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German Pages 304 Year 2015
Patrick Helber Dancehall und Homophobie
Postcolonial Studies | Band 22
For my family and my friends a yaad and abroad
Patrick Helber hat in Tübingen und Dublin Geschichte und Politikwissenschaft studiert und 2014 in Neuerer und Neuester Geschichte in Heidelberg promoviert. Er lebt in Berlin und ist u.a. Moderator einer Radiosendung über karibische Populärkultur.
Patrick Helber
Dancehall und Homophobie Postkoloniale Perspektiven auf die Geschichte und Kultur Jamaikas
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2015 transcript Verlag, Bielefeld
Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Umschlagabbildung: Patrick Helber, »Redemption Song« Monument von Laura Facey im Emancipation Park in Kingston, 2011 Lektorat: Silja Helber und Svenja Hoffmann Satz: Silja und Patrick Helber Printed in Germany Print-ISBN 978-3-8376-3109-8 PDF-ISBN 978-3-8394-3109-2 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]
Inhalt Dank, ‘nuff respect und big up | 7 Einleitung und postkolonialer Anspruch | 9
Aufbau des Buches | 14 Stand der Forschung | 19 Postkolonialismus und diskurstheoretische Überlegungen | 20 Soziohistorischer Hintergrund | 35
Die Geschichte Jamaikas | 35 Die jamaikanische Diaspora in Nordamerika und Großbritannien | 53 Die sozialgeschichtliche Entwicklung der jamaikanischen Populärmusik | 61 Die moderne Dancehall-Musik | 78 Gender, (Homo-)Sexualität und Homophobie auf Jamaika | 95
Theoretische Grundlagen von Geschlecht und Sexualität | 96 Historische Grundlagen | 97 Sozialisierung | 100 Zum Begriff Homophobie | 103 Homophobie auf Jamaika | 106 Geschlechterbilder in der Dancehall | 127 Die Analyse der medialen Kontroverse um homophobe Inhalte in der Dancehall | 143
Eine Übersicht ausgewählter jamaikanischer Zeitungen | 143 Der Gebrauch der Diskursanalyse | 152 Der antihomosexuelle Diskurs auf Jamaika | 165 Der Diskurs gegen Homophobie | 199 Der Diskurs gegen Dancehall | 212 Der Diskurs pro Dancehall | 227 Auswertung der Analyse | 233
Fazit der vier porträtierten Diskursstränge | 233 Respektabilität in Gefahr | 235 Alterisierungsprozesse und internationale LGBTTIQ-Gruppen | 258 Ausblick | 269
Bibliographie | 275 Sekundärliteratur | 275 Zeitungsartikel | 290 Internetquellen | 299 Diskographie | 300 Interviews | 300
Dank, ‘nuff respect und big up
Das vorliegende Buch basiert auf der Dissertationsschrift »Zwischen ›Murder Music‹ und ›Gay Propaganda‹. Die mediale Kontroverse über die homophoben Inhalte von Dancehall-Musik auf Jamaika«. Die Arbeit entstand zwischen November 2010 und Mai 2014 im Rahmen der Nachwuchsforschungsgruppe »Karibik-Nordamerika und zurück. Transkulturationsprozesse in Literatur, Populärkultur und Neuen Medien« an der Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg. Das erste Interesse am Gegenstand gewann ich durch das Soundsystem-Projekt Scampylama und zahlreiche Diskussionen über jamaikanische Dancehall-Kultur mit Freund_innen aus der alternativen und queeren Subkultur in Baden-Württemberg. Immer wiederkehrende Debatten über den Umgang mit homophoben Texten von jamaikanischen Künstler_innen haben mich dazu motiviert, mich wissenschaftlich mit der Thematik auseinanderzusetzen und das bislang noch fehlende Buch über Dancehall und Homophobie für die Liebhaber_innen und Kritiker_innen der Offbeat-Musik in Deutschland zu verfassen. Inspiriert hat mich nicht zuletzt der Gedanke, mein persönliches subkulturelles Engagement, emanzipatorische Politik und meine Leidenschaft für jamaikanische Populärkultur zu verknüpfen. Ein riesengroßes Dankeschön gilt meiner Doktormutter Dr. Anne Brüske, die mit ihrer kompetenten Betreuung, ihrem konstruktiven Feedback und ihrer humorvollen Art maßgeblich zum Gelingen der Arbeit beigetragen hat. Auch meine drei Heidelberger Kolleginnen Wiebke Beushausen, Ana-Sofia Commichau und Sinah Kloß haben durch zahlreiche bereichernde Kommentare, inspirierende Mensakonversationen und ihre Freundschaft unterstützend auf die Dissertation eingewirkt. Die vielen in die Arbeit eingeflossenen jamaikanischen Quelltexte verdanke ich der Geduld und Hilfsbereitschaft der Mitarbeiter_innen des Jamaica Gleaner sowie dem Personal der National Library of Jamaica in Kingston. Für die Genehmigung zum Abdruck der Karikaturen danke ich der Gleaner Company Ltd und Clovis Brown vom Jamaica Observer. Das Institute for Caribbean Studies der University of the West Indies (UWI) in Mona ermöglichte es mir, 2011 zwei Monate auf Jamaika zu recherchieren und stand mir bei meinen weiteren Aufenthalten auf der Insel stets als
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Austauschplattform offen. Besonderer Dank gilt Dr. Donna P. Hope und Prof. Dr. Carolyn Cooper für die Interviews, die in das Buch eingeflossen sind. Daneben möchte ich mich bei den Studierenden der UWI, speziell bei Sheree Anderson und Troy Folks, bedanken, die mir halfen, jamaikanische Dancehall-Kultur besser zu verstehen und für meine Fragen immer ein offenes Ohr hatten. Ein Dank gebührt ebenfalls dem Jamaica Forum of Lesbians, All-Sexuals and Gays und seinem Vorsitzenden Dane Lewis sowie Peter Tatchell von Outrage!, die sich von mir bereitwillig für das Buch interviewen ließen. Für die Unterstützung beim Lektorat, Satz und jede Menge inhaltliches Feedback danke ich meiner Schwester Silja, Svenja Hoffmann, Max Gawlich sowie meinen Eltern Petra und Harald. Letztere halfen mir geduldig, kleinere Ungenauigkeiten im Manuskript auszubessern und haben mich die letzten 31 Jahre bedingungslos unterstützt. Selbiges gilt für meine Großeltern Werner, Lilo und Margarete. Überdies gebührt der hiesigen Reggae- und Dancehall-Szene Dank und big up! Auch wenn ich einigen ihrer Ausprägungen kritisch gegenüberstehe, verdanke ich ihr den steten Zugang zu gutem Sound. Besonders bedanken möchte ich mich beim Team des Riddim-Magazins und Pete Lilly, der meinen Fragen stets offenstand und mir für meinen ersten Forschungsaufenthalt auf Jamaika hilfreiche Tipps gab. Darüber hinaus möchte ich Noam für ihren treuen Support, meinem jamaikanischen Taxifahrer Sulu für hunderte von Fahrten durch das nächtliche Kingston und Janeen Johnson für Rat und Tat sowie ihre Gastfreundschaft danken. Abschließender Dank gebührt den Menschen Jamaikas für ihre Offenheit, ihren Humor, ihre Musik und besonders ihre Bereitschaft, mit mir ein Stück ihrer Kultur zu teilen.
Einleitung und postkolonialer Anspruch
Dancehall-Musik, ein Nachkomme des Reggae, ist seit den 1980er-Jahren die populärste Musikrichtung auf Jamaika. Das Genre stammt ursprünglich aus den ›Ghettos‹ Kingstons 1 und verarbeitet in seinen Texten die Lebensrealitäten der urbanen jamaikanischen lower class. Hauptinspirationsquelle der Musik sind die postkolonialen Lebensverhältnisse in der jamaikanischen Metropole, die mit über 870.000 Einwohner_innen 2 im Jahr 2001 die größte Stadt in der englischsprachigen Karibik war (vgl. Clarke 2006: 267). Im Zentrum stehen dabei die Auseinandersetzungen mit Armut, Verrat, Gewalt, Drogen, Sexualität und das Proklamieren eines unerschrockenen, meist maskulinen Draufgängertums verbunden mit der Abwertung von Homosexu-
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Die Stadtbezeichnung Kingston ist der informelle Ausdruck für die beiden parishes Kingston und Saint Andrew. Der parish Kingston beschränkt sich eigentlich nur auf die Stadtgebiete downtown, Tivoli Gardens, Denham Town, Rae Town, Kingston Gardens, National Heroes Park, Bournemouth Gardens, Norman Gardens, Rennock Lodge, Springfield und Port Royal sowie Teile der Bezirke von Rollington Town, Franklyn Town und Allman Town. Saint Andrew ist das bevölkerungsreichste der 14 parishes auf Jamaika. Es erstreckt sich bis zu den Blue Mountains. Es beinhaltet zahlreiche Bezirke, die als uptown angesehen werden, die gesellschaftliche Mitte der Stadt Half-Way-Tree, das wirtschaftliche Zentrum New Kingston, als auch zahlreiche berüchtigte ›Ghetto-Communitys‹ wie zum Beispiel Trench Town, Jungle, Grant’s Pen, Cassava Piece und August Town.
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Im Buch wird die aus den Gender Studies stammende Schreibweise des gender gap verwendet. Sie dient dazu, Leser_innen durch den Text auf den Konstruktionscharakter sowohl von Geschlecht als auch der Binarität der Geschlechter aufmerksam zu machen. Ferner lässt die Lücke Platz für Menschen, die sich weder mit der einen noch mit der anderen Geschlechterkategorie identifizieren. Geschlechtsspezifische Endungen werden verwendet, wenn sich Äußerungen konkret auf Männer und / oder Frauen beziehen und Alternativen ausschließen. Zur sozialen Konstruktion von Geschlecht siehe Kapitel Theoretische Grundlagen von Geschlecht und Sexualität.
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ellen. Darüber hinaus gibt es aber auch zahlreiche Lyrics, die Lebensfreude, Loyalität, Freundschaft, Gewaltlosigkeit, Möglichkeiten des sozialen Aufstiegs und Kritik an den bestehenden politischen und gesellschaftlichen Verhältnissen thematisieren. Aufgrund der globalen Beliebtheit von jamaikanischer Populärmusik seit dem internationalen Erfolg von Reggae besitzt auch Dancehall, begünstigt durch die jamaikanische Immigration nach Nordamerika und Großbritannien, eine weltweite Fangemeinde. Die homophoben Dancehall-Lyrics stießen außerhalb Jamaikas auf den Protest von Organisationen für die Rechte der LGBTTIQ 3-Gemeinschaft. Die Proteste im Jahr 2004, ursprünglich initiiert durch Aktivist_innen der britischen Organisation Outrage! in Zusammenarbeit mit J-FLAG (Jamaica Forum for Lesbians, All-Sexuals and Gays), führten zu Konzertabsagen, Einreiseverweigerungen und Boykotts in Nordamerika und Europa. Zum symbolischen Kopf des Protests wurde der Brite Peter Tatchell. Als Sprachrohr von Outrage! sorgte er durch seinen Aktivismus im Internet für eine schnelle Informationsverbreitung und Vernetzung der Akteur_innen, was wiederum das mediale Interesse an der Kampagne verstärkte. Die aus den Pro-
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LGBTTIQ steht für lesbisch, schwul, bisexuell, transsexuell, transgender, intersexuell und queer (lesbian, gay, bisexual, transsexual, transgender, intersexual and queer). Auch wenn der Ausdruck hier für eine solidarische Gruppe von sexuellen Minderheiten verwendet wird, ist wichtig anzumerken, dass die LGBTTIQ-Gemeinschaft keinesfalls immer geeint auftritt und auch innerhalb dieser Diskriminierung, beispielsweise gegen transsexuelle Menschen, vorkommt. Außerdem existiert innerhalb der LGBTTIQ-Gemeinschaft Diskriminierung aufgrund von class, Patriarchat, Rassismus und Behinderung. Der Begriff queer stammt aus dem Englischen und steht für normabweichendes (sexuelles) Verhalten. Ursprünglich hatte er eine pejorative Bedeutung. Sexuelle Minderheiten eigneten sich den Begriff wie im Deutschen das Wort schwul an und verwendeten ihn als Geschlechter und Sexualitäten übergreifende Selbstbezeichnung. Queer wurde in den USA insbesondere von nicht-weißen LGBTTIQ-Menschen aus der working class verwendet, um sich in ihren Kämpfen von weißen homosexuellen Männern aus der middle class abzugrenzen (vgl. Haritaworn 2005: 26, 28, 32). Mittlerweile wird er auch in der weißen Mainstreamgesellschaft als Selbstbezeichnung von Menschen gebraucht, die sich der Binarität von Geschlecht, Sexualität und Begehren widersetzen. In der Karibik gibt es auch Gruppen, die Alternativen zur europäisch-nordamerikanischen geprägten Selbstbezeichnung queer entwickelt haben. Ein Beispiel dafür ist die haitianische Organisation Kouraj Pou Pwoteje Dwa Moun, die sich anstatt der LGBTTIQ-Terminologie bewusst ursprünglich pejorative Bezeichnungen für sexuelle Minderheiten aus dem haitianischen Kreyòl angeeignet hat (vgl. Ehrmann 2013).
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testen gegen Homophobie 4 resultierenden Konzertabsagen führten wiederholt zu ökonomischen Einbußen 5 bei jamaikanischen Künstler_innen und gefährdeten den Ruf Jamaikas als beliebtes Tourismusziel für Urlauber_innen aus Nordamerika und Europa. Insgesamt entfachten die Proteste sowohl international als auch auf Jamaika eine Debatte über die Lage von Homosexuellen auf Jamaika und den Umgang mit homophober jamaikanischer Populärkultur. Neben dem Vergnügungscharakter von Dancehall-Musik fungiert das Genre als wichtiges Medium, um gesellschaftliche Regeln und Normen zu artikulieren, aber auch herauszufordern (vgl. Stanley Niaah 2010: 95). So werden in der DancehallKultur Vorstellungen von Geschlecht und Sexualität aus der Perspektive der Schwarzen working class 6 Jamaikas performativ inszeniert. Diese Performances repräsentieren in Teilen die Geschlechternormen der Gesellschaft, verstoßen aber auch häufig gegen gewisse Vorstellungen von respektabler Heterosexualität. Die Bilder von konformer und nicht konformer Sexualität wurden auf Jamaika speziell durch die Erfahrungen der Sklaverei und des Kolonialismus sowie durch die Christianisierung der verschleppten und versklavten Afrikaner_innen geprägt (vgl. LaFont 2001: 8). Respektabilität spielt in diesem Prozess eine tragende Rolle. Sie wird in der Karibik seit jeher stark durch die Lehren der christlichen Kirche bestimmt (vgl. Wilson 1973: 100). Respektabilität gilt als ein Leitfaden moralischer Verhaltensweisen und sozialer Praktiken, der für den Fortbestand einer ›zivilisierten‹ Gesellschaft und deren Fortschritt notwendig ist. Sie konstruiert sich somit durch be-
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Im Buch werden ausgrenzende und feindliche Einstellungen und Handlungen gegenüber sexuellen Minderheiten unter dem Begriff Homophobie subsummiert. Das ist der Terminus, der dafür in den jamaikanischen Medien primär verwendet wird. Auch die Organisation Outrage! spricht hauptsächlich von Homophobie. Trotzdem darf nicht vergessen werden, dass Einstellungen, die hier als Homophobie beschrieben werden, ebenfalls andere, von der heterosexuellen Norm abweichende Gruppen betreffen und Transphobie mit einschließen.
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Die Sunday Times schätzt die Verluste durch die Kampagne in den USA und Großbritannien auf zwei Millionen Pfund (vgl. Chittenden 2004).
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Die jamaikanische working class besteht vorwiegend aus Beschäftigten im Industrie-, Agrar-, Bau- und Transportgewerbe sowie Personen, die im Bereich der öffentlichen Versorgung tätig sind (vgl. Stone 1986: 33). Ferner können untere Angestellte im Dienstleistungssektor, Handwerker_innen, kleineren Händler_innen und unterschiedliche Niedriglohnund Gelegenheitsarbeiter_innen dazugezählt werden (vgl. Stone 1986: 34).
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stimmte Auffassungen über und Anforderungen an race 7, class 8, Gender und Sexualität und stellt außerdem einen wesentlichen Teil der jamaikanischen kulturellen Identität dar. Respektabilität setzt sich zusammen aus Bildung, Sparsamkeit, Selbstgenügsamkeit, gemäßigtem Christentum und der heterosexuellen Kernfamilie (vgl. Wilson 1973: 99, 104; Thomas 2004a: 5). Das heteronormative Modell beschreibt die Kernfamilie, bestehend aus dem Ernährer und der Hausfrau, die durch eine Ehe verbunden sind (vgl. Thomas 2004a: 49). Auf Jamaika reichen die historischen Wurzeln der Aufrechterhaltung und Überwachung von Respektabilität bis zum Kolonialismus und der Plantagensklaverei zurück. So wurde seit dem Beginn des Kolonialismus die Differenz zwischen Kolonialisierten und Kolonialisierenden durch sexuelle Kontrollen aufrechterhalten (vgl. Stoler 1989: 634). Bis heute spielt Respektabilität bei der Formation von Staatsbürgerschaft und kultureller Identität nicht nur auf Jamaika, sondern allgemein in der englischsprachigen Karibik eine wichtige Rolle. Das Buch geht der Frage nach, welche Bedeutung Populärkultur und Diskurse über Populärkultur bei der Aushandlung von Respektabilität haben. Darauf aufbauend untersucht es, wie die Debatte um homophobe Dancehall-Lyrics im Jahr 2004 mit der Konstitution von Staatsbürgerschaft und kultureller Identität im Jamaika des frühen 21. Jahrhundert verbunden ist. Kulturelle Identität ist im Gegensatz zu Staatsbürgerschaft nicht zwingend an nationale Zugehörigkeit gebunden. Dem Begriff Staatsbürgerschaft liegt eine legale Dimension zugrunde. Er definiert, wer die Bürger_innen eines Staats sind (vgl. Ro-
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Der englische Ausdruck race wird im Buch dem deutschen Wort ›Rasse‹ vorgezogen. Der deutsche Ausdruck eignet sich aufgrund seiner historischen Verwendung im deutschen Kolonialismus und Nationalsozialismus nicht als Analysekategorie für sozial konstruierte Hierarchien. Stattdessen transportiert er bis heute die Falschannahme, dass es tatsächlich ›Rassen‹ gäbe, und führt somit zur Fortschreibung von Rassismus in der Sprache.
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In der englischsprachigen Forschung (zur jamaikanischen Gesellschaftsstruktur) werden vornehmlich die Begriffe upper class, middle class und lower / working class verwendet (vgl. Stone 1986; Thomas 2004a). Die Termini können allerdings weder mit den deutschen Begriffen Oberschicht, Mittelschicht und Unterschicht übersetzt werden, noch hilft der deutsche Ausdruck Klasse weiter, der lediglich im marxistischen Sinne Aussagen darüber macht, wer Produktionsmittel besitzt und wer seine Arbeitskraft verkaufen muss. Die oben genannten englischen Ausdrücke werden deshalb im Buch beibehalten. Class wird in diesem Zusammenhang einerseits als Begriff für eine soziale Gruppe verwendet, die sich in einer ähnlichen ökonomischen Situation befindet und einen bestimmten Habitus aufweist (vgl. Strasen 2008: 351; Bourdieu 2010: 166), andererseits stets in seiner Intersektion mit anderen Differenzkategorien wie race und Gender gedacht.
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saldo 1994: 402). Von »kultureller Staatsbürgerschaft« wird gesprochen, um zu verdeutlichen, dass die Bevölkerung von Staaten im frühen 21. Jahrhundert keinesfalls homogen ist, sondern sich aus Menschen mit unterschiedlichen sozialen Positionen, Selbstverständnissen und kulturellen Identitäten zusammensetzt (Rosaldo 1994: 402). So können innerhalb eines Staats gleichzeitig verschiedene Auffassungen von kultureller Identität koexistieren. Die nationale kulturelle Identität ist schließlich nur ein Modell, das zu einem bestimmten Zeitpunkt einen hegemonialen Status genießt. Insbesondere bei der Verortung von Diasporagemeinschaften spielt die Frage nach der kulturellen Identität eine wichtige Rolle. Schwarze karibische kulturelle Identität besteht für Stuart Hall (1932-2014) aus dem Dialog zwischen Gleichartigkeit und Kontinuität auf der einen Seite und Differenz und Bruch auf der anderen Seite (vgl. Hall 1990: 226). Ein Aspekt der kulturellen Identität in der Karibik basiert auf dem »traumatischen Charakter der kolonialen Erfahrung« (Hall 1990: 225). 9 Das historische Erbe dieses Traumas teilt beispielsweise die Bevölkerung auf den Inseln Jamaika, Barbados, Martinique, Hispaniola und Kuba. Es drückt sich speziell im gemeinsamen Bruch mit der eigenen Vergangenheit aus (vgl. Hall 1990: 227). Wie mit dem kolonialen Erbe und den daraus resultierenden Abhängigkeiten verfahren wird, unterscheidet sich wiederum von Insel zu Insel und prägt laut Hall die jeweilige kulturelle Identität der Länder unterschiedlich (vgl. Hall 1990: 228). Hall veranschaulicht, dass es sich bei Identität nie um etwas Abgeschlossenes und Statisches handelt. Stattdessen zeichnet sich Identität durch ihre Prozesshaftigkeit und Dynamik aus. Identität wird außerdem nicht außerhalb von Repräsentation, sondern im Repräsentationsprozess selbst aufgebaut (vgl. Hall 1990: 222). 10 Populärkultur ist somit selbst ein Medium, das Menschen in der Karibik ermöglicht, sich als neue Subjekte zu entwerfen und neue Sprecherpositionen einzunehmen (vgl. Hall 1990: 237). Die Publikation beschäftigt sich deshalb auch mit der Frage, inwieweit und an welchen Orten bestimmte gesellschaftliche Akteur_innen die Macht besitzen, zu sprechen, um sich und die ›Anderen‹ auf eine gewisse Art zu repräsentieren. Innerhalb der Dancehall dominieren beispielsweise die kulturellen, sexuellen und geschlechtlichen Identitätsdefinitionen der Schwarzen jamaikanischen lower class, die sexuelle Minderheiten ausgrenzen. Zahlreiche Dancehall-Künstler_innen verurteilen 9
Für die Übersetzungen von direkten Zitaten aus der Sekundärliteratur und den Primärquellen sowie für die Transkription von Songtexten aus dem jamaikanischen Patwah ist allein der Autor verantwortlich.
10 Die Prozesshaftigkeit von kultureller Identität demonstriert Hall unter anderem am Beispiel der Rolle von Afrika für Jamaicanness. Afrika wird erst seit den 1970er-Jahren als Teil von jamaikanischer kultureller Identität begriffen. Maßgeblich hierzu beigetragen haben der internationale Kampf um die Bürgerrechte der Schwarzen, der Aufstieg von Rastafari und Reggae-Musik sowie der Bedeutungsgewinn postkolonialer Denkansätze (vgl. Hall 1990: 231).
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Homosexualität in ihren Liedern auf das Schärfste und entwerfen in Songtexten ein strikt heteronormatives Modell von jamaikanischer kultureller Identität. In den 1990er-Jahren und um die Jahrtausendwende ging das so weit, dass zuweilen die brutale Ermordung von Schwulen und Lesben in einigen Texten beschrieben und propagiert wurde. Der Song »Nah Gwan A Jamaica« (2003) des Künstlers Elephant Man veranschaulicht exemplarisch, wie alttestamentarische Bilder von Sodom und Gomorra dazu dienen, Homosexualität zu verurteilen und Jamaika als einen strikt heterosexuellen Raum darzustellen. Neben der Sündhaftigkeit von Homosexualität symbolisieren die Städte Sodom und Gomorra aber auch Gesellschaften in der Krise und stehen für den Verfall von Sitte und Moral. Einer derartigen Krise wird im Songtext mit einer Abschirmung gegenüber Fremdem (»a foreign«) begegnet, das, falls notwendig, durch Gottes Legitimation ausgemerzt werden soll: Fada God seh we fi bun down Sodom and Gomorrah so When mi done with dem, dem nah go live fi see tomorrow so Fada God seh mi fi bun down Sodom and Gomorrah so Jamaicans march out, hey! Certain things wah gwan a foreign, can’t gwan a Jamaica Nah support no chi chi and we nah support no raper (Elephant Man 2003).
Die radikale Ablehnung von Homosexualität und insbesondere homosexuellen Männern (»chi chi«) geschieht meist unter Berufung auf christliche Werte und das Alte Testament, die Homosexualität als sündhaft charakterisieren. Ferner drücken sich darin Vorstellungen von heterosexueller Maskulinität und ein allgemeines Unbehagen gegenüber einer dominanten und als ›westlich‹ wahrgenommenen liberalen Kultur der Anerkennung aus, deren Einflüssen sich viele Jamaikaner_innen im Zeitalter der Globalisierung hilflos ausgeliefert sehen: »Certain things wah gwan a foreign, can’t gwan a Jamaica«. Der Songtext zieht eine deutlich Grenze zwischen Staaten, die Homosexualität nicht mehr kriminalisieren, und Jamaika, das sich davor abschirmen soll. Zentraler Stein des Anstoßes ist häufig die Furcht vor einer wachsenden Präsenz Homosexueller, der womöglich eine gesellschaftliche Akzeptanz von Homosexualität und letztendlich die Aufwertung der homosexuellen Beziehungen als Alternative zur respektablen, heterosexuellen Familie folgen könnte.
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Das Buch liefert in einem ersten Schritt eine soziohistorische Einordnung der Diskussion um homophobe Dancehall-Musik in den Kontext Jamaikas. Anschließend wird der Fokus auf die Analyse der Diskussion in den jamaikanischen Printmedien
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gerichtet. Dabei geht es nicht primär um eine Analyse homophober Lyrics und Performances, sondern vielmehr darum, wie in der jamaikanischen Presse über diese und Dancehall allgemein gesprochen wird und welche Wirkungen das auf die Gesellschaft und deren Vorstellungen von Sexualität, Respektabilität und kultureller Identität hat. Neben der jamaikanischen Presse sollen des Weiteren die Onlinepublikationen von ›westlichen‹ LGBTTIQ-Organisationen und deren Effekte untersucht werden. Sie liefern Information darüber, welche Funktion das Sprechen über Dancehall und Homophobie in fortdauernden (neo-)kolonialen Diskursen besitzt. Hauptquellengrundlage bilden die drei relevantesten jamaikanischen Tageszeitungen: der Jamaica Gleaner, die älteste jamaikanische Zeitung (1834), der Jamaica Observer (1993), Jamaikas zweitgrößtes Presseorgan, und The Star, eine jeden Nachmittag erscheinende Boulevardzeitung, die Teil der Gleaner Company Ltd ist. Zusätzliche Quellen sind Dancehall-Lyrics, die den antihomosexuellen Diskurs transportieren und feindselige Einstellungen gegenüber Homosexuellen auf Jamaika erst international bekannt machten. Darüber hinaus sind Interviews mit Wissenschaftlerinnen der University of the West Indies, die zu Dancehall-Kultur arbeiten, sowie Gespräche mit Aktivisten für die Rechte von Homosexuellen auf Jamaika und in Großbritannien in die Analyse eingeflossen. Einen weiteren Bestandteil bilden Menschenrechtsberichte, welche die Situation von Homosexuellen und Übergriffe auf sexuelle Minderheiten auf Jamaika beschreiben. Sie tauchen häufig auch zitiert oder paraphrasiert in der jamaikanischen Presse auf. Als Untersuchungszeitraum wurde das Jahr 2004 festgelegt, da sich in diesem Zeitraum eine Fülle an Ereignissen zugetragen hat, die Aussagen und Diskurse um Homosexualität, Homophobie und die Rechte von Homosexuellen auf Jamaika enorm anwachsen ließen. So erreichte die von der britischen Gruppe Outrage! und JFLAG gestartete Stop Murder Music-Kampagne 2004 ihren Höhepunkt. 11 Ferner führten die Ermordung des jamaikanischen Aktivisten für die Rechte von sexuellen Minderheiten, Brian Williamson (1945-2004), im Juni 2004 und die Veröffentlichung eines Berichts von Amnesty International (AI) und einer ausführlichen Human Rights Watch (HRW) Studie, die beide die gewaltsame Homophobie auf Jamaika kritisierten, zu einer verstärkten medialen Aufmerksamkeit (vgl. Hated to Death. Homophobia, Violence and Jamaican’s HIV/AIDS Epidemic 2004).
11 Peter Tatchell beschreibt in einem persönlichen Interview, dass Outrage! auf Anfrage von J-FLAG die Kampagne organisierte: »Yeah it was Outrage!. It wasn’t me personally, though I coordinated the campaign. It was Outrage! and J-FLAG. In 2004, when the new wave of homophobic lyrics came out – like Beenie Man, Elephant Man and so on – we got a request from J-FLAG to renew and step up the campaign« (Tatchell 2011).
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Bedingt durch die Kampagne, schlugen sich die Argumentationen der Organisationen sowie die Antworten auf Anschuldigungen, Boykottaufrufe und Konzertabsagen in einer großen Flut an Nachrichtenartikeln, Kommentaren und Leserbriefen zum Thema Homosexualität, Homophobie und Dancehall-Musik in der jamaikanischen Presse nieder. Das Buch zeigt auf, inwiefern Zeitungsartikel und Kommentare Diskurse artikulieren, anhand derer unterschiedliche Sichtweisen auf Homosexualität, Homophobie und Dancehall-Musik entworfen werden. Dabei dienen insbesondere die beiden Achsen Populärkultur und Sexualität dazu, jamaikanische kulturelle Identität und Staatsbürgerschaft auszuhandeln beziehungsweise Abweichungen von der gesellschaftlichen Norm zu kritisieren. Aufbauend auf die aus der Analyse gewonnene Feststellung, formuliert das Buch die These, dass die Kontroverse um Dancehall-Musik und Homosexualität in den jamaikanischen Medien im Jahr 2004 immer auch ein Sprechen von der Krise ist. Zu Beginn des neuen Jahrtausends wird in den Medien der Verfall der gesellschaftlichen und sittlichen Ordnung beklagt. Das Konzept der Respektabilität, dessen Rolle für die jamaikanische kulturelle Identität und Staatsbürgerschaft nicht zu unterschätzen ist, befindet sich aus der Perspektive vieler Jamaikaner_innen in der Krise. Im Krisendiskurs der Presse werden besonders die Dancehall-Kultur und die Präsenz von Homosexualität, zwei Phänomene, die in vielerlei Hinsicht den Prinzipien der respektablen Staatsbürgerschaft widersprechen, sowohl als Krisenursachen als auch als Symptome herangeführt. Unterstützend auf das Krisenszenario wirken sich gravierende wirtschaftliche Probleme, Armut und die Gewalt in den innerstädtischen Bezirken Kingstons aus. Der angesprochene Krisendiskurs entwirft das Bild eines bedrohten und zerfallenden jamaikanischen Staats und bewirkt, dass Respektabilität als zentraler Bestandteil jamaikanischer kultureller Identität sowie ein heterosexuell-patriarchales Konzept von Staatsbürgerschaft bekräftigt werden. In einem zweiten Analyseschritt, bei dem die interne Ebene Jamaikas verlassen wird, wird aufgezeigt, inwiefern das Konzept von Respektabilität auf internationaler Ebene als Mittel zur Anerkennung der postkolonialen Subjekte im ›Westen‹ fungiert. Darauf aufbauend, wird gezeigt, dass auch im frühen 21. Jahrhundert hegemoniale Diskurse des ›Westens‹ weiter wirksam sind. Das wird anhand der Aussagen von vornehmlich ›westlichen‹ LGBTTIQ-Verbänden zur Homophobie auf Jamaika demonstriert. Somit wird veranschaulicht, dass Homophobie im frühen 21. Jahrhundert im ›Westen‹ als Markierung dient, an der die Alterität von Schwarzen und People of Color 12 festgeschrieben wird. Durch diese Praxis wird eine koloniale Zweiteilung der Welt aufrechterhalten und gleichzeitig außer Acht gelassen, inwiefern Homophobie 12 Unter der Bezeichnung People of Color wird in antirassistischen Diskursen in Nordamerika und Europa ein Bündnis von verschiedenen Communities of Color verstanden, die auf der Dialektik von Identität und Differenz basieren (vgl. Dean 2011: 559).
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und Rassismus bis zum heutigen Tag in Nordamerika und Europa bei der Strukturierung der Gesellschaft, Machtverteilungen und sozialer Mobilität wirksam sind. Die transnationale Debatte um homophobe Dancehall-Musik wird im Buch erstmalig in den Kontext postkolonialer Forschung eingebettet. Ihre Funktion im von Stuart Hall als Diskurs vom »Westen und dem Rest« (vgl. Hall 1992) charakterisierten Wissenssystem ist bislang, insbesondere in Deutschland, nicht beachtet worden. Hierzulande fand bisher keine akademische Auseinandersetzung mit der Problematik statt. Diskussionen um homophobe Inhalte in jamaikanischer Populärkultur blieben beschränkt auf Tageszeitungen, Lifestyle-Magazine (vgl. Mocek 2008), die seit 2001 erscheinende deutschsprachige Reggae-Zeitschrift Riddim und Internetforen. Dort trafen häufig eindimensionale Argumentationsweisen aufeinander. Deutsche Reggae-Fans, Künstler_innen und Veranstalter_innen hielten die homophoben Inhalte oft für essentielle Teile der jamaikanischen Kultur und damit für unveränderlich und gerechtfertigt. Ein Beispiel dafür ist ein Interview mit dem populären deutschen Reggae-Künstler Gentleman auf der Onlinepräsenz der Zeitung Die Welt: Natürlich distanziere ich mich davon, wenn jemand aufgrund seiner Sexualität diskriminiert wird. Ich kann aber anderen Kulturen nicht meine Kultur verordnen. Ich muss nicht in Vatikan City Kondome verteilen oder im Iran den Frauen die Tücher vom Kopf reißen. Ich kann nicht in Jamaika die Homophobie geißeln. Was der Rastamann nicht mit seinem Glauben vereinbaren möchte, sollte man akzeptieren (Pilz 2010). 13
Unterstützer_innen der LGBTTIQ-Proteste schlossen sich dem Diskurs des US-amerikanischen Time Magazine an und fügten zum Stereotyp Jamaikas als ›Inselparadies‹ das Stigma des »homophobsten Ortes der Welt« (Padgett 2006) hinzu, ohne sich mit der dort existierenden Debatte um Homosexualität zu beschäftigen. Die Publikation hat das Ziel, das bislang in der deutschen Diskussion Versäumte nachzuholen und dem hiesigen öffentlichen Diskurs über Homophobie auf Jamaika und der jamaikanischen Populärkultur ein akademisches Fundament zu liefern. Die Analyse der Debatte um homophobe Dancehall-Musik in den jamaikanischen Medien ist ein Beitrag auf dem Feld der Postkolonialen Studien. Sie kann dabei aufgrund ihres interdisziplinären Ansatzes an der Schnittstelle von Geschichtswissenschaft, Cultural Studies und Gender Studies verortet werden.
13 Nach Kritik an den kulturrelativistischen Äußerungen distanzierte sich Gentleman von diesen und beschrieb in einem weiteren Interview Homophobie als »Faschismus« (Biazza 2011). Die Abkehr, die in Deutschland begrüßt wurde, entbehrt weiterhin jeglicher reflektierten Einordnung der jamaikanischen Homophobie-Problematik in den postkolonialen Kontext. Stattdessen gibt sie vielmehr nur das Springen des weißen Reggae-Künstlers von einem vermeintlichen Standpunkt zum anderen wieder.
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Als Einstieg in die Thematik wird ein kurzer Überblick über einige relevante Prämissen Postkolonialer Theorie geliefert und auf den Konstruktionscharakter sozialer Realitäten anhand der Beispiele der ›Karibik‹ und des ›Westens‹ aufmerksam gemacht. Daran anknüpfend folgt ein Kapitel zur methodischen Herangehensweise der Arbeit, die sich als historische Diskursanalyse versteht und die diskursive Formation von Identitäten, geprägt durch das Erbe des Kolonialismus, aufzeigt. Diskurse werden in diesem Sinne als Ansammlungen von Wissen verstanden, die Realität nicht abbilden, sondern diese überhaupt erst erfahrbar machen und stets mit Macht verbunden sind. Der Hauptteil untergliedert sich in vier wesentliche Blöcke. Im ersten Teil wird die Debatte um homophobe Dancehall-Musik in den soziohistorischen Kontext Jamaikas eingebettet. Einem Abschnitt über die Geschichte der Karibikinsel, von den Anfängen der Kolonialisierung bis ins frühe 21. Jahrhundert, folgen ein Abschnitt über die jamaikanische Diaspora und die Entwicklung der jamaikanischen Populärmusik. Ausgehend vom Genre Ska, das 1962 den Soundtrack zur jamaikanischen Unabhängigkeit lieferte, werden Reggae und die Herausbildung der SoundsystemKultur im Hinblick auf die moderne Dancehall-Musik skizziert. Anschließend folgt ein Abschnitt zur Dancehall-Musik, der sich mit der Transnationalität und dem Widerstandspotenzial des Genres befasst. Das nächste große Kapitel konzentriert sich auf die Aushandlung, Performance und Repräsentation von Geschlecht und Sexualität auf Jamaika. An erster Stelle werden hier Geschlechterrollen, deren Sozialisierung und der Umgang mit Normabweichungen zum Ausdruck gebracht. Neben historischen Aspekten, die Vorstellungen von Geschlecht und Sexualität auf Jamaika prägen, werden Homophobie sowohl in der Gesellschaft als auch der Populärkultur beleuchtet. Anschließend wird ein Blick auf die internationalen Kampagnen gegen jamaikanische Künstler mit homophoben Lyrics geworfen. Abschließend richtet sich der Fokus direkt auf die Performances von Geschlecht in der Dancehall. In diesem Rahmen werden das Phänomen slackness, subversive Formen von Weiblichkeit und Maskulinität in der Dancehall-Kultur, ausgeleuchtet. Nach einer kurzen Darstellung des Quellenmaterials und der Begründung der Methodik, erfolgt die Analyse wesentlicher Diskursstränge. Ausführlich aufgezeigt und ausgewertet werden der antihomosexuelle Diskurs, der antihomophobe Diskurs sowie Diskurse für und wider Dancehall-Musik. Alle vier Diskurse werden dabei bezüglich ihres Verhältnisses zu Respektabilität untersucht. Im folgenden Teil wird die Bedeutung der verschiedenen Diskurse, insbesondere bei der Formation eines Krisendiskurses im Jamaika des frühen 21. Jahrhunderts, aufgezeigt. Im Zentrum steht dabei die Wirkung des Krisendiskurses bei der Wiederherstellung der Kategorie Respektabilität. Ferner wird untersucht, inwiefern Respektabilität mit Vorstellungen von kultureller Identität, heteropatriarchaler Staatsbürgerschaft und Schwarzer Maskulinität verknüpft ist. Abschließend wird die Debatte um
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Respektabilität in den globalen Kontext eingeordnet. Im Fokus steht dabei das Verhältnis zwischen den kritisierenden Aussagen von internationalen LGBTTIQ-Aktivist_innen und dem Bemühen Jamaikas, sich als respektabler Staat gegenüber dem ›Westen‹ zu präsentieren. Zudem werden bestehende Verbindungen zwischen Kritik an Homophobie und Rassismus aufgezeigt.
S TAND
DER
F ORSCHUNG
Die Forschungsliteratur zum Thema jamaikanische Dancehall-Kultur besteht aus einer umfangreichen Reihe englischsprachiger Publikationen. In der Folge werden einige der grundlegenden Titel, die für die vorliegende wissenschaftliche Abhandlung von Bedeutung sind, kurz präsentiert. Pionierin auf dem Forschungsgebiet jamaikanischer Populärkultur ist die Literaturwissenschaftlerin Carolyn Cooper, die mit ihrem Buch Noises in the Blood. Orality, Gender and the ›Vulgar‹ Body of Jamaican Popular Culture (1993) der Populärkultur aus Kingstons Armenvierteln überhaupt erst die Pforten der Universität öffnete. Im Buch Sound Clash. Jamaican Dancehall Culture at Large (2004) vertieft Cooper ihre Analyse der Dancehall-Musik und richtet den Fokus dabei nicht nur auf Konfrontationen um das Genre auf Jamaika, sondern auch auf den Umgang mit jamaikanischer Populärkultur im Ausland und die internationale Diskussion um Homophobie. Die Ethnographie Wake the Town and Tell the People. Dancehall Culture in Jamaica (2000) von Norman C. Stolzoff thematisiert die Geschichte der Dancehall orientiert am Phänomen des Soundsystems und veranschaulicht das Widerstandspotenzial, aber auch die Widersprüche, die die Musik in sich birgt. Donna P. Hope leistete zwei kulturwissenschaftliche Beiträge zur Erforschung von Dancehall-Kultur. Ihre Werke Inna di Dancehall. Popular Culture and the Politics of Identity (2006) und Man Vibes. Masculinities in the Jamaican Dancehall (2010) setzen sich mit der Aushandlung unterschiedlicher Identitätskonzepte in der Dancehall auseinander. In Man Vibes konzentriert sich Hope auf die Inszenierung von heterosexueller Männlichkeit in der Dancehall. Dabei thematisiert sie auch ausführlich den antihomosexuellen Diskurs, der in zahlreichen Dancehall-Lyrics hervortritt. Sonjah Stanley Niaah untersucht in Dancehall. From Slave Ship to Ghetto (2010) die Wege, welche Dancehall-Kultur von der Verschleppung und Versklavung von Afrikaner_innen bis zu den Performances jamaikanischer Entertainer_innen im frühen 21. Jahrhundert zurückgelegt hat. Sie unterstreicht in ihrer Arbeit die Transnationalität des Genres und beschreibt Einflüsse, Gemeinsamkeiten und Wechselwirkungen zwischen jamaikanischer Dancehall-Musik, Reggaetón in Lateinamerika und Kwaito in Südafrika. Ein weiterer Beitrag, der die transnationale Dimension der Dancehall als Ausgangspunkt nimmt, ist der Aufsatz »Postcolonial Criticism, Transnational Identifications and the
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Hegemonies of Dancehall’s Academic and Popular Performativities« (2008) von Denise Noble. Sie untersucht Dancehall-Kultur und die darin entworfenen Geschlechterbilder anhand der Rolle von Populärkultur für die jamaikanische Diaspora in Großbritannien. Wie wichtig Respektabilität für die Gesellschaften der englischsprachigen Karibik ist und welche Rolle dabei die christliche Kirche spielt, demonstriert Peter J. Wilson in seinen ethnologischen Publikationen »Reputation and Respectability. A Suggestion for Caribbean Ethnology« (1969) und Crab Antics. The Social Anthropology of English-Speaking Negro Societies of the Caribbean (1973). Die Verknüpfung zwischen Respektabilität, Populärkultur und Auseinandersetzungen um kulturelle Identität auf Jamaika veranschaulicht die Ethnologin Deborah A. Thomas. In ihrem Werk Modern Blackness. Nationalism, Globalization, and the Politics of Culture in Jamaica (2004) zeigt sie auf, wie Migrationsbewegungen und neoliberale Wirtschaftspolitik die Schranken sozialer Mobilität auf Jamaika teilweise geöffnet haben und so die alten gesellschaftlichen Eliten ins Wanken geraten. Ihre Monographie Exceptional Violence. Embodied Citizenship in Transnational Jamaica (2011) knüpft an diese krisenhaften Auflösungsprozesse an und verdeutlicht, wie strukturelle und physische Gewalt als Ordnungsprinzip mit kolonialer Tradition auch noch das Geschehen im jamaikanischen Staat des frühen 21. Jahrhunderts bestimmen. Geschichtswissenschaftliche Werke, die eine Übersicht über Jamaikas Geschichte geben, sind The Story of the Jamaican People (1998) von Philip Sherlock und Hazel Bennett und Barry Higmans A Concise History of the Caribbean (2011). Über die Schnittstelle von Populärkultur, Staatsbürgerschaft und kultureller Identität auf Jamaika ist bisher keine historische Publikation verfasst worden. Auch das Themenfeld Dancehall-Kultur und die damit verknüpften Kontroversen sind bislang nicht von Historiker_innen bearbeitet worden. Das vorliegende Buch will das nun ändern und liefert zusätzlich auch die erste historiographische Einführung in die Gesellschaft und Populärkultur Jamaikas in der deutschsprachigen Wissenschaft.
