Auf dem Weg in die Moderne: Deutsche und österreichische Literatur und Kultur 9783110315011, 9783110314892

This work presents a collection of essays about German and Austrian literature and culture from the 18th century to the

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German Pages 304 Year 2013

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Table of contents :
Vorwort
I. Romantik — Die erste Moderne
Sex, Romance, and Love in the City: Women Writers and German Cities Around 1800 in Sophie Mereau’s Short Stories “Marie” and “Die Flucht nach der Hauptstadt”
„Die gebrechliche Einrichtung der Welt“. Family, Freedom, and Security in Heinrich von Kleist’s “Die Verlobung in St. Domingo”
„Von dem Kinde das alles verschenkte“. Arnims Bearbeitung von Märchen, Sage und Mythos in „Die drei liebreichen Schwestern und der glückliche Färber“
E.T.A.Hoffmanns Serapions-Brüder in Karl Gutzkows Neuen Serapionsbrüdern Intertextuelle Bezüge
II. Österreich: Tradition und Innovation
„Meine eigentliche Göttin, die Kunst“. Zum frühzeitigen Abbruch Franz Grillparzers Selbstbiographie
„Habe die Ehre!“ Schnitzlers Novellen „Die Toten schweigen“ und „Leutnant Gustl“ alla Schopenhauer
Femme Orientale at the Viennese Fin-de-Siècle. Hugo von Hofmannsthal’s Semiramis and Gustav Klimt’s Judith
Franz Werfels Die Vierzig Tage des Musa Dagh
Lernet-Holenia contra Marxism. Galicia and the Literary Habsburg Myth in Andrzej Kusniewicz‘s Krol obojga Sycylii (The King of the Two Sicilies)
An Austrian Literary Tradition in Visual Form. Viennese Fin-de-Siècle Reflections in the Films of Billy Wilder
III. Satire, Polemik und Politik
Der Satiriker in der Krise. Erich Kästners Fabian
„die zusehende Frau, die aber alles empfindet“. Humanitäre Zeugenschaft in Käthe Kollwitz’ Tagebüchern und ausgewählten Kunstwerken
Ignorance as Insight. A Reconsideration of Milan Kundera
Deutsche Geschichte in den USA. The Wende Museum and the Archive of the Cold War
Autorenverzeichnis
Register
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Auf dem Weg in die Moderne: Deutsche und österreichische Literatur und Kultur
 9783110315011, 9783110314892

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Auf dem Weg in die Moderne

Auf dem Weg in die Moderne Deutsche und österreichische Literatur und Kultur

Herausgegeben von Roswitha Burwick, Lorely French und Ivett Rita Guntersdorfer

DE GRUYTER

ISBN 978-3-11-031489-2 e-ISBN 978-3-11-031501-1 Library of Congress Cataloging-in-Publication Data A CIP catalog record for this book has been applied for at the Library of Congress. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2013 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Druck: Hubert & Co. GmbH & Co. KG, Göttingen ♾ Gedruckt auf säurefreiem Papier Printed in Germany www.degruyter.com

Für Wolfgang Nehring In Memoriam

Vorwort „Der Dichter ist der Gestalter und Bewahrer aus innerer Notwendigkeit.“ Arthur Schnitzler

Der vorliegende Band, seit zwei Jahren in Vorbereitung, war gedacht als Geschenk zum 75. Geburtstag unseres Doktorvaters Wolfgang Nehring. Am 15. November dieses Jahres wollten wir ihn mit unserem Geschenk überraschen, das nicht nur unsere Arbeit, sondern auch seinen langjährigen Einfluss auf uns alle darstellt. Unsere sorgfältig vorbereitete Freundschaftsgeste wurde jedoch durch den unerwarteten Tod unseres Lehrers zunichte gemacht. Am 3. Januar diesen Jahres ist Wolfgang Nehring unerwartet aus dem Kreis seiner Familie und seiner Freunde geschieden; sein plötzlicher Tod hat uns alle tief berührt. Nun wird der Band ein Zeichen unserer Freundschaft, den wir Wolfgang Nehring In Memoriam widmen. Die Vielfalt der Beiträge zeigt nicht allein unsere breitgefächerten Forschungsgebiete, sie ist auch ein Zeugnis der intellektuellen Größe eines Lehrers, der seine Studentinnen und Studenten für die deutsche und österreichische Literatur begeisterte und ihnen die Freiheit ließ, ihren Interessen nachzugehen und ihren eigenen Stil zu entfalten. Jedem Dogmatismus und jedem gerade aktuellen Theoriedesign abgeneigt, plädierte Nehring stets für eine genaue Analyse des literarischen Textes, die, eingeordnet in den historischen, sozialen, philosophischen und psychologischen Kontext, den Zugang zu Autor und Werk schaffte und ihre Relevanz garantierte. Nehrings Lebenswerk umfasste Untersuchungen zur deutschen und österreichischen Literatur vom späten achtzehnten Jahrhundert bis in die neueste Gegenwart, aber auch zum Dokumentartheater und zur Kriegsliteratur. Das Wende-Museum in Culver City, das um die Erhaltung ostdeutschen und osteuropäischen Kulturguts bemüht ist, fand seine besondere Unterstützung. In seinem letzten Vortrag im Oktober 2012 ging es ihm um „Thomas Manns Ästhetizismus und die Denkstruktur des Einerseits-Andererseits.“ Neben seiner Lehrtätigkeit war er bei verschiedenen akademischen Organisationen tätig, vor allem der Pacific Ancient and Modern Language Association (PAMLA), wo er häufig Vorträge hielt und Sektionen leitete. Er war Mitglied des Aufsichtsrats und von 2002–2003 Präsident der Gesellschaft. Für zahlreiche Studierende und Nachwuchs-Wissenschaftlerinnen und -wissenschaftler trat er als Mentor auf, der mit seiner Kritik und seinem Wissen seine Schützlinge unermüdlich förderte. Der vorliegende Band soll die Schwerpunkte seiner Forschung und Lehrtätigkeit in den unterschiedlichen Beiträgen nachvollziehen. Darüber hinaus wollen wir darauf hinweisen, dass es Nehring sowohl um die Bewahrung einer „klassischen Literaturanalyse“ ging, als auch um das Weiterdenken, um die

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Vorwort

Inspiration durch aktuelle Theorien und um die Thematisierung von sozialen und politischen Problemen. Forschen hieß also für ihn den Spuren der Moderne in politischen, geschlechtsspezifischen, sozialen und historischen Perspektiven nachzugehen und die komplexen Wechselbeziehungen zwischen Alt und Neu herauszuarbeiten. Entsprechend beginnt der Band mit vier Beiträgen zur Romantik, in denen die Stellung der Frau, die Ästhetisierung der politischen Situation in Haiti, die Kontroverse um Natur- und Kunstpoesie und die intertextuelle Auseinandersetzung zweier Autoren aus verschiedenen Generationen untersucht werden. Wolfgang Nehring hat mehrere Doktorandinnen inspiriert, das Thema „Frauen in der Romantik“ weiter zu erforschen. In seinem Nachwort zu Dorothea Schlegels Roman Florentin beschreibt er das späte achtzehnte Jahrhundert und das frühe neunzehnte Jahrhundert sowohl als eine höchst literarisch fruchtbare Zeit, als auch eine für Frauen skandalöse Periode. Lorely French analysiert zwei Kurzgeschichten von Sophie Mereau, „Marie“ und „Die Flucht nach der Hauptstadt“, im Zusammenhang mit der stets wachsenden Zunahme der Bevölkerungszahlen und den kulturellen Angeboten in vielen deutschen Städten zu Beginn des neunzehnten Jahrhunderts. Beide Protagonistinnen in Mereaus Geschichten erleben Abenteuer in Großstädten, wo sie erfolgreiche Schauspielerinnen werden und unabhängig und ungebunden mit Geliebten ihrer Wahl leben, bis sie am Ende eine glückliche und dauerhafte Liebesbeziehung finden. In dieser Hinsicht wird die Stadt nicht als elender, verfallender, gefährlicher Ort für alleinstehende Frauen dargestellt, wie sie öfters in der Literatur des neunzehnten und des frühen zwanzigsten Jahrhunderts gekennzeichnet wird. Stattdessen zeigen Mereaus Kurzgeschichten die Stadt als Raum, wo die Wünsche der Frauen nach selbstständigen Karrieren und Liebesverhältnissen in Erfüllung gehen können. Diese Perspektive macht Mereau zu einer modernen Autorin, deren Heldinnen auch Erfahrungen machen, die denen der modernen Protagonistinnen in Literatur und Medien ähnlich sind. Unter den romantischen Schriftstellern stand in Nehrings Vorlesungen und Seminaren Heinrich von Kleist an prominenter Stelle. In seiner Analyse von Kleists Novelle „Die Verlobung von Santo Domingo“ geht Victor Fusilero der Frage nach, wie in einer gebrechlichen und zerrütteten Welt, in der die grundlegenden Tugenden von Klugheit, Mäßigung, Tapferkeit, Gerechtigkeit und Vertrauen nicht mehr gelten, nicht allein die Sicherheit des Einzelnen, sondern auch die der Familie und damit der ganzen Gesellschaft bedroht ist. Fusilero zeigt dann, wie der Verlust der staatlichen Autorität im Moment der Krise das Versagen des Einzelnen und der Familiengruppen notgedrungen mit sich bringt und letztendlich das Streben nach humanistischen Idealen im „Wahnsinn der Freiheit“ zum Scheitern verurteilt ist.

Vorwort

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Roswitha Burwicks Dissertation zu Achim von Arnims Dramenwerk führte zu einer langjährigen Beschäftigung mit dem literarischen und naturwissenschaftlichen Werk des Dichters. In ihrem Beitrag „‚Von dem Kinde das alles verschenkte.‘ Arnims Bearbeitung des Sterntalermärchens in ‚Die drei liebreichen Schwestern und der glückliche Färber‘“ bespricht sie die zwischen Arnim und den Brüdern Grimm ausgetragene Diskussion zum Unterschied von „Natur-“ und „Kunstpoesie“. Danach ist „Kunstpoesie“ die von neueren Dichtern reflektierte Poesie und strikt zu trennen von der in mythischer Vorzeit entstandenen „Naturpoesie“. Burwicks Analyse gründet sich auf ihre in mehreren Publikationen dargelegte Theorie, dass sich Arnims Ästhetik aus seinen naturwissenschaftlichen Studien entwickelte. Da es an den Schnittstellen von individueller Erfahrung und Texten zu Wechselwirkungen kommt, die nicht nur den Schreibenden, sondern auch den Leser mit in den kreativen Akt einbeziehen, werden die Texte ständig vom Leser weitergedacht und bleiben nicht nur in der Vergangenheit, sondern auch in der Gegenwart und der Zukunft lebendig. Burwick versucht zu zeigen, dass Arnim nicht allein eine intertextuelle Verarbeitung von Volksmärchen in seiner Erzählung anstrebte, sondern die Geschichte so konzipierte, dass sie den Diskurs über die Narratologie des Märchen- und Sagenerzählens auch poetisch verarbeitete. Da Wolfgang Nehrings Forschungen ein weites und breites Spektrum umfassen, hat sein Interesse an intertextuellen Verbindungen besondere Bedeutung. Petra Liedke Konows Untersuchung der intertextuellen Bezüge in E.T.A. Hoffmanns Serapions-Brüdern und Karl Gutzkows Neuen Serapionsbrüdern folgt nicht der traditionellen Suche nach Allusionen oder Zitaten aus dem älteren Werk im Neueren. Sie hat hingegen eine textgenaue Analyse im Blick, die zu einem gründlicheren Verständnis beider Texte führt. Während bisher meist daraufhingewiesen wurde, wie sich die zwei Romane von Hoffmann und Gutzkow unterscheiden, sieht Liedke Konow eher Verbindungen. Sie argumentiert, dass beide Schriftsteller den Rahmen des Clubs und dessen Mitglieder benutzen, um zeitgenössische Verhältnisse zu kritisieren. So zeigt ihr Vergleich besondere Ähnlichkeiten positiver und negativer Künstlerfiguren. Die Auseinandersetzung mit dem Idealismus und Realismus spiegelt sich in den Metaphern „die Sonne der Nacht“ und “die Nacht der Sonne“ wider. Für den während der Gründerzeit schreibenden Gutzkow bedeute diese Metapher eine Wiedereinsetzung des Natürlichen und daher eine Affinität zu Hoffmanns romantischer Vision einer neuen Auffassung der Freundschaft, Kunst und Natur. Im Scheitern der altliberalen Vorstellungen sieht Liedke Konow Kennzeichen des Modernen der beiden besprochene Romane. Der zweite Abschnitt des Bandes vereint fünf Beiträge, die sich mit österreichischer Literatur und dem österreichischen Film beschäftigen und sowohl traditionelle als auch innovative Strömungen herausarbeiten. Dabei geht es um das Fin de Siècle (Dillmann, Guntersdorfer und Kelley), die Kriege und ihre

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Vorwort

Folgen (Jungk und Dassanowsky), sowie die Verarbeitung der Vergangenheit bei Künstlern in der Emigration (Schoenberg). Gabriele Dillmann beschäftigt sich in ihrem Beitrag mit Franz Grillparzers Selbstbiographie, die der Autor frühzeitig und aus anscheinend unerklärlichen Gründen abbrach. Dillmann sucht nach den psychologischen Faktoren, die ihn bewegten, kommentarlos mit der Niederschrift seiner Erinnerungen fast dreißig Jahre vor seinem Tod aufzuhören. Nicht nur Unsicherheit, Selbstzweifel und Vereinsamung ließen Grillparzer verstummen, sondern eine tiefe Scham und das Gefühl eines unverstandenen Autors. Bei der Suche nach Erklärungen folgt Dillmann sowohl psychoanalytischen als auch intersubjektivitätstheoretischen Ansätzen. Den Abbruch haben, wie Dillmann zeigt, jedoch auch Selbsterkenntnisprozesse beim Schreiben der Selbstbiographie herbeigeführt. Es steht außer Zweifel: Wolfgang Nehring war nicht allein von seinen Studentinnen und Studenten oder Doktorandinnen und Doktoranden, sondern auch von seinen Kolleginnen und Kollegen hochgeschätzt. Als er uns verließ, schrieb der Chair des German Departments an der University of California, Los Angeles: „I find myself unable to visualize the Department without him.“ Dennoch blieb diese Anerkennung oft unausgesprochen. Nicht, dass Nehring eine öffentliche oder persönliche Auszeichnung wünschte. „Seien Sie nicht so ehrgeizig!“ warnte er seine zu leistungsmotivierten Studentinnen und Studenten und wehrte sich gegen eine Jubiläumsfeier anlässlich seiner 40-jährigen Professur an der University of Califorina, Los Angeles. Diese Erinnerungen haben Ivett Guntersdorfer zu dem Artikel „Habe die Ehre!“ inspiriert, in dem zwei Werke aus Nehrings Hauptforschungsgebiet der Wiener Jahrhundertwende auf die Begrifflichkeiten der Ehre hin untersucht werden. Bei der Analyse der Novellen „Leutnant Gustl“ und „Die Toten schweigen“ geht Guntersdorfer der Frage nach, wie weit man Arthur Schnitzler nicht nur mit Freud oder Nietzsche in Verbindung bringen kann, sondern auch mit Schopenhauer, mit dessen Werken Schnitzler ebenso gut vertraut war. Wie der Beitrag zeigt, stand Schnitzler seiner Zeit, ähnlich wie Schopenhauer, gesellschaftskritisch gegenüber. Wie Schopenhauer veranschaulicht auch Schnitzler, wie hohl der Ehrbegriff unabhängig von Geschlechtsdifferenzen geworden ist — auch wenn das Festhalten an der Ehre bei Frauen und Männern um 1900 unterschiedliche soziale Hintergründe hatte. Guntersdorfer deutet mit ihrer Arbeit auf Parallelen hin, die auch Nehring bei seiner Ablehnung eines wissenschaftlichen Dogmatismus beschäftigte: So wie Schnitzler kein Freudianer war, kann man ihn auch bei weitem nicht als Vertreter von Schopenhauers Misogynie verklären. In seinen Schriften und Vorträgen versuchte Wolfgang Nehring literarische Werke lebendig und modern darzustellen. Susanne Kelley verwendet seine Bemerkungen aus dem Aufsatz über Peter Altenbergs Ashantee über die künstle-

Vorwort

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rischen und literarischen Tätigkeiten im Fin de Siècle Wiens als Anlass zu einer neuen vergleichenden Interpretation von Hugo von Hofmannsthals Semiramis und Gustav Klimts Judith. Kelley zeigt, inwiefern Hofmannsthal und Klimt die beiden orientalisierten weiblichen Figuren darstellten, um Wien neu zu interpretieren. Der Blick nach außen fand bei beiden Autoren intellektuelle und geistige Inspiration im Nahen und Fernen Asien. In dieser Hinsicht unterschieden sich Hofmannsthal und Klimt von anderen Schriftstellern und Künstlern, die entweder in anderen europäischen Städten nach Vorbildern suchten und der Habsburger Monarchie und deren Kulturhauptstadt Wien kritisch gegenüber standen. In seiner Besprechung von Werfels Die vierzig Tage des Musa Dagh weist Peter Stephan Jungk darauf hin, dass der Autor in seiner Darstellung einen der ersten großen Völkermorde, den ungeheuerlichen Vernichtungsfeldzug der Nationalsozialisten gegen die Juden, vorgeahnt zu haben scheint. Jungk dokumentiert Werfels ausführliche Recherchen von Primärquellen zu seinem Roman während und nach seiner Nahostreise zu Beginn des Jahres 1930. Das 1933 publizierte Buch wurde zunächst kontrovers diskutiert, da die Parallelen zwischen jungtürkischem und nationalsozialistischem Gedankengut offensichtlich waren. Heute zählt dieser historische Roman zu den Klassikern der Weltliteratur. Robert Dassanovskys Essay führt uns zu der Schnittstelle von Literatur und Geschichte. Am Beispiel von Andrej Kusniewicz’s Roman Krol obojga Sycylii zeigt Dassanovsky eine literarische Bewegung der 1970er und 1980er Jahre, in der es darum ging, den Mythos des „Austro-Galicianischen Transnationalismus“ und das Ideal von „Mitteleuropa“ als eine Form von Patriotismus in dem kommunistischen Polen aufrecht zu erhalten. Die Technik von Kusniewicz, Texte und Themen österreichischer Autoren, u.a. von Lernet-Holenia, in seinem Roman zu verarbeiten, deutet auf Polens Verbindung zu der Geschichte der Österreichischen Monarchie. Für Dassanovsky entsteht durch diese Intertextualität eine besondere Vergangenheitsbewältigung, die als Kampf gegen die Gegenwart dient, und 1914 zu einer Art „Zukunftsbewältigung“ macht. Das kulturelle Leben in Wien war stets ein faszinierendes Thema für Wolfgang Nehring. So geht Barbara Schoenberg in ihrem Aufsatz den Einflüssen Wiens auf Billy Wilders Filme nach. Da Wilder selbst diesen Einfluss verneinte, hat sich die Forschung in der Regel auf die Zeit konzentriert, die er in Berlin oder den USA verbrachte. Im Gegensatz dazu findet Barbara Schoenberg mehrere Spuren von Wilders früheren Wiener Jahren in seinen Filmen: Es geht ihr um die Beschäftigung mit der Sprache, der Darstellung gegensätzlicher Extreme und den Niedergang alter Traditionen. Wortspiele, Dialoge, narrative Strukturen und besonders die Verwendung des sogenannten Memento mori in Wilders Filmen weisen auf die Einflüsse von Karl Kraus, Sigmund Freund, Hugo von Hofmannsthal und Arthur Schnitzler hin.

XII 

Vorwort

Eine Gruppe von Aufsätzen ist der deutschen Literatur — hier vor allem satirischen Texten und solchen, die die Frage nach der Humanität stellen —, gewidmet. Für Teut Deese wurde Erich Kästners Fabian bisher zu negativ beurteilt. Wenn dem Protagonisten „trübe Logik“ und „Fatalismus“, dem Autor Kästner „sachliche Fragwürdigkeit“ und „intellektuelle Defizienz“ zugewiesen wird, so verkennt das den satirischen Charakter des Werkes. Deese verteidigt sogar die dem Protagonisten zugewiesene Frauenfeindlichkeit und hebt Kästners Kritik an der Kommerzialisierung der Sexualität hervor, indem er in der Doppelmoral Fabians eine satirische Herangehensweise des Autors nachweist. Außerdem verbindet Deese die Kategorie der Sentimentalität mit der Gattung der Satire und erklärt darüber hinaus auch Kästners Beziehung zur Kulturströmung und zum Schreibstil der „Neuen Sachlichkeit“. Katharina von Hammersteins Beitrag zur ethischen Motivation und zum humanitären Aktivismus in ausgewählten Tagebucheinträgen und Kunstwerken von Käthe Kollwitz setzt das Thema zur Bedeutung der Frauen in der deutschen Kultur fort. Anhand von mehreren schriftlichen und bildlichen Beispielen weist Hammerstein auf Kollwitz’ „humanitäre Ästhetik“ in Verbindung mit verschiedenen Theoretikerinnen und Theoretikern, sowie Aktivistinnen und Aktivisten hin. Hammerstein analysiert die interdisziplinäre Debatte über die Rolle von Gefühl und Zeugenschaft bei dem Engagement um die Menschenrechte. Passagen in Kollwitz’ Tagebüchern zeigen ihre moralische Verpflichtung, denen, die humanitäre Hilfe brauchen, eine Stimme zu geben, damit sie nicht als passive Objekte angesehen werden, sondern als aktive Subjekte, die zur Besserung ihrer Lage beitragen. Schließlich zitiert Hammerstein Susan Sontags Kritik des bloßen Mitleids und zeigt, wie Kollwitz’ visuelle und schriftliche Darstellungen des Leidens zur Selbstkritik des Rezipienten beitragen. In den Kreis der Doktorandinnen und Doktoranden tritt im vorliegenden Band auch Nehrings Tochter Cristina, die — wie auch Peter Stephan Jungk — mit ihrem eher essayistischen Ton die stilistische Vielfalt der Beiträge bereichert. In ihrem Beitrag geht Cristina Nehring mit Milan Kundera zu Gericht, indem sie auf seine widersprüchliche Haltung als Schriftsteller in der Emigration verweist. Auf der einen Seite provoziere er, ohne selbst provoziert werden zu wollen; er selbst wolle Mitleid, habe jedoch die Tschechen ohne Empathie für ihre Lage einfach ihrem Schicksal überlassen. In ihrer Besprechung seines Romans Ignorance — in Gesprächen mit dem Vater vielfach diskutiert — konzentriert sie sich vor allem auf die Frage der Darstellung der weiblichen Hauptfigur, in der sie eine Selbstdarstellung Kunderas und seiner problematischen Haltung als Exilant seiner Heimat gegenüber versteht. Während sie Kunderas tiefgreifendes Erzähltalent anerkennt, kritisiert sie seine Selbstmythologisierung und -stilisierung, die — so Nehring — sein wahres Inneres kaschiere und damit unzugänglich mache.

Vorwort

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Der Band schließt mit Angela Thompsons Aufsatz über die inspirierende Geschichte des Wende Museums in Los Angeles, das Wolfgang Nehring ebenfalls durch Vorträge des Gründers Justinian Jampol in der Deutschabteilung der University of California, Los Angeles, tatkräftig unterstützte. Damit schließen wir die Festschrift mit einem Beispiel für das lebendige Interesse an deutscher Geschichte und Kultur, das der Enthusiasmus und die Energie eines Wissenschaftlers und Lehrers wie Nehring angeregt haben. Von seiner Konzeption im Studentenzimmer Jampols an der Universität in Oxford bis zu seinem Status als einmalige berühmte Institution, die 2012 ein neues zentral gelegenes Gebäude in Culver City in der Nähe von Los Angeles bekommen hat, steht das Wende Museum als Modell für das Interesse an Kultur und Geschichte der deutschsprachigen Länder schlechthin. Indem das Museum sich in Los Angeles, Wolfgang Nehrings amerikanischer „Heimatstadt“ befindet, eignet sich der Aufsatz als Schlusswort des Bandes und dessen Thema „Auf dem Weg in die Moderne.“ Wir bedanken uns bei den Schülern und Freunden von Wolfgang Nehring, die sich an unserem Band beteiligt haben, der nun als Gedenkschrift unseren Lehrer noch einmal würdigt. Uns schließen sich noch die nicht im Band vertretenen Doktorandinnen und Doktoranden an, von denen wir Britta Bothe, Raymond Burt, Andrea Kindler Garry, Anneliese Gerl, Karin Hamm-Ehsani, Janice Murray, Sybille Peniche, Silvia Rode, Monika Zollfrank Sudjian und Rebecca Thomas namentlich nennen wollen. Unser Dank gilt des weiteren Chelsea Carlson, Scripps College, die uns bei der Einrichtung des Bandes zur Seite stand, sowie Manuela Gerlof, Maria Erge und Susanne Rade, den editorischen Beraterinnen des De Gruyter Verlags, die das Gelingen unseres Buchs ermöglichten. Weiterhin unterstützte uns Walter Pape bei der Abfassung des Vorworts und des Autorenverzeichnisses. Nicht zuletzt sei auch Birgitta Zeller-Ebert gedankt, die den Band vor drei Jahren mit anregte und uns bei unserem Unternehmen unterstützte. Claremont/Forest Grove (USA)/München Roswitha Burwick / Lorely French / Ivett Guntersdorfer

Inhalt Vorwort

VII

I. Romantik — Die erste Moderne Lorely French Sex, Romance, and Love in the City Women Writers and German Cities Around 1800 in Sophie Mereau’s 3 Short Stories “Marie” and “Die Flucht nach der Hauptstadt” Victor Fusilero „Die gebrechliche Einrichtung der Welt“ Family, Freedom, and Security in Heinrich von Kleist’s “Die Verlobung in St. Domingo” 25 Roswitha Burwick „Von dem Kinde das alles verschenkte“ Arnims Bearbeitung von Märchen, Sage und Mythos in „Die drei liebreichen Schwestern und der glückliche Färber“ 41 Petra Liedke-Konow E.T.A.Hoffmanns Serapions-Brüder in Karl Gutzkows Neuen Serapionsbrüdern Intertextuelle Bezüge 65 II. Österreich: Tradition und Innovation Gabriele Dillmann „Meine eigentliche Göttin, die Kunst“ Zum frühzeitigen Abbruch Franz Grillparzers Selbstbiographie

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Ivett Guntersdorfer „Habe die Ehre!“ Schnitzlers Novellen „Die Toten schweigen“ und „Leutnant Gustl“ alla Schopenhauer 101 Susanne Kelley Femme Orientale at the Viennese Fin-de-Siècle Hugo von Hofmannsthal’s Semiramis and Gustav Klimt’s Judith

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XVI 

 Inhalt

Peter Stephan Jungk Franz Werfels Die Vierzig Tage des Musa Dagh

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Robert Dassanowski Lernet-Holenia contra Marxism Galicia and the Literary Habsburg Myth in Andrzej Kusniewicz‘s Krol obojga Sycylii (The King of the Two Sicilies) 159 Barbara Schoenberg An Austrian Literary Tradition in Visual Form Viennese Fin-de-Siècle Reflections in the Films of Billy Wilder III. Satire, Polemik und Politik Teut Deese Der Satiriker in der Krise Erich Kästners Fabian

189

Katharina von Hammerstein „... die zusehende Frau, die aber alles empfindet“ Humanitäre Zeugenschaft in Käthe Kollwitz’ Tagebüchern und ausgewählten Kunstwerken 215 Cristina Nehring Ignorance as Insight A Reconsideration of Milan Kundera

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Regine Angela Thompson Deutsche Geschichte in den USA The Wende Museum and the Archive of the Cold War Autorenverzeichnis Register

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Romantik Die erste Moderne

Lorely French

Sex, Romance, and Love in the City: Women Writers and German Cities Around 1800 in Sophie Mereau’s Short Stories “Marie” and “Die Flucht nach der Hauptstadt” Clearly, women’s interactions with the city have been multifarious and varied, and interpretations of their experiences often depend on historical, social, and economic contexts, as well as the individual women’s backgrounds. The extremely popular American television series Sex and the City, for example, which ran from 1998 to 2004, presents the challenges and struggles that women encounter in the large cosmopolitan setting of New York City, but ultimately depicts positive images of women’s experiences in the metropolis showcasing well-educated, witty, savvy, independent women who control their own sexuality. Likewise, the inner thoughts of Jessica in Marlene Streeruwitz’s bestselling 2004 novel Jessica, 30 as she jogs through Vienna express frustration with her affair with a married politician, but the city — which forms the backdrop for the stories she recounts as inner monologues as she runs along the Danube Canal — allows her eventually to take the matter into her own hand. Such images contrast with those in several works by female writers and artists in the 1920s, who, as Katharina von Ankum asserts in the introduction to her collection of critical essays on women in the metropolis in Weimar Culture, portray “a characteristic emphasis on the stressful rather than liberating aspects of women’s experience in the modern city.”¹ Undoubtedly, the more stories one reads, the less one can generalize about the effect that cityscapes can have on women’s lives and actions. In the early 1800s cities such as Berlin, Jena, Weimar, Frankfurt, and Heidelberg, to name a few, became fertile grounds for women’s expanded literary and cultural activities. My essay concentrates on two popular short stories by Sophie Mereau that deal directly with women, sexual exploits, and the city, namely, “Marie,” published in 1798, and “Die Flucht nach der Hauptstadt,” published in 1806. Both pieces offer rich material by which to explore early literary images of what Janet Levarie Smarr and Daria Valentini call “the imagined city.”² The

1 Ankum, p. 2. 2 Janet Levarie Smarr and Daria Valentini talk about analysis of “the imagined city: the city as it is ‘decoded’ to reveal its symbolic orders and invisibly marked boundaries for women or for women of a certain class, the utopian visions of a place of emancipation and dystopian visions

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 Lorely French

protagonists in both Mereau’s stories consciously decide to build a new life in the city after growing up in non-cosmopolitan centers. Maria, who spends her younger years in an isolated country house and the protagonist of “Die Flucht nach der Hauptstadt,” who is raised in a small town, thereby construct their own socially and financially independent lives later in life in the city, lives built on pre-marital sensuous encounters. Mereau writes from the perspective of a female author experiencing the growing cityscape and its itinerate gendered norms as they relate to space, sexuality, and the erotic. Before analyzing these two stories, however, I wish to examine various recent studies in architecture, sociology, and urban planning as well as demographic research on German cities to investigate the impact that city spaces have had on women’s lives. Some of the questions I ask in my subsequent reading of “Marie” and “Die Flucht nach der Hauptstadt” are: What connection exists between women, sexual relations, and the city in the two stories? What images and discourse does the city inspire that allow the female protagonists to express intimate feelings at a time when social norms and biological realities still restricted women’s sexuality? In what way does the city shape women’s sexuality, and, conversely, how do the female protagonists contribute to the formation of their urban environments? As some historians and architects have pointed out, urbanization in eighteenth- and nineteenth-century Europe was remarkable in terms of both quantity and quality as cities in general began to acquire new social spaces. Changing notions of human bodies accompanied transformation and growth of spaces, as articulated by Thomas Laqueur in his Making Sex: Body and Gender from the Greeks to Freud. Laqueur sees the birth of two modern opposite sexes as concomitant with “Enlightenment political theory [and] the development of new sorts of public spaces.”³ Gendered analyses of space, place, and the city show an emerging nineteenth-century domestic ideology that, as Eileen Green writes in her article on women and leisure, “inscribed the place of women within private (female) places and men within public (male) places and legitimized the ideological exclusion of unescorted women from the city.”⁴ By the mid-nineteenth century, literature increasingly contained images of the flâneur — a male figure who traverses the cityscape with an acute attention to images, often inspired to record his observations and engage in adventures. Charles Baudelaire and Walter

of a place of contagion, the feelings of anonymity (welcomed or frightening) and of communal belonging made possible by different ways of living the urban life“ (p. 9). 3 Laqueur, p. 11. 4 Green, p. 149.

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Benjamin, champions of analyzing the flâneur, trace his footsteps only in the male form. No direct female equivalent exists, except the more awkwardly formulated “female flâneur” or “flâneuse,” or “woman walker.”⁵ Eileen Green’s gendered separation of the private from the public spheres builds on earlier, so-called second-wave feminist studies of the 1970s and 1980s. In such investigations, the contrasts between life in the city and that in the country and nature fit well into an overarching dichotomy between public and private spheres, a split that aided in defining well-demarcated gender roles as well. According to often-cited studies by Barbara Duden, Silvia Bovenschen, and Karin Hausen, to name a few scholars who concerned themselves specifically with the German-speaking realm, the public sphere encompasses the life of politics, intellectual pursuits, work, and culture, whereas the private entails the domestic, household, and family. In such a schema, males appear to play leading roles in the city, representing the epitome of flourishing public life, whereas females figure prominently in nature and less cosmopolitan situations such as villages in the countryside.⁶ Such second-wave feminist research has been helpful in understanding women’s and men’s roles, and frequently applies to certain situations and theories advanced by several eighteenth-century philosophers and writers, especially those in which women become unequivocally equated with nature and the erotic.⁷ Unfortunately, earlier feminist scholars often tended to generalize when

5 See Gleber’s essay for an analysis of “female flânerie” in the Weimar Republic, in which she also presents observations on the gendered origins of the word “flâneur” (p. 69). 6 Ruth-Ellen Boetcher Joeres provides a bibliography of the large amount of feminist work in political theory on the issue of public and private spheres (p. 267, note 17). 7 Bovenschen and Duden provide many quotes from German-speaking philosophers and writers around 1800, such as Friedrich Schlegel, Novalis, Friedrich Schiller, Kant, and Moses Mendelssohn, who advocate that women belong in the private, domestic sphere and men in the public, political sphere, as well as those that equate women with nature and men with culture. In the 1990s, feminist literary scholars began to caution against taking such quotes out of context or not considering them within the other discourses on gender that were occurring in the works of these male philosophers and writers and of female writers. In these contexts, ambiguity, contradictions, and paradoxes abound (Strand, pp. 73–94). In addition, as Joeres explains about Kant’s and Mendelssohn’s essays in 1784, in which the theme of private and public spheres surfaces, the notion of gender does not apply to their theories (p. 267, note 18). Martha Helfer calls for an “integrative reading of German Romanticism” (p. 232). While wanting to show “how gender studies is essential to the theory and praxis of Early Romanticism,” she presents a model to re-read individual texts by both male and female authors to show how both sexes developed philosophical discourses on masculinity and femininity in texts that often worked in tandem and not in contrast. Ziolkowski looks at imagery of mines and mining in works by writers in the late eighteenth and early nineteenth centuries as connected with female eroticism (pp. 49–57).

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they stressed both “the ideological and real barriers” that a system of separate gendered private and public spheres established. Further scholarly inquiry since the 1980s has revealed more complexity not reflected in any clear-cut dichotomy of the public and private spheres.⁸ Instead, many spheres may exist inside and outside of any simplistically defined public and private ones. In addition, research has shown that the so-deemed “barriers” that women may have faced in entering the public sphere could really become flourishing havens for prodigious literary and cultural activities. As evidenced from the lives of women such as Rahel Varnhagen and Bettine von Arnim in Berlin and Caroline Schlegel-Schelling, Dorothea MendelssohnSchlegel, and Sophie Mereau in Jena, the cultivation of the domestic sphere, and especially in small and large cities, did indeed help to create places for active female participation, and even resistance.⁹ In this regard, the more recent work of a circle of scholars in Jena, led by Julia Frindte, Siegrid Westphal, Katrin Horn, and Nicole Grochowina, among others, investigates what they call “Handlungsspielräume,” or the “spaces to act freely.” Many women around 1800 took advantage of such “Handlungsspielräume” in an active and positive matter in their everyday lives, despite, or perhaps as a result of gender-determined social restrictions that limited their options in politically and socially public realms. The scholars working on Jena recognize many distinct disadvantages to being a woman in this time period: certain laws forbade women from attaining a formal education outside the home in schools and the university; familial and societal pressures forced marriages based on economic grounds as opposed to love, a situation that caused discriminatory measures, including denying women any say in their choice of a husband; social stigma discriminated against unwed mothers, divorced women, and the “unmarried” older spinster; laws dictated that the father of children in divorce cases would receive custody of the children; and published treatises outspokenly denounced women’s ability to take part in political affairs, to run their own business, to write, and to publish. Especially under the Napoleonic Code of 1803–1804, as historian Bonnie Smith remarks, women experienced legal codes that stripped them “of their property, their independent right to work, the wages of their work, their civil status as plaintiffs and witnesses, custody of children, sexual autonomy, and even the right to determine where they would live.”¹⁰ Still, within the framework of these restrictions, several

8 Davidson and Hatcher, No More Separate Spheres! 9 Wolfgang Nehring, in his introduction to Dorothea Schlegel’s novel Florian, describes the early nineteenth century as both a fecund and a scandalous time for many German women writers. 10 Smith, p. 42.

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women expressed themselves in a host of creative and strategic ways, including influencing political decisions, taking part in theatrical performances, managing business and household finances, providing medical assistance, participating in family businesses and farms, running influential salon gatherings, letter-writing, translating, and publishing, often anonymously or under a pseudonym. Living in the city around 1800 was still a new, unique phenomenon, and the women and men residing in burgeoning cosmopolitan settings were in the initial throes of navigating the cityscape and negotiating social mores and expectations of new lifestyles. Even though cities in the German-speaking countries were expanding rapidly, 90% of the population most likely still lived in the countryside or in villages of less than 5,000 people; only 10% lived in cities.¹¹ Of this 10%, 47% lived in small cities of 5,000 to 10,000 inhabitants; 38% lived in mid-sized cities of 20, 0000 to 100,000, such as Breslau, Munich, Nuremberg, and Augsburg; and 15% lived in cities of over 100,000 people, including Berlin and Hamburg.¹² An ensuing phenomenon in almost all the major German cities was the growing illegitimacy rate, which, as demographic researchers suggest, indicates heightened feelings of sexual freedom and growing signs of emancipatory norms. Helga Schultz reports on the increasing number of single women and illegitimate births in Berlin beginning in the eighteenth century. This growth caused the Magistrate to issue an order in 1717 forbidding anyone to provide board to any single woman, be she a washerwoman, seamstress, or weaver, without the express consent of the Magistrate or the courts.¹³ In 1800 the illegitimacy rate in Berlin was 8.4%.¹⁴ In Leipzig and Jena the rate was more than 14%, in Dresden and Weimar 11%, in Frankfurt a. M., 11%, and in Vienna and Munich 25%. Low rates among the manufacturers dispel the stereotypical notion that the working class was the cause of any possible loose moral standards. Instead, Schultz points out that in 1800 the

11 Wehler, Vol. 1, p. 70. 12 Ibid., Vol. 1, p. 70. 13 The law required “keine ledigen Frauens-Leute, sie mögen von Schulhalten, Waschen, Nähen, Spinnen und dergleichen sich ernähren wollen, zu logieren oder zu dulden, wenn es ihnen nicht vom Magistrat oder von Gerichten specialiter nach genugsamer Untersuchung verwilliget worden.” Schultz, p. 146; cited from Küster and Müller, Altes und Neues Berlin, Bd. 4, column 205. 14 Schultz’s data are based on baptism records, which are the most accessible and consistent records of births. Thus, the 8.9% illegitimacy rate would mean that around 9 out of every 100 baptized children were illegitimate; however, there also might have been illegitimate children born who were not baptized. Another factor that she points out for the freer sexual norms was the rise in the number of bordellos. In 1796 there were 80 bordellos and 358 street prostitutes who were registered in Berlin under the police, a number that she states was equivalent to other large European metropolitan centers such as London and Paris (pp. 264–65).

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illegitimacy rate among intellectuals and civil servants was three to four times higher than that of the working class. The rate among the intellectuals and civil servants lay between 10% and 17%, well above the average. While analysts have posited various reasons for this phenomenon — the rise of the military class, the difficulty to form a family in the economically changing times, and the extended time it took to establish oneself in academia — Schultz concludes that factors of women’s emancipation could indeed be at work. Kant’s “Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit” could very well have contributed to a loosening of sexual mores.¹⁵ Likewise in Jena, where Sophie Mereau lived during her marriage to Friedrich Karl Mereau from 1793 to 1801, data reveal women at all economic levels playing central roles in the social and economic life of the city. Katja Deinhardt points out that women in all classes were paying taxes in the early 1800s, from the many maids, seamstresses, laundry personnel, and market sellers with less income, to the widows who were continuing to run their late husbands’ shops, to women who had their own businesses in selling or gastronomy.¹⁶ Granted, although Jena’s population was religiously homogenous in its Lutheran following, as a thriving university center, the city was largely socially split between town and gown. The university was mostly responsible for the high employment of service workers. But Jena, as an academic cosmopolitan center, was also highly receptive to the active social life in which women of the intelligentsia, the upper bourgeoisie, and the aristocracy engaged, a phenomenon that the city shared with Berlin, Weimar, Frankfurt, and Heidelberg. Passages from the diaries and letters of women living in these cities reveal them moving between events and important social engagements, either in carriages or on foot, thereby causing one to question any possible absolute boundary between the public and the private. Not that such movement and frequenting of public areas was always condoned, as passages in letters from men at the time demonstrate.¹⁷ The view readers have of these cities through these women’s eyes encompasses an environment that cultivated creativity through salon evenings, theater performances, and university lectures, breaking down the barriers between the

15 “So können wir doch, wenn auch sozial sehr eingeschränkt auf die bourgeoisen Schichten, einen kleinen Bereich menschlicher und somit weiblicher Emanzipation im Gefolge der Aufklärung in Berlin erkennen.” Ibid., p. 269. 16 Deinhardt, pp. 72–74. 17 Clemens Brentano, for example, in a letter to Sophie Mereau on January 10, 1803, admonishes her half ironically, half scornfully, because she had not accepted some of his poems for publication in her “Göttinger Musen-Almanach,” against writing, publishing, visiting coffee houses, driving a carriage, and going horseback riding. Brentano and Mereau, p. 104.

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public and private spaces that had long confined women. Several women became famous for their literary works and infamous for their personal lives, which were full of sex scandals, including divorce, extramarital affairs, numerous heterosexual relationships, and discourses with sexual innuendoes in their writings.¹⁸ In this light, the cityscape offered a fitting, positive backdrop for the independence and creativity that women were displaying in their lives and works, thereby representing a time in Germany when, as Karen Harvey postulates for eighteenth-century England, “Both the flesh and the city become modern.”¹⁹ One could indeed make the case that the four main independent women in Sex in the City — Carrie Bradshaw, Samantha Jones, Charlotte York Goldblatt, and Miranda Hobbs — are just modern, perhaps somewhat “fleshier” reincarnations of women like Bettine von Arnim, Rahel Varnhagen, Sophie Mereau, Dorothea Mendelssohn-VeitSchlegel, and Caroline Schlegel-Schelling.²⁰ As Schultz points out, the open, non-conjugal relationship that Dorothea and Friedrich Schlegel had could have existed one-hundred years earlier at the beginning of the eighteenth century. The main difference was that Friedrich Schlegel revealed these sensual experiences publicly in his book Lucinde.²¹ With such an analogy between modern times and those of German Romanticism, of course, one must differentiate between what was viewed as a promiscuous life style — as with Sophie Mereau, Dorothea Schlegel, and Caroline Schlegel-Schelling — and sensual writing, such as that of

18 Examples of such sexual innuendoes appear throughout Bettina von Arnim’s epistolary works, and especially her Briefwechsel mit einem Kinde and Die Günderode. 19 Harvey, p. 146. 20 Regarding the populations of various cities around 1800, many witnessed a surge in population that had begun in the early part of the eighteenth century. Berlin’s population grew phenomenally between 1800 and 1850, from 172, 000 to 419, 000 (Hubert, p. 63), carrying on a trend of the eighteenth century. Helga Schulz calculates that Berlin’s population grew from 135,000 in 1770 to 170, 000 in 1800 (p. 292). Hans-Ulrich Wehler gives Berlin’s population as 145,021 in 1784, growing to 197,717 in 1816 (Vol. 2, p. 11.) Frankfurt grew from 33,900 in 1765 to 35,100 in 1775 to 37, 068 in 1795 to 39, 204 in 1805 to 41, 458 in 1817. (Roth, p. 47.) Weimar grew quickly between the years of 1780, when it had around 6,000 inhabitants to 1829, when it had 10,000. (Moritz, p. 253.) A few cities witnessed the devastation of war, with its resulting death and emigration, causing a decline in population. In Jena, according to Katja Deinhardt, the agricultural crisis of 1770/71 and 1800/01 as well as the war years of 1806 and 1813/14 caused a decrease in population. The population dropped from 5,166 in 1770 to 4,366 in 1784 to 3,711 in 1814. After 1815, the population began to rise again so that in 1826 it reached that of the year 1770 (Deinhardt, pp. 26–28). Heidelberg’s population in 1800 was around 9,000, after a slight decrease due to the emigration of thousands of Protestant German Palatines after French invasions and severe conditions, reaching the numbers it had reached in 1693 (Heidelberger Geschichtsverein). In 1816, the population was 9, 915, and in 1839, the population was 13, 345 (Gall, p. 53). 21 Schultz, p. 269.

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Bettine von Arnim. Taken together, however, the works and lives of these women heightened the association between women writers and eroticism in the early nineteenth century. One particularly thought-provoking book on the subject of architecture and the erotic that is relevant to the choice of the protagonists in Sophie Mereau’s two stories to follow a life in the city is Alberto Pérez-Gómez’s Built Upon Love: Architectural Longing after Ethics and Aesthetics. This study examines in depth the relationship between love and architecture in order, as Pérez-Gómez states, “to find points of contact between poetics and ethics: between the architect’s wish to design a beautiful world and architecture’s imperative to provide a better place for society.”²² By leading the reader through the historical origins of eros and philia, beginning in Ancient Greco-Roman culture, and progressing through the Renaissance, the eighteenth and nineteenth centuries, then modern and postmodern times, Pérez-Gómez builds a case for perceiving architecture as the manifestation of “human space as the space of desire.”²³ Such a space allows humans to fill voids in our lives, often caused by the limits of language, to quench longings for seduction and love through a different kind of public communication. Although Pérez-Gómez is not referring specifically to the urban architectural environment, his work still gives pause for reflection on the ways in which the city as the ultimate concentration of humanly created architectural works becomes a space of desire, and ultimately an erotic space, that is, a space that both connects and separates, one that represents both the physical space of architecture and the linguistic space of metaphor as found in a poem. The mere mention of the connection between eros and physical and linguistic spaces summons up a brief discussion on the nature of discourse on sexuality as that discourse relates to women around the 1800s. As Barbara Becker-Cantarino points out in her article on discourses about female sexuality around 1800, the word “Sex” did not exist in the vocabulary of early nineteenth-century German.²⁴ The contemporary meaning of this word, connoting the act of intercourse (in contrast to “Geschlecht,” which means the biological sex), derives from the Latin “Sexus,” which transformed into words such as “Sexualtität” and “Geschlechtlichkeit.” The original usage of the words “Sex” and “Sexualität” in German stems from around 1850, namely from the medical field, and then worked its way later into the psychological and literary fields, as in the common language.²⁵

22 Pérez-Gómez, p. 4. 23 Ibid., p. 6. 24 Becker-Cantarino, “Welch eine Wollust,” p. 134. 25 “Sex/Sexualität,” Duden, p. 1446.

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As Becker-Cantarino also observes, one cannot talk about a discourse of sexuality in the writings of German women around 1800 without relaying on Foucault’s influential study on the history of sexuality.²⁶ In reference to the nineteenth century, Foucault refutes the belief that the nineteenth-century family was a totally monogamous and conjugal unit. Instead, it was “[…] a network of pleasures and powers linked together at multiple points and according to transformable relationships.”²⁷ By claiming that there was “a visible explosion of unorthodox sexualities” and a “proliferation of specific pleasures and the multiplication of disparate sexualities,” Foucault ultimately refutes the assumption that the nineteenth century ushered in an age of increased sexual repression.²⁸ Foucault, however, does not account for the social and biological realities that indeed repressed women’s sexuality around 1800 — including the lack of effective birth control methods, the stigma against women who bore children out of wedlock, and undeveloped medical practices that made pregnancy and childbirth life-threatening events in women’s lives. These realities affected women much more than men, Sophie Mereau being a classic case in point. She was pregnant six times in her life, but only her daughter by her first marriage lived to adulthood. Her son from the first marriage lived to be six years old; her first son and her daughter with Clemens Brentano lived only six weeks; she had one recorded miscarriage, and she died in childbirth. Regarding public discourse on sex, whereas there exist writings in which men talk openly about visits to brothels (such as Wilhelm Humboldt’s letter to Karl Gustav von Brinkmann)²⁹ and publish pornographic literature, as the historian Robert Darnton has analyzed in eighteenth- and nineteenth-century France, few equivalent examples exist in women’s writings. That is not to say that women did not write about sex in other, less direct ways, and yet with a discourse that would be recognizable as sexual around 1800. Foucault’s observations on a “discourse of sexuality” that evolved from the Ancient Greeks to the present times are certainly apropos when examining women’s writings in the 1800s. Women used the conventions of the time to express their sexuality, sometimes in covert manners, other times in recognizable terms. While Sophie Mereau’s two stories never contain the words “Geschlechtlichkeit,” “Sex,” or “Geschlechtsverkehr,” just as the works of most male writers

26 Becker-Cantarino, “Welch eine Wollust,” p. 135. 27 Foucault, p. 46. 28 Ibid., p. 49. 29 Wilhelm von Humboldt to Karl Gustav von Brinkmann, 9 November 1790. See Leitzmann, pp. 10–13.

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of the time would not use these words, highly sexually implicit words such as “Wollust,” “Lust,” “Lustigkeit,” “Leidenschaft,” “süße Trunkenheit der ersten Liebe,” and variations of such, abound. According to Adelung’s Grammatischkritisches Wörterbuch of 1801 and Grimm‘s Wörterbuch, by the middle of the eighteenth century, the word “Wollust” had acquired a highly erotic undertone without replacing the positive, sometimes mystical, less sexually charged attributes of the word in earlier times.³⁰ Likewise, the word “Lust,” according to Grimm and Adelung, could also carry a meaning synonymous with “Begierde” or “das Angenehme” in a sexual way. In conjunction with this connection between “Wollust” and sexuality also arose the portrayal of women as the source of unlimited desire and passion. One interesting, relevant point about the etymology of the word, as Grimm’s dictionary delineates, is that up until the mid-seventeenth century, the gender fluctuated between being masculine and feminine. In his fragments on femininity, Schlegel places “Wollust” and “Weiblichkeit” together with discourses of death: “Die Theorie des Sterbens gehört zum Roman wie die Theorie der Wollust und der Weiblichkeit.”³¹ Schlegel writes further and more strongly about this equation: ‘Die Frauen haben mehr Genie zur Wollust, die Männer treiben sie als Kunst. Die Frauen sind immer wollüstig und sinds unendlich.”³² As Mary Strand points out, when read in the context of many of his other treatises on women and femininity, Schlegel’s assertion here derives from his over-arching method of idealizing women, and not necessarily fearing them.³³ The city in Mereau’s two stories acts as the stage where the female protagonists are most able to express their sexuality in ways that play with such discourse. The reference to the theater in connection with a space where Lust and Wollust are able to manifest themselves is not a casual, unfounded one, but rather develops into a metaphor for the erotic. Thus, her two stories also support the observations of researchers such as Ruth B. Emde, Barbara Becker-Cantarino,

30 Adelung presents a main definition that may seem euphemistic in today’s language, but was most likely very clear in 1801 when it was written, namely: “die höchsten Grade jedes ungeordneten sinnlichen Vergnügens, besonders dasjenige, welches mit der Vermischung beyder Geschlechter verbunden ist” (vol. IV, p. 1610). The Grimm definition reads: “seit der mitte des 18. jh. Als bezeichnung des triebhaften (C) und in prägnant erotischer anwendung (D) begegnet wollust schon früh und durchstehend bis in die junge sprache, ohne sich in diesen bedeutungen alleingültig durchzusetzen der den positiven gebrauch des wortes völlig zu verdrängen” („Wollust,“ Deutsches Wörterbuch). 31 Schlegel, Literary Notebooks, p. 148, no. 1434. 32 Schlegel, Theorie der Weiblichkeit, p. 140. 33 Strand, p. 90.

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and Andrea Heinz who have seen the occupation of actress as one of the few artistic and intellectual areas in which women could participate and thereby find some professional economic and social independence.³⁴ At the beginning of the story “Marie,” the reader hears about a father, Anton, who has given up his life as a reputable musician to live with his daughter, Maria, as a recluse in the country.³⁵ He puts away all his instruments and bans all books from his and Maria’s life, exclaiming that his child will learn more through her own senses, than through the written word. One day, three travelers from the big city have a mishap with their carriage as they are traveling around the countryside. The group includes the worldly aristocratic woman Antonie, accompanied by the older Renaud, and the young artist entertainer Brandem. Anton helps them out in their need and lets them stay at his and Maria’s house until the wagon is repaired. In the first evening Anton decides to bring out his instruments and entertain them. Marie, who is now seventeen years old, has never seen the instruments before and becomes totally fascinated with them. The travelers eventually return to the city, and Anton hides his instruments again. One day, when Anton is away from the house, Marie decides to take out one of her father’s instruments again and runs off to nature to play. In his essay on Sophie Mereau’s portrayal of a female “Bildung,” Daniel Purdy points out the sexual innuendoes at work in the detailed description of her adventure playing the instruments in nature, and a close reading of the passage supports his suggestion.³⁶ First, Marie “flüchtete mit einer da gefundenen Laute in ein dichtes nicht fern gelegenes Gehölz, wo sie ahndungsvoll unbekannte selige Genüsse zu finden hoffte. Hier suchte sie sich eine der romantischsten, einsamsten Stellen der Gegend aus.”³⁷ One cannot help but equate the description of the landscape in which she begins to play with sexual imagery describing an encounter between female and male bodies. As Karen Harvey observes, generic conventions and cultural themes arise repeatedly in the eighteenth century, such as in the association of women’s bodies with shady enclosures and the use of

34 See Becker-Cantarino, Der lange Weg zur Mündigkeit, p. 339; Emde, p. IX; and Heinz, pp. 407– 408. Andrea Heinz concludes in her essay about the autobiographies of three actresses that women’s participation in the theater did not ultimately reflect a desire for emancipation or independence. When faced with the choice between leading a stabile, “bourgeois” family life as mother and wife and continuing their careers, the women chose the former (pp. 416–418). 35 As Joeres notes: “The dead or missing mother is a frequent topos in German literature in the eighteenth and nineteenth centuries, from eighteenth-century bourgeois tragedies on” (p. 271, footnote 27). 36 Purdy, pp. 157–160. 37 Mereau, “Marie,” p. 55.

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secret places for disguise and privacy. In what follows we find Marie in the shady recesses of the river bank, complete with a small, mossy hill (“ein kleiner bemosster Hügel”), dark trees (“eine Gruppe von dunkeln Bäumen”), a thick bush (“ein dichtes Gebüsch”), and a river flowing as if towards a lover’s open arms (“als eilte er den Umarmungen einer Geliebten entgegen”).³⁸ Within this idyllic, sexually charged setting comes the description of Marie’s playing: Hier war es, wo sich Marie verbarg, wo ihre Finger zum erstenmale die Saiten durchirrten, und mit ungewissen Versuchen jene geliebten, ihr stets gegenwärtigen Töne nachzubilden strebten. Nach einiger Bemühung gelang es ihr, eine unvollkommne Ähnlichkeit hervorzubringen, und sie vermählte bald die ungewissen Akzente ihrer biegsamen Stimme mit den Tönen der Laute. Welche Wollust, welcher nie beschriebene Genuß lag in diesen Momenten! – Das erwachte, zum erstenmal sich übende Talent ahndete mit süßem Schauer sein eigenes Dasein; seine kindliche Unerfahrenheit verbarg ihm die Grenzen der Kunst, und es betrat mit kühnem Schritt den Weg ins Unendliche!³⁹

Given the imagery of “Vermählung” between her own voice and the tones of the instrument, the “Wollust” and feelings of “Unendliche,” her experiences have definite sexual overtones, especially considering the aforementioned dictionary definitions of the time. Robert Darnton speaks of “Denkende Wollust” in erotic French literature of the eighteenth century, referring to numerous literary passages in which the sex act is coupled with ruminations on philosophy or with reading a book, or, as with Maria’s experimentation in nature, with a musical performance. In this way, as Darnton states, “war diese Erzählstrategie vollkommen sinvoll, weil sie zeigte, wie die Wollust den Weg zur Aufklärung [...] ebnen konnte.”⁴⁰ After playing her musical instrument alone in the mossy meadow, Maria experiences her own personal enlightenment, which one could claim eventually lay down a path for women’s enlightenment in general.⁴¹ While my essay here intends to focus on images of the city in relation to women’s sexuality, the above passage from “Marie” highlights the importance

38 “An dem hohen etwas steilen Ufer eines lebendigen, klaren Gewässers streckte sich sanft ein kleiner bemooster Hügel hin, den eine Gruppe von dunkeln Bäumen umgab, und vor neugierigen Blicken wie vor Sonnenstrahlen verbarg. Ein dichtes Gebüsch, begrenzte an der einen Seite den schnell gewandten Fluß, und eine weite Aussicht auf der andern verstattete der Einbildungskraft das freiste Spiel. Der Fluß strömte heiter, als eilte er den Umarmungen einer Geliebten entgegen, dem Ufer zu, aber spröde, gefühllose Klippen stießen ihn zurück, und zürnend mit sanftem Geräusch wallte er seitwärts.” Ibid., pp. 55–56. 39 Ibid., pp. 55–56. 40 Darnton, p. 14. 41 As a sidenote, considering the romantic notion of art as religion, one is reminded of the medieval female mystics where a similar sexual experience is often described.

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of imagery from nature and the countryside, which is also charged with sexual innuendos. Sensual descriptions of nature abound in women’s works in the early nineteenth century.⁴² A preponderance of nature imagery, however, does not preclude an affinity for life in the city and all the amenities that a metropolitan center might have to offer a woman curious to seek independence and adventure, and especially in love. The new sensations that Maria experiences in nature do not fully satisfy her, but only spark her longing for more in her life. Just as the first step towards enlightenment often leads to an unquenchable thirst for knowledge on the “langer Weg zur Mündigkeit” one sexual experience rarely quells future desire. The narrator describes Marie’s discontent and loneliness: Marie war nun glücklicher, obgleich nicht so zufrieden mehr, wie vormals. Eine neue Welt blühte um sie her auf, aber eine Welt voll Erinnerung, Sehnsucht, Verlangen und Wehmut. Alle ihre einsamen Stunden widmete sie nun den Versuchen, die sie immer mehr und mehr in das Feenland der Harmonie und der Gefühle hinein zauberten, bis endlich, da ihre Fortschritte merklicher wurden, sie ihre glücklichen Gefühle nicht mehr allein zu genießen vermochte.⁴³

Marie’s final ecstasy has come while she is alone and isolated in nature, causing her to pine for more companionship. In this way, her sexual experiences in nature foreshadow the ensuing contrast between nature and the city and thereby set the stage for her subsequent sexual development in the urban setting. The longing that Maria expresses here provides the first stimulus for her desire to move to the city, to hark back to Pérez-Gômez, a longing for a space of desire. The “neue Welt” of which she dreams heightens her desire to visit Antonie and her entourage in the city.

42 Bettine von Arnim offers ample examples of connecting imagery from nature with her ideas on love, poetry, philosophy, and art. See for example the first letter she writes to Goethe after meeting him, in which she compares herself to a sunflower bending towards its god and feeling his rays penetrating through her: “Nun wend ich mich wie die Sonnenblume nach meinem Gott; und kann ihm mit dem von seinen Strahlen glühenden Angesicht beweisen, daß er mich durchdringt” (Werke, vol. 5, p. 8). In advocating for a poetry that breaks away from the traditional forms and arises spontaneously and freely, she uses images of conception that add a sensual tone to the creative process: “Ich weiß wohl, daß die Form der schöne untadelhafte Leib ist der Poesie, in welchen der Menschengeist sie erzeugt; aber sollte es den nicht auch eine unmittelbare Offenbarung der Poesie geben, die vielleicht tiefer, schauerlicher ins Mark eindringt ohne feste Grenzen der Form? — Die da schneller und natürlicher in den Geist eingreift, vielleicht auch bewußtloser aber schaffend, erzeugend, wieder eine Geistesnatur?” (Werke, vol. 1, p. 449). 43 Mereau, “Marie,” pp. 55–56.

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The young artist Brandem returns, at Antonie’s request, to Anton and Marie in the country, and convinces Anton to let his daughter come to the city. His reassurance that Marie will experience no harm causes Anton to give up his fatherly protection. Marie travels back with Brandem, and at her first sight of the city she is full of awe, desire, and restlessness: Es war ziemlich spät, als sie in **** ankamen. Die erleuchteten hohen Häuser, das Getümmel auf den Straßen, alles setzte Marien in Erstaunen. Die muntere Musik eines Tamburins zog durch die Straßen, und hielt bald vor diesem, bald vor jenem Hause still. Die Töne hüpften in ihr Herz. Es war ihr, als täte sie mit einmal einen Blick in das bunte Gewühl der Welt hinein – und alles war so golden, so begehrungswert! – Sie war voll Unruhe, und wußte nicht warum?⁴⁴

The motif of music is totally appropriate here as it harks back to Marie’s isolated days in nature during her first encounters with the musical instruments. In the city, the tambourine’s sounds create a rhythm that mimics her heart’s beatings and signal the awakening of sexuality.⁴⁵ Instead of remembering her first strumming of an instrument in nature and the resulting feelings of loneliness, however, Marie is immediately excited: she is no longer alone in this space of desire. The use of the word “begehrungswert” to describe the colorful, illuminated tall houses presents a sexually charged image. When Marie arrives at Antonie’s house, she is immediately swept off to a “Maskenball.”⁴⁶ At the Maskenball she encounters yet another sexual experience, this time, however, in concert with a man called Seeberg, whom she had met at Antonie’s house: Unvermerkt hatte sich ihr Gespräch von manchen interessanten Gegenständen, auch auf Liebe gelenkt, und Marie ward unruhiger. – ‘Liebe!’ sagte sie mit schüchternem, aber

44 Ibid., pp. 60–61. 45 In way of comparison, see Angela Carter’s beginning of “The Bloody Chamber,” where the pistons of the train clearly imply such an awakening. I am indebted to Roswitha Burwick for this reference. 46 Interesting to note here is a quote from Marlene’s Streeruwitz’s Jessica 30, who points to one use of the masks in the film version of Schnitzler’s Traumnovelle: “ist das der Grund für die Masken in ‘Eyes wide shut’, der Biedermeierporno von Schnitzler weitergeträumt und national getränkt, damit man die Frau schlachten kann, damit die Frau sich vollkommen hingeben kann, sich opfern, das würden die lächelnden Biedermeierodalisken nicht tun, die waschen sich die Hände und gehen nach Hause, aber das können die Herren Schnitzler und Kubrick nicht aushalten, dass sie eine ficken und die leidet nicht daran, irgendjemand hat immer Masken auf, beim Vögeln beim Kubrick, aber sie können es bis heute nicht, es ist immer ein Problem, auf welcher Ebene sie einen kennen, kennen wollen [...]” (Streeruwitz, p. 34–5).

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unendlich süßem Blick und Ton – ‘ich weiß nicht, warum ich erschrecke, wenn ich das Wort von Ihren Lippen höre’ – Seeberg, der das schmeichelnde dieser Äußerung fühlte, küßte ihr mit Zärtlichkeit die Hand, und Marie von Neuheit, Lust und der Gewalt der jungen Neigung ergriffen und berauscht, tat in diesem trunknen Moment, was ihr Herz ihr eingab, und drückte dem jungen liebenswürdigen Schwärmer, als er sich aufrichtete, einen leichten ätherischen Kuß auf seine Lippen.⁴⁷

Behind the anonymity of the mask, Marie can live out her erotic phantasies separate from “love” — a word that frightens her. She is the one who initiates the kiss on Seeberg’s lips, sparked by sensations of human “Lust.” As Judith Garber points out in her article on anonymity in the city, time and time again, sociologists, historians, and political theorists have perceived anonymity as an inherent ideal characteristic of the urbanity. Large populations and robust public spaces do not require people to reveal any more about themselves than they choose. Still, this inherent “right to be left alone” in the city also carries with it the right to choose one’s company. For the early nineteenth-century woman, the city offered the opportunity to find a new identity and to experiment with new opportunities. To Marie, nature had offered the chance to explore her sexuality in seclusion. In the city, in contrast, she can experiment freely with others. Coupled with the anonymity of the “free space” of the “Maskenball,” where she can hide behind the mask, her freedom is even more intensified, especially since her arrival in the city coincides with the ball. In fact, the rest of the story depicts the decisions Marie makes very independently regarding her love life and career. She finds out that Seeberg is actually the secret lover of Antonie, whose family has forbidden them to marry. A kind of ménage a trois commences, whereby Marie enjoys the city in the company of Seeberg while he continues to be with Antonie: “Spazierfahrten, Schauspiel, Gesellschaft, alles hatte für sie einen wunderbaren, süßeren Reiz, den überall fand sie den Geliebten, und überall genoß sie alles durch ihn und mit ihm.“⁴⁸ The city offers Marie a backdrop for the exploits with her love. Who couldn’t say that this wasn’t an eighteenth-century version of “Sex and the City?” And indeed, what follows becomes a whirlwind of love trysts and relationships, but ones in which Marie grows through the process of making her own decisions. Her father dies, and she returns for a while to the countryside. But she eventually returns to Seeberg and decides to live together with him. The two do not talk of marriage

47 Mereau, “Marie,” p. 63. 48 Ibid., p. 68.

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in their cohabitation, and given the restrictions of late-eighteenth-century moral codes, one has to wonder how scandalous this relationship must have seemed. Antonie comes back, however, and Seeberg leaves Marie for her, only to return some time later. Marie decides to leave Seeberg when she realizes that he is still pining for Antonie. At this point, Marie also decides to enter the theatrical world on her own.⁴⁹ Brandem eventually finds Marie in the theater, playing a role under the name of Miranda. At the scene of their reunion, Wollust reoccurs, as the narrator proclaims: “Welch eine Wollust.[…]. Sie lebten nun an einem Orte”⁵⁰ (83). The place — whether in the city or the country — seems inconsequential for reliving her earlier sexual sensations. Most important is Marie’s development into an independent woman, “deren Geist nun vollkommen erwacht war, und mit sanfter Selbständigkeit ihren hellen Vorstellungen folgte, immer mehr.”⁵¹ The stress on Marie’s “sanfter Selbständigkeit” suggests the conflicting roles that women involved in the theater faced. As Heinz points out, the three actresses she investigates demonstrate in their autobiographies that a good, “bürgerliche Existenz” with a family and stability was ultimately more desirable than artistic freedom, independence, or fame. In finding a “soft independence,” Marie straddles social expectations that she will settle down with her continuing desire for independence. Having found “Achtung, Vertrauen und Freundschaft” in the city, Marie at least hints at the possibility that she does not relinquish her acting career in favor of an isolated married life. The connection between the city, sex, masks and the theater also forms a central core in Sophie Mereau’s story “Die Flucht nach der Hauptstadt.” The first-person narrator, who remains nameless, grows up in a “Mittelstadt in Teutschland.” Influenced by her father’s theatrical passion, she plays parts in his performances, a life path that was not unusual for the time.⁵² In love scenes she always has the same partner, Albino, and the two eventually turn their love scenes on stage into real life. In the meantime, however, her father has arranged for her to marry Vinzens, the son of the neighboring landed gentleman, whom the narrator finds his both physically and emotionally disgusting.⁵³ Albino and she

49 “Mit einer neuen, sonderbaren Bewegung fühlte sie zum erstenmale die Notwendigkeit, einen entscheidenden Entschluß zu fassen, und auf der Bühne des Lebens selbst eine von den Rollen zu übernehmen, die sie bisher nur in wahren oder erdichteten Darstellungen mit angenehmenr Teilnahme von andern hatte spielen sehen.“ Ibid., p. 72. 50 Ibid., p. 83. 51 Ibid., p. 83. 52 Heinz points out that most women actresses in the early nineteenth century came from theatrical families (p. 410). 53 Mereau, “Flucht nach der Hauptstadt” (p. 204).

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arrange a plan to escape her fate by going to a big city. The plan works, despite the fact that their father has eavesdropped on their conversations. Along the way, they befriend Felix, who turns out to deceive both in order to win the narrator’s heart. He tells her that Albino has been incarcerated by her father, while, at the same time, telling Albino that the narrator has been sent to a convent by her father. Albino then goes out of the picture periodically while Felix and the narrator become a couple. As with Marie, the first love scene between Felix and the narrator occurs behind masks. After attending a theater production with an actor who had captivated her attention, the narrator learns the identity of the man behind the mask: Als ich in mein Zimmer trat, sprang zu meinem Erstaunen eben der Mann, der mich auf der Bühne so sehr bezaubert hatte, mit einer Maske vor dem Gesichte und mutwilligen Gebärden auf mich zu. Seine Laune riß mich unwiderstehlich hin, und ohne zu fragen, ohne zu überlegen, fühlte ich mich von gleichem Taumel ergriffen. Unwillkürlich trat ich in die Rolle seiner Geliebten, wir gaben uns ganz der Laune des Augenblicks hin, und erschufen aus dem Stegreif eine Menge der lustigsten Szenen, die vielleicht nie so lebendig auf den Brettern gesehen worden sind.⁵⁴

Behind the expression “eine Menge der lustigsten Szenen” lurks the sexual innuendoes that Mereau has employed in other contexts. The theater’s façade adds to a sense of mystery and secrecy behind the intimacy to which Mereau alludes. Similar to Marie, the narrator of “Flucht nach der Hauptstadt,” through her encounters with life and people in the city, develops into a character who is a risk taker, able to make her own independent decisions in pursuit of happiness in life. She, too, decides to enter the theater, exclaiming to Felix: ’Wohlan!’ sagte ich laut, ‘ich folge deinem Ruf! Bald Königin, bald Hirtin, bald Heldin zu sein, und in allen Gestalten schön, geliebt und verherrlicht, wer sollte diese Lebensart nicht gern wählen? Und ist der Gewinn auch schwankend, so spricht doch der Beruf in uns so laut, daß er uns den Ruf zu sichern scheint.⁵⁵

The theater allows her to be many people, all of them loved. Marie makes her decision to pursue a career in the theater, despite warnings from her landlady about the shady reputation that women in the theater have: “Bedenken Sie die Verachtung, die besonders das Volk gegen Sie hegt, und die oft drückend werden muß.[…] Und betrachten Sie nur diese stolzen Kinder Thaliens

54 Ibid., p. 214. 55 Ibid., p. 215.

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in ihren gegenseitigen Verhältnissen. Fast alle sind ganz ohne Sitten, ohne die geringste Rücksicht gegen einander.”⁵⁶ The landlady’s perceptions of thespians’ shady reputation are not unusual for the time. For this reason, Mereau seems to have found an apt equation of work in the theater with a woman’s heightened sexuality. Still, the narrator implies that she will be loved by the audience, and that she will experience love by the man she loves. She will find this double love in the illusionary world of the theater where roles and “real life” merge. Felix’s deception eventually surfaces, however, after the narrator notices that the friendly, happy, easygoing Felix turns into a moody tyrant. The narrator decides to leave him and make her own living as an actress in the big city. She continues her career as actress alone until she meets another actor, but he eventually dies. Some time later, Albino, the actor lover of her younger theatrical days, appears again. He sees her on stage and explains to her after the performance that he has accumulated the necessary money to marry her. They return to the family’s city and marry. Together, they settle into a quiet life, ruminating on the cosmopolitan adventures that have reshaped their perspectives on life: Alle sogenannten Abenteuer, die uns sonst öfters seltsam und wünschenswert geschienen hatten, kamen uns jetzt gewöhnlich und unschmackhaft vor, und nur die glückliche Ruhe eines stillen Lebens schien uns das Seltsamste und Seltenste, sowie das Begehrungswürdigste zu sein.⁵⁷

The city here is no longer a space solely of promiscuous desire. In contrast, the story’s ending demonstrates that the city’s inhabitants can also find tranquility and peacefulness in a satisfying love relationship, albeit one in a bourgeois setting that contrasts with her previous adventurous life. The ending becomes a statement on the city as well as on women’s situation at the turn of the century, whereby ultimately she is expected to find stability in a monogamous, heterosexual relationship. Still, Mereau’s female protagonist has shown that she can enjoy the sexual and professional freedoms that the city has to offer without suffering ostracism. Certainly, romantic sensibility at the turn of the eighteenth century extols nature’s sublimity and aesthetic, which contrasts with Mereau’s portrayal of liberating city life. Life in the country, however, does not hold a monopoly on the reflective, romantic life. By closing the story with a scene depicting the cha-

56 Ibid., p. 215. Heinz points out that the appearance of several memoirs by actresses in the early eighteenth century served the purpose of justifying their occupation, as if work in the theater was not really morally acceptable, although possible (p. 411). 57 Mereau, “Flucht nach der Hautpstadt,” p. 227.

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racters living in a relationship based on love and monogamy in the city, Sophie Mereau offers an alternative to the perception that the city engenders only debauchery and bawdy sexual encounters. Moreover, public and private spheres meld to create new spaces of desire for living and working. In the end, both Mereau’s stories “Marie” and “Die Flucht nach der Hauptstadt“ contain, as Katharina von Hammerstein has shown, elements of a classic Bildungsroman, albeit in the form of a short story and the development of a woman protagonist. In this way, asserts Hammerstein, “[...]. unterstützt [Mereau] einen Diskurs, der Frauen das gleiche Recht wie Männern auf individuelle Entfaltung einräumt und ihnen die dafür nötigen Fähigkeiten und geistige Unabhängigkeit zutraut.”⁵⁸ To these equalities in pursuing a profession and an intellectual independence, I would add that of sexual pleasure. Mereau has created cityscapes that introduce women to the dangers that lie in “die Kultur der Straße,” as Darnton depicts the bawdiness that characterized the city streets in the minds of the aristocracy in the eighteenth century. But the urban environment also plays an important role in the women’s positive development towards their own emotional autonomy in sex, romance, and love. The city truly does help shape women’s sexual desires as played out in the love relationships they choose to maintain and those they choose to relinquish. Marie and the narrator in “Die Flucht nach der Hauptstadt,” in turn, shape the scene of the modern city, as they pursue careers in the theater, a profession that still needed defending due to its suspect moral character, especially for women. They also defy the usual association of women with nature and the erotic. In this way, the flesh and the city do, indeed, become solely modern.

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58 Hammerstein, p. 188.

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Victor Fusilero

“Die gebrechliche Einrichtung der Welt” Family, Freedom, and Security in Heinrich von Kleist’s “Die Verlobung in St. Domingo” In Heinrich von Kleist’s (1777–1811) novella “Michael Kohlhaas”¹ (1811), the horse trader Kohlhaas is taking a team of horses to Saxony when he is detained by an official of the Junker Wenzel von Tronka for not having the proper transit papers. Having left two horses as security, Kohlhaas discovers in Dresden that the transit paper requirement was a “Märchen,”² and he returns from Dresden “ohne ein bitteres Gefühl, als das der allgemeinen Not der Welt”³ only to find his horses maltreated and undernourished. Kohlhaas’s knowledge of “der gebrechlichen Einrichtung der Welt” prevents him from ascribing full guilt to the Junker, although Kohlhaas eventually decides to seek not only “Genugtuung für die erlittene Kränkung,” but also “Sicherheit für zukünftige [Kränkung].”⁴ Kohlhaas launches a private war that succeeds in burning down the Junker’s castle and endangers Wittenberg. Despite winning his suit and full compensation, Kohlhaas is executed. In this novella, Kleist presents the reader with a frail and unhinged world in which the cardinal (from Latin cardo “hinge”) virtues of prudence, restraint, courage, justice, and trust are no longer operative, and violence threatens the security not only of the individual, but also of the family and society. This essay shall examine how in Kleist’s novella “Die Verlobung in St. Domingo” (“The Betrothal in St. Domingo”), as in “Michael Kohlhaas,” the loss of governmental authority intersects with the devaluation of the family, the promotion of freedom(s), and the management of security. Johann Wolfgang von Goethe described the novella in general as a form of literature that presents something new, “eine sich ereignete unerhörte Begebenheit”;⁵ nevertheless, the novella still reflects society within the specific historical event. For Friedrich Schlegel, the novella looks to relate “im allgemeinen, den Gesetzen und Gesinnungen der feinen Gesellschaft gemäß, wo sie ihren Ursprung und ihre Heimat hat,” but it also must take care to look away from

1 All citations from “Michael Kohlhaas” refer to Heinrich von Kleist: Erzählungen, pp. 11–144. 2 Kleist, “Michael Kohlhaas,” Erzählungen, p. 21. 3 Ibid. 4 Ibid., p. 27. 5 “Gespräch mit Eckermann, 18. Jan. 1827.“ In: Goethe, Goethes Werke, p. 725.

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the particular and towards the universal. In other words, the novella is “[e]ine Geschichte, also, die streng genommen, nicht zur Geschichte gehört.”⁶ Kleist’s novellas, however, plunge the reader into the middle of a particular historical moment when society is unhinged and destabilized. From the 1647 Santiago earthquake (“Das Erdbeben in Chili”), the Napoleonic Wars in Italy (“Die Marquise von O…”), the plague in Italy (“Der Findling”), to the Haitian Revolution (“Die Verlobung in St. Domingo”), each novella describes a specific historical crisis and the chaos and violence that is unleashed. But if it is true that the novella reflects the universal within the particular, then disorder figures — for Kleist — as the natural order of things.⁷ But of what nature is this disorder? In “Die Verlobung von St. Domingo” (“The Betrothal in St. Domingo”), Gustav speaks of two types of order: human and divine order (“menschlicher und göttlicher Ordnung,”⁸ of which the former is unable to approach the latter in its perfection. In an 1801 letter to Adolphine von Werdeck, Kleist suggests that the order of man comes nowhere near the harmony of the divine: Ordentlich ist heute die Welt; sagen Sie mir, ist sie noch schön? Die armen Lechzenden Herzen! Schönes und Großes möchten sie tun, aber niemand bedarf Ihrer, alles geschieht ohne ihr Zutun. Denn seitdem man die Ordnung erfunden hat, sind alle großen Tugenden unnötig geworden. Wenn uns ein Armer um eine Gabe anspricht, so befiehlt uns ein Polizeidelikt, daß wir ihn in ein Arbeitshaus abliefern sollen. Wenn ein Ungeduldiger den Greis, der an dem Fenster eines brennenden Hauses um Hilfe schreit, retten will, so weiset ihn die Wache, die am Eingange steht, zurück, und bedeutet ihn, daß die gehörigen Verfügungen bereits getroffen sind. Wenn ein Jüngling gegen den Feind, der sein Vaterland bedroht, mutig zu den Waffen greifen will, so belehrt man ihn, daß der König ein Heer besolde, welches für Geld den Staat beschützt. — Wohl dem Arminius, daß er einen großen Augenblick fand. Denn was bliebe ihm heutzutage übrig, als etwa Lieutenant zu werden in einem preußischen Regiment?⁹

For Kleist, social order inhibits passion, sympathy, and engagement and thwarts the human ability to perform acts of heroism. This explains why the invention of (man-made) order has rendered superfluous all the great virtues (“alle großen Tugenden”), and social organization has placed natural or divine order into disarray. As Marjorie Gelus points out in “Verlobung in St. Domingo,” colonial order creates and unleashes Black rage, which takes over the island, vengeful Black

6 Schlegel, p. 394. 7 Strohschneider-Kors calls the novella “ironic” because, uncoupled from history, it obeys its own laws and reflects itself as a work of art (pp. 35–37). 8 Kleist, “Verlobung,” Erzählungen, p. 234. 9 An Adolphine von Werdeck, Nov. 1801, Heinrich von Kleist, Briefe 1793–1811, p. 279, emphasis in original.

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women transmit sexual disease, and unlicensed sexuality explodes in incidents of “fornication, whoring, and bastardy.”¹⁰ Man-made social order contains within itself man-made disorder. Social order on the eve of the French Revolution (1789–1799), and the subsequent Haitian Revolution (1791–1804), could be said to depend on two institutions: authoritarian government and the family. In the beginning of “Die Verlobung in St. Domingo,” Heinrich von Kleist describes the historical situation as one in which “die Schwarzen die Weißen ermordeten.”¹¹ During a voyage from Cuba to Haiti, Congo Hoango had saved the life of his master, Herr Villeneuve, who in gratitude heaped Hoango “mit unendlichen Wohltaten,” including granting Hoango his freedom, then a house and farm, a female companion, a large pension, and even a bequest in his will. But these actions are not sufficient protections against the wrath of this ferocious person (“vor der Wut dieses grimmigen Menschen“)¹² who goes beyond the personal and acts as a representative of the collective. He avenges the “Tyrannei” of slavery, i.e. the oppression and dehumanization of his entire race, and puts a bullet into his former overseer’s head. Afterwards, Hoango sets fire to the plantation house, killing Herr Villeneuve’s wife, his three children, and the remaining Whites who had sought refuge therein, and continues to raze the remaining buildings on the property.¹³ The death of the plantation master mirrors the death of sovereign rule on the island. The island’s White population is no longer situated at the center of authority but is relegated to continual movement as “Reisende [...],” whereas the former slaves, previously situated on plantations, are now lurking (“lauern”) as “[bewaffnete] Haufen.”¹⁴ Even Kleist’s river terminology in the use of the African Congo and the Chinese Hoang-ho rivers as well as in the last name of Gustav’s uncle, Herr “Strömli” (little stream), points to the transformation of Haiti’s politically centered landscape into one of constant circulation.¹⁵ Much has been written about “Die Verlobung in St. Domingo” and its model of the family. Anthony Stephens finds no single familial model in Kleist’s works; the

10 Gelus, p. 13. 11 Kleist, “Verlobung,” Erzählungen, p. 222. 12 Ibid. 13 The fact that Babekan, Hoango’s female companion, and her daughter Toni are living in the main plantation house is one of several pieces of evidence that Kleist is destabilizing his own narrative technique via “semantic duplicity” in order to mirror “unsolved social, political, and racial problems.” See Burwick, pp. 320–321. 14 Kleist, “Verlobung,” Erzählungen, p. 223. 15 Häker reads Kleist’s river imagery and sees it as a reflexion of the violent rupture brought about by the rebels (p. 160).

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rich combination of aristocratic and bourgeois models points to Kleist’s shifting relationship to both his literary predecessors and contemporaries as well as to existing social conditions and processes.¹⁶ David Pan identifies Congo Hoango’s family with the pre-modern household (i.e. members of the nuclear family including all household servants living under one roof or on the property) and its corresponding characteristics (aristocracy, treachery, revenge) and Herr Strömli’s family with the modern nuclear family (bourgeoisie, pity, universal humanity). Pan thus finds within the novella “the transplantation of the conflict between bourgeois and aristocratic notions of family and household to St. Domingo” and a critique of the “modern bourgeois conjugal family” from the standpoint of the “pre-modern household system.” More importantly, Pan sees a re-coding along racial lines of the conflict between household (i.e. Black) and familial (i.e. White) models.¹⁷ But, as Barbara Gribnitz demonstrates, Kleist’s text contradicts Pan’s reading: Gustav also feels revenge (“die Rache des Himmels”);¹⁸ Toni is described as a “Verräterin”;¹⁹ Babekan shows pity.²⁰ Furthermore, what Kleist’s narrator refers to as Herr Strömli’s “Familie” is actually a household consisting of Herr Strömli’s own nuclear family and servants.²¹ It is true that the eighteenth century saw the transformation of the premodern household or “ganzes Haus”²² into the “Kleinfamilie” or nuclear family as the growing market economy absorbed an increasing number of functions previously performed by households, thus reducing its domestic autonomy;²³ nevertheless, I believe that “Die Verlobung in St. Domingo” is significant, not because of a putative competition between different familial models, but rather because of the loss of patriarchal authority within the familial grouping. As Gotthardt Frühsorge writes: Die Gewalt des Hausvaters ist in Gefahr, durch die Tendenz des Staates, die Einbindung des Individuums in die alten ständischen Lebensgemeinschaften zu Gunsten der heraufkom-

16 Stephens, pp. 222–224. 17 Pan, pp. 177–178. 18 Kleist, “Verlobung,” Erzählungen, p. 234. 19 Ibid., p. 256. 20 Gribnitz, p. 83, footnote 47. 21 Konrad Dietzfelbinger writes that Kleist, unlike his contemporaries, did not identify intellectual and social disorder with a specific social class, e.g. the aristocracy, nor did Kleist view the bourgeoisie as the bearer of a new form of social consciousness (p. 346). 22 The term was first introduced by Wilhelm Riehl: “Das Haus erst ganz ist und auch der ganze Segen des Hauses erst in ihm wohnt, wenn Urahne, Großmutter, Kind und Enkel einträchtig bei einander wohnen und das Gesinde im Hause heimisch wird” (p. 156). 23 Brunner, pp. 33–50.

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menden Staatsbürgergesellschaft aufzulösen, zurückgedrängt und schließlich kassiert zu werden.²⁴

The patriarch of the Villeneuve plantation has been murdered. While Hoango is the new “master,” his power is only nominal since it is his female companion, Babekan, who administers the household. In the meantime, Toni is strong enough to reject not only her mother’s authority, but also that of Hoango. Although Hoango and Herr Strömli are the only two visible fathers in the story (Gustav’s father is situated outside of the action in Switzerland), only Hoango explicitly holds his children in deep affection: “Denn Nanky und Seppy, Bastardkinder des alten Hoango, waren diesem, besonders der letzte, dessen Mutter kürzlich gestorben war, sehr teuer.”²⁵ Herr Strömli has little patriarchal authority since he is completely dependent on Toni’s instructions and assistance. Finally, Gustav can be discounted as a spousal, much less a patriarchal authority who must protect the lives of those he loves. In being unable to safeguard the lives of his two fiancées, Mariane and Toni, Gustav has failed in this responsibility. In understanding the loss of patriarchal authority within the family, I turn now to the examination of the family unit itself, its various types within the novella, and their success or failure within. Three family groupings are present in “Die Verlobung in St. Domingo”: i) Herr Strömli—Frau Strömli—children—servants; ii) Hoango — Babekan — Toni — Nanky — Seppy; and iii) Gustav — Toni. Against David Pan’s assertion, I contend that the Strömli family is not a bourgeois family, but rather a pre-modern 12-person household consisting of Herr Strömli, his wife (referred to simply as “Frau” or “Gemahlin”), five children of whom only two sons are referred to by name — 18-year-old Adelbert and 17-year-old Gottfried — and the five servants (three male and two female, one of which is carrying her infant — not included in the total number within the household).²⁶ Gustav,²⁷ Toni,²⁸ Babekan,²⁹ and even

24 Frühsorge, p. 112. See also Gelus, pp. 59–82. 25 Kleist, “Verlobung,” Erzählungen, p. 254. 26  Ibid., p. 252. 27 “meinem Oheim und seiner Familie” (Ibid., p. 229); “[Gustav] erwiderte, daß er mit Herrn Strömlis, seines Oheims Familie” (Ibid., p. 232). 28 On her way to meet Herr Strömli, Toni is concerned “[Herr Strömlis] Familie zu verfehlen” (Ibid., p. 252). 29 “[Babekan] meinte, daß […] Alles darauf ankäme, den Fremden während dieser Zeit in dem Hause hinzuhalten, ohne die Familie seiner Angehörigen […]” (Ibid., p. 240); “[Babekan] habe […] erdacht, […] die Familie […] in dem Hause aufzunehmen” (Ibid., p. 240); Babekan speaks to Hoango of Herr Strömli’s group as “einer ganzen Familie europäischen Hunde” and as “die Fami-

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Kleist’s narrator³⁰ refer to the Strömli grouping as a “Familie.” That this term refers not to the nuclear family, but to the extended family surfaces in exactly one passage where Gustav is referred to as a member of Herr Strömli’s family: [Babekan] nahm, auf die wiederholte inständige Erinnerung desselben, unter diesen Umständen seiner Familie wenigstens mit Lebensmitteln beizuspringen, der Tochter den Korb aus der Hand, und indem sie ihn dem Knaben gab, sagte sie ihm: er solle an den Möwenweiher in die nahgelegnen Waldberge hinaus gehen, und ihn der daselbst befindlichen Familie des fremden Offiziers überbringen.³¹

When at the end of the story Herr Strömli and his family reach the safety of their Swiss homeland, the narrative concludes with a list of national and extra-national groupings that have contributed to the rescue of his family: “[er] rettete […] sich mit dem französischen Heer auf die englische Flotte, von wo die Familie nach Europa überschiffte, und ohne weitere Unfälle ihr Vaterland, die Schweiz, erreichte.”³² If it is within the State’s power to determine legally, which individuals may marry and which groupings may be properly called a family, the various forms of assistance given to Herr Strömli’s family by internationally recognized state entities (France, England, Switzerland) seem to validate the status of Herr Strömli’s familial grouping. Familial identity is inextricably tied to state authority. In contrast to the Strömli clan, Hoango, Babekan, Toni, Nanky, and Seppy are never once recognized as a family. The narrator notes Hoango’s “erste verstorbene Frau,”³³ Hoango’s desire “nicht wieder [zu] heiraten,”³⁴ and the fact that Hoango’s former master, Herr Guillaume, arranged for him (“legte […] bei”) “an Weibes Statt eine alte Mulattin,” that is, a female companion identified only by age and mixed racial heritage.³⁵ Toni is always referred to either in the pairing “Mutter und Tochter”³⁶ or as Babekan’s own daughter, never Hoango’s: “hier

lie, deren Bekämpfung im Walde manchen Gefahren ausgesetzt sei” (Ibid., p. 251). 30 “auf [Tonis] Frage: wo Herr Strömli sei? […] stellte [Nanky] sie freudig dem alten Oberhaupt der Familie, Herrn Strömli, vor” (Ibid., pp. 252–253); upon hearing that Hoango has surprisingly returned, “alle Mitglieder der Familie” cry out (Ibid., p. 253); “Am Möwenweier, wo man die Familie fand, grub man, unter vielen Tränen, den Leichen ein Grab” (Ibid., p. 260); “[Herr Strömli] rettete […] sich mit dem französischen Heer auf die englische Flotte, von wo die Familie nach Europa überschiffte, und ohne weitere Unfälle ihr Vaterland, die Schweiz, erreichte” (Ibid., p. 260). 31 Kleist, “Verlobung,” Erzählungen, p. 244, my emphasis. 32 Ibid., p. 260, my emphasis. 33 Ibid., p. 222. 34 Ibid. 35 Ibid. 36 Ibid., p. 234.

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wohnt eine Mulattin, und die Einzige, die sich außer mir noch im Hause befindet, ist meine Tochter, eine Mestize.”³⁷ As for the two boys, not once is Nanky referred to as “Sohn,” much less as Hoango’s son or even with an accompanying possessive adjective such as “mein” or “sein”; at best, the narrator identifies Nanky as “ein Knabe, namens Nanky, den Hoango auf unehelichem Wege mit einer Negerin erzeugt hatte,” whereas Seppy is described only as Nanky’s brother³⁸ or half-brother.³⁹ Despite calling the two children “Bastardkinder des alten Hoango,” the narrator still underscores Hoango’s deep affection for them. The label of “Vater,” however, is never applied to Hoango in reference either to his biological relation to Nanky and Seppy or to his symbolic relation to Toni. In contrast, both Babekan’s father and Toni’s father are referred to with possessive adjectives. Whereas Babekan tells Gustav: “Was kann ich, deren Vater aus St. Jago, von der Insel Cuba war […],”⁴⁰ Babekan describes Toni’s father (“ihr Vater”) as a European, specifically a rich businessman from Marseille named Bertrand.⁴¹ Toni is never described as Bertrand’s daughter; instead, the relationship extending from Bertrand to Toni is merely indicated as “die Vaterschaft zu diesem Kinde,”⁴² an affiliation that is purely biological and that Bertrand denies before a French court-of-law. Except for the deep affection shown between Hoango and his “bastard” sons, the relationships between Hoango and the members of his clan are described in biological/sexual terms and hence disavowed by both state and religious institutions. In contrast to the Strömli-“Familie” with its origins in civilized Europe, the individuals around Hoango figure at best as a loose and savage New-World collective connected by both skin color and their prior enslavement. The third familial grouping of Gustav and Toni represents not a group, but a pair of individuals. Furthermore, these two individuals are themselves heterogeneous identities. Gustav von der Ried is a Swiss national in the French army, who has left Europe to fight in the New World to protect the French colony’s control of its rebellious slaves. While travelling between Fort Dauphin to Port au Prince (two poles of old aristocratic privilege, if in name only), Gustav comes to the Villeneuve (“new village”) plantation, where he falls in love with Toni, a 15-year-old mestiza born of a French father and Cuban-Haitian mulatta mother named Babekan. The

37 Ibid., p. 224, my emphasis. 38 Ibid., p. 225. 39 Ibid., p. 254. 40 Ibid., p. 228. 41 “‘Nun’, sprach die Alte, ‘[…] um des Europäers, meiner Tochter Vater willen, […] diese Gefälligkeit erweisen’” (Ibid., p. 230); “daß [Tonis] Vater aber eigentlich ein reicher Marseiller Kaufmann, namens Bertrand ware, von dem sie auch Toni Bertrand hieße” (Ibid., p. 231). 42  Kleist, “Verlobung,” Erzählungen, p. 232.

