bereich, der denen, die Geschichten wiedererzählen, erlaubt, sich in der Herstellung narrativer Konsistenz als zweite Schöpfer zu fühlen.4 Der Unterschied zwischen Erzählungen ist Ausweis unterschiedlicher Wahrnehmung. Die Erzählungen lassen sich dem Feld der Narratologie zuordnen, das gegenwärtig in der Geschichte eine Lebensmetapher sieht. Wittgenstein aber erzählt in PU 307 keine Geschichte, die der Selbstvergewisserung diente. Er ist weniger geschichtengläubig im Blick auf einen abschließbaren plot. Wenn in PU 307 von grammatischen Fiktionen die Rede ist, geschieht dies beiläufig, im Gang einer Argumentation, deren Pointe nicht die Geschichte ist, sondern der Dialog: „,Bist Du nicht doch ein verkappter Behaviourist? Sagst Du nicht doch, im Grunde, daß alles Fiktion ist, außer dem menschlichen Benehmen?‘ – wenn ich von einer Fiktion rede, dann von einer grammatischen Fiktion.“5
Zunächst ist das schwere Wort „Behaviourist“ auffällig. „Bist Du nicht doch …“ lautet die Frage des Gegners (die eine Selbstbefragung sein mag), und ihre Absicht
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Arindam Chakrabarti, Denying Existence. The Logic, Epistemology and Pragmatics of Negative Existentials and Fictional Discourse, Dordrecht, Boston, London 1997, S. 12: „First, we must distinguish between storytelling and story-re-telling, i.e. between an author’s setting up of a fictional storyline and the reader’s rehearsal of it, albeit fallibly, by way of repeating all or part of it to others and discussing the sequence of events or personalities of its characters, etc.“
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Vgl. nur Karen Joisten (Hg.), Narrative Ethik. Das Gute und das Böse erzählen, Deutsche Zeitschrift für Philosophie, Sonderband 17, Berlin 2007. Der grundsätzliche Erfahrungsmodus des Erzählens – als Existential – scheint auf, wenn das Thema der Fiktionalität angesprochen wird. Bei Wittgenstein wäre in diesem Zusammenhang an seine Absage an Ethik als philosophische Teildisziplin in der Lecture on Ethics zu denken, wenn er auch ein ethisch bewußter Philosoph war, dem die Begriffe der Achtung und Verehrung viel bedeuteten und der das hohe Ethos seiner Familie in seinem philosophischen Werk weitertrug.
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Vgl. Ludwig Wittgenstein, Philosophical Investigations. The German Text with a Revised English Translation, translated by G.E.M. Anscombe, Oxford 2001, PU 307, S. 87.
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ist, die Autorität und das Neue, das die Sprecher-Stimme sagt, anzugreifen. Auch Du bist nur etwas, was unter ein Etikett gebracht werden kann, Du bist etwas, was viele andere schon vor Dir waren – und was nicht so originell ist, wie Du denken magst. Der Begriff der Fiktion hat hier also einen engen Sinn. Er ist einer, der von der Gegner-Stimme aufgebracht wird (alles sei Fiktion, außer dem menschlichen Benehmen). Man muss in Betracht ziehen, dass der Gegner hier statt „Fiktion“ auch etwas anderes mit ähnlicher Bedeutung hätte sagen können, wie: „Einbildung“ (Kant-Referenz), „Illusion“ (der Diskurs der Künste) oder „Trugbild“ (mit platonischer Tönung). Er hat es aber nicht getan und das bedeutet etwas, wenn wir davon ausgehen, dass Wittgenstein seine Worte sorgfältig wählte. Es geht in Wittgensteins Argumentationszusammenhang um die Frage der seelischen Zustände, der seelischen Sachverhalte, der inneren Vorgänge. Es ist ein Bereich des scheinbar Verborgenen, nicht definitiv Entscheidbaren. PU 307 wird eingeleitet durch eine Reihe von Fragen und Aussagen (im nicht-technischen Sinne) zum Leugnen der Erinnerung in PU 306: „Warum soll ich denn leugnen, daß ein geistiger Vorgang da ist?! Nur heißt ,Es hat jetzt in mir der geistige Vorgang der Erinnerung an … stattgefunden‘ nichts anderes als: ,Ich habe mich jetzt an … erinnert.‘ Den geistigen Vorgang leugnen, hieße, das Erinnern leugnen; leugnen, daß irgend jemand sich je an etwas erinnert.“6
Der „geistige Vorgang“ ist etwas, dessen Bedeutung nicht feststeht. Es geht nicht darum, geistige Vorgänge insgesamt zu leugnen – das Ausschütten des Kindes mit dem Bade ist nicht das Ziel, d. h., es geht nicht darum zu behaupten, dass es den Eindruck innerer Vorgänge nicht gäbe, sie sind nur nicht bedeutungsentscheidend. Es geht nicht darum zu sagen, der geistige Vorgang sei sui generis ein Irrweg in der philosophischen Erklärung seelischer Zustände. Wichtig ist, was mit der Vorstellung des geistigen Vorgangs philosophisch in einem Argumentationsmuster getan wird. Wenn ich gegen den Mentalismus bin, dagegen, dass Wahrnehmungen, die ich im Inneren habe, Bedeutung konstituieren, ist dies eine äußerst starke Annahme. Manche hängen am „inneren Vorgang“, der, wie wir wissen, äußerer Kriterien bedarf, weil er ihnen etwas über sich zu bestätigen scheint, was der wiederholten Bestätigung scheinbar bedarf. Etwas, das nicht ruhig dasteht, wie unser Leben, sondern immer wieder, von Zeit zu Zeit, als Frage wiederkehrt. Auch hier kann man, wie Wittgenstein es über den Tractatus sagte, einen ethischen Sinn erkennen, einen Sinn der Annahme der inneren Vorgänge, der auf eine tiefe Beunruhigung zurückgeht – nicht zu bedeuten, keinen Unterschied zu machen und, vor
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Wittgenstein, a. a. O., S. 87.
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allem, sein Inneres ignoriert zu sehen, wenn es um die scheinbar wichtigen Dinge geht, wie die Fragen nach dem Sinn und dem Sinn des Subjekts. Der Sinn ist, was sich nicht zuschreiben lässt in einer gerichteten Weise, sein Modus ist das Erleben, nicht das Planen oder Vorausberechnen. Wenn der Modus des Sinns das Erleben ist, steht er in einer engen Beziehung zur Verborgenheit des angenommenen inneren Theaters, das von Wittgenstein bekämpft wird: Der innere Vorgang ist nicht etwas, das man von außen sehen kann, sondern etwas, das man wie aus erster Hand erlebt. Wenn die Motivation, den inneren Vorgang anzunehmen, einem Bedürfnis nach Größe entspricht, dem Wunsch, einen Unterschied zu machen, aus dem Bedeutung entstehe, dann ist diese Frage nicht unschuldig oder zweitrangig, sondern zielt ins Herz der Verwendung von Sprache, auf jene, die noch nicht der Meinung der Stimme der Philosophischen Untersuchungen sind, dass ein Leugnen nicht nötig sei. Vielmehr ist der innere Vorgang ein Analogon zum Wunsch der Menschen, einen Unterschied zu machen. Er ist das, was man mir nicht nehmen darf durch das kalte Argument, dessen Logik unerbittlich ist wie alle überpersönlichen Prinzipien. Gleichwohl hat Wittgenstein dieses Bedürfnis gesehen (wie sein „Privatsprachenargument“ besagt, dass Menschen etwas für sich haben möchten, wo sie von Forderungen anderer frei sind). Dieser Freiheitswunsch, nichtemphatisch verstanden, sondern im Blick auf den konkreten Gebrauch der Sprache, ist es, der zu selten in den Blick kommt, wenn von inneren Vorgängen und Bedeutung gesprochen wird: Die Fragen zur Sprache lassen sich auf eine Art besprechen, die vom Leben ganz abgetrennt ist, aber man versteht die innere Logik jener, die an inneren Vorgängen festhalten möchten, erst, wenn man ihre Behandlung als Problem fehlbarer Individuen sieht, die sich über ihren Wert in einem sozialen Gefüge nicht immer klar sind. Dass Wittgenstein auch in der Rede von grammatischen Fiktionen stets auf die stillen, ungesagten Motivationen philosophischer Verteidigungsrede bezogen ist, ist ein Punkt dieses Beitrags. Warum kommt die GegnerStimme mit dem Behaviourismus-Vorwurf? Die Differenzierung, die in PU 306 angeboten wird, ist nur halb zufriedenstellend, weil (für den Gegner) allzu differenziert und sein Problem nicht treffend. Wittgenstein möchte den inneren Vorgang nicht leugnen, aber er sieht, dies sagend, nicht ganz das Problem des Verteidigers dieses Vorgangs. Das ethische Bedürfnis nach Wirksamkeit wird in der Antwort in PU 306 eher gerügt als verstanden. Der Verteidiger des inneren Vorgangs spricht auf einer Ebene, die das Ethische vom Philosophischen nicht trennen kann. Wittgensteins Gestus der (Selbst-)befragung heißt, nicht auf alle Fragen zu antworten und nicht alle Antwortmöglichkeiten zu sehen. Es geht in einem close reading nicht nur um die Herauspräparierung der sogenannten richtigen Position, sondern um die Freilegung jener Motivationslagen, die es erschweren können,
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eine eindeutige Position zu erkennen. Das liegt nicht nur daran, dass eindeutige Positionen Trugbilder sind oder, mit Francis Bacon, Idole des Marktes (idola fori), auf dem die Menschen gut sokratisch allzu genügsam „kommunizierten“. Was Wittgensteins Stil interessant macht, ist die Offenheit für nichteindeutige Positionen. So kann man dazu kommen zu sehen, dass die Art, wie mit inneren Vorgängen umzugehen sei, nicht einfach zu beantworten ist. Wittgensteins Sätze in PU 306 sind indirekt, sie können auch in einen anderen Satz überführt werden (den Wittgenstein nicht geschrieben hat): Ich muss den inneren Vorgang nicht leugnen, ich möchte nur sagen, dass Du eine falsche Vorstellung hast, wenn Du den inneren Vorgang mit Vorannahmen zu sehr beschwerst, wenn Du ihn auf Dich beziehst um ein Sicherheitsverlangen zufriedenzustellen, das philosophisch für Verwirrung sorgt. Wenn ich den inneren Vorgang einfach leugnen wollte, wäre das eine ganz andere, eindimensionale Diskussion. Ich möchte aber zeigen, dass Du etwas verteidigst, was zeigt, dass Du dem inneren Vorgang eine zu große Bedeutung gibst, weil es für Dich notwendig ist. Das Leugnen des inneren Vorgangs hätte schwerwiegende Folgen (das Leugnen der Erinnerung, das Leugnen von Empfindungen der Selbstbegegnung und Selbstbefragung, die gewöhnliche Sprachbenutzer kennen). Der innere Vorgang wird vielmehr in den Untersuchungen in seiner Bedeutung und Reichweite verkleinert und die Referenz auf Grammatik ist eine Möglichkeit, dies zu tun. Eine Beunruhigung wird in der Verkleinerung des inneren Vorgangs und seiner Hinlenkung auf den Begriff der Grammatik begrenzt. Neben der Motivation, am inneren Erlebnis aus Gründen der Selbstversicherung festzuhalten, gibt es eine Frage, die sich mit der Umgebung von PU 307 verbinden lässt: Jene nach der Erinnerung. Der letzte Satz von PU 306 lautet: „Den geistigen Vorgang leugnen, hieße, das Erinnern leugnen, leugnen, daß irgend jemand sich je an etwas erinnert.“7 Es fällt auf, dass dieser Satz seine Kraft aus einer unzulässigen Universalisierung gewinnt: Wieso sollte die Leugnung des geistigen Vorgangs mit der Leugnung jeder Erinnerung zusammenfallen? Universalisierungen sind, wo klimmzugartig, ein Zeichen des in Bedrängnis vorgebrachten Arguments, das sich einen Argument-Charakter geben will, um von einer Schwäche abzulenken. Worin diese Bedrängnis besteht, das wurde oben gesagt, die Furcht vor der minderen Bedeutung der eigenen Empfindungen, die scheinbar zum signifizierenden Bedeutungsträger werden, wo eine Differenzierung das Ich oder Selbst (James) bedroht. Wenn man das Leugnen des geistigen Vorgangs im Kontext des Wortfeldes des Fiktiven sieht, dann bekommt die unzulässige Universalisierung am Ende von PU 306 eine besondere Bewandtnis: Sie hat den Zweck, das,
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Wittgenstein, a. a. O., S. 87.
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was in einer Fiktion für den Menschen verlorenginge, möglichst groß erscheinen zu lassen. Damit übertreibt die Verteidiger-Stimme zu eigenem Zweck. Der Behaviourismus-Vorwurf in PU 307 ist dann eine Reaktion auf eine vorhergehende Beunruhigung und nicht etwa ein eigenes Argument, es ist eine reaktive Bemerkung und damit unfrei. Der Satz in PU 307 „Wenn ich von einer Fiktion rede, dann von einer grammatischen Fiktion“, beruhigt den zuvor Beunruhigten: es ist nicht alles nur unwahr im Sinne eines (fälschlich) behaupteten Satzes, der keinen Wahrheitsanspruch habe.8 Es geht nicht um Kraftbegriffe wie „Wahrheit“ oder „Existenz“, sondern darum, auf die grammatische Natur der Fiktionen zu verweisen, um zu sagen, dass Dinge wirklich sind nicht in der Art, die einem verkappten Behaviouristen vorwerfbar wäre, sondern in einer gewöhnlichen, hausbackenen Weise: Menschen müssen nicht fürchten, in dieser Fiktion das zu verlieren, worauf sie sich zuvor verlassen hatten. Zu sagen, etwas sei keine reine Fiktion, sondern eine grammatische Fiktion, hat die Rolle der helfenden Einschränkung: Wenn eine Fiktion nur grammatisch ist, vermindert sie nicht einen Wahrheitsanspruch, sondern weist den reaktiven Behaviourismus-Vorwurf ab, der Konnotationen der falschen philosophischen Erklärung sowie des Kalten und Technizistischen hat, als wolle er einen Menschen von seinen (inneren) Erlebnissen trennen. Das Tröstliche der Qualifizierung einer Fiktion als grammatisch sollte im Gedächtnis bleiben. Die Universalisierung am Ende von PU 306 ist in diesem Licht zu sehen: Sie ist noch eine Geste der Unsicherheit, bevor der Trost gegriffen hat. Auch mit ethischer Konnotation: Erklärungen nicht-naturwissenschaftlicher Art haben etwas mit demjenigen zu tun, dem man sie gibt. Das ist nicht selbstverständlich, denn viele Erläuterungen gehen an dem, was dem Fragenden helfen könnte, ganz vorbei (die Unvereinbarkeit der Temperamente, die Unterschiede der Kriterien auch nicht-technischer Art). Wo es nur um Meinungshoheit geht, ist die Antwort auf jemandes Frage oft nur Selbstversicherung, denken wir nur an den fragwürdigen Begriff der „Meinungsführerschaft“. Wittgenstein tut dies nicht. Zumal sein Gespräch auch Selbstgespräch ist, insofern, dass ein Grundverständnis der möglichen Auffassung gegeben ist. Im Horizont des letzten Satzes von PU 306 steht der erste Satz von PU 307 gleichsam nachsichtig da, Wittgenstein gestattet der Gegnerstimme ein kurzes Selbstgespräch – kritisch gesehen könnte man sagen, dies werde keiner Antwort gewürdigt. In jedem Fall wird die besondere Rolle des Fiktiven deutlich: es wäre nicht richtig, dieses forciert an einen Diskurs um Fiktion und Diktion (Genette), Täuschung und Wahrheit oder die Geltung von Wahrheitsbedingungen in möglichen Welten zu knüpfen (PWT). Fiktion ist bei
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Vgl. Imma Klemm, Fiktionale Rede als Problem der sprachanalytischen Philosophie, Königstein/Ts. 1984, S. 149 ff.
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Wittgenstein in PU 307 eng umrissen, die Pointe der grammatischen Fiktion ist, Trostbegriff und darüber hinaus ordnend zu sein. Das Wort „Behaviourist“ in PU 307 wird durch den Ausdruck der grammatischen Fiktion neutralisiert, damit ist ein Gleichgewicht der Wortverwendung wieder hergestellt, das die weitere Diskussion des Themas der seelischen Vorgänge ermöglicht. So in PU 308, wo gefragt wird: „Wie kommt es nur zum philosophischen Problem der seelischen Vorgänge und Zustände und des Behaviourism?“ Erst, nachdem der Boden für die erneute Frage bereitet ist, kann der philosophische Argumentationsgang fortschreiten. Wichtig ist diese Klärungsfunktion. Es geht nicht darum zu fragen, ob Dinge fiktiv oder real sind oder Sprachbenutzer durch Täuschungen, die sich auch aus assertorischen Sätzen ergeben können in die Irre geführt werden. PU 308 empfiehlt vielmehr, genauer zu sagen, was mit „Vorgängen und Zuständen“ gemeint ist. Es heißt hier nicht: was mit inneren Vorgängen und Zuständen gemeint ist. Die Substantive werden gerade nicht an das Wort „innere“ gebunden, sondern es ist wichtig, grundsätzlich zu klären, wovon der Befürworter des inneren Vorgangs redet, wenn er von einem Vorgang redet. Dieser Klärungsschritt ist unauffällig, d. h. einer, der oft (zu Unrecht) übersehen wird. Es ist die Unentschiedenheit der Natur von Vorgängen und Zuständen, die für Probleme sorgt. Warum? Weil nur etwas, das entschieden ist, einem wenigstens annäherungsweise definierten Gebrauch zugeführt werden kann. Wittgensteins Bemerkung, die Natur der Vorgänge und Zustände sei unentschieden, impliziert, dass Menschen etwas tun können, was zur Entscheidung über diese Vorgänge und Zustände beiträgt. Das ist optimistisch im Blick auf die Rolle von Menschen in Kommunikationsprozessen. Wenn die Vorgänge und Zustände entschieden wären, dann würden die Probleme im Zusammenhang mit dem Begriff des Innern nicht mehr aufkommen – ein Vorgang wird gewichtiger, wenn er dauert, wenn über ihn nicht mehr zu befinden ist. Man kann sagen, dass die Verteidigung des inneren Zustands eine Verteidigung des Gleichgewichts ist, das jemand indirekt für sich annimmt, eine Ordnung im Innern, die Identität konstituiert. Wenn jemand diese geistigen Vorgänge leugnet, wird das Gleichgewicht gestört. So im Fall der Erinnerung: Im Leugnungsfall könne sich niemand je an etwas erinnern. Das ist die Universalisierung als Geste der Beunruhigung, aber auch etwas anderes: Mit der Bedrohung des inneren Zustands steht die Erinnerung auf dem Spiel. Wie sollte sich, in dieser Sicht, Erinnerung bilden, wenn es keine inneren Zustände gäbe, also Vergangenes und der Anspruch darauf nicht in Zusammenhang gebracht werden könnten? PU 308 gibt hier weiteren Aufschluss: „Wir werden vielleicht einmal mehr über sie wissen – meinen wir. Aber eben dadurch haben wir uns auf eine bestimmte Betrachtungsweise
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festgelegt.“9 Dieser Einschub ist hilfreich, er gibt etwas preis, das den Gang der Untersuchung befördert: Über etwas Unentschiedenes nichts Definitives zu wissen, ist gar nicht das Problem, aber die Vorstellung, man werde bald etwas wissen. Dadurch wird die Gegenwart zum Interim, man wartet auf eine Entscheidung über einen Zustand. Dies verkennt die Zeitqualität, in der Sprachhandlungen stattfinden. Diese geschehen einfach, ohne sich in diffizilen Gedankenspielen theoretisch anzukündigen (die Enttäuschung solcher Deutungen, ihr hausbackener Charakter). Wittgenstein löst in PU 308 diese Verkennung. Der Begriff, den wir von einem Vorgang haben, legte eine bestimmte Vorstellung davon nahe, was es heißt, diesen Vorgang näher zu kennen, nämlich, im Inneren darüber Aufschluss zu finden. Wer aber meint, erst ein subtiles Instrument zur Entscheidungsfindung über den (inneren) Zustand und seine Bedeutung zu benötigen, der hat, ungewollt, „den entscheidenden Schritt im Taschenspielerkunststück“10 getan, weil die Vorstellung, etwas Gegebenes sei noch nicht genug und müsse in einer Zukunft entschieden werden, den Blick auf die tatsächliche Qualität der inneren Zustände und Vorgänge verstellt. Sie rekurrieren auf keine Bedeutungstheorie des Innern. Probleme sprachlicher Bedeutung können nicht auf der Ebene der Introspektion gelöst werden, als müsse diese für die unreflektierten Befürchtungen des sprachhandelnden Protagonisten aufkommen. Das Problem ist, dass etwas entschieden werden soll, das gar nicht der Entscheidung harrt. Es ist kein Vorgang näher zu kennen, damit Dinge Bedeutung haben können. Wer einen Vorgang näher kennen lernen will, weil er noch deutlicher, noch genauer in sich hinein schaut, sucht an der falschen Stelle. Der Vorgang wird durch Kriterien entschieden, die nicht in der Hand des einzelnen Sprachbenutzers liegen und die ihren Charakter als Kriterien auch nicht deutlich tragen. Wenn klar geworden ist, dass innere Beobachtung zwecks Entscheidungsfindung in Bedeutungsfragen der falsche Weg ist, „zerfällt der Vergleich, der uns unsere Gedanken hätte begreiflich machen sollen. Wir müssen also den noch unverstandenen Prozess im noch unerforschten Medium leugnen. Und so scheinen wir also die geistigen Vorgänge geleugnet zu haben! Und wollen sie doch natürlich nicht leugnen!“11 Was ist nun passiert? Der Zerfall des Vergleichs vom Inneren zum Äußeren bedeutet, dass wir („also“) „den noch unverstandenen Prozeß im noch unerforschten Medium“ leugnen müssen. Damit ist eine Unsicherheit entstanden, die sich einer übersehenen Unentscheidbarkeit verdankt. Wir „leugnen“ nicht eigentlich das Geistige, aber der Eindruck entsteht, weil wir keine ge-
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Wittgenstein, Philosophical Investigations, a. a. O., S. 87.