P OSTKOLONIALISMUS Ü BERLEGUNGEN
UND DISKURSTHEORETISCHE
Die Publikation verortet sich selbst als Beitrag der Postkolonialen Studien beziehungsweise der postkolonialen Kritik. 14 Es geht darum, die multidimensionalen Wir-
14 Die Postkolonialen Studien umfassen ein ausdifferenziertes, interdisziplinäres, in sich verflochtenes Themenfeld. Bereiche davon sind unter anderem: »Kolonialismus, Rassismus, Nationalismus, Ethnizität, Migration, kulturelle Identitäten, Körper und Performativität,
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kungen des Kolonialismus und deren Erbe und Fortwirken auf kultureller, gesellschaftlicher, politischer und ökonomischer Ebene bis in unsere Zeit aufzuzeigen. Die zentrale Prämisse postkolonialer Herangehensweisen basiert auf der poststrukturalistischen Sicht, dass unsere Realität diskursiv konstruiert ist und innerhalb dieses Konstrukts hegemoniale Diskurse des ›Westens‹ dominieren. Eine Analyse zur kulturellen Identität Jamaikas kann letztendlich nicht ohne deren Zusammenhang mit hegemonialen Diskursen, ergo dem Herrschafts- und Ausbeutungssystem Kolonialismus, angefertigt werden. Methodische Grundlage dafür bildet die durch poststrukturalistisches Denken beeinflusste Analyse (medialer) Diskurse. Diskurse bestehen aus einer Vielzahl von Aussagen über ein bestimmtes Thema oder einen bestimmten Gegenstand. Mit Aussagen sind dabei nicht bloße Sätze, sondern Sprechakte gemeint, welche eine bestimmte Wirkung erreichen (vgl. Austin 2002; Zehnder 2010: 47). Die stetige Wiederholung von ähnlichen Aussagen sowie bewusstes Nicht-Äußern beziehungsweise Nicht-Auftauchen bestimmter Aussagen führen dazu, dass ein Subjekt oder Objekt überhaupt erst diskursiv konstruiert und damit für uns erfahrbar wird. 15 Die Aussagen und der Diskurs sind unauflösbar miteinander verwoben (vgl. Landwehr 2008: 127). Texte sind die Materialisierung diskursiver Praktiken, weshalb anhand der Analyse von Texten auf die ordnende Funktion, die Regulierung und die Strukturierung geschlossen werden kann, die Diskurse ausüben (vgl. Diaz-Bone und Schneider 2003: 464). Der Begriff Diskurs wird überdies verwendet, um zu beschreiben, wie die Realität oder bestimmte Gegenstände durch die Verwendung von Zeichen im Rahmen einer bestimmten Struktur produziert, reproduziert und mit Sinn versehen werden (vgl. Keller 2011: 8). Diskurse bilden nicht nur die Gegenstände ab, von denen sie Feminismus, Sexualität und Geschlechterverhältnisse, Repräsentationen, Images, Diskursanalyse, Stereotypisierung und soziokulturelle Konstruktionen, Widerstand, Universalität und Differenz, postmoderne Kultur, Globalisierung, Sprache, Pädagogik, Geschichte, Räumlichkeit, Arbeit, Materialismus, Produktionsverhältnisse und Konsum etc.« (Ha 2011b: 178). 15 Michel Foucault spricht vom Diskurs als »eine[r] Menge von Aussagen, die einem gleichen Formationssystem zugehören« (Foucault 1988: 156). Als Beispiele führt er den medizinischen, den ökonomischen und den psychiatrischen Diskurs an. Seine Argumentation erläutert er am Phänomen der Geisteskrankheit, welche seiner Meinung nach daraus besteht, »was in der Gruppe all der Aussagen gesagt worden ist, die sie benannten, sie zerlegten, sie beschrieben, sie explizierten, ihre Entwicklungen erzählten, ihre verschiedenen Korrelationen anzeigten, sie beurteilten und ihr eventuell die Sprache verliehen, indem sie in ihrem Namen Diskurse artikulierten, die als die ihren gelten sollten« (Foucault 1988: 49). Foucault will nicht den verborgenen Sinn von Aussagen interpretieren. Es geht ihm in der Archäologie des Wissens nicht darum, was gemeint ist oder sein könnte, sondern welche Aussagen wie häufig in einem Diskurs auftreten (vgl. Schwab-Trapp 2003: 178).
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sprechen, sie besitzen außerdem die Ordnungsmacht, diese Gegenstände gewissen Kategorien zuzuordnen. Diskurse lassen sich wiederum aufspalten in unterschiedliche Diskursstränge. Durch die Analyse der Stränge können konkrete Aussagen und deren Verteilung festgestellt werden. Aussagen können wiederum als homogene Inhalte verstanden werden (vgl. Jäger 2010: 16). Gesellschaftliche Diskurse sind massiv ineinander verflochten. Dadurch entstehen Effekte, die den Diskurs verstärken. Die Diskursanalyse hat zur Aufgabe, das anfangs oft unüberschaubare Knäuel mäandernder Diskurse zu entwirren, die unterschiedlichen Diskurse, Diskursstränge und diskursiven Verknüpfungen offenzulegen und die dadurch exerzierten Machtwirkungen, Definitionen und Abgrenzungen aufzuzeigen. Das ist besonders von Wichtigkeit, da Diskurse grundsätzlich mit Prozessen der Machtherausbildung, Machtakkumulation und der Aufrechterhaltung von Macht verbunden sind (vgl. Schwab-Trapp 2003: 173). Eine signifikante Rolle spielen Diskurse beim Erzeugen von Wissen. Unser Wissen über die Welt basiert nicht auf einem angeborenen Sinnsystem. Die Art und Weise, in der wir Wissen ordnen und kategorisieren, wird durch unsere Gesellschaft bestimmt. Wissen kann deshalb niemals neutral oder objektiv sein. Es ist stets durch seinen Produktionsort und die Perspektive der Wissenden geprägt. Die gesellschaftlich erzeugten symbolischen Systeme und Ordnungen werden durch Diskurse produziert (vgl. Keller 2011: 59). Wir können die Realität um uns herum nur durch Sprache beschreiben und erfahren. Sie ist daher immer etwas sprachlich Konstruiertes. Aus diesem Grund ist auch jegliche Art von Wissen und unsere Wahrnehmung der Wirklichkeit das Resultat von sozialen Konstruktionsprozessen (vgl. Landwehr 2008: 18-19). Zwei soziale Konstruktionen, die für die Arbeit von besonderer Bedeutung sind, sind die der ›Karibik‹ und die des ›Westens‹. Anhand beider wird ersichtlich, inwiefern Diskurse zur Kategorisierung und Hierarchisierung beitragen. Der ›Westen‹ und die ›Karibik‹ Unter dem Begriff ›Westen‹ wird im Buch ein historisch gewachsenes Konstrukt, das sich auf die Vereinigten Staaten von Amerika, Kanada und die ehemaligen Kolonialmächte Europas bezieht, verstanden. Der ›Westen‹ zeichnet sich durch ein komplexes System aus Wissen und Macht aus, das von Diskursen wie Rassismus, Modernisierung, Demokratisierung und Entwicklung getragen wird. Die Verknüpfung von Wissen und Macht schafft seit Jahrhunderten die strukturellen Voraussetzungen für das Ausbeuten der Kolonien und später der postkolonialen Staaten. Sie ist zudem bei der Diskriminierung von Migrant_innen aus dem globalen Süden in den nordamerikanischen und europäischen Metropolen wirksam.
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Als Alternativen werden auch die Begriffe globaler Norden und globaler Süden verwendet. Die Kategorisierung stellt Privilegien und ungleiche sozioökonomische Bedingungen innerhalb einer globalisierten kapitalistischen Welt ins Zentrum (vgl. Davis-Sulikowski und Khittel 2011: 328; glokal e.V. 2012: 4). Unter dem globalen Norden werden die neoliberalen Mehrheitsgesellschaften der USA, Kanadas, Europas und Ostasiens subsumiert. Der globale Süden umfasst Zentralamerika, die Karibik, Südamerika, Afrika und weite Teile Asiens, die bis heute mit den Folgen von Kolonialismus zu kämpfen haben. Der ›Westen‹ ist keine geographische Region, sondern ein politisches, soziales und kulturelles Konstrukt (vgl. Hochgeschwender 2004: 2) Er zeichnet sich laut dem Historiker Heinrich Winkler unter anderem durch Christentum, Säkularismus, Demokratie, Modernisierung, Kapitalismus, Bürgerrechte und das Konzept des Nationalstaats aus (vgl. Winkler 2009: 17ff). Weitere Attribute, die dem ›Westen‹ häufig zugeschrieben werden, sind aufklärerisch, pragmatisch, individualistisch und kosmopolitisch (vgl. Hochgeschwender 2004: 19, 27). Das Konstrukt ›Westen‹ umfasste im Verlauf der Geschichte unterschiedliche Bereiche und war nie widerspruchsfrei (vgl. Hochgeschwender 2004: 2). Seit den 1890er-Jahren wurde der Begriff auf Nordamerika und Europa im angelsächsischen Raum angewandt (vgl. Winkler 2009: 17). In Deutschland war der Begriff dagegen zu dieser Zeit noch nicht akzeptiert. Dort assoziierte man damit oftmals »Materialismus«, »Gottvergessenheit« und »Kulturlosigkeit« (Hochgeschwender 2004: 4). Erst nach dem Zweiten Weltkrieg setzte sich der Begriff auch in der Bundesrepublik durch (vgl. Winkler 2009: 18). Verstärkend wirkten sich dabei der Kalte Krieg 16 und dessen Polarisierung der Welt in einen kapitalistischen ›Westen‹ und einen kommunistischen ›Osten‹ aus. Für die Entstehung des ›Westens‹ spielen außerdem seit jeher äußere Feind- und Fremdbilder eine gewichtige Rolle (vgl. Hochgeschwender 2004: 23). Eurozentrische Definitionen des ›Westens‹, wie sie beispielsweise die Historiker Heinrich August Winkler und Michael Hochgeschwender liefern, ignorieren die konstitutive Rolle kolonialer Wissensproduktion und die daraus resultierende Konstruktion der nicht-weißen 17 ›Anderen‹ für die Entstehung des ›Westens‹. Insbesondere 16 Der Kalte Krieg ist letztendlich auch ein historisches Konstrukt, das die verschiedenen Ereignisse, die sich seit dem Ende der 1940er-Jahre und bis 1989 zwischen den USA und der Sowjetunion zugetragen haben, mit Sinn füllt. Aus postkolonialer Perspektive ist es wichtig zu betonen, dass der Konflikt der Supermächte für die Staaten des globalen Südens keinesfalls ›kalt‹, sondern mit zahlreichen Kriegen und militanten innerstaatlichen Konflikten verbunden war. 17 Im Buch ist ›weiß‹ bewusst kursiv geschrieben, um deutlich zu machen, dass es sich dabei nicht um eine ›Hautfarbe‹, sondern um eine Analysekategorie für eine sozial konstruierte, privilegierte Position in unserer Gesellschaft handelt. ›Schwarz‹ wird im Buch großgeschrieben, da es die Selbstbezeichnung ist, die Schwarze Menschen für sich ausgewählt
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die Erschaffung des ›Orients‹ durch die abendländischen Wissenschaften trug zur Herausbildung des Konzepts des ›Westens‹ bei (vgl. Said 2003: 22). Sichtbar wird das unter anderem bis heute im Ausschluss muslimischer und nicht-weißer Menschen aus Europa. Dieser wird sowohl in den Geschichtsbüchern als auch an den realen Grenzen der Europäischen Union praktiziert und durch die Darstellung von islamistischem Terror als Angriff auf den ›Westen‹ per se verstärkt (vgl. Winkler 2009: 13; El-Tayeb 2011: 4). Der Kulturwissenschaftler Stuart Hall zeigt anhand der ›Entdeckung‹ 18 und Kolonialisierung Amerikas den Konstruktionscharakter des ›Westens‹ auf. Hall macht deutlich, dass dem Diskurs vom »Westen und dem Rest« ein Klassifikationssystem zugrunde liegt, das erlaubt, Menschen, Gesellschaften, Kulturen und Orte miteinander zu vergleichen (Hall 1992: 277). Diese Einteilung und das dafür notwendige Wissenssystem wurden nicht in einem hierarchiefreien Raum geschaffen. Stattdessen definierten die Europäer_innen, was sie in den Amerikas vorfanden, von einer dominanten Machtposition aus (vgl. Hall 1992: 294). Die europäischen Entdecker_innen und Kolonisator_innen betraten die ›Neue Welt‹ beladen mit ihren Maßstäben, kulturellen Kategorien, Sprachen, Bildern und Ideen und klassifizierten, beschrieben und repräsentierten sie anhand dieser (vgl. Hall 1992: 294). Dabei schufen sie auch ein Selbstbild, das in Abhängigkeit und als Gegenteil zum ›Anderen‹ erzeugt wurde. ›Westlich‹ ist in diesem Kontext gleichzusetzen mit modern, rational, urbanisiert, kapitalistisch, säkular und industrialisiert, während nicht-westlich häufig für ›Rückständigkeit‹, Ursprünglichkeit und Irrationalität steht (vgl. Hall 1992: 277). Mimi Sheller verdeutlicht, dass die Karibik genau wie der sogenannte ›Westen‹ ein Raum ist, der sowohl eine vermeintlich reale und geographische als auch eine imaginäre Dimension hat, die erst durch historische Wissensflüsse und Archive geformt wurde. Man kann deshalb auch von der Karibik als einer »Erfindung« und »Idee« des ›Westens‹ sprechen (Sheller 2003: 8):
haben. Auch dabei geht es nicht um äußere Wesenszüge, sondern um eine »gesellschaftspolitische Position« (Sow 2011: 608 [Herv. i.O.]). ›Schwarz‹ wird verwendet, um auf »gemeinsame Erfahrungshorizonte und somit auch Lebensrealitäten in einer weiß-dominierten Gesellschaft« aufmerksam zu machen (Sow 2011: 608). 18 Der Begriff ›Entdeckung‹ deklariert nicht-weiße Menschen, Tiere, Pflanzen, Landschaften und sogar ganze Kontinente zu Objekten und suggeriert fälschlicherweise, dass diese erst durch den Kontakt mit einer weißen europäischen, meist männlichen Person beginnen zu existieren. Die der ›Entdeckung‹ folgende Bezeichnung und Einteilung der oder des ›Entdeckten‹ ignoriert ferner bisher existierende, nicht-westliche Wissensvorräte (vgl. Danielzik und Bendix 2011a: 266).
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This work of imagination has powerfully shaped transatlantic cultures over the past five hundred years, and has shaped the Caribbean in a high-stakes game of making and remaking of places, cultures, bodies, and natures (Sheller 2003: 6-7).
Dabei hat die Karibik eine große Rolle in der Selbstwahrnehmung und Konstruktion des ›Westens‹ gespielt, wurde aber stets außerhalb des ›Westens‹ und ›westlichen‹ Definitionen von Moderne platziert (vgl. Sheller 2003: 1). Häufig wurde ausgeklammert, dass gerade Ereignisse in der Karibik, wie beispielsweise die Haitianische Revolution von 1791, ausschlaggebend für gesellschaftliche Entwicklungen und kritische Denkanstöße in Europa waren. 19 Susan Buck-Morss charakterisiert Haiti als die »Avantgarde der Moderne«, da die Gründer_innen des Staats nationalistische Diskurse nutzen, um die befreite Bevölkerung im Anschluss an die Revolution davon zu überzeugen, erneut auf den Plantagen zu arbeiten (Buck-Morss 2011: 189-190). Mit seiner Exportabhängigkeit und einer gesellschaftlichen Elite an der Spitze repräsentierte Haiti bereits gegen Ende des 18. Jahrhunderts den Prototyp des postkolonialen Staats (vgl. Buck-Morss 2011: 190). Auch die britische Kolonie Jamaika leistete im 18. Jahrhundert ihren Beitrag zur Entwicklung der Moderne in Großbritannien. Das auf der Insel erwirtschaftete Kapital war im Vereinigten Königreich ein wichtiger Antrieb für die Industrielle Revolution (vgl. Stone 1986: xi). Die Karibik wurde und wird in ›westlichen‹ Bildern immer ambivalent und als ein Ort der Extreme konstruiert. Oft stehen sich dichotome Auffassungen von ›Paradies‹ und ›Hölle‹ oder ›edlen Wilden‹ und ›Kannibalen‹, in der Gegenwart ergänzt durch Bilder von freundlichen Einheimischen und gefährlichen Guerillas, gegenüber (vgl. Spitta 1997: 160). Im Falle Jamaikas besteht die Gegensätzlichkeit zwischen dem sonnigen ›Tropenparadies‹, das sowohl nordamerikanische und europäische Reiseveranstalter und das Jamaica Tourist Board präsentieren, und der »murder capital of the world« mit ca. 1.500 Morden im Jahr bei einer Gesamtbevölkerung von weniger als drei Millionen Menschen (BBC Caribbean 2006; vgl. Thomas 2011b: 7). Die extreme Gegensätzlichkeit in der Darstellung der Karibik wird ebenfalls in internationalen Diskursen um Reggae- und Dancehall-Musik deutlich. Sowohl bei nationalen als auch internationalen Sprecher_innen taucht häufig eine Zweiteilung zwischen Reggae und Dancehall auf. Auf der einen Seite befindet sich der jamaikanische Weltstar Bob Marley und dessen Genre Reggae. Den Gegenpol dazu bildet
19 Susan Buck-Morss hat dies beispielsweise in ihrem Buch Hegel und Haiti herausgearbeitet. Sie veranschaulicht inter alia inwiefern Hegels philosophisches Denken durch die Geschehnisse der Haitianischen Revolution inspiriert wurde, auch wenn er sich selbst nie persönlich auf die Ereignisse bezog (vgl. Buck-Morss 2011).
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das oftmals aufgrund seiner teilweise homophoben und gewaltverherrlichenden Texte als degeneriert wahrgenommene Genre Dancehall. 20 Mimi Sheller stellt heraus, wie die Karibik als Region der Gegensätze, Widersprüche und Projektionsflächen durch unterschiedliche Flüsse und Netzwerke an Menschen, Waren, Texten, Bildern, Kapital und Wissen konstruiert wurde: This illusory yet materialised Caribbean exists at the crossroads of multifaceted networks of mobility, formed by the material and symbolic travels of both people and things, and by those people and things which do not move. The very idea of this region as a single place, its naming, and its contemporary material existence are constituted by mobilities of many different kinds: flows of people, commodities, texts, images, capital, and knowledge (Sheller 2003: 7).
Hegemoniale Diskurse, wie der vom »Westen und dem Rest«, und die auf ihnen basierenden Bedeutungssysteme existieren aber grundsätzlich nie unangefochten. Keinem Diskurs liegt eine absolute Definitionsmacht zugrunde. 21 Die postkoloniale Theorie verkörpert in sich selbst einen Diskurs, welcher die Aufgabe hat, hegemoniale 20 Ian Thomas schreibt über Dancehall: »Jamaican dancehall in the twenty-first century seems to present black people to the world in terms the Ku Klux Klan would use: illiterate, goldchain-wearing, sullen, combative buffoons. It seems to have lost its moral bearing and declined from street celebration to the degraded soundtrack of venality, with scarcely any ideology left in it« (Thomas 2011b: 44). Es ist interessant, wie die Affinität der Dancehall zu Prunk und Reichtum vom Autor als Degeneration aufgefasst wird, die dem ›reinen‹, moralisch aufrichtigen Image des Reggae widerspreche und rassistische Vorurteile über Schwarze Menschen bestätige. In diesem Kontext, der negative, teils ›westlich‹ konnotierte Einflüsse auf ein quasi ›ursprüngliches‹ Genre Reggae auszumachen glaubt, wird auch von »Bastardisierung« gesprochen. Dabei kommt es jedoch nicht zu einer Reflexion über die rassistische Bedeutung des Wortes: »We argued that Dancehall was a bastardization or perversion of the original ›love and peace‹ ethos of the early pioneers of Reggae, most notably Bob Marley and The Wailers« (Tatchell 2011). Siehe Kapitel Der Diskurs gegen Dancehall. 21 Diskurse besitzen keine totale Definitionsmacht. Ernesto Laclau und Chantal Mouffe betonen in ihrer Arbeit die Brüchigkeit und Polysemie der Sprache, die dafür sorgt, dass es in einer diskursiv konstruierten Gesellschaft am Ende keine totale Geschlossenheit gibt (vgl. Sarasin 2003: 47). Ihrer Ansicht nach sind sprachliche Zeichen und Wörter grundsätzlich offen für mehrere, teilweise völlig verschiedene Bedeutungen. Daraus schlussfolgern sie: »Wir müssen folglich die Offenheit des Sozialen als konstitutiven Grund beziehungsweise als ›negative Essenz‹ des Existierenden ansehen sowie die verschiedenen ›sozialen Ordnungen‹ als prekäre und letztendlich verfehlte Versuche, das Feld der Differenzen zu zähmen« (Laclau und Mouffe 1995: 160f). Gesellschaften, Gruppen, Identitäten, Subjekt- und Objektdefinitionen basieren also letztendlich immer auf instabilen zeitlich
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koloniale Wissenssysteme, wie beispielsweise das des ›aufgeklärten‹ und ›entwickelten Westens‹, und die dazugehörigen Lesarten zu dekonstruieren. Im folgenden Abschnitt werden die Begriffe hegemonialer Diskurs und Gegendiskurs näher erläutert. Hegemoniale Diskurse und Gegendiskurse Für eine aussagekräftige Diskursanalyse ist es nützlich, eine Unterscheidung zwischen hegemonialen Diskursen und Gegendiskursen vorzunehmen. Hegemoniale Diskurse haben die Tendenz, Weltbilder zu konstruieren, in denen sie jegliche Arten von sozialen Beziehungen in eine Gesamtstruktur einbinden (vgl. Keller 2011: 55). Ein hegemonialer Diskurs übt innerhalb einer Gruppe, class, Gesellschaft oder sogar gesellschaftsübergreifend Dominanz aus, indem er die Normen, Werte und vorgeschriebenen Verhaltensstandards einer Gesellschaft hervorbringt (vgl. Maihofer 1995: 81). Diese Dominanz ist stets an einen konkreten historischen Zeitraum gebunden. Die Hegemonie eines Diskurses ist immer durch rivalisierende, koexistierende Diskurse (Gegendiskurse) gefährdet. In Phasen gesellschaftlicher Transition können unterschiedliche Diskurse um die Hegemonie konkurrieren (vgl. Maihofer 1995: 82). Der hegemoniale Diskurs unterscheidet sich vom Gegendiskurs durch ein Machtübergewicht. Ein Gegendiskurs hat seine Wurzel darin, dass die ursprünglichen Deutungsmuster aus der konventionellen Gesellschaftsstruktur einer Gruppe von sozialen Akteur_innen nicht mehr genügen, um ein Ereignis zu erklären. Diese Akteur_innen agieren dann als moralische und diskursive Instanzen und entwickeln Strategien zur Umdeutung (vgl. Keller 2010: 84). »Aus der sukzessiven Reihung, ›Evidenzierung‹ und Stabilisierung solcher Umdeutungen entsteht schließlich ein Gegendiskurs« (vgl. Keller 2010: 85). Ein Gegendiskurs liefert also alternative Definitionen für gesellschaftliche Phänomene, mit denen er den hegemonialen Diskurs herausfordert. Wichtig ist, dass in hegemonialen Diskursen auch Aussagen von Gegendiskursen und umgekehrt auftauchen können, was zur Folge haben kann, dass Diskurse sich gewollt oder auch ungewollt reproduzieren. Das passiert beim Diskurs gegen Homophobie, der immer auch Positionen und Aussagen aus dem antihomosexuellen Diskurs reproduzieren und aufnehmen muss, um diese entkräften zu können. Wie bereits angesprochen, kann man die theoretischen Ansätze der Postkolonialen Studien als einen massiven, aus zahlreichen Diskurssträngen bestehenden Gegendiskurs zum Diskurs des ›Westens‹ verstehen. Im folgenden Abschnitt werden wichtige Theoretiker_innen und ihre Ansätze kurz skizziert. beschränkten Äußerungen zur (Selbst-)Beschreibung. Diesen Charakterisierungen liegt nichts »Natürliches« zugrunde (vgl. Sarasin 2003: 48). Trotzdem naturalisieren sich manche Diskurse im Verlauf der Zeit. Dies geschieht, wenn sie von niemand mehr angezweifelt werden und somit scheinbar als Tatsachen gelten (vgl. Landwehr 2008: 129).
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Postkoloniale Theoretiker_innen Häufig wird Edward W. Saids Buch Orientalism (1978) als einer der Gründungstexte der postkolonialen Studien betrachtet. Er macht darin deutlich, dass ›westliche‹ und europäische Orientbilder vor allem die »europäisch-atlantische Macht« über den Orient betonen, anstatt diesen selbst zu beschreiben (Said 2003: 6). Ähnlich argumentiert der Anthropologe Fernando Coronil anhand des Konzepts des »Okzidentalismus«. Okzidentalismus sieht er als ein Klassifikationssystem, das kulturelle und wirtschaftliche Differenz in der heutigen Welt artikuliert und gleichzeitig untrennbar verbunden ist mit global existierender Ungleichheit, die durch die Dominanz des Kapitalismus aufrechterhalten wird (vgl. Coronil 1996: 57). 22 Weitere zentrale Theoretiker_innen sind Gayatri C. Spivak, Homi K. Bhabha und Frantz Fanon. Spivak setzt sich in ihren Arbeiten unter anderem mit der Rolle der »Subalternen« und der »epistemischen Gewalt« auseinander, die sowohl koloniale als auch neokoloniale Machtkonstellationen auszeichnet (Spivak 1988: 24f). 23 Im Zentrum von Bhabhas theoretischem Ansatz steht das Phänomen der »Hybridität« (Bhabha 1988: 7). Er konzentriert sich auf den »Dritten Raum«, in dem seiner Meinung nach kulturelle Austauschprozesse beziehungsweise kulturelle Produktivität im Allgemeinen stattfinden (Bhabha 1988: 22). Außerdem hebt er die Mimikry 22 Coronils Konzept des Okzidentalismus beschäftigt sich, ähnlich wie Saids, mit Repräsentationen des ›Westens‹ und der ›Anderen‹: »Challenging Orientalism, I believe, requires that Occidentalism be unsettled as a style of representations that produces polarized and hierarchical conceptions of the West and its Others and makes them central figures in accounts of global and local histories« (Coronil 1996: 57). Okzidentalismus fußt seiner Auffassung nach auf fünf Grundpfeilern: Erstens der Fähigkeit, die unterschiedlichen Einzelteile, die die Welt ausmachen, zu festen Einheiten zu verknüpfen, zweitens der Trennung von ursprünglich aufeinander aufbauenden und in sich verflochtenen Geschichtsdarstellungen, drittens der Umwandlung von Differenz in Hierarchie, viertens der Naturalisierung von Differenzrepräsentationen und fünftens unterstützen und reproduzieren diese Darstellungen wiederum bereits existierende Machtasymmetrien (vgl. Coronil 1996: 57). 23 Der Begriff subaltern wurde von Spivak in die Postkolonialen Studien eingeführt. Ursprünglich wurde der Ausdruck von dem italienischen Marxisten Antonio Gramsci verwendet, um Gruppen zu kennzeichnen, die der Hegemonie der Herrschenden unterworfen waren (vgl. Ashcroft, Griffiths und Tiffin 1998: 215). Spivak benutzt den Begriff, um zu demonstrieren, dass subalterne Gruppen, wenn sie auf ihre marginalisierte Position aufmerksam machen wollen, immer dazu gezwungen sind, die Sprache der Dominanten zu sprechen. Aus diesem Grund kommt sie zu dem Schluss, dass Subalterne ohne Repräsentationshilfe keine Möglichkeit zur Artikulation haben: »For the true subaltern group, whose identity is its difference, there is no unrepresentable subaltern subject that can know and speak itself« (Spivak 1988: 27).
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als eine Widerstandsmöglichkeit gegen koloniale Macht und koloniales Wissen hervor. Für ihn ist die Adaption des kolonialen Diskurses durch die Kolonisierten kein Ausdruck eines »Minderwertigkeits-« oder »Abhängigkeitskomplexes«, wie es Frantz Fanon formuliert (Fanon 2008: xiv, 191). Stattdessen veranschauliche die Mimikry die Ambivalenz des kolonialen Diskurses und offenbare dem Kolonisierenden letztendlich, dass seine scheinbar geschlossene weiße Identität nur aufgrund der instabilen Konstruktion des Kolonisierten als dem völlig ›Anderen‹ basiere (vgl. Bhabha 2007: 36, 130). Frantz Fanon befasst sich dagegen aus einer psychoanalytischen Perspektive damit, welche psychologischen Folgen der koloniale Diskurs vom ›Anderen‹ auf Schwarze und weiße Menschen hat. Fanons zentrale Werke sind Peau noir, masques blancs (1952) und Les Damnés de la Terre (1961). Grundlegendes Merkmal kolonialer Praktiken war und ist das Phänomen der Gewalt. Kolonialist_innen übten physische, epistemologische und ideologische Gewalt in den Territorien aus, die sie besetzten. Diese rechtfertigten sie mittels Diskursen über race und ›Kultur‹ (vgl. Castro Varela und Dhawan 2005: 13). Kolonialismus ist mehr als nur ein sozioökonomisches und politisches Phänomen. Man kann ihn auch als ein »subjektkonstruierendes Projekt« begreifen (Dietrich und Strohschein 2011: 118). So wurden die kolonisierten Menschen anhand ihrer äußeren Eigenschaften in eine ›Rassenhierarchie‹ eingeordnet, welche dazu diente, eine weiße Souveränität zu rechtfertigen und Nicht-Weiße zu alterisieren (vgl. Arndt 2011c: 661). Das heißt, den äußerlichen Merkmalen der Kolonisierten wurden soziale, kulturelle und religiöse Wesensmerkmale zugeordnet. Ausgangspunkt dieser Zuordnung war die Vorstellung, dass weiße Menschen die Norm bilden und den Kolonisierten angeblich religiös, kulturell und biologisch überlegen sind (vgl. Dietrich und Strohschein 2011: 117). Zeitgenössische ›wissenschaftliche‹ Diskurse unterlegten diese sozial konstruierte Hierarchie und legitimierten somit die diskriminierenden, repressiven und gewaltsamen Praktiken der kolonialen Herrschaften. Es ist wichtig zu betonen, dass sowohl ›Hautfarbe‹ 24 als auch race soziale Konstruktionen sind. Beides sind Erfindungen rassistischen Denkens beziehungsweise biologistische Konstruktionen, die dazu dienten und dienen, weiße Überlegenheit zu rechtfertigen und Nicht-Weiße zu diskriminieren (vgl. Arndt 2011c: 664). 24 Der Begriff ›Hautfarbe‹ ist eine Fiktion, die dazu dient, Menschen in unterschiedliche Gruppen einzuordnen und zu hierarchisieren. Seine Anwendung ist immer willkürlich, sozial konstruiert und reduktiv, da ›Hautfarben‹ keinesfalls einem ›Schwarz-Weiß‹-Schema entsprechen, sondern individuell sind. So gibt es zum Beispiel auch unter als weiß kategorisierten Menschen Unterschiede im Teint zwischen rosa, oliv, beige, gelb und braun (vgl. Arndt 2011b: 332). Jahrhundertelanges rassistisches Denken und Handeln hat die Kategorien ›Hautfarbe‹ und race immerfort in jegliche soziale und kulturelle Prozesse eingraviert. Deshalb ist es notwendig, sie als Analysekategorien kritisch zu verwenden und auf ihren konstruierten Charakter hinzuweisen (vgl. Arndt 2011b: 342).
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Postkoloniale Kritik merkt an, dass die Ära des Kolonialismus nicht mit der Entlassung der europäischen Kolonien in die politische Unabhängigkeit zu Ende gegangen ist. Die öffentliche Wahrnehmung in Deutschland nimmt oft nicht zur Kenntnis, inwiefern Menschen im globalen Norden, namentlich Nordamerika und Europa, von der Ausbeutung der Arbeitskraft der Menschen im globalen Süden profitieren (vgl. Voß und Wolter 2013: 64). Diese Verhältnisse haben wiederum ihren Ursprung im Kolonialismus. Ferner weist postkoloniale Kritik darauf hin, dass intersektionale, historisch gewachsene Unterdrückungsverhältnisse in den Kategorien race, class und Gender auch im frühen 21. Jahrhundert fortdauern. Dabei ist es weder möglich, Rassismus und die Verhältnisse zwischen den Geschlechtern zu analysieren, ohne gleichzeitig die kapitalistische Produktionsweise zu kritisieren, noch kann Kapitalismuskritik ohne Rassismus- und Sexismus-Kritik wirklich wirksam sein (vgl. Voß und Wolter 2013: 14). Kien Nghi Ha fasst die Aufgaben postkolonialer Kritik zusammen: Das weitverzweigte und bis in die Gegenwart hineinreichende Machtsystem des Kolonialismus und die mit ihm verbundenen sozialen Hierarchien, diskursiven Räume, psychologischen Beziehungen, kulturellen Zeugnisse, polit-ökonomischen Verhältnisse und historischen Entwicklungen werden im Postkolonialismus herrschaftskritisch analysiert, um neue Geschichtsbilder und emanzipatorische Alternativen für die Weltgesellschaft zu entwickeln (Ha 2011b: 177).
Postkoloniale Kritik hat den schwierigen Anspruch, die unterdrückten Subjekte zu unterstützen, die von den traditionellen Wissenschaften häufig übergangen und marginalisiert wurden. 25 Aufgrund ihres emanzipatorischen Anspruchs nimmt sie deshalb auch Formen von politischen Projekten an (vgl. Ha 2011b: 183). Sie hat zum Ziel, subalternes Wissen aufzudecken, um damit die Subalternen per se zum Sprechen zu bringen (vgl. Spivak 1988). Bis heute existierende Alterisierungsstrategien sollen dabei dekonstruiert werden, ohne dass gleichzeitig ein bevormundender, von weißen Sprecher_innen ausgehender Dominanzdiskurs und paternalistische Verhaltensweisen zu einem erneuten Othering führen (vgl. Arslanoğlu 2012: 75). Als weißem, männlichem, deutschem Wissenschaftler ist es mir bewusst, welche Problematiken derartige Prämissen mit sich bringen. Es ist mir deshalb wichtig, darauf hinzuweisen, dass meine Sozialisierung und gesellschaftliche Position spezifische Problematiken im Umgang mit der hier behandelten Thematik aufwerfen. Mein wissenschaftlicher Umgang mit Homophobie in der jamaikanischen Populärkultur 25 Die kolonialisierten Subjekte wurden durch zahlreiche Diskurse konstruiert. Spivak beschreibt sie deshalb als in sich »unwiederbringlich heterogen« (Spivak 1988: 26). Verschränkungen von Diskursen über class, race, Sexualität und Gender führen zum Beispiel zu einer Hierarchisierung, in welcher nicht-weiße Frauen und sexuelle Minderheiten aus der working class die unterste Stufe einnehmen.
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kann nicht losgelöst von meiner privilegierten sozialen Position als weißer Mann in Deutschland betrachtet werden. Der Zugang zu Bildung und die Freiheit, ohne diskriminierende Visarestriktionen, beispielsweise zum Forschen, nach Jamaika reisen zu können, stellen nur zwei wichtige Aspekte dar. Die koloniale Vergangenheit Deutschlands sowie die Tatsache, dass Deutsche während der Herrschaft der Nationalsozialist_innen Homosexuelle systematisch verfolgt, sterilisiert und ermordet haben, können ebenfalls nicht bei der Auseinandersetzung mit Homophobie in anderen kulturellen und nationalen Kontexten außer Acht gelassen werden. Auch wenn kritische Ansätze postkolonialer Theoretiker_innen als Ausgangsbasis für mein Buch dienen und Gespräche mit Menschen auf Jamaika mir diverse Einblicke in die soziohistorische Konstitution des Landes gegeben haben, repräsentiert der vorliegende Text die Karibik, Jamaika und die gesellschaftlichen Diskussionen auf der Insel aus meiner persönlichen Perspektive. Da sowohl Alltag als auch schulische und akademische Ausbildung in Deutschland bis heute nicht frei von eurozentrischen, kolonialen, rassistischen, sexistischen, klassistischen und heteronormativen Diskursen und dazugehörigen Wissensarchiven sind, vollzieht sich auch mein persönliches wissenschaftliches Arbeiten nicht frei von deren Einflüssen. Als weiße Wissenschaftler_innen müssen wir deshalb lernen, stets kritisch mit unseren Forschungsergebnissen umzugehen. Die Art und Weise, wie meine wissenschaftliche Arbeit Menschen auf Jamaika und die dortigen kulturellen Praktiken repräsentiert, sagt unvermeidlich zwischen den Zeilen auch viel über meine eigene gesellschaftliche Positionierung aus. Selbst die Benennung meiner persönlichen gesellschaftlichen Privilegien ändert letztendlich nichts daran, dass ich als weißes, deutsches, über seine Privilegien reflektierendes Subjekt im Zentrum meiner Beobachtungen bleibe (vgl. Arslanoğlu 2012: 75). Um trotzdem eine möglichst differenzierte, antiessentialistische Darstellung der Diskussion um homophobe jamaikanische Populärkultur bewerkstelligen zu können, wurden zahlreiche Beiträge zeitgenössischer Forschung aus der Karibik, insbesondere dem Institute of Caribbean Studies und anderen Forschungseinrichtungen der University of the West Indies in Mona, Jamaika, in die vorliegende Ausführung einbezogen. Daneben wurden persönliche Interviews mit den beiden Dancehall-Wissenschaftlerinnen Carolyn Cooper und Donna Hope und dem jamaikanischen LGBTTIQ-Aktivisten Dane Lewis geführt. Das Buch versteht sich insgesamt als ein Teil der postkolonialen Geschichtsschreibung. Sein Ziel ist es, einen Beitrag in der Diskussion über die Bedeutung von Populärkultur und Sexualität in der Herausbildung von jamaikanischer kultureller Identität im frühen 21. Jahrhundert zu leisten. Aus diesem Grund skizziert, analysiert und ergänzt es bisher bestehende wissenschaftliche und öffentliche Diskurse zu Homophobie und Dancehall kritisch.
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Aufgrund meiner spezifisch deutschen Perspektive geht es dabei auch um den Impetus, rassistische Zweiteilungen zwischen vermeintlich ›homophoben‹ Jamaikaner_innen und scheinbar ›aufgeklärteren‹ und ›toleranten‹ Deutschen, Europäer_innen und Nordamerikaner_innen zu dekonstruieren und den Fokus auf Verflechtungen und Wechselwirkungen zwischen Kolonialismus, Homophobie und Rassismus zu lenken. Dieser Ansatz bettet das Buch in das allgemeine Paradigma postkolonialer Forschung und Geschichtswissenschaft ein. Postkolonialer Geschichtsschreibung geht es unter anderem darum, zu überprüfen, inwiefern koloniale und rassistische Diskurse auch noch in der Gegenwart unser Geschichtsbild beeinflussen. Ihre Aufgabe ist es, zu verdeutlichen, dass koloniale Diskurse nicht nur die Menschen in den ehemaligen Kolonien, sondern auch in den Ausgangsländern des Kolonialismus bis in die heutige Zeit prägen. Sie soll ferner die Lücken in der Historiographie aufzeigen, welche durch die Beleuchtung historischer Phänomene lediglich aus einer weißen, eurozentrischen Perspektive entstanden sind. Dabei greift sie auf die Erkenntnisse der Kritischen Weißseinsforschung zurück. 26 Postkoloniale Geschichtsschreibung ist immer auch transnationale Geschichtsschreibung (vgl. Castro Varela und Dhawan 2005: 24). Sie bricht mit den Dichotomien ›Peripherie‹ und ›Zentrum‹, ›Kolonie‹ und ›Mutterland‹ und ›Nation‹ und ›Ausland‹. Es geht ihr um Historiographie »jenseits eurozentrischer essenzialisierender Kategorien wie Religiosität, Unterentwicklung, Armut, Nation, Öffentlichkeit-Privatheit«, race und Gender (Bachmann-Medick 2006: 213). Im Fall meiner Forschungsarbeit geraten kulturelle Identität und Staatsbürgerschaft und deren postkoloniale Konzeption in den Blick. Dies findet statt anhand der Analyse des Sprechens über Populärkultur in der jamaikanischen Presse. Ein weiteres Ziel ist es, Diskursverschränkungen zwischen kolonialrassistischen Diskursen und dem vermeintlichen Bezug auf universelle Menschenrechte aufzuzeigen (vgl. Ha 2011b: 182). Fatima El-Tayeb betont, welche Gefahren häufig in ›westlichen‹ Argumentationsstrategien für Menschenrechte stecken: Many of the key discursive strategies mobilizing support for humanitarian and educational interventions post-World War II are gendered, often representing a variation of Spivak’s »white men are saving brown women from brown men« trope (vgl. El-Tayeb 2011: 92).
26 Die Kritische Weißseinsforschung will aufzeigen, dass Weißsein eine dominante Position in unserer Gesellschaft ist. Basierend auf dieser Erkenntnis, können die »historischen, ideengeschichtlichen, sozialen und kulturellen Konstruktionsprozesse, spezifische Kontextbedingungen […] und die normativen Konturierungen und Rezeptionen des weißen ›Eigenen‹ sowie die damit korrespondierende Konstruktion des rassialisierten ›Anderen‹ angemessen« beleuchtet werden (Piesche und Arndt 2011: 192-193).
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Gerade bei internationalen Hilfskampagnen und Protesten, wie beispielsweise der Offensive von Menschenrechts- und LGBTTIQ-Organisationen gegen jamaikanische Dancehall-Künstler, ist es notwendig zu prüfen, ob das Argumentieren für humanitäre Intentionen an rassistische oder sexistische Vorstellungen gekoppelt ist und letztere so verstärkt. 27
27 Innerhalb Europas werden zum Beispiel muslimische Männer häufig als Aggressoren beschrieben, während muslimischen Frauen eine passive Opferrolle zugeschrieben wird. Der Islam als Religion wird verstärkt als frauenfeindlich und homophob dargestellt. Dies trägt zu einem stereotypen Bild von Muslim_innen bei, bekräftigt die Auffassung, dass der Islam und die muslimische Kultur nicht mit den Werten der ›westlichen‹, europäischen Moderne vereinbar sind und vermittelt den Eindruck, dass Homophobie und Sexismus innerhalb der weißen, christlichen Bevölkerung Europas keine Rolle spielt (vgl. El-Tayeb 2011: 94).