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hint of whiteness in Babekan’s face is likened to a “Schimmer von Licht,” whereas her daughter Toni’s facial complexion is described as “ins Gelbliche gehend […]” and reflects (“widerscheint”) the bright daylight of Europe (“der volle Tag jenes Weltteils”).⁴³ Despite her partial whiteness and its reference to Enlightenment values, it is Toni’s offensive (“anstößig”) blackness that prevents Gustav from claiming that he has not seen anything more beautiful.⁴⁴ Rather than re-examine issues of race that have been already explored in recent interpretations,⁴⁵ I read the Gustav — Toni pairing as an attempted, albeit failed, hybrid coupling: Old World and New World, White and Black, stranger and native. Whereas the legitimacy of the Strömli family is guaranteed by state and religious institutions and Hoango’s grouping carries no official sanction, Gustav and Toni’s pairing has validity, at least in Toni’s eyes, “vor Gott und ihrem Herzen,”⁴⁶ that is, in a divine power located beyond the authority of the church and in a humanistic ideal of true love. Their spiritual betrothal cannot be expressed in words; when asked if he should inform her mother about their relationship, Toni exclaims “kein Wort!”.⁴⁷ Only after quietly claiming Gustav as “Verlobte[r] und Gemahl”⁴⁸ does Toni inform Babekan of her status: “ich bin eine Weiße, und dem Jüngling, den ihr gefangen haltet, verlobt.”⁴⁹ Gustav also declares his spiritual betrothal to Toni through a gesture that he immediately identifies with words. After making love to her, he takes the cross necklace given to him by his former love Mariane and hangs it around Toni’s neck “als ein Brautgeschenk, wie er es nannte, um den Hals,”⁵⁰ after which Gustav calls her “seine liebe Braut.”⁵¹ In the end, however, this pairing miscarries because of Gustav’s mistrust of Toni’s true intentions and his inability to govern his own emotions. Unable to make sense of why she tied

43 Ibid., p. 228. 44 Ibid., p. 235. 45 For example, Sander Gilman examines the story’s opposition between an aesthetics of blackness and whiteness and argues that Kleist is proposing an “aesthetics of ambiguity” against an eighteenth-century “aesthetics of blackness” (88). Sigrid Weigel uses discourse analysis to critically examine Toni’s acceptance of “white” values, which results in her “white death.” Against these two readings, however, Klaus Müller-Salget reads the novella’s opposition of Black and White, not as a commentary on then existing problems regarding race in Europe, but rather as a “verurteilte Vereindeutung der Welt in schlichtem Entweder-Oder-Denken.” See „[Kommentar],” p. 839. 46 Kleist, “Verlobung,” Erzählungen, p. 245. 47 Ibid. 48 Ibid. 49 Ibid., p. 256. 50 Ibid., p. 238. 51 Ibid., p. 239.

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him up, Gustav literally changes color (“welchselte […] die Farbe”)⁵² when he sees Toni walk into his room. Filled with a rage (“knirschend vor Wut”)⁵³ previously identified with the rebellious Black slaves, Gustav shoots Toni and finishes by cursing the “schöne Seele”⁵⁴ — the human embodiment of duty and inclination in harmony — as a “Hure.”⁵⁵ Gustav’s lack of Selbstbeherrschung mirrors the loss of governing authority triggered by the 1789 outbreak of the French Revolution and the subsequent 1791 start of the Haitian Revolution. These events were seen by many contemporaries as marking the beginning of a new epoch, the “dawn of the modern era.”⁵⁶ On the eve of the Battle of Valmy (September 21, 1792), when the revolutionary French government’s army vanquished the Prussian army and allowed the further development of the Revolution, Johann Wolfgang von Goethe reportedly told his defeated landsmen: “Von hier und heute geht eine neue Epoche der Weltgeschichte aus, und ihr könnt sagen, ihr seid dabei gewesen.”⁵⁷ Kleist was less enthusiastic, viewing the moment as the calamitous upheaval of the old order of things: “Die Zeit scheint eine neue Ordnung der Dinge herbeiführen zu wollen, und wir werden davon nichts, als bloß den Umsturz der alten erleben.”⁵⁸ Kleist’s abnegation of this historical change stemmed from his firm belief that one single political entity would be created out of new dynasties under France’s thumb.⁵⁹ In the same letter, he tellingly implored: “Warum sich nur nicht Einer findet, der diesem bösen Geiste der Welt die Kugel durch den Kopf jagt.”⁶⁰ Kleist uses the same language in the description of Gustav’s suicide: “jagte Gustav sich die Kugel […] durchs Hirn.”⁶¹ The author is seeking someone to put a bullet into the head of Napoleonic tyranny, an evil spirit borne out of violent revolution. Although Gustav is fighting in Haiti on the side of the French revolutionary forces, the story of his former fiancée, Mariane Congreve, reveals his initial staunch

52 Ibid, p. 257. 53 Ibid. 54 For readings on Kleist’s use of “schöne Seele,” see Brittnacher, “Das Opfer der Anmut“ and Lubkoll, “Soziale Experimente.“ 55 Kleist, “Verlobung,” Erzählungen, p. 259. 56 Linda Frey and Marsha Frey, The French Revolution, Preface. 57 Goethe, “Kampagne in Frankreich 1792,” p. 48. 58 “An Otto August Ruehle von Lilienstern, Dec. 1805.” Kleist, Briefe 1793–1811, p. 352. 59 “Es wird sich aus dem ganzen cultivirten Theil von Europa ein einziges, großes System von Reichen bilden, und die Throne mit neuen, von Frankreich abhängigen, Fürsten-Dynastien besetzt werden.” Ibid. 60 Ibid. 61 Kleist, “Verlobung,” Erzählungen, p. 259.

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opposition to the French Revolution. While still in France and before going to Haiti, Gustav had spoken out publicly against “das eben errichtete furchtbare Revolutionstribunal,”⁶² which led to the death of his beloved by guillotine.⁶³ Gustav’s changing political allegiances, his feelings for Toni, together with Toni’s ambiguous racial identity and the transition in her murderous plans leave readers delirious in an attempt to identify sides in the Haitian conflict with right and wrong based solely on national or racial identity. Kleist locates this same delirium in the Haitian island’s slave population and in Gustav. The “Taumel der Rache”⁶⁴ that launches the story corresponds later to Gustav’s “Taumel wunderbar verwirrter Sinne.”⁶⁵ Similarly, Gustav’s own diagnosed imprudence (“Unbesonnenheit”)⁶⁶ matches “die unbesonnenen Schritte des Nationalkonvents,”⁶⁷ namely the French National Convention’s decree of February 4, 1794 that abolished slavery in the colonies and accelerated the Haitian Revolution.⁶⁸ By describing the National Convention’s decree as “unbesonnen” (imprudent), Kleist proclaims the passage of the decree to be the direct cause of the delirium of vengeance that allowed the Black slave population of Haiti to murder all White plantation families (such as the Villeneuve household) and to erase all rule from the island. The lack of prudence in the ruling French government’s authority produced a similar lack among the Haitian population, which turned to violence to counteract this absence of both prudence and governmental authority. As the government disappeared, so too did the family unit either through flight — such as that of officially recognized families such as the Strömlis — or through death — such as that of Gustav and Toni. Prudence is not only the mark of good government institutions; it is also the mark of the ability of individuals to govern themselves. If the family is defined by its ability to govern itself and its members, then prudence must inform the family’s inherent governing structure. In early modern treatises on government, prudence was believed to enable individuals to govern and discipline themselves because it allowed for the control of the emotions and the proper use of reason.⁶⁹ In the seventeenth century, this

62 Ibid., p. 237. 63 Müller-Salget points out that Mariane’s last name points to the Place de Grève, where many persons were guillotined Müller-Salget. See “[Kommentar],” p. 848. 64 Kleist, “Verlobung,” Erzählungen, p. 222. 65 Ibid., p. 239. 66 Ibid., p. 237. 67 Ibid, p. 222. 68 Hunt, pp. 115–116. 69 Delany, “Prudence”; Gordon, p. 9.

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Christian virtue was inserted into political practice through its political counterpart in the doctrine of prudentia civilis, which rejected the sixteenth-century tradition of rationalistic Machiavellian raison d’état. According to prudentia civilis, the ruler of a well-ordered state could apply moral principles and still bring about good government.⁷⁰ The anti-Machiavellists (i.e. the supporters of a state governed by prudence) found repulsive the absence of ethical or religious underpinnings in the political philosophy outlined in The Prince for they believed that the state should be run like family, with the sovereign as its paternal figure. It was exactly this moral and familial basis of government that the seventeenth-century Hausväterliteratur, through its discussion of householding as a technology of government, sought to reclaim in both contemporary non-fictional and fictional literature.⁷¹ Prudence, as a seventeenth-century measure of social and political conduct, led not only to the social and political revaluation of the household, but also of the family. In “Die Verlobung in St. Domingo,” the failure and consequent erasure of all three familial groupings near the end of the Haitian Revolution points to the elimination and the failure of the family as a model for good political government with regard to the control of the insurgent native population. The eighteenthcentury family needed to make room for the nineteenth-century population. As Michel Foucault writes: […] [P]rior to the emergence of the problematic of population, the art of government could only be conceived on the basis of the model of the family, in terms of economy understood as management of the family. When, however, the population appears as absolutely irreducible to the family, the result is that the latter falls to a lower level than the population; it appears as an element within the population. […] The family will change from being a model to being an instrument; it will become a privileged instrument for the government of the population rather than a chimerical model for good government.⁷²

The failure of the three familial groupings brings into closer view the island’s population, described variably as “Menge” (crowd, mass, multitude) or “Haufen” (pile, bunch, mob) and always in motion. The Whites also become part of this new assemblage; not only is Herr Strömli’s family called a “Haufen,”⁷³ but the White

70 Oestreich, pp. 162–165; Dean, p. 105. 71 For a more detailed discussion of raison d’état, see Foucault, The Birth of Biopolitics, pp. 3–10. On the Hausväterliteratur and the political discourse of householding, see Fusilero, “Governing Households, especially Ch. 3. 72 Foucault, Security, Territory, Population, pp. 104–105. 73 Kleist, “Verlobung,” Erzählungen, p. 254.

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population also becomes its own armed and circulating mob (“die in bewaffneten Haufen das Land durchkreuzten”).⁷⁴ It is only at the beginning of the story that the Negro population, in allusion to the French revolutionaries, is referred to as “Mitbrüder.”⁷⁵ The perpetual danger posed by the constantly circulating Black and White populations is not brought to rest until the end of the story when, on the one hand, Hoango — after the deaths of both Gustav and Toni — “winkte den Negern zu ruhen”⁷⁶ and when, on the other hand, the French army retreats with the English fleet to Europe. Having demonstrated the virtue of compassion, the ex-slave population has shown itself prepared for the responsibility of freedom. With the eighteenth-century rise of liberal thought, the growth of the market economy, and the spread of concepts such as natural rights and utilitarian theory, the increased importance of “freedom” (the freedom of the market, the freedom of expression, the freedom of self-determination, etc.) emerges, as evident in Kleist’s novella, where the Haitian population is experiencing a paroxysm of freedom (“Wahnsinn der Freiheit”) two years after the start of the French Revolution. Although Hoango is liberated by his master, he still chooses to kill him. Having been previously married, Hoango freely decides not to take a wife. Despite his initial disgust by her skin color, Gustav falls in love with the mestiza Toni, and they become engaged regardless of all social norms. Against the background of liberation, Kleist’s novella expounds on the problem of what it means to be free. First, the ambiguous genitive construction of “Wahnsinn der Freiheit”⁷⁷ may refer to the insane desire for freedom (subjective genitive) that drove the slaves to rise up and liberate themselves, as well as to the insane revenge set free by their newfound freedom upon their former masters (objective genitive) — Hoango and Babekan belong to this group — “wegen vielfacher und tadelnswürdiger Mißhandlungen, die sie von einigen schlechten Mitgliedern derselben erlitten [haben].”⁷⁸ Second, the freeman Gustav and slave Hoango find themselves in unexpectedly opposite situations. Gustav owns property “frei und abhängig”⁷⁹ in Switzerland but is now held captive by Hoango, whereas the slave Hoango has been liberated and is now wandering (“Streifereien”)⁸⁰ in the area. Third, the mestiza Toni prays to the Savior (“Erlöser”) for the strength and steadfastness to confess her crimes to the man to whom she has given herself

74 Ibid., p. 223. 75 Ibid. 76 Ibid., p. 260. 77 Ibid., p. 233. 78 Ibid. 79 Ibid., p. 239. 80 Ibid., p. 223.

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(“dem sie sich zu eigen gegeben [hat]”),⁸¹ adopts a different racial identity (“daß ich mich auf ihre Seite stellte”),⁸² and resolves to release Gustav from his imprisonment. Finally, after having mistakenly murdered Toni, Gustav commits suicide. In a world without masters, individuals must now freely choose their own fates from among several possibilities and suffer the consequences of those actions that have impinged on the liberties of others. Just as enslavement was a component of an older system of government based on subordination and restraint, the new system of liberal government is characterized by a frenzy grounded in liberty and choice. In other words, liberalism governs, not through discipline, but through freedom. To quote Foucault: Liberalism formulates simply the following: I am going to produce what you need to be free. I am going to see to it that you are free to be free. And so, if this liberalism is not so much the imperative of freedom as the management and organization of the conditions in which one can be free, it is clear that at the heart of the liberal practice is an always different and mobile problematic relationship between the production of freedom and that which in the production of freedom risks limiting and destroying it. Liberalism as I understand it, the liberalism we can describe as the art of government formed in the eighteenth century, entails at its heart a productive/ destructive relationship [with] freedom […]. Liberalism must produce freedom, but this very act entails the establishment of limitations, controls, forms of coercions, and obligations relying on threats, etcetera.⁸³

Once liberation has taken place, the conditions of freedom must be determined, but this can only be done through the calculation of security. Gustav’s “intense desire for his personal safety”⁸⁴ is met with assurances by Babekan and Toni regarding the security of both Gustav and his family: “Dies Haus, das jedem offen steht, gewährt Euch keine Sicherheit, falls Ihr Euch nicht in Eurem, auf den Hof hinausgehenden, Schlafgemach verbergt […]”;⁸⁵ “Hierauf traf die Mutter mehrere, die Sicherheit des Fremden […] abzweckende Veranstaltungen.”⁸⁶ Whereas security necessarily includes safeguards against threats against one’s person, security also entails protection of individuals from threats to their freedom. Herr Strömli, for example, restrains Hoango in order to secure his own safety and freedom.⁸⁷ Hoango relies on rage and violence as well

81 Ibid, p. 247. 82 Ibid, p. 256. 83 Foucault, The Birth of Biopolitics, pp. 63–64, ellipsis in the original, my emphasis. 84 Burwick, pp. 325–326. 85 Kleist, “Verlobung,” Erzählungen, p. 243. 86 Ibid., p. 245. 87 Ibid., p. 256.

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as his desire for vengeance (“Rachsucht”)⁸⁸ to assure his own safety. Babekan uses deceit and all those other arts that self-defense makes available to a weak person (“durch List und den ganzen Inbegriff jener Künste, die die Notwehr dem Schwachen in die Hände gibt”).⁸⁹ Gustav, on the other hand, believes that only acts of humaneness and sympathy (“Menschlichkeit und Mitleiden”) can protect individuals.⁹⁰ Finally, Toni relies on instinct or feeling (“innerstes Gefühl”)⁹¹ and constancy (“Treue”), but these fail to protect her from her own betrothed’s mistrust and to forestall her own death. Gustav’s and Toni’s dependence on humanistic virtues fails to ensure their security. In a letter to Wilhelmine von Zenge, Kleist inquires into the nature of human bonds of trust: “Was knüpft die Menschen mehr mit Banden des Vertrauens aneinander, Tugenden oder Schwächen?”⁹² Kleist’s answer can be found in the conduct of Gustav and Toni. Their actions according to a system of virtues have miscarried, and it is their human weaknesses — Toni’s constancy and Gustav’s mistrust — that have won out in the end. Toni’s dying words to Gustav, “Ach, […] du hättest mir nicht mißtrauen sollen!”⁹³ and the subsequent erection of a memorial to everything they stood for — not in the New World, but in the Old World — reveal that humanistic ideals no longer have a place in a burgeoning era in which individual freedoms — and violence — threaten the security of the individual, the family, and society.

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88 Ibid., p. 223. 89 Ruth Angress reads these tactics of Congo Hoango and Babekan as elements of a total politics (pp. 17–33). See also Gelus, “Patriarchy’s Fragile Boundaries under Siege: Three Stories of Heinrich von Kleist” (p. 14). In this regard, Babekan’s art of deceit resembles that of Machiavelli’s raison d’état. 90 Kleist, “Verlobung,” Erzählungen, p. 233. 91 Ibid., p. 241. 92 Denkübungen für Wilhelmine von Zenge, Spring/Summer 1800; Kleist, Briefe, p. 64. 93 Kleist, “Verlobung,” Erzählungen, p. 259.

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Roswitha Burwick

„Von dem Kinde das alles verschenkte” Arnims Bearbeitung des Sterntalermärchens in „Die drei liebreichen Schwestern und der glückliche Färber“ Mit der von Achim von Arnim und Clemens Brentano 1806 herausgegebenen Volksliedersammlung Des Knaben Wunderhorn beginnt die bis zum Ausbruch der Befreiungskriege im Jahre 1813 dauernde Diskussion zum Thema „Naturpoesie und Kunstpoesie“, die zwischen den Brüdern Jakob und Wilhelm Grimm und Arnim in Publikationen und Briefen ausgetragen wurde.¹ Die unter den Freunden geführte Auseinandersetzung über Poesie ist nicht zu trennen vom Geschichtsverständnis der Anhänger der „historischen Schule“, zu der die Grimms und Arnim zählten. Geschichte ist demnach als organische Entwicklung zu verstehen, deren Ursprung in einer mythischen Zeit zu suchen ist, in der auch die Volkslieder, -sagen und -märchen als „Naturpoesie“, d.h. als „große epische Poesie“, verortet sind.² Naturpoesie entsteht demnach von selbst aus einem unbewusst wirkenden Geist und ist dem aufgeklärten, d.h. modernen und selbstreflexiven Menschen nur noch in „unscheinbaren und unentreiszbaren gegenstände[n]“ zugänglich.³ „Kunstpoesie“ dagegen ist die von neueren Dichtern reflektierte Poesie und strikt zu trennen von der in mythischer Vorzeit entstandenen „Naturpoesie“.⁴ Das Programm der Grimms ist die Erhaltung und „Rettung“ dieser fragmentarischen Reste, die sie in ihre Sammlungen aufnehmen und erzählend ergänzen.⁵ Während die Grimms sich als Philologen verstanden, die das Erzählen rein semantisch auffassten, sah sich Arnim als Dichter, der die Intentionen der sogenannten „Naturpoesie“ poetisch neu gestaltete und sowohl historisch als auch narratologisch für seine Zeit relevant machen wollte. Im Gegensatz zu den Grimms argumentierte Arnim mit Nachhalt, dass die Naturpoesie von der Kunstpoesie nicht abgesondert werden könne, da weder der Erzähler noch der Leser eines Textes Distanz oder Objektivität besitze. Vielmehr würden Leser und Erzähler, bei der Berührung mit der Poesie vom Funken der Begeisterung erfüllt, weiterdichten und die Texte fort-

1 Grimm, Zeitung für Einsiedler (1808), Sp. 151–155. Im Folgenden abgekürzt als ZfE. Vgl. auch Steig, Achim von Arnim, Bd. 3, S. 178–275. 2 Steig, Achim von Arnim, Bd. 3, S. 116; S. 234. 3 Grimm, Ueber die Altertümer, S. 545–49. Zimmermann: „Sterntaler“, S. 75. 4 Steig, Achim von Arnim, Bd. 3, S. 235. 5 Vgl. die Vorworte der einzelnen Ausgaben.

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setzen, die nicht nur in der Vergangenheit, sondern auch in der Gegenwart und der Zukunft lebendig blieben. Texte seien nie fixiert, wie die Grimms behaupteten, sondern fluid, d.h. beweglich, da es den „Tod der gesamten Märchenwelt“ bedeute, wenn das „erfindende Talent“ nicht stets neu geweckt würde.⁶ Meine Analyse der Novelle „Die drei liebreichen Schwestern und der glückliche Färber“ versucht zu zeigen, dass Arnim nicht allein eine intertextuelle Verarbeitung von Volksmärchen in seiner Erzählung anstrebte, sondern darüber hinaus die Geschichte so konzipierte, dass sie den Diskurs über die Narratologie des Märchen- und Sagenerzählens poetisch verarbeitete.⁷ So zeigt die Novelle nicht nur das Entstehen von Märchen und Sagen in den unteren Volksschichten, sie verortet auch die damit verbundene „Wunderwelt“ mit der Einflechtung von wissenschaftlichen sowie kultur- und sozialpolitischen Fragen in einem bestimmten historischen und geographischen Raum. Mit den Bezügen zu Gegenwart und Zukunft (das aufsteigende Bürgertum, Kapitalismus, die Industrielandschaft in Preußen) wird die mythische Sagenwelt aus ihrer Fixiertheit in der Vergangenheit gelöst, in den zeitgenössischen Kontext überführt und in ihrer poetischen Neugestaltung und Revelanz modernisiert und problematisiert.⁸ Die Diskussion um Natur- und Kunstpoesie begann 1806 mit der Veröffentlichung der Volksliedersammlung Des Knaben Wunderhorn und dem in der Zeitung für Einsiedler eingerückten Aufsatz von Jakob Grimm „Gedanken: wie sich die Sagen zur Poesie und Geschichte verhalten.“ Bereits der Titel des Beitrags lässt erkennen, dass für Jakob Grimm die Geschichte der Poesie eingebunden ist in sein Geschichtsverständnis. Danach ist Geschichte keineswegs die „Dienerin“ der Politik, Jurisprudenz oder Wissenschaft, sondern die „Bewahrerin alles Herrlichen und Großen, was unter dem menschlichen Geschlechte vergeht“.⁹ Im Gegensatz zur Poesie verfährt die Geschichtsschreibung als Dokumentation politischer Ereignisse oder wissenschaftlicher Erfindungen und Entdeckungen rein empirisch, ist selektiv und erfasst nicht das „Wesen“ vergangener Zeiten und Kulturen, das nur in den großen epischen Dichtungen zum Ausdruck kam. Mit seiner emphatischen Unterscheidung von „Kunstpoesie“ und „Naturpoesie“ richtet sich Grimm direkt an Arnim, den Herausgeber der Zeitung, und

6 Steig, Achim von Arnim, Bd. 3, S. 142, S. 223; vgl. auch Burwick, „Vernetzung von Naturwissenschaft und Poesie“, S. 213–240; besonders S. 216–221. 7 Steig, Achim von Arnim, Bd. 3, S. 242–243. Zur Vielschichtigkeit der Novelle, vgl. Burwick, „Es kommen jetzt so schöne fremde Farben auf [...]“. 8 Wingertszahn weist bereits auf die Novelle als Arnims poetologische Kritik von Grimms Konzept der Naturpoesie hin, interpretiert die Erzählung jedoch in erster Linie psychologisch und allegorisch. Vgl. S. 202–213, insbesondere S. 204–205. 9 ZfE, Sp. 156.

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beginnt damit die in den folgenden Publikationen öffentlich ausgetragene Diskussion. Für Grimm „strömen“ Poesie und Geschichte „in der ersten Zeit der Völker in einem und demselben Fluß”, werden jedoch getrennt, „[n]achdem [...] die Bildung dazwischen trat, und ihre Herrschaft ohne Unterlaß erweiterte“. Die alte Poesie löste sich aus dem „Kreis ihrer Nationalität“ und „flüchtete“ sich „unter das gemeine Volk, das der Bildung unbekümmerte“, wo sie nie untergegangen, sondern fragmentarisch erhalten geblieben ist. Sagen, die wahren Zeugnisse der Geschichtsschreibung, sind sich treu geblieben, „weil die Sage sich selber ausspricht und verbreitet, und die Einfachheit der Zeiten und Menschen, unter denen sie erhallt, wie aller Erfindung an sich fremd, auch keiner bedarf.“ Indem dieselbe Erzählung sich an verschiedenen Orten findet und mit anderen Bezügen zu verschiedenen Zeitpunkten wiedererzählt wird, entsteht sie immer neu, ist „Land und Boden angemessen, und den Sitten einverleibt“. Wenn auch das Äußerliche wie Namen, Orte und Sprache sich ändert, bleibt „das wahre Wesen“ von Geschichte und Poesie, immer noch bruchstückhaft bewahrt. „Erfinden“ und „Erfindung“ als dichterische Freiheit mit dem Umgang des Stoffes werden abgelehnt, da die als authentisch verstandenen Erzählfragmente dadurch „verfälscht“ und ihrer ursprünglichen Sinnbezüge beraubt würden.¹⁰ Den Bemerkungen Grimms fügte Arnim seine Anmerkung hinzu: „Wir wünschen den historischen Beweis davon, da nach unsrer Ansicht in den ältesten wie in den neuesten Poesieen beyde Richtungen erscheinen. Einsiedler.“¹¹ In einem undatierten Brief, der am 24.7.1806 Jakob Grimm in Kassel erreichte, erwähnte Arnim den Beitrag und bemerkte: [...] ich gestehe, daß ich gar keine Vorstellung habe von einer Naturpoesie getrennt gedacht und von einer Kunstpoesie getrennt. Auch in den schlechtesten Dichtungen wollte ich Ihnen noch deutlich beides und sogar das dritte zeigen, was beide stört und aufhebt.¹²

Die Diskussion erreichte ihren Höhepunkt mit fünf Veröffentlichungen der Freunde aus den Jahren 1811 und 1812. 1811 erschien Wilhelm Grimms Übersetzung von Peder Syvs Kæmpe-Viser unter dem Titel Altdänische Heldenlieder, Balladen und Märchen und Jakob Grimms Ueber den altdeutschen Meistergesang. Die altdänischen Heldenlieder waren „Dem Freiherrn Ludwig Achim von Arnim und Clemens Brentano zugeeignet“ und trugen als Motto ein Zitat aus Arnims im gleichen Jahr erschienenen Roman Armuth und Reichthum, Schuld und Buße

10 ZfE, Sp. 152–153. 11 ZfE, Sp. 152. 12 Steig, Achim von Arnim, Bd. 3, S. 14.

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der Gräfin Dolores. Ebenfalls im Jahre 1811 erschien Arnims dramatische Bearbeitung von Gryphius’ Cardenio und Celinde unter dem Titel Halle und Jerusalem. Studentenspiel und Pilgerabentheuer, in der er die Sage des ewigen Juden integrierte, sie aber veränderte.¹³ Am 24.4.1812 schickte Arnim seinen ersten Novellenband mit einer Widmung an die Freunde. Am 20.12.1812 empfing Arnim die seiner Frau und dem neugeborenen Sohn Freimund gewidmeten Kinderund Hausmärchen.¹⁴ Trotz der tiefen Freundschaft, die Arnim mit den Grimms verband, ging es in Korrespondenz und Vorworten der Bände nun intensiv um die Auseinandersetzung über Natur- und Kunstposie, in der beide Lager konsequent ihre Prinzipien verteidigten. Zunächst nahm Jakob Grimm Anstoß an der Veränderung der Geschichte vom ewigen Juden in Halle und Jerusalem, da es „Grenzen [gibt] über die Veränderung der Sage“, die Arnim eindeutig überschritten hatte, indem sein Ahasverus ein weiser und edler Mann ist, der zusammen mit seinem in einer Vergewaltigung gezeugten Sohn Cardenio Erlösung von seinen Sünden sucht.¹⁵ In der „polemischen“ Vorrede seines altdeutschen Meistergesangs formuliert Jakob öffentlich seine in den Briefen wiederholt geäusserte Theorie über die Verschiedenheit von Natur- und Kunstpoesie. Naturpoesie ist Poesie, „die unter dem ganzen Volk lebt“, Kunstpoesie dagegen soll „durch das Nachsinnen der bildenden Menschen an dessen Stelle eingesetzt“ werden. Man kann die Naturpoesie das Leben in der reinen Handlung selbst nennen, ein lebendiges Buch, wahrer Geschichte voll, das man auf jedem Blatt mag anfangen zu lesen und zu verstehen, nimmer aber ausliest noch durchversteht. Die Kunstpoesie ist eine Arbeit des Lebens und schon im ersten Keime philosophischer Art.¹⁶

Naturpoesie ist für Jakob Grimm eine „große epische Poesie“, die „über die Erde hin gelebt und gewaltet hat“, und „nach und nach von den Menschen vergessen und verthan worden ist“.¹⁷

13 Paulin, Gryphius „Cardenio und Celinde“ und Arnims „Halle und Jerusalem“. 14 Auch die Ausgabe letzter Hand aus dem Jahre 1857 beginnt mit einem Brief an Bettina von Arnim, in dem Wilhelm Grimm sie an die vor 25 Jahren geschenkte Sammlung und ihren 1831 verstorbenen Mann erinnert, der sie damals bei ihrer Sammeltätigkeit unterstüzt hatte. „Dies edle Haupt ruht nun schon seit Jahren im Grab, aber noch heute bewegt mich die Erinnerung daran, als hätte ich ihn erst gestern zum letztenmal gesehen, als stände er noch auf grüner Erde wie ein Baum, der seine Krone in der Morgensonne schüttelt.“ (Steig, Kinder und Hausmärchen, S. V.) Im Folgenden wird der Titel Kinder und Hausmärchen als KHM zitiert. 15 Steig, Achim von Arnim, Bd. 3, S. 99. Vgl. auch Jakob Grimms „Vorrede zu Deutsche Sagen“, S. V-XXVI. 16 J. Grimm, Meistergesang, S. 6. 17 Steig, Achim von Arnim, Bd. 3, S. 234–235.

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[...] wie das Paradies verloren wurde, so ist auch der Garten alter Poesie verschlossen worden, wiewohl jeder noch ein kleines Paradies trägt in seinem Herzen.18

Das Wunderbare ist demnach nicht Phantasie, Täuschung, Lüge, sondern göttliche Wahrheit; das Epos keine Menschengeschichte, sondern eine göttliche, eine Mythologie, die ins Menschliche übergegangen ist. Aus „dem großen, unschuldigen, unbewußten Völkerglauben“ ist analog der Vielfalt an Sprache, „eine Vielheit des Epos entsprungen und hat sich in Leben und Geschichte der beglückten Menschen ergossen.“¹⁹ Auch die Märchen gehören in diese paradiesische Urzeit, sind „mit allen ihren Umständen schon vor Jahrhunderten erzählt worden“; nur nach und nach wurden Einzelheiten ausgelassen. Sie sind „längst und durchaus fixirt, während sie sich in unendlichen Variationen herum bewegen, also nicht fixiren.“²⁰ Obwohl Jakob der Erzählstrategie der Märchen eine gewisse Freiheit in Gestaltung und Sprache einräumt, beharrt er fest auf dem Prinzip, dass der Kern der Erzählung nicht verändert werden darf. Am Beispiel der Sage vom ewigen Juden bedeutet dies, dass das Motiv des wegen seiner Schuld zum ewigen Wandern verdammten Menschen nicht umgestaltet werden kann, indem man die Figur nun in ein christliches Erlösungsdrama integriert, wie es in Arnims Halle und Jerusalem geschah. Arnims Drama wird dadurch ein Werk der Kunstpoesie, da es die individuelle Denk- und Schreibweise des modernen Dichters reflektiert, der nicht nur mit Willkür, sondern auch mit Ironie und Ambivalenz die Eindeutigkeit von Schuld und Strafe aufhebt.²¹ Mit seiner Neugestaltung des bekannten Mythos stellt Arnim die traditionellen christlichen Positionen des zur ewigen Sühne verdammten Juden und des durch seine Buße zur Vergebung gereiften Menschen gegenüber und ruft damit zur Kritik des starren Dogmatismus der Religion auf.²²

18  Ebenda, S. 235. 19  Ebenda, S. 236. 20  Ebenda, S. 237. 21  Zum Thema von Ambiguität und Ambivalenz vgl. Wingertszahn 1990. 22  Vgl. Wingertszahns Hinweis auf die ironische Entmystifizierung des Predigers und den alttestamentlichen Frauentausch in der Novelle von den liebreichen Schwestern, S. 202–204. Noch 1841, nach seiner Berufung nach Berlin, verteidigte Jakob Grimm, der nun in den hochschulpolitischen Konflikt zwischen „philosophischer“ (Hegelianer) und „historischer“ Schule (um Savigny) verwickelt war, mit aller Schärfe seine Position. Wie Zimmermann überzeugend gezeigt hat, versuchte Grimm nach 1841 eine Zwischenstellung zu beziehen, indem er sich sowohl von der „idealen“ als auch der „realen Forschung“ distanzierte. Zimmermann weist weiterhin darauf hin, dass das Projekt der Brüder die „Rettung des Einzelnen und Kontigenten vor dem Allgemeinen und Absoluten“ zum Ziel hatte, d.h. das historische Vergessen und die philosophische Abstraktion zu verhindern trachtete. Zimmermann argumentiert, dass das Grimmsche Sammeln

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Wie ich bereits an anderer Stelle ausgeführt habe, sehe ich Arnims Ästhetik in seinen naturwissenschaftlichen Schriften verankert, die besonders in den handschriftlichen Aufzeichnungen Philosophie, Kunst und Wissenschaft in einem komplexen Wechselwirken von ponderablen und imponderablen Kräften zu vernetzen suchen.²³ In einem Strukturengefüge von unendlichen Kombinationsmöglichkeiten werden nach Arnim sowohl rationale als auch spekulative Elemente mit- und gegeneinander ausgespielt und führen damit zu einer neuen Definition von Geschichte und Ästhetik. Indem Glaube (etwas für wahr halten) und „Weissagung“ (voraussagen, sprechen) der Alten in einem organischen Prozess zu Wissen (Erkenntnis) und Kunst (Darstellung) der Neueren übergegangen sind, sieht Arnim keinen Unterschied in erkenntnistheoretischer und ästhetischer Hinsicht. Der Drang des menschlichen Geistes nach Wissen (Finden, Lernen) und das kreative Mit- und Weiterdenken (Erfinden) stehen in einem inneren Kräfteverhältnis und sind unauflöslich miteinander verknüpft. In unserem Volke ist also wie vorher schon angedeutet worden, alle Weissagung und aller Glaube [...] zur Wissenschaft und Kunst übergegangen, ein jeder Deutsche möchte lernen und erfinden, die Politik ist allen eine lästige Störung, [...].²⁴

In einer der Aufzeichnungen aus seiner Studentenzeit, „Verhältniß der chemischen Ausbildung zur poetischen“,²⁵ betont Arnim, dass die Geschichte der Wissenschaft zeigt, wie das scheinbar Zufällige in einen nothwendigen Zusammenhang des Ganzen einzubeziehen ist, da gerade in den willkürlichen Erscheinungen eine innere Gesetzmäßigkeit zu entdecken ist.²⁶ Diese Gesetzmäßigkeit ist jedoch

und Dokumentieren daher keineswegs mythologischen oder volkstümelnden Absichten diente, sondern als ein politisch und theoretisch differenziertes und differenzierendes Rettungsprogramm zu verstehen sei. (Zimmermann, „Die Sterntaler“, S. 67–78). Während Zimmermann das Märchen „Die Sterntaler“ exemplarisch in dem aus den Grimmschen Schriften entwickelten kontingenztheoretischen Kontext interpretiert, liegt in der vorliegenden Arbeit der Nachdruck auf der Analyse der verschiedenen narratologischen Strategien. 23 Vgl. Burwick, „Arnims Erstlingsroman Hollin’s Liebeleben“; „Vernetzung von Naturwissenschaft und Poesie“; „Ahndung, Combination und Metamorphose“; „Poetische Ansicht der Natur“; „Emotionen im Märchen Blaubart“. 24 Die Veröffentlichung der in dem Aufsatz erwähnten handschriftlichen Aufzeichnungen aus dem Goethe- und Schillerarchiv Weimar ist mit WAA 3 in Vorbereitung. Vgl. Arnim, „Philosophischer Standpunkt auf dem Brocken“. Handschrift des Goethe- und Schiller-Archivs Weimar, GSA 03/401. WAA Bd. 3. 25 Handschrift des Goethe- und Schiller-Archivs Weimar, GSA 03/312,1r. 26 Zu diesen und den folgenden Ausführungen vgl. Burwick, „Arnims poetische Ansicht“, S. 50–55.

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keineswegs eine strenge Systematik, wie gewöhnlich angenommen wird; sie bildet sich vielmehr im Verhältnis zu den äußeren und inneren Einflüssen und Gegebenheiten und bleibt dadurch veränderlich. Chemie und Poesie stehen in einem Spannungsverhältnis, in dem sich die unterschiedlichen Methoden von Wahrnehmung und Darstellung korrelativ bewegen. Während die Wissenschaft ihre Aufgabe in der Analyse und Vereinzelung sieht, kommt es dem Dichter auf die Darstellung des Einzelnen im Ganzen an. Gerade weil sich die beiden Ansichten der Natur entgegenstehen, sind die Voraussetzungen geschaffen, das gemeinsame Ziel, den Fortschritt des „Menschengeschlechts“, zu fördern. Daß der Chemiker die Natur anders ansieht als der Dichter im weitesten Sinne des Worts bedarf keiner Erinnerung. Jenem erstirbt das Einzelne weil er es vom Ganzen getrennt und das Ganze weil er es vereinzelt hat, diesem lebt es stets in abwechselnder Gestalt, Chemie wird daher durch Poesie da wo sie es ganz ist behindert sowie sie diese wiederum beschränkt. Aber es ist nothwendige Forderung bey einer Kenntniß die dem Besten des ganzen Menschengeschlechts gewidmet daß sie dem ganzen mitgetheilt werde und dies wird der einzige Zweck seyn, den alle ihre Verändrungen haben müssen, die Poesie wird ihr daher in aller Rücksicht entgegen seyn sowohl im Entstehen wie in ihrer Verbreitung.²⁷

Die Zueignung an den Freund Johann Wilhelm Ritter und die zu diesem Konvolut gehörenden Manuskripte weisen sich auch stilistisch eher als „stream of consciousness“ aus. Hier gibt es keine systematisch aufgebaute Argumentation, sondern ein Dahinfließen und ein sich von den Gedanken, Ideen und Assoziationen Treibenlassen. Durch die fast poetische Sprache sind diese Schriften genau an der Nahtstelle zu verorten, an dem die Poesie sich mit den Wissenschaften vernetzt. Aber nicht die Bewegung der Sterne allein, alles was sich regt und strebt in der Natur, sey es organisch oder unorganisch alles hat seinen Grund in der Vergangenheit seine Folge in der Zukunft, wer der Grund weiß hat, die Folgen und bis zu diesem Punkte ist alles der Natur Wunder. Diese kühne Fordrung meiner Freyheit, alle Verändrungen am Himmel, allen Wechsel auf der Erde aus einem bestimmten Erfahrungspunkte in Gegenwart und Zukunft zu entwickeln, den Regen wie Sonnenfinsternisse das Bilden der Gebirge wie die Wiederkehr der Cometen ist, ich gestehe es, wie jede astronomische Aufgabe durchaus eine endliche Auflösung einer unendligen Aufgabe, [...]. So nähert sich mit jedem Schritte die Theorie der ganzen Erfahrungswelt, frey bewegen wir uns systemlos durch Systeme, wir sehen worauf der Weg uns führt befragen die Erfahrung um die Folgen, sehn wir im Falschen enden, was uns Wahrheit schien, worauf sie uns geführt, das ist doch wahr, die Theorie vergeht doch fest ist das gefundene Gesetz, der Kreis des Wissens dreht sich wan-

27 Arnim, „Verhältniß der chemischen Ausbildung“. Handschrift des Goethe- und Schiller Archivs, Weimar. GSA 03/382.

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delnd um und jeder Schritt zeigt uns die Welt von andern Seiten. Was hier gesucht wird ist weder innere noch äussere Naturgeschichte es ist die Geschichte der Natur.²⁸

Während Jakob Grimm (Wilhelm Grimm teilt hier die theoretischen Ausführungen seines Bruders) das Vereinzelte und Fragmentarische in der Vergangenheit verortet und es als solches „bewahren“ will, plädiert Arnim dafür, dass es, eingebunden in einen großen Zusammenhang, durch die Vernetzung mit dem historischen und kulturpolitischen Kontext nicht Relikt bleibt, sondern auch dem modernen Menschen von Bedeutung ist. Erzählen ist demnach ein Prozess, der in dem Spannungsverhältnis von unreflektiertem und reflektiertem Denken entsteht; die dichterische Phantasie wird dabei zum Kommunikationsträger, der zwischen alt und neu, Text und Leser zu vermitteln vermag. Erzählen ist keineswegs die Zusammenstellung von Textfragmenten, die durch semantisches Ergänzen eine „Geschichte wiederherstellt“, sondern kreatives Schaffen, das in einem freien Spiel der Gedanken durch Assoziationen, Erinnerungen und Lebenserfahrungen die Geschichte neu gestaltet.²⁹ Die in den naturwissenschaftlichen Schriften fragmentarisch erhaltenen Theorien seiner Ästhetik versuchte Arnim zunächst in seiner privaten Korrespondenz mit Brentano, ab 1805 aber in seinen Publikationen öffentlich zu formulieren. Hier sei der Aufsatz „Von Volksliedern“ genannt, der 1805 in Johann Friedrich Reichardts Berliner Musikalischen Zeitung erschienen war.³⁰ Die Publikation der Volksliedersammlung Des Knaben Wunderhorn löste dann die ausführliche Diskussion zum Thema „Naturpoesie“ und „Kunstpoesie“ aus, die in den großen Briefen vom 24.12.1812 und Wilhelms und Jakobs Antwort vom 28. Januar 1813 noch einmal voll zum Tragen kam. Wie die Grimms sieht auch Arnim eine enge Verbindung zwischen Geschichte und der Geschichte der Poesie. Im Gegensatz zu den Grimms ist für Arnim der Historiker ein Erzähler, dem die Weltbegebenheiten zu „Geschichten“ werden, in denen eigene, fremde, und überlieferte Erfahrungen zusammenfließen. Äußere Ereignisse sind damit nur Auslöser von Kräften, die im Historiker wie im Dichter wirken und zur Darstellung gelangen.³¹ Wo dem Historiker die Berichte aus „Nichtkenntniß“ fehlen, darf der Dichter eingreifen und die Lücken füllen, da

28 Arnim, „Zueignung“. Handschrift des Goethe- und Schiller Archivs Weimar, GSA 03/312. 29 Burwick, „Arnims poetische Ansicht“, S. 60. 30 Arnim, Werke in sechs Bänden, Bd. 6, S. 168–178. 31 Kunstpoesie, d.h. reflektierte Poesie, hat, nach Arnim, einen Fuß in der äußeren Welt, in einer Begebenheit, die den Anstoß gibt, und in der inneren Lebenserfahrung des Dichters. Vgl. Steig, Achim von Arnim, Bd. 3, S. 250.

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seine Poesie ebenfalls „in Berührung mit allgemeinen Weltbegebenheiten“, hervorgegangen ist. [...] im voraus möchte ich Dich aber überzeugen, daß es nie ein Gedicht gegeben, das historisch, und keins, das ohne Historie ist; die letztern braucht man nur nicht in der allgemeinen Welthistorie zu suchen und in der Geschichte nicht alles für wirkliche Geschichte zu halten.³²

Für Arnim ist Erzählen und Lesen/Zuhören ein Kontakt, von dem Impulse ausgehen, durch die das „erfindende Talent immerfort geweckt“ wird; „das Kind erzählt schon anders als es im selben Augenblicke von der Mutter gehört, ich habe oft herzlich darüber lachen müssen, da entstehen Wunder, man weiß nicht wie.“³³ „Befremdende auswärtige Erzählungen“ führen zu den tollsten Erfindungen, da für das Kind die rätselhaften und geheimnisvollen Begebenheiten nur in einer phantastischen Welt möglich sind.³⁴ [...] so täuschend und doch getäuscht und darum in der höchsten Wahrheit der Phantasie ist der Märchensinn der Kinder — und bis zum Höchsten das Wesen aller poetischen Erfindung, und durchaus aller Unterschied zwischen Kunst- und Naturpoesie ein bloßer Spaß, der selbst wieder aus dieser täuschend getäuschten Kraft hervorgegangen ist, und für die Phantasie eine Wahrheit haben kann, die in der Geschichte sich nirgends bekundet.³⁵

In seinem Brief vom 24.12.1812 forderte Arnim die Grimms noch einmal heraus, indem er ihnen vorhielt, daß sie keineswegs die Märchen so wiedergaben, wie sie sie vorfanden, sondern, ihrem inneren fortschaffenden Trieb folgend, genauso wie er das Vereinzelte zu einem Ganzen formten. [...] ich glaube es Euch nimmermehr, selbst wenn Ihr es glaubt, daß die Kindermärchen von Euch so aufgeschrieben sind, wir Ihr sie empfangen habt, der bildende fortschaffende Trieb ist im Menschen gegen alle Vorsätze siegend und schlechterdings unaustilgbar. Gott schafft und der Mensch, sein Ebenbild, arbeitet an der Fortsetzung seines Werks. Der Faden wird nie abgeschnitten, aber es kommt nothwendig immer eine andre Sorte Flachs zum Vorschein.³⁶

32 Steig, Achim von Arnim, Bd. 3, S. 204. 33 Ebenda, S. 223. 34 Vgl. Arnims „Theoretische Untersuchung“, Steig: Achim von Arnim, Bd. 3, S. 242–243. 35 Steig, Achim von Arnim, Bd. 3, S. 224. 36 Ebenda, S. 248–249.

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In seinem Antwortschreiben vom 28.1.1813 geht Wilhelm auf diesen Vorwurf ein und gibt zu, daß auch er, innerlich berührt von den Geschichten, seine Empfindungen in den Texten verarbeitete. Es ist natürlich, daß wenn wir etwas selbst empfunden, diese Empfindung auch sichtbar werden muß und ihren besonderen Ausdruck haben. Darum hab ich mir in den Worten, der Anordnung in Gleichnissen und dergleichen gar keine Schwierigkeit gemacht, und so gesprochen wie ich in dem Augenblick Lust hatte.³⁷

Im Gegensatz zu Arnim habe er jedoch nach „Sitte“ und „lebendigem Gesetz“ gehandelt, wenn er die „Kraft der Beschränkung“ erkannt und nichts absichtlich hinzugefügt oder verändert habe. „Warum soll ich dieses Gesetz nicht achten und seine Nothwendigkeit nicht einsehen?“³⁸ Während Arnim für die „Freiheit“ der dichterischen Phantasie plädiert, die sich von dem Wechselspiel innerer und äußerer Kräfte „systemlos“ treiben lässt, verstehen die Grimms ihre Arbeit als „sittliches“ und „gesetzmäßiges“, d.h. durch feste Grenzen bestimmtes und damit beschränktes Handeln. Obwohl Arnim und die Brüder Grimm in ihrer Diskussion um Natur- und Kunstpoesie gegensätzliche Positionen vertraten, stimmten sie in grundlegenden Fragen überein. Grimms Sammeln und Dokumentieren und Arnims „Weiterdichten“ dienten — wie bereits erwähnt — keineswegs mythologischen oder volkstümelnden Absichten, sondern der Erhaltung von literarischen Denkmälern, die im Zug der Moderne in Vergessenheit geraten konnten.³⁹ Die Bearbeitung der Texte war bestimmt vom sich Berühren-Lassen von Ereignissen und Dingen, die einen Widerhall in der eigenen Lebenserfahrung fanden und zum Erzählen inspirierten. Indem die Grimms einräumten, dass nach dem Verlust des Paradieses „jeder noch ein kleines Paradies trägt in seinem Herzen“, wiesen sie wohl zunächst der Sammeltätigkeit Priorität zu, bemühten sich aber zugleich auch um das engagierte Erzählen ihrer Geschichten, wie es Wilhelm Grimms Bearbeitung der Märchen in der Ausgabe letzter Hand eindeutig belegt. Während die Grimms sich auf „Sitte“ und „Gesetz“ beriefen, die eine Änderung des vorgefundenen Stoffes nicht zuließen, plädierte Arnim für die dichterische Freiheit, die in der Zusammenwirkung komplexer Kräftespiele das Alte in einem neuen Kontext vernetzte und damit modernisierte. Eine intertextuelle Analyse des Arnimschen Werks zeigt, dass seinem narratologischen Experimentieren keine Grenzen gesetzt waren.

37 Ebenda, S. 267. 38 Ebenda. 39 Zimmermann, „Die Sterntaler“, S. 77–78.

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Von den Kritikern des 20. Jahrhunderts, die für die ästhetische Immanenz kindlicher Lektüre plädieren, sei Walter Benjamin genannt, der in seinem Aufsatz „Aussicht ins Kinderbuch“ ein monochramatisch illustriertes Märchen von Hans Christian Andersen erwähnt. Benjamin argumentiert, dass für das „bildernde“ Kind die Dinge nicht aus den Seiten seines Bilderbuchs heraustreten, vielmehr dringe es „selber als Gewölk, das mit dem Farbenglanz der Bilderwelt sich sättigt“, in die phantastische Welt der Geschichten ein, die es sich mit den lebhaftesten Farben ausmale. Das Kind wird in der karnivalesken Welt des Textes als Mitspieler aufgenommen, steht in der „Maskerade mitten inne und tut mit.“ Auch die Worte selbst haben sich zu dem Maskenball eingefunden und wirbeln als „tönende Schneeflocken“ durcheinander.⁴⁰ Benjamin vertritt hier eine Arnim verwandte kindspezifische Bildperzeption, in der die Bilderbuchwelt zur „Quelle von Uranschauung und visueller Schatzbildung“ werden kann.⁴¹ In seiner Novelle „Die drei liebreichen Schwestern und der glückliche Färber“ verarbeitete Arnim das Märchen „Die Sterntaler“, die Anekdote vom Herrn Kannitverstan und die Sage der Unterirdischen, die aus den Erzählungen der Bergleute bekannt war. Während Märchen und Sage den Einbruch des Phantastischen in die Menschenwelt vorführen, zeigt die Anekdote vom Missverständnis des naiven jungen Mannes die amüsante Auflösung des Geheimnisses einer scheinbar wunderbaren Macht. Mit der Integrierung der drei Erzählungen schafft Arnim die Grundlagen für seinen Diskurs über narrative Strukturen, die orale Erzähltradition, Phantastik und Aberglauben miteinander vernetzen und damit das scheinbar polare Verhältnis von Natur- und Kunstpoesie hinterfragen.⁴² In der Novelle geht es nicht darum, die gegensätzlichen Positionen gegeneinander abzugrenzen oder gar auszugleichen, sondern um Ambiguität und Ambivalenz, die der Phantasie des Lesers Raum zum Mitspielen, Weiterdenken und -dichten gibt. In der von Brentano und den Grimms zusammengestellten ersten Sammlung von Märchen, die nur in Manuskriptform überliefert ist, wird das Märchen als Nummer 8 unter dem Titel „Armes Mädchen“ mit 4 Zeilen notiert.⁴³ Die Grimms

40 Benjamin, S. 609. 41 Birkmeyer, S. 3. 42 Ruth Bottigheimer versucht in ihrem Buch Fairy Tales. A New History zu beweisen, dass es nie eine orale Tradition gegeben habe, da viele der bekannten Erzählungen in literarischen Texten wiederzufinden sind. Im Diskurs um narrative Strukturen, wie sie die Grimms und Arnim führten, wäre ihrer These Arnims Prämisse entgegenzuhalten, dass nie zwischen oraler und literarischer Tradierung unterschieden wurde. Märchen- und Sagenstoffe wurden vielmehr als Erzählgut verstanden, das sowohl in oraler als auch literarischer Form überliefert wurde. 43 KHM 8. „Armes Mädchen. Kindermärchen von dem armen Mädchen, ohne Abendbrot, ohne

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stützten sich dabei auf die Fassung des Märchens von den Sterntalern im 17. Sektor von Jean Pauls Die unsichtbare Loge (1792, erschienen 1793), notierten aber nur den Anfang. Jean Paul legt das Märchen dem Erzähler Gustav in den Mund, der mit seinem „feurigen“ Vortrag nicht nur seine Zuhörer, sondern auch die sie umgebende Natur begeistert und belebt. Nicht mit aufgenommen ist der zweite Teil von Gustavs Geschichte, in der die Engel sich von den Talern lösen und dem guten Kind jeden Wunsch erfüllen. Aus Arnims Brief vom 24.12.1812 ist zu schließen, dass die Grimms, die Jean Pauls Einlage kannten, die in der ersten Ausgabe der KHM unter dem Titel „Das arme Mädchen“ (KHM 83) aufgenommene Fassung aus mehreren Fragmenten zusammengesetzt hatten. Arnim bezieht sich hier offensichtlich auf Varianten, die er 1809 während seines Besuchs in Kassel in der Sammlung der Grimms gesehen hatte. Die Grimmsche Bearbeitung des Stoffes wird nun für ihn zum Beweis seiner Theorie, dass der Erzähler nie Distanz zu seinen Geschichten haben kann und immer „Erfinder“ ist, der die Bruchstücke in seiner Bearbeitung wohl zusammenfügt, sie aber unbewusst „fortbildet“: Wißt Ihr aber, daß ich meine Behauptung Nr. 3, man könne es nicht lassen fortzubilden, schon beim flüchtigen Anblick bestätigt sehe? In dem Fragment, das ich in dem Färber [...] zwischenfügte, von dem Kinde das alles verschenkte [...] stand früherhin nicht, daß die Sterne wie Thaler heruntergefallen, sondern das war ein andres Fragment bei Euch; seht nach, ich meine dieser Erinnerung gewiß zu sein.⁴⁴

In einer Anmerkung zu dem Märchen in der Ausgabe letzter Hand (1857), das jetzt den Titel „Die Sterntaler“ (KHM 153) trägt, weisen die Grimms auf Arnims Bemerkung und ihre Quellen hin: Nach dunkeler Erinnerung aufgeschrieben, möge es jemand ergänzen und berichtigen. Jean Paul gedenkt seiner in der unsichtbaren Loge 1, 214. Auch Arnim hat es in den Erzählungen S. 231.232 benutzt.⁴⁵

Im Vergleich zur früheren, in der Beschreibung knapp gehaltenen Fassung von 1812 ist die spätere Version emotionaler und in Beschreibung und wörtlicher Rede dem weitschweifigeren Erzählstil der Ausgabe angepasst. In Arnims naturwissenschaftlichen Aufzeichnungen finden sich immer wieder Notizen zu älteren Werken, die Phänomene beschreiben, die nicht wissen-

Eltern, ohne Bett, ohne Haube u. ohne Fehler, die aber allemal so oft ein Stern sich putzte unten einen hübschen Thaler fand u.s.w.“ ( Jakob und Wilhelm Grimm, Kinder und Hausmärchen 2007, S. 20). 44 Steig, Achim von Arnim, Bd. 3, S. 251–252. 45 Grimm, Jakob und Wilhelm, KHM 1984, Bd. 3, S. 238.

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schaftlich zu erklären waren und als etwas Wunderbares oder Dämonisches mit Frömmigkeit beziehungsweise Geisterbeschwörung gebannt werden konnten.⁴⁶ Hierher gehört auch der Glaube an die im Innern der Erde wohnenden guten oder bösen Bergmännchen, Berg- oder Waldgeister (Kobolde, Riesen wie der Rübezahl), der vor allem in Gebirgslandschaften und im Bergbau verbreitet war. Katastrophen, unerklärliche Geräusche oder Gesteinsbildungen waren danach nicht von Naturereignissen sondern von anthropomorphen Geistergestalten ausgelöst, die dem Menschen wohlwollend gegenüberstanden aber auch gefährlich werden konnten. In der Szene, in der Charlotte die Stimmen der Bergmännchen hört, verarbeitet Arnim nicht nur den allgemein verbreiteten Aberglauben über die unterirdischen Geister; er stützt sich vermutlich auch auf eines der wichtigsten geowissenschaftlichen Werke zum Berg- und Hüttenwesen der Renaissance, Georgius Agricolas De re metallica (1556).⁴⁷ Im Kapitel XII, „De animantibus subterraneus“ (Von den Lebewesen unter Tage) behandelt Agricola alle unter der Erde lebenden Tiere und schließt mit dem Bericht der guten und bösen Geister unter Tage.⁴⁸ So wie aus dem Kindermund phantastische Geschichten hervorgehen können, so entstehen auch die Sagen der Bergleute, die in den Welt- und Lebenserfahrungen unter Tage so tief verwurzelt sind, dass sie zum festen Bestandteil eines angesehenen wissenschaftlichen Werkes werden konnten. Die Erzählung „Kannitverstan“ geht auf eine wahre, schriftlich überlieferte Begebenheit aus dem Jahre 1757 zurück. Danach soll der 17-jährige Graf Adam Philippe de Custine auf einer Reise nach Amsterdam ein schönes Landhaus und eine vornehme Dame bewundert haben. Nachdem er gehört hatte, wie der Gewinner einer Lotterie ausgerufen wurde, begegnete er einer Leichenprozession. Alle seine Fragen werden mit dem gleichen „Ik kan niet verstaan“ beantwortet, was der naive Graf als Namen eines holländischen Bürgers verstand, der wohl großen Reichtum besaß, jedoch schon jung sterben musste. Das Missverständnis klärte sich unter großem Gelächter schließlich auf. Die Anekdote fand sich zuerst in Charles Peyssonels Aufsatzsammlung „Les numéros“ von 1782 und erschien im folgenden Jahr in deutscher Sprache im Luzernischen Wochenblatt. Johann Peter Hebel nahm die Anekdote als Kalender-

46 Als Beispiel mag die kurze Notiz „Steinregen“ gelten. Arnim, Werke und Briefwechsel, Bd. 2, S. 449 u. Erl. 47 Agricola hatte vmtl. das 12-bändige Werk bereits 1550 fertiggestellt. Es wurde posthum 1756 veröffentlicht und galt als erstes systematisches technologisches Werk zum Bergbau. Die dt. Übers. Vom Berg- und Hüttenwesen erschien 1561. 48 Zu den „Cobalos, quod hominum sunt imitators“, vgl. Agricola, De Re Metallica, Liber XII, S. 538.

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geschichte im Schatzkästlein des rheinischen Hausfreundes auf.⁴⁹ Die Geschichte vom Missverständniss des naiven und gutgläubigen jungen Mannes wird von Arnim in seiner Novelle als „comic relief“ eingesetzt, als Golno, allein und hilflos in der fremden Stadt, durch Zufall zu Freunden und Reichtum findet. Das Nebenund Miteinander von „Scherz und Ernst“, einem Hauptmotiv der Arnimschen Erzählungen, wird hier besonders hervorgehoben. In diesen Zusammenhang gehört auch Arnims ironische Anmerkung über die Rezeption und Tradierung eines oralen oder literarischen Stoffs: Manchen Lesern, die sich des H. Kan nit verstan aus einigen älteren Anekdotenbüchern erinnern, wird es lieb sein, hier die eigentliche und wahre Geschichte zu lesen, wie sie sich zugetragen hat. Vor den guten Erzählern kann jetzt niemand seine eigne Geschichte unverändert behalten.⁵⁰

Das Märchen von den Sterntalern, die dem armen Mädchen aus den Weiten des Himmels in sein Hemdchen fielen, und die Sage von den Unteridischen, die in den Tiefen der Erde hausen, bilden den phantastischen Rahmen von Arnims Novelle. Beide Erzählungen sind Frauen zugeordnet: die Sterntaler gehören zu Lehnchen, die Unterirdischen, die das Silber im Innern der Erde bewachen, zu Charlotte. Lehnchen ist Golnos Verlobte bei seinem Aufbruch in die Welt, Charlotte übernimmt die Rolle der Verlobten bei seiner Rückkehr in die Heimat. Lehnchen übergibt Golno die silbernen Harzgulden, die ihm Glück bringen und Golno übergibt Charlotte das einzelne Korn Gold, das nach der alchemistischen Goldmacherei von den Gulden noch übrig geblieben war. Obwohl das Gold den Wert der Gulden überschreitet, wirft Lehnchen die bei dem Experiment gebrauchte Tinktur in die Spree, da sie in ihren Augen aus Geldgier durch teuflische Künste gewonnen wurde. Das Gold dagegen bittet sie, für seine Kinder „mit der Warnung zu bewahren“, nicht auf sich und irdische Güter zu bauen, sondern sich demütig Gott anzuvertrauen (832). Die Selbstbestimmung des Subjekts wird damit Gehorsam und Glauben, d.h. dem wunderbaren „Segen Gottes“ und dem säkularen Moment des Zufalls, untergeordnet. Die Novelle beginnt mit dem Wortspiel „Schatz“, wobei in den Bedeutungen von Liebhaber (Liebe) und Vermögen (Geld und Gut) das Emotionale mit dem Materiellen, das Ideale mit dem Realen, vernetzt ist.⁵¹ Während Lehnchen die

49 Hebel, S. 154–157. Zu Les numéros (Die Lotterielose) vgl. Hajek, S. 74–76. Zu Arnim und Hebel vgl. Arnim, Werke in sechs Bänden, Bd. 3, S. 1262. 50 Arnim, „Die drei liebreichen Schwestern“, S. 790. Im Folgenden werden die Seitenzahlen nach den Zitaten im Text wiedergegeben. 51 Zur Polysemie des Anfangs der Novelle vgl. Wingertszahn, S. 203.

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Doppeldeutigkeit des Wortes spielerisch verwendet, spricht Golno sofort von „Geld“ und „Münzen“, die dann auch von Lehnchen als „Harzgulden“ identifiziert werden.⁵² Das Wort „Harzgulden“ verortet das Geld im Harz, genauer in Herzgerode, dem Ort, aus dem das „Findelkind“ Lehnchen stammt. „Finden“ und „Erfinden“ sind impliziert, da Lehnchen die Harzgulden im Wald „findet“, einem Raum, in dem die Märchenhelden Gefahren ausgesetzt sind und durch Mut, Entscheidungskraft, Mitleid und Erfindungsgeist sich bewähren müssen. Ihre Geschichte ist denn auch in Anlehnung an das Sterntalermärchen eine „Erfindung“, die die kindliche Phantasie als Realität konstruiert. Die Harz- oder Andreasgulden oder Andreasgülden, eine Braunschweiger Währung aus dem 16.-18. Jahrhundert mit einem Wert von 2/3 Talern, waren feine Silbergulden aus Andreasberger Silber, d.h. Ausbeutetaler aus den Silberbergwerken St. Andreasberg im Harz. Revers trugen sie das Bildnis von St. Andreas mit dem Kreuz, avers ein Bildnis des regierenden Grafen Ernst von Hohnstein.⁵³ Die Münze wird damit zum Symbol der Verbindung des Himmlischen mit dem Irdischen, der Sterne mit den Tiefen der Erde, des Heiligen mit dem Weltlichen, des Idealen mit dem Realen. Da sie geographisch und ökonomisch verortet sind, wird das Geschenk der Mutter Gottes zugleich ein reales Tauschmittel, das dem Besitzer nicht nur das Seelenheil, sondern auch finanziellen Segen verspricht. „Lehnchen“ ist das „Jungfernkind“, das von seinen Spielkameraden gehänselt, in seiner Verzweiflung in den Wald läuft, wo ihm statt der drei Kinder des Märchens vier begegnen, denen es mitleidig seine Schürze, sein Jäckchen, seinen Rock und sein Hemd gibt. In der Dunkelheit sieht es eine schöne, „fürstliche“ Frau, die sich als seine „himmlische Mutter“ zu erkennen gibt. Das letzte der Kinder, das ein Kreuz als Wanderstab in der Hand hält, gibt Lehnchen den „Segen des Himmels“, der ihr und jedem, den sie liebt und der an sie glaubt, Glück bringen wird. Die Mutter Gottes schließt mit der Mahnung, den Schatz „für die rechte Stunde“ gut aufzubewahren (782). Weder Lehnchen noch Golno, dem sie die hundert Harzgulden überlässt, damit er sie zu seiner und ihrer finanziellen Sicherheit verwendet und sie heiraten kann, geben das Geld aus.⁵⁴ Das Geschenk des Himmels ist damit ein Glücksbringer, ein Talismann, mit dem christliche und ethische Werte verbunden sind. Golno wird als reicher und angesehener Unter-

52 Arnim, „Die drei liebreichen Schwestern“, S. 778–779. 53 Arnim waren die Harzer Berge von seinem Studienaufenthalt und seiner Reise durch das Gebirge bekannt. Zu Harzgulden vgl. Vollständiges Handbuch der Münzen, S. 6. Arnim, Werke in sechs Bänden, S. 1314. 54 Dickson, S. 65.

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nehmer in seine Heimat zurückkehren, da er fleissig und ehrenhaft sein Geld verdiente. Indem das Kind „Lehnchen“ das Geschenk einer fürstlichen Dame, der es im Wald begegnet sein will, in den christlichen Kontext des Märchengeschehens einbettet, bleiben die Münzen ein Geschenk Gottes. Dass der Besitzer oder Bewahrer des Schatzes unter dem Schutz Gottes und des Heiligen steht, der auf dem Harzgulden abgebildet ist, deutet die Doppelung des Kreuzes an, das Christus und Andreas in der Hand halten. Die Mahnung, dass der „Segen des Himmels“ nur demjenigen Glück bringt, der an seine Wunderkräfte glaubt, wird ambivalent, da die christliche Deutung nun umschlägt in Aberglauben und Fetischismus. „Lehnchens“ Geschichte darf demnach nicht hinterfragt werden, da das vom Himmel gefallene Glück nur wirksam werden kann, solange es in der phantastischen Welt der kindlichen Phantasie und dem Volksaberglauben verankert bleibt. Die Geldstücke haben symbolischen Wert wie ein Hufeisen oder ein Talismann, die bewahrt werden müssen, um ihre magische Kraft auszuüben; als Tauschobjekt sind sie aber auch von materiellem Wert, da sie jederzeit für ein Wunschobjekt ausgegeben werden können. Selbst nachdem die Silberstücke in das Korn Gold umgewandelt worden waren, müssen sie aufbewahrt werden, um dem Besitzer weiterhin als Glücksbringer zu dienen. Das Gold wird zum Symbolträger der Ambiguität und Ambivalenz des Wortes „Glauben“, da der Glaube an Gott und der Aberglaube an die übernatürlichen Kräfte des Talismanns in der menschlichen Psyche ineinanderfließen und nicht zu trennen sind. Nach der Begegnung im Wald findet „Lehne“ Aufnahme bei dem frommen Einsiedler, dem sie bis zu seinem Tode treu dient. Auf ihrer Wanderung durch den Harz lässt sie sich nicht in Harzgerode nieder, da sie das Gerede der Menschen fürchtet. Klug geworden, nimmt sie aber den Namen ihrer Pflegemutter an und gewinnt dadurch Legitimität. Es ist ironisch, dass dieser durch Zufall gewählte Name ihr eigentlicher Name ist, da sie, die uneheliche Tochter des Pfarrers Hille, von dessen Schwester als Findelkind aufgenommen worden war. Da sie nur Golno heiraten will, wenn er es zu etwas gebracht hat, überlässt sie ihm die Harzgulden mit dem Versprechen, auf Christus zu vertrauen und das Geld nur dann zu verwenden, wenn der rechte Zeitpunkt gekommen ist. Wieder ist kindliches Gemüt mit Schlauheit verbunden, da Lehne ihren „Schatz“ Golno auswählt, um ihr Geld gewinnbringend zu investieren und damit ihre Zukunft durch eine Heirat abzusichern. Durch die Ehe mit einem reichen Mann wird damit auch der Schandfleck ihrer illegitimen Geburt ausgelöscht; Golnos „ehrlicher“ Name und sein Wohlstand garantieren nicht nur finanziellen, sondern auch sozialen Aufstieg. In diesem Zusammenhang ist Lehnchen der „Schatz“, der durch Geldwert und Klugheit die 100 Harzgulden Grundkapital ins Vielfache vermehrt. Wunder, Aberglaube, Materialismus, Geschäftssinn und moderne Finanzpolitik sind ver-

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mischt in einem komplexen Wirkungsgefüge, das so angelegt ist, dass das Unternehmen durch Klugheit, Fleiß, Zufall, und gute Geldanlage notwendigerweise von Erfolg gekrönt sein muss.  Jörn Göres wies darauf hin, daß die Erzählung historisch in der Zeit um 1700 spielt, als sich John Law ein Vermögen durch Glücksspiele verdient hatte, indem er seine Gewinnchancen anhand der Wahrscheinlichkeitstheorien Bernoullis ausgerechnet hatte.⁵⁵ Was Law mathematisch kalkulierte, fiel Golno in Amsterdam durch Zufall in den Schoss, als er die auf seiner Überfahrt verdienten 40 Gulden naiv in der Lotterie einsetzte und den Haupttreffer zog. Damit war er — genauso wie Lehnchen im Wald — wie durch ein Wunder oder doch durch den Glauben an den Talismann zu Geld gekommen, das nun mit Hilfe von verständigen und in der Geschäftswelt gewandten Freunden gut angelegt zu großem Reichtum und Ansehen führt. Der durch Glücks- und Zufall gewonnene Geldsegen ist dem naiven, frommen und gutgläubigen Menschen unerwartet in den Schoß gefallen; das Kind Lehnchen identifiziert sich in seiner Geschichte mit dem armen und verlassenen Kind des Märchens, um den unerwarteten Reichtum zu erklären. Der Prediger, dem sie ihre Geschichte berichtete, warnt sie jedoch, von dem „papistischen alten Sauerteig“, den sie aus ihrer katholischen Heimat mitgebracht hatte, zu lassen, da sie in dem protestantischen Norden dadurch in Schwierigkeit käme und man sie sogar des Diebstahls beschuldigen könne. Damit bleibt die Geschichte als „Märchen“ nur Lehnchen und Golno bekannt. Auch Golnos Reichtum wird durch die Anekdote von Herrn Kannitvertstan in den Bereich der Fiktion und damit des Wunderbaren und Unerklärlichen gerückt, allerdings mit dem Unterschied, dass es eine rationale Erklärung gibt und das „Wunderbare“ sich als „Segen“ für ein naives und einfältiges „Glückskind“ entpuppt. So wie die Geschichte von Kannitverstand eine rationale Erklärung hat, kann auch die Geschichte der Sterntaler als „Missverständnis“ des Kindes gedeutet werden. Im Falle Golnos waren es die verständigen und „wissenden“ Zeitgenossen, die das „Wunder“ aufklärten; im Falle Lehnchens bleibt es die Erzählung eines kindlichen Gemüts und damit ambivalent. Das Gleiche gilt für Charlottes Erzählung von den Unterirdischen, die auf der einen Seite der Phantastise des geistesabwesenden und träumerischen

55 Der Mathematiker Jakob Bernoulli, der Arnim aus seinen Schriften gut bekannt war, hatte sich im Zusammenhang mit der Wahrscheinlichkeitstheorie auch mit Spielthorien beschäftigt, die er bei seinem Aufenthalt in Venedig beim Pharaospiel entwickelt hatte. Seine Theorien wurden in dem posthum erschienenen Ars Conjectandi im Jahre 1713 veröffentlicht. Wichtig sind Bernoullis Theorien, da sie auf bürgerliche und wirtschaftliche Angelegenheiten Anwendung fanden. Vgl. auch Huygens, Tractatus de Ratiociniis in Aleae Ludo. Amsterdam 1657.

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Mädchens, auf der anderen Seite dem „kaltblütigen“ Rationalismus der Predigerin zugeschrieben werden. Es ist ironisch, dass beide an die Existenz der unterirdischen Wesen glauben: Für Charlotte sind es dämonische Geister, die ihrem Golno etwas zuleide tun wollen, für die Predigerin sind es lediglich die „Unterirdischen, die man in Bergwerken schon oft belauert habe“ (822). Arnims verortet seine Novelle durch die Intertextualität von Märchen, Sage und Anekdote in einen Zwischenbereich, in dem die phantastische und die reale Welt in einander übergehen können. Die Polyvalenz des Textes fächert sich auf in das Mit- und Gegeneinander von religiösen und säkularen, phantastischen und realistischen, okkulten und wissenschaftlichen Strängen, die in ihrer Vieldeutigkeit eine Offenheit des Textes schaffen, die es dem Leser überlässt, die Deutung der Begebenheiten vorzunehmen. Arnims narrative Strategie ist nun darauf angelegt, die Erzählung selbst als Märchen zu konstruieren, das wohl in Struktur und Charakteren dem Genre folgt, dies aber durch die unterliegenden Motive von zeitgenössischen Kontingenten wieder in Frage stellt. Golno ist der „tumbe Tor“, der einfältige Narr der Märchen, der auszieht, um sein Glück zu machen. Seine „Helfer“ sind nicht Tiere, Feen oder Menschen, denen er auf seiner Reise begegnet und die ihm wunderbare Dinge geben, mit denen er die Gefahren und die Herausforderungen bezwingt. Der Schiffskapitän, der Holländer Schnaphan, der Prediger, der preussische König sind weltgewandte und verständige Menschen, die dem Schützling helfen können, da er ihren Rat befolgt und mit Ehrlichkeit, Fleiss und Treue sich seinen Reichtum als Färber verdient. Trotz ihrer Realitätsbezogenheit sind sie auch mythische Charaktere, die Golno begleiten und zu seinem Glück beitragen. Der Kapitän navigiert das Schiff, das Golno in das von Aberglauben und Bigotrie freie Holland überfährt; Schnaphan entpuppt sich als der Sohn des vermeintlichen Kannitverstand; der Prediger ist der Vater des „Märchenkindes“ Lehnchen, und der König wird zum Wohltäter, der Golno die Heimkehr nach Deutschland ermöglicht. Neben den guten Geistern stehen auch dämonische, verkörpert durch Wiegand und die Unterirdischen, die Golno Schaden zufügen, zu seinem Bündnis mit Grundling beitragen und ihn schuldig werden lassen. Diese märchenhaften Züge, die Golno mit übernatürlichen Kräften verbindet, werden konsequent durch rationale Erklärungen unterminiert. So bleibt Golno von allem unberührt, da er „zur Hälfte in seinem Geschäfte“ lebt (807), „um allen Nachgedanken sich zu entschlagen“ (809). Er bleibt der einfältige und vertrauensvolle Charakter, ⁵⁶ der in seiner monochromen Welt von Schwarz- und Weissfärberei lebt und dem die Welt der Farben verschlossen bleibt. Die phantastische Welt,

56 Nach Dunker/Lindemann ist er ein eindimensionaler, substanzloser Charakter; vgl. S. 9.

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die ihm Lehnchen und Charlotte zugänglich machen, bleibt für ihn verschlossen. Sein Versuch, das Wunderbare in der Alchemie zu finden, scheitert, da für ihn die Harzgulden nicht der „Segen Gottes“, sondern silberne Metallstücke sind, die man in Gold verwandeln kann. Golno bleibt der Narr, dem nur eine tüchtige Frau zu seinem Glück verhelfen kann. Seine Handlungen sind nicht subjektbestimmt, sondern nur durch das Eingreifen der um ihn bemühten Personen beeinflusst.⁵⁷ Grundling, der Golno zu alchemistischen Experimenten verleitet und seine Silbertaler in ein einziges Goldkorn verwandelt, bleibt der Hofnarr und entpuppt sich nicht als die teuflische Faustfigur der Kronenwächter. Die Kopfverletzung, die Golno von seinem Kampf mit Wiegand davongetragen hat — Arnim verwendet das Motiv noch einmal in seiner Novelle „Der tolle Invalide auf dem Fort Ratonneau“ — und die nach der Goldmacherei noch einmal aufbricht, bleibt auch hier als Motiv für Golnos momentane „Verwirrung“ in einem Fieberanfall ambivalent.⁵⁸ Charlottes Bericht von den Unterirdischen ist so eng mit ihren Ahnungen von einem Unglück Golnos verknüpft, dass sie in die erlauschten bzw. geträumten Gespräche der Berggeister einfließen. Golno deutet dann auch die Begegnung mit seinem gegenwärtigen Leben, das er, „einsam wider Gottes Gebot“ geführt habe, indem er seinem Reichtum entsagen und „allen Gaben des Himmels entlaufen“ wollte (823). Gottesnähe bedeutet demnach finanzieller Erfolg und soziales Ansehen; Gottesferne ist gleich dem finanziellen Verlust und Isolation. Lehnchen verzeiht Golno, da er durch die Verletzung scheinbar nicht zurechnungsfähig handeln konnte und wirft die Tinktur, mit der in weiteren alchemistischen Experimenten Gold gewonnen werden soll, in die Spree. Das Gold/Geld ist wieder der Natur zurückgegeben, da es inzwischen mit dem durch das Geschäft verdienten Gewinn nicht mehr nötig ist.⁵⁹ Die drei „liebreichen Schwestern“, die uneheliche Tochter und die beiden legitimen Töchter des Predigers Hille, begleiten Golno auf seinem Lebensweg als dreifacher „Schatz“. Jedes Mädchen wird austauschbar: Lehnchen schickt Golno aus, um sein Glück zu machen, damit sie heiraten können und sie das Stigma des armen namenlosen Kindes verliert. Susanne folgt ihm auf dem Weg nach Berlin und dient ihm wie eine Sklavin. Charlotte ist vor Liebe krank und wird erst wieder

57 Ebenda, S. 7. 58 Vgl. Johann Christian Anton Thedens Bericht in Neue Bemerkungen und Erfahrungen zur Bereicherung der Wundarzneykunst und Medizin (Bd. 1, S. 166) von einem Soldaten, der nach einer verheilten Kopfverletzung an Anfällen litt. Erst nachdem man die Wunde geöffnet und einen Fremdkörper entfernt hatte, war er geheilt. Vgl. Burwick, „Eine Quelle zu Arnims „Der tolle Invalide auf dem Fort Ratonneau.“ Zu „Der tolle Invalide auf dem Fort Ratonneau“ vgl. Arnim, Werke und Briefwechsel, Bd. 2, S. 911. 59 Zu den alchemistischen Versuchen in der Novelle vgl. Dunker/Lindemann, S. 10–12.

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gesund, nachdem die beiden Schwestern auf Golno verzichtet haben und ihn ihr überlassen. Nachdem Lehnchens Ziehmutter Hille starb, ohne ein Testament zu hinterlassen, dient Lehnchen als Aschenputtel deren Bruder Bjorn und seinen hochnäsigen Töchtern. Der alte Mann, für den die jüngste Tochter eines Holzhauers den Haushalt führt, ist ein verwunschener Prinz in „Das Waldhaus“ (KHM 169). Die Zahl drei wird noch zweimal eingesetzt: es sind drei Gesellen, die Golno raten, nach Holland zu gehen und es sind drei Matrosen, die ihn auf das Schiff bringen.⁶⁰ Wie im traditionellen Märchen ist es hier auch die jüngste der drei Schwestern, die am Ende der Geschichte nicht den „Prinzen“, sondern den wohlhabenden Unternehmer heiratet. Modern ist auch die Entscheidung der beiden älteren Schwestern, unverheiratet und damit selbständig zu bleiben, indem sie ein Heim für Findelkinder eröffnen und sich dem sozialen Dienst widmen. Impliziert ist, dass die drei Schwestern als „Dreistern“ mit Golno eine Lebensgemeinschaft bilden, die von nun an auf Königreiche verzichten kann, das ihnen zugefallene Kapital jedoch als wohlhabende Bürger in dem modernen Industrie- und Handelsstaat Preußen mit dem Vertrauen auf Gott durch Ehrlichkeit und Fleiss bewahren und vermehren will. Der „Segen Gottes“ ist durch die Tätigkeit des rührigen Geschäftsmannes, die unerwartet vom Himmel gefallenen Taler durch unverhofften Gewinn — Lotterie, Investitionen oder lukrative Geschäfte — säkularisiert. Arnims Novelle ist in sein Welterklärungsmodell eingegliedert, in dem der Mensch vernztzt ist durch das Wechselwirken von inneren und äußeren Kräften, die sein Leben bestimmen und oft unerklärlich bleiben müssen. Dass die menschliche Phantasie die inneren Zusammenhänge ergründen will, ist Beweis für die Vernetzung des irdischen Daseins mit einer Welt, die nur in einzelnen visionären Momenten geahnt werden kann, wie Arnim es in dem „ersten traurigen Zwillingspaare“, den Novellen „Isabella von Ägypten“ und „Melück Maria Blainville“ sowie in den „Majoratsherren“ von 1818 dargestellt hat. In einer nihilistischen Welt, in der Phantasie, Glaube und Hoffnung in Trostlosigkeit und Verzweiflung umschlagen, wird das Märchen von den Sterntalern zum Antimärchen, wie es die Großmutter in Büchners Dramenfragment Woyzek erzählt.⁶¹ Im Kontext von Arnims Ästhetik ist seine Auseinandersetzung mit den Grimms über die Begriffe von Natur- und Kunstpoesie von Bedeutung, da er mit seiner Theorie an der Schwelle von Romantik und Moderne steht. Wie die

60 Vgl. Dunker/Lindemann, S. 12, die die Zahl drei im religiösen Kontext interpretieren. „Der Dichter-Arrangeur schafft einen gleichsam ‚heiligen‘ Text, der aber vollständig aus eigentlich banalen Einzelheiten konstruiert ist und nur durch ein Netz von Zeichen Heiligkeit suggeriert.“ 61 Büchner, Woyzek, S. 171–172.

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Novelle von den liebreichen Schwestern und dem gücklichen Färber zeigt, sind nicht Gesetzmäßigkeit sondern Freiheit des Erzählens und das In- und Miteinander von Realismus und Phantastik von Bedeutung. Im Prozess der Erzählens von tradierten Geschichten werden Bereiche erschlossen, in denen die festgefügten existentiellen Positionen durch Ambiguität und Ambivalenz hinterfragt und weitergedacht werden müssen. Es geht demnach nicht so sehr um Erzählstrukturen, sondern um Denkprozesse, die in der Berührung mit Texten angeregt und in mannigfaltigen Deutungen für den Einzelnen relevant werden, indem das Alte mit der eigenen Lebenserfahrung zusammenwirken kann.

Literaturverzeichnis Agricola, Georg: De re metallica libri XII qvibus officia, instrumenta, machinae, ac omnia deni ad metallicam spectantia, non modo luculentissimè describuntur, sed & per effigies, suis locis insertas, adiunctis latinis, germanicis appellationibus ita ob oculos ponuntur, ut clarius tradi non possint. Eivsdem De animantibvs svbterraneis liber, ab autore recognitus: cum indicibus diuersis, quicqiuid in opere tractatum est, pulchré demonstrantibus. Basel: H. Frobenium et N. Episcopium 1556. Agricola, Georg: Georgii Agricolae de Amantibus Subterraneis Liber, ab autore recognitus. In: De re metallica, Liber XII, S. 479–538. Agricola, Georg: Zwölf Bücher vom Berg- und Hüttenwesen. Lebewesen unter Tage. Bearb. von Carl Schiffner, Ernst Darmstaedter und Heinrich Balss. München: DTV 1977. Arnim, Ludwig Achim von: Werke in sechs Bänden. Hrsg. von Roswitha Burwick, Jürgen Knaack, Paul Michael Lützeler, Renate Moering, Ulfert Ricklefs, Hermann F. Weiss. Frankfurt a.M.: Deutscher Klassiker-Verlag 1989–1994. Arnim, Ludwig Achim von: „Die drei liebreichen Schwestern und der glückliche Färber.“ In: Werke in sechs Bänden, Bd. 3: Sämtliche Erzählungen 1802–1817. Hrsg. von Renate Moering 1990. (Bibliothek deutscher Klassiker. 55). Arnim, Ludwig Achim von: „Von Volksliedern.“ In: Werke in sechs Bänden, Bd. 6: Hrsg. von Roswitha Burwick, Jürgen Knaack und Hermann F. Weiss, S. 168–178. (Bibliothek deutscher Klassiker. 72). Arnim, Ludwig Achim von: Werke und Briefwechsel. Historisch-kritische Ausgabe (Weimarer Arnim-Ausgabe — WAA). In Zusammenarbeit mit der Klassik Stiftung Weimar. Hrsg. von Roswitha Burwick, Lothar Ehrlich, Heinz Härtl, Renate Moering, Ulfert Ricklefs, Christof Wingertszahn. Tübingen: Max Niemeyer 2000-. Arnim, Ludwig Achim von: Werke und Briefwechsel. Historisch-kritische Ausgabe, Bd. 1: Schriften der Schüler und Studentenzeit. Hrsg. von Sheila Dickson. Tübingen: Max Niemeyer 2004. Arnim, Ludwig Achim von: Zeitung für Einsiedler. In Gemeinschaft mit Clemens Brentano herausgegeben von Ludwig Achim von Arnim bei Mohr und Zimmer. Heidelberg 1808. Nachdruck: Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1962. Nr. 19 (4. Juny 1808), Sp. 152. Nr. 20 (7. Juny 1808), Sp. 153–156. Arnim, Ludwig Achim von: „Verhältniß der chemischen Ausbildung zur poetischen“. Handschrift des Goethe und Schiller-Archivs, Sign. 03/312. Manuskript.

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 Roswitha Burwick

Wingertszahn, Christof: Ambiguität und Ambivalenz im erzählerischen Werk Achim von Arnims. Mit einem Anhang unbekannter Texte aus Arnims Nachlaß. St. Ingbert: Röhrig 1990 (Saarbrücker Beiträge zur Literaturwissenschaft. 23) Zimmermann, Harm-Peer: „Die Sterntaler. Ein Märchen der Brüder Grimm, gelesen als handfestes Politikum in kontingenztheoretischer Rahmung.“ In: Zeitschrift für Volkskunde 97 (2001), S. 67–94. Zimmermann, Harm-Peer: „Wenn einem etwas zufällt. Die Sterntaler.“ In: Märchen-Glück. Glücksentwürfe im Märchen. Hrsg. von Swantje Ehlers. Schriftenreihe Ringvorlesungen der Märchen-Stiftung Walter Kahn. Bd. 4. Hrsg. von Kurt Franz. Hohengehren: Schneider 2005, S. 34–53.

Petra Liedke Konow

E.T.A. Hoffmanns Serapions-Brüder in Karl Gutzkows Neuen Serapionsbrüdern Intertextuelle Bezüge Die vorliegende Arbeit versteht sich als Beitrag zur deutschen Wirkungsgeschichte E.T.A. Hoffmanns, einem Bereich, den Georg Kaiser als ein Desiderat der Hoffmann-Forschung bezeichnet,¹ und setzt sich mit den Verbindungen, die zwischen Hoffmanns Serapions-Brüdern und Karl Gutzkows fast namensgleichen Neuen Serapionsbrüdern besteht, auseinander. Sie folgt hierbei nicht der traditionellen, akribischen Suche nach Allusionen oder Zitaten aus klassischen Werken in Nachfolgetexten, sondern stützt sich auf die durch Julia Kristeva² angeregte Intertextualitätsforschung, die sich durch eine Vielzahl von unterschiedlichen Ansätzen und Konzepten auszeichnet. Kristevas Konzept hat, wie Udo Hebel behauptet, Literaturwissenschaftler dazu ermutigt, sich das weite Feld der Intertextualitätsforschung nutzbar zu machen und die interpretativen Implikationen der intertextuellen Bezüge für ein tieferes Verständnis von literarischen Texten auszuschöpfen.³ Um sich den Intertextualitätsbegriff für die vorliegende literarische Analyse zunutze zu machen, wird auf engere Intertextualitätskonzepte zurückgegriffen, die nicht wie Kristeva von einem generalisierten Textbegriff ausgehen, sondern Intertextualität als „konkret analysierbares Mittel zur Bedeutungskonstitution“⁴ verstehen. Zur Untersuchung von intertextuellen Verweisen werden daher Hebel und vor allem Susanne Holthuis herangezogen, die ein besonderes Interesse an der Interaktion zwischen Text und Leser bei der Textverarbeitung haben. Es ist zunächst einmal offensichtlich, dass sich Gutzkow durch seine explizite Titelreferenz unmissverständlich auf den Hoffmannschen Prätext bezieht. Diese Titelreferenz auf Hoffmanns Serapions-Brüder klassifiziert Holthuis als ein modifiziertes Titelzitat:⁵ aus Die Serapions-Brüder wird Die neuen Serapionsbrüder. Ein Titelzitat dieser Art provoziere als Rezeptionsanweisung „die Aktivation

1 Kaiser, S. 204. 2 Kristeva, „Word, Dialogue and Novel.“ 3 Hebel, Intertextuality, Allusion, and Quotation, S. 1. 4 Kemper, S. 3. 5 Holthuis, S. 149.

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 Petra Liedke Konow

von Deutungsschemata“ oder „eine bestimmte Rezeptionserwartung, die dann im Fortlauf der Lektüre bestätigt oder modifiziert wird.“⁶ Jedoch verlaufe trotz der Eindeutigkeit der intertextuellen Referenz „intertextuelle Texterarbeitung ‚optional‘, das heißt in Abhängigkeit von Leserentscheidungen“.⁷ Es kommt auch, wie Hebel in Zusammenhang mit der Allusion feststellt, auf die Allusionskompetenz („allusive competence“)⁸ des Rezipienten an, ob besonders implizite Referenzen erkannt und in welchen Zusammenhang sie gestellt werden.⁹ Das gilt ebenso für die Analyse von Gutzkows Titelzitat, bei dem es trotz seiner Explizitheit letztlich auf die Entscheidungen des Lesers ankommt, welche Aspekte des Serapionsbrüderkontextes in welcher Auswahl und in welchem Umfang aktiviert werden. Es scheint ferner deutlich zu werden, dass sich Gutzkow scheinbar von dem Prätext distanziert; er nennt seinen Text immerhin Die Neuen Serapionsbrüder. Es muss im Weiteren aber auch untersucht werden, ob nur ein kritisches Absetzen von dem Hoffmannschen Text oder zudem eine Bekräftigung des Bezugstextes erfolgt. Es wird sich bei der Analyse der intertextuellen Verweise herausstellen, dass sich die Affinität zum Prätext als doch groß erweist, und es soll erklärt werden, wie sich diese Erkenntnis mit dem Roman als ganzen vereinbaren lässt. Blickt man auf die Hoffmann/Gutzkow-Forschung in Hinblick auf die intertextuellen Bezüge, so wurde dieser Verbindung bisher nur wenig Beachtung geschenkt. Diese Tatsache löst einiges Erstaunen aus, da doch die Beziehungen beider Autoren zueinander zumindest in drei Punkten so offensichtlich scheinen. Ich denke dabei erstens an die Titel ihrer Werke, zweitens an die Klubsituation, auf die sich beide in den Titeln beziehen, und die sowohl bei Hoffmann als auch bei Gutzkow ihr Gegenstück im wirklichen Leben gehabt zu haben schien¹⁰ und drittens an die zumindest partielle Wertschätzung Gutzkows für Hoffmann.

6 Ebenda, S. 151. 7 Ebenda, S. 153. 8 Hebel, „Towards a Descriptive Poetics,“ S. 135–164, hier S. 140. 9 Vgl. Holthuis, wo über die Leserabhängigkeit der Allusion Folgendes gesagt wird: „Im allgemeinen kann damit gerechnet werden, daß Allusionen eben aufgrund äußerst geringer Re-Linearisierung in jedem Fall nicht die Informationen bereitstellen, die zu einer problemlosen Identifizierung und Verarbeitung der intertextuellen Referenzen führen. Im Gegenteil erfordern sie in höherem Maße vom Leser die Aktivierung bzw. Inferierung entsprechender Textdaten, als das im Vergleich etwa im Fall komplexer und gegebenenfalls explizit markierter Zitate der Fall ist“ (S. 132). 10 Hoffmann und Gutzkow haben in Wirklichkeit Klubs angehört, die einen Einfluss auf ihre literarischen Produktionen gehabt haben mögen. Hoffmann gehörte von 1814 bis 1816 dem sogenannten Seraphinenorden an, zu dem neben Hoffmann Julius Eduard Hitzig, Friedrich de la Motte-Fouqué, Adalbert Chamisso, Carl Wilhelm Salice Contessa, Friedrich von Pfuehl, David Ferdinand Koreff und Georg Seegemund zählten. Der Bund wurde im Spätherbst 1818 neu gegründet, jetzt unter dem Namen Serapions-Brüder, nach dem heiligen Serapion, einem

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Die wenigen Arbeiten, die sich mit dem Thema Hoffmann/Gutzkow beschäftigen, kommen aus der Gutzkow-Forschung. Die zwei neuesten Abhandlungen entstammen den Federn von Gert Vonhoff und Kurt Jauslin. In seiner Arbeit aus dem Jahre 1994 stellte Vonhoff fest, dass es außer seiner eigenen Studie überhaupt nur einen einzigen ausführlichen Forschungsbeitrag zu den Neuen Serapionsbrüdern gibt, nämlich Helga Lansers Dissertation aus dem Jahre 1935.¹¹ Sowohl Vonhoffs einsichtsvolle Interpretation des Romans als auch Lansers detaillierte Analyse sind nur wenig an der literarischen Verbindung Gutzkows zu Hoffmann und seinen Serapions-Brüdern interessiert. Vonhoff betrachtet Gutzkows Roman über die Gründerzeit vorwiegend „im Kontext seiner sozialhistorischen und literarischen Bezüge“,¹² und Lansers Dissertation konzentriert sich fast ausschließlich auf romantechnische Aspekte. Im Gegensatz zu Vonhoff und Lanser beschäftigt sich Jauslins¹³ Globalkommentar zu den Neuen Serapionsbrüdern zwar näher mit den Verbindungen, die zwischen den fast namensgleichen Werken besteht, richtet aber sein Hauptau-

ägyptischen Asketen und Märtyrer des 4. Jahrhundert, der am 14. November, dem Tag des Treffens, im Kalender stand. Hoffmann änderte daraufhin den Titel seines Buches von Die Seraphinen-Brüder in Die Serapions-Brüder um (vgl. Pikulik, S. 12–14 und Schnapp, S. 99–112, der die fiktiven Figuren des Hoffmannschen Rahmenzyklus Schritt für Schritt aus den realen Mitgliedern des erneut sich treffenden Seraphinenorders herleitet). Bei Gutzkow ist die Ableitung der Fiktion aus der Realität schwieriger, worauf schon Helga Lanser hinwies. Sie sieht eine mögliche Parallele zu einem burschenschaftlichen Kneipenkränzchen, dem Gutzkow als 19jähriger in den frühen 30er Jahren angehört hatte, da beiden Vereinigungen der „Gedanke der Ablehnung alles dessen, was das tägliche Leben sonst im Überfluss bietet, eigen ist“ (Lanser, S. 81). Eine andere, noch nicht entdeckte Parallele könnte man auch in der sogenannten Montagsgesellschaft sehen, in der Gutzkow Mitglied war, als er von 1847–1861 in Dresden lebte. Diese Montagsgesellschaft erinnert an Gutzkows Roman, weil sich die neuen Serapionsbrüder auch immer montags zu treffen pflegen. Die reale Montagsgesellschaft versammelte sich im Winter 1846 bei dem Komponisten Ferdinand Hiller und bildete vor der Märzrevolution den Sammelpunkt der Dresdner Kunst- und Geisteswelt, die zur Ausbildung des Realismus einen wichtigen Beitrag geleistet hat. Zu ihr gehörten neben Gutzkow u.a. die Dichter Berthold Auerbach, die Musiker Richard Wagner und Robert Schumann, der Architekt Gottfried Semper, der Bildhauer Ernst Rietschel, die Maler Eduard Bendemann, Julius Hübner, Julius Schnorr von Carolsfeld, Alfred Rethel und Arthur von Ramberg. Weitere Mitglieder kamen später zur Montagsgesellschaft hinzu, so etwa der realistische Schriftsteller Otto Ludwig (vgl. Jäger: „Der Realismusbegriff in der Kunstkritik“, S. 10.). 11 Vonhoff, Vom bürgerlichen Individuum zur sozialen Frage; Lanser, Die neuen Serapionsbrüder von Karl Gutzkow. 12 Vonhoff, S. 264. 13 Jauslins Kommentar aus dem Jahre 2009 ist ein Teil des Editionsprojekts der Gesammelten Werke von Karl Gutzkow.