10 Ebd. 11 Ebd.
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naue Vorstellung von der Natur des (inneren) Vorgangs haben. Wenn der Vergleich zerfällt, wie Wittgenstein sagt, bedeutet dies, dass wir durch den Blick nach innen das Äußere gar nicht besser kennen lernen können; uns leitete die falsche Vorstellung, dass hier etwas entschieden werden müsste, das aber schon entschieden ist, zur Zufriedenheit jener, die sich gewöhnlich die Frage nach dem Vergleich von Innerem und Äußerem gar nicht stellen. An diese Fraglosigkeit als den gewöhnlichen Zustand zu erinnern, ist ein Ziel von Wittgensteins Argumentation. Wenn der Vergleich zerfällt, wie Wittgenstein in PU 308 sagt, hat dies die unerwünschte Folge, dass wir das Kind mit dem Bade ausschütten, wenn wir (dennoch) zu einer Entscheidung kommen wollen. Den noch unverstandenen Prozess im noch unerforschten Medium zu leugnen – ein Dezisionismus, der die Entscheidung und damit unsere scheinbare Beruhigung über alles stellt. Leugnen kann man aber nur inmitten des Erforschten, dessen, was hinreichend klar ist, um zu sagen, was als Leugnen gilt – und Leugnen ist Leugnen von etwas. Wo aber Unerforschtes und Unverstandenes zusammenkommen, ist eine Entscheidung nicht möglich und auch die Leugnung kann als Teil dieser unmöglichen Entscheidung angesehen werden. Wenn wir einen Prozess nicht kennen und ihn dennoch leugnen, ist das Objekt des Leugnens unspezifisch (es geht um die Frage nach Nachprüfbarkeit). Wenn das Objekt des Leugnens unspezifisch ist, wird unter Umständen mehr geleugnet, als man leugnen wollte. Die geistigen Vorgänge werden geleugnet, wenn die Art, in der sie für Wittgenstein vorliegen, nicht gesehen wird, d. h. nicht gesehen wird, dass sie nicht bedeutungsentscheidend sind. Damit geht es nicht darum, innere Vorgänge zu leugnen, sondern sich von dem Versuchsaufbau zu verabschieden, der ihre Notwendigkeit für bedeutungsstiftende Prozesse nahezulegen schien. Durch Konzentration auf geistige Zustände lässt sich nicht etwas klarmachen, was ohne diese zu Bedeutung gelangte. Wenn die Stimme am Ende von PU 308 emphatisch zugibt: „Und so scheinen wir die geistigen Vorgänge geleugnet zu haben. Und wollen sie doch natürlich nicht leugnen!“, ist die Emphase eine Konzedierung nur in dem Teil, der weiß, warum Menschen ihre geistigen Vorgänge verteidigen und dass sie sie zu einem gewissen Grad verteidigen müssen, um nicht beunruhigt zu sein. Lakonisch schließt PU 309 an: „Was ist dein Ziel in der Philosophie? – Der Fliege den Ausweg aus dem Fliegenglas zeigen.“12 Der berühmte Satz ist hier nicht als Sentenz gemeint, der Wittgensteins Absicht in der Philosophie zusammenfasst. Es ist eine Bestätigung der ethischen Bedürftigkeit dessen, der im vorherigen Paragrafen meinte, eine Entscheidung von Zuständen herbeiführen zu
12 Ebd.
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müssen und dabei etwas über geistige Vorgänge sagte, obwohl dies in entscheidbarer Weise nicht möglich ist. PU 309 ist kein Motto, sondern hat im konkreten Argumentationszusammenhang eine behauptende Trostfunktion: Zu sagen, ich sehe, dass du im Fliegenglas zappelst und flatterst, dass du einen Ausweg suchst, aber nicht so. Der wirkliche Ausweg ist eine Neubeleuchtung der Frage, nicht eine Antwort auf Basis eines Vergleichs, der sich auflöst. PU 309 will sagen, was sich nicht sagen lässt, insofern der lakonische Blick bedeutet, in der alten Weise hier nicht weiterreden zu können. Hilfe muss analog zum Hinweis kommen, die Kugel fallen lassen zu können, die ein Mann trug. Lass’ sie fallen – das ist der Modus von PU 309.13 Und um die Erleichterung zu fühlen, die hier gewährt wird, muss man die Belastung, die nun aufhört, zuvor empfunden haben – sonst erschiene der Hinweis leer. Der sogenannte Anwendungskontext hat neben der offensichtlichen, allgemeinen eine persönliche Seite: die Erinnerung daran, dass ein philosophisches Problem nur den interessiert, der dessen Lösung als Erleichterung empfindet, der wirklich mit einem Problem ringt und nicht daran denkt, wie er mit der Lösung des Problems vor anderen dastehen wird. Nach dieser genaueren Erläuterung des Kontextes von PU 307 (PU 306-308) soll es nun um den Zusammenhang von Fiktion und Grammatik gehen. Was bedeutet das bisher Gesagte für diesen Zusammenhang? Deutlich wurde, dass der Ausdruck „grammatische Fiktion“ bei Wittgenstein innerhalb eines Argumentationszusammenhangs zu sehen ist. Manche Konnotationen müssen in die Ferne rücken. Die Sprecher-Stimme will nichts Grundsätzliches über den Zusammenhang
13 Vgl. Wittgensteins Ausführungen dazu, was es heißt, einer Regel zu folgen: „Die Schwierigkeit besteht nur darin, zu verstehen, was uns die Festsetzung einer Regel hilft. Warum die uns beruhigt, nachdem wir so schwer beunruhigt waren. Was uns beruhigt ist offenbar, daß wir ein System sehen, das diejenigen Gebilde (systematisch) ausschließt, die uns immer beunruhigt haben, mit denen wir nichts anzufangen wußten und die wir doch respektieren zu müssen glaubten. Ist die Festsetzung einer solchen grammatischen Regel in dieser Beziehung nicht wie die Entdeckung einer Erklärung in der Physik? z. B., (!) des Kopernikanischen Systems? Eine Ähnlichkeit ist vorhanden. – Das Seltsame an der philosophischen Beunruhigung und ihrer Lösung möchte scheinen, daß sie ist, wie die Qual des Asketen, der, eine schwere Kugel unter Stöhnen stemmend, da stand und den ein Mann erlöste, indem er ihm sagte: ,laß’ sie fallen‘. Man fragt sich: Wenn Dich diese Sätze beunruhigen, Du nichts mit ihnen anzufangen wußtest, warum ließest Du sie nicht schon früher fallen, was hat Dich daran gehindert? Nun, ich glaube, es war das falsche System, dem er sich anbequemen zu müssen glaubte, etc.“ (Ludwig Wittgenstein, Wiener Ausgabe, The Big Typescript, hrsg. von Michael Nedo, Wien 2000, S. 281.
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von Grammatik und Fiktion sagen, sondern herausstellen, dass nicht „alles Fiktion“ sei außer des menschlichen Benehmens (gegen den Behaviourismus-Vorwurf). Nur eine „grammatische Fiktion“, nicht die alleinige Geltung von äußerlich Beobachtbarem. „Wenn ich von einer Fiktion rede, dann von einer grammatischen Fiktion“. Erst wird eine Vorannahme gemacht: Wenn ich Deine Voraussetzungen annehme und auf Deiner Linie antworte, dann sage ich, dass diese Fiktion grammatisch ist. Die Rede von der Fiktion ging von der Befürworter-Stimme (des inneren Vorgangs) aus. Es ist kein Ausdruck, den die Stimme, die wir mit Wittgenstein identifizieren würden, selbst aufgebracht hätte. Auch das schwächt die Stellung des Begriffs „grammatische Fiktion“ und macht es unwahrscheinlich, hier einen Beitrag der Wittgensteins Diskussion um Wahrheit und Täuschung ableiten zu können.14 Die Frage, was grammatische Fiktionen sind, wirft die Frage auf, wie das, was grammatisch ist, zugleich eine Fiktion sein kann. Ist Grammatik nicht immer raum- und zeitgebunden und damit nicht fiktiv, sondern auf konkrete Dinge bezogen, von denen in Sätzen und Äußerungen geredet wird? Oder sind Fiktionen als
14 In der Forschung wurde ein Zusammenhang von „philosophers of logic and language“ und „fictional worlds“ gesehen: Die grundsätzliche Einsicht in den Zusammenhang von Fiktion und Sprache hat hier eine apologetische Qualität, die für die Fiktion und gegen den referentialen Diskurs optiert, als seien diese Kontraste allgemein geläufig: „[…] philosophers of logic and language started to question the soundness of limiting the inquiry to plain referential discourse. The reorientation brought about by research in modal logic and possible-world semantics has drawn the attention of logicians toward the close kinship between possibility and fiction: formerly underrated, fiction begins to serve as a means of checking the explanatory power of logical hypotheses and models. Since fictional discourse allows for any imaginable kind of confabulation without constraint, and since the rebellious properties of literary and mythological fiction challenge most models and appear to defy easy regimentation, literary phenomena may be understood to provide a severe testing ground for formal semantics.“ (Thomas G. Pavel, Fictional Worlds, Cambridge u. a. 1986, S. 1 f.) Jenseits der literarischen Fiktion ist die grammatische eine, die mögliche Welten, d. h. Vorstellungen, wie die Welt beschaffen sein könnte, in die gegebene Sprache integriert. Eine grammatische Fiktion ist, was als etwas erscheint (eine bestimmte Ausdrucksweise nahelegt), tatsächlich aber in der konkreten Ausprägung einer Welt eine andere braucht. Im Sinne einer Vorentscheidung über Gebrauchsweisen, die oftmals in bestimmten Perspektivierungen gerade jene Ausdrücke nahelegt, die gerade nicht der philosophischen Einsicht entsprechen, z. B. der referentialen Rede in Bezug auf den Ausdruck „ich“.
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etwas von Menschen Erdachtes auch raum- und zeitgebunden, aber nicht als assertorische Sätze wahr? Greift der Fiktionsbegriff, im weiteren Sinne gefasst, das Element des Fiktiven den Grammatikbegriff an? (Bei Wittgenstein war die grammatische Natur der Fiktion eine hilfreiche Einräumung.) Weil Grammatik der Fiktion entgegengesetzt gedacht wird? Oder ist Grammatik selbst fiktiv oder hat sie fiktive Anteile? Dann wäre das Grammatische der Fiktion eine Bestimmung, die diese an die gewöhnliche Wortverwendung bindet. Wenn dem Fiktiven durch die Qualifizierung als grammatisch Nähe zum tatsächlichen Sprachgebrauch verliehen werden soll, dürfen die Überlegungen nicht zu allgemein werden. Es geht um den nahen Fall. Der Begriff der Fiktion ist hier nicht auf etwas Außergewöhnliches bezogen, er ist urteilsgesättigt wie das Grammatische, bzw. die grammatischen Strukturen, die als nachmetaphysische Standards unser Handeln leiten. Der Fiktionsbegriff in der traditionellen sprachanalytischen Philosophie fragt etwa nach dem Verhältnis fiktionaler Rede und der Bezugnahme auf Sachverhalte; die Implikation der Reichweite ist bei Wittgenstein stark (im Sinne von möglicher Applizierbarkeit), weil alle geäußerten Sätze das Attribut des grammatisch Fiktiven gegen einen verkürzt verstandenen Behaviourismus in Anspruch nehmen könnten, dessen Ausdruck sie nicht sind, schwach, weil das Grammatische und das Fiktive nicht gegeneinander gestellt werden,15 sondern Größen sind, auf die argumentativ zurückgegriffen wird, ohne allgemeinere Überlegungen zu eröffnen. Als Beispiel eine Definition dessen, was „fiktionale Rede“ sei, um den Unterschied zu Wittgensteins Verwendung klarzumachen: „,fiktionale Rede‘ heißt diejenige nicht-behauptende Rede, die keinen Anspruch auf Referenzialisierbarkeit oder auf Erfülltheit erhebt.“16 Man sieht, dass dieses Vokabular, das in seinem eigenen Kontext seine Bewandtnis und Berechtigung hat, für Wittgensteins Überlegungen nicht passt: es geht nicht darum, etwas zu behaupten oder nicht zu behaupten (die Ansprüche der Assertorik) oder Fragen der Referenz zu klären. Vielmehr erinnert
15 Wie noch in der initialen Bestimmung in Aristoteles’ Poetik, der den Dichter mit dem Raum des Möglichen verbindet; Wittgenstein wendet sich mit der argumentativen Rolle des Ausdrucks „grammatische Fiktion“ gerade dem Wirklichen zu: Was uns grammatisch als möglich erscheint, ist nicht immer erste Wahl, sondern auf der Höhe der Fallstricke der Sprache. Damit ist der bei Wittgenstein implizierte Fiktionsbegriff weniger einer zunehmender Möglichkeiten, sondern einer der Einsicht in die Grenzen von Ausdrücken, die von den gegebenen sprachlichen Gebrauchsformen wegführen (vgl. Aristoteles, Poetik, Griechisch-Deutsch, übersetzt und herausgegeben von Manfred Fuhrmann, Stuttgart 1982, S. 29 (1451a-1451b)). 16 G. Gabriel, Fiktion und Wahrheit. Eine semantische Theorie der Literatur, StuttgartBad Cannstatt 1975, S. 28.
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diese Definition daran, dass die Verwendung des Begriffs „grammatische Fiktion“ bei Wittgenstein diesen nicht als Begriff exponieren möchte, der dann in theoretischen Diskussionen gängige Münze würde. Die Rolle des Ausdrucks „Fiktion“ tritt an die Stelle des Anspruchs, hiermit etwas über den konkreten Kontext Hinausgreifendes sagen zu wollen. PU 307 kann zweierlei sein: Mittel im Argumentationsgang und zugleich Anregung zu Gedanken, die über Wittgensteins Verwendung hinausgehen. Einige dieser möglichen Überlegungen könnten sein: Sind grammatische Standards etwas, das vom Wahrheitsdiskurs befreit? Kann der Begriff „grammatisch“ jenen der Fiktionalität tatsächlich erläutern? Gehören Grammatik und Relativität zusammen oder hat Fiktion als grammatische Fiktion an der Bedeutungsgewinnung immer noch Anteil? Hat sie Teil an fundierenden Prozessen?17 Daran schließt die Frage nach der Legitimität der grammatischen Fiktion an – gehört sie zum Sprachgebrauch oder ist sie nur ein heuristisch (gleichsam nur einmal), zweckgebunden eingesetztes Mittel? Welcher Zeitbegriff ist mit grammatischen Fiktionen verbunden? Sind sie eher auf potenziell Denkbares bezogen oder stabilisieren sie eine Gegenwart? Sind Sätze, die den Status grammatischer Fiktionen haben, überhaupt aufzählbar oder haben sie den Status eines Grundbasses im Hintergrund, der uns nicht nur nicht bewusst zu sein braucht, sondern das Funktionieren der sprachlichen Maschinerie gar nicht berührt? (Wem dies zu mechanistisch ist: schon La Mettries Maschinenmensch hatte den Charme, dass seine Federn sich selbsttätig aufzogen.) Distanzieren kann man mit Blick auf Wittgenstein Fragen, die Fiktion an den
17 In v. Savignys Kommentar wird diese, wohl zu große Frage nicht angesprochen. Er betont jedoch, die „grammatische Fiktion“ umfasse „hier wie immer das ganze Sprachspiel.“ Darüber hinaus sei die „grammatische Fiktion“ „nicht das Fingieren der Seele durch die Grammatik, sondern eine fingierte Grammatik für das Reden über seelische Sachverhalte.“ (Vgl. Eike v. Savigny, Wittgensteins „Philosophische Untersuchungen“. Ein Kommentar für Leser, Band I, Abschnitte 1-315, Frankfurt am Main 1988, S. 355.) Es ist auffällig, dass gesagt wird: „Die grammatische Fiktion wird in der ernst zu nehmenden Literatur erfreulicherweise im sprachlich bestimmten Bild von der Empfindung lokalisiert.“ (v. Savigny, a. a. O.) Mit Akzent auf der dritten Person, nicht auf der ersten, wird entlang des Behaviourismus-Stichworts argumentiert; die Bemerkung von Hunter („Wittgenstein sometimes denied that he was a behaviourist, but often behaved as if he were […]“, zitiert a. a. O.) deutet eine weitere Sichtweise an. Es bleibt interessant, die Reichweite zu untersuchen, in der Empfindungen der dritten Person überhaupt gemacht werden können, ohne dass das in der Sprache Vorbereitete in einem weiten Sinn in den Blick kommt.