Soziohistorischer Hintergrund
D IE G ESCHICHTE J AMAIKAS Kolonialisierung, Sklaverei und Plantagenwirtschaft Für ein grundlegendes Verständnis der heutigen jamaikanischen Dancehall-Kultur ist es notwendig, sich die Geschichte der Karibikinsel näher anzusehen. Von zentraler Bedeutung sind die Erfahrungen und Spuren des Kolonialismus und der Versklavung afrikanischer Menschen sowie die unterschiedlichen Widerstands- und Organisationsformen der Schwarzen Menschen, die sich über die Jahrhunderte auf Jamaika entwickelt haben. Zwischen den glänzenden Urlaubsbroschüren mit paradiesischen Stränden und luxuriösen All-Inclusive Ressorts sowie den Schreckensmeldungen über transnational agierende Drogenbosse geraten die historischen Startvoraussetzungen des Landes häufig aus dem Blickwinkel ›westlicher‹ Berichterstatter_innen. Ursache ist unter anderem, dass in deutscher Sprache historische und gesellschaftliche Informationen über Jamaika primär in Form von Reiseführern und teilweise mehr als fragwürdigen Reisetagebüchern existieren (vgl. Weigelt 2011; Maier 2012). Die ursprünglichen Bewohner_innen Jamaikas waren die Taínos. Sie waren Angehörige einer Arawak-Gemeinschaft aus Südamerika, die sich um ca. 650 vor unserer Zeitrechnung auf der Insel niederließen. Auf sie geht die Etymologie der heutigen Bezeichnung für die Insel im Archipel der Großen Antillen zurück. Die Taínos nannten die fruchtbare Insel Xaymaca, was das Land der Wälder und des Wassers bedeutete (vgl. Zahl 2002: 32). Im Bewusstsein des ›Westens‹ tauchte Jamaika zum ersten Mal auf, als der Seefahrer Christoph Kolumbus (1451-1506) 1494 bei seiner zweiten Amerikafahrt auf die Karibikinsel stieß, sie Santiago taufte und zum Eigentum des spanischen Königreichs erklärte. Der aus eurozentrischer Perspektive euphemistisch als ›Entdeckung‹ beschriebene Prozess war, wie in anderen Teilen des amerikanischen Kontinents, der Ausgangspunkt für die gewaltsame Unterwerfung, Ausbeutung und Ausrottung der
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autochthonen Bevölkerung sowie die Aneignung des scheinbar ›herrenlosen‹ Territoriums und der sich darauf befindenden natürlichen Ressourcen. 1 Während der folgenden 150 Jahre spanischer Herrschaft wurden die Taínos durch eingeschleppte Krankheiten und brutale Übergriffe der Spanier_innen fast vollständig ausgerottet. Das spanische Königreich nutzte Santiago primär als Verpflegungsstation für seine Truppen in den Amerikas. Aus Nachschubgründen wurde deshalb mit der Viehzucht auf der Insel begonnen. Da bedingt durch die Ausrottung der Taínos eine Versklavung der lokalen Bevölkerung zu Arbeitszwecken bald unmöglich war, wurden früh die ersten Schwarzen Sklav_innen aus Afrika auf die Insel gebracht. Im Jahre 1655 fand die spanische Herrschaft ein abruptes Ende. Ein gescheiterter Versuch des britischen Admirals William Penn, die größere spanische Insel Hispaniola einzunehmen, führte dazu, dass seine Flotte als Kompensation Santiago überrannte und die Insel Teil des britischen Imperiums wurde (vgl. Zahl 2002: 35). In Anbetracht der britischen Invasion ließen die Spanier_innen aus militärischen Gründen einen Teil der versklavten Afrikaner_innen frei, um mit ihnen gegen das britische Heer zu kämpfen. Eine Gruppe der freien Schwarzen, auch als Maroons bekannt, entzog sich dem Zugriff der neuen britischen Besatzer_innen durch den Rückzug in die schwer zugänglichen Blue Mountains. Ausgehend von dieser Bergregion im Osten Jamaikas führten sie einen Guerillakrieg gegen die britischen Kolonisator_innen und deren Truppen. Den Maroons schlossen sich über die Jahre zahlreiche entflohene Sklav_innen sowie die wenigen überlebenden Taínos an (vgl. Zahl 2002: 34-35). Die Maroons gelten auf Jamaika bis heute als Inbegriff des antikolonialen Widerstands und Bewahrer_innen des kulturellen afrikanischen Erbes. Mit der fortschreitenden britischen Kolonisierung Jamaikas setzte auch die Fokussierung auf den monokulturellen, plantagenbetriebenen Anbau von Zuckerrohr ein. Das zentrale Moment der gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Entwicklung war laut Barry Higman die »Zucker-Revolution«:
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Der Dancehall-Künstler Vybz Kartel fasst die Rolle von Christopher Kolumbus in seiner soziohistorischen Analyse Jamaikas The Voice of the Jamaican Ghetto wie folgt zusammen: »Christopher Columbus neva discova nuttn! He was an opportunist, a murderer, a liar and a thief, but we are taught to revere him as a great man. We continue the brainwashing throughout our children’s secondary education and many leave school learning nothing great about black people. On the contrary, blacks are portrayed as inferior, backward and subservient race that should be glad that whites helped them advance« (Vybz Kartel 2012b: 78 [Herv. i.O.]). Kartels Buch ist ganz offensichtlich keine historische wissenschaftliche Arbeit zur Kolonialgeschichte Jamaikas. Ihm kommt aber eine wichtige Funktion bei der Artikulation von gesellschaftlichen Stimmen zu, die von akademischen Diskursen aufgrund ihrer Klassenposition ausgeschlossen sind.
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Once inscribed on the surface of the islands, sugar created a landscape that proved highly durable and a system of exploitation of land and people that was capable of withstanding social and political shocks. It was in this process and in this period that the modern Caribbean was born (Higman 2011: 98).
Zwischen den Jahren 1670 und 1786 stieg die Anzahl jamaikanischer Zuckermühlen von 57 auf 1061 an und machte die Insel kurz darauf zum größten Zuckerhersteller weltweit (vgl. Zahl 2002: 42). Der Zuckerboom führte zur massenhaften Einfuhr von Sklav_innen, die von der Westküste Afrikas zu tausenden unter Anwendung von Gewalt in die stets wachsenden Kolonien verschleppt wurden. Das Zuckerplantagensystem konsumierte die versklavten Afrikaner_innen, deren Lebenserwartung auf den Plantagen gering war, und fungierte somit als Katalysator für neue Versklavungen und Deportationen (vgl. Higman 2011: 130, 133). Aufgrund der hohen Sterberaten unter den Versklavten waren die karibischen Plantagen über den kompletten Zeitraum der Sklaverei auf die Verschleppung von Afrikaner_innen angewiesen (Osterhammel 2009: 204). Schätzungen zufolge wurden insgesamt mehr als elf Millionen Schwarze zu Handelsobjekten degradiert und über den Atlantik in die Amerikas verschifft (vgl. Lovejoy 1983: 21). 2 Der Middle Passage, der wochenlangen Überfahrt über den Atlantik, kommt eine besondere Bedeutung zu. Sie markierte eine Zäsur im Leben der versklavten Afrikaner_innen, da sie die gewaltsame, endgültige Entwurzelung von familiären Bindungen und kulturellen Gegebenheiten bedeutete und keinerlei Chance auf eine Rückkehr bestand. Ferner herrschten auf den Schiffen unmenschliche Zustände, welche insgesamt zum Tod von schätzungsweise zwei Millionen Menschen führten (vgl. Gewecke 2007: 17; Ofuatey-Alazard 2011: 107). 3 Die Versklavten wurden während der wochenlangen Überfahrt zu hunderten auf engstem Raum unter dem Schiffsdeck zusammengepfercht, was zum Ausbruch von Seuchen und Depressionen führte. Daneben waren sie den gewaltsamen Übergriffen der Besatzung schutzlos ausgeliefert und wurden im Falle von Krankheit oder Ungehorsam kurzerhand ins Meer geworfen. Die Middle Passage erhielt ihren Namen aufgrund ihrer zentralen 2
Andere Autor_innen sprechen von mehr als 15 Millionen versklavten Afrikaner_innen, die über den Atlantik verschleppt wurden (vgl. Davidson 1961: 79). Generell ist eine genaue Anzahl der Deportierten sowie der Opfer auf dem Weg zu den westafrikanischen Sklavengefängnissen an der Atlantikküste und über die Middle Passage nur vage zu bestimmen. Aufzeichnungen sind häufig unvollständig oder wurden gar nicht erst erstellt.
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Auch die Zahl der Toten über die Middle Passage ist schwer fassbar. Von 541 Fahrten der Sklavenschiffe aus dem französischen Nantes wurden von insgesamt 146.799 Sklav_innen in den Jahren 1748 bis 1782 nur noch 127.133 in den Amerikas verkauft (vgl. Davidson 1961: 79). Das ergibt eine Sterberate von ungefähr 13 Prozent. Andere Historiker_innen nehmen sogar eine Sterberate von bis zu 15 Prozent an (vgl. Ofuatey-Alazard 2011: 107).
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Position im atlantischen ›Dreieckshandel‹. Mit diesem Begriff wurde die Dreiecksroute bezeichnet, die europäische Sklaven- und Handelsschiffe zwischen Europa, Westafrika und den Amerikas zurücklegten (vgl. Ashcroft, Griffiths und Tiffin 1998: 212). 4 Die deportierten und versklavten Afrikaner_innen führten ein rechtloses Dasein und verrichteten auf den Plantagen unmenschliche Arbeit, die einzig der Profitmaximierung ihrer Besitzer_innen diente. Im Falle Jamaikas lebten diese selbst oft in Europa (vgl. Osterhammel 2009: 536). Die Versklavung der Schwarzen in Nord-, Mittel- und Südamerika lässt sich von der Leibeigenschaft und der Vertragsarbeit im Europa der frühen Neuzeit speziell durch die rassistischen Diskurse abgrenzen, die zu ihrer Legitimation hinzugezogen wurden und Sklav_innen und Sklavenhalter_innen als Zugehörige unterschiedlicher races konstruierten (vgl. Meißner, Mücke und Weber 2008: 30-31). 5 Diese rassistischen Diskurse errichteten ein komplexes Netzwerk zum Erhalt einer vermeintlichen
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In der Regel fuhren die Schiffe aus Europa beladen mit Gütern und Waffen nach Westafrika, wo sie ihre Ladung gegen gefangene Afrikaner_innen eintauschten. Anschließend überquerten die Schiffe den Atlantik und lieferten, nach dem Verkauf der Versklavten in den karibischen Kolonien, von dort stammende Produkte wie Zucker und Indigo nach Europa (vgl. Ashcroft, Griffiths und Tiffin 1998: 213).
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Das widerspricht den Annahmen Egon Flaigs, der Rassismus lediglich als Folge der transatlantischen Sklaverei sieht (vgl. Flaig 2011: 189, 192). Seine Publikation mit dem Titel Weltgeschichte der Sklaverei entpuppt sich bei genauerem Lesen als Versuch, vom ›Westen‹ begangene Kolonialverbrechen zu relativieren und die europäischen Kolonialmächte, inklusive des Deutschen Reichs, als Befreier_innen Afrikas vom Joch der Sklaverei und seinen »autodestruktiven Prozessen« und »Versklaver-Ethnien [sic!]« zu stilisieren (Flaig 2011: 215, 217, 219). Das geschieht dadurch, dass er die materiellen Lebensbedingungen der Sklav_innen auf den Plantagen besser als die der europäischen Arbeiter_innen darstellt und die Zustände auf den Sklavenschiffen während der Middle Passage mit den Todesraten bei »anderen Transporten« vergleicht (vgl. Flaig 2011: 177, 197). Außerdem greift Flaig gängige antiislamische und eurozentrische Diskurse des frühen 21. Jahrhunderts auf, um die Verbrechen des ›Westens‹ in Vergleich mit den Verbrechen der transsaharischen Sklaverei und der Sklaverei in der ›islamischen Welt‹ zu setzen. Letztere werden seiner Meinung nach aufgrund einer »Gedächtnispolitik gegen [die] historische Wahrheit« nicht nur von Afrikaner_innen ignoriert (vgl. Flaig 2011: 218). Dieser Form der Geschichtsschreibung entgegnet Nadja Ofuatey-Alazard: »Für die Toten der Middle Passage, für die Verdinglichung von Menschen zu ›Handelsware‹, für physische Gewalt und psychische Herabwürdigung, für Folter, Mord und Vergewaltigung von versklavten Männern, Frauen und Kindern tragen Europäer – Spanier, Portugiesen, Engländer, Franzosen, Niederländer, Dänen, Schweden und Deutsche – sowie individuelle Angehörige aller europäischen Nationen hier und in den Amerikas die Verantwortung« (Ofuatey-Alazard 2011: 106).
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›Überlegenheit‹ der Weißen, deren Erbe bis heute sowohl in den postkolonialen Staaten als auch in den ehemaligen Kolonialmächten weiterwirkt. Insgesamt wurden zwischen 1651 und 1867 mehr als eine Million Afrikaner_innen nach Jamaika verschleppt. Die Mehrheit von ihnen wurde aus Häfen im heutigen Ghana, Biafra, Benin oder Regionen in West-Zentralafrika deportiert (vgl. Eltis 2001: 45-46). Die Nachfahr_innen der Versklavten bilden heute den größten Anteil der Bevölkerung der Insel, die zu 97 Prozent Schwarz ist (vgl. Hope 2011a: 167). Trotz der rassistischen Herabwürdigung der Versklavten kam es von Beginn an zu sexuellen Beziehungen zwischen Weißen und Schwarzen aus denen zahlreiche Kinder entstanden, welche die bis dahin bipolare rassistische Trennung gefährdeten (vgl. Henriques 1953: 33). Besonders Schwarze Frauen waren aufgrund ihrer machtlosen Position dem sexuellen Verlangen ihrer Besitzer_innen und den Vergewaltigungen durch weiße Männer vollkommen ausgeliefert. Andererseits hatten Verhältnisse mit Weißen auch den Vorteil, soziale Mobilität für sich und die gemeinsamen Kinder zu erlangen (vgl. Henriques 1953: 35f). Resultat der sexuellen Beziehungen war die Herausbildung einer kreolischen 6 Bevölkerungsgruppe, welche die in den USA existierende Bipolarität zwischen Weißen und Schwarzen unmöglich machte und stattdessen eine rassistische Hierarchie basierend auf dem Konstrukt der ›Hautfarbe‹ erschuf, die auf Jamaika bis heute fortbesteht (vgl. Henriques 1953: 36, 42). 7 Teilweise wird diese Hierarchie, die auch auf anderen Karibikinseln existiert, »Pigmentokratie« genannt (Sidanius, Peña und Sawyer 2001; Gewecke 2007: 17). Die kreolische Bevölkerung wird von Jamaikaner_innen oft als ›brown‹ / ›braun‹ bezeichnet. 8 Deborah Thomas beschreibt »brownness« anhand der Erfahrungen, die
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Der Ausdruck kreolisch wird im Buch je nach Kontext auf drei unterschiedliche Gegebenheiten angewandt. Er beschreibt erstens die privilegierten Nachfahr_innen von Weißen und Schwarzen in den Kolonien, zweitens durch Kolonialismus ausgelöste kulturelle Vermischungsprozesse und drittens, im Falle Jamaika, das Nationalismuskonzept der middle class, welches anstelle von race gemeinsame kulturelle und historische Entwicklungen betont (vgl. Thomas 2004a: 55).
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In den USA wird aufgrund der One-drop Rule davon ausgegangen, dass eine Person entweder Schwarz oder weiß ist. Schwarz ist nach dieser seit 1920 im Zensus verwendeten Regel jede Person, die auch nur einen Schwarzen Vorfahren hat. Weiß ist man dieser Auffassung nach lediglich, wenn der individuelle Stammbaum keinerlei nicht-weiße Menschen aufweist (vgl. Zack 1998: 74).
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Im Buch wird der Begriff ›brown‹ oder ›braun‹ aufgrund dessen Verwendung durch Jamaikaner_innen gegenüber dem Begriff People of Color bevorzugt. Dabei ist es wichtig zu erwähnen, dass ersterer im Gegensatz zum Ausdruck People of Color auf dem rassistischen Konstrukt von ›Hautfarbe‹ basiert, kolonialrassistische Hierarchien reproduziert und keine politische Selbstbezeichnung ist (vgl. Arndt 2011a: 682). Auf Jamaika übertragen,
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sie bei ihren ethnologischen Arbeiten in der jamaikanischen Gemeinde Mango Mount gemacht hat, wie folgt: [A]n intermediary color and class construction that is linked historically with the population of free people of color that emerged during the slavery period. In the community ethnography, most (but not all) of those variously referred to as the »middle class«, »the more fortunate«, the »rich people«, and the »upper sets« fall into the range of color categories usually referred to as »brown« (Thomas 2004a: 24).
Die Freilassung von Sklav_innen oder deren Freikauf waren in der Karibik von Seltenheit, weshalb es bis zur Emanzipation auf dem Archipel nur wenig freie Schwarze und People of Color gab (vgl. Osterhammel 2009: 205). Das koloniale Jamaika lässt sich sowohl als Sklavengesellschaft als auch als kreolische Gesellschaft beschreiben. Laut Higman kennzeichnet die Sklavengesellschaft die Dominanz von Sklaverei in sämtlichen gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Bereichen, sowie die Tatsache, dass versklavte Menschen mindestens ein Drittel der Bevölkerung ausmachen (vgl. Higman 2011: 138). Die kreolische Gesellschaft betont die unterschiedlichen kulturellen Austauschprozesse, Interaktionen und kreativen Neuschöpfungen, die stattfanden, ohne gleichzeitig Gewalt- und Machtverhältnisse auszuklammern, die zwischen Kolonialisierten und Kolonialisierenden herrschten (vgl. Higman 2011: 139). Widerstand, Emanzipation und Migration Am 1. August 1834 wurde, nachdem sich das politische Denken in Europa, bedingt durch die Ideen und Ideale der Französischen Revolution, gewandelt hatte, die Sklaverei in allen Kolonien des britischen Empires abgeschafft. Unterstützend auf die Emanzipation auf Jamaika wirkten sich ebenfalls die zahlreichen Sklavenaufstände aus. Diese wurden von den britischen Truppen bis zuletzt mit äußerster Gewalt unterdrückt, wie am Beispiel der Christmas Rebellion 1831-1832 und den darauf folgenden Hinrichtungen des Anführers Samuel Sharpe (1801-1832) und 580 anderer Aufständischer zu sehen war (vgl. Zahl 2002: 43). Auch nach dem Erlangen der Freiheit und dem Ende der Sklaverei änderte sich für die meisten Schwarzen auf Jamaika wenig. Im Zuge der Emanzipation erhielten können die Nachfahr_innen indischer Vertragsarbeiter_innen, die Kinder versklavter Afrikaner_innen und Weißen sowie Jamaikaner_innen mit chinesischen, syrischen oder libanesischen Wurzeln als People of Color angesehen werden. Der Begriff People of Color dient im Gegensatz zu ›braun‹ dazu, eine Einheit der durch unterschiedliche Rassismen diskriminierten Gemeinschaften zu schaffen und ist nicht als Abgrenzung, sondern als Ergänzung zum Terminus Schwarz zu verstehen.
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die ehemaligen Sklav_innen weder eine Entschädigung noch warteten aussichtsreiche Zukunftsperspektiven auf sie. Entschädigt wurden lediglich die Pflanzer_innen, deren Geld wiederum aufgrund ihrer Wohnsitze in Großbritannien nicht in die Kolonien selbst floss (vgl. Osterhammel 2009: 1192). Außerhalb der Plantagen waren die ehemaligen Sklav_innen konfrontiert mit hohen Land- und Grundstückspreisen, weshalb sie weiterhin mehrheitlich als billiges Arbeitskräftereservoir für die Plantagenbesitzer_innen dienten (vgl. O’Brien Chang 2010: 58). Auch in der Phase nach der Emanzipation kontrollierte eine Minderheit an Weißen als gesellschaftliche upper class, abgesichert durch das Fortdauern rassistischer Machtstrukturen, die sozialen, politischen und ökonomischen Vorgänge auf der Insel. Diese Gruppe etablierte ihre hegemoniale Kultur, die vornehmlich auf weißer und europäischer Bildung und Denkmustern basierte (vgl. Zahl 2002: 46). 9 Diese Hegemonie existierte nicht ohne militanten Widerstand vonseiten der Unterdrückten. So kam es 1865 zur Morant Bay Rebellion, die von dem Schwarzen Baptisten Paul Bogle (ca. 1820-1865) angeführt wurde und weitreichende politische Konsequenzen mit sich brachte: In the aftermath of the rebellion, planters voted to dissolve the local Legislative Assembly and established a system of direct nondemocratic rule from the metropole through a governor and his representatives (Crown Colony rule). This was significant because it demonstrated that planters’ fear of potential black retribution was stronger than their commitment to local political participation (Thomas 2004a: 32).
Das Anwachsen der Bananenindustrie begünstigte zwar gegen Ende des 19. Jahrhunderts die Herausbildung einer middle class, änderte aber wenig daran, dass die Mehrheit der Schwarzen Bevölkerung Jamaikas auch Jahre nach der Emanzipation am Rande der Gesellschaft und in verarmten Verhältnissen lebte (vgl. Thomas 2011a: 142). Oftmals stellte Arbeitsmigration, für Männer ins Ausland nach Panama, Kuba, 9
Die Kolonisator_innen unterdrückten von Beginn an die Formen der Wissensproduktion der Kolonisierten und etablierten ihr eurozentrisches Weltbild als Norm in sämtlichen gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und politischen Bereichen. Nicht-europäische Konzepte zur Herstellung von Bedeutung, der symbolische Kosmos der Kolonialisierten, deren Sprache, Ausdrucksvermögen, Darstellungen und Subjektivität wurden stark eingeschränkt oder als ›unzivilisiert‹ diffamiert (vgl. Quijano 2000: 541). Aníbal Quijano fasst die Funktion von Wissen bei der Aufrechterhaltung von kolonialer Herrschaft folgendermaßen zusammen: »Europe’s hegemony over the new model of global power concentrated all forms of the control of subjectivity, culture, and especially knowledge and the production of knowledge under its hegemony« (Quijano 2000: 540). Auch nach dem Ende direkter kolonialer Herrschaften blieben die kolonialen Wissenssysteme in den unabhängigen Staaten lange Zeit unangetastet, weshalb sie in den jeweiligen Gesellschaften bis in die heutige Zeit nachwirken und koloniale Hierarchien aufrechterhalten.
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Costa Rica oder die USA, für Frauen als Dienstmädchen der middle class nach Kingston, die einzige Möglichkeit zur Existenzsicherung dar (vgl. Thomas 2011a: 141f). Migrierende und zurückkehrende Jamaikaner_innen beeinflussten das politische Denken auf der Insel im 19. und 20. Jahrhundert in großem Maße. Durch sie gelangten panafrikanische und antikoloniale Ideen, der Marxismus und Gedanken der Schwarzen Bürgerrechtsbewegung aus den USA nach Jamaika (vgl. Timm 2008: 94). Insbesondere der Panafrikanist Marcus Garvey und die Rastafari-Begründer Alexander Bedward und Leonhard Howell erhielten ihre Inspiration durch Migrationserfahrungen (vgl. Thomas 2011a: 141). Seit den 1930er-Jahren hatten sich verschiedene Gruppen für die Unabhängigkeit Jamaikas stark gemacht, das von Großbritannien immer noch als Kolonialbesitz betrachtet und dessen Arbeitskräfte und Rohstoffe weiterhin nach Belieben ausgebeutet wurden. Befürworter_innen eines autonomen jamaikanischen Staats fanden sich nicht nur auf der Insel, sondern auch unter Jamaikaner_innen im Ausland. Insbesondere mit New York, wo sich 1936 die Jamaica Progressive League (JPL) formierte, fand ein reger transnationaler Austausch statt. Dem ist zu verdanken, dass zahlreiche Anstöße der afroamerikanischen Bürgerrechtsbewegungen, unter anderem durch Wilfred A. Domingo, einem der Begründer der JPL, von den USA nach Jamaika gelangten (vgl. Timm 2008: 81). Im Jahre 1938 wurde der Grundstein für das spätere Zweiparteiensystem Jamaikas gelegt. Alexander Bustamante (1884-1977) gründete als Folge eines nationalen Streiks, verursacht durch Hungersnöte, Bustamante’s Industrial Trade Union (vgl. Zahl 2002: 48). Norman Manley (1893-1969), ein Verwandter Bustamantes, reagierte darauf mit der Gründung der ersten Partei der Insel, der People’s National Party (PNP), welche anfangs die Nähe zu Bustamantes Gewerkschaft suchte. Konservative Einflussnahme auf Bustamante führte dazu, dass dieser kurze Zeit später auf Abstand zur PNP ging und mit der Jamaica Labour Party (JLP) 1943 die zweite politische Partei Jamaikas gründete (vgl. Zahl 2002: 48). Das damals entstandene Zweiparteiensystem hat bis heute Bestand. Nationale Unabhängigkeit und der Out of Many, One People-Staat Die anfänglich aus der Diaspora inspirierte Nationalbewegung wurde auf Jamaika durch eine gemeinsame Agitation von JLP und PNP vollendet. Die Parteien und ihre Anhänger_innen trieben schließlich die durch die Macht des Empires gestützten Plantagenbesitzer_innen zum Rückzug und machten den Weg zur Eigenstaatlichkeit frei (vgl. White 2002: 121). Im Jahr 1962 entließ Großbritannien seine karibische Kolonie zumindest politisch in die Unabhängigkeit. Diese trat offiziell am 1. August 1962, nach über 300 Jahren britischer Herrschaft, unter Führung der JLP in Kraft und wurde in den Straßen der Hauptstadt Kingston mit der ersten explizit jamaikanischen
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Musik, dem Ska, gefeiert (vgl. Zahl 2002: 50). Jamaika wurde somit zum postkolonialen Staat, dessen Prototyp Stuart Hall folgendermaßen charakterisiert: […] Unabhängigkeit von unmittelbarer Kolonialherrschaft, […] Formen der ökonomischen Entwicklung, die auf Zuwachs einheimischen Kapitals und auf der neokolonialen Abhängigkeit von der entwickelten kapitalistischen Welt basieren, sowie eine Politik, die aus der Entwicklung mächtiger einheimischer Eliten erwächst, die mit den widersprüchlichen Folgen der Unterentwicklung umzugehen haben (Hall 1997: 228).
Die Konstruktion von Jamaika als »creole multiracial nation« 10 führte dazu, dass race als Kategorie im Nationsbildungsprozess vollkommen ausgeblendet wurde (Thomas 2004a: 57). Ein kreolischer Nationalismus wurde zur dominanten Repräsentation von Jamaicanness (vgl. Bogues 2006: 22). Er beinhaltete, dass der jamaikanische Staat sich selbst als neutral und raceless ansah und darauf postulierte, dass es aufgrund der Unterschiedlichkeit von Bevölkerungsgruppen aus Europa, Afrika und Asien keine Diskriminierung gäbe. Diese Auffassung führte zu einer Privilegierung der kreolischen Jamaikaner_innen und euro-amerikanischen Weltbildern (vgl. Paul 2006: 103). Ferner verschwieg sie, dass die Mehrheit der Jamaikaner_innen ursprünglich aus Afrika stammte. Die hegemoniale kulturelle Identität Jamaikas wurde von der middle class 11 definiert, die sich vom Erbe der Sklaverei und der working class, die in ihren
10 Der Begriff »(creole) multiracial« wird im Text bewusst nicht übersetzt. Er dient zur Charakterisierung der postkolonialen jamaikanischen Gesellschaft als Schmelztiegelgesellschaft. Die Befürworter_innen dieses Gesellschaftsverständnisses suggerieren, dass auf Jamaika Menschen, deren Vorfahr_innen ursprünglich aus Westafrika, Europa, Indien, China, Syrien oder dem Libanon stammen und sich zu unterschiedlichen christlichen Konfessionen, dem Judentum, dem Islam, Rastafari oder anderen in der Schwarzen Diaspora entstandenen Glaubensgemeinschaften bekennen, eine gemeinsame jamaikanische nationale Identität gefunden haben. 11 Das Machtvakuum, das der Rückzug der Plantagenbesitzer_innen hinterließ, wurde nach der Unabhängigkeit von politischen Aktivist_innen aus der middle class gefüllt, die sich aus Geschäftsleuten, Lehrer_innen, Gewerkschafter_innen, Beamt_innen und sonstigen städtischen Fachkräften zusammensetzte (vgl. Stone 1986: 23, 26). Verantwortlich für deren wirtschaftlichen Aufstieg war unter anderem der erleichterte Zugang zu akademischer Bildung, der zu verbesserten Qualifikationen auf diversen technischen und wirtschaftlichen Berufsfeldern führte. Die middle class entspricht seit den 1960er-Jahren einem Querschnitt durch die Bevölkerung und beinhaltet Schwarze, ›braune‹, chinesische, indische, weiße, jüdische und arabische Jamaikaner_innen. Auch wenn der Großteil der middle class seit den 1960er-Jahren Schwarz ist, unterstützt diese soziale Gruppe in ihrer Mehrheit weder Rastafari noch sonstige Ausprägungen von Schwarzem Nationalismus (vgl. Stone 1986:
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Augen Rückständigkeit verkörperte, distanzieren wollte (vgl. Thomas 2004a: 56). Charakteristisch war, dass Respektabilität, anhand ausgewählter Praktiken der ländlichen Bevölkerung bestimmt, ins Zentrum gestellt und die kulturellen Praktiken der stetig zunehmenden urbanen Schwarzen working class ignoriert wurden (vgl. Thomas 2004a: 5). Wer zur neuen Nation dazugehörte und wer nicht, wurde bereits in den späten 1950er- und 1960er-Jahren durch Gewalt gegenüber Minderheiten verdeutlicht. So wurden Rastafaris 1963 nach dem sogenannten Coral Gardens Incident in Montego Bay auf Befehl der JLP-Regierung unter Jamaikas erstem Premierminister Bustamante brutal verfolgt. Im Jahr 1968 verweigerte der damalige JLP-Premier Hugh Shearer (1923-2004) dem Panafrikanisten Walter Rodney (1942-1980) die Wiedereinreise nach Jamaika. Rodney war ein aus Guyana stammender Dozent, der an der University of the West Indies Geschichte lehrte und bekannt für seine Graswurzelpolitik war, die sozial marginalisierte Gruppen wie Rastafaris und Bewohner_innen der Innenstadtgebiete Kingstons einschloss (vgl. Tafari-Ama 2008: 127, 131). Die Unabhängigkeit führte nicht zu einer reinen Demokratie, sondern produzierte eine Mischform aus Pluralismus und Autoritarismus (vgl. Gray 1991: 1). Bald bestimmten die ökonomischen Krisen, die am Parteibuch orientierte Vergabe von Sozialleistungen und die Verstrickung von Politiker_innen in die Wirren des Kalten Kriegs den jamaikanischen politischen Alltag und setzten der anfänglichen Euphorie ein jähes Ende. Auch wenn sich die beiden Parteigründer ursprünglich familiär nahestanden, entwickelte sich zwischen der eher sozialdemokratisch agierenden PNP und der wirtschaftsliberalen und konservativen JLP eine brutale Rivalität. Unter den Anhänger_innen der beiden Parteien nahm diese aufgrund des politischen Klientelismus, der Wählerstimmen und Unterstützung mit Gefälligkeiten belohnte, teilweise bürgerkriegsähnliche Zustände an (vgl. Meeks 2007: 117). Der 1972 an die Macht gekommene PNP-Premierminister Michael Manley (1924-1997), ein Sohn des Parteigründers Norman Manley, stieß mit seiner Reformpolitik auf den Widerstand der Vermögenden. Seine freundliche Außenpolitik gegenüber dem sozialistischen Kuba brachte ihn zusätzlich in Verruf, selbst Kommunist zu sein, worauf die CIA mit der Destabilisierung des Landes und der Unterstützung der antikommunistischen JLP-Opposition unter Edward Seaga reagierte (vgl. Zahl 2002: 52). Manley unterschätze die wirtschaftlichen Folgen seines politischen Handels. 42, 185; Thomas 2004a: 68). Stattdessen ist die middle class maßgeblicher Träger des kreolischen Nationalismus, in dem Schwarzsein lediglich durch selektiv ausgewählte kulturelle Praktiken der ländlichen Bevölkerung Jamaikas präsent ist (vgl. Thomas 2004a: 69). Trotzdem darf weder die middle class als homogener konservativer Block noch die working class als per se widerständig gegen postkoloniale Machtverhältnisse gesehen werden (vgl. Thomas 2011a: 139).
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Teile der weißen Bevölkerung und andere wohlhabende Minderheiten verließen Jamaika, was zu einer Abnahme wichtiger wirtschaftlicher Dynamik insbesondere in Kingston führte (vgl. Clarke 2006: 346). Gewalt als Mittel zur Strukturierung einer creole multiracial Gesellschaft Die parteipolitischen Auseinandersetzungen auf Jamaika wurden zunehmend durch Waffengewalt auf den Straßen Kingstons ausgetragen. Die Wahlkämpfe militarisierten sich und zahlreiche Politiker_innen paktierten aus Machtkalkül mit den Anführern der ›Ghettogangs‹ oder finanzierten gunmen, welche einerseits nach außen die Parteigefolgschaft vor bewaffneten Angriffen der Rival_innen schützen sollten und andererseits durch Gewaltausübung nach innen das Treueverhältnis der Anhänger_innen erzwangen. Eine zentrale Rolle kam bei diesen Auseinandersetzungen den dons zu. Unter dons versteht man die durch Unterstützung der Parteien aufgestiegenen Anführer bewaffneter Banden. Ihre Hauptfunktion ist es, in den garrisons die Ordnung durch extralegale Gewalt zu gewährleisten. Garrisons sind Wohngebiete, in denen gezielt Wohnraum für die armen Anhänger_innen der beiden politischen Parteien geschaffen wurde und in denen Klientel- und Zwangsbeziehungen zwischen Ersteren und Letzteren die politische Loyalität der Wählerschaft aufrechterhalten (vgl. Stone 1986: 57). Colin Clarke schreibt 2006, dass von den 15 Wahlbezirken in Kingston und der dazugehörigen Metropolregion St. Andrew sieben lang anhaltende Verbindungen zu einer der beiden politischen Parteien des Landes haben (vgl. Clarke 2006: 337). Garrisons verkörpern die Dominanz der middle class über die Armen, da ihre Bewohner_innen laut Maziki Thame de facto außerhalb der Nation stehen (vgl. Thame 2011: 81). Des Weiteren bilden sie ein Reservoir für billige Arbeitskräfte. Aufgrund der Tatsache, dass Gewalt den garrisons inhärent ist, gelten die Bewohner_innen oft per se als bedrohlich für den Staat, sind mit zahlreichen Benachteiligungen konfrontiert und bleiben im Fall von polizeilichen oder militärischen Auseinandersetzungen häufig namenlose Opfer (vgl. Thame 2011: 82). Auf der anderen Seite stellen die garrisons aber, gerade weil sie außerhalb des Kontrollbereichs des multiracial Staats liegen, ein Territorium dar, von dem aus die urbane lower class dessen Hegemonie herausfordern kann (vgl. Thame 2011: 86). Die Wiege der Dancehall-Musik liegt nicht zufällig in den notorisch kriminalisierten Bezirken von WestKingston. Die Bewohner_innen der garrisons schätzen die jeweiligen dons häufig mehr als Politiker_innen, von denen sie sich ignoriert fühlen. Herrschaftsstabilisierend wirkt sich für die dons besonders ihre Funktion als Verteiler von Arbeitsplätzen und materiellen Ressourcen sowie die Tatsache aus, dass sie für Sicherheit und außerstaatliche Gerechtigkeit in ihren Stadtvierteln sorgen (vgl. Jaffe 2012: 85).
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Eine berüchtigte garrison ist der Bezirk Tivoli Gardens in West-Kingston. Er wurde geschaffen, nachdem die JLP-Regierung in den 1960er-Jahren mehrmals das ›Ghetto‹ Back-o-Wall abreißen ließ und dort ein Häuserprojekt errichtete, das zur Mutter der politischen garrisons wurde (vgl. Hutton 2010: 32). Die JLP schloss bei der Wohnungsvergabe alle vermeintlichen Anhänger_innen der PNP aus und schuf so erstmals eine politisch homogenisierte Nachbarschaft. Um die Klientelstrukturen zwischen Partei und Anhänger_innen, die in diesen ›Armenunterkünften‹ herrschen, aufrechtzuerhalten, wurden Straßenbanden bewaffnet, deren Anführer später zu dons wurden. Eine berüchtigte garrison der PNP ist Hannah Town im Südosten von St. Andrew (vgl. Clarke 2006). Die blutigsten politischen Auseinandersetzungen zwischen der PNP und der JLP fanden 1980 statt. In einem höchst polarisierten und militarisierten Wahlkampf starben über 800 Menschen einen gewaltsamen Tod (vgl. Zahl 2002: 54; Meeks 2007: 117). Seit den 1970er-Jahren wurden Schusswaffen zu zentralen Instrumenten, um soziale Macht in der jamaikanischen lower class zu erlangen (vgl. Gray 2004: 292). Die als sufferah 12 bezeichneten Menschen der lower class aus den ›Ghettos‹ besaßen durch ihre Waffen plötzlich Autorität. Die Pistole wurde zu einem »sozialen Gleichmacher« und half zusammen mit dem Ethos der »Badness-Honour«, den Marginalisierten eine Stimme zu verleihen (Gray 2004: 292). Der von Obika Gray geprägte Begriff der badness-honour ist ein zentrales Element im Widerstandsrepertoire der verarmten Bevölkerung aus den ›Ghettos‹ Kingstons. Gray versteht darunter eine Verhaltensstrategie, die sich die marginalisierten Menschen angeeignet haben, um auch ohne finanzielle Ressourcen oder Zugang zu sozialer Mobilität ihr Leben bestreiten zu können. Er definiert den Terminus folgendermaßen: Badness-honour is evident therefore in the public, kinetic expression and corporal gestures employed by social agents in contexts of domination and social inequality. Badness-honour is a 12 Der Ausdruck sufferah / sufferer kommt ursprünglich aus der Rastafari-Bewegung und wurde zuerst von der ab 1969 erscheinenden Zeitung Abeng in den politischen Diskurs Jamaikas aufgenommen (vgl. Waters 1999: 291). Ausgehend von der afrozentrischen und den Schwarzen Nationalismus artikulierenden Position der Zeitung bezieht sich der Terminus sufferer auf die verarmten und arbeitslosen Menschen aus der jamaikanischen lower class. Um seine Identifikation mit den verarmten Schwarzen Jamaikaner_innen auszudrücken und die Rastafari-Symbolik für seine politische Kampagne zu instrumentalisieren, erklärte sich der PNP-Politiker Michael Manley 1972 selbst zu einem »Sufferers’ man« (Waters 1999: 292). In der Populärkultur findet sich der Ausdruck unter anderem in Bounty Killers Song »Sufferer« wieder: »Born as a sufferer, grew up as a sufferer / Struggle as a sufferer, mek it as a sufferer / Fight as a sufferer, survive as a sufferer / Yutes inna di ghetto, well, di most a dem a sufferer« (Bounty Killer 2002).
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repertoire that employs language, facial gesture, bodily poses and an assertive mien to compel rivals or allies to grant power, concede respect, accord deference or satisfy material want. It is therefore a cultural style that may be used to intimidate others through menacing or histrionic gestures. It may also be employed to bargain and negotiate the terms by which power, social respect, deference or resources are granted or denied to claimants (Gray 2004: 129).
Man kann den Begriff als Sammelsurium performativer Praktiken verstehen, das aggressives Verhalten, unerschrockene Rhetorik, Mut, Drohgebärden, Gewitztheit und Draufgängertum zusammenfasst. Badness-honour dient dazu, eigene Interessen zu vertreten, Anerkennung in der Gemeinschaft zu bekommen und somit einen gewissen Status an Macht erhalten zu können. Gefährdet wird badness-honour durch Reputationsverlust. Da das Leben im ›Ghetto‹ täglich vor den Augen der kompletten Öffentlichkeit stattfindet, ist ein guter Ruf die Grundlage für Anerkennung. Die Abwehr von Rufschädigungen durch badminded people 13 ist deshalb von immenser Wichtigkeit (vgl. Gray 2004: 104). Die Entstehungsbedingungen für badness-honour sind eine mündliche Kultur, klientelistische Gesellschaftsstrukturen, persönliche Loyalitätsbeziehungen, die Wertschätzung gesellschaftlichen Ansehens sowie ausgeprägte persönliche Kommunikationsnetzwerke (vgl. Gray 2004: 133). Der auf badness-honour basierende Verhaltenskodex beinhaltet sowohl subversive als auch repressive Elemente. Er fungiert als wehrhafte Stimme der Stimmlosen, unterstützt aber gleichzeitig auch patriarchale Vorstellungen von Männlichkeit durch die Legitimation und Glorifizierung von gewaltsamen Kräftemessen und traditionellen Vorstellungen von Moralität und Ehre. Obwohl es sich bei dem Phänomen um eine »subalterne Macht« handelt, können auch Politiker_innen und die gesellschaftliche Elite auf badness-honour zurückgreifen, um Anhänger_innen zu mobilisieren. 14 13 Unter badminded people werden Neider_innen verstanden, die den Ruf anderer Menschen durch die Verbreitung von Lügen und Gerüchten schädigen. Sie gehören zur Gruppe der Normabweichler_innen, die häufig in Dancehall-Lyrics angeprangert werden. 14 Beispiele für Formen von »subalterner Macht« auf Jamaika sehen Gray und andere Wissenschaftler_innen in den Rude Boys und der Rastafari-Bewegung (Gray 2004: 129; vgl. Bogues 2006: 22). Außerdem verkörpert die öffentlich zur Schau gestellte Schwarze Sexualität in der Dancehall und die von dieser Transgression ausgehende Bedrohung gesellschaftlicher Respektabilitätsnormen eine Form von subalterner Macht (vgl. Gray 2004: 313). Die derzeitige Premierministerin Jamaikas, Portia Simpson Miller, machte beispielsweise von badness-honour Gebrauch, als sie ihren Kontrahent_innen 2002 entgegenrief: »[L]isten to me now, don’t you get me involved in your little dirty, nasty, slimy politics. I will not be trapped into your little dirty, slimy tricks. Don’t draw my tongue and don’t trouble this girl, because I don’t fraid a no man, no gal, no one« (»Shawn, Tourism Minister in War of Words« 2002). Die Demonstration ihres Draufgängertums stand den Performances aus der Dancehall in nichts nach.
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Neoliberale Wende und »Modern Blackness« Seit den 1980er-Jahren wechseln sich JLP- und PNP-Regierungen ab, einen angemessenen Umgang mit den exorbitanten Schulden Jamaikas zu finden. Auf die harten Auflagen des Internationalen Währungsfonds (IWF) und der Weltbank haben beide Parteien mit Einsparungen und einer neoliberalen Politik reagiert. Mit dem Jahr 1989 begann auf der Insel eine durch neoliberalistische Politik hervorgerufene wirtschaftliche Krise, die bis heute andauert (vgl. Robotham 2009: 223). Der Anstieg an Gewalt und Morden zwischen den Jahren 1991 und 2006 steht in direkter Verbindung mit der desolaten ökonomischen Situation und der sozialen Ungleichheit, die auf Jamaika herrschen (vgl. Robotham 2009: 235). Die kleinen Farmer_innen auf dem Land sind besonders von Armut betroffen. Aber auch in der Hauptstadt Kingston haben viele keine feste Arbeit und bestreiten ihren Lebensunterhalt durch Gelegenheitsjobs oder durch Geldsendungen von Freund_innen und Verwandten aus dem Ausland (vgl. Dillman 2011). 2004 lag die durchschnittliche Arbeitslosenrate bei etwas mehr als 14 Prozent der Bevölkerung, wobei zu beachten ist, dass auf dem Land bei weitem mehr Menschen als in Kingston erwerbslos sind (vgl. »›Singing the Jobless Blues‹« 2004). Insgesamt lebten 2004 16,9 Prozent der Jamaikaner_innen unterhalb der Armutsgrenze (vgl. Robotham 2009: 235). Die Globalisierung hat sich für Jamaika besonders bezüglich der industriellen Produktion negativ ausgewirkt (vgl. Robotham 2009: 238). Das Land ist aus diesem Grund stark von internationalen Importen abhängig. Die jamaikanische Wirtschaft weist deshalb ein hohes Handelsbilanzdefizit auf, das seit den 1970er-Jahren stetig angestiegen ist (vgl. Statistical Institute of Jamaica 2009). Dieses trägt wiederum zu einer hohen Auslandsverschuldung bei (vgl. Gewecke 2007: 63). Trotz der verbreiteten Armut lässt sich ein Anstieg im Konsum der Jamaikaner_innen feststellen. Don Robotham spricht von einem »embourgeoisement« (Robotham 2000: 14) durch Schwarze Fachkräfte, die vermehrt im privaten Sektor tätig sind und in den 1990er-Jahren das Fundament für den Wahlerfolg des Schwarzen PNP-Politikers Percival J. Patterson schufen. Neoliberalistische Wirtschaftspolitik und die Möglichkeit zur Auswanderung, insbesondere nach Kanada und in die Vereinigten Staaten, ermöglichten einen sozialen Aufstieg jenseits der paternalistischen Strukturen der ›braunen‹ Elite (vgl. Thomas 2011a: 33). Der partielle Konsumanstieg manifestiert sich uptown in Form gigantischer Einkaufszentren nach US-amerikanischem Muster, die ein Gegenbild zu den leer stehenden und maroden Gebäuden downtown markieren. 15 Eine Auswirkung der Liberalisierungs- und Deregulierungsprozesse sind billige Kleiderimporte und elektronische 15 Die Dichotomie uptown / downtown stammt ursprünglich von der geographischen Trennung der jamaikanischen Hauptstadt Kingston durch die Half Way Tree Road. Es handelt sich dabei aber weniger um eine geographisch sichtbare Grenzlinie, als vielmehr um zwei
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Artikel, die hauptsächlich aus China in das Land kommen und von higglers 16 vertrieben werden (vgl. Robotham 2009: 236). Eine besonders wichtige Finanzquelle sind die remittances (dt. Rücküberweisungen), die nach Nordamerika oder Großbritannien ausgewanderte Jamaikaner_innen an ihre Verwandten und Freund_innen auf der Insel senden. Die Geldsendungen der geschätzten 3,3 Millionen Jamaikaner_innen außerhalb der Insel sind der größte Devisenbringer für das Land (vgl. »Diaspora Convention to Focus on Business and Entrepreneurship« 2011: C9). Sie umfassen monatlich eine Summe von 153 Millionen US-Dollar (vgl. Robotham 2009: 237). Auf Platz zwei der Devisen liegt das Tourismusgeschäft. Es ist aber aufgrund der Unvorhersehbarkeit von Gewaltausbrüchen im Metropolgebiet Kingstons permanenten Schwankungen unterworfen. Die Gewalt betrifft zwar selten die All-Inklusive Ressorts im Nordwesten der Insel, wirkt sich aber generell negativ auf den Ruf von Jamaika als Reiseland aus. Ähnliches gilt für die internationale Debatte um Homophobie auf Jamaika, die nicht nur die Populärmusik, sondern auch das Land bei Reisenden in Verruf gebracht hat. 17 Die PNP-Administration unter P. J. Patterson zwischen 1992 und 2006 war die längste Amtszeit eines jamaikanischen Präsidenten. Die Patterson-Administration verfolgte eine an der Schwarzen jamaikanischen Bevölkerung orientierte Agenda (»Black man time now« (Zahl 2002: 55)). Das schlug sich in zahlreichen Aktionen und Diskussionen über Schwarzsein, Kultur, Sexualität sowie nationaler Symbolik und Gedenkkultur nieder. In diesem Kontext ist auch die Diskussion um homophobe und gewaltverherrlichende Dancehall-Musik zu verorten. Pattersons Administration sozial konstruierte Positionen. Beide Orte sind an Identitätsvorstellungen geknüpft und verraten viel über die sozialen Hintergründe und das Wohlstandsniveau ihrer Bewohner_innen sowie die von kolonialem Rassismus geformte Gesellschaftsstruktur Jamaikas. Uptown steht für Reichtum, Bildung, Sicherheit und Moral und wird vorwiegend mit weißen und kreolischen Menschen assoziiert, während downtown mit Armut, Arbeitslosigkeit, Kriminalität und dem Verfall von gesellschaftlichen Normen in Verbindung gebracht wird und sich dort mehrheitlich Schwarze Menschen aufhalten (vgl. O’Brien Chang 2010: 23). Häufig wird anstelle von downtown auch der Begriff Innenstadtbezirke (inner-cities) gewählt. 16 Unter higgler werden Straßenhändler_innen verstanden, die durch den Verkauf von Importen versuchen, sich aus ärmlichen Lebensbedingungen zu befreien und immer wieder in Konflikt mit offiziellen Ladenbesitzer_innen geraten. Der Großteil der higgler sind Schwarze Frauen. Ihre formelle Bezeichnung lautet informal commercial importer. Für Carolyn Cooper versinnbildlichen die higgler die Ausdauer der working class im Kampf um bessere soziale Positionen (vgl. Cooper 2004a: 69-70). Ferner repräsentieren sie eine Form von finanzieller Unabhängigkeit, insbesondere für Schwarze Frauen. 17 In neueren Jamaika-Reiseführern für nordamerikanische und europäische Tourist_innen wird das Thema Homophobie in der Gesellschaft und in der Populärkultur gewöhnlich erwähnt (vgl. Thomas, Vaitilingam und Coates 2010: 37, 304).