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genmerk neben allgemeinen Beobachtungen zum Roman eher darauf, wie sich Gutzkow von seinem Vorgänger absetzt.¹⁴ Es spricht in der Tat zunächst einmal einiges dafür, die Unverträglichkeit der beiden Autoren hervorzukehren, denn Gutzkow scheint tatsächlich, wenn nicht gleich eine negative, so doch eine ambivalente Einstellung zu Hoffmann gehabt zu haben. In den zahlreichen Bemerkungen Gutzkows über Hoffmann liest man einerseits, dass Hoffmanns Originalität lediglich darin bestanden habe, „Absude und Tafelabgänge durch pikante Saucen wieder aufzufrischen“.¹⁵ Andererseits zählt Gutzkow Hoffmann genau wie Jean Paul zu den „Heroen [der deutschen Literatur], die schon an die Unterhaltung dachten”.¹⁶ Er gesteht Hoffmann auch „Witz“ zu, den er Balzac abspricht, der gern der „französische Hoffmann“ gewesen wäre.¹⁷ Generell lässt sich sagen, dass Gutzkow Hoffmann wohl mit „Phantasterei“¹⁸ und dessen literarische Produktion mit einer dem Publikum gefallen wollenden Reizliteratur gleichsetzt. In diesem Zusammenhang redet er von „Callot-Hoffmann“, der der „hitzigen Periode unserer Literatur“ zugehört, deren Produkte aus einem „künstlichen Rausche“ entstanden seien.¹⁹ Er spricht darüber hinaus von „den gespenstischen Karikaturen“ E.T.A. Hoffmanns und seinem Vermögen, „das selbst in die Sprache der Menschen [zu übersetzen], was er in der Sprache der Götter gefunden hatte.“²⁰ Die Vehemenz der überwiegend kritischen Bemerkungen über den Romantiker Hoffmann überrascht kaum bei einem Autor wie Gutzkow, der bis ins Alter ein begeisterter Vertreter der Tendenzpoesie blieb. Klemens Freiburg-Rüter umgrenzt den Begriff der „Tendenz“ bei Gutzkow folgendermaßen: „Ganz allgemein umfaßt er die gesamte Lebensreform, alles aus Opposition zu Romantik und Restauration Geborene, literarische, philosophische, politische und soziale Reformideen [...]“.²¹ Nichtsdestotrotz zeigt sich aber auch, dass Gutzkow nicht so weit von der idealistischen Epoche entfernt ist, wie er manchmal zu denken vorgibt.²² Er spricht sich zwar gegen manches in der Literatur der Klassik und Romantik aus, aber es gibt auch Gemeinsamkeiten, die den Tendenzschriftsteller mit dieser

14 Jauslin, S. 100–149. 15 Gutzkow, Liberale Energie, S. 86. 16 Ebenda, S. 245. 17 Gutzkow, „Französische Lyrik — Über Balzac“, S. 114. 18 Gutzkow, Liberale Energie, S. 259. 19 Ebenda, S. 116, 126. 20 Ebenda, S. 266, 259. 21 Freiburg-Rüter, S. 51. 22 Vgl. z.B. Steinecke, S. 34; Freiburg-Rüter, S. 55 und Demetz, S. 16–17.

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Epoche und auch mit Hoffmann verbinden. Einiges in seinen Schriften klingt so, als könne es direkt aus Hoffmanns Feder selbst stammen. Gutzkow beklagt sich z.B. bei den realistischen Novellen und Erzählungen darüber, dass sowohl der „geistige Gehalt“ als auch „die romantische Phantasie“ sich erschöpft hätten und einer „durch einige Arbeit erlangte Gewandtheit in stilistischer Beziehung“²³ Platz gemacht habe. Das erinnert an Hoffmanns in den Serapions-Brüdern ausgedrückte Sorge darum, dass so mancher Dichter bei einem Kunstwerk eher an der handwerklich orientierten Ausarbeitung der Feinheiten und an dem Überführen des Inhalts in seine angemessenste Form interessiert ist und dabei vergisst, dass diese Arbeit die wirkliche Schau des Dargestellten nicht ersetzen kann. Hoffmann kommt es hier im Zusammenhang mit dem serapiontischen Prinzip darauf an, der im Bereich der Phantasie stattfindenden wirklichen Schau eines Kunstwerks vor der modellierenden Arbeit des Verstandes den Vorrang zu geben.²⁴ Gutzkow geht es im obigen Zitat darum, den jungdeutschen Roman zu verteidigen, der, im Gegensatz zu der neuen realistischen Literatur, „Fragen der Philosophie und des sozialen Lebens poetisch zu erfassen und sie wenigstens in der Welt der Phantasie annähernd zu lösen [suchte]“.²⁵ Bezüglich der Dichtkunst sind sich aber beide darüber einig, dass bei primärer Konzentration des Künstlers auf „Form und Ausarbeitung“ (SB 54), der Leser den Eindruck von Kälte²⁶ und Leere nicht loswerden kann. Anlässlich der Diskussion der Dorfgeschichte und der Forderung des Grenzboten Realisten Julian Schmidt, bei seiner Arbeit solle der Roman das Volk aufsuchen,²⁷ wird Gutzkows Skepsis gegenüber der leeren, realistischen „Schilderung der Alltäglichkeit“²⁸ einerseits und seine Verbindung mit Hoffmann andererseits erneut evident. Folgender Kommentar über die Darstellungen der realisti-

23 Gutzkow, Liberale Energie, S. 257–258. 24 Das wird besonders an der Diskussion über die Aufnahme Leanders in den SerapionsKlub deutlich. Ottmar spricht sich am schärfsten gegen diesen, dem serapiontischen Prinzip widersprechenden Dichter aus, denn „alles was er schafft, hat er gedacht, reiflich überlegt, erwogen, aber nicht wirklich geschaut. Der Verstand beherrscht nicht die Fantasie, sondern drängt sich an ihre Stelle“ (SB 101). — Ich zitiere E.T.A. Hoffmanns Serapions-Brüder nach Hoffmann: Sämtliche Werke in sechs Bänden, Bd. 3. Die Zitate sind im Folgenden mit SB plus Seitenzahl direkt im Text nachgewiesen. 25 Gutzkow, Liberale Energie, S. 258. 26 In Hoffmanns Serapions-Brüdern ist die Rede davon, dass ein manchmal formvollendetes Kunstwerk durchaus wirkungslos bleiben und den Leser mit „innerem Frost“ durchgleiten kann (SB 54). 27 Schmidt, S. 318. 28 Gutzkow, Liberale Energie, S. 280.

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schen Dorfgeschichten, die nur „Spiegelbildswahrheiten und die Schönheit der genrebildlichen Ausführung für sich [haben]“,²⁹ macht das sehr deutlich: Kunst im höhern Sinne des Wortes, wie sie sich in der Erfassung und poetischen Begeisterung eines umfassenden Plans offenbart, innerliche Verklärung ihrer Gestalten und ein kühnes Formen und Bilden mit des Dichters in ,schönem Wahnsinn rollendem Auge‘ ist wenig in ihnen.³⁰

Wenn hier von „poetischer Begeisterung“ und von „des Dichters in ‚schönem Wahnsinn rollendem Auge‘“ die Rede ist, so erinnert das stark an die Figur des wahnsinnigen Anachoreten Serapion, von dessen Klarheit der inneren Schau der Serapionsbruder Lothar in seiner Definition des serapiontischen Prinzips spricht. Serapion dient in dem Hoffmannschen Rahmenzyklus als Beispiel dafür, wie ein Dichter sich für „die Tat, die Begebenheit vor seinen geistigen Augen sich darstellend mit aller Lust, mit allem Entsetzen, mit allem Jubel, mit allen Schauern“ (SB 54) begeistern und entzündet fühlen soll. Von da aus ist es nur noch ein kleiner Schritt zur angemessenen Darstellung. Der Dichter ist so von seinem inneren Bild ergriffen, „daß nur die inneren Flammen ausströmen durften in feurigen Worten“ (SB 54). Diese fast automatische Umsetzung des inneren Bildes in das äußere Leben findet sich optimal bei Serapion verwirklicht, und auch Gutzkow scheint diesem Gedanken der serapiontischen Genese eines Kunstwerks nach dem obigen Zitat zu urteilen durchaus nahe zu stehen. In Verbindung mit Gutzkows Geringschätzung des rein Handwerklichen in der Dichtkunst verstärkt sich dieser Eindruck noch. Des Weiteren spielt Gutzkow an einer Stelle auch mit Hoffmanns romantischem Gedanken der Kunstmetaphysik. Wie Hoffmanns typische Künstlerfigur Traugott aus dem „Artushof“ glaubt, dass seine Kunst „dem höhern überirdischen Reiche seliger Ahnungen zugewandt [sei]“ (SB 164), so berichtet Gutzkow im Zusammenhang mit dem „Roman des Nebeneinander“ von „Sphären“, aus denen „in manche Dissonanz Wohlklang, in manche Verzweiflung Trost, in manches unbefriedigte und unlösbare Einzelne ein lösender und beruhigender Wiederklang“ gebracht wird. Diese Sphären müssten „mit dem Nächstgeschilderten in sichtlichen Zusammenhang zu bringen unnatürlich scheinen, [und man] wäre [damit] vorläufig wenigstens da wieder angelangt, wo die Poesie schon oft gestanden hat: Der Dichter ist Seher, die Poesie Religion“.³¹ Mit dieser letzten

29 Ebenda, S. 280. 30 Ebenda, S. 280–281. 31 Ebenda, S. 229.

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Behauptung stellt sich Gutzkow in eine Tradition, in die auch Hoffmann einzureihen wäre. Im Zusammenhang mit dem serapiontischen Prinzip wird die Beziehung zwischen Dichter und Propheten deutlich hervorgehoben. Ein serapiontischer Künstler wie Serapion ist — so behauptet Lothar — ein „wahrhafter Seher“ (SB 54). Darüber hinaus wird der Kunst als einer „dem höhern überirdischen Reiche seliger Ahnungen“ (SB 164) zugewandten Form eine Art Erlösungsfunktion zugesprochen, die sonst ausschließlich die Religion innehat. An einer anderen Stelle geht Gutzkow, wiederum in Analogie zu Hoffmann und den Romantikern allgemein, von einem erweiterten Realitätsbegriff aus, wenn er behauptet: [Ich] glaube aber nicht, daß eben nur das geschehen kann, was geschieht. Unendlich ist das Reich der Möglichkeiten, jenes Schattenreich, das hinter den am Lichte der Begebenheiten sichtbaren Erscheinungen liegt. Es gibt eine Welt, die wenn sie auch nur in unsern Träumen lebte, sich ebenso zusammensetzen könnte zur Wirklichkeit, wie die Wirklichkeit selbst, eine Welt, die wir durch Phantasie und Vertrauen zu kombinieren vermögen. Schale Gemüter wissen nur das, was geschieht; Begabte ahnen, was sein könnte; Freie bauen sich ihre eigne Welt.³²

Ähnlich wie Hoffmann scheint Gutzkow sich hier gegen eine Reduktion der Welt auf das empirisch Erfahrbare und gesetzmäßig Erklärbare auszusprechen. Und wie Hoffmann hält er sich auch für noch unbekannte und unerforschte Gebiete offen. Von der Analyse der literaturkritischen Äußerungen Gutzkows her lässt sich eine Affinität Gutzkows zu Hoffmann kaum leugnen. Es sollte aber nicht der Beweis erbracht werden, dass Gutzkow ein verkappter Romantiker ist. Obwohl ihm die Forderung nach dem tendenziösen Gehalt der Literatur bis zum Ende seines Lebens wichtig bleibt, nähert er sich doch in seinen kritischen Reflektionen über die Tendenz und den Realismus häufig den ästhetischen Auffassungen der Romantik an.³³ Es wäre deshalb nicht mehr so erstaunlich, wenn Gutzkow auf Hoffmann zurückgriffe, wie er es in den Neuen Serapionsbrüdern zu tun pflegt.

32 Ebenda, S. 241. 33 Vgl. hier auch die Problematik der Beurteilung Goethes, dessen aristokratisches Denken unter den Jungdeutschen teilweise dazu führte, ihm das dichterische Talent abzusprechen. Wie im Falle Hoffmann macht Gutzkow es sich hier etwas schwieriger und ringt sich zu einer zumindest ambivalenten Einstellung durch. Er fragt sich, ob es denn gerecht sei, Goethe mit der „Bürgerkrone“ auch „den poetischen Lorbeerkranz [zu] entreißen“ (Gutzkow, Liberale Energie, S. 87). An anderen Stellen wurde hier schon ausgeführt, dass Gutzkow außerdem eine realistische Literatur kritisiert, die lediglich die Wirklichkeit nachzeichnet und alles Geistige aufgibt. Vgl. Gutzkow, Liberale Energie, S. 253.

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 Petra Liedke Konow

Es soll im Folgenden versucht werden zu zeigen, dass diese Verbindung zu Hoffmann in Gutzkows Roman weiter untermauert wird. Wie schon erwähnt, sind Lanser und Vonhoff nicht sehr an der Verbindung Gutzkows zu E.T.A. Hoffmann interessiert. Lanser vergleicht zwar die Werke beider Autoren miteinander, jedoch größtenteils nur, um die Besonderheiten des Romans Gutzkows im Unterschied zu Hoffmanns Rahmenzyklus hervorzukehren. Vonhoff redet von dem Zusammenhang beider Werke nur, um zu sagen, dass Gutzkow harmonisiert, wo Hoffmann sich für das Gefährliche, die Nachtseiten der Natur, offenhält: „[Im neuen Serapionsbrüderkreis] beunruhigt man sich nicht mit dem Erzählen phantastischer Geschichten, sondern versucht sich inmitten einer nicht mehr verstandenen gesellschaftlichen Realität seiner bedrohten bildungsbürgerlichen Wirklichkeitssicht rückzuversichern.“³⁴ Sowohl Lanser als auch Vonhoff weisen also darauf hin, wie sich Gutzkow von Hoffmann unterscheidet. Dasselbe gilt auch für Jauslin. Er behauptet, dass der Titel allein keineswegs an Hoffmann anknüpfen will und Gutzkow den Roman eher „als Revision seiner romantischen Vorlage“ verstehe.³⁵ Der Gedanke der Verbindung wird von allen nicht weiter aufgegriffen. Besonders Vonhoff als auch weniger prononciert Lanser haben das Argument gemacht, dass in Gutzkows Roman das liberal-bildungsbürgerliche Humanitätsideal des Natürlichen angepriesen wird, ein Rückzug ins familiäre Glück stattfindet und man sich auf das Alte neu besinnt.³⁶ Wäre es dann zunächst einmal nicht naheliegend, dass Hoffmann im Roman dazu gebraucht wird, das Tradierte zu unterstützen, und allgemeine Vorstellungen herauszustellen, die jetzt in Gefahr stehen, zerstört zu werden? Es wird sich zeigen, dass sich im Rahmen einer rückwärtsgewandten Philosophie, wie sie in den Neuen Serapionsbrüder zum Ausdruck kommt, Hoffmann als Vertreter dessen fungiert, was Gutzkow selbst als bewahrenswert erachtet. Er benutzt Hoffmann dazu, das Zeitgenössische zu kritisieren. In einem modifizierten Titelzitat und der Nennung des Autorennamens zu Beginn des Romantextes selbst wird direkt auf Hoffmann verwiesen, jedoch bereits auf die Verschiedenheit beider Serapionsbrüdergruppen aufmerksam gemacht. Gutzkow beschreibt in leicht satirischem Tone das erste Treffen der neuen Serapionsbrüder in einer Weinstube folgendermaßen:

34 Vonhoff, S. 292. 35 Jauslin, S. 100–149, hier S. 112. 36 Vonhoff, S. 274/301, 290, 338.

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Da konnten sich die „Neuen Serapionsbrüder“, wie sich ganz gemüthliche, unverschworene, auf den Umsturz nicht einmal eines Weinglases ausgehende Menschen, in Erinnerung an den alten berühmten E.T.A. Hoffman, nannten, versammeln und keinen andern Zweck verfolgen, als mit jener Eile, welche in dieser Stadt selbst die Schnecke und das Ai, das Faulthier, gehabt haben würden, wenn diese Bewohner der Gärten oder der Aquarien moralischer Impulse fähig sein könnten, flüchtig ein Frühstück zu verzehren, es mit einem halben oder ganzen Schoppen eines höchst zahmen „Mosel“ hinunterzuspülen und nach kurzer Plauderei wieder in den „Kampf um’s Dasein“ zurückzukehren, der bei allen Bewohnern dieser Stadt, sogar den Renten- und Kapitalbesitzern, immerdar ein harter und beinahe die ausschließliche Lebensaufgabe geworden schien.³⁷

Welch ein Unterschied zu den alten Serapionsbrüdertreffen bei Hoffmann: von der Hetze der neuen Serapionsbrüder ist da nie die Rede. Bei Gutzkow tragen die Mitglieder den modernen Zeitgeist in den Klub, wo sich die Hektik des Alltags deutlich bemerkbar macht. Scheint es auf den ersten Blick, als ob die neuen Serapionsbrüder sich wie Philister nach der Hoffmannschen Definition ausnehmen, so wird aber doch bald klar, dass sie sich in der Misere der Zeit dennoch etwas Kostbares bewahrt haben, nämlich den Luxus, sich in Muße zu versammeln. Im Prinzip sind dann die alten und neuen Serapionsbrüder doch nicht so weit voneinander entfernt. Der neue Serapionsbruder, der Bildhauer Althing, bekundet zwar: „Tieck oder Hoffmann! Das ist für unsere Zeit vorbei“ (NSB I,14), aber es ist ein nostalgisches Zurücksehnen, geboren aus der Unzufriedenheit mit den zeitgenössischen Verhältnissen. Beide Gruppen schaffen sich eine Gegenwelt: Hoffmanns Serapionsbrüder setzen sich von der ihnen verhassten Philisterwelt ab; Gutzkows Serapionsbrüder von einer Zeit, in der das alltägliche Leben aus Hetzen besteht und Stille als „Bummlertum“ (NSB I, 15) abgewertet wird, in der „romantische Freundschaftsversicherungen außer Mode gekommen“ (NSB I, 123) sind und in der man wenig an nicht Pragmatischem interessiert ist. In beiden Klubs hinterlassen die Versammlungen einen grundsätzlich wohltuenden Eindruck. Ähnlich wie die Zusammenkünfte der alten Serapionsbrüder, so konstituiert der Klub für die neuen Serapionsbrüder eine Alternative zur „materialistischen, anti-liberalistischen Ausrichtung [der gesellschaftlichen Wirklichkeit]“.³⁸ Während das bei Hoffmanns Serapionsbrüdern durch den Aufenthalt in einer der Philisterwelt entgegengesetzten Künstlerwelt erzielt wird, geschieht das bei Gutzkows neuen Serapionsbrüdern durch das Verweilen in einer Atmosphäre, wo Ruhe herrscht, wo Freundschaften gepflegt werden, wo man „nur überhaupt

37 Ich zitiere Gutzkows Gründerzeitroman nach Gutzkow, Die neuen Serapionsbrüder. Roman in drei Bänden, hier Band I, S. 2. Die Zitate sind im Folgenden mit NSB plus Band plus Seitenzahl direkt im Text nachgewiesen. 38 Vonhoff, S. 291.

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einmal unter Männern sitzen kann, die nicht ewig vom Reichstag, von Wahlen, Parteien, vom Hof, den kaiserlichen Reisen, den Paraden und den Theaterprinzessinnen erzählen“ (NSB I, 14). Dennoch sieht Jauslin überhaupt keine Verbindung zwischen dem Rahmen der Serapions-Brüder Hoffmans und der Stammtischrunde im neuen Roman. Er bezeichnet die Gesellschaft der neuen Serapionsbrüder als „eigenständiges Projekt des Romans“, die den „politischen, kulturellen und sozialen Hintergrund der Zeit [entfalten], den das Romangeschehen selbst immer nur ausschnitthaft spiegelt“ und „inhaltlich wie formal ein beharrendes Element“ darstellt.³⁹ Jedoch kann man auch Ähnliches von dem Rahmen der Serapions-Brüder behaupten. Der Rahmen bei E.T.A. Hoffmann bildet in gewisser Weise auch den Hintergrund zu den eingebetteten Geschichten, insofern als in ihm über die Bedingungen der Einlagen reflektiert wird und durch ihn dem Leser Informationen an die Hand gegeben werden, die den Blick auf diese bestimmen.⁴⁰ In Analogie zu Hoffmanns Rahmen werden auch bei Gutzkow mit Hilfe der zur Stammtischrunde gehörenden Figuren Werte des gebildeten Bürgertums entwickelt, die dem Roman als ganzen zugrunde liegen und in ihrer zeitkritischen Tendenz verteidigt werden. Die intertextuelle Relation zwischen Hoffmann und Gutzkow besteht in diesem Fall in einer Allusion, deren klassischer Marker Holthuis nach „auf kontextuelle Aspekte des Bezugstextes [referiert] und [...] auf diese Weise die typische Referenz ‚in absentia‘ [konstituiert]“.⁴¹ Eine solche Referenz ist wesentlich impliziter als eine Referenz in praesentia,⁴² wie sie beim Zitat vorliegt, und ist deshalb verstärkt von der Erkennbarkeitskompetenz des Rezipienten abhängig. Eine weitere intertextuelle Verbindung dieser Art wird im Hinblick auf das wichtigste Klubmitglied der neuen Serapionsbrüder, den Bildhauer Althing, offenkundig. Wegen seiner Künstlerprobleme und seiner Auffassung von der Kunst besteht eine enge Verbindung zwischen ihm und anderen Künstlerfiguren Hoffmanns. Wie etwa Traugott in der Serapions-Brüder Geschichte, „Der Artushof“, so sieht er die Kunst verunreinigt, wenn sie ins alltägliche (Geschäfts)Leben hinabgezogen wird: „Die Erwerbsfrage war ihm im Künstlerleben das Allerwiderwärtigste“ (NSB I, 92). Aus diesem Grund geht Althing manchmal in den Künstlerverein, wo er noch zuweilen „einen richtig construirten Menschen“ (NSB, I 37) antrifft. Hier findet er Zuflucht im letzten Ort des Nichtkommerziellen.

39 Jauslin, S. 100–149, hier S. 112 und 113. 40 Liedke Konow, S. 57–68. 41 Holthuis, S. 128. 42 Ebenda, S. 94.

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Desgleichen ähnelt Gutzkows Bildhauer den serapiontischen Künstlern Hoffmanns auch in Bezug auf die in den Serapion-Brüdern ausgesprochene Auffassung vom „Dichterhochmuts-Teufel“ (SB 317), dessen Merkmale nicht zum Künstlerprofil Althings gehören. Die Serapionsbrüder Hoffmanns verurteilen die Überheblichkeit und Selbstgefälligkeit eines Künstlers und plädieren für eine kritische Distanz gegenüber den eigenen Schöpfungen und sich selbst. Dieser Forderung entspricht der alte Althing, wie man aus den Worten seines Sohnes über ihn entnehmen kann: „Er kann nicht schmeicheln, kann nicht renommiren, nicht wie Christian Rauch den olympischen Jupiter als Goethe der Plastik sich selbst darstellen oder wie Rietschel sich selbst als den gotttrunkenen Schiller! Seine Weise ist die Einfachheit und Schlichtheit und am wenigsten versteht er die Politik der Hintertreppe — !“ (NSB I, 33–34). Bezüglich der Gestaltung der Künstlerfiguren hat Gutzkow noch eine weitere Ähnlichkeit mit Hoffmann. Unter den positiven Künstlergestalten bei Hoffmann findet man oft negative, die von dem „Dichterhochmuts-Teufel“ geplagt werden. Man denke nur an die Möchtegernkünstler Capuzzi in „Signor Formica“ und Amandus von Nebelstern in „Die Königsbraut“, deren Blick durch einfältige Eitelkeit verblendet ist, oder an Klingsohr in „Der Kampf der Sänger“, dessen Stolz ihn im Vergleich mit den anderen Sängern negativ oder zumindest problematisch erscheinen lässt. Im Kontrast dazu zeichnet sich unter den positiven Künstlergestalten besonders Wolfframb von Eschinbach in „Der Kampf der Sänger“ durch seine „fromme Bescheidenheit“ (SB, 303) aus. Und an Traugott in „Der Artushof“ zeigt sich, dass ein echter Künstler eher von Zweifeln an seinem Künstlertum als von Selbstgefälligkeit bestimmt wird. Eine ähnliche Konstellation trifft man bei Gutzkow an. In den Neuen Serapionsbrüdern wird einer positiven Künstlerfigur ebenfalls ein negativer Künstler gegenübergestellt. Der negativ konnotierte Fürst Egmont Ziska Prinz von Rüdt und zu Rauden, den man bezeichnenderweise Prinz Narziss nennt, ist ein „weichlicher“, „eitler, ganz in sich versunkener Mann“, dessen Wahn darin bestand, „ein Componist von hohem Beruf zu sein“ und dessen Dilettantismus sich darin zeigt, dass er einen Kontrapunktisten, Meyer, einstellen muss, um seine „höhere Katzenmusik, in eine gesetzmäßige Form“ zu bringen (NSB II, 86f.). Der ironische Ton, mit dem der talentlose Musiker beschrieben wird, erweckt die Erinnerung an Hoffmanns Porträts grotesker Künstlergestalten. Wie bewusst sich Gutzkow der Hoffmannschen Figurendarstellung war, zeigt sich an der Bemerkung über die Baronin Ugarti, von der behauptet wird, dass sie eine Person war, „die in Hoffmanns Märchen gepaßt haben würde, Alles an ihr war Kunst, Schminke, Stahlfeder, Guttapercha (sie log mit 60 Jahren eine Jugend von 30)“ (NSB II, 233). Dem ironisch gezeichneten, negativen Künstler, Prinz Narziss, steht Althing gegenüber, der, wie schon ausgeführt,

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in einigen Aspekten an die authentischen Künstlergestalten Hoffmanns erinnert. Wie Hoffmann in seinem Alterswerk mittels der Serapionsbrüder eine Selbstcharakterisierung seiner Dichtung⁴³ entwickelt, so scheint auch Gutzkow Althing in seinem letzten Opus zu einem Sprachrohr einiger ihm wichtiger ästhetischer Prinzipien gemacht zu haben. Diese Beobachtung stünde in Einklang mit Lansers Behauptung, dass Gutzkow sich in Althing selbst dargestellt habe. Sie beweist das mit dem Hinweis auf die Parallelen zwischen Gutzkows Charakterzeichnung des Bildhauers und dem eigenen Selbstporträt in den Rückblicken auf mein Leben: Die Stirne runzelnd, niemandes Gunst erflehend, ging ich meine eignen Gedankenwege. Träges Lungern auf abgegraster Matte ließ ich andern, Buhlen mit „Personen und Zuständen“, Sichakkomodieren an „Begriffliches“, [...], ließ ich früheren Kampfgenossen, die mir nun Gegner wurden.⁴⁴

Weitere intertextuelle Bezüge zwischen Hoffmann und Gutzkow in Form einer Referenz in absentia sollen zum Schluss noch durch eine im Roman leitmotivisch auftretende Metapher, die „Sonne der Nacht“, veranschaulicht werden. Diese Metapher wird von Jauslin in seinem Globalkommentar zu den Neuen Serapionsbrüdern ausführlich diskutiert, jedoch ohne eine Verbindung zu Hoffmann herzustellen. Er sieht die „Sonne der Nacht“ als „Metapher für die Dialektik der Aufklärung [...], in der Licht und Dunkel untrennbar vermischt sind.“⁴⁵ Gutzkow bleibe Aufklärer, der diese Dialektik ans Licht befördere. Er leugne „weder die von der Wissenschaft geschaffenen Naturgesetze noch die Idee einer metaphysischen Entgrenzung der Natur.“⁴⁶ Es scheint, als käme Jauslin auch ohne die Bezüge zu Hoffmann zu Einsichten, die ihn etwa mit der Identifizierung der „Sonne der Nacht“ als „mythische Metapher“, die „auf eine jenseits dieser Wirklichkeit existierende Welt“⁴⁷ verweise, direkt in die Hoffmannsche Gedankenwelt führen. In den Bemerkungen über die Verbindungen zwischen Hoffmann und Gutzkow in Gutzkows kunstkritischen Schriften wurde bereits darauf hingewiesen, dass der jüngere mit dem älteren Schriftsteller einen breiteren Realitätsbegriff teilt. Hoffmanns Serapions-Brüder sind geradezu ein Plädoyer für eine erweiterte Wirklichkeitsauffassung.⁴⁸ Für Gutzkows Roman trifft das auf ähnli-

43 Vgl. Liedke Konow, S. 57–68. 44 Lanser, S. 48; Gutzkow-Zitat aus Rückblicke auf mein Leben 1829–1849, S. 216. 45  Jauslin, S. 100–149, hier S. 140. 46 Ebenda, S. 142. 47 Ebenda, S. 141, 142 48 Vgl. Liedke Konow, S. 57–68, hier S. 61–62.

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che Weise zu. In den Neuen Serapionsbrüdern muss in diesem Zusammenhang deshalb besonders auf die „Sonne der Nacht“ verwiesen werden, von der in allen drei Bänden des Romans wiederholt die Rede ist. Sie steht im Gegensatz zur „Sonne des Tages“ und wird zum ersten Mal von dem Sanitätsrat Eltester in die Diskussion eingeführt. Eltester will den Montagsklub der neuen Serapionsbrüder lieber nach Serapis, dem ägyptischen Aesculap nennen, der gleichzeitig die „Sonne der Nacht“ gewesen sein soll: Ja, fuhr der Sanitätsrath fort, ein tiefer Glaube, diese ägyptische Annahme eines Gottes der Nachtsonne, der uns des Nachts abgewandten Sonne, recht eines Bildes der Wissenschaft, des geheimnißvollen Lebens der Natur. (NSB I, 49)

„Die Sonne der Nacht“ wird im Roman mit Begriffen wie „einer verschütteten Welt“ (NSB I, 169), „dem geheimnisvollen Walten der Natur“ (NSB III, 305), „der Kehrseite aller Dinge“ (NSB I, 275), „dem tiefsten inneren Schacht der Empfindungen“ (NSB III, 131), „der Welt der noch unentschleierten Wahrheiten“ (NSB II, 190), „der Vorstellung von einem Weltganzen, das die Serapispriester mit Fackeln in der Nacht feierten“ (NSB I, 276) und „dem Geheimniß des Welt- und Menschenzwecks“ (NSB II, 190) assoziiert. Man findet sie auch mit „geheimnisvoller Magie“ in Zusammenhang gebracht: Solche Fragen an das Ungeborene im Menschen! Es ist, wie wenn man ein Saatkorn in Egyptens Pyramiden gefunden hätte! Es liegt da Tausende von Jahren in einem Mumiengrabe! Es hätte Leben nur für die Sonne der Nacht gehabt! [...] Es war bestimmt, am jüngsten Tage beim allgemeinen Erwachen die erwachende Mumie zu ernähren! Aber des Forschers wühlerischer Sinn, der den Glauben der Alten verlacht, zerstört die geheimnißvolle Magie! Er reißt das Mumiengrab auf — die Körner zerstreuen sich, werden in die alltägliche Existenz, in die Sonne des Tages verpflanzt. (NSB II, 21f.)

Es wird hier recht deutlich, dass Gutzkow mit dem Konzept der „Sonne der Nacht“ und der „Sonne des Tages“ romantischem Gedankengut verpflichtet ist. Die Verbindung liegt in zwei Punkten: Erstens in dem naturmystischen Naturbegriff, der wie bei den Romantikern das Unergründlich-Geheimnisvolle der Natur betont; zweitens in der Dichotomie zwischen einer erweiterten und philiströs-begrenzten Wirklichkeitsauffassung — einem Gegensatz, dem bekanntlich bei Hoffmann eine erhöhte Bedeutung zukommt. In diesbezüglicher Analogie zu Hoffmanns Serapions-Brüdern wird in den Neuen Serapionsbrüdern die „Sonne des Tages“ „zur Metapher für die alltägliche Durchschnittlichkeit der historischen Wirklichkeit, ja für den prosaischen Mangel des Alltäglichen, das vor allem von Egoismus, Lug und Trug bestimmt

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ist.“⁴⁹ Demzufolge beklagt sich Ottmar, der Sohn des Künstlers Althing und eine Hauptfigur im Roman, einmal darüber, dass „Philisterismus und Frauenurtheil“⁵⁰ (NSB III, 182) die Welt beherrschten. In dem Gegenkonzept zur „Sonne des Tages“, der „Sonne der Nacht“, wird, ganz nach romantischer Art und Weise, die empirische Realität aufgebrochen und das Hauptgewicht auf das noch nicht Ausgesprochene, Unentschleierte gelegt. An einer Stelle des Romans macht Gutzkow klar, was mit diesem Unenthüllten gemeint sein kann. Er schildert die Visionen des Justizrates Luzius, der, sonst ein Serapionsbruder, „der am Tage immer scharf der Sonne in’s Antlitz zu sehen pflegte“, jetzt „mit der ‚Sonne der Nacht‘ beschäftigt [ist]“ (NSB II, S. 190). In dieser Vision steht Luzius „vor dem Throne der ewigen Wahrheit, da, wo die Sonne noch von einem mächtigen Vorhange bedeckt ist und nur einzelne blendende Strahlen durchgleiten läßt“ (NSB II, S. 191) und erinnert sich dann seines noch ungesühnten Verbrechens, für das ein Unschuldiger büßen musste, während er straffrei ausging und zu hohen Ehren und Reichtum gelangte. Die thematische und bildliche Verbindung zur Romantik liegt hier in der Annahme der Existenz und dem Beleuchten von noch Unerkanntem. Um zu zeigen, wie eng Gutzkow in dem Lichtaspekt mit der Romantik verbunden ist, soll ein Zitat von Curt Grützmacher angeführt werden, der sich mit dessen Bedeutung in Novalis’ Hymnen an die Nacht auseinandersetzt, in denen interessanterweise auch von der „Sonne der Nacht“ die Rede ist:⁵¹

49 Vonhoff, S. 297. 50 Obwohl Ottmar weder hier noch woanders in dem Roman näher auf diese Behauptung eingeht, kann man das Gemeinte doch mit Begrenztheit oder Eindimensionalität umschreiben. Bezüglich der Abwertung des Frauenurteils muss man allgemein im Roman sagen, dass sich hier generell kein emanzipatorisches Rollenverständnis feststellen lässt. Das zeigt sich z.B. bei der Diskussion der neuen Serapionsbrüder um das Bedürfnis des Mannes nach dem „Weib an sich“: „Ja, sagte Major Brandt, der Begriff kommt wirklich leider zu sehr abhanden. Die Ansprüche der Frauen wachsen zu maßlos. Die weibliche Emancipationssucht, die Schriftstellerei in diesem Fach, das Einfordern von Gleichberechtigung mit den Männern, die Einstellung von Frauen in öffentliche Ämter, wie solche unter dem Schutz einer falschen Humanitätsund Sentimentalitätslehre bereits begonnen hat, ziehen eine Weiblichkeit groß, auf welche nachgrade die alten Verherrlichungen der Dichter nicht mehr passen. Das Schöne entschwindet aus der Welt. Wir haben vor’m Jahre das Erhabene in unsern Sitzungen aufgegeben. Wir werden es auch mit dem Schönen, Fesselnden, Bescheidenen, Gebundenen, Beseligenden am Weibe thun müssen“ (NSB III, 300). 51 „Preis der Weltkönigin, der hohen Verkündigerin heiliger Welten, der Pflegerin seliger Liebe — sie sendet mir dich — zarte Geliebte — liebliche Sonne der Nacht, — nun wach ich — denn ich bin Dein und Mein — du hast die Nacht mir zum Leben verkündet — mich zum Menschen gemacht — zehre mit Geisterglut meinen Leib, daß ich luftig mit dir inniger mich mische und dann ewig die Brautnacht währt“ (meine Hervorhebung. Novalis: Hymnen an die Nacht, S. 56).

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Die Nacht wird zur bedeutenden Erlebnissphäre [...], das heißt, der bisher an die Möglichkeiten rationaler Erkenntnis gebundene Zeigewert des Lichtes weicht einer Transzendentalfunktion, die durch ein der Nacht zugehöriges Licht — die „liebliche Sonne der Nacht“ — übernommen wird. Die Blickrichtung geht nach innen, abwärts, weg aus den Bereichen der Empirie zu neuen Ufern, in ein Land poetischer Wirklichkeiten.⁵²

Es ist im Allgemeinen nicht anzunehmen, dass Gutzkows Zielvision die blaue Blume des Romantikers Novalis war, jedoch liegen seine anvisierten, „neuen Ufer“ jenseits des bisher Erfahrbaren. In seinen kritischen Schriften macht das Gutzkow sowohl bei der Auseinandersetzung mit dem Realismus und Idealismus als auch mit dem spekulativen Roman deutlich.⁵³ Bezüglich des Idealismus und Realismus fordert er in der 1857 formulierten Definition des Realidealismus einen „Idealismus, der sich real, d.h. auf Voraussetzungen der Natürlichkeit und Wirklichkeit, zu offenbaren und auszusprechen, und einen Realismus, der seine Anschauung des Lebens und der bunten Erscheinungswelt zu einem Kunstwerk zu konzentrieren sucht.“⁵⁴ In diesem Essay kommt Gutzkow auch zu dem Ergebnis, dass der Streit zwischen beiden Richtungen eigentlich ein müßiger und der Vorwurf des Realismus der neuesten Zeit, „daß der Idealismus zum Schattenreich und Wesenlosen führe; Schiller, Jean Paul, die Romantiker und unsere transzendentale Philosophie hätten nur Straßen angebahnt, die in eine Utopien führen“,⁵⁵ sozusagen unberechtigt sei. Unberechtigt findet er in einem 1846 erschienenen Essay auch die Kritik an dem spekulativen Roman, bei dessen zersetzenden Negativität leicht vergessen werde, dass sie aus der „Sehnsucht nach einer Wahrheit, die dem ernstlich Suchenden sich nicht verhüllen wird“, geboren ist und „dann auch wieder die frohe Botschaft, das Evangelium des Friedens und einer versöhnten Hingebung bringe“.⁵⁶ Was sich Gutzkow in seiner Auseinandersetzung mit dem Realismus und Idealismus bzw. dem spekulativen Roman zu zeigen bemüht, ist, dass seine Zielvision bei aller Ausrichtung auf die Realität immer auch etwas Unwirkliches, Zukünftiges ins Auge fasst, „denn die Wahrheit selbst ist unsichtbar und liegt niemals in dem, was wirklich ist.“⁵⁷ In Gutzkows Neuen Serapionsbrüdern, die die Realität der Gründerjahre in der ersten Hälfte der siebziger Jahre zum Gegenstand haben, liegt diese Vision

52 Grützmacher, „Zum Verständnis der Werke“; Novalis, Hymnen an die Nacht, S. 246. 53 Gutzkow, Liberale Energie, S. 257–258, 263–264. 54 Ebenda, S. 253–254. 55 Ebenda, S. 252–253. 56 Ebenda, S. 264. 57 Ebenda, S. 242.

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in der Wiedereinsetzung des Natürlichen. Am Ende des Romans wird diese Idee direkt aus der „Sonne der Nacht“ entwickelt: „Fördern Sie diese Religion der Natur! Werde sie immer mehr die Reglerin unsrer Handlungen! Was nicht aus der Natur, dem freien Willen, aus dem Geiste geboren ist, dem Geist, der die Pflanze, das Sonnenlicht begreift, kann kein Gesetz, keine Regel mehr geben! Das Natürliche allein ist Sieger!“ (NSB III, S. 306). Wir lesen diese Forderung bekräftigend auch an einer anderen Stelle: „Die Natur ist die Reglerin aller Dinge! [...] Unsre künstlichen Voraussetzungen! Unsere überlieferten Vorurteile müssen fallen!“ (NSB II, S. 297). Nachdem nun der Beweis für die Affinität zum Prätext geführt wurde, soll im Folgenden ausführlicher erarbeitet werden, wie sich diese Erkenntnisse mit dem Roman als ganzen vereinbaren lassen. Bernd Schulte-Middelich hat darauf aufmerksam gemacht, dass intertextuelles Verweisen von der Bestätigung bis hin zur totalen Ablehnung des Wirklichkeitsmodells des Prätextes führen kann.⁵⁸ Es konnte hier gezeigt werden, dass es sich bei dem intertextuellen Verweisen in den Neuen Serapionsbrüdern entgegen den Erkenntnissen der neuere Forschung zu Gutzkows Roman um eine Bedeutungsbestätigung des Prätextes handelt. Die Rückkehr zu dem Original bedeutet hier eine Bestätigung von dessen Geist. Durch den Rückbezug auf den früheren Text und seine Ideensysteme geschieht auch eine Abwertung des Wirklichkeitsmodells im Folgetext. Der Prätext hilft, die Verarmung der geistigen und kulturellen Situation in der Welt des nachfolgenden Textes sinnfällig zu machen.⁵⁹ Mit der Schilderung des „tiefen Zuges im Zeitgeiste“, den Gutzkow in seinem späten Essay über den Idealismus und Realismus in der Literatur als Weltschmerz bezeichnet,⁶⁰ ist der Roman nicht untypisch für die Gründerzeit, in der laut Georg Jäger der Pessimismus, die Verdüsterung des Weltbildes, eine kulturbestimmende Macht wird: „Der Pessimismus hat aus der Berufung auf die Alltagswirklichkeit mit ihrer Not und ihrem Leid seine Stärke gezogen.“⁶¹ Aber Gutzkow bleibt an dieser Stelle nicht stehen. Er fordert „Ideen, Abstraktionen, Träume von Glauben, Wissen, Denken, Fühlen u.s.w.“, denn „irgendeinen Zweck, irgendeine Idee, eine Zuspitzung“ müsse das Beschriebene doch haben.⁶² Demetz fasst diesen Anspruch noch einmal prägnant zusammen: „die Idee muß den Roman beherrschen, [...] ein Element des Geistes und der Leidenschaft, das sich nicht mit dem

58 Schulte-Middelich, S. 216–217. 59 Ebenda, S. 216, 224. 60 Gutzkow, Liberale Energie, S. 257. 61 Jäger, „Die Gründerzeit“, S. 129. 62 Gutzkow, Liberale Energie, S. 253.

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Gegenwärtigen der Gesellschaft zufrieden gibt, und auf eine erfüllbare Zukunft hindeutet.“⁶³ Das aufklärerisch anmutende Natürlichkeitspostulat⁶⁴ ist nur ein Ideal, das Gutzkow im Roman aufstellt, beziehungsweise eine Lösung, die er im Roman für die Fragen des sozialen Lebens anbietet. Sowohl diese als auch andere Ideen beziehen sich auf Althergebrachtes. Man beachte in diesem Zusammenhang auch die Namensgebung des Künstlers Althing,⁶⁵ die man entgegen Lansers Behauptung⁶⁶ doch als sprechend bezeichnen könnte. Wie gezeigt werden konnte, greift Gutzkow noch auf den romantischen Freundschaftsbund,⁶⁷ den idealistischromantischen Kunstbegriff, die romantische Naturauffassung und die romantische Ablehnung einer beschränkten Perspektive für das Wirkliche zurück. Vonhoff verweist darüber hinaus auf die Rückbesinnung auf bürgerliche Familien- und Gesellschaftsideale und den Glauben an eine klassenübergreifende Humanität.⁶⁸ Wegen dieser anachronistischen Rückbesinnung kritisiert Vonhoff Gutzkow und macht ihm zum Vorwurf, dass es dem Roman an „einer insgesamt geschichtlich erhellenden Analyse der historischen Wirklichkeit“ mangelt, weil es sich bei ihm nicht um ein analytisches Zeitbild, sondern um ein „rückwärtsgewandtes Leitbild“ handelt.⁶⁹ In den Neuen Serapionsbrüdern bleibt Gutzkow immerhin seinem Vorsatz treu, tatsächliche Verhältnisse zu schildern. Der Roman bietet in der Tat ein breites zeitgeschichtliches Panorama und die Vehemenz, mit der bildungsbürgerlich-liberale Positionen verteidigt werden, ist ein untrügliches Zeugnis für die Ver-

63 Demetz, S. 24. 64 Vonhoff bemerkt diese Verbindung mit der Aufklärung auch, jedoch spricht er Gutzkows Natürlichkeitspostulat den einstigen revolutionären Anspruch ab (S. 282). In Die Neuen Serapionsbrüder von Karl Gutzkow sieht Lanser in der Forderung nach der „Wiedereinsetzung des Natürlichen“ eine Verbindung mit Eduard von Hartmanns Philosophie des Unbewussten (1868): „Hartmann sieht im Unbewussten das Ding an sich. Alles wird hier aus Trieben heraus erklärt, durch die aus dem Unbewussten heraus die Handlungen des Menschen beeinflusst werden. Gutzkow umgrenzt den Begriff des Triebhaften noch schärfer, indem er vor allem den Trieb zum Natürlichen als den einzig richtigen hinstellt” (S. 179). 65 „Altes Ding“ oder „hing am Alten“ sind mögliche Assoziationen zu dem Namen Althing. 66 Lanser, S. 68. 67 Vonhoff nennt die neuen Serapionsbrüder eine „bildungsbürgerliche Privatgesellschaft“, die in den siebziger Jahren vielerorts „‚zum Surrogat einer nicht mehr vorhandenen kritischen Öffentlichkeit‘ [...]‚ zu Freiräumen humanen Lebens‘, ‚letzten Festungen bürgerlich-liberaler Werte‘, zu ‚Inseln der Idealität‘ inmitten einer zunehmend weniger verstandenen Realität [wurde]“ (S. 286–287). 68 Ebenda, S. 271, 292, 315. 69 Ebenda, S. 344.

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unsicherung und Bedrohung dieser Ideen. Kurt Jauslin sieht in Gutzkows letztem Roman nicht nur eine Verunsicherung und Bedrohung dieser Werte, sondern ihre Wirkungslosigkeit angesichts der Zeitverhältnisse bestätigt. Obwohl diese alten Werte im Roman letztlich in ihrer Vergeblichkeit gezeigt werden, spricht das noch nicht gegen diese Werte, sondern vielmehr gegen eine Gesellschaft, in der sie zum Scheitern verurteilt sind. Ich stimme daher mit Jauslin überein, der in diesem Scheitern altliberaler Vorstellungen ein Element der Modernität des Romans sieht und ihn mit Adornos negativer Dialektik in Zusammenhang bringt, nach der nur das wahr sei, was nicht in diese Welt passe.⁷⁰

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70 Jauslin, S. 100–149, hier S. 119.

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Jäger, Georg: „Der Realismusbegriff in der Kunstkritik.“ In: Realismus und Gründerzeit. Manifeste und Dokumente zur deutschen Literatur 1848–1880. Bd.1. Hrsg. von Max Bucher, Werner Hahl, Georg Jäger und Reinhard Wittmann. Stuttgart: J.B. Metzler 1976, S. 9–28. Jäger, Georg: „Die Gründerzeit.“ In: Realismus und Gründerzeit. Manifeste und Dokumente zur deutschen Literatur 1848–1880. Bd.1. Hrsg. von Max Bucher, Werner Hahl, Georg Jäger und Reinhard Wittmann. Stuttgart: J.B. Metzler 1976, S. 96–159. Jauslin, Kurt: „Globalkommentar.“ In: Die Neuen Serapionsbrüder. Hrsg. von Kurt Jauslin. Altdorf: Editionsprojekt Karl Gutzkow 2011, S. 100–149. Web. 20 Januar 2012. . Kaiser, Gerhard R.: E.T.A. Hoffmann. Stuttgart: J. B. Metzler 1988. Kemper, Nina: Intertextualität in Carolina Funkes Roman Tintenherz. Norderstedt: Grin Verlag 2005. Kristeva, Julia: „Word, Dialogue and Novel.“ In: The Kristeva Reader. Hrsg. von Toril Moi. Oxford: Blackwell 1986, S. 34–61. Lanser, Helga: „Die Neuen Serapionsbrüder von Karl Gutzkow. Romanuntersuchung.“ Dissertation, Karl-Franzens-Universität zu Graz 1935. Liedke Konow, Petra: „Sich hineinschwingen in die Werkstatt des Autors.“ In: E.T.A. Hoffmann Jahrbuch 2 (1994), S. 57–68. Novalis: Monolog, Die Lehrlinge zu Sais, Die Christenheit oder Europa, Hymnen an die Nacht, Geistliche Lieder, Heinrich von Ofterdingen. Hrsg. von Ernesto Grassi. Rowohlts Klassiker der Literatur und Wissenschaft. Bd. 11. Hamburg: Rowohlt 1963. Pikulik, Lothar: E.T.A. Hoffmann als Erzähler. Ein Kommentar zu den Serapions-Brüdern. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1987. Schmidt, Julian: Geschichte der deutschen Literatur im neunzehnten Jahrhundert. 2. Aufl. Bd. 3. Leipzig: F.L. Herbig 1855. Schnapp, Friedrich: „Der Seraphinenorden und die Serapionsbrüder E.T.A. Hoffmanns.“ In: Literaturwissenschaftliches Jahrbuch. Bd. 3. Hrsg. von Hermann Kunisch. Berlin: Duncker & Humblot 1962, S. 9–112. Schulte-Middelich, Bernd: „Funktionen intertextueller Textkonstitutionen.“ In: Intertextualität. Formen, Funktionen, Anglistische Fallstudien. Hrsg. von Ulrich Broich und Manfred Pfister. Tübingen: Niemeyer 1985, S. 197–242. Steinecke, Hartmut: Literaturkritik des Jungen Deutschland. Entwicklungen— Tendenzen — Texte. Berlin: Erich Schmidt Verlag 1982. Vonhoff, Gert: Vom bürgerlichen Individuum zur sozialen Frage. Romane von Karl Gutzkow. Frankfurt/Main: Peter Lang 1994.

Österreich Tradition und Innovation

Gabriele Dillmann

„Meine eigentliche Göttin, die Kunst“ Zum frühzeitigen Abbruch von Franz Grillparzers Selbstbiographie Hosen und der Ruf kein Dieb zu sein sind sich darin ähnlich: Hat man sie, so macht es keine Ehre, doch hat man sie verloren so glaubt jedermann berechtigt zu sein uns zu schmähen.¹

Franz Grillparzer (1791–1882) bricht seine 1853 verfasste Selbstbiographie scheinbar unversehens mit dem Satz ab: „Es fehlte nämlich, wie an Dichtern, so auch allgemach an Schauspielern und endlich sogar an einem Publikum.“² Dieser Satz, der sich äußerlich auf die unter seinen eigenen Werken von ihm selbst besonders geschätzte, aber von der Kritik und vom Publikum nur kühl aufgenommene Tragödie Des Meeres und der Liebe Wellen bezieht, wirkt geradezu wie ein Epitaph auf sein Leben, auf sein verletztes Selbstverständnis als Dichter. Zum Zeitpunkt der Niederschrift der Selbstbiographie (1853/54) schreibt Grillparzer bereits seit fünfzehn Jahren nicht mehr für die Bühne.³ Die Schilderungen der Lebensereignisse brechen mit dem Jahr 1836 nochmals zwölf Jahre früher ab. Wie ist es zu verstehen, dass Grillparzer genau an dieser Stelle das Projekt seiner Selbstbiographie aufgibt? Bei meiner Auseinandersetzung mit der Selbstbiographie ergaben sich zwei zunächst parallel verlaufende Aspekte, die sich letztendlich als miteinander verbunden zu einer These gestalteten. Auf der einen Seite stellt sich die Frage nach den Umständen, unter denen Grillparzer seine persönlich reflektierten Lebensereignisse niederschrieb, also die Frage nach der Motivation und dem Schreibanlass für die Selbstbiographie. Auf der anderen Seite geht es darum, was mit dem Dichter und Menschen nun während dieses Schreibprozesses geschieht, zu welchen Einsichten er gekommen ist, die zu diesem unvermittelten Abbruch der Selbstbiographie geführt haben. Schon Herbert Seidler betont in seiner Arbeit zu

1 Grillparzer, „Tagebücher“, Sämtliche Werke, Bd. 4, S. 227. 2 SB, S. 178. Im Folgenden sind alle Zitate aus der Selbstbiographie, Sämtliche Werke, Bd. 4 mit SB bezeichnet. 3 Am 6.3.1838 wird das ein Jahr zuvor vollendete Lustspiel Weh dem, der lügt uraufgeführt. Daraufhin zieht sich Grillparzer vom Theater zurück. Sämtliche Werke, S. 1091.

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Grillparzers Selbstbiographie als literarisches Kunstwerk, wie sich, unter Berücksichtigung der Tatsache, dass es sich um eine Auftragsarbeit handelt, „im Verlauf des Schreibens der Erzählimpuls verstärkt“: „[Grillparzer] schrieb darauf los und kam bald ins Erzählen [...] es ging ihm wie dem armen Spielmann, der auch während des Erzählens draufkam, daß es eine Geschichte wurde.“⁴ Die treibende psychologische Kraft, die den Abbruch bedingt, ist vordergründig durch eine unverhaltene Schamdynamik zu erklären. Scham ist immer in Relation zu Anderen zu sehen, als das „Erleben fehlender intersubjektiver Anerkennung“.⁵ Sowohl die Selbstbiographie als auch andere autobiographische Schriften wie Tagebücher und Erinnerungen zeigen uns wiederholt, wie sehr Grillparzer zeitlebens ein Publikum brauchte, nicht nur um als Dichter und Künstler produktiv sein zu können, sondern um als Mensch bestehen zu können, um einigermaßen unversehrt durch das Leben zu kommen. Unter solcher Voraussetzung entsteht sein Erstlingswerk Die Ahnfrau, denn Grillparzer findet nicht nur in dem Theaterintendanten Schreyvogel einen idealisierbaren „Zuhörer“, auch das Werk selbst ist vom Grundmotiv des Nicht-Verstandenwerdens, der ungenügsamen Spiegelung, durchzogen. Es handelt sich dabei keinesfalls um irgendein Publikum, sondern um eins, das ihn als Mensch und Künstler versteht, und das er umgekehrt schätzt und liebt. Grillparzer übersteht damit unter anderem Zensur, Unverständnis und Unterschätzung von Seiten der Kritik, aber auch Fehleinschätzungen von Dichterkollegen — solange er nur das Publikum auf seiner Seite weiß. Als sich mit der Aufführung Des Meeres und der Liebe Wellen ein erstes, größeres Unverständnis breit macht, das sich dann noch durch den Misserfolg von Weh dem, der lügt zur Ablehnung steigert, wird die psychische Verletzung unerträglich. Die Arbeit an der Selbstbiographie bricht an dieser Stelle ab, denn einer Wiederherbeiführung des Schmerzes will sich der Dichter nunmehr nicht mehr aussetzen. Inmitten der Arbeit an der Selbstbiographie kommt dann noch eine weitere schmerzliche Erkenntnis hinzu, nämlich die der zunehmenden Vereinsamung: „Auch sie [„das Studentenmädel“] ist jetzt tod [sic], wie beinahe alles was mir im Leben näher gestanden hat, männlichen, vor allem aber weiblichen Geschlechts und doch bin ich nicht älter als 62 Jahre.“⁶ In diesem und dann schließlich im letzten Satz der Selbstbiographie wird die Sinnlosigkeit dieses Projekts für den Dichter deutlich und auch die Integration in sein poetisches Werk kann nicht mehr über den Ernst dieser Erkenntnis hinwegtäuschen.

4 Seidler, S. 17. 5 Tiedemann, S. 246. Siehe auch: Nathanson, S. 5–23; Kohut, The Analysis of the Self, S. 3–27. 6 SB, S. 51.

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Der äußere Anlass ist bekannt. Grillparzer teilt diesen auch gleich zu Beginn seiner Aufzeichnungen mit: „Die Akademie fordert mich (nunmehr zum dritten Male) auf, ihr meine Lebensumstände zum Behufe ihres Almanachs mitzuteilen.“⁷ Diese Aufforderung bezieht sich auf ein Schreiben der Akademie der Wissenschaften, der Grillparzer seit 1846 angehörte. In einem Schreiben vom 1. Januar 1849 wird Grillparzer, so wie auch andere Mitglieder, dazu aufgefordert, „biographische Notizen“ und zwar „denkwürdige Ereignisse des eigenen Lebens“ für den Almanach der kaiserlichen Akademie mitzuteilen. Nach der dritten Aufforderung geht Grillparzer schließlich auf den Wunsch der Akademieverwaltung ein. Interessant ist, dass der Dichter dem Leser diesen Umstand ohne Umstände mitteilt, indem er die wiederholte Aufforderung in Klammern „(nun zum dritten Male)“ zu Beginn des Textes einfügt, um gleich vorweg seine eigentliche Unwilligkeit hervorzuheben. Bei einem selbstgefälligeren Künstler wäre nicht auszuschließen, dass dieser damit noch mehr auf seine außerordentliche Bedeutung aufmerksam machen wollte; doch zu dem bescheidenen Grillparzer, dem eine jegliche Selbstinszenierung zuwider ist, passt dies nicht. Diese Zurücknahme seiner Person kommt dann weiter zum Tragen, wenn er fürchtet, dass „wenn sich das [nämlich das seinige] Interesse daran einstellen sollte, zu weitläufig zu werden“, was dadurch behoben werde könne, dass „man ja aber später auch abkürzen [kann]“.⁸ Wie ist es nun zu verstehen, dass Grillparzer dann doch dem Wunsch der Akademie nachgegeben hat, und warum zu diesem Zeitpunkt? Kann die Antwort über das „Drängen“ der Verwaltung hinaus nicht doch auch das Bedürfnis sein, das sich in diesen Jahren langsam entwickelt hat, die Geschichte seines Künstlerlebens niederzuschreiben? Grillparzer schließt ja von Anfang an keinesfalls aus, dass er diesem Projekt nicht doch auch einiges Vergnügen abgewinnen könnte. Diese ihm gewissermaßen „auferlegte“ Aufgabe erlaubt es ihm schließlich auch ein narzisstisches Bedürfnis zu befriedigen, und zwar sich in den Mittelpunkt des Interesses zu stellen, ohne dabei dem (Selbst-)Vorwurf der Befriedigung grandioser Bedürfnisse ausgesetzt zu sein. Schließlich hat man ihn gewissermaßen überredet sich zu zeigen. Nach der selbstpsychologischen Narzissmustheorie Heinz Kohuts ist es den narzisstisch verletzten Menschen ein Unerträgliches, sich in ihren narzisstischen Bedürfnissen als erkannt geben zu müssen.⁹ Sie fühlen sich „nackt“, ein Ausdruck, den Grillparzer selbst benutzt, um die Beschämung bei der Vorstellung,

7 SB, S. 20. 8 SB, S. 59. 9 Vgl. Kohut, The Analysis of the Self.

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sein Inneres aufgedeckt zu wissen, zu beschreiben.¹⁰ Die mit der narzisstischen Verletzung verbundene Grandiosität, die als ein restoratives und regenerierendes Prinzip zur Wiederherstellung des seelischen Gleichgewichts gewertet ist, empfindet er als peinlich, als „unschicklich“, wie die Diskussion zur Erstaufführung der Ahnfrau unten zeigen wird. Grillparzers empfindsame und einfühlsame Persönlichkeit, „die psychologische Intensität“,¹¹ die ihm ja auch von der Literaturkritik einstimmig bestätigt wird, lässt zudem auf eine besonders ausgeprägte Fähigkeit zur selbstreflektiven Introspektion schließen. Weiterhin ist es wichtig festzuhalten, dass durch den „Auftraggeber“, die kaiserliche Akademie, also eine akademische, vorwiegend bürokratische Einrichtung, bereits gewisse Einschränkungen bei der Verfertigung eines solchen Dokuments gegeben sind. Es handelt sich bei dieser „Auftrags-Autobiographie“ um ein Subgenre zur Autobiographie, dessen Eigengesetzlichkeit theoretisch und wissenschaftlich noch nicht gründlich untersucht worden ist. Denn es ist die Frage nach der Motivation, die durch den Auftrag anders beantwortet werden muss. Die Leser können in der Autobiographie den Wunsch des Autors, seiner eigenen Lebensgeschichte Sinn zuzuordnen, eine zusammenhängende Geschichte aus den Einzelheiten zu schaffen, nachvollziehen. Die von einem allgemeinpsychologischen Verständnis begründete These, dass „einer der wichtigsten Gründe für einen Menschen eine Autobiographie zu schreiben der Wunsch schreibend zu entdecken [sei], was er war und damit was er ist, was sein Leben bedeutet hat und was es im gegenwärtigen Augenblick bedeutet“,¹² reicht hier allein nicht mehr aus. Grillparzer hat ausgiebig Tagebuch geführt — Tagebuch ist dem autobiographischen Schreiben zuzuordnen, wenn es, wie dies bei Grillparzer der Fall ist, über das stichwortartige Kalenderführen weit hinausgeht.¹³ Allerdings liest man bei Grillparzer nichts über den Wunsch, eine Autobiographie zu schreiben, die der Reflexion über das zurückliegende Leben dienen soll. Tagebuchschreiben heißt in erster Linie, sich etwas im Moment von der Seele zu schreiben. Seltener ist der Zweck, längst Zurückliegendes zu reflektieren und in den Gesamtzusammenhang des eigenen Lebens einzuordnen. Man könnte sich hier fragen, warum sich bei Grillparzer dieses Bedürfnis, in einer geordneten Form über das gesamte Leben retrospektiv zu reflektieren, so ausdrücklich nicht eingestellt hat. Grill-

10 Vgl. „Ich mag meinen innern Menschen nicht nackt zeigen [...]“. Brief an Katharina Fröhlich vom 30. Juni 1826. Sämtliche Werke, S. 777. 11 Nehring, S. 74. 12 Mazlish, S. 286. 13 Vgl. Dusini, Tagebuch. Möglichkeiten einer Gattung.

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parzers Ethos, die Dinge im Nachhinein nicht anzurühren und sich stattdessen mit dem Geschehenen zufrieden zu geben, könnte hier eine bedeutende Rolle spielen. Wolfgang Nehring beschreibt Grillparzers selbstauferlegte Demut vor der Unausweichlichkeit der Lebensgeschehnisse zutreffend als „Anwaltschaft der Stille“.¹⁴ Werner Welzig sieht neben Grillparzers „Arbeitssituation und Psyche“ dessen „zögernde, versuchende Inangriffnahme [der Selbstbiographie]“ als Resultat der unklar bestimmten Aufforderung der Akademie, wie diese im Schreiben an deren Mitglieder mitgeteilt worden war. In der Tat scheinen die Erwartungen an die Biographen unklar gewesen zu sein, denn es wird um „autobiographische Mittheilungen in möglichster Ausdehnung“, die der Akademie „anvertraut“ werden sollen, und um „sonst denkwürdige Ereignisse [deren] Lebens“ in dem Schreiben gebeten.¹⁵ Gleichzeitig soll allerdings laut dem Politiker und Kunstkenner Ernst von Feuchtersleben, der zusammen mit Grillparzer zur Mitgliedschaft eingeladen worden war, der Hauptzweck der „biographischen Notizen“ sein, „den wissenschaftlichen Charakter ihrer Mitglieder genetisch zu erläutern“.¹⁶ Feuchterslebens Aufzeichnungen seien nach Welzig auf „das Unentbehrlichste“ eingeschränkt, mit der Absicht, so Feuchtersleben, eine „ungebührliche Breite“ und „eine confidenzielle Färbung“ zu vermeiden, da dies „dem akademischen Zwecke unangemessen“ gewesen wäre.¹⁷ Da Feuchtersleben trotz aller Unklarheiten dem Wunsch der Akademie dann doch ohne Verzögerung nachgekommen war und dessen Autobiographie bereits beim ersten Erscheinen des Almanachs 1853 abgedruckt wurde, ist nicht auszuschließen, dass sich Grillparzer an dieser für seine eigene Niederschrift orientiert hat — zumindest scheint dies anfänglich seine Absicht gewesen zu sein. Grillparzer bleibt in diesem Sinne dann auch ganz nah an der Aufgabe, seinen Werdegang als Dichter darzustellen. Der Leser findet kaum wirklich Privates. Episoden, die nicht unbedingt auf seine künstlerische Entwicklung Einfluss hatten, sucht man vergebens, Vorkommnisse rein privater Art sind oft nur oberflächlich gestreift. Von seinen Beziehungen zu Frauen erfahren wir kaum etwas,

14 Nehring, S. 77. 15 Zitiert nach Welzig, „Elemente autobiographischer Erzählung“, S. 222. Leider muss ich mich auf die Information in Werner Welzigs Beitrag allein verlassen, da das „Schreiben“, der „Brief“ an die Mitglieder im Archiv der Österreichischen Akademie der Wissenschaften, trotz Hilfestellungen der Archivangestellten nicht auffindbar zu sein scheint und der Autor keine weiteren Angaben zur Quelle macht. Email Korrespondenz mit Dr. Stefan Sienell, Österreichische Akademie der Wissenschaften, Archiv, 6. Oktober 2009. 16 Welzig, S. 223. 17 Ebenda, S. 223.

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zu seinen intimeren Liebesverhältnissen gar nichts. Dabei spielten nach seinen Tagebuchaufzeichnungen besonders Frauen und die Erotik eine wichtige Rolle in seinem Leben und dienten nicht selten als Inspiration für seine Werke. Ähnlich verhält es sich mit seiner Mutter. Man erfährt nur wenig von ihr, außer, dass sie eine „herzensgute Frau“ war, die Musik über alles liebte, aber in praktischen Dingen eher als ungeschickt galt.¹⁸ Dass sie an Depressionen litt, dringt zwar durch, aber genauere Umstände werden nicht erzählt. Der Selbstmord der Mutter wird als solcher nur angedeutet, aber nicht weiter ausgeführt. Man überliest diesen tragischen Moment und erkennt keineswegs, dass es sich bei ihrem Tod um einen Freitod handelte.¹⁹ Die kurze Erwähnung hat eben gerade mit der Tatsache zu tun, dass die Umstände ihres Todes in Wien als bekannt gelten konnten. Eine genauere Ausführung in Bezug auf den Tod der Mutter ist deshalb nicht vorzufinden, weil diese nicht mit dem Auftragscharakter der Selbstbiographie übereinstimmt. Inwiefern der Selbstmord der Mutter für Grillparzers psychologische Verfassung bedeutsam ist — und wie sich diese auf sein Künstlerleben ausgewirkt hat — muss aus anderen Zeugnissen, also aus Tagebüchern, Briefen und Aussagen von Zeitgenossen gewonnen werden. Arno Dusini argumentiert, Grillparzer sei dadurch der Aufforderung der Kaiserlichen Akademie nicht gerecht geworden, dass seine Schilderung Lücken, beziehungsweise Zeitverschiebungen aufweise, welche die Kontinuität seiner „Entwicklungsgeschichte“, die vielleicht doch auch als „Bildungsgeschichte“ hätte gelesen werden können, unterbrechen.²⁰ Grillparzer spricht von Ereignissen, von „marternden Gedankenfäden“, die er zeitlebens zu vergessen und zu verdrängen suchte, indem er diese „abriss“ und „sich in eine neue Reihe versetzte“, anstatt „die unangenehmen Gedanken fortzudenken bis sie im Verstande eine Lösung finden“.²¹ Die im „Ganzen widerspenstige Form“ der Selbstbiographie sei dadurch letztendlich als die „Folge widriger Lebensumstände“ erklärt. „Aporien [des Lebensganges] bezeichnen ein Konstruktionsprinzip der Selbstbiographie“.²² Dazu gehören auch die episodenhaften, „ruckartigen“ Schilderungen und unvermittelten Anekdoten, wie diese bereits Seidler als literarische Phänomene beschrieben hat.²³

18 SB, S. 20. 19 Siehe „Totenprotokoll“, SB, S. 897: „NB. Hat sich erhängt“. 20 Dusini, S. 37. 21 Ebenda. 22 Ebenda. 23 Vgl. Seidler, S. 22.

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Die eigentliche Kontinuität kann am besten vom Psychologischen her verstanden werden. Grillparzer besteht darauf, sich nicht „nackt“ zu zeigen und führt gleichzeitig wichtige Lebensereignisse ohne Unterbrechung weiter. Das macht er, indem er zwar auf die Art und Weise, wie er mit „Widrigkeiten“ im Leben umging, ausführlich eingeht, also diesen Umgang mit psychischen Verletzungen thematisiert. Allerdings erfahren wir nicht, wodurch diese „marternden Gedankenfäden“ bestimmt sind, was die innere, tiefere Substanz dieses Schmerzes ausmacht. Dadurch wird Grillparzer seinem Anspruch auf Privatsphäre gerecht und schließt damit gleichzeitig die scheinbaren Lücken der Selbstbiographie durch die Darstellung eines Verdrängungsmechanismus als existentielle Notwendigkeit, derer er sich nicht erwehren kann. Anhand der häufig zitierten Episode, in der Grillparzer seine Reaktion auf die Aufführung seiner Ahnfrau schildert, möchte ich kurz darauf hinweisen, wie Grillparzer der tiefenpsychologischen Dimension in seinen Schilderungen ausweicht. Der Dichter stellt für den Leser das Wie seiner Reaktion dar, aber das Wodurch dieser starken Reaktion, bleibt vage und ungewiss: Die Vorstellung [hier ist die Aufführung gemeint], obwohl vortrefflich, machte auf mich den widerlichsten Eindruck, es war mir als ob ich einen bösen Traum verkörpert vor mir hätte. Ich fasste damals den Vorsatz, der Vorstellung keines meiner Stücke mehr beizuwohnen, ein Vorsatz, den ich bis heute gehalten habe.²⁴

Im Gegensatz dazu bemüht sich Grillparzer in einem Tagebucheintrag, den Grund für seine Erschütterung zu verstehen, was sich ihm auch nur „teilweise“ erklärt, und was er aber doch nicht, in seinen eigenen Worten ausgedrückt, „ganz vermag“.²⁵ Ich denke, wenn man mir unvermutet mein eigenes großes lebensgroßes Bild, in Wachs geformt, nach der Natur bemalt und doch in seiner ganzen toten Starrheit, vor die Augen brächte, würde mein Gefühle viel ähnliches mit jener Empfindung haben. Die Gestalten, die man geschaffen und halb schwebend in die Luft gestellt hat, vor sich hintreten, sich verkörpern zu sehen, den Klang ihrer Fußtritte zu hören, ist etwas höchst Sonderbares.²⁶

Diese Erfahrung korrespondiert mit der „Verkörperung“ in der Selbstbiographie, während sich der „böse Traum“ auf eine weitere Erklärung aus dem Tagebuch bezieht:

24 SB, S. 77. 25 SB, S. 267. 26 SB, S. 268.

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Die Aufführung meines Stückes hat auch offenbar mein Schamgefühl verletzt. Es ist etwas in mir, das sagt, es sei ebenso unschicklich das Innere nackt zu zeigen als das Äußere.²⁷

Diesem Schamgefühl wird also in der Selbstbiographie nicht nachgegangen, sondern es versteckt sich hinter dem allgemeinen Idiom des „bösen Traums“. Eine derartige intime Betrachtung seines inneren Selbst gibt Grillparzer der Öffentlichkeit nicht preis. Wenn in meiner obigen Betrachtung der Darstellung der persönlichen Gedanken Grillparzers in der Selbstbiographie die Rede von „Gedankenfäden“ war, dann handelt es sich hier um einen Gefühlszustand, und zwar um einen, der einen Menschen auf eine besonders gravierende Weise belastet: die Scham. Scham ist eine Reaktion auf die Enthüllung von Intimem. Scham tritt zum Beispiel bei empfundener Entblößung oder einem Achtungsverlust im sozialen Umfeld auf. Sie kann auch durch Verfehlungen oder durch die empfundene Unzulänglichkeit (Peinlichkeit) Anderer ausgelöst werden, die einem gemeinschaftlich verbunden sind.²⁸ Schämt sich Grillparzer etwa für seine eigene Unzulänglichkeit? Oder schämt er sich für das von ihm Er- oder Gedachte? Immerhin geht es in der Ahnfrau ja um Geschwister-Inzest und Vatermord. Da es Grillparzer bei der Selbstdarstellung ja darum gehen soll, sein Künstlerleben in seiner Entwicklung darzustellen, sich als Künstler zu erklären, ist die Frage, inwiefern diese Reaktion auf sein erstes aufgeführtes Stück für seine Entwicklung zum Künstler von Bedeutung war, gerechtfertigt. Und diese Episode gehört deshalb unbedingt in die Selbstbiographie. Den Leser interessiert gerade an der Autobiographie, im Gegensatz zur Biographie, deren spezifische Perspektive, die uns so nur der Autobiograph selbst geben kann. Grillparzer hilft uns hier leider nicht weiter. Dabei beschreibt er selbst — allerdings mit jugendlich überschwänglicher Ironie — in seinem „Bruchstück einer Selbstbiographie“ von 1814 als „kleinen Nebenzweck“ der für seinen Freund Georg Altmüller verfassten dreiseitigen „Selbstbiographie“ die Vorzüge eines solchen Unternehmens für den späteren Biographen: „Der Gedanke, dass, wenn ich einst in der vollen Blüte meines Ruhms, von den Musen beweint, ins Grab steigen werde, diese Blätter meinem künftigen Biographen Stoff und Richtung geben sollen, ist nicht der kleinste von allen.“²⁹ Die Frage, ob sich der Dichter vielleicht nach der Darstellung des Inneren der Figuren für seine Figuren schämt, so wie man sich für seine Mitmenschen

27 Ebenda. 28 Siehe Nathanson, Shame and Pride, „shame-related scripts“, S. 308–309. Siehe auch Mertens, S. 5–23; Kohut, The Analysis of the Self, S. 3–27. 29 Sämtliche Werke, Bd. 4, S. 9.

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schämen kann, ist eine weitere Möglichkeit, die dann aber offen bleibt. Paradox ist dabei, dass er als Künstler mit sich zufrieden sein müsste, denn die Aufgabe des Dichters ist es ja gerade, die Figur zum Leben zu bringen, und ihr eine Innenwelt zukommen zu lassen, die sich nach außen auf der Bühne gestaltet. Wenn sich also der Dichter für seine Figuren schämt, dann muss ihm die psychologische Darstellung jener ausgesprochen gut gelungen sein. Doch vor dem eigenen Schamempfinden verblasst dieser optimistische Gedanke zur Nebensache. Gehen wir also davon aus, dass der Dichter sich für seine Innenwelt schämt, bzw. dass es etwas in ihm gibt, das Schamgefühle auslöst, dessen er sich bewusst ist, und deren Zusammenhänge ihm selbst verständlich sind oder auch nicht. Doch diesem Gedanken auch nur in Ansätzen in der Selbstbiographie nachzugehen, wäre „unschicklich“. Der Leser muss sich damit begnügen, und sich bemühen, selbst die Lücken zu schließen, falls er die psychologische Kontinuität der Schilderung dieses Künstlerlebens ihrer Beschaffenheit nach verstehen möchte und sich mit dem Vorkommen dieser allein nicht zufrieden geben möchte. In anderen Worten: der Leser muss die Fäden selbst zusammen knüpfen. Dadurch allerdings setzt sich Grillparzer notwendigerweise der Spekulation in Bezug auf seine Innenwelt aus, was einem verschlossenen, und eben doch vor allem von Urteil anderer Menschen abhängigen Menschen, wie Grillparzer dies nachweislich war, noch unerträglicher sein kann als die eigene Preisgabe. Grillparzers Unsicherheit in Bezug auf sein eigenes Können, „dieses immerwährende Zweifeln an [s]einem eigenen Werte“,³⁰ quält ihn andauernd bis hin zur zeitweiligen Einstellung seiner Arbeiten. Damit ist nun nicht nur die konkrete Arbeit an dem derzeitigen Projekt gemeint, sondern oft sind es auch Erinnerungsfetzen, halberinnerte Bruchstücke, welche die Psyche überfluten und eine Weiterführung der Arbeit unmöglich machen. Die Selbstbiographie bricht ab, als Grillparzer sich den Schamgefühlen des Versagens nicht mehr erwehren kann. Wie stark Grillparzer die ganze Bandbreite dieser Dynamik in ihrer Auswirkung auf sein Wesen selbst bewusst ist, können wir nicht wissen; dass er jedoch mit dem Erscheinungsbild und den Symptomen der Scham als solcher intim vertraut ist, kann man unter anderem aus seinen poetischen Werken ableiten. Für die Literaturwissenschaften ist in der kontemporären psychoanalytischen Theorienbildung die Intersubjektivitätstheorie zum Verständnis der Scham für die nicht-klinische besonders hilfreich. Diese erklärt die Scham als zwischenmenschliches Phänomen und nicht als eines, das sich rein aus innerpsychischen Komponenten zusammensetzt, also nicht als eines, welches von den klassischen

30 Tagebucheintrag vom 25. Juni 1810: Sämtliche Werke, Bd. 4, S. 257.

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Trieben her verstanden werden muss, die ja einem Textinterpreten meist verschlossen bleiben, selbst wenn diese sich in „lesbarer“ Pathologie manifestieren. [Scham] muss als Relikt einer interpersonalen Situation der Beschämung und Demütigung angesehen werden, als Erleben fehlender intersubjektiver Anerkennung. Diese wird als Zurückweisung, Missachtung und im schlimmsten Fall als Verworfen- sowie Ausgestoßensein empfunden und erlitten. Der abwertende, verachtende oder nichtresonierende Blick ist die entscheidende Komponente dabei. Wo Scham anzutreffen ist, gibt es immer einen Beschämenden (real anwesend oder verinnerlicht).³¹

Grillparzer beschreibt, beziehungsweise versucht wiederholt, das Verhältnis zu seinem Vater zu beschreiben, was ihm nicht so recht gelingen will. Dieses Misslingen ist auch dafür verantwortlich, dass der jüngere Grillparzer alle drei Versuche (1814, 1822, 1835) einer Lebensdarstellung gleich nach oder inmitten der Schilderung seiner Kindheit aufgibt. Hin- und hergerissen zwischen dem Bedürfnis nach Mitteilung und der Idealisierung des Vaters, entsteht ein scheinbar widersprüchliches Bild. Der zentrale Konflikt ist, dass der Sohn nicht über die Verwundung durch die allgemeine Lieblosigkeit des Vaters hinwegkommt und so um seine Liebe kämpft und ihn gleichzeitig ablehnt. So erhofft er sich, wenn auch nicht Zärtlichkeit, so dann doch Anerkennung und Lob. Doch dies ist von Anfang an zum Scheitern verurteilt, denn der Vater hat „eine entschiedene Abneigung gegen alle Verse“ und prophezeit dem Jungen, dieser werde „trotz mancher Anlagen“ mit seiner Schreiberei „zuletzt auf dem Miste krepieren“.³² Dass der junge Grillparzer dann ausgerechnet Theaterstücke in Versen schreibt, braucht nicht zu verwundern. So entwickelt sich eine Dynamik, in welcher der Sohn zeitlebens versucht, sich selbst zu beweisen, dass er der Anerkennung des Vaters wert war. Grillparzer erlebt das Nicht-Interesse des Vaters an ihm als Geringschätzung. Dafür gibt es dann auch etliche Situationen, in denen der Vater die Arbeiten des Sohnes regelrecht als „unverständig — abgeschmackt — absurd — höchster Unsinn“ beschimpft. Gleichzeitig jedoch, und das ist hier das Tragische, sind es gerade „Spuren von Bildung, Belesenheit und Scharfsinn“, die dem Vater an dem Jungen „Freude machten“ und die diesem Achtung von Seiten des Vaters verschafften. ³³ Egal wie der Junge es anstellt, er wird den Erwartungen des Vaters nicht gerecht. So entsteht eine Schamdynamik, die sich so vehement auf sein Schaffen und seine Charakterentwicklung auswirken soll.

31 Tiedemann, S. 246. 32 SB, S. 15. 33 Ebenda.

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Als Grillparzer das Projekt der Niederschrift seiner Lebensschilderungen 1838 abbricht, hätte es noch fünfzehn Jahre zu erzählen gegeben. Der Abbruch ist unvermittelt und abrupt, die Selbstbiographie bleibt Fragment. Grillparzer reicht seine Aufzeichnungen nie an die Akademie ein. Erst posthum wird diese in die Gesamtausgabe³⁴ aufgenommen und der Öffentlichkeit bekannt. Das Jahr 1838 beschreibt den Rückzug des Dichters aus der Theaterwelt. Im März dieses Jahres wird Grillparzers erstes Lustspiel Weh dem der lügt aufgeführt. Doch das erzählt uns der Selbstbiograph nicht mehr. Tatsächlich gerät nun mit den letzten Schilderungen, der Reise nach Frankreich und England 1836, die Chronologie völlig durcheinander. Der letzte Abschnitt in der Selbstbiographie bezieht sich nach Grillparzer auf Des Meeres und der Liebe Wellen. Grillparzer hatte sich 1834 um die Stelle als Universitätsbibliothekar beworben, die er dann nicht bekam, wie dies Grillparzer auf der vorletzten Seite der Selbstbiographie auch als „ungefähr“ erinnert schildert. Im darauffolgenden Abschnitt beschreibt der Dichter dann wie sich zum selbigen Zeitpunkt mit Des Meeres und der Liebe Welle „ein neuer dramatischer Stoff fand“.³⁵ Dieses Drama war aber bereits 1831 aufgeführt worden, nachdem es bereits über mehrere Jahre (seit 1825) entstanden und 1829 schließlich vollendet war. Grillparzers Bemerkung kann sich sehr wohl auf seine Enttäuschung hinsichtlich der negativen Rezeption auf dieses Stück bezogen haben, doch hat er zu diesem Zeitpunkt an dem Lustspiel Weh dem, der lügt gearbeitet. Dies war vom Publikum und der Kritik besonders negativ aufgenommen und tatsächlich bei der Uraufführung am 1838 ausgepfiffen worden. Verwechslungen bei Zeitabläufen sind in der Selbstbiographie zwar nicht ungewöhnlich, lassen aber auch öfters aufgrund der starken seelischen Verletzung, die mit dem jeweiligen Ereignis einhergeht, wie es hier der Fall ist, auf eine psychische Fehlleistung zurück schließen. Nun wäre es ein Leichtes, die Einstellung der Arbeit an der Selbstbiographie mit der Schamproblematik allein zu erklären. Das sähe dann so aus: Grillparzer will und kann sich dem Schmerz der narzisstischen Verletzung durch diese Demütigung nicht noch einmal aussetzen. Was er immer geahnt zu haben glaubte, letztendlich dem Ideal seines Künstlertums nicht gewachsen zu sein, hat sich als wahr herausgestellt. Dies hat er spätestens schreibend entdeckt. Seine Fähigkeiten reichten nicht aus, oder wie Grillparzer dies selbst resignierend ausdrückt: „Man kann eben nicht immer was man will.“³⁶ Der Schmerz wird dann noch dadurch verstärkt, dass er sich von seinem Publikum verraten fühlte. Es

34 Vgl. Laube und Weilen, Grillparzers Sämmtliche Werke, 1872. 35 SB, S. 178. 36 SB, S. 178.

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hat ihn gerade da, als er es brauchte, verlassen. Deshalb brach er ab, bevor es darüber zu schreiben an der Zeit war. Es handelt sich also um einen Selbstschutz. So würden sein Rückzug vom Theater 1836 und der Abbruch der biographischen Niederschrift sinngemäß zusammenfallen und beides wäre damit erklärt. 1836 bedeutet ein grandioser, und das vielleicht sogar im doppelten Sinne des Wortes, Einschnitt in Grillparzers Künstlerleben. Bis zu diesem Zeitpunkt glaubte er, seinem Publikum zu gehören trotz aller Widrigkeiten und Enttäuschungen, die er ihm vorzuwerfen hat. Doch nachdem er sich von dieser letzten traumatischen Erfahrung erholt hatte, erlebte er sich als wieder ganz der Kunst gehörend. Grillparzer vertraute zeitlebens auf die Kunst als Anker seines Selbst, unabhängig davon, dass er auch immer wieder an seinen eigenen Fähigkeiten zweifelte. Die Selbstbiographie enthält eine bedeutende Zahl an Äußerungen, die davon Zeugnis ablegen, wie bewusst sich Grillparzer der Gefahr war, gerade unter den widrigsten Umständen die Voraussetzung zur eigenen Produktivität zu schützen: Zugleich hat die immerwährende Zurücksetzung und jene insolence of office, mit der erbärmliche Menschen nur gar zu gern ihre Amts-Autorität gegen mich geltend machten, mein Gemüt verbittert. Als nun noch dazu die Abnahme meiner Geltung in der deutschen Literatur kam, bemächtigte sich meiner ein Gefühl der Verlassenheit, das bei einer hypochondrischen Anlage, endlich auch jener Stimmung gefährlich wird, die gerade zur Hervorbringung poetischer Arbeiten vor allem erforderlich ist.³⁷

Tatsächlich geht Grillparzer aus diesen Enttäuschungen als Künstler nicht gebrochen hervor. Im Gegenteil, nach seiner Entscheidung, sich aus dem öffentlichen Leben zurückzuziehen, erlebt Grillparzer ein künstlerisches Hoch, eine ungemeine Produktivität, während dieser er seine wohl größten Werke schreibt.³⁸ Als er 1851 Die Jüdin von Toledo vollendet, kann er von sich sagen, fünfzehn Jahre lang seinem schon „früh empfundene[n] Gefühl der Kunst ganz anzugehören“ endlich nachgekommen zu sein.³⁹ Gestärkt durch diese Phase der gesteigerten Produktivität hatte Grillparzer das Projekt der Selbstbiographie aufgenommen, und während des Schreibens erkannt, dass er ein Publikum eigentlich doch gar

37 SB, S. 115. Auch „Herzensangelegenheiten“ sollen die künstlerische Arbeit in keinem Falle stören dürfen: „Das [die Liebe] gab nun Glück und Unglück in nächster Nähe, obwohl letzteres in verstärktem Maße, da mein eigentliches Streben doch immer dahin ging, mich in jenem ungetrübten Zustande zu erhalten, der meiner eigentlichen Göttin, der Kunst, die Annäherung nicht erschwerte oder wohl gar unmöglich machte.“ SB, S. 131. 38 Zwischen den Jahren 1838 und 1852 entstehen Libussa (1847), Ein Bruderzwist in Habsburg (1848), Esther (Fragment, 1848), die Erzählung „Der arme Spielmann“ (in der Zeitschrift Iris, 1848) und Die Jüdin von Toledo (1851). 39 SB, S. 131.

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nicht wirklich braucht — zumindest kein so unzuverlässiges — um künstlerisch produktiv sein zu können. Er hat sich schreibend von seiner vermeinten Abhängigkeit von der Beurteilung durch sein Publikum und durch seine Widersacher befreit. Mit dieser Erkenntnis stellt er dann auch die Selbstbiographie ein.

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Ivett Guntersdorfer

„Habe die Ehre!“ Schnitzlers Novellen „Die Toten schweigen“ und „Leutnant Gustl“ alla Schopenhauer¹ Die Ehre ist objektiv, die Meinung anderer von unserem Wert und, subjektiv, unsere Furcht vor dieser Meinung. Arthur Schopenhauer2

Arthur Schnitzlers erste als Buch publizierte Erzählung, die im Jahre 1892 erschienene Novelle „Sterben“, lässt sich als eine Abrechnung mit der zeitgenössischen Philosophie lesen:3 Ganz konkret wird Schopenhauer durch die erbitterten „Qualausrufe“ des sterbenden Felix als Lügner angeklagt:4 Eines Tages traf [den Kranken] Alfred an, wie er eben einen Band Schopenhauer auf seine Bettdecke hatte sinken lassen und mit verdüsterter Miene von sich schaute. […] „Diese Herren da aber“ — und er wies mit den Augen auf den Band, der auf der Decke lag, „sind niederträchtige Poseure“.5

Dass Schnitzler selbst mit der Philosophie haderte, kann man aus seinen Briefen und Tagebüchern an mehreren Stellen herauslesen. 1886 berichtet er seiner langjährigen Freundin Olga Waissnix über die im Sterben nachklingenden Vorbehalte gegen die Philosophen seiner Zeit: [F]ür heute nur so viel, daß ich mich wahnsinnig auf die Philosophen geworfen habe und beginne mit Kant, besonders Schopenhauer gut Freund zu werden, obzwar sie meinem Temperament eigentlich zuwiderlaufen. […] Auch behauptet Heyse von ihnen, daß sie gar weise Dinge und rechtschaffene Gemeinplätze sagen, während ihr Herz stöhnt und all ihre weisen Sprüche Lügen straft? — Auch ich fasse so auf.6

Wenn man Arthur Schnitzlers Nachlass untersucht, kommt man schnell zu der Feststellung, dass es hier nicht nur um einen flüchtigen Gedanken geht, sondern

1 Den italienischen Ausdruck „alla“ („nach der Art“) habe ich hier absichtlich gewählt — in Anspielung auf meine Gespräche mit Wolfgang Nehring über die italenische Sprache. 2 Schopenhauer, Aphorismen zur Lebensweisheit, S. 61. 3 Vgl. Urbach, Schnitzler-Kommentar, S. 96.; Riedel, S. 250. 4 Schnitzler, Sterben, S. 65. 5 Ebenda. 6 Brief am 26.9. 1886. Arthur Schnitzler und Olga Waissnix, Liebe die starb vor der Zeit, S. 36.

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um eine Grundeinstellung des Autors, die ihn ein Leben lang begleitete. Zwanzig Jahre nach dem obigen Brief an Waissnix schreibt Schnitzler 1917 mit derselben Zwiespältigkeit an Richard Beer-Hoffmann über einen Vortrag von Arthur Kaufman: „Mir wär es wahrscheinlich nicht anders gegangen, wenn mir Kant oder Schopenhauer […] vorgetragen hätten; — meine Ansichten über Philosophie als Wissenschaft sind überhaupt etwas ketzerisch; nicht daß ich die Philosophie ,unterschätze‘ — ich rangiere sie nur anderswo ein, als ihre Adepten es im allgemeinen zu thun pflegen.“7 Dass wir die in dieser Aussage versteckte Abneigung des Autors auch mit einer gewissen Ketzerei betrachten können, zeigt die folgende Untersuchung der Novellen „Die Toten schweigen“ (1897) und „Leutnant Gustl“ (1900). Was nämlich den Begriff der Ehre betrifft, so scheinen beide Erzählungen von Schopenhauers Philosophie beeinflusst, auch wenn sie nicht direkt als ihr literarisches Spiegelbild angesehen werden können. Wie Arthur Schnitzlers Tagebücher und Briefe an vielen Stellen belegen, war er nicht nur ein leidenschaftlicher Leser und Kenner zeitgenössischer Psychologie, sondern interessierte sich auch für die Philosophie seiner Zeit; über seine Lektüren diskutierte er ebenfalls gerne mit seinen Freunden und Geliebten. Freuds Einfluss wurde bereits zu Lebzeiten des Autors viel diskutiert.8 In den letzten zwanzig Jahren beschäftigte sich die Forschung auch mit seiner Verbindung zu Nietzsche.9 Dass sich Schnitzler aber auch mit den Schriften Schopenhauers befasste10 und dessen Philosophie in seinen Novellen und Theaterstücken — bewusst oder unbewusst — mit verarbeitete, wurde in der Schnitzler-Forschung bisher nur selten und sporadisch besprochen.11 Meine Untersuchung zu Schnitzlers Verarbeitung von Schopenhauers Begriff der Ehre soll einen Beitrag zum Schließen dieser Lücke leisten.

7 Schnitzler, Briefe 1913–1931, S. 139. 8 Vgl. Reik, Arthur Schnitzler als Psycholog. Trotz Nehrings grundlegender Untersuchung werden auch heute noch in Schnitzlers Werken freudianische Gedanken hinein interpretiert. Siehe u.a. die Analyse zu „Leutnant Gustl“ in Imke Meyers Männlichkeit und Melodram, S. 164. 9 Vgl. Riedel, S. 234–235. Oliver Neun zählt eine lange Liste von über dreißig Artikeln auf, die Schnitzlers Einstellung zu Nietzsche diskutieren (S. 29–30). Wie Dirk Niefanger vermerkt, verehrte Schnitzler Nietzsche, da er seine Schriften nicht als Philosophie ansah. Dennoch dementierte der Autor, dass seine Novellen und Theaterstücke von Nietzsche beeinflusst wären (S. 51–52). 10 Es finden sich an mehreren Stellen Anmerkungen darüber, dass Schnitzler Schopenhauer las: 21.12.1891, 1.2.1892, 10.10.1894, 7.9.1920, 4.8.1922. In den hinterlassenen Briefen erwähnt er den Philosophen u.a. am 21.7.1895 (an Marie Reinhard), am 31.12.1901 (an Olga Gussman) und am 23.7.1917 (an Richard Beer-Hofmann). 11 Zu den Ausnahmen gehören: Riedel, S. 250; Tarnowski-Seidel, S. 50; Tergast, S. 35–39.