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Wahrheitsdiskurs binden und die menschlichen Schreibweisen überhaupt betreffen. Das Zurückgreifen auf das Wort „Fiktion“ verdankt sich der Gegner-Stimme; dass die Wittgenstein zuordenbare Stimme diese Fiktionen als grammatisch qualifizieren kann, zeigt, dass diese Attribuierung in dieser Zusammensetzung noch nicht theorietragend besetzt ist. All diese Überlegungen zeigen, dass Wittgenstein hier einen speziellen Fall im Auge hat, er will vom Behaviourismus-Vorwurf nicht ablenken, aber sagen, dass der Eindruck, etwas sei eine grammatische Fiktion sich einer Unentscheidbarkeit verdankt. Was bleibt, ist eine Erleichterung, die Wittgensteins Äußerung dem Opponenten bereitet; die für Wittgensteins Position folgenlos bleibt, an diesen Zweck ist der Ausdruck „grammatische Fiktion“ in PU 307 und Kontext gebunden.18 Weiter auszudenken wäre die angesprochene Rolle der Erinnerung,19 die, wenn innere Vorgänge geleugnet würden, laut Gegner-Stimme gefährdet sei – eine unbegründete Sorge, die einem Denken entspringt, das Unentscheidbares entscheiden will und die Sicherheit der Dezision mit Erkenntnisverlust, zumindest -verzerrung bezahlt. Für das Konzept der grammatisch bestimmten Subjektivität bedeutet die grammatische Fiktion eine Bekräftigung: das Adjektiv ist geläufige Kennzeichnung einer postneuzeitlichen Sicht auf Phänomene, die im traditionell stark gedachten „Ich“ nun keine Grenze mehr finden. Wer Fiktionen als grammatisch kennzeichnet, betont die Möglichkeit, eine zentrale Kategorie der Neubeschreibung von Subjektivität auch in der Beschreibung philosophischer Begriffe einzusetzen. Wie die Frage gestellt wurde, ob Fiktionen eine Quelle von Wissen sein können,20 also epistemologisch interessant sind, besitzt die Qualifizierung einer Größe als grammatisch im 20. und 21. Jahrhundert ein Bedeutungsprivileg – sie kann auf ein Verständnis bauen, das an nachmetaphysische Denk- und Redeweisen gewöhnt ist. Das „Bedürfnis der Moderne
18 Damit ist dieser Äußerungszweck auch nicht in einem philosophischen Diskurs beheimatet, in dem es um die Ontologie fiktiver Gegenstände ginge, vgl. hierzu Maria Elisabeth Reicher, Ontologie fiktiver Gegenstände, in: Tobias Klauk, Tilmann Köppe (Hgg.), Fiktionalität. Ein interdisziplinäres Handbuch, Berlin/Boston 2014, S. 159-189. 19 Vgl. Sandra Markewitz, Grammatik und Erinnerung. PU 127 im Kontext, in: Danièle Moyal-Sharrock, Volker Munz, Annalisa Coliva (Hgg.), Mind, Language, and Action, Papers of the 36th International Wittgenstein Symposium 2013, Kirchberg 2013, S. 249-251. 20 Oliver R. Scholz, Fiktionen, Wissen und andere kognitive Güter, in: Klauk/Köppe (Hgg.), Fiktionalität, a. a. O., S. 209-234, S. 209.
G RAMMATISCHE FIKTIONEN | 251
nach Selbstvergewisserung“21, das in Momenten des Schocks und der insbesondere ästhetischen Irritation relativiert wurde, unterliegt dabei jener Sicht auf die Zukunft, die Hegel erfuhr, als er „unsere Zeit“ als die „neueste Zeit“ deklarierte.22 Den Zeitenlauf mit der eigenen Existenz in Übereinstimmung zu bringen war immer eine starke Inklination in Denkprozessen, auch jenseits der Vorstellung des Modernen als zukunftsoffen, vorbildlos, neuerungssüchtig.23 Die Beschreibung eines Subjekts als grammatisch ist das Merkmal jener „neuesten Zeit“, die von Wittgenstein vor allem mit den Philosophischen Untersuchungen markiert wurde und deren Folgen bis heute in der philosophischen Beschreibung von Sprachverwendungsweisen nachwirken.
21 Jürgen Habermas, Der philosophische Diskurs der Moderne. Zwölf Vorlesungen, Frankfurt am Main 1988, S. 9 ff. 22 Vgl. ebd., S. 15. 23 Ebd., S. 55.
Wittgenstein über die logische Struktur der Farbe E LENA T ATIEVSKAYA
Im Tractatus behauptet Wittgenstein, dass Farbe eine Form von Gegenständen ist.1 Diese Form bestimmt einen Raum möglicher Vorkommen eines Gegenstandes in Sachverhalten, die insbesondere von farbigen Bildern abgebildet werden.2 Einem Gegenstand eine Farbe beizulegen bedeutet, seinen Ort in dem Farbenraum zu bestimmen. Sofern „die logische Struktur der Farbe“ logische Möglichkeiten festlegt, schließt sie zugleich logische Unmöglichkeiten, die durch Kontradiktionen definiert sind und das gleichzeitige Vorkommen zweier Farben an einem Ort des Gesichtsfeldes3 einbegreifen, aus. Das Problem dieser Theorie, das als Problem der Farbeninkompatibilität bekannt ist und manchmal als Ursache des Scheiterns der Frühphilosophie Wittgensteins betrachtet wird,4 besteht in der Unvereinbarkeit von zwei Thesen. Die eine ist die Behauptung, dass die Konjunktion der Gestalt „a ist rot und a ist grün“, die aussagt, dass ein Gegenstand zwei verschiedene Farben zugleich hat, eine Kontradiktion ist. Die andere ist das Prinzip der gegenseitigen logischen Unabhängigkeit von zwei Elementarsätzen, das die Trennung zwischen materiellen und formalen Eigenschaften der Gegenstände voraussetzt und zusammen mit der These, dass Sätze Wahrheitsfunktionen von Elementarsätzen sind, die Möglichkeiten des Bestehens und Nichtbestehens von
1
TLP 2.0251.
2
TLP 2.0131, 2.171.
3
TLP 6.3751.
4
P.M.S. Hacker, Insight and Illusion. Wittgenstein on Philosophy and the Metaphysics of Experience, Oxford 1972, S. 86.
254 | E LENA T ATIEVSKAYA
Sachverhalten quantitativ determiniert. Das Prinzip impliziert, dass eine Konjunktion von Sätzen, die demselben Gegenstand diverse materielle (externe) Eigenschaften beilegen und keine gemeinsamen Wahrheitsargumente haben, ein sinnvoller Satz sein muss. Dies sollte auch für die genannte Konjunktion gelten, sofern die Sätze „a ist rot“ und „a ist grün“ dem Anschein nach keine gemeinsamen Wahrheitsargumente aufweisen.5 Das besagte Prinzip gehört zu der im Tractatus formulierten Definition logischer Beziehungen zwischen Sätzen. Die logischen Beziehungen zwischen zwei Elementarsätzen sind grundverschieden von den Beziehungen zwischen einem Elementar- und einem ihn enthaltenden Nicht-Elementarsatz oder zwischen zwei Nicht-Elementarsätzen, die nicht unabhängig voneinander sind. Kein Elementarsatz kann einem anderen widersprechen6 oder aus ihm folgen.7 Dies bedeutet, dass ein Elementarsatz keine Wahrheitsargumente mit einem anderen Elementarsatz teilen kann, so dass diese Sätze unabhängig voneinander sind.8 Diese Unabhängigkeit bedeutet nach Wittgenstein, dass zwei Elementarsätze einander die Wahrscheinlichkeit ½ geben.9 Dieses Wahrscheinlichkeitsmaß ist für zwei Elementarsätze p und q durch eine gewöhnliche Darstellung ihrer Wahrheitsmöglichkeiten symbolisiert: p q
w w
w f
f w
f f
Sofern Elementarsätze Wahrheitsargumente von Sätzen sind,10 bilden sie oder die aus ihnen erhaltbaren Satzformen die letzten satzförmigen Elemente, die durch die logische Analyse der Sätze gewonnen werden können.11 Als ein solches Element
5
Nach Wittgenstein hängt die Angabe der Elementarsätze davon ab, wie die auf ihnen aufbauende Beschreibung der Welt verwendet wird. Davon ausgehend ist es grundsätzlich möglich, die genannten Farbprädikationen als Elementarsätze anzusehen. Wegen der Behauptung des Satzes 6.3751 ist die Anwendung dieser Betrachtungsweise bei der Analyse der Wittgensteinschen Ansichten problematisch, aber ich setze ihre Möglichkeit voraus.
6
TLP 4.211.
7
TLP 5.134.
8
TLP 5.152. Zum Begriff der logischen Unabhängigkeit von Sätzen vgl. G.H. von Wright, Wittgenstein, Oxford 1982, S. 141-142.
9
TLP 5.152.
10 TLP 5.01. 11 TLP 4.221.
W ITTGENSTEIN
ÜBER DIE LOGISCHE
S TRUKTUR DER FARBE | 255
besteht der Elementarsatz aus Namen12 und „ist eine Wahrheitsfunktion seiner selbst“.13 Zwei beliebige Sätze, die keine gemeinsamen Wahrheitsargumente aufweisen, verhalten sich zueinander wie Elementarsätze.14 Ich werde die Hauptmerkmale der Entwicklung der Wittgensteinschen Ansichten über die Farbeninkompatibilität definieren und ein Modell der logischen Struktur der Farbe skizzieren, das die Transformation dieser Ansichten vom Standpunkt der Wittgensteins Wende begründenden logischen Problematik aus erklärt. Ich will zeigen, dass die Betrachtungen der Farbe in der Zeit nach dem Tractatus die Auffassung der Aufgaben, deren Lösung die Logik bringen sollte, als Aufgaben der Grammatik voraussetzen. Die Grammatik eines Wortes, die sich in seinem Gebrauch zeigt und die Vielfalt seiner Bedeutungen bestimmt, wird von Wittgenstein als ein Bestandteil einer Gesamtheit von Normen der sprachlichen Gestaltung der Wirklichkeit behandelt. Diese Normen werden befolgt und können als selbständiger Erkenntnisgegenstand auftreten. Die Erkennbarkeit der Grammatik bedeutet dabei vor allem die Erkennbarkeit dessen, wie der Sprechende die Welt ordnet.
D AS P ROBLEM DER F ARBENINKOMPATIBILITÄT IM L ICHTE DER T HEORIE DES T RACTATUS Die Entwicklung der Wittgensteinschen Auffassung der Farbe, die sich in dem Aufsatz „Some Remarks on Logical Form“ (1929) und in den Manuskripten, die den Übergang zu seiner Spätphilosophie markieren, zeigt, schließt die Formulierung verschiedener Fragen und Vorschläge ein. Ich werde einige von ihnen, die ich für charakteristisch für diese Entwicklung halte, zusammenfassen: 1. Wittgenstein betrachtet den logischen Charakter der Konjunktionen von Farbprädikationen als Problem und sucht nach einer Lösung. Zunächst (1929) ist er bestrebt, den eigenen im Tractatus formulierten Anforderungen gerecht zu werden, und erklärt die Konjunktion zweier Sätze, die demselben Gegenstand in Bezug auf denselben Ort und dieselbe Zeit verschiedene Farben mit Wahrheit beilegen sollen, für unsinnig („nonsense“).15 Dementsprechend ersetzt er
12 TLP 4.22. 13 TLP 5. 14 Vgl. TLP 5.135. 15 Ludwig Wittgenstein, Some Remarks on Logical Form, in: I.M. Copi/R.W. Beard (Hgg.), Essays on Wittgenstein’s Tractatus, London 1966, S. 31-38, S. 37.
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den Begriff „widersprechen“, den er im Tractatus zur Charakterisierung der Beziehung zwischen derartigen Sätzen benutzt, durch den Begriff „ausschließen“ („exclude“). Dadurch wird der Begriff eines Elementarsatzes erhalten und die Abhängigkeit der Definition der Wahrheitsfunktionen von den Beziehungen zwischen den Argumenten dieser Funktionen gefordert.16 Beim Angeben der logischen Form eines Satzes, der von einer Farbe oder von einer anderen Qualität, die eine Abstufung zulässt, handelt, müssten Zahlen, die für Koordinaten stehen, in die Darstellungen der Struktur der Elementarsätze eingeführt werden.17 Durch diese Forderung verbindet Wittgenstein die Farbe mit dem Räumlichen und die Beschreibung einer Farbtatsache mit der Bestimmung der Position, die eine Farbe im Gesichtsfeld einnimmt. 2. Später (1930-31) definiert Wittgenstein zwei Sätze, die demselben Gegenstand diverse Farben zuschreiben, als konträre Sätze.18 Diese Definition ist mit der These verbunden, dass ein beliebiger bejahender Satz, der einem Gegenstand a eine bestimmte Farbe beilegt, in dem Sinn unendlich teilbar ist, dass aus ihm unendlich viele Sätze folgen, die verneinen, dass a eine andere Farbe hat. Der Ausdruck dieser Teilbarkeit, der nicht das Satzzeichen selbst ist, ist eine Regel.19 Das Wort „konträr“ wird nicht nur auf den Gegensatz zwischen zwei Prädikationen angewandt, die von demselben Gegenstand handeln und von denen diesem die eine eine primäre Farbe und die andere eine zu dieser Farbe komplementäre Farbe beilegt. Es wird verwendet, um die Beziehung zwischen zwei beliebigen verschiedenen Farbprädikationen zu beschreiben und die Folgebeziehungen zwischen Farbprädikationen zu charakterisieren. Diese Beziehungen sind derart beschaffen, dass eine bejahende Farbprädikation die Verneinung eines jeden Satzes, der eine andere Farbe demselben Gegenstand beilegt, impliziert, während aus der Verneinung dessen, dass der Gegenstand eine gewisse Farbe aufweist, keine bestimmte Farbprädikation folgt.20 Wenn die bejahende Prämisse, die nur eine Farbe erwähnt, nicht analysierbar ist und die Möglichkeit des logischen Folgens somit nicht davon ab-
16 Vgl. ebd., S. 36. 17 Ebd., S. 33-34. 18 Ludwig Wittgenstein, Bemerkungen V, in: Michael Nedo (Hg.), Ludwig Wittgenstein. Wiener Ausgabe 3, Wien, New York 1995, S. 85. 19 A. a. O., 9, Ludwig Wittgenstein, Philosophische Bemerkungen II, in: Michael Nedo (Hg.), Ludwig Wittgenstein. Wiener Ausgabe 1, Wien/New York 1994, S. 52. 20 Ludwig Wittgenstein, Philosophische Betrachtungen, in: Michael Nedo (Hg.), Ludwig Wittgenstein. Wiener Ausgabe 2, Wien/New York 1994, S. 160.
W ITTGENSTEIN
ÜBER DIE LOGISCHE
S TRUKTUR DER FARBE | 257
hängt, dass die Prämisse als Wahrheitsfunktion anderer Sätze auftritt, impliziert diese Auffassung den Verzicht auf die Forderung nach der Konstruktion von Sätzen aus Elementarsätzen sowie den Versuch, eine Logik einzuführen, die Sätze anders denn als Wahrheitsfunktionen anderer Sätze definiert. Die zu definierenden Sätze unterscheiden sich von den Wahrheitsfunktionen dadurch, dass die Komplexität ihrer Folgebeziehungen nicht durch die Komplexität ihrer Zeichen gezeigt wird.21 Die durch diese Definition vorausgesetzte einzuführende Notation soll jedoch einer vollständigen Beschreibung einer Farbtatsache oder eines Farbzustands dienen.22 3. Laut den Forderungen des Tractatus muss eine logische Notation das Demonstrieren logisch-syntaktischer Abhängigkeiten zwischen Sätzen ermöglichen. Denn das Bestehen einer solchen Abhängigkeit zwischen zwei Sätzen zeigt das Bestehen einer internen Relation zwischen den Tatsachen, die durch die Sätze dargestellt sind. Mit der Aufgabe der notationalen Darstellung interner Beziehungen kann man die Wittgensteinsche Unterscheidung zwischen zwei Schlussarten verbinden, von denen jede durch eine eigentümliche Beziehung zwischen den Prämissen und dem Schlusssatz eines Schlusses gekennzeichnet ist. Die Prämisse eines Schlusses kann entweder seinen Schlusssatz enthalten oder eine Aussage über ein Ganzes machen, während der Schlusssatz im letzteren Fall von einem Teil desselben Ganzen handelt.23 Sofern die Formulierung der Regeln einer logischen Notation die Einführung primitiver Zeichen durch Erläuterungen voraussetzt, diskutiert Wittgenstein darüber hinaus die Frage, wie die Bedeutung eines Farbwortes erklärt werden kann.24 Wenn Farben Gegenstände, die den Farbenraum definieren, sind und die Bedeutungen ihrer Namen dann erklärt werden können, wenn es bereits bekannt ist, wie diese Namen als Symbole25 die logische Form der Farbprädikationen und folglich der durch sie dargestellten Tatsachen bestimmen, wobei die logische Form durch Zeichen mit deren „logisch-syntaktische[r] Verwendung zusammen“26, d. h. durch „den sinnvollen Gebrauch“27, definiert ist, kann man annehmen, dass gerade eine solche Erklärung und ein solcher Gebrauch die Lösung des
21 Ludwig Wittgenstein, Philosophische Bemerkungen II, a. u. Anm. 19, S. 52, 56. 22 Ludwig Wittgenstein, Philosophische Bemerkungen I, in: Michael Nedo (Hg.), Ludwig Wittgenstein. Wiener Ausgabe 1, Wien/New York 1994, S. 19-20. 23 A. u. Anm. 18, S. 7. 24 Vgl. a. a. O., S. 18. 25 TLP 4.24. 26 TLP 3.327. 27 TLP 3.326.
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Problems der Farbeninkompatibilität andeuten können. Wenn die Erklärung die grammatischen Regeln, die das zu erklärende Wort betreffen, vermittelt,28 kann man einen Satz wie „An einem Ort hat zu einer Zeit nur eine Farbe Platz“ als einen „verkappte[n] Satz der Grammatik“ betrachten.29 Als Präsentation einer grammatischen Regel enthält jede Erklärung der Bedeutung eines Farbwortes eine Erklärung dessen, wie es bezeichnet.30 Auf diese Weise sorgt sie für die Gültigkeit des Prinzips der Farbeninkompatibilität. 4. Wittgenstein unterscheidet zwischen primären und gemischten Farben und betrachtet primäre (einfache, Grund-) Farben als Gegenstände.31 Er geht davon aus, dass der Begriff „primäre Farbe“ durch dessen Extension definiert werden kann.32 Eine primäre Farbe kann zum Subjekt einer Prädikation werden, sofern es möglich ist, ihr beispielsweise das Eine-reine-Farbe-Sein beizulegen.33 Manchmal sind jedoch Gegenstände Wittgensteins Dinge und Flecke.34 Verschiedene Farben mischen bedeutet nach Wittgenstein, sie gleichzeitig sehen.35 Anfangs betrachtet er eine Konjunktion bejahender und verneinender Farbprädikationen, die sich auf denselben Gegenstand beziehen, als Ausdruck dessen, dass von diesem eine gemischte Farbe prädiziert wird, aber diese Betrachtungsweise wird später verworfen.36 Diese kurze Zusammenfassung deutet auf eine mögliche Ursache der Schwierigkeiten, die Wittgenstein mit der Farbeninkompatibilität hat, hin. Im Tractatus for-
28 Ludwig Wittgenstein, Philosophische Bemerkungen VI, in: Michael Nedo (Hg.), Ludwig Wittgenstein. Wiener Ausgabe 3, Wien/New York 1995, S. 281. 29 Ludwig Wittgenstein, Bemerkungen zur philosophischen Grammatik VIII, in: Michael Nedo (Hg.), Ludwig Wittgenstein. Wiener Ausgabe 4, Wien/New York 1995, S. 231. Vgl. Ludwig Wittgenstein, Philosophische Bemerkungen VI, a. u. Anm. 28, S. 284. 30 Vgl. TLP 3.322. 31 Ludwig Wittgenstein, Philosophische Bemerkungen II, a. u. Anm. 19, S. 139. 32 Ludwig Wittgenstein, Philosophische Grammatik IX, in: Michael Nedo (Hg.), Ludwig Wittgenstein. Wiener Ausgabe 5, Wien/New York 1996, S. 139. 33 Vgl. Ludwig Wittgenstein, Bemerkungen zur philosophischen Grammatik VIII, a. u. Anm. 29, S. 232. 34 Ludwig Wittgenstein, Bemerkungen zur Philosophie VII, in: Michael Nedo (Hg.), Ludwig Wittgenstein. Wiener Ausgabe 4, Wien/New York 1995, S. 57. 35 Ludwig Wittgenstein, Philosophische Bemerkungen II, a. u. Anm. 19, S. 60. 36 Ludwig Wittgenstein, Bemerkungen zur philosophischen Grammatik VIII, a. u. Anm. 29, S. 230.