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gründete 1996 ein Komitee, das sich gezielt mit der Revision nationaler Symbolik beschäftigen sollte und bald für zahlreiche Veränderungen sorgte. Im Jahr 1997 wurde der durch den Unabhängigkeitstag abgelöste Emancipation Day als zusätzlicher Feiertag wiedereingeführt. Dieser Akt brachte die Erinnerung an Kolonialismus und Sklaverei, die von der multiracial Staatsdoktrin lange Zeit vernachlässigt wurde, in das Bewusstsein der Nation zurück (vgl. Brown-Glaude 2006: 45). Im Jahr 2002 wurde im Stadtteil New Kingston der Emancipation Park eröffnet und im Juli 2003 beschloss das Komitee den Symbolgehalt der Farbe Schwarz auf der jamaikanischen Flagge von Mühsal (»Hardship«) zu Stärke und Kreativität (»Strength and Creativity«) zu verändern (Brown-Glaude 2006: 45 [Herv. i.O.]). Ein weiterer Schritt war, dass Patterson seinen Amtseid nach der Wiederwahl 2002 in den Emancipation Park verlegte und dem kolonial konnotierten King’s House, an dem diese Zeremonie gewöhnlich stattfand, den Rücken zuwandte (vgl. Brown-Glaude 2006: 48). Patterson machte kein Geheimnis daraus, dass Träger und Profiteure seiner Politik primär Schwarze Männer waren. So zitiert der Jamaica Observer eine Rede vom Jahresparteitag der PNP 2003 folgendermaßen: »›More people have car than anytime else‹, he said. ›More people have phone than anytime else. More man have gal than any time else‹« (»PM Says Sorry« 2003). Hier ist die Parallelität zu Konsum- und Sexualitätsdiskursen, die heterosexuelle Maskulinität in der Dancehall zum Ausdruck bringen, nicht zu übersehen. 18 Pattersons Maßnahmen blieben der kreolischen Elite, die seit der Unabhängigkeit Jamaika führte, nicht verborgen und lösten unterschiedliche politische Angriffe aus, die sogar so weit reichten, dass öffentlich seine heterosexuelle Männlichkeit angezweifelt wurde (vgl. Cooper 2004a: 163). Schlüsselproblem in der Ära Patterson blieb die ungleiche Verteilung von wirtschaftlicher Macht und Einfluss in der jamaikanischen Gesellschaft. Mit Patterson und dem Schwarzen Bildungsbürgertum war Blackness zwar im Herzen der politischen Macht angekommen, die wirtschaftlichen Ressourcen der Insel lagen aber weiterhin in den Händen der weißen oder ›braunen‹ Minderheiten (vgl. Robotham 2000: 1). Neben der politischen Betonung von Blackness zeichnete sich die Ära Patterson, wie die Regierungen zuvor, durch Amtsmissbrauch und die Bereicherung an politischen Ämtern aus (vgl. Zahl 2002: 56; Thomas 2004a: 11). Die systematische Patronage wurde auf die Spitze getrieben und von Regierungsanhänger_innen als Aufwertung zuvor vernachlässigter Schwarzer Unternehmer_innen verteidigt (vgl. O’Brien Chang 2010: 90). Obika Gray beschreibt diese Vorgänge als »Parasitismus«, da weder nur die Reichen davon profitierten noch ausschließlich die Armen die Verlierer_innen dieser Machenschaften waren (Gray 2004: 8). Das parasitäre politische System der Insel kann laut Gray als spezifische Form des Machtmanagements ange-
18 Siehe Kapitel Geschlechterbilder in der Dancehall.
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sehen werden, die als Konsequenz aus Kolonialismus, Benachteiligungen in der wirtschaftlichen Entwicklung und einer bis heute einflusslosen Position im internationalen politischen System entstanden ist (vgl. Gray 2004: 9). Deborah A. Thomas stützt diese These. Ihrer Meinung nach sind die gewalttätigen, parasitären und illegalen Machenschaften, in die der jamaikanischen Staat verstrickt ist, Teil des Landes, da sie als Hinterlassenschaften des Kolonialismus überhaupt erst das Fundament bildeten, auf dem sich die Formation des postkolonialen Nationalstaats vollzog (vgl. Thomas 2011a: 13). Aus besagten Gründen hat die Staatsmacht auf Jamaika viele Gesichter. Häufig befindet sich ihr Handeln im Wechselspiel zwischen Demokratie, Populismus, Bereicherung, Paternalismus, Gewaltmissbrauch und der bewussten Verletzung von Menschenrechten (vgl. Gray 2004: 5). Ein Beispiel dafür ist die Erstürmung des Viertels Tivoli Gardens im Mai 2010 im Westen von Kingston. Das jamaikanische Militär rückte in die garrison ein, um den area leader Christopher »Dudus« Coke zu verhaften. Coke, ein von den USA gesuchter Drogenboss, fungierte als Oberhaupt des JLP-Stadtbezirks und wurde in seinem kriminellen Treiben deshalb lange Zeit nicht von der damaligen JLP-Regierung unter Bruce Golding gestört. Golding war sogar der Abgeordnete des Wahlbezirks West-Kingston zu dem auch Tivoli Gardens als JLP-Hochburg gehört. Als die Vereinigten Staaten den Druck auf Golding erhöhten, kam es bei der Erstürmung des Viertels durch das jamaikanische Militär zu einem Massaker mit mehr als 70 toten Zivilist_innen, die von den Sicherheitskräften zu bewaffneten Gangstern deklariert wurden (vgl. Thomas 2011b: xviii). Wiederholt wurde auf Jamaika eine Politik betrieben, die sich an Middle ClassWerten, Liberalismus und europäischen Vorstellungen vom modernen Nationalstaat orientierte. Don Robotham betont, dass auch Schwarze Politiker_innen in Führungsämtern nichts an der Dominanz eurozentrischer Wertvorstellungen und der Überlegenheit von Weißsein änderten (vgl. Robotham 2000: 9). Das begünstigte in der Vergangenheit immer wieder das Ausklammern der Interessen der afrojamaikanischen Mehrheit. Nicht selten wurden deren Rufe und Proteste durch polizeiliche und militärische Repressionen zum Schweigen gebracht (vgl. Thomas 2011a: 173ff). Außerparlamentarische Gegenentwürfe aus der lower class, wie Rastafari oder die Dancehall-Kultur, haben über die Jahre hinweg eine »Gegengesellschaft« auf Jamaika gebildet, die sich den hegemonialen Vorstellungen von Nation, Kultur, Wissen und Partizipation entgegenstellt (vgl. Gray 2004: 359). Derartige Tendenzen demonstrieren, dass die Schwarze Lower Class-Bevölkerung sich keinesfalls mit ihrer oftmals entmündigten Position abfindet oder sich in eine wehrlose, starre Opferrolle einfügt. Vielmehr kommt es immer wieder zu kleinen autonomen Aktionen, kollektiven Zusammenschlüssen, Organisationsprozessen, Demonstrationen, Agitationsformen und Performances von individuellen oder kollektiven Akteur_innen sowohl innerhalb als auch außerhalb der staatlichen Strukturen (vgl. Gray 2004: 12).
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Seit den 1970er-Jahren und speziell seit 1989 befindet sich das Modell des multiracial Staats und mit ihm der kreolischen Nationalismus der middle class in der Krise (vgl. Bogues 2006: 22; Thomas 2011a: 13). Auch wenn dieser seit der Staatsgründung die dominante Ideologie auf Jamaika war, gab es seit dem Bestehen der Kolonie immer unterschwellig ausgetragene Auseinandersetzungen zwischen unterschiedlichsten Formen von Schwarzem Nationalismus und dem Konzept des multiracial Staats, das von der kreolischen Elite und der middle class propagiert wurde (vgl. Thomas 2011a: 132). Die Erosion des multiracial Staats steht wiederum in Verbindung mit einer erhöhten Gewaltbereitschaft. Die Gewalt war zwar seit jeher in der Ideologie des jamaikanischen Nationalstaats vorhanden, wurde aber lange Zeit unter dem euphemistischen Nationalmotto Out of Many, One People versteckt (vgl. Thomas 2011a: 27). Durch das Versagen des Staats, die Schwarze lower class zu versorgen, und den staatlichen Rückzug im Zuge neoliberaler Strukturanpassungen, wurde Raum für zwei unterschiedliche Phänomene geschaffen. Erstens entwickelten sich parastaatliche Strukturen in den ›Ghettos‹, in denen area leader und ihre bewaffneten Anhänger_innen für die Sicherheit und Versorgung der urbanen lower class mit Ressourcen eintraten (vgl. Thomas 2011a: 36). Zweitens gelangte ein Teil der Schwarzen Bevölkerung, unterstützt durch subalterne Artikulationsformen und die Auflockerung alter Ordnungsstrukturen und Hierarchien, zu vermehrtem gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Einfluss. Die Akteur_innen in diesem Prozess präsentierten Gegenentwürfe zu den gesellschaftlich postulierten Normen, die sich als Form des Empowerment 19 für die Schwarze, meist urbane Bevölkerung, herausstellten. Deborah A. Thomas beschreibt diese Entwicklungen mit dem Terminus »Modern Blackness« (Thomas 2004a). Dancehall-Musik ist ein wesentlicher Teil dieses Ermächtigungsprozesses, mit dessen Hilfe Schwarze Jamaikaner_innen die eingefahrenen Hierarchien und die kulturelle Dominanz des kreolischen Nationalismus herausfordern konnten und mehr gesellschaftliche Autonomie erlangten (vgl. Thomas 2004a: 242243). Der Autonomieprozess wurde in seiner Entstehung begünstigt, weil die Grenzen des jamaikanischen Nationalstaats durch die vielen Migrant_innen in Nordamerika und Großbritannien und deren Einfluss auf die Insel transzendiert wurden. Auf die verschiedenen Gruppen von Jamaikaner_innen im Ausland, die als Diaspora charakterisiert werden, und deren stetiges Interagieren mit Menschen auf der Insel geht das anschließende Kapitel ein.
19 Empowerment ist ein Handlungskonzept, das die Einflussmöglichkeiten des einzelnen Individuums auf Veränderungen in der Gesellschaft betont. Die Idee des Empowerment basiert auf der politischen Selbstorganisation und der Formierung einer »kollektiven Kultur des selbstbewussten Widerstands« (Can 2011: 589) gegen rassistische, sexistische, homophobe und andere diskriminierende Strukturen in der Gesellschaft.
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Theoretische Grundlagen zum Begriff Diaspora Der Begriff Diaspora wird hier nicht nur zur Darstellung der verschiedenen jamaikanischen Communitys in Nordamerika und Europa verwendet, wie dies sowohl auf Jamaika als auch in ›westlichen‹ Medien der Fall ist (vgl. »Diaspora Convention to Focus on Business and Entrepreneurship« 2011: C9; Menden 2012: 34). Er dient auch als Beschreibung und Analyseinstrument für transnationale Gemeinschaften und soziale Räume. In der Wissenschaft genießt die Diasporaforschung seit den 1990erJahren zunehmend Popularität. »Eine Diaspora ist keine Vergnügungsreise« (Mignolo 2012: 75) und ist meist mit der Erfahrung von Verlust und Vertreibung verbunden. In den Kulturwissenschaften wurde das Diaspora-Konzept unter anderem durch die Arbeiten von William Safran, Robin Cohen, James Clifford, Paul Gilroy und Stuart Hall etabliert (Hall 1990; Safran 1991; Gilroy 1993; 2000; 2003; Clifford 1994; Cohen 2008). Ursprünglich wurde der Begriff Diaspora lediglich auf das Judentum und dessen über die Welt zerstreute Gemeinden angewandt. Später dehnte sich die Begriffsbedeutung aus. Heute werden Menschen auf der Flucht, Einwander_innen, Vertriebene, im Ausland tätige Wirtschaftsfachkräfte, Ausländer_innen mit Aufenthaltserlaubnis und ethnische Minderheiten mit dem Ausdruck Diaspora charakterisiert und in Unterkategorien geordnet (vgl. Safran 1991: 83). Menschen in der Diaspora zeichnen sich durch multiple und ineinander verwobene kulturelle Identitäten aus, welche die Dichotomie zwischen Ursprungsland und Fremde aufbrechen (vgl. Ha 2011a: 584). Fatima El-Tayeb macht deutlich, weshalb die Verwendung des Begriffs Diaspora ergänzend zu Migration und Minderheit ein nützliches Analysekriterium ist: [C]ontrary to migration, diaspora transcends the binary of citizen and foreigner, the linear model of movement from origin to destination. What diaspora signifies is the fact of change, of losing a purity that one never had […] While migration does not grasp the experience of a population that is born into one nation, but never is fully part of it, and minority does not quite encompass the transnational ties of that same population, diaspora can bring both aspects together, and it does so most explicitly in African diasporic discourses (El-Tayeb 2011: 54).
Für William Safran lassen sich die Situation der Diaspora beziehungsweise das Leben in einer Diaspora-Gemeinde durch sechs Kernaspekte beschreiben:
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Menschen in der Diaspora oder deren Vorfahren haben ihr ursprüngliches geographisches Zentrum verlassen und leben nun zerstreut und marginal in einem fremden Raum. Sie besitzen eine kollektive Erinnerung beziehungsweise einen Mythos über ihr Herkunftsland und dessen Geschichte, Verortung und kulturelle Errungenschaften. Die Gastgesellschaft vermittelt ihnen den Eindruck, dass sie niemals vollkommen in sie integriert werden können, weshalb ein Gefühl des Fremdseins aufrechterhalten wird. Das Herkunftsland wird als der wahre Bestimmungsort gesehen, zu dem zukünftige Generationen eventuell zurückkehren werden. Es besteht ein kollektives Verantwortungsgefühl für den Aufbau oder Erhalt des Herkunftslandes, der sich in wirtschaftlichen Zuwendungen oder Sorgen um dessen Sicherheit widerspiegelt. Solidarität und Identität in einer Diasporagemeinschaft wird primär über die Zugehörigkeit zu einem Herkunftsland hergestellt (vgl. Safran 1991: 8384).
In Safrans Diaspora-Konzeption taucht die karibische Diaspora, abgesehen von den Kubaner_innen in den USA, noch nicht auf (vgl. Safran 1991: 375). Auch die Tatsache, dass aus einer Diaspora selbst eine neue Diaspora hervorgehen kann, wird von ihm nicht erwähnt. So entstanden beispielsweise aus der Schwarzen Diaspora in den Amerikas durch Migration aus der Karibik eine jamaikanische, eine trinidadische, ein guyanische oder eine haitianische Diaspora in den USA oder Kanada. Robin Cohen erweitert Safrans Diaspora-Definition um vier Punkte. Erstens können seiner Meinung nach auch Gruppen, die sich aus kolonialen oder freiwilligen Motiven zerstreut haben, eine Diaspora formen (vgl. Cohen 2008: 6). Zweitens betont Cohen die positiven Eigenschaften, die aus dem Aufrechterhalten einer Diasporaidentität und damit einhergehenden Spannungen entspringen: »The tension between an ethnic, a national and a transnational identity is often a creative, enriching one« (Cohen 2008: 7). Drittens besitzen für Cohen Diasporagemeinden die Fähigkeit, eine kollektive Identität mit »co-ethnic members« in anderen Ländern zu errichten. Den Kitt für derartige transnationale Beziehungen bilden sprachliche, religiöse und kulturelle Bündnisse sowie das Gefühl ein gemeinsames Schicksal zu teilen (Cohen 2008: 7 [Herv. i.O.]). Viertens schlägt er vor, den Ausdruck Diaspora auch für die Beschreibung von »transnational bonds of co-responsibility« (Cohen 2008: 7-8 [Herv. i.O.]) anzuwenden, selbst wenn historisch keine konkreten Gebietsansprüche geäußert werden können. Das trifft beispielsweise auf die Schwarze Diaspora in den Amerikas zu, deren konkrete Verbindung zu einer bestimmten Kultur oder einem bestimmten Territorium durch die Middle Passage unwiderruflich abgeschnitten
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wurde. Die karibische Diaspora beschreibt Cohen als »deterritorialisiert« und »mehrfach verdrängt« (Cohen 2008: 124). Ihr besonderes Merkmal ist, dass sie sich selbst in unterschiedliche Gemeinschaften, wie beispielsweise die afrikanische, die indische oder die chinesische Diaspora, aufteilen lässt (vgl. Cohen 2008: 125). James Clifford definiert Diaspora folgendermaßen: »[T]he term diaspora is a signifier, not simply of transnationality and movement, but of political struggles to define the local, as distinctive community, in historical contexts of displacement« (Clifford 1994: 308 [Herv. i.O.]). Die Abläufe, in denen Diaspora-Identitäten ausgehandelt werden, sind dabei geprägt von einem Wechselspiel von »roots and routes« (Clifford 1994: 308 [Herv. i.O.]), in dem Prozesshaftigkeit und Bewegungen von größerer Bedeutung sind als die ursprüngliche Herkunft. Für Gilroy ist der Diaspora-Gedanke »antinational« und »antiessentialistisch« (Gilroy 2000: 128). Er sieht das Diaspora-Konzept als einen Gegendiskurs zur Moderne an (vgl. Gilroy 2003). Dieser wende sich seiner Meinung nach gegen Entwürfe, welche die dominante Idee des homogenen Nationalstaats mit dazugehörigem einheitlichem Territorium aufrechterhalten (vgl. Gilroy 2000: 128). Der Black Atlantic beziehungsweise die Schwarze Diaspora, sind für Gilroy ein Gegenmodell zum europäischen Nationalstaat. Unter dem Black Atlantic versteht er einen transnationalen Raum zwischen den verschiedenen Schwarzen Diasporagemeinschaften in den Amerikas, Afrika und Europa. In diesem Raum findet ein permanenter gegenseitiger Austausch kultureller Produktionen statt (vgl. Gilroy 2003: 49). Durch diesen werden essentialistische und für die europäische Moderne charakteristische Vorstellungen von Nationalismus und Nationalstaat überwunden. Die wichtigsten Träger der transkontinentalen und panafrikanischen Austauschprozesse waren in der Vergangenheit das Schiff und später die Schallplatte beziehungsweise das Soundsystem (vgl. Linebaugh 1982: 119). In einer global vernetzten Welt treten heute die mp3-Datei und das YouTube-Video an deren Stelle. Gilroys Konzept knüpft an die zentrale Rolle des Meeres und der Middle Passage in der karibischen Theoriebildung an (vgl. Glissant 2010). Die Middle Passage wird für die afrokaribische Bevölkerung der Region zu einem grenzüberschreitenden gemeinsamen historischen Bezugspunkt (vgl. DeLoughrey 2007: 168). Die »kulturelle Meereskunde« spiegelt auch die Aneignung eines Raumes außerhalb der kolonialen Geschichtsschreibung wider, in dessen Mittelpunkt »Fluidität« anstatt »Linearität« steht (DeLoughrey 2007: 165). Paradoxerweise führte gerade der Bruch mit der eigenen Vergangenheit, den die Afrikaner_innen durch die Verschleppung und Versklavung erfuhren, dazu, dass sich ein grenzüberschreitendes gemeinsames Identitätsgefühl in der Diaspora entwickeln konnte (vgl. Hall 1990: 227). Die damit verbundenen »Brüche« und »Diskontinuitäten« wirken sich erneut auf die Vorstellungen von kultureller Identität in der Karibik aus (Hall 1990: 225):
56 | D ANCEHALL UND H OMOPHOBIE The diaspora experience […] is defined, not by essence or purity, but by the recognition of a necessary heterogeneity and diversity; by a conception of cultural ›identity‹ which lives with and through, not despite, difference; by hybridity. Diaspora identities are those which are constantly producing and reproducing themselves anew, through transformation and difference (Hall 1990: 235).
Das bedeutet, dass Jamaikaner_innen sowohl auf der Insel als auch in der Diaspora immer Teil eines Kollektivs bleiben, das die jeweilige Vorstellung von einer homogenen nationalen kulturellen Identität und Staatsbürgerschaft transzendiert. Migration aus Jamaika Die unterschiedlichen jamaikanischen Diasporagemeinschaften umfassen über den Erdball verteilt schätzungsweise 3,3 Millionen Menschen (vgl. »Diaspora Convention to Focus on Business and Entrepreneurship« 2011: C9). Ihre Entstehung geht auf unterschiedliche Migrationsbewegungen aus der Karibik zurück. In den USA, dem Hauptmigrationsziel der Jamaikaner_innen, leben etwa eine Million Menschen jamaikanischer Herkunft (vgl. Luton 2010). In Großbritannien sind es ca. 800.000. Die drittgrößte jamaikanische Gemeinschaft befindet sich mit etwas über 200.000 Menschen in Kanada (vgl. »Diaspora Convention to Focus on Business and Entrepreneurship« 2011: C9). Viele Jamaikaner_innen sind gerne bereit zu emigrieren, wodurch die in Nordamerika und Europa angesiedelten jamaikanischen Diasporagemeinschaften stetig Zuwachs bekommen. Im Jahr 2001 waren die Jamaikaner_innen mit knapp 60 Prozent der Gesamtbevölkerung nach den Bosnier_innen die zweitgrößte nationale Gruppe, die in die Vereinigten Staaten auswandern wollte (vgl. Vickermann 2007: 479). Frauen sind unter den jamaikanischen Migrant_innen in der Mehrheit. Dies trifft sowohl auf Kanada als auch die USA zu (vgl. Jones 2008: 158). Die jamaikanische Auswanderung in die USA vollzog sich in drei Wellen. Die erste fand in den 1920er-Jahren statt und wurde vonseiten der USA durch verschärfte Einreisebestimmungen im Zuge der Weltwirtschaftskrise unterbunden. Die zweite Welle erfolgte in den 1940er- und 1950er-Jahren. Die letzte und zahlenmäßig umfangreichste Einwanderungswelle ereignete sich im Kontext der jamaikanischen Unabhängigkeit 1962 (vgl. Vickermann 2007: 479). Die Behörde U.S. Citizenship and Immigration Services (USCIS) geht davon aus, dass zwischen 1971 und 2004 genau 571.265 Jamaikaner_innen in die USA immigriert sind (vgl. Vickermann 2007: 479). Heute leben die meisten jamaikanischen Migrant_innen an der Ostküste. In New York sind zum Beispiel 47 Prozent der im Ausland geborenen Jamaikaner_innen beheimatet (vgl. Vickermann 2007: 480). Ferner gibt es größere jamaikanische Gemeinschaften in Miami, New Jersey, Washington D. C., Atlanta und im Bundesstaat
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Connecticut. Hauptmigrationsgrund für die Jamaikaner_innen ist die prekäre ökonomische Situation auf der Insel. Viele Neuankömmlinge erhoffen sich in den USA bessere Perspektiven und die Möglichkeit zum sozialen und wirtschaftlichen Aufstieg. Die Jamaikaner_innen unterscheiden sich dabei nicht von den vielen anderen karibischen Migrant_innen, die Migration nach Nordamerika oder Europa generell mit einem Zugewinn an sozialer Mobilität und Wohlstand gleichsetzen. Jamaikaner_innen können sich durch Auswanderung oftmals auch von den gesellschaftlichen Hierarchien ihres Herkunftslandes befreien. Das betrifft sowohl rassistische, klassistische als auch geschlechterspezifische Unterdrückungsmechanismen. Viele LGBTTIQ-Aktivist_innen wie Campbell X, Makeda Silvera, Thomas Glave oder Staceyann Chin sind in der karibischen / jamaikanischen Diaspora in Nordamerika und Großbritannien kulturell tätig. Ferner motivieren der vereinfachte Zugang zu Bildung und die damit verbundenen Aufstiegsmöglichkeiten in höhere ökonomische classes zur Auswanderung nach Nordamerika und Großbritannien (vgl. Jones 2008: 2). Die Migrant_innen aus Jamaika erhalten meist sehr enge Verbindungen zur Insel aufrecht. Viele sind zwar laut Pass Bürger_innen der USA oder Kanadas, nehmen aber weiterhin am kulturellen, politischen, gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Geschehen in ihrem Herkunftsland teil, weshalb man sie auch als »Transmigrant_innen« bezeichnen kann (Glick Schiller, Basch und Szanton Blanc 1995: 48). Vereinfacht wird die kulturelle Teilnahme außerhalb der Insel durch die transnationale Ausrichtung von populären kulturellen Performances. Das jamaikanische Theater Stages aus Kingston oder große Festivals, die Shows von berühmten Reggae- und Dancehall-Entertainer_innen beinhalten, erreichen auch das Publikum in Nordamerika. 20 Für die Klassifizierung als Transmigrant_in spielt die geographische Nähe zur Insel eine wichtige Rolle. Insbesondere bei jamaikanischen Migrant_innen in Südflorida ist die Verbindung nach Jamaika eng. Das schlägt sich darin nieder, dass sie häufiger zurückreisen und mehr Geldsendungen an Familie und Freunde zu Hause schicken als beispielsweise Jamaikaner_innen aus Toronto (vgl. Jones 2008: 154). Günstiger werdende Flugpreise, Mobilfunkkommunikation und das Internet mit seinen Vernetzungsangeboten in Form von Skype, Twitter und Facebook haben es in den letzten Jahren einfacher gemacht, eine permanente Verbindung zwischen Diaspora und Herkunftsland aufrechtzuerhalten. 20 Gerade Rootsplay-Performances setzen bei den Zuschauer_innen eine tiefe Kenntnis des jamaikanischen Patwah sowie der aktuellen politischen und gesellschaftlichen Zustände auf der Insel voraus. Die satirische Komödie The Politicians, die im Mai 2012 sowohl in Kingston als auch in Brooklyn und Connecticut in den USA aufgeführt wurde, beinhaltet eine Persiflage des jamaikanischen Wahlkampfs, die Zuschauer_innen von außerhalb der jamaikanischen Diaspora kaum verstehen können (vgl. Irish and Chin Events 2012).
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Die enge Verbindung und der permanente Austausch zwischen den Jamaikaner_innen in den USA und der Insel trägt dazu bei, dass die US-amerikanischen Jamaikaner_innen in Teilen eine unabhängige Identität gegenüber der afroamerikanischen Bevölkerung entwickeln, auch wenn rassistische Diskriminierungen durch die weiße Mehrheitsgesellschaft beide Gruppen gleichermaßen betreffen und wiederum die Solidarität untereinander verstärken (vgl. Vickermann 2007: 486). Lange Zeit wurden Jamaikaner_innen in den USA als Mustereinwanderer_innen angesehen, was erfolgreiche Karrieren, wie zum Beispiel die des ehemaligen US-Außenministers Colin Powell, zu beweisen schienen. Im frühen 21. Jahrhundert wandelte sich aber die öffentliche Wahrnehmung von Jamaika und jamaikanischen Migrant_innen in den USA. Aus der verklärten Darstellung von Jamaika als paradiesischer Insel wurde plötzlich das Land der international agierenden Drogengangs, die ihre Aktivitäten auf die Märkte der Diaspora und der jeweiligen Mehrheitsgesellschaft ausdehnten (vgl. Vickermann 2007: 485). Eine der berüchtigten jamaikanischen Gangs ist die sogenannte Shower Posse. Der organisierte Drogenschmuggel aus Südamerika über die Karibik in die Metropolen des globalen Nordens ist die Kehrseite der engen Kontakte und Austauschbeziehungen zwischen Jamaika und den Diasporagemeinschaften. Die Entwicklung des organisierten Verbrechens über Grenzen hinweg beeinflusst gleichermaßen die Gesellschaften in Kingston, New York, Toronto und London (vgl. Harriott 2007: 34). 21 Haupteinkommensquelle der Kriminellen ist der transatlantische Marihuana-, Kokain- und Waffenhandel.
21 Als erfolgreiche Gangster dienen die dons und ihre Handlanger nicht nur verarmten Jugendlichen aus den ›Ghettos‹ Kingstons, sondern auch marginalisierten und von strukturellem Rassismus betroffenen Heranwachsenden in den Diasporagemeinden als Vorbild in Sachen Maskulinität und materiellem Wohlstand (vgl. Harriott 2007: 36). Die transnationalen kriminellen Aktivitäten jamaikanischer Immigrant_innen in den USA glorifiziert Cess Silveras Film Shottas (2002). Er erzählt von den zwei jungen Männern »Biggs« und »Wayne«, deren Rollen von den jamaikanischen Dancehall-Künstlern Ky-Mani Marley und Spragga Benz gespielt werden. Die beiden Protagonisten beginnen während ihrer jamaikanischen Kindheit im ›Ghetto‹ eine kriminelle Karriere, die darin gipfelt, dass sie als Erwachsene zu gefürchteten skrupellosen Gangstern im transnationalen Drogen- und Waffenhandel zwischen Miami und Kingston werden. Den Höhepunkt erreichte die Wahrnehmung von Jamaikaner_innen als Akteur_innen im internationalen Drogenhandel durch die von den USA erzwungene Festnahme und Auslieferung des Jamaikaners Christopher »Dudus« Coke im Mai 2010. Coke gilt als der Anführer der Shower Posse und wird von den USA beschuldigt, als area leader von Tivoli Gardens in den transnationalen Kokainhandel verstrickt zu sein. Auch die Beteiligung eines zum Islam konvertierten Jamaikaners an den Londoner Bombenanschlägen im Juli 2005 verstärkte die Auffassung, dass jamaikanische Migrant_innen eine Gefahr für die jeweilige nationale Sicherheit darstellen (vgl. Harriott
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Oftmals führt die direkte Konfrontation mit Rassismus, zum Beispiel in den USA, dazu, dass Schwarze Jamaikaner_innen sich stigmatisierter fühlen als auf Jamaika (vgl. Foner 1985: 712). Der Rassismus auf der Insel unterscheidet sich von dem in den USA dadurch, dass ersterer strukturell in einer zum Großteil aus Afrika stammenden Gesellschaft existiert, während in den USA die weiße Vorherrschaft in einer direkteren Diskriminierungserfahrung spürbar wird. Zur Aufrechterhaltung einer speziellen jamaikanischen Identität in der Diaspora dient neben (populär-)kulturellen Aktivitäten auch die Sprache. Die Verwendung von Patwah oder das Beibehalten eines spezifischen Akzents markiert jamaikanische Amerikaner_innen als yardies und grenzt sie deutlich von Afroamerikaner_innen ab (vgl. Jones 2008: 146). 22 Durch die vielschichtigen transnationalen Beziehungen wird das Heimatland Jamaika seit jeher stark durch Einflüsse aus Nordamerika geprägt. Transnational bedeutet in diesem Falle, dass grenzüberschreitende Erscheinungen, »lokal verankert in verschiedenen Nationalgesellschaften – relativ dauerhafte und dichte soziale Beziehungen, soziale Netzwerke oder Sozialräume konstituieren« (Pries 2010: 13 [Herv. i.O.]). Zwischen den USA und Jamaika lässt sich ein umfangreicher transnationaler Austausch besonders in den Bereichen Wirtschaft, Medien, Politik, Kultur, Bildung, Feierlichkeiten und Familie, aber auch im Drogenhandel feststellen. Die transnationalen Beziehungen zwischen den USA und Jamaika sind sowohl zwischen wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Eliten als auch in den unteren classes vorhanden. Letzteres schlägt sich beispielsweise in der Form von Wandgemälden in den ärmeren Innenstadtgebieten nieder, die US-Präsident Obama, den jamaikanischen Weltrekordhalter im 100-Meter-Sprint, Usain Bolt, und »Zeeks«, den inhaftierten don des innerstädtischen Bezirks Brick Town gemeinsam ehren und sowohl die jamaikanische als auch die US-amerikanische Flagge beinhalten (vgl. Jaffe 2012: 96).
2007: 34). Solche Ereignisse und die damit verbundene mediale Fokussierung auf männliche jamaikanische Straftäter führen wiederum dazu, dass Jamaikaner_innen in Nordamerika und Großbritannien allgemein als Sicherheitsrisiko wahrgenommen werden (vgl. Harriott 2007: 34). Rassistisch motivierte Verallgemeinerungen in den Medien wirken sich ihrerseits negativ auf das Ansehen der gesamten jamaikanischen Diaspora aus. 22 Die Rassismus-Kontroverse um einen VW-Werbespot beim US-Mediengroßereignis Super Bowl im Frühjahr 2013, in dem ein weißer Mann seine Arbeitskolleg_innen durch eine stereotype Verwendung von jamaikanischem Patwah bei guter Laune hielt, offenbaren die Verflechtung zwischen Sprache und race bei der Konstruktion und (Fremd-)Repräsentation von jamaikanischer kultureller Identität (vgl. Silvera 2013).
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Die wechselseitigen Beziehungen von Menschen, Ideen und kulturellen Erzeugnissen zwischen der Insel und ihrem großen Nachbarn im Norden führen des Weiteren zu einer Vielzahl von Transkulturationsprozessen. »Transkulturalität« 23 bezeichnet das von Wolfgang Welsch geprägte Kulturverständnis, das der Vorstellung von Kultur als homogener und separater Einheit, vergleichbar mit einer isolierten Insel, eine Absage erteilt: The concept of transculturality sketches a different picture of the relation between cultures. Not one of isolation and of conflict, but one of entanglement, intermixing and commonness. It promotes not separation, but exchange and interaction (Welsch 1999: 205).
Die Ursache für die transkulturelle Beschaffenheit der Welt liegt unter anderem in wirtschaftlichen Vernetzungen, globalen Migrationsströmen und umfassenden Kommunikationsmöglichkeiten, die zu einer Verflechtung und »Hybridisierung« von Kulturen geführt haben (Welsch 1999: 198 [Herv. i.O.]). Auf Jamaika wird diese nicht nur im afrikanischen Erbe vieler kultureller Praktiken, sondern auch in zahlreichen Einflüssen der USA auf die Insel sichtbar. Prozesse kultureller Hybridisierung finden sich unter anderem in der Esskultur, Populärkultur, Literatur, den Neuen Medien und dem politischen Denken (vgl. Beushausen et al. 2014) So verfügt Kingston über eine große Anzahl an US-amerikanischen Fastfood-Restaurants, Jamaikaner_innen schauen täglich US-Fernsehsender und sehen seit Generationen US-amerikanische Filme im Kino und US-amerikanischer Hip-Hop ist in den Clubs und auf den Straßenpartys in Kingston ebenso vertreten wie die lokal verwurzelte Dancehall-Musik. Auch innenpolitische Diskussionen in den USA schlagen sich häufig auf die Karibikinsel nieder. Zu nennen ist insbesondere der Einfluss von US-Präsident Barack Obama, der als erstes Schwarzes Staatsoberhaupt der Vereinigten Staaten großen Respekt auf Jamaika genießt. 24
23 In der Karibik tauchte das Konzept unter dem Begriff transculturación bereits 1940 in Fernando Ortiz Fernández’ Untersuchungen zur kubanischen Kultur auf (vgl. Ortiz 1940). 24 Als sich US-Präsident Barack Obama in einer Fernsehansprache im Mai 2012 für die Eheschließung von Homosexuellen aussprach, löste das sowohl in den Medien der jamaikanischen Diaspora als auch auf der Insel eine erneute Debatte über die Rechte von Homosexuellen aus (vgl. Gloudon 2012; Boyne 2012; Abbott 2012; »Obama Challenges Jamaica on Gay Rights« 2012). Im Leitartikel des Weekly Gleaner, der Nordamerikaausgabe des Jamaica Gleaner, wurde Obamas Äußerung als »Akt politischen Mutes« gelobt (»Obama Challenges Jamaica on Gay Rights« 2012: 8). Auf der Insel reagierten wegen des großen kulturellen Einflusses der USA viele Jamaikaner_innen besorgt über Obamas Stellungnahme: »In the response to Mr Obama’s expressed approval of ›same-sex‹ marriage, you now hear people saying ›Mi nuh like him again‹. Others are expressing fear that with Ja-
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SOZIALGESCHICHTLICHE E NTWICKLUNG DER JAMAIKANISCHEN P OPULÄRMUSIK Jamaika ist weltweit für seine herausragenden Musiker_innen und seinen umfangreichen Musikexport bekannt. Während der repressionsreichen Zeit der britischen Kolonialherrschaft boten lediglich die Bereiche Religion und Musik den Kolonialisierten die Möglichkeit zur Artikulation gesellschaftlicher Interessen (vgl. Waters 1999: 305). Darüber hinaus diente Reggae insbesondere den antikolonialen Kämpfen in Afrika als Inspiration. Neben den tanzbaren Rhythmen sorgen speziell die Texte jamaikanischer Interpret_innen, die sich für soziale Gerechtigkeit einsetzen, für die globale Verbreitung von jamaikanischer Musik im 20. und frühen 21. Jahrhundert. Aufgrund der globalen Beliebtheit jamaikanischer Populärkultur touren Künstler_innen aus Jamaika heute längst nicht mehr nur in den ›westlichen‹ Metropolen mit jamaikanischer Diaspora, sondern erfreuen sich auf allen Kontinenten großer Beliebtheit. Spätestens seit dem globalen Erfolg von Bob Marley and The Wailers in den 1970er-Jahren wird die Karibikinsel deshalb allgemein mit Reggae assoziiert. Für das richtige Verständnis der Phänomene Homophobie und Gewaltverherrlichung in der zeitgenössischen jamaikanischen Dancehall-Musik ist es notwendig, die historische Kontinuität der musikalischen Repräsentationen und Performances von antikolonialem Widerstand und (heterosexueller) Maskulinität sowie die innergesellschaftlichen Deutungskämpfe um musikalische Inhalte auf Jamaika aufzuzeigen. Ferner kommt der transkulturellen Genese der jamaikanischen Populärmusik eine gewichtige Rolle zu. Musik auf Jamaika unterlag immer Prozessen der Kreolisierung, die sich nie außerhalb kolonialer und gegenwärtiger neokolonialer Machtverhältnisse vollzogen. Von zentraler Bedeutung ist zudem Jamaikas größter musikalischer Star, Robert (Bob) Nesta Marley (1945-1981). Neben seiner musikalischen Wirkung kommt Bob Marley sowohl als nationalem als auch als internationalem Symbol eine zentrale Bedeutung zu. Der ›König des Reggae‹ wird post mortem in Diskussionen um Dancehall-Musik, Homophobie, Vulgarität und Gewalt zu den unterschiedlichsten Positionen und Bedeutungen als Musterbeispiel herangezogen. 25 Die jamaikanische Populärmusik wurde in ihrer Entwicklung massiv von kulturellen Austauschprozessen unterschiedlicher Regionen der Welt beeinflusst, die sich bis heute größtenteils im Rahmen von Paul Gilroys Konzept des Black Atlantic voll-
maica so easily influenced by American culture, any hint of approval of such an unthinkable idea as ›marriage equality‹, as it is now being called, would hasten the fall of Babylon« (Gloudon 2012). 25 Siehe Kapitel Der Diskurs gegen Dancehall.
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ziehen. Insbesondere Errungenschaften der Populärkultur entstanden im Wechselspiel der Einflüsse aus der Karibik, Nordamerika, Afrika und den europäischen Kolonialstaaten und führten zur Herausbildung eines Schwarzen Identitätsgefühls, das traditionelle, eurozentrische Vorstellungen von nationaler Identität und Geschichte transzendierte (vgl. Gilroy 2003: 63). Grund dafür war auch stets die Notwendigkeit, sich gegen weiße koloniale Vormachtstellungen zu behaupten: Die Geschichte der Popmusik nimmt ihren Ursprung im Geflecht des europäischen Kolonialismus und Imperialismus, der heim(at)lichen Kulturen von Sklavinnen und Sklaven, in Widerstandsbewegungen der Unterdrückten, in (kulturindustrieller) Vereinnahmung von Bedeutungsneuschöpfungen und schließlich in einem erneuten Kampf darum (Ismaiel-Wendt 2011: 36).
Vor allem die transkulturellen und transnationalen Entstehungsvoraussetzungen machen deutlich, dass bei der Geschichtsschreibung von Musikgenres Vorsicht geboten ist. Genres sollten nicht essentialistisch an einen geographischen Ort oder an eventuell essentialistisch geprägte Kulturvorstellungen gebunden werden (vgl. IsmaielWendt 2011: 45). Jamaikanische Populärmusik basierte seit ihren Anfängen auf einer transnationalen Komponente. Sie ist seit jeher von einem hybriden Charakter geprägt, in dem sich afrikanische, lateinamerikanische, karibische und ›westliche‹ musikalische Einflüsse vereint haben (vgl. Witmer 1987: 18-19). Diese Hybridisierungsprozesse weisen darauf hin, dass auch bei der Geschichtsschreibung von Musikgenres, künstlerischen Performances, Produktionstechniken oder Kontinuitäten eine Rassifizierung vermieden werden muss (vgl. Klein und Friedrich 2003: 63). Niemand »hat einen Rhythmus im Blut«. Stattdessen ist es wichtig, die Bezugnahme Schwarzer Reggae- oder Dancehall-Künstler_innen auf präkoloniale, afrikanische Ästhetik als persönliche oder politische Positionierung und nicht als biologisch notwendige Kontinuität zu verstehen (vgl. Ismaiel-Wendt 2011: 48-49). Die musikalischen Genres der Populärmusik, insbesondere in der Karibik, sind geprägt von ineinander verflochtenen Transkulturationsprozessen, in denen ›Ursprüngliches‹ kaum ausgemacht werden kann. Genres wie Reggae und Dancehall sind populärkultureller Ausdruck Schwarzer Gegendiskurse und richten sich gegen weiße Vorherrschaft. Sie sind aber keinesfalls Produkte, die ›kulturelle Reinheit‹ verkörpern, sondern diese eurozentristische, von kolonialem Rassismus geprägte Reinheitsvorstellung aushebeln.