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Der Darstellung der Problematik des Ehrbegriffs in Schnitzlers Werken liegt eine sozial-psychologische Wende im Stil des Autors zugrunde:12 Den im Mittelpunkt stehenden menschlichen Gefühlen, dem Innenleben des Individuums, kommt nämlich bei ihm um 1900 noch eine andere Funktion zu. Sie werden zu einem Mittel, womit Situationen und soziale Umstände der Gesellschaft, das Außenleben, beleuchtet werden.13 Dieser Richtungswechsel bedeutete, dass Schnitzlers Novellen und Theaterstücke von diesem Zeitpunkt an stärkere soziale und historische Bezüge erhielten. Ohne diese Entwicklung wäre eine überzeugende Darstellung der Ehre gar nicht möglich gewesen. Denn der Begriff der Ehre ist, wie Hegel, der Zeitgenosse und Konkurrent Schopenhauers,14 in seinen Vorlesungen über die Ästhetik (1817–1829) erklärt, unabhängig von historischen Zeitepochen und Kulturkreisen, stets an zwei Instanzen gebunden: an das Individuum (das Ich, das Selbst) und an sein Umfeld (die Gesellschaft als Ganzes, sowie der engere, soziale Kreis): Indem nun die Ehre nicht nur ein Scheinen in mir selbst ist, sondern auch in der Vorstellung und Anerkennung der anderen sein muß, welche wiederum ihrerseits die gleiche Anerkennung ihrer Ehre fordern dürfen, so ist die Ehre das schlechthin Verletzliche.15

Hegel deutet in seiner Begriffsbestimmung darauf hin, dass Ehre etwas Gefährliches in sich hat, indem sie eine feine Balance zwischen dem Innen und Außen erfordert, damit dem Individuum kein innerlicher Schmerz (Verletzung) bereitet wird. Damit motiviert die Ehre Ängste, deren Untersuchung über die sozialen, kulturellen und historischen Dimensionen hinaus auch nach der Wissenschaft der Seele — der Psychologie — verlangt. Was wir mit den Wörtern Achtung, Anerkennung, Ansehen, Respekt, oder mit einem guten Ruf umschreiben, entzieht sich auch schon aufgrund dieser Mehrdimensionalität und der Dialektik des Innen/Außen der Konkretisierung. Sowohl die Erzählung „Die Toten schweigen“ als auch die wohl bekannteste Schnitzler-Novelle „Leutnant Gustl“ sind auf diese

12 Vgl. Scheible, Arthur Schnitzler und die Aufklärung, S. 67. 13 Ebenda. 14 Als Schopenhauer in Berlin unterrichtete, stand er mit Hegel in grosser Konkurrenz. Obwohl er in seiner Philosophie auf Hegels Ideen, wie auch auf die Dichotomie des Inneren-Äußeren baute, beschimpfte — und entehrte — Schopenhauer Hegel auch öffentlich: „Hegel, ein platter, geistloser, ekelhafter, widerlicher, unwissender Scharlatan, der, mit beispielloser Frechheit Aberwitz und Unsinn zusammenschmierte, […].“ (Schopenhauer: Parerga und Paralipomena, S. 121.) 15 Hegel, S. 180. Kursiv von mir.

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Problematik der Ambivalenz gegründet, die Ironie und Skepsis des Autors reflektierend. Obwohl der Begriff der Ehre nach Hegel eine allgemeinere Definition zulässt, sind ihre Dimensionen des Innerlichen vs. Äußerlichen nicht ohne den historischen und gesellschaftlichen Kontext der jeweiligen Epoche zu greifen. Besonders die innere Ehre — um die es in den hier zu untersuchenden Novellen geht — erfuhr über die Jahrhunderte eine Bedeutungswandel. War sie im 12.-13. Jahrhundert — wie August Obermayer erklärt — noch etwas, was jedem Menschen als Geschöpf Gottes automatisch zustand, musste sie seit der Zeit der Romantik von dem Individuum selbst erkämpft und der Gesellschaft gegenüber verteidigt werden.16 Nach der Philosophie von Johann Gottlieb Fichte ist die innere Ehre auf die Freiheit des Individuums bezogen: Die [innere] Ehre setze ich keineswegs in das Urtheil Anderer über meine Handlungen, und wenn es das einstimmige Urtheil meines Zeitalters und der Nachwelt seyn könnte; sondern in dasjenige, das ich selbst über sie fällen kann. […] Das Urtheil, welches ich selbst über meine Handlungen fälle, hängt davon ab, ob ich bei Ihnen in Übereinstimmung mit mir selbst bleibe, oder durch sie mich mit mir selbst in Widerspruch versetze. Im ersten Falle kann ich sie billigen; im zweiten Falle würde ich durch sie vor mir selbst entehrt; und es bliebe mir nichts anderes übrig, um meine Ehre vor mir selbst wiederherzustellen, als freimüthiger Widerruf und Gutmachen aus allen meinen Kräften.17

Nach Fichte muss also der Mensch mit sich selbst in Harmonie („Übereinstimmung“) sein, um seine innere Ehre aufrechtzuerhalten. Der Weg zur Wiederherstellung der verlorenen Ehre kann nur über einen „freimüthigen,“ d.h. mutigen Willensakt erfolgen.18 Mitte des 19. Jahrhunderts führt dann Schopenhauer zu der Unterscheidung der inneren und äußeren Ehre auch ein für die heutige Zeit gültiges Wort für das Verantwortungsbewusstsein ein: „[D]ie Ehre ist das äußere Gewissen, und das Gewissen die innere Ehre; […].“19 In seiner bekannten Schrift Aphorismen zur Lebensweisheit, die 1851 in seinem Hauptwerk Parerga und Paralipomena erschien, differenziert er die von Hegel erläuterten Dimensionen des Inneren und Äußeren in dem Begriff der Ehre weiter. Der Tonfall ist jedoch ein deutlich anderer als bei Hegel. Schopenhauer, der die Diskrepanzen zwischen der inneren und äußeren Ehre in seiner Zeit erkannte, klagte ohne Nüchternheit über die

16 Obermayer, S. 97., Ott, S. 33. 17 Fichte, Bd. II, 3, S. 415. 18 Obermayer, S. 97; Ott, S. 34. 19  Schopenhauer, Aphorismen zur Lebensweisheit, S. 64.

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Menschheit und verurteilt das triebhafte,20 unermüdliche Streben nach Ehre als „Wahn“.21 Er nannte die Außenbezogenheit der Ehre schlicht „Torheit“, da sie stets an dem Wissen von anderen (in unmittelbarer Umgebung) gemessen wurde, und dadurch auf das Glück der Menschen einen „feindlichen Einfluß“ ausübte.22 Schopenhauer systematisiert seinen Ehrbegriff, indem er Unterkategorien als „Arten der Ehre“ einführt.23 In dieser Rubrik fächert er die bürgerliche Ehre, die Amtsehre und die dazu gehörende Soldatenehre auf. Besondere Aufmerksamkeit schenkt er der sogenannten Sexualehre, die für die hier untersuchten Werke von Schnitzler von besonderer Signifikanz ist. Schnitzler arbeitet in den hier zu untersuchenden frühen Novellen mit dieser Kategorisierung, als hätte er dabei Schopenhauers Schrift als Referenzliteratur auf seinem Schreibtisch liegen. Die Struktur des Handlungsverlaufs von beiden Werken ist so angelegt, dass sie die philosophischen Ideen bildhaft veranschaulichen. Er konstruiert nämlich in beiden Werken den Handlungsverlauf so, als ob er Bilder zur Veranschaulichung der Aussagen des Philosophennsammeln würde. „Die Toten schweigen“ beleuchtet mit psychologischem Scharfblick Angstmechanismen der weiblichen Sexualehre der Wiener Jahrhundertwende und die daraus (zwangsläufig) resultierenden Handlungsabläufe. Schnitzler präsentiert in der Novelle den inneren Kampf einer jungen Ehefrau, Emma, die während eines Schäferstündchens mit ihrem geheimen Geliebten Franz um ihre äußere Ehre bangt.24 Durch einen bekannt gewordenen Ehebruch konnte nicht nur die Ehre einer Frau in der Entstehungszeit der Novelle als verloren deklariert werden, sondern gleich auch ihr Lebensglück. Denn die Frau der Jahrhundertwende erntete mit einem Seitensprung nicht nur eine absolute gesellschaftliche Ablehnung, sondern musste mit weitreichenden Konsequenzen rechnen, wie dem Verlust des Sorgerechts für ihre Kinder.25

20 Interessant ist, dass Schopenhauer bereits mehrere Jahrzehnte vor Freud über Triebe gesprochen hatte. (Schopenhauer, Aphorismen zur Lebensweisheit, S. 58, 60, 64.) 21 Schopenhauer, Aphorismen zur Lebensweisheit, S. 57. 22 Ebenda. 23 Ebenda, S. 65. Kursiv von Schopenhauer. 24 Dass es um die Angst vor dem Verlust der Ehre geht, wurde in der Schnitzlerforschung in den meisten Beiträgen über die Novelle anerkannt. U.a.: Surowska, „Flaubertsche Motive in Schnitzlers Novelle ‚Die Toten schweigen‘“; von Wiese, „Die Toten schweigen“. 25 Die gesellschaftlichen Hintergründe der weiblichen Sexuallehre dieser Zeitepoche sind in der sozial- und geschichtswissenschaftlichen Literatur sowie in den populärwissenschaftlichen Abhandlungen umfangreich thematisiert worden. Siehe dazu u.a.: Mumm, The Greenwood Encyclopedia of Love, Courtship & Sexuality through History. Im deutschen Sprachraum fand die Problematik des weiblichen Seitensprungs in dieser Epoche in Theodor Fontanes Effi Briest literarische Bearbeitung.

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In der Anfangsszene der Novelle werden bereits Ängste ausgesprochen, die auf etwas Unheilvolles hinweisen: Die zwei Protagonisten Emma und Franz treffen sich in der Dunkelheit einer stürmischen Nacht in einer „abseits liegenden Straße“ von Wien (29),26 also an einem Ort außerhalb der Gesellschaft, deren Urteil sie beide fürchten.27 Die Problematik der Geschlechtsverhältnisse, die dem Motivgerüst der Ehre in dieser Novelle — wie bei Schopenhauer — zugrunde liegen, zeigt der Autor schon in den ersten Handlungsmomenten. „Immerhin — sicher dürfte man hier wenigstens sein; hier wird sie keinen ihrer gefürchteten Bekannten treffen“ (29)²⁸. Obwohl Franz die sich durch die Novelle ziehende Unruhe verkörpert, ist nicht er die Hauptfigur, um deren Angstzustände und Ehre es geht, sondern Emma.29 Denn wie es aus den nervös geäußerten knappen Sätzen der Charaktere zu sehen ist,30 ist sie diejenige, die wirklich etwas zu verlieren hat. Wie sie später sagt „sie wäre ja verloren“ (41), wenn die Affäre auffliegt. Aus Emma spricht der Glaube, dass sie ausschließlich zur Ehefrau und Mutter bestimmt ist. Wenn diese persönlichkeitsstiftenden und geschlechtsspezifischen Rollen durch den Verlust ihrer Ehre gefährdet oder sogar vernichtet würden, würde sie in Not geraten. Mit dieser Figurenkonstellation scheint Schnitzler die ersten Sätze Schopenhauers über die Sexuallehre der Zeit zu reflektieren: Zwischen „Weiber- und Männerehre“ ist die „erstere […] bei weitem die wichtigste […].“31 Beide Figuren sind sich dieser ungleichen Rollenverteilung und der Gefahren für Emmas weiblicher Ehre bewusst. Die unausgesprochene Erkenntnis der

26 Die Seitenzahlen zu den Zitaten aus dem Primärwerk „Die Toten schweigen“ werden nach dem Zitat in Klammern ausgeführt. Siehe vollständige Angaben der hier benutzen Ausgaben in der Bibliographie. 27 Matthias, S. 80–81; Surowska, S. 374; Marzinek, S. 37. 28 Zu der Analyse der Angstthematik der Novelle siehe Guntersdorfer, S. 94–105. 29 Vgl. Micke, S. 88. 30 von Wiese, S. 267. 31 Schopenhauer: Aphorismen zur Lebensweisheit, S. 69. Wichtig ist hier zu vermerken, dass Schopenhauer dem Zeitgeist des 19. Jahrhunderts entsprechend denkt und argumentiert, ohne diesen Zeitbezug zu erwähnen. Schnitzler beschrieb in seinen Werken die Frauen meistens in Rollen, die ihre Sexualität thematisierten. Sie waren dementsprechend meistens Huren, Geliebte, Ehefrauen, Mütter und auf Heirat wartende Töchter, und nicht wie die Männer Ärzte und hochangesehene Beamte. Wie Ruth Klüger sagt: „Natürlich gibt’s in Schnitzlers Werk Prostituierte, Stubenmädel, Näherinnen auch Gouvernanten und eine gelegentliche Klavierlehrerin, aber das sind alles ‚Jobs‘, ausgeübt um ein paar extra Schillinge zu verdienen, es sind keine Berufe. Selbst die begabtesten Schauspielerinnen sind mehr dem Leben, das heißt den Männern, als der Kunst zugewandt. Und doch gab es in Schnitzlers Wien und Schnitzlers Europa schon anspruchsvollere berufstätige Frauen, was auch im Tagebuch gelegentlich registriert wird“ (S. 46–47).

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Bedrohung und die daraus resultierende Angst sind in der kurzen halben Stunde so dominant, dass das Pärchen für Zärtlichkeit kaum mehr Energie übrig hat: Emma und Franz sprechen nur knappe, kurze Sätze. Bei der Kommunikation laufen die beiden aneinander vorbei; ihr Gespräch verliert an Ernsthaftigkeit und Glaubwürdigkeit und wird zum Ausdruck von Zerrissenheit zwischen Aggression und Angst:32 Aggression auf der Seite von Felix, denn er erwartet von Emma doch eine Art Liebeserklärung oder befriedigende Versicherung; Angst hingegen auf der Seite Emmas vor öffentlicher Bloßstellung und dem Verlust des gesellschaftlichen Standes. Wie Ralf Marzinek sagt, bringt dieser soziale Status Emmas einen zentralen Konflikt mit sich: Emma möchte „als verheiratete Frau […] zwar das Abenteuer einer außerehelichen Beziehung“, ohne aber „auf die Geborgenheiten und Annehmlichkeiten einer Ehe verzichten [zu] müssen.“33 Was sie möchte, ist eine „süße Angst“, die sie eher herausfordert und unterhält, ihr Abwechslung bietet, ohne dabei ihre eheliche Sicherheit wirklich aufs Spiel zu setzen. Was sie jedoch verspürt, ist die tödliche Angst, die sich in Nervenanspannung und Emotionsverlust äußert: „Franz faßte ihre beiden Hände. Sie blieb regungslos.“ (31) Emma ist von Verfolgungsängsten getrieben, ihre Aufmerksamkeit richtet sich stets nach draußen, nach den Blicken der anderen: „Wer war’s? […] Ist das dein Wagen? […] Ein offener? Wo ist er denn […]“ (30). Sie versucht, auch Maßnahmen zu ergreifen, um eine Entdeckung ihres Verhältnisses zu verhindern: Sie will nicht zweimal den gleichen Wagen nehmen und zieht ihren Geliebten beim Spaziergang immer tiefer in die Dunkelheit, um Deckung zu finden. Diese Vorsichtsmaßnahmen, die sich in ständigen Ausweichmanövern äußern, bringen den unbefriedigten Franz dazu, Emma immer aggressiver an sich ziehen zu wollen und sexuell zu bedrängen.34 Er schlägt sogar vor, dass Emma sich von ihrem Ehemann trennt. Emma, die sich während des geheimen Treffens ausschließlich vor dem Entdeckt-Werden fürchtet, gerät mit den Forderungen von Franz immer tiefer in eine doppelt belastete Angstsituation, woraus der Autor sie mit einem unerwarteten Verkehrsunglück rettet. Als Emma nach dem gewaltigem Schleudern und Sturz ihrer Kutsche zu sich kommt, liegt Franz sichtbar tot auf der Straße. Am Anfang handelt Emma ihrer Menschenpflicht entsprechend und schickt den Kutscher um Rettung. In der unheimlichen Dunkelheit bemächtigt sich ihrer jedoch die Angst vor dem Toten. Franz ist von diesem schockierenden Augenblick

32 Allerdissen, S. 24. 33 Marzinek, S. 37. 34 Vgl. Micke, S. 92–93.

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an keine Person mehr und wird durch sein Sterben beinahe entpersonifiziert:35 Er ist nicht mehr — „das ist der Tod“ (38). Aus dieser beängstigenden Situation findet Emma durch das Licht Erleichterung, das ihr in der ersten Szene noch Gefahr bedeutete. Aus dem Angstobjekt wird hier ein Sehnsuchtsobjekt. Emma „kam [es] vor, als wäre dieses Licht etwas Liebes, etwas Freundliches, dem sie danken müßte“ (39). Die kleine Lichtflamme verliert aber in der nächsten Sekunde wieder ihren positiven Stellenwert, denn sie erweckt die ursprüngliche Angst, die Emma am Anfang der Geschichte empfand: Die Angst vor dem Verlust ihrer Ehre. Nur hier nicht entdeckt werden. Um Himmelswillen, das ist ja das einzige Wichtige, nur auf das und auf gar nichts anderes kommt es an, sie ist ja verloren, wenn ein Mensch erfährt, daß sie die Geliebte von […]. (39–40)

Hier beginnt ein hastiger Wettlauf mit der Zeit, um sich den Augen derer, die sie sehen könnten, zu entziehen. Diese Gefahr des Blickes begleitet die Protagonistin bis sie in ihr Haus tritt und sich wieder in Sicherheit fühlt. „Nur hier nicht entdeckt werden.“ Dieser Satz trifft mit dem lateinischen Sprichwort überein, mit dem Schopenhauer das Wesen und Bestehen der Ehre in der Wissenschaft in einer Anmerkung charakterisiert: „Scire tuum nihil est, nisi te scire hoc sciat alter.“36 — Dein Wissen gilt nicht, wenn ein anderer nicht weiß, dass du es weißt. Emma fürchtet also nicht den Tod oder den Toten, nicht einmal, dass durch ihr Verlassen des Geliebten an der Unglücksstelle ein schlechtes Gewissen auf ihr lastet. Sie hat nur vor dem Verlust ihrer äußeren Ehre Angst, den das Entdecken (das heißt das Erfahren, das Wissen) von anderen auslösen würde. Das Wissen anderer und die damit verbundene Angst sind in dieser Novelle — und laut Andreas Huyssen auch in anderen Novellen der Wiener Jahrhundertwende, wie in Schnitzlers Fräulein Else — an den Blick von möglichen Beobachtern gekoppelt.37 Der Autor zögert auch nicht, die Protagonistin dieser Gefahr auszusetzen. Emma hört, dass „zwei Frauen oder drei“ (40) sich der Unglücksstelle nähern. Bezeichnenderweise sind es Frauen, nach Schopenhauers Auslegung die Aufseher der weiblichen Ehre: „[D]as ganze weibliche Geschlecht [wacht], mit wahrem esprit de corps, über die Aufrechterhaltung derselben unter allen seinen Mitgliedern.“38

35 Vgl. Matthias, S. 84. 36 Schopenhauer, Aphorismen zur Lebensweisheit, S. 56. 37 Huyssen, 41–42; Huyssen geht in seinen Analysen auf Schnitzlers „Fräulein Else“ und Robert Musils Der Mann ohne Eigenschaften ein. 38 Schopenhauer, Aphorismen zur Lebensweisheit, S. 70.

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Als die Gefahr abklingt und Emma sich aus ihrer durch Angst verkrampften Körperhaltung wieder aufrichtet, ist sie von einem einzigen Gedanken motiviert: Zurück zu ihrer Familie zu gehen, um in Sicherheit zu sein. Obwohl der Tote (und damit auch der Tod) seine Macht über Emma verliert und die Protagonistin sich nun mit ihrem erfolgreichen Machtgewinn langsam in Richtung Stadt bewegt, drängen sich in ihr Gefühle auf, die für Schnitzlers Frauen typisch sind.39 Sie „packt […] eine ungeheure Scham, wie sie sie nie empfunden; und sie weiß, daß sie feig und schlecht geworden ist“ (42). Obwohl der Autor das Gefühl der Scham nur mit diesem einzigen Satz erwähnt, berührt er damit wichtige Geschlechterunterschiede der Zeit. Denn, wie Ute Frevert in ihrem Essay über die Geschichtlichkeit der Gefühle schreibt, war das Schamgefühl um 1900 eine typische, von der Gesellschaft erwünschte, weibliche Eigenschaft.40 Emma nimmt ihre weibliche Rolle und die damit verbundenen Vorbestimmungen als Argument für ihre bewusste Entscheidung, den Toten am Unglücksort zu lassen, um sich selbst zu retten: Dass ihr Entschluss auf Geschlechtsdifferenzen beruht und damit sogar von dem toten Franz notgedrungen legitimiert werden muss, verscheucht Emmas Schamgefühle abrupt, wenn sie ihre feige Flucht zur Pflicht der Frau umdeutet: „Franz hätte ihr recht gegeben.“ […] „Nun ja, er ist ein Mann. Sie ist ein Weib — und sie hat ein Kind und einen Mann. […] [E]s ist ihre Pflicht — ja ihre Pflicht“ (41–42). Mit der kognitiven Kontrolle über die Geschehnisse wächst in Emma die Überzeugung, dass sie ihre Ehre retten kann, da sie als einzige das Wissen um ihren Seitensprung in ihrer Hand glaubt. „Kein Wort werd’ ich reden, wenn sie kommen, schweigen werd’ ich. Kein Wort [...] sie können mich ja nicht zwingen“ (39). Doch erweist sich ihre Flucht und ihr ernsthaftes Vorhaben zu schweigen schnell als Selbstbetrug, da sie dem Ruf ihrer inneren Ehre und dem scharfen Blick ihres Ehemanns nicht standhalten können. Als sich Emma in der Geborgenheit ihres Zimmers im Spiegel in Anwesenheit ihres Gatten erblickt, wird die Unsicherheit ihrer emotionalen Lage sichtbar: „Und sich selbst gegenüber im Wandspiegel sieht sie ein Gesicht, das lächelt, grausam, und mit verzerrten Zügen“ (46). Obwohl Emma den grimassenhaften Gesichtsausdruck noch vor dem Ehemann verbergen kann, bricht ihr schlechtes Gewissen durch und verrät sie. Vor ihrem Mann kann Emma ihre erneut aufkommende Angst, Franz könnte

39 Dangel-Pelloquin, S. 123. 40 „Wenngleich beide Geschlechter Scham empfinden und zeigen können, sei das Gefühl vor allem Frauen bekannt und ‚eins der wichtigsten sekundären Geschlechtscharaktere des Weibes auf psychischen Gebiet’.“ (Frevert, S. 29; Frevert zitiert hier den britischen Mediziner Havelock Ellis, der 1899 über das Schamgefühl der Zeit ein umfassendes Werk verfasste. Vgl. auch Ellis, S. 3).

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nicht tot sein und er könnte sie und ihre Tat vor die Öffentlichkeit bringen, nicht verbergen.41 Der Satz: „Die Toten schweigen“ kommt im Halbschlaf unbewusst aus ihrem Mund hervor, was nur eines bedeutet: All ihre Bemühungen, sich zusammenzuraffen und sich zu verstecken, waren umsonst — sie hat keine Kontrolle über sich selbst. Schnitzler lässt seine Protagonistin zerbrechen, indem er sie ihrem Ehemann, und dessen „fragenden“ (46) Augen und „drohendem“, „entsetztem“ (46) Blick erliegen lässt: „Und sie weiß, dass sie diesem Manne, den sie durch die Jahre betrogen hat, im nächsten Augenblick die ganze Wahrheit sagen wird.“ Eine „große Ruhe“ überkommt sie, und — hier soll auf die Formulierung genau geachtet werden — sie spürt „als würde vieles wieder gut …“. (47). Zwar lassen diese Sätze in der Novelle ein positives Ende erahnen, indem sie den Leser nach dem Miterleben der Hetzjagd zu entlasten versprechen und auf eine mögliche Versöhnung zwischen Emma und ihrem Ehemann hoffen lassen;42 jedoch lässt der Autor uns letztlich im Zweifel über die Ehre dieser Frau, und auch über die Frage, ob tatsächlich alles wieder gut wird. Die Schnitzler-Kritiker, die das Ende zwar offen, aber eher entspannend und positiv bewerten,43 übersehen hier eine Deutungsmöglichkeit der Novelle, indem sie die typographische Zeichensetzung des Autors übersehen, nämlich die lange Reihe von Punkten, die die Ambiguität beibehalten und den Leser zum Weiterdenken auffordern. Fichtes Definition der „inneren Ehre“ kann hier ins Spiel kommen, wenn Emma ihrem Ehemann alles erzählt und damit einen Schritt zum „Gutmachen“ vollzieht. Die Preisgabe ihres Geheimnisses erzeugt eine Entlastung des schlechten Gewissens ihrem betrogenem Ehemann gegenüber — und auch des Schuldgefühls, das sich in Form von Scham bereits in den ersten Momenten der Flucht ankündigte, und das auf den Widerspruch in ihrem Innern hindeutete.44 Ein Blick auf Schopenhauers Beschreibung der gesellschaftlichen Bedingungen der Ehe in der damaligen Zeit deutet jedoch darauf hin, dass Emma mit

41 Thompson, S. 7. 42 Allerdissen, S. 246. 43 von Wiese, S. 277; Tebben, S. 116. 44 Nachdem sich in Deutschland besonders in den siebziger und achtziger Jahren des letzten Jahrhunderts viele Literaturkritiker der Unterscheidung zwischen „Scham“ und „Schuld“ zuwandten, werden diese zwei Begriffe heute oft als Synonyme verwendet. (Siehe dazu u. a. die Beiträge in Kühn/Raub/Tietze: Scham – ein menschliches Gefühl). Hier wird die Bestimmung von Carlo Schultheiss als Grundlage genommen: „Typisch für Scham ist das Gefühl, eine verwerfliche Person zu sein, typisch für Schuld, das Gefühl eine verwerfliche Handlung begangen zu haben“ (Schultheiss, S. 98). Dementsprechend können wir bei Emma feststellen, dass ihre Flucht sie zu einer verzweifelten Selbstkritik motiviert. Eine weitere Analyse der Scham- und Schuldproblematik in der Novelle würde jedoch über die Rahmen dieses Beitrages hinausgehen.

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ihrer Beichte nur der während der Erzählhandlung immer intensiver gewordenen Angst ein Ende gesetzt hat. Das Gespräch zwischen ihr und ihrem Ehemann hat den Ehebruch und den daraus resultierenden Konflikt jedoch bei weitem nicht gelöst. Denn, wie Schopenhauer schreibt: […][D]ie Ehre des Mannes [fordert], daß er den Ehebruch seiner Frau ahnde und, wenigstens durch Trennung von ihr strafe. Duldet er ihn wissentlich, so wird er von der Männergemeinschaft mit Schande belegt.45

Die Ehe zwischen Emma und ihrem Ehemann steht also am Ende der Erzählung vor einer Krise, deren Lösung nicht in Emmas Macht liegt, sondern in der Hand des Ehemannes.46 Die äußere Ehre Emmas ist damit wiederum gefährdet. Obwohl sich Emma für die „häusliche Sicherheit“ entschieden hat, kann man ihren Charakter und ihre inneren Handlungen (Gedanken) nicht als vollkommen außengesteuert interpretieren. Die „ungeheure Scham“, womit sie Schnitzler — wenn auch nur für einen kurzen Moment — versehen hat, spricht dagegen, sie als eine Marionette der äußeren Ehre zu verurteilen.47 Emma schweigt nicht, obwohl sie damit ihre Ehre von außen verteidigen könnte, sondern sie versucht, ihr Inneres mit den Geschehnissen in Einklang zu bringen. Wie sehr aber dieser Versuch Emmas als glaubhaft und authentisch angesehen werden kann, lässt sich nur schwer beantworten. Die Scham auf dem Fluchtweg dauert nur wenige Sekunden an und ihr Traum, der sie letztlich zur Beichte drängt, rührt aus ihrer Verfolgungsangst her. Ob sich Emma für den Ehebruch oder für das Hinterlassen eines Schwerverletzten für schuldig bekennt, lässt Schnitzler durch die ironische Zeichensetzung offen.48 „Tot ist er – tot ist er! Keiner weiß was, und nichts ist g’schehen!“ (84) — lautet das ultimative Ende der Monolognovelle Leutnant Gustl, des zentralsten

45 Schopenhauer, Aphorismen zur Lebensweisheit, S. 72. 46 Wie sehr ein Verdacht auf Ehebruch für Frauen in der damaligen Zeit negativ ausgehen konnte, wurde in der drei Jahre vor dem „Die Toten schweigen“ erschienenen Roman Effi Briest von Theodor Fontane erläutert. (siehe dazu Surowska: „Flaubertsche Motive in Schnitzlers Novelle ‚Die Toten schweigen‘“) 47 Hier ist es zu vermerken, dass in den aus weiblicher Perspektive verfassten Werken Schnitzlers das Wortfeld „schämen“ deutlich häufiger zum Ausdruck kommt, als in den Erzählungen, in denen die männliche Perspektive dominiert. „Frauen zeigen in Schnitzlers Texten eine schnellere Bereitschaft, Scham zu empfinden, oft in Verbindung mit erotischen Normverstößen.“ (Dangel-Pelloquin, S. 123.) Damit zeigt Schnitzler auf die Geschlechterdifferenzen der Jahrhundertwende hin. 48 Vgl. Tebben, S. 116–117. Tebben interpretiert den Traum Emmas als Zeichen von Schuldgefühlen. Nach der obigen Analyse kann man hier nur bedingt von Schuld sprechen.

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und meist analysierten Textes des Wiener Fin de Siècle.49 Für die Hauptfigur Leutnant Gustl bedeuten diese Sätze den endgültigen Exitus aus seinen zwei Angstkreisen: aus der Angst um seine Ehre und der damit verbundenen Todesangst. Keiner wird von seiner von dem Bäckermeister geraubten Ehre erfahren, die Gustl beinahe zum Selbstmord gezwungen hätte.⁵⁰ Aber diese Gedanken drücken auch am deutlichsten die innere Einstellung des Leutnants zu seiner äußeren und inneren Ehre aus, die im starken Kontrast zu Emmas in der Novelle „Die Toten schweigen“ stehen. Gustls Glück („so froh bin ich in meinem ganzen Leben nicht gewesen“, 84) ist weit entfernt von Emmas „Zusammenbruch“, der aus dem unüberbrückbaren Gegensatz ihres Innern und ihrer äußeren Ehre entstanden war. Wie die letzten Gedanken der obigen Analyse von „Die Toten schweigen“ gezeigt haben, kann Emma nicht als eine vollkommen von außen gesteuerte Figur gesehen werden. Bedeutet aber die Freude Gustls das Gegenteil? Was in der Forschung oft mit einem eindeutigem „Ja“ beantwortet wird,51 wird bei näherer Betrachtung der ersten Hälfte der Novelle unter Berücksichtigung von Fichtes und Schopenhauers Definitionen von Ehre jedoch fragwürdig. Die Analysen, die die in der Novelle vorliegende gesellschaftliche Dimension betonen, tendieren dazu, in der Hauptfigur die Problematik der Entfremdung des Ichs von der Welt zu sehen, und Gustl für ein Beispiel eines „identitäts- und substanzlosen Subjektes“ zu halten,52 dessen Krise nur daraus entsteht, dass er unfähig ist, „sich der Außenwelt gegenüber als autonome Instanz zu behaupten“.53 Diese Untersuchungen messen jedoch der Kontrolle von außen in der Wiener Gesellschaft der Jahrhundertwende eine überhöhte Bedeutung zu und charakterisieren die Hauptfigur oft als eine von sozialen Fesseln determinierte Person,54 die „den äußeren gesellschaftlichen Zwängen völlig ausgeliefert“55 ist. Demnach handele Gustl aus der Verunsicherung des Kleinbürgers dem Bildungsbürgertum gegenüber und verhalte sich wegen der „Inanspruchnahme eines

49 Vgl. Polt-Heinzl, Nachwort, S. 70. 50 Zu der Analyse der Angstthematik der Novelle siehe Guntersdorfer, S. 105–120. 51 U. a.: von Wilpert, 122–123; Aurnhammer, S. 87; Günther, S. 103–104; Fliedl, S. 123; Siehe Fußnoten 35–40. 52 Jäger, S. 312. 53 Lorenz, S. 146. 54 Besonders Scheible argumentiert für Gustls Außengesteuertsein, indem er die sozialen Hintergründe des Protagonisten in die Analyse mit einbezieht (Scheible, Arthur Schnitzler in Selbstzeugnissen, S. 83) 55 Lorenz, S. 146.

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sozialen Ranges“56 dem Bäckermeister und der gesamten Gesellschaft gegenüber aggressiv.57 Wie Dirk Dethlefsen argumentiert, ist Gustl keineswegs nur ein Repräsentant der Wiener Gesellschaft. Er ist auch ein Individuum, das zwar nahe an der vollständigen Assimilation in das Kollektive ist, am Ende der Geschichte jedoch durch seinen unverkennbaren Überlebenswillen seine Individualität und seine Selbstkontrolle behält.58 Dies ist bereits auf den ersten zehn Seiten des Innenmonologs sichtbar, was in den bisherigen literaturwissenschaftlichen Analysen oft unbeachtet geblieben ist.59 Wie lang wird denn das noch dauern? Ich muß auf die Uhr schauen … schickt sich wahrscheinlich nicht in einem so ernsten Konzert. Aber wer sieht’s denn? Wenn’s einer sieht, so paßt er gerade so wenig auf, wie ich, und vor dem brauch’ ich mich nicht zu genieren … (51).60

Leutnant Gustls erste Sätze zeigen bereits wichtige Merkmale seines Charakters: Seine Ungeduld, die ihn, aus dem Wunsch nach Zerstreuung ständig in neue Gedanken und Situationen drängt („Wie lange wird denn das noch dauern?“) — und seine größte Sorge, in den Augen der anderen einen schlechten Eindruck zu machen. Natürlich sagen diese ersten Zeilen nicht nur Wichtiges über den Leutnant sondern auch über seine Umgebung aus, vor allem über die Wiener Gesellschaft im Konzertsaal. Sie charakterisieren ein System gegenseitiger Überwachung und Kontrolle, worin jeder jeden mit Blicken verfolgt und zurechtweist.61 Gustl ist, wie es bereits am Anfang der Novelle deutlich wird, integriert in dieses System und übernimmt zumindest scheinbar seine Regeln. Er versucht, ruhig zu sitzen, applaudiert nach dem „Antrieb der kollektiv vorgegebenen Geste“62 mit, obwohl er, wie sich später herausstellt, unfreiwillig ins Konzert gegangen ist, da ihn die Eintrittskarte von Kameraden aufgedrängt worden war. Es wird für den Leser deutlich, dass die Außenwelt für den Leutnant eine bestimmende Rolle spielt; der Konzertbesuch selbst dient nur dem Ziel, von seiner Umgebung Anerkennung zu erlangen. Dem Anschein nach, also nach dem was andere sehen oder hören,

56 Laermann, S. 114. 57 Ebenda; Vgl. Dethlefsen, S. 58. 58 Ebenda, S. 59. 59 Zu den Ausnahmen gehören Polt-Heinzl und Lindken (siehe Polt-Heinzl: Nachwort, S. 74f. und Lindken, S. 82f.) 60 Die Seitenzahlen zu den Zitaten aus dem Primärwerk Leutnant Gustl werden nach dem Zitat in Klammern ausgeführt. Siehe die vollständige Angaben der hier benutzen Ausgabe in der Bibliographie. 61 Vgl. Matthias, S. 115. 62 Ebenda.

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benimmt sich Gustl ganz anständig und befolgt die Regeln und Vorschriften der Gesellschaft. Ob Gustl jedoch von dieser Außenwelt in der Tat vollkommen bestimmt ist oder wird, ist eine andere Frage. Sein Verhalten während des Konzerts zeigt nämlich bereits, dass er sich in seinen Gedanken nicht den gesellschaftlichen Normen entsprechend verhält. Das heißt, dass er in seinen Gedanken alles andere tut, nur nicht dem Oratorium folgt. Er beobachtet seinen Nachbarn („Der neben mir klatscht wie verrückt.“ 51), sucht nach der Schwester von Kopetzky im Chor, schaut nach den „Mädels“ in der Loge, lässt seine Gedanken dann zu seiner Geliebten, Steffi, schweifen, deren Brief er gerne heimlich während des langweiligen Programs lesen möchte, erlaubt sich ein paar antisemitische Gedanken, denkt an seine Spielschulden, an seine Familie, an seine Affäre und an ein bevorstehendes Duell mit dem Doktor. Kurz und gut — Gustl nimmt sich die Freiheit, seine Gedanken frei schweifen zu lassen, anstatt dem Oratorium zu folgen. Solange es keiner sieht, ist dieses Benehmen für ihn legitimiert. Das weist bereits darauf hin, dass man Gustl nur bedingt als außengesteuerte Person klassifizieren kann, denn die Kontrolle der Außenwelt dominiert keineswegs über sein tiefstes Inneres.  Gustl verrät in seinem inneren Monolog vieles über seine Ehre, die auf dem ersten Blick mit seinem gesellschaftlichen Status als mittelständischer Offizier in Verbindung zu stehen scheint. Zu seiner Rolle als Leutnant gelangte Gustl aber nicht aus reinem freiem Willen, wie er selbst konstatiert: Er ist an einem Aufsteigen durch die schulische Ausbildung gescheitert. Gustl ist nicht ganz freiwillig in die Armee eingetreten, denn, wie er sagt, er ist „aus dem Gymnasium hinausg’schmissen“ und in die „Kadettenschul’ gesteckt“ (56) worden.63 Die k.u.k Armee und ihr Österreichischer Ehrenkodex64 hat für ihn daher eine richtungsweisende und identitätsstiftende Funktion. Jedoch geht es in dieser Novelle nicht um die wahre soldatische Ehre,65 denn sie bestünde darin:

63 Sein Status als „subalterner“ Offizier ermöglicht Gustl Aufstiegschancen und macht ihm den Unteroffizieren überlegen. Gegenüber Oberoffizieren bezieht Gustl jedoch eine untergeordnete Position. Zu seiner Beförderung benötigt er die Zustimmung des Ehrenrates, was, unter anderen Voraussetzungen, das Befolgen des Ehrenkodexes verlangt. (Polt-Heinzl, Nachwort, S. 86f.) 64 Der Ehrenkodex von Oberstleutnants Gustav Ristow, der in Fragen der Ehre als Gesetzbuch diente, und vor allem die Regeln des Duells regulierte, ist in den öffentlichen Bibliotheken nicht erhältlich. Auf einige Auszüge wird jedoch in der Forschungsliteratur hingewiesen. (Huemer, S. 78; Janz / Laermann, S. 131.) 65 Vgl. Matthias, S. 120, 122.

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daß wer sich zur Verteidigung des gemeinsamen Vaterlandes anheischig gemacht hat, die dazu nötige Eigenschaften, also vor allem Mut, Tapferkeit und Kraft wirklich besitze […], sein Vaterland bis in den Tod zu verteidigen […].66

Zwar schwebt Gustl so eine Tat als Wunschbild vor Augen,67 doch muss er keineswegs die Österreich-Ungarische Monarchie und die Ehre seines Vaterlandes verteidigen.68 Es geht in dieser Erzählung um die „Ehre des Mannes“, was im Gegensatz zu der Ehre der Frau — wie Schopenhauer sagt — nicht darauf beruht, „was er tut, sondern auf dem was er leidet, was ihm widerfährt.“69 Die weiteren Erklärungen des misanthropischen Philosophen haben einen deutlich kritischen Ton: Diesem zufolge mag das Tun und Lassen eines Mannes das rechtschaffenste und edelste […] sein, […] so kann dennoch seine Ehre jeden Augenblick verlorengehen, sobald es nämlich irgendeinem, — der […] übrigens aber der nichtswürdigste Lump, das stupideste Vieh […] sein kann, — beliebt, ihn zu schimpfen.70

Schnitzler baut seine Erzählung auf diese von Schopenhauer als „Torheit“ und „Wahn“ beschriebene menschliche Eigenschaft der Sorge um die Ehre und deren Handhabung auf. Was Gustl nämlich in dieser Novelle begegnet, ist eine Schelte: Er wird wegen seines Gedränges in der Garderobe von einem gewöhnlichen Bäckermeister als „dummer Bub“ beschimpft (58).71 „Wer sieht’s denn?“ — In dem schicksalsbestimmenden Vorfall mit dem Bäckermeister wird dieser Gedanke von Gustl gerade zwölfmal in mehreren Variationen formuliert, und damit gibt er auch das Gerüst des Streitdialogs vor: „Um Gotteswillen, hat’s doch keiner gehört?“ (59) Zwar beruhigt ihn der Bäckermeister, als ob er in den Gedanken Gustls lesen könnte, in dieser Sorge („So hab’n S’ keine Angst, ’s hat niemand was gehört“ 59), Gustl kann sich des Wahrheits-

66 Schopenhauer, Aphorismen zur Lebensweisheit, S. 69. 67 „Das ist halt zuwider, daß unsereiner nicht dazukommt.— Wär’ doch schön gewesen, auf dem Feld der Ehre, fürs Vaterland, als so …“ (Schnitzler, „Leutnant Gustl“, S. 79) 68 Dieser Ehrverlust vor dem Leser hat auch in der Nachgeschichte der Novelle zu einem Skandal geführt. Der Ehrenrat des Militärs hat Arthur Schnitzler seinen Offizierstand für „verlustig erklärt“. (Urbach, Schnitzler-Kommentar, S. 103) 69 Schopenhauer, Aphorismen zur Lebensweisheit, S. 74. 70 Ebenda. Dass die Ehre so plötzlich verlorengehen kann, ist eine Absurdität, die Gustl selbst reflektiert: „Was für ein glücklicher Mensch bin ich vor einer Stund’ gewesen […] Nachmittag war noch alles gut und schön, und jetzt bin ich ein verlorener Mensch und muß mich totschießen […]“ (Arthur Schnitzler, „Leutnant Gustl“, S. 62) 71 Ich teile die Meinung von Kritikern nicht, die in der Bezeichnung des Bäckermeisters keine Beleidigung, sondern eine „väterliche Zurechtweisung“ gesehen haben. (Vgl. von Wilpert, S. 125.)

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gehaltes dieser Aussage jedoch nicht sicher sein, beziehungsweise kann er dem Bäckermeister, seinem Gegner, der ihn ja in diese peinliche Situation gebracht hat, nicht glauben. Die verletzte Ehre fordert eine sofortige Genugtuung — wie Schopenhauer auch sagt —, der Geschimpfte darf nicht das Gesagte „auf sich sitzen lassen“ und der Schimpf bleibt solange ein „rechtskräftiges Dekret“, so lange es „nicht alsbald mit Blut ausgelöscht wird“.72 Gustl macht hier einen gravierenden Fehler, wie er selbst sagt, und ist statt eines schnellen Rückschlags nur „dagestanden, wie angenagelt.“ (59) Da er seine Ehre nicht sofort verteidigt hat, ließ er die Schande auf sich sitzen. Damit ist ihm die Macht der Entscheidung nicht mehr gegeben. Zur Wiederherstellung der Ehre gibt es nur „ein einziges Universalmittel, das Duell“.73 Da aber der Bäckermeister laut der Definitionen des Ehrenkodexes nicht „satisfaktionsfähig“ ist und da die Verteidigung der Ehre nur Akademikern, dem Adel und dem Militär vorbehalten sind, kann sich Gustl gegen seine Ehrverletzung nicht wehren.74 Auch aus einem anderen Grund ist Gustl wehrlos: gegen die Leute, die davon (wie er meint) erfahren würden, auch wenn sie das Vorgefallene in der Oper nicht mit eigenen Augen gesehen haben: Keine ruhige Minute hätt’ ich mehr im Leben … immer hätt’ ich die Angst, daß es doch einer erfahren könnt, so oder so […] das ist zu dumm, daß ich mir einen Moment einbilde, so ein Mensch erzählt’s nicht weiter … überall wird er’s erzählen … seine Frau weiß’s jetzt schon … morgen weiß es das ganze Kaffeehaus … die Kellner werd’n’s wissen … der Herr Schlesinger — die Kassiererin — Und selbst, wenn er sich vorgenommen hat, er red’t nicht davon, so sagt er’s übermorgen … und wenn er’s übermorgen nicht sagt, in einer Woche … (62)

Gustls Angst vor dem Verlust seiner Ehre steht gewiss auch mit der Angst vor seiner militärischen Degradierung in Verbindung; eine noch größere Angst macht ihm jedoch die Reaktion seiner Kameraden: Wenn sie von seiner Blamage erfahren, würde ihm nicht „sekundiert“ werden. Das heißt, sie würden ihm keinen Beistand und Hilfe bei einem bereits früher geplanten Duell mit einem Arzt erweisen, der durch eine abfällige Bemerkung den Leutnant noch vor dem Konzert beleidigt hatte. Ohne einen Sekundanten also wird Gustl die Wiederherstellung seiner Ehre in der Zukunft verwehrt sein. Damit würde er die Grundlage seiner ganzen Existenz verlieren, was er mit der Floskel — „Ehre verloren — alles

72 Schopenhauer, Aphorismen zur Lebensweisheit, S. 75. 73 Ebenda, S. 76. 74 Dies erklären zahlreiche Forschungsarbeiten. U.a.: Laermann, S. 114–115; von Wilpert, S. 126– 127; eine besonders tiefgründige Analyse ist von Huemer, „Die Armee. Die Ehre“, S. 74–75.

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verloren!“ (64) konstatiert. Da Gustl keinen anderen Ausweg sieht, „muss“ er sich umbringen.75 Wichtig ist hier jedoch die Verwendung des Modalverbs „müssen“. Es weist darauf hin, dass Gustls Vorhaben, sich selbst in den Tod zu schicken, nicht von ihm selbst ausgeht, sondern von außen kommt, aus dem damaligen Ehrenkodex der Gesellschaft, der sich Gustl, wenn auch durch äußeren Zwang, angepasst hat. Dieser Drang nach Anpassung bedeutet, dass Gustl nach seinem inneren Willen den Forderungen der äußeren Ehre entsprechen will.76 Gegen diesen inneren Willen kämpft jedoch eine andere Kraft in der Hauptfigur: der Wille zum Leben. Dass die Regeln der Gesellschaft nicht in Übereinstimmung mit seinen inneren Gefühlen oder seinem Verstand stehen, bezeugen sogar Gustls Gedanken: „Es laufen viele herum, denen ärgere Sachen passiert sind, als mir ...“ (61). Wenn er über die Reaktionen der Leute auf seinen möglichen Selbstmord nachdenkt, rutscht ihm sogar ein Wort ins Gehirn, das aus Schopenhauers Feder kommen könnte: „[E]s ist ja zu dumm, zu dumm.“ (62) An einer späteren Stelle wird diese Diskrepanz zwischen Gustls Innerem und den äußeren Vorschriften noch deutlicher, wenn Gustl, von Selbstmitleid erfüllt, an sein übles Schicksal erinnernd, aufschreit: „Ich muß! Ich muß! Nein, ich will!“ (79) Wie dieser Angstaufruf deutlich zeigt, liegt Gustls Vorhaben ein Paradox zugrunde, das die Grundproblematik der Monolognovelle bildet: Ein Individuum muss einen Selbstmord begehen, der aber in der engeren Bedeutung des Wortes kein „Selbstmord“ ist, sondern etwas Fremdgesteuertes, das man aber doch nicht mit dem Wort „Mord“ bezeichnen kann. Wie wenig Gustl die Idee des Selbstmordes vorbehaltlos annehmen kann, zeigt auch die Tatsache, dass er während seines nächtlichen Spaziergangs immer wieder mit den Gedanken einer anderen Lösung spielt. Er fantasiert nicht nur über eine Quittierung des Militärs oder eine Eheschließung, sondern sogar über eine Flucht nach Amerika, wo keiner mehr von seiner Geschichte und seiner verlorenen Ehre wissen kann (70). Auch wenn er diese Hirngespinste schnell verwirft, da er einsieht, dass er diesen Plan wegen seiner eigenen Dummheit nicht durchführen kann, bezeugt Gustl, dass er sich nicht ohne Weiteres den Regeln fügen kann, und dass ihm sogar bewusst ist, dass ihm andere Handlungsmöglichkeiten zur Verfügung stehen. Sein Zögern — dass er sich nicht sofort erschießt, sondern zuerst das halbe Wien abläuft, ein paar Stündchen schläft, und in der Früh noch ins Kaffeehaus einkehrt — ist auch ein Zeichen dafür, dass er nicht vollständig

75 „…—ich weiß, daß ich satisfaktionsunfähig bin, und darum muß ich mich totschießen.“ (Schnitzler, „Leutnant Gustl“, S. 62.) 76 Matthias, S. 129.

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von außen gesteuert ist — und dass er sich in einer tiefen Todesangst befindet.77 In einer Angst, die den Leutnant im Auge des damaligen Lesers feige erscheinen lässt, denn, wie er die programmatischen Sätze zitiert, wird von ihm nach den Ehrengesetzen etwas anderes erwartet: Jetzt heißt’s nur mehr, im letzten Moment sich anständig benehmen, ein Mann sein, ein Offizier sein, so daß der Oberst sagt: Er ist ein braver Kerl gewesen, wir werden ihm ein treues Andenken bewahren. (65)

Der innere Monolog, der in einer Form freier Assoziationen Gustls Emotionen in einem unkontrollierten Fluss wiedergibt, gibt jedoch die körperlichen Zeichen seiner Ängste preis. „Zähneklappern“ (67) und „Herzklopfen“ (77), ihm ist ganz „schwindlig“, und seine „Händ´ [fangen] zu zittern an“ (78). In der „Kirche“, dem Wahrzeichen des damaligen Wiens und der topographischen Mitte des morgendlichen Spaziergangs,78 überkommen Gustl durch die Musik das Selbstmitleid und die Todesangst am stärksten. Damit zeigt sich der Leutnant hier auch von seiner bemitleidenswerten Seite:79 „O Gott, o Gott, o Gott! Ich möcht’ einen Menschen haben, mit dem ich ein Wort reden könnt’ vorher! […] Am liebsten läg’ ich da auf dem Steinboden und tät’ ich heulen!“ (78) Ins Kaffeehaus eingekehrt, verstärkt sich die erste, ursprüngliche Angst des Leutnants, dass jemand von seiner Blamage erfährt und er dadurch all seine Ehre verliert. Der Kellner versetzt ihn sogar in Panik mit einem ominösen Satz, der Gustl zum Kern seiner „Ehrenangst“ zurückweist: „Haben Herr Lieutnant schon gehört?“ (82) Schnitzler überwältigt aber Gustl, und damit auch den Leser nur für den Bruchteil einer Sekunde noch ein letztes Mal mit Furcht, bevor er die Auflösung beschert. „Den Herrn Habetswallner … hat heut’ Nacht um zwölf der Schlag getroffen.“ (82) Mit dieser Aussage wird das ganze Dilemma Gustls auf einen Schlag gelöst — und auch seine Besorgnisse vor dem Ehrverlust und der damit verbundenen Todesangst zunichte gemacht. Dass Gustl sein ganzes Lebensglück letztlich wieder hergestellt sieht: „ich darf leben, und alles g’hört wieder mein!“ (83), ist der letzte Beweis, dass Schnitzlers Leutnant sich nicht den äußeren Regeln, die sein Leben gefährdet haben, fügen muss. Er nutzt einen Schleichweg aus der Situation, indem er sich erlaubt, die Wahrheit der Geschehnisse nach dem Wissen der anderen zu messen: „Keiner weiß was, und nichts ist g‘schehen!“

77 Vgl. u.a. Polt-Heinzl, Nachwort, S. 88; Alfred Doppler, S. 92; Dethlefsen, S. 68–69. 78 Polt-Heinzl zeichnete den Spaziergang Gustls nach und kam darauf, dass es bei der „Kirche“ um den Stephansdom geht (Nachwort, S. 77). 79 Wie Aurnhammer darauf hinweist, erprobt hier Schnitzler Schopenhauers Metaphysik über die Wirkung der Musik (S. 87).

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(83) „Scire tuum nihil est, nisi te scire hoc sciat alter“ — wie das alte Sprichwort bei Schopenhauer zu lesen ist. Wenn die Novelle mit diesem Satz Gustls enden würde, könnte unsere Frage nach der inneren und äußeren Bestimmung und Ehre als beantwortet angesehen werden. Schnitzlers „Systemskepsis und Theoriefeindlichkeit“ jedoch,80 die zum Ende der Novelle noch weitere Aussagen von Gustl diktiert, lässt uns das Dilemma aber nicht so einfach lösen. Der Leutnant ist nämlich, wenn auch nur latent, nicht in Übereinstimmung mit sich selbst, wenn er aus dem Handlungsablauf tritt. In ihm lebt eine übriggebliebene und gesteigerte Aggression, die nach seinem Plan sexuell („[Steffi muß sich für heut’ Abend frei machen, […]“) (84) und in einem Duell mit dem Arzt („Dich hau’ ich zu Krenfleisch!“ 84) ausgelebt werden soll. Diese ungezügelte Angriffslust Gustls zeigt, dass der innere Wert der „eingepaukten“, durch banale Floskeln zitierten äußeren Ehre in der Seele des Leutnants doch nicht völlig „abhandengekommen“ ist.81 Sie spielt lediglich eine dem Lebenstrieb untergeordnete Rolle. In dieser unerwarteten Wendung am Ende der Novelle lässt sich Schnitzlers Ironie und moralische Skepsis deutlich erkennen. Wenn wir die folgende sarkastische Erklärung der Wiederherstellung der männlichen Ehre bei Schopenhauer beachten, erkennen wir, dass Leutnant Gustl durch das Schimpfen über den Arzt die innere Balance seiner Ehre zurückgewinnt, wenn auch nur in seinen eigenen Gedanken: Wie Geschimpftwerden eine Schande, so ist Schimpfen eine Ehre. […] Welche Dummheit, Ungezogenheit, Schlechtigkeit einer auch begangen haben mag; durch eine Grobheit wird sie als solche ausgelöscht und sofort legitimiert.82

Schnitzlers Anspielung auf Schopenhauers Worte ist ein abschließendes Beispiel dafür, wie sich die hier analysierten Novellen an der Kritik der (Sexual-) Ehre von Schopenhauer in ironischer Form orientieren. Obwohl sich Schnitzler in seinen Tagebüchern und Briefen gegen die Philosophie auflehnte, reflektierte er philosophische Probleme der Zeit in seinen Werken, so wie hier die Dichotomie von Innen/Außen der Ehre. So wie Schopenhauer in seiner Klageschrift, zeigte Schnitzler ebenfalls durch das offene Ende in „Die Toten schweigen“ und durch die ironische Darstellung der Ängste Leutnant Gustls, dass der Begriff der Ehre für Frauen sowie für Männer in der Zeit der Jahrhundertwende hohl und ober-

80 Riedel, S. 233. 81  Vgl. von Wilpert, S. 108–109. 82 Schopenhauer, Aphorismen zur Lebensweisheit, S. 77.

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flächlig geworden war,83 da sie an dem Sehen (an dem Blick) der anderen gemessen wurde. Seiner männlichen Hauptfigur Gustl nimmt der Autor vor den Augen der Leser gänzlich die äußere Ehre und am Ende der Novelle lässt er durch die Aggression des Leutnants durchscheinen, dass seine innere Ehre ebenso verloren gegangen ist. Ganz anders ist es mit seiner weiblichen Kontrastfigur, Emma. Sie bekommt von Schnitzler durch ihre Beichte eine Chance, ihre innere und äußere Ehre wieder herzustellen. Auch wenn wir hier eine Ähnlichkeit im Denken des Philosophen und des Schriftstellers sehen können, kann man bei weitem nicht von einer Übereinstimmung reden. Arthur Schnitzler war kein Pessimist,84 der sich „mit der sauren Milch Schopenhauers Lebensverneinung nährte“.85 Wie in Schnitzlers Aphorismen und Betrachtungen zu lesen ist, hat er in seinen Werken kein weitreichendes Urteil getroffen, denn, wie er sagt: Jede Erkenntnis (Erfahrung) wird in unserer Seele vom hellen Licht des Zweifels umleuchtet; der Schatten, den sie in diesem Licht wirft, heißt Glaube. […] Philosophie ist auch Glaube, ja im letzten Sinne Dogma, auch dort, wo sie in Zweifel ausläuft — und dort vielleicht am meisten.86

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83 Vgl. von Wilpert, S. 135 84 Urbach, Schnitzler-Kommentar, S. 48. 85 Auernheimer, S. 135. 86 Schnitzler, Aphorismen und Betrachtungen, Bd. 2, S. 123f

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Schnitzler, Arthur: „Die Toten Schweigen.“ In: Meistererzählungen. Frankfurt a. Main Fischer Taschenbuchverlag 2010, S. 29–47. Schnitzler, Arthur: „Leutnant Gustl.“ In: Meistererzählungen. Frankfurt a. Main Fischer Taschenbuchverlag 2010, S. 51–84. Schopenhauer, Arthur: Parerga und Paralipomena. Bd. 1. In: Arthur Schopenhauer: Sämtliche Werke. Hrsg. von Wolfgang Freiherr von Löhneysen, Bd. 4. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1963. Schopenhauer, Arthur: Aphorismen zur Lebensweisheit. Vollständige Ausgabe. Köln: Anaconda 2011. Schultheiss, Carlo: „Scham und Normen.“ In: Scham — Ein menschliches Gefühl. Kulturelle, psychologische und philosophische Perspektiven. Opladen: Westdeutscher Verlag 1997, S. 97–109. Surowska, Barbara: „Flaubertsche Motive in Schnitzlers Novelle ‚Die Toten schweigen‘.“ In: Orbis Litterarum 40 (1985), S. 373–379. Tarnowski-Seidel, Heide: Arthur Schnitzler: Flucht in die Finsternis. Eine produktionsästhetische Untersuchung. München: Wilhelm Fink Verlag, 1983. Tebben, Karin: „‚Traum wird Leben, Leben Traum.‘ Arthur Schnitzlers Die Toten schweigen (1897).“ In: Musil-Forum. Studien zur klassischen Moderne. Hrsg. von Matthias LuserkeJaqui und Rosemarie Zeller. Bd. 27. Berlin / New York: de Gruyter 2001/2002, S. 103–118. Tergast, Carsten: „Leben, Gesundheit und Liebe“ als zentrale Kategorien des Schreibens bei Arthur Schnitzler. Dekadenz und Lebensphilosophie im Werk des Wiener Dichters. Hamburg: Diplomica Verlag 2012. Thompson, Bruce: „Two Adulteresses in Vienna. Stefan Zweig´s Angst und Schnitzler´s Die Toten Schweigen.“ In: Modern Austrian Literature. Vol. 32.2 (1999), S. 1–14. Urbach, Reinhard: Schnitzler-Kommentar zu den erzählenden Schriften und dramatischen Werken. München 1974. Wiese, Benno von, Hrsg.: „Arthur Schnitzler: ‘Die Toten schweigen’.“ In: Die deutsche Novelle von Goethe bis Kafka. Bd. II. Düsseldorf: Bagel 1962, S. 261–279. Wilpert, Gero von: „Leutnant Gustl und seine Ehre.“ In: Die Ehre als literarisches Motiv. E.W. Herd zum 65. Geburtstag. Hrsg. von August Obermayer. Dunedin: University of Otago 1986. (Otago German Studies. Vol. 4)

Susanne Kelley

Femme Orientale at the Viennese Fin-de-Siècle Hugo von Hofmannsthal’s Semiramis and Gustav Klimt’s Judith At the 2011 conference of the German Studies Association, Steven Beller reflected on the relevance of Vienna 1900 as a research focus today. In his talk “Re-thinking Vienna 1900,” he argued that the primary concern with artistic products aesthetically reflecting on the non-rational decadent atmosphere in a still politically significant Vienna no longer has the same relevance to twenty-first century interests and realities as it did two and three decades ago. The “Viennese Finde-Siècle” in its definition by Carl Schorske has and should be revised mainly to reflect cultural and scientific, private and public activities existing in connection not in isolation.¹ A contemporary approach to the significance of Vienna 1900, Beller argued, is to concentrate on “a sphere where the focus lay on relations, language, and connections [...], a sphere following a norm better suited to the human experience.”² Publications, such as Deborah Coen’s Vienna in the Age of Uncertainty and Hillary Herzog’s Vienna is Different, for example, examine instances in which supposed opposites identified by Schorske as the core of the “Viennese Fin-de-Siècle” in fact represent crucial connections that form the foundation for the originating modernism that influenced much of the world. Coen writes: “We will find a culture in which skepticism, far from being liberalism’s downfall, was in fact its core value; a culture in which the family sphere was not a retreat from rational thought and political engagement but constitutive of them.”³ According to Wolfgang Nehring, this multifacedness is the element that makes Vienna 1900 “from today’s point of view, a fascinating period.” There was in Vienna a strong feeling of artistic awakening and modernity, and modernism and decadence were not considered contradictory by many protagonists; rather, they appeared as two aspects of the same thing. One could almost say that to be decadent meant to be modern or vice versa: to be ‘modern’ you had to be decadent.⁴

1 Beller, “Rethinking Vienna 1900.” 2 Lorenz, “Commentary,” p. 2. 3 Coen, p. 2. 4 Nehring, “Peter Altenberg and his Time,” p. 7.

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In contrast to Schorske’s image of the “Viennese Fin-de-Siècle” as a moment when aestheticism and rationality were mutually exclusive, Beller’s and Nehring’s “Vienna 1900” represents a geographical and cultural space in which the harmony of opposing perspectives represents the basis of brilliant cultural production. In this essay, I analyze two female protagonists presented in works by Hugo von Hofmannsthal and Gustav Klimt; these protagonists represent both the modern and the decadent as they portray emancipation through the merging of opposites. “In literature and art [the Fin-de-Siècle] is often equated with ‘decadence,’atermthatdenotesthedemiseofastronger,morevitaltime.”⁵Incontrasttothe atmosphere in other centers of modernism (Paris, London or Berlin), that in Vienna was more aggrieved with the ending of what Stefan Zweig terms “das goldene Alter der Sicherheit.”⁶ Around 1900, many Viennese still perceived their town as the political and symbolic center of an empire where everything had its set place, “fest und unverrückbar an seiner Stelle und an der höchsten der greise Kaiser; aber sollte er sterben, so wußte man (oder meinte man), würde ein anderer kommen und nichts sich ändern in der wohlberechneten Ordnung.”⁷ Fritz Lang described the Vienna of his youth in a recently discovered book project as “eine Märchenstadt, die nur für den Augenblick lebte, sorglos, unbekümmert um das, was in der Welt vor sich ging, und die von einer unvorstellbaren Süße war.”⁸ Many in this space of security and tradition, however, were well aware of the social and political changes taking place, including the emancipation of women or minorities.⁹ Artists and writers who were part of Viennese modernism sensed that the predictability of life in nineteenth-century Vienna was not bound to last far into the twentieth century. The intuition that cultural and political crises were inevitable for the Austro-Hungarian Empire was one undercurrent for the success of the art and literature produced in Vienna at the turn of the nineteenth to the twentieth century. Some reacted to this Endzeitatmosphäre by formulating criticism inward or homeward (Arthur Schnitzler, Karl Kraus), while others looked outward for intellectual, spiritual and aesthetic inspiration (Gustav Klimt and the Secession, Hugo von Hofmannsthal). Geographically and culturally defined points of orientation were France (Paris especially), Italy, and England, but intellectual and spiritual inspiration also came from the artists’ perceptions of the Near, Middle, and Far East.

5 Ibid., p. 7. 6 Zweig, p. 16. 7 Ibid., p. 16. 8 Lang, p. 2. 9 Ackerl, pp. 6–7.

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Focus of this essay is Hugo von Hofmannsthal’s Semiramis/Die Beiden Götter (a work Hofmannsthal sporadically worked on from 1904–1922, but which remained a fragment) and Gustav Klimt’s Judith I and Judith II (1901 and 1909). The main protagonist in each work is a woman whose story is rooted in the non-European East but who displays characteristics associated with European mentalities. Her identity and effectiveness are called into question either by the artist himself or by his audience, resulting in the expression of female power inspite and because of these various ambiguities. Both Semiramis and Judith embrace a leadership role, but their final impact and success as characters in their well-known stories and protagonists in the artworks necessitate the acquisition of character traits that are associated with the non-European, thereby creating cross-identity connections not generally practiced in European culture. For Hugo von Hofmannsthal, the preoccupation with cultures east of the European continent was multifaceted. In his works, we find a “geographical and mythological as well as a cultural-political” Asian continent.¹⁰ “As early as 1917, Hofmannsthal was aware of the necessity to integrate the ‘polymorphous East,’ i.e., the culturally mixed margin of Southeastern Europe, into the new Europe and to conceive of Austria not as a fortress defending Europe from Asia but as a bridge towards Asia.”¹¹ In his essays and speeches during and after World War I, Hofmannsthal lays out visions for a new Europe and Austria’s connecting role in it, and a political and cultural orientation to the East is part of many of those speeches.¹² The Far East, i.e. China, India, and Japan specifically, provide him with philosophical answers to fundamental questions of human existence. Religions, such as Hinduism and Buddhism, offer alternatives to the Christian interpretation of life.¹³ The political and social relations he imagines in China and Japan in particular represent to Hofmannsthal a model for a more harmonious co-existence based on stressing commonality over difference. Hartmut Zelinsky characterizes Hugo von Hofmannsthal’s notion of Asian philosophy: Diese zentrale Rolle des Begriffes der Ganzheit in Hofmannsthals Denken hängt, wie ich annehme, zusammen mit seiner Begegnung mit Asien und steht in genauer Verbindung mit jenem in oben erwähnter Arbeit herausgearbeiteten poetischen System, mit dessen Verwirklichung Hofmannsthal seit Beginn seiner dichterischen Existenz, also seit 1890, beschäftigt war und dessen allerdings eng miteinander verzahnte Grundlinien so bezeich-

10 Mistry, “The Concept of Asia,” p. 227. 11 Foteva, p. 20. 12 Arens, p. 187; Foteva, p. 20; Pekar, pp. 248–249. 13 Zelinsky, “Hofmannsthal und Asien,” p. 534.

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net werden können: 1. Wille zur Ganzheit / 2. Die “Überwindung der Zeit” / 3. Die “Auflösung des Selbst” / 4. Der Wille zum Drama.¹⁴

In Semiramis/Die Beiden Götter, Hofmannsthal pursues all of these endeavors by juxtaposing and attempting to blend the European with the non-European elements. Both Hugo von Hofmannsthal and his contemporary Hermann Bahr, author and critic central to Viennese Modernism, infer wholeness as well as disciplined harmony of character and culture when referring to Japanese character. Writing about the Secession’s exhibit of Japanese art in 1900, Bahr raves: Welche hohen Begriffe des Menschlichen sprechen aus diesen Werken, welche Sittlichkeit, welche Schicklichkeit! Man betrachte doch diese ernsten und feierlich abgeschlossenen Mienen, denen man den festen Entschluss ansieht, sich niemals hinreißen zu lassen, sondern ihr Inneres mit unveränderlichem Geheimnis zu verwahren, und vergleiche damit das ungezügelte und aufgeregte Thun unserer Leute, die schamlos jede innere Bewegung gleich in Grimassen offenbaren!¹⁵

Bahr’s description of Japanese composure, which contrasts with Western undisciplined emotional display, resembles Hofmannsthal’s fashioning of a Japanese nobleman in his “Gespräch zwischen einem jungen Europäer und einem japanischen Edelmann” in which the nobleman utters: “Unsere Cultur hat Harmonie. Die ihrige lebt von unheimlichen halbtollen Associationen. Die Gedankensprünge eines Tollen scheinen mir ihre Ordnung der Dinge zusammenzuhalten.”¹⁶ Other writers in Vienna 1900 share the perception that this harmony rooted in wholeness, which Hofmannsthal philosophically identifies with the Indian Brahman, is typical of Japanese art and culture and worth European emulation.¹⁷ A third “East” is the realm of fantasy from such texts as the One Thousand and One Nights. The poet and author find in these stories a complete poetical world, as he describes in his introduction to a German translation of the One Thousand and One Nights: Hier ist ein Gedicht, woran freilich mehr als einer gedichtet hat; aber es ist wie aus einer Seele heraus, es ist ein Ganzes, es ist eine Welt durchaus. Und was für eine Welt! […] Es ist

14 Ibid., pp. 513–14. 15 Bahr, p. 406. 16 Quoted in: Pekar, p. 258. See also Pekar, Ibid., p. 259, on a discussion of Hofmannsthal’s motto “The whole man must move at once,” which the author quotes in a number of texts and for which he provides a fictional history in “Briefe eines Zurückgekehrten.” 17 Schur, pp. 5–20.

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kein Sinn in uns, der sich nicht regen müsste, vom obersten bis zum tiefsten; alles was in uns ist, wird hier belebt und zum Genießen aufgerufen.¹⁸

For Hofmannsthal personally, the Near East or “Orient” foremost provides literary inspiration, as it sparks the imagination of such authors as Goethe, Byron, and Hugo, as well as his own. Examining literary works by Hofmannsthal, Musil, and Kafka, Robert Lemon argues in Imperial Messages that these authors turn to orientalist discourse in order to practice critique on the Habsburgian culture of their time.¹⁹ I suggest that in the case of Hofmannsthal and Klimt, the turn to the East reveals a careful optimism about their own culture, albeit a critical one, as the Eastern cultures seem to provide alternatives to a crisis-driven and -producing environment, even if the source of these alternatives is an image of Eastern culture that stems from “the repositories of Western fantasy rather than Eastern reality.”²⁰ Thomas Pekar describes this turn to Asia as an “Umweg,” drawing from François Jullien’s concept of the “Ortswechsel des Denkens”²¹ and Michel Foucault’s spaces of otherness:²² Dieses heterotopische Asien Hofmannsthals ist eigentlich anti-exotisch; es ist keine erfundene und ausgemalte Differenz zu einem imaginierten Anderen, sondern die strategische Entscheidung, über einen anderen Ort zu gehen [...].²³

In essays such as “Lafcadio Hearn” (1904), “K.E. Neumanns Übertragung der Buddhistischen Heiligen Schriften” (1921), “Aufzeichnungen in Skandinavien” (1916); in dramas such as “Der weiße Fächer” (1897), “Der Kaiser und die Hexe” (1897); and in his letter exchange with Rudolf Pannwitz, to name just a few textual examples, Hofmannsthal demonstrates his awareness of philosophical and religious concepts that are underlying the Chinese, Indian, and Japanese cultures.²⁴ These examples contrast “Orient” as an imaginary space represented by the One Thousand and One Nights and aim to invoke these countries as “real” cultural and geographical spaces via which he discusses the state of Europe. The blend of these influences and perceptions leads Hofmannsthal to interpret the politics

18 Hofmannsthal, “Reden und Aufsätze I,” p. 363. 19 Lemon, p. 3. 20 Ibid., p. 47. 21 Jullien, Der Umweg über China. 22 Foucault, “Of Other Spaces.” 23 Pekar, pp. 255–256. 24 See Zelinsky, “Brahman und Basilik;” Zelinsky, “Hugo von Hofmannsthal und Asien;” Mistry, “Concept of Asia;” Mistry, “Hofmannsthal’s Oriental Library.”

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of Asia as a model for a more harmonious co-existence based on stressing commonality over difference. By removing parts of these discussions from the local to the global, Hofmannsthal contextualizes the discourse in a more distant and possibly more comfortable realm. According to Edward Said’s Orientalism theory, this kind of literary interpretation and acquisition of Asian and Middle Eastern cultures is part of the Western practice of exercising “intellectual authority over the Orient.”²⁵ Even though Hofmannsthal’s writings do not express colonial endeavors, they support — Said would argue — the right, appropriated by the West, to claim and consume natural and human resources, referring not only to labor capabilities, but also to artistic skills and achievements.²⁶ In response to Said’s groundbreaking publication, scholars²⁷ have pointed out that not all Western material about the Eastern part of the world is by default an expression of an imperialist quest, but that “other sorts of truth seekers appear who look to the East when the West faces critical challenges and despairs of its own answers.”²⁸ Lemon argues that Hofmannsthal, Musil, and Kafka “adopt politically or culturally self-critical stances, invoking the oriental ‘other’ not to bolster Occidental imperialism but rather to express concerns about their own troubled empire.”²⁹ By looking to the East, thus, the artists hoped to reformulate, revive, and redefine Vienna, i.e. the self and not the other. Similar to the romantics, who sought spiritual inspiration from the East, the Viennese modernists hoped for cultural and artistic regeneration and guidance. In Orientalism, Said maintains that the colonial and post-colonial Westerner regards himself to be of the superior culture always aiming to speak from a dominating position, which is reflected in most if not all representations of the East. This is where the Austrian characterization of the “Oriental,” particularly of the East Asian, differs. According to Hofmannsthal’s and Klimt’s contemporaries, works of art, literature, and culture originating in the Asian continent contain a truth and refinement lacking in Western art and culture. Referring to Lafcadio Hearn, Kakuzo Okakura, and Ku Hung Ming,³⁰ Hofmannsthal writes in his 1917 speech “Die Idee Europa:” “Hören Sie, wie Asia sich aufrichtet, seiner Einheit bewusst [...].”³¹ He stresses that Europe does not describe a geographical or racial

25 Said, p. 19. 26 Ibid., p. 108. 27 The quantity of works countering Said’s work is so large that it has warranted the publication of articles analyzing the current status of Said criticism. See Kohlhammer for example. 28 Marchand, p. xxvii. 29 Lemon, p. 1. 30 Mistry, “Hoffmannsthal Oriental Library,” pp. 184–197. 31 Hofmannsthal, “Reden und Aufsätze II,” p. 51.

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community, but a literary, religious, philosophical, and humanistic sphere. In this speech, Hofmannsthal advocates the belief in a newly spiritually and morally revived Europe, necessitated by the destruction of the war.³² Hofmannsthal’s idealistic perception of Asia encourages his hope for a unified Europe: “Hinstreben zu Asien als Zeichen der Zeit, [...]”³³ as he demonstrates in the last version of the Semiramis-project. Die Beiden Götter offers the literary implementation of this hope for cultural and political unification. It is accomplished through the spiritual combination of two characters, representing opposing energies: strength/ power/action and restrain/reflection/non-action. This juxtaposition remains at the center of Hofmannsthal’s various versions of Semiramis. The figure of Semiramis, on which Hofmannsthal’s work is based, is primarily a mythological character developed and interpreted in a number of different literary works,³⁴ yet the myth has been found to have historic roots.³⁵ Her original name was Sammu-rammat, the Babylonian wife of the Assyrian ruler ShamshiAdad.³⁶ As queen, her position in Assyria was prominent, and her role as queen mother was even more important, since her son was legitimate to assume the throne of Assyria and Babylonia. Antique history records her as the founder of the Assyrian empire, the builder of Babylon, and the creator of the hanging gardens, one of the Seven Wonders of the World.³⁷ After her husband’s death, she ruled his empire for the next twenty-four years, when her son Ninyas succeeded her. Adaptations of the Semiramis story in the nineteenth and twentieth centuries include everything from tragic comedy to serious drama. The portrayal of the protagonist Semiramis varies from the weak, love-conflicted woman to a brutal and proud leader. A few examples of the adaptations include the 1808 opera Die neue Semiramis: Große heroisch-komische Travestie, Joachim Perinet’s Viennese adaptation of Voltaire’s play Semiramis, which leaves Semiramis in the position of leader of Babylon, but turns her story into a comedy. Wilhelm Walloth’s Semiramis play (1891) stays true to the Babylonian queen’s image as a cruel leader, who, however, weakens toward the end. Here she must die, because her deeds repre-

32 Ibid., p. 53. 33 Ibid., p. 51. 34 The material was particularly popular in Baroque literature. Cristóbal de Virués, Lope de Vega, Gabriel Gilbert, and Pedro Calderón de la Barca dramatized the story of the Assyrian queen. Later dramatists who found this figure appealing for the stage were Joliot de Crébillon, Voltaire, and Joseph Péladan. Opera-libretti featuring Semiramis’s legend were penned by Apostolo Zeno, Pietro Metastasio, and Paul Valéry. See Dewitz, p. 303. 35 Nagel, Ninus und Semiramis. 36 Mackenzie, p. 417. 37 Curtius, pp. 24–25.

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sent an embarrassment to her society. A one-act tragedy from 1913 by Albrecht Ringen portrays the protagonist as a strong-willed woman, who also must finally die, killed by her son, who revenges the ousting of his lover. Hofmannsthal based his Semiramis on Calderón’s 1653 play La hija del aire, translated into German as Die Tochter der Luft, which ends with Semiramis’ death in battle while she impersonates her son. The real Ninyas is then able to reinstate peaceful relations after his tyrant mother’s demise. Hofmannsthal first mentions his intention to develop a play based on this material in a letter to Hermann Bahr in 1904.³⁸ Initial plans were to present the material in form of an opera libretto for Richard Strauss. He eventually struck his plans for a Semiramis libretto and decided to formulate the material as a drama instead, which he titled Die Beiden Götter. He worked on the realization of the drama from 1917 to 1922, but the project remained a fragment. Hofmannthal’s earlier Semiramis focuses on the development and representation of the Assyrian queen, whereas Die Beiden Götter juxtaposes Semiramis and the character of her son Ninyas. The mythological Semiramis is a woman of superhuman qualities. Adopting this representation, Hofmannsthal portrays her in his earlier version as exuding purest power defined by relentless action.³⁹ Her superhuman qualities and attitude enable her to reject any man who is not a god. As a result, she kills the men she sleeps with, because they cannot offer her the superhuman love she longs for: “Diese Männer, die sie an sich preßt, sind ihr nichts als Gebärden zu dem einzigen Liebenden hin, dem großen Gott [Brahma], den sie immer ferner im Osten sucht, der sie ausfüllen wird. [...] Sie spricht mit ihren Frauen von sich als der Braut des fernen Gottes.”⁴⁰ This early version represents the “Far East” as the space that might have to offer what does not exist in her immediate surroundings, i.e. a man who has the ability to fulfill her physically, mentally, and emotionally: “Sie ist darauf gestellt, daß sie von dem, der sie umarmt, verlangen muß, daß er mehr als ein Mensch ist, und ihm nie verzeihen kann, daß er nur ein Mensch ist.”⁴¹ No further mention is made of Asia in this early version. Instead, Semiramis realizes the human and, thus, vulnerable side of her own being upon becoming a mother. Before Semiramis takes on the role of motherhood, she represents a character that is larger than life. In “Ad Me Ipsum,” Hofmannsthal identifies “Praeexistenz” as the stage in which the (typically youthful) individual has not fully entered many trying experiences and therefore often stands above life, a predisposition he characterizes as a “glorreicher, aber

38 Dewitz, p. 303. 39 Nehring, Die Tat, p. 111. 40 Hofmannsthal, “Semiramis,” p. 561. 41 Ibid., p. 561.

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gefährlicher Zustand.”⁴² Parenthood is one way to alter one’s life perception, a process Hofmannsthal describes as “Weg zum Leben,” “Zu-sich-selber-kommen,” or “Weg zum höheren Selbst.”⁴³ Once a mother, Semiramis associates humanity with parental fears, the experience of dreaming, and the realization that she is mortal, all of which cause her to flee into isolation: “Sie kann ihr Weibsein nicht begreifen, dann nicht ihr Mutter-sein — in toto also nicht ihr Mensch-sein.”⁴⁴ The earlier version of the Semiramis-project, thus, reflects Hofmannsthal’s preoccupation with an individual’s development towards a balanced and self-aware life. Albeit in mythical terms, he implements for Semiramis one of the paths he describes as entries to a more socially and mentally connected and self-aware life, i.e. a woman’s experiences with motherhood. From 1917 until 1922, Hofmannsthal worked on the later Semiramis version, entitled Die Beiden Götter, which I interpret as the more politicized version of the material. Here, two ways of governing collide: the action-driven, ruthless, but controlling leadership of Semiramis, and the Taoist non-interfering, non-offensive reign of Ninyas. In Die Beiden Götter, the masculine, dominating, calculating, compulsive, and thereby in Said’s terms “European” Semiramis, who reigns through forceful action, faces her feminine, compassionate, contemplative, selfsubordinate, and “Asian” son Ninyas,⁴⁵ who creates law and order without the application of violent punishment. “Sie ist das Ungeistige, der Zwang, das Bestehende — Ninyas ist Geist u. Liebe.”⁴⁶ She feels intensely threatened by his opposing philosophy of living and ruling: “Semiramis immer in Angst, von Ninyas verschlungen zu werden, aufgehoben zu werden: gerade von dem Nicht-tuenden.”⁴⁷ At first glance, this dichotomy fits exactly into Said’s argument of the passive, victimized East and the aggressive, authoritarian West, but in Hofmannsthal the aggressor does not achieve full control (Semiramis remains afraid of her passive other). He also plays with traditional gender roles and their power relationship, as physically, the “Orient” is male and the West is female. If we gender Ninya’s quiescent, nurturing leadership style as characteristically feminine, however, Hofmannsthal rather paints the image of Asian and Middle-Eastern cultures as backwardly effeminate and Europe’s as progressively masculine. Ninyas rules through love, wisdom, and without exercising aggressive force: “Ninyas gegen

42 Hofmannsthal, “Reden und Aufsätze III,” pp. 599–602. 43 Ibid., pp. 601–602. 44 Hofmannsthal, “Semiramis,” p. 561. 45 Mistry, “Die Beiden Götter,” p. 7. 46 Hofmannsthal, “Semiramis,” p. 567. 47 Ibid., p. 568.

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alles Heroische. (‘liebt er das Volk und regiert er das Land, kann er ohne tun sein’ — ‘er erhält und beherrscht nicht: das ist tiefste Tugend’ — Laotse).”⁴⁸ In contrast, Semiramis functions through “Tat und Tat und Tat.”⁴⁹ In the end, neither leadership style proves to be fully effective, as both extremes eventually fail in the real world. Both are left with only one option — to unite their ideologies in order to create the vision of a new world order that is supposed to reach a harmony of political passivity and aggression. The need for this synthesis is presented throughout the fragment and is set up as the climax of the play: “Wenn die Mutter u. der Sohn in einem Haus wohnen, so wird der Anfang einer neuen Welt sein”⁵⁰ and “‘Nicht-tun und Tun auf geheimnisvolle Weise vereinigt, darin liegt es’ (Laotse).”⁵¹ Since this harmonious co-existence and co-rule of mother and son are not successful, the synthesis of what this text presumes as Eastern and Western mentalities must take place by working around a balanced co-existence. Ninyas accepts his role as martyr upon whose death Semiramis declares his divinity and her servitude to him. Hofmannsthal summarizes his vision of the piece’s conclusion as: Die letzte Phase beginnt mit der Erkenntnis, daß Ninyas eine Macht verkörpere, verstärkt sich mit dem Übergang des Übergewichtes an diese Macht, endigt, in dem sie sich zur Dienerin (Herrin) dieser Macht aufwirft. […] Ninyas ist der andere, der zweite Takt — den auch der heroische Mensch als notwendig erkennt. Sie stellt ihn sich gegenüber und verewigt ihn — sie braucht keine Verewigung, sie wirkt fort.⁵²

Freny Mistry characterizes this ending as a successful “symbiosis between Europe’s intellectual achievements and the spiritual faith of the East,”⁵³ Erhard Ernst as the only possibility for both philosophies to be achievable: So wird die Darstellung des ungeheuren Begriffs Asien in der Gestalt des Ninyas (Ninos) zu seinem Triumph, zu einer Verherrlichung des Prinzips vom Nicht-tun — allerdings in einer mystischen Landschaft. […] Als reine Prinzipien sind aber beide Potenzen in dieser Welt nicht darstellbar, als Herrscher und Heerführer betrifft auch Ninyas das irdische Gesetz des Handelns.⁵⁴

48 Ibid., p. 568. 49 Ibid., p. 575. 50 Ibid., p. 568. 51 Ibid., p. 581. 52 Ibid., p. 567. 53 Mistry, “Die Beiden Götter,” p. 8. 54 Ernst, p. 273.

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Hofmannsthal, thus, differentiates between the harmony of lofty ideals and the limits provided by human and political reality. The ending is, in fact, ambivalent. In Edward Said’s terms, the “Occident” defines the “Orient,” as only Semiramis’s final declaration creates Ninyas’s divine and epic status. As his priestess, she becomes the spokesperson for the philosophy his figure represents and thereby claims “intellectual authority over the Orient.”⁵⁵ The ambivalence lies in the power-relationship between the living Semiramis and the murdered Ninyas. On the one hand, Semiramis holds authority over the overarching Taoist philosophy Ninyas stands for by representing it to her people. On the other hand, only by celebrating the Eastern philosophy and culture as the superior presence in her life may Semiramis engage in the type of aggressive political activity she has always practiced. Hofmannsthal thereby undermines the standpoint of “European identity as a superior one in comparison with all the non-European peoples and cultures,”⁵⁶ which Said argues to be at the basis of the Orientalism project. Hofmannsthal calls for a revision of those Western political attitudes and philosophies by considering Taoism, but he also recognizes that the concept of passivity as sole leadership style is not functional in the real world filled with human conflicts and rivalries. The preferred solution is a balanced synthesis of the Western and Eastern concepts of leadership. When provided with a choice between action and inaction in the face of human struggle, Hofmannsthal recognizes that European culture tends to fall back on violent conflict resolution in some way. The hope, then, is to hold up Taoist ideas as a guidance to modify that action into a less aggressive form. At a time when Europe finds itself in chaos and division, Hofmannsthal expresses hope in “Die Idee Europa:” “Eine neue europäische Idee: neue Wirklichkeit. Nicht eine Utopie, nicht eine Konföderation, nicht die permanente Konferenz, obwohl alles dies kommen kann, — sondern ein neues europäisches Ich, ein geändertes Verhältnis des Ich zum Dasein, zum Geld.”⁵⁷ On Semiramis and Ninyas, he models the synthesis of opposing forces to create a new type of political identity. In Semiramis/Die Beiden Götter, this force is mythical; for Europe it has to be a cultural unifying harmony. Unlike Hugo von Hofmannsthal, Gustav Klimt did not offer public commentary on European politics or any other topic besides art. Klimt worked towards an aesthetic unity of elements that foremost created exceptional identities, primarily female. We know not only from his art that Klimt enjoyed the company of women

55 Said, p. 19. 56 Ibid., p. 7. 57 Hofmannsthal, “Reden und Aufsätze II,” p. 52.

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and involved himself in a variety of relationships with women from different levels of the Viennese society. Klimt’s Judith paintings represent female emancipation through violence and the sexuality of the femme fatale. In portraits, Klimt was at his best when he removed the bourgeois women from the comforts of their domesticity and placed them into unfamiliar and fantastic spaces, with Adele Bloch-Bauer I as one of the most well known examples. Klimt’s Judith paintings, though, offer the explicit sexuality Adele Bloch-Bauer I is missing. By sexualizing Judith, Klimt followed the interpretation of the character that was most typical in the nineteenth century. The Judith of the Old Testament is a faithful widow who tries to prevent Holofernes from destroying her besieged town. She gains his trust and ultimately decapitates him in his sleep. Because she acted in faith and thereby saved the besieged Jews from the Assyrians, the Book of Judith interprets the murder as a saintly and heroic act.⁵⁸ Between the fifteenth and seventeenth centuries, artistic representations of the Judith figure focused on the woman’s age and maturity in combination with the display of physical strength or lack thereof. Ulrike Vollmer argues that the early Baroque artist Artemisia Gentileschi painted a convincing heroine whose physical and mental strength is demonstrated in the painting: “Sie strahlt körperliche Kraft aus und verfügt als gereifte Frau über die nötige emotionale Stärke, um ihren Plan durchzuführen.”⁵⁹ Vollmer also suggests in her analysis that Gentileschi’s most well-known work has the potential for readings other than as an act of revenge by a rape victim.⁶⁰ Regardless of the artist’s motivation for the depiction, its expression of female power and rage stands in direct contrast to depictions of the scene by male artists who were contemporaries of Gentileschi. Michelangelo Merisi da Caravaggio, for example, presented a more immature and weaker Judith, but also one whose body position makes the murder of a muscular man physically impossible.⁶¹ The artist thereby undermines the strength of the main protagonist. The early Renaissance representations of Judith in Donatello’s bronze sculpture and Sandro Botticelli’s painting of Judith’s triumphant return to Bethulia show on the one hand beautiful, self-confident and strong women whose ability to murder is not put into question by the artists. Female sexuality, on the other hand, is not particularly stressed nor is Judith’s rape by Holofernes thematized. The portrayed women are well-dressed and their poses are aggressive or hesitant, self-confident or imma-

58 Hammer-Tugendthat, p. 220; Vollmer, p. 78. 59 Vollmer, p. 84. 60 Ibid., pp. 87–88. 61 Ibid., p. 84.

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ture, but none are seductive or explicitly revengeful. Even the Judith painting by Lucas Cranach the Elder merely hints at the possibility that Judith’s main motivation for the murder was to revenge her rape. The purity and refinement of Judith’s dress contrasts with the brutality of the painting’s scenes: “Cranach’s [the Elder] Judith is more paradoxical; the very clothes that had been introduced into the iconography to stress her chastity become sexually charged as she exposes the gory head to the shocked but fascinated viewer.”⁶² The ambiguity lies in the source for Judith’s effectiveness as savior of Israel. Chaste heroine on the one hand and sexually charged powerful woman on the other, her main accomplishment remains the murder of a male ruler. “Judith ist nun eine der ganz wenigen Figuren, die mit beiden, sich gegenseitig ausschließenden Bedeutungen besetzt werden konnte und sich somit diesen einseitigen Zuordnungen widersetzt.”⁶³ The interpretation of Judith in art is varied and ambiguous, which also determines the figure’s attraction to artists and viewers/readers. Undoubtedly Gentileschi’s Judith takes the prize in its expression of female physical strength and mental will power, regardless of whether we read it as an expression of a rape victim’s pure rage or analyze it through a less biographical lens. Although these earlier Judiths were certainly emancipated and some of them sexualized, the theme of the rape or the violation of female sexuality does not become truly explicit until later representations of this Jewish woman. Analyzing the images of Judith in literature, Nadine Sine argues that Friedrich Hebbel’s 1841 play Judith first expressed the rape by Holofernes as the possible key motivation for the murder.⁶⁴ “According to these radically new interpretations of biblical stories, decapitation results from a sexually-related act of revenge by a woman: the virgin Salome seeks revenge for John’s rejection of her advances; Judith avenges the assault on her virginity.”⁶⁵ The New Testament, however, only briefly mentions Salome as a dancer whose performance Herod likes and wishes to reward. He promises to fulfill any request she might have and, influenced by her mother, Salome asks for John the Baptist’s head. Unlike Judith, Salome does not undertake the act of murder herself, and the Bible does not specify her motivations. Nadine Sine, Daniela Hammer-Tugendhat, and Udo Kultermann show that the interpretation of Judith and Salome alike underwent a transformation in the nineteenth century, despite the drastic differences in the two women’s stories.⁶⁶

62 Jones, p. 2. 63 Hammer-Tugendhat, p. 222. 64 Sine, p. 12. 65 Ibid., p. 14. 66 Ibid., pp. 12–18; Hammer-Tugendhat, p. 223; Kultermann, p. 195.

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Nineteenth-century artists interpret the women’s primary motivations as rooted in a new awareness of female sexual identity and the right to defend it, which clearly alters their original stories, especially in the case of Salome. Originally portrayed as a just and purely motivated femme forte,⁶⁷ literary and visual representations of Judith around 1900 redefine her motivations as based in sexual desire. Freud meinte, Hebbel habe in seinem Theaterstück die eigentlich Wahrheit des Textes, gleichsam den ursprünglichen Text, den eigentlichen Sinn der Geschichte aufgedeckt: dass eine Jungfrau aus Rache dem Mann, der ihr ihre Virginität geraubt habe, den Kopf abschlägt, wobei das Abschlagen des Kopfes ein Symbol für die Kastration sei.⁶⁸

Although Judith is certainly a sexual and violent woman, nineteenth- and turn-ofthe-century artists interpreted Salome (not Judith) to be the quintessential femme fatale: “Nur die Salomefigur ermöglicht es, (todbringendes) sexuelles Begehren allein auf die weibliche Figur zu projizieren und den männlichen Part in diesem Geschlechterdrama zu verdrängen.”⁶⁹ So, unlike Hofmannsthal’s Ninyas and Semiramis who represent distinct opposites, the dichotomy between Judith and Salome becomes less clear to spectators over time. The result is that in the eyes of Klimt’s audience, the two women’s stories are similar and Klimt’s Judiths ambiguous enough that commentators on the paintings undertook a reinterpretation of both. Like many artists before him,⁷⁰ Gustav Klimt isolated Judith’s moment of triumph for his interpretation of the biblical figure. Both of his paintings depict Judith holding the severed head of Holofernes. Although Klimt clearly identified his subject matter by naming both of his paintings Judith (I+II) and by decorating the golden frame of Judith I with the words “Judith und Holofernes,” his work proved to be no more recognizable to the audience than the Judiths painted by the earlier artists. Critics reacted to the explicit sexuality with which Klimt characterized her by persistently changing the protagonist’s identification from Judith to Salome. In the case of Judith I, writers commenting on the work in journal articles and books after its debut in the 1901 Secession exhibit changed its protagonist’s name,⁷¹ but for Judith II this kind of relabeling did not take place until later after

67 Hammer-Tugendhat, p. 220. Femme forte refers to a woman distinguished by strength and excellence. 68 Ibid., p. 221. 69 Ibid., p. 223. 70 Vollmer, p. 83. 71 Sine, p. 9.