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muliert er die Prinzipien der Konstruktion einer logischen Notation. Als Grundlage für seine Argumentation dienen ihm die logischen Systeme, die von Frege in seinen Schriften sowie von Russell und Whitehead in den Principia Mathematica entwickelt werden. Das System der Principia wird dabei vor allem wegen der fehlenden syntaktischen Reinheit bei der Formulierung von Regeln kritisiert. Diese Kritik ähnelt den Einwänden, die 1918 von Lewis vorgebracht werden. Lewis weist auf das Fehlen einer strengen Trennung zwischen Form und Inhalt dieses Systems hin.37 Wittgenstein ist ebenfalls von einigen Besonderheiten der Formulierungen der Principia enttäuscht, vor allem von der Art und Weise der Formulierung der Typentheorie: „Der Irrtum Russells zeigt sich darin, daß er bei der Aufstellung der Zeichenregeln von der Bedeutung der Zeichen reden mußte.“38 An einer anderen Stelle schreibt er: „So kommen in den ‚Principia Mathematica‘ von Russell und Whitehead Definitionen und Grundgesetze in Worten vor. Warum hier plötzlich Worte?“39 Die Forderung nach der syntaktischen Reinheit der notationalen Vereinbarungen veranlasst Wittgenstein dazu, die Form von Reihen der Abzeichen für Wahrheitswerte aufweisende Ausdrücke semantischer Regeln der Interpretation der Wahrheitsfunktionen den notational dargestellten Satzzeichen hinzuzufügen.40 Dabei wird bei dem Aufstellen der Sätze des Tractatus keine konkrete Anwendung der logischen Theorie angestrebt. Die Logikanwendung, die eine beliebige sprachliche Beschreibung der Welt sein kann, soll darüber entscheiden, „welche Elementarsätze es gibt“, wobei die Logik mit ihrer Anwendung nicht kollidieren darf.41 Die Analyse der logischen Unmöglichkeit des gleichzeitigen Vorkommens von zwei Farben am selben Ort des Gesichtsfeldes führt Wittgenstein zur Feststellung, dass die aussagenlogische Definition des konjunktiven „und“, die auf der Annahme beruht, dass die Wahrheit oder Falschheit eines der Konjunkte weder die Wahrheit noch die Falschheit des anderen impliziert, für die Beschreibung der in dem Gesichtsfeld dargestellten Welt unbrauchbar ist. Wenn Farben als Gegenstände oder deren materielle Eigenschaften betrachtet werden,42 kann man aus dieser Feststellung folgern, dass die Besonderheiten des Gegen-
37 Clarence Irving Lewis, A Survey of Symbolic Logic, Berkeley 1918, S. 358-359. 38 TLP 3.331. 39 TLP 5.452. 40 TLP 4.44-4.442. 41 TLP 5.557. 42 Dass man einzelne Farben als formale Bestimmungen von Gegenständen verstehen kann, ist fraglich: Der Theorie des Tractatus entsprechend darf man in diesem Fall Farbprädikationen nicht als sinnvolle Sätze behandeln.
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standsbereichs, auf dem Gegenstandsvariablen definiert sind, und folglich die Anwendung des logischen Symbolismus zum Beschreiben dieses Bereichs eine andere Definition der Konjunktion fordern können. Auf diese Weise wird die verbotene Kollision möglich, und die Logik, nämlich die Formulierung einer logischen Notation, erweist sich als abhängig von ihrer Anwendung. Die logischen Regeln, die mithilfe der Notation formuliert werden können, sind in diesem Fall durch Wahrheiten, die von materielle Eigenschaften der Gegenstände darstellenden Begriffen handeln, bestimmt. Die Einschränkungen, die eine Kollision dieser Art für den Aufbau der Notation impliziert, werden insbesondere von Carnap diskutiert, der die Frage stellt, ob Bedeutungspostulate analytische Sätze sein könnten.43 Carnaps Begriff eines Bedeutungspostulats44 ist eine Antwort auf die Kritik, die sich gegen seinen Begriff der gegenseitigen Unabhängigkeit der Elementarsätze, der ihm zum Definieren einer Zustandsbeschreibung in den Logical Foundations of Probability (1950) dient, richtet und darauf basiert, dass die strukturellen Eigenschaften der Beziehungen, von denen Elementarsätze handeln können, einige Zustandsbeschreibungen logisch unmöglich machen.45 Die Einführung von Bedeutungspostulaten, die als eine der Lösungen dieses Problems angeboten wird,46 ist gleichbedeutend mit dem Anerkennen der logischen Abhängigkeit zwischen Elementarsätzen. Nehmen wir als Beispiel eine Familie von zwei Farbprädikaten „rot“ und „gelb“, die Gegenständen in Elementarsätzen einer Sprache beigelegt werden können. Wenn die Bedeutungspostulate für diese Familie so formuliert
43 Vgl. Rudolf Carnap, A Basic System of Inductive Logic I, in: R.Carnap, Rc. Jeffrey (eds.), Studies in Inductive Logic and Probability 1, Berkeley/Los Angeles/London 1971, S. 33-165, S. 79. Die Notwendigkeit der Einführung von Bedeutungspostulaten kann als Folge der Einsicht angesehen werden, dass eine angenommene logische Notation nicht imstande ist, die logische Form der Wirklichkeit darzustellen. Die Idee einer Verknüpfung zwischen den Bedeutungspostulaten und der Frage, ob die Gesamtheit der zulässigen Namensverbindungen die Gesamtheit möglicher Verbindungen der durch Namen genannten Gegenstände widerspiegelt, wird insbesondere von M.B. Hintikka und J. Hintikka in ihrem Buch Investigating Wittgenstein (Oxford 1986, S. 119) diskutiert. 44 Vgl. Rudolf Carnap, Bedeutung und Notwendigkeit. Eine Studie zur Semantik und modalen Logik, Wien/New York 1972, Anhang B; Rudolf Carnap, A Basic System of Inductive Logic, a. u. Anm. 43, S. 77-86. 45 Siehe Yehoshua Bar-Hillel, A Note on State-Descriptions, in: Philosophical Studies 2, 1951, S. 72-75. 46 Rudolf Carnap, The Problem of Relations in Inductive Logic, in: Philosophical Studies 2, 1951, S. 75-80.
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ÜBER DIE LOGISCHE
S TRUKTUR DER FARBE | 261
sind, dass die Prädikate eine Partition des Gegenstandsbereichs bilden, ergibt sich in Bezug auf einen Gegenstand a folgendes Schema der Wahrheitsmöglichkeiten für die Sätze p („a ist rot“) und q („a ist gelb“): p q
w f
f w
Dieses Schema zeigt, dass die Bedeutungspostulate die Anzahl der Wahrheitsmöglichkeiten und folglich der möglichen Weltbeschreibungen reduzieren. Und die Wahrscheinlichkeit, die ein Elementarsatz einem anderen gibt, ist nicht mehr ½, sondern 0.
G EMISCHTE F ARBEN DER F ARBE
UND LOGISCHE
S TRUKTUR
Das Problem der Farbeninkompatibilität hängt eng mit dem Unterschied zwischen primären und gemischten Farben zusammen, den man als Mittel der Unterscheidung zwischen einer analysierten und einer nicht-analysierten Farbprädikation betrachten kann. Auf die Prädikation einer gemischten Farbe wendet Wittgenstein den im Tractatus47 eingeführten Begriff eines Komplexes an, wobei der Komplex nun als ein Ganzes, das aus gleichartigen Teilen besteht, aufgefasst wird.48 Der im Tractatus entworfene Begriff der Analyse unterscheidet aber nicht zwischen dem Ergebnis der Analyse einer Prädikation einer gemischten Farbe, z. B. „Orange befindet sich am Ort P zum Zeitpunkt t“, und der unabhängig von diesem Ergebnis konstruierbaren Konjunktion von Prädikationen primärer Farben (wie „Gelb befindet sich am Ort P zum Zeitpunkt t und Rot befindet sich am Ort P zum Zeitpunkt t und keine andere Farbe befindet sich am selben Ort zur selben Zeit“), die wir als nicht weiter analysierbar ansehen wollen. Sofern eine solche Konjunktion gegen das Prinzip der Farbeninkompatibilität verstößt, stellt sich die Frage, ob die Analyse anders definiert werden kann. Die Unterscheidung folgender Fälle muss möglich sein. Prädiziert man zwei verschiedene primäre Farben von ein und demselben Ort des Gesichtsfeldes in Bezug auf denselben Zeitpunkt, muss ein solches Prädizieren einen konträren oder einen kontradiktorischen Gegensatz erzeugen. Prädiziert man dagegen von diesem Ort eine gemischte Farbe, muss der prädizie-
47 TLP 2.0201. 48 Ludwig Wittgenstein, Philosophische Bemerkungen VI, a. u. Anm. 28, S. 303.
262 | E LENA T ATIEVSKAYA
rende Satz unabhängig davon, welche logischen Beziehungen zwischen den Prädikationen der primären Farben, die die gemischte Farbe definieren, bestehen, wahr oder falsch sein. Gehen wir davon aus, dass jede Farbprädikation die Form „a ist C“, wobei C für ein Farbwort steht, hat und als Konjunktion primäre Farben von einem Gegenstand a prädizierender oder sie ihm absprechender Sätze dargestellt werden kann. Nehmen wir an, dass eine Farbprädikation eine Kontradiktion ist und somit das Prinzip der Farbeninkompatibilität verletzt, wenn sie als eine Konjunktion endlich vieler Sätze, die a in eine Beziehung zu allen primären Farben bringt, darstellbar ist und diese Konjunktion für mindestens eine primäre Farbe sowohl die Prädikation dieser Farbe von demselben Gegenstand als auch die Verneinung dieser Prädikation enthält. Wenn als primäre Farben Gelb, Rot und Blau gelten, hat das Beilegen der Farbe Orange zu a die Gestalt „a ist gelb und a ist rot und a ist nicht blau“. Sofern keine primäre Farbe dem Gegenstand zugleich zu- und abgesprochen wird, ist dieser Satz keine Kontradiktion und verstößt nicht gegen das Prinzip der Farbeninkompatibilität. Dagegen ist die Konjunktion der Sätze „a ist gelb“, „a ist nicht rot“, „a ist nicht blau“, „a ist rot“, „a ist nicht gelb“ und „a ist nicht blau“, die sich auf denselben Gegenstand und denselben Zeitpunkt beziehen, eine Kontradiktion, weil sie dem Gegenstand a zugleich das Rot- und das Gelbsein zuschreibt. Eine solche Analyse der Farbprädikationen scheint zunächst die Problematik der Farbeninkompatibilität zu beseitigen. Denn eine Weltbeschreibung, in der verschiedene Farbprädikationen, die sich auf denselben Gegenstand und dieselbe Zeit beziehen, vorkommen, enthält eine Kontradiktion und gehört folglich nicht zu möglichen Weltbeschreibungen. Diese Lösung birgt jedoch Schwierigkeiten, die sie inakzeptabel machen, sofern sie den Begriff der Analyse, der der Darstellung der Prädikation einer gemischten Farbe in der Form einer Konjunktion zugrunde liegt, in Frage stellt. Durch eine Farbprädikation wird ein Gegenstand auf alle Dimensionen des Farbenraums bezogen. Jede Farbprädikation wird somit als eine Funktion von Sätzen, von denen jeder dem Gegenstand eine primäre Farbe beilegt oder abspricht, betrachtet. Die bejahenden Sätze eignen sich für die Rolle der Elementarsätze, weil sie keine weiteren Sätze als ihre Wahrheitsargumente enthalten und einander paarweise die Wahrscheinlichkeit ½ geben. Das erste Problem, das durch den Begriff eines solchen Elementarsatzes erzeugt wird, ist die Möglichkeit der Schlüsse aus Farbprädikationen. Angenommen, man kann aus einer wahren Farbprädikation, die eine Konjunktion solcher Sätze oder deren Verneinungen ist, auf die Wahrheit eines Konjunkts schließen. Wäre ein bejahendes Konjunkt, das als Schlusssatz eines derartigen Schlusses gewonnen würde, eine Farbprädikation, ließe sich die besagte Annahme nicht mit dem Begriff des logischen Schließens vereinbaren, sofern der gewonnene Schluss der gegebenen Prämisse in dem Sinn widerspräche,
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ÜBER DIE LOGISCHE
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dass die Konjunktion dieser Sätze eine Kontradiktion enthielte. Denn wenn man aus dem Satz „a ist orange“ den Satz „a ist rot“ ableitet, diesen Satz als Aussage über die Farbe des Gegenstandes a betrachtet und dementsprechend als Konjunktion der Sätze, die a auf alle Dimensionen des Farbenraums beziehen, darstellt, ist der Gegenstand a wegen seines Orangeseins gelb und zugleich wegen seines Rotseins nicht gelb. Gerade diese Schwierigkeit will Wittgenstein durch das Einführen von Graden beseitigen.49 Fraglich ist darüber hinaus die Möglichkeit, die Analyse, die auf den Begriff einer primären Farbe zurückgreift, auf eine verneinende Farbprädikation anzuwenden, die nicht zeigt, „wie es sich verhält“.50 Ein weiteres Problem entsteht dann, wenn man annimmt, dass ein Satz, der einem Gegenstand die Zugehörigkeit zu jeder Dimension des Farbenraums abspricht, wahr sein kann. Eine solche Prädikation sagt unter dieser Bedingung, dass derselbe Gegenstand zum Farbenraum nicht gehört, und handelt somit von einer internen Beziehung zwischen ihnen. Dass eine solche Aussage sinnvoll sein kann, wird im Tractatus jedoch verneint. Die Forderung nach der Analysierbarkeit einer Farbprädikation bedeutet offenbar keine Lösung des Problems der Farbeninkompatibilität. Wenn man diese Tatsache als Zeugnis des problematischen Charakters der besagten Forderung betrachtet und diese ablehnt, impliziert dies vor allem das Revidieren des Begriffs eines Elementarsatzes. Dabei gilt es, festzustellen, was dieses Revidieren notwendig macht. Die Problematik der gemischten Farben kann als Problematik des logischen Inhalts des Wortes „und“ betrachtet werden. Traditionell wird seine Verwendung zum Beschreiben von Ganzen von der üblichen Auffassung des aussagenlogischen Gehalts dieses Terminus unterschieden. Tritt als logisches Subjekt eines Satzes ein Ganzes auf, das durch Bezug auf seine Teile mithilfe ihrer Namen und „und“ beschrieben wird, ist „und“ kein Ausdruck der Möglichkeit, den Satz als Wahrheitsfunktion anderer Sätze darzustellen, sondern der Ausdruck dessen, dass der Satz von einer Einheit handelt, die durch die Teile bestimmt ist. Die Wahrheitsbedingungen eines solchen Satzes und folglich seine Folgebeziehungen zu anderen Sätzen unterscheiden sich von den Wahrheitsbedingungen und Folgebeziehungen, die die konjunktiven Sätze charakterisieren. Dieser Unterschied drückt sich dadurch aus, dass das logische Produkt zweier Sätze die Schlüsse auf die Konjunkte erlaubt, während die Eigenschaften, die einem Ganzen beigelegt werden, nicht immer auf seine Teile zutreffen. Wird wie im Fall einer Farbprädikation die Bezeichnung eines Ganzen als Prädikat gebraucht,
49 Vgl. Ludwig Wittgenstein, Bemerkungen zur philosophischen Grammatik VIII, a. u. Anm. 29, S. 229-231. 50 TLP 4.022, siehe auch 4.023.
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bleibt der Unterschied erhalten, was die Möglichkeit der Umformulierung des Satzes „Dieser Ort des Gesichtsfeldes ist orange“ in der Form „Orange befindet sich hier“ zeigt. Wird die Prädikation einer gemischten Farbe von einem Gegenstand als Konjunktion von Prädikationen primärer Farben von demselben Gegenstand betrachtet, erzeugt dies entweder einen Verstoß gegen das Prinzip der Farbeninkompatibilität oder neue Probleme. Deswegen bietet sich ein Versuch der Auffassung der Prädikationen gemischter Farben als Sätze an, die unzerlegbare Farbbegriffe enthalten und nicht analysierbar sind. Die Beziehung, die sonst als Beziehung zwischen gemischten Farben als Ganzen und deren Teilen beschrieben wird, kann man, wenn alle anderen Beziehungen zwischen Farben vernachlässigt werden, mithilfe einer algebraischen Struktur beschreiben und auf diese Weise eine denkbare Ordnung von Farben bestimmen. Wenn das Problem der Farbeninkompatibilität wesentlich für die Wende Wittgensteins zu seiner Spätphilosophie ist und das Definieren der Struktur einige der oben erwähnten Schwierigkeiten löst, kann man sie als ein Modell betrachten, das die Verbindung zwischen der Theorie des Tractatus und den in den Philosophischen Untersuchungen formulierten Ideen zeigt. Die algebraische Struktur, die ich definieren möchte, präsentiert gemischte Farben als „einfache“ Gegenstände, so dass die Komplexität, die ihnen sonst zugesprochen wird, als ihre Beziehung zu anderen Farben dargestellt wird. Betrachten wir eine endliche Menge C, deren Elemente sowohl primäre als auch gemischte Farben sind. Die Menge C enthalte darüber hinaus ein Nullelement 0, das als „nichts“ bezeichnet werden kann. Auf den Elementen der Menge sei (durch die Angabe einer Verknüpfungstafel) eine binäre Operation + der Addition definiert. Der Begriff dieser Operation charakterisiert eine Farbe durch eine Relation zu anderen Farben: Jedes Element der Menge C ist als Summe irgendwelcher Elemente von C darstellbar. Seien a, b und c beliebige Elemente von C. Die Operation der Addition hat folgende Eigenschaften: a+a=a a+b=b+a (a + b) + c = a + (b + c) a+0=a
(die Addition ist idempotent), (die Addition ist kommutativ), (die Addition ist assoziativ), (0 ist ein Nullelement von ).
Das algebraische System ist ein additiver Halbverband. Wenn wir die Beziehung ein Teil einer Farbe zu sein für die Elemente von C definieren, führen wir eine Relation der Teilordnung in C ein. Nennen wir ein Element a von C ein Teil eines Elements b (a ≤ b), wenn es ein Element c in C, das die Bedingung a + c = b erfüllt, gibt. Diese Beziehung ist reflexiv, antisymmetrisch und transitiv. Wegen
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der Idempotenz ist a ein Teil von a. Ist a ein Teil von b und b ein Teil von a, gibt es c und d in C, für die gilt: b = a + c und a = b + d. Die Substitution und die Anwendung der Gesetze der Kommutativität, Idempotenz und Assoziativität ergeben in diesem Fall a = b + d = a + c + d = b + d + c + d = b + d + c = a + c = b. Ist ferner a ein Teil von b und b ein Teil von c, gibt es e und d in C, für die gilt: b = a + e und c = b + d. Dann gilt aber c = a + (e + d), so dass a ein Teil von c ist. Jedes Element a in C ist vergleichbar mit 0 in dem Sinn, dass 0 ein Teil von a ist. Folglich ist 0 das minimale Element von C in Bezug auf die Operation der Addition. Für beliebige zwei Elemente a und b von C gibt es eine obere Grenze c in C, die die Bedingung c = a + b erfüllt. Folglich ist der Halbverband nach oben gerichtet. In Bezug auf den Halbverband kann man zwei Arten von Sätzen definieren: 1. Die Sätze der ersten Art sind Sätze der Form „c ist eine Mischung von a und b“. Sie können durch eine Formel der Gestalt „c = a + b“51 dargestellt werden und sind folglich durch eine Funktion von drei Argumenten, deren Werte der Menge C angehören, definiert. Mögliche Werte dieser Funktion sind Wahrheitswerte wahr und falsch. In C3 ist dadurch eine ternäre Relation oder eine Menge von Folgen der Form (c1, c2, c3) definiert. 2. Die Sätze der zweiten Art haben die Form „Der Ort P hat zum Zeitpunkt t die Farbe c“ („c nimmt den Ort P zum Zeitpunkt t ein“ oder „Der Ort P ist zum Zeitpunkt t durch das c-Sein gekennzeichnet“). Sie sind durch die Formeln der Gestalt „Pt = c“ darstellbar. Den Ort P kann man als einen Fleck im Gesichtsfeld verstehen, der wie das durch „dieses Blau“ Bezeichnete durch seine Farbe identifiziert wird. Sätze dieser Art sind ebenfalls durch eine Funktion von drei Argumenten definiert. Die Werte eines der Argumente sind Elemente der Menge C, die Werte eines anderen gehören der Menge P möglicher Werte des Parameters P an, während die Werte des dritten Arguments Elemente der Menge t möglicher Werte des Parameters t sind. Die Werte dieser Funktion sind die Wahrheitswerte wahr und falsch. Diese Definition bestimmt eine Menge von Folgen (P, t, c) als eine Relation in P × t × C. Die Sätze dieser zwei Arten können wie folgt charakterisiert werden:
51 Dass in die Gesetze der Assoziativität und Idempotenz gelten, bedeutet, dass die vorgeschlagene Definition nicht zwischen einer Farbe und ihrer Nuance, z. B. zwischen Orange und rötlichem Orange, unterscheidet.