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Ska und Rocksteady In den 1940er- und 1950er-Jahren erfreute sich auf jamaikanischen Straßentänzen und Partys der durch US-amerikanische Seefahrer_innen, Soldat_innen und jamaikanische Erntearbeiter_innen importierte Rhythm and Blues (R&B) großer Beliebtheit (vgl. Wynands 2000: 27). R&B-Schallplatten von Chuck Berry, Rosco Gordon und Fats Domino, zu denen die Schwarze Gemeinschaft in den USA tanzte, waren besonders unter jungen Jamaikaner_innen sehr gefragt (vgl. Wynands 2000: 27). Neben den Tonträgern brachten die zurückkehrenden Arbeitsmigrant_innen das für den Aufbau der ersten öffentlich agierenden Soundsysteme notwendige Equipment an Plattenspielern und Lautsprechern nach Jamaika (vgl. Stolzoff 2000: 38). Als sich in den USA der Musikgeschmack zum Rock and Roll wandelte, begann Coxsone Dodd (1932-2004) auf Jamaika Rythm and Blues Lieder mit jamaikanischen Künstler_innen zu produzieren, um den Bedürfnissen des Publikums nachzukommen (vgl. Stolzoff 2000: 58). Mit der Unabhängigkeit entstand auf der Insel die erste als genuin jamaikanisch wahrgenommene Musik: der Ska. Er hatte sich Ende der 1950er-Jahre aus den lokalen R&B-Produktionen entwickelt, in die populäre jamaikanische Redensarten und insbesondere Elemente des Mentos 26 einflossen (vgl. Stolzoff 2000: 59). Die Hochphase des Ska war zwischen 1962 und 1966. Der Ska gab mit seinem frechen, energetischen Rhythmus auch die durch die jamaikanische Unabhängigkeit ausgelöste Aufbruchsstimmung unter den jungen Jamaikaner_innen wieder. Ältere Generationen und wohlhabendere Jamaikaner_innen standen dem Ska eher kritisch gegenüber und rieten ihren Kindern von den Konzerten fern zu bleiben (vgl. Wynands 2000: 48). Zu den bekannten Ska-Musiker_innen gehörten Prince Buster, Ken Boothe und die Band The Skatalites. Auf die Ära des Ska folgte eine kurze Phase des Rocksteady 1966-1967. Sie kann auch als musikalische Verarbeitung der Enttäuschungen, besonders unter den Menschen in den ›Ghettos‹, gesehen werden, die auf die euphorisch gefeierte Unabhängigkeit folgten. Namensgeber des eher langsameren Genres wurde der Song »Rock Steady« (1967) von Alton Ellis (vgl. Wynands 2000: 72). Inhaltlich fand ein Wandel
26 Mento ist ein musikalisches Genre, das aus einer Vermischung von europäischen und afrikanischen Stilelementen entstand und mit Geigen, Flöten, Gitarren, Banjos, Trommeln, Rasseln und Rumbaboxen gespielt wird (vgl. Manuel, Bilby und Largey 2006: 184). Das Genre zeichnet sich dadurch aus, dass es bereits auf Jamaika existierendes Liedgut absorbiert und somit das Fundament für die »Jamaican folk music« bildet (Manuel, Bilby und Largey 2006: 186). Explizite sexuelle Anspielungen, für die später besonders DancehallMusik bekannt wurde, finden sich auch schon im Mento wieder (vgl. Manuel, Bilby und Largey 2006: 205).
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hin zu politischeren und kritischeren Lyrics statt. So wurden zum Beispiel die Brutalität der Polizei, Hunger und auch internationale politische Ereignisse von den Sängern_innen kommentiert (vgl. Davis and Simon 1976: 16). In der Rocksteady-Ära tauchte unter den marginalisierten Jugendlichen aus den ›Ghettos‹ zum ersten Mal das Rollenmodell des Rude Boy auf (vgl. Wynands 2000: 72). Der Rude Boy Zu Beginn der 1960er-Jahre entwickelte sich in den ›Ghettos‹ von Kingston eine aufmüpfige Jugendbewegung, deren Anhänger_innen sich Rude Boys oder auch Rudies nannten (vgl. Stolzoff 2000: 80). Ihre Anhänger_innen waren meist junge arme Schwarze Männer aus der working class, von denen viele vom Land in die Stadt gezogen waren, in der Hoffnung dort eine bessere Zukunft vorzufinden. Rude Boys waren in den Augen vieler Jamaikaner_innen mit einem Messer bewaffnete Kleinkriminelle, die keinen Spott über sich duldeten und nicht vor gewaltsamen Auseinandersetzungen zurückschreckten. Neben der Gewaltbereitschaft artikulierten die Rude Boys die Forderung nach sozialer Gerechtigkeit, weshalb sie auch als Rebell_innen gegen die postkolonialen Unterdrückungsverhältnisse angesehen werden können (vgl. Gray 1991: 76). Die Rude Boys betonten eine rebellische Form urbaner Blackness und forderten den jungen nationalen Konsens des Out of Many, One PeopleStaats und dessen Vorstellungen von respektablen Staatsbürgern und Staatsbürgerinnen heraus. Obika Gray beschreibt die Anhänger_innen der Rude Boy-Bewegung wie folgt: In matters of speech, dress, comportment, forms of salutation, and even the etiquette of courtships, the rebellious youth reversed the official codes. They deliberately went without socks; shirts were not tucked in; wash rags were substituted for handkerchiefs and left to hang out of their back pockets. Caps were worn askew atop and uncombed head, and other ways were found to assume an alternative costume. To the speech affectations of the middle class, the youths responded with a variation of working-class speech. Indeed, not unlike the Rastafarians, they developed a form of speech which probably gave better expression to their cultural experience by allowing for unorthodox linkages among emotion, language, and sound (Gray 1991: 73).
Auch bei den Rude Boys findet sich das Verhaltensethos von badness-honour wieder. Deswegen wurde das Image des Rudy einerseits romantisiert und verehrt und andererseits wegen der Bejahung von Gewalt kritisiert und abgelehnt. Die Stilisierung des Rude Boy zum postkolonialen Helden wird von Denise Noble kritisiert, da sie eine männliche, patriarchale Figur hervorhebt, welche die Mehrfachdiskriminierung von Frauen aus dem ›Ghetto‹ übergeht. Der Rude Boy muss sich keiner »patriarchalen Respektabilität« (Noble 2008: 116) unterordnen beziehungsweise stellt diese nicht in
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Frage. Das taten erst Entertainerinnen 27 wie Lady Saw, Tanya Stephens oder Ce’Cile in den 1990er-Jahren und nach dem Millennium. Vorbilder für die Rude Boys waren insbesondere Filmhelden aus US-amerikanischen Westernfilmen, die ein heterosexuelles Männerbild basierend auf Gewalt und Tapferkeit vermittelten (vgl. Hutton 2010: 27). Dancehall-Deejays, die aus der Rude Boy-Szene hervorgingen, wählten später gezielt Filmcharaktere als Namensgeber aus, die ihre maskuline Aggressivität in der Dancehall unterstreichen sollten. 28 Perry Henzells Film The Harder They Come (1972) setzte dem Rude Boy, der vom späteren Reggae-Star Jimmy Cliff gespielt wurde, ein Denkmal auf der Leinwand. Der Film unterstreicht besonders die Verbindung zwischen den Rude Boys und der damaligen Musikszene in Kingston. Es waren auch die Rude Boys, die im jungen jamaikanischen Staat von den politischen Parteien instrumentalisiert wurden, um Machtkämpfe mit der Waffe auszutragen. Viele Rude Boys organisierten sich schon vor der Unabhängigkeit in kleinen Banden und setzten sich auf diese Weise gegen die Brutalität der kolonialen Polizeieinheiten zur Wehr. Auf dieses Milieu griffen die politischen Vertreter_innen später zurück, um die Straßenkämpfer_innen, die sie zum Machterhalt in den jeweiligen Innenstadtbezirken benötigten, zu rekrutieren (vgl. Hutton 2010: 23). So wurde die widerständige Subkultur aus den Innenstadtbezirken letztendlich in die postkolonialen Machtstrukturen des Staats inkorporiert.
27 Traditionell ist der häufig schnelle und aggressiv wirkende Sprechgesang in der Dancehall, der auch toasting und deejaying genannt wird, eine Männerdomäne. Das Singen hingegen wird primär mit emotionalen Aspekten verbunden und mit Künstlerinnen assoziiert (vgl. Palmer 2012: 265). Diese sexistische Trennung wird von weiblichen Deejays hinterfragt. 28 Obika Gray spricht vom schlechten Einfluss der von den USA exportierten Western, die seiner Meinung nach die Herausbildung von Straßengangs in Kingston begünstigt haben und dazu führten, dass die Jugendlichen aus der Fiktion Fakten schufen (vgl. Gray 1991: 75). Deborah Thomas kritisiert seine Schlussfolgerung, wonach Gangster, Rude Boys und gewalttätige Jugendbanden erst durch externe kulturelle Einflüsse aus den USA geschaffen wurden (vgl. Thomas 2011a: 96). Sie weist stattdessen auf das Gewaltpotenzial hin, das durch die britische Kolonisation und die Plantagensklaverei sowie deren Erbe in die jamaikanische Gesellschaft gelangte: »We should instead think about contemporary violence in Jamaica as having emerged from layered histories and therefore as having layered, and sometimes unexpected, effects. On one hand, the legacy of British imperial slavery provides a template of spectacular techniques through which conquest over the bodies of others is either literal, as in both the expected and arbitrary forms or punishment meted out to slaves, or symbolic, as in the practices of displaying tortured and dismembered bodies to discourage breaches of the hegemonic order. This legacy does not disappear with decolonization« (Thomas 2011a: 124).
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Die Verschmelzung von Rude Boys und Musikproduktion führte dazu, dass der Diskurs der »Urban Badness« und damit auch der Verhaltenskodex der badness-honour massiv in die Musik Einzug hielt (Hutton 2010: 22). 29 Beide Phänomene prägen bis heute die Vorstellungen von Maskulinität in der jamaikanischen Populärmusik und speziell das Rollenmodell des badman. 30 Carolyn Cooper sieht im Badness-Diskurs ein Phänomen mit langer historischer Kontinuität. Ausgangspunkt sind für sie die revoltierenden Sklav_innen und die Maroons, weshalb sie auf die Ambivalenz von badness in der jamaikanischen Geschichte und Gesellschaft hinweist (vgl. Cooper 2004a: 147). 31 Diese kann sowohl gewaltverherrlichend und machistisch als 29 Clinton Hutton legt dar, dass interessanterweise in der Hochphase der Rude Boy-Songs die Mehrheit der Lieder das Rude Boy-Dasein kritisierte und keine Gewalt glorifizierte. Selbst die positiven Rude Boy-Beschreibungen ordneten den Rude Boy als Erscheinung ein, die im Kontext des historischen Erbes von Sklaverei und Kolonialismus und der andauernden Diskriminierung von Schwarzen im unabhängigen Jamaika geformt wurde (vgl. Hutton 2010: 53). 30 Badman ist eine von vielen Selbstbezeichnungen, die Dancehall-Deejays verwenden, um performativ auf ihre aggressive, heterosexuelle Maskulinität hinzuweisen. Andere Bezeichnungen sind shotta, Gangster und don. Der badman ist keine genuin jamaikanische Figur. Er taucht als Verkörperung des »outlaws« und Volkshelden bereits im 19. Jahrhundert in afroamerikanischen Geschichten auf (vgl. Roberts 1989: 185). In seinem Ursprung geht die Figur auf den »trickster« (Roberts 1989: 17) zurück, der in zahlreichen westafrikanischen, afroamerikanischen und afrokaribischen mündlichen Überlieferungen vorkommt und meist durch ein Tier, dem menschliche Schläue zugeschrieben wird, verkörpert wird (vgl. Cooper 1994: 48). Die populärste Tricksterfigur auf Jamaika ist die Spinne Anansi, die es durch ihre Schläue immer wieder schafft, vermeintlich stärkere Kontrahent_innen zu besiegen (vgl. Senior 2003: 16). Ihr Charakter ist geprägt von Doppeldeutigkeit, da sie einerseits wohlwollend und heiter aufritt, sich andererseits aber auch listig und extralegal gegen Unterdrücker_innen zur Wehr setzt. Züge von Anansis Persönlichkeit finden sich sowohl bei den Rude Boys als auch den Deejays in der Dancehall wieder (vgl. Tanna 1983: 21; Thomas 2011b: 255). 31 Generell bedienten sich am historischen Erbe und den kulturellen Symbolen der Maroons zahlreiche Akteur_innen auf Jamaika. Das reicht von der Black Power Bewegung um Walter Rodney an der University of the West Indies im Jahr 1968, über Rastafari, Reggae- und Dancehall-Künstler_innen bis hin zu den politischen Parteien, die wiederum populäre Reggae-Songs und afrozentrische Symboliken für ihre Kampagnen verwendeten (vgl. Waters 1999: 290ff; Mackie 2005: 53). Maroon-Symbolik ist außerdem Teil der nationalen Symbolik Jamaikas. Dort ist sie vor allem in Form von Nanny präsent, der als Nationalheldin verehrten Anführerin der Maroons (vgl. Cooper 2004a: 147). Ihr Porträt ziert neben der 500 Jamaican Dollar-Banknote auch zahlreiche Schulgebäude des Landes (vgl. Thomas 2011b: 206).
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auch emanzipatorisch und antikolonial ausgeprägt sein. Die gewaltverherrlichende und hypermaskuline Komponente führt Cooper auf Einflüsse von außen zurück, die mit traditionellen Formen auf Jamaika verschmolzen seien: There is, as well, an indigenous tradition of heroic »badness« that has its origins in the rebellious energy of enslaved African people who refused to submit to the whip of bondage. Nanny of the Maroons, for example, is memorialized as having possessed supernatural powers; it is said that she used her bottom to deflect the bullets of British soldiers (Cooper 2004a: 147).
Deborah Thomas kritisiert Coopers Badness-Begriff, der einer Dichotomie zwischen einer genuin jamaikanischen, »positiven Badness«, die sich gegen Unterdrückung und Sklaverei wendet und einer »negativen Badness«, die durch ausländische (populär-)kulturelle Importe nach Jamaika gebracht wurde, unterliegt (vgl. Thomas 2011a: 94). Coopers Argumentation entspricht öffentlichen Diskursen auf Jamaika, die Devianz und Gewalt oft auf etwas von außen Kommendes reduzieren. 32 Insbesondere US-amerikanische Medien und dortige Repräsentationen von (sexueller) Abweichung, Materialismus und Gewalt sind in den Augen vieler der Grund für gesellschaftliche Missstände auf Jamaika (vgl. Thomas 2011a: 105, 124). Getreu dieser Argumentation werden aus Nordamerika und Großbritannien abgeschobene Jamaikaner_innen als ›kontaminiert‹ oder Verbreiter_innen von Devianz, Kriminalität und Gewalt stigmatisiert. Coopers Zweiteilung ignoriert die Hybridität, die der badness der Rude Boys und auch der späteren Dancehall-Deejays unterliegt. Diese setzt sich gleichermaßen aus dem afrozentrischem Widerstand der Rastafaris und den Bildern tapferer Wildwesthelden aus dem US-amerikanischen Kino zusammen (vgl. Zips 2001: 171). Die Westernfilme lieferten nicht die Inspiration für das gewalttätige Agieren der Rude-BoyGangs. Stattdessen zeigten sie auf der Leinwand gesellschaftliche Strukturen, die die Jugendbanden problemlos auf ihre politische und soziale Umgebung und die darin existierende Gewalt übertragen konnten (vgl. Zips 2001: 315). Auch Coopers historischer Rückgriff auf die Maroons, die in ihren Augen eine »indigene« und »heroische« Form jamaikanischer badness verkörpern, hält einer näheren Untersuchung nicht stand (Cooper 2004a: 147). So demonstriert Erin Mackie in ihrer Analyse »Karibischer Gegenkulturen« am Beispiel Jamaika, inwiefern »outlaws« wie karibische Pirat_innen, Maroons, Rastafaris und gegenwärtige Jugendbanden sich gegenseitig inspirierten und beeinflussten und in der Praxis Produkte kultureller Hybridität sind (Mackie 2005: 54). Letztendlich verschleiern Aussagen über externe Faktoren von Gewalt und Devianz, inwiefern das britische Empire das historische Fundament für ein breites Spekt-
32 Siehe Kapitel Der antihomosexuelle Diskurs auf Jamaika.
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rum der Gewalt auf Jamaika schuf. Kolonialismus sowie die spätere Nationalstaatsgründung unter dem Motto Out of Many, One People (re-)produzierten permanent klassistische, rassistische, sexistische und homophobe Unterdrückungsverhältnisse, die sich wiederum gegenseitig unterstützten (vgl. Thomas 2011a: 27). Diese werden im Musikgenre Reggae thematisiert, kritisiert, aber auch teilweise erneut reproduziert. Reggae Aus dem Rocksteady entwickelte sich Ende der 1960er-Jahre der Reggae, ein Musikgenre geprägt durch Offbeat und Bässe, das bis heute die international bekannteste Musik der Karibikinsel ist. Auf Jamaika war Reggae die Musik der Slumbewohner_innen und wurde anfänglich von allen Gesellschaftsteilen, außer diesen marginalisierten Gruppen, abgelehnt (vgl. Davis und Simon 1976: 18). 33 Hier offenbart sich ein Spannungsfeld zwischen vermeintlicher ›Hochkultur‹ und kulturellen Errungenschaften aus der lower class, das Auseinandersetzungen um jamaikanische Populärkultur bis heute begleitet. Reggae veränderte die Art und Weise, in der sich die Schwarze Bevölkerung in den Innenstadtgebieten selbst wahrnahm: »Reggae of the 1970s created a black space; it was an incubator for a kind of knowledge that needed to work its way out of the ground and into the minds of the young descendants of Africans enslaved in Jamaica« (Brodber 2012: 35). Im Zentrum stand dabei eine positive Neubewertung von Schwarzsein: »[R]eggae artists […] have pried the word ›black‹ from ›poor‹, ›ugly‹, ›stupid‹ and imposed another and more positive connotation upon it« (Brodber 2012: 36). Der musikalische Übergang von Rocksteady zu Reggae vollzog sich fließend und wird im Song »Do the Reggay« von Toots and the Maytals (1968) versinnbildlicht, der die für jamaikanische Musik signifikante Verknüpfung von Tanz und Musikstil hervorhebt. Mit dem Aufkommen des Reggae und dessen großer Popularität wurden auch erstmalig europäische und nordamerikanische Firmen im großen Stil auf das Vermarktungspotenzial aufmerksam, das in dem Genre aus der kleinen Karibikinsel steckte (vgl. Stolzoff 2000: 94). Der erste Welthit des Reggae, Desmond Dekkers »The Israelites« (1968), ließ aus diesem Grund nicht lange auf sich warten. In den
33 Während der JLP-Regierung zwischen 1962 bis 1972 wurden sowohl Rastafari als auch Reggae als »subversive« Elemente wahrgenommen, die für die Hegemonie des kreolischen Nationalismus eine Gefahr bedeuteten (Waters 1999: 306). Gewaltsamer Widerstand demonstrierte die Kontinuität von Gewalt und Rassismus im Übergang von der Kolonie zum postkolonialen Staat (vgl. Waters 1999: 306). Reggae-Songs, die sich gegen Armut und Hunger wandten, durften in den lokalen Radiostationen nicht gespielt werden. Tanzveranstaltungen auf den Straßen der inner cities wurden oft durch die Polizei beendet.
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frühen 1970er-Jahren gelang auch Bob Marley and The Wailers ihr Durchbruch, eingeleitet durch den internationalen Vertrieb des Albums Catch A Fire (vgl. Wynands 2000: 127). Jamaikas erster internationaler Superstar, Bob Marley, wurde am 6. Februar 1945 im ländlichen Nine Miles als Sohn einer Schwarzen, Cedella Booker (1926-2008), und eines Weißen, Captain Norval Sinclair Marley (1885-1955), geboren. 34 Seine Biographie weist die für viele Jamaikaner_innen typische Landflucht in die Metropole Kingston sowie einen Lebensabschnitt im Ausland, im Fall von Marley in den USA und nach dem Beginn seiner Karriere als Musiker in England, auf. Ausgehend vom ›Ghetto‹ Trench Town in West-Kingston startete Marley, unterstützt vom britischen Musikproduzenten Christopher Blackwell, eine internationale Karriere, während der er sowohl im ›Westen‹ als auch in Afrika tourte und große Erfolge feierte. Auch wenn Marley heutzutage nicht nur auf Jamaika, sondern besonders in der ›westlichen‹ Welt als Botschafter des Reggae oder gar als Synonym für Reggae-Musik schlechthin betrachtet wird, ist zu beachten, dass die Gruppe Bob Marley and The Wailers nicht wie gewöhnliche jamaikanische Reggae-Künstler_innen vermarktet wurde. In Europa und Nordamerika, wo weiße Jugendliche ihre exotischen und gegenkulturellen Vorstellungen auf die Rastafarimusiker_innen projizierten, wurde Marley in den bekannten Rahmen des Modells ›Rockstar‹ gepresst und ähnlich vermarktet wie zuvor Jim Morrison von The Doors oder Mick Jagger von The Rolling Stones (vgl. Wynands 2000: 20). 35 Die Kommodifizierung von Schwarzer Populärkultur im Fall von Bob Marley und Reggae-Musik durch den weißen Mainstream entpuppte sich nicht als Möglichkeit, weiße Vorherrschaft gezielt zu hinterfragen und 34 Marleys globaler Erfolg wird teilweise darauf zurückgeführt, dass er auf Jamaika als ›braun‹ wahrgenommen wurde, woraus sowohl national als auch international Vorteile für ihn resultierten. Der Musiker Leroy Sibbles äußerte sich dazu wie folgt: »As great as Bob Marley was, I think Peter Tosh was just as good. But he couldn’t make it as big as Bob, because Bob had a lighter complexion and the record companies were able to promote him more and he was accepted easier. Look at Toots [Hibbert]. There’s no one better than Toots – black, white, blue or pink. But he never reached the level of Bob Marley because of the same reason« (O’Brien Chang 2010: 105). 35 Bob Marleys Musik enthielt Termini wie revolution, rebel oder One Love, die den weißen Hörer_innen zum Teil von weißen Rockstars bekannt waren (vgl. Karnik und Philipps 2007: 11). Sie entfernten diese Fragmente dann aus dem Kontext der Black Revolution und Black Emancipation und versahen sie mit Bedeutungen aus den europäischen Subkulturen oder Protestbewegungen gegen Kapitalismus, Atomkraft, Kriege oder konservative Wertvorstellungen (vgl. Wynands 2000: 177). Das legte speziell in Deutschland das Fundament für zahlreiche Falschannahmen und Verklärungen um Reggae und Dancehall. Teilweise fanden diese im Aufkommen der Debatte um homophobe Dancehall-Lyrics ein plötzliches Ende.
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zu unterminieren: »[C]ontemporary commodification of black culture by whites in no way challenges white supremacy when it takes the form of making blackness the ›spice that can liven up the dull dish that is mainstream white culture‹« (hooks 1992: 14). Diese musikalische Anpassung der Wailers an den weißen Pop- beziehungsweise Rockmainstream und deren Kommodifizierung schadete aber trotzdem nicht der emanzipatorischen Wirkung von Reggae in Afrika. Dort wurden Reggae und insbesondere die Lieder Bob Marleys zu einem Antrieb für das afrikanische Selbstwertgefühl und die Würde und Autonomie vieler Afrikaner_innen (vgl. Zips 2010c: 29). Ein Zerrbild des ›König des Reggae‹, das sich in den 1990er-Jahren und nach der Jahrtausendwende durch eine Verherrlichung Marleys zeigte und ihn von den in ihren Augen vulgären und gewaltverherrlichenden Dancehall-Künstler_innen aus der lower class abgrenzt, existiert nicht nur in Europa, sondern auch innerhalb der jamaikanischen upper und middle class. Carolyn Cooper fasst das Zerrbild des ›König des Reggae‹ so zusammen: [M]isrepresentation of Bob Marley as an exclusively lovey-dovey lyricist diminishes the range and resonance of the revolutionary work of the incendiary »Tuff Gong« Rastaman whose songs of emancipation from mental slavery are a powerful, denunciatory chant against oppressive state power in all its various guises (Cooper 2004a: 75).
Während Bob Marley and The Wailers als Band um den Globus tourten, bestimmten zeitgleich Künstler wie Dennis Brown (1957-1999) und Gregory Isaacs (1951-2010) das musikalische Image des Reggae auf Jamaika. Innerhalb der Protagonist_innen des neuaufkommenden Genres fand gleichzeitig eine Hinwendung zur Rastafari-Bewegung statt. Das führte ab den 1970er-Jahren zu zahlreichen Bekenntnissen zu Rastafari unter Reggae-Künstler_innen, wodurch dessen Einfluss sowohl auf die Inhalte als auch die instrumentale Komposition der Musik erweitert wurde (vgl. Stolzoff 2000: 95). Generell kann die verstärkte Hinwendung zu Rastafari in den 1970er-Jahren auch im Zusammenhang mit den prekären ökonomischen und gesellschaftlichen Verhältnissen sowie der Ignoranz der Machthaber_innen gegenüber den Bedürfnissen der armen Schwarzen Bevölkerung gedeutet werden. Rastafari In den 1930er-Jahren hatte sich unter Teilen der verarmten Schwarzen Bevölkerung Jamaikas die panafrikanische Philosophie und Religion, Rastafari, herausgebildet, die gleichzeitig eine Art messianische Protestbewegung der Schwarzen working class darstellte (vgl. Zips 2010c: 10). Die Rastas, wie sich die Anhänger_innen des neuen Glaubens nannten, prägten und prägen bis heute sowohl die verschiedenen Erschei-
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nungsformen jamaikanischer Populärmusik als auch die globale Wahrnehmung Jamaikas im Allgemeinen. Wie die Rude Boys ist auch Rastafari eine Oppositionsbewegung zum kreolischen multiracial Staat. Beide Phänomene haben ihren Ursprung in der Schwarzen lower class Kingstons, bedienen sich aber gleichzeitig Praktiken, die nicht nur den jamaikanischen Nationalstaat, sondern nationale Grenzen generell überschreiten. Für das Buch sind sie sowohl aufgrund ihrer Transnationalität als auch wegen ihrer Bejahung von Schwarzsein und heterosexueller Maskulinität von Bedeutung. Im Zentrum von Rastafari steht eine positive Rückbesinnung auf die afrikanische Herkunft des Großteils der Jamaikaner_innen sowie die Annahme der Göttlichkeit Haile Selassies I. (1892-1975), des damaligen äthiopischen Kaisers (1930-1974). Ein positiver Blick auf Schwarze Menschen in Nord-, Mittel-, Südamerika und der Karibik oder auf deren gemeinsame Heimat Afrika war in den Jahrhunderten der Sklaverei und auch nach der Emanzipation durch weißes Wissen und eine rassistische Bildung und Gesellschaft nicht gestattet worden. 36 Inspiriert wurden die Begründer_innen der neuen Religion unter anderem durch die Interpretationen des Alten Testaments von Schwarzen Predigern und den Panafrikanisten Marcus Mosiah Garvey (1887-1940). Dieser war zwar selbst kein Rastafari, kämpfte aber sein Leben lang für die Rechte Schwarzer Menschen in den Amerikas. Der Schwarze Aktivist und Politiker Garvey, der heute auf Jamaika als Nationalheld verehrt wird, gründete unter anderem die Universal Negro Improvement Association (UNIA) und proklamierte, dass Schwarze nur durch eine Rückkehr nach Afrika der rassistischen Diskriminierung entkommen könnten. 37 Diesen Impuls greifen die Rastafaris, die Garvey als ei-
36 Äußerlich kann man die meisten Rastafaris an ihren verfilzten, langen Haaren, den Dreadlocks sowie ihren ungeschorenen Bärten erkennen. Dieser Umgang mit der Körperbehaarung kann als Auflehnung gegen die an weißen Körperidealen orientierte jamaikanische Gesellschaft betrachtet werden (vgl. Chevannes 1998: 123). Auf Jamaika ist das natürliche Haar Schwarzer Menschen bis zum heutigen Tage als ›bad hair‹ verschrien (Chevannes 1998: 105; Manuel, Bilby und Largey 2006: 195). Besonders jamaikanische Frauen geben jährlich große Summen aus, um mit Chemikalien, sogenannten ›hair relaxers‹, die Beschaffenheit ihrer Kopfbehaarung zu verändern, um lange glatte Haare zu haben, die einem europäischen Schönheitsideal entsprechen. Ärmere Frauen, welche die teuren Chemikalien nicht bezahlen können, tragen oft Perücken, die in bunten Farben in der Dancehall-Kultur verbreitet sind. Auch bei Männern wird großer Wert auf kurz geschorene Haare gelegt, weshalb die Rastas durch ihre langen Dreadlocks und Bärte bis heute auf gesellschaftlichen Widerstand und Ausgrenzung stoßen. 37 Schwarzer Nationalismus oder Panafrikanismus steht im Gegensatz zum weißen Nationalismus (vgl. Zips 2010a: 135). Weißer Nationalismus speist sich durch rassistische Diskurse, die nicht-weiße Menschen alterisieren und diskriminieren. Schwarzer Nationalismus
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nen Propheten verehren, als zentrales Moment ihres Denkens auf. Für sie symbolisiert die alttestamentarische Verschleppung der Israelit_innen nach Babylon die Massendeportation der Schwarzen aus Afrika in die amerikanischen und karibischen Kolonien. Aus diesem Grund werden die ›westliche‹ Welt, deren weltliche und geistliche Machthaber_innen sowie als ›westlich‹ wahrgenommene Lebensweisen, wie der Konsum von Alkohol, Fleischverzehr oder auch Homosexualität, als babylonisch und sündhaft charakterisiert. Das Ende des babylonischen Exils beziehungsweise die Repatriation (dt. Rückführung) nach Afrika kann sowohl physischer als auch spiritueller Natur sein. Rastafaris haben sich einerseits in Gemeinden in Äthiopien und Ghana niedergelassen und besinnen sich andererseits spirituell und positiv auf die afrikanischen Wurzeln und die Errungenschaften afrikanischer Kultur auf Jamaika oder anderen Orten in der Schwarzen Diaspora. Rastafaris und ihre kulturellen Praktiken können als »writing-back« gesehen werden (vgl. Ashcroft, Griffiths und Tiffin 1999). Unter »writing-back«, »re-writing« und »re-mapping« versteht man das Schreiben gegen ›westliche‹ und weiße Vorstellungen, Definitionsmonopole und Kanons, die seit dem Beginn des Kolonialismus bestimmt haben, was als ästhetisch, kulturell wertvoll und ›zivilisiert‹ angesehen wurde (vgl. Bachmann-Medick 2006: 195). Rastafari leistet einen Beitrag im postkolonialen Gegendiskurs, der aus der Diasporasituation ein Afrika jenseits der im weißen Mainstream vorhandenen Bilder von HIV-Kranken, Hunger und Bürgerkrieg zum Ausdruck bringt (vgl. Zips 2010c: 22). Die Rastas artikulieren subalternes Wissen und leisten somit sowohl sozialen als auch epistemologischen Widerstand. Dieser richtet sich aufgrund ihres transnationalen, panafrikanischen Anspruchs nicht nur gegen die fortdauernde Diskriminierung von Schwarzen in einer von ›westlichem‹ Wissen dominierten jamaikanischen Gesellschaft. Er ist eine polyphone Antwort des Black Atlantic auf den fortbestehenden kolonialen Rassismus in den Amerikas, der Karibik und den ›westlichen‹ Metropolen sowie auf die neokolonialen Praktiken europäischer Staaten im afrikanischen Mutterland. Lange Zeit wurden Rastas, die sich zu ihren Anfängen im bergigen Gebiet Pinnacle und Slums wie Back-o-Wall in West-Kingston niederließen, vom Rest der jamaikanischen Gesellschaft ausgegrenzt oder gar durch die Polizei bekämpft (vgl. Thomas 2011a: 173ff). In den späten 1960er-Jahren begannen auch Intellektuelle und Heranwachsende aus der middle class sich der Rastafari-Bewegung zuzuwenden (vgl. Wynands 2000: 67). Die Akzeptanz gegenüber den Rastas stieg und mit dem
richtet sich gezielt gegen rassistische Diskriminierungen und Unterjochung Schwarzer Menschen und fungiert als Verteidigung gegenüber der weißen Vorherrschaft. Ihm liegt die Idee zugrunde, die Erfahrung von rassistischer Ausgrenzung in Solidarität umzuwandeln.
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kommerziellen Erfolg von Bob Marley entdeckte auch die jamaikanische Tourismusindustrie die Rastas und den Reggae als Vermarktungsinstrumente (vgl. Lake 1998: 140). Die Rastafaris kennzeichnet ein patriarchales, heterosexuelles Geschlechterverständnis, das sich auch teilweise in ihrem Einfluss auf die jamaikanische Musik widerspiegelt. Der jamaikanische Sozialanthropologe Chevannes weist auf die heterosexuelle und maskuline Dominanz innerhalb der Rastafari hin, indem er die Verbindung von Phallus und Dreadlocks aufzeigt (vgl. Chevannes 1998). In den 1990erund 2000er-Jahren thematisierten Rastafari-Dancehall-Deejays wie Sizzla Kalonji oder Capleton in ihren Lyrics häufig das Feuer der Apokalypse, das insbesondere Homosexuelle, aber auch ›Ungläubige‹ und andere, die von alttestamentarischen Moralvorstellungen abweichen, treffen soll (vgl. Cooper 2004a: 194). Die patriarchale Ausrichtung von Rastafari wird außerdem in den häufig vorkommenden polygamen Familienstrukturen sichtbar, die eine Form der sexuellen Kontrolle über Frauen darstellen (vgl. Lake 1998: 101). Von Rastafari-Frauen wird im Allgemeinen verlangt, ihre Dreadlocks zu bedecken. Laut Carolyn Cooper wohnt dem Weiblichen aus Sicht der Rastafari immer auch die Gefahr des Bösen inne: »Transgressive Woman, synonymous with Babylon as a whore, becomes an alluring entrapper, seducing the Rastaman from the path of righteousness« (Cooper 1994: 10). Frauen sind deswegen von einigen religiösen Ritualen ausgeschlossen oder nur als Zuschauerinnen erlaubt. Besonders während ihrer Menstruation werden Frauen als ›unrein‹ angesehen. Ferner ist ihnen der Gebrauch von Verhütungsmitteln untersagt (vgl. Chevannes 1998: 122123). In den 1970er-Jahren flossen Rastafari-Botschaften und das rhythmische Trommeln ihrer Rituale verstärkt in die jamaikanische Populärmusik ein. Bob Marleys Konversion zu Rastafari und dessen internationaler musikalischer Erfolg trugen stark zur Anziehungskraft des Reggae und der oftmals unreflektierten Aneignung von Rasta-Symbolik in den Gegenkulturen ›westlicher‹ Länder bei. Auch in der Gegenwart bestimmen Dreadlocks und Rastafari Paraphernalien häufig das Image von Reggae und Dancehall außerhalb Jamaikas (vgl. Wynands 2000: 71). In den frühen 1990er-Jahren übte eine zweite Welle von Rastafaris eine große Wirkung auf die jamaikanische Musik aus. In diesem Zeitraum, der auch »Rasta renaissance« genannt wird, eroberten Künstler wie Garnett Silk (1966-1994), Tony Rebel und Luciano die Konzertbühnen und präsentierten eine kulturelle Alternative zu den auf Gewalt fokussierten Gangster-Lyrics vieler Dancehall-Deejays (vgl. Duane, Barrow und Dalton 2001: 361; Bernard 2012: 280). Ferner konvertierten Deejays wie Pan Head (1966-1993), Buju Banton und der bereits genannte Capleton, die zuvor eher durch ihre explizit sexuellen Badman-Performances von sich reden gemacht hatten, zu Rastafari. Des Weiteren kam zusätzlicher Rastafari-Einfluss von den Künstlern Sizzla, Anthony B, Turbulence, Jah Mason, Chuck Fenda und Junior Reid, die alle dem Rastafari-Haus der Bobo Ashanti angehören, in die Dancehall (vgl. Zips
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2010c: 30). 38 Seit der Jahrtausendwende machte zudem die Rastafari-Künstlerin Queen Ifrica auf sich aufmerksam, indem sie die Probleme von Frauen in der jamaikanischen Gesellschaft, aber auch die Diskriminierung von Frauen innerhalb der Rastafaris in ihren Liedern thematisierte (vgl. Campbell 2010a: 30-31). Sie entkräftet somit Argumentationen, die Rastafari als lediglich patriarchale antikoloniale Bewegung beschreiben. Seit 2010 wird Rastafari-Reggae sowohl auf Jamaika als auch auf den internationalen Konzertbühnen von einer Reihe junger Künstler_innen repräsentiert, die transnational und teilweise an der Universität sozialisiert wurden. Ihre Botschaften brechen mit den eingefahrenen Vorstellungen vorausgegangener Rastafari-Künstler_innen und geben Rastafari-Musik eine neue sowohl globale als auch globalisierungskritische Ausrichtung. Zentrale Akteur_innen der Bewegung, die sich »Reggae Revival« nennt, sind Protoje, Kabaka Pyramid, Iba MaHr, Chronixx und Jah9, die Band No-Maddz sowie der Schriftsteller Dutty Bookman (vgl. Bookman 2011). Das Soundsystem und die Dancehall Während Bob Marley and The Wailers hauptsächlich in Nordamerika und Europa vom Publikum gefeiert wurden, hatte sich parallel dazu auf Jamaika mit den Deejays ein neues Phänomen entwickelt. Marleys und Jimmy Cliffs eher klassischer Reggae war den meisten Jamaikaner_innen wohl bekannt. Trotzdem war auf Jamaika die Musik aus der Dancehall, gespielt von großen Soundsystemen mit ihren Deejays, verbreiteter (vgl. Manuel und Marshall 2006: 451). Die wortgewaltigen jungen Männer revolutionierten nicht nur die jamaikanische Musikproduktion, sondern schufen auch die Grundlagen für die Entstehung des Hip-Hop in den USA. Letztere wurde speziell durch das musikalische Knowhow der jamaikanischen Immigrant_innen eingeleitet (vgl. Wynands 2000: 118). Seit der Plantagensklaverei hatte sich unter den Sklav_innen die Tradition herausgebildet, sich abends oder an Sonn- und christlichen Feiertagen zum gemeinsamen Tanzen und Musizieren zu versammeln. Tänze waren eine Möglichkeit, Teile der kulturellen Identitäten aus der afrikanischen Heimat während der Sklaverei aufrechtzuerhalten (vgl. Stolzoff 2000: 30). Die Tanzveranstaltungen fanden meistens im Freien auf brachliegenden Wiesen statt und legten früh das räumliche Fundament für die heutige Dancehall (vgl. Stolzoff 2000: 3). 38 Die Rastafaris teilen sich untereinander auf in unterschiedliche Glaubenshäuser. Die bekanntesten sind die Twelve Tribes of Israel, die Nyabingi und die Bobo Ashanti, die ihre Dreadlocks stets unter einem großen Turban verbergen (vgl. Lake 1998: 62). Rastafari zeichnet sich durch eine bewusste Heterogenität der Bewegung aus, die von Praktizierenden oft mehr als eine philosophische Lebenseinstellung und weniger als eine Religion begriffen wird (vgl. Zips 2010b: 8; Zips 2010c: 12).
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Unter Soundsystem wird eine speziell jamaikanische Performance von Musik verstanden. Es handelt sich dabei um eine Gruppe von Menschen, die ihre Anlage, ursprünglich bestehend aus einem oder zwei Schallplattenspielern, mittlerweile meist aus zwei CD-Spielern oder zwei Laptops, einem Verstärker und großen Lautsprechertürmen, je nach Bedarf auf- und wieder abbaut, um für ein Publikum Musik zu spielen. Soundsysteme können besonders in ihren Anfängen als »reisende Diskos« bezeichnet werden (Davis und Simon 1976: 14). Jedes Soundsystem besteht aus einer Crew, die sich neben den Personen, die sich um den Transport, Aufbau und die Soundqualität kümmern, aus mindestens einem selector oder einer selectress zusammensetzt. Letztere sind für die Auswahl und das Abspielen der Musik verantwortlich. Manche Soundsysteme beschäftigen zusätzlich einen Master of Ceremonies oder eine Mistress of Ceremonies (MC), die den dance moderieren und permanent lautstark über ein angeschlossenes Mikrofon mit dem Publikum kommunizieren. Bei einigen Soundsystemen übernimmt eine Person sowohl die Musikauswahl als auch die Kommunikation mit dem Publikum. In der jamaikanischen Dancehall-Musik wird die Person an den Turntables nicht wie in sonstigen Musikgenres DJ genannt. Ein Deejay in der Dancehall ist vielmehr vergleichbar mit den US-amerikanischen Rapper_innen und ›reitet‹ mit seinen Texten über den riddim. 39 Die Bedeutungsverschiebung stammt aus der Anfangszeit der Dancehall-Musik. Die Soundsysteme engagierten Deejays, die während der Musikselektion das Publikum mit Sprüchen, Kommentaren, Geräuschen und Reimen, die toasting genannt werden, bei Laune hielten oder neue Lieder in die Dancehall einführten (vgl. Lesser 2008: 24). Berühmte jamaikanische Soundsysteme sind unter 39 Der riddim entstand durch die Trennung von Stimmspur und Rhythmusspur. Diese Separation, die enorme Auswirkungen auf die Fortentwicklung der jamaikanischen Populärmusik hatte, fand erstmalig 1968 statt. Byron Smith, ein Toningenieur des Soundsystempioniers und Studiobesitzers King Tubby, vergaß bei einem Song für den Soundsystembesitzer Ruddy Redwood das Hinzufügen der Gesangsspur. Dieser Fehler entpuppte sich als Innovation, da das Instrumental beziehungsweise der riddim Raum für die Stimmimprovisationen der Deejays schuf (vgl. Chamberlain 2010: 22). Der jamaikanische riddim unterscheidet sich von einer herkömmlichen Instrumentalversion dadurch, dass er nicht für einen bestimmten Song komponiert wurde. Er hat seine eigene Daseinsberechtigung, unabhängig vom fertigen Lied, besitzt einen eigenen Namen, eigene Produzent_innen und Besitzer_innen (vgl. Manuel und Marshall 2006: 448). Er bildet vielmehr eine musikalische Grundlage, auf der Dancehall-Deejays, auch noch heutzutage, mit den gleichen Ausgangsbedingungen ihre verbalen Fähigkeiten unter Beweis stellen müssen. Den Begriff des ›Reitens‹ führt Werner Zips auf die Symbolik US-amerikanischer Westernfilme zurück, welche insbesondere die frühen Dancehall-Deejays bei ihrer Namenswahl und ihren kompetitiven Texten inspiriert haben (vgl. Zips 2001: 172). Mit ›riding‹ ist die Fähigkeit eines Deejays gemeint, seine gereimten Texte auf einen riddim zu rappen.