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Klimth’s death.⁷² The dancer-like posture of Judith II, which according to Jane Kallir is even more obvious in the preliminary sketches of the painting, directly references the story of Salome.⁷³ The sexual awakening and lust for revenge experienced by both virgins force the images of these two seemingly opposite types to merge. Given this milieu, neither the sexual content of Klimt’s Judith, its consistent mislabeling, nor the artist’s apparent lack of concern over the wrong identification should seem surprising.⁷⁴

Klimt achieves an interpretation of modern womanhood that speaks in favor of a malleable identity. To Klimt’s contemporary audience, Judith represents a European femininity that again makes the association of the European with aggression and authority. Unlike Ninyas’s clear alignment with Eastern philosophy and mentality in Hofmannsthal’s schema, Salome does not truly fit Said’s suggestion of how the nineteenth-century European male perceives the “Oriental” woman: “Women are usually the creatures of a male power-fantasy. They express unlimited sensuality, they are more or less stupid, and above all they are willing.”⁷⁵ Other than being an attractive subject for European male artists and writers at the turn of the century, neither Judith nor Salome is consistent with the gendering in Said’s perspective. Therefore, the unity of these two figures is not a merging of perceived cultural opposites but of characteristics that grant the woman physical and sexual power, independence, and authority. The contrast between Judith and her surroundings, however, creates ambiguity between Judith’s European appearance and a nonEuropean space in which Klimt placed her. Felix Salten described the woman in Klimt’s Judith I as “one of those beautiful Jewish socialites whom one meets everywhere and who, sweeping along in their silk gowns, attract men’s eyes at all the premières.”⁷⁶ Albeit transparent, the gown indeed hints at a silky flowing material, but it also serves as the transition from the softness of the woman’s body to the metallic structure of the background. The gold decorations on the gown resemble the hard and opaque structure of the background above. Both consist of shapes borrowed from nature painted in unnatural, one-dimensional colors and positions, a representational style generally attributed to Japanese artists.

72 Kallir, p. 42. 73 Ibid., p. 42. 74 Sine, p. 14. 75 Said, p. 207. 76 Quoted in Kallir, p. 16.

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Art critic and Ver Sacrum contributor Moritz Dreger, writing at the end of the nineteenth century and thus contemporaneously with Klimt, comments that Japanese artists have an exceptional ability to observe and grasp the composition of the natural world without resorting to naturalism in their art forms.⁷⁷ Rather than copying what they see, Japanese artists in general incorporate the lines, shapes, forms, and feelings they deduct from nature into a personal ornamental art. In Dreger’s opinion, this ornamentation never achieves a higher purpose, as it neither enhances nor diminishes the object it decorates. His main criticism of Japanese art is that ornamentation does not organically coexist with the object it decorates. “Nein, architektonisches Gefühl, das Schaffen aus dem Innersten des Organismus und der eigenen Seele heraus, mangelt dem Japaner beinahe völlig.”⁷⁸ Klimt implements just this re-interpretation of nature’s forms into a rigid architectural structure that represents nothing but ornament in Judith I, thereby creating contrast between the European organic body of his protagonist and the artificial “Asian” environment in which he places her. Because there appears to be no weapon in the image, Judith’s partly exposed body and posture exude a mixture of eroticism and power, but not female violence. Through the background, Klimt enhances the effect of “orientalizing” and sexualizing his Judith figure and thereby opens her up to audience-preferred interpretations. Although the critics change the details of the story by invoking Salome over Judith, they do not question the female authority and emancipation Klimt portrays (Salome is after all the archetypal femme fatale), even given the lack of specific elements of aggression, such as a murder instrument. Compared to the earlier painting, Judith II is the much more threatening figure due to her posture, facial expression, and the cramped positioning of her hands and fingers. Judith II also lacks the above-described contrast. Her body is not organic but blends in with her one-dimensional garment and background. Unlike the protagonist in Judith I, who emanates not only sexual attractiveness but also humanity: “[t]here is no question that Judith II, with her claws bared and seemingly set to pounce, is a far more evil woman than Judith I. […] Whether Judith II is the testament of a love affair gone sour, or simply another incarnation of Klimt’s ‘Jewish’ femme fatale is a matter of debate.”⁷⁹ In Judith II, the onedimensionality as well as the extreme verticality of the painting also make direct links to Japanese art and emphasize the centrality of Judith’s sexual and threatening posture. In contrast to Hofmannsthal, who restricts Semiramis’s action-

77 Dreger, pp. 18–37. 78 Ibid., p. 26. 79 Kallir, p. 42.

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driven mentality by binding her to the authority of Eastern religion and philosophy, Klimt enhances his Judiths’ expressiveness as femme fatale by drawing from East Asian artistic elements and strategies. In the Judith paintings, the stylistic elements Klimt borrows from Japanese art enhance his effort to portray female and sexual power. The artist is frequently criticized for his personal problematic relationships with women,⁸⁰ but in his art I argue that he empowers them through the stylization he employs in his paintings. His audience’s re-designation of the morally superior Judith character to the more well-known and infamous femme fatale Salome proves his success. His women portraits generally distinguish themselves not through the women in their centers, but through the environments he painted them in and the garments he chose for them. Particularly the portraits of his golden period are a mosaic of foreign and familiar elements. His Judith paintings are not portraits but interpretations of a mythological figure, yet they adhere to the blending of similar motifs.⁸¹ In contrast to the women portraits, which facilitate a subtle empowerment through Klimt’s displacement of the woman into her own fantastic space, Judith’s strength undoubtedly poses a threat to male dominance. As the viewers question the representations by confusing Klimt’s Judiths with Salome, his representations empower the female subject not only through the agency of displacement but also through the effect of ambiguity resulting from the merged identities. With Semiramis and Judith, both Hofmannsthal and Klimt convey stories that blend the modern with the decadent. Modern styles and approaches to art and literature speak for a changing Europe, but the inspirations they turn to are symbols and archetypes of ancient Near and Far Eastern cultures, such as Assyria, Babylonia, China, India, and Japan. The predictability of life in the Habsburg empire is waning, European countries are rivaling and eventually warring, female desires for independence are changing, and everyone has the sense that life in Vienna and Europe is about to transform. Both Hofmannsthal and Klimt take an artistic and cultural “detour” via the Near and Far East from where they borrow motifs, styles, and philosophies in order to express their guarded optimism for a positive metamorphosis of Europe’s mentality and its transforming society, which, among many other factors, includes the redefinition of gender roles. The relevance of the two female figures at the center of this essay is that they gain their full effect and promise by creating harmonies between seemingly

80 Fischer, pp. 34–37. 81 Compare decorative elements and backgrounds in Klimt, Adele Bloch-Bauer I (1907) and II (1912), Beethovenfries (1902), Der Kuss (1907/08), Friederike Maria Beer (1916) for example.

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contradicting characters and character traits. In that sense, they embrace the kind of connections that make the extremely productive geographical and cultural space of Vienna 1900 interesting and relevant.

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Peter Stephan Jungk

Franz Werfels Die Vierzig Tage des Musa Dagh¹ Vor bald einem Vierteljahrhundert, im Frühling 1987, habe ich ein Buch abgeschlossen, an dem ich vier Jahre lang ohne Unterlass gearbeitet hatte: Franz Werfel, Eine Lebensgeschichte. Diese Zeit der Auseinandersetzung mit einem der erfolgreichsten Schriftsteller des 20. Jahrhunderts — geboren 1890 in Prag, gestorben 1945 im Exil, in Los Angeles — bleibt mir als eine besonders fruchtbare Epoche meines Lebens in Erinnerung, auch wenn es Tage, gar Wochen gab, da ich fürchtete, von der Last meiner Recherche-Ergebnisse erdrückt zu werden. Die Begegnungen mit rund dreißig Zeitgenossen Franz Werfels, die heute ausnahmslos nicht mehr unter uns weilen, zählte zu einem der spannendsten Elemente meiner rastlosen Suche nach einer ungemein facettenreichen Biografie, die zuvor nie in präziser, chronologischer Form aufgezeichnet worden war. Das Werk Franz Werfels hat die Zeit nicht ganz unbeschadet überdauert: Sein einstiger Weltruhm ist nur noch ein Schatten seiner selbst. Will man heute Interesse für Werfel erwecken, sei es in Frankreich, Italien, England, den Vereinigten Staaten, oder sogar innerhalb des deutschen Sprachraums, dann reagieren Gesprächspartner oft nur dann auf den Namen des bedeutenden Dichters wenn man hinzufügt: Er war einer der Ehemänner von Alma Schindel-Mahler-GropiusWerfel. „Ah!“ lauten dann die Reaktionen. Und dabei bleibt es dann aber auch. Während meiner jahrelangen Auseinandersetzung mit dem Werfel’schen Kosmos gab es jene Werke, die mich begeisterten und jene, die ich als eher veralteten Kitsch abtun musste, so leid es mir auch tat. Zwei seiner Romane aber hielt ich für Werke, die viele Generationen überdauern würden, von denen man womöglich auch noch in hundert, in zwei hundert Jahren eine gewisse Ahnung haben werde: Den letzten, 1946 posthum erschienenen Science-Fiction-Roman ungewöhnlichster Art, Stern der Ungeborenen, und sein im Jahr der nationalsozialistischen Machtübernahme publiziertes, 870 Seiten umfassendes Magnus Opus Die vierzig Tage des Musa Dagh. Es gibt wohl wenige Bücher des zwanzigsten Jahrhunderts, die größere Aktualität besitzen als Die vierzig Tage des Musa Dagh — leider bis in unsere unmittelbare Gegenwart hinein, und, wie zu befürchten steht, weit über unsere

1 Der Beitrag wurde als Vortrag zu Franz Werfels Die Vierzig Tage des Musa Dagh im JohannesLepsius-Haus, Potsdam, am 9. September 2011 gehalten.

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Gegenwart hinaus. Werfel hat durch die Nachzeichnung des wohl ersten systematischen Völkermords in der Geschichte der Menschheit nicht nur den ungeheuerlichen Vernichtungsfeldzug des nationalsozialistischen Systems gegen die jüdische Bevölkerung ganz Europas vorausgefühlt, vorausgeahnt, sondern zugleich jene Völkermord-Wiederholungen metaphorisch überhöht, die unseren Planeten nach 1945 erschüttern sollten: Ich denke an Kambodscha und die Roten Khmer, an Uganda und Ruanda, die ethnischen Säuberungen in Ex-Jugoslawien, derer sich sowohl Kroaten, als auch Bosnier, als auch Serben, als auch Kosovo-Albaner schuldig gemacht haben. Ich denke an Tchetschenien und nicht zuletzt an Darfur, wo in den letzten Jahren dreihundert bis vierhundert Tausend Menschen — manche Quellen sprechen gar von 480 000 Toten — ermordet wurden. Die Liste ließe sich wohl um ein gutes Dutzend Beispiele verlängern. Die vierzig Tage des Musa Dagh haben allen zukünftigen Verfolgungen ethnischer Minoritäten ein Denkmal gesetzt. Wie schade, dass der Roman nicht zur Pflichtlektüre an jeder Schule, in jeder Nation erkoren wurde. Aber welchem Schüler, welcher Schülerin kann man 870 Seiten Lese-Arbeit zumuten? Und welchem Erwachsenen erklären, dass die doch etwas verstaubte Sprache, derer Franz Werfel sich vor bald achtzig Jahren bediente, nur eine dünne Staubschicht bildet, die man mit einem einzigen kräftigen Ausatem-Zug wegblasen könne — kaum hat man zwanzig, dreißig Seiten dieses epochalen Romans gelesen, ist man bereits von ihm eingefangen, umfangen, bestrickt, begeistert sogar. Der Inhalt der Vierzig Tage des Musa Dagh sei hier nur knapp umrissen: Sein fiktiver Protagonist, Gabriel Bagradian — Werfel bezeichnet ihn als wohlhabenden Schöngeist und Gelehrten, der sich für Archäologie, Kunstgeschichte, Philosophie interessiert — kehrt nach mehr als zwanzig Jahren, die er in „völliger Assimilation“ in Paris verlebt hat, in seine Heimat am Fuße des Musa Dagh zurück. Er ist mit Juliette, einer Französin, verheiratet, sein Sohn Stephan wurde französisch erzogen; der Besuch in Yoghonoluk, von Familienangelegenheiten diktiert, soll nur kurze Zeit in Anspruch nehmen — doch während sich Bagradian mit Frau und Kind in Armenien aufhält, bricht der Erste Weltkrieg aus. Die Familie sitzt fest. Gabriel, der im Grunde Reserveoffizier der türkischen Armee ist, wird in die vom ottomanischen Imperium verhängte Verschickung der christlichen armenischen Minderheit verwickelt, die in den verschiedenen Provinzen des Reiches leben. Er wird zum Helden wider Willen, zum Anführer einer Gruppe verwegener Männer, Frauen und Kinder, (es sind in erster Linie Bauern- und Handwerkerfamilien), die sich nicht in den Tod treiben lassen, sondern bewaffnet und mitsamt ihren Ziegen- und Schafherden auf den Berg Musa (zu Deutsch: Mosesberg) zurückziehen, wo sie wochenlang den Angriffen der mohammedanisch-türkischen Übermacht trotzen und dem Feind empfindliche Verluste beizubringen imstande sind. Als aber all ihre Munition und ihr gesamter Nahrungsmittelvorrat aufverbraucht

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sind, werden sie, wie durch ein Wunder, von französischen Kriegsschiffen gesichtet und von Marinesoldaten gerettet. Gabriel Bagradian kommt im Kampf um, während vor seinen Augen die Errettung seiner Volkgenossen vonstatten geht — wie Moses, der am Tag, bevor Israel das Gelobte Land betritt, auf dem Berg Nebo sterben muss. (Wobei die interessante Parallele zur Figur des biblischen Moses eben auch darin besteht, dass Bagradian ein Anführer ist, der von AUSSEN kommt, gleichsam wie ein Fremder in seiner Heimat wirkt, dem aber das Schicksal die Rolle des Volkshelden zuspielt.) Ich erinnere mich an eine Begegnung in Jerusalem, im Frühjahr 1979, es war mein erster Aufenthalt in der heiligen Stadt, und ich besuchte den armenischen Sektor, einen besonderen Ort der Ruhe und des Friedens. Ich kam mit Kevork Hintlian ins Gespräch, einem Historiker, der gleichzeitig als Pressesprecher und „Außenminister“ des armenischen Viertels fungierte. Als er erfuhr, dass ich Schriftsteller sei, aus Los Angeles gebürtig, in Wien aufgewachsen, dass meine Vorfahren väterlicherseits aus Prag stammten, da meinte er sofort: „Dann kennen und lieben Sie mit Sicherheit Franz Werfels Roman Die Vierzig Tage des Musa Dagh?“ Wie enttäuscht reagierte Kevork Hintlian, als er erfahren musste, dass mir der Name Franz Werfel zwar nicht unbekannt war, als Mitglied des Prager Kreises, ein Freund Franz Kafkas, Max Brods, Egon Erwin Kischs, dass ich aber keines seiner Werke je gelesen hatte. Und er hielt daraufhin eine glühende Rede auf Werfel, den das armenische Volk als einen ihr ganz Großen betrachte, als ihren Volkshelden gar: „Sein Werk garantiert — und das wird Ihnen jeder Armenier auf der Welt, ob in Los Angeles, in Paris, ob in Beirut oder Venedig bestätigen — es garantiert, dass niemals vergessen wird, was unserem Volk geschehen ist!“ Es war nicht zuletzt diese Begegnung in Jerusalem, die mich auf Werfels Fährte brachte, es war dies mit Sicherheit eines der auslösenden Momente, die mich bewogen haben, mich mit seiner Biographie und seinem Werk so ausführlich auseinanderzusetzen. Wenige Jahre nach meiner schicksalshaften Begegnung in Jerusalem wusste ich mehr, sehr viel mehr, denn mittlerweile hatte mir Monika Schoeller, die Besitzerin und Leiterin des S. Fischer Verlags, der seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs Werfels Gesamtwerk betreut und herausgibt, den mich überraschenden Auftrag erteilt, die Biografie des Dichters zu verfassen. Meine Recherche brachte zutage, dass das Ehepaar Franz und Alma MahlerWerfel zu Beginn des Jahres 1930 seine zweite Nahostreise unternommen hatte; sie besuchten zunächst Ägypten, fuhren dann nach Palästina weiter. Und von Jerusalem nach Syrien, sowie in den Libanon. Ein schwerbewaffneter Fremdenführer begleitete sie auf dieser Reise, da wilde Räuberbanden die syrische Wüste unsicher machten (das klingt beinahe wie die Jahre des arabischen Frühlings, 2011, 2012). Der Begleiter führte die beiden durch das zerfallene, traurigschmut-

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zige Damaskus, zeigte ihnen, unter anderem, auch eine große Teppichweberei. Um die vielen Webstühle herum kauerten verkrüppelte, ausgemergelte Jugendliche, Sechzehn-, Siebzehnjährige, die tatenlos vor sich hinzudämmern schienen. „Wir gingen die Webstühle entlang“, heißt es in Alma Mahler-Werfels Tagebuchaufzeichnungen, „und überall fielen uns ausgehungerte Kinder auf, mit bleichen El Greco-Gesichtern und über großen dunklen Augen. Sie rollten auf dem Boden herum, hoben Spulen und Fäden auf, fegten wohl auch manchmal den Boden mit dem Besen rein.“² Auf Werfels Frage, wer denn diese Erbarmungswürdigen seien, entgegnete der Fabrikherr, er habe sie einst aufgenommen, um sie vor dem Hungertod zu retten — es seien Waisen, Kinder armenischer Christen. In den Jahren 1915 bis 1917 seien über eine Million Menschen einem Massaker unvorstellbaren Ausmaßes zum Opfer gefallen — auf Befehl des damaligen jungtürkischen Regimes, eines Verbündeten Deutschlands während des ersten Weltkriegs. Werfel erinnerte sich, in den großen europäischen Zeitungen von dem Völkermord an den Armeniern bereits zu jener Zeit, also während des Ersten Weltkriegs, gelesen zu haben — er gab sich sogar damals schon das Versprechen, eines Tages einen geschichtlichen Roman über dieses Thema zu verfassen. Aber erst die persönliche Konfrontation mit den armenischen Jugendlichen ließ die abstrakte Zahl der Toten zur erschütternden Realität werden. Bei Alma Mahler-Werfel heißt es weiter: „Franz Werfel und ich gingen tief betroffen weg, nichts wollte uns nun wichtig oder schön erscheinen. [...] Die Armenier gingen (Werfel) nicht aus dem Sinn.“³ In der Tat: Das Erlebnis ließ ihn nicht mehr los; an den nächsten Stationen seiner Reise, in Baalbek, Beirut, Accra und Haifa, notierte er, obwohl infolge einer kleinen Malaria-Attacke leicht fiebernd, was der Fabrikbesitzer ihm in Damaskus erzählt hatte. Überall versuchte er, mehr über das Schicksal der Armenier zu erfahren, machte Überlebende ausfindig, die ihm von den Greueltaten Genaueres berichten konnten. So erfuhr er, zum Beispiel, von jener rund fünftausend-köpfigen Gemeinde, die auf den sogenannten Moses-Berg, den Musa Dagh gezogen und dort mit Waffengewalt gegen die Türken gekämpft habe. Nach Wien zurückgekehrt, nahm Werfel sogleich Kontakt zu dem mit ihm befreundeten französischen Konsul, Conte Clauzel auf, und bat ihn, ihm offizielle Unterlagen zu dem Völkermord an den Armeniern zu überlassen. Er hatte mittlerweile den Entschluss gefasst, das kaum vorstellbare historische Ereignis, das bis dahin größte organisierte Morden in der Geschichte der Menschheit, in literarischer Form nachzuzeichnen, um, wie es in der Nachbemerkung des Autors

2 Mahler, S. 208. 3 Ebenda.

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heißt, „das unfassbare Schicksal des armenischen Volkes dem Totenreich alles Geschehenen zu entreißen.“⁴ Clauzel verschaffte Werfel französische Untersuchungsprotokolle zu den Verbrechen der jungtürkischen Regierung, sowie zahlreiche Zeugenaussagen von Überlebenden der Massaker — auch Dokumente, die den heldenhaften Freiheitskampf jener Gruppe Aufständischer auf dem Musa Dagh belegten. Werfel begriff nun sehr viel genauer, was geschehen war: Die islamische, jungtürkische Regierung misstraute, insbesondere nach Kriegsausbruch, ihren armenischchristlichen Mitbürgern, bezichtigte sie, Aufstände anzuzetteln, mit dem feindlichen Ausland, mit Russland vor allem, paktieren zu wollen. Verdächtigungen, die den türkischen Machthabern Enver Pascha, Talaat Pascha und Mustafa Kemal genügten, über rund zwei Millionen Menschen das Todesurteil zu verhängen. In einem von Talaat Pascha unterzeichneten Erlass kommt der Satz vor: „Das Ziel der Deportationen ist das Nichts.“⁵ Mehr als eine Million Männer, Frauen und Kinder fielen diesem ersten staatlich angeordneten Völkermord der Geschichte zum Opfer. Die Türken führten die aus Westanatolien, Kilikien und Nordsyrien Vertriebenen in sogenannte Konzentrationslager. Viele starben bereits auf den langen Märschen durch die Wüste an Erschöpfung, andere wurden erschlagen, erschossen, verbrannt, ertränkt — oder man ließ sie verhungern. Dem Verschickungsbefehl widersetzte sich allein die Einwohnerschaft einiger kleiner Gemeinden am Fuße des Musa Dagh: manche Quellen sprachen von vierundzwanzig Tagen Aufenthalt auf dem Hochplateau des Mosesbergs, in anderen Dokumenten war verschiedentlich von sechsunddreißig, gar von dreiundfünfzig Tagen die Rede — Franz Werfels vierzig Tage rufen biblische Assoziationen wach: vierzig Tage und Nächte währte die Sintflut, vierzig Tage und Nächte blieb Moses auf dem Berg Sinai, vierzig Jahre zog das Volk Israel durch die Wüste. In der Folge suchte Franz Werfel das armenische Kloster der Mechitaristen in Wien auf (das es heute noch gibt — an der selben Adresse, in der Mechitaristen-Gasse, im 7. Bezirk, und wo man sich übrigens auch mir gegenüber während meiner Recherchearbeit vor bald 30 Jahren als ungemein hilfreich erwies) und traf hier mit Erzbischof Mesrop Habozian zusammen, der seinen Gast nachdrücklich ermutigte. Er stellte ihm die große Bibliothek des Klosters zur Verfügung, wo Werfel im Juni 1930 zu recherchieren begann. Sehr bald stieß er hier auf die umfangreichen Schriften des Pastors Johannes Lepsius, von dem ihm zuvor schon verschiedentlich erzählt worden war. Zuallererst las er ein Werk von Lepsius, welches dieser bereits 1896 nach einer Reise durch Ostanatolien publi-

4 Werfel, Musa Dagh, S. 186. 5 Conze, Das Amt und die Vergangenheit.

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ziert hatte: „Armenien und Europa, Eine Anklageschrift wider die christlichen Großmächte und ein Aufruf an das christliche Deutschland,“ in welchem Lepsius die von Sultan Abdul Hamid angeordnete „Massenabschlachtung, Ausplünderung und Zwangskonversion eines großen christlichen Volkes“ anprangerte — 100 000 Armenier waren damals getötet, weitere 100 000 zwangsislamisiert worden — ein Massaker, welches von der deutschen Öffentlichkeit nur am Rande wahrgenommen worden war. Er schilderte darin in grausamen Details von Blutbädern in Trapezunt, Erzerum, Van, Aleppo und vielen anderen Orten, die dann knapp zwanzig Jahre später zu Schauplätzen des systematischen Völkermords an den Armeniern werden sollten. Werfel las auch Johannes Lepsius’ „Bericht über die Lage des armenischen Volkes in der Türkei“, der 1916 im Potsdamer Tempelverlag erschienen war, sodann „Der Todesgang des armenischen Volkes: Bericht über das Schicksal des armenischen Volkes während des Weltkrieges“, Potsdam 1919, sowie seinen „Besuch in Konstantinopel Juli — August 1915“, eine Schrift, die Lepsius in der Monatsschrift für die Wiedergeburt des Ostens, Orient, publiziert hatte. Lepsius, so erfuhr Werfel, hatte sich einst an höchster türkischer Regierungsstelle für die Errettung des armenischen Volkes eingesetzt, sowie deutsche Regierungsbeamte von der Notwendigkeit zu überzeugen versucht, der Türkei die Aufkündigung des Kriegsbündnisses anzudrohen, sollte der Genozid nicht beendet werden. Seine Bemühungen blieben, wie wir wissen, allesamt vollkommen erfolglos Werfel studierte in der Bibliothek der Mechitaristen Augenzeugenberichte, welche der prominente armenische Priester Dikran Andreassian nach der Ankunft zahlreicher Überlebender in Ägypten zusammengetragen hatte: „Suedije, eine Episode aus der Zeit der Armenierverfolgungen.“ Die Literaturwissenschaft hat „Suedje“ übrigens als Hauptquelle⁶ für die Details der Verschickung in den Vierzig Tagen des Musa Dagh identifiziert, dieser Umstand soll nicht unerwähnt bleiben, wenn ich persönlich auch glaube, dass zum Beispiel der von Johannes Lepsius unter dem Titel Deutschland und Armenien herausgegebenen Sammlung von 444 diplomatischen Aktenstücken als Quelle eine mindestens ebenso große Bedeutung zufällt. Neben den Genannten dürfen auch der Dichter und ehemalige Sanitäter Armin T. Wegner und dessen Tagebuchaufzeichnungen aus der Region aus dem Jahr 1919 nicht vergessen werden. Wegner hat das Massaker sogar zum Teil fotografiert und Johannes Lepsius diese erschütternden, verbotenen Aufnahmen

6 Vgl. Wagener, Understanding Franz Werfel; Schulz-Behrend, „Sources and Background.“

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dann auf geheimen Wegen zukommen lassen. Ich zitiere in diesem Zusammenhang ausnahmsweise Wikipedia: Wegners Fotografien gelten auch heute noch als die wichtigsten Bildbeweise für den Genozid am armenischen Volk. „Das unvorstellbare Ausmaß aber und der politische Wille, der hinter dem Genozid an den Armeniern im zerfallenden Osmanischen Reich stand, machen aus diesen Dokumenten Schätze von einmaligem Wert“ — schreibt etwa der Fotopublizist Ralf Hanselle. „Wegner [...] ging es um das Sammeln und Festhalten von Beweismitteln. Auf seinen Bildern sticht all das ins Auge, was das 20. Jahrhundert der Nachwelt seit langem ins fotografische Gedächtnis eingebrannt hat: Die unterlegenen Körper und die sprechenden Blicke, die Ordnung der Macht und die Ohnmacht des Individuums.“⁷

Werfel vertiefte sich darüber hinaus in Landschaftsbeschreibungen der Gegend um den Mosesberg am Golf von Alexandrette; er las über die Flora und Fauna der Region, notierte sich Namen armenischer Persönlichkeiten, skizzierte bereits erste Entwürfe eines möglichen Handlungsablaufs für das geplante Buch. Nahezu alle Details, die im Roman über die Ermordung und Deportation des armenischen Volkes Erwähnung finden, basieren auf Augenzeugenberichten, Gerichtsprotokollen, Konsularberichten, Botschaftsmitteilungen, Reichskanzleischreiben, Memoiren, Reiseberichten, Mahnrufen und Flugblättern.⁸ Erst zwei Jahre später, im Frühjahr 1932, begann Franz Werfel mit der Niederschrift des in drei Bücher gegliederten Romans: Das Nahende heißt das erste, Die Kämpfe der Schwachen das zweite, Untergang — Rettung — Untergang das dritte Buch. Er zog sich zunächst in sein Arbeitshaus in Breitenstein am Semmering zurück, an einen Ort in den niederösterreichischen Bergen, an dem die meisten seiner Werke seit 1919 entstanden waren. In späterer Folge arbeitete er dann in seinem Lieblingshotel, dem „Imperiale“, im italienischen Kurort Santa Margherita Ligure. Das intensive Quellenstudium, dem er sich in den vergangenen zwei Jahren unterzogen hatte, kam nun bis in kleinste Details zur Geltung und sorgte, nicht zuletzt, für höchste Authentizität. Der mit ihm befreundete Journalist Milan Dubrovic berichtete mir, Werfel habe ihn beauftragt, in der Wiener Nationalbibliothek in geographischen Folianten nachzuschlagen, um zu eruieren, welches Klima im Sommer 1915 in Anatolien geherrscht habe, welche Winde dort wehten, wieviel Niederschlag gemessen worden war. Vor allem aber achtete er auf historische Genauigkeit, erzählte in überaus gewissenhafter Weise die Hintergründe nach, die zu den erschütternden Ereignissen rund um den Völkermord geführt hatten.

7 Vgl. Hanselle. 8 Vgl. Abels.

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Während die Niederschrift des Romans fortschritt, herrschten in Österreich Engelbert Dollfuß’ faschistoide Heimwehren, kam in Deutschland Adolf Hitler an die Macht. Nachdem die NSDAP bei den Reichstagswahlen vom 5. März 1933 44% der Wählerstimmen erhielt, schrieb Werfel an die Ränder und auf die Rückseiten seines Musa-Dagh-Manuskripts: „Die schrecklichen Vorgänge in Deutschland“ raubten ihm „jede Konzentration“. Er sei „geistig tief erschöpft“ hieß es da, „nur mühsam“ ringe er sich Satz für Satz ab. „Vielleicht müßte auch handlungsmäßig alles anders sein!“ Er schrieb täglich von 9 Uhr morgens bis 2 h in der Nacht. „Die qualvollste Arbeit meines Lebens“, wie es im Januar 1933 in einem Brief an den Schriftsteller Paul Wiegler hieß. Seine in Prag lebenden Eltern ließ er im März 1933 aus Santa Margherita wissen: Ich bin ganz in meinem neuen Buch versunken, das seinem Ausmaß nach riesig wird, zwei Bände, 1000 Seiten? […] Es wird vielleicht mein Hauptwerk sein. […] Ungeheure Verantwortung hängt daran. Durch die Ereignisse hat es symbolische Aktualität bekommen: Unterdrückung, Vernichtung von Minoritäten durch den Nationalismus. […] Ich will meine Kraft lieber an ein Werk verzetteln als an ein leeres Wehgeschrei. Was geschehen wird, das wird geschehen. Wahrscheinlich wird aber gar nicht soviel geschehen. (Ich lebe im ArmenierSchicksal und da bekommt man andre Perspektiven) […].“⁹

Er konnte sich einfach nicht vorstellen, dass die Realität der Judenvernichtung längst beschlossene Sache war. In diesem Zusammenhang sei erwähnt, dass Adolf Hitler einigen skeptischen Offizieren, die ihm einige Jahre später, unmittelbar vor Kriegsbeginn, zu Bedenken gaben, Deutschlands Ansehen im Ausland könne Schaden nehmen, wollte man tatsächlich versuchen, das jüdische Volk gänzlich auszurotten, zur Antwort gab: „Wer erinnert sich denn heute noch an die Massaker der Türken am armenischen Volk?“ Noch vor den Reichstagswahlen am 5. März 1933 erhielten alle Mitglieder der Preussischen Akademie für Dichtkunst (deren Präsident Heinrich Mann im Februar 1933 zum Rücktritt gezwungen worden war) ein Rundschreiben mit der Aufforderung, das neue Präsidium davon in Kenntnis zu setzen, ob man in Anbetracht der „veränderten geschichtlichen Lage“ bereit sei, der Akademie der Künste weiterhin zur Verfügung zu stehen. Eine solche Loyalitätserklärung verpflichte den Unterzeichnenden zur Mitarbeit im „national-kulturellen“ Sinne. Neun der 27 Mitglieder der Abteilung Dichtkunst antworteten sofort mit „Nein“, darunter Alfred Döblin, Thomas Mann und Jakob Wassermann. Franz Werfel hingegen unterschrieb die Treuebekundung gegenüber den neuen Machthabern mit „Ja“. Ein Schritt, zu dem er sich wohl (nicht zuletzt auch auf Anraten seines jüdi-

9 Werfel, Brief an die Eltern vom 24.3.1933 aus Italien nach Prag. Vgl. Goldstücker, S. 370–375.

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schen Verlegers Paul Zsolnay) in erster Linie entschlossen haben mochte, um den künftigen Verkauf der ‚40 Tage [...]‘ nicht zu gefährden. Doch schon wenige Wochen später brannten auch Werfels Werke auf den Bücherverbrennungs-Scheiterhaufen deutscher Städte, wurde ihm brieflich mitgeteilt, er zähle angesichts der im Staate nunmehr geltenden Grundsätze nicht länger zu den Mitgliedern der Sektion Dichtkunst — es hatte also alles nichts geholfen. Und trotzdem: immer noch glaubte Werfel, der Spuk werde bald vorbei sein. Unbeirrt schrieb er an den 40 Tagen des Musa Dagh weiter. Ende Mai 1933 beendete er die erste Niederschrift — und begann beinahe umittelbar danach, wiederum in Breitenstein am Semmering, an der zweiten Fassung zu arbeiten. Er versuchte, jede Schwarz-Weiß-Malerei zu vermeiden, die den Armeniern nur gute, den Türken nur böse Attribute zugeschrieben hätte. In den Randnotizen des Manuskripts ermahnte er sich jetzt selbst: „Nicht gegen Türken polemisieren“, „Irgendwo muß Enver Pascha im Recht sein“. Der Roman wies nachdrücklich auf oppositionelle türkische Intellektuelle und muslimische Geistliche hin, die das politische Geschehen im eigenen Land zutiefst bedauerten und ihre Machthaber verabscheuten. Ein Arzt aus Istanbul etwa ließ Pastor Lepsius wissen, die Mehrheit der türkischen Nation unterstütze die Machenschaften Enver Paschas, Talaat Paschas und Mustafa Kemals in keiner Weise. Vor der Drucklegung des Musa Dagh schrieb Werfel noch eine dritte und eine vierte Fassung, arbeitete manche Passagen bis zu achtmal um, wie mir der Zeitzeuge Milan Dubrovic versichert hat. Er habe das Gefühl, ließ er Alma brieflich wissen, jedes Mal, wenn eine Bergeshöhe erklommen sei, winke auch schon die nächste, „und der Gipfel rückt doch immer weiter.“ Optimistisch bleibe er dennoch, der zweite der drei Bände, so hoffte er, werde „noch tausend Mal spannender als der erste“ sein. Er fühlte sich zeitweise krank und erschöpft, belastete seinen Organismus überdies durch allzu viel Zigarren- und Zigarettenkonsum: „[...] das Nikotin ist ein Unheil“ hieß es in einem seiner für ihn so typischen Klagebriefe an Alma. Nachdem Die vierzig Tage des Musa Dagh endgültig abgeschlossen waren, befürchtete Werfel das Desinteresse seines Verlegers, der für diese „Chimborasso-Arbeit“ wohl kaum das notwendige Verständnis werde aufbringen können. Überdies rechnete er damit, dass Paul Zsolnay angesichts möglicher Ausfälle deutscher Vorbestellungen, eine viel geringere Auflage drucken werde, als ursprünglich geplant war. „Ich habe überhaupt keine Partei auf der Welt“, klagte er Alma gegenüber, er fühle sich von Zsolnay verraten, schließlich habe doch der Name Werfel dem Verlag in den zehn Jahren seines Bestehens nicht nur „eine Menge Geld“, sondern auch „die einzige Ehre gebracht.“ Der Roman erschien Ende November 1933. In Österreich und in der Schweiz reagierte die Öffentlichkeit nahezu einhellig mit enthusiastischer Zustimmung

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auf das Buch. Um so ablehnender, ja gehässiger hingegen lief man, von offizieller Seite, in Deutschland gegen das Armenier-Epos Sturm. Selbst dem unsensibelsten Leser mussten die Parallelitäten zwischen jungtürkischem Nationalismus und nationalsozialistischem Gedankengut aufgefallen sein. Ich zitiere in diesem Zusammenhang nur zwei Textstellen aus dem Roman, 1932 geschrieben, zehn Jahre vor der Wannseekonferenz, die eine geradezu prophetische Sicht auf spätere Ereignisse im Dritten Reich bedeuten: Am nächsten Tag zur anbefohlenen Stunde ging wirklich der erste gramvolle Transport ab und eröffnete damit eine der furchtbarsten Tragödien, die je zu einer geschichtlichen Zeit über ein irdisches Volk hereingebrochen ist. […] Den Armeniern winkte kein Schutz, keine Hilfe, keine Hoffnung. […] Eingepfercht in ein schleichendes Rudel von Elenden, in das wandernde Konzentrationslager, wo niemand ohne Erlaubnis auch nur seine Notdurft verrichten darf.¹⁰

Und an anderer Stelle heißt es: Es sind keine Menschen mehr [...] Gespenster [...] Doch nicht von Menschen [...] Gespenster von Affen [...] Sie sterben nur langsam, weil sie Gras fressen und hie und da einen Bissen Brot bekommen [...] Das Allerschlimmste aber, sie haben keine Kraft mehr, die Zehntausende von Leichen zu begraben [...] Deir es Zor, das ist ein ungeheurer Abort des Todes [...]“.¹¹

Obwohl innerhalb des Reichs keinerlei Propaganda für den Roman verbreitet werden durfte, setzten die deutschen Buchhändler doch all jene Exemplare ab, die sie vorbestellt hatten. So schreibt die Freiburger Bücherstube GMBH am 5. 12. 1933 an den Paul Zsolnay Verlag: Erst kurze Zeit ist seit dem Erscheinen des neuen Werfel vergangen und wir freuen uns Ihnen heute schreiben zu können, daß wir das Buch unbedingt für Werfels stärkstes Werk, darüber hinaus aber auch für eines der besten Bücher des Jahres halten. Desto größer ist unser Bedauern, daß man durch die Verhältnisse in der Entfaltung der Propaganda leider so stark gehemmt ist. Trotzdem haben wir die erhaltenen Exemplare beinahe restlos abgesetzt und freuen uns, daß wir bereits heute nachbestellen können. [...] Jedenfalls aber sprechen wir Ihnen unseren Dank aus, daß Sie den Mut fanden dieses Bauch in dieser Zeit zu verlegen. Mit deutschem Gruß!¹²

Dass es aber gestattet war, ein Werk des „Verbrannten Dichters“ Werfel überhaupt zu verkaufen, muss zu den Widersprüchen der ersten Monate nach Hitlers Macht-

10 Werfel, Musa Dagh, S. 89. 11 Werfel, Musa Dagh, S. 531. 12 Jungk, Franz Werfel, S. 402

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übernahme gezählt werden. Bestrebungen, das Buch verbieten zu lassen, ließen allerdings nicht lange auf sich warten. So bemühte sich, zum Beispiel, ein prominenter türkischer Journalist und Schriftsteller persönlich darum, den zuständigen Stellen im Reich ein Verdikt nahezulegen, da sich die ‚Vierzig Tage‘ in beleidigender und aggressiver Weise gegen die Türkei, einen Verbündeten Deutschlands in den Kriegsjahren 1914 bis 1918, richte. Ein mir bekannter türkischer Journalist und Schriftsteller der in Deutschland weilt befaßt sich mit diesem Buch und wird demnächst an die zuständigen Stellen das Anliegen richten, dieses Buch verbieten zu lassen. Die nähern Gründe sind mir nur soweit bekannt als ich weiß, daß sich das Buch aggressiv gegen türkische Kreise und das türkische Volk überhaupt wendet. Es wäre außerordentlich für den Buchhandel zu bedauern, wenn das Verbot durchkommen würde, da das Buch an sich für uns ganz tendenzlos ist und lediglich der Wunsch dieses einen Herrn befriedigt würde, bei dem außerdem noch nicht einmal fest steht, daß er im Namen des türkischen Volkes handelt. Vielleicht konnte ich Ihnen mit den kurzen Angaben dienen, sodaß dieser Schritt noch verhindert wird. Es würde einen sehr großen Verlust darstellen, wenn das Buch nicht mehr im Handel sein würde.¹³

Anfang Februar 1934, also nur zwei Monate und ein paar Tage nach Erscheinen des Musa Dagh, wurde der Roman gemäß § 7 der Verordnung des Reichspräsidenten zum Schutz des Deutschen Volkes beschlagnahmt und landesweit eingezogen. Der Inhalt des Werks, so die offizielle Verlautbarung, sei geeignet, die öffentliche Sicherheit und Ordnung zu gefährden: Eine Entscheidung, die die gleichgeschaltete deutsche Presse stürmisch begrüßte. „Ich stehe gewissermaßen in den sogenannten ‚besten Jahren‘ nach pausenloser Arbeit auf den Ruinen meiner selbst“, schrieb nun Franz Werfel, aus Santa Margherita, an seine Schwiegermutter Anna Moll. „In Deutschland werde ich aus dem Buch und aus den Büchern der Lebendigen gestrichen, und da ich doch schließlich ein deutscher Autor bin, hänge ich im leeren Weltraum.“ Wenige Tage später verwandelten die Folgen der Februarunruhen 1934 die Republik Österreich unter ihrem Bundeskanzler Engelbert Dollfuß in eine klerikal-faschistische Diktatur. Werfel verfiel in immer tiefere Depressionen, es gelang ihm kaum noch, konzentriert zu arbeiten. Nur eine erfreuliche Nachricht erreichte ihn in diesen tristen Tagen: das Filmstudio MGM in Hollywood zahlte eine Option

13 Im Archiv des Paul Zsolnay Verlags in Wien befindet sich ein Schreiben vom 3.2.1934, in dem der deutsche Buchhändler Rolf Heukeshoven den Verlag darauf aufmerksam machte, dass ein türkischer Journalist eine Eingabe machen wolle, um das Buch zu verbieten. Es handelte sich vmtl. um Falich Rifki Bey, der der deutschen Regierung bereits in einem Zeitungsartikel vorgeworfen hatte, dass Werfels Buch nicht verboten war. Wenige Tage später wurde das Werk im gesamten Deutschen Reich beschlagnahmt. Jungk, Franz Werfel, S. 403.

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von $ 20.000 auf die Rechte für Die vierzig Tage des Musa Dagh, damals eine beträchtliche Summe. Zur Verfilmung sollte es allerdings nie kommen: türkische Diplomaten und hohe Regierungsfunktionäre haben das Projekt — bis heute! — immer wieder zum Scheitern gebracht. Es gibt eine armenische Adaption der Vierzig Tage des Musa Dagh aus dem Jahr 1982, von Sarky Mouradian, von der man mir berichtet, sie sei indiskutabel, mehr noch: sie sei ganz und gar missglückt. Der Roman hatte international großen Erfolg. Stefan Zweig, Berater von Ben Huebsch, dem Leiter des amerikanischen Verlags Viking Press, empfahl, das Werk sofort zu kaufen, die Übersetzung jedoch um 200 Seiten zu kürzen. Im Herbst 1934 erschienen The Forty Days of Musa Dagh in den Vereinigten Staaten und wurden zu Werfels erstem großen Erfolg in den USA. Der Book-of-the-MonthClub empfahl das Werk, es hielt sich daraufhin wochenlang auf Platz eins der amerikanischen Bestsellerliste, im ersten Jahr wurden über 150.000 Exemplare verkauft. In einer New Yorker Zeitungswerbung aus dem Frühjahr 1935 liest man: „This novel is one of the most exciting stories ever told. It can’t be laid down till the last page is read. It is an adventure story, a love story, a great character portrayal — no wonder all America talks about it!“ Noch viel größere US-Erfolge sollten folgen: allen voran der 1942 in den Staaten erschienene Roman Das Lied von Bernadette (The Song of Bernadette), von dem in den ersten Monaten bereits 400.000 Exemplare verkauft wurden, und der 1943 von Henry King äusserst erfolgreich verfilmt wurde — dieser Triumph sollte Werfels Ruhm in Amerika über Jahre hinweg konsolidieren. Als Franz Werfel im November 1935 erstmals in seinem Leben in die USA reiste, in Begleitung seiner Frau, bereiteten ihm in New York lebende Exil-Armenier einen stürmischen Empfang, luden ihr Idol, den Verfasser ihres Nationalepos, von einer Dinner-Veranstaltung zur nächsten. Man sah in ihm den „gottgesandten Freund“ des armenischen Volkes, wie es auf einer der Einladungskarten hieß. In Almas Tagebüchern liest man à propos jener Tage in New York: „[...] eine Predigt in einer armenischen Kirche, in der der Priester sagte: ‚Wir waren eine Nation, aber erst Franz Werfel hat uns eine Seele gegeben!‘“ Ich selbst konnte mich im Jahr 1988 von der ungebrochenen Verehrung des armenischen Volkes für Werfel überzeugen: anlässlich einer Reise nach Armenien, wenige Wochen vor dem verheerenden Erdbeben, zu einer Zeit, da das Land noch Teil der UdSSR war. Immer wider kamen Menschen auf mich zu und ließen mich wissen, wie sehr sie den Roman Die 40 Tage des Musa Dagh als ihr Volksbuch empfinden, wie stolz sie seien, dass es existiere, wie dankbar Franz Werfel, dass er es geschrieben habe. Ein ähnlich begeisterter Empfang wie in den USA wurde Werfel bereitet, als er wenige Monate später nach Europa zurückkehrte und in Paris Station machte: an der Gare du Nord erwartete das Ehepaar eine große, erregte Menschenmenge; Exil-Armenier, die Franz Werfel tagelang wie einen Volkshelden feierten. Alma

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Mahler in ihren Erinnerungen dazu: „Wir wurden von [...] einer Menge junger Armenier, die bei der Einfahrt des Zuges einen Choral sangen, empfangen. [...] Mit dem Schrei ‚Wo ist Franz Werfel?!‘ galoppierten alle in die Waggons.“ Les 40 jours du Musa Dagh waren auch in Frankreich ein kritischer, sowie ein bemerkenswerter Verkaufserfolg. An einem der zahlreichen Diners nahm der französische Admiral Dartige du Fournet teil, der als Kommandant des Flaggschiffes „Jeanne d’Arc“ die Bergungsaktion vor der Küste des Musa-Dagh-Massivs geleitet und viertausend Männern, Frauen und Kindern das Leben gerettet hatte. Der Siegeszug der Vierzig Tage des Musa Dagh hatte begonnen. Man kann diesem Werk nur wünschen, dass auch künftige Generationen ihn immer wieder neu entdecken, lesen, weiterempfehlen, dass dieser historisch so wahre, dramatisch so überzeugende und inhaltlich erschütternde Roman auch in Zukunft zu den Klassikern der Weltliteratur zählen möge.

Literaturverzeichnis Abels, Norbert: Franz Werfel. Mit Selbstzeugnissen und Bilddokumenten. Reinbek b. Hamburg, Rowohlt 1990 (Rowohlts Monographien. Hrsg. von Wolfgang Müller und Uwe Neumann, Bd. 472). Andreasian, Dikran: Suedije: Eine Episode aus der Armenierverfolgung 1915. Potsdam: Tempelverlag 1919. Conze, Eckart: Das Amt und die Vergangenheit: Deutsche Diplomaten Im Dritten Reich und in der Bundesrepublik. München: Blessing 2010. Web. 8 März 2013. . Goldstücker, Eduard: „Ein unbekannter Brief von Franz Werfel.“ In: Austriaca. Beiträge zur österreichischen Literatur. Festschrift für Heinz Politzer zu seinem 65. Geburtstag. Tübingen: Niemeyer 1975, S. 370–375. Hanselle, Ralf: „Im toten Winkel.“ In: Der Freitag. 29. April 2005. Web. 8 März 2013. . Jungk, Peter Stephan: Franz Werfel. Eine Lebensgeschichte. Frankfurt/Main: Fischer-Verlag, 1987. Lepsius, Johannes: Bericht über die Lage des armenischen Volkes in der Türkei. Potsdam: Tempelverlag 1916. Lepsius, Johannes: Der Todesgang des Armenischen Volkes: Bericht über das Schicksal des Armenischen Volkes in der Türkei während des Weltkrieges. Potsdam: Tempelverlag 1919. Lepsius, Johannes, Hrsg.: „Besuch in Konstantinopel Juli — August 1915.“ In: Orient. Monatsschrift für die Wiedergeburt des Ostens. Bd. 1–3 (1919), S. 21–33. Lepsius, Johannes: Armenien und Europa: Eine Anklageschrift wider die christlichen Großmächte und ein Aufruf an das christliche Deutschland. Berlin-Westend: Faber 1896. Mouradin, Sarky, Dir.: The Forty Days of Musa Dagh. Video Screencraft 1982. Schulz-Behrend, George: „Sources and Background of Werfel’s Novel Die vierzig Tage des Musa Dagh.“ In: The Germanic Review 26.2 (1951), S. 111–123.

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Wagener, Hans: Understanding Franz Werfel. Columbia: U of South Carolina P 1993. Mahler, Alma: Mein Leben. Frankfurt am Main: Fischer 1960. Werfel, Franz: Die Vierzig Tage Des Musa Dagh. Berlin: P. Zsolnay 1933.

Robert Dassanowsky

Lernet-Holenia contra Marxism Galicia and the Literary Habsburg Myth in Andrzej Kusniewicz’s Krol obojga Sycylii (The King of the Two Sicilies)¹ Andrzej Kusniewicz’s novel Krol obojga Sycylii (The King of the Two Sicilies; König beider Sizilien) belongs to a set of works by Polish authors of the 1970s and 80s intent on perpetuating the myth of the Kresy, the lost Eastern Polish territory that included the former Austro-Polish crownland of Galicia. While the subject of Poland’s Stalinist truncation and its earlier relationship with the Austro-Hungarian Empire was still taboo during the martial law period² these novels conjured up the past through various literary games to suggest a “local truth” for a readership whose national and regional identity Tadeusz Komendant claims was “ravaged by Marxist ideology.”³ Kusniewicz’s European and specifically Austrian life experience spanned the fortunes and disasters of Central Europe in the twentieth century: born in the town of Kowenice in Eastern Galicia in 1904 as the son of an estate owner, he experienced the fading Danubian Empire as a child. His first memory of a major metropolis was not of Cracow or Warsaw, but of Vienna, where he was present at an unspecified public ceremony at which Emperor Franz Joseph made an appearance. Elements of this iconic moment re-surface in many of his writings. He attended school in Graz, a city that also finds strong representation in his work. The outbreak for the First World War and a lung ailment forced Kusniewicz to attend several gymnasia in Poland, including the Jesuit school in Chyrow. Later, he served in the Polish diplomatic corps in France until the German occupation of 1940, when he was placed in charge of the Nazis’ ominously named “Reichsbüro für die Betreuung von Polen in Frankreich.”⁴ When his involvement with the French resistance and the underground Free Polish army units in France was discovered by the Gestapo in 1943, he was arrested and moved from one concentration camp to another, the final one being Mauthausen in Austria. He was intro-

1 This article is based on a presentation given at the Annual International Conference of the Modern Austrian Literature and Culture Association (MALCA), with the special topic of “Transcending the Borders: Austria in the Context of Central Europe,” at the University of Montana at Missoula, April, 2005. 2 Komendant, “Local Patriotism.” 3 Quoted in Jedlinski, “Ausstellung von Erinnerungen an Kusniewicz.” 4 Jedlinski, “Ausstellung von Erinnerungen an Kusniewicz.”

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 Robert Dassanowsky

duced to the French communist movement through prisoners there and following liberation joined the Polish Worker’s Party in December 1945. Kusniewicz returned to France where he was awarded the Médaille de la Guerre et Résistance and represented the new Polish state as a member of the diplomatic corps. In 1950, he returned to Poland, distancing himself from the communist regime and concentrating on his writing, which by the 1970s had resulted in critical success abroad. Kusniewicz died in 1993 having avoided participation in Poland’s political upheavals of the 1980s and 90s. His writings reconnected the Galician portion of Poland to an Austrian-centered Mitteleuropa and displayed a romanticized Western/Central European cultural tradition that was anathema to Socialist Realism.⁵ Among his most important novels, Krol obojga Sycylii, written in 1970, is a most unabashedly sympathetic look at the culture of the Danubian empire. It was followed by Lekcja martwego jemzyka (Lessons in a Dead Language), written in 1977, which examines the collapse of Austria-Hungary in 1918, and the multi-novel cycle Stefy (Zones), begun in 1971, which mourns the loss of Poland in 1939. As literary critic Krzystof Lipinski indicates, Kusniewicz would use autobiographical elements as well as reflections on other key works of Austrian Habsburg Myth literature in his own attempts to reconstruct a lost Austro-Poland.⁶ Several of his central characters are essentially “Doppelgänger” to characters in works by Joseph Roth, Robert Musil, Hugo von Hofmannsthal, and Arthur Schnitzler.⁷ One might also consider that the first part of the novel cycle Stefy (Zones), translated into German as Tierkreiszeichen, strongly echoes Karl Kraus’s play Die letzten Tage der Menschheit and its image of various ethnic representatives bidding farewell to the dying Austria-Hungary. Kusniewicz’s novel Krol obojga Sycylii offers two Catholic Poles, an Eastern Orthodox Ukrainian, a Polish Jew, and a Protestant German as a group of friends who represent the heterogeneous culture of Galicia. The first Polish republic and later the German occupation divide and scatter them. The destruction of Kusniewicz’s benevolent, multicultural Galicia, which represents an extension of the imperial Central European concept and provides a metaphor of a larger Western/Central European tradition, begins in 1914 in The Two Sicilies novel and comes to its brutal dissolution in the author’s Zones at the start of World War II. The King of the Two Sicilies, however, suggests a relationship with Austria and an idealized Mitteleuropa beyond the atmospheric motifs so deftly detailed by Lipinski. Tadeusz Komendant comments that the author’s appreciation for

5 The term Mitteleuropa for Kusniewicz refers to an idealized multi-culture of a Central Europe under or recalling Habsburg cultural unity. 6 Lipinski, pp. 115–138 7 Ibid., p. 121.

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polyglot Galicia becomes a “literary ecumenism”⁸ that suggests counter-Marxist transnationalism without being overtly anti-Marxist. Despite Kusniewicz’s imprisonment at Mauthausen, he openly enjoyed his perceived cultural connections to Austria and even considered himself an “Urwiener” (an old or “original” Viennese, a term that aristocratic Jewish-Polish poet Stanisław Lec ⁹ first used for himself and Kusniewicz) in a 1985 interview.¹⁰ Lec’s identification with that term in the mid-1980s, as a deferred Austrian Vergangenheitsbewältigung, was sparked by the Waldheim Era. As Austrians later wrestled with the exclusionary ethnic-national concept of right-wing populist politician Jörg Haider’s “true Austrian,” the term “Urwiener” indicated that the image of Viennese cosmopolitanism remained significant in anti-communist Poland. Conversely, many Austrians desired an equally romanticized homogeneity. I do not wish to re-examine the neo-impressionist concentration on Austro-Hungarian references that appear in this novel and that Lipinski has already catalogued. Instead, my examination of the influences of Austrian fin de siècle authors and of the intertextuality that connects Kusniewicz’s novel with Austrian author Alexander Lernet-Holenia’s novels Mars im Widder (Mars in Aries) and Beide Sizilien (Two Sicilies) supports Lipinski’s assessment and emphasizes how Kusniewicz’s novel additionally functions against the concept of a Sovietized Poland.¹¹ Kusniewicz clearly located a significant portion of Polish historical identity in a shared past with Austria, and in the period of a growing Solidarity movement, he sought to reclaim this cultural imprint as one of the many that would contribute to an “authentic” Poland denied under communism. He was not alone in this local patriotism to Galicia and its history. The period of martial law in the late 1970s, known as the “empty time” by the authors who would battle against it with a form of inner emigration, fostered the legendary status of a lost

8 Komendant. “Local Patriotism.” 9 Lec was born Baron Stanisław Jerzy de Tusch-Letz in Lemberg, Austria-Hungary, the son of Jewish parents who had converted to Protestantism. He was raised and schooled in Vienna, and following the First World War, in the newly independent Poland. He worked as a writer in the interwar period, served in the Polish army, and was captured by the Germans and sent to a concentration camp. Following the war, he entered the Polish diplomatic corps and became press attaché in Vienna. At odds with the Stalinist regime, he fled to Israel with his family but soon returned to Poland. He was at various times forbidden to publish his writings, but gained a strong popularity despite his politically critical statements. 10 Krzemien, pp. 235–238. 11 Lipinski examines Lernet-Holenia’s novella Der Baron Bagge as a crucial text in literature dealing with the resonance of a Habsburg Mitteleuropa in postimperial literature, but does not approach the similarities between the author’s other works and Kusniewicz. See pp. 153–166.

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southeastern Polish culture, which arose from the territory’s relatively positive experience as an Austrian crownland. Shared Catholicism, the iconic standing of King Jan III Sobieski and Polish efforts in the 1683 liberation of Vienna from the Ottoman siege, and overt admiration of Polish culture by Habsburg Archduke Karl Stephan, who resided in Galicia and was proposed as the king of a reunified postwar Poland by Emperor Karl I in 1916, were potent subjects for this nostalgia. This Austrian benevolence made historical Prussian-Polish Germanization seem more typically colonial and the oppressed Russian-Poland virtually enslaved by retrospective comparison. Unable to admire openly the region’s historical transnationalism and its identification with Mitteleuropa (as opposed to the strictly geographic Central Europe, the term suggests a Habsburg cultural bond) under communism, several authors moved towards a mythological literature dealing with the lost Poland and developed it into a genre consisting of refined literary games that were aimed at reconstructing national memory. While Kusniewicz re-visioned “his” Austro-Galicia, Julian Stryjkowski explored the lost Jewish culture of that region; Tadeusz Konwicki connected the anti-Russian Polish/Central European identity onto the royal and Catholic PolishLithuanian past centered in Vilnius; and Leopold Buczkowski moved from epic historicism to experimentalism — recalling the nineteenth- and twentieth-century bloodbaths of Volhynia (as a symbol of Polish oppression by the Russians; the territory is now in the Ukraine), then deconstructing the literary narrative in a postmodern attempt at attaching cryptic nationalist meaning to floating signifiers. But, as impressively written as these works are, their literary quality was less important at the time as their cultural artifactualism, and the texts became required reading in the subversive underground of anti-communist local truth and patriotism. A form of New Historicism emerged, as personal recollection (or carefully presented nostalgic fantasy) was positioned against official history, devaluing the nation’s Soviet recontextualization.¹² Sylvain Patrice Lieberman’s examination of the narrator-narrative relationship in this Polish literary arena, particularly regarding Kusniewicz’s Two Sicilies, finds that the writing of history aimed at a readership deprived of such a history takes the form of “cultured culture,” or artistic product, which he calls an “antetext.” They are mixed with the realia of history, technology, habits, fashions, or the “paratext.”¹³ Although Kusniewicz openly stated that he did not believe

12 Dietmar Albrecht considers the return of the regional consciousness (particularly in Galicia) to have transnational value to both Poland and Austria beyond the romantic-nostalgic impressions he gives in his essay “Zwischen Brody und Auschwitz,” pp. 90–94. 13 Lieberman, pp. 273–284.

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literature could change the status quo of society, his work of the 1970s clearly challenged Marxist literary dominance.¹⁴ The author’s dense paratext of a pre1918 Austro-Poland in Two Sicilies ruptures monolithic Socialist Realism, and his antetextual or metamythic utilization of the Habsburg Myth contributed to the realignment of Polish regional and cultural/historical consciousness into the next decade. A close reading of Kusniewicz’s Two Sicilies shows strong influences of Peter Altenberg, Joseph Roth, and Leopold von Sacher-Masoch in the author’s style, as he unfolds the saga of Emil R., the sickly, angelic child, victimized by his elder sister Elisabeth with her vicious games. As a youth, Emil R.’s devout Catholicism conflicts with his fascination with Nietzsche and thoughts of suicide and murder, but he emerges as a refined imperial officer in the Habsburg Sicilian Lancers stationed in a Hungarian garrison town. Nevertheless, he continues to be enslaved by a masochistic and incestuous desire for his domineering sister. The assassination of Archduke Franz Ferdinand in Sarajevo and the mysterious death of a gypsy girl in Emil’s town provide the dualistic framework for the novel’s statement on the inescapability of cause and effect, and on the irrevocability of the past. Both Kusniewicz and Lernet-Holenia employ the Kingdom of the Two Sicilies and its name-bearing Austro-Hungarian Lancers as an emblem for a multicultural Mitteleuropa. Both works escaped censorship through the red herring of a lurid central plot. Kusniewicz’s saturation of the novel with nearly overwhelming references to “cultured culture,” embedded in equally detailed social realia, allows him actually to refer the reader to art and philosophy unacceptable to the Marxist regime. The two joined and reoccurring olfactory experiences of “carbolic acid” and “Violettes Imperiales” provide the author’s clue to the game being played in a work that only appears to condemn the era — through the evocation of decadence, the flow of imperial self-interest into a disastrous war, and finally, through sibling desire unabashedly borrowed from Thomas Mann’s Wälsungenblut. The carbolic acid signifies both the unfolding war and the murder of a gypsy prostitute, a near literary cliché that provides little mystery and even less originality in articulating lethal sexual repression. Alternatively, the author revels in the sensuality of the “Violettes Imperiales,” a perfume here attributed to the historical figure of Colonel Redl and “distilled” from opulent nostalgia.¹⁵ The psychosexual aspects of the elegant, tortured aesthete Emil R., whose adult traits and longings are translated into tableaux recalling Sacher-Masoch’s Venus im Pelz, Schnitzler’s Leutnant Gustl,

14 Krzemien, “Interview,” pp. 235–236. 15 Lipinski, p. 124.

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and Hofmannsthal’s Das Märchen der 672. Nacht, hardly hold the reader’s interest. His characterization is simply a melodramatic hanger on which to display Kusniewicz’s true focus, the wealth of a romanticized imperial Central European culture in all its manifestations. As Lipinski shows, Kusniewicz’s nearly overwhelming imperial Austrian motifs, ranging from location (down to the very street or building in Vienna, Graz, Meran, Trieste, Karlsbad, or even Fehertemplom, but rarely in Galicia), to music, art, literature, popular culture, clothing design, food, all described with impressionistic meticulousness, far outweigh the sexualized class conflict/racist metaphor of the murdered gypsy girl. This poetic faceting, which embellishes, mythologizes and skewers facts to stimulate emotional reactions, dares the Marxist-era reader to participate in accepting a Mitteleuropa fantasia as “private fatherland”¹⁶ in the same way Emil R. comprehends his own past: In those days, I read Rilke’s Malte. Did he realize what he was writing? I had descended into hell and brought back only a scrap of knowledge of the real depths, yet through his intermediary, we learned enough to experience the taste of the Inexpressible.¹⁷

The “clues” found in cultural artifacts and the dualism that pervades the novel also display strong correspondences with Lernet-Holenia’s banned cryptically subversive 1941 novel, Mars im Widder. This work dares to suggest both the Austrian difference under both a pan-German and a sophisticated Polish civilization, as an alienated aristocratic Wehrmacht officer in Vienna finds himself enamored in a mysterious woman and entangled in her possible resistance group on the eve of the attack on Poland. The simplistic erotic plot of an unrequited love affair and the disorienting path of war cover the novel’s embedded counter-Nazi philosophical and metaphysical ruminations. Peppering the novel are cosmic/ zodiac references which add additional surface distraction from the actual political/ideological subversion, but also lend a metaphysical aspect to the fate of Poland and the text’s revelation of the premeditation of the German attack.¹⁸ Kusniewicz’s Zones, a novel also dealing with 1939 and written under communism, did not require the cryptic coding found in Lernet-Holenia’s wartime novel, but the references to the zodiac and fatalism in Kuszniewicz’s novel provide such

16 Alfred Sproede discusses the “Problem-Heimat Polen” from the eighteenth century to the twentieth and surveys the writers who have created regional or sub-regional “Vaterländer” based on Poland’s cultural and emotional definitions in: “Heimat Europa?,” pp. 163–171. 17 Kusniewicz, p. 113. 18 Dassanowsky, “Österreich contra Ostmark,” pp. 157–179 and Phantom Empires, pp. 86–112. See also Wingertszahn, pp. 221–230.

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an obvious intertext with Mars im Widder that it seems like knowing parody. Antifascist historical fiction was acceptable in communist Poland but explorations of pre-Soviet Polish culture were not. Both the Kusniewicz and the Lernet-Holenia Two Sicilies novels mourn a lost Central Europe while implying an immutable Mitteleuropa that is conveyed though Lieberman’s antetext (the actual cultural realia) rather than the paratext, or the plot narrative. For Lernet-Holenia, as for Kusniewicz after him, the title refers to a former imperial territory already a memory in the final century of the Austrian Monarchy and conjures the importance of tradition and myth in the shaping of national and, in Kusniewicz’s case, personal/regional identity. In the Austrian novel written during the Third Reich, Lernet-Holenia implies the survival of the ethnically heterogeneous southern Germanic-Slavic/Catholic world under the hegemony of a homogeneous northern Germanic/Protestant National Socialist ideal. He focuses on a former imperial dragoon regiment, “Beide Sizilien,” which, like the namesake kingdom, the Empire in the narrative’s time frame of 1925, or the Austrian nation-state in 1942, “[…] existierte längst nicht mehr, es war aufgelöst […].”¹⁹ Readers learn that the members of this former regiment have been scattered throughout the successor states of the Empire, but that the six officers and one corporal living in Vienna have maintained close contact. The continuation of their duty based in their previously shared role despite their de jure disbandment, can be interpreted as a defense of Old Austrian identity against the Germanification of the Ostmark. The ethnic origins and class rank of the seven figures, each dominating one of the seven chapters of the novel, play major roles in this statement on the nature of a distinct Austrian identity. A simple list of the seven character names of Germanic (Engelshausen; Silverstolpe), French (Rochonville), Latin and Slavic (Fonseca; Lukawsky; Marschall von Sera; Slatin) origin under the heading Beide Sizilien serves as a guide to the division of the book. It also defines the national essence of post-imperial Austria in continuity with the past. The maintenance of this transnational self-awareness into the First Republic and, as shown in LernetHolenia’s Mars im Widder, into the Third Reich, belies the death of the Habsburgian culture expected in the National Socialist Ostmark.²⁰ For Reinhard Lüth, the division of Lernet-Holenia’s novel into seven chapters, each divided into three subsections, suggests the biblical “Einundzwanzig Vollkommenheiten der Weisheit,” and most convincingly, the “romanische Strophenform der Terzine.”²¹ The implied Judeo-Christian values, their connection with

19 Lernet-Holenia, p. 8. 20 Dassanowsky, Phantom Empires, pp. 113–119. 21 Lüth, pp. 346–347.

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the Old Order, and the structural reference to the sonnet — Theodore Ziolkowski’s poetic “Form als Protest” against the ode of the Blut und Boden style — confirms that the seemingly harmless detective motif of Beide Sizilien is an adroit camouflage of an intricately designed allegory aimed against National Socialist sociopolitical and cultural ideology.²² Wynfrid Kriegleder extends the allegory and sees the Anschluss represented in the mad Alexejev’s (Hitler) desire for the female character, Gabrielle (post-1918 Austria), daughter of the Regiment’s leader, Rochonville (imperial Austria), and Alexejev’s murder of a rival (Chancellor Dollfuss). The utopian conclusion of the novel then “unites” the character of Marschall von Sera (Christian culture) and Gabrielle. That Lernet-Holenia might suggest Rochonville as representative of the imperial Austrian symbol in such an allegorical constellation may well have to do with his desire to create a stronger historical relationship between Austria and France than between Austria and Germany.²³ Moreover, Elisabetta Bolla analyzes the complexities of the identity changes of the characters as a game of illusion traceable to Lernet-Holenia’s first novella, Der Herr von Paris, which dealt with the collapse of the ancien régime and its value system.²⁴ The insubstantial assumption of a “new” identity symbolizes the lingering Old Order sociocultural aspects of postimperial Central Europe in other Lernet-Holenia novels as well, particularly in the 1936 Die Auferstehung des Maltravers.²⁵ Obviously influenced by Lernet-Holenia’s cryptic novels, Kusniewicz also develops a murky murder mystery as an excuse for his recounting of national/ regional identity lost with Nazi occupation and Soviet re-education. While not an attempt to convey resistance of the Polish nation under Soviet control, the AustroPolish aspect, however, represents the many regional and national experiences eradicated by the Marxist regime. The fact that Kusniewicz sets his “Polish” novel in practically every other location in the Austro-Hungarian empire (and in France and Italy) than in Poland per se implies a back-handed rejection of national reductionism, specifically to an identity created only to serve the Eastern Bloc and in reference to Russo-Soviet ideology and history. It is also a desire to ground Poland (or part of it) in a Central European connotation in the way that Lernet-Holenia strove to anchor Austrian culture outside of its relationship with Germany through the memory of its connection with the Latin and Slavic world.

22 Dassanowsky, Phantom Empires, p. 114. 23 Kriegleder, pp. 59–70. See also Dassanowsky, “‘Mon Cousin de Liernut’,” pp. 173–190. 24 The analysis comes from Bolla, “Der Erzähler als Historiograph,” as described in Lüth, pp. 167–175. 25 See Dassanowsky, Phantom Empires, pp. 57–85.

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The surreal reflections of Kusniewicz’s character Emil R., resulting from his sexual trauma and guilt regarding the death of the gypsy girl, battle the primary images of “normalcy” in the military camp and suggest the subversion of (political) identity that results from the clash of official (propagandistic) historicism and counter-official (critical/personal) experience. Again and again these secondary images. Mirror reflections, primarily, always incomplete, stunted in their definite form from the moment of their birth and transformed into other equally stunted shapes. The scream of a madman whose impulses will always remain obscure to others. ²⁶

Lipinski believes there are two ways to read the Austrian motives in Kusniewicz‘s novel, both which evoke a lost Mitteleuropa as a re-collection of essential Poland: “Einerseits aus der synthetisierenden Sicht einer Zukunft, die über die Vergangenheit alles weiß oder zu wissen glaubt, anderseits aus der unmittelbaren, gegenständlichen Perspektive der Details, die die erzählte Fiktion legitimieren.”²⁷ The landscape of nostalgic details of 1914 becomes a Zukunftsbewältigung in the novel, a reason for the geopolitics of the twentieth century. The failed imperialist war that gave rise to fascism is already apparent in the sadomasochistic impulses of Kusniewicz’s fictional characters of the Belle Époque. The telescoped implication is a Marxism that has apparently resolved the class struggle and reconstituted Poland. Beyond the surface of what Lyotard would consider a simplistic and in postmodernity an untenable Marxist metanarrative²⁸, however, lies a deeper, politically forbidden diversification of a “history” of Polish essentialism and Austrian association. Dualism pervades the novel’s structure, content, and intent. As Emil R. comments, “The duality in the name of a kingdom, which perished years ago, bears in it the seeds and sentence of death. Our monarchy is also double in name: AustroHungarian, and so is the imperial line: Habsburg-Lorraine, and I myself too—.”²⁹ This incomplete personal reference relates to the description of Emil R. earlier in the novel when he is considered a child with schizoid personality, “because

26 Kusniewicz, p. 113. 27 Lipinski, p. 136. 28 Jean-François Lyotard defines the postmodern as “incredulity towards meta-narratives” or large-scale theories and philosophies of civilization, including the dialectical predictability of history and politics, the infallibility of science and the concept of true freedom. In postmodernity, these truisms fall to diversity, fragmentation, and the value of individual experience, or “micronarratives.” Lyotard, p. 7. 29 Kusniewicz, p. 23.

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he was begotten by someone thinking of one object while embracing another.”³⁰ The seemingly surreal reasoning becomes the author’s most important key to the nature of a Poland he presents as metaphysical duality. Each part is imprisoned in time and seeks reunification with the lost half: the partitioned shadow nation shares Central European cultural identity yet longs for independence; the reconstituted nation under Soviet dominance, sees the shadowy elements of its historical culture in a mythic Mitteleuropa.

Bibliography Albrecht, Dietmar: “Zwischen Brody und Auschwitz: Galizien. Reise in eine imaginäre Provinz – Die Kronländer Österreich kehren nach Europa zurück.” – In: Mare Balticum (1993), pp. 90–94. Bolla, Elizabetta: “Der Erzähler als Historiograph menschlicher Zeitgeschichtlichkeit: Alexander Lernet-Holenia.” In: Das achtzehnte Jahrhundert: Facetten einer Epoche. Festschrift für Rainer Gruenter. Ed. Wolfgang Adam. Heidelberg: Winter 1988, pp. 167–176. Dassanowsky, Robert: Phantom Empires: The Novels of Alexander Lernet-Holenia and the Question of Postimperial Austrian Identity. Riverside: Ariadne 1996. Dassanowsky, Robert von: “‘Mon Cousin de Liernut’: France as a Code for Idealized Personal and Political Identity in the ‘Austrian’ Novels of Alexander Lernet-Holenia.” In: Austrian Studies 13 (2005), pp. 173–90. Dassanowsky, Robert von: “Österreich contra Ostmark: Alexander Lernet-Holenia‘s Mars im Widder as Resistance Novel.” In: Zwischenwelt. Literatur der Inneren Emigration aus Österreich. Ed. Johann Holzner and Karl Müller. Wien: Döcker 1998, pp. 157–79. Jedlinski, Zbigniew: “Ausstellung von Erinnerungen an Kusniewicz.” In:  Kulturbulletin 20/216. 2003. Web. 27 December 2011. . Komendant, Tadeusz: “Local Patriotism, Instytut Książki.” 24. November 2008. Web. 27. December 2011. . Kriegleder, Wynfrid: “Der Irre und die sieben Soldaten. Alexander Lernet-Holenias Beide Sizilien als politischer Roman.” In: Modern Austrian Literature 20.1 (2007), pp. 59–70. Krzemien, Teresa: “Interview with Andrzej Kusniewicz (1985).” In: Cross-Currents: A Yearbook of Central European Culture 5 (1986), pp. 235–238. Kusniewicz, Andrzej: The King of the Two Sicilies (Krol obojga Sycylii, Engl.). Transl. by Celina Wieniewska. New York and London: Harcourt Brace Jovanovich 1980. Lernet-Holenia, Alexander: Beide Sizilien. Amsterdam: Bermann-Fischer 1950. Lieberman, Sylvain Patrice: “The Terrorized Reader.” In: Cross-Currents: A Yearbook of Central European Culture 2 (1983), pp. 273–284. Lipinski, Krzysztof: Auf der Suche nach Kakanien: Literarische Streifzüge durch eine versunkene Welt. St. Ingbert: Röhrig 2000.

30  Ibid., p. 14.

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Lüth, Reinhard: Drommetenrot und Azurblau: Studien zur Affinität von Erzähltechnik und Phantastik in Romanen von Leo Perutz und Alexander Lernet-Holenia. Meitingen: Corian 1988. Lyotard, Jean-François: La Condition Postmoderne: Rapport sur le Savoir. Paris: Les Editions de Minuit 1979. Sproede, Alfred: “Heimat Europa? Regionale Akzente in osteuropäischer Literatur.” In: Ost-West. Europäische Perspektiven 4.3 (2003), pp. 163–171. Wingertszahn, Christof: “Blaue Stunde im Krieg. Alexander Lernet-Holenias fantastisches Zwischenreich.” In: Dennoch leben Sie. Verfemte Bücher, verfolgte Autorinnen und Autoren. Zu den Auswirkung nationalsozialistischer Literaturpolitik. Ed. Reiner Wild. München: edition text + kritik 2003, pp. 221–230.

Barbara Schoenberg

An Austrian Literary Tradition in Visual Form Viennese Fin de Siècle Reflections in the Films of Billy Wilder “

Ich bin kein Professor. Ich nehm’ das alles nicht so Ernst, wie die das nehmen.” Billy Wilder¹

Since Billy Wilder’s death in March of 2002 at the age of 95, a plethora of monographs, articles, biographies, film studies, and cultural histories have focused on him, which, added to those written during his lifetime, commemorate the various aspects and achievements of his life and oeuvre.² Wilder was a screenwriter and director, whose originality, trenchant insights into culture through the medium of language, great wit and penchant for parody have created so many notable and classic films for audiences. To date, however, most of the secondary literature has focused on Wilder’s films within the context of genre, or cultural and exile studies. Research has largely highlighted Wilder’s early career in screen writing in Berlin and subsequently in America, while allowing his Austrian roots and formative early years to stay relatively in the background. Other than noting Wilder’s coming of age in Vienna, scholars view the screenwriter’s upbringing as mere background material. Few if any biographies or studies on Wilder have focused on these early years as an invaluable influence on the filmmaker. In addition, Wilder himself insisted that his interests in film, and the influences on his career were tied to Berlin rather than to Vienna, stating “Berlin, nicht Wien hat mich beeinflusst.”³ I would like to challenge Wilder’s statement, however, by focusing on Wilder’s Viennese roots in order to demonstrate that Vienna, and Viennese turnof-the-century literature and art may have held far greater sway than the filmmaker would seem to acknowledge. In fact, Wilder’s early cultural milieu most probably was a major source of inspiration during his long career and exerted a

1 Schnauber, “Billy Wilder,“ p. 54. 2 For this paper, I have relied on the most recent comprehensive studies and bibliographies of Gerd Gmünden, A Foreign Affair, and Hutter and Kamolz, Billie Wilder. For a comprehensive listing of monographs as well as articles on Billy Wilder, see: http://www.lib.berkeley.edu/MRC/wilderbib.html?menu=none (25 July 2012). 3 Schnauber, “Billy Wilder,“ p. 48. See also Schnauber, “Geist und Witz,“ p. 1.

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ital influence on his scriptwriting and filmmaking.⁴ Indeed, Austria was never quite left out of the picture. Wilder’s origins are by now common knowledge, and biographers usually skim over his early life. Born in 1906 in Sucha, about 100 miles from the Austrian Empire’s capital, Wilder moved to Vienna at age 10, where he attended primary and secondary school. Soon afterwards, Wilder turned away from the prospect of studying law to embark on a career as a journalist. What few biographers deem noteworthy, however, is that prior to moving to Berlin in 1926, the twenty-one year old journalist had attempted to garner interviews with members of literary Vienna and had frequented “die selben Kaffeehäuser […] die literarischen Hochburgen Wiens, das Café Central und das Café Herrenhof in der Herrengasse”⁵ as had his literary heroes. As a result of such pursuits, Wilder had managed to obtain an interview with Arthur Schnitzler,⁶ but in contrast had been turned down by Sigmund Freud. Wilder never forgave Freud for this rejection and ridiculed his psychoanalytic theories in many film scripts, as will be noted later. Before I focus on the specific instances of Viennese literary and artistic traditions mirrored in a sampling of Wilder’s films, denied by the filmmaker as they might be, I would like to describe the Viennese cultural milieu of Wilder’s early years. In his article entitled, “Schoenberg, Anyone,” Alex Ross perhaps best sums up the major and by now almost clichéd attributes of the Viennese Fin-de-Siècle most succinctly, when he writes about the composer (italics mine): “Schoenberg never quite left that glittery, morbid world of Fin-de-siècle Vienna, where there was a lot of talk of the ‘inexpressible,’ where ‘the word beyond speech’ was on everyone’s tongue.”⁷ Indeed, Ross’s description echoes the plaintive remarks, uttered, or perhaps I should say “stuttered” by Schoenberg’s “Moses” in his opera Moses und Aron (text by the composer): “Meine Zunge ist ungelenk. lch kann denken aber nicht reden.” It is the same agonized protagonist who also cries out most poignantly in the final words of that unfinished work, “0 Wort, du Wort, das mir fehlt!”.⁸ Similarly, Hofmannsthal’s character in “Der Schwierige,” the disgruntled Hans Karl,

4 Chandler quotes Billy Wilder’s admission that he had based a supporting character in The Apartment on a Viennese friend and neighbor of his mother: “She used to visit my mother. I just had to stop for a moment and close my eyes, and I could hear her voice in my head, like it was yesterday […]. She spoke German in the Viennese way, and I tried to put that into English.” See Chandler, p. 232. 5 Hutter and Kamolz, p. 64. 6 Gmünden, p. 23. 7 Ross, pp. 84–86. 8 Schoenberg, Act 2, sc. 4, p. 502.

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voices discouragement over the “Wirbel der Sprache,” and another Hofmannsthal character, Lord Chandos, succinctly summarizes his chagrin over writer’s block. “Mein Fall ist in Kürze dieser: es ist mir völlig die Fähigkeit abhanden gekommen, über irgend etwas zusammenhängend zu denken oder zu sprechen.”⁹ Certainly a reevaluation of language was “on everyone’s tongue” in those last years of the 19th and the formative years of the new century. The preoccupation with language, with its questionable effectiveness, its inadequacies and its potential for confusion rather than clarification, comprised the first of three major trends in the arts of the time. A second trend was the pairing of opposite extremes, especially morbidity, an awareness of death, coupled with a lust for life, which created an almost bizarre “waltz macabre,” the paradoxical frenzy of grabbing life’s precious moments in the face of a panic over losing vitality. In the realm of art, for example, a great many of the paintings of Gustav Klimt and Egon Schiele exemplify this tension between the life force and the omnipresent threat of death. In literature, works by representatives of Jung-Wien, such as Arthur Schnitzler and Hugo von Hofmannsthal, also evince these contradictory extremes.¹⁰ The third trend was the challenging breakdown of age-old traditions which emerged in full strength at the conclusion of World War I with the demise of the Austrian empire occurring both in reality and symbolically with Kaiser Franz Joseph’s death in 1918. The frozen norms of pedigree and class distinctions that had faced some earlier opposition had nonetheless remained in place, but now finally began to dissolve.

1 Preoccupation with Language Written in 1901, Fritz Mauthner’s impressive tome on language, Beiträge zu einer Kritik der Sprache, was one of the earlier attempts at philosophical analysis and codification of language and its properties. This work is said to have affected many of the Fin-de-Siècle intellectuals and writers I shall be discussing in this essay, and influenced Ludwig Wittgenstein in particular, who in his Tractatus Logico-Philosophicus dealt with the dilemma of expression and the inadequacy of language as a vehicle for communication of emotion or higher meaning. As

9 Hofmannsthal, p. 8. 10 Not only are the processions of love trysts in rapid succession, the frequent partner changes in Schnitzler’s Reigen, often referred to as “Totentänze,” but also, in Hofmannsthal’s Rosenkavalier, both the Marschallin and Ochs represent two opposite extremes in their relationship to the passage of time: one, resignation, the other not letting go of the frenzied appeal to the life force.

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a commonly circulated example of pointing out the inadequacies of language, one need only recall Wittgenstein’s words from the Tractatus which have provided generations of scholars interested in philosophy and language with the oft-cited, relevant quote, “Wovon man nicht sprechen kann, darüber muss man schweigen.”¹¹ In addition to both Hofmannsthal and Schnitzler, referred to above, and whom I shall reference again later, another Viennese writer and journalist of the time, Karl Kraus, that acrid purifier of language, may well have influenced the young journalist Wilder, either positively or negatively.¹² At the time of the young Wilder’s attempts at journalism, Kraus was a well-established, high-profiled, much feared and controversial feuilletonist. As a satirical writer of the series, Die Fackel, Kraus addressed problems concerning the dead-end street of literary expression and literary clichés. By attempting to expose his society and many of the less scrupulous writers, he also held them accountable. Concurrently, he transposed the seriousness of this seemingly “Austrian” dilemma of “Sprachlosigkeit” into something witty, humorous and playful. Kraus’s focus on the problems of language are expressed in his numerous pithy statements, aphorisms or “one-liners,” his adeptness at puns, the elasticity and alliterative rhythms of his critical turns of phrase, and the somewhat curious combination of pairings of the deadly serious with moments of striking wit. Many of these wordplays were given voice in his Die letzten Tage der Menschheit, and various other issues of Die Fackel. Illustrative here is Kraus’s stunningly curt dismissal of Hitler and the Nazi terror with the briefest words, a witty turn of phrase: “Mir fällt zu Hitler nichts ein.”¹³ Kraus’s rare gift of combining the acute problem of expressing the inexpressible with wit and humor, while never leaving serious social commentary far behind, and his playfulness with both the meaning, and especially the sounds of language,¹⁴ may well have exerted profound influences on Wilder. Especially known for his “Wort und Situationswitz,”¹⁵ the filmmaker not only played with the sounds as well as the meaning of words, but also was a staunch social critic,

11 Wittgenstein, p. 162. 12 Schübler, p. 87. 13 Pichler, p.15. 14 For an interesting article on the suggestion that Kraus’s timbre, alliteration and musicality in his readings might have influenced Schoenberg’s use of the “Sprechstimme,” see Friedrich Cerha, “Zur Interpretation der Sprechstimme in Schönbergs Pierrot lunaire.” For an outstanding example of Kraus’s emphasis on the sounds of language, I refer to a reading by Karl Kraus of “Die Raben” from “Die Letzten Tage der Menschheit.” 15 Schnauber, “Geist und Witz,” p. 3.

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quite unique in translating keen social criticism couched in humor into the medium of film, which will be examined in more detail below.

2 Contrasting Extremes and the Breakdown of Age-Old Traditions Closely related to the theme of language and the focus on the inadequacy of expression, and also difficult to separate from each other, are the second and third themes mentioned above, that of focusing on the polar extremes of morbidity vis-à-vis vitality and the criticism of outdated social norms laid bare in many of the turn-of-the-century writers, but by Arthur Schnitzler in particular. Schnitzler had scandalized the more conservative members of his society, who even dismissed his work as pornographic. As a result, the playwright attracted censorship, as in the case of his play Reigen, resulting in the forced curtailment of its run. In addition, Schnitzler attacked the hypocrisy of blind adherence to the frozen norms of title, station, codes of honor, and class distinctions. He often took the side of the lower class heroine, “das süsse Mädel,” in lieu of supporting the unfeeling, detached and dismissive love trysts of the higher echelon of society.¹⁶ Schnitzler, furthermore, executed many of his startling, psychological literary studies by means of interior monologues. Through this vehicle of narration, the characters reveal not only their own foibles, but lay bare those of their society as well. Fine examples of exposing the hidden thoughts of his characters through narration and interior monologues occur in Schnitzler’s masterful, stream-ofconsciousness narratives of the repressed and neurotic “Fräulein Else” and the seemingly arrogant yet severely insecure “Leutnant Gustl.” In“Fräulein Else” the protagonist’s lack of adjustment to her sexual coming of age as well as societal constraints, result in her suicide. In “Leutnant Gustl,” the main character is obsessed with suicide. Both characters, Fräulein Else and Leutnant Gustl, expose their shallow society and frozen mores, sometimes with humor and comedic effect, despite the serious subject matter and tragic implications. Billy Wilder wrote and/or directed over 120 films. I would like to draw on examples from 12 films for discussion, a mere handful in relation to his total oeuvre: 1) Ninotschka — (1939), 2) Five Graves to Cairo — (1943), 3) Double Indemnity — (1944), 4) A Foreign Affair — (1948), 5) Emperor Waltz — (1948), 6) Sunset Boulevard — (1950), 7) Stalag 17 — (1953), 8) Some Like it Hot — (1959), 9) The

16 I refer here to Schnitzler’s Liebelei, Anatol, and to many of his Meisternovellen.

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Apartment — (1960), 10) 0ne, Two, Three — (1961), 11) Irma La Douce — (1963), 12) The Private Life of Sherlock Holmes — (1970). In these films, one finds strong echoes and emulations, reflections, criticisms, parodies and even distortions of the themes prevalent in Fin-de-Siècle Vienna enumerated above. Influences on Wilder thus include the satiric tirades of Karl Kraus, and the soft-spoken, more elegant and graceful brush strokes of the poet Hofmannsthal. They also comprise the psychological studies that interpreted actions, neurotic paralyses, analyses of dreams and psyches by Sigmund Freud as well as the experimental, critical and shockingly frank, realistic and sometimes sexually provocative penning of the Viennese writer and dramatist, Arthur Schnitzler, whom Freud acknowledged as his own alter-ego.¹⁷ Wilder focuses on linguistic differences between English and German in Ninotschka (1939), A Foreign Affair (1948), The Emperor Waltz (1948), Stalag 17 (1953), and One, Two, Three (1961). Humorous plays on words and broken-down stock phrases are abundant in these films, such as the sexually charged “Salivation Army,” for “Salvation Army,” “Spick and also Span” for “spick and span,” “clean and cut” for “clean cut,” the snapping, growling sound of “R-r-raus, R-r-raus!” by the German commandant, the comical “Sprechen Sie Deutsch, then droppen Sie dead” of Stalag 17, and the poking fun at the German language and mannerisms that abound in One, Two, Three (“Sitzen machen”). One could argue that these films that deal with the clash between American and European culture are all the natural consequence of Wilder’s exile from the German-speaking world from 1933 on. Thus one could also assert that the word-plays and humor have nothing to do with Austria in general, nor with the Viennese Fin-de-Siècle in particular, but rather emphasize the focus on language and sounds that may seem amusing to one culture when confronted with another. In short, the verbal misunderstandings might be due to culture clashes.¹⁸ Of course, this interpretation is quite true, and one cannot deny the sensibilities of exile and the problem of cultural transmission via language in Wilder’s films. Often, however, these German/English cultural clashes also refer in some

17 For a discussion of points of comparison between Schnitzler and Freud, see Nehring, “Schnitzler: Freud’s Alter Ego?” 18 A prime example of such cleverly displayed linguistic misunderstandings laden with meaning is a scene with John Lund and Marlene Dietrich in A Foreign Affair. At the conclusion of the film, Lund attempts to take Dietrich into custody and will no longer accept her excuses, saying “No soap,” meaning “You cannot talk me into it. I will not accept your excuses.” Not understanding the meaning of the phrase “No soap,” Dietrich then responds, referring to the war-time situation and the long list of deprivations that she interprets had caused problems in the first place: “Yes, no soap, no cigarettes, no coffee […].”

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way to Austria and contain clear references to the country of Wilder’s origins, although they may surface out of context. One of the ill-fed POWs in Stalag 17, a German Nazi prison camp, for example, refers to grouse hunting in the Vienna Woods, and the camp itself, although involving German Nazi officers and American soldiers, takes place “somewhere on the Danube.” Also, Rommel in Five Graves to Cairo speaks with an exaggeratedly Austrian accent, very much like Hitler in tone and expression, although Rommel was thoroughly German. I would argue further that the focus on language as a vehicle for humor is a Viennese phenomenon, as is the attention Wilder pays to the sounds and expressions of German vis-à-vis English. Wilder’s general preoccupation with language in these films seems at times a specifically overt critique of his native country and its cultural icons and anti-heroes. Particularly referential to the Viennese Fin-de-siècle, of course, is the film entitled Emperor Waltz, an attack on the stuffiness of the empirical form of government and frozen social norms under Franz Josef. In The Emperor Waltz, Wilder buys into the acceptable and clichéd parts of Austrian culture,¹⁹ of course not without a certain irony. The film shows idyllic scenes with Alps in the background, Bing Crosby in “Lederhosen” and serenading “Yodler” and “Schuhplattler.” Yet we also find many scenes involving quite brazen critiques of Austria and the ridiculing of both the attention to breeding or lineage, and the dismissal of Freudian psychology in particular. For example, the Princess von Stolzenberg Stolzenberg, whom Bing Crosby courts, and who lives in Stolzenberg, Stolzenberg Castle in Stolzenberg Stolzenberg Square is not only Wilder poking fun at the comical sound of the name, but the name itself suggests pride to the third power, a triple emphasis on the word “Stolz.” With the addition of “von” to the name, the whole emphasis on aristocracy and lineage is put in its place and satirized. Particularly humorous is the scene in the same film that ridicules and parodies Freud’s theories and methods. Here Freud’s Interpretation of Dreams is alluded to by Princess Stolzenberg von Stolzenberg’s court physician, who employs Freudian methodology to alleviate tension and anxiety in an attempt to cure the nerves of the princess’s love-sick poodle: “I repeat: it is extremely important that the patient speak anything on her mind, anything at all. We need to concentrate on stream of consciousness, is that clear? (Poodle wimpers). “Now I would like to know all about your dreams. You dream, I presume?” (Dog wimpers). (Dr. continues:) “All right. Now what do you dream? (Wimpering) “Is it a recurring dream?” (Doctor takes notes and continues): “Very good. It is a typical anxiety dream. […] This is a very curious case. A typical one of psycho-neurosis, sometimes referred to as a neuro-

19 Gmünden, p. 23.

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psychosis. Fortunately I went to the University of Vienna with a young doctor by the name of Freud. He has created the curative method, the analysis of the psyche by delving into the subconscious. Now I must ask you for your earliest recollections: (about) your father and mother. Was your home life congenial?” (Dog thrashes and whimpers agitatedly). […] “The patient has obviously developed what I and my colleague Dr. Freud have called a mental block.”

One might expect allusions to Freud and a satire of his methods in a period piece such as The Emperor Waltz. However, such allusions are far less expected in a scene from Some Like It Hot, where references to Freud and the obvious familiarity with his methods — as demonstrated by both Marilyn Monroe, a common female musician with a penchant for “booze” and a desire for wealth, and by Tony Curtis, a destitute, common, dance-hall musician posing as a female band member, disguised as a millionaire — appear out of place. Both characters are completely uneducated and unsophisticated; neither of them knows the difference between a herring and a swordfish, yet both are well informed as to Freud and his school. Marilyn Monroe, pointing to a huge fish trophy (approximately 5 feet in length) hanging above Tony Curtis, feigning to be a rich, educated bachelor: “What is it?” “It’s a member of the herring family.” “The herring family?” Isn’t it amazing how they get those big fish into those little jars?” “They shrink when they are marinated. Champagne?” […] “You should see a doctor, a good doctor.” “I have. I spent 6 months in Vienna with Dr. Freud, flat on my back. […] If I wasn’t such a coward, I would kill myself. […].” “Would you do me a favor? I may not be Dr. Freud, […] but could I take another crack at it?” (Tries to kiss him).