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1. Die möglichen Wahrheitswerte der Sätze der ersten Art sind durch die Angabe der Additionstafel52 für eine gegebene Menge C definiert. 2. Ein Satz der Form „Pt = c“ ist wahr, wenn der Ort P zum Zeitpunkt t die Farbe c aufweist und c ≠ 0 gilt.53 3. Zwei Sätze der Form „Pt = c“ sind voneinander logisch unabhängig in dem Sinn, dass ihre Wahrheitsmöglichkeiten wie Wahrheitsmöglichkeiten zweier Elementarsätze beschrieben werden können, wenn für keinen von ihnen c = 0 gilt und mindestens einer der Parameter der Formel in den Sätzen durch Bezeichnungen verschiedener Werte vertreten ist. 4. Farbprädikationen beider Arten sind keine Wahrheitsfunktionen anderer Sätze. Insbesondere ist die Prädikation einer gemischten Farbe von einem Ort P des Gesichtsfeldes in Bezug auf einen Zeitpunkt t keine Konjunktion von Prädikationen der Teile dieser Farbe von demselben Ort in Bezug auf denselben Zeitpunkt. Kann man die eingeführten Prädikationen deswegen als Elementarsätze betrachten? Ein Satz der Form „Pt = c“ kann einem anderen Satz in dem Sinn widersprechen, dass ihre Konjunktion einen falschen Satz impliziert. So kann man aus den Sätzen der Gestalt „Pt = Rot“ und „Pt = Gelb“, die sich auf denselben Ort und denselben Zeitpunkt beziehen, darauf schließen, dass das Rotsein mit dem Gelbsein (Rot mit Gelb) äquivalent ist. Aus einem Satz der Form „c = a + b“ kann man einen anderen Satz derselben Form durch Substitution ableiten. Der im Tractatus formulierte Begriff eines Elementarsatzes ist somit in seiner Gänze auf diese Sätze nicht anwendbar. 5. Für die Sätze beider Arten können logische Operationen der Negation und Konjunktion definiert werden. Die Negation „c ≠ a + b“ eines Satzes der Form „c = a + b“ ist dann wahr, wenn er falsch ist. Die Negation „Pt ≠ c“ eines Satzes der Gestalt „Pt = c“ ist wahr, wenn er falsch ist. 6. Werden zwei Farben von einem Ort P in Hinblick auf denselben Zeitpunkt t prädiziert, kann die Konjunktion solcher Sätze nur dann wahr sein, wenn diese dem Ort P dieselbe Farbe zusprechen. Nehmen wir an, dass dies nicht der Fall
52 Als Beispiel einer solchen Additionstafel kann man die folgende betrachten. C enthalte 0, Blau, Rot und Violett. Dann 0 + 0 = 0, Rot + Rot = Rot + 0 = 0 + Rot = Rot, Blau + Blau = Blau + 0 = 0 + Blau = Blau, Violett + Violett = Violett + 0 = 0 + Violett = Rot + Blau = Blau + Rot = Rot + Violett = Violett + Rot = Blau + Violett = Violett + Blau = Violett. 53 Vgl. TLP 2.0131. Dass ein Satz der Form „Pt = 0“ wahr sein kann, muss dann angenommen werden, wenn z. B. das Unsichtbar-Sein eines Ortes als eine durch die Sätze dieser Gestalt beschreibbare Tatsache gilt. Ich sehe hier von dieser Möglichkeit ab und betrachte einen Satz der fraglichen Form als falsch.
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ist und dass folglich für dieselben Werte von P und t und für c ≠ d die Sätze „Pt = c“ und „Pt = d“ beide wahr sind. Dann ist c gleich d, was der Behauptung „c ≠ d“ widerspricht. Eine Weltbeschreibung, die eine solche Konjunktion von Farbprädikationen enthält, ist, sofern aus dieser ein falscher Satz ableitbar ist und die Beschreibung damit sowohl die Konjunktion als auch deren Verneinung implizieren muss, aus der Menge möglicher Weltbeschreibungen auszuschließen. In dieser Hinsicht ist die Definition der Sätze der Form „Pt = c“, die auf der Definition der Addition in C gründet, mit der Einführung von Bedeutungspostulaten für eine Familie von Farbprädikaten vergleichbar. Die Konjunktion von zwei Sätzen der Gestalt „c = a + b“ kann wie gewöhnlich charakterisiert werden. Im Unterschied zu Bedeutungspostulaten, die die Beziehungen zwischen Elementarsätzen determinieren und damit die Gesamtheit konstruierbarer Weltbeschreibungen festlegen, liefert die Definition des Halbverbands eine Regel, die zur Unterscheidung zwischen wahren und falschen Sätzen der Gestalt „c = a + b“ verwendet werden kann, und zusammen mit der Definition der Sätze der Form „Pt = c“ die Möglichkeit eines Verstoßes gegen das Prinzip der Farbeninkompatibilität ausschließt. Dieses Prinzip ist somit eine Komponente eines „formalen Gesetzes, nach welchem … Sätze gebildet sind“.54 Da die fragliche Regel einige Gebrauchsweisen von Farbwörtern präsentiert, kann man sie als den Forderungen sowohl des Tractatus als auch der Spätphilosophie Wittgensteins entsprechend ansehen. Man kann zeigen, dass die vorgeschlagene Definition gemischter Farben diese, sofern es um die Prädikation einer Farbe von einem Ort des Gesichtsfeldes geht, den insbesondere von Aristoteles55 formulierten Prinzipien entsprechend als Ganze charakterisiert. Obwohl sich die gemischten Farben wegen der Besonderheiten des definitorischen Zusammenhangs mit ihren Teilen nicht problemlos in die Aristotelische Einteilung von Ganzen einordnen lassen, gelten für sie die folgenden Prinzipien: Erstens können Teile eines Ganzen auch dann existieren (einem Ort des Gesichtsfeldes mit Wahrheit zugeschrieben werden), wenn das Ganze nicht existiert. Zweitens bedeutet die Vernichtung des Ganzen (dass die Möglichkeit, von einem Ort eine gemischte Farbe mit Wahrheit zu prädizieren, nicht mehr besteht) nicht die Vernichtung seiner Teile. Deswegen sind das Ganze und seine
54 TLP 5.501. 55 Aristoteles definiert Ganze durch Merkmale, auf die ich mich hier beziehe, in der Topik VI, 13 150a-151a.
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Teile nicht dasselbe. Folglich können ihnen verschiedene Prädikate beigelegt werden. Insbesondere ist das, was einem Ganzen prädiziert werden kann, nicht immer auf dessen Teile anwendbar, und umgekehrt. Es gilt: 1. Keine gemischte Farbe, die ein als Summe verschiedener Farben beschreibbares Ganzes ist, kann die Charakteristika ihrer Teile haben. Seien a = b + c, b ≠ c, b ≠ 0, c ≠ 0. Nehmen wir an, dass die Sätze „Pt = a“ und „Pt = b“ für dieselben Werte von P und t beide wahr sind. Dann muss gelten, dass b = b + c und c somit entweder mit b oder mit 0 identisch ist. Diese beiden Möglichkeiten widersprechen den Ausgangsbedingungen. Folglich muss die Annahme falsch sein. 2. Diese Betrachtung zeigt auch, dass ein Teil eines Ganzen unabhängig von dem Ganzen existieren kann, sofern das Vorkommen eines der Teile einer gemischten Farbe c an einem bestimmten Punkt des Gesichtsfeldes nicht die gleichzeitige Anwesenheit der Farbe c selbst an demselben Ort bedeutet. 3. Die Vernichtung eines Ganzen zieht nicht die Vernichtung seiner Teile nach sich. Dass eine Farbe vernichtet wird, kann nur bedeuten, dass das Verschwinden eines Flecks im Gesichtsfeld erlebt wird. Andere Bedeutungen sind dann, wenn mit Farben insbesondere keine färbenden Substanzen gemeint sind, ausgeschlossen. Diese Art der Vernichtung bedeutet nicht die Vernichtung eines Teils des Ganzen, sofern das Zuschreiben einer Farbe zu einem Ort P des Gesichtsfeldes zu verschiedenen Zeitpunkten Sätze ergibt, die logisch unabhängig voneinander sind.
E INIGE S CHLÜSSE Die vorstehenden Betrachtungen führen zu einigen Fragen und Schlüssen, die sich wie folgt darstellen lassen: 1. Die Definition des additiven Halbverbands dient der Definition der Form und der Wahrheitsbedingungen einiger Sätze, die sich auf Farben beziehen. Wahre Sätze der Form „c = a + b“ definieren den Halbverband und sind in Hinblick auf diese ihre Funktion Regeln. Ist es dann sinnvoll, sie als Gegenstand logischer Operationen, wie Negation, zu behandeln? Kann eine Konjunktion solcher Sätze als eine Beschreibung der Welt betrachtet werden? Der Unterschied zwischen der Verifikation der Sätze der Form „Pt = c“ einerseits und der Verifikation der Sätze der Form „c = a + b“ andererseits lässt sich als Unterschied zweier Wirklichkeiten auffassen. Die Sätze der Form
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„Pt = c“ beziehen sich auf die Wirklichkeit von Tatsachen, vom Bestehen oder Nichtbestehen von Sachverhalten. Für die Sätze der Form „c = a + b“ ist die fragliche Wirklichkeit die einer festgelegten Regel, die ihrerseits nicht wie eine Regel der Satzkonstruktion das Vergleichen eines Satzes mit der Wirklichkeit ermöglicht, sondern als das, womit er verglichen wird, fungiert, sofern sie sagt, welche solcher Sätze wahr sind und ob eine Farbtatsache durch einen vorliegenden Satz beschrieben ist. Wenn aber der Begriff der Wirklichkeit so erweitert werden kann, muss auch der Begriff der Regel der Zuordnung zwischen Satz und Wirklichkeit erweitert werden, und diese Veränderungen kennzeichnen die Entwicklung der Ansichten Wittgensteins. Die Erweiterung des Begriffs der Wirklichkeit bedeutet einen Übergang von dem Begriff der logischen Grammatik zum Begriff der auch diese umfassenden Grammatik einer im Alltag verwendeten Sprache. Die umfassendere Grammatik wird als Gesamtheit der Gesetze des sprachlichen Bezugs zur Wirklichkeit oder eher des sprachlichen Begreifens der Wirklichkeit verstanden. Die Feststellung der Regeln, die diesen Bezug gestalten, beschränkt sich nicht mehr nur auf die durch eine logische Notation vorgestellten, sondern versucht, einen jeden Gebrauch von Wörtern und Sätzen zu erfassen. Dass die logischen Regeln eine Art auf neue Weise verstandener grammatischer Regeln bilden, kann man auch von den oben eingeführten Definitionen behaupten, wenn man den Unterschied zwischen den beschriebenen Arten der Farbprädikationen als Unterschied im Gebrauch dieser Prädikationen und der Farbwörter auffasst. Diesen Unterschied kann man, der Terminologie Wittgensteins folgend, als Unterschied der Sprachspiele bezeichnen. Das Sprachspiel mit den Sätzen der Form „c = a + b“ wird zum Beispiel dann „gespielt“, wenn die Frage „Was sind Farben und welche Farben gibt es?“ diskutiert wird. Diese Frage kann ein Teil der Aufgabe sein, die einem Kind, das das Malen lernt und durch das Mischen von Gelb, Rot und Blau möglichst viele Farben bekommen soll, gestellt wird. Als Darstellung des Versuchs, eine solche Aufgabe zu lösen, kann ein Satz dieser Form auch falsch sein und negiert werden. Das Sprachspiel mit den Sätzen der Form „Pt = c“ kann eine Komponente des besagten Sprachspiels bilden. So kann man vom malenden Kind Antworten auf die Frage erwarten, welche Farben es den von ihm aufgemalten Farbstrichen zuordnet. 2. Wenn Unterschiede in den Wahrheitsbedingungen der Sätze, die von Farben handeln, auf die Unterschiede in der Anwendung der Farbprädikate zurückgehen, verliert die Forderung nach der durch die Analyse zu erreichenden Darstellung der Sätze als Wahrheitsfunktionen von Elementarsätzen ihre Allgemeingültigkeit. Laut dem Tractatus kann man die grammatische Komplexität
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eines Satzes als Ergebnis des Verkleidens seiner wirklichen logischen Komplexität oder aber als Ausdruck der letzteren betrachten. Diese Komplexität ist immer feststellbar und verlangt eine Darstellung in der Form eines sie zeigenden Satzes. Nach dem Verwerfen der Lehren des Tractatus ist die Forderung nach einer solchen Darstellung der Ausdruck einer reduktionistischen Auffassung der Erkenntnis, die alles Begreifen der Welt mit einer Beschreibung gleichsetzt. Es gilt, die Quelle dieses Reduktionismus und die Kriterien für die Notwendigkeit der Analyse zu bestimmen. Wenn die Analyse eines Satzes die Klärung seiner Wahrheitsbedingungen bezweckt, sind die fraglichen Kriterien durch die Frage, wann eine Farbprädikation verifiziert werden soll, und folglich durch die Frage, welche Funktion sie erfüllt, bestimmt.56 Der Begriff der allgemeinen Form des Satzes wird als Ausdruck des Reduktionismus kritisiert. Im Tractatus wird die Auffassung einiger Sätze als Elementarsätze, auf der die Definition der allgemeinen Form des Satzes aufbaut, eher als eine Tatsache, die einer Erklärung unserer Begriffe dient und somit als eine Art Norm fungiert, als das, was einer Erklärung bedarf, betrachtet.57 In den Philosophischen Untersuchungen wird als Quelle unserer Begriffe die Wirklichkeit des Gebrauchs der von einer Gemeinschaft der Sprechenden gesprochenen Sprache anerkannt, die wegen dieser ihrer Funktion den Grund für die philosophische Auffassung der zu definierenden allgemeinen Form des Satzes einschließen muss. Einen solchen Grund kann man z. B. in unserem Gewöhntsein an eine bestimmte grammatische Konzeption des Satzes sehen, die diesen als grundsätzlich Subjekt-Prädikat-Form aufweisend darstellt.58 3. Die Farben (die Elemente einer denkbaren Menge C) kann man in diejenigen, die als Mischung von zwei verschiedenen Farben beschrieben werden können, und diejenigen, für die dies nicht gilt, einteilen. Die Elemente der ersten Art haben ihre eigenen Namen, die durch hinweisende Definitionen eingeführt werden. Darüber hinaus sind sie auf die Elemente der zweiten Art nicht reduzierbar, weil eine Farbprädikation, die eine Bezeichnung einer gemischten Farbe enthält, nicht als Konjunktion weiter nicht analysierbarer Sätze darstellbar ist. Dies bedeutet, dass die Klassifikation der Farben nicht von der für primäre Farben möglicherweise geltenden Annahme über das Bestehen einer besonderen Beziehung zwischen Namen und Bedeutungen der Namen abhängt. Wenn die Farbwörter beider Arten als Namen fungieren können, muss der Un-
56 Vgl. PU 353. 57 Vgl. TLP 5.555. 58 PU 134.
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terschied zwischen den Klassen von Farben auf den Sprachgebrauch und folglich auf verschiedene Funktionen der Sätze, in denen die Farbwörter vorkommen, oder auf verschiedene Sprachspiele zurückgehen. Dann kann die Bedeutung eines Namens nicht mehr mit seinem Träger, der als einfach angesehen wird, gleichgesetzt werden. Die Erklärung der Bedeutung eines Wortes muss eine Regel dessen Gebrauchs vermitteln. 4. Die Beschreibung der Struktur der Farbbegriffe, die oben vorgeschlagen wurde, beruht auf der Auffassung der Farben als Gegenstände. Zugleich enthält die Struktur das Nichts, das als Mittel der Identifizierung einer gewissen Farbe als Farbe eingeführt wird und deswegen als Gegenstand eines anderen Ranges erscheint. Es scheint folglich, dass die obige Definition eine Art Widerspruch enthält. Ist dem so? Farben treten als Gegenstände insofern auf, als sie der Oberflächengrammatik der Farbbegriffe entsprechend als Subjekte von Prädikationen und folglich Pole bestimmter Beziehungen aufgefasst werden. Dabei werden sie vor allem von anderen Farben getrennt, was bedeutet, dass sie ein System von Objekten bilden, das sich für das Beschreiben von Beziehungen zwischen Objekten eignen kann, die keine Farben sind. Deswegen fungieren Farbwörter als Zeichen, die nicht nur dem Hinweisen auf Flecke im Gesichtsfeld, sondern auch der Identifizierung von Dingen sowie Oberflächen und deren Teilen dienen. Farben, die diese Identifizierungsaufgabe erfüllen, indem sie eine bestimmte Kategorie (ein System) von Begriffen bilden und auf diese Weise den Farbenraum mit seinen Gesetzen definieren, sind selbst Instrumente,59 die einen idealen Charakter haben. 5. Man kann in dem Entwurf der Farbenstruktur eine Illustration zu einer These McGinns sehen. McGinn behauptet, dass nach Wittgenstein das System der Farbbegriffe deren Grammatik konstituiert und deren Anwendung in den empirischen Sätzen vorhergeht, sofern es durch den Bezug auf die Farbtatsachen nicht gerechtfertigt werden kann.60 Ich teile diese Auffassung sowie die Ansicht, dass Wittgensteins Begriff der Grammatik eine Entwicklung seiner früheren Theorie darstellt. Ich denke, dass Wittgenstein vor allem seine frühere Idee eines Parallelismus zwischen internen (symbolischen) Eigenschaften von Sätzen und internen Eigenschaften der durch die Sätze dargestellten Tatsachen nicht aufgibt. Dass er im Tractatus das gleichzeitige Vorkommen von zwei Farben am selben Ort des Gesichtsfeldes als eine
59 Vgl. PU 360. Hier schreibt Wittgenstein: „Sieh das Wort ‚denken‘ als Instrument an!“ 60 Marie McGinn, Wittgenstein on Colour: From Logic to Grammar, in: Annalisa Coliva, Eva Picardi (eds.), Wittgenstein Today, Padova 2004, S. 101-119, S. 118.