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anderem das Stone Love Movement, Bass Odyssey, Black Scorpio und Killamanjaro. Beispiele für populäre Selectoren sind und waren Ricky Trooper, Tony Matterhorn und Kevin »Squingy« Bennett (1972-2009). Die Dancehall hat dank der Soundsysteme bis heute einen nomadischen Charakter (vgl. Stanley Niaah 2010: 55). Soundsystem dances sind gekennzeichnet durch eine ritualisierte Interaktion zwischen Selector_innen, Besucher_innen, der Musik und den unterschiedlichen Tanzenden (vgl. Stanley Niaah 2010: 96). Seit jeher besteht bei vielen Songs eine Verbindung zwischen den Liedern der Sänger_innen und Deejays und speziellen Tänzen. Zum Teil rufen MCs oder Selector_innen mit ihren Ansagen und gewissen Lyrics bestimmte soziale Gruppen und Akteur_innen auf, die dann jeweils in das kreisförmige Zentrum der Dancehall treten. Besonders der Deejay Elephant Man ist berühmt für Songtitel wie »Signal di Plane« (2003), oder »Log on« (»and step pon chi chi man«) (2001), die das Publikum performativ durch Tanzbewegungen in die Lieder einbeziehen. Bei letzterem Titel manifestiert sich in der Tanzperformance sogar der antihomosexuelle Diskurs der Dancehall, in dem das Publikum dazu aufgefordert wird, auf den chi chi man zu treten. Die ersten Soundsysteme tauchten auf Jamaika bereits in den 1940er-Jahren auf. Ihre Entwicklung wurde unter anderem durch jamaikanische Chines_innen, die Technologien wie die Jukebox vertrieben, begünstigt (vgl. Stanley Niaah 2010: 68). Die Tanzveranstaltungen mit Soundsystemen bildeten den kulturellen Rahmen, in welchem Künstler_innen experimentieren konnten und dadurch die Grundlagen für die Erfindungen der Musikgenres Ska, Rocksteady, Reggae und Dancehall-Musik sowie die dazugehörigen Tanzstile schufen (vgl. Stolzoff 2000: 4). Da die Radiostationen der staatlichen Zensur unterlagen, waren es die Soundsysteme, die ohne Restriktionen die Musik spielen konnten, welche die Masse der Bevölkerung begehrte (vgl. Davis und Simon 1976: 14). In der Geschichte Jamaikas wurde Tanzmusik grundsätzlich in einer Dancehall und von einem Soundsystem gespielt, aber erst der Abkömmling des Reggae aus den 1980er-Jahren erhielt seinen Namen vom Darbietungsort der Musik. Das Tätigkeitsfeld der Dancehall-Deejays erweiterte sich rasant mit der Entwicklung des riddims. Plötzlich fingen Deejays an, selbst Lieder live zu performen. Nachdem die ersten im Studio aufgenommenen Deejay-Stücke von King Stitt (1940-2012) und insbesondere von U-Roy Hits im jamaikanischen Radio wurden, begannen die Deejays damit, die klassischen Sänger_innen aus der Dancehall zu verdrängen (vgl. Manuel und Marshall 2006: 449; Lesser 2008: 24). Im Laufe der Jahre wurden die Deejays unabhängig von den Soundsystemen oder erhielten Beziehungen zu diesen nur noch durch sogenannte dubplates aufrecht, die im folgenden Abschnitt näher erläutert werden.
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Sound clash und dubplate Von Beginn an wohnte der Soundsystemszene und damit der jamaikanischen Dancehall ein kompetitives Element inne. Frühe Soundsystembesitzer_innen waren häufig Kleinunternehmer_innen oder Barbesitzer_innen und konkurrierten um Kundschaft und Publikum. In der Zeit des R&B ging es noch darum, exklusive Schallplatten aus den USA vor anderen Soundsystembesitzer_innen in die Hände zu bekommen. Später kam es zu sogenannten sound clashes, wenn Soundsysteme aus unterschiedlichen Gemeinden oder Stadtbezirken gegeneinander antraten, um vom Publikum zum Sieger gekürt zu werden. Profilieren konnte man sich damals durch kreative Deejays und exklusive Songs. Dem Hang des Publikums nach sogenannten specials und exklusiver Musik ist die Entwicklung des dubplates zu verdanken. Dabei handelt es sich um eigens für ein Soundsystem von Deejays oder Sänger_innen angefertigte Wiederaufnahmen eines berühmten Stückes, das auf einem riddim aufgenommen wird und mit abgewandelten Lyrics das jeweilige Soundsystem anpreist (vgl. Chamberlain 2010: 20). Die Sprache der dubplates ist aggressiv und unterstreicht oft die Maskulinität des jeweiligen Selectors beziehungsweise der jeweiligen Soundsysteme. Die Künstler_innen bedienen sich beim Aufnehmen der dubplates der unterschiedlichsten Metaphern, um die Überlegenheit und teilweise den gewaltsamen Tod der Kontrahent_innen zu schildern. In der Sprache der Dancehall schlug sich dies als sound killing nieder. Die Funktion und Bedeutung von dubplates haben durch die Transnationalisierung und kulturelle Adaption der Dancehall-Musik einige Veränderungen erfahren. Veranschaulichten dubplates ursprünglich auf Jamaika die Beziehung zwischen Soundsystem, Deejay und Gemeinschaft, spielen die Spezialanfertigungen bei der Adaption von Reggae und Dancehall außerhalb Jamaikas eine wichtige Rolle in der Performanz von ›Authentizität‹. So kommen beispielsweise Soundsysteme aus Deutschland, Italien oder Japan nach Jamaika, um dort dubplates von Künstler_innen aufzunehmen, die ihnen zu Hause wiederum ›Authentizität‹ und damit verbundene Anerkennung vor einem subkulturellen, nicht-jamaikanischen Publikum verschaffen (vgl. Sterling 2010: 67). Für jamaikanische Künstler_innen ist der informelle Dubplate-Markt wiederum eine willkommene steuerfreie Einnahmequelle in Zeiten sinkender Musikverkaufszahlen. 40 Joshua Chamberlain fasst die Funktion von dubplates wie folgt zusammen:
40 Der Jamaica Gleaner berichtet, dass die Preise für dubplates im Jahr 2013 je nach Popularität der Künstler_innen zwischen 100 und 1.000 US-Dollar variierten (vgl. Henry 2013a). Trotzdem beklagte der Deejay Ninja Man die im Dubplate-Geschäft herrschenden Zustände und den Preisverfall der Unikate. Früher habe er sich mit dem Geld von sieben dubplates ein Auto leisten können. Das sei nun nicht mehr möglich: »Mi memba when you
78 | D ANCEHALL UND H OMOPHOBIE From Jamaica’s Ranking Toyan to Japan’s Mighty Crown, dubplates have employed a familiar mix of inputs – exclusivity, bigging up, comedy, drama, and so on. As modern-day praisesongs, they complete the community and reconfirm the connection between audience and performer (vgl. Chamberlain 2010: 28).
Auch die anfangs noch zu den Soundsystemen gehörenden Deejays stehen untereinander im Wettbewerb und liefern sich auch heute, nachdem sich ihre Verbindungen zu den jeweiligen Soundsystemen aufgelöst haben, verbale Scharmützel auf Konzertbühnen. Diese Form der Auseinandersetzung findet sowohl zwischen Künstlern als auch Künstlerinnen und untereinander statt. Die Deejays verwenden dabei häufig vulgäre Schimpfwörter und gewaltsame Ausdrücke und versuchen durch Wortspiele, die Heterosexualität ihrer Antagonist_innen in Frage zu stellen. Höhepunkt der verbalen Hahnenkämpfe ist das Sting Festival, das seit 1983 jedes Jahr am 26. Dezember auf Jamaika stattfindet und eine wichtige Rolle bei der medialen Repräsentation von Dancehall-Kultur auf Jamaika spielt. 41
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Zu Beginn der 1980er-Jahre vollzog sich auf Jamaika ein Bruch mit dem Reggae und seinen panafrikanistischen Vorstellungen. Im Kontext zunehmender politischer Gewalt, Verarmung und gleichzeitigen technischen Innovationen in der Musikproduktion entwickelte sich ein neuer Musikstil, der seinen Namen vom Ort des Geschehens, an dem er gespielt wurde, erhielt, der Dancehall. 42 cudda get good money fi dubs. Mi use to can do seven dub and buy a car, nowadays dat nah gwaan« (vgl. Henry 2013a). 41 Berühmte clashes zwischen Deejays waren die Fehden zwischen Vybz Kartel und Mavado, zwischen Bounty Killer und Beenie Man oder zwischen Ninja Man und Shabba Ranks (vgl. Stanley Niaah 2010: 103). Verbale Auseinandersetzungen finden aber nicht nur zwischen männlichen Deejays statt. Die aggressiv und lautstark ausgetragenen Rivalitäten existieren auch zwischen Lady Saw, Macka Diamond und Spice. So unterlag auf dem Sting Festival im Dezember 2013 Macka Diamond in einem verbalen Schlagabtausch gegenüber ihrer Kontrahentin Lady Saw. 42 Pionierstatus wird häufig dem Song »Under Mi Sleng Teng« (1985) von Wayne Smith (1965-2014) zugesprochen. Der von King Jammy in Waterhouse produzierte, dazugehörige riddim wurde erstmalig komplett mittels eines Keyboards eingespielt und läutete das digitale Zeitalter der Dancehall-Musik ein (vgl. Manuel und Marshall 2006: 452). Für einige Zeit wurde das neue Genre und seine digitalen Produktionen auch Ragga genannt, ein Terminus, der aber heute kaum noch verwendet wird (vgl. Duane, Barrow und Dalton 2001: 305; Karnik und Philipps 2007: 74).
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Das Phänomen Dancehall, das häufig auch Dancehall-Kultur genannt wird, lässt sich in fünf Hauptteile untergliedern: 1.
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Die Dancehall als der eigentliche geographische Raum, an dem DancehallMusik abgespielt oder performt wird. Meist dreht es sich dabei um eine brachliegende urbane Fläche, eine Straße, einen Parkplatz oder eine Wiese, die mittels Soundsystem vorübergehend zu einem »dancehall performance space« wird (Stanley Niaah 2010: 53). Die Dancehall als sozialer und relationaler Raum, der durch die unterschiedlichen »sozialen Positionen« der beteiligten Akteur_innen konstruiert wird (Bourdieu 2006: 356 [Herv. i.O.]). Auch wenn die Dancehall als geographisches Phänomen existiert, ist der soziale Raum der DancehallKultur empirisch nicht greifbar und geht weit über den konkreten Platz des Tanzens hinaus. Dancehall-Kultur findet auch im Sport, im Film, im Reality-TV, in sozialen Netzwerken, im öffentlichen Nahverkehr oder bei Modeschauen statt. Laut Bourdieu ist ein sozialer Raum geprägt von Klassenunterschieden (vgl. Bourdieu 2006: 365). Zusätzlich zu Klassenunterschieden sollten beim Phänomen der Dancehall noch die Komponenten race, Sexualität, Gender und Nation hinzugezogen werden, die jeweils zur Konstruktion von unterschiedlichen sozialen Positionen und räumlichen Differenzen beitragen (vgl. Bourdieu 2006: 358). So lässt sich zum Beispiel die hegemoniale Position von heterosexuellen Männern in der Dancehall nur in der Relation zur Position von Frauen oder sexuellen Minderheiten darstellen. Die Akteur_innen: Zu ihnen zählen die männlichen und weiblichen Deejays, Sänger_innen, die Tänzer_innen mit ihren Crews, Produzent_innen, Soundsystembetreiber_innen, Selector_innen, MCs, Songwriter_innen und die unterschiedlichen Besucher_innen von Dancehall-Events. 43 Die Tanzperformances: Wie es schon im Name des Musikgenres anklingt, ist Dancehall-Musik auf die tänzerische Partizipation der Besucher_innen beim dance ausgelegt. Häufig werden Songs gemeinsam mit Tänzen konzipiert oder Tänzer_innen entwerfen in Crews Tänze, die zu den jeweiligen Songs in der Dancehall aufgeführt werden (vgl. Stanley Niaah 2010: 120). 44
43 Für eine ausführlichere Darstellung der Akteur_innen in der jamaikanischen DancehallKultur sowie eine Typisierung unterschiedlicher Deejays siehe Donna Hopes Buch Inna di Dancehall (vgl. Hope 2006a: 27ff). 44 Eine ausführliche Liste zahlreicher jamaikanischer Dancehall-Tänze von 1986 bis 2009 findet sich in Sonja Stanley Niaahs Buch Dancehall. From Slaveship to Ghetto (vgl. Stanley Niaah 2010: 143-144).
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Zeitweise berühmte Tänze waren zum Beispiel Bogle, Sesame Street, Thunder Clap, Signal di Plane, Log On oder No Linga, den der jamaikanische Spitzensprinter Usain Bolt nach seinem Weltrekord über 100-Meter bei den Olympischen Spielen in Peking 2008 aufführte (vgl. Manuel, Bilby und Largey 2006: 205; Stanley Niaah 2010: 33). Ein wichtiger Bestandteil der Dancehall-Kultur sind zudem die Dancehall Queen-Wettbewerbe 45, bei denen Tänzer_innen ihr Können in einem Wettkampf, der aus einer Mischung von erotischen Tanzperformances, Akrobatik und Modeschau besteht, beweisen müssen (vgl. Stanley Niaah 2010: 138). Die Dancehall-Musik, zu der neben den Lyrics der Künstler_innen auch die von Musiker_innen eingespielten oder digital erstellten unterschiedlichen riddims gehören. 46
Die Dancehall-Musik kam, wie bereits ihr Vorgänger Reggae, aus den ›Ghettos‹ der jamaikanischen Hauptstadt Kingston. Im Fokus des neuen Musikstils stand aber nicht mehr die globale, antikoloniale Idee einer Befreiung der Schwarzen Massen von Diskriminierung und Unterdrückung oder die Rückkehr nach Afrika, sondern die Lebensrealität der ›Ghettobewohner_innen‹ (vgl. Chude-Sokei 1994: 80). Anstelle der durch Rastafari beeinflussten Ausrichtung des Reggae auf Äthiopien rückten in der Dancehall-Musik primär marginalisierte Communitys in Kingston, aber auch die karibischer Migrant_innen in New York und London ins Zentrum (vgl. Chude-Sokei 1994: 81). Der geographische Paradigmenwechsel, der im Übergang vom Reggae zur modernen Dancehall-Musik stattfand, schlug sich auch sprachlich nieder. Waren viele Reggae-Songs, wegen der Ausrichtung auf das internationale Publikum, in Standardenglisch oder lediglich mit einer Patwah-Einfärbung aufgenommen worden, bedienten sich die Dancehall-Deejays explizit dem jamaikanischen Patwah, der Sprache der jamaikanischen lower class, deren Alltag in den ›Ghettos‹ und garrisons in den Lyrics thematisiert wurde (vgl. Manuel, Bilby und Largey 2006: 213).
45 Dancehall-Queens sind im Gegensatz zu Stripper_innen und GoGo-Tänzer_innen keine Sexarbeiter_innen. Bei ihren Performances steht in erster Linie ein weibliches Empowerment im Mittelpunkt. 46 Carolyn Cooper unterteilt Dancehall-Lyrics in fünf Oberkategorien: »(1) songs that celebrate DJing itself; (2) dance songs that vigorously invite participants to wain an push iin; (3) songs of social commentary on a variety of issues, for example ghetto violence and hunger; (4) songs that focus on sexual / gender relations – by far the largest number in the sample […] (5) songs which directly confront the Slackness / Culture dialectic« (Cooper 1994: 142f [Herv. i.O.]).
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Das jamaikanische Patwah Carolyn Cooper verdeutlicht, inwiefern das jamaikanische Patwah Teil der Auseinandersetzung zwischen ›Hochkultur‹ und Populärkultur ist, die sowohl in der Dancehall selbst als auch in den medialen Diskursen über Dancehall-Musik ausgefochten wird: »The Slackness / Culture dialectic also has a precisely linguistic character. Jamaican, the language of popular culture, is the inferiorised language of performance, not the preferred of academic discourse« (Cooper 1994: 11). Die meisten Jamaikaner_innen wachsen zweisprachig auf. Ihre Muttersprache ist Patwah, zu dem je nach sozialem Status und Bildungsgrad die Fähigkeit hinzukommt, Standardenglisch zu sprechen (vgl. Senior 2003: 273). Das Standardenglisch der ehemaligen britischen Kolonialmacht ist bis heute die einzige offizielle Sprache auf Jamaika. Es fungiert in der postkolonialen jamaikanischen Gesellschaft nicht nur als Schriftsprache, sondern zusätzlich als Marker für sozialen Status und class. Auch wenn im Grunde alle Jamaikaner_innen Patwah sprechen, grenzen sich die gesellschaftlich höheren classes bewusst durch den Gebrauch von Standardenglisch von einer lediglich Patwah oder Patwah-Englisch-Mischformen beherrschenden lower class ab. Patwah wird aber häufig nicht nur von der upper class, sondern auch von vielen Angehörigen der working class pejorativ »broken English« genannt. Historisch reicht die Entstehungsgeschichte des jamaikanischen Patwah in die Zeit der Plantagensklaverei zurück. Die aus unterschiedlichen Regionen Westafrikas verschleppten Sklav_innen hatten anfangs keine gemeinsame Sprache, weshalb sich über die Jahre ein kreolisiertes Sprachsystem entwickelte, das sich aus Elementen präkolumbianischer Sprachen, dem Spanisch und Englisch der Sklavenhalter_innen und unterschiedlichen westafrikanischen Sprachen zusammensetzte und im Laufe der Zeit eine eigene Syntax und Grammatik hervorbrachte (vgl. Zahl 2002: 140; Krause 2009). Erweitert wurde der Wortschatz des Patwah durch die Rastafari, die mit eigenen Wörtern bewusst englische Begriffe substituieren oder deren ursprüngliche Schreibweise umwandeln, womit sie versuchen die unterdrückerische Macht Babylons auf sprachlicher Ebene zu unterminieren (vgl. Cooper 1994: 9). Der »Rastatalk« verkörpert vor allem die subversive Komponente des Patwah und zog durch Rastafari-Künstler_innen, wie beispielsweise Peter Tosh (1944-1987), ebenfalls in die Reggae- und Dancehall-Musik ein (Mackie 2005: 52). Da Patwah im Gegensatz zu schriftlichen Sprachen nicht kanonisiert ist, bleibt es offener für unterschiedliche Einflüsse. Einer davon ist die Dancehall-Kultur, die durch ihre Slangs den allgemeinen Sprachgebrauch vieler Jamaikaner_innen mitgestaltet. Nicht selten gehen zum Beispiel Phrasen und Ausdrücke aus erfolgreichen Dancehall-Hits für kurze oder auch
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längere Zeit in den alltäglichen Sprachgebrauch der Jamaikaner_innen über. Beispiele dafür sind Wörter wie browning 47 (Banton 1991b), chi chi man (T.O.K. 2001), eine verunglimpfende Bezeichnung für männliche Homosexuelle, oder Phrasen zur positiven Beschreibung wie etwa »A yah so nice« (Potential Kidd 2012) und »It’s a good look« (Popcaan 2012). Eine Aufwertung hat Patwah durch seine Verwendung in kulturellen Produktionen, insbesondere durch seinen Gebrauch in der Dancehall-Musik sowie Literatur und Poesie, erfahren. Ein Beispiel für die Verschmelzung beider Genres ist der vom Verlag als »Dancehall’s FIRST OFFICIAL Novel« bezeichnete Roman Bun Him!!! (2007) der Interpretin Macka Diamond. Im Buch wird mittels Patwah eine Verbindung zwischen Literatur und Populärkultur hergestellt, indem Dancehall-Lyrics unterschiedlicher Interpret_innen in den Erzähltext einfließen und zahlreiche Dialoge der Protagonist_innen in einem von der Autorin verschriftlichten Patwah stattfinden (vgl. Diamond 2007: 37). Auch im Roman Love Triangle (2012) von D’Angel, einer weiteren Dancehall-Künstlerin, taucht Patwah auf. Es wird aber deutlich als Markierung für die niedrige soziale Herkunft der Sprecher_innen verwendet und von der Protagonistin des Romans als »native broken dialect« bezeichnet (D’Angel 2012: 88). Der Roman von D’Angel veranschaulicht, inwiefern bei der Konstruktion von Weiblichkeit der Konflikt zwischen britischem Englisch und jamaikanischem Patwah eine wichtige Rolle spielt. Respektable Frauen, die britisches Englisch sprechen, werden als ladies bezeichnet. Dementsprechend sind sie in der upper und middle class verortet. Schwarze Frauen aus der working class, die Patwah sprechen, werden hingegen mit dem weniger respektablen Begriff women benannt (vgl. Ulysse 1999: 151). Insbesondere Akademiker_innen der University of the West Indies setzen sich dafür ein, Patwah als eine eigene, vollwertige Sprache anzuerkennen, die über einen 47 Der Ausdruck browning entstand auf Jamaika in den 1980er-Jahren. Er bezieht sich auf das Schönheitsideal der ›braunen‹ Frau (vgl. Mohammed 2000: 34). Der Ausdruck wurde in der Dancehall-Musik insbesondere durch Buju Bantons Song »Love Mi Browning« (1991) geprägt, in dem er einer als browning beschriebenen Frau seine Liebe gesteht: »Mi love mi car, mi love mi bike, mi love mi money and ting / But most of all, mi love mi browning« (Banton 1991b). Aufgrund der Empörung, die der Song unter Schwarzen Frauen auslöste, nahm Banton kurze Zeit später den Song »Love Black Woman« auf, der aber dem sexuelle Begehren, das er für die browning verspürte, lediglich »Respekt« für die Schwarze Frau entgegenbringt (vgl. Mohammed 2000: 36): »Mi nuh stop cry fi all black woman / Respect all di gal with dark complexion / Whole heap a tings a gwaan for onu complexion / Black is beauty, onu colour is one inna million / Have it from birth, a natural suntan, smooth like a lotion / Take care of your complexion / Don’t get me wrong, mi respect black woman« (Banton 1991a).
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lediglich oralen Charakter hinausgeht: »English was the language of literacy; Jamaican the voice of orality« (Cooper 1994: 82). Diese von Carolyn Cooper aufgezeigte Dichotomie und die damit verbundene Dominanz des Standardenglisch wird von den Wissenschaftler_innen bewusst durch eine Verschriftlichung und die Verwendung von Bezeichnungen wie »Jamaican« (Cooper 1994: 13 [Herv. i.O.]) oder »Jamiekan« (vgl. The Jamaican Language Unit 2009) anstelle von Patwah oder jamaikanischem Kreol in Frage gestellt. Die Initiativen von Intellektuellen aus der middle class für die Aufwertung von Patwah sind verknüpft mit dem Einsatz für die generelle Aufwertung von Schwarzer urbaner Populärkultur. Die Politik trägt institutionell Früchte in der Arbeit von Carolyn Cooper, die die Reggae Studies Unit gründete (vgl. Cooper 2012) und in den Recherchen des Institute for Caribbean Studies an der University of the West Indies. Beide Einrichtungen erklären urbane Schwarze Kultur zu einem legitimen Forschungsgegenstand. Derartige Entwicklungen in der middle class tragen ebenfalls zu einer Veränderung von kultureller jamaikanischer Identität bei. Im Zentrum dieser stehen spätestens seit den 1990er-Jahren immer mehr das Schwarzsein und kulturelle Schwarze Praktiken aus der unteren working class, wie das Sprechen von Patwah, Dancehall-Musik und Rastafari, die jahrzehntelange von der kulturellen Identität ausgeschlossen wurden, welche die upper und middle class bestimmte. Der Charakter der Dancehall – »Border Clash« und border crossing Die Dancehall-Künstler_innen rückten Themen wie Gewalt, Armut, Drogen, Kriminalität explizite Heterosexualität sowie eine aggressive Ablehnung von Homosexualität ins Zentrum ihrer Texte. Dies vollzieht sich bis heute primär aus der Perspektive männlicher Angehöriger der Schwarzen working class. Sie sind in der postkolonialen jamaikanischen Gesellschaft marginalisiert, weshalb Dancehall-Musik eine wichtige Artikulationsfunktion für sie einnimmt: For downtown people, especially the youth, the dancehall provides a medium through which the masses are able to ideologically challenge the hegemony of the ruling classes and state apparatuses. Dancehall is thus a marker of charged cultural border between people of different races and class levels (Stolzoff 2000: 6).
Die Botschaften in der Dancehall sind bis heute geprägt durch ein permanentes Wechselspiel von Subversion und Affirmation gesellschaftlicher Normen und Moralvorstellungen, mit dem sie insbesondere bei der upper und middle class Jamaikas auf Widerstand stoßen. Auf der einen Seite birgt die Dancehall-Kultur ein unbändiges, aufmüpfiges Element. Auf der anderen Seite stellt sie eine Institution dar, die
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festen Regeln, Ritualen und Verhaltenscodes unterliegt (vgl. Stanley Niaah 2004: 110). Die Verherrlichung des Marihuana-Konsums, nächtliche Lärmbelästigungen, gewaltverherrlichende Lyrics und von der upper und middle class als vulgär aufgefasste Performances werden von der Polizei seit den 1960er-Jahren als Legitimation für Razzien bei dances oder die Zensur von Lyrics herangezogen (vgl. Stanley Niaah 2010: 63). Carolyn Cooper betont den konfrontativen Charakter der Dancehall-Kultur, indem sie eine Anzahl von »border clashes« auflistet, die ihrer Meinung nach in der Dancehall ausgefochten werden. Viele dieser Konflikte lassen sich wiederum auf die Auseinandersetzung zwischen dem respektablen Out of Many, One People-Staat und der sowohl urbanen als auch transnationalen Blackness übertragen: 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8. 9.
Jamaikanisches Patwah versus Standardenglisch ›Ghetto‹ versus uptown Reggae versus Dancehall Politiker_innen versus ghetto youth Schwarze Frauen versus browning Rastafari versus Christentum Bobo Ashanti versus andere Rastafari-Kongregationen Heterosexualität versus Homosexualität Jamaikanische Werte versus ›ausländische‹ Werte (vgl. Cooper 2004a: 41,47).
Aufgrund der inhärenten Widersprüchlichkeit der Dancehall-Kultur, ihrer Polyphonie, ihren transkulturellen Einflüssen, besonders aus Nordamerika, und den permanenten Transgressionen, die Dancehall-Künstler_innen begehen, kann zu Coopers »border clash«-Konzept border crossing als zweites wesentliches Charakteristikum hinzugefügt werden. Border crossing kann sowohl räumlich als auch normativ verstanden werden. Beispielhaft dafür ist, dass Dancehall-Künstler, wie Vybz Kartel (Adidja Palmer) im Jahr 2011, Vorträge an der University of the West Indies 48 halten, die gesellschaftlich primär für die Bewohner_innen der uptown reserviert sind, oder Dancehall-Tänzer sich weiblich konnotierte Styles aneignen und damit herkömmlichen Vorstellungen von heterosexueller Maskulinität widersprechen. Ferner stellt auch der seit einigen Jahren in den Lyrics auftauchende positive Bezug zu auf Jamaika tabuisierten Praktiken wie Oralsex, Gruppensex oder skin bleaching (vgl. 48 Am 10. März 2011 hielt der kontroverse Dancehall-Deejay Vybz Kartel auf Einladung von Carolyn Cooper einen Vortrag an der University of the West Indies. Die Rede löste innerhalb der jamaikanischen Gesellschaft eine heiße Debatte aus. Im Zentrum der öffentlichen Auseinandersetzung lagen die Streitpunkte, wie sich akademisches Wissen und Kultur im frühen 21. Jahrhundert auf Jamaika auszeichnet und ob Dancehall-Kultur ein Teil davon ist oder nicht (vgl. Vybz Kartel 2012a: 24ff).
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Brown-Glaude 2007; Hope 2011a) vielmehr eine Bestätigung der Grenzüberschreitung als lediglich einen Grenzkonflikt dar und verstärkt somit die These des border crossing. Neben dem transgressiven, provokativen und konfrontativen Charakter zeichnet sich die moderne Dancehall-Musik durch ihre Multidimensionalität aus: Dancehall is space, culture, attitude, fashion, dance, life / style, economic tool, institution, stage, social mirror, language, ritual, social movement, profile, profession, brand name, community and tool of articulation for, especially, inner-city dwellers (Stanley Niaah 2010: 3).
Da Dancehall-Musik als Ausdrucksmedium für die sozialen Realitäten der Menschen aus den ›Ghettos‹ dient, finden seit den Anfängen des Genres auch die extralegalen Machtstrukturen der jamaikanischen Gesellschaft ihren Platz nicht nur in den Lyrics der Künstler_innen, sondern auch im generellen Gewerbe der Dancehall. Die Auseinandersetzungen zwischen rivalisierenden dons, Gangs und Anhänger_innen politischer Parteien sind seit jeher in Dancehall-Lyrics vorzufinden. Die dons und area leader, die sich später durch Aktivitäten im transnationalen Drogenhandel teilweise von den politischen Parteien emanzipieren konnten, unterstützten die Dancehall-Musik unter anderem als Veranstalter von Events in ihren garrisons und Stadtbezirken von Beginn an (vgl. Howard 2010: 10). Dancehall spielt bis heute eine unterstützende Rolle bei der Legitimation und Machtdemonstration der dons (vgl. Jaffe 2012: 97). Die Verflechtung von donmanship und Dancehall zeigte sich beispielsweise in Tivoli Gardens, das bis 2010 vom gefürchteten don Christopher »Dudus« Coke regiert wurde. Am Rand der JLP-garrison fand einmal die Woche unter dessen Obhut der Street Dance Passa Passa statt, der von Jamaikaner_innen aller classes sowie zahlreichen internationalen Tourist_innen besucht wurde und eine wichtige Einnahmequelle für die Gemeinde darstellte. Donmanship und Dancehall verbinden sich darüber hinaus, wenn in Innenstadtbezirken und Gemeinden auf dem Land memorial dances gefeiert werden, die einem einflussreichen don oder badman (Gangster) auch post mortem die Ehre erweisen sollen und Teil des kollektiven Gedächtnisses einer Gemeinschaft sind (vgl. Stanley Niaah 2010: 100). Zum Dank für ihre Beiträge gegenüber der Dancehall-Kultur, aber ebenfalls aufgrund hierarchisierter Loyalitäts- und Klientelbeziehungen, werden verstorbene und noch lebende dons bis heute von Soundsystemen und Entertainer_innen durch ritualisierte Respektbekundungen, den big-ups, gepriesen und in Lyrics gefeiert. In der Geschichte der jamaikanischen Musik konnten Soundsysteme, besonders die aus den garrisons, oft den jeweiligen politischen Parteien zugeordnet werden. Sie und die aus der jeweiligen Gemeinde stammenden Deejays und Entertainer_innen verdanken ihre Karriere häufig überhaupt erst der Patronage des ansässigen dons (vgl. Howard 2010: 11)
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Die Omnipräsenz von dons und Gangster_innen in den Dancehall-Lyrics führt dazu, dass aggressive und extralegal agierende Männer als die dominanten Rollenmodelle für Heranwachsende in armen innerstädtischen Kommunen wahrgenommen werden. 49 Gewaltbereitschaft, Furchtlosigkeit und Härte sind deshalb wichtige Bestandteile des hegemonialen Maskulinitätsdiskurses nicht nur in der Dancehall, sondern auch in der jamaikanischen Gesellschaft generell (vgl. Hope 2010: 65). Die Transnationalität von Reggae und Dancehall Dancehall-Musik entwirft sowohl in der Diaspora als auch auf Jamaika stets einen transnationalen Raum, in dem wichtige soziale und geschlechtsspezifische Prozesse ausgehandelt werden (Noble 2008: 107). 50 Ferner formt Dancehall-Kultur einen »gegenkulturellen Raum« (Thomas 2004a: 7), in dem nicht nur gängige Vorstellungen und Normen der jamaikanischen upper und middle class herausgefordert werden, sondern auch die Grenzen zwischen Diaspora und Herkunftsland neu ausformuliert werden. Auf Jamaika fungiert Dancehall-Kultur als ein Instrument, um einen populärkulturellen Gegenentwurf zur Nations-Definition der jamaikanischen middle class zu etablieren. Dabei wird Nationalität sexuell und mit positivem Bezug zur Blackness definiert (vgl. Pinnock 2007: 53). In der jamaikanischen Diaspora rücken innerjamaikanische Hierarchisierungsprozesse in den Hintergrund. Stattdessen spielt die Musik eine wichtige Rolle bei der Konstruktion einer genuin karibischen beziehungsweise jamaikanischen Identität, die wiederum als Schutzmechanismus gegen das gesellschaftliche Abseitsstehen und rassistische Diskriminierung fungiert (vgl. Davis 2006: 24). Zudem werden patriarchale Rollenmuster in den Schwarzen Communitys hinterfragt und, wie in dem in Großbritannien entstandenen Genre Lovers’ Rock, ein Raum für Schwarze Intimität und Erotik geschaffen, die in der rassistischen britischen Gesellschaft entweder unsichtbar war oder exotisiert wurde (vgl. Palmer 2012: 266). 51
49 Siehe Kapitel Der Diskurs gegen Dancehall. 50 Zum »transnationalen Sozialraum« (Pries 2010: 30) wird die Dancehall durch ihren Einfluss auf Jamaikaner_innen und internationale Fans, aber auch durch Einflüsse und Aktivitäten von Akteur_innen außerhalb des jamaikanischen Nationalstaats, die wiederum das Geschehen auf der Insel beeinflussen. 51 In ihrem Aufsatz »›LADIES A YOUR TIME NOW!‹: Erotic Politics, Lovers’ Rock and Restistance in the UK« veranschaulicht Lisa A. Palmer, inwiefern Lover’s Rock aufgrund der »Feminisierung von erotischer Liebe« irrtümlich außerhalb der für die Schwarze Diaspora wichtigen politischen Genres wie Reggae und Dancehall platziert wurde (Palmer 2012: 277).
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In der Diasporasituation wird Dancehall-Musik zum Marker für eine kulturelle jamaikanische Identität (vgl. Wagstaffe 2006: 1). Diese ist keinesfalls deckungsgleich mit den Grenzen von Nationalstaaten oder nationaler Staatsbürgerschaft. Lyrics und Performances verkörpern für viele jamaikanische Migrant_innen die moralischen Werte der zurückgelassenen Heimat. In den Texten steckt deshalb für viele jamaikanische Hörer_innen ein Stück Widerstand gegen die vermeintliche »Korruption des westlichen Materialismus« (Davis 2006: 24), mit dem sie sich in den USA, in Kanada und im Vereinigten Königreich konfrontiert sehen. Dessen Ablehnung scheint aber nicht im Widerspruch mit dem selektiven Zelebrieren von Geld, Konsum und Materialismus innerhalb der Dancehall-Kultur auf Jamaika zu stehen. 52 Inhalte und Botschaften der Musik helfen den yardies bei der Herausbildung einer spezifischen jamaikanischen Diaspora-Identität. 53 Dabei unterstützten sie Jamaikaner_innen auch darin, sich von kulturellen Begebenheiten, die als nicht-jamaikanisch wahrgenommen werden und mit denen sie in der Diaspora konfrontiert werden, abzugrenzen (vgl. Wagstaffe 2006: 102). Innerjamaikanische Widersprüche werden in der Diaspora oftmals aus Identitätsgründen ausgeblendet. So zum Beispiel die Tatsache, dass die Musikgenres Reggae und Dancehall auf Jamaika permanenter Kritik unterworfen waren und sind. Die Partizipation in der Dancehall, das Hören der Texte und Konzertbesuche ermöglichen den Jamaikaner_innen im Ausland das Gefühl, auch in physischer Abwesenheit noch Teil des sozialen und politischen Geschehens auf der Insel zu sein (vgl. Wagstaffe 2006: 4). Verstärkt wird das dadurch, dass Dancehall-Clubs und Events in den USA dieselben Namen und Bezeichnungen tragen wie auf Jamaika (vgl. Wagstaffe 2006: 92). Ferner finden Veranstaltungen wie der World Clash, ein Wettkampf internationaler und jamaikanischer Soundsysteme sowohl auf Jamaika als auch unter demselben Namen in Brooklyn statt. Link-Up-Dances, transnational organisierte Tanzveranstaltungen mit Soundsystemen, sind eine weitere performative Verkörperung der Verbindung zwischen Insel und Diaspora auf der DancehallBühne. Sie werden von transnationalen Akteur_innen auf Jamaika, in den USA, Kanada und Großbritannien organisiert und bringen Weggezogene, Rückkehrer_innen und Daheimgebliebene an unterschiedlichen Orten der Welt zusammen (vgl. Hope 2004a: 110).
52 Siehe Kapitel Die Geschlechterbilder in der Dancehall. 53 Beispiele für Lieder, die eine jamaikanische Diaspora-Identität zelebrieren, sind unter anderem »Call Mi A Yardie« (2012) von Stylo G oder »Badd« (2013) von Stylo G und Sister Nancy. In »Badd« präsentiert sich der Deejay explizit als »lyrical badman from London«, der in direkter Kontinuität mit jamaikanischen Dancehall-Deejays, wie beispielsweise dem »Don Dada« Super Cat, steht (Stylo G feat. Sister Nancy 2013).
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Ebenso machen sich transnationale Elemente in den Texten vieler DancehallKünstler_innen bemerkbar. Neben jamaikanischen Städten und Stadteilen werden in den Lyrics auch jamaikanische Gemeinden in Übersee angesprochen. Des Weiteren enthält die moderne Dancehall-Musik zahlreiche Einflüsse der globalen Populärkultur. So flossen Rollenbilder aus Western- und Ninja-Filmen, die martialische Männlichkeit verkörpern und viele ärmere Jamaikaner_innen aus den Kinos kannten, in Texte und Namensgebung der Dancehall-Künstler_innen ein (vgl. Zips 2008: 304). 54 Die Mode der Dancehall und das Empfinden für äußerliche Schönheit sind gekennzeichnet von kulturübergreifenden Einwirkungen und sich gegenseitig bedingenden transnationalen Informations-, Bilder- und Güterflüssen. Insbesondere die Outfits der Künstler_innen und Tänzer_innen symbolisieren auf der Ebene der Mode den hybriden Charakter des Phänomens Dancehall (vgl. Bakare-Yusuf 2006b: 18). Eine besonders große Inspirationsquelle für jamaikanische Populärkultur stellt die US-amerikanische Hip-Hop-Szene dar. Sie hinterlässt sowohl in Songtexten als auch bei den Outfits der Künstler_innen und Tänzer_innen deutliche Spuren in der jamaikanischen Dancehall (vgl. Marshall 2006: 61). Speziell die afroamerikanische Hip-Hop-Ikone Tupac Shakur (1971-1996) beeinflusst neuere Generationen von Dancehall-Deejays durch Lyrics, Performance und Ästhetik. Dies wird vor allem bei jüngeren Künstlern, wie Vybz Kartel deutlich, der sich auf seinen Körper die »Thug Life«-Tätowierung des ermordeten US-Rappers stechen ließ (vgl. Vybz Kartel 2012a: 27). Das transkulturelle Austauschgefüge zeigt, dass es sich nicht nur bei den frühen Dancehall-Rude Boys um einen Hybrid handelte (vgl. Zips 2008: 324). Auch kontemporäre Dancehall-Künstler (re-)produzieren Diskurse, die ihre Basis im transkulturellen Geflechte des Black Atlantic haben. Die globale Verbreitung jamaikanischer Populärmusik Reggae- und Dancehall-Musik erfreuen sich nicht nur auf Jamaika oder in der Karibik großer Beliebtheit, sondern sind spätestens seit dem internationalen Erfolg von Bob Marley and The Wailers Musikgenres mit einer weltweiten Fangemeinde. Die Verbreitung jamaikanischer Populärkultur lässt sich in fünf wesentliche Faktoren aufgliedern, die im Folgenden aus Gründen der Übersichtlichkeit getrennt dargestellt werden, in Realität aber ebenfalls von Verflechtungen durchzogen sind.
54 Vor der Entstehung großer Festivals waren Kinos, wie das Carib Cinema in Kingston, die Bühnen für Reggae-Künstler_innen. Diese räumliche Verbindung von Musiker_innen auf der Bühne und internationalen Filmheld_innen auf der Leinwand vereinfachte den Übergang der Filmstars vom Zelluloid in die Namensauswahl in der Dancehall (vgl. TaylorJohnston 2010: 8, 15).
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Erstens spielte die Vermarktung von Jamaikaner_innen als internationale PopGrößen, häufig ausgehend von marktführenden nordamerikanischen Musiklabels, eine große Rolle. Da große Musiklabels im Management und bei der Promotion von Künstler_innen über mehr Finanzmittel und Optionen verfügen, beeinflussen sie letztendlich, wer international bekannt wird und somit gehört und gekauft wird. Außerdem üben Manager_innen und Promoter_innen in den USA und Großbritannien einen großen Einfluss auf die Selbstdarstellung der Künstler_innen aus. Künstler_innen aus Jamaika, wie zum Beispiel im frühen 21. Jahrhundert der Superstar Sean Paul oder Tessanne Chin, wurden meist erst berühmt, nachdem sie die Insel in Richtung der Metropolen des Nordens verlassen hatten, um dort den für weiße Märkte notwendigen Schliff zu erfahren. Dabei geht es den Künstler_innen nicht anders als der karibischen Zuckermelasse, aus der erst im Ausland Rum hergestellt wurde (vgl. Dreisinger 2010: 38). Eine Konsequenz dieser Vermarktungsstrategie ist, dass karibische Künstler_innen wie Sean Paul und Shaggy (Jamaika) oder auch Nicki Minaj (Trinidad und Tobago) und Rihanna (Barbados) primär als internationale beziehungsweise US-amerikanische Künstler_innen vermarktet und wahrgenommen werden (vgl. Russel 2012). 55 Die Erfolge von Sean Paul, Shaggy und jüngst Tessanne Chin werden zwar auf Jamaika gewürdigt, den Künstler_innen mangelt es aber an street credibility, die auf Jamaika notwendig ist, um in der Dancehall gespielt zu werden. Einen weiterer Punkt stellt die Verbreitung auf der Ebene der Subkultur dar, die sich anfänglich besonders in den unterschiedlichen Zentren der jamaikanischen Diaspora vollzog. So wurde in Großbritannien und Nordamerika jamaikanische Musik zuallererst von karibischen Migrant_innen produziert und konsumiert. Sie gründeten die ersten Soundsysteme in Großbritannien und in Nordamerika, und an sie richten sich primär bis heute Reggae- und Dancehall-Festivals in den Vereinigten Staaten, die jährlich große Teile der karibischen Communitys anziehen. Ein Beispiel dafür ist das Best of the Best Festival in Miami (vgl. »Jamaican Artistes Give Miami the Best of the Best« 2011). Des Weiteren waren jamaikanische Migrant_innen verantwortlich für transnationale Labelgründungen, wie die des unabhängigen Musiklabel VP Records. Ins Leben gerufen von einem chinesisch-jamaikanischen Auswanderer namens Vincent »Randy« Chin (1937-2003), besitzt es eine Filiale in Kingston und New York und ist
55 Carolyn Cooper ging in einem persönlichen Interview auf die Unterscheidung zwischen vermeintlich ausländischen und lokalen Künstler_innen ein: »Somebody like Shaggy who at the Rototom festival was packaged as an American artist rather than a Jamaican. He had to be earning his stripes as a Jamaican artist. And Sean Paul again would be seen maybe as more foreign than yard because of his crossover success« (Cooper 2011).
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heute spezialisiert auf die weltweite Verbreitung von Reggae- und Dancehall-Musik. 56 Neben der karibischen Diaspora verbreitete sich Reggae-Musik seit Mitte der 1970er-Jahre auch in Ländern, in denen es keine nennenswerte Migration aus der Karibik gab. Beispiele dafür sind Deutschland, Italien, Israel und Japan. Ausschlaggebend hierfür ist an dritter Stelle der Erfolg zu nennen, den unterschiedliche Produkte jamaikanischer Populärkultur außerhalb der Insel erzielten. Chartserfolge jamaikanischer Künstler_innen, erste Reggae-Festivals und die transmediale Verbreitung von Reggae-Musik durch Perry Henzells Film The Harder They Come (1972) sind, neben dem bereits thematisierten Aufstieg von Bob Marley and The Wailers, entscheidende Faktoren. Der Film The Harder They Come machte durch seinen Soundtrack zahlreiche jamaikanische Künstler_innen international bekannt und öffnete Jimmy Cliffs musikalischer Karriere, nicht nur in Form der Rolle des Rude Boy und Sängers »Ivanhoe« auf der Leinwand, die Türe. Der erste jamaikanische Hit, der Großbritannien und kurze Zeit später auch die Bundesrepublik Deutschland erreichte, war Millie Smalls Cover des Songs »My Boy Lollipop« im Jahr 1964. Millie Small wurde, wie später auch Bob Marley and The Wailers, einem primär weißen europäischen Publikum durch das Label Island des Briten Chris Blackwell zugänglich gemacht. 57 Er erkannte früh den Vermarktungswert, den jamaikanische Musik auch außerhalb der karibischen Diaspora in Nordamerika und Europa besaß, und gehört zu den Hauptverantwortlichen für den internationalen Erfolg von Bob Marley. Verzeichneten die ersten Konzerte Marleys in Deutschland 1976 noch kaum Besucher_innen, war der Rastafari-Musiker bereits
56 Auch wenn das Unternehmen seinen Sitz in Queens, New York hat, betreibt es bis heute eine Zweigstelle in Kingston sowie weitere Filialen in Florida, London und Tokyo (vgl. Vickermann 2007: 481). 57 Chris Blackwell wuchs auf Jamaika auf und war ursprünglich in der Tourismusbranche tätig (vgl. Campbell 2010b: 37). Im Jahr 1959 gründete er das Label Island Records in Kingston, mit dem er 1962 nach London umzog. Das erste Album von Bob Marley and The Wailers, Catch A Fire, veröffentlichte er 1973. Es verkaufte sich zunächst noch schleppend (vgl. Campbell 2010b: 37). Peter Tosh und Bunny Livingston, beide Mitglieder der Wailers, kündigten die Zusammenarbeit mit Blackwell nach einem weiteren Album auf. Besonders Tosh fühlte sich von Blackwell ausgebeutet und kritisierte diesen als »Chris Whiteworse«, da er seiner Meinung nach weder »Schwarz« noch »gut« sei (vgl. Campbell 2010b: 39). Auch wenn Blackwell einen großen Anteil an der internationalen Verbreitung von Reggae hat, fällt auf, dass er und seine Produktionen in der lokalen jamaikanischen Dancehall nie wirklich präsent waren. Das hat zur Folge, dass auch heute noch Clement »Coxsone« Dodd und Arthur »Duke« Reid als die größeren Produzenten gefeiert werden (vgl. Campbell 2010b: 39).