3 Memento Mori, Narrative Structures, Chambres Separées, the Failed Marschallin Norma Desmond, and a Detective Turned Difficult Man Within the scope of this essay I cannot do justice to a filmmaker who was so prolific. Thus, I would now like to focus on some of the more subtle influences of the Viennese Fin-de-Siècle on Wilder: first, the frequently employed literary device of Memento Mori, morbidity coupled with “Lebenslust”; second, the Schnitzlerlike narrative structures, such as the technique of stream of consciousness, which expose the inner life of characters as well as the society in which they move; and third, the focus on sexual trysts and social strata, the movement of characters within “Chambres separées,” transformed in Wilder’s imagination into city apart-

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ments. Lastly, I will turn to the particular influence of Gustav Klimt and Hugo von Hofmannsthal, the former subtly hinted at in Sunset Boulevard and the latter as suggested in Wilder’s version of the melancholy, cryptic and xenophobic Hofmannsthalian “difficult man,” transformed into Sherlock Holmes in The Private Life of Sherlock Holmes. Morbidity, as exemplified in the literary device of Memento Mori, a literary device inherited from the Baroque and often highlighted as an essential ingredient of Fin-de-siècle literary fare, appears quite unexpectedly in many Wilder films. The scenes that demonstrate the juxtaposition of the humorous and the morbid are far too numerous to list here. Noteworthy incidents emerge in The Apartment, when Shirley MacLaine relates that she had her first kiss in a cemetery. In another scene, Lemmon’s neighbor, a medical doctor, wrongly surmises that Lemmon has a constant run of sexual encounters with various women he brings home. While joking about Lemmon’s sexual prowess, the doctor also suggests in the same breath that Lemmon donate his body to the good doctor’s university hospital for post-mortem examination when he dies, warning him, “At the rate you’re going, that’ll be very soon.” In yet another example of Memento Mori, in the film, Ninotschka, Mervyn Douglas reprimands Greta Garbo for being so serious and fixated on death: “Oh death, death, always so glum. What about life, Ninotschka, do Russians never think about life, about the moment in which we are living? The only moment we ever really have. Oh Ninotschka, don’t take things so seriously, nothing’s worth it.” Further, in Some Like It Hot, Tony Curtis tries to seduce Marilyn Monroe by telling her the fabricated tragic demise of a past love. In a quasi-amorous scene, Sherlock Holmes in the film The Private Life of Sherlock Holmes relates the story of the fatal death of a past lover who ingested cyanide. As a final example, the words of the narrator at the commencement of the film, Irma La Douce poignantly juxtapose humor and morbidity. After three comic episodes showing the prostitute Irma La Douce preying on the naiveté of her clients with her fake tales of woe, the film finally begins with a very jolly musical accompaniment to what most assuredly promises to be a comedy. Yet, the words of a narrator against the musical background immediately link the gaiety of Parisian life and Maxim’s with the morbid thought of suicide in one and the same breath (italics mine): This then is the story of Irma La Douce, the story of passion, bloodshed, desire, and death, everything in fact that makes life worth living. The place is Paris, the time is 5 o’clock in the morning. You may have read in travel folders that Paris is a city that never sleeps. Don’t you believe it. At this time of the day there is nothing doing […]. If you want a nightcap at Maxim’s, it’s too late. It’s been closed for hours. If you want to jump off the Eifel Tower, it’s too early. It won’t be open for hours.

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Closely related to Wilder’s playfulness with language as a vehicle for critique is his predilection for narrative technique in general, a stylistic device usually unsuited and unnecessary for the medium of film, but nevertheless used repeatedly by Wilder, in at least eight of the twelve films selected for reference above. Wilder’s use of a narrator to introduce his film-stories is quite unusual for filmmaking, and his narrators, who most frequently double as one of the characters of the drama proper, demonstrate his indebtedness to a narrative tradition and the great variety of narrative styles at his disposal, from standard narrative introductions to more sophisticated insights by way of almost Schnitzlerian stream of consciousness. In Five Graves to Cairo, for example, Franchot Tone, the English captain, relates in a delirium what happened up to that point, before any other dialogue occurs in the film. Furthermore, Wilder’s narrators are not the runof-the-mill chroniclers who dryly and impartially relate a story to the audience. The narrator of Stalag 17, for example, is also one of the POWS, but more significantly, he is a stutterer, whose words sometimes impede the narration rather than help it along. The narrator of Double Indemnity is a fatally shot man with only a short time to live. The narrator in Sunset Boulevard is also somewhat perplexing, a dead man floating in a swimming pool. These narrators usually are given dramatic monologues, which reveal their private thoughts and inner character, and make them akin to Schnitzler’s “Fräulein Else” or “Leutnant Gustl.” They expose their own weaknesses as well as the foibles in the society around them, such as Fred MacMurray in Double Indemnity, William Holden in Sunset Boulevard or Gil Stratton, as in this quote from Stalag 17: Now my name is Clarence Harvey Cook. They call me Cookie. I was shot down above Magdeburg, Germany back in 43. That’s why I stammer every once in a while, especially when I get excited. I spent two and a half years in Stalag 17. Stalag is the German word for prison. Number 17 was somewhere on the Danube.

Perhaps attributing Wilder’s narrative technique to the influence of Schnitzler may seem somewhat of a stretch due to the differences in genre. Yet I would argue that it is possible to view Wilder’s The Apartment as a Hollywood version of a Schnitzlerian mise-en-scene. The chambre separée turns into an apartment that Jack Lemmon’s colleagues may use for cheap, meaningless trysts, similar to most of those amusing but empty sexual encounters exposed in Reigen or Anatol. In Wilder’s film, as in Schnitzler’s literary works, the sympathy moves away from the callous seducer and instead, to the victim of harassment herself. Indeed, Baxter’s (Jack Lemmon’s) love interest, the alluringly simple, illiterate, and betrayed elevator girl, Miss Kubelick (Shirley MacLaine), seems hauntingly familiar to readers of Schnitzler. Viewers can perhaps see her as a Hollywood variation of Liebelei’s innocent Christine, or the myriad other süsse Mädel types among Schnitzler’s

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heroines. The following scene of an Abschied Souper, Hollywood style, demonstrates the similarities most poignantly: MacLaine: “Look Geoff. We had two wonderful months together. That was it. Happens all the time. Wife and kids go away to the country and the boss has a fling with his secretary, or the manicurist or the elevator girl. Come September the picnic’s over. […] The kids go back to school, the boss goes back to his wife, and the girl […] (grimaces with a pained expression, and changes the subject): “They don’t make these shrimp like they used to” […]. MacMurray: “[…] Oh, I have a present for you. I didn’t quite know what to get you. Besides, it’s kind of awkward to be shopping, so, uh, here’s a hundred dollars. You go and buy yourself something now. They have some nice alligator bags at Birklers.” She removes her gloves and begins to take off her jacket. He turns and says, “Look Fran, I didn’t realize it was so late. I am going to miss my train. If we hadn’t wasted all this time […]. I have to get home to trim the tree.” MacLaine: “Okay, I just thought as long as it was paid for […].” MacMurray: “Don’t ever talk like that, Fran. Don’t make yourself out to be cheap.” MacLaine: “A hundred dollars? I don’t call that cheap. And you must be paying somebody something for the use of the apartment.” MacMurray: “Stop it, Fran.”

The most striking evidence of Wilder’s flirtation with the atmosphere of the Viennese Fin-de-siècle surfaces in the film Sunset Boulevard, and particularly in The Private Life of Sherlock Holmes. In Sunset Boulevard the classic example of the Hollywood version of the difficult problem of language and expression arises. The narrator, William Holden, is a hack writer who has writer’s block and cannot manage to write anything of value. He is a younger man, a reluctant Octavian, who is forced to remain with a much older woman. Unlike Hofmannsthal’s Marschallin in Der Rosenkavalier, Swanson refuses to let go, refuses to resign herself to the fact that “Eine Sache ein Ende hat.” As long as there were silent films, films without words, Gloria Swanson’s character, Norma Talmadge, a filmstar, was at the height of her interpretive, artistic and communicative powers. But with the advent of talkies, and her inability to adapt to language, as well as with her aging, she has been doomed to be forgotten and overlooked. Like Schoenberg’s Moses whose tongue is “ungelenk,” Hofmannsthal’s Lord Chandos in his famous letter, or Hans Karl in Der Schwierige, Norma Talmadge has the following monologue about the negative value of words, of language in general, as she mentions disparaging, dead-end images of a “last gurgle” and a “swollen tongue” (emphases mine):

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Holden: “You’re Norma Desmond. You used to be in silent pictures. You used to be big.” Swanson: “I AM big. It’s the pictures that got small.” Holden: “I knew there was something wrong […].” Swanson: “They’re dead. They’re finished. There was a time in this business when they had the eyes of the whole wide world. But that wasn’t good enough for them. Hooooooh no. They had to have the ears of the world, too. So they opened their big mouths and out came talk. Talk! Talk!” Holden: “That’s where the popcorn business comes in. Buy yourself a bag and plug up your ears.” Swanson: “Look at them in the front offices. The masterminds. They took the idols and smashed them.” Holden: “I’m not an executive, just a writer.” Swanson: “You are, writing words, words and more words. But you made a rope of words and strangled this business. But there’s a microphone there to catch the last gurgle. And Technicolor to photograph the last swollen tongue.”

In response to her frustration, Norma Talmadge plans her comeback with the role of Salome. She stares triumphantly at William Holden and assumes an almost Klimt-like pose that is at once similar both to Klimt’s golden portrait of Adele Bloch-Bauer clasping her hands to her chest (due to the crooked finger Adele was ashamed of), and, more importantly, to Klimt’s Judith II (subtitled Salome by art historians), with her claw-like hands. The pose is also hauntingly reminiscent of Klimt’s painting of Salome with her ghastly, triumphant gaze while grasping the head of John the Baptist. Furthermore, when Swanson discusses her planned comeback in the role of Salome, her Klimtian facade is visually unmistakable when viewing the film, but inadequate when Holden describes it in words: Holden: “And you’ll play Salome?” Swanson: “Who else?” Holden. “Only asking. I didn’t know you were planning a comeback.” Swanson: “I hate that word. It’s return.” Holden: “She sat coiled up like a watch spring, her cigarette clenched in a curious holder. I could sense her eyes on me from behind those dark glasses, defying me not to like what I read. Or maybe begging me in her own proud way to like it. It meant so much to her.”

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Finally, the film most indebted to Hugo von Hofmannsthal, albeit in a distorted way, entailing the most subtle and fascinating character of Wilder’s films, is Wilder’s The Private Life of Sherlock Holmes. Hofmannsthal’s name also appears in the dialogue with which I wish to conclude this essay. Not only are the antagonistic aids to the villainess (who remains unidentified until the end) dismissed as insignificant circus people from Vienna (perhaps an allusion to Hans Karl’s seeking out the circus juggler, Furlani in Hofmannsthal’s Der Schwierige), but Sherlock Holmes’ fastidious, xenophobic nature is strangely reminiscent of Hans Karl as well. The following scene reveals Holmes’s ennui, the neatness of his desk, and ordered book cases: Holmes: “My dear friend as well as my dear doctor: I only resort to narcotics when I am suffering from acute boredom, when there are no interesting cases to engage my mind.” […] “Mrs. Hudson! Mrs. Hudson!” Hudson: “Yes, what is it? What have I done now?” Holmes: “There is something missing from my desk!” Hudson: “Missing? What?” Holmes: “Something very crucial. Dust. You’ve been tidying up. Against my specific orders.” Hudson: “Now, look. I made sure I didn’t disturb anything.” Holmes: “Dust, Mrs. Hudson is an essential part of my filing system. By the thickness of it I can date any document immediately.” Hudson: “But some of the dust was this thick!” (Holds her fingers about 3 inches apart). Holmes: “That would be March, 1883.”

There follow scenes that call language and communication into question, when the extremely talkative Watson contrasts with the evildoers, who have taken a vow of silence. At the end of the scene, the roles are reversed. While Watson is asleep, it is the monks, who suddenly speak, in a language that Watson cannot understand, — nor can the movie-goer:

(Monk gestures to him that he cannot speak.) “Oh, forgive me, you must be one of those orders that’s taken the vow of silence? Trappists I think you’re called.” (Monk just reads silently, not paying attention to him). When Watson is asleep, one monk gets up and speaks to another in German:

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“Die Spuren führen nach Inverness. Dort steigen die aus. Dort müssen wir auch aussteigen und ihn finden […].”

The most convincing scene, possibly a parody of the original Hofmannsthalian material, is the scene when Holmes discloses that he knows who the villain is, and uncovers the mastermind of the criminal plot. The “disclosure” occurs in the closing scenes of the film. The ultimate confrontation, replete with irony and humor, once again shows the inadequacy of language, the inability of communication between cultures. Until the conclusion, Holmes and his female adversary rarely speak the same language. Furthermore, she communicates by opening and closing her parasol, effecting Morse code sign language. Like Hofmannsthal’s Hans Karl who withdraws from society by indulging his whim to attend a circus rather than go to a soirée, Holmes often escapes societal pressures by indulging his habit of cocaine, particularly at times when he becomes entangled in a potential alliance. But it is Holmes’ somewhat ambivalent love-interest, the spy lady who completely bamboozles him and who rarely speaks, and the Trappist monks, who never speak, and who move about the landscape receiving morse-code messages by means of her parasol, who remind us, albeit in a completely novel and distorted way, perhaps even as caricatures, of the preferences for silence and expressionless modes of communication so prevalent in the Viennese Fin-de-Siècle. I would like to conclude this essay with the closing scene from The Private Life of Sherlock Holmes in which Holmes finally reveals the spy’s identity. She is the foe who causes Holmes to withdraw from the world and turn again to drugs in despair over both his loss of the woman, but more importantly, over his own lack of action. Perhaps Wilder was merely playing with the humor of the sound of the spy’s name, rather than referring to the illustrious name of the real person her name represents. Still, I would like to think that the homage to the silent and tight-lipped monks, and Holmes’s finally revealing the spy’s identity in the closing scene suggest not only Wilder’s indebtedness to the ideas of the inadequacy of language and verbal communication so typical of the Viennese Fin-deSiècle, where “the word beyond speech was on everyone’s tongue,” but also his indebtedness to Hugo von Hofmannsthal in particular, most startlingly revealed in the following sequences: Holmes: “Sorry about that, but as long as you’re up, what is the German word for castle. Schloss, isn’t it?” Spy: “I think so.” Holmes: “How would you say, ‘Under the castle?’ Is it ‘das Schloss’ or ‘die Schloss?’”

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Spy: “I don’t know. My German is not that good.” Holmes: “Your trappist friends are waiting outside to hear from you. It’s a chilly morning. We don’t want to keep them standing around too long, do we, (pause) Fräulein Hofmannsthal?” She looks down, embarrassed, and Holmes continues: “Come now, it’s too late to play cat and mouse with me.” Spy: “Unter dem Schloss.” Holmes: “Thank you.” (He takes her umbrella, which has been the way she communicates, silently, by opening and closing it in morse code, and hands it to her. She refuses.) Holmes: “Then I shall just have to do it myself. I only hope my morse code is adequate to the occasion [...]. It’s up to the good monks, now. You can consider your part of the mission accomplished, Fräulein Hofmannsthal.” Spy: “You’re all wrong about me. My name is not Hofmannsthal.” Holmes: “It isn’t?” Spy: “It’s VON Hofmannsthal.”

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Satire, Polemik und Politik

Teut Deese

Der Satiriker in der Krise Erich Kästners Fabian¹

Die Debatte um Kästners Fabian In seinem Essay „Linke Melancholie?“ untersucht Walter Delabar den Umstand, dass „die germanistische Rezeption“ von Kästners Fabian „in einem merkwürdigen Gegensatz zur Wertschätzung [steht], die ihm im breiteren Publikum entgegengebracht wird“ (77). Der Titel seines Aufsatzes nimmt dabei Bezug auf Walter Benjamins 1931 veröffentlichte Rezension „Linke Melancholie. Zu Erich Kästners neuem Gedichtbuch.“ Dort wirft Benjamin Kästner vor, seine politische Arbeit erschöpfe sich in der „Umsetzung revolutionärer Reflexe, soweit sie am Bürgertum auftraten, in Gegenstände der Zerstreuung [...], die sich dem Konsum zuführen ließen“ (182). „Nie“, so heißt es weiter, habe man „in einer ungemütlichen Situation sich‘s gemütlicher eingerichtet“ (183). Der „linke Radikalismus“ Kästners sei „genau diejenige Haltung, der überhaupt keine politische Haltung mehr entspricht“ (183), denn er stehe „links nicht von dieser oder jener Richtung, sondern ganz einfach links vom Möglichen überhaupt“ (183). Sein Werk sei von „Süffisanz“ und „Fatalismus“ (184) gezeichnet, anstatt „Besinnung und Tat“ (184) zu inspirieren. Benjamins Verriss gibt den Ton an für die künftige Rezeption Kästners durch ein breites Spektrum der germanistischen Forschung. Alice Rühle-Gerstel etwa, die den Fabian 1931 für die Literarische Welt rezensiert, beklagt die „Ratlosigkeit“ (5) und „trübe Logik“ des Protagonisten sowie die hoffnungslose Negativität des Kästnerschen Sittengemäldes: „Das Ganze ist so trist und trüb, daß Kästners Geist, Witz, Ironie und tiefere Bedeutung nicht recht durchdringen kann“ (5). Helmut Lethen nimmt Benjamins Argumentation knapp vierzig Jahre später in seinem Buch Neue Sachlichkeit 1924–1932 wieder auf: Im Fabian werde „ein Intellektueller gezeigt, der jenseits jedes organisatorischen Zusammenhangs steht und dem sich von dieser Position die Klassenkämpfe in theoretische Standpunkte entspannen, die es zu zensieren gilt“ (143). Der Protagonist des Buches

1 Eine längere Fassung dieses Beitrags war ein Kapitel meiner Dissertation unter der Leitung von Wolfgang Nehring. Vgl. „Neue Sachlichkeit zwischen Satire und Sentimentalität.“ Diss. University of California, Los Angeles 2006.

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versuche durch die „bequeme Ausbeutung einer unterstellten anthropologischen Invarianz“ (144), sowie dadurch, dass er seinem Diskussionsgegner abstrakte Utopien unterstelle, jegliche konstruktiven Alternativen des politischen Wandels zu sabotieren und seine eigene Tatenlosigkeit zu legitimieren. Diese Tatenlosigkeit des Protagonisten konstatieren indes auch tendenziell positive Rezensionen, wenngleich sie ihr Verständnis entgegenbringen. Rudolf Arnheim etwa führt an, dass Kästner eben „von temperamentswegen kein Umstürzler“ [sei], doch „Erklären und Aufzeigen“ brächten ja „den wichtigen Auftakt zum Umsturz“ (788). Sein Protagonist Fabian sei darüber hinaus „zu klarsichtig [...] um gegen die mächtigen Instanzen der Dummheit anzurennen“ (789). Egon Schwarz dagegen rechtfertigt Fabians Haltung, indem er sie als Produkt gesellschaftlicher Zwänge interpretiert: Moral ist Sache des Individuums. Wenn aber das Leben unter der Fuchtel nicht-individueller Gewalten steht, dann gerät die vernünftige Moral mit der Unvernunft der Notwendigkeiten in Konflikt. Fabians Tod beweist, daß moralisch handeln in einer von unpersönlichen Gesetzen regierten Welt buchstäblich zum Untergang führt. (256)

Seine einzige Kritik des Romans gilt dessen übergroßer Deutlichkeit, dem Umstand, dass seine Grundmotive ad nauseam wiederholt werden, wobei der imaginäre Spielraum des Lesers zu stark eingeschränkt werde. Während Schwarz Fabians und Kästners Standpunkte als nahezu identisch ansieht und den Protagonisten als „Abbild“ (249) des Autors deutet, ohne dabei deren Haltung zu verurteilen, beschreitet Dirk Walter einen anderen Weg zu einem grundsätzlich affirmativen Urteil über den Roman. Walter sieht Fabian zwar als vom Autor geschaffene Identifikationsfigur, zeigt jedoch, dass der fatalistische Pessimismus des Protagonisten nicht der des Autors ist. Der nämlich beabsichtige sehr wohl jene Erziehung des Menschen, die Fabian von vornherein als sinnlos erklärt; er wirke durch sein Werk, er handle, indem er schreibe. Kästner teile zwar die moralische Bewertung des jeweiligen Betrachtungsgegenstands, der Pessimismus seines Unhelden zähle jedoch „eher zum didaktischen Reservoir der Schockmittel, als daß er als das unumstößlich Wahre zu begreifen wäre“ (244); daher seien Lethens bzw. Benjamins Thesen zurückzuweisen. Neben anderen Kritikpunkten, auf die im Folgenden noch separat eingegangen werden soll, kreist die Debatte über den Fabian hauptsächlich um die Handlungslosigkeit des Protagonisten beziehungsweise die Art und Weise, wie dieser sein Verhalten zu legitimieren sucht, sowie um die Beurteilung dieses Verhaltens durch den Autor und dessen daraus ableitbare Gesinnung. Keine dieser Arbeiten untersucht den Fabian dabei unter dem Aspekt, dass es sich um eine Satire handelt, die als solche bestimmte Strukturmerkmale aufweist, welche sinnfällig

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werden, wenn man sie in ihrem Traditionszusammenhang betrachtet. Sowohl die geläufigen Urteile über den Fabian als auch die Bibliographien der verschiedenen Arbeiten zeugen davon, dass man sich nur begrenzt mit dem Wesen der Satire auseinandergesetzt hat. So ist es beispielsweise müßig, die ausschließlich negative Weltsicht Kästners zu beanstanden. Der Geist der Satire ist grundsätzlich ein verneinender, „der die Welt aufsucht mit dem Entschluß, sie nicht nur als die fragwürdige, sondern als die fraglos unwürdige zu erfahren.“² Die „übertriebene Darstellung negativer Tatsachen“³ dient der Provokation, mittels derer sich der Satiriker Gehör verschaffen will. Auch wer, wie Schwarz, die übergroße Deutlichkeit des Romans, seine „Tendenz, alle Grundmotive in vielfachen Wiederholungen stets von neuem zu variieren“ (254) moniert, verkennt das Bauprinzip der Satire, welches in der Häufung und der Reihung des immer Gleichen besteht. Daher gibt es im satirischen Roman meist auch keine wirkliche Progression der Handlung, denn der Satiriker ist „an jedem Punkt seiner Bewegung bereits am Ziel,“⁴ und „das Ganze ist nie mehr als die Summe seiner Teile.“⁵ Manche Interpreten, wie Dirk Walter und Kurt Beutler, haben den Fabian in Anlehnung an die in Kaysers Das sprachliche Kunstwerk aufgestellten Kategorien als „Raumroman“ bezeichnet. Als Charakteristika dieses Typus werden bei-

2 Wölfel, S. 87. 3 Kästner, Gesammelte Schriften für Erwachsene, S. 119. 4 Wölfel, S. 94. 5 Wölfels Ausführungen zur Satire, denen ich hier folge, überschreiten oft die Grenzen des NurDeskriptiven, wofür er in der Forschung, so von Arntzen und Brummack, auch kritisiert wird. Brummack beispielsweise wirft ihm vor, nur die historische Form der menippischen Satire zu beschreiben und seine Ergebnisse dann zu verallgemeinern. Zu seiner Verteidigung ist Verschiedenes anzuführen. Zunächst ist es seinen Kritikern offensichtlich entgangen, dass Wölfel in „Epische Welt und satirische Welt“ selbst mit satirischen Gestaltungsmitteln arbeitet: Er übertreibt, generalisiert, spitzt zu und bedient sich einer Vielzahl pointierter Formulierungen. So vermag er allerdings auch, die dargestellten Phänomene treffender und überzeugender zu beschreiben, als es anderen deutschen Literaturwissenschaftlern bislang gelungen ist. In dieser Hinsicht steht Wölfel der angloamerikanischen Satireforschung nahe. Auch dort, zum Beispiel bei Kernan, Feinberg und Elliot, wird normativ argumentiert. Doch ebenso wie viele Satiriker ihrem Werk eine Apologia voranstellen, in der sie ihren Wirklichkeitsbezug sowie ihren moralischen Zweck betonen, rechtfertigen auch besagte Satireforscher ihr normatives Vorgehen, indem sie immer wieder die Unmöglichkeit einer Satiredefinition postulieren und das Rein-Deskriptive ihres Vorgehens beteuern. Wölfel verzichtet zwar auf solch eine Rechtfertigung, impliziert indes am Schluss seines Aufsatzes, dass sich seine Ausführungen vorrangig auf die deutsche Satire bis Ende des achtzehnten Jahrhunderts beziehen und schränkt so ihren Geltungsbereich ein. Allerdings treffen seine Urteile in ganz besonderem Maße auch auf den Fabian zu, weshalb ich ihn hier mehrfach zitiere. Vgl. Wölfel, S. 94.

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spielsweise die Entwicklungslosigkeit der Zentralfigur sowie ihre vergleichsweise geringe Individualität zitiert. Doch weder Beutler noch Walter scheinen zu erkennen, dass eben diese Merkmale für die Satire nicht nur typisch, sondern geradezu konstitutiv sind, worauf im Folgenden noch näher eingegangen werden soll. Immer wieder stellt es die Forschung so dar, als hätte Kästner quasi beliebige Inhalte in eine satirische Form gegossen, während tatsächlich das Umgekehrte der Fall ist: Die Darstellungsart der Satire bedingt bestimmte inhaltliche Topoi sowie eine spezifische Art der Darstellung. So spricht Delabar vom „in die Satire gepackte[n] Moralismus Kästners“ (78) und verkennt, dass eben dieser Moralismus schon Movens und notwendiges Merkmal des satirischen Angriffs ist. Lethen führt an, dass der „Anspruch auf ‚Satire‘ [...] die letzte Selbstmächtigkeit des Autors in einem formalen Aspekt verbürgen [sollte]“, letztlich aber nur „blindlings die Verunstaltungen der gesellschaftlichen Prozesse durch das Bewußtsein des Autors“ (155) reproduzierte. Walter erwägt zwar, ob Kästners Neigung zur Übertreibung und das daraus resultierende vereinfachte Menschenbild der satirischen Verfahrensweise zugerechnet werden müsse, relativiert diese Erkenntnis jedoch, wenn er, ohne konkrete Textbeispiele anzuführen, behauptet, dass „der Satiriker [Kästner] das vorgegebene Instrumentarium zu grob“ (249) handhabe. Ferner wird „die starke didaktische Tendenz“ (247) des Romans bemängelt, der Umstand, dass Kästner „seinen moraldidaktischen Intentionen zu viel Freilauf gestattet“ (246). Das Werk, so Walther, „tendiert zum Thesenroman“ (247). Doch auch das ergibt sich, ebenso wie die Konstruiertheit der Handlung, vorrangig aus dem Wesen der von Kästner gewählten Operation und nicht aus seinem schriftstellerischen Unvermögen: Die epischen Grundformen der Satire sind die Beschreibung und vor allem die Rede. Ihre didaktische Tendenz ist ihr Mittel zum Zweck. Der Satiriker ist dabei ein Schulmeister, der den Anderen mit Beharrlichkeit ihre Fehler vorwirft. Er hat, wie Wölfel geistreich feststellt, „an beiden Händen nur lauter Zeigefinger“ (90). „Jede Szene“ macht er „zum Tribunal, jeden Standort zur Kanzel“ (90). Er will die Menschen belehren, wenn er auch kaum an ihre Belehrbarkeit glaubt. So darf in der Satire auch niemals eine Wandlung zum Besseren stattfinden, das widerspräche ihren strukturellen Erfordernissen.

1 Fabian-Kästners satirische Krisenrhetorik Eines der eminenten Paradoxe der Gattung ist, dass ihre didaktische Absicht zwar in der Durchbrechung des immer wieder behaupteten circulus vituosus liegt, sie diesen jedoch innerhalb der satirischen Darstellung mit allen Mitteln zu perpetuieren sucht. Mit eben diesem Umstand setzt sich Michael Seidel in seinem SwiftAufsatz „Crisis Rhetoric and Satiric Power“ auseinander. Seine Prämisse besagt,

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dass die gestalterische Norm der Satire in der Darstellung eines andauernden und unaufgelösten Krisenzustandes besteht, sei es, dass dieser Zustand tatsächlich existiert oder lediglich der pessimistischen Optik des Satirikers entspringt. Entsprechend desolat ist auch die im Fabian dargestellte Welt, in der sich sämtliche Lebensbereiche in Auflösung befinden. Das Normwidrige wird zur Norm: Wer moralisch handelt, landet im Irrenhaus oder geht sprichwörtlich unter, während die Lasterhaften nicht bloß überleben, sondern gedeihen. Der berufliche und private Niedergang des Protagonisten korrespondiert dabei mit der wirtschaftlichen und moralischen Krise der Republik, die ihn weitgehend bedingt. Dabei wird augenfällig, dass „satire sets a scene in which the measure of decisiveness in crisis is frustrated and the opportunity for resolution virtually nil“ (Seidel, 166). „Die Krise nimmt kein Ende“ (62), konstatiert Fabian, und nähme sie eines, wäre der Satiriker arbeitslos. Daraus ergibt sich der Widerspruch zwischen didaktischer Absicht und formaler Notwendigkeit der Satire: Einerseits ist es ihr Anliegen, durch übertriebene Negativdarstellung Missstände zu verdeutlichen und so den als Basis für gesellschaftlichen Fortschritt notwendigen Gesinnungswandel herbeizuführen. Andererseits ist es ihr Gattungsmerkmal, dass der Plot eine Auflösung zum Positiven hin nicht zulässt; folglich sind sämtliche potentiell konstruktiven Verhaltensalternativen von vorneherein dazu verurteilt, an der Sinnlosigkeit der Welt und der Schlechtigkeit der Menschen zu scheitern. In dem Maße, wie der Krisenstatus für die Satire konstitutiv ist, wird seine Aufhebung innerhalb der Romanfiktion konsequent hintertrieben. Die satirische Ironie besteht dabei unter anderem darin, dass „satiric action prolongs crisis at the very time that the action mocked or parodied would or could, in other circumstances and in other literary modes, resolve it“ (Seidel, 166). Der Satiriker — und damit ist, gemäß Kernans Definition⁶, sowohl der Erzähler als auch seine satirische Hauptfigur gemeint — findet sich daher in einer paradoxen Lage: Um sowohl die Glaubwürdigkeit seines Weltverbesserertums als auch den Fortgang des satirischen Geschehens zu gewährleisten, muss er seine ganze Eloquenz darauf verwenden, das eigene Nicht-Handeln plausibel zu machen und die Aktionen der übrigen Figuren argumentativ zu torpedieren.

6 Kernans in The Cankered Muse entwickelte Satiretheorie konzentriert sich auf die Kategorien “plot”, “scene” und “satirist”. Letzteren definiert er als diejenige Figur, die innerhalb des fiktionalen Geschehens der formalen Satire (im Gegensatz zur Menippeischen Satire, wo nicht der „satirist“, sondern die „scene“ im Vordergrund steht) den satirischen Angriff ausführt. Mit dieser Definition will Kernan der immer noch weitverbreiteten Tendenz entgegenwirken, den Protagonisten der Satire kurzerhand mit ihrem Autor zu identifizieren, was ja auch ein Problem der Fabian-Rezeption ist.

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Seidel erwähnt verschiedene rhetorische Figuren, derer sich Politiker in Krisenzeiten bedienen, um Machtlosigkeit oder Unvermögen zu bemänteln. Die Satire nimmt diese Argumentationsstrategien nicht bloß ironisch aufs Korn, sondern macht sie sich — so verstehe ich Seidel — gleichsam zu eigen, da sie ihrer strukturell bedarf, um die genrewidrige Auflösung des Plots zu vermeiden. Mehrere dieser Strategien sind auch im Fabian anzutreffen. Fabians Portrait des lasterhaften Berlin im Gespräch mit Cornelia (99) sowie seine ständigen Lamentationen über die Schlechtigkeit und Ungerechtigkeit der Welt dürften beispielsweise der „rhetoric of tirade“ zuzurechnen sein. Auch mit der „rhetoric of deferral“ steht Fabian auf vertrautem Fuß. „Ich sehe zu und warte. Ich warte auf den Sieg der Anständigkeit, dann könnte ich mich zur Verfügung stellen“ (100) erklärt er im Gespräch mit Labude. An anderer Stelle heißt es entsprechend: Ich möchte helfen, die Menschen anständig und vernünftig zu machen. Vorläufig bin ich damit beschäftigt, sie auf ihre diesbezügliche Eignung hin anzuschauen. (54)

Ebenso geschickt beherrscht Fabian die „rhetoric of resignation“, die Strategie des stoischen Rückzugs: Ich kann vieles und will nichts. Wozu soll ich vorwärtskommen? Wofür und wogegen? Nehmen wir wirklich einmal an, ich sei der Träger einer Funktion. Wo ist das System, in dem ich vorwärts kommen kann? Es ist nichts da und nichts hat Sinn. (53)

Es gibt darüber hinaus noch eine weitere Strategie, die Seidel nicht erwähnt, in der das Wesen der Satire beziehungsweise das ihr zugrunde liegende Argumentationsmuster aber besonders deutlich zum Vorschein kommt: Die Rhetorik des Catch 22⁷. Kästner-Fabian ist Meister dieser rhetorischen Strategie, die, unter dem euphemistischen Etikett der „Antinomie“ gehandelt, die Debatten des Romans bestimmt. Hauptgegenstand der Diskussionen zwischen Fabian und Labude ist die Frage nach der Reformierbarkeit der gesellschaftlichen Verhältnisse. Labude glaubt daran, dass die Menschen durch einen Wandel der Machtverhältnisse zu ändern sind: „Erst muss man das System vernünftig gestalten, dann werden sich die Menschen anpassen“ (54). Ihm schwebt dabei ein Rousseausches Gesellschaftsmodell vor, das mehr oder weniger auf gesundem Menschenverstand und der Zurücknahme von Einzelinteressen zu Gunsten der Allgemeinheit basiert.

7 Der Begriff „Catch 22“, zum Schlagwort geworden durch Joseph Hellers 1961 erschienenen gleichnamigen Satireroman, bezeichnet die Konstruktion eines Scheindilemmas mittels zirkulärer Logik.

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Die politische und wirtschaftliche Krise soll gebannt werden „durch freiwillige Kürzung des privaten Profits, durch Zurückschraubung des Kapitalismus und der Technik auf ihre vernünftigen Maße, durch Steigerung der sozialen Leistungen, durch kulturelle Vertiefung der Erziehung und des Unterrichts“ (79). Fabian jedoch hält das Konzept seines Freundes für eine Utopie. „Noch in deinem Paradies werden sie sich die Fresse vollhauen! Davon abgesehen, daß es nie zustande kommen wird“ (54). Ähnlich skeptisch äußert er sich im Gespräch mit dem im Straßenkampf verletzten Kommunisten: „Aber mein Herr, auch wenn sie an die Macht kommen, werden die Ideale der Menschen im Verborgenen sitzen und weiterweinen“ (66). Fabian bezweifelt, „daß sich Vernunft und Macht jemals heiraten werden“ (80), und glaubt nicht an die Verwirklichung politischer Reformen ohne eine vorherige Wandlung des Individuums. „Was nützt das göttlichste System, solange der Mensch ein Schwein ist?“ (80) Doch auch die Erziehung des Menschen zur Vernunft, die er ja anzustreben vorgibt, wird sogleich wieder von ihm verworfen, denn „Vernunft könne man nur einer beschränkten Zahl von Menschen beibringen, und die sei schon vernünftig“ (157). Eben das ist aber die Rhetorik des Catch 22. Und wenn ihre Scheinlogik auch auf zweifelhaften Prämissen beruht, ist sie auf Grund ihrer Zirkularität doch schwer angreifbar. Der Sinn- oder Wahrheitsgehalt dieser Art von Argumentation ist, wie sich in folgendem Textbeispiel zeigt, ohnehin nebensäch lich: Ich bin der Überzeugung, daß es für die Menschheit, so wie sie ist, nur zwei Möglichkeiten gibt. Entweder ist man mit seinem Los unzufrieden, und dann schlägt man einander tot, um die Lage zu verbessern, oder man ist, und das ist eine rein theoretische Situation, im Gegenteil mit sich und der Welt einverstanden, dann bringt man sich aus Langeweile um. Der Effekt ist derselbe. (80)

Was Fabian hier von sich gibt, ist nicht nur dem Ernst der Lage in keiner Weise angemessen, sondern schlicht Unsinn. Doch in didaktisch-formaler Hinsicht, als geschickt konstruiertes Bonmot, ist sein Argument schlagkräftig, insofern es innerhalb der Satire den Zweck erfüllt, dem Diskussionsgegner den Wind aus den Segeln zu nehmen und den status quo der totalen Stasis zu perpetuieren. Es erübrigt sich beinahe zu erwähnen, dass auch die Handlung so angelegt ist, dass Fabians Prophezeiungen stets eintreten: Labudes Reformversuche scheitern auf der ganzen Linie an der Unvernunft und Böswilligkeit der Parteien, die sich am Ende tatsächlich „die Fresse vollhauen“ (54). Erst nach dem Tod des Freundes erwägt Fabian, ob „Labude recht gehabt [habe]“ (209) — an dem Punkt, wo es innerhalb des Romangeschehens niemanden mehr gibt, der konstruktive Alternativen umzusetzen vermag, wird diesen wieder Raum gegeben. Dieser Umstand vereint satirische Ironie mit der Logik satirischer Form.

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Die Krise im politisch-sozialen Bereich wiederholt sich in der privaten Sphäre, die als von ihm abhängig dargestellt wird. So verläuft die Darstellung von Fabians Liebesgeschichte analog zu Kästners Schilderung der politischen Situation. Bevor es überhaupt zur Annäherung zwischen Cornelia und Fabian kommt, postuliert dieser die Unmöglichkeit einer Liebesbeziehung im Spätkapitalismus, indem er — wiederum mittels der nämlichen Catch-22 Rhetorik — deduziert, dass ein moralisches Handeln des Mannes gegenüber einer Frau von vorneherein zum Scheitern verurteilt ist: Zwei Möglichkeiten gibt es ja doch nur für uns, Verantwortung zu zeigen. Entweder der Mann verantwortet die Zukunft einer Frau, und wenn er in der nächsten Woche die Stellung verliert, wird er einsehen, daß er verantwortungslos handelte. Oder er wagt es, aus Verantwortungsgefühl, nicht, einem zweiten Menschen die Zukunft zu versauen, und wenn die Frau darüber ins Unglück gerät, wird er sehen, daß auch diese Entscheidung verantwortungslos war. Das ist eine Antinomie, die es früher nicht gab. (90)

Wenngleich diese Darstellung Fabians der gesellschaftlichen Realität recht nahekommt, fänden sich dennoch Gegenargumente, beispielsweise gegen die Prämisse, dass es den Männern allein obliegt, Verantwortung zu tragen. Doch auch hier ist es nicht der Inhalt der Rede, sondern ihre pointierte, scheinbar logische Form, die Widerspruch auszuschließen scheint und daher auch von Cornelia anstandslos akzeptiert wird. Und Fabian behält wie immer recht: Die Beziehung der beiden geht sogleich wieder in die Brüche, wenn auch auf andere Art und Weise, als er es antizipiert hatte. Natürlich wirkt der Verlauf dieser Liebesgeschichte ungemein konstruiert. Die Stärke der satirischen Form liegt ja nicht unbedingt in der Handlungsführung. Das hängt mit ihrem ausgeprägten pädagogisch-didaktischen Anspruch zusammen, aus dem für den satirischen Erzähler die Notwendigkeit erwächst, unentwegt Situationen zu schaffen, in denen sich die Hauptfiguren in moralischen Betrachtungen ergehen können. Diese pädagogische Absicht steht, wie bereits erwähnt wurde, im Konflikt mit der Notwendigkeit der Satire, den Zustand der Stasis zu perpetuieren und so die satirische Balance zu erhalten, was wiederum den Eindruck des Konstruierten noch verstärkt. So darf die Satire natürlich auch kein befriedigendes oder gar positives Ende nehmen. Sie verweigert vielmehr jene Auflösung, welcher Tragödie und Komödie zumindest in formaler Hinsicht bedürfen. Oft wohnt ihrem Ausgang daher etwas Zwanghaftes, Aufgepropftes, im schlechten Sinne Literarisches inne, ein gattungsimmanentes Problem auch des Fabian, dessen allzu abrupter Schluß von der Forschung oft umrätselt wurde, da man die Relevanz seines poetologischen beziehungsweise strukturellen Kontexts übersah.

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2 Satirische Misogynie — Fabian, der Frauenfeind? Auch im Hinblick auf andere Kritikpunkte führt das allgemeine Desinteresse der Forschung an den formalen Bedingtheiten der Satire zu verkürzten Schlußfolgerungen. Neben der Handlungslosigkeit des Protagonisten und Kästners angeblichem Einverständnis mit dieser Haltung beanstanden Kritiker immer wieder die Art und Weise, wie Sexualität im Roman dargestellt wird, vor allem im Hinblick auf das einseitig negative Frauenbild Kästners und die Doppelmoral des Protagonisten. Diese Kritik ist zum Teil berechtigt, obwohl sich die Frage stellt, ob sie tatsächlich relevant für die Interpretation des Romans ist. Das eigentlich Bemerkenswerte des Kästnerschen Sittengemäldes, vor allem in Hinblick auf die gewandelte Rolle des Satirikers, wurde meines Erachtens bislang übersehen. Außerdem schossen manche Kritiker, im Zuge der radikalen Frauenbewegung und der späten, aber umso heftigeren Auseinandersetzung mit der Vätergeneration, gelegentlich übers Ziel hinaus. Marianne Bäumler kritisiert zwar zu Recht Fabians Doppelmoral; ihr Vorwurf, Kästner mangele es an Einsicht in den „fatalen Zusammenhang“ (111) zwischen wirtschaftlichen Gegebenheiten und der Zwangslage der Frau, sich prostituieren zu müssen, ist jedoch nicht stichhaltig. Immer wieder betont Kästner die ökonomischen Verhältnisse als prima causa für den moralischen Verfall. „Von ihrer Zeichnerei kann sie nicht leben und nicht sterben“ (93), kommentiert „die Selow“ den Umstand, dass sich „die Kulp“ trotz wiederholter Mißhandlungen an Wilhelmy verkauft. Auch die wenig sympathisch dargestellte Paula in Haupts Sälen wird erst Prostituierte, nachdem sie in der Konservenfabrik „abgebaut“ (57) wurde; wie der Hinweis auf ihren gewaltigen Appetit nahelegt, offensichtlich nicht primär aus moralischer Verderbtheit, sondern um nicht zu verhungern. Immer wieder, beispielsweise im Gespräch zwischen Fabian und Cornelia, wird der „Warencharakter“ (91) der Liebe beklagt — es geht Kästner also nicht vorrangig um Kritik an der Libertinage sondern um die Kommerzialisierung der Sexualität. Lethens Vorwurf, der Autor entstelle die klassenkämpferischen Forderungen nach sexueller Freiheit, indem er sie bloß „in der perversen Zurichtung durch die Halbwelt, als luxurierendes Element des Kapitalismus“ (150) porträtiere, greift daher zu kurz. Trotz seines dezidiert konservativen Standpunktes propagiert Kästner keineswegs die verknöcherte Moral des Wilhelminismus. Er hat sich, beispielsweise in seinem Artikel „Möblierte Moral“, sehr wohl für die sexuelle Freiheit des Einzelnen ausgesprochen. Seine satirische Kritik darf vor diesem Hintergrund also nicht als „Denunziation der geschlecht-

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lichen Liebe“⁸ angesehen werden — sie gilt vielmehr ihrer Entartung zum Konsumgut. Darüber hinaus beklagt Kästner die Wahllosigkeit, mit der die Sexualität als Fluchtmittel aus dem allgemeinen Sinnvakuum mißbraucht wird: „Ich brauche wen“, schreit Frau Hetzer nach dem Geschlechtsakt mit Fabian. Auch die Episode im Eheanbahnungsinstitut sowie die Szene im Bordell sind weniger satirische Attacken auf den entfesselten Sexus, als auf seine Austauschbarkeit und Beliebigkeit. Die Versachlichung der Sexualität findet sich vor allem in der Figur der Irene Moll allegorisiert. Diese neuzeitliche Frau Welt repräsentiert als satirische reductio ad absurdum das Laster schlechthin, wird jedoch, wenngleich als Gegenpol zu Fabian entworfen, nicht völlig unsympathisch dargestellt. Sie ist, trotz ihrer Typenhaftigkeit, eigentlich die interessanteste weibliche Figur des Romans. Anders als die meisten anderen Frauenfiguren ist sie mit dem typisch Kästnerschen Sprachgestus ausgestattet und in dieser Hinsicht Fabian ebenbürtig. Sie reizt seine Vorliebe für „gemischte Gefühle“ (20), die von Walter als „Angstlust“ (151) bezeichnete Mischung aus begehrlicher Neugier und Furcht vor dem Kontrollverlust, die auch Fabians sonstige sexuelle Abenteuer bestimmt. Die Art und Weise, wie diese Frauenfigur als zugleich anziehend und abstoßend charakterisiert wird, ist darüber hinaus repräsentativ für das Verhältnis des Satirikers zu seinem Gegenstand. Dieser bedarf, um seine moralischen Betrachtungen anzustellen, des Lasterhaften gewissermaßen als Folie, wobei der Raum, der der Darstellung des Anstößigen gegeben wird, sowie ihr Detailreichtum durchaus vermuten lassen, dass die Beziehung des Satirikers zum Obszönen eine ambivalente ist. Kästner selbst erklärt, „daß die Erotik in seinem Buch beträchtlichen Raum beanspruchen mußte“, weil ihm daran lag, „die Proportionen des Lebens zu wahren, das er darstellte“ (239). Allerdings ist es fraglich, ob seine exzessive Darstellung der Sexualität tatsächlich dem Stellenwert entspricht, den diese im wirklichen Leben einnimmt. Northrop Frye kommentiert die Vorliebe des satirischen Schriftstellers für das Obszöne, wenn er anmerkt, dass „genius seems to have led practically every satirist to become what the world calls obscene“ (235). Dirk Walter, der Kästners Sexualmoral in seiner Untersuchung Zeitkritik und Idyllensehnsucht ein ganzes Kapitel widmet, kommt zu dem Schluss, der Autor schwanke „zwischen rollengebundenem Denken einerseits und provozierender Verspottung wilhelministischer Tabuisierung und Keuschheitsideologie andererseits, zwischen (bisweilen intellektuell verfehlter) moralistischer Ablehnung sexueller Abnormitäten und spekulativ anmutender Präsentation dieser ‚Perver-

8 Manthey, S. 382.

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sionen‘“ (159). Lethen urteilt noch harscher, indem er Kästners Sexualverständnis als sexistisch, als bloße „Indolenz gegenüber den Opfern“ (117) versteht. Wenn Kästner die Depraviertheit seiner Frauenfiguren auch meist als Symptom der ökonomischen Gegebenheiten darstellt, ist der Fabian in der Tat kein Loblied auf das weibliche Geschlecht. Dem Satirischen wohnt seit jeher ein Zug inne, den man heute, im Zeitalter politischer Korrektheit, als frauenfeindlich bezeichnen könnte. Seit die Gattung existiert, reproduziert sie die nämlichen weiblichen Charakterklischees: Herrsch- und Zanksucht, Gier nach Luxus und Prestige und durch geheuchelte Prüderie nur dürftig verhüllte Zügellosigkeit im Geschlechtlichen. Von Juvenals sechster Satire über Swifts grotesk-ekelerregende Beschreibung der weiblichen Yahoos zu den Frauenfiguren moderner Satiren (wie beispielsweise Ellis’ American Psycho) — immer wieder fällt die ambivalente Faszination des Satirikers mit dem lasterhaft-Weiblichen als gattungstypisch auf. In dieser Hinsicht ist die Satire, was ihre Ausprägung angeht, Gegenpol zum Encomium, wobei beiden im Grunde die gleiche Agenda zugrundeliegt: Das Encomium errichtet vordergründig ein Idealbild, während sein tatsächlicher Zweck darin liegt, Frauen vorzuschreiben, wie sie sich, den männlichen Verfassern dieser Loblieder zufolge, zu verhalten haben. Die Satire dagegen entwirft das ebenso radikal typisierte Gegenbild dazu, wobei das weibliche Idealverhalten bloß ex negativo impliziert wird. Beide gestalten, jeweils von diametral entgegengesetzten Positionen aus, die nämliche Polarität zwischen Eva, der Versucherin und Maria, der unbefleckten Gebärerin. In Anlehnung an einen Gedanken von Livia Wittmann,⁹ macht Britta Jürgs dieses Schema auch im Fabian aus: Kästners Roman erscheint als Paradebeispiel für die Dichotomie imaginierter Weiblichkeit, wobei die Frauenfiguren in sexualisierte Huren und entsexualisierte Mütter aufgeteilt sind. (206)

Sie erkennt diese reduktive Polarisierung jedoch nicht als traditionellen Bestandteil des satirischen Verfahrens und empfindet sie daher als einen Makel des Romans beziehungsweise der Kästnerschen Erzählweise. Wo jene Vorliebe des Satirikers für die Negativdarstellung der Frau herrührt, ist indes nicht eindeutig festzustellen. Hodgart führt Doctor Johnson ins Feld, der einst schrieb: As the faculty of writing has been chiefly a masculine endowment, the reproach of making the world miserable has been always thrown upon the women (zit. nach Hodgart, 79).

9 Vgl. Wittmann, S. 75.

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Psychologisch geschulte Kritiker deuten diese antifeministische Tendenz vermutlich als Sublimierung von unterdrückten Trieben, die sich der Moralist aufgrund seiner sexuellen Orthodoxie nicht auszuleben erlauben darf. Möglicherweise ist sie auch nur dem oben schon erwähnten, allgemein negativen Charakter der Satire zu subsumieren. Was jedoch im Fabian besonders auffällt und keineswegs am Genre der Satire liegt, ist der Umstand, dass, wie Marianne Bäumler zu recht beanstandet hat, in diesem Roman mit zweierlei Maß gemessen wird (111). Die Frauen werden als lasterhaft dargestellt, während Fabian noch während seines ehebrecherischen Techtelmechtels mit Frau Hetzer den Nimbus des Moralisten für sich in Anspruch nimmt. „Moral ist die beste Körperpflege“ (180) stellt er da fest, bevor er realisiert, „wo er in der vergangenen Nacht gewesen war“ (180). Fabian, so erfahren wir schon zu Anfang des Romans, „hat sich nachts fleissig umgetan“ (20), und aus dem Kontext geht klar hervor, dass er dabei keineswegs nur in der Rolle des Beobachters verharrte. Denn „die gemischten Gefühle“ (20), die Fabian als so prickelnd empfindet, könne man, dem Erzähler zufolge, nur am eigenen Leib erfahren: „Wer sie untersuchen wollte, mußte sie haben.“ (20) In dieser Hinsicht unterscheidet sich Fabian wesentlich vom herkömmlichen Satiriker. Der sucht das Laster zwar auf, fröhnt ihm aber nicht selbst, denn soll sein Angriff wirksam sein, darf er seinen moralischen Anspruch nicht kompromittieren: „If the attack on vice is to be effective, the character who delivers it must appear the moral opposite of the world he condemns.“¹⁰ Fabian erfüllt diese Vorraussetzung nicht. Er geriert sich zwar als Moralist und vollbringt einzelne gute Taten, wird jedoch alles in allem seinen hehren Prinzipien nicht gerecht. Seine Doppelmoral zeigt sich vor allem im zwischenmenschlichen Bereich: Während er Frauen beständig zu Sexualobjekten reduziert, ist er empört, wenn ihm das Gleiche von weiblicher Seite widerfährt. Wer dieses Verhalten Fabians lediglich als Ausdruck der Doppelmoral Kästners beziehungsweise als Identifikationsangebot an das männliche Publikum deutet, macht es sich meines Erachtens jedoch zu einfach. Moralische Kriterien mögen hinreichen, den Roman zu beurteilen, ihre hermeneutische Brauchbarkeit ist jedoch beschränkt — die signifikanten Unterschiede bei der Beurteilung des Fabian sind in erster Linie Ausdruck der Subjektivität der Wertmaßstäbe, welche die jeweiligen Kritiker anlegten. Daher sei hier, unter Verzicht auf ein moralisches Urteil, zunächst nur das Offensichtliche festgehalten: Der satirischen persona, die Kästner gewählt hat, um seinen moralischen Anschauungen Ausdruck zu verleihen, fehlt es an Souveränität, d.h. an Distanz zu ihrem Gegenstand.

10 Kernan, S. 22.

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3 Der Satiriker in der Krise Kurt Wölfel erwähnt als wichtigstes Moment der perspektivischen Technik der Satire „die Auffindung eines Standortes für den Weltbetrachter“ (91). Bevorzugter Standort der Gesamttradition satirischen Erzählens ist die Anhöhe, z.B. ein Berg, ein Turm, ein hoher Baum oder dergleichen, wobei diese Orte nicht geographisch, sondern als „Begriffshöhen, die ihrem Wesen nach der allegorischen Weltkulisse zugehören“ (91) zu verstehen sind. Der Erzählkonvention der Gattung gemäß weist der Erzähler seinem Helden diesen erhöhten Beobachtungsplatz zu Anfang des Romans zu.¹¹ Die Perspektive des satirischen Betrachters ist dabei der „nahezu senkrechte Blick“¹² nach unten, mit dem er in jedem Sinne des Wortes auf die Menschheit herabsieht. Auch Fabians Perspektive der lasterhaften Welt ist weitgehend von Ekel und Verachtung geprägt. Der ihm von Kästner zugewiesene Standort deckt sich indessen nicht mit dem des traditionellen Satirikers. Das deutet sich schon zu Anfang des Romans an, in einer Vision Fabians, die recht eigenartig anmutet und erst in diesem Zusammenhang sinnfällig wird: Fabian hatte mit einem Male die Vorstellung, er fliege dort oben mit einem Aeroplan, und sehe auf sich hinunter, auf den jungen Mann in der Joachimsthaler Straße, im Gewimmel der Menge, im Lichtkreis der Laternen und Schaufenster, im Straßengewirr der fiebrig entzündeten Nacht. Wie klein der Mann war. Und mit dem war er identisch! (13)

Fabian schaut aus der bloß imaginierten Vogelperspektive auf die Welt herab und sieht —sich selbst (!)—das entmachtete Subjekt in seiner ganzen Unbedeutsamkeit. Unwiderruflich vorüber jene Zeit, als der Satiriker noch jener mit der magischen Kraft des Wortes ausgestattete Stammesführer war, der mit seinen Sprüchen Feinde zu töten vermochte. Vorbei auch jene humanistische Epoche, in der er zwar mit wenigstens einem Bein außerhalb der bürgerlichen Gesellschaft stand, aber dennoch über den — wenn auch zuweilen geringen — materiellen und geistigen Freiraum verfügte, dessen er zur Ausübung seiner Tätigkeit bedurfte. Der Satiriker, den Kästner uns vorführt, ist dagegen ein deklassierter, ja „proletarisierter“ Intellektueller, der weltanschaulich und materiell in der nämlichen Krise steckt, die er um sich herum beobachtet. Er unterscheidet sich in verschiedener Hinsicht von seinen Vorgängern, indem er grundsätzlich anderen gesellschaftlichen Voraussetzungen gegenübersteht. Zum einen muss er sich mit dem

11 E.T.A. Hoffmann etwa platziert seinen Vetter ans Eckfenster, während Kreuzgangs Lieblingsort „der Vorsprung in dem alten gothischen Dome“ (Bonaventura, S. 24) ist. 12 Wölfel, S. 93.

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Sinn- und Prestigeverlust auseinandersetzen, den die radikale Entwertung seines Produktionsmittels — der bürgerlichen Bildung — im Zuge des tiefgreifenden ökonomisch-sozialen Wandels nach sich zieht. Erhard Schütz kommentiert diesen von Benjamin als „Proletarisierung der [bürgerlichen] Intellektuellen“¹³ bezeichneten Prozess und seine Konsequenzen wie folgt: Durch die forcierte Industrialisierung und Technisierung und die gewaltige Zunahme der großstädtisch-industriellen Massen ist bürgerliche Individualidentität bedroht. Oder anders: Zum traditionell Problematischen spezifisch bürgerlicher Individualität, zur schmerzhaften Wahrnehmung des unüberwindlichen Abgesondertseins, von unaufhebbarer Einsamkeit, tritt nun auf der Kehrseite die Kränkung hinzu, angesichts der Massenhaftigkeit von allem und jedem gar kein wahrhaft Einziger und Besonderer mehr sein zu können. (48)

Diese Befindlichkeit, das Gefühl der Einsamkeit und Isolation, ist auch der Grundtenor der Kästnerschen Lyrik, was schon in der Wahl von Titeln wie „Sozusagen in der Fremde“ und „Monolog mit verteilten Rollen“ anklingt. Anders als noch in der naturalistischen oder expressionistischen Dichtung ist dieses Isolationsgefühl nicht mehr exklusive Erfahrung des intellektuellen Außenseiters, sondern entbehrt jeder Besonderheit. Die nämliche Grundstimmung herrscht in Kästners erstem Roman. Auch der „Kleinbürger“ Fabian leidet an jenem schmerzlichen Bewußtsein, der Furcht vor dem Verlust seiner Selbstmächtigkeit einerseits und andererseits dem ständigen Gefühl des Abgesondertseins, der Unmöglichkeit, als funktionerendes Mitglied am gesellschaftlichen Prozess teilzunehmen (66). Seine Authentizitätsbestrebungen scheitern, wie sich im Verlauf des Romans zeigt, auf der ganzen Linie. Das „System, in dem [er] funktionieren kann“ (53), existiert nicht. Ebenso wie sein Freund Labude ist er im Grunde „ein in den Fächern Liebe und Beruf durchgefallener Menschheitskandidat“ (186). Ein weiteres, ebenfalls mit der fortschreitenden Modernisierung und der zunehmenden Verstädterung der kapitalistischen Massengesellschaft im Zusammenhang stehendes Problem ist die Angleichung von satirischer und real existierender Welt. „Difficile est saturam non scribere“ schrieb Juvenal schon anläßlich der Dekadenz des vorchristlichen Rom (10). Adorno behauptet im Hinblick auf die Moderne das Gegenteil. Sein Urteil „Es ist schwer, eine Satire zu schreiben“ (280), begründet er damit, dass in der spätkapitalistischen Gesellschaft die Differenz zwischen Ideologie und Wirklichkeit geschwunden sei und die Ironie des Satirikers keinen Angriffspunkt mehr finden könne. Adornos Befund steht dabei

13 Schütz, Briefe II, S. 531.

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nur oberflächlich im Widerspruch zu dem Juvenals. Dieser bezieht sich auf die Realität der Großstadt, die derart lasterhaft und chaotisch ist, dass es zu ihrer Darstellung der satirischen Übertreibung kaum noch bedarf. Jener dagegen verzeichnet eine Entwicklung, deren Tiefpunkt das Dritte Reich darstellte, das sich kaum satirisieren ließ, da die Nationalsozialisten ihre Menschenverachtung vergleichsweise unverbrämt kundtaten. Sowohl Juvenals als auch Adornos Urteil treffen indessen auch auf die Satire der Weimarer Republik zu, je nachdem, ob man die satirische Szene an der großstädtischen Wirklichkeit misst oder diese Wirklichkeit an der herrschenden Ideologie. Der mit dem Niedergang der alten bürgerlichen Gesellschaftsordnung einhergehende Wegfall einer allgemein verbindlichen moralischen Ordnung fordert dem Satiriker des zwanzigsten Jahrhunderts ein größeres Maß an Selbstironie und intellektueller Disziplin ab als seinen Vorgängern. „Mit dem Hinfall verbürgter Autorität“ sei, so Helmut Arntzen, „die Satire nicht mehr imstande, das Übel als Abweichung vom feststehenden Guten und Wahren zu behaupten“ (235). Sie könne und dürfe sich „gar nicht mehr expressis verbis auf eine Norm beziehen, denn dies würde zur bloßen Behauptung von Verbindlichem, dessen Abwesenheit [...] nur Sentimentalität beklagt“ (235). Da der Satiriker von jeher hinter dem Phantom einer guten, gerechten, vernünftigen Welt herjagt, besteht grundsätzlich die Gefahr, dass er in Sentimentalität verfällt. Allzu deutlich empfindet er, dass seine Umwelt das krasse Gegenteil dieses verlorenen Paradieses ist, und die Hoffnung, sein Ideal in die Realität zu überführen, einer Illusion gleichkommt. Auf diesem verlorenen Posten kann ihn lediglich sein satirischer Humor vor dem Abgleiten in die Sentimentalität bewahren. Dieser Humor speist sich vorrangig aus der Inkongruenz zwischen dem Lippenbekenntnis seiner Mitmenschen zu einem gegebenen Wertesystem und ihren Taten, die diesem spotten. Seine Legitimation bezieht der traditionelle Satiriker dabei daraus, dass er sich auf die Verbindlichkeit dieser Werte berufen kann. Anders der Satiriker des zwanzigsten Jahrhunderts. Mehr denn je kämpft er gegen Windmühlenflügel, denn jene moralische Instanz, auf die er sich, wenn auch nur implizit und ex negativo berufen konnte, ist einem allgemeinen Wertevakuum gewichen. Im Fabian gibt es keine Inkongruenz zwischen Reden und Handeln der Romanfiguren, bloß noch Galgenhumor angesichts des Grotesken. Fabians Attitude kühler Abgeklärtheit ist nur oberflächlich „witzig“, sie ist in Wirklichkeit ein Understatement, das Verletzlichkeit zu verhehlen sucht, ein „Lächeln mit zusammengebissenen Zähnen.“¹⁴ Die von vorneherein geringe Hoffnung des Satirikers auf eine Besserung der Zustände ist zur „Grimasse der

14 Klotz, S. 259.

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Hoffnungslosigkeit“¹⁵ geronnen und die „Gefahr der Flucht ins Sentimentale“¹⁶ ist größer denn je. In dem Maße, indem das Stilmittel der satirischen Ironie immer mehr zur bloßen Pose, zur schützenden Mimikri wird, wird sentimentalen Regressionsphantasien Raum gegeben. So verweist Fabian mit Vorliebe auf ein nicht näher spezifiziertes Früher, auf eine Zeit, in der zwischenmenschliche Beziehungen noch nicht von den Gesetzen des Mehrwerts geregelt wurden. „Früher“, so klagt er „war das Geschenk etwas anderes als die Ware. Heute ist das Geschenk eine Ware, die nichts kostet“ (91). Diese Aussage impliziert, dass das vorkapitalistische Zeitalter ein humaneres war, und steht in gewisser Weise im Widerspruch zu Fabians Ansicht, dass „der Mensch ein Schwein ist“, gleich welchem Wirtschaftssystem er angehört. Vollständig büßt der Protagonist seinen satirischen Humor aber ein, als die Beziehung mit Cornelia in die Brüche geht. Fabian klagt zunächst die Umstände an, wobei er sein Nichthandeln wiederum durch die Aufrichtung eines Scheindilemmas rechtfertigt und sich so jeglicher Eigenverantwortung entledigt: Der Zufall hatte ihm einen Menschen in die Arme geführt, für den er endlich handeln durfte, und dieser Mensch stieß ihn in die ungewollte, verfluchte Freiheit zurück. Beiden war geholfen gewesen, und nun war beiden nicht zu helfen. In dem Augenblick, wo die Arbeit Sinn erhielt, weil er Cornelia fand, verlor er die Arbeit. Und weil er die Arbeit verlor, verlor er Cornelia. (164)

Doch damit noch nicht genug. In einer haarsträubend selbstmitleidigen Lamentation hadert er mit dem Schicksal: Er hatte, durstig, ein Gefäß in der Hand gehalten und es nicht tragen mögen, weil es leer war. Da, als er es kaum noch hoffte, war das Schicksal gnädig gewesen und hatte das Gefäß gefüllt. Er hatte sich darüber geneigt und endlich trinken wollen. „Nein“, hatte das Schicksal gesagt, „nein, du hieltest ja den Becher nicht gern“, und das Gefäß war ihm aus den Händen geschlagen worden, und das Wasser war über seine Hände zur Erde geflossen. (164)

Angesichts dieser und anderer, ähnlich sentimentaler Passagen ist es nachvollziehbar, dass verschiedene Kritiker Kästner „Larmoyanz“¹⁷ und „penetrantes Sentiment“¹⁸ vorgeworfen haben. Andererseits ist es problematisch, den Autor

15 Arntzen, S. 237. 16 Ebenda. 17 Lethen, Neue Sachlichkeit, S. 143. 18 Klotz, S. 484.

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beziehungsweise den Erzähler so ohne weiteres mit der Hauptfigur gleichzusetzen. Vielmehr bedarf es der Unterscheidung zwischen jenem Sentiment Fabians, das Kästner sanktioniert und dessen Selbstmitleid, das er ablehnt, da er es als ursächlich für sein Scheitern ansieht. Fabian ist, so besagt der doppeldeutige Untertitel des Romans, die Geschichte eines Moralisten, d.h., je nach Lesart, von einem Moralisten oder über einen Moralisten oder beides zugleich. Es ist auch, so lesen wir im Vorwort, eine Satire. In der Forschung wird das Verhältnis zwischen Satiriker und Moralisten, unter Berufung auf Johann Georg Sulzers Allgemeine Theorie der schönen Künste, gemeinhin¹⁹ so erklärt, dass der Satiriker ein Moralist ist, der sich bestimmter poetischer Darstellungsmittel bedient. Diese Definition geht auf Landinius zurück, der die Satire mit einer überzuckerten Arznei vergleicht, wobei der „Zucker“ nicht nur, im Horazschen Sinne des ridendo dicere verum, allegorisch für den Humor der Satire steht, sondern sich auf ihre ästhetischen Qualitäten überhaupt bezieht. Der Moralist Kästner ist demnach Satiriker, insofern er sich „mehr oder weniger künstlerischer Mittel“ bedient.²⁰ Was Fabian angeht, liegt der Fall komplizierter. Er ist erklärtermaßen Moralist, und, in verschiedener Hinsicht Satiriker. Kernan zufolge kann letztere Bezeichnung nicht bloß auf den satirischen Autor der Satire zutreffen, sondern auch auf die Figur, die er verwendet, um seine satirische Vision zu gestalten. Auch nach Sulzer wäre Fabian ein Satiriker, in dem Maße nämlich, wie er seine Anschauungen in literarisierter Form kundtut. Er ist ein solcher jedoch nur mittelbar, von Kästners Gnaden sozusagen, während der Autor die Zügel in der Hand behält. So steht es in der Macht des Verfassers, seinen satirischen Protagonisten mit einer Doppelfunktion zu belegen: Einerseits ist dieser Vehikel der Kästnerschen Weltanschauung, andererseits steht er nicht völlig außerhalb dieser Welt und ist so ebenfalls potentielle Zielscheibe des satirischen Spottes des Autors. So ist es zwar richtig, wenn Arnheim, und mit ihm Klotz und Walter, Fabian als „Sonde“²¹ Kästners bezeichnen, doch darf dieser Vergleich nicht darüber hinwegtäuschen, dass diese „Sonde“ nicht nur Mittel, sondern auch Objekt des satirischen Angriffs ist. So ist Kästners Verhältnis zu seinem Protagonisten durchweg mehrschichtig. Fabian ist zugleich „ästhetisches Hilfskonstrukt“ und „Sprachrohr des Autors“.²² Ferner ist er ganz offensichtlich der Held der Tagträume seines Schöpfers — sämt-

19 Wölfel, S. 85, sowie Brummack, S. 290. 20 Kästner, Gesammelte Schriften für Erwachsene, S. 119. 21 Arnheim, S. 789; Klotz, S. 255; Walter, S. 241. 22 Walter, S. 242.

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liche Frauenfiguren des Romans werfen sich ihm an den Hals, und sowohl sein Einfallsreichtum als auch sein Intellekt und seine Menschlichkeit werden immer wieder hervorgehoben. Andererseits lässt Kästner ihn scheitern. Die Überschrift des Schlußkapitels („Lernt Schwimmen“) lässt keinen Zweifel daran, dass der Autor mit Fabians Haltung nicht übereinstimmt und seinen Weg als Irrtum darstellt.

4 Kästners Fabian zwischen (Neuer) Sachlichkeit und Satire In der Forschung wurde Kästners Roman bislang vor allem in Hinblick auf seine Zugehörigkeit zur Neuen Sachlichkeit untersucht, während sein satirischer Charakter eher marginalisiert wurde. Dabei treten nicht nur Missverständnisse hinsichtlich des Wesens der Satire hervor, sondern es zeigt sich auch die bekannte Begriffsverwirrung darüber, was unter „Neuer Sachlichkeit“ zu verstehen ist, sowie in welchem Verhältnis Kästner zu dieser Strömung stand. Der Terminus „Neue Sachlichkeit“ bezeichnet ja wenigstens zweierlei. Zum einen wird er auf eine Kulturströmung beziehungsweise eine intellektuelle Mode angewandt, darüber hinaus dient er innerhalb der germanistischen Forschung zur Charakterisierung einer bestimmten Schreibweise. Was erstere Bedeutung des Begriffs angeht, dürfte es im Hinblick auf den Fabian mittlerweile als erwiesen gelten, dass sein Verfasser weder die Fortschrittsgläubigkeit noch die Technik- und Amerikabegeisterung teilt, die immer wieder als Charakteristika des neusachlichen Lebensgefühls angeführt worden sind. Vielmehr ist der technische Fortschritt Gegenstand der Kästnerschen Satire; er wird mithin nicht objektiv bewertet, sondern zum Moloch, der seine eigenen Kinder frisst, hyperbolisiert. Die Technik multipliziert die Produktion. Die Technik dezimiert das Arbeitsheer. Die Kaufkraft der Massen hat die galoppierende Schwindsucht. In Amerika verbrennt man Kaffee und Getreide, weil sie sonst zu billig würden. [...] Wenn in so eine Welt kein Blitz fährt, dann können sich die historischen Witterungsverhältnisse begraben lassen. (36)

Die Darstellung der verkehrten Welt, von der der Handelsredakteur Malmy hier spricht, erfährt eine weitere Zuspitzung in Fabians Begegnung mit dem Erfinder Kollrepp. Der landet im Irrenhaus, weil er die Janusköpfigkeit des Fortschritts durchschaut und die Pläne für seine modernen Webstühle, die den Menschen ursprünglich zum Nutzen gereichen sollten, vor der Welt versteckt, um die Massenarbeitslosigkeit nicht noch zu verschlimmern. Einzig die durchweg negativ

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beschriebene Witwe Hohlfeld fröhnt einem naiven Fortschrittsoptimismus, den Kästner entsprechend persifliert. Überhaupt ist der Fabian, was bislang übersehen wurde, eine Satire nicht nur auf die moderne Gesellschaft, sondern auch auf zahlreiche Facetten der unter dem Begriff der Neuen Sachlichkeit geführten Modeströmung, sowie auf den sachlichen Habitus selbst. Es sind in Kästners Roman, so stellt schon Britta Jürgs fest, die Frauen, die dieses „sachliche Prinzip am nachdrücklichsten verkörpern“ (196). Wenn Kästner vorführt, wie Fabian von verschiedenen weiblichen Figuren wie ein Objekt behandelt wird, gibt er aber keineswegs bloß „die zum Aggressiven neigende erotische Selbstständigkeit von Frauen der potentiellen Diffamierung preis“ (204); vielmehr wird sowohl der neusachliche Männlichkeitskult als auch der Habitus der Sachlichkeit im Sinne des „kalte[n] Medium[s] der Moderne“²³ satirisch unterhöhlt. So spricht Irene Moll über Fabian, „als wäre [er] ein Stück Streuselkuchen oder ein Rodelschlitten“ (18), und Frau Hetzer untersucht ihn „wie ein alter Kassenarzt“ (136). Erstere ist dabei nicht nur, wie schon zuvor erwähnt, Allegorie für das Laster, sondern auch für das Prinzip der „Sachlichkeit“, welches so an jenes gekoppelt wird. Es sei daran erinnert, dass Fabian nicht in erster Linie an Irenes Polygamie Anstoß nimmt, sondern an der Tatsache, dass diese bis ins Detail per Vertrag geregelt ist. In dem Maße, wie die Geschlechterbeziehungen versachlicht werden, werden sie, wenigstens von der Warte des konservativen Satirikers aus, als verwerflich empfunden. Auf den Punkt gebracht wird die satirische Konflation von Sachlichkeit und Depraviertheit in jenem Lied, das die Moll im Bordell zum besten gibt: „Die Liebe ist ein Zeitvertreib, man nimmt dazu den Unterleib“ (58). Der Ton könnte unmittelbar aus einem Kästnergedicht stammen. Ein weiteres Moment, das im Zusammenhang von Sachlichkeit, Sexualität und Satire von Interesse ist, ist Kästners Auseinandersetzung mit dem neusachlichen Männlichkeitskult. Ulrike Baureithel erläutert in ihrem Aufsatz „Kollektivneurose moderner Männer“ den Bezug „zwischen dem eingeforderten Sachlichkeits-Postulat und seiner identitätsstiftenden Funktion für einen neuen Männlichkeitsentwurf“ (128). Mit dem Niedergang des Obrigkeitsstaates sei auch die patriarchische Autorität nachhaltig erschüttert worden. Das noch vor dem Krieg gültige dualistische Geschlechterprinzip greife nicht mehr, das Sinnvakuum der männlichen Existenz werde allenthalben offenbar. Verschlimmert worden sei dieser Zustand noch durch die Inflation, die die männliche Verdienstkraft unterminierte.

23 Lethen, „Habitus der Sachlichkeit“, S. 175.

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In der folgenden Stabilisierungsphase habe der Mann dann seine mit den Modernisierungserfahrungen verknüpften Insuffizienzängste durch ein vordergründiges „Einverständnis mit dem Projekt der Moderne“ (127) kompensiert, wobei die „Identifikation von Mann und Sache“ (127) in den allgemeinen Diskurs eingeführt worden sei. Der neusachliche Männlichkeits-Kult knüpft aber nicht einfach an das diskreditierte autoritäts- und personenfixierte Männlichkeitsideal des Wilhelminischen Zeitalters […] an; seine Stilisierung erfolgt vielmehr mittels eines Prinzips, das es erlaubte, sich der kompromittierenden Geschichte des Geschlechts zu entledigen, und das der Strömung den Namen gab: Der Sachlichkeit. Die „männliche Literatur“ der Neuen Sachlichkeit sollte wie jener „Vakuumcleaner“, den die Revolutionäre von 1919 beschworen, „den muffigen Müll (aus) der schmutzverstopften Epoche saugen“ und die „betonte Herzenskälte“ in einer „männlich tatkräftigen Zeit“ kultivieren. Die Abhärtung der Männerkörper und -seelen, die schon Henry Ford in der Stahlnatur des Ingenieurs gegenüber den „verweichlichenden“ Tendenzen der Zeit anempfohlen hatte, war schließlich nicht nur Attitüde einer funktionslos gewordenen Intelligenz, sondern fand ihre Entsprechung im materialisierten Produkt des Männerkollektivs: der Technik. (128)

Der „Held“ des Kästnerschen Romans mutet, an diesem Konzept von Männlichkeit beziehungsweise Sachlichkeit gemessen, wie eine Farce darauf an. Der herzkranke Fabian zeichnet sich gerade nicht durch jene männliche Tatkraft aus, er bleibt vielmehr in jeder Lebenslage passiv. Dem entspricht auch sein Verhältnis zur Technik, die nach Baureithels Ausführungen ja in einer metonymischen Beziehung zur Neuen Sachlichkeit steht. Wer mich sein Grammophon aufziehen läßt, kann sicher sein, daß es nie wieder funktioniert. Mechanische Feuerzeuge, mit denen ich mich befasse, brennen nicht. Bis zum heutigen Tag halte ich den elektrischen Strom, wie mir der Name zu bestätigen scheint, für eine Flüssigkeit. Und wie es möglich ist, auf der einen Seite geschlachtete Ochsen in elektrisch betriebene Metallgehäuse zu sperren und auf der Rückseite Cornedbeef herauszudestillieren, werde ich niemals begreifen. (110)

Wenn auch der Sachlichkeitsenthusiasmus der mittzwanziger Jahre zum Zeitpunkt der Niederschrift des Fabian, der die Spuren der Weltwirtschaftskrise trägt, weithin abgeklungen ist, scheint besagtes Lebensgefühl offensichtlich doch noch präsent genug, um Gegenstand der Kästnerschen Satire zu sein. Oft wurde es innerhalb der germanistischen Forschung als Widerspruch empfunden, dass Kästner einerseits bestimmte Facetten der Neuen Sachlichkeit kritisiert, sich andererseits aber neusachlicher Schreibweisen bedient. Man ging sogar soweit, ihm vorzuwerfen, dass jene Sujets, mit denen er sich kritisch auseinandersetzt, im Roman zugegen sind:

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Allerdings ist das Thema Technik, der Warnung vor ihrer Verselbständigung zum Trotz, ebenso präsent wie journalistische Sujets und Schreibweisen bei gleichzeitiger Verteufelung der unlauteren Methoden im Zeitungswesen.²⁴

Man neigt immer noch dazu, die einigermaßen willkürlich als „neusachlich“ bezeichnete anti-expressionistische Schreibweise als Ausdruck des gleichnamigen Modephänomens der Stabilisierungsphase zu verstehen, während doch augenscheinlich ist, dass die Mehrzahl der Werke, die man heute jener Literaturströmung zurechnet, sich überaus kritisch mit diesem Trend auseinandersetzen. So hat auch Kästner selbst den Terminus „Neue Sachlichkeit“ als Etikett für sein Schreiben rundheraus abgelehnt. In seinen beiden programmatischen Aufsätzen „Lyriker ohne Gefühl“ und „Indirekte Lyrik“ propagiert der Autor jedoch einen neuen Schreib- (und Mal-)stil, der das Verhältnis zwischen dargestelltem Objekt und seiner Gestaltung diametral anders versteht als der Expressionismus: Die Bedürfnisse des Expressionismus, Allgemeines auf abstrakte Art zu sagen und zu malen, haben dem engegengesetzten Drang Platz machen müssen: Spezielles auf anschauliche Weise auszudrücken.²⁵

Die Schriftsteller dieser Bewegung — der Ausdruck „Dichter“ wird vermieden, denn das ist bloß noch „ein Wort, das den damit Titulierten ärgert“²⁶ — gehören „einer sachlichen Generation an“²⁷ und ihr Schreiben ist, meint Kästner, „ohne Übertreibung etwas ganz Neues.“²⁸ Das „Schlagwort ‚Neue Sachlichkeit‘“,²⁹ mit dem man den stilistischen Charakter dieser neuen Richtung einzukleiden versucht hat, wird jedoch verworfen, denn „es pass[e] nicht.“³⁰ In „Lyriker ohne Gefühl“ formuliert Kästner seine Abneigung gegen den Begriff noch schärfer: „[W]er die Dummheit beging, diesen Stil die ‚Neue Sachlichkeit‘ zu nennen, den möge der Schlag treffen“ (244). Solch drastische Ablehnung eines relativ wertneutralen Begriffs macht stutzig, zumal sie einer klaren Rechtfertigung von Seiten Kästners entbehrt. Möglicherweise ist seine emphatische Reaktion der Zorn Calibans, der sein eigenes Gesicht im Spiegel sieht — Ausdruck also der Konfrontation mit der nur halbbewussten (Selbst)erkenntnis:

24 Jürgs, S. 202. 25 Kästner, „Indirekte Lyrik“, 144. 26 Kästner, „Lyriker ohne Gefühl“, S. 243. 27 Ebenda. 28 Ebenda. 29 Kästner, „Indirekte Lyrik“, S. 143. 30 Ebenda.

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Denn einerseits zählt sich Kästner stolz zu jener „sachlichen Generation“, der „es unsagbar peinlich [ist], ihr Herz zu entblößen“ (243), andererseits weiß er jedoch um die Vordergründigkeit der nüchternen Abgeklärtheit, die den Ton seiner Gedichte und des Fabian charakterisiert. So schließt er seine Ausführungen über den „indirekten“ Lyriker wie folgt: Wenn seine Verse am sachlichsten klingen, gerade dann birgt sich dahinter Erschütterung. Und gerade wenn er von wildfremden Dingen schwadroniert ist die dichterische Konfession am nächsten. [...] Ihm und seinen Stilgenossen geht es, wie es ihrem großen Vorläufer erging: Frank Wedekind! Er wurde für zynisch gehalten und war doch ein weicher Mensch. Er war als Sexualdramatiker verschrien und gehörte doch zu den nobelsten Idealisten der Zeit.Sein Werk und, genau so die indirekte Lyrik unserer Tage, provozieren Mißverständnisse, weil beide „verschämte Kunst“ sind. Wer sich maskiert, will nicht erkannt werden. Es ist ihm weniger peinlich, für frech und gelegentlich albern, als für zart und traurig gehalten zu werden. (144)

Bemerkenswert will erscheinen, dass die Beschreibung des indirekten Lyrikers Wort für Wort auch auf den Satiriker zutrifft. So ist es kein Zufall, dass Kästner den neuen Stil mehrfach mit dem satirischen Verfahren in Verbindung bringt, wenn er es auch nicht als solches benennt. Zum einen bemerkt er, dass der Drang nach Anschaulichkeit sich zuweilen in der Übertreibung äußert, wobei die Extremdarstellung der Realität ihrer Verdeutlichung dienen soll: „Der künstlerisch neu erwachte Trieb zur Wirklichkeit war und ist so stark, daß ihm die Entwicklung vom Abstrakten zur Realität nicht genügte, sondern daß er darüber noch hinausschoß, in die Gebiete der Groteske und der Karikatur“ (144). Außerdem erläutert Kästner, im Hinblick auf Grosz und Dix, die satirische Tendenz der neuen Kunst, „das Große hinter einem Wall von Kleinigkeiten“ und „das Ergreifende hinter Ironie“³¹ zu verbergen: „Sie emigrierten aus dem Reich des Pathos und der ‚Natürlichkeit‘ in die Bezirke der Übertreibung und der Verstellung. Sie fabulieren Nebensächliches, weil ihnen die Hauptsachen heilig sind; sie treiben Spaß, weil sie den Ernst nicht persönlich bemühen möchten.“³² Während Grosz und Dix, die Hauptexponenten der bildenden Kunst der Neuen Sachlichkeit, heute ganz selbstverständlich als Satiriker bezeichnet werden, sieht man im Hinblick auf die Literatur immer noch einen Widerspruch zwischen satirischer und neusachlicher Darstellung. Davon zeugt beispielsweise

31 Kästner, „Lyriker ohne Gefühl“, S. 244. 32 Ebenda.

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Britta Jürgs Kommentar zum satirischen Charakter des Fabian. Sie bezieht sich hierbei auf Kästners Vergleich der Satire mit einem Zerrspiegel:³³ In der Mischung aus konkreten Daten und satirischen Pointen, aus neusachlichen Themen oder Figuren und romantisch überhöhtem Gegenpol scheint Kästners Roman jedoch vielmehr Spiegel und Zerrspiegel zugleich zu sein und die fotografische Genauigkeit der Neuen Sachlichkeit mit dem eine heile (Kinder-) Welt darstellenden Hochglanzbildchen des Poesiealbums zu verbinden. (208)

Einerseits wird hier fälschlich die satirische gegen die neusachliche Schreibweise ausgespielt, andererseits missversteht Jürgs sowohl Kästners Vergleich (indem sie außer acht lässt, dass auch der Zerrspiegel meist nur einem bestimmten Bereich verzerrt) als auch die satiretypische Mischform, die sie als Mangel an erzählerischer Konsequenz interpretiert. Darüber hinaus bedarf es einigen Mutwillens, um Kästners Erwähnung des Zerrspiegels, die sich ganz eindeutig auf die Tendenz der Satire bezieht, Negatives zu hyperbolisieren, derart misszuverstehen, dass man sie als Übertreibung im Sinne eines „eine heile Welt darstellende[n] Hochglanzbildchen des Poesiealbums“ deutet, zumal es nicht ersichtlich ist, wo im Roman dieses „Hochglanzbildchen“ zu finden sein soll.

5 Fazit Delabar hat, wenn er das auch nicht so deutlich formuliert, nicht ganz unrecht: Ein Großteil der Germanisten, die sich mit der Literatur der Weimarer Republik befassen, mag Erich Kästner nicht. Anders lassen sich die wenig objektiven, teilweise geradezu vernichtenden Kritiken³⁴ eines im Wesentlichen gelungenen und bis heute viel gelesenen Romans kaum erklären. Da es als unwissenschaftlich gilt, unverhohlen ad hominem zu argumentieren, hält man sich an das Werk. In der Tat mag es Zeitgenossen geben, die es als peinlich empfinden, dass Kästner seiner Mutter pro Brief Trillionen Küsschen schickte.³⁵ Auch mag es

33 Im Vorwort zur Neuauflage des Fabian 1950 schreibt Kästner: „Das vorliegende Buch, das großstädtische Zustände von damals schildert, ist kein Poesie- und Fotoalbum, sondern eine Satire. Es beschreibt nicht, was war, sondern es übertreibt. Der Moralist pflegt seiner Epoche keinen Spiegel, sondern einen Zerrspiegel vorzuhalten“. 34 Beispielsweise Lethens Besprechung in Neue Sachlichkeit, S. 142–155; Schützs Kritik in Romane der Weimarer Republik, S. 177–183; Mantheys Kästner-Aufsatz in Die Unsterblichkeit Achills, S. 377–386 und die Ausführungen Bäumlers in Die aufgeräumte Wirklichkeit des Erich Kästner, S. 108–130. 35 Vgl. die 1981 von Lieselotte Enderle unter dem Titel Mein liebes, gutes Muttchen, Du! ver-

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befremden, dass in eben diesen Briefen Kästners Sorge um das Wohl der Menschheit so gut wie nie zur Sprache kommt, dafür das Gewinn- und Erfolgsstreben des Filius unablässig thematisiert wird. Es ist nicht das entsagende Gemüt des Moralisten, das aus diesen Briefen spricht, sondern eine kleinbürgerliche Krämerseele. Des Weiteren können wir uns vorstellen, dass Kästners Wissen um den Ehebruch Muttchens, die doch „die beste Frau der Welt“ war, eine nicht zu unterschätzende Rolle für sein Frauenbild und seine daraus resultierende Ehelosigkeit gespielt haben mag. Es ist trotzdem fraglich, ob diesen Umständen irgendwelche Relevanz im Hinblick auf die Qualität seines ersten Romans zukommt. Die Satire Fabian ist als solche stimmig, fast möchte man sagen, makellos. Schwächen des Romans, wie seine Handlungslosigkeit, seine Konstruiertheit und die Penetranz, mit der seine Grundaussage immer wieder aufs Neue wiederholt wird, sind der spezifischen Art der satirischen Darstellung zuzurechnen. Auch die gehäufte Darstellung des Obszönen und das negative Frauenbild entspringen wohl weniger der Willkür beziehungsweise der persönlichen Situation des Autors, als dass sie traditionelle Topoi des satirischen Angriffs sind. Die oft bemängelte Sentimentalität erklärt sich einerseits aus der besonderen Situation des modernen Satirikers, andererseits aus dem doppelbödigen Charakter der Neuen Sachlichkeit³⁶. Kästner selbst beschreibt die satirische Methode in „Eine kleine Sonntagspredigt“ (1947) als „übertriebene Darstellung negativer Tatsachen mit mehr oder weniger künstlerischen Mitteln zu einem mehr oder weniger außerkünstlerischen Zweck.“³⁷ Im drei Jahre später verfassten Vorwort zur Neuauflage des Fabian wird dieser Zweck konkretisiert: Der Roman „wollte warnen. Er wollte vor dem Abgrund warnen, dem sich Deutschland und damit Europa näherten!“³⁸ Er wollte auch, so geht aus dem „Lernt Schwimmen!“ betitelten letzten Kapitel des Romans hervor, warnen sowohl vor dem Versacken im passiv-fatalistischen SichTreiben-Lassen als auch vor einem blindwütigen Handeln ohne entsprechende Vorrausssetzungen. Dass der Autor innerhalb des Romans keine positiven Verhaltensalternativen präsentiert, erklärt sich nicht nur aus den oben diskutierten strukturellen Erfordernissen der satirischen Operation; es ist darüber hinaus

öffentlichte Korrespondenz zwischen Erich und Ida Kästner. 36 Überhaupt stellt sich die Frage, ob sie nicht bloß deshalb als solche wahrgenommen und zensiert wird, da man sie gemeinhin als im Widerspruch sowohl zur neusachlichen wie auch zur satirischen Seh- bzw. Darstellungsweise stehend auffasst. 37 Kästner: Gesammelte Schriften für Erwachsene, S. 119. 38 Kästner: Fabian, S. 10.

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auch nicht Aufgabe des Satirikers, dessen Position Kästner, nicht ohne eine Portion Selbstironie, so verortet: Die Karikatur, ein legitimes Kunstmittel, ist das Äußerste, was er vermag. Wenn auch das nichts hilft, dann hilft überhaupt nichts mehr. Daß überhaupt nichts hilft, ist — damals wie heute — keine Seltenheit. Eine Seltenheit wäre es allerdings, wenn das den Moralisten entmutigte. Sein angestammter Platz ist und bleibt der verlorene Posten. Ihn füllt er, so gut er kann, aus. Sein Wahlspruch hieß immer und heißt auch jetzt: Dennoch! (10)

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Katharina von Hammerstein

„... die zusehende Frau, die aber alles empfindet“ Humanitäre Zeugenschaft in Käthe Kollwitz’ Tagebüchern und ausgewählten Kunstwerken

Käthe Kollwitz, Selbstbildnis, Radierung 1921

1 Einführung Während Käthe Kollwitz (1867–1945) Anfang 1920 inmitten der politischen Unruhen und der ökonomischen Krise der jungen deutschen Republik im Auftrag einer Hilfsaktion gegen die Hungersnot in Österreich an dem lithographierten Plakat „Wien stirbt! Rettet seine Kinder!“ arbeitet, entwirft sie in ihrem Tagebuch verbal eine weitere Zeichnung, die ebenfalls die existenzielle Bedrohung von Kindern thematisieren, zugleich aber eine Beobachterin dieses Leidens darstellen soll: „die zusehende [, ältere] Frau, die aber alles empfindet“¹ (12. Januar 1920,

1 In der vollständigen und mit Anmerkungen versehenen Ausgabe von Käthe Kollwitz’ Tagebü-

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T 451; s. auch 26. Februar 1920, T 456).² Unschwer lässt sich in dem Konzept des emotional aufgeladenen Zusehens die selbst gewählte Rolle der Diaristin erkennen: die empathische Augen- und Zeitzeugin, die nicht selbst körperlich bedroht ist, aber über ihr Mitgefühl — im Unterschied zu sentimentalem Mitleid — an dem Leiden, das sie in ihrem sozialen Umfeld beobachtet, teilnimmt. In ihrem Leben und künstlerischen Schaffen begnügt sich Käthe Kollwitz bekanntlich nicht mit dem bloßen Betrachten der Not um sie her, sondern unternimmt aktive Schritte, menschliches beziehungsweise soziales Leiden durch ihre Werke sichtbar zu machen. Über Kollwitz’ Arbeit am Wiener Plakat, auf dem eine skelettartige Todesfigur in wilder Gebärde die „Hungerpeitsche“ über einer tief geduckten Frau und angstvollen Kindergesichtern schwingt,³ heißt es in ihrem Tagebuch: Während ich zeichnete und die Angst der Kinder mich mitweinen machte, hatte ich so recht das Gefühl der Last, die ich trüge. Ich fühlte, daß ich mich doch nicht entziehen dürfte der Aufgabe, Anwalt zu sein. Ich soll das Leiden der Menschen [...], das jetzt bergegroß ist, aussprechen. Ich habe den Auftrag, aber er ist gar nicht leicht zu erfüllen. (5. Januar 1920, T 453. Hervorhebung KvH)

Deutlich wird in diesen Zeilen das persönliche, berufliche und politische Selbstverständnis der Künstlerin und der Kern dessen, was ich Kollwitz’ humanitäre Ästhetik nennen möchte: Aus ihrer persönlich und emotional erlebten Zeugenschaft menschlicher Not — insbesondere Verzweiflung und (Frei-)Tod aufgrund von Armut, Hunger, Überarbeitung und menschlichen Verlusten — leitet Kollwitz eine moralische Verpflichtung her, das Wahrgenommene bildlich zu dokumentieren. Als „Anwalt“ von Menschen, denen nach heutigen Maßstäben Menschenrechte vorenthalten werden — beispielsweise jenes auf „eine der menschlichen

chern verweist die Herausgeberin und Kollwitz-Enkelin Jutta Bohnke-Kollwitz in diesem Zusammenhang auf die bei Kollwitz/Nagel/Timm gelisteten Handzeichnungen 860/862, deren Thema „Tod greift in Kinderschar“ später als Blatt 3 der lithographischen Folge „Tod“ (1934) — allerdings ohne die zusehende weibliche Figur — wieder aufgegriffen wird (vgl. Bohnke-Kollwitz, Käthe Kollwitz, „Anmerkungen“, S. 861 mit einem Verweis auf Klipstein, Käthe Kollwitz. Verzeichnis, S. 258). Vgl. ferner Hanna Hadorns Aufsatz über den Wert des Modells von Kollwitz’ „stiller Zeugin“ für praktizierende Psychoanalytiker. — Der Abdruck der Illustrationen erfolgt im vorliegenden Beitrag mit freundlicher Genehmigung der VG Bild Kunst, Bonn. 2 Daten und Seiten aus Kollwitz’ Tagebüchern werden im Folgenden mit der Abkürzung T in Klammern angegeben. 3 Das gleiche Motiv verarbeitet Kollwitz später in „Hunger“ als Blatt 2 der Holzschnittfolge „Proletariat“ (1925/26); vgl. Variationen von „Wien stirbt!“ und „Hunger“ in Fritsch, Hommage an Kollwitz, S. 114–123.