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Kontradiktion bezeichnet, ist ein Ausdruck des Strebens, jeder logischen Möglichkeit oder Unmöglichkeit ein satzförmiges Äquivalent zuzuordnen. Ein solches Äquivalent muss nicht sinnvoll sein, sondern eine Eigenschaft der Struktur der Welt zeigen. Dasselbe Streben charakterisiert auch die Spätphilosophie Wittgensteins. Die Rolle der Tautologien und Kontradiktionen wird von den Sätzen der Grammatik übernommen, die Schlüsse über das Wesen von Dingen erlauben, indem sie Eigenschaften der Bezeichnungen der Dinge zeigen. Solche Sätze können als Sätze über Wörter und deren Gebrauch formuliert werden. Sofern die Untersuchung der Grammatik eines Wortes der Feststellung seiner symbolischen Funktionen sowie der Bestimmung des Wesens des von ihm Bezeichneten dient, tritt die Grammatik selbst an die Stelle der im Tractatus diskutierten logischen Grammatik. An die Stelle einer internen Eigenschaft eines Symbols tritt eine Funktion des Wortes oder eines es enthaltenden Satzes, die die Bedeutung des Wortes (mit-)bestimmt. Denn durch seine Funktionen ist das Wort (ein Begriff) in einen Zusammenhang mit anderen Begriffen eingegliedert. Der Zusammenhang zeigt, welche seiner Komponenten die Grenze einer möglichen Analyse des Begriffs markieren. Verschiedene Funktionen des Wortes stellen die Möglichkeiten seiner Verwendung dar. Diese Möglichkeiten werden durch die Anwendung diverser Operationen auf das Wort und auf Sätze, in denen es vorkommt, demonstriert, sofern sie sich in seiner Ersetzbarkeit durch andere Wörter, in den Ähnlichkeiten zwischen einer Erklärung seiner Bedeutung und anderen Bedeutungserklärungen, in der pragmatischen Rolle es enthaltender Äußerungen zeigen. Die Funktionen eines Sprachgebildes charakterisieren seine Beziehung zur Wirklichkeit, die als sprachlich erfasst verschiedene Gestalten annimmt. Aber der Begriff der Funktion eines Sprachgebildes tritt nicht nur als Nachfolger des früheren Begriffs einer internen Eigenschaft eines Symbols auf: Er zeigt nicht nur die Verbindung zwischen der Früh- und der Spätphilosophie Wittgensteins, sondern demonstriert auch die Unterschiede zwischen ihnen. Spricht man von Funktionen eines Wortes, kann man auch davon sprechen, was seine Verwendung bewirkt und wie sie es tut. Das Was und das Wie kann man als Ziele und Mittel des Sprechenden verstehen, was die Verwendbarkeit des Begriffs des Handelns bedeutet. Dieser Begriff beschreibt den Sprachgebrauch, die philosophische Analyse, die Wirklichkeit der menschlichen Lebensform. Mithilfe dieses Begriffs kann man auch die Erkenntnis und ihren Gegenstand charakterisieren. Da das sprachliche Erfassen der Welt wegen der Vielfalt seiner Anwendungen als universal gelten kann und seiner Realisierung nach menschlich ist, bedeutet das Erkennen der Grammatik, das über das Lernen, ihre Regeln zu befolgen,
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hinausgeht, das Begreifen der Möglichkeiten, die sich dem Sprechenden eröffnen, und zugleich der Grenzen, die das Sprechen den Handlungen setzt, und der Ordnungen, die bereits existieren und verändert werden können.
Das Ich bei Descartes und Wittgenstein Subjektivität im Tractatus E LENA T ATIEVSKAYA
Einer der die Wittgensteinsche Spätphilosophie kennzeichnenden Begriffe ist der Begriff „Grammatik“. Wittgenstein setzt die Oberflächengrammatik eines Wortes, die er als dessen Verwendungsweise im Satzbau definiert, von der Tiefengrammatik ab.1 Die Tiefengrammatik des Wortes umfasst Charakteristika des Sprachgebrauchs, die die sprachliche Auffassung des durch es Bezeichneten konstituieren. Ein solches Charakteristikum kann in einer kommunikativen Funktion eines das Wort enthaltenden Satzes, z. B. in dessen Signal-Sein, oder in einer Abhängigkeit zwischen dem Wort und einem anderen Wort (beispielsweise darin, dass das erstere in Kombination mit dem letzteren gebraucht wird) bestehen. Zu den Verfahren, die auf die Analyse der Tiefengrammatik und die darauffolgende Bestimmung des Wesens des von dem Wort Definierten oder Bezeichneten gerichtet sind, gehören die Ersetzung des Wortes in verschiedenen Kontexten seines Vorkommens, die Formulierung von Fragen, die auf mögliche Bezüge des Wortes oder anderer auf ähnliche Weise verwendbarer Wörter gehen, das Beschreiben der Sprachspiele, die den Gebrauch des Wortes charakterisieren. In der Gesamtheit der Sätze, die die Anwendung solcher Verfahren begründen, oder der diesen Sätzen korrespondierenden Regeln kann man eine vorhandene Form des Festhaltens der Tiefengrammatik sehen. Die Behandlung des Subjekts im Tractatus ist eine der ersten Demonstrationen der Anerkennung der Kluft zwischen der Oberflächen- und der Tiefengrammatik und kann daher als Argument zugunsten der Kontinuität der Entwicklung der Theorie Wittgensteins angesehen werden.
1
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W ITTGENSTEINS K RITIK DES S OLIPSISMUS UND DIE C ARTESISCHE A UFFASSUNG DES I CH Wittgensteins Behandlung des Subjekts und des Solipsismus im Tractatus wird als Bestandteil einer Kritik am Cartesianismus, die gegen die solipsistische Auffassung des Subjekts und der Objekte der Erfahrung gerichtet ist, betrachtet. Einer der Repräsentanten dieser Betrachtungsweise ist Pears,2 der seiner Analyse das traditionelle erkenntnistheoretische Schema „Subjekt – Erfahrung – Objekt“ zugrunde legt. Pears sieht das Besondere der im Tractatus angebotenen Kritik in der Art und Weise, wie Wittgenstein das Subjekt und die Objekte der Erfahrung identifiziert: Die Problematik der Identifizierung der Objekte der Erfahrung eines Ich drückt sich in der Frage nach den Grenzen oder Ausdrucksmöglichkeiten seiner Sprache aus, während die Aufgabe der Identifizierung des Subjekts der Erfahrung die Bestimmung der Verbindung zwischen dem Ich und der physikalischen Welt verlangen kann.3 Die Charakterisierung des Cartesianismus als solipsistische Theorie kann man anzweifeln. So äußert Cassirer die Meinung, dass es Descartes mit seinem CogitoArgument gelingt, die Gefahr des Solipsismus zu vermeiden, sofern „bereits im ‚Cogito‘ selbst eine bestimmte ‚Transzendenz‘ angezeigt und sichergestellt [ist]“.4 Descartes setzt das Ich in eine Beziehung zur Welt: Sofern alles, was das denkende Ich als einen von Widersprüchen freien Gegenstand der Erkenntnis erfasst,5
2
David Pears, Wittgenstein’s Criticism of Cartesianism, in: Synthese 106, 1996, S. 4955.
3
Ebd., S. 51-52.
4
Siehe Ernst Cassirer, Die Idee der „Einheit der Wissenschaft“ in der Philosophie Descartes’, in: Ernst Cassirer, Gesammelte Werke 20, Darmstadt 2005, S. 26-46, S. 40. Hier schreibt Cassirer: „Im Akte des Selbstbewußtseins versichern wir uns nicht nur unserer Existenz als solcher, sondern wir werden in ihm auch eine bestimmte Beschaffenheit unseres Ich gewahr. Wir erkennen dieses Ich als ein eingeschränktes, als ein endliches und abhängiges Wesen. Und diese seine Bedingtheit einsehen heißt zugleich, sie in gewissem Sinne überschreiten.“
5
Dass das Gedachte existieren kann, bedeutet nach Descartes, dass Gott es schaffen kann. Gott kann alles schaffen, was der Denkende klar und deutlich erfasst. Dass man das, was Gott nicht schaffen kann, deutlich erfasst, beurteilt das denkende Ich als Widerspruch. Darüber schreibt Descartes in der Sechsten Meditation. Siehe René Descartes, Meditationen über die Grundlagen der Philosophie mit den sämtlichen Einwänden und Erwiderungen (im Folgenden Meditationen), Hamburg 1965, unveränderter Nachdruck der ersten deutschen Gesamtausgabe von 1915, S. 61. Ein Beispiel dessen,
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zur Welt, d. h. zum „Weltall“ der Dinge,6 gehört und der Denkende sich selbst so erkennt, gehört er auch zur Welt. Das denkende Ich begreift sich als eine Substanz im Sinne der ersten Substanz Aristoteles’: Es ist nicht nichts, sondern etwas. Sofern das Ich denkt, dass es etwas, d. h. ein Ding, sei, ist es laut Descartes.7 Sich als etwas aufzufassen heißt, sich in einer gewissen Beschaffenheit zu erfassen. Sie schließt zunächst eine Funktion in Bezug auf eine Handlung ein, weil das denkende Ich sich sowohl als einen Handelnden als auch als Gegenstand seiner eigenen Handlung, nämlich der des Überredens, betrachtet. Darüber hinaus gehört zu seiner Beschaffenheit die Verschiedenheit von etwas, nämlich von einem das Ich vermeintlich Täuschenden. Dieses Bestimmen der eigenen Natur ist zugleich das Anerkennen des eigenen Verschiedenseins von einem Anderen, das folglich definiert werden muss. Das Sein und Etwas-, nämlich Etwas-von-einem-AnderenVerschiedenes-Sein, fallen bei dem Ich Descartes’ zusammen, und es gilt, zu erkennen, was das Ich ist, und es dadurch von dem Anderen abzusondern. Dieses Was definiert Descartes als Ein-denkendes-Ding-Sein, wobei er das Wesentliche des Denkens im Urteilen sieht. Sofern die philosophische Erkenntnis eine Ableitung darstellt, in der aus dem vom Denkenden Gesetzten und als gewiss Anerkannten alles andere erschlossen wird, wird anschließend die Beschaffenheit des von dem Ich Verschiedenen bestimmt. Diese Auffassung der philosophischen Er-
was Gott nicht schaffen kann, ist die Fähigkeit des Irrtums. In der Vierten Meditation diskutiert Descartes, ob Gott diese Fähigkeit dem Menschen verleihen könnte. Er argumentiert wie folgt: Hätte der Denkende die Fähigkeit zum Irrtum von Gott, bedeute dies, dass Gott wolle, dass sich der Denkende irrt. Somit wolle Gott den Denkenden täuschen. Dann wäre Gott böse oder schwach. Das widerspricht seiner Vollkommenheit. Also könne es keine dem Denkenden von Gott verliehene Fähigkeit des Irrtums geben. Dieses Beispiel zeigt, was aus der Behauptung Descartes’ über das Erfassen dessen, was Gott nicht schaffen kann, folgt: „Es ist für den Denkenden ein Widerspruch, dass er etwas vermeintlich Existierendes deutlich erfasst“ bedeutet „Das, was vermeintlich, aber nicht wirklich existiert, hat Bestimmungen, die einander widersprechen“. Im Beispiel sind diese Bestimmungen von Gott geschaffen und in böser Absicht geschaffen. 6 7
Vgl. Descartes, Meditationen, a. a. O., S. 46-47. Siehe die Zweite Meditation, ebd., S. 17-18. In den „Gedanken zum Beweise des Daseins Gottes und der Unterschiedenheit der Seele vom Körper, nach geometrischer Methode geordnet“ bezeichnet Descartes als einen der Allgemeinbegriffe (Axiom X), dass „[i]n der Idee oder dem Begriff eines jeden Dinges […] das Dasein enthalten [ist], weil wir nichts anders als unter der Form eines existierenden Dinges begreifen können“, a. a. O., S. 151.
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kenntnis weist der Logik die Aufgabe einer Methode zu. Die überlieferte Aristotelische Logik sieht Descartes als unzureichend für den Aufbau seiner Metaphysik an.8 Dennoch benutzt er diese Logik in seiner Argumentation, ohne die logischen Sätze, auf die er zurückgreift, als Prämissen seiner philosophischen Schlüsse explizit anzugeben. Darauf weist z. B. Scholz hin, der die Ableitbarkeit von „Sum“, das nach ihm als erster Existenzsatz der Cartesischen Metaphysik fungiert, aus dem Satz „Dubito, ergo sum“ begründet: „Eine notwendige Bedingung für die Anerkennung dieser Ableitbarkeitsbehauptung ist allerdings die Anerkennung der Aristotelischen Logik; aber die Gültigkeit dieser Logik wird schon in der Descartes’schen Begründung des Satzes von der Berechtigung des radikalen Zweifels so ununterbrochen vorausgesetzt, und selbstverständlich ebenso sehr für alle folgenden Deduktionen, daß man sich fragen muß, wie es möglich gewesen ist, daß Descartes überhaupt auf den Gedanken hat kommen können, an allem zu zweifeln, und daß er nicht vielmehr die Logik von Anfang an für seinen Zweifel ein für allemal eliminiert hat.“9
Unabhängig davon, ob die Cartesische Auffassung des Ich berechtigterweise als Solipsismus bezeichnet wird, wird sie in der Form der These, dass das Ich eine Substanz oder in der Terminologie des Tractatus ein Gegenstand ist, von Wittgenstein nicht angenommen. Der Ich-Begriff Descartes’ stellt mithin einen Gegensatz zu dem im Tractatus vertretenen Gesichtspunkt dar, und es erhebt sich die Frage, wodurch dieser Gegensatz bedingt ist und warum das denkende Ich nach Wittgenstein keinen Substanz-Status haben kann. Um diese Frage zu beantworten, werde ich die Wittgensteinsche Auffassung des Ich und den im Tractatus formulierten Begriff der Erfahrung analysieren, um anschließend das Charakteristische der Herangehensweise Wittgensteins an die Problematik des Denkens zu definieren. Ich gehe davon aus, dass er das Schema „Subjekt – Erfahrung – Objekt“ nicht auf eine bestimmte Weise deutet, sondern durch ein gänzlich anderes Schema ersetzt. Mit meiner Analyse möchte ich zeigen, dass die Auffassung des Ich als Substanz mit der Wittgensteinschen Auffassung des Denkens,10 die dieses als Konstruieren von Bildern der Tatsachen behandelt, von der Abhängigkeit dieses Konstruierens von der Existenz der abbildenden Beziehung zwischen Sprache und Welt ausgeht
8
René Descartes, Discours de la méthode. Von der Methode des richtigen Vernunftgebrauchs und der wissenschaftlichen Forschung, Hamburg 1960, S. 28-31.
9
Heinrich Scholz, Über das Cogito, ergo sum, in: Kant-Studien XXXVI, 1931, S.126147, S. 143.
10 Diese Auffassung ist in den Sätzen 2.1-2.12, 2.1513-2.1514, 3-3.001, 3.25, 4.221, 4.4, 5, 5.01, 3.5, 4 und 4.01 des Tractatus formuliert.
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und die Forderung der wahrheitsfunktionalen Form und der vollständigen Analysierbarkeit eines jeden Satzes voraussetzt, nicht vereinbar ist. Diese Unvereinbarkeit charakterisiert die „Tiefengrammatik“ des Wortes „ich“, denn sie äußert sich darin, dass das seine „Oberflächengrammatik“ darstellende Behandeln des Ich als Objekt, von dem Sätze handeln, nicht die Zugehörigkeit des von dem Wort Bezeichneten zu den wie im Tractatus definierten Gegenständen bedeutet, die als logische Subjekte von Prädikationen in Elementarsätzen auftreten. Wenn der Verzicht darauf, das Subjekt als Substanz anzusehen, als Ausdruck der Erkenntnis der Besonderheiten der „logisch-syntaktischen Verwendung“ des Zeichens „ich“ oder eines anderen Zeichens, das als Bezeichnung eines Subjekts fungiert, gelten kann, ist die Unterscheidung zwischen Zeichen und Symbolen, die dabei in ihrer konkreten Form erfasst wird, eine Form dessen, was in der Spätphilosophie Wittgensteins als Unterscheidung zwischen Oberflächengrammatik und Tiefengrammatik auftritt. Wenn das Vermeiden philosophischer Irrtümer, wie es der Tractatus voraussetzt, von dem Erkennen von Symbolen und der auf diesem gründenden Verwendung einer besonderen Zeichensprache abhängt, kann eine philosophische Frage nur durch eine Untersuchung des sinnvollen Sprachgebrauchs beantwortet werden. Soll die Frage das Wesen einer Sache betreffen, wird sie dann beantwortet, wenn die formalen oder internen Eigenschaften der Bezeichnung der Sache feststehen. Solche Eigenschaften bilden einen Bestandteil dessen, was in der Terminologie der Philosophischen Untersuchungen die Tiefengrammatik eines Wortes heißt.
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S EIN
DER
G EGENSTÄNDE
Im Tractatus (5.552) schreibt Wittgenstein: „Die ‚Erfahrung‘, die wir zum Verstehen der Logik brauchen, ist nicht die, daß sich etwas so und so verhält, sondern, daß etwas ist: aber dies ist eben keine Erfahrung. Die Logik ist vor jeder Erfahrung – daß etwas so ist. Sie ist vor dem Wie, nicht vor dem Was.“
Die Erfahrung ist hier durch zwei Charakteristika definiert: erstens durch das, wovon sie möglich ist, und zweitens durch das, was ihr vorhergeht. Wenn das Wort „etwas“ als eine unbestimmte Bezeichnung eines Gegenstandes verstanden wird, lassen sich dem angegebenen Satz des Tractatus zufolge in Bezug auf den Gegenstand folgende Momente und Kategorien dessen, was von ihm ausgesagt werden kann, unterscheiden:
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• dass der Gegenstand ist, • was er ist, • wie er ist.
Um diese Bestimmungen zu charakterisieren, möchte ich mich der Terminologie der sich von der Aristotelischen Logik ableitenden Tradition bedienen. Den zwei ersten Bestimmungen (dass der Gegenstand ist und was er ist) entsprechen laut dieser Terminologie eine Seins- beziehungsweise eine Wesensaussage über den Gegenstand. Die Theorie des Tractatus verbindet diese beiden Bestimmungen mit internen oder formalen Eigenschaften des Gegenstandes, während die dritte Bestimmung die Gesamtheit seiner externen oder materiellen Eigenschaften darstellt. Das Wesen des Gegenstandes, d. h. das, was ihn zum Gegenstand macht, gehört nach Wittgenstein nicht zu dem, wovon die Erfahrung möglich ist. Dass das Was des Gegenstandes vor der Erfahrung ist und er nur genannt werden kann, impliziert, dass ein sinnvoller Satz nicht aussagen kann, was der Gegenstand ist,11 und dementsprechend diesem keine Definition im Sinne Aristoteles’ geben kann. Man kann z. B. von einer bestimmten Farbe nicht sinnvoll behaupten, dass sie eine Farbe oder dass sie ein Gegenstand ist. Die Anerkennung dieser Unmöglichkeit wird auch durch den Verzicht darauf, die Abhängigkeit der Hierarchien von der Realität anzuerkennen,12 bekräftigt. Obwohl eine sinnvolle Was-Aussage über einen Gegenstand unmöglich ist, ist das Gegenstand-Sein für einen jeden Gegenstand bestimmt. Der Satz 2.01231 („Um einen Gegenstand zu kennen, muß ich zwar nicht seine externen – aber ich muß alle seine internen Eigenschaften kennen“) deutet darauf hin, dass das Wesen des Gegenstandes durch die Gesamtheit seiner formalen Eigenschaften erschöpft ist, so dass die Aussagen „In einem sinnvollen Satz kann man einem Gegenstand keine formalen Eigenschaften beilegen“13 und „Der Satz kann nicht aussagen, was ein Gegenstand ist“14 („In einem sinnvollen Satz kann man einem Gegenstand nichts Wesenhaftes beilegen“) dasselbe bedeuten. Ein Gegenstand zu sein oder unter den formalen Begriff „Gegenstand“ zu fallen heißt nach Wittgenstein, ein Bezugspunkt einer Prädikation15 zu sein. Wenn also das Wesen eines jeden Gegenstandes darin besteht, dass seine Bezeichnung die Argumentstelle einer Funktion, die Elementarsätze als ihre
11 TLP 3.221. 12 TLP 5.5561. 13 Vgl. TLP 4.122. 14 Vgl. TLP 3.221. 15 Den Terminus „Prädikation“ benutze ich hier als terminologisches Äquivalent für das Sagen, „wie ein Ding ist“ (TLP 3.221).