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vier Jahre später dazu in der Lage, die Westfalenhalle in Dortmund zu füllen (vgl. Karnik und Philipps 2007: 44). Ein vierter bedeutender Faktor ist das Reggae Sunsplash Festival auf Jamaika. Als weltweit erstes Reggae-Festival hatte es eine gewichtige Rolle bei der internationalen Verbreitung und Vermarktung, nicht nur von Reggae- und Dancehall-Musik, sondern auch der Marke Jamaika im Allgemeinen. Das von 1978 bis 1996 ausgerichtete Festival war der Prototyp aller heutigen Reggae-Festivals. Schon von Beginn an wurde in die Festivalkonzeption der internationale Tourismus einbezogen. Die Bühnen des Reggae Sunsplash entpuppten sich für zahlreiche jamaikanische Entertainer_innen als internationales Sprungbrett. Viele Plattenverträge wurden vor Ort abgeschlossen, und dem Festival kam bald die Rolle des »internationalen Marktplatzes« zu (vgl. Taylor-Johnston 2010: 17). Die international gewachsene Popularität von Reggae und Dancehall führte dazu, dass das jamaikanische Modell des Sunsplash Festivals mit Künstler_innen aus Jamaika in Italien, Japan und den USA imitiert wurde (vgl. Taylor-Johnston 2010: 18). Einer dieser Ableger ist das bis heute größte europäische Reggae-Festival Rototom Sunsplash. Das siebentägige Festival, das neben Konzerten auch Podiumsdiskussionen und Workshops beinhaltet, nahm 1993 in Italien seinen Anfang und findet seit 2010 in Spanien statt. Zahlreiche weitere, hauptsächlich im Sommer stattfindende, große Reggae- und Dancehall-Festivals ziehen seit vielen Jahren in Europa tausende von Zuschauer_innen an. 58 Sie spielen nicht nur eine große Rolle bei der Verbreitung jamaikanischer Musik, sondern sind aufgrund der internationalen Buchungen die wichtigste Einnahmequelle der Künstler_innen aus der Karibik (vgl. Taylor-Johnston 2010: 18). 59 Fünfter Faktor für die globale Verbreitung von Reggae- und Dancehall-Musik ist deren kulturelle Adaption und die damit verbundene Entstehung einer riesigen, den Globus umspannenden, Soundsystem-Landschaft und Dancehall-Subkultur seit den 1990er-Jahren. Berühmte Soundsysteme, nicht nur aus Jamaika, sondern auch aus Italien, Japan oder Deutschland, werden grenzüberschreitend gebucht. Interessant ist, dass europäische Soundsysteme, im Gegensatz zu ihren jamaikanischen Vorbildern, hauptsächlich in Clubs auftreten. Mangels Straßenpartys haben die Ableger auch nur selten eigene Lautsprechertürme.
58 Seit 1986 ermöglicht das Summer Jam Festival in Köln deutschen und europäischen Reggae- und Dancehall-Fans jamaikanische Künstler_innen live auftreten zu sehen. Weitere große deutsche Reggae-Festivals sind das Reggae Jam Festival in Bersenbrück (seit 1994) und der Chiemsee Reggae Summer in Übersee (seit 1995). 59 Angesagte Künstler_innen, wie zum Beispiel Buju Banton, erhalten außerhalb Jamaikas bis zu 30.000 US-Dollar für ein Konzert (vgl. Manuel und Marshall 2006: 464).
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Konflikte und Chancen Neben dem für Jamaika und für jamaikanische Entertainer_innen positiven Faktor, externe Einkünfte durch Welttourneen und internationale Albumverkäufe zu erwerben, birgt die internationale Verbreitung von Reggae und Dancehall auch ein nicht zu unterschätzendes Konfliktpotenzial. Dieses ist verortet im Spannungsfeld zwischen dem, was Néstor García Canclini »Deterritorialisierung« und »Reterritorialisierung« nennt: I am referring to two processes: the loss of the ›natural‹ relation of culture to geographical and social territories and, at the same time, certain relative, partial territorial relocalizations of old and new symbolic productions (García Canclini 1995: 229).
Die Deterritorialisierung und Aneignung von kulturellen Produkten birgt die Gefahr, dass ihr eigentlicher gesellschaftlicher Kontext in den Hintergrund rückt oder gar ganz verloren geht. Was Reggae und Dancehall betrifft, verschwanden aufgrund der Adaption durch Gruppen mit anderen gesellschaftlichen Positionen die jamaikanischen Rahmenbedingungen. Dies hat zur Folge, dass Lyrics wegen mangelnder Kenntnisse des jamaikanischen Patwah nicht verstanden werden oder aber die originalen Inhalte instrumentalisiert oder sinnentleert werden (vgl. Zips 1997: 191). In der Kritik steht, dass die Aneignung von Schwarzen Widerstandspraktiken teilweise die Machtverhältnisse stützt, die ursprünglich im Zentrum der Auseinandersetzung standen (vgl. Kwesi Aikins 2005: 284). Joshua Kwesi Aikins bemerkt, dass die Adaption von Reggae- und Rastafari-Inhalten und -Symbolen es weißen Jugendlichen ermöglicht, einen »scheinbaren Seitenwechsel« vorzunehmen. »Scheinbar«, weil damit verschleiert wird, dass »Widerstandskultur aus einer Machtposition heraus« konsumiert wird (Kwesi Aikins 2005: 284). Interessanterweise lässt sich bei der Deterritorialisierung von Reggae- und Dancehall-Lyrics eine widersprüchliche Situation und Reaktion ausmachen. Gerade zu Beginn des internationalen Reggae-Booms kämpften jamaikanische Promoter_innen mit dem negativen Image, das Reggae bei höheren sozialen classes auf Jamaika hatte. Das Jamaica Tourist Board äußerte sich 1975 irritiert über die Tatsache, dass gerade die Lyrics, die auf Jamaika sozialen Sprengstoff beinhalteten, in den ›westlichen‹ Metropolen besonders gefeiert wurden: [A] good part of the attraction of reggae music to its metropolitan audiences is the anger and protest of the lyrics. We obviously face a contradiction between the message of urban poverty and protest, which reggae conveys and that of pleasure and relaxation inherent in our holiday product. In short, when we promote reggae music we are promoting an aspect of Jamaican
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culture which is bound to draw attention to the harsher circumstances in our lives. All the articles written on the sound so far do this. Our view is that we should leave other agencies and local music interest to carry the ball from here on (Davis und Simon 1976: 1).
Die in den Lyrics geäußerte Kritik an den gesellschaftlichen Konditionen auf Jamaika war für die Hörer_innen in Übersee attraktiv und fungierte als Projektionsfläche für soziale und politische Kämpfe in den Metropolen. Im Gegenzug sind es auf internationaler Ebene dann Lyrics, die Homosexualität diffamieren oder die Ermordung von Homosexuellen begrüßen, die speziell in ihren neuen Kontexten Protest und scharfe Reaktionen provozieren. Auf Jamaika dagegen wurden homophobe Lyrics lange Zeit von der Mehrheit toleriert und höchstens aufgrund ihrer gewaltverherrlichenden Elemente öffentlich kritisiert. Die Nachahmung und erneute Interpretation jamaikanischer Populärkultur außerhalb Jamaikas wirkt sich nicht nur auf die Gestaltung der beiden Genres Reggae und Dancehall außerhalb der Insel aus. Gegen Ende der 1990er-Jahre begannen internationale Adaptionen der jamaikanischen Dancehall-Kultur direkten Einfluss auf das Geschehen auf Jamaika und die jamaikanischen Diasporagemeinschaften zu nehmen. So gewann 1999 erstmalig Mighty Crown, ein japanisches Soundsystem, den in Brooklyn ausgetragenen World Clash. 60 Spätestens 2002 wurde auch aus dem Dancehall Queen-Wettbewerb im jamaikanischen Montego Bay ein internationaler Wettbewerb, den die Japanerin Junko Kudo für sich entschied (vgl. Stanley Niaah 2010: 163). Fünf Jahre später, 2007, gewann mit Maude Francato erstmalig eine weiße Kanadierin den Wettkampf in Montego Bay. 61 Daneben nahmen Künstler wie Gentleman aus Deutschland und Alborosie aus Italien, die durch ihre erfolgreichen Reggae-Adaptionen international berühmt geworden waren, Kontakt zu jamaikanischen Künstler_innen auf und bestiegen die Bühnen jamaikanischer Festivals. Interessant ist, dass die internationalen Erfolge nicht-jamaikanischer Künstler_innen, Tänzer_innen und Soundsysteme vornehmlich in Japan und Deutschland als Maßstab
60 Im Jahre 2005 triumphierte Sentinel Sound aus Deutschland in Brooklyn und erhielt als erstes europäisches Soundsystem die Trophäe für den World Clash. Die Crew aus Stuttgart verwendete dort, ebenso wie zahlreiche jamaikanische Soundsysteme eigens angefertigte dubplates, die männliche Homosexualität abwerteten. Das Verhalten steht symbolisch für den unkritischen Umgang mit der kulturellen Adaption von Dancehall in der Bundesrepublik Deutschland. 61 Die Entscheidung der Jury für Maude Francato, die unter dem Künstlerinnennamen »Mo Mo« auftrat, stieß beim Publikum auf Jamaika auf wenig Gegenliebe. Auf die Preisverleihung reagierte die Menge in Montego Bay mit Buhrufen und zahlreichen Flaschenwürfen (vgl. Frater 2007).
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für die ›Authentizität‹ der jeweiligen nationalen Reggae- und Dancehall-Szene betrachtet wurden und innerhalb der beiden Länder für einen Anstieg der Popularität des Musikgenres sorgten (vgl. Sterling 2010: 15). Die internationale Verbreitung von Dancehall-Musik eröffnet nicht nur Künstler_innen und Promoter_innen neue (finanzielle) Möglichkeiten. Auch für seither marginalisierte und von der Dancehall sowie der jamaikanischen Nation ausgeschlossene Gruppen, wie die jamaikanische LGBTTIQ-Gemeinschaft, bietet es die Chance, sich zu positionieren und weiteren Einfluss auszuüben. Angehörige sexueller Minderheiten und Gegner_innen homophober Lyrics gelang es, international auf die in der Musik bisweilen transportierte Homophobie aufmerksam zu machen. Dabei wirkte sich die Diasporasituation begünstigend aus, da sie es der jamaikanischen LGBTTIQ-Gemeinschaft ermöglichte, aus der Verborgenheit und Isolation zu treten, in die sie aufgrund der starken Ablehnung auf Jamaika gezwungen waren. Das verbesserte die Repräsentation von sexuellen Minderheiten und unterstützte deren politische Interessen nicht nur in der jamaikanischen Diaspora, sondern auch auf der Insel selbst. Letztendlich wurden die Stimmen von LGBTTIQ-Menschen, die auf Jamaika lange Zeit ungehört blieben oder nicht geäußert werden konnten, indirekt durch die Kritik an den Dancehall-Künstler_innen auf die Insel zurückgebracht. Außerdem fand die jamaikanische LGBTTIQ-Gemeinschaft neben Verbündeten in den USA, Kanada und England auch Unterstützer_innen in LGBTTIQ-Organisationen aus Ländern mit großer Reggae- und Dancehall-Subkultur, wie beispielsweise dem Lesbenund Schwulenverband Deutschland (LSVD).
Gender, (Homo-)Sexualität und Homophobie auf Jamaika Die »Benennung« des Geschlechts ist ein Herrschafts- und Zwangsakt, eine institutionalisierte Performanz, die die gesellschaftliche Realität schafft und dem Gesetz unterwirft, indem sie die diskursive / perzeptuelle Konstruktion des Körpers gemäß den Prinzipien der sexuellen Differenz verlangt. JUDITH BUTLER 1991: 172
Im folgenden Kapitel wird anhand der Theorien von Judith Butler auf den konstruierten Charakter von Geschlechteridentitäten aufmerksam gemacht. Dann wird auf die konkreten Geschlechterrollen in der jamaikanischen Gesellschaft eingegangen. 1 Butlers Ansätze spielen speziell bei der performativen Erzeugung von Geschlecht in der Dancehall eine wichtige Rolle. Anschließend wird kurz die historische Entwicklung von Sexualität und Gender, umrahmt von den beiden Eckpfeilern Kolonialismus und Sklaverei, dargelegt. Danach wird auf die geschlechterspezifische Sozialisierung, besonders die der Jamaikaner_innen aus der working class, eingegangen. Letztere ist deshalb von Bedeutung, weil sie die Imperative und Normen liefert, die wiederum die konkreten Repräsentationen von Männlichkeit, Weiblichkeit und Homosexualität in der Dancehall konstituieren.
1
Die differenzfeministische Theorie wird an dieser Stelle nicht thematisiert, da das Buch sich generell kritisch gegenüber essentialistischen Auffassungen, nicht nur von Geschlecht, sondern auch von anderen sozialen Kategorien, wie beispielsweise race, positioniert.
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T HEORETISCHE G RUNDLAGEN VON G ESCHLECHT UND S EXUALITÄT Judith Butler negiert die Trennung zwischen biologischem Geschlecht sex und kulturellem Geschlecht Gender. Sie verdeutlicht, dass das biologische Geschlecht sex letztendlich immer schon Geschlechtsidentität Gender gewesen ist und erklärt deshalb die Unterscheidung der beiden für obsolet (vgl. Butler 1991: 24). Butler demonstriert dies, indem sie veranschaulicht, dass sex nichts Natürliches, dem Diskurs Vorausgehendes ist. Sex basiert letztendlich auf der Konstruktion von Gender und ist somit ebenfalls diskursiv produziert (vgl. Schößler 2008: 97). Erst wenn ein Diskurs Begrifflichkeiten wie ›männlich‹ oder ›weiblich‹ eingeführt hat, fangen diese Kategorien an zu existieren. Erst dann kann die Realität nach ihnen gestaltet werden. Butler kommt darauf aufbauend zur Schlussfolgerung, dass die Binarität zwischen ›Männern‹ und ›Frauen‹ keine natürliche Tatsache ist, sondern eine kulturelle und soziale Konstruktion. Sie demonstriert, dass die Annahme, dass es unter Menschen ausschließlich zwei biologische und soziale Geschlechter gibt, die sich in ›männlich‹ und ›weiblich‹ unterteilen lassen, lediglich den aktuell hegemonialen Diskurs in unserer Gesellschaft darstellt. Durch die Essentialisierung dieses Diskurses entsteht letztendlich der Eindruck, dass die Aufteilung der Menschheit in Männer und Frauen natürlichen Ursprungs sei. Aufrechterhalten und verankert werden Kategorien wie Männlichkeit und Weiblichkeit durch ununterbrochene Wiederholungen kultureller Praktiken (vgl. Schößler 2008: 98). Judith Butler beschreibt das folgendermaßen: Akte, Gesten, artikulierte und inszenierte Begehren schaffen die Illusion eines inneren Organisationskerns der Geschlechteridentitäten (organizing gender core), eine Illusion, die diskursiv aufrechterhalten wird, um die Sexualität innerhalb des obligatorischen Rahmens der reproduktiven Heterosexualität zu regulieren (Butler 1991: 200 [Herv. i.O.]).
Dass gesellschaftlich am Ende trotzdem von Geschlechtsidentität geredet wird, kommt dadurch zustande, dass ein vermeintliches ›Original‹ permanent wiederholt und nachgeahmt wird (vgl. Butler 1991: 8). Das veranschaulicht Butler am Phänomen der Travestie, die eben keine Kopie des Originals darstellt, sondern nur die gesellschaftliche Konstruktion und damit auch die Willkürlichkeit der scheinbar ›originalen‹ Geschlechtsidentität aufdeckt (vgl. Butler 1991: 9). Die Travestie ist immer auch ein subversiver Akt, der die Dominanz der heterosexuellen Männlichkeit herausfordert, da sie offenbart, dass diese lediglich mittels Kleidung, Verhaltensregeln und Sprechakten hergestellt wird (vgl. Schößler 2008: 92). Daraus folgt, dass Geschlechtsidentität performativ ist und die Identität, die sie angeblich ist, selbst konstruiert (vgl. Butler 1991: 49). Warum geschieht das? Hauptsächlich weil diese Konstruktionen eine Steuerungsfunktion innehaben. Diese besteht darin, die Macht der
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männlichen heterosexistischen und heteronormativen Zwänge zu institutionalisieren, was gleichzeitig wiederum dabei hilft, den Anschein von deren Natürlichkeit aufrechtzuerhalten (vgl. Butler 1991: 61). Die angeblich natürlichen Konditionen von Geschlecht beziehungsweise Geschlechtsidentität werden aber durch wissenschaftliche und alltägliche Diskurse produziert und aufrechterhalten, hinter denen, wie angeführt, auch konkrete soziale Interessen stehen (vgl. Butler 1991: 23). Die diskursive Konstruktion von Geschlechtsidentität, konstituiert durch eine streng regulierte Beziehung zwischen biologischem Geschlecht, der Geschlechtsidentität und dem sexuellen Begehren, sind für Butler die Grundpfeiler der »Zwangsheterosexualität« (Butler 1991: 39). Sie hält fest, dass als gesellschaftliche Norm postuliert wird, dass beispielsweise Menschen mit einem biologisch männlichen Geschlecht, ebenfalls ein männliches kulturelles Geschlecht haben müssen und lediglich Menschen mit einem weiblichen biologischen Geschlecht sexuell begehren können und dürfen.
H ISTORISCHE G RUNDLAGEN Geschlechtsidentität kann nicht unabhängig von den politischen und kulturellen Verflechtungen, in denen sie (re-)produziert wird, betrachtet werden (vgl. Butler 1991: 18). Deshalb sind die Geschlechtsidentitäten, Geschlechterrollen 2 sowie Sexualität im heutigen Jamaika lediglich verständlich, wenn man sie im historischen Kontext von Kolonialismus, Plantagensklaverei und Rassismus betrachtet. Die Dominanz der europäischen Kolonialist_innen entmündigte die versklavten Schwarzen Männer und importierte die europäische Form der Geschlechterungleichheit in die Karibik (vgl. Lewis 2003a: 103). Auch wenn Schwarze Männer in dieser Struktur entmachtet waren, wurden sie in diesem Rahmen sozialisiert. Ausgangspunkt ist dabei, wie die europäischen Kolonialist_innen die versklavten Afrikaner_innen wahrnahmen und alterisierten. Schwarzen Frauen wurde von den weißen Kolonialist_innen im 16. Jahrhundert eine ›deviante‹ und bedrohliche Sexualität zugeschrieben (vgl. Hope 2006a: 38). Daraus wurde eine Gefahr für weiße Männer abgeleitet. Solcherlei rassistische Zuschreibungen legitimierten die Ausbeutung und Unterdrückung von Schwarzen
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Die Geschlechterrollen verstehe ich als die gesellschaftliche Zuschreibung eines gewissen als spezifisch ›weiblich‹ oder ›männlich‹ geltenden Verhaltens an Frauen und Männer. Ihre Erfüllung und Imitation trägt zur Herausbildung der Geschlechtsidentität bei. Rollenverständnisse und Rollenbilder sind binär und hängen von den unterschiedlichen historischen, kulturellen und gesellschaftlichen Kontexten einer Person ab. Im Gegensatz zur Geschlechtsidentität unterliegen sie stetigem Wandel. Rollenbilder für Frauen und Männer haben sich im Verlauf der Geschichte stark verändert, während die Binarität der Geschlechter beibehalten wurde.
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Frauen (vgl. Hope 2006a: 38). Ferner halfen sie dabei, weiße Frauen als vergleichbar ›reine‹, moralische und unschuldige Geschöpfe zu konstruieren. Schwarze Männer wurden ebenfalls als lediglich durch ihren Sexualtrieb gesteuert angesehen. Rassistische Stereotype aus dieser Zeit finden sich auch heute noch in der Denkweise weißer Karibikurlauber_innen, die ›exotische‹ Sexabenteuer in den ehemaligen Kolonien suchen und auf Jamaika zum Teil kurzzeitige Verhältnisse mit sogenannten Rent-a-Dreads 3 eingehen. Die vom Kolonialismus geprägten Geschlechterbilder wurden beeinflusst durch die Dialektik zwischen Rassismus und Exotismus. Beide Phänomene erscheinen nur auf den ersten Blick widersprüchlich, da Rassismus für die radikale Abgrenzung und Ablehnung des ›Anderen‹ steht, während exotisierendes Denken eine ästhetisierende und erotisierende Sichtweise des ›Anderen‹ propagiert (vgl. Danielzik und Bendix 2011b: 633). Letztendlich sind Abscheu und Verachtung sowie Begierde und Erotisierung von Schwarzen und People of Color aber zwei Seiten derselben Medaille. Die rassistisch strukturierte Geschlechterhierarchie in der jamaikanischen Gesellschaft während der Sklaverei lässt sich in Form einer Pyramide verdeutlichen: An oberster Stelle stand der weiße Mann, gefolgt von der weißen Frau. In der Mitte der Pyramide standen die ›braunen‹ kreolischen Nachkomm_innen, die aus sexuellen Verhältnissen zwischen Weißen und versklavten Schwarzen hervorgingen. Dem ›braunen‹ Mann war die ›braune‹ Frau untergeordnet. Beide wurden in der rassistischen Gesellschaftsstruktur von den weißen Plantagenbesitzer_innen diskriminiert, gleichzeitig aber mit Privilegien gegenüber der Schwarzen Bevölkerung ausgestattet. An unterster Stelle der Hierarchie befand sich der Schwarze Mann, dem nur noch die Schwarze Frau folgte (vgl. Hope 2006a: 39). Diese Struktur hatte sich auch über 100 Jahre nach der Emanzipation kaum verändert und ihr Erbe wirkt bis heute auf Jamaika fort (vgl. Henriques 1953: 42). In der Struktur konvergieren kolonialer Rassismus, Klassendiskriminierung und Sexismus.
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Rent-a-Dread ist eine pejorative Bezeichnung für junge, Schwarze, jamaikanische Männer aus prekären Verhältnissen, welche, vornehmlich in den touristischen Regionen der Insel, ihre sexuellen Dienste weißen Urlauberinnen aus Nordamerika und Europa anbieten und im Austausch dafür finanzielle und materielle Gefälligkeiten erhalten. Der Name kommt daher, dass die Männer oft den stereotypen Jamaikavorstellungen ›westlicher‹ Urlauberinnen entsprechen und Dreadlocks tragen, die zusätzlich als Zeichen heterosexueller Maskulinität gewertet werden (vgl. Shephard 2010: 9). Die Urlauberinnen sind häufig deutlich älter als ihre jamaikanischen Liebhaber. Bei der Suche nach Ferienliebschaften sind sie angetrieben von ›exotischen‹ und rassistischen Vorstellungen, welche Schwarze Männer seit jeher als besonders triebhaft porträtierten. Ferner profitieren sie von den massiven ökonomischen Unterschieden zwischen ihrem Herkunftsland und Jamaika, die es den Frauen ermöglichen, sexuelle Dienste finanziell zu erwerben.
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Die historische Entwicklung der sexuellen Gepflogenheiten der Insel vollzog sich in einem dialektischen Prozess, in dem Vorstellungen der kolonialen Eliten teilweise von den versklavten Schwarzen übernommen, teilweise aber auch unterminiert oder umgewandelt wurden (vgl. LaFont 2001: 68). In diesem komplexen Ablauf spielten wirtschaftliche, politische, religiöse, rassistische und moralische Motive eine bedeutende Rolle. Die Sklavenhalter_innen beuteten die Sklav_innen nicht nur ökonomisch, sondern auch sexuell aus (vgl. LaFont 2001: 39). Speziell für versklavte Afrikanerinnen barg ein sexuelles Verhältnis mit einem weißen Sklavenhalter häufig die Möglichkeit eines sozialen Aufstiegs. Gingen aus einem Verhältnis Kinder hervor, hatten diese die Chance auf ein besseres gesellschaftliches Ansehen, Freiheit und soziale Mobilität. Für Schwarze Männer bot sich diese Chance weniger, weshalb sie die Hauptverlierer der sexuellen Dominanz der weißen Besitzer_innen waren. Die Sklav_innen entwickelten, basierend auf der permanenten Erfahrung von Diskriminierung und sexueller Ausbeutung, die Vorstellung, dass die weiße Plantagenbesitzerelite moralisch verwerflich sei. So konnte sich in einer machtlosen Position trotzdem eine gewisse Form von moralischer Überlegenheit unter den Schwarzen Sklav_innen entwickeln (vgl. LaFont 2001: 52). Als die Schwarzen ihre Freiheit erkämpften und anschließend die Kolonien unabhängig wurden, wurde die Geschlechterungleichheit, welche die Kolonialist_innen hinterließen, nicht von den führenden Kräften in Frage gestellt, sondern nachgeahmt (vgl. Lewis 2003a: 103). Zu lange war ihnen die weiße, europäische Vorherrschaft der Männer über den öffentlichen Raum vorgelebt worden. Anstatt die Geschlechterungleichheit als eine mit der »europäischen Herrschaft« vergleichbare und verwobene Unterdrückungspraxis zu erkennen und als solche abzulehnen, wurden die patriarchalen Vorstellungen der Kolonialist_innen und deren Geschlechterrollenbilder in den neuen karibischen Staaten reproduziert (Lewis 2003a: 103). Jaqui Alexander beschreibt den Zusammenhang von Patriachat, Maskulinität, Blackness und kolonialem Erbe wie folgt: At one time subordinated, that masculinity now has to be earned, and then appropriately conferred. Acting through the psychic residue, Black masculinity continues the policing of sexualized bodies, drawing out the colonial fiction of locating subjectivity in the body (as a way of denying it), as if the colonial masters were still looking on, as if to convey legitimate claims to be civilized. Not having dismantled the underlying presuppositions of British law, Black nationalist men, now with some modicum of control over the state apparatus, continue to preside over and administer the same fictions (Alexander 1994: 14).
Die sexuelle Kontrolle, Sanktionen gegenüber von der Norm abweichenden Körpern und die Dominanz von heterosexueller Maskulinität wurden auch in antikolonialen Bewegungen wie den Rude Boys oder den Rastafari nicht in Frage gestellt. Sie unterstützten stattdessen die hegemoniale Position von Schwarzer heterosexueller Maskulinität auf Kosten der Marginalisierung von sexuellen Minderheiten und Frauen.
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Inwiefern sich derartige postkoloniale patriarchale Konstellationen in der jamaikanischen Gesellschaft wiederfinden, soll im folgenden Abschnitt aufgezeigt werden.
S OZIALISIERUNG Auch wenn Maskulinität und Feminität zwei soziale Konstrukte sind, ist es wichtig, deren performative Umsetzungen sowie die Praktiken, die eine Bipolarität der Geschlechter aufrechterhalten, zu untersuchen. Maskulinität kann auch als privilegierte Ideologie beschrieben werden, vergleichbar mit Weißsein oder Heterosexualität, was dazu führt, dass sie sich nicht selbst definieren muss (vgl. Lewis 2003a: 120). Stattdessen kann sie aus ihrer Vormachtstellung heraus die Normen für ›angemessene‹ Weiblichkeit und deren Funktion in der jeweiligen Nation definieren (vgl. BrownGlaude 2006: 42). Maskulinität lässt sich beschreiben als ein Set von Praktiken und Verhaltensweisen, das in radikaler Abgrenzung zur Weiblichkeit konstruiert wird. Sie ist kein monolithisches oder statisches Konzept, sondern selbst immer in Bewegung, weshalb Bemühungen, sie zu homogenisieren, grundsätzlich zum Scheitern verurteilt sind (vgl. Lewis 2003a: 95). Eine zentrale Komponente von Maskulinität ist, dass sie sich häufig auf ihre ›Natürlichkeit‹ beruft, um ihren sozial konstruierten Charakter zu verstecken. Männer versuchen ferner maskulin zu erscheinen, indem sie Gesten, Haltungen, Verhaltensweisen, Sprachstil, Lebensführung und Heterosexualität anderer Männer imitieren, um sich so ihre Anerkennung als maskulin zu verdienen (vgl. Lewis 2003a: 95). Bei der Analyse von Männlichkeit in der Karibik kann zwischen »hegemonialer Maskulinität« und »untergeordneter Maskulinität« unterschieden werden (Lewis 2003a: 108). Die hegemoniale Männlichkeit zeichnet sich aus durch Homophobie, kulturelle Dominanz, der Wichtigkeit von sexuellen Eroberungen, der Annahme, dass Männer Frauen überlegen seien, sowie dem Verspotten von abweichenden männlichen Sexualitäten, die als ›Verweiblichung‹ wahrgenommen werden (vgl. Lewis 2003a: 108). Unter untergeordneter Männlichkeit können Schwule, als weiblich wahrgenommene Männer, transsexuelle Männer oder einfach Männer subsumiert werden, die anstatt der geforderten Aggressivität und Härte eher weich erscheinen. Lewis beschreibt karibische Formen von Maskulinität auf folgende Art und Weise: [M]asculinity is constructed and practiced in the Caribbean […], mediated by the modalities of race, ethnicity, age, class, sexual orientation and religion, and by the way in which these social forces coalesce within a given cultural context (Lewis 2003a: 108).
Auch die Konstruktion von Weiblichkeit in der jamaikanischen Gesellschaft ist bis heute beeinträchtigt durch koloniale Hinterlassenschaften:
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Elite white females in slave society sought to exclude, on the basis of race, black and brown females from membership of the ideological institutions of womanhood and femininity – and, by extension, access to socially empowering designations such as ›lady‹ and ›miss‹ (Beckles 1988: 36).
Die rassistische Trennung zwischen weißen, ›braunen‹ und Schwarzen Jamaikanerinnen wird durch die Konvergenz von Rassismus und Klassensystem sowie eurozentrische Schönheitsvorstellungen aufrechterhalten. Letzteres gilt besonders für Werbung und Populärkultur, aber auch bei der Definition von nationaler Identität. Die ›braune‹ Frau aus der upper und middle class, die in der Dancehall sexualisiert und browning genannt wird, ist nicht nur Inbegriff weiblicher Schönheit, sondern auch ein »Leitmotiv der jamaikanischen Identität« (Rowe 2009: 52). Der Eurozentrismus, der das Schönheitsideal prägt, drückt sich besonders deutlich bei Kriterien wie Beschaffenheit der Haut, Glätte der Haare und Helligkeit der ›Hautfarbe‹ aus (vgl. Hope 2006a: 40). Die Schwarze Frau aus dem ›Ghetto‹ wird häufig aufgrund rassistischer Zuschreibungen sexualisiert. Fassbar wird das in den Männerfantasien der upper class, die von zügellosem Sex mit Working Class-Frauen handeln, der auch ghetto slam genannt wird (vgl. Hope 2006a: 40). Die Diskriminierung äußert sich ebenso in der Tatsache, dass viele Jamaikaner_innen chemische Produkte verwenden, um ihre Haut künstlich aufzuhellen und damit dem geforderten Schönheitsideal näher zu kommen. 4 Die jamaikanische Gesellschaft sieht die Frau ferner in ihrer Rolle als Mutter. Diese soll sich um die Kinder kümmern, sich respektabel verhalten und in sexueller Passivität verharren (vgl. Brown-Glaude 2006: 57f). Die meisten jamaikanischen Kinder werden von alleinerziehenden Müttern aufgezogen. Eheschließungen sind wenig oder nur unter strenggläubigen Christ_innen oder in höheren classes verbreitet. Unter erwachsenen Jamaikaner_innen sind 80 Prozent nie verheiratet gewesen, 87 Prozent der Kinder auf Jamaika werden von später alleinerziehenden Müttern geboren und in 38 Prozent der Haushalte gibt es nur eine Frau als Familienoberhaupt (vgl. LaFont 2001: 61). Das ändert nichts daran, dass in allen classes der Gesellschaft die monogame Kernfamilie als respektables Ideal propagiert wird und soziale Missstände häufig auf das Scheitern dieser Idealvorstellung zurückgeführt werden (vgl. Thomas 2011a: 18). Zwischen Frauen und Männern, vor allem in der working class,
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Skin bleaching war auf Jamaika bis zum frühen 21. Jahrhundert eine weiblich konnotierte Praktik. Seit populäre Dancehall-Künstler wie Vybz Kartel ebenfalls ihre Haut aufhellen, hat sich diese Ansicht verändert. Für eine ausführliche Darstellung des Phänomens des skin bleaching in der jamaikanischen Gesellschaft sowie in der Populärkultur siehe unter anderem Brown-Glaude (2007), Hope (2011a) und Helber (2012).
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finden wegen der prekären wirtschaftlichen Umstände konstante Auseinandersetzungen statt, die sowohl durch künstlerische Performances als auch teilweise gewaltsam ausgetragen werden (vgl. LaFont 2000: 237). Die Sozialisation von Mädchen und Jungen auf Jamaika erfolgt durch das Erlernen unterschiedlicher Praktiken und Tätigkeiten, die den jeweiligen Geschlechterrollen zugeordnet beziehungsweise untersagt sind. Besonders ausschlaggebend ist in der jamaikanischen working class bereits die räumliche Separation der Geschlechter, die sich an den Orten yard und street vollzieht (vgl. Chevannes 2003: 222). Yard ist der abgeschlossene Garten oder der Hof eines Hauses, in dem die Mädchen der Obhut und dem Schutz der Mütter unterliegen. Für männliche Jugendliche nimmt die Straße und deren Offenheit eine bedeutende Rolle im Sozialisationsprozess ein. Sie ist mit Unsicherheit und Gefahr konnotiert, verlangt Aggressivität und Schläue und soll dazu dienen, die Heranwachsenden für das (Über-)Leben als Erwachsene zu trainieren (vgl. Chevannes 2003: 229). Generell kommt der Straße eine große Bedeutung in der Vermittlung von Idealen der lower class zu (vgl. Stanley Niaah 2010: 69). Wenn die Kinder aufwachsen, erlernen sie, dass gewisse Tätigkeiten klar an Geschlechterrollen gebunden sind. Nachttöpfe leeren oder der Kontakt zu weiblicher Unterwäsche ist Männern untersagt. Vom Kontakt mit weiblichen Ausscheidungen, speziell Menstruationsblut, geht die Gefahr aus, die heterosexuelle Männlichkeit einzubüßen und als maama man 5 angesehen zu werden (vgl. Chevannes 2001: 47). Frühes heterosexuelles Aktivsein ist notwendig, um heterosexuelle Virilität unter Beweis zu stellen. Dabei werden promiskuitive Aktivitäten von jungen Männern gesellschaftlich akzeptiert und oftmals als Beweis für explizite heterosexuelle Männlichkeit und Macht über Frauen angesehen (vgl. Chevannes 2001: 217). Junge Männer in den ärmeren Stadtvierteln werden oft durch Pornografie oder Gespräche mit Älteren darauf ausgerichtet, möglichst früh heterosexuell aktiv zu werden (vgl. Hope 2010: 18). Den Frauen wird kein promiskuitiver Lebensstil zugestanden. Weibliche Sexualität wird auf den Bereich der Familienreproduktion beschränkt. Eine Schwangerschaft vor der Ehe schadet dem gesellschaftlichen Ansehen und erschwert den sozialen Aufstieg (vgl. Wilson 1973: 103). Abtreibungen sind bis heute illegal auf Jamaika. Das führt dazu, dass jamaikanische Mütter darum bemüht sind, zu vermeiden, dass ihre Töchter außerhalb des yard unterwegs sind und schwanger werden. So sollen ein respektables Verhalten und nach außen hin ein präsentables Leben garantiert werden (vgl. Chevannes 2001: 129). Auch wenn die Karibik kein homogener Raum ist, trifft Linden Lewis’ Äußerung bezüglich der hegemonialen Vorstellung von Sexualität bei Frauen und Männern auch auf Jamaika zu:
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Maama man ist eine pejorative Bezeichnung für einen ›verweiblichten‹ Mann oder auch einen homosexuellen Mann im jamaikanischen Patwah.
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In the Caribbean, sexuality seems to be something that men have and are free to explore, while women are expected to relate to it only defensively […] women’s sexuality is still policed by social and gender conventions in ways that do not seem to constrain the behavior of men (Lewis 2003b: 7).
Rollenbilder von angemessener, aber auch von nichtakzeptierter Männlichkeit und Weiblichkeit werden in der karibischen Populärmusik wiederholt thematisiert und (neu) ausgehandelt. Auseinandersetzungen zwischen Männern und Frauen um Ressourcen und soziale Macht, die Suzanne LaFont als »gender wars« beschreibt, werden ebenfalls in der Populärkultur ausgetragen (LaFont 2000: 234). Diese Phänomene unterstreichen die enge Verbindung zwischen Sexualität und Populärkultur auf Jamaika (vgl. Lewis 2003b: 6).
Z UM B EGRIFF H OMOPHOBIE [Homophobie] ist eine negative sozio-kulturell geprägte, ausschließende stigmatisierende Haltung gegenüber den Personen, die durch hegemoniale Heteronormativität als deviant, pervers, abnormal, anders eingeordnet werden. ÇETIN 2012: 72
Homophobie ist der im allgemeinen Sprachgebrauch am häufigsten verwendete Begriff für die Ablehnung, Ausgrenzung, Diskriminierung und Aggression gegenüber Menschen, deren Sexualität von der heterosexuellen Norm abweicht. Elisabeth Schäfer-Wünsche macht deutlich, welche diskursive Raffinesse im Begriff Homophobie steckt: With the term homophobia I cite a medical / psychological discourse that labels a form of behavior as pathological. At the same time, the term inverts established spaces of exclusion. It is not supposedly deviant homosexuality that is pathologized; instead, the extreme fear and thus the radical exclusion of homosexuality is declared a syndrome (Schäfer-Wünsche 2008: 336).
Um ablehnende und feindliche Einstellungen gegenüber Homosexuellen zu beschreiben, werden außer Homophobie auch Begriffe wie Heterophobie (vgl. Cooper 2004a:
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177), Homonegativität (vgl. Jäckle und Wenzelburger 2011: 233) oder Antihomosexualität (vgl. Hope 2010: 70) verwendet. Auf das Adjektiv antihomosexuell wird im Buch zurückgegriffen, wenn es sich um die in den medialen und populären Diskursen artikulierte Ablehnung von sexuellen Minderheiten handelt. Der Begriff Homophobie ist in Teilen irreführend, da er das aus dem Altgriechischen stammende Wort Phobie beinhaltet, das im Deutschen mit Angst übersetzt wird. Seine Etymologie suggeriert fälschlicherweise, dass es sich bei Homophobie um eine Angst vor Homosexuellen handelt. Auch wenn das öffentliche Auftreten von Homosexuellen oftmals als Bedrohung für die heterosexuelle Norm wahrgenommen wird, lässt eine derartige Verwendung des Begriffs wichtige Aspekte außer Acht. Homophobie ist weder ein individuelles Phänomen noch gleichzusetzen mit einer krankhaften Angst. Stattdessen besitzt die Feindschaft gegenüber Homosexuellen soziale, politische und kulturelle Komponenten, die auf unterschiedlichen Ebenen institutionalisiert sind (vgl. Çetin 2012: 71). Außerdem beschränkt sich der Terminus Homophobie lediglich auf Homosexuelle. Transsexuelle, Bisexuelle und Intersexuelle sind aber ebenfalls von der Ausgrenzung und Feindschaft betroffen, die ihnen in einer heteronormativen Gesellschaft entgegenschlägt. Trotz der geäußerten Kritik am Begriff Homophobie, ist er im öffentlichen Diskurs, nicht nur auf Jamaika, der geläufigste Ausdruck, um Zurückweisung und Feindschaft gegenüber Verhalten und Erscheinungen, die von der heterosexuellen Norm abweichen, zu beschreiben. Aus diesem Grund wird er, trotz der Problematik, die er beinhaltet, neben dem Begriff Antihomosexualität, im Buch verwendet. Grundlage für homophobes Verhalten ist die Herrschaft der Heteronormativität, die permanent dafür Sorge trägt, dass Heterosexualität als ›natürliche‹ Norm definiert wird. 6 Laut Zülfukar Çetin geht sie in ihrem Ursprung auf ›westliche‹, durch das Christentum geprägte, Moralforderungen zurück (vgl. Çetin 2012: 60). Neben der Bibel finden sich aber auch in der Thora und im Koran Passagen, die Homosexualität verurteilen und Heteronormativität stabilisieren. Heteronormativität drückt sich darin aus, dass Menschen in Männer und Frauen eingeteilt werden und deren sexuelles Begehren ausschließlich auf das jeweilige konträre Geschlecht gerichtet sein darf. Menschen, die vom Verständnis der Zweigeschlechtlichkeit abweichen oder sexuelles Begehren für das eigene Geschlecht empfinden, werden durch die Herrschaft der Heteronormativität zu ›anormalen‹ oder ›unnatürlichen‹ Personen degradiert. Während Homosexualität als anormal stigmatisiert und als pathologisch betrachtet wird, schafft Heteronormativität die Basis dafür, dass Heterosexualität überall automatisch vorausgesetzt wird. Heterosexuelle Menschen müssen sich nie für ihre Heterosexualität rechtfertigen, da diese als Grundvoraussetzung für jegliche Art von sozialen Be-
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Der Begriff Heteronormativität wurde zum ersten Mal von Michael Warner verwendet (vgl. Warner 1993: xvi).
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ziehungen gilt und darüber hinaus zur Fortpflanzung dient (vgl. Çetin 2012: 54). Heteronormativität kann als ein Machtverhältnis verstanden werden, das sich über sämtliche Bereiche unseres Lebens erstreckt. Als ihre sechs Schlüsselfunktionen lassen sich folgende Punkte aufzählen: 1. 2. 3. 4. 5. 6.
Die Mutmaßung der allgemeinen Zweigeschlechtlichkeit. Die Verordnung des ›heterosexuellen‹ und ›natürlichen‹ Begehrens. Die Definitionsmacht über den ›gesunden‹ beziehungsweise den ›ungesunden‹ Körper sowie ›angemessenes‹ Verhalten in der Gesellschaft. Die Annahme, dass Geschlecht und sexuelles Begehren unveränderlich und eindeutig sind. Das Vermögen, Wissensproduktion zu ordnen und Diskurse zu gliedern. Die Beeinflussung von politischem Handeln und der gesellschaftlichen Ressourcenverteilung (vgl. Wagenknecht 2007: 17).