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Würde entsprechende Existenz“ (Allgemeine Erklärung der Menschenrechte, Artikel 23) —, und die daher der humanitären Hilfe bedürfen, setzt sie sich für die Verbesserung des Loses ihrer „MandantInnen“ ein, indem sie deren Lage in ergreifenden Graphiken an die Öffentlichkeit trägt. (Mit-)Gefühl ist dabei der Ausgangspunkt der künstlerischen Produktion sowie Ziel der Rezeption: „Ich habe als Künstler das Recht, aus allem den Gefühlsgehalt herauszuziehn, auf mich wirken zu lassen und nach außen zu stellen“ (Oktober 1920, T 483), heißt es unter optischer Hervorhebung in Kollwitz’ Tagebuch. Doch geht es Kollwitz um mehr als bloße Gefühlsvermittlung. Statt für eine „reine Atelierkunst“, die ohne „lebendige Wurzeln“ und daher „unfruchtbar“ sei, plädiert sie für „Wirklichkeitskunst“ (21. Februar 1916, T 226) und räsoniert im Tagebuch: „Ich bin einverstanden damit, daß meine Kunst Zwecke hat. Ich will wirken in dieser Zeit, in der die Menschen so ratlos und hilfsbedürftig sind“ (4. Dezember 1922, T 542).

„Zweck“ ihrer auf reale Wirkung ausgerichteten Ästhetik ist die Linderung menschlicher Not beziehungsweise die Behebung der Mißstände, die diese Not verursachen. Entsprechend zielt ein großer Teil von Käthe Kollwitz’ Kunst auf die Aktivierung ihres Publikums zugunsten eben jener „ratlos[en] und hilfsbedürftig[en]“ Mitmenschen ab. Repräsentationen der Zeugenschaft, eines humanitären (Mit-)Gefühls und des politischen Engagements in Kollwitz’ Schreiben und Kunst sind daher Gegenstand der vorliegenden Untersuchung. Überlegungen über das Zusammenwirken von teilnehmendem Gefühl, ethischer Motivation, bezeugender Dokumentation und politischem Aktivismus im Rahmen des Einsatzes für Menschenrechte und humanitäre Hilfe angesichts der Leiden anderer haben auch in unserer Gegenwart nicht an Aktualität verloren. So warnt beispielsweise die Literatur- und Kulturtheoretikerin und politische Aktivistin Susan Sontag in Regarding the Pain of Others (2003) mit Bezug auf ein anderes visuelles Dokumentationsmedium, Kriegsfotografien, davor, sich naiv auf das aktivistische Potenzial bloßen Mitgefühls zu verlassen: „Compassion is an unstable emotion. It needs to be translated into action, or it withers“.⁴ Mit Blick auf die gesamte Geschichte der sich seit der Aufklärung entwickelnden Bewegung zum Schutz von Menschenrechten identifiziert die Historikerin Lynn Hunt gerade Gefühle der Betroffenheit und Empörung als stimulierende Katalysatoren für politische Forderungen: „The history of human rights shows that rights are best defended in the end by the feelings, convictions, and actions of multitudes of individuals, who demand responses that accord with their inner

4 Sontag, S. 101. Hervorhebung KvH.

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sense of outrage“.⁵ In seinem Aufsatz „Mobilizing Shame“ (2004) betont der Komparatist Thomas Keenan in Bezug auf heutige, nicht zuletzt aus dem (Schuld-) Gefühl heraus entstehende, aktiv(istisch)e Hilfeleistungen, dass bereits „the act of witness is not simply an ethical gesture but an active intervention“ und „a fundamental axiom of the human rights movement“.⁶ Dagegen stellt der Anthropologe Didier Fassin die Angemessenheit einer Emotionalisierung des humanitären Diskurses ebenso in Frage wie die Legitimität des Sprechens helfender Fremder für angeblich macht- und sprachlose Opfer humanitärer Krisen: [...] humanitarian workers, on the basis of a moral imperative, take on the role of witness for those they assist. Although they are rarely explicitly mandated to do so, they set themselves up as spokespeople for the oppressed to make their suffering public.7

[W]hen they bear witness it is in the register of emotion rather than of reason [...], aiming to stimulate action rather than interpret facts [...]. The suffering of the victims justifies the appeal to affects.⁸

Die interdisziplinäre Debatte über die Rollen von Gefühl und Zeugenschaft als zwei zentralen Mobilisierungsstrategien im Rahmen früherer wie heutiger Menschenrechts- und humanitärer Aktivitäten macht deutlich, wie komplex das Verhältnis zwischen Empathie, moralisch motivierter Verpflichtung und — oftmals durch visuelle Medien unterstütztem — politischem Aktivismus ist, und wie kompliziert sich Fragen der selbst ernannten Zeugenschaft, solidarischen Hilfsbereitschaft und „agency“ für die HelferInnen und/oder die Opfer stellen. Für wen sprechen diejenigen, die wohlmeinend Zeugnis über die Leiden anderer ablegen? Werden die Opfer als relativ passive Objekte humanitärer Hilfe angesehen oder darin bestärkt, als aktiv handelnde Subjekte zur Besserung ihrer Lage beizutragen? In welchem Verhältnis zueinander stehen gefühlsbetonte Schilderungen vom Elend einerseits und rationale Kritik menschenverachtender Strukturen andererseits? Ähnliche Fragen stellen sich auch in Bezug auf Käthe Kollwitz und ihre zwischen den 1890er und 1940er Jahren selbst erwählte „Aufgabe, Anwalt zu sein“ für Notleidende ihrer Zeit. Im Unterschied zur umfangreichen, jüngeren Kollwitzforschung⁹, die sich mit Ausnahme von Jutta Bohnke-Kollwitz, Ilse Kleberger,

5 Hunt, Inventing Human Rights, S. 213. Hervorhebung KvH. 6 Keenan, S. 446. Hervorhebung KvH. 7 Fassin, S. 537. Hervorhebung KvH. 8 Ebenda S. 547. Hervorhebung KvH. 9 Vgl. Fischer, Käthe Kollwitz. Meisterwerke; Martin Fritsch, Hommage an Käthe Kollwitz; ders.,

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Sara Friedrichsmeyer, Angela Moorjani und Hannelore Fischer (Autobiographische Texte) vornehmlich dem künstlerischen Werk widmet, konzentriert sich meine textorientierte Untersuchung auch auf Kollwitz’ schriftliche Hinterlassenschaft: ihre Tagebücher (1908–1943) und „Erinnerungen“ (1923), ihren „Rückblick auf frühere Zeit“ (1941), „Die Jahre 1914 bis 1933 zum Umbruch“ (1943),¹⁰ sowie einige ausgewählte Briefe als Orte der Verschriftlichung ihrer Klärungsprozesse und Bestandsaufnahmen sich selbst und anderen gegenüber. Unter Einbeziehung gegenwärtiger Menschenrechtsforschung und theoretischer Ausführungen zum humanitarianism generell¹¹ und humanitären Bezeugen insbesondere untersuche ich — nicht als Kunsthistorikerin, sondern als Literaturwissenschaftlerin — Kollwitz’ autobiographische Schriften und ausgewählte Kunstwerke zwischen den 1890er und 1920er Jahren¹² unter folgenden Fragestellungen: Wie verhalten sich jene in ihren Tagebüchern verbal und privat verarbeiteten Überlegungen angesichts beobachteter Leiden zu den künstlerischen und öffentlichen Werken, deren beabsichtigte Wirkung in der Klage, Anklage und dem Aufruf zu Mitgefühl, Empörung und politischer Aktion liegt? Wie lässt sich auf der Grundlage von ausgewählten Tagebuchnotizen und Werken Kollwitz’ Rolle als Zeugin menschlichen Leids verstehen? Kann Kollwitz’ Herangehensweise an die Verminderung menschlichen Leidens als Vorläuferin eher der heutigen Menschenrechtsbewegung oder der humanitarianism-Bewegung gelten? Handelt es sich bei ihren schriftlich und künstlerisch festgehaltenen Beobachtungen lediglich um Gefühle ausdrückende und Mitgefühl einfordernde Zustandsschilderungen oder auch um Repräsen-

Kaethe Kollwitz. Selbstbildnisse; ders., Kaethe Kollwitz. Zeichnung; Götte, Blickwechsel — Kollwitz, Modersohn-Becker; Hülsewig-Johnen, Käthe Kollwitz: Das Bild der Frau; Klipstein, Käthe Kollwitz. Verzeichnis des graphischen Werkes; von dem Knesebeck, Käthe Kollwitz: Prägende Jahre und Käthe Kollwitz: Werkverzeichnis; Krahmer, Käthe Kollwitz mit Selbstbildnissen und Bilddokumenten; Meyer, Käthe Kollwitz und Ernst Barlach; Nagel, Käthe Kollwitz; Prelinger, Käthe Kollwitz; Rix, Käthe Kollwitz: Art of Compassion; Skrapits, „Mother Courage: Drawings of Kollwitz“; Timm, Käthe Kollwitz; Trüper, „Leider war ich ein Mädchen“, u.a.. 10 Zitate aus Kollwitz’ „Erinnerungen“ werden im Text in Klammern mit E, aus „Rückblick“ mit R, und aus „Die Jahre 1914–1933 zum Umbruch“ mit J und entsprechenden Seitenzahlen angegeben. 11 Da der akademische Diskurs über den modernen Humanitarismus eine relativ junge Erscheinung ist, verwende ich hier den Begriff humanitarianism, der in der englisch-sprachigen Literatur klarer definiert wird: Humanitarianism bezieht sich auf Opfer humanitärer Krisen und „aspires to keep people alive, to expand their opportunities, and to give them greater control over their fates. It does so through various interventions, all defended on the grounds that they improve the health and welfare of others who are too weak and powerless to help themselves” (Barnett, Empire of Humanity, S. 11). 12  Die Nazizeit brachte bekanntlich eine radikale Veränderung der Bedingungen von Kollwitz’ Leben und Arbeiten.

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tationen von grundsätzlicher Systemkritik? In welchem Verhältnis zueinander stehen dabei „agency“ für sie selbst und/oder für andere, d. h. inwiefern dient Kunst hier als Handlungsforum, das Kollwitz selbst und/oder den von ihr beobachteten und dargestellten sozialen Opfern eine Stimme verleiht?¹³ Im Folgenden stelle ich zunächst einige für diesen Beitrag relevante theoretische Grundlagen vor, um dann Kollwitz’ Tagebuch und den Transfer zu ihren künstlerisch-visuell vermittelten, öffentlichen, politischen Stellungnahmen zu beleuchten.

2 Menschenrechte, „humanitarianism“ und Zeugenschaft Die Vorstellung, dass alle Menschen unterschiedslos und allein aufgrund ihres Menschseins gleiche, grundlegende Rechte besitzen, ist relativ neu. Bekanntlich verabschiedete die Generalversammlung der Vereinten Nationen erst 1948, also Jahrzehnte nach dem Höhepunkt von Käthe Kollwitz’ künstlerischem Aktivismus, die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte, in deren Präambel „die Anerkennung der angeborenen Würde und der gleichen und unveräußerlichen Rechte aller Mitglieder der Gemeinschaft der Menschen“ und das Streben nach „einer Welt, in der die Menschen [...] Freiheit von Furcht und Not genießen“, verkündet werden.¹⁴ Die heutige Menschenrechtsbewegung und der sekularisierte Humanitarismus gehen beide auf Konzepte der Aufklärung zurück und „share a common view of the essential characteristics of human welfare and human dignity“.¹⁵

13 Das in Kollwitz’ Schriften und Werken umfangreich angelegte Thema Krieg bleibt in diesem Beitrag absichtlich ausgeklammert, da die im Ersten Weltkrieg zugefügten Leiden an der Front in ihrem Schreiben und Werk kaum eine Rolle spielen und eine Untersuchung der von Kollwitz persönlich erfahrenen und künstlerisch vielfach bearbeiteten Leiden an der Heimatfront den Rahmen des vorliegenden Beitrags sprengen würden. Vgl. zum Thema Krieg bei Kollwitz insbesondere Friedrichsmeyer, „’Seeds for the sowing:’ Diary of Kollwitz“; Fischer, Die trauernden Eltern. Mahnmal für den Frieden; Gudrun Fritsch, Käthe Kollwitz: Schmerz und Schuld; Gove, „The Modernist Poetics of Grief in the Wartime Works of Tsvetaeva, Filonov, and Kollwitz“, Moorjani, „Käthe Kollwitz on Sacrifice, Mourning, and Reparation“; Sharp, „Käthe Kollwitz’s Witness to War“; Siebrecht, „The Mater Dolorosa on the Battlefield — Mourning Mothers in German Women’s Art of the First World War“; von Hammerstein, MitSprache, vgl. das Kapitel über Kollwitz. 14 Vereinte Nationen, Menschenrechte. Hervorhebungen KvH. 15 Wilson/Brown, S. 5. Bezeichnenderweise haben Wilson und Brown als Umschlagsillustration ihres Bandes Humanitarianism and Suffering: The Mobilization of Empathy (2009) eine Abbildung von Käthe Kollwitz’ Lithographie „Mütter“ (1919) gewählt.

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Wenn sich aber die Bewegungen auch überschneiden und ergänzen, so dürfen sie doch keinesfalls gleichgesetzt werden: Human rights relies on the discourse of rights, humanitarianism on a discourse of needs. Human rights focuses on legal discourse and frameworks, whereas humanitarianism shifts attention to moral codes and sentiments. Human rights typically focuses on the long-term goal of eliminating the causes of suffering, humanitarianism on the urgent goal of keeping people alive.¹⁶

Deutliche Unterschiede ergeben sich ferner hinsichtlich der Einstellungen zur „agency“ der EmpfängerInnen von Hilfe: Human rights [...] confer a modern inventory of entitlements, where the obligation to victims arises not from the heart, but from the head — from legal-bureaucratic duties. Pursuing or defending one’s human rights presupposes an assertive political agency on the part of rightholders. [...] In the context of humanitarian assistance, on the other hand, the recipients are less likely to actively determine their own fate.¹⁷

Mit Bezug auf die Gefühlsinvestition heißt es weiter bei Richard Wilson und Richard Brown: „Faced with the suffering of others, humanitarians maintain that their ethical response arises from emotions: compassion, sympathy (in the nineteenth century) and, more recently empathy“.¹⁸ Gefühle spielen in der Tat auf drei Ebenen eine Rolle: als Leid der Opfer, als Mit-Leiden der VermittlerInnen des Leidens —, deutlich beispielsweise in Kollwitz’ Tagebucheintrag über ihr „[M]itweinen“ mit den von ihr beobachteten und künstlerisch dargestellten hungernden Kindern, — und schließlich als intendierte Empörung der lokalen, nationalen oder internationalen Öffentlichkeit in der Hoffnung, dass dieses Gefühl zu konkreter Unterstützung der Notleidenden führt. Voraussetzung für letzteren Affekt und Effekt ist freilich die effiziente Vermittlung der Notlage. „Appeals to

16 Barnett, S. 16. Vgl. auch Donnelly, S. 12. 17 Wilson/Brown, S. 8. 18 Ebenda, S. 2. Wilson und Brown differenzieren zwischen zweien der Termini, die den deutschen Begriffen von Mitgefühl und Mitempfinden nahe kommen: „Sympathy refers to the recognition of another’s emotional state, in this discussion, a state of suffering. Empathy inhabits a site further along on the emotional register and refers to a projection of one’s own mental state into that of another. Whereas in a state of sympathy one says ‘I recognize your pain,’ in empathy one says ‘I feel your pain.’ For a discussion of the cognitive aspects of empathy, see Monroe (The Hand of Compassion, S. 248–50). See Richard Rorty („Human Rights, Rationality and Sentimentality“, S. 128–9), for a discussion of sympathy in the context of human rights stories and sentimental education“ (ebenda). Vgl. zu dem, was wir heute Empathie nennen, schon Adam Smith, The Theory of Moral Sentiments (1759), S. 12, und dazu Hunt, Inventing Human Rights, S. 210.

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humanitarian responsibility have traditionally relied on narratives of suffering keyed to provoke emotional reactions, including sadness, sympathy, indignation, and/or guilt.“¹⁹ Die Mittlerfunktion, in der sich schon „Anwältin“ Käthe Kollwitz sah, ist nach heutigem Verständnis zentral für den Erfolg sowohl der humanitären als auch der Menschenrechtsbewegung, hängt doch beider Effizienz von ihrer Fähigkeit ab, ihre Anliegen — nicht selten durch visuelle Medien wie Fotos, Fernsehreportagen, Filme, digitale Medien oder Kunstwerke — der Öffentlichkeit nahe zu bringen, um Spenden und politische Aktion zugunsten der Leidenden in den jeweiligen Krisenherden anzuregen.²⁰ Das Hervorrufen von Mitgefühl durch „sad, sentimental stories“²¹ ist dabei ein entscheidender Faktor. Im Unterschied zu Kollwitz’ Zeiten führt in unserer Gegenwart die multimediale Überfütterung der Öffentlichkeit mit Leidensbildern oftmals zur „compassion fatigue“.²² Textuelle und visuelle Narrative des Leidens können auf Zeugenberichten unterschiedlichen Ursprungs basieren: auf einer Zeugenaussage des/der superstes oder des/der testis²³, zwei lateinischen Bezeichnungen für Zeuge. Während der/die superstes Menschenrechtsverletzungen persönlich erfahren und überlebt hat, wie etwa mißhandelte Frauen, hungernde Kinder oder Holocaustüberlebende, ist der/die testis nicht selbst Opfer von Menschenrechtsverletzungen, sondern hat sie beobachtet oder sich erzählen lassen und fungiert als VermittlerIn gegenüber einer Öffentlichkeit. Die Variationsbreite solcherart Zeugenaussagen reicht von Gerichtsprotokollen und Berichten in der ersten Person bis zu literarischen Gattungen, von Fotographien und Dokumentarfilmen bis zu Kunstwerken wie jenen von Kollwitz. Die Künstlerin Käthe Kollwitz ordne ich aufgrund ihres indirekten Bezeugens und ihrer Mittlerrolle der Kategorie der testis zu. Selbstverständlich müssen Zeugenberichte wie alle verbalen und visuellen Texte als konstruiert gelten, d.h. sie sind selektiv und perspektivisch gebrochen und dürfen nicht als objektive Abbildungen von Realität gewertet werden. Zeugenschaft, wie sie schon Anfang des 20. Jahrhunderts aus Kollwitz’ Leidensdarstellungen spricht, erweist sich somit bis in die heutigen Bewegungen für Menschenrechte und humanitarianism hinein als essenzielle Strategie der Öffentlichkeitsarbeit: „Bearing witness is seemingly a straightforward act: an attempt to document and to make known a wrong that is [otherwise, KvH] bound

19 Mitoma/Bystrom, S. 22. 20 Vgl. McLagan, „Introduction: Making Human Rights Claims Public“. 21 Rorty, S. 122. 22 Moeller, Compassion Fatigue. 23 Vgl. Agamben, p. 41; Fassin, S. 535.

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to be concealed, denied, or forgotten“.²⁴ Zeugenschaft dieser Art enthält moralische wie auch soziale und politische Elemente, insofern sie es sich zur Aufgabe macht, jenen Leidenden, die sonst keinen Zugang zu einem breiteren Publikum finden würden, Hör- beziehungsweise Sichtbarkeit zu verschaffen.²⁵ Fassin weist jedoch auf die Gefahr hin, dass humanitäre Zeugenschaft „expresses more of the witness’s moral sentiment than of the experience lived by the victim“.²⁶ Auch für Kollwitz gilt es, dies zu untersuchen.

3 Menschenrechte, „humanitarianism“, Zeugenschaft, Gefühl, Systemkritik und „agency“ in Käthe Kollwitz’ humanitärer Ästhetik Käthe Kollwitz’ Königsberger Elternhaus war laut Enkelin Jutta Bohnke-Kollwitz geprägt von einer „vom Grundgefühl her ethisch-humanistische[n] Einstellung“²⁷, welche zusammen mit christlichen und sozialistischen Einflüssen den Hintergrund für ihr späteres humanitäres Engagement bilden. Kollwitz’ „Erinnerungen“ ist zu entnehmen, dass sich die von ihrem Großvater Julius Rupp gegründete Königsberger Freie Evangelische Gemeinde an Idealen der „christlichen Urgemeinde“ — Gemeinschaftsbesitz und Abbau gesellschaftlicher Schranken — orientierte (E 735).²⁸ Ihr Vater Carl Schmidt verband die religiöse Ethik mit dem freiheitlich-demokratischen Ideengut im Gefolge der 1848er Revolution und trat noch im hohen Alter in die neu gegründete Sozialdemokratische Partei Deutschlands ein. Auch Käthes Bruder Konrad Schmidt, ein vielversprechender, von Friedrich Engels geförderter Theoretiker des Marxismus, und ihr Ehemann Karl Kollwitz, Arzt mit Praxis in Berlin, waren von Jugend an aktive SPD-Mitglieder. Hat Käthe Kollwitz selbst nach Aussage ihrer Schwester Lisbeth Stern auch „stets in geordneten bürgerlichen Verhältnissen gelebt“²⁹, so stehen doch auch ihr das Los der Unterdrückten und die Arbeiterbewegung emotional, politisch und vor allem ästhetisch nahe: „[D]ie aus dieser Sphäre gewählten Motive [gaben] mir

24 Givoni, Ethics of Witnessing, S. 3. 25 Vgl. Fassin, S. 553 und 535; Givoni, S .32; Barnett, S. 232. 26 Fassin, S. 554. 27 Bohnke-Kollwitz, „Einführung“, Käthe Kollwitz, S. 12. 28 Vgl. auch Kleberger, S. 13–14. 29 Stern: „Käthe Kollwitz“, S. 4, zit. nach Bohnke-Kollwitz, „Anmerkungen“, Käthe Kollwitz, S. 861–62.

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einfach und bedingungslos das [...], was ich als schön empfand“ (R 741; vgl. auch E 729). Für die vorliegende Untersuchung ist bedeutsam, dass Kollwitz später ausdrücklich betont, „daß anfänglich in sehr geringem Maße Mitleid, Mitempfinden mich zur Darstellung des proletarischen Lebens zog, sondern daß ich es einfach als schön empfand“ (R 741, Hervorhebung, KvH). Sucht sie auch schon anfangs in Königsberger Matrosenkneipen (vgl. R 740) und dann in ihrem städtisch-proletarischen Umfeld am Berliner Prenzlauer Berg Modelle aus diesem Milieu³⁰, so basieren ihre frühen Werke doch noch weniger auf der persönlichen Beobachtung tatsächlichen Elends als auf Inspirationen durch die Literatur wie beispielsweise Émile Zolas Roman Germinal (1885) und Gerhart Hauptmanns Drama Die Weber (1893). Die frühen Werke — beispielsweise die Radierung „Germinal“ (1893) sowie die Radierungen und Lithographien der Folgen „Ein Weberaufstand“ (1893–97) und „Bauernkrieg“ (1903–08) — rufen zunächst in historisch distanzierter und damit relativ abstrakter, verallgemeinernder Weise zum Aufstand gegen das Leben und Arbeiten unter menschenunwürdigen Bedingungen der Unterdrückung auf. Doch schon diese frühen Werke lenken das Augenmerk der Betrachter auf das, was heute als Menschenrecht gilt — etwa nach Artikel 25 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte: (1) Jeder hat das Recht auf einen Lebensstandard, der seine und seiner Familie Gesundheit und Wohl gewährleistet, einschließlich Nahrung, Kleidung, Wohnung, ärztliche Versorgung und notwendige soziale Leistungen, sowie das Recht auf Sicherheit im Falle von Arbeitslosigkeit, Krankheit, Invalidität oder Verwitwung, im Alter sowie bei anderweitigem Verlust seiner Unterhaltsmittel durch unverschuldete Umstände.³¹

Viele von Kollwitz’ Werken propagieren insbesondere den zweiten Teil dieses heute geltenden Artikels: „(2) Mutter und Kind haben Anspruch auf besondere Fürsorge und Unterstützung. Alle Kinder [...] genießen den gleichen sozialen Schutz“ (Hervorhebung KvH). Schon Kollwitz’ Graphik „Not“ (1897) aus der Folge „Ein Weberaufstand“ problematisiert die Lage von Müttern und Kindern. Der Fokus auf die Verzweiflung einer zentral platzierten, sich die Haare raufenden Mutterfigur am Bett eines bleichen, sterbenden Kindes appelliert dabei weniger an die Ratio als an die Emotion der BetrachterInnen. Über dieses Mit-Gefühl wird eine generelle Anklage vermittelt gegen einen hinsichtlich „Gesundheit [...,] Nahrung [...], Wohnung [und] ärztlicher Versorgung“ mangelhaften „Lebensstan-

30 Vgl. u.a. Clara Viebigs Tagebuchnotizen vom 6. und 10. Januar 1922 (Viebig, „Mit der Kollwitz durch Spelunken“) und Bohnke-Kollwitz, „Einführung“, Käthe Kollwitz, S. 18. 31 Vereinte Nationen, Menschenrechte. Hervorhebung KvH.

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dard“ aufgrund von elenden Arbeitsbedingungen, welche durch einen raumfüllenden Webstuhl im Hintergrund lediglich angedeutet werden. Auch den Einsatz für den heutigen Artikel 3 der Erklärung der Menschenrechte — „das Recht auf Leben, Freiheit und Sicherheit der Person“³² — nimmt Kollwitz schon früh voraus. Die Radierung „Vergewaltigt“ (1907) aus der Folge „Bauernkrieg“ deutet die stumme Trostlosigkeit weiblichen Schmerzes und gewaltsamen Todes durch gespreizte, nackte Beine und einen hochgeschobenen Rock im Vordergrund gegenüber einem unspezifischen und damit ebenfalls allgemeinen Hintergrund an. Auch hier ist die Wirkung eine emotionale und bezieht sich nicht etwa auf eine praktisch-konkrete Ebene wie Statistiken, Hilfe für vergewaltigte Frauen oder die Gesetzeslage. Konkreter und auf akute menschenrechtliche und humanitäre Missstände bezogen werden Kollwitz’ verschriftlichte Beobachtungen und künstlerische Dokumentationen erst durch ihren großstädtischen Alltag: [A]ls ich, besonders durch meinen Mann, die Schwere und Tragik der proletarischen Lebenstiefe kennenlernte, als ich Frauen kennenlernte, die beistandsuchend zu meinem Mann und nebenbei auch zu mir kamen, erfaßte mich mit ganzer Stärke das Schicksal des Proletariats und aller seiner Nebenerscheinungen (R 741).³³

Viele von den in Kollwitz’ Tagebuchnotizen (ab 1908) verarbeiteten und dann bildlich gestalteten Beobachtungen einzelner Menschen als RepräsentantInnen ganzer Gruppen thematisieren unzumutbares Leiden — meist von proletarischen Frauen und Kindern — unter Hunger, ausbeuterischer Heimarbeit und schutzloser Obdachlosigkeit (z.B. „Städtisches Obdach“, Lithographie 1926) sowie unter der körperlichen Bedrohung durch betrunkene männliche Familienmitglieder (z.B. „Alkoholgegnerwoche“, Lithographie 1922). Es werden Lebensbedingungen angeprangert, deren Verbesserung Jahre später insbesondere in den Artikeln 25 und 3 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte explizit gefordert werden. Schriftliche Kommentare und künstlerische Drucke zum Los hilfloser, durch die sozialen Verhältnisse zur Verzweiflung oder zum Selbstmord getriebener Frauen wiederholen sich über die Jahre: z.B. „Tod und Frau“ (Radierung 1910), „Gefallen“ (Lithographie 1920), „Frau vertraut sich dem Tod an“ (Lithographie 1934). „Ich weiß ja übergenug von all dem Elend, von den täglichen Selbstmorden, manchmal 15 an einem Tage in Berlin, von der schweren drückenden wirtschaftlichen Lage“, notiert Kollwitz während der Weimarer Republik (Silvester-

32 Vereinte Nationen, Menschenrechte. Hervorhebung KvH. 33 Vgl. auch Bohnke-Kollwitz, „Einführung“, Käthe Kollwitz, S. 18.

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abend 1925, T 606–07). Eine Unterhaltung mit einer vierzehnjährigen Halbwaisen namens Lotte beschreibt sie anschaulich: Heut war sie hier. [...] Der Vater spricht alle Tage davon, wegzugehen aufs Land um sich Arbeit zu suchen. [...] Wie ich sie frag: ‚Was machst Du denn, wenn der Vater weg ist und Du allein?‘ sagt sie: ‚Dann leg ich mich auf den Friedhof neben Mutter oder beiß mir die Pulsadern durch, wie mir die Mutter gezeigt hat, daß mans machen muß.‘ Sie sagt, die Mutter hat oft davon gesprochen sich zu töten, oft wenn die Mutter wegging, ist Lotte ihr nachgegangen aus Angst, daß sie ins Wasser geht. (Karfreitag, April 1924, T 570–71).

Auch der Eintritt dieses Mädchens in eine kommunistische Jugendgruppe, die ihr Hilfe bietet, findet Eingang ins Tagebuch (ebenda). Die enge Verbindung von Tagebuchdokumentationen individuellen Leids, seiner Einordnung in den Zusammenhang sozialer Verhältnisse und seiner thematisch komprimierten künstlerischen Umsetzung bleibt stets gewahrt. Es fällt auf, dass nach einigen Gruppenszenen in den Folgen „Ein Weberaufstand“ und „Bauernkrieg“ die meisten von Kollwitz’ späteren Graphiken und besonders ihren Plakaten jene durch gesellschaftliche Umstände bedingten Leiden in der Gestalt von einzelnen oder doch wenigen, gut erkennbaren Figuren von intensiver emotionaler Ausstrahlung vorstellen. Diese Strategie, wenn es denn eine war, nimmt Ergebnisse heutiger Studien der kognitiven und sozialen Psychologie voraus, nach denen Statistiken, d.h. „numbers fail to spark emotion or feeling and thus fail to motivate action“.³⁴ Die Forschungsergebnisse zeigen vielmehr, „that attention is greater with respect to individual suffering and loses intensity when oriented toward entire groups of people“.³⁵ Eng verbunden mit Kollwitz’ wiederholter Thematisierung der Überanstrengung von arbeitenden Frauen, beispielsweise auch auf ihren lithographischen Plakaten zur „Deutschen Heimarbeit-Ausstellung“ 1906 und 1925, ist jene der Kinder- und Säuglingssterblichkeit — z.B. im Bild des kleinen Sarges auf Blatt 3 „Kindersterben“ (1925) der Holzschnittserie „Proletariat“ — oftmals infolge der Entkräftung der Mütter. Der folgende Tagebucheintrag weist auf die Authentizität von Kollwitz’ Zeugenschaft und ihre detaillierten Kenntnisse des Arbeiterlebens hin, welche die ideelle Grundlage für ihre künstlerischen Arbeiten bilden: Der Arbeiter Soost verdient wöchentlich 28 Mark, 6 davon gehn an Miete ab, 21 gibt er seiner Frau. Diese zahlt für Betten und Bettstelle ab, so daß 14–15 Mark zum Leben bleiben. Es sind Soost und Frau und 6 Kinder. [...] Die Frau ist 35 Jahre und hat jetzt 9 Kinder gehabt, 3 sind tot. [...] sie sind erst elend geworden und gestorben, wenn sie nicht nähren konnte, und

34 Slovic, S. 2. 35 Wilson/Brown, S. 20.

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zwar verlor sie die Nahrung, weil sie zu schwere Arbeit hatte und sich nicht pflegen konnte. (16. April 1912, T 116–17)

Wenn auch mit erheblicher Verzögerung, so finden diese Beobachtungen doch Eingang in zwei lithographische Plakate, die in der Weimarer Republik nun keineswegs mehr bei der gefühlsgeladenen Elendsschilderung stehen bleiben, sondern konkret auf Politisierung des humanitären Problems abzielen. Im Jahr 1919 eröffnet Marie-Elise Kayser (1885–1950) in Magdeburg die erste Frauenmilchsammelstelle und bittet Kollwitz um einen künstlerischen Beitrag, den diese zusagt: Ein Plakat, das für diese Idee wirbt, denke ich mir so, daß eine junge fröhliche Frau mit voller Brust, an der sich ihr eigenes Kind bereits satt getrunken hat, das sie aber noch im Arm hat, ein fremdes schwächliches Kind in den anderen Arm nimmt und anlegt. Ich möchte sowas schon gern machen — schon weil ich die ganze Idee so glücklich und erfreulich finde.³⁶

Die „kleine Graphik (Muttermilch)“ (2. November 1926, T 619) kommt unter dem Titel „Mütter gebt von euerm Überfluß!“ schließlich erst 1926 zustande, bildet dann aber durch Kollwitz’ Stiftung eines „signierten Vorzugsexemplar[s]“ einen praktischen Beitrag zur Finanzierung des Projekts.³⁷ Von der reinen Zeugin und Vermittlerin menschlicher Tragödien avanciert Kollwitz — besonders im Laufe der Weimarer Republik — durch die Verbreitung ihrer zahlreichen, leicht zu vervielfältigenden und daher ein großes Publikum erreichenden Plakate zur aktiven Teilnehmerin an Kampagnen, die praktische Lösungen für humanitäre Krisen suchen. Politisch expliziter und auf die tatsächliche Einforderung von Menschenrechten bezogen ist ihr im Auftrag der „Reichsanstalt zur Bekämpfung der Säuglings- und Kleinkindersterblichkeit“ entstandenes Plakat „Arbeitende Frauen!“ (Kreidezeichnung 1925; „Mutter, Säugling an ihr Gesicht drückend“, Lithographie 1928). Es ist als Kopfbild einer Frauenfigur konstruiert, die den Duft eines winzigen, mit starker Hand liebevoll an ihr Gesicht gedrückten Säuglings einzuatmen scheint. Diese Geste inniger Mutterliebe ist dazu angetan, die BetrachterInnen auf der emotionalen Ebene zu berühren, doch begleitet das Plakat ein Text, der nicht lediglich Gefühle anspricht, sondern Arbeiterfrauen nachdrücklich dazu

36 Kollwitz an Kayser, 21. Dezember 1921, Kollwitz, Briefe der Freundschaft, S. 79. 37 Kollwitz an Kayser, 31. Oktober 1926, ebenda, S. 81; vgl. Bohnke-Kollwitz, „Anmerkungen“, S. 893.

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aufruft, ihre oft ignorierten Rechte auf Schwanger- und Mutterschaftsurlaub sowie Stillpausen wirklich in Anspruch zu nehmen: Arbeitende Frauen! Nach dem Gesetz seid Ihr berechtigt, 6 Wochen vor der Niederkunft die Arbeit niederzulegen. Nach dem Gesetz dürft Ihr 6 Wochen nach der Niederkunft nicht beschäftigt werden. [...] Während der gesetzlichen Arbeitsruhe darf Euch wegen Schwangerschaft und Niederkunft nicht gekündigt werden. [...] Mütter stillt Eure Kinder! Stillende Frauen haben während der Arbeitszeit Anrecht auf Stillpausen.³⁸

Die Opfer von den für ihre Säuglinge lebensbedrohlichen Arbeitsbedingungen werden hier ermutigt, selbst auf ihre verbrieften Rechte zu bestehen und dadurch nicht nur als passive Objekte humanitärer Hilfeleistung, sondern als aktive AgentInnen ihrer Rechte aufzutreten.

Käthe Kollwitz, Brot, Lithographie 1924

38 Hervorhebungen KvH.

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Käthe Kollwitz, Deutschlands Kinder hungern, Lithographie 1924

Das Thema des Hungers gerade von Kindern erweist sich als weiteres durchgängiges Sujet in Kollwitz’ Werk. So vermittelt die Lithographie „Brot“ (1924) die Verzweiflung einer gramerfüllten, dem Betrachter ihren gebeugten Rücken zukehrenden Mutter, die ihren hungernd an ihr zerrenden Kindern kein Brot geben kann. Im gleichen Jahr entsteht im Auftrag einer Spendensammlung der Internationalen Arbeiterhilfe (IAH) das lithographische Plakat „Deutschlands Kinder hungern!“ (1924). Welchen Gefühlswert gerade dieses durch die Erfahrungen des Inflationsjahres 1923 inspirierte Motiv für die leidenschaftliche Mutter und Großmutter Käthe Kollwitz persönlich gehabt haben mag, geht aus der Tatsache hervor, dass sie „die Kinder mit Näpfen“ laut Tagebuch ihrer Schwiegertochter und Mutter ihrer drei Enkel Ottilie zu Weihnachten schenkt (27. Dezember 1926, T 620). Großäugige Kinder strecken einem Erwachsenen, wie der optische Winkel der Graphik nahe legt, in einer erschütternden, hoffnungsvoll Hilfe suchenden Gebärde ihre leeren Essschalen entgegen. Die Suggestionskraft des Plakats ist so groß, dass erwachsene BetrachterInnen angesichts des kunstvoll konstruierten, flehentlichen Appells an ihren Beschützerinstinkt kaum umhin können, eine Spende zu leisten. Über den Erfolg der Spendenaktion ist mir nichts bekannt, doch kann dieses Plakat im Kontext jener These gedeutet werden, dass Darstellungen unschuldiger Opfer von Menschenrechtsverletzungen in besonderer Weise dazu geeignet seien, wirksam Gefühlsreaktionen bei den BetrachterInnen hervorzurufen: „The emotional nature of compassion is closely linked to visual and literary images of suffering and innocence“. „For humanitarian sympathies to be elicited, it seems imperative that the narrative of suffering strongly testifies to the innocence of the suffe-

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rer“.³⁹ In Kollwitz’ Werken werden Kinder zum Symbol für das Elend von Unschuldigen schlechthin.

Käthe Kollwitz, Hunger, Holzschnitt 1922

Doch beschränkt sich Kollwitz’ Einsatz zur Bekämpfung des Hungers nicht auf Säuglinge und Kinder. Exklamierende Satzfetzen in ihrem Tagebuch zeugen vom emotionalen Aufruhr der Diaristin angesichts der galoppierenden Inflation, die Hunderttausende mit existentieller Not bedroht: „Hunger! Ein Brot 140 Milliarden! [...] Hunger, Hunger überall. Auf den Straßen schwärmen die Arbeitslosen“ (Ende November 1923, T 563). Entsprechend eindrücklich gestalten sich ihre künstlerischen Umsetzungen und Aufrufe zu humanitärer Hilfe. Das erste Blatt „Erwerbslos“ (1925) der Holzschnittfolge „Proletariat“ zeigt hinter einem weiß hervortretenden, hohläugigen Kindergesicht auch die dumpfe Hoffnungslosigkeit der Elternfiguren. Für das mittlere Blatt „Hunger“ (1925) dieser Serie greift Kollwitz, wie eingangs erwähnt, auf das Motiv des nicht verwendeten Wien-Plakats von 1920 zurück. Schon 1922 schafft sie einen gleichnamigen Holzschnitt, über den sie im Tagebuch notiert: Das Syndikat Plivier [...] bittet mich um eine Zeichnung für eine einmalige Zeitung: Hunger. Sie soll vor allem den grauenhaften Hunger in Rußland ausschreien, aber auch von dem

39 Wilson/Brown, S. 3 and 23.

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Raabeschen Hunger⁴⁰ sprechen. Ich mache einen Holzschnitt als Kopfbild, die verzweifelte Frau mit ihrem verhungerten Kind im Schoß (30. April 1922, T 530).

Die Verwendung des Verbs „ausschreien“ weist auf die dringliche kommunikative Rolle hin, in der Kollwitz ihre Kunst versteht. Entsprechend fungiert die von der Form her dramatisch angelegte erste Graphik „Hunger“ als Teil einer größeren humanitären Kampagne, in der sie als Titelbild eines mehrseitigen Flugblatts dient, mit dem Theodor Plivier Spenden für die Notleidenden der Hungerkatastrophe in Rußland sammelt.⁴¹

Käthe Kollwitz, Helft Rußland, Lithographie 1921

Bereits im Jahr zuvor wird Kollwitz — einmal abgesehen von „Wien stirbt!“ — erstmalig aktiv für eine das Ausland betreffende humanitäre Aktion. Im russischen unteren Wolgagebiet bedroht eine anhaltende Dürre das Leben von 25 bis 30 Millionen Menschen, so dass die junge Sowjetregierung die Weltöffentlichkeit und insbesondere die internationale Arbeiterbewegung und sozialistischen und kommunistischen Parteien um Unterstützung bittet. Käthe Kollwitz ist zusammen

40 Bezug auf Wilhelm Raabes Roman Der Hungerpastor (1864). 41 Vgl. Bohnke-Kollwitz, „Anmerkungen“, Käthe Kollwitz, S. 875.

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mit Albert Einstein eine der ersten Deutschen, die ihre Unterschrift leistet.⁴² Von ihrem emotionalen wie künstlerischen Engagement zeugt ein Brief an den Sohn Hans: „Ich bin nun doch in der kommunistischen Russenhilfe gefangen. Wenn ich nur wirklich etwas helfen könnte, vielleicht mit einem Plakat. Ich würd es so gern tun“.⁴³ Wenige Wochen später verzeichnet ihr Tagebuch: Russenhilfe. Arbeite mit den Kommunisten mit gegen den fürchterlichen Hunger in Rußland. Bin dadurch wieder ins Politische hineingezogen worden ganz gegen meinen Willen. Habe ein Plakat gemacht, einen zusammenbrechenden Mann, dem sich helfende Hände entgegenstrecken. (12. September 1921, T 508)

Ihre Lithographie „Helft Rußland“ wird durch den Verlag Paul Cassirer in einer Auflage von 300 Exemplaren zur Unterstützung der „Russenhilfe“ durch die von Kollwitz ins Leben gerufenen Künstlerhilfe und die Internationalen Arbeiterhilfe vertrieben. Deutlich wird in der zweimaligen Formulierung ihrer Vorbehalte gegenüber der Zusammenarbeit mit Kommunisten die Ambivalenz von Kollwitz’ politischer Positionierung zwischen Sozialdemokraten und Kommunisten und zugleich ihre Enttäuschung über die Entwicklung Russlands (Neujahr 1921, T 492), dessen Revolution sie 1917 begrüßte (Silvester 1917, T 348). Die Tatsache, dass Kollwitz noch 1921/22 trotz ihrer politischen Vorbehalte gegenüber der extremen Linken aktiv an Hilfs- und Spendenaktionen sowie an der Gründung deutsch-sowjetischer Gesellschaften und Maßnahmen zur Rettung der hungerleidenden russischen Bevölkerung teilnimmt, spricht dafür, dass sie dem humanitären Einsatz eindeutig Priorität vor Parteizugehörigkeit und ideologischen Differenzen einräumt. Der Hintergrund für Kollwitz’ überparteiliche und transnationale humanitäre und menschenrechtliche Perspektive liegt möglicherweise unter anderem in ihrer Mitgliedschaft im Bund Neues Vaterland, der 1922 unter dem Einfluss der Freundschaft mit der Französischen Liga für Menschenrechte in die Deutsche Liga für Menschenrechte umbenannt wird.⁴⁴ Es handelt sich dabei um die im November 1914 gegründete, bedeutendste deutsche pazifistische Vereinigung im Ersten Weltkrieg, die KriegsgegnerInnen aus verschiedenen politischen Lagern vereint. Zu den zeitweiligen Mitgliedern zählen unter anderem Minna Cauer, Albert Einstein, Kurt Eisner, Käthe Kollwitz, Hans Paasche, Helene Stöcker, Clara

42 S. Details bei Bohnke-Kollwitz, „Anmerkungen“, Käthe Kollwitz, S. 871, und „Einführung“, Käthe Kollwitz, S. 14. 43 23. August 1921, Kollwitz, Briefe an den Sohn, S. 184. 44 Vgl. Fricke, „Bund Neues Vaterland“, Gülzow, Bund „Neues Vaterland“, Lehmann-Rußbüldt, Liga für Menschenrechte.

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Zetkin und Stefan Zweig. Kollwitz gehört dem Hauptausschuss des Bundes an.⁴⁵ Attraktiv für sie mag angesichts ihres Pazifismus, der sich allerdings erst im Lauf des Ersten Weltkriegs infolge des Todes ihres Sohnes Peter entwickelt, und ihrer bewußt vermiedenen Parteizugehörigkeit das neue Grundsatzprogramm des Bundes ab Ende 1918 gewesen sein, in dem es heißt: „Der Bund Neues Vaterland ist eine Vereinigung, um ohne Verpflichtung auf ein bestimmtes Parteiprogramm an dem Aufbau der deutschen sozialistischen Republik auf demokratischer Grundlage und darüber hinaus an dem großen Werke der Völkerverständigung mitzuarbeiten“.⁴⁶ Seit wann und wie lange Kollwitz dem Bund Neues Vaterland beziehungsweise der Deutschen Liga für Menschenrechte angehört, ist laut Bohnke-Kollwitz unklar.⁴⁷ Ihr Tagebuch verzeichnet, dass sie am 18. Januar 1919, drei Tage nach dem von ihr emotional kommentierten „[n]iederträchtige[n] empörende[n] Mord an [Karl] Liebknecht und [Rosa] Luxemburg“ (16. Januar 1919, T 400), eine entscheidende Sitzung besucht: Gestern abend mit Helene Stöcker, [Georg Friedrich] Nicolai, einem Rechtsanwalt bei [Albert] Einstein zusammengewesen zur Begründung einer Liga für Menschenrechte. Protest gegen die rohe Militärdiktatur und die Ermordung der Führer [des Spartakus] (19. Januar 1919, T 400).

Ihre erste explizite Erwähnung von „Menschenrechten“ wird als „Protest“ gegen politische Unterdrückung und Gewalt kontextualisiert. Auslöser für ihr Engagement mag diese spektakuläre, gerade in der jungen, deutschen Demokratie hoch brisante und durch die Spaltung der Linken historisch folgenreiche Verletzung der Rechte auf Schutz des Lebens, freie Meinungsäußerung und freie Rede sowie auf politische Arbeit gewesen sein. Gerade diese Rechte finden später als der bereits erwähnte Artikel 3 („das Recht auf Leben, Freiheit und Sicherheit der Person“), ferner Artikel 19 („Recht auf Meinungsfreiheit und freie Meinungsäußerung; dieses Recht schließt die Freiheit ein, Meinungen ungehindert [...] über Medien jeder Art [...] zu verbreiten“) und Artikel 21 („das Recht, an der Gestaltung der öffentlichen Angelegenheiten seines Landes unmittelbar [...] mitzuwirken“) Eingang in die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte von 1948.

45 Gülzow, S. 416–17. 46 „Bund Neues Vaterland.“ Hervorhebung KvH. 47 Bohnke-Kollwitz, „Anmerkungen“, Käthe Kollwitz, S. 842.

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Kollwitz, Gedenkblatt für Karl Liebknecht, Holzschnitt 1921

Nach der Ermordung von Karl Liebknecht wird Kollwitz gebeten, ein Gedenkblatt ihm zu Ehren zu erstellen, das im Holzschnitt von 1921 seine endgültige Form findet. Während der Arbeit daran und angesichts der bürgerkriegsähnlichen Zustände räsoniert Kollwitz über ihre politische Position: [W]äre ich jetzt jung, so wäre ich sicher Kommunistin. [...] aber ich bin in den 50er Jahren, ich habe den Krieg durchlebt und Peter und die tausend andern Jungen hinsterben sehn, ich bin entsetzt und erschüttert von all dem Haß, der in der Welt ist, ich sehne mich nach dem Sozialismus, der die Menschen leben läßt und finde, vom Morden, Lügen, Verderben, Entstellen [...] hat die Erde jetzt genug gesehen. [...] So hab ich auch das Recht, den Abschied der Arbeiterschaft von Liebknecht darzustellen, ja den Arbeitern zu dedizieren, ohne dabei politisch Liebknecht zu folgen. Oder nicht?! (Oktober 1920, T 483)

Nicht dieser und auch kein anderer Politiker, sondern die Arbeiterschaft selbst ist Gegenstand ihres Mitgefühls und ihrer Kunst. Auch Kollwitz‘ Distanz gegenüber Liebknechts kommunistischem Programm mag dazu geführt haben, dass sich ihr Blatt nicht auf seine Person, sondern — im Unterschied zu dem sonst von ihr konstruierten Fokus auf wenige, ausdrucksstarke Figuren — auf die Masse der Trauernden konzentriert. Sich selbst charakterisiert die Diaristin zwar als Sozialistin, vor allem aber als Gewaltgegnerin. Auffällig ist gerade vor dem Hintergrund von Kollwitz’ Selbstverständnis als „zusehende[r] Frau, die aber alles empfindet“, dass ihre schriftliche Ausdrucksweise immer wieder stark durch eine optische Wahrnehmung geprägt ist. Das Verb „sehen“ erscheint im hier zitierten Tagebucheintrag zweifach, zum einen als Ausdruck der schmerzhaften Erfahrung ihres Verlusts des Sohnes und einer ganzen jungen Generation im Krieg und zum anderen als Absage an das „Morden“ und „Verderben“ auf der ganzen „Erde“. Käthe Kollwitz’ Konzept von wünschenswerten politischen Verhältnissen, in denen Menschenleben und Menschenrechte

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geachtet werden, nimmt internationale Züge an. Diese Entwicklung entspricht ihrem Engagement zugunsten der Deutschen Liga für Menschenrechte, deren erklärtes Ziel die Mitarbeit „an dem großen Werke der Völkerverständigung“ ist.

4 Schlussbetrachtungen Geht man davon aus, dass sich nach dem derzeitigen Diskussionsstand der humanitarianism vornehmlich auf menschliche Abhilfe in akuten Krisensituationen konzentriert und sich die Menschenrechtsbewegung langfristigen gesetzlichen und politischen Verbesserungen widmet, so muss man Käthe Kollwitz anhand ihrer hier untersuchten schriftlichen wie künstlerischen Hinterlassenschaft als Vorläuferin beider Bewegungen betrachten. In ihrer Rolle als „zusehende Frau“, als testis beziehungsweise bezeugende Vermittlerin dessen, was sie an Leiden anderer Menschen gesehen und gehört hat, und in dem Bemühen, „Anwalt zu sein“ für diese Leidenden, verarbeitet sie mit Hilfe ihrer Tagebücher in einem Prozess der nachdenklichen Selbstklärung das Gesehene zu wirksamen humanitären und menschenrechtlichen Anklagen. Von der persönlichen Beobachtung führt der Weg über die private Verschriftlichung zur kreativen Umsetzung in graphische — und hier nicht berücksichtigte plastische — Kunstwerke. Diese stellen freilich nicht lediglich porträthafte Widerspiegelungen der Wirklichkeit vor, sondern aus der subjektiven Perspektive der Künstlerin heraus konstruierte Repräsentationen von spezifischen sozialen Mängeln. Auf visuell kraftvolle Weise vermitteln sie dabei zum „Wesentlichen“ geronnene Gefühle.⁴⁸ Mitgefühl fungiert bei Kollwitz ein Leben lang als Bindeglied zwischen den drei Gefühlsebenen der Leidenden, der Künstlerin und des Publikums. Ausgehend von ihrem eigenen Mit-Leiden zielt die künstlerisch gebrochene Darstellung der Gefühle der Leidenden auf die Auslösung von Gefühlen bei den BetrachterInnen.⁴⁹ Ziel ist dabei nicht ein rein kathartisches, letztlich selbstbezogenes Mitleid, sondern ein Mitempfinden, das zu aktivistischen Handlungen zum Wohle der Leidenden führt. Ich stimme Gerhard Pommeranz-Liedtke zu, dass Kollwitz deut-

48 Kollwitz’ Streben, ihre künstlerischen Aussagen auf das „Wesentliche“ zu reduzieren, wird in ihrem Tagebuch wiederholt kommentiert (z.B. 30. November 1909, T 62; 2. Januar 1916, T 207; 6. November 1917, T 340; Anfang Oktober 1919, T 439). 49 Zum „Erkenntnisverfahren der Einfühlung“ bei Kollwitz vgl. Annette Seeler, „Die Einfühlung, die der Betrachter aufbringen muss, um zu verstehen, ist das Mittel der Erkenntnis, das die Kunst von Käthe Kollwitz herausfordert“ (Seeler, S. 24 u. 23).

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lich „über die vom Mitgefühl diktierte neutralistische Zustandsschilderung der Armseligkeit und des Leids“ hinausgeht und auf ihre Weise „aktivierend in den für Recht und Befreiung geführten Tageskampf ein[greift]“.⁵⁰ Betrachtet man Käthe Kollwitz’ Schaffen insbesondere zwischen den 1890er und 1920er Jahren, so lässt sich ein tendenzieller Bogen feststellen, der von anfänglich relativ abstrakten Aussagen über historisch entferntes menschliches Leiden zu Visualisierungen von zunehmend konkreteren Krisensituationen — meist in dem Kollwitz bekannten, proletarischen Großstadtmilieu — führt. Von impliziter und genereller Systemkritik entwickelt sich ihre Kunst besonders in der Phase der jungen Republik hin zur expliziteren Beanstandung von spezifischen Strukturen, die menschliches Leiden verursachen. Dabei verwahrt sich die Künstlerin — zumindest im privaten Tagebuch — gegen die Vereinnahmung durch sozialdemokratische oder kommunistische Parteiprogramme und veranschlagt grundsätzlich mitmenschliche Hilfe höher als ideologische Kämpfe. Im Lichte heutiger Menschenrechtsforschung gilt für große Teile von Kollwitz’ visuell gestalteten Zeugenaussagen das, was Meg McLagan in ihrem Beitrag „Making Human Rights Claims Public“ (2006) über die Rolle von Zeugenberichten generell formuliert: [...] human rights are about perceived injurious experience. They are about making claims for recognition and redress on the basis of one’s [and others’, KvH] humanity. Rights claims are made through the idiom of suffering, and they tend to arrive recoded, in testimonial form, as ‘sad, sentimental stories’ (Rorty 1993: 122). [...] [T]hey hinge on the presentation of victims’ bodies, which elicits sympathy from the audience. [...] [T]estimonial practices bring together people across boundaries of difference, [...] communities of solidarity are formed.⁵¹

Kollwitz’ in hoher Auflage verbreitete Graphiken, darunter insbesondere ihre Plakate, stellen über soziale Klassen, politische Orientierungen und nationale Grenzen hinweg eine Öffentlichkeit her, die humanitäre Krisen und Menschenrechtsverletzungen wahrnimmt und bekämpft. Als aktive, kommunikative Medien tragen ihre Werke dazu bei, „communities of solidarity“ zu ausgewählten Themen von Hunger und Gewalt bis zu Heimarbeit, Mutterschutz und Kindersterblichkeit zu bilden. Neben die humanitären Projekte tritt dabei die zunehmend bewusstere Auseinandersetzung mit Menschenrechtsfragen, wie Kollwitz’ Tagebucheinträge über die Ermordung von Liebknecht und Luxemburg, ihre eigene Mitarbeit im Bund Neues Vaterland beziehungsweise in der Deutschen

50  Pommeranz-Liedtke, Graphischer Zyklus, zit. nach Kleberger, S. 99. 51 McLagan, S. 193.

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Liga für Menschenrechte sowie ihre künstlerischen Aufrufe etwa zur Inanspruchnahme des Rechts auf Mutterschaftsurlaub und Stillpausen oder auch zur Freilassung von deutschen Kriegsgefangenen anschaulich belegen („Heraus mit unsern Gefangenen“, Plakat 1919; vgl. 27. Januar u. 2. Februar 1919, T 403 u. 405). Auf Kollwitz trifft daher jener in der gegenwärtigen Diskussion um humanitarianism und Menschenrechte oft wiederholte Vorwurf — „the humanitarian seeks to assist fellow human beings and to alleviate suffering and does not necessarily act to defend violated rights“⁵² — nicht zu, trägt sie doch immer wieder zur Politisierung und strukturellen, zuweilen rechtlichen Berücksichtigung von humanitären Problemen bei. Insgesamt aber steht Kollwitz nach heutigen Definitionen dem Lager des humanitarianism näher, dessen BefürworterInnen „see themselves as the voice of those who otherwise would not be heard; in solidarity with the vulnerable and in opposition to systems of oppression“.⁵³ Wie diese geht schon „Anwältin“ Kollwitz von der Vorstellung aus, „that some people can and should act in ways that are intended to improve the welfare of those who might not be in a position to help themselves“.⁵⁴ Sind aber humanitäre Hilfsaktionen⁵⁵ und Spendensammlungen wie solche, für die sie sich laut Tagebuch immer wieder zum Wohle „ratlos[er] und hilfsbedürftig[er]“ Menschen engagiert, auch als Ad-hoc-Maßnahmen wertvoll und wirksam, so erzielen sie doch selten langfristige und strukturell verankerte Linderung von Not oder unterstützen die EmpfängerInnen der humanitären Hilfe dabei, sich selbst an der Lösung ihrer Misere aktiv zu beteiligen. Because beneficiaries of humanitarian aid are more likely to appear as passive recipients, critics have asserted that humanitarianism may, in its quest to be seen as ‘apolitical,’ draw attention away from the political reasons for victimization, disempower individuals, and strip them of agency.⁵⁶

Kollwitz’ Elendskunst aber versteht sich weder als apolitisch noch lassen sich darin entmachtende oder entmündigende Elemente nachweisen. Zweifellos vermitteln ihre beiden Medien, wie die meisten schriftlichen und bildlichen Texte, in Bezug auf „agency“ in erster Linie die ethische Motivation, politische Überzeu-

52 Wilson/Brown, S. 11. 53 Barnett, S. 232. 54 Ebenda, S. 12. 55 Kollwitz selbst gab laut Kleberger „[i]n der schlimmsten Elendszeit [...] mit anderen Künstlern zusammen Bilder in eine Verkaufsausstellung im Kaufhaus Wertheim, deren Erlös der Volksspeisung der Arbeiterhilfe zugute kommen sollte“ (Kleberger, S. 95–96). 56  Wilson/Brown, S. 8.

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gung und humanitären Zielsetzungen der Verfasserin beziehungsweise Künstlerin. Nur selten propagieren sie ausdrücklich „political agency on the part of the [suffering] right holders“, wie Verfechter von Menschenrechten es heute verlangen.⁵⁷ Auch Didier Fassins Besorgnis, humanitäre Zeugenschaft „expresses more of the witness’s moral sentiment than of the experience lived by the victim“,⁵⁸ ist berechtigt. Schicksale wie die von Lotte oder Frau Soost, die uns aus Kollwitz’ Tagebuch entgegentreten, sehen wir als „sad, sentimental stories“ durch Kollwitz’ Perspektive und in dem von ihr gewählten künstlerischen Licht und hören nicht etwa die authentischen Stimmen der superstes selbst. Und doch ist Kollwitz eine der ersten deutschen KünstlerInnen, die das Los dieser oder vergleichbarer Arbeiterfrauen so durchgängig als würdig erachtet, via Kunst öffentliche Aufmerksamkeit zu erhalten. Auch fordern einige von ihren Plakaten, wie ich an „Arbeitende Frauen!“ ausgeführt habe, die Opfer per Bild und Text direkt auf, ihre „agency“ — Handlungsvollmacht, Handlungsmotivation, Handlungsbereitschaft — selbständig wahrzunehmen. Vor allem aber setzt sich Kollwitz, wie das Tagebuch nahelegt, aktiv ein für einen humanitär und menschenrechtlich sensiblen „Sozialismus, der die Menschen leben läßt“, d.h. für eine Gesellschaftsstruktur, die — zumindest der Theorie nach und entsprechend dem zu Kollwitz’ Zeiten verbreiteten Idealismus — jedem Menschen eine menschenwürdige Subjektposition innerhalb der Gemeinschaft einräumt und zur Mitgestaltung dieser Gemeinschaft einlädt. Kollwitz selbst nimmt das, was Jahre später als Artikel 27 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte — „(1) Jeder hat das Recht, am kulturellen Leben der Gemeinschaft frei teilzunehmen [...]“ — festgelegt wird, bereits für sich in Anspruch und unterstützt auch andere, nicht zuletzt Frauen und Arbeiter, darin, dieses Menschenrecht in die Praxis umzusetzen. Welche Schlüsse können wir nun ungefähr ein Jahrhundert später aus der Untersuchung von Käthe Kollwitz’ diaristischem Schreiben und künstlerischem Schaffen für unsere Gegenwart ziehen? Zweifellos lernen wir daraus etwas über den Wert der diaristischen Verarbeitung als Teil des Klärungsprozesses in der Transformation von sozial sensibler Beobachtung zu aktivistischem Engagement. Wir lernen bildende Kunst als Medium der menschlichen Klage, der humanitären Intervention und der menschenrechtlichen Anklage kennen. Und wir lernen etwas über die zentrale Rolle der Empathie als Ausgangspunkt und Ziel einer humanitären Ästhetik. Insgesamt aber reicht es natürlich nicht aus, lediglich den Kreis derer, für die man mitfühlt, zu erweitern. Ebenso wichtig ist es, „[to] incorporate the wishes, interests, and values of those who are the objects of

57  Ebenda. 58  Fassin, S. 554.

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our sympathy if it is to avoid a politics of pity“.⁵⁹ Für diejenigen, die — wie Kollwitz selbst und viele der vergangenen und gegenwärtigen BetrachterInnen ihrer Graphiken — nicht persönlich von Elendssituationen bedroht sind, geht es also nicht nur darum, sich durch ihr Werk zu einem mehr oder weniger aktiv(istisch) en Mitgefühl für leidende Mitmenschen im eigenen Land und weltweit inspirieren zu lassen. Ein wünschenswertes Ziel ist es zugleich, die eigenen Privilegien und implizite Komplizenschaft zu überdenken, wie Susan Sontag es in ihrer Kritik bloßen Mitleids in Regarding the Pain of Others den BetrachterInnen von visuellen Leidensrepräsentationen vorschlägt: „To set aside the sympathy we extend to others [...] for a reflection on how our privileges are located in the same map as their suffering, and may — in ways we might prefer not to imagine — be linked to their suffering, as the wealth of some may imply the destitution of others, is a task for which the painful, stirring images supply only an initial spark“.⁶⁰

Literaturverzeichnis Agamben, Georgio: Remnants of Auschwitz: The Witness and the Archive. New York: Zone Books 1999. Barnett, Michael: Empire of Humanity. A History of Humanitarianism. Ithaca/London: Cornell UP 2011. Bohnke-Kollwitz, Jutta: „Einführung.“ In: Käthe Kollwitz: Die Tagebücher 1908–1943. Hrsg. und m. e. Nachwort v. Jutta Bohnke-Kollwitz. Neuausgabe. München: Random House 2007, S. 7–34. Bohnke-Kollwitz, Jutta: „Anmerkungen.“ In: Käthe Kollwitz: Die Tagebücher 1908–1943. Hrsg. von Jutta Bohnke-Kollwitz. Berlin: Siedler 1989. Neuausgabe München: btb/Random House 2007, S. 753–929. „Bund Neues Vaterland.“ Web. 15 Januar 2012. . Donnelly, Jack: “Universal Human Rights in Theory & Practice.” 2nd ed. Ithaca, London: Cornell UP 2003. Fassin, Didier: „The Humanitarian Politics of Testimony: Subjectification through Trauma in the Israeli-Palestinian Conflict.“ In: Cultural Anthropology 23.3 (2008), S. 531–558. Fischer, Hannelore, Hrsg.: Autobiographische Texte von Käthe Kollwitz. Mit Beitr. v. Karl Joseph Bollenbeck. Köln: DuMont 1999. Fischer, Hannelore, Hrsg.: Käthe Kollwitz. Meisterwerke der Zeichnung. Köln: DuMont 1995. Fischer, Hannelore, Hrsg.: Käthe Kollwitz. Die trauernden Eltern. Ein Mahnmal für den Frieden. Köln: DuMont 1999.

59  Barnett, S. 14. 60  Sontag, S. 102–03.

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Cristina Nehring

Ignorance as Insight A Reconsideration of Milan Kundera¹ Für meinen Vater, der mich nicht nur gelehrt hat, seine Lieblingsautoren zu lesen, sondern auch noch mit ihnen zu kämpfen! Love, love, and more love to you, Daddy, forevermore.

Milan Kundera has always had it both ways. He’s lived in a glass house and he’s thrown stones. He’s cashed in on his tragic emigré status and mocked those who paid. He’s asked to be pitied as a Czech, and abandoned the Czechs. He’s penned provocative fictions and forbidden us from being provoked: dictating, in his essays the terms under which his novels must be analyzed. Critics, by and large, have been almost inexplicably compliant. They have parted like the Red Sea to let Kundera pass. The combination of victimization, exoticism, and intelligence makes cowards of us all. Kundera left Czechoslovakia for France in 1975, seven years after the Russian invasion that turned the Prague Spring (Czechoslovakia’s Communism Lite) into deepest totalitarian winter. It is at this time that his international reputation soared — in part, at least, because he presented himself (in the words of one observer) as “the Representative for Czech Fate” — a fate to which the West was extremely sympathetic at the time.² Nor did Kundera miss an opportunity to reinforce the value of that sympathy: Art from Prague, he intoned (as well as Budapest and Warsaw), portrays “human experience of a kind people here in the West cannot even imagine. It offers a new testimony about mankind.”³ “If someone had told me as a boy: One day you will see your nation vanish from the world, I would have considered it nonsense,” he mused in an interview with Philip Roth in 1980. “A man [...] takes it for granted that his nation possesses a kind of eternal life.” Since then he has had to realize not only that his “Bohemia” (as he affectionately calls Czechoslovakia) might merge into Russian civilization, but that this could very well signal “the beginning of the end of Europe as a

1 First published in Harper’s Magazine in 2002. 2 Crain, “Infidelity.” 3 O’Brien, p. 1.

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whole.” From there it is not so far to “the destruction of the world” about which Roth was interrogating him. It is ironic (and typical) that even while Kundera was cultivating the image of the Doom-saying Exile in public, he was mocking it — and the people who fell for it — in his fiction. The Unbearable Lightness of Being features a scene in which Sabina, an exiled Czech painter, receives the brochure for her upcoming American exhibition and sickens at the sight of the barbed wire dramatically photoshopped over her face. She knows that it is this image that will endear her to her sentimental Western buyers — but she also knows it for a cynical hoax; she has never laid eyes on barbed wire, she has suffered little from the loss of her country, and its fate today leaves her rather cool. Does “Bohemia’s” fate still enthrall Kundera? His most recent novel suggests he’s upset anybody thinks it should. Irena, the heroine of Ignorance, is, like Sabina, a Kundera double — certainly with respect to the psychology of exile. A Czech emigree living (like her creator) in Paris, she is taken aback when a French girlfriend, hearing of the fall of the Communist regime in Czechoslovakia during the so-called “Velvet Revolution” of 1989, suggests she should want to go back. “But Sylvie!” exclaims Irena. “It’s not just a matter of practical things — the job, the apartment. I’ve been living here for twenty years now. My life is here!” (3) Under pressure from boy and girlfriends alike, she does, however, return to Prague for a visit — and finds, God help her — that her former intimates are drinking beer, not wine. She brings them a fine case of Bordeaux — a case any Parisian would esteem and she thinks they should esteem the more, deprived as they have been, poor things — and they spurn it! They actually prefer beer. Her nightmares are confirmed. She cannot live in this country a second time — not, that is, unless she is prepared to “lay my whole life [...] solemnly on the altar of the homeland and set fire to it. Twenty years of my life spent abroad would go up in smoke, in a sacrificial ceremony” (45). Despite the melodrama (Irena also talks, at least three times, of “amputating her forearm and attaching the hand directly to the elbow” (43) — a metaphor, apparently, for resuming life in Bohemia), her reasons for not wishing to return are as painfully banal as they are consummately sensible. She doesn’t want to go back because she doesn’t want to go back; why should she? Life is good in France. Her lover, a Swede, has freely left his hometown and nobody is telling him to return. Au contraire; he is considered admirably cosmopolitan where she is thought saddeningly callous. We take Kundera’s point. He is right about Irena. But this novel — more transparently, mercenarily, and querulously, it seems, than all previous ones, is about Kundera. And it is not about Kundera’s being allowed to turn his back on Czechoslovakia and remain in Paris — there’s no contest there: he’s done so for thirteen years now since the demise of European commu-

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nism — it’s about his right to turn his back on Czechoslovakia, remain in Paris, and continue to enjoy the mystique and authority of the suffering Czech exile. This has proven difficult. For Kundera, like Irena, has smarted from the withdrawal of Special Sympathy. “The more Kundera resembles the French, the less he interests them,” announced the Journal du Dimanche a few years back. After 1989, “I wasn’t interesting anymore,” Irena echoes bleakly. The French, she explains, “had done a lot for me. They saw me as the embodiment of an emigre’s suffering. Then the time came for me to confirm that suffering by my joyous return to the homeland. And that confirmation didn’t happen. They felt duped. And so did I, because up till then I’d thought they loved me not for my suffering but for myself.” This, plainly, is Kundera’s rebuke to us, too — though it rings a lot phonier coming from him than from Irena, first because of the important part he played in the mythologization of his own misfortune, and second because his reputation is still riding very high in the Occidental world, despite the fact that it has plummeted in his homeland. Much of “Bohemia,” these days, celebrates Kundera’s failures; bad reviews in Paris make happy headlines in Prague. But there is more to this than the maxim “no man is a prophet in his own land.” After climbing to glory on the backs (or at least reputations) of his fellow Czechs, Kundera has not only abandoned but seriously and repeatedly snubbed them. Ever since he writes in French rather than in Czech, he has seen to it that none of his new books — and there have been five — are translated into his native language. It is almost unthinkable that Ignorance will be an exception to this rule — replete, as it is with insults to all things Czech from the new accents (“nasal” and “unpleasantly blase”) to the old dining habits (“beer mugs,” “macabre dentures,” and song).⁴ Nor will Kundera even allow for the re-edition in Czechoslovakia of most of his old books — the ones he wrote in Czech and which, censored as they were under communism, are not in adequate circulation even now. First, he says, he must compare them to their French translations which he now considers more “definitive” than the originals, since they incorporate changes he made after publication. But for this, alas, time is too short. He must give “radical priority” to new projects. And, of course, he has a steady supply of “unacceptable” English translations he must re-do.⁵ He re-did the English version of The Joke, his first novel, five times. Among English translators, then, and Czech readers, Kundera has few friends. But among critics he remains greatly admired, his fall from emigre grace notwithstanding. Is this legitimate? Should we love Kundera “for himself rather

4 Kundera, Ignorance, pp. 41, 45. 5 The Joke, “definitive edition,” p. 322.

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than for his suffering,” his exoticism, his Central-European sexiness? Ignorance does not give us much reason. To be sure, it features a full display of vintage Kundera moves: everything is there from the surprise love triangle to the peremptory narrator, the lengthy flash-backs, the engineered coincidences, the etymology lesson, the kinky sex, the self-conscious storytelling (“Out of the mists of time [...] I see a young girl emerge,” 77), and the intersplicing of multiple narratives that unexpectedly intersect in the end (through sex, mais oui!). But where several of these devices astonished and delighted the first, second, third, or even fourth time Kundera used them in previous novels; in Ignorance they seem worn, mechanical, pale. The “surprise” connections are predictable to any Kundera reader; the unusually long flash-backs are unusually dull, in part because we hardly care about the present of the bland characters in this book, much less about their past. The etymology lesson with which the novel opens (after a brief introductory dialogue) metastacizes into a mythology lesson, a history lesson, and a musicology lesson. Kundera’s already loquacious narrator has turned taxingly didactic; indeed he seems to have transformed into Professor Avenarius from Immortality. But what of Kundera’s strongest suit — his trenchant psychological observations, his provocative generalizations, his bold philosophical reflections, his aphorisms? For this, in my view, is his greatest gift to the modern novel: the gift of the Essay-in-the-Novel. Following Robert Musil, (one of his favorite authors), Kundera has helped free today’s novelists from the ubiquitous taboo against “telling” instead of “showing”; against reflecting as well as rendering. Effective as the conventional creative writing wisdom to “show, never tell” is to get a story across dramatically, it truncates what contemplative talent novelists may have in forcing them to censor their thoughts about the questions their tales evoke. It forces them, in some fashion, to play dumb — to refrain from all comment: to transcribe a dialogue, a crisis, a crime, and then sit back pokerfaced and leave all speculation to the reader. This is a piety of our literary age; it is a piety that has prevented a terrible lot of tedious sermonizing, no doubt — a lot of easy harm — but also some difficult potential good. And Kundera, in some of his novels, has gloriously and productively exploded this piety. Immortality abounds with engaging, often paradoxical, ideas; if they do not inspire assent, they jolt us into self-examination and into scrutiny of our own creed. Kundera is thought-provoking whether he is discussing modernity (“To be thoroughly modern is to be the ally of one’s gravediggers”), defending appearances (“When we are no longer interested in how we are seen by the person we love, it means we no longer love,” 127), or contemplating our obsession with speed (“Before roads and paths disappeared from the landscape [...] they had disappeared from the human soul: man stopped wanting to walk [...]. What’s more he no longer saw life as a road, but as a highway: a line that led from one point to

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another, from the rank of captain to the rank of general, from the role of wife to the role of widow. Time became a mere obstacle to life” (78). Ignorance still has an idea or two worth pausing over, but for the most part the generalizations in this book are banal, dubious, pompous or — most often — all three. “To die [...] is much easier for an adolescent than an adult,” (105) Kundera tells us, for example. “All predictions are wrong, that’s one of the few certainties granted to mankind” (103), he says elsewhere. Wisdoms like these — and two bucks — will buy you a cup of coffee. What is sad about such aphorisms, especially coming from Kundera, is that they would seem to confirm what many contemporary literary scholars think anyway: that all aphorisms are bad aphorisms; that virtue and interest lies exclusively in specific rather than in general observation, and that, indeed, as a rare critic of Kundera once wrote in the New Republic, aphorisms have no place in literature; they are “inimical to the very spirit of literature.”⁶ Aphorisms have every place in literature; to expel them is to expel comprehensive thought. How much poorer would we be without Shakespeare’s aphorisms (it’s not his plots we know by heart!), or La Rochefoucauld‘s, or Goethe’s or Thoreau’s or Nietzsche’s or — yes — some of Kundera’s. What does not have a place in literature is lazy, lousy aphorisms. And that is what Kundera furnishes in Ignorance. But it is not just the generalizations in this book that are idle; the whole thing reads like the work of a man who is tired of his inventions, tired of his audience. It meanders about chit-chattily, telling us about the various roots of the word “nostalgia,” (one of which is “ignorance” — thus the title), and assembling some famous exiles (Ulysses, Arnold Schoenberg) for sporadic discussion. We are introduced to Irena’s long-time lover, Gustav, married to a woman in Sweden, but residing in Paris and dreaming of Prague: it is he, not Irena, who decides that they will open a business office and begin spending time there. In this way, the couple reconvenes with Irena’s brother and detested mother — a woman whose “vitality” has always intimidated and eclipsed her daughter. As Gustav feels ever closer to Irena’s family, Irena feels ever more distant from him and begins to fall in love with Josef, a man she knew briefly in her youth, who is now living as an emigre in Denmark and visiting Prague as reluctantly as she is. A soulmate, she wonders? Kundera disabuses us of this hope through the postmodern — but somehow facile — method of making us look over his shoulder as he reads his old diaries. It is safe to say that nothing — really nothing — happens in the present of these characters until the last 25 pages of the book when, almost as an afterthought, almost as though to rouse us from our slumbers before it’s time to go,

6  Stanislaw Baranczak, 1996.

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Kundera tacks on a couple of tawdry and taboo-busting sex scenes. They are sufficiently raunchy to awaken us — in one, Irena’s mother seduces her lover; in the other Irena is undone herself — but, at the same time, they sound disturbingly familiar. Disturbingly, first of all, because so many of Kundera’s situations sound recycled by this time; and second, because what’s being recycled is so, well, venomous. It is a miracle of recent literary history that Kundera has gone unskewered by feminists. With the exception of a very diplomatic and qualified book about Kundera’s “simultaneous” feminism and unfeminism by John O’Brien, and one or two unqualified but formidably lonely protests like that of Vanity Fair’s withering James Wolcott in a review of Immortality, there has been extremely little criticism of Kundera from feminist quarters. On one hand this is refreshing; on the other hand, one wonders how Kundera is getting away with what he’s getting away with. It’s not, as an interviewer once suggested, that Kundera’s women are less educated than his men — or even that they are less voluble in the debates that punctuate his novels. Rather it is the recurrent and imaginatively sadistic way in which he portrays them in sexual situations that should give us pause for consideration. Several of Kundera protagonists confess they enjoy watching damsels in distress (two recent examples are Professor Avenarius of Immortality, and Josef, who, as a teen-ager, provoked and counted his girlfriend’s tears because they so excited him). One wonders if it is not something of the same for Kundera. Ignorance ends with a situation one could safely call prototypical in his work. A woman in love — just out of coitus — is not merely abandoned by the hero but, more importantly, disfigured and humiliated by the author. It is not enough that Irena is bedded and deserted by Josef. She has to be portrayed as being bedded obscenely, drunkenly, ridiculously — her sober companion keeps warning her to stop emptying so many vodka bottles during sex — and finally passing out with her legs splayed open. The scene is worth quoting: Her sobs went on for a long time [she has just understood that Josef will leave her], and then, as if by a miracle, they stopped, followed by heavy breathing: she fell asleep; this change was startling and sadly laughable [...] she was still on her back with her legs spread. He was still looking at her crotch, that tiny little area that, with admirable economy of space, provides for four sovereign functions: arousal; copulation; procreation; urination. He gazed at that sad place with its spell broken, and was gripped by an immense, immense sadness. (191; my italics)

Putting aside, for a moment, the immense, immense klunkiness of this passage (three repetitions of “sad” two of “immense”), it is heartbreaking. Here is the abandoned woman, awash in alcohol and emotion, passed out in the most vul-

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nerable and “laughable” possible position, with the man she loves clinically contemplating her used and discarded genitalia. The description serves no purpose, in terms of plot or character revelation. It seems gratuitous — even sadistic. The more so when we realize that uncannily similar scenes recur in so many Kundera novels. Let’s look, for example, at The Joke — not only because it is his first novel and Ignorance is his last (we can observe a certain career consistency), but because, like Ignorance, The Joke is ostensibly a novel of “return.” The hero, Ludvik, returns not to his home country but to his home village, and, like the cast of Ignorance, he hates it. Like Josef, he seduces a woman while he’s visiting: her name is Helena. Like Irena, Helena is in the process of being betrayed by her man — in this case, by her husband, who is leaving her for a student. In Ludvik, Helena sees not only an adored companion, but her escape route from marital tragedy, and she gives herself to him with all the weight of a life. Like Irena, she drinks up a small storm while she makes love with him. Like Josef, Ludvik warns his mistress prudently away from her umpteenth vodka — and recoils from her in horror the moment intercourse is completed. She kissed me; it made my flesh creep, but I could not take my gaze away from her; I was fascinated by her idiotic blue eyes and by her (animal, quivering) naked body. But now I saw her nudity in a new light; it was nudity denuded, denuded of the power to excite that until now had eliminated all the faults of age [...] her physical unloveliness lost all its power to excite and became only itself: a simple unloveliness. (200)

The mixture of scientific curiosity and repulsion with which he studies her demystified body is the same as Josef’s with Irena. Only Helena draws her own degradation even further: ignorant of the fact that she’s about to be dumped and delightedly in love with Ludvik, she starts to dance for joy. Her lover’s response is cold disgust: She did a clumsy imitation of the undulating movements of the twist (I stared aghast at her breasts flying from side to side). (201)

But it’s not over ‘til it’s over. Kundera has further humiliation in store for his heroine. When she realizes she has been snatched from one betrayal only to be tossed more brutally into a second, she is driven to suicide. But Kundera is not in the habit of granting his women characters dignity in tragedy. She attempts to swallow a bottle of sleeping pills, and, as luck would have it, she swallows a bottle of laxatives instead. So the book ends with Helena defecating all over herself. It ends with Ludvik dragging her from an outhouse; her trying — in shame and desperation — to flee, and collapsing over her own lowered lingerie.

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But ludicrously botched suicides are big in Kundera’s oeuvre. They are big, that is, among women. Indeed, the love triangle in Ignorance mentioned previously includes a Czech friend of Irena’s who has only one ear. Why? She tried to kill herself when Josef broke her heart, decades before. She, too, downed sleeping tablets — real ones, this time — and then she lay down in the winter snow to die. Unfortunately she took too few, and rather than expire mysteriously, she revived ridiculously: half-frozen, she had to slog back to her ski camp, apologize, and have her ear amputated. Since then, Kundera tells us, she has preferred beauty to love; she has sacrificed the possibility of intimacy to the secret of her disfigurement. She keeps her hair down in a careful tie, and refuses to be touched. What to make of these situations? Their recurrence, their inventiveness, their lingering detail, make it difficult to think of them as coincidences, gestures toward realism, or anything, really, besides preferred scenarios to their creator. An added touch: the men in these tales consistently hunger for male company after their bulimic entanglement with women. They are filled with disgust for the feminine bodies in whose filth they have wallowed, and long, wholesomely, for absolution among males: “I opened the window because I yearned for a wind to waft away all memory of my ill-starred afternoon [with Helena],” declares Ludvik: Then I put the bottle away [...] and when I felt all traces had been removed, I sank into the armchair near the window and looked forward (almost imploringly) to Kostka; to his masculine voice (I had a great need for a deep male voice), to his long, skinny frame and flat chest [...] (203)

In Ignorance, Irena’s faithless Gustaf — conceived 35 years after Ludvik — feels very much the same after sleeping with his girlfriend’s mother. Where Ludvik looks forward to his old homeboy, Gustaf looks forward to his new “son”: From the bathroom comes the sound of water [...]. In two hours he is expecting the son of his most recent mistress, a man, young, who admires him. Gustaf will introduce him this evening to his business friends. His whole life has been surrounded by women! What a pleasure, at last, to have a son! He smiles and begins to look for his clothes [...]. (190)

Why is it that feminists — or other humans — have not noticed such crude misogyny? Not that it is not part of our world, not that is does not occur, not that it makes Kundera the worse writer — maybe it makes him the richer and more revelatory writer — but at least it should be noticed and responded to in some, not quite business-as-usual fashion. But then again Kundera has always had it both ways. He’s written outrageous things in his fiction and very elegantly and authoritatively forbidden people from taking offense to them in his critical essays. “My novels,” he has said repeatedly,

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“contain no ‘ideologies’ or ’simplistic’ stereotypes; they represent the diversity of ‘human existence’” — indeed, as he intoned in an interview, the “bisexual” diversity. Nothing old here; his oeuvre offers “a new testimony of mankind.”⁷ But does it? Is Kundera as fresh and brilliant as Kundera urges us to believe? Or is he, to the contrary, increasingly fatigued with his own aging stereotypes, selfreferential complacencies, and longstanding ease at manipulating the reader? In his second-to-last novel, Slowness, “Kundera’s” wife prods her husband to write “a piece of nonsense, only for his own pleasure.” Why would an author cite such advice? Why does his partner proffer it? Only because the author is bored almost to distraction and his beloved knows as much. And as we finish Ignorance, we know as much. Kundera is half sick of his own shadows. His postmodern gymnastics look like thumb-twiddling; his once bracing maxims have dwindled into cliché; the notorious coital scenes that — according to his testimony to Philip Roth — served, at one point, to capture the “deepest essence” of his characters, now appear accidental, unrevelatory, arbitrary. And ugly. Kundera has had it too easy in his career. Critics have been cowed by his eloquence and his Easternness. We have taken his word for his own worth. It is time we replace it with our own. It is time we see if, indeed, we like this very talented, very spoilt, and temporarily very tired man for himself — rather than for his suffering.

Bibliography Crain, Caleb: “Infidelity: Milan Kundera Is on the Outs with His Translators, but Who‘s Betraying Whom?” In: Lingua Franca 9.7 (October 1999), pp. 38–50. Baranczak, Stanislaw: Book Review. “The Incredible Lightness.” In: New Republic, 215.11 (9. September 1996), pp. 42–47. O’Brien, John: Milan Kundera & Feminism: Dangerous Intersections. New York: St. Martin’s Press 1995. Roth, Philip: Philip Roth interviews Milan Kundera. 30. November 1980. Web. 26 March 2013. .

7  O’ Brien, p. 3–4, 147.

Regine Angela Thompson

Aufarbeitung deutscher Geschichte in den USA The Wende Museum and Archive of the Cold War — Wie ein Museum entsteht Justinian Jampol, den Gründer und Präsidenten des Wende Museum and Archive of the Cold War, traf ich zum ersten Mal im Sommer des Jahres 2003 auf dem Campus der University of California, Los Angeles, genau ein Jahr nach Entstehen des Museums.¹ Ich war gerade wieder aus Europa zurückgekommen und freudig überrascht, einen jungen Amerikaner in Los Angeles zu treffen, den die DDR und die Entwicklungen in Osteuropa so brennend interessierten, und wir waren sofort in ein lebhaftes Gespräch über die deutsch-deutsche Geschichte seit Ende des 2. Weltkrieges vertieft. Von 1972 —1989 an war ich jedes Jahr mit einem Mietauto in der DDR unterwegs gewesen, um politisch Verfolgten und deren Familien zu helfen. Meine Reisen nach drüben setzte ich auch nach der Wiedervereinigung fort, und mir wurde während unseres Gedankenaustauschs bewusst, wie lange ich schon auf diesen Fahrten durch den östlichen Teil Deutschlands unterwegs war. Mein Cousin in Erfurt hatte mir 1972 eine Zigarrenschachtel mit Familienfotos von unserer Großmutter gegeben, die mir wie ein gehobener Schatz vorkamen und die mehr Licht in meine Vergangenheit brachten. Für meine Geschenke aus dem Westen, darunter die heißbegehrten Texas Instruments Taschenrechner, die ich in die DDR schmuggeln musste, bekam ich als Gegengabe die traditionell geschnitzten Holzfiguren aus dem Erzgebirge, darunter Räuchermännchen, Pyramiden, musizierende Engel und die niedlichen Blumenkinder, die eine ganz typisch sächsische, heimatverbundene Welt verkörpern. Auch Holzdosen, Tonkrüge und Bildbände, die schwer wogen, und in denen sehr viel später als im Westen ganzseitige Farbfotos die Schwarzweißaufnahmen verdrängten, waren

1 The Wende Museum and Archive of the Cold War in Culver City in Kalifornien feierte 2012 sein zehnjähriges Bestehen. Dieser Beitrag, der die Entstehung des Museums beschreibt, soll vor allem das Wende Museum in den deutschsprechenden Ländern bekannter machen und auf seinen großen Auftrag des Arcadia Funds hinweisen, die vierzig Jahre Kalten Kriegs zu erforschen. Der vorliegende Beitrag erscheint auch in englischer Sprache für die Vorstandsmitglieder und MitarbeiterInnen, für die Stadt Culver City, den Arcadia Fund in Großbritannien sowie WissenschaftlerInnen, die zu Forschungszwecken mit dem Wende Museum zusammenarbeiten.