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Werte ergibt, einnimmt, kann eine Was-Aussage über einen Gegenstand als Aussage darüber, dass er das ist, wovon Sätze handeln, oder dass es Sätze gibt, die ihm materielle Eigenschaften beilegen, und somit als eine Aussage über eine Beziehung zwischen dem Gegenstand und Symbolen, in welchen seine Bezeichnung vorkommt, angesehen werden. Sofern in Hinblick auf dieses Was Gegenstände voneinander nicht unterscheidbar sind, kann es als Gattung im Sinne Aristotelischer Gattungen16 gelten.17 Wittgensteins Überlegungen über die Beziehungen der Gegenstände zu dem, was Sätze darstellen, resultieren außerdem in der Behauptung, dass die Kenntnis von formalen Eigenschaften und Beziehungen18 des Gegenstandes die Kenntnis aller Möglichkeiten seines Vorkommens in Sachverhalten impliziert. Dadurch wird der Gegenstand in Beziehungen zu denkbaren Strukturen der Sachverhalte gebracht. Deswegen beschränken sich die internen (formalen) Eigenschaften eines Gegenstandes nicht auf die besagte Gattung oder auf die Zugehörigkeit zu einem bestimmten Raum möglicher Sachverhalte, sondern umfassen auch das Besondere des Gegenstandes, das sich aus seinen internen Beziehungen zu anderen Gegenständen ergibt.19 Das Sein der Gegenstände wird im Tractatus für eine notwendige Bedingung einer Darstellung erklärt. In dem Fall, dass die Welt keine Substanz in der Form
16 Zur Aristotelischen Auffassung einer Wesensaussage vgl. Aristoteles, Topik, übersetzt von Eugen Rolfes, Hamburg 1968, Nachdruck der 2. Auflage von 1922, I, 5, 101b102a, 8, 103b, VII, 3, 153a, Lehre vom Beweis oder Zweite Analytik, übersetzt von Eugen Rolfes, Hamburg 1976, Nachdruck der Ausgabe von 1922, II, 3, 90b, 10, 93b94a, 13, 96a-96b. 17 Wenn die Eigenschaften von Gegenständen in einem logischen Symbolismus durch Funktionszeichen bezeichnet werden, kann man auf sie den formalen Begriff „Gegenstand“ nicht anwenden. Der Begriff „Funktion“ tritt deswegen als Vertreter einer anderen „Gattung“ auf, womit eine Art Typenhierarchie zugelassen wird. Offenbar begründet vor allem diese Problematik die in der Wittgenstein-Literatur verbreitete Tendenz, Eigenschaften von Gegenständen selbst als Gegenstände aufzufassen. Aber auch in dem Fall, dass Funktionszeichen als Bezeichnungen der Formen der Verkettung von Gegenständen verstanden werden, entsteht dieselbe Gefahr. Die Eigenschaften zählen dann zwar zu Gegenständen, aber, sofern in einer von Wittgenstein entworfenen logischen Notation nicht nur über Gegenstandsvariablen, sondern auch über Funktionsvariablen quantifiziert werden kann und die letzteren in bezeichnenden Beziehungen zur Welt stehen (vgl. TLP 4.0411, 5.5261), müssen den Funktionszeichen auch Bedeutungsunterschiede zugesprochen werden. 18 TLP 2.0123. 19 Vgl. TLP 4.123.
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von Gegenständen hätte, wäre es „unmöglich, ein Bild der Welt (wahr oder falsch) zu entwerfen“.20 Darüber hinaus ist das Sein der Gegenstände die Voraussetzung des Verstehens der Logik. Wenn das Verstehen der Logik das Verstehen alles Logischen bedeutet, schließt es auch das Verstehen des Prinzips der Darstellung oder der Konstruktion eines Bildes (des Denkens eines Sachverhaltes)21 ein. Das Sein der Gegenstände ist dann nicht nur eine Voraussetzung des Denkens, sondern auch dessen Erfassens. Als Denken eines möglichen Sachverhaltes ist das Denken gegenständlich in dem Sinn, dass es vom Gedachten unterschieden und als dessen Darstellen begriffen werden kann. Da ein Sachverhalt als Verbindung von Gegenständen definiert wird, lässt sich die Notwendigkeit der Existenz der Gegenstände, von der viele Interpreten Wittgensteins, seinen eigenen Aussagen folgend, sprechen,22 als Unmöglichkeit auffassen, vom Denken zu sprechen, ohne vom Gedachten, das definitorisch von den Gegenständen abhängt, zu sprechen. Sofern interne Eigenschaften und Beziehungen eines Gegenstandes ihn als solchen charakterisieren, eignen sie sich zur Definition der Kriterien, nach welchen dem denkenden Ich der Substanz-Status zu- oder abgesprochen werden kann. Wäre das denkende Ich ein Gegenstand, könnte erstens seine Bezeichnung an der Argumentstelle eines Funktionszeichens in einem Elementarsatz vorkommen. Zweitens wäre die Darstellung der Welt von seinem Sein abhängig.
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DENKENDE I CH : DIE LOGISCHE
G RAMMATIK
Wenn die Theorie des Tractatus jeden Gegenstand durch die logisch-syntaktische Funktion seiner Bezeichnung definiert und das Sein der Gegenstände als eine notwendige Bedingung der Darstellung der Welt bestimmt, bedeutet der Verzicht Wittgensteins darauf, das Ich der Philosophie als eine Substanz zu betrachten, das Negieren dessen, dass sinnvolle Sätze vom denkenden Ich handeln können oder dass das Sein des Ich in demselben Sinn wie das Sein der Gegenstände eine Voraussetzung des Abbildens oder des Denkens der Welt sein kann. Es stellt sich deswegen die Frage, wie dieses Negieren im Tractatus zustande kommt. Dass Wittgenstein dem Ich das Gegenstand-Sein abspricht, lässt sich zunächst durch die Problematik erklären, die sich bei der Definition der logischen Form der Sätze, die vom Denken handeln, abzeichnet. Betrachten wir den Satz „A denkt“.
20 TLP 2.0212. 21 TLP 3.001. 22 Siehe z. B. Merrill B. Hintikka, Jaakko Hintikka, Investigating Wittgenstein, Oxford 1986, S. 48.
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Vom Standpunkt der Definition des Denkens als Konstruktion eines Bildes einer Sachlage23 aus bedeutet dieser Satz „A konstruiert ein Bild einer Sachlage“ oder „A sagt etwas“. Sofern das Gedachte oder das im Bild Dargestellte in dem Satz nicht angegeben ist, ist er als ein Existenzsatz deutbar. Einen Satz, der zum fraglichen Existenzsatz verallgemeinert werden kann, gewinnt man durch das Angeben des Gedachten. Wenn z. B. der Satz „A denkt (sagt), dass es regnet“ das Ich als einen Gegenstand hinstellt, muss er es durch dessen Eigenschaften und Beziehungen beschreiben. Fragt man, unter welchen Bedingungen ein solcher Satz wahr sein soll, lässt sich gegen die Möglichkeit dieser Auffassung dessen, was er aussagt, Folgendes einwenden:24 1. Handelte der Satz von einer zweistelligen Relation, d. h., wäre das Gedachte etwas Einheitliches und weiter nicht Analysierbares,25 wären die gedachten Inhalte besondere Gegenstände. Solchen Gegenständen könnte man Eigenschaften beilegen, so dass z. B. „ist wahr“ als „das Verbum eines Satzes“ fungieren könnte.26 Sätze, die von anderen Sätzen handeln, wären sinnvoll, aber das Denken bestünde im Bezugnehmen auf Inhalte, deren Bezug auf die Wirklichkeit der Gegenstände nicht definiert wäre und die ihre eigene Wirklichkeit bilden könnten. 2. Ebenfalls fraglich ist die Möglichkeit, die logische Form solcher Sätze gemäß den Russellschen Vorstellungen von mehrstelligen kognitiven Relationen aufzufassen. Wenn ein Satz der Form „A denkt (sagt), dass …“ von einer Beziehung zwischen dem Denkenden und den von ihm gedachten Gegenständen handelte, müsste diese Beziehung eine besondere, nämlich eine kognitive, Beziehung sein. Das Bestehen einer solchen Beziehung, das dem Verfahren der Konstruktion eines Bildes zugrunde liegt und auf einer Zuordnung von Namen zu Gegenständen gründet, lässt sich zunächst durch Bezug auf Regeln beschreiben, die ihrerseits keine Sätze über die Gegenstände sind, sondern die
23 Vgl. TLP 3.001. 24 Bei der Formulierung dieser Einwände folge ich nicht der Geschichte der von Wittgenstein selbst vorgenommenen Analyse dieser Möglichkeit, sondern versuche, vor allem der Problematik der Vereinbarkeit der umstrittenen Auffassung mit der Theorie des Tractatus nachzugehen. 25 Diese Möglichkeit entspricht der von Wittgenstein bereits in den „Notes on Logic“ verworfenen Auffassung der logischen Form solcher Sätze. Ludwig Wittgenstein, Aufzeichnungen über Logik, in: Ludwig Wittgenstein, Werkausgabe, Band 1, Frankfurt am Main 1984, S. 188-208, S. 205-206. 26 Vgl. TLP 4.063.
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Funktionsweisen einer „Zeichensprache“ festhalten.27 Ein Satz der Gestalt „A denkt (sagt), dass …“, z. B. der Satz „A denkt, dass es heute in Augsburg regnet“, handelt dann von der Anwendung bestimmter Regeln und hat die Form „A ordnet dem heutigen Wetterzustand in Augsburg und seiner Beschaffenheit die Ausdrücke ‚der heutige Tag in Augsburg‘ beziehungsweise ‚ist regnerisch‘ zu und verbindet sie miteinander so, dass sie den Satz ‚Der heutige Tag in Augsburg ist regnerisch‘ bilden“. Dabei kann aber der Satz über das Denken nicht wahr sein, wenn der Ausdruck „Der heutige Tag in Augsburg ist regnerisch“ bestimmte Anforderungen an die Verwendung und Interpretation dem Mitteilen des Gedachten dienender Sätze nicht erfüllt und nicht vom Regnen handelt, sondern von A beispielsweise als eine Art Losungswort benutzt wird. Die Wahrheit eines Satzes der Form „A denkt, dass …“ hängt folglich nicht allein davon ab, ob der Ausdruck des Gedachten ein sinnvoller Satz ist, sondern auch davon, wie der Satz, der das Gedachte darstellen soll, gebraucht wird. Ein weiteres Problem, das die Beschreibbarkeit der Tatsache des Denkens zweifelhaft macht, ist das Problem der Kriterien der Verifizierbarkeit einer solchen Beschreibung. Die Verifizierung eines Satzes über das Denken setzt voraus, dass das Gedachte einen sprachlichen Ausdruck hat, denn die Möglichkeit der Verifizierung eines Satzes der Gestalt „A denkt“, wenn A keine Sätze ausspricht oder aufschreibt, ist fraglich. In einem solchen Fall stellt sich z. B. die Frage, welches die Wirklichkeit ist, mit der der Satz verglichen wird, wie A beschaffen sein oder sich verhalten soll, damit der Satz als wahr anerkannt werden kann. Die Tatsachen, die Sätze, die vom Denken handeln und sowohl den Denkenden als auch das Gedachte erwähnen, verifizieren können, lassen sich offenbar nicht in eine Kategorie von Tatsachen einordnen, die durch den im Tractatus eingeführten Begriff der abbildenden Beziehung festgelegt ist. 3. Derselbe Schluss ergibt sich als Antwort auf die Frage, ob die Beschreibung der Konstruktion eines Bildes etwas leistet, was das Bild selbst nicht zu leisten vermag. Denn diese Beschreibung ist von der Formulierung des Satzes über das Gedachte vor allem dann verschieden, wenn sie eine kognitive Tatsache statt des Gedachten darstellt oder die Prinzipien, denen die Bildkonstruktion folgt, angibt. Während die der ersteren Möglichkeit entsprechende Behandlung der Sätze über das Denken die oben genannte Problematik bewältigen muss, führt das Anerkennen der letzteren zum Verzichten darauf, den Denkenden beim Definieren des Denkens zu erwähnen.
27 Die Formulierung solcher Regeln kann man als Ergebnis eines „dem Studium der Denkprozesse“ entsprechenden Studiums der Sprache betrachten. Vgl. TLP 4.1121.
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Wenn sich das Ich mithin nicht als Gegenstand verstehen lässt und es trotzdem möglich sein soll, ihm als Denkendem eine Eigenschaft beizulegen oder es in eine Beziehung zu etwas anderem zu setzen, fragt es sich, ob man das Ich vielleicht als einen Komplex, d. h. als ein Ganzes, das durch seine Teile definiert ist, auffassen und die Bestandteile zu den Gegenständen zählen kann. Wäre allerdings die Grenze der Analyse des Komplexes „Ich“ beispielsweise durch die Gedanken des Ich bestimmt, bedeutete das, dass die Gedanken zusammen mit Gegenständen zur Substanz der Welt gehörten. Diese Auffassung hätte wiederum zur Folge, dass die Gedanken wie die oben in Betracht gezogenen Inhalte eine eigentümliche Wirklichkeit bildeten, so dass das Denken allein durch das Bezugnehmen auf die Wirklichkeit der Gegenstände nicht erklärbar wäre. Das einzelne denkende Ich, als ein Gegenstand oder ein Komplex betrachtet, scheint sich entweder in die von ihm konstruierten Bilder28 oder in die Verfahren ihrer Konstruktion aufzulösen. Und das Denken, das als Konstruktion von Bildern der Tatsachen aufgefasst wird, lässt sich entweder durch Bezug auf die durch die Regeln einer besonderen logischen Notation oder der Alltagssprache gegebenen Operationen mit Zeichen oder durch Charakterisierung der Bilder (Gedanken oder Sätze), auf die solche Operationen angewandt werden, beschreiben. Ein Versuch, das Ich durch dessen Gedanken oder Operationen zu identifizieren, eliminiert es aber als das, was von Produkten der symbolisierenden Tätigkeit verschieden ist. Denn ein Gedanke, der eine Tatsache darstellt, hat seinen Ausdruck in einem Satz, und eine Operation wird durch die Angabe ihrer Basen und Resultate, die wiederum Sätze sind,29 beschrieben. Die einzige Möglichkeit, das Ich anders zu identifizieren, scheint folglich in der Feststellung dessen zu bestehen, was mit der Bestimmung „meine“ gemeint ist, die zunächst der Sprache des Denkenden beigelegt wird. Aber wie kann das denkende Ich, das durch diese Bestimmung vertreten ist, oder sein Sein die Darstellung der Welt bedingen? Und in welchem Sinn ist die Sprache „meine“ Sprache?
28 Einen ähnlichen Schluss zieht Hintikka in seinem Aufsatz „On Wittgenstein’s ‚Solipsism‘“, in: I.M. Copi/R.W. Beard (eds.), Essays on Wittgenstein’s Tractatus, London, 1966, S.157-161, S. 159-160. Hintikka begründet diesen Schluss ausgehend von dem Satz 5.541 des Tractatus. Dabei zieht er es vor, von Gedanken des Ich, nicht von seinen Sätzen zu sprechen. 29 Vgl. TLP 5.23.
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S PRACHE
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E RFAHRUNG
Das Ausschließen der Möglichkeit, das Ich als denkendes Ding zu charakterisieren, gilt zunächst für die Sätze, die eine Weltbeschreibung bilden. Darüber hinaus wird der Denkende auch in der Formulierung der Prinzipien des Aufbaus einer solchen Beschreibung nicht erwähnt. Das Erstere gilt insofern, als das Ich kein Gegenstand ist, der in einem Sachverhalt vorkommen kann. Die im Tractatus angebotene Formulierung der Prinzipien der Beschreibungskonstruktion schließt ihrerseits die Möglichkeit, vom Ich zu sprechen, insofern aus, als sie die durch das Schema „Subjekt – Erfahrung – Objekt“ repräsentierte Entgegensetzung des Ich und der Welt zugunsten der Entgegensetzung der Welt und der Beschreibung der Welt aufhebt. Die der Definition des Satzes 5.552 korrespondierende und das Ich als Pol einer kognitiven Beziehung nicht mehr erwähnende Darstellung dieser Entgegensetzung kann die Gestalt „Beschreibung – Erfahrung – Welt“ haben und „Beschreibung – wie die Welt durch Erfahrung geordnet wird – Welt“30 bedeuten. Zunächst stellt sich die Frage, ob die Bezeichnung „meine“, die insbesondere der Welt beigelegt wird, auf die Erfahrung ebenfalls zutreffen kann: Wenn die Welt wie die Sprache „meine“ ist und die Beschreibung der Welt auch so genannt werden kann, muss man auch die Erfahrung, die zwischen der Beschreibung der Welt und der Welt selbst vermittelt, so bezeichnen können. Die Erfahrung wird traditionell durch den Erlebnis- oder Wahrnehmungscharakter gekennzeichnet. Auch die Erfahrung, von der der Tractatus handelt, definiert man häufig im Geist dieser Tradition. Insbesondere fasst man Gegenstände Wittgensteins als Gegenstände der Bekanntschaft auf,31 was zum Übertragen dieser Bestimmung auf die Erfahrung führt. Die Möglichkeit, die Erfahrung mit der Bekanntschaft gleichzusetzen und als die eines Ich zu charakterisieren, legt den Gedanken nahe, dass Wittgensteins Theorie eine solipsistische Theorie ist. Dies impliziert den Versuch, den Wittgensteinschen Solipsismus und dessen Besonderheit zu definieren und zugleich dessen Definition mit den Intersubjektivitäts-Voraussetzungen des Tractatus zu vereinbaren. Es stellt sich die Frage, was die Erfahrung neben der Sprache und der Welt als „meine“ qualifizieren kann, und die Antwort auf sie ist zur Rechtfertigung oder zur Widerlegung der durch den genannten Versuch vertretenen Auffassung verwendbar. Diese Frage ist zugleich die Frage nach dem Unterscheiden des „Mein“-Seins der Erfahrung von etwas anderem. Ein Gegenstand wird von anderen Gegenständen dadurch unterschieden, dass er zum Subjekt einer Aussage gemacht und so in
30 Ich beziehe mich dabei auf den Satz 5.634 des Tractatus. 31 Siehe z. B. Hintikka/Hinktikka, Investigating Wittgenstein, a. a. O., S. 65-66.