Paradoxerweise benötigt die Heterosexualität aber gerade die Konstruktion der Homosexuellen. Nur durch deren Kategorisierung als Normabweichler_innen kann Heterosexualität sich selbst als ›natürlichen‹ Maßstab darstellen (vgl. Çetin 2012: 70). Homophobie ist kein Phänomen, das einer bestimmten Kultur zuzuordnen ist, da es sich bei Homosexualität um etwas handelt, das in jeglichen Kulturen existiert. Aus diesem Grund sind Thesen, die Menschen aus islamischen Ländern als besonders homophob charakterisieren, immer auf kulturellen Rassismus zu überprüfen (vgl. Castro Varela 2008: 18). Selbiges gilt für pauschalisierende Aussagen über karibische oder afrikanische Migrant_innen, die im öffentlichen Diskurs vieler europäischer Staaten, häufig getreu der Tradition kolonialer Diskurse, als ›andersartig‹ konstruiert werden. 7 Migrant_innen werden vielfach als speziell homophob dargestellt, weil sie generell ›andersartig‹ seien und einer ›anderen‹ Kultur angehören (vgl. Çetin 2012: 77). Die Darstellung einer bestimmten Gruppe, wie etwa muslimische Migrant_innen oder Schwarze, als homogene und total andersartige Gemeinschaft, hat einzig die Funktion, eine privilegierte Position über diese Gruppen zu erlangen (vgl. Çetin 2012: 85). Solcherlei rassistische Darstellungen führen weiterhin dazu, dass homosexuelle Schwarze und Migrant_innen von einer Überschneidung unterschiedlicher Diskriminierungsgründe betroffen sind (vgl. Çetin 2012: 85). Im Zuge der Forschungsarbeit ist es unerlässlich, auf die Verbindung, die zwischen Homophobie und Kolonialismus besteht, aufmerksam zu machen. Wie bereits thematisiert, wurde in den Kolonien Schwarzen und People of Color ein unstillbarer Sexualtrieb attestiert, zu dem auch immer ›deviante‹ (homo-)sexuelle Handlungen gehörten. Dieser konstruierte Sexualtrieb machte es in den Augen der Kolonialist_in-
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Siehe Kapitel Alterisierungsprozesse und die internationalen LGBTTIQ-Organisationen.
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nen wiederum nötig, die Kolonialisierten durch Gewalt und Repression zu kontrollieren und zu ›zivilisieren‹ (vgl. Castro Varela 2008: 18). Für die Kolonialmächte waren die Kolonien Horte, an denen sexuelle Abweichungen und Normverstöße grassierten, weshalb sie sich permanent in einer zivilisationsbringenden Mission sahen (vgl. Castro Varela 2008: 19). Auch wenn in vielen präkolonialen Gesellschaften Homosexualität nicht akzeptiert war, wurde sie häufig erst durch den Eingriff der Kolonialmächte zu einem Strafrechtsbestand und Verbrechen (vgl. Castro Varela 2008: 18). Als sich viele Kolonien gegen Ende des 19. und im 20. Jahrhundert von der direkten kolonialen Herrschaft befreiten, machten es sich erneut viele antikoloniale Bewegungen und nationalistische Bestrebungen zur Aufgabe, die durch die Erfahrung des Kolonialismus verloren geglaubte heterosexuelle Maskulinität wiederherzustellen. Dieses Unterfangen schuf die Grundlage für die etablierte postkoloniale Heteronormativität, die wiederum das Fundament für die Homophobie im heutigen Jamaika liefert (vgl. Castro Varela 2008: 20).
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AUF
J AMAIKA
Jamaika wird häufig als das homophobste Land der Karibik beschrieben (vgl. Williams 2000: 106). Die aggressive Ablehnung von Homosexualität, die zu solch einer Charakterisierung führt, manifestiert sich in drei Punkten: Erstens ist Homosexualität auf Jamaika auch im frühen 21. Jahrhundert noch strafbar. Gleichgeschlechtlicher Sex, vornehmlich zwischen Männern, wird kriminalisiert. Das geschieht unter anderem durch den Buggery Act, der auf Jamaika durch die ehemalige Kolonialmacht Großbritannien eingeführt wurde und seinen Ursprung im Jahr 1533 hat. Zweitens wurde die Weltöffentlichkeit speziell zu Beginn des 21. Jahrhunderts auf die gehäufte Gewalt gegenüber Homosexuellen und anderen sexuellen Minderheiten aufmerksam, die auf der Karibikinsel herrscht. Das wurde ausgelöst durch die Kampagnen und Berichte von HRW, AI und Outrage!. Drittens finden sich in der jamaikanischen Populärkultur, hauptsächlich in der Dancehall-Musik, zahlreiche Songtexte, in denen Gewalt gegenüber Homosexuellen befürwortet und die Ermordung von Homosexuellen ausführlich beschrieben und proklamiert wird. Durch die transnationale Verbreitung der Dancehall-Musik wurden die unmaskierten homophoben Inhalte Hörer_innen in zahlreichen ›westlichen‹ Gesellschaften zugänglich, in denen Homosexualität ›akzeptierter‹ ist und Homophobie ›versteckter‹ stattfindet. Auf diese Weise offenbarte sich einem globalen Publikum das Ausmaß der Homophobie auf Jamaika.
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Kriminalisierung von Homosexualität Der Artikel 76 des Offences Against the Person Act im jamaikanischen Strafgesetzbuch verurteilt unter anderem gleichgeschlechtlichen männlichen Geschlechtsverkehr als »abscheuliches Verbrechen der Unzucht« (»abominable crime of buggery«). Der Paragraph bezieht sich neben dem Analverkehr zwischen Menschen auch auf sexuellen Verkehr mit Tieren und ist nicht genderspezifisch formuliert. Trotzdem ist im Untersuchungszeitraum 2004 kein Fall bekannt, in dem er auf einvernehmlichen heterosexuellen Sex zwischen zwei Volljährigen angewandt wurde. Er dient gegenwärtig primär zur Kriminalisierung von männlicher Homosexualität. 8 Weibliche Homosexualität taucht in den Gesetzbüchern Jamaikas nicht auf. Dies unterstreicht den Zusammenhang zwischen heteropatriarchalen Vorstellungen, Nationalstaat, Staatsbürgerschaft und Gesetzgebung. Im Artikel 79 wird die Abweichung von der heterosexuellen Norm als »Gross Indecency« verurteilt (Williams 2000: 110). Verstöße gegen die Buggery and Gross Indecency Laws werden mit hohen Strafen geahndet. Höchststrafen für Analsex sind zehn Jahre Haft und Zwangsarbeit (vgl. White und Carr 2005: 349). Auch wenn die jamaikanische Polizei keine Schlafzimmerdurchsuchungen durchführt und Verurteilungen selten vorkommen, liefert die juristische Ächtung und Kriminalisierung von männlicher Homosexualität eine Grundlage zur Aufrechterhaltung eines allgemeinen homophoben gesellschaftlichen Konsenses. Die Kriminalisierung von homosexuellen Männern erfolgt auf der Basis von Gesetzen, die ihren Ursprung in der britischen Kolonialherrschaft haben. Die Angst vor einer vermeintlich ungebändigten Sexualität der versklavten Afrikaner_innen sowie biopolitische Maßnahmen, die auf eine möglichst große Anzahl an Sklav_innen abzielten, motivierten solche Gesetzesbeschlüsse im britischen Kolonialreich (vgl. LaFont 2001: 22). Die Eliten im unabhängigen jamaikanischen Staat hatten kein Interesse daran, die Formen des »kolonialisierten Begehrens« in den Zusammenhang mit der Plantagensklaverei und britischer Herrschaft zu setzen und einer fundamentalen Kritik zu unterziehen (Kamugisha 2007: 33). Durch ihr Fortbestehen werden
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Zur Verurteilung von Homosexuellen veranlasst durch die Buggery Laws kommt es kaum. Bei verurteilten Buggery-Straftätern handelt es sich meist um erwachsene Männer, die sich sexuell an Jugendlichen und Kindern vergangen haben. Da sexueller Missbrauch von Minderjährigen und die Kriminalisierung von homosexuellen Männern über den gleichen Paragraphen ablaufen, wird der Eindruck vermittelt, homosexuelle Männer würden sich grundsätzlich an Kindern vergreifen. Verurteilungen aufgrund der Buggery-Gesetze stiegen in den 1990er-Jahren deutlich von vier Fällen 1992 auf 37 im Jahr 2003 an (vgl. Ustanny 2006: 3). Die gewachsene öffentliche Wahrnehmung der Verbrechen könnte zumindest teilweise für den Anstieg von explizit antihomosexuellen Dancehall-Lyrics verantwortlich sein.
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homosexuellen Jamaikaner_innen bis zum heutigen Tage die vollen Bürgerrechte verwehrt (vgl. Kamugisha 2007: 30). Die gesetzlich verankerte Homophobie betrifft Lesben weniger direkt als Schwule. Auch im allgemein homophoben Meinungsklima liegt der Fokus primär auf männlichen Homosexuellen. Grund dafür ist, dass eine lesbische Lebensweise nicht als Bedrohung für die Vorherrschaft des Patriarchats gesehen wird. Das liegt daran, dass patriarchale Auffassungen nicht nur auf Jamaika, sondern auch im ›Westen‹ das gesellschaftliche und juristische Verständnis von Sexualität dominieren. Sexualität wird primär über den Akt der Penetration definiert. Dabei wird stets davon ausgegangen, dass der Mann der Penetrierende ist, während die Frau penetriert wird. Sex zwischen zwei Frauen findet ohne Penetration durch einen Phallus statt und wird deshalb häufig nicht als ›wirkliche‹ Sexualität wahrgenommen. Sex zwischen zwei Männern hingegen macht mindestens einen Mann zum Penetrierten. Das wird in den Augen vieler gleichgesetzt mit einer ›Verweiblichung‹ des Mannes und birgt damit die Gefahr, das patriarchale Privileg zu zerstören. Auf Jamaika kommt zu diesem Aspekt noch die Symbolkraft des Penis beim heterosexuellen Sexualakt hinzu. Der Phallus wird dabei in erster Linie in populärkulturellen Diskursen als Pistole und kräftiges Werkzeug gelesen und in der postkolonialen Nation mit der Befreiung der Schwarzen Massen durch den heterosexuellen Mann verbunden (vgl. Pinnock 2007: 55). Im frühen 21. Jahrhundert ist gleichgeschlechtlicher Sex unter Frauen, speziell beim Gruppensex mit einem Mann, auch auf Jamaika ein Element heterosexueller Männerfantasien geworden. Nichtsdestotrotz wird Geschlechtsverkehr zwischen Frauen auf Jamaika vom Großteil der Gesellschaft abgelehnt. Werden homosexuelle Männer nicht nur in der Dancehall als batty boy, batty man, chi chi man, fish, maama man oder funnny man degradiert, existieren für Lesben die pejorativen Bezeichnungen man royals oder sodomite (girls) (vgl. Silvera 1992: 522; Hope 2010: 78). Auf Jamaika wird Homosexualität nicht als eine Menschenrechtsfrage betrachtet (vgl. Williams 2000: 110). Mit ihr wird immer noch ein großes Stigma verbunden, das auf zahlreichen unterschiedlichen gesellschaftlichen Ebenen institutionalisiert ist. Homophobie manifestiert sich durch das Rechtssystem, das Gesundheitssystem, das Sozialsystem sowie durch kulturelle Erzeugnisse, vorrangig in der jamaikanischen Populärkultur. Viele Jamaikaner_innen verbinden darüber hinaus Homosexualität mit HIV, was dazu führt, dass sowohl heterosexuelle als auch homosexuelle HIVInfizierte gesellschaftlich ausgegrenzt werden und oftmals durch das Verheimlichen ihrer Erkrankung zur Verbreitung des Virus beitragen (vgl. White und Carr 2005: 357). Klassenzugehörigkeit spielt eine bedeutende Rolle bei der Form der Diskriminierung von Homosexuellen, anderen sexuellen Minderheiten und Menschen mit HIV. Vielerorts führt eine HIV-Infektion zu einer Infragestellung der Heterosexualität der betroffenen Personen durch ihre Mitmenschen. Aus diesem Grund sind sowohl heterosexuelle HIV-Infizierte als auch Homosexuelle und Homosexuelle mit HIV
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mit ähnlichen Formen der Diskriminierung konfrontiert (vgl. White und Carr 2005). Reichere Homosexuelle genießen größeren Schutz vor Diskriminierung, da sie außerhalb der inner-city Communitys wohnen. Sie besitzen mehr Privatsphäre und Mobilität, die sie abschirmen, und leben in einem weniger gewalttätigen Umfeld (vgl. Carr 2003: 23). Interessanterweise belegen Umfragen, dass 57,7 Prozent der Jamaikaner_innen davon ausgehen, dass Homosexualität primär in der upper class stattfindet (vgl. Boxill et al. 2011: 16). 9 Männer aus der lower class besitzen kaum Rückzugsmöglichkeiten. Öffentlich bekannte Homosexualität und eine HIV-Erkrankung wirken sich auf sie ähnlich stigmatisierend aus. Homosexuelle aus der working class werden im besten Fall nur gemieden, oft aber auch zur Flucht aus ihrer Gemeinde gezwungen, was sie jeglichem Schutz beraubt. Besonders die Gebiete in der Innenstadt Kingstons sind wegen ihrer Verbindungen mit dem Drogenkrieg und gewaltsamen parteipolitischen Konflikten oft seit Jahrzehnten verfeindet. Der militarisierte Stadtbezirk hat nicht nur eine aggressive Wirkung nach außen, sondern dient auch zum Schutz ihrer Bewohner_innen nach innen. Homosexuelle werden aber aus dieser Gemeinschaft ausgeschlossen. Sie gelten als verweichlicht und verkörpern das Antonym zur geforderten badness. Ihr Verrat am männlichen Geschlecht durch ihre Homosexualität ist gleichzeitig auch ein Verrat an der Gemeinschaft, aus der sie ausgestoßen werden. Deshalb werden sie besonders verwundbar für die Gewalt, die den Alltag in den armen Regionen der Hauptstadt prägt (vgl. Carr 2003: 23). Der Zusammenhang zwischen Homosexualität und Obdachlosigkeit wird deutlich anhand zahlreicher Hausbesetzungen durch Homosexuelle, die im Sommer 2013 in die Aufmerksamkeit der jamaikanischen Medien rückten (vgl. Lalah 2013). Dass homophobe Einstellungen und class verknüpft sind, machte eine im Herbst 2010 durchgeführte Umfrage des Instituts für Soziologie an der University of the West Indies in Mona, Kingston, deutlich. Es stellte sich heraus, dass homophobe Einstellungen am stärksten bei nicht-akademischen Männern aus der lower class vorkommen, die eine Nähe zur Dancehall-Kultur aufweisen (vgl. Boxill et al. 2011: 3). Auch die jamaikanische Politik macht sich die Abneigung gegenüber Schwulen und Lesben im eigenen Land zu Nutze. Homosexualität fungierte dort lange, wie in den clashes der Deejays, als Instrument für Schmierkampagnen gegen politische Kontrahent_innen (vgl. White und Carr 2005: 352). Bekanntestes Beispiel ist der Song »Chi Chi Man« der Gruppe T.O.K., den der JLP-Politiker Edward Seaga bei seiner Kampagne gegen den PNP-Politiker P. J. Patterson 2001 verwendete. Seagas Ziel war es dabei, Pattersons Heterosexualität in Frage zu stellen (vgl. Cooper 2004a: 163). Letzterer geriet durch Seagas Kampagne derartig unter Druck, dass er bei einem Radiointerview im Programm The Breakfast Club im Juni 2001 öffentlich seine Heterosexualität beteuerte:
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Siehe Kapitel Der antihomosexuelle Diskurs auf Jamaika.
110 | D ANCEHALL UND H OMOPHOBIE My credentials as a lifelong heterosexual person are impeccable. Anybody who tries to say otherwise is not just smearing, is not (just) vulgar abuse, but when you talk about demonizing, that is that. I want to put that on the tables squarely (»The Week, That Was. June 10 - June 16« 2001).
Anthony Lewis und Robert Carr machen darauf aufmerksam, dass die nationale jamaikanische Identität ebenfalls eng mit Definitionen von gesellschaftlich akzeptierter Sexualität verflochten ist. Heterosexualität ist dabei die Norm, die in zahlreichen öffentlichen Auseinandersetzungen gefestigt wird. Das findet nicht nur statt, wenn oppositionelle Politiker_innen als homosexuell verunglimpft werden, sondern auch wenn Entertainer_innen Jamaicanness als strikt heterosexuell inszenieren, die Objektivierung von nackter Männlichkeit in Form der Statue »Redemption Song« im Emancipation Park Kingstons 2003 zu einer gesellschaftlichen Kontroverse führt oder der jamaikanische Premierminister Bruce Golding 2008 in einem BBC-Interview Homosexuellen den Eintritt in sein Kabinett verwehrt (vgl. Carr und Lewis 2009). 10 Gemeinhin wird auf Jamaika Homosexualität oftmals als nicht-jamaikanisch beziehungsweise als ein Phänomen, das außerhalb der physischen Grenzen des Staats stattfindet, wahrgenommen (vgl. Nelson 2008: 239). Homosexualität wird deshalb häufig als Import aus dem weißen ›Westen‹ gesehen, der durch Kolonialismus, Imperialismus und Sklaverei nach Jamaika gebracht wurde. 11 10 Laura Faceys Statuen eines nackten Schwarzen Paares im Emancipation Park in New Kingston lösten bei ihrer Einweihung eine gesellschaftliche Kontroverse aus. Die Nacktheit und vor allem die deutlich sichtbaren Geschlechtsorgane der beiden Statuen empörten viele Jamaikaner_innen. Laut Carr und Lewis ist die Ursache für die Entrüstung weniger bei der prüden und konservativen Einstellung, die gegenüber Sexualität generell auf Jamaika herrscht und nur in der Dancehall herausgefordert wird, zu suchen. Ihrer Ansicht nach störte vielmehr der nackte Schwarze Mann und dessen Objektivierung. Sein sichtbarer Penis und damit seine Sexualität waren ein Verstoß gegen die gängigen Geschlechtervorstellungen auf Jamaika. Diese gehen davon aus, dass Frauen Objekte der Betrachtung sind und Männer stets die Rolle des Betrachters einnehmen. Die visuelle Konfrontation mit dem nackten, ›schlaffen‹ männlichen Geschlechtsteil rief aus diesem Grund bei vielen Betrachtern eine Irritation ihrer Heterosexualität hervor, da sie gelernt hatten, lediglich Weiblichkeit als Objekt zu begreifen und nun plötzlich als Männer einen nackten Mann betrachten mussten (vgl. Carr und Lewis 2009). Auch wenn die Statue ein heteronormatives Bild von Schwarzsein und Jamaikanisch-Sein verkörpert, führte weiterhin der passiv auftretende Mann, der keinerlei Anschein erweckt, sich der nackten Schwarzen Frau zu nähern, bei einigen Jamaikanern zu Irritationen (vgl. Brown-Glaude 2006: 56) Die passive Abbildung der Frau hingegen entsprach dem typischen weiblichen Rollenbild, das respektables Verhalten und eine passive Sexualität von Frauen verlangt (vgl. Brown-Glaude 2006: 58). 11 Siehe Kapitel Der antihomosexuelle Diskurs auf Jamaika.
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Gewalt gegenüber Homosexuellen und anderen sexuellen Minderheiten Das TIME Magazine betitelte 2006 einen Artikel über das jamaikanische ›Homophobie-Problem‹ mit der Überschrift: »The Most Homophobic Place on Earth?« (Padgett 2006). Unterstrichen werden solche Aussagen meist durch die gewaltsamen Übergriffe auf Schwule und Ermordungen von Trans- und Homosexuellen sowie Biographien von jamaikanischen Homosexuellen, die aus Furcht vor homophober Gewalt das Land verlassen und Asylanträge in Großbritannien und Nordamerika stellen. 12 Hauptsächlich in den 1990er-Jahren und um die Jahrtausendwende kam es zu einer Vielzahl an Übergriffen auf Homosexuelle auf Jamaika. Dokumentiert ist das Umschlagen von Homophobie in konkrete Gewaltbereitschaft beispielsweise, als sich ein mit Macheten bewaffneter Mob 1994 in uptown Kingston versammelte, um einer vermeintlichen Gay-Pride Demonstration entgegenzutreten. Bei der LGBTTIQ-Parade hatte es sich letztendlich nur um ein Gerücht, basierend auf Falschmeldungen der Presse, gehandelt (vgl. Lake 1998: 130; Maxwell 2004b: 16). Für Schlagzeilen sorgte ebenfalls eine Gefängnisrevolte im August 1997. Diese brach aus, nachdem bei einer offiziellen Ankündigung im Radio die Rede davon war, Kondome an männliche Häftlinge zu verteilen. Das Verteilen von Kondomen wurde als Beweis für die Existenz von homosexuellen Männern im Gefängnis gewertet, die anschließend gesucht, gejagt und getötet wurden. Am Ende der dreitätigen Ausschreitungen waren 16 Gefangene von ihren Mithäftlingen ermordet worden (vgl. Williams 2000: 107). Die Ermordung des LGBTTIQ-Aktivisten Brian Williamson im Sommer 2004 und des HIV-Aktivisten Lenford »Steve« Harvey im November 2005 unterstrichen für die Weltöffentlichkeit die lebensbedrohliche Situation, in der sich Homosexuelle auf Jamaika befanden. Die Gewalttaten markierten für internationale Beobachter_innen den grausamen Höhepunkt der Homophobie. Auf Jamaika wurden sie sowohl von Polizei als auch vonseiten der Presse als Raubüberfälle gewertet, da während der Prozesse kein homophober Tathintergrund bestätigt werden konnte. 13 12 Im Jahr 2010 gewährten die Vereinigten Staaten von Amerika 38 sexuell Verfolgten aus der Karibik Asyl aufgrund von Diskriminierung und Gefahr in ihrer Heimat. Darunter waren 28 Jamaikaner_innen (vgl. »28 Gay Jamaicans Granted Asylum in US Last Year« 2011). Asylanträge wegen sexueller Diskriminierung und Verfolgung bergen aber zahlreiche Probleme und zwingen die Betroffenen sowohl sexuelle Orientierung als auch Verfolgung zu beweisen. Der Gleaner berichtet am 13. Juni 2004 über die jamaikanische Lesbe, Sandra Euspet, die aus Großbritannien abgeschoben werden sollte, da man in Anbetracht ihrer Kinder an ihrer Homosexualität zweifelte (vgl. »Sandra’s Story« 2004). 13 Entgegen der internationalen Deutung der beiden Morde an den Aktivisten schrieb die jamaikanische Presse beide Male von Raubüberfällen, da beide Opfer bestohlen wurden und
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Spontane gewalttätige Ausschreitungen gegenüber Schwulen und Lesben werden als »judgements« oder »batty judgements« bezeichnet (vgl. Carr 2003). Dabei werden meist homosexuelle Männer oder Männer, deren Auftreten nicht den strengen maskulinen Kriterien entspricht, durch einen Mob vertrieben, gejagt und oft auch ermordet (vgl. Carr 2003: 19). Häufig geschehen diese Hetzjagden mit dem Wohlwollen der Angehörigen und toleriert durch das Wegsehen der Polizei. Sie sind einzuordnen in eine grundsätzlich vorhandene Tendenz zur Selbstjustiz auf Jamaika, die durch das hohe Gewaltpotenzial in der Gesellschaft und ein Misstrauen gegenüber der staatlichen Justiz katalysiert werden. Die jamaikanische Gesellschaft ist mit einem allgemeinen Gewaltproblem konfrontiert. Im Jahr 2004 lag die Mordrate bei 1.442 Morden bei einer Bevölkerung von gut 2,5 Millionen Einwohner_innen (»Murder Rate Climbs in ‘04« 2004). Im Jahr 2005 sogar bei fast 1.700 Ermordeten, das sind 64 Opfer auf 100.000 Einwohner_innen (Gewecke 2007: 62). Lynchmobs aus der Bevölkerung gehen äußerst aggressiv gegen Normabweichler_innen vor. Das betrifft bei Weitem nicht nur Homosexuelle, sondern auch Mörder_innen, Vergewaltiger, Dieb_innen und sonstige Kriminelle, die als Gefährdung für die Gemeinschaft wahrgenommen werden. 14 Gewalt richtet sich nicht nur gegen Trans- und Homosexuelle, sondern auch gegen Frauen. Im Jahr 2004 wurden insgesamt 141 Frauen auf Jamaika ermordet. Ferner wurden für 2004 860 Vergewaltigungsfälle in den Polizeistatistiken festgehalten (vgl. Ustanny 2006: 3). International bekannt wurde die prekäre Lage der jamaikanischen LGBTTIQ-Gemeinschaft hauptsächlich durch Berichte der Nichtregierungsorganisationen Amnesty International und Human Rights Watch, die Übergriffe, Hetzjagden und Ermordungen als Alltagsrealität von jamaikanischen Homo- und Transsexuellen publik machten und die jamaikanische Regierung zum Handeln aufforderten. Im Bericht Hated to Death. Homophobia, Violence and Jamaica’s HIV/AIDS Epidemic schildert HRW die gefährlichen Lebensbedingungen von Homosexuellen anhand der Ermordung des schwulen Aktivisten Brian Williamson 2004. Außerdem erläutert der Bericht, dass Homosexuelle auf Jamaika nicht auf den Schutz der Polizei bauen können (vgl. Hated to Death. Homophobia, Violence and Jamaican’s HIV/AIDS Epidemic 2004: 2). Das zeigt sich auch bei der Ermordung eines Schwulen am 18. Juni 2004 in Montego Bay, der unter Anwesenheit der Polizei von einem Mob
im Falle von Brian Williamson der Mörder das Opfer kannte und später vor Gericht die Tat als Raubmord gestand. 14 Ein Beispiel dafür ist der Tod von zwei Autodieben im Jahr 2011, die beim Versuch einen Bus zu stehlen von Anwohner_innen gejagt und letztendlich erschlagen wurden (vgl. Hines 2011).
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getötet wurde. Der Bericht richtet harte Vorwürfe an die jamaikanischen Ordnungshüter_innen und Politiker_innen, die Übergriffe auf Homosexuelle billigend in Kauf nahmen oder durch homophobe Propaganda geistige Brandstiftung verübten. HRW erwähnt daneben die homophoben Dancehall-Lyrics, die ein Klima der Intoleranz gegenüber Homosexuellen schüren, und somit den kulturellen Nährboden für die Diskriminierung und Gewalt gegenüber Schwulen und Lesben schaffen (vgl. Hated to Death. Homophobia, Violence and Jamaican’s HIV/AIDS Epidemic 2004: 12). Laut des britischen Menschenrechtsaktivisten Peter Tatchell waren die Meldungen von HRW und AI in gewisser Weise ein Verdienst der britischen Homosexuellen-Organisation Outrage! und dem Jamaica Forum For Lesbians, All-Sexuals and Gays (J-FLAG). Sie beeinflussten die Menschenrechtsorganisationen, Berichte über die Diskriminierung von Homosexuellen und anderen sexuellen Minderheiten auf Jamaika zu erstellen, damit diese sich unterstützend auf die Stop Murder Music-Kampagne auswirken konnten. 15 J-FLAG ist bis heute die einzige lokale Organisation, die sich für die Rechte der LGBTTIQ-Gemeinschaft auf Jamaika einsetzt. Die Organisation wurde am 10. Dezember 1998 von einer etwa zehn Personen großen Gruppe gegründet. Die Gründer_innen kamen aus den Bereichen Bildungsarbeit, Medien, Menschenrechte und HIV-Hilfe und nahmen sich vor, politische Arbeit für die LGBTTIQ-Gemeinschaft zu betreiben, die Themen außerhalb der Diskussion um HIV und Homosexualität betreffen sollte (vgl. Lewis 2011). Zu ihren Aufgaben gehören die Dokumentation von Übergriffen auf Menschen aus der LGBTTIQ-Gemeinschaft, deren Beratung sowie die Herstellung eines öffentlichen Bewusstseins für Homosexualität und andere sexuelle Minderheiten auf Jamaika. In der jamaikanischen Gesellschaft löste das Erscheinen von J-FLAG zuerst einen Schock aus. Homosexualität war zu diesem Zeitpunkt etwas, das die Mehrheit der Jamaikaner_innen radikal ablehnte (vgl. Williams 2000: 108). Aus diesem Grund wollten viele tunlichst vermeiden, dass gleichgeschlechtliche Sexualität ein Punkt auf der nationalen politischen Agenda wurde. Zwar konnte niemand leugnen, dass Homosexualität auf Jamaika existierte, man forderte aber von Homosexuellen, diese hinter verriegelten Türen, fernab der Augen der jamaikanischen Öffentlichkeit, auszuleben. Diese Einstellung findet man auch heute noch häufig auf Jamaika vor. Die 15 Laut Peter Tatchell wurden sowohl die Studie von AI als auch der Bericht von HRW durch Lobbying von Outrage! angestoßen. Das bekräftigte Tatchell in einem persönlichen Interview: »AUTOR: And what was the relation between your campaign and the human rights reports from 2004? There was the Hated to Death Report in 2004. TATCHELL: Human Rights Watch. AUTOR: The Human Rights Watch and there was one by Amnesty International, too. TATCHELL: That’s right. AUTOR: Were they related or did they just appear in parallel? TATCHELL: We were lobbying them to do reports. They both produced independent reports that corroborated what we and J-FLAG were saying« (Tatchell 2011).
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Forderung Homosexualität, wenn überhaupt, im Verborgenen auszuleben, wurde von J-FLAG und dem ermordeten Vorsitzenden Brian Williamson bewusst ignoriert. Stattdessen ist es das Ziel der Organisation, ein breiteres gesellschaftliches Bewusstsein für die Rechte von Schwulen, Lesben, Bi- und Transsexuellen auf Jamaika zu etablieren. J-FLAG betrachtet sich selbst, laut Generaldirektor Dane Lewis, als Interessenvertretung von Homo- und Transsexuellen auf Jamaika: »We assume that every Jamaican who is gay or lesbian or bisexual or transgender is automatically a member. But we don’t have a membership« (Lewis 2011). Der Aktionsbereich der Gruppe beschränkt sich nicht nur auf die nationale Ebene. Aufgrund der jamaikanischen Diaspora besitzt J-FLAG gute Kontakte in die USA, nach Kanada und nach Großbritannien. Vernetzt ist die Organisation überdies mit anderen Schwulen-, Lesben- und Transgendergruppen in der Karibik. Mit diesen teilt J-FLAG, nicht zuletzt wegen vergleichbarer historischer und gesellschaftlicher Bedingungen, ähnliche Interessen, die in der transnationalen Gruppe Caribbean Forum for Liberation of All-sexualities and Genders (CARIFLAGS) artikuliert werden (vgl. Lewis 2011). Eine Besonderheit mit der J-FLAG jedoch umgehen muss, ist, dass Homophobie auf Jamaika nicht nur in der Politik und den Gesetzen des Landes, sondern massiv in der Populärkultur vorhanden ist. Homophobie in der jamaikanischen Populärkultur World is in trouble Anytime Buju Banton come Batty bwoy get up an’ run A gunshot me ‘ead back ‘Ear I tell ‘im now crew It’s like Boom bye bye Inna batty bwoy ‘ead Rude bwoy no promote no nasty man Dem ‘affi dead Boom bye bye Inna batty bwoy ‘ead Rude bwoy no promote no nasty man Dem ‘affi dead. BUJU BANTON, BOOM BYE-BYE
Das Zitat entstammt Buju Bantons Song »Boom Bye-Bye« (1992). Die Patwah-Textpassage, in der Banton lautmalerisch das Geräusch des Pistolenschusses imitiert, der
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in den Kopf des »batty bwoy« gefeuert wird, avancierte international zum Symbol für die aggressive Form von Homophobie in der Dancehall-Musik. Ablehnende Haltungen gegenüber Homosexualität finden sich in der jamaikanischen Populärkultur jedoch nicht erst seit der Existenz der modernen Dancehall-Musik. Bereits im Jahr 1978 veröffentlichte King Sounds den Song »Spend One Night In A Babylan«, in dem die sündhaften sexuellen Verfehlungen der biblischen Städte Sodom und Gomorra als Bestandteile ›Babylons‹ und damit des ›Westens‹ dargestellt werden (vgl. Gutzmore 2004: 126). Im Jahr 1988 machte sich Lovindeer in seinem Song »Bump Up« über den vermeintlichen Gewinner eines »Mister Gay Mobay Contest« in Montego Bay lustig und warnte gleichzeitig davor, dass Homosexualität bald auf Jamaika überhandnehmen werde: »Batty business a take ova« (Lovindeer 1988). Ein Jahr später veröffentlichte Professor Frisky den Song »Homosexual« (1989), in dem er sich gegen Homosexuelle aussprach. Des Weiteren wurde Homosexualität in den 1980er-Jahren oft in Randnotizen in Dancehall-Lyrics thematisiert und verteufelt (vgl. Hope 2010: 77). Die aggressive verbale Verdammung von Schwulen und Lesben nahm in den 1990er-Jahren und um die Jahrtausendwende zu, so dass beinahe jeder bedeutende zeitgenössische jamaikanische Dancehall-Deejay, egal ob Rastafari oder Gangster, auf einen oder mehrere explizit schwulenfeindliche Titel verweisen konnte. Um im Vergleich mit ihren Kontrahenten nicht als unglaubwürdig oder weniger heterosexuell maskulin zu wirken, waren die Deejays praktisch gezwungen, eine verbale Attacke gegen Homosexuelle in ihrem Repertoire zu besitzen. Die Performance von Heterosexualität beschränkt sich aber nicht auf die männlichen Deejays, sondern spielt auch für Reggae- und Dancehall-Künstlerinnen, wie beispielsweise Lady Saw eine Rolle, die sich in ihrem Song »Defend The Girls« (2000) brutal gegen Schwule und Lesben ausspricht. Die Ausprägungen der Homophobie in der Dancehall unterscheiden sich deutlich von schwulenfeindlichen Äußerungen im US-amerikanischen Rap. In den Lyrics afroamerikanischer und weißer amerikanischer Rapper_innen ist meist nur der anal oder oral penetrierte Mann derjenige, der verachtet wird. Er nimmt durch das Penetriertwerden die Rolle der Frau beim Sex ein und wird dadurch in der sexistischen und patriarchalen Denkweise der Künstler_innen herabgewürdigt (vgl. Barnes 2006: 132). In der jamaikanischen Dancehall-Musik ist es unwesentlich, welchen Part ein Homosexueller einnimmt. Selbst heterosexueller Oral- oder Analsex, egal ob passiv oder aktiv, genügt um als homosexuell, ›deviant‹ und ›verweiblicht‹ betrachtet zu werden und wird deshalb verbal als Todsünde verteufelt. J-FLAG Vorsitzender Dane Lewis bezeichnet diese homophoben Songs in der Dancehall als »signature tunes« (Lewis 2011). Seiner Meinung nach übten sie insbesondere im Jahr 2004 enormen Druck auf die jamaikanischen Homosexuellen aus
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und motivierten zu Übergriffen auf Schwule und Lesben (vgl. Lewis 2011). 16 Erschreckend deutlich wurde die Rezeption der homophoben Lyrics, als nach der Ermordung von Brian Williamson im Sommer 2004 Menschen vor dessen Wohnsitz Buju Bantons homophobe Hymne »Boom Bye-Bye« sangen (vgl. Hated to Death. Homophobia, Violence and Jamaican’s HIV/AIDS Epidemic 2004: 2). Von zentraler Bedeutung für die internationalen Proteste gegen jamaikanische Dancehall-Interpret_innen sind außer »Boom Bye-Bye« von Buju Banton die Lieder, »Log on« (2001) von Elephant Man und »Chi Chi Man« (2001) von T.O.K.. Alle drei werden im Bericht von HRW aufgeführt und durch Übersetzungen aus dem jamaikanischen Patwah ins britische Englisch auch einer internationalen Öffentlichkeit zugänglich gemacht (vgl. Hated to Death. Homophobia, Violence and Jamaican’s HIV/AIDS Epidemic 2004: 74-79). Auch wenn die Lyrics zum Erhalt des homophoben Klimas auf Jamaika beitragen, wurde durch die permanente Erwähnung von Homosexuellen in der Dancehall, der batty boy auf der anderen Seite erst performativ geschaffen und mit der Möglichkeit, selbst zu agieren, versehen. Judith Butler erläutert diesen Prozess wie folgt: In being called an injurious name, one is derogated and demeaned. But the name holds out another possibility as well: by being called a name, one is also paradoxically, given a certain possibility for social existence, initiated into a temporal life of language that exceeds the purposes that animate that call. Thus the injurious address may appear to fix or paralyze the one it hails, but it may also produce an unexpected and enabling response. If to be addressed is to be interpellated, then the offensive call runs the risk of inaugurating a subject in speech, who comes to use language to counter the offensive call (Butler 1997: 2).
Mit anderen Worten, die permanente Hetze gegen den Homosexuellen als chi chi man und batty boy ermöglichte der LGBTTIQ-Gemeinschaft paradoxerweise den Schritt aus der Verborgenheit und öffnet damit die Chance zum Dialog und zum Widerstand. Auch Carolyn Cooper meint, dass erst die antihomosexuellen DancehallLyrics den chi chi man erschaffen haben (vgl. Cooper 2004a: 167). Die verbalen Performances der Deejays schufen also nicht nur den beabsichtigten Ausschluss von Homosexuellen aus dem jamaikanischen Identitätsgefüge, sondern trugen unbeabsichtigt dazu bei, dass eine internationale Gemeinschaft auf die Diskriminierung von Homosexuellen auf Jamaika aufmerksam wurde. Somit entpuppten sich die homopho-
16 »AUTOR: How would you describe the situation for homosexuals back in 2004 or at the beginning of the millennium in Jamaica? LEWIS: Certainly there was a lot more direct messaging through the music. There were all the signature tunes – Elephant Man’s ›Step Pon Chi Chi Man‹ [›Log on‹] – just as series of them, and it really put the [LGBT-]community under great danger« (Lewis 2011).
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ben Texte letztendlich als Katalysator für eine sowohl nationale als auch internationale Diskussion um Homophobie und die Rechte von Homosexuellen und anderen sexuellen Minderheiten, die durch die Dancehall-Musik auf eine internationale Ebene getragen und durch die Kampagnen internationaler Menschenrechtsorganisationen wiederum nach Jamaika reflektiert wurde. Wie sich das vollzog, soll im folgenden Abschnitt erklärt werden. Die Stop Murder Music-Kampagnen Die Proteste gegen jamaikanische Dancehall-Künstler_innen haben ihren Ursprung in den frühen 1990er-Jahren. Die Bewegungen konstituierten sich in ihren Anfängen mehrheitlich aus jamaikanischen Homosexuellen auf Jamaika und der karibischen Diaspora sowie weißen Homosexuellen, die sich dem Thema in den ›westlichen‹ Metropolen annahmen. Zu einem der Hauptakteure auf der internationalen Ebene wurde der britische LGBTTIQ-Aktivist Peter Tatchell und dessen Gruppe Outrage!. Auf diese geht auch die größte Kampagne unter dem Namen Stop Murder Music (SMM) zurück, deren Analyse im Zentrum des Buches steht. Die SMM-Kampagne begann 2004, sich massiv gegen die Auftritte von jamaikanischen Künstlern mit homophoben Lyrics einzusetzen. Laut Tatchell wurde die Thematik um homophobe Dancehall-Lyrics bereits in den frühen 1990er-Jahren von Jamaikaner_innen an die britische LGBTTIQ-Organisation Outrage! herangetragen (vgl. Tatchell 2011). Zu diesem Zeitpunkt gab es auf Jamaika noch keine Organisation für die Vertretung der Rechte von Schwulen, Lesben, Trans-, Bi- und Intersexuellen. Anstoß war das explizit homophobe und gewaltverherrlichende Lied »Boom Bye-Bye« des jungen Dancehall-Künstlers Buju Banton (Mark A. Myrie). Bantons homophober tune avancierte nicht nur auf Jamaika zum Hit, sondern erfreute sich ebenfalls in Großbritannien großer Beliebtheit, so dass das Stück auch von BBC und anderen kommerziellen Radiostationen unkritisch aufgegriffen und gespielt wurde (vgl. Tatchell 2011). Trotz erster Proteste in Nordamerika und Großbritannien lehnte es Buju Banton ab, sich für seinen Text zu entschuldigen, da dieser sowohl seinem persönlichen als auch seinem kulturellen Wertesystem entspräche (vgl. Saunders 2003: 96). Damit demonstrierte er laut Patricia J. Saunders gegenüber Jamaikaner_innen auf der Insel und in der Diaspora, dass Dancehall-Musik jamaikanische Kultur auch gegen den Druck seitens internationaler und speziell US-amerikanischer und britischer Märkte verteidigt (vgl. Saunders 2003: 96). Die Verbreitung von »Boom Bye-Bye«, ermöglicht durch die transnationale Dimension von Dancehall, provozierte in den Augen von Timothy Chin den Beginn eines kulturellen Konflikts (vgl. Chin 1997: 127). Auch wenn die Entstehung der Dancehall-Musik von transkulturellen Ereignissen geprägt ist, transportierte sie
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durch ihre lokale Orientierung am Leben in den ›Ghettos‹ Kingstons spezifische jamaikanische Inhalte. 17 Deshalb provozierte der antihomosexuelle Diskurs bezüglich Dancehall in Übersee eine Reaktion, die auf Jamaika in dieser Form niemand erwartet hatte. Die US-amerikanische Homosexuellenorganisation Gay and Lesbian Alliance Against Defamation (GLAAD) veranlasste erstmals 1992 Proteste gegen das Abspielen von »Boom Bye-Bye« in US-amerikanischen Radiostationen und markierte damit den Anfang aller späteren Kampagnen, die sich oftmals unabhängig voneinander in unterschiedlichen Ländern entwickelten und zu Selbstläufern wurden (vgl. Lewis 2011). Laut Carolyn Coopers Darstellung erschienen schon damals jamaikanische Homosexuelle als wichtige Schnittstelle, aber auch als eine Art von verräterischen informers 18, die den LGBTTIQ-Organisationen im ›Westen‹ Zugang zu den Lyrics in Patwah verschafften. Ihre Ausführungen haben dabei den Charakter einer Verschwörungstheorie: 17 Carolyn Cooper geht davon aus, dass es bisher kaum Dancehall-Lyrics gibt, die für ein internationales Publikum geschrieben werden. Die Mehrheit der Dancehall-Künstler_innen orientiere sich ihrer Meinung nach an den jamaikanischen Verhältnissen und einem jamaikanischen Publikum. Auf dieses seien die Entertainer_innen primär angewiesen, um nicht an Glaubwürdigkeit zu verlieren: »I don’t know that the transnational spread of Reggae has had any impact on the lyrics. I think people still write primarily for the Jamaican audience. I don’t think they sit down and write for an international audience. You have international deejays, maybe Jr. Gong [Damian Marley] and stuff. But when you listen to his language it is very much Jamaican, even he might not be talking about anti-homosexuality lyrics. However in a song like ›Welcome To Jamrock‹ [2005] he is talking in a very cultural specific way and if people want to understand it, they gonna have to make the effort to learn. So I don’t think the transnational spread of Reggae is making people write different kinds of songs but it’s more that people outside of Jamaica are interested and so they learn the language and take the time to understand« (Cooper 2011). 18 Informer oder infama werden Informant_innen genannt, die die eigene Gemeinschaft oder ihre Freund_innen verraten und die Polizei über kriminelle Vorgänge informieren. Besonders in den von dons regierten Innenstadtgebieten werden sie als Bedrohung des Friedens in der Gemeinschaft betrachtet. Die durch Gewalt und Drohungen aufrechterhaltene kollektive Schweigepflicht und Jagd auf Kollaborateur_innen führt aber auch dazu, dass die jamaikanische Polizei häufig wenig Unterstützung bei ihren Ermittlungen erhält. Informer werden sowohl im Alltag als auch in der Dancehall-Musik zur selben Gruppe der Normabweichler_innen gezählt wie Homosexuelle. In vielen Dancehall-Lyrics wird die brutale Ermordung der informer gefordert. Da verräterische Handlungen als ›unmännlich‹ gelten, gibt es viele Parallelen in den Texten gegen Verräter_innen an der Gemeinschaft und männliche Homosexuelle, die ebenfalls als Verräter am männlichen Geschlecht betrachtet werden.
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[I]t is rumored in Jamaica that the lyrics of »Boom By-By« were translated for GLAAD by a migrant Jamaican homosexual living in New York. This collaboration of North American and Jamaican homosexuals marks a new stage of politicization of consciousness outside of, and within, Jamaica around issues of heterophobia (Cooper 2004a: 167-168). 19
Im Jahr 1993 richteten sich die Proteste auf internationaler Ebene weniger gegen Buju Banton als vielmehr gegen den Dancehall-Künstler Shabba Ranks. Dieser war zu dem Zeitpunkt einer der international populärsten Dancehall-Künstler. 20 Die Kritik entzündete sich im Anschluss an die britische TV-Show The Word, in der sich Shabba Ranks positiv gegenüber Buju Bantons homophoben Lyrics geäußert hatte. Gegen