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beliebte Gaben, die mir von allen immer verlegen, als müssten sie sich für etwas entschuldigen, mit den Worten überreicht wurden: „Wir würden ja auch gern mal was Richtiges schenken, aber es gibt ja nichts.“ Mir war der Satz immer peinlich, denn selbst diese kunstgewerblichen Artikel oder Bücher mussten sie trickreich erwerben, da der DDR-Staat alles, womit Devisen erworben werden konnten, vor allem in die Bundesrepublik exportierte. Kaufhäuser und Versandgeschäfte verkauften z.B. in allen Abteilungen DDR-Produkte als ihre Hausmarke. Ich nahm die Figuren aus dem Erzgebirge gern mit nach Los Angeles und besitze noch heute viele Dinge aus der DDR, diesem zweiten deutschen Staat, aus dem ich als Kind mit meinen Eltern in die Freiheit geflüchtet war. Eines Tages schenkte mir mein Cousin stolz den riesigen Bildband DDR, der mit ganzseitigen und sogar doppelseitigen Farbfotografien vom VEB F.A. Brockhaus Verlag in Leipzig herausgebracht worden war. Zum Vergleich, und um den Fortschritt im Sozialismus zu dokumentieren, waren aber auch viele Schwarzweißfotos von Ruinen in Dresden und Berlin abgebildet. Auf den jeweils gegenüberliegenden Seiten sehen wir wiederaufgebaute Fabriken, Regierungsgebäude und Wohnsiedlungen in Plattenbauweise hergestellt. Der Band zeigt ausnahmslos selbstbewusste, fröhliche Menschen, wie sie mir auf meinen Reisen durch die DDR nur selten begegnet waren. Diese Erinnerungen gingen mir durch den Kopf, als Justin mir mit strahlenden Augen immer unfassbarere Geschichten von der Entstehung des Wende Museums erzählte. Er ist Amerikaner, wieso erregte die seit über zehn Jahren verschwundene DDR, deren Untergang in mir unbändige Freude und große Erleichterung ausgelöst hatte, seine ganze Aufmerksamkeit? Ich überlegte, wie alt Justin 1989 beim Mauerfall gewesen sein konnte — doch höchstens elf, zwölf Jahre —, und fragte mich, wie er so lebendig und überzeugend von einer Zeit unserer jüngsten deutschen und europäischen Vergangenheit sprechen konnte, die er selbst kaum bewusst erlebt hatte? Woher kam für ihn dieses Gefühl der Verbundenheit und Faszination? Er aber schien sich dieser bemerkenswerten Tatsache gar nicht bewusst zu sein, denn er lebte mitten in einer Sammelleidenschaft von alltäglichen Gebrauchsgegenständen und anderen Objekten aus der DDR, die mir bekannt waren und die ich durch sein unerwartetes Interesse in einem ganz neuen Licht betrachtete — in der hellen, alles ausleuchtenden kalifornischen Sonne, auf dem Universitätsgelände der UCLA, genau der Universität, auf der ich mir meinen Traum eines Studiums erfüllen konnte, den ich als Kind noch in der DDR zu träumen begonnen hatte und für den ich mein Land verließ, so dass ich Jahre später die Wiedervereinigung nur im Fernsehen von der anderen Seite der Welt miterleben konnte. Auf meine Frage nach dem Ursprung seiner Neugier und seines Engagements für den ehemaligen kommunistischen Arbeiter- und Bauernstaat erklärte Justin mir, dass er als Kind natürlich die volle Bedeutung des Falls der Berliner Mauer

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sowie des Niederreißens des Eiseren Vorhangs nicht begriffen hätte, dass seine Eltern aber ganz selbstverständlich darauf bestanden hätten, dass er und seine Brüder täglich wenigstens die Überschriften auf der Titelseite der Los Angeles Times lasen. Auf diese Weise wurden sie über die lokalen und landesweiten Ereignisse hinaus auch auf die weltbewegende Begebenheiten auf der anderen Seite unseres Planeten hingewiesen. Als es im Herbst 1989 jeden Tag um den Fall der Mauer in Berlin ging, bemerkte Justin, dass seine Eltern deutlich von den politischen Ereignissen in Europa ergriffen waren, und registrierte unwillkürlich, dass sie von historischer Bedeutung sein mussten. Nach einer Woche wunderte er sich jedoch, wieso es nicht endlich neue Themen gäbe und die Zeitung nicht wieder zu anderen Berichterstattungen überginge. Als ich mehr über Justins Familie wissen wollte, sagte er mir, dass seine Mutter evangelisch ist und ihre Familie aus der Schweiz stammte. Der Großvater studierte an der Stanford University und lehrte als Wissenschaftler und Spezialist für Rätoromanisch an der University of California, Santa Barbara. Seine Familie gehörte zu einer Gruppe Deutschschweizer, die von Katharina der Großen nach Russland geholt worden war, um den russischen Bauern neue landwirtschaftliche Methoden beizubringen. Irgendwann kamen sie nach Nord-Dakota, wo sein Großvater mit Indianern Handel trieb, sich lebenslang für Bürgerrechte einsetzte, an der Bürgerrechtsbewegung in den 1960er Jahren teilnahm und einer der ersten Anführer der NAACP (National Association for the Advancement of Colored People) in Santa Barbara war. Justins Vater wurde in Los Angeles geboren. Seine Familie stammt aus der vormals polnischen, heute ukrainischen Stadt Jampol am Dnjestr. Er erinnert sich noch an seine Großmutter, die Analphabetin blieb, Jiddisch und Polnisch sprach, aber nie Englisch lernte. Die Familie erlebte Schlimmes unter den russischen Pogromen, bis sie schließlich über Ellis Island in die USA einwanderte. Nach unserer ersten Begegnung trafen wir einander oft, und je mehr ich erfuhr, umso besser gelang es mir, die treibende Kraft, die hinter Justins Idee eines Wende Museums und Archivs aus den Jahren des Kalten Krieges stand, zu verstehen und in das, was sich im wiedervereinigten Deutschland abspielte, einzuordnen. Meine Frage, wann er bewusst das erste Objekt aus der untergegangen DDR erworben hatte, konnte er nicht direkt beantworten, dafür konnte er mir umso besser den Ursprung seiner Sammelleidenschaft verdeutlichen, die auf seine Passion für Geschichte und Archäologie zurückging. Schon mit sechzehn Jahren nahm er an Expeditionen nach Israel, Ägypten und Jordanien Teil und erlebte, welch hohen Stellenwert visuelle Eindrücke einer Kultur auf uns haben können und wie wichtig das Anschauen sowie Befühlen von Gegenständen ist. „Wenn wir richtig hinsehen, dann können diese Objekte uns erstaunliche Geschichten über die Kultur, aus der sie kommen, sowie über uns erzählen“, erläuterte mir Justin mit seiner nie versiegenden Leidenschaft und fügte hinzu: „in Berlin mussten wir

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nicht tief graben, dort waren die Einschusslöcher der Kugeln noch in den Häuserwänden zu sehen.“ Im Falle der DDR und des Ostblocks haben wir es zwar nicht mit von Menschen geschaffenen Werkzeugen und Gebrauchsgegenständen aus vorgeschichtlicher Zeit zu tun, aber aus einer untergegangenen geschichtlichen Epoche stammen sie nichtsdestoweniger. In dem Augenblick wurde mir klar, dass die Herkunft seiner Familie und ihr Interesse für Geschichte ihn für sein Lebenswerk prädestiniert hatten. Seine erste Arbeit auf kulturellem Gebiet führte ihn zu Professor Walter Reich, dem ehemaligen Direktor des United States Holocaust Memorial Museum in Washington, D.C. Justin war damals beim Woodrow Wilson Center for International Scholars angestellt und assistierte Professor Reich beim Erforschen und Zusammenstellen von Material in Verbindung mit Geschichtspolitik, eine Aufgabe, auf die er heute noch als eine fruchtbare Erfahrung zurückblickt. Wie es das Schicksal manchmal so anbahnt, wählte Justin auf seiner ersten Reise nach Tel Aviv den längeren Weg über Berlin Schönefeld. In Berlin hörte er die unwahrscheinlichen Geschichten über die Mauer noch einmal ganz neu und begriff die physischen, politischen und psychischen Konsequenzen der Mauer für die Stadt und ihre Bevölkerung auf beiden Seiten. Er nahm zum ersten Mal wahr, was diese Mauer für Berlin bedeutet haben musste, und es war ihm, als spüre er die in alle Lebenslagen eingreifenden Konsequenzen der Teilung der Stadt noch nachträglich am eigenen Leib und musste sich eingestehen, dass ihm durch diese körperliche und geistige Nähe das Geschick der deutschen Hauptstadt überhaupt erst richtig bewusst wurde. Von da an war er oft in Berlin. Magisch angezogen, lenkte er seine Schritte immer wieder zum Brandenburger Tor, wo auf einem fortwährenden Flohmarkt täglich eine Fülle der unglaublichsten Dinge zum Kauf angeboten wurde, und das nicht nur von Berlinerinnen und Berlinern, die kauften, verkauften und tauschten, ihr Leben verramschten und Unverkäufliches mit einer Eile wegwarfen, als müssten sie alles aus ihrer Vergangenheit sofort loswerden, sondern auch von immer mehr Menschen aus den Ländern der einstmaligen Sowjetunion. Die ganze Welt schien sich am Brandenburger Tor zu treffen. Schon nach kurzer Zeit begriff Justin, dass mehr weggeworfen als verkauft wurde, dass die DDR praktisch eine Müllphase durchlief, während der die Menschen sich all dessen mit einer für ihn kaum nachvollziehbaren Hast entledigten, mit dem sie vierzig Jahre lang zu leben gezwungen gewesen waren, und alles kurzerhand entsorgten, was niemand kaufen wollte, ohne groß einen Gedanken daran zu verschwenden, was sie da, von ihrem eigenen Leben und angewidert von ihrer gerade vergangenen Geschichte, wegwarfen — und dabei an keine Zukunft dachten. Es wurde einfach alles aussortiert, was eine Gesellschaft im Umbruch, im ersten Taumel der Freiheit, als unbrauchbar und ungeliebt zurücklässt, ohne nach dem tatsächlichen und ideellen, dem histori-

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schen Wert der Sachen zu fragen, weil alles aus dem Westen kommende zunächst als besser und begehrenswerter erachtet wurde. Als Justin dem geschäftigen Treiben zusah, erinnerten ihn die Objekte, die Menschen aus ihren Wohnungen heranschleppten, die sie von Speichern herunterholten und aus Kellern hervorgruben und ans Licht brachten, um sie zu versilbern, an archäologische Grabungen. Dinge, die gerade noch von ihnen in ihren Häusern, Fabriken und Büros gebraucht worden waren, bekamen dadurch, dass sie von ihren ursprünglichen Besitzern als wertlos, unliebsam und unzeitgemäß beseitigt wurden, eine ganz andere Bedeutung. „Wir können von Glück reden“, meint Justin, „wenn vieles von anderen gesammelt wurde.“ Heute erhellen diese Objekte für uns vierzig Jahre europäischer Geschichte. Sie erwachten in der plötzlichen Freiheit am Brandenburger Tor zu neuem Leben und wanderten von dort aus als gehobene Schätze in alle Welt. Justin fühlte sich als Zeuge einer Aufdeckung und Ermittlung der ganz anderen Art, mit der er sich als Historiker, so begriff er es intuitiv, intensiv würde auseinandersetzen müssen und die für ihn vergleichbar mit der Forschung und den archäologischen Grabungen in Griechenland, Israel, Ägypten oder Jordanien war. Justins Mentor, sein Professor und Historiker Peter Baldwin an der UCLA, hatte ihm nach dem Bachelor’s Degree darin bestärkt, das Angebot vom St. Antony’s College in Oxford anzunehmen, wo er sich der Erforschung des Lebens in der Sowjetunion während des Kalten Krieges widmen wollte. Bald nutzte er jedoch jede Gelegenheit, um nach Berlin zu fliegen. Durch diese wiederholten Kontakte verschob sich der Fokus seines Interesses und der DDR-Alltag rückte in den Mittelpunkt. Beim Durchblättern von Sammelalben aus den 50er und 60er Jahren, die Briefmarkensammlern gehört hatten, erfuhr er ganz unerwartet mehr über den Alltag der Menschen im Osten Deutschlands. Briefmarken waren beliebte Sammelobjekte, und die DDR hatte als Propaganda, und um an nötige Devisen zu gelangen, wunderschöne, sehr bunte Briefmarken und ganze Sätze mit ebenso schönen Ersttagsstempeln herausgegeben, auf denen die Errungenschaften des sozialistischen Lebens gepriesen wurden und das Land sich nach außen hin offen gab. Für die Menschen in der DDR, von denen es sich die wenigsten hatten leisten können, zumindest ins sozialistische Ausland zu reisen, so lange es ihnen noch erlaubt war, waren die vielseitigen Motive auf den Briefmarken wie ein Tor zur Welt gewesen, gewissermaßen ein Ersatz für ihre Träume. Inmitten dieses andauernden überstürzten Ausverkaufs und Beseitigens all dessen, was das Leben eines Volkes über zwei Generationen verkörpert hatte, begann Justin immer mehr zu sammeln. „Dieser ständig wachsende Fundus informiert über den Alltag in der DDR, er vermittelt einen breitgefächerten Einblick in jenen Zeitraum zwischen 1949 - 1989 und wird so zu einem bleibenden Vermächt-

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nis für kommende Generationen“, erläutert Justin. Wie er selbst sagt, versuchte er wenigstens einiges zu retten, um damit der allgemeinen Geringschätzung aller Konsumgüter im privaten, aber auch im öffentlichen Bereich entgegenzuwirken. Während dieser frühen Tage nach dem Mauerfall endeten ganze Archive im Reißwolf und Schlafzimmer- Wohnzimmer- und Büroeinrichtungen wurden auf Müllhalden gekippt. Leider sind diese geretteten Objekte letztlich nur ein Bruchteil dessen, was weggeworfen oder vernichtet wurde und damit der Forschung, der Nachwelt, sowie den einstigen Eigentümern verloren ging. Natürlich war unter den Angeboten auf den Flohmärkten nicht alles echt, ja, es wurden sogar Restposten aus dem „Surplus Store“ von Los Angeles feilgeboten, wie Justin erkannte, die die Menschen, erpicht auf etwas Neues, vollkommen gleichgültig, ob es originale Stücke waren oder ob sie überhaupt etwas mit ihnen anfangen konnten, begierig erstanden. Andere Objekte wurden entfremdet und nicht nur ihrer ursprünglichen Bedeutung beraubt, sondern die Frage, wozu sie einmal gebraucht worden waren und von wem, wurde im allgemeinen Aufbruch in den seltensten Fällen gestellt. Auf diese Weise wurde Justin Zeuge davon, wie ein Land und eine Kultur sich täglich vor seinen Augen veränderten. Er beobachtete, wie die Menschen sich von sich selbst entfernten, weil sie erst noch lernen mussten, die Frage nach Sinn und Tragweite ihrer eigenen, sich vor ihren Augen abwickelnden, und obsolet werdenden Vergangenheit zu stellen, um nach und nach zu einem neuen Selbstvertrauen in einer für sie fremden Welt zu gelangen und schließlich zu sich selbst zurückzufinden. Es war den meisten Menschen, aus der politischen, wirtschaftlichen und geographischen Enge der DDR kommend, in den ersten Monaten und Jahren des ihr ganzes bisheriges Leben ergreifenden und in Frage stellenden Wandels unmöglich, ihre Alltagsobjekte von der neuen politischen sowie ökonomischen Realität zu trennen, sie selbstbewusst zu behalten und einfach weiter zu gebrauchen. Verwunderlich war das nicht, denn schon vor der Wiedervereinigung stritten westliche Wissenschaftler längst vehement über den DDR-Alltag und ob er überhaupt erforschenswert wäre und, wenn ja, welchen Stellenwert ein solches Unterfangen, das tägliche Leben im SED-Regime aufzudecken und es, frei von den alten ökonomischen und politischen Zwängen neu zu schreiben, einnehmen sollte. Ende der neunziger Jahre ergriff er den günstigen Augenblick und nahm die Ware auf den Tischen der Flohmärkte zum Anlass, die Leute zu interviewen. Während er nur Informationen wollte, drückten sie ihm alle möglichen Dinge in die Hand, die aufzuheben ihn zu der Zeit noch nicht interessierten, denn um das, was die Menschen ihm schenken wollten zu bewahren, würde er vor allem Platz, Zeit und Geld brauchen. Wenn er das sagte und dankend ablehnte, gaben sie ihm zur Antwort, dass sie die Sachen einfach wegwerfen würden, wenn er sie nicht mitnehmen würde. Da verstand er, dass diese Dokumente einer Kulturgeschichte

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der DDR rasend schnell verschwanden. Überall wurden historische Wahrzeichen abgerissen, einschließlich des Palastes der Republik in Berlin, Denkmähler wurden beschädigt, verhasste Statuen gestürzt und abtransportiert, Konsumgüter weggeworfen, Fabriken waren schon kurz nach dem Mauerfall nicht mehr konkurrenzfähig und verloren binnen Wochen ihre Abnehmer weltweit, woraufhin sie geschlossen und verkauft oder dem Verfall überlassen wurden, Geschäften liefen die Kunden davon, so dass die gesamte DDR-Wirtschaft zu einem plötzlichen Stillstand kam. Filme, Fotografien und ganze Archive wurden zerstört oder landeten gleich auf dem Müll. In dieser Situation versuchte Justin zu retten, was zu retten war. Auf diese Weise wuchs seine Sammlung unversehens, die er anfangs in seinem Studentenzimmer an der Universität in Oxford unterbrachte. Aus Platzmangel hoffte Justin, vieles an Museen zu geben, die sich aber nur wenige ausgewählte Dinge herauspickten. In den neunziger Jahren war es einfach noch zu früh, die jüngste Vergangenheit hatte noch keine historische Relevanz erlangt. Heute kann Justin sagen, dass kein anderes Museum oder Archiv derartig aktiv die Artefakten sammelt, die das Wende Museum erwirbt. Tatsächlich ist das Gegenteil eher der Fall, nämlich dass viele Museen in Europa sich der Artefakte aus der Zeit des Kalten Krieges wieder entledigen. Die Menschen aus der früheren DDR wollten sie nicht mehr haben und der größere Teil der Deutschen in der Bundesrepublik, die jenen Osten Deutschlands nicht kannten, die in vierzig Jahren nie drüben gewesen waren, brauchten lange, um sich überhaupt das erste Mal über die nicht mehr existierende Grenze zu wagen, die als Phantom in ihren Köpfen fortbestand. Auch sie hatten vierzig Jahre mit der deutschen Teilung gelebt, die ihnen ihre Freiheit und ihren Wohlstand gewährleistete. Politisch hatten sie sich an ihr geteiltes Land und den Status quo gewöhnt, der Sicherheit vor dem Sowjetimperium und damit einen latenten Frieden garantierte, den es unter allen Umständen zu erhalten galt. Und so hatten sich die Deutschen auseinandergelebt. Kein Wunder, dass viele Westdeutsche nicht einmal in den Nachrichten oder im Fernsehen die Feierlichkeiten zum vierzigsten Jahrestag der DDR verfolgt hatten. Die schnell wachsende Sammlung ausrangierter DDR-Erzeugnisse und Memorabilien zwangen Justin, über die vierzig Jahre deutscher und europäischer Teilung ganz gezielt nachzudenken und sich der Frage zu stellen, welche Chance er der Rettung und Aufbewahrung der gesammelten Objekte gab. In Oxford studierte er zunächst visual material culture, aber sein Interesse an Deutschland war schon im United States Holocaust Memorial Museum in Washington, D.C. geweckt worden. Schnell erkannte er die visuelle Bedeutung der DDR-Kultur und fragte sich, wie sie in einer Gegenwart, für die sie nicht vorgesehen war, interpretiert werden könnte, denn erst dann liefen die vielen ganz unterschiedlichen Gegenstände nicht mehr Gefahr, ein zweites Mal weggeworfen zu werden. Deshalb war

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er überzeugt davon, dass erst mit dem Verstehen ihrer historischen Einstufung die Objekte wirklich in Sicherheit gebracht werden und einen neuen Platz in unserer Gesellschaft und unserem Denken einnehmen konnten. Dafür musste dringend für eine Übergangszeit ein Ort bereitgestellt werden, an dem sie erst einmal würden überleben können, um sie schließlich dauerhaft in eine Zukunft hinüberretten zu können. Aus solchen und ähnlichen Überlegungen heraus, sowie in Anbetracht der überwältigenden Masse an Material, das uns die ersten Jahre nach der Wende bescherten, reifte allmählich der Gedanke eines Museums. Die Entscheidung wurde von Justins passioniertem Interesse als Historiker geleitet und er begann mit eigenen Forschungen. Umgeben von seiner sich stetig vermehrenden Sammlung kam Justin der Gedanke einer lending library, der ihr eine maßgebende Richtung weisen sollte, indem er ausgewählte Teile an Historiker auslieh, die gerade an einem Thema über den Ostblock arbeiteten. Während er seine Dissertation „Swords, Doves, and Flags: Evolution of Political Iconography and Cultural Meaning in the GDR, 1949–1989“ schrieb, nahm die Idee eines Museums konkret Gestalt an. Die dreidimensionalen Objekte dafür musste er sich selbst erst suchen. Dabei traf er Alwin Nachtweh am Checkpoint Charlie. Nachtweh, der in Neukölln wohnte, war einer der Mauerspechte. Er wollte die Geschichte der Mauer erforschen, widmete dem Verstehen dieser Grenze sein Leben und sammelte in den neunziger Jahren alles, was er dazu finden konnte: Kunstgegenstände, historisch bedeutende Objekte, Alltagsprodukte. Vor allem konnte er Nachahmungen vom Original unterscheiden und warnte die Leute vor Imitationen und gefälschten Mauerstücken. Besonders der Checkpoint Charlie hatte es Nachtweh angetan, den Justin nach amerikanischer Gewohnheit nur Alwin nennt. An diesem weltbekannten Ort wurden besonders viele Souvenirs angeboten und von Touristen gekauft und getauscht. Justin lernte viel von Nachtweh, obwohl der zunächst in ihm nur einen jungen Amerikaner sah, der mit Geld um sich warf, um seine Aufmerksamkeit zu gewinnen. In jener Zeit des Aufbruchs verliebte Justin sich in Berlin und beschloss, in Deutschland zu bleiben. Er ging immer wieder bei Nachtweh vorbei und verwickelte ihn in Diskussionen, bis der sich schließlich von dessen Ernsthaftigkeit überzeugen ließ, nachgab, Justin in sein Vertrauen zog, ihm alles zeigte, was er gesammelt hatte und weitergab, was er wusste. Er nahm ihn mit in seinen Keller in Neukölln, wo er ihm unter anderem die farbenfrohen, handgestickten DDRFlaggen, Fahnen, Banner und Wimpel zeigte, ihm die Textilien und deren Verarbeitung erklärte und so immer tiefer in seine Welt zog. Während ihrer Treffen stellte sich heraus, dass Nachtweh ein neues, angemessenes zu Hause für seine Sammlung suchte und bereit war, sie Justin zu verkaufen. Der musste gestehen, dass er Nachtweh seine Sammlung im Moment nicht abkaufen konnte, dass er ihm aber, sobald es ihm möglich sei, den Kaufbetrag überweisen würde. Nacht-

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weh vertraute Justin und ließ sich ohne irgendwelche Sicherheiten auf das Versprechen ein. Mit diesem Angebot verdoppelte sich Justins Sammlung auf einen Schlag. Zusammen mit den Objekten in Oxford würde der Neuerwerb zwei Überseecontainer füllen, und Long Beach war plötzlich zum logischen Hafen geworden, an den er seine Sammlung verschiffen konnte, für deren Verbleib er nun dringend eine Lösung suchen musste. Er fühlte sich wie elektrisiert und begriff, dass sich mit jedem Tag, der verging, die DDR-Kultur in unserer Wahrnehmung immer weiter entfernte, dass das Land, das die DDR einmal war, sich in unseren Köpfen zusehends veränderte und täglich etwas mehr auflöste, und dass die vierzig Jahre durch die rasanten Veränderungen in eine ferne Vergangenheit rückten. Das war 2001. Als die Container unterwegs waren, flog Justin selbst für eine Woche nach Los Angeles, wo er Museen anrief und mit Leuten über die Möglichkeiten, ein Museum für diese Objekte aus der DDR zu gründen, sprach. Er stieß damit sofort überall auf Begeisterung und auf ein echtes Interesse an deutscher Kultur und Kunst. Alle, mit denen er ins Gespräch kam, seien es Leute in der Schlange bei Starbucks, an der Lebensmittelkasse eines Supermarktes, oder an der UCLA, boten ihm ihre Hilfe an. Jemand versprach ihm spontan kostenlose Unterbringung der Container an einem sicheren Ort, ein anderer wollte für freien Transport sorgen, wogegen die typischen Fragen der Deutschen an Justin immer nur lauteten: „Was ist dein Konzept, was stellst du dir vor?“, ihm aber weder Hilfe anboten, noch alternative Ideen mit ihm diskutierten. In Los Angeles war plötzlich alles anders. Dort hatten alle ein Projekt und stellten sich ihm freimütig zur Verfügung. Die Stadt, in der tatsächlich alles möglich ist, holte sich ihn, noch bevor er sie sich als Ort für ein Museum aussuchen konnte. In dieser schwierigen Anfangszeit musste er rein psychologisch ganz einfach solche praktischen, völlig unkonventionellen, ja direkt verrückt klingenden Angebote hören, um weitermachen zu können. Selbst heute noch, zehn Jahre nach der Gründung des Wende Museums, klingt das Ganze wie ein Wunder und es zeigt zugleich die leichte, lebensfrohe und liebenswürdige Seite der Menschen in Los Angeles auf, die etwas, von dem sie bis vor fünf Minuten noch nichts wussten, vollkommen unkompliziert akzeptierten, darauf vertrauend, dass es gehen würde und es möglich machten. So gesehen ist die Geschichte der Entstehung des Museums eine typische „L.A. Story“, die an die Ereignisse des Zweiten Weltkrieges anknüpft, eine Zeit, in der nicht nur deutsche Exilanten, sondern Menschen aus ganz Europa in Los Angeles Zuflucht vor den Verfolgungen der Nazis fanden. Was Justin und seine Sammlung nach Los Angeles brachte, vollzog sich rückblickend in gewisser Weise als direkte Folge der Auswirkungen des Zweiten Weltkrieges und der Teilung Europas.

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In Los Angeles rief Justin verschiedene Organisationen an und erklärte ihnen seine Situation. Eines Spätnachmittags ging er im History Department an der UCLA von Tür zu Tür die Gänge entlang, klopfte überall an und fand schließlich seinen früheren Professor, Peter Baldwin, hinter der letzten Tür in seinem Büro. Der schlug ihm sofort vor, mit Dr. Barry Munitz, dem damaligen Präsidenten und CEO des J. Paul Getty Trusts, eines der größten Museen weltweit — während sein Museum noch im Anfangsstadium war — ein Treffen zu vereinbaren. Als Munitz ihn auf einen Lagerraum für seine Sammlung aufmerksam machte, war der entscheidende Schritt getan. Mit diesen Räumen, die vormals vom Auktionshaus Christie’s benutzt worden waren, war der Grundstein für das Museum gelegt, denn damit waren die nötige Ausstattung sowie ideale Lagerbedingungen mit klimatisierten Räumen, Büros und genügend Speicherraum gegeben. Darüber hinaus führte das Treffen mit Munitz zu einer fruchtbaren Zusammenarbeit, die bis heute mit dem J. Paul Getty Museum weiterbesteht. Im Jahre 2002 verwendete Justin das sechsstelliges Erbe seines Großvaters väterlicherseits dafür, um mehr Lagerräume für die Sammlungen zu mieten und um weitere Objekte aus den ehemaligen Warschauer-Pakt-Staaten zu erwerben. Noch im selben Jahr wurde das Museum als nonprofit organization im State of California unter 501(c)3 gegründet. Danach war es wieder Peter Baldwin, der Vorsitzende des Donor Board of the Arcadia Fund in Großbritannien, der 2001 gegründet worden war, der Justin vorschlug, sich für ein Grant zu bewerben, ein Schritt, der dem Wende Museum den Weg in die Zukunft ebnete. Der Arcadia Fund wird vom Charities Aid Foundation (CAF) verwaltet und ist die größte Körperschaft im United Kingdom, die Grants mit dem Ziel vergibt, Sprachen vor dem Aussterben zu retten und weltweit historische Archive sowie wertvolle Artefakte zu erhalten.² Im August desselben Jahres, wenige Stunden bevor die Flutkatastrophe in Dresden ihren Höhepunkt erreichte, konnte Justin eine fast komplette Ausgabe sämtlicher Jahrgänge der sozialistischen Tageszeitung Neues Deutschland vor der Zerstörung durch die Hochwassermassen der Elbe in Sicherheit bringen — und zwar genau zu der Zeit, in der das Wende Museum ganz offiziell entstand. Die Zeitung war vom April 1946 bis Dezember 1989 das wichtigste Propagandawerkzeug und das Zentralorgan der SED gewesen. Die in weinroten Mappen abgehefteten Ausgaben bilden einen der Höhepunkte der Sammlung. Nur am Anfang und am Ende des Erscheinens der Zeitung fehlen einige Nummern, habe ich mir vom Bibliothekar, John Ahouse, sagen lassen. „Der Zustand der Zeitungen ist unerwartet gut“, so Ahouse, „wenn wir den Klimawechsel und die mindere Qualität des Zeitungspapiers in der DDR bedenken.“ Selbst heute kann uns wenig so direkt

2 www.arcadiafund.org.uk 

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an die Jahre des Kalten Krieges erinnern und können vergangene Begebenheiten unsere Herzen schneller schlagen lassen, aber auch ein Schmunzeln heraufbeschwören, wie ein Blättern in den Ausgaben von Neues Deutschland. Das Bundesarchiv in Berlin-Lichterfelde, das, 1996 gegründet, unter anderem die Bestände der Abteilung Potsdam, dem vormaligen Zentralen Staatsarchiv der DDR übernahm, sowie die Stiftung Archiv der Parteien und Massenorganisationen der DDR, das frühere SED-Archiv aufbewahrte, gab Justin neue Impulse. Vor allem beeindruckten ihn die Bestände des Berlin Document Centers. Nach langen Verhandlungen und nachdem sie alles elektronisch gescannt hatten, übergaben die USA schließlich den kompletten Fundus in deutsche Hände. Zu der Zeit begann Justin mit erneuter Energie und Zielstrebigkeit die Flohmärkte Berlins abzusuchen. Die Leute dort kannten ihn inzwischen schon und riefen ihn in Oxford an, wenn sie meinten, dass sie etwas hätten, was ihn interessieren könnte. Diese Sachen mussten meist sofort abgeholt werden. Justin sagte also seinen Professoren, dass er am nächsten Tag unbedingt nach Berlin müsse, um etwas für sein Museum zu kaufen und nahm am folgenden Morgen den ersten Flug. Während dieser Kurzaufenthalte in Berlin wurde ihm eines Tages klar, dass es, weil es die DDR nicht mehr gab, auch keine neuen Objekte aus diesem Land mehr geben würde. Von dem Augenblick an wurde das Sammeln zu einem Wettlauf mit der Zeit. Er beobachtete, wie immer mehr Menschen sich von Dingen aus ihrer eigenen Vergangenheit verabschiedeten, indem sie alles einfach wegwarfen, so dass die Abfalltonnen und Müllhalden überquollen. Selbst ihre Trabis, wie sie den Trabant liebevoll nannten, und auf deren Auslieferung sie in der DDR nach der Bestellung zwanzig Jahre hatten warten müssen, ließen sie am Straßenrand stehen oder hievten sie in große Müllcontainer. Dennoch, so viel, wie sich ihm anbot, konnte er gar nicht retten. Vor allem aber musste er sich entscheiden, was für ein Museum er überhaupt wollte, wo der Schwerpunkt liegen sollte und welche Dinge den Vorrang beim Sammeln bekommen würden. Es dauerte einige Zeit, bis Forscher aus Ost und West begriffen, dass es bei einer solchen Aufarbeitung unbedingt darauf ankommen würde, allen Bereichen des DDR-Alltags Beachtung zu schenken. Obwohl dieser Meinungsstreit heute auf vielen Gebieten beigelegt ist und deshalb weitgehend an Belang verloren hat, bleibt die Auseinandersetzung darüber, wer die ostdeutsche und osteuropäische Vergangenheit objektiver interpretieren kann. Unzählige Objekte aus jener Zeit, die Justin „material culture“ nennt, werden heute in DDR-Museen auf dem Territorium der ehemaligen DDR ausgestellt. Viele dieser Museen, die sich dem Sammeln der Objekte aus dem Alltagsleben während der vierzig Jahre DDR verpflichtet haben, bauten ganz einfach die Vergangenheit noch einmal nach. Sie stellen voll eingerichtete Wohnungen mit dem gesamten unmittelbaren Umfeld einer Kleinstadt, den Geschäf-

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ten, Handwerksbetrieben, einem Postamt, einer Arztpraxis, einer Feuerwehr und einem Polizeirevier nach und spielen dabei auch mit den Gefühlen der Besucher. Diese können dort auf eine Zeitreise gehen, sie können sich mit den Dingen aus ihrem früheren Leben identifizieren und ihre rückwärtsgewandte Sehnsucht ausleben. Sie verbreiten aber auch eine Nostalgie, die vor allem viele der älteren Leute aus der DDR, die mit den Sachen gelebt hatten und zusehen mussten, wie ihr Leben unterging, daran hindert, ihre Trauer über Verluste zu verarbeiten und ihre Vergangenheit von emotionalem Ballast zu befreien, um endlich freier in die Zukunft schauen zu können. Viele dieser Sammlungen werden ganz programmatisch mit dem Slogan: „Es war nicht alles schlecht!“ versehen, ein Satz, der von Leuten, die bis zum Mauerfall in der DDR lebten und die heute in Berlin, Leipzig oder Dresden auf der Straße interviewt werden, gedankenlos wiederholt wird. Diese Behauptung, so negativ formuliert, zeigt, in welcher ambivalenten seelischen Verfassung die älteren Menschen aus dem ehemaligen zweiten deutschen Staat noch heute sind, wie verletzt sie reagieren und wie wenig sie selbst nach über zwanzig Jahren, in der eine ganze Generation im vereinten Deutschland herangewachsen ist, von ihrem Alltag unter der Führung des SED-Regimes absehen kann. Denn was bedeutet hier „alles“, was heißt „schlecht“, was wäre das Gegenteil? Und wie war es wirklich? Warum können die Museumsdirektoren und die Menschen, die in der DDR gelebt haben, es nicht positiv auszudrücken? Warum sagen sie nicht einfach: „Vieles war in unserem Leben gut und schön, praktisch und innovativ. Schaut nur genau hin! Wir haben das Beste daraus gemacht.“ „Ich kenne da einige wirklich großartige Museen, die in ihren Ausstellungen die Vergangenheit nacherzählen, aber das ist nicht unser Ansatz“, sagt Justin. „Es gibt ja zahllose gelebte Wirklichkeiten. Das gilt natürlich nicht nur für osteuropäische Geschichte, sondern trifft jederzeit auf jede Kultur zu. Dagegen stellt das Wende Museum Ressourcen zur Erforschung vieler gelebter Wirklichkeiten zur Verfügung. Diese Untersuchungen wären auch anhand von amerikanischem Material aus der Zeit des Kalten Krieges möglich. Das Wende Museum hat sich aber dazu entschlossen, seine Sammlungen von der DDR auf ganz Osteuropa zu erweitern, weil es sich dort ebenfalls um untergegangene, geopolitische Gesellschaften handelt. Dadurch gewinnen wir eine zusätzliche archäologische Dimension für unsere Forschungen.“ Justin, der nicht Teil dieser unfruchtbaren, einseitigen und oft fehlgeleiteten Diskussionen über den DDR-Alltag in Deutschland war, hat die Streitfrage sehr elegant geregelt, indem er das Wende Museum nach Los Angeles brachte, der ideale Ort, wie er es sieht, der ihm und seiner Sammlung die Türen öffnete. Er befreite das Museum von diesem deutsch-deutschen Disput schon geographisch dadurch, dass es 10 000 Kilometer weit entfernt von Europa auf der anderen Seite

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der Welt liegt und analytisches Denken an einem, im hohen Grad unvoreingenommenen Ort erleichtert. Diese Distanz hilft dabei, das Museum als neutrale Institution zu erhalten, die in einer unbeschwerteren mediterranen Umgebung Fragen neu oder überhaupt zum ersten Mal stellt und vorurteilsfreier ihren Weg gehen kann. „Wir haben viele sehr schöne und künstlerisch wertvolle Objekte in unserer Sammlung, anderes ist Kitsch, aber das sind nicht die Kriterien, nach denen wir uns beim Sammeln richten oder Prioritäten setzen. Gewiss werden diese Dinge in Osteuropa oft entweder als nostalgische Überbleibsel einer nicht mehr vorhandenen Kultur gesehen oder sie werden dafür benutzt, um politische Lektionen zu erteilen. Dann brauchten wir aber kein Museum über das Thema Kalter Krieg. Diese Logik, um eine Sammlung zu konservieren, genügt nicht, wenn sie nur als Beweis für einen gefühlsbedingten Zustand dient oder wenn sie eine politische Lektion erteilen soll. Der Nutzen der Sammlungen des Wende Museums besteht vielmehr darin, sie für ganz verschiedene Zwecke gebrauchen zu können und sie dadurch so vielen Leuten wie möglich zugänglich zu machen“, erklärt Justin. „Und das ist genau der Punkt, an dem das Wende Museum ansetzt. Es fragt nicht danach, ob Dinge gut oder schlecht waren, ob sie sich qualitativ und ideologisch mit dem, was es im Westen gab, vergleichen lassen, oder wie politisch die Artefakte sind. Das Wende Museum will aber auch nichts ausstellen, um wie in einem Schaukasten eine heile DDR-Welt vorzugaukeln, sondern es versteht sich ganz puristisch als Archiv und Forschungsstätte. Schon heute beherbergt das Wende Museum in Culver City das weltweit größte Archiv aus vierzig Jahren Kalten Krieges.“ Ein wichtiger Auftrag jedes Museums, das sich mit den vierzig Jahren DDR beschäftigt, ist die Antwort auf die Fragen: Wie können wir unsere Sammlungen in eine sichere Zukunft mitnehmen? Wie hinterfragen wir unsere jüngste vergangene Geschichte und wie präsentieren wir den historischen Ablauf so spannend, dass wir das Interesse der nachkommenden Generationen sichern können und sie auch in den kommenden Jahrzehnten noch anlocken? Mit der Ausstellung der Objekte aus der DDR bestätigte sich schnell, dass Los Angeles, diese Metropole am äußersten Ende der westlichen Zivilisation in den USA, genau der richtige Ort für das war, was von dem Land nach Monaten einer fast friedlichen Revolution, die aber dennoch einen dramatischen politischen Umbruch auch für ganz Europa nach sich zog, übrig geblieben war. Dass die Stadt, in der das Museum entstehen sollte, Los Angeles sein würde, war anfangs schon von der Geographie her nicht abzusehen. Los Angeles hatte aber an den Umstürzen, die die politische Wende in Europa vollzog, regen Anteil genommen. Außerdem war die Millionenstadt am Pazifik schon geübt darin, sich mit Menschen aus Europa und deren Hinterlassenschaften auseinanderzusetzen

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und ihnen Asyl zu gewähren. Dieses Mal kam das „Gepäck“ allerdings nicht in geschmuggelten Koffern, über viele Umwege und Grenzen hinweg an, sondern ganz legal auf einem Containerschiff. In den Kisten und Kartons befanden sich die faszinierenden, weggeworfenen Reste unzähliger Leben, die auf der anderen Seite der Welt zu Schätzen und Ausstellungsobjekten wurden. Los Angeles bot sich als geeigneter Ort für das Wende Museum and Archive of the Cold War an, eben weil die Stadt so weit weg liegt und irgendwie losgelöst wirkt, weil sie sich unparteiisch, ja zu Zeiten sogar gleichgültig gegenüber dem geben kann, was hierher gebracht wird. Im selben Moment stellt sie sich schützend davor, wacht eifersüchtig darüber, engagiert sich und gibt sich als Sprecherin, ja Fürsprecherin aus, macht das anderenorts Unmögliche möglich und schmückt sich stolz damit. Beim Schreiben wird mir bewusst, wie viel Zeit seit meiner Flucht aus der DDR vergangen ist, die damals in der Bundesrepublik durchweg Ostzone genannt wurde, um damit unter anderem auf das Provisorium der deutschen Teilung, in der Präambel des Grundgesetzes vom 23. Mai 1949 verankert, hinzuweisen und „um dem staatlichen Leben für eine Übergangszeit eine neue Ordnung zu geben.“ Mit dieser Formulierung wurde versucht, dem westdeutschen Anspruch auf Selbstbestimmung und Wiedervereinigung gerecht zu werden. Zugleich merke ich, wie ich für mich die vierzig Jahre der Teilung laufend neu interpretieren muss. Mein politisches Interesse an der deutschen Vergangenheit seit Ende des zweiten Weltkrieges hat viele Phasen durchschritten. Dabei hat sich meine Anteilnahme für die Menschen drüben vermehrt, sowie das Bedürfnis, mein Wissen zu vertiefen, um die Entwicklungen besser zu verstehen. „Die Wahrnehmung unserer Vergangenheit ändert sich laufend, je nachdem, wo wir selbst uns gerade befinden“, erklärt auch der Historiker Jampol. „Aber was sich 1989 in Berlin ereignete, war ohne Beispiel in der modernen Geschichte. Ich bin brennend daran interessiert, wie die politische Komponente die Vergangenheit rückblickend formen wird und wie wir sie neu interpretieren werden und frage mich, welche Signifikanz die visuelle Kultur — diese sichtbaren, anfassbaren, dreidimensionalen Gegenstände — aus der DDR dabei auf die Forschung hat und wie sich diese Vergangenheit auf die Gegenwart und unsere Zukunft auswirken wird. Denn diese Objekte geben uns die Gelegenheit, die Geschichte ganz neu zu sehen. Dabei stellt sich uns die Frage, was das Archiv einer Regierung, die es nicht mehr gibt, heute für uns bedeutet? Die Antwort kommt nicht einfach und ohne weiteres daher, es ist vielmehr ein Prozess, bei dem wir die Objekte zur Erhellung benutzen und auch immer wieder Menschen dazu befragen.“ Bei diesen Worten können wir im Westen uns nicht der Fernsehbilder entziehen, die zeigten, wie ein aufgebrachtes Volk die Archive des Ministeriums für Staatssicherheitsdienste in Berlin und die Büros in anderen Städten der DDR stürmte, besetzte und tausende Säcke, vollgestopft mit Akten, für den Reißwolf

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bestimmt, wegtrug, um die Staatssicherheitsunterlagen vor der Vernichtung für die Nachwelt zu retten und um zugleich Einblick in ihre eigenen Stasiakten zu gewinnen. Mit ihrem furchtlosen Handeln beendeten die betroffenen und voraussehenden Menschen den Streit der Politiker in der Bundesrepublik, ob die Geheimakten vernichtet oder behalten werden sollten, indem sie für deren sichere Aufbewahrung kämpften, weil wenige Westdeutsche es sich in den ersten Wochen und Jahren nach dem Mauerfall vorstellen konnten, dass irgend etwas von drüben je historische Bedeutung erlangen würde. Einige dieser Dokumente haben seitdem ihren Weg ins Wende Museum gefunden, darunter die persönlichen Papiere Erich Honeckers, Generalsekretär der SED von 1971–1989 und Staatsoberhaupt der DDR, sowie seine letzten Aufzeichnungen, das Gefängnistagebuch, niedergeschrieben in Moabit. „Museen arbeiten mit Konzepten“, verdeutlicht Justin die langsame Reaktion auf Objekte, von denen tausende weiterhin jeden Tag verschwinden. Denn anstatt sie als Fundgrube für historische Forschungen zu erkennen, aus der sie sich nur zu bedienen brauchten, um die Jahre der deutschen Teilung besser interpretieren zu können, entledigten sich auch Museen kurzerhand wieder vieler Stücke, darunter auch einiger, die sie von ihm bekommen hatten. Erst viel später wurde ihnen klar, was sie da weggaben. Westdeutschland war weiterhin mit der unsäglichen Abwicklung der DDR beschäftigt, die in vielen Fällen einer Plünderung gleichkam und die von Bundeskanzler Kohl leichtfertig versprochenen „blühenden Landschaften“ erschienen langsamer, als die ungeduldige DDR-Bevölkerung in ihrer Euphorie nach vier Jahrzehnten sowjetischer Besatzung, gekoppelt mit politischer Unterdrückung und wirtschaftlicher Ausbeutung, willens zu warten war. Woher hätten die Menschen drüben wissen sollen, wie sie es hätten besser machen können? In Freiheit zu leben und Eigenverantwortung zu übernehmen, das mussten sie erst lernen! Einen weiteren entscheidenden Schritt nach vorn konnte das Wende Museum im Jahre 2004 tun, als der Arcadia Fund ihm $ 1 Million pro Jahr über die nächsten fünf Jahre zur Deckung der laufenden Betriebskosten sowie für den Ankauf von Artefakten zuerkannte, verbunden mit dem Auftrag, die faszinierende, aber bis dahin noch weitgehend unerforschte Epoche des Kalten Krieges aufdecken zu helfen. Mit dieser Unterstützung konnte das Museum mit dem systematischen Sammeln und dem langfristigen Ausbau richtig beginnen. Diese großzügige finanzielle Förderung erlaubte es darüber hinaus, Maßnahmen zum Erwerb von Objekten aus Osteuropa zu einem noch günstigen Zeitpunkt zu treffen, um so viele der vom immanenten Verlust bedrohten kulturellen Gegenstände wie möglich zu retten. Um den Trend der immer schneller umsichgreifenden Verluste wenigstens einigermaßen aufzuhalten, wenn er schon nicht rückgängig gemacht werden

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kann, akquiriert, analysiert und katalogisiert das Wende Museum Artefakte, stellt sie aus und öffnet seine Archive für Forschung und Wissenschaft, sowie für die Öffentlichkeit. Das Museum hofft, damit einen umfassenden Fundus zu Studien von bisher noch wenig erforschten und weitgehend ungenau oder gar falsch repräsentierten Gesellschaften der einstigen Warschauer Paktstaaten liefern zu können. „Wenn das Museum z. B. ein bestimmtes Objekt für Forschungszwecke nicht hat, werden wir es alles daran setzen, um es zu beschaffen“, verspricht Justin. Darüber hinaus sammelt das Wende Museum neben staatlichen Dokumenten, die die Arbeit des Sicherheitsapparats der DDR erhellen, auch Akten, welche unter anderem die wechselseitige Beeinflussung zwischen Ost und West in Politik und Wirtschaft belegen, sowie Einsicht in die Machenschaften der DDR und deren geheime Interaktionen mit dem „kapitalistischen“ Ausland und Westberlin geben. Weiterhin besitzt das Museum über 6500 Dokumentarfilme und Filme vom DDR-Ministerium für Bildung, einst für Schulen mit Themen über Hygiene, Krankenpflege, Verkehrssicherheit und Weiterbildung auf den verschiedensten Gebieten, wie Architektur, Chemie und Biologie zusammengestellt. Diese Art Aufklärung wird durch persönliche Geschichten, zahlreiche Interviews, Briefe, Fotoalben und Heimfilme unterstützt, die darüber berichten, wie die Menschen privat im Kommunismus lebten, sich einerseits darin einrichteten, andererseits Zweifel anmeldeten, sich in Demonstrationen dagegen wehrten und die Machthaber immer wieder herausforderten, bis es 1989 zu der dramatischen Wende und dem Zusammenbruch der DDR kam, die 1991 schließlich auch zum Ende der Sowjetunion führte. Damit ist das Wende Museum ein Archiv für materielle Kultur und eine Bildungsstätte, die interdisziplinäre Wissenschaftler zu anregenden Diskussionen zusammenbringt, ihnen Zugang zu seiner einzigartigen Sammlung gewährt und gleichzeitig Interpretationen aus ganz verschiedenen Perspektiven ermöglicht. Praktikantinnen und Praktikanten aus ganz Europa und den USA helfen dabei, das Material zu sichten und zu ordnen, sowie Dokumentarfilme und DEFA-Spielfilme zu konservieren. Um diese Arbeit gezielt und ohne weiteren Zeitverlust fortsetzen zu können, erhielt das Wende Museum gerade ein Grant über $ 150000 für eine Laufzeit von drei Jahren von dem Museums for America Program of the Institute of Museums and Library Services.³ Aber auch beim fortwährenden Sammeln von Artefakten unterliegt das Wende Museum inzwischen einem Zeitdruck, denn einerseits werden weiterhin unzählige Objekte achtlos weggeworfen und andererseits wird der Kampf um das, was noch zu haben ist, härter. „Die Preise für Kunst und Alltagsgegenstände steigen, unsere Wahrnehmung dessen, was sammelnswert ist, ändert

3 (IMLS.gov)

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sich ständig“, bemerkt Justin. „Das Wende Museum ist sich dieses Drucks sehr bewusst und schickt Scouts mit Listen aus, die in Kleinbussen durch Osteuropa fahren, um Objekte direkt an der Quelle zu kaufen. Sie durchstöbern nach wie vor Keller und Speicher auf dem gesamten Gebiet der früheren DDR und der anderen Warschauer-Pakt-Staaten, gehen auf Flohmärkte und versuchen, bei Haushaltsauflösungen den Altwarenhändlern zuvorzukommen. Diese Akquisitionen werden in den klimatisierten Räumen des Wende Museums in Berlin deponiert, bis sie nach Los Angeles weitertransportiert werden können.“ Auf diese Weise konnte das Museum eine komplette Kollektion von Stoffmustern eines ehemaligen, staatlichen Musterzeichners der DDR und Ungarns akquirieren. Es passiert auch immer wieder, dass osteuropäische Regierungen ihre Sammlungen verkleinern oder sich ihrer gleich ganz entledigen und das Museum sie erstehen kann, wenn wir das Glück haben, früh genug davon zu hören. „Vor einigen Monaten konnten wir auf diese Weise über siebzig Kunstobjekte der ungarischen Regierung, die in den Kellerräumen der einstmaligen Geheimpolizei gefunden worden waren, erwerben“, sagt Justin. „Natürlich können wir unmöglich alles erhalten, noch sollten wir das anstreben. Wir müssen tatsächlich aufpassen und eine Strategie dafür entwickeln, was wir suchen und welche Wege wir einschlagen wollen, um bestimmte Objekte zu bekommen. Dazu müssen wir unsere Augen und Ohren offenhalten und bereit sein, kurzfristig handeln zu können. Für unsere unkonventionelle Sammlung gehen wir unkonventionelle Wege. 2011 hörten wir z. B. von einer über zwei Meter großen und zwei Tonnen schweren Bronzestatue Vladimir Lenins (1954), des russischen Bildhauers Pawel I. Bondarenko, die ursprünglich in Leningrad für Riga hergestellt worden war und kurz davorstand, in Lettland eingeschmolzen zu werden. Wir kauften sie der Schmelzhütte für den Wert der Bronze plus fünf Prozent ab.“ Justin ist stolz über diesen gelungenen Coup, setzt aber hinzu: „Wenn auch vieles, was wir sammeln, keinen finanziellen Wert hat und deshalb weder von Sammlern noch Händlern geschätzt wird, sind die Dinge für uns doch von unschätzbarer historischer und wissenschaftlicher Bedeutung.“ Das Wende Museum besitzt auch farbenfrohe kommunistische Volkskunst, sowjetische Wandteppiche, Plakate, Tagebücher, Sammelalben, Brigadebücher, verschickte Ansichtspostkarten, sowie Speisekarten aus den verschiedensten Restaurants der DDR. „Vor allem die Speisekartensammlung ist beachtlich, schon die Gestaltung der Speisekarten fasziniert“, erzählt Justin. „Die Preise der Gerichte und Getränke sagen etwas über die damaligen Lebensmittelpreise und die Wirtschaft aus, von den Zutaten können wir auf den kulinarischen Geschmack der Menschen schließen und inwieweit die Angebote in den Restaurants und Hotels denen im westlichen Ausland ähnelten oder ihnen gar vergleichbar waren. Diese

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Speisekarten sind eine großartige Informationsquelle, die bisher größtenteils unbeachtet blieb.“ Aus Platzmangel sind im Moment nur weniger als zwei Prozent der Sammlungen in den Ausstellungsräumen des Wende Museums zu besichtigen. Im Hauptraum hängen rechts vom Eingang dreißig Porzellan- und Kristallgedenkteller an der Wand. An den anderen Wänden werden mehrere Ölgemälde sowjetischer Künstler zur Schau gestellt, die oft ausgetauscht werden und mitten im Raum steht eine etwa einen Meter große Leninstatue aus Holz von Istvan Csorvássy (ca. 1959). Lenins rechter, stark verlängert wirkender Arm ist hoch erhoben und nach vorn ausgestreckt, als wolle er in eine vielversprechende Zukunft weisen, aber beim längeren Hinschauen erkennen wir, dass Hand und Zeigefinger nicht in eine gerade aufstrebende Richtung zeigen, sondern sie deuten in einem weiten Bogen nach unten und seine Augen sehen sein Gegenüber nicht an. Eins der ganz speziellen Artefakte, und die offizielle Ikone des Wende Museums, ist die mutwillig beschädigte, in den Farben pink und türkis angesprühte Lenin-Büste, der die Besucher am Ende der Ausstellung, bevor es in das Lager geht, begegnen. Sie verkörpert beispielhaft, was das Museum in den Sammlungen präsentieren will. „Der gesamte Fundus steht nach Verabredung allen jederzeit zur Verfügung, Gegenstände können zu Forschungszwecken ausgeliehen werden. Das Wende Museum bietet darüber hinaus mit Partnerinstitutionen in den USA sowie in Europa vielseitige Programme an, die Studierenden, lebenslang Lernenden sowie der Öffentlichkeit zugute kommen. Dazu gehören neben Sonderausstellungen, Ausstellungen im Internet wie zuletzt mit der Universität Leipzig, mit dem Ziel, Wissen allgemein zugänglich zu machen. Wir leihen weltweit Material an Museen und Institutionen, wir leiten und veröffentlichen Forschungsprojekte, planen Konferenzen sowie Veranstaltungen zu besonderen Jahrestagen und laden zu Vorträgen, Filmwochen und Lesungen ein. Bei all diesen Programmen ist gute Zusammenarbeit unumgänglich“, verdeutlicht Justin noch einmal. Zur Zusammenarbeit mit dem Los Angeles County Museum of Art (LACMA) sind zwei Ereignisse erwähnenswert. Vom 25. Januar – 19. April 2009 zeigte das LACMA die Ausstellung Art of Two Germanys: Cold War Cultures, an der das Wende Museum mit einer Leihgabe von Heinz Drache, „Das Volk sagt ‚Ja‘ zum friedlichen Aufbau“, DDR, 1952, Öl auf Leinwand (149 x 212 cm), beteiligt war. Die Ausstellung, in Zusammenarbeit mit Kulturprojekte Berlin GmbH organisiert, wurde anschließend, vom 23. Mai – 6. September 2009, unter dem Titel „Kunst und Kalter Krieg — Deutsche Positionen 1945–1998“ im Germanischen Nationalmuseum in Nürnberg ausgestellt. Danach war sie vom 3. Oktober 2009 – 10. Januar 2010 im Deutschen Historischen Museum in Berlin zu sehen. Am 8. November 2009 wurde zur Erinnerung an den Fall der Berliner Mauer das „Wall Project“ auf Wilshire Boulevard in Zusammenarbeit mit LACMA und der

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Stadt Los Angeles gefeiert, zu dem die Öffentlichkeit durch mehrere Veranstaltungen einbezogen wurde. Das Museum hatte zehn originale Mauerteile nach Los Angeles gebracht, die es zur zwanzigjährigen Feier der Wiedervereinigung Mitte Oktober 2009 auf dem Rasen vor dem Ratkovich Building auf Wilshire Boulevard, gegenüber des LACMA aufstellen ließ. Die zehn Teile sind mit etwa zwölf Metern das längste Segment der ehemaligen Berliner Mauer außerhalb Deutschlands, vor dem sich täglich Touristen und Museumsbesucher fotografieren lassen. Außerdem steht einer der von Thierry Noir bemalten Mauerteile vor dem Eingang des Wende Museums. Während einer dreitägigen Konferenz im Jahre 2009: „Germans’ Things: Material Culture and Daily Life in East and West, 1949–2009“, zu der das Wende Museum zusammen mit dem Deutschen Historischen Institut in Washington DC nach Culver City eingeladen hatte, konnten über dreißig Historiker, Journalisten und Beobachter aus ganz Europa und den USA zusammenkommen, um die Rolle von Objekten der materiellen Kultur, sowie deren Bedeutung für das Verständnis der deutschen Geschichte seit der Wende im Herbst 1989 zu erarbeiten. Die Konferenz konzentrierte sich auf drei Forschungsgebiete: 1) The function of things in everyday life of East and West Germans; 2) The history of culture as an instrument of power; and 3) Contemporary museum practices as indicators of the politics of writing about and visualizing history. Viele erinnern sich sicher noch an den Aufruf Ronald Reagans während seiner Rede am 12. Juni 1987 vor dem Brandenburger Tor, gerichtet an Michail Gorbatschow: „Mr. Gorbachev, open this gate! Mr. Gorbachev, tear down this wall!“ Heute können Besucher der Ronald Reagan Presidential Library und des Museums im Simi Valley in Kalifornien in der Dauerausstellung „Berlin Wall“ in zwei Vitrinen Leihgaben des Wende Museums, wie z. B. DDR-Grenzwärteruniformen und Stasi-Aktentaschen besichtigen. Losgelöst von ihrem einstigen Umfeld, wandelte sich die Bedeutung der Objekte in unserer schnellebigen Gesellschaft drastisch von alltäglichen Gebrauchsgegenständen zu Sammel- und Museumsobjekten. Justin begann die Angebote auf den Flohmärkten als Relikte aus Archiven von Regierungen zu erkennen, die es nicht mehr gab, als Überreste aus einer schwer fassbaren Vergangenheit, die wir erst noch ergründen müssen. Dabei konnte es ihm aber nicht darum gehen, den DDR-Alltag hinter neuen Mauern, den Museumsmauern, wiedererstehen zu lassen, denn dann bestünde die Gefahr, dass aus ihnen sehr schnell auch noch der letzte Hauch von Leben entweichen würde und wer möchte dann wohl solche Dinge aus einem wirtschaftlich und politisch in sich zusammengebrochenen Staat noch sehen? Nostalgie will Justin auf keinen Fall hervorrufen, sondern er hofft vielmehr, die Menschen dahinzuführen, dass sie die Jahrzehnte des Kalten Krieges aus

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einer individuellen Auffassung und inneren Überzeugung heraus verstehen lernen. Mit anderen Worten, er möchte, dass Jede und Jeder von uns sich dahin entwickeln kann, dass wir die Wucht, mit der die Ereignisse nach dem Mauerfall auf uns prallten, einzuordnen lernen. Er möchte, dass Museumsbesucher, die Sammelstücke und die Zeit, aus der sie kommen, mit dem in Verbindung bringen, was daraus wurde, um schließlich gespannt zu verfolgen zu können, wie sich alles weiterentwickeln wird. Dazu gehört, dass die Menschen in den ausgestellten Objekten etwas auf einer persönlichen, menschlichen Ebene anspricht. „Denn“, so Justin, „die wirkliche Signifikanz unserer Geschichte besteht nicht nur aus der Zusammenstellung von Daten und Aufzeichnung von Zeitlinien, sowie der Anhäufung von Dingen, sondern wir müssen uns gleichzeitig immer darüber klar sein, wo wir uns gerade befinden und zum besseren Verständnis Einsichten in unsere Psyche und in den menschlichen Zustand an sich gewinnen.“ Was als eine Initiative zum Erwerb von Objekten und einem mit Kisten gefüllten Lagerraum begann, wuchs in nur wenigen Jahren zu einem Museum und Forschungsinstitut, das heute auf seinem Gebiet seinesgleichen sucht. Zur Zeit besitzt das Wende Museum 100000 Objekte, darunter 234 Perestroika Plakate, 2000 Porzellangedenkteller, über 5000 Fahnen, Flaggen und Wimpel und 22000 Bücher, Broschüren und Zeitschriften. Der größte Teil des Fundus mit einer Bibliothek von 8000 Bänden befindet sich weiterhin in Regalen im Erdgeschoss, durch das die Besucher geführt werden und in dem sich Wissenschaftler und Forscher ausgiebig mit den Sammlungen beschäftigen können. Den Grundstock der Bibliothek bilden Bücher aus DDR-Verlagen. „Deutschland — Leseland“ hieß es einstmals in der DDR und Papier zum Drucken von Büchern hatte Vorrang im jeweiligen Jahresplan. Aber selbst dann waren die Bücher von bekannten DDRAutorinnen und Autoren immer viel zu schnell vergriffen. „Sie sind heute schon deshalb wertvoll, weil nach 1989 Bücher von DDR Verlagen prinzipiell auf den Müllhalden endeten. Sogar die Buchläden drüben entledigten sich ihrer, weil sie Platz für westdeutsche Novitäten brauchten“, sagt Ahouse und seine Stimme klingt traurig. Die offene Treppe nach unten ins Archiv führt an einer Kollektion von Stühlen und Sesseln vorbei, wie einem Krabben-Stuhl aus der DDR von Renate Müller, einem Gartenstuhl-Sitz-Ei von Peter Ghyczy aus dem Jahr 1968, ebenfalls aus der DDR, oder einem PCK oder Känguruh-Stuhl von 1970, hergestellt im VEB Petrochemischen Kombinat. Beim Wandern durch das Lager überrascht gleich auf den ersten Schritten die große Anzahl von Lenin- und Stalinbüsten. Marx, Engels, Thälmann und Liebknecht stehen umgeben von Fotos von Ulbricht, Stoph oder Honecker auf Regalen, alles Reliquien des Kalten Krieges, zu denen deutschen Besuchern, seien sie aus der Bundesrepublik oder der DDR, oft noch zwanzig Jahre nach der Wiedervereinigung weiterhin der emotionale Abstand fehlt, um

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historisch einordnen zu können, was nach 1989 erst einmal niemand mehr sehen wollte. Es warten aber auch ganz unerwartete Schätze wie Ölgemälde auf die Besucher, darunter das schon erwähnte Gemälde Draches „Das Volk sagt ‚Ja‘ zum friedlichen Aufbau“; „Growing Wheat – The Air Drop“ von Viktor Makrozhitskii, 1977 aus der Ukraine, Öl auf Leinwand (175 x 106 cm); oder „Building the Subway“, Öl auf Leinwand, ohne Datum, des ungarischen Malers Béla Kontuly; sowie „In the Meadows,” Öl auf Leinwand, (160 x 280 cm), von P. V. Alekssev und B. I. Kaloev. Aus dem Palast der Republik (PdR) in Berlin, der einst der Stolz der DDR-Bevölkerung war, befinden sich, noch in Kisten verpackt, zwölf weiße Porzellangedecke mit Goldrand, sechs weiße Porzellangedecke mit blauem Rand, die dazu passenden Servierteile, sowie Weingläser, Wassergläser, Sekt-, Bier- und Schnapsgläser. Bevor die Besucher das Museum verlassen, werden sie durch die Dauerausstellung „Facing the Wall“ geführt, wo sie gewissermaßen nachträglich Einblick hinter die Kulissen von westlicher und östlicher Seite am Grenzübergang „Checkpoint Charlie“, wie ihn der Volksmund nannte, bekommen, der von 1961 bis 1990 einer der bekanntesten war. Die östliche Bezeichnung war Grenzübergangsstelle (GÜST). Als Checkpoint, zu deutsch Kontrollpunkt, verband er in der Friedrichstraße, zwischen Zimmerstraße und Kochstraße, den US-amerikanischen mit dem sowjetischen Sektor. Einer der Höhepunkte der Ausstellung ist ein Panoramafoto von Ostberlin aus nach Westberlin aufgenommen, in der Verlängerung Friedrichstraße, zwischen Zimmerstraße und Kochstraße, also dem Ostberliner Bezirk Mitte und dem Westberliner Stadtteil Kreuzberg, mit dem Kontrollhäuschen Checkpoint Charlie, Richtung Hallesches Tor. Eine weitere Attraktion und Ahouse’ Augapfel ist das einzige Architektenmodell vom neuen Grenzübergang, der 1985/86 gebaut wurde und der die Baracken des bis 1985 bestehenden Grenzübergangs ersetzte. Erich Honecker bestand seinerzeit auf diesem Umbau, weil er Wert darauf legte, dass gerade dieser Grenzübergang anderen, internationalen Grenzübergängen vom Aussehen her in nichts nachstehen dürfe. Vornehmer sollte er wirken und hundert Jahre halten. Alle Wege waren überdacht und die Gebäude modernisiert worden, so dass die Antragsteller auf ein Visum nicht mehr bei sengender Sonne, bei Wind, Regen und Schnee unter freiem Himmel in endloser Schlange stehen und warten mussten. Wer hätte damals gedacht, dass dieser Grenzübergang im September 1990, nur vier Jahre nach seiner Fertigstellung, abgerissen werden sollte? Im Jahre 2006 startete das Wende Museum das Historical Witness Project und John Ahouse begann, vier Zeitzeugen zu interviewen und deren ganz persönliche Erfahrungen aus jener Zeit zu dokumentieren. Er befragte dazu in Berlin Alwin Nachtweh, Peter Bochmann (Major der Volksarmee und Grenzoffizier der

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Passkontrolle DDR), sowie Hagen Koch (einstmaliger Staatssicherheitsoffizier und Abtrünniger der Nachwendezeit sowie Sprecher für DDR-Geschichte) und schließlich den französischen Künstler Thierry Noir, der 1958 in Lyon geboren wurde und 1982 nach Westberlin umsiedelte. Ab April 1984 begannen Thierry Noir und Christophe Bouchet die mehr als drei Meter hohe Mauer mit grellen Farben zu bemalen, weil sie etwas gegen diese bedrückende, auf westlicher Seite weiß angestrichene Mauer tun wollten. Da die Mauer auf DDR-Territorium etwa drei Meter hinter der offiziellen Grenze stand, konnten die Grenzsoldaten alle rechtmäßig verhaften, die der Mauer zu nahe traten. In den achtziger Jahren des letzten Jahrhunderts wurde die Mauer fast über Nacht für viele internationale Künstler, unter ihnen Indiano, Keith Haring und Kiddy Citny, zu einer riesigen Leinwand, die sich kilometerweit mitten durch Berlin erstreckte. Sie mussten schnell malen und dabei immer Ausschau nach Grenzsoldaten halten, um rechtzeitig flüchten zu können. Im Jahre 2009, zum zwanzigsten Jahrestag des Falls der Berliner Mauer, beauftragte das Wende Museum als Teil seines Wall Projects vier Künstlerinnen und Künstler, um fünf der original Mauerteile zu bemalen: Thierry Noir, Kent Twitchell, Farrah Karapetian und Marie Astrid González. Unter den Ausstellungen, die das Wende Museum in den letzten Jahren veranstaltete, ist die Präsentation „Deconstructing Perestroika: Soviet Ideology and its Discontents“ hervorzuheben, die vom 28. Januar - 6. Mai 2012 im Craft and Folk Art Museum, Los Angeles stattfand. Diese Ausstellung wurde von Dr. Ljiljana Grubisic, der damaligen Direktorin der Sammlungen und Programme des Wende Museums, in Zusammenarbeit mit dem Craft and Folk Art Museum zum 20. Jahrestag des Endes der UdSSR im Dezember 1991 zusammengestellt. Sie umfasste vierundzwanzig originale, handgemalte Plakate von bekannten sowjetischen Künstlern, mit durchschlagenden, politischen Botschaften, die bis dahin kaum gezeigt worden waren, und die als visuelle Antwort auf Michail Gorbatschows Politik von Glasnost und Perestroika konzipiert wurden. Seit einigen Monaten arbeiten alle im Wende Museum an einem ambitionierten Bildband: Beyond the Wall: The East German Collections of The Wende Museum, in dem 3500 Sammelobjekte des Museums auf über 800 Seiten abgebildet werden, und der zweisprachig (deutsch und englisch) im Taschen Verlag in Köln herauskommen wird. Fünfundsiebzig verbindende Texte von John Ahouse erklären die verschiedenen Sammlungen. Acht Essays wurden von internationalen WissenschaftlerInnen geschrieben. Im Herbst 2012 hat der Arcadia Fund seinen Zuschuss zum dritten Mal erneuert, um das Wende Museum in seinem Bestreben zu unterstützen, die vollständigste Sammlung von Artefakten des Kalten Krieges zusammenzutragen. Die Evolution des Museums, seine fortschreitende, zielstrebig geförderte Entwicklung

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und sein Anspruch, anhand einer erstaunlich vielseitigen Sammlung die vierzig Jahre des geteilten Europas zu erhellen, schreiten unaufhaltsam voran. Damit ist das Wende Museum auf dem besten Weg, eines der interessantesten und vielseitigsten Museen im 21. Jahrhundert zu werden, und in die erste Liga innovativer Museen aufzurücken. In diesem Sinne kann Justin sagen: „Das Wende Museum wird weiterhin Artefakte aus der Zeit des Kalten Krieges sammeln und seine Bemühungen verstärken, immer tiefer in immer kleinere, ländliche Gemeinden vorzudringen. Dabei wird es besonderes Augenmerk auf Objekte legen, die in Gefahr sind, verloren zu gehen und die an der Peripherie der traditionellen Interessen von Archiven liegen.“ Im Dezember 2012 unterzeichnete das Wende Museum den Vertrag für das vormalige historische Armory Building, zentral gelegen auf 10808 Culver Boulevard in Culver City, im kulturellen Distrikt, zu dem Sony Pictures Studios sowie das Stadtzentrum mit seinen Restaurants und öffentlichen Gebäuden gehören. Das leicht zugängliche Armory Building stellt den doppelten Raum sowie genügend Parkplätze zur Verfügung. Mit dem Umzug wird sich sein dreifacher Anspruch als ein Museum für Geschichte, ein Archiv, sowie eine weiträumige Halle, die Ausstellungen angemessenen Raum bietet, erfüllen. Das Hauptlager des Wende Museums befindet sich bis auf weiteres auf 5741 Buckingham Parkway in Culver City. Es lohnt sich immer, sich auf ein Gespräch mit Justin einzulassen. Die Geschichten sprudeln nur so aus ihm heraus, einmal nachdenklich, im nächsten Moment voller Enthusiasmus, erzählt er die Entstehungsgeschichte seines Museums, gefiltert durch seine scharfsinnige Herangehensweise, die Vergangenheit aufzudecken und sie dann so zu nehmen, wie sie sich ihm präsentiert. Seine Vision ist ansteckend und er spornt damit alle unwillkürlich zum Mit- und Nachdenken an, denn, so unterstreicht er: „Wir leben in einer globalen, vielseitigen, multikulturellen Welt und dürfen unsere Vergangenheit nicht in engstirnige Geschichtsvorstellungen abgleiten lassen. Hier, in der Metropole am Pazifik, setzen wir uns ganz selbstverständlich mit deutscher Kunst, dem Expressionismus, der Leipziger Schule, deutscher Musik und Architektur auseinander. Die Perspektive der Menschen strebt nach außen, sie leben nicht mit denselben Begrenzungen, die wir von Europa her kennen. Die große räumliche Entfernung erleichtert es uns zudem, uns schneller ein klareres Bild zu verschaffen. Wir müssen die Geschichte des Kalten Krieges im selben Grad von jedem Provinzialismus befreien und ins Universelle erhöhen, wie wir es mit Kunst und Musik schon getan haben. Von dieser Einstellung profitiert das Wende Museum.“

Autorenverzeichnis Roswitha Burwick ist Professor Emerita am Scripps College, wo sie den Lehrstuhl Distinguished Chair in Modern Languages innehatte. Ihre Forschungsgebiete sind die deutsche Romantik, Literatur des langen 19. Jahrhunderts, sowie Wissenschaftsgeschichte des 18. und frühen 19. Jahrhunderts. Ihre Veröffentlichungen konzentrieren sich auf die deutsche Romantik. Neben Aufsätzen über Bettine von Arnim, Karoline von Günderrode und Heinrich von Kleist hat sie in mehreren Publikationen auf die Verbindung von Arnim’s Ästhetik mit den Naturwissenschaften hingewiesen. Sie ist Mitherausgeberin von Achim von Arnim. Werke und Briefwechsel (Weimarer Arnim-Ausgabe) und hat dort den Band Achim von Arnim. Naturwissenschaftliche Schriften I (2007) publiziert. Mit Olaf Breidbach gab sie die beiden Sammelbände Physik um 1800. Kunst. Wissenschaft oder Philosophie? (2012) sowie The Transformation of Science in Germany and England at the Beginning of the Nineteenth Century: Physics, Mathematics, Poetry, and Philosophy (2013) heraus. Sie ist auch Mitherausgeberin der Zeitschrift Pacific Coast Philology: Journal of the Pacific Ancient and Modern Language Association. Robert Dassanowsky ist Professor of German and Film Studies an der University of Colorado, Colorado Springs. Seine letzten Publikationen sind New Austrian Film (hrsg. zus. mit Oliver C. Speck, 2011), und The Nameable and the Unnameable: Hofmannsthal’s ‚Der Schwierige‘ Revisited (hrsg. zus. mit Martin Liebscher, 2011), Quentin Tarantino’s Inglourious Basterds: A Manipulation of Metafilm (2012) and World Film Locations: Vienna (2012). Er ist Präsident der Austrian Studies Association und arbeitet auch als unabhängiger Filmproduzent. Gabriele Dillmann ist Julian H. Robertson Endowed Professor an der Denison Universität in Granville, Ohio, USA, wo sie Kurse in Deutsch als Fremdsprache, deutschsprachiger Literatur und Psychoanalyse gibt. Ihre Arbeiten über deutsche Literatur des 18. und 19. Jahrhunderts, mit besonderer Betonung der Romantik, sind durch einen interdisziplinären Ansatz geprägt, in dem vor allem die Kohutsche Selbstpsychologie und die psychoanalytischen Theorien der Suizidalität einen wesentlichen Stellenwert haben. Sie publizierte u.a. Essays über G.A. Bürger, E.T.A. Hoffmann, Goethe, Karoline von Günderrode, Heinz Kohut, und Franz Grillparzer und ist Herausgeberin einer Sonderausgabe von Selbstpsychologie: Europäische Zeitschrift für Therapie und Forschung zum Thema Selbstpsychologie und die Künste.

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Teut Deese hat 2006 unter der Leitung von Wolfgang Nehring und Hans Wagener an der University of California, Los Angeles, seine Promotion mit der Arbeit Neue Sachlichkeit zwischen Satire und Sentimentalität abgeschlossen. Seit seiner Rückkehr nach Deutschland produziert er als Fernsehautor verschiedene Reality-Formate und Musikdokumentationen. 2009 gründete er mit der Sängerin Coco Tigler das Rockduo „The Fever“, das 2013 sein erstes Album veröffentlichte. Gelegentlich nimmt er Lehraufträge wahr, so an der Universität zu Köln. Lorely French ist Distinguished University Professor für Germanistik und Feministische Studien an der Pacific University in Forest Grove, Oregon. Ihr Buch German Women as Letter Writers 1750–1850 erschien 1996 bei Fairleigh Dickinson University Press/Associated University Presses. Weitere Veröffentlichungen sind u.a. Aufsätze über Bettine von Arnim, Helmina von Chézy, Amalia Schoppe, Rahel Varnhagen, Frauenbriefe der Romantik und des Vormärz, Annemarie Schwarzenbach und Ceija Stojka. In letzter Zeit forscht sie zu Schriften von Roma in den deutschsprachigen Ländern. Mitproduzentin des Films Berlin als interkultureller Text, American Association of Teachers of German (2013). Von 2008 bis 2010 war sie Mitherausgeberin der wissenschaftlichen Zeitschrift Pacific Coast Philology: Journal of the Pacific Ancient and Modern Language Association. Ihre Forschung und Lehre wurden von mehreren Stipendien unterstützt u.a. von der Fulbright Commission, dem Deutschen Akademischen Austauschdienst, dem American Council of Learned Societies und der American Association of Teachers of German. Victor Fusilero ist Assistant Professor of German am Los Angeles Valley College. Er studierte deutsche Literatur an der University of California, Los Angeles, wo er 2010 bei Hans Wagener und Wolfgang Nehring mit einer Dissertation über „Governing Households: Discourses of Governmentality and the Rise of the Family in Early Modern German Literature“ promovierte. Seine Forschungsschwerpunkte sind der kritische Materialismus sowie die historische Entwicklung der Produktion und Reproduktion von modernen sozialen Ordnungsstrukturen. Ivett Guntersdorfer promovierte 2011 unter Wolfgang Nehrings Leitung mit der Dissertation „Angst aus der Perspektive der Psychologie bei Arthur Schnitzler und Christa Wolf“. Nach einer kurzen Mutterschaftspause kehrte sie nach Deutschland zurück, wo sie im Programm „Junior Year in Munich“ der Ludwig-MaximiliansUniversität (LMU) in München als Dozentin arbeitet. Sie ist gleichzeitig Lehrbeauftragte am Institut für Interkulturelle Kommunikation an der LMU und Core Partner des Intercultural Competence (ICC) Programms an der Universität

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Salzburg. 2013 erscheint ihr erstes Buch, das auf ihrer Dissertation aufbaut. Guntersdorfer setzt ihre Forschung in der kognitiven Psychologie fort. Ihre weiteren Projekte sind die Digital Humanities. Katharina von Hammerstein ist Professor of German Studies an der University of Connecticut, USA. Ihre Forschungsschwerpunkte zwischen Romantik und frühem 20. Jahrhundert umfassen interdisziplinäre, feministische, neohistoristische und postkoloniale Herangehensweisen. Sie beschäftigt sich u.a. mit Einschreibungen von Frauen in öffentliche Diskurse, textliche Selbstkonstruktionen als politischer Praxis, Repräsentationen von Afrika(nerInnen) in Literatur, Ethnographie und Kunst und mit Menschenrechtsfragen in Literatur und Kunst. Zu ihren letzten Publikationen gehören Peter Altenberg, Ashantee (hrsg. 2007), Sophie Mereau: Verbindungslinien in Zeit und Raum (hrsg. mit Katrin Horn, 2008); Reading Female Happiness in Eighteenth- and Nineteenth-Century German Literature (hrsg. mit Alan Corkhill, 2011); Frieda von Bülow. Reisescizzen und Tagebuchblätter aus DeutschOstafrika, 1889 (hrsg. 2012); Sich MitSprache erschreiben: Selbstzeugnisse als politische Praxis schreibender Frauen, Deutschland 1840–1919 (2013). Peter Stephan Jungk wuchs in Wien, Berlin und Salzburg auf. Regieassistent am Theater und beim Film in Basel. Von 1974–76 Studium an der University of California, Los Angeles und am American Film Institute in Los Angeles, seither freiberuflicher Schriftsteller. 1980 Studium an einer Thoraschule in Jerusalem; 1981 Rückübersiedlung nach Wien; seit 1988 in Paris. Jungk ist als Übersetzer von Theaterstücken aus dem Amerikanischen und Französischen tätig, sowie als Autor und Regisseur von Dokumentarfilmen. Zu seinen bekanntesten Werken zählen: Stechpalmenwald (1978), Rundgang (1981), Tigor (1991), Franz Werfel. Eine Lebensgeschichte (1987), Die Reise über den Hudson (2005), Das elektrische Herz (2011). Sein Roman Der König von Amerika (2001) über Walt Disneys letzte Monate erschien 2004 in den USA unter dem Titel The Perfect American und diente dem Komponisten Philip Glass als Vorlage zu seiner gleichnamigen Oper, die 2013 ihre Weltpremiere hatte. Susanne Kelley ist Associate Professor of German am Department of Foreign Languages der Kennesaw State University, Georgia, USA. Sie hat Germanistik an der University of California, Los Angeles, studiert und das Studium 2005 mit einer Promotion abgeschlossen. Ihre Forschungsschwerpunkte sind Literatur, Kunst und Kultur in der Wiener Moderne, Reiseliteratur sowie die Kultur der tourismusbedingten Selbstvermarktung. Unter ihren Publikationen sind Essays über Werke von Peter Altenberg, Gustav Klimt, Angela Krauß und Antje Rávic Strubel.

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Petra Liedke Konow ist Associate Professor an der Loyola Marymount University in Los Angeles. Wolfgang Nehring betreute ihre Dissertation über E.T.A. Hoffmanns Serapions-Brüder. Ihre Forschungsgebiete liegen im Bereich des 19. und 20. Jahrhundert mit einem speziellen Interesse an der Romantik, dem Expressionismus, der Literaturtheorie und Deutsch als Fremdsprache. Die meisten ihrer Veröffentlichungen beschäftigen sich mit E.T.A. Hoffmann. Ihre neuesten Forschungsarbeiten setzen sich mit den Briefen von Therese von Bacheracht auseinander, in den die Erfahrungen einer Deutschen in der ehemaligen holländischen Kolonie Java aufgezeichnet sind. Liedke Konow arbeitet auch an einem Textbuch für Geschäftsdeutsch. Cristina Nehring ist die Autorin von A Vindication of Love: Reclaiming Romance for the 21st Century und Journey to the Edge of the Light. Sie promovierte in Anglistik an der University of California, Los Angeles, und lebt in Paris, wo sie über Literatur, Philosophie, Liebe, Tod, Körperbehinderung und Reisen schreibt. Sie publiziert in der New York Times, in Atlantic, in Harper’s, Slate, im New York Magazine,in New Republic, in der Nation, der Washington Post, der Los Angeles Times, dem Book- Forum, der London Review of Books, im American Scholar und in Condé Nast Traveler. Sie liest ihrer kleinen Tochter Eurydice den Kater Murr vor und erzählt ihr von ihrem innig geliebten Grossvater. Regine Angela Thompson promovierte mit der Dissertation „Die Bedeutung der Religion in den literarhistorischen Schriften und im poetischen Werk des Freiherrn Joseph von Eichendorff “ an der University of California, Los Angeles. Lehraufträge an verschiedenen Universitäten folgten. Seit 1998 lebt sie als Schriftstellerin und publizierte unter anderem Bleib immer neben mir – Ein deutsches Frauenleben und Sophias Verlangen – Eine deutsch-deutsche amerikanische Geschichte. Sie hält Lesungen und Vorträge in Kalifornien und Deutschland und publiziert diverse Artikel. Seit 2006 gehört sie dem Vorstand des Historischen Grünen Gewölbes in Dresden an, seit 2009 ist sie Vorstandsmitglied des Wende Museums und des Archive of the Cold War in Culver City, Kalifornien, wo sie unter anderem als Lektorin an einem ambitionierten Band des Taschen Verlags mit über 3500 Bildern der DDR-Sammlungen des Wende Museums mitarbeitet. Barbara Zeisl-Schönberg besitzt Diplome in englischer, amerikanischer, französischer und deutscher Literatur und promovierte 1984 an der University of California, Los Angeles, mit „The Austrian Fin-de-Siècle poet, Peter Altenberg“;. Adjunct Associate Professor am Pomona College von 1986–1999. Zeisl-Schoenbergs Forschungsschwerpunkt liegt in der Wiener “Belle Époque“, der Judenfrage in der deutschen Literatur sowie der deutschsprachigen Emigrantenliteratur in

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Los Angeles. Zu ihren Veröffentlichungen gehören „The Reception of Austrian Composers in Los Angeles, 1933“ (1987); “The Jewish Presence in the works of Felix Mitterer, Thomas Bernhard und Hilde Spiel“ (1995); „An Imago Austriae: The Essays of Hilde Spiel“ (1999). Zeisl-Schoenberg hat bei zahlreichen Publikationen als Übersetzerin gearbeitet.

Register Abdul Hamid 150 Adele Bloch-Bauer I 136, 141, 143 Adorno, Theodor 202, 213 Agricola, Georg 53, 61 Alekssev, P.V. – In the Meadows 273 – Allgemeine Erklärung der Menschenrechte 217, 220, 233, 242 Altenberg, Peter 163 Ancien régime 166 Andersen, Hans Christian 51 Andreassian, Dikran – Suedije, eine Episode aus der Zeit der Armenierverfolungen 150 Arnim, Bettine von 6, 9, 10, 15, 21 Arnim, Freimund von 44 Arnim, Ludwig Achim von 41, 42, 43, 44, 45, 46, 47, 48, 49, 50, 51, 52, 53, 54, 55, 57, 59, 60, 61, 62, 63 – Armuth und Reichthum, Schuld und Buße der Gräfin Dolores 43 – Der tolle Invalide auf dem Fort Ratonneau 59, 62 – Des Knaben Wunderhorn 41, 42, 48 – Die drei liebreichen Schwestern und der glückliche Färber 41, 42, 51, 61, 62, 63 – Halle und Jerusalem. Studentenspiel und Pilgerabentheuer 44 – Zeitung für Einsiedler 41, 42, 61, 62, 63 Balzac, Honoré de 68, 82 Baudelaire, Charles 4 Beer-Hofmann, Richard 102 Belle Époque 167 Benjamin, Walter 5, 51, 62 – Linke Melancholie. Zu Erich Kästners neuem Gedichtbuch 189, 213 Bernoulli, Jakob 57, 62 – Ars Conjectandi 57 Botticelli, Sandro 136, 142 Brentano, Clemens 8, 11, 22, 23, 41, 43, 48, 51, 61 Brinkmann, Karl Gustav von 11, 23

Büchner, Georg 60, 62 – Woyzek 60, 62 Calderón de la Barca, Pedro 131 – Die Tochter der Luft 131, 132, 142 – La hija del aire 131, 132, 142 Caravaggio, Michelangelo Merisi da – Judith beheading Holofernes 142 Chamisso, Adalbert 66 Clauzel, Conte 148, 149 Contessa, Carl Wilhelm Salice 66 Cranach, Lucas the Elder 137, 142 Crébillon, Joliot de 131 Crosby, Bing 177 Curtis, Tony 178, 179 Custine, Adam Philippe de 53 – Kannitverstan 51, 53, 63 Deutsches Historisches Institut 271 – Die Sterntaler 46, 50, 51, 52, 64 Dietrich, Marlene 176, 185 Dix, Wilhelm Heinrich Otto 210 Döblin, Alfred 152 Dollfuß, Engelbert 152, 155 Dreger, Moritz – Ver Sacrum 140, 142, 144 Dubrovic, Milan 151, 153 Femme fatale 136, 138, 140, 141 Femme forte 138 Fichte, Johann Gottlob 104 Fin-de-Siècle 112, 121 , 125, 126, 127, 129, 131, 133, 135, 137, 139, 143, 144, 171, 172, 173, 176, 178, 184 Flâneur 4, 5 Flâneuse 5 Fontane, Theodor – Effi Briest 111 Foucault, Michel 35, 37, 39, 38, 39, 129, 142 – The Birth of Biopolitics 35, 37, 39 Franz Joseph 173 French Revolution 27, 33, 34, 36, 39

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 Register

Freud, Sigmund 105, 122, 172, 176, 177, 178, 185 – Interpretation of Dreams 177 Garbo, Greta 179 Gentileschi, Artemisia 136, 137, 142 – Judith Slaying Holofernes 142 Gilbert, Gabriel 131 Goethe, Johann Wolfgang von 25, 33, 39, 247 Gorbachev, Mikhail 271 Grillparzer, Franz – Des Meeres und der Liebe Wellen 87, 88, 97 – Die Ahnfrau 88, 99 – Die Jüdin von Toledo 98 – Selbstbiographie 87, 88, 89, 90, 91, 92, 93, 94, 95, 96, 97, 98, 99, 100 – Weh dem, der lügt 87, 88, 97 Grimm, Jakob 41, 42, 43, 44, 45, 48, 50, 52, 57, 62, 63, 64 – Gedanken: wie sich die Sagen zur Poesie und Geschichte verhalten 42, 63 – Kinder- und Hausmärchen 44, 63 – Ueber den altdeutschen Meistergesang 43, 63 Grimm, Wilhelm 41, 42, 43, 44, 45, 48, 50, 52 57, 62, 63, 64 – Altdänische Heldenlieder 43 – Balladen und Märchen 43 – Kinder- und Hausmärchen 44, 63 Grosz, George 210 Gryphius, Andreas – Cardenio und Celinde 44, 63 Gutzkow, Karl – Die Neuen Serapionsbrüder 65, 67, 71, 75, 76, 77, 79, 80, 81 – Liberale Energie 65, 66, 67, 68, 69, 70, 71, 72, 73, 74, 75, 76, 77, 78, 79, 80, 81, 82, 83 Haider, Jörg 161 Hardenberg, Friedrich von – Hymnen an die Nacht 78, 79, 82, 83 Hausväterliteratur 35 Hebbel, Friedrich – Judith 137, 138

Hebel, Johann Peter 53, 54, 63 – Kalendergeschichten 53, 54, 63 – Schatzkästlein des rheinischen Hausfreundes 54, 63 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 103, 104, 121 Hiller, Ferdinand 67 Hitzig, Julius Eduard 66 Hoffmann, E.T.A. – Die Serapions-Brüder 65, 66, 67, 72, 73, 74, 75, 76, 77, 78, 81, 82, 83 Hofmannsthal, Hugo von 160, 164 – Aufzeichnungen in Skandinavien 129 – Das Märchen der 672. Nacht 164 – Der Kaiser und die Hexe 129, 144 – Der Schwierige 172, 173, 174, 176, 179, 181, 183, 184, 185 – Der weiße Fächer 129 – Die Beiden Götter 127, 128, 131, 132, 133, 134, 135, 143 – Die Idee Europa 130, 135 – K.E. Neumanns Übertragung der Buddhistischen Heiligen Schriften 129 – Lafcadio Hearn 129, 130 – Lord Chandos 172, 173, 174, 176, 179, 181, 183, 184, 185 – Ninyas 131, 132, 133, 134, 135, 138, 139 – Praeexistenz 132 – Reden und Aufsätze I 129, 143 – Reden und Aufsätze II 130, 135, 143 – Reden und Aufsätze III 133, 143 – Rosenkavalier 172, 173, 174, 176, 179, 181, 183, 184, 185 – Semiramis 125, 126, 127, 128, 129, 130, 131, 132, 133, 134, 135, 138, 139, 140, 141, 142, 143, 144 Holden, William 180, 181, 182 Holofernes 136, 137, 138, 142 Horaz – ridendo dicere verum 205 Huebsch, Ben 156 Humanitarianism 219, 220, 239, 242 Humboldt, Wilhelm von 11 Hung Ming, Ku (Gu Hungming) 130 Huygens, Christiaan 57, 63 – Tractatus de Ratiociniis in Aleae Ludo 57, 63

Register 

Jan III Sobieski 163 John the Baptist 137, 182 Juvenal 202, 213 Kafka, Franz 129, 130 Kaloev, B.I. – In the Meadows 273 Kant, Immanuel 5, 8, 101, 102 Karl I. 162 Karl Stephan Eugen Viktor Felix Maria von Habsburg-Lothringen 162 Kästner, Erich – Fabian 189, 190, 191, 192, 194, 197, 198, 199, 200, 201, 204, 205, 206, 207, 208, 209, 210, 211, 212, 213, 214 Kayser, Marie-Elise 227 Kemal, Mustafa 149 Kleist, Heinrich von – Das Erdbeben von Chili 25, 26, 40 – Der Findling 25, 26, 40 – Die Marquise von O. 25, 26, 40 – Die Verlobung von St. Domingo 25, 26, 27, 38, 39, 40 – Michael Kohlhaas 25, 26, 27, 38, 39, 40 Klimt, Gustav 173, 179, 182 – Adele Bloch-Bauer I 136, 141 – Beethovenfries 141 – Der Kuss 141 – Friederike Maria Beer 141 – Judith II 125, 127, 136, 137, 138, 139, 140, 141, 142, 143, 144, 136, 137 Kohl, Helmut 267 Kollwitz, Käthe 215, 216, 217, 218, 219, 220, 222, 223, 225, 228, 229, 230, 231, 232, 233, 234, 235, 236, 238, 239, 240, 241, 242 – Alkoholgegnerwoche 224 – Arbeitende Frauen 227 – Bauernkrieg 224 – Deutschlands Kinder hungern 228 – Ein Weberaufstand 224 – Erwerbslos 230 – Frau vertraut sich dem Tod an 225 – Gefallen 225 – Helft Rußland 232 – Mütter gebt von euerm Überfluß  227

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– Mutter, Säugling an ihr Gesicht drückend 227 – Not 224 – Städtisches Obdach 224 – Tod und Frau 225 – Vergewaltigt 224 Komendant, Tadeusz 159, 160 Kontuly, Béla – Building the Subway 273 Koreff, David Ferdinand 66 Kraus, Karl 126, 143, 174, 176, 185 – Die Fackel 174, 176, 185 – Die letzten Tage der Menschheit 174 Kundera, Milan 243, 244, 245, 246, 247, 248, 249, 250, 251 – Ignorance 243, 244, 245, 246, 247, 248, 249, 250, 251 – Slowness 251 – The Joke 245, 249 – The Unbearable Lightness of Being 244 Kunstpoesie 41, 42, 43, 44, 45, 48, 50, 51, 60 Kusniewicz, Andrzej – König beider Sizilien 159 – Krol obojga Sycylii 159, 168 – Lekcja martwego jemzyka 160 – Lessons in a Dead Language 160 – Stefy 160 – The King of Two Sicilies 159, 168 – Tierkreiszeichen 160 – Zones 160, 164 Landinius 205 Lec, Stanislaw 161 Lemmon, Jack 179, 180 Lepsius, Johannes 145, 149, 150, 153, 157 Lernet-Holenia, Alexander – Der Baron Bagge 159, 161, 163, 164, 165, 166, 168, 169 – Der Herr von Paris 159, 161, 163, 164, 165, 166, 168, 169 – Die Auferstehung des Maltravers 166 – Mars im Widder 159, 161, 163, 164, 165, 166, 168, 169 – Mars in Aries 159, 161, 163, 164, 165, 166, 168, 169 Liebknecht, Karl 233, 234, 236 Lilienstern, Otto August Ruehle von 33

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 Register

Lund, John 176 Lyotard, Jean-François 167 Machiavelli, Niccolo 38 MacLaine, Shirley 179, 180, 181 MacMurray, Fred 180, 181 Mahler, Alma siehe Werfel, Alma Mahler Makrozhitskii, Viktor – Growing Wheat - The Air Drop 273 Mann, Thomas 152 – Wälsungenblut 163 Memento Mori 178, 179 Mendelssohn, Moses 5, 6, 9 Mendelssohn-Veit-Schlegel, Dorothea 9 Mereau, Friedrich Karl 3, 4, 6, 8, 9, 10, 11, 12, 13, 15, 17, 18, 19, 20, 21, 22, 23 Mereau, Sophie 3, 4, 6, 8, 9, 10, 11, 12, 13, 15, 17, 18, 19, 20, 21, 22, 23 – Die Flucht nach der Hauptstadt 3, 4, 6, 8, 9, 10, 11, 12, 13, 15, 17, 18, 19, 20, 21, 22, 23 – Marie 3, 4, 6, 8, 9, 10, 11, 12, 13, 15, 17, 18, 19, 20, 21, 22, 23 Mesrop Habozian 149 Mestiza 31, 36 Metastasio, Pietro 131 Monroe, Marilyn 178, 179 Motte-Fouqué, Friedrich de la 66 Mouradian, Sarky 156 Musil, Robert 122, 123, 129, 130, 160 – Der Mann ohne Eigenschaften 108 Naturpoesie 41, 42, 43, 44, 48, 49, 50, 51, 60 Neue Sachlichkeit 189, 204, 206, 207, 208, 209, 210, 211, 212, 213, 214 Okakura, Kakuzo 130 One Thousand and One Nights 128, 129 Pannwitz, Rudolf 129 Pascha, Enver 149, 153 Pascha, Talat 149, 153 Péladan, Joseph 131 Peyssonel, Charles – Les numéros 53 Pfuehl, Friedrich von 66 Prudentia civilis 35

Raison d’état 35, 38 Reductio ad absurdum 198 Reichardt, Johann Friedrich – Musikalische Zeitung 48 Richter, Jean Paul 52, 63, 68, 79 – Die unsichtbare Loge 52 Ritter, Johann Wilhelm 47 Rochefoucauld, François VI, Duc de la Rochefoucauld, Prince de Marcillac 247 Roth, Joseph 160, 163 Sacher-Masoch, Leopold von 163 – Venus im Pelz 163 Said, Edward 130, 133, 135, 139, 144 – Orientalism 130, 133, 135, 139, 144 Salome 137, 138, 139, 140, 141, 143, 144, 182 Schiele, Egon 173 Schiller, Friedrich 5 Schlegel, Friedrich 5, 6, 9, 12, 23, 25, 26, 40 – Lucinde 5, 6, 9, 12, 23 Schlegel-Mendelssohn, Dorothea 5, 6, 9, 12, 23 Schlegel-Schelling, Caroline 6, 9 Schnitzler, Arthur 126, 160, 163, 172, 173, 174, 175, 176, 178, 180, 185 – Anatol 172, 173, 174, 175, 176, 178, 180, 185 – Briefe 1913–1931 102, 122 – Die Toten schweigen 101, 102, 103, 105, 106, 110, 111, 115, 117, 118, 119, 120, 121, 122, 123 – Fräulein Else 108, 175, 180 – Leutnant Gustl 101, 102, 103, 105, 106, 110, 111, 115, 117, 118, 119, 120, 121, 122, 123, 160, 163, 172, 173, 174, 175, 176, 178, 180, 185 – Liebelei 172, 173, 174, 175, 176, 178, 180, 185 – Meisternovellen 172, 173, 174, 175, 176, 178, 180, 185 – Reigen 172, 173, 174, 175, 176, 178, 180, 185 – Sterben 101 – Traumnovelle 16 Schoenberg, Arnold 171, 172, 174, 181, 185, 186, 247 – Moses and Aron 171, 172, 174, 181, 185, 186

Register 

Schopenhauer, Arthur 101, 102, 103, 105, 106, 110, 111, 115, 117, 118, 119, 120, 121, 122, 123 – Aphorismen zur Lebensweisheit 101, 104, 105, 106, 108, 111, 115, 116, 119, 123 – Parerga und Paralipomena 103, 104, 123 – Vorlesungen über die Ästhetik 103, 121 Secession 126, 128, 138 Seegemund, Georg 66 Shakespeare, William 247 Smith, Adam – The Theory of Moral Sentiments 221, 242 Sontag, Susan – Regarding the Pain of Others 217, 239, 242 Stratton, Gil 180 Sulzer, Johann Georg – Allgemeine Theorie der schönen Künste 205, 214 Swanson, Gloria 181, 182 Theden, Johann Christian Anton – Neue Bemerkungen und Erfahrungen zur Bereicherung der Wundarzneykunst und Medizin 63 Thoreau, Henry David 247 Tieck, Ludwig 73 Ulysses 247 Valéry, Paul 131 Varnhagen, Rachel 6, 9 Vega, Lope de 131 Virués, Cristóbal de 131 Voltaire – Semiramis 131 Wassermann, Jakob 152 Wegner, Armin Theophil 150, 151, 157 Weiblichkeit 12, 22, 23 Wende Museum and Archive of the Cold – War 253, 266 Werdeck, Adolphine von 26

 287

Werfel, Alma Mahler 138, 140, 147, 148, 149, 156 Werfel, Franz – Das Lied von Bernadette 156 – Die Vierzig Tage des Musa Dagh 145, 146, 147, 148, 149, 150, 151, 152, 153, 154, 155, 156, 157, 158 – Stern der Ungeborenen 145 – The Forty Days of Musa Dagh 156 Wiegler, Paul 152 Wilder, Billy 171, 172, 174, 175, 176, 177, 178, 179, 180, 181, 183, 184, 185, 186 – A Foreign Affair 175 – Double Indemnity 175, 180 – Emperor Waltz 175 – Five Graves to Cairo 171, 172, 174, 175, 176, 177, 178, 179, 180, 181, 183, 184, 185, 186 – Irma La Douce 175 – Ninotschka 171, 172, 174, 175, 176, 177, 178, 179, 180, 181, 183, 184, 185, 186 – One, Two, Three 175 – Some Like it Hot 175 – Stalag 17, 171, 172, 174, 175, 176, 177, 178, 179, 180, 181, 182, 183, 184, 185, 186 – Sunset Boulevard 175 – The Apartment 175 – The Private Life of Sherlock Holmes 175 Wittgenstein, Ludwig 173, 174, 186 – Tractatus 173, 174, 186 Wollust 10, 11, 12, 14, 18, 21, 22, 24 Zeitung für Einsiedler 42, 61, 62, 63 Zenge, Wilhelmine von 38 Zeno, Apostolo 131 Zentrales Staatsarchiv der DDR 263 Zola, Émile – Germinal 224 Zsolnay, Paul 153, 154, 155, 158 Zweig, Stefan 126, 144, 156 – Die Welt von Gestern: Erinnerungen eines Europäers 144