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Beziehungen zu anderen Gegenständen gesetzt wird. Wäre es möglich, auch das denkende Ich als Gegenstand zu betrachten, sollten die Sätze, die vom Ich handeln, es in seiner Verbindung mit und seiner Verschiedenheit von anderen Gegenständen darstellen. Der Denkende wird jedoch nicht wie ein Gegenstand behandelt, sofern das Denken nicht als „eigentlicher“ Begriff aufgefasst wird, den man zum Unterscheiden zwischen Gegenständen verwendet. Wittgenstein charakterisiert das Denken dadurch, dass er das Bild von dem Abgebildeten und dem Dargestellten trennt, das Gemeinsame des Bildes und des Abgebildeten als die logische Form bestimmt und die Konstruktion des Bildes in ihrer Gesetzlichkeit untersucht. Diese Untersuchung mündet in der Formulierung der Prinzipien des Aufbaus einer Sprache, die sich für die Beschreibung der Welt und die Darstellung der logischen Form der Gedanken eignet. Diese Definition des Denkens stellt fest, was mit ihm erreicht wird und wie, und behandelt es somit nicht als eine Eigenschaft oder eine Beziehung, sondern als eine Art Instrument. Zugleich präsentiert sie die Gesamtheit von Regeln und Formen der Bildkonstruktion, die von jedem Denkenden angewandt werden, als eine Art Bedingungen, unter denen vom Denken die Rede sein kann. Die Erfahrung wird ihrerseits durch Unterscheidungen definiert. Zunächst wird sie von dem Erfahrbaren oder von dem Wie der Gegenstände unterschieden. Sie wird ferner von dem, was vor der Erfahrung ist, und somit von dem Sein und dem Gegenstand-Sein der Gegenstände einerseits und von der Logik andererseits getrennt. Auf diese Weise wird die Erfahrung als das, was durch einen Satz „gesagt“ wird, dem entgegengesetzt, was nicht ausgesagt (ausgesprochen32) werden kann. Außerdem wird sie von einer Beschreibung von Tatsachen unterschieden, weil sie einen Satz, der eine Tatsache beschreibt, bestätigen oder widerlegen kann.33 Wenn der Grund für das Zusprechen des „Mein“-Seins zu der Erfahrung der Bezug auf das denkende Ich ist, ist dieses Ich durch konkrete Anwendungen der Regeln, die das Denken als Bildkonstruktion charakterisieren, definierbar. Ein Produkt einer solchen Anwendung ist z. B. eine bestimmte Weltbeschreibung, die den Gegensatz von „meinem“ und „dem eines anderen“ zuzulassen scheint. Diese Entgegensetzung ist in Hinblick auf das, wovon die Erfahrung möglich ist, dann denkbar, wenn das Unterscheiden des Wie der Gegenstände in „mein“ und „das eines anderen“ oder das entsprechende Unterscheiden der Gegenstände selbst möglich ist. Ich glaube jedoch, dass die Theorie des Tractatus keine dieser Unterscheidungen erlaubt. Für die Gegenstände ist sie insofern unmöglich, als das denkende Ich kein Gegenstand ist und folglich in keinen eine solche Unterscheidung
32 Vgl. TLP 3.221. 33 TLP 6.1222.
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bestimmenden Beziehungen zu den Gegenständen steht. Die Beziehungen, die das Denken kennzeichnen, sind intern und bestehen erstens zwischen Sätzen oder Gedanken einerseits und den Tatsachen der durch die Sätze abgebildeten Wirklichkeit andererseits34 und zweitens zwischen Sätzen oder Gedanken. Auch die Beziehungen zwischen Namen und Gegenständen kann man dazu zählen. Da die Namen durch Erläuterungen eingeführt werden und ihre Bedeutungen dabei bereits bekannt sein müssen,35 kann der Unterschied zwischen einzelnen Zuordnungen von Namen zu Gegenständen nicht der der Zuordnungsregel, sondern nur der der eingeführten oder bereits bekannten Namen sein. Dieser Unterschied äußert sich in einer Verschiedenheit von Weltbeschreibungen und kann keine Einteilung der Gegenstände in „meine“ und „die eines anderen“ begründen. Denn das Wie der Gegenstände, das durch einen Satz ausgesprochen wird und ihn verifiziert, lässt sich nicht in Bezug auf das denkende Ich charakterisieren: Dieselben Regeln der Bildkonstruktion gelten für jeden einzelnen Denkenden, und zwei Beschreibungen der Welt können nicht nur verschieden sein, sondern auch zusammenfallen. Die Unterscheidungen zwischen einzelnen Weltbeschreibungen gehen auf (materielle) Umstände deren Zustandekommens zurück und sind als solche aufhebbar. Wenn aber die Erfahrung als „meine“ nicht in Hinblick auf das, wovon sie möglich ist, bezeichnet werden kann, stellt sich die Frage, ob das Verhältnis zwischen der Erfahrung und der Logik die Anwendbarkeit dieser Bezeichnung auf die Erfahrung erklären oder widerlegen kann. Die Logik ist nach Wittgenstein vor der Erfahrung, so dass die Erfahrung, die ihren Ausdruck in einer Beschreibung der Tatsachen hat, logisch geformt sein muss. Wenn die Logik jedoch unabhängig von der Erfahrung verstanden wird, erhebt sich die Frage nach dem „Ort“ des Verstehens der Logik. Dieser Ort ist in dem Sprachgebrauch, der im Tractatus nicht als Erfahrung oder ihre Komponente definiert ist, zu suchen. Darauf weisen Wittgensteins Ausführungen über die Trennung zwischen Zeichen und Symbolen36 und über die Logik hin, die als Gesamtheit der Gesetze der sinnvollen Bezeichnung einer Gesamtheit der logischen Sätze oder Notations- und Deduktionsregeln entgegengesetzt werden kann. Der Satz, der ein im Denken konstruiertes Bild ist und dessen Form die logische Form ist, ist für Wittgenstein eine Tatsache, die er auf ihre Möglichkeit hin hinterfragt. Damit wird auch die Frage nach der Möglichkeit des Denkens gestellt. Den Grund
34 Vgl. TLP 4.014. 35 TLP 3.263. 36 Siehe z. B. TLP 3.326.
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für diese Möglichkeit sieht Wittgenstein in „dem Prinzip der Vertretung von Gegenständen durch Zeichen“37 oder in der Existenz der abbildenden Beziehung.38 Die Gültigkeit dieses Prinzips zeigt sich in der bezeichnenden Funktion der Zeichen sowie in der Mannigfaltigkeit der Bezeichnungsweisen „unserer Umgangssprache“. Auch die Vereinbarung einer logischen Notation nimmt Bezug auf diese Sprache, die als Quelle unserer Kenntnisse von Zeichenbedeutungen39 und unserer Begriffe von Symbolen verschiedener Arten40 fungiert. Dieser Zusammenhang zwischen der Logik und der Umgangssprache bestimmt die eigentümliche Stellung der Logik in Wittgensteins Auffassung des Denkens. Für Descartes ist die Logik nur ein methodisches Mittel, das zur Begründung der Gewissheit der Existenz der denkenden Substanz und zur Beschreibung der Welt verwendet wird. Das Letztere gilt, sofern eine Ableitung der Gegenstände des Denkens aus den Gegenständen, deren Existenz nicht angezweifelt wird, als eine Beschreibung der Welt bezeichnet werden kann. Für Wittgenstein ist die Logik, die in ihren Sätzen formale Eigenschaften der Sprache und der Welt zeigt,41 auch ein Mittel der Beschreibung der Welt. Was er „Sprachlogik“42 nennt und als System von Gesetzen und Regeln, nach denen sich die sprachliche Symbolisierung richtet, versteht, ist ein Moment der abbildenden Beziehung, das vor allem den geregelten Charakter des Bezugs der Zeichen auf Gegenstände sichert. Der Begriff dieser Logik fungiert deswegen als eine Komponente der Begründung der Möglichkeit des Denkens. Die Kenntnis von der Logik der sprachlichen Bezeichnung entspringt dem Gebrauch der als „meine“ bezeichneten Sprache und ist eine der Bedingungen, unter denen die Welt und ihre Ordnung erkennbar sind. Durch die Bezeichnung „meine“ wird die Sprache und wird ihre Logik als Apriori der Erkenntnis definiert. Die Erfahrung, die logisch geformt ist, ist sprachlich geformt: Die Sprache bestimmt, was man als einen Gegenstand (wieder-)erkennt und wie man ihn von einem anderen trennen oder in eine Beziehung zu diesem setzen kann. Die Bestimmtheit der durch sie vollzogenen Einteilungen und Zusammensetzungen erhält die Erfahrung somit von der Sprache. Darüber hinaus wird die Erfahrung (wie die Welt z. B. gesehen wird) in dieser Sprache festgehalten und durch sie weitergegeben. Diese Abhängigkeit der Erfahrung von der Sprache ist das, was die Bezeichnung „meine“ in Bezug auf die Erfahrung meinen kann. Diese Bezeichnung bedeutet
37 TLP 4.0312. 38 TLP 2.1513. 39 TLP 3.263. 40 Vgl. TLP 5.555. 41 TLP 6.12. 42 TLP 4.002.
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nicht das Gleichsetzen der Erfahrung mit der Bekanntschaft mit konkreten Gegenständen, sondern sie bezieht eine konkrete Form einer einzelnen Realisierung der ersteren auf die Gesamtheit der ordnenden Instrumente der Sprache und somit auf das, was in der Terminologie der Philosophischen Untersuchungen zu der menschlichen Lebensform gehört43 und geteilt wird. Wenn man die Erfahrung als meine bezeichnet, behauptet man, dass die Erkenntnis einer bestimmten vor der Beschreibung gegebenen Form der sprachlichen Auffassung der Welt folgt. Wird die Welt als meine bezeichnet, wird sie als durch die Sprache geordnet und deshalb erkennbar charakterisiert. Das „Mein“-Sein hat keinen Gegensatz wie das „Einesanderen“-Sein und bedeutet in Bezug auf Sprache, Erfahrung, Welt Verschiedenes. Zusammenfassend kann man sagen, dass alles Denken nach Wittgenstein außer Gegenständlichkeit eine weitere Bestimmung hat: Es wird sprachlich ausgedrückt, und sein Ausdruck wird nach Regeln und Gesetzen der „Sprachlogik“ gestaltet. Diese Bestimmung des Denkens definiert es als eine geregelte Konstruktion von Bildern der Tatsachen. Die Voraussetzungen des Denkens – seine Gegenständlichkeit und Sprachlichkeit – sind Bestandteile der Forderung nach der Existenz der abbildenden Beziehung zwischen Sprache und Welt. Die sich auf diese Prinzipien gründende Theorie bildet eine Alternative zur Cartesischen Auffassung des Ich und dessen Beziehung zur Welt, sofern sie nicht das denkende Ding, sondern die Funktionen des Denkens bestimmt. Das Denken lässt sich nach Wittgenstein anders denn als Eigenschaft oder Beziehung einer Substanz charakterisieren. Folglich ist sowohl die Behauptung über den Solipsismus Wittgensteins als auch die Annahme, dass er diesen Solipsismus überwinden kann, problematisch. Man kann dennoch vom Transzendieren der Erfahrung, die wie im Tractatus definiert ist, sprechen, wenn dieses Transzendieren als Verstehen der „Sprachlogik“ aufgefasst wird.
43 In dieser Hinsicht weist meine Auffassung Parallelen zum Gesichtspunkt Frenchs auf, der die Meinung vertritt, dass der Begriff der Lebensform der Philosophischen Untersuchungen mit dem Begriff des metaphysischen Ich des Tractatus vergleichbar ist. Siehe Peter A. French, „Wittgenstein’s Limits of the World“, in: Stuart Shanker, Ludwig Wittgenstein. Critical Assessments 1, London/Sydney/Dover/New Hampshire 1986, S. 185-201.
Siglenverzeichnis der Werke Wittgensteins
BEE
The Bergen Electronic Edition, Oxford 2000.
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Bemerkungen über die Grundlagen der Mathematik, in: Werkausgabe, Band 6, Frankfurt am Main 1984.
BLB
Das Blaue Buch, übersetzt von P. von Morstein, in: Werkausgabe, Band 5, Frankfurt am Main 1984. Original: The Blue Book, in: The Blue and Brown Books, Oxford 1958, 1972.
BRB
Das Braune Buch, übersetzt von P. von Morstein, in BRB; Original: The Brown Book, in: The Blue and Brown Books, Oxford 1958, 1972.
BPP
Bemerkungen über die Philosophie der Psychologie, Band I und II, in: Werkausgabe, Band 7, Frankfurt am Main 1984.
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Denkbewegungen. Tagebücher 1930-1932, 1936-1937, Zwei Bände, hrsg. von Ilse Somavilla, Innsbruck 1997.
LS
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NFL
Wittgenstein’s Notes for Lectures on „Private Experience“ and „Sense Data“, hrsg. von Rush Rhees, in: Philosophical Review 77 (1968), pp. 275-320, deutsch: Aufzeichnungen für Vorlesungen über „privates Erlebnis“ und „Sinnesdaten“, in: Joachim Schulte (Hg.), Ludwig Witgenstein, Vortrag über Ethik und andere kleine Schriften, Frankfurt am Main 19989, S. 47-100.
PG
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292 | S IGLENVERZEICHNIS
PU
Philosophische Untersuchungen, in: Werkausgabe, Band 1, Frankfurt am Main 1984.
PU II
TS 234, in den PU als „Teil II“ abgedruckt.
TLP
Tractatus logico-philosophicus, in: Werkausgabe, Band 1, Frankfurt am Main 1984.
TB
Tagebücher 1914-16, in: Werkausgabe, Band 1, Frankfurt am Main 1984.
ÜG
Über Gewissheit, in: Werkausgabe, Band 8, Frankfurt am Main 1984.
VB
Vermischte Bemerkungen, in: Werkausgabe, Band 8, Frankfurt am Main 1984.
WWK
Wittgenstein und der Wiener Kreis, in: Werkausgabe, Band 3, Frankfurt am Main 1984.
Z
Zettel, in: Werkausgabe, Band 8, Frankfurt am Main 1984.
Autorinnen und Autoren
Chantal Bax received her PhD from the University of Amsterdam. In her dissertation, which has been awarded the Praemium Erasmianum Research prize, she placed Wittgenstein’s later writings in the context of the debate about the so-called death of man. Upon finishing her PhD, she spent two years in the US as a postdoc, visiting Johns Hopkins University and The New School for Social Research to work on Cavell. She is currently working on a project about community in both Levinas and Nancy at the Radboud University Nijmegen, for which she received an NWO Veni grant. Her main publications include: 2013: “Reading On Certainty through the lens of Cavell: Scepticism, dogmatism and the ‘groundlessness of our believing’”, in: International Journal of Philosophical Studies Vol. 21, No. 4, pp. 515-533 2011: Subjectivity after Wittgenstein. Wittgenstein’s post-Cartesian subject and the ‘death of man’. London: Continuum/Bloomsbury Jens Kertscher, Dr. phil., Studium der Philosophie und Romanistik in Köln, Florenz, Tübingen und Heidelberg. Promotion in Heidelberg. Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Philosophie der TU Darmstadt. Arbeitsgebiete: Sprachphilosophie und Handlungstheorie, insbesondere Bedeutungstheorien, Probleme der Normativität und der praktischen Rationalität, Philosophie der Praxis und des Handelns. Historische Interessen: Philosophie des 18. bis 20. Jahrhunderts (Empirismus, Pragmatismus und Neopragmatismus, analytische Philosophie); Autoren und Autorinnen: Aristoteles, Hume, Kant, Frege, Wittgenstein, Dewey, Anscombe, Davidson. Mitherausgeber der Reihe WITTGENSTEINIANA. Zuletzt erschien: Handeln – Sind wir Menschen rational? (Gem. mit Hans Werbik 2014) sowie Lebensform und Praxisform (Hg. gem. mit Jan Müller 2015). Sandra Markewitz, Dr. phil., wurde mit einer Arbeit über das Schweigen promoviert (Stipendium des Stifterverbands für die Deutsche Wissenschaft) und lehrt
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Philosophie an der Universität Vechta. Arbeitsschwerpunkte: Wittgenstein, Philosophie der Sprache (im Vormärz), Schweigen, Ethik und Ästhetik. Letzte Veröffentlichungen: (als Hg.): Jenseits des beredten Schweigens. Neue Perspektiven auf den sprachlosen Augenblick, Bielefeld 2013; (als Hg.): Philosophie der Sprache im Vormärz, Reihe: Vormärz-Studien, Bielefeld 2015; Sprache und Bedeutung im 19. Jahrhundert. Überlegungen mit Otto Friedrich Gruppe und Conrad Hermann, in: Archiv für Begriffsgeschichte, Band 56 (2014), Hamburg 2015, S. 107-130; (als Hg. mit Detlev Kopp): Anarchismus in Vor- und Nachmärz, Jahrbuch des Forum Vormärz Forschung, Bielefeld 2017. Katalin Neumer (1956-2015) war Präsidentin der Ungarischen Wittgenstein-Gesellschaft und Leiterin der Forschungsgruppe für Sprachphilosophie und Wissenschaftstheorie am Philosophischen Institut der Ungarischen Akademie der Wissenschaften, Budapest. Zu ihren Veröffentlichungen gehören: Die Relativität der Grenzen. Studien zur Philosophie Wittgensteins (dt. 2000); Traditionen Wittgensteins (2004); als Hg. (mit Volker Munz): Sprache-Denken-Nation. Kultur- und Geistesgeschichte von Locke bis zur Moderne (2005) u. v. a. Mariele Nientied – Studium der Philosophie und Literaturwissenschaften in München; Promotion im Rahmen des Graduiertenkollegs „Repräsentation Rhetorik Wissen“ an der Europa-Universität Viadrina in Frankfurt an der Oder; postdoctoral fellow an der Johns Hopkins University in Baltimore (USA) und New York University; Habilitation an der Universität Frankfurt an der Oder, venia legendi in Philosophie. Buchpublikationen: Kierkegaard und Wittgenstein. „Hineintäuschen in das Wahre“, Kierkegaard Studies Monograph Series Band 7, Berlin/New York (de Gruyter) 2003. Reden ohne Wissen. Apophatik bei Dionysius Areopagita, Moses Maimonides und Emmanuel Levinas. Mit einem Exkurs zu Niklas Luhmann, Reihe: ratio fidei, Band 42, Regensburg (Pustet) 2010. Ulrich Richtmeyer hat Freie Kunst an der Bauhaus-Universität Weimar (Diplom 1998) und Philosophie an der Humboldt-Universität zu Berlin studiert. Dort 2006 Promotion in Philosophie mit der Arbeit Kants Ästhetik im Zeitalter der Photographie (2009). Von 2007 bis 2010 Wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Universität Potsdam am Lehrstuhl von Dieter Mersch, Institut für Künste und Medien (Projektstelle „Wittgensteins Bilddenken. Epistemik und Theorie der Bildlichkeit“), 2010 Forschungsmitarbeiter des NFS Eikones in Basel im Modul „Entwurf“, 2011 bis 2012 Research-Fellow am IKKM Weimar im Rahmen des Programms „Werkzeuge des Entwerfens“. Er vertrat von Oktober 2013 bis März 2015
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die Professur für „Visuelles Denken und Wahrnehmen“ an der Universität Potsdam, Europäische Medienwissenschaften. Forschungsschwerpunkte in Philosophie, Bildtheorie, Ästhetik und Medienwissenschaften. Jetzt Professor im Lehrgebiet Medienkulturarbeit an der Fachhochschule Potsdam mit den Schwerpunkten Philosophie, Bildtheorie und Medienwissenschaft. Aktuelle Publikationen: Bild und Geste. Figurationen des Denkens in Philosophie und Kunst; herausgegeben mit Fabian Goppelsröder und Toni Hildebrandt (2014) und: PhantomGesichter. Zur Sicherheit und Unsicherheit im biometrischen Überwachungsbild, Herausgabe (2014). Ilse Somavilla, geb. in Fulpmes/Tirol, Studium der Philosophie, Psychologie, Pädagogik, Anglistik und Amerikanistik, Dissertation über Ludwig Wittgenstein. Seit 1990 freie Mitarbeiterin am Forschungsinstitut Brenner-Archiv der Universität Innsbruck. Lehraufträge am Institut für Philosophie in Innsbruck und in Klagenfurt, Forschungsaufenthalte am Wittgenstein–Archiv der Universität Bergen. Mehrere Editionen, u. a.: Denkbewegungen. Tagebücher 1930-1932/1936-1937 (Haymon 1997); Licht und Schatten (Haymon 2004); Wittgenstein-Engelmann. Briefe, Begegnungen, Erinnerungen (unter Mitarbeit von Brian McGuinness) (2006); Wittgenstein und die Antike (gemeinsam mit James M. Thompson (Parerga 2012); Begegnungen mit Wittgenstein: Ludwig Hänsels Tagebücher 1918/19 und 1921/22 (Haymon 2012); Hermine Wittgenstein: Familienerinnerungen (Haymon 2015). Zahlreiche Vorträge und Artikel zur Philosophie Wittgensteins. Elena Tatievskaya studierte Philosophie und Logik an der Staatlichen Universität Leningrad in Russland, promovierte 1994 am Institut für Philosophie der Russischen Akademie der Wissenschaften in Moskau und habilitierte 2003 an der Universität Augsburg, wo sie seit 2004 als Privatdozentin lehrt. Zu ihren Forschungsinteressen gehören analytische Philosophie, Logik, Theorien der Erkenntnis als Symbolisierung (Gätschenberger, Cassirer), Frege, Russell, Moore und Wittgenstein. Zu den wichtigsten Publikationen gehören die Bücher „Russells Universalientheorie“ (2002), „Der Begriff der logischen Form in der analytischen Philosophie. Russell in Auseinandersetzung mit Frege, Meinong und Wittgenstein“ (2005) und „Wittgenstein über das Verstehen“ (2009). Anja Weiberg, geb. 1968, Studium der Germanistik und der Philosophie, Ass.Prof. am Institut für Philosophie der Universität Wien; Schwerpunkte Sprachphilosophie, Ethik und Angewandte Ethik.
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Björn Vedder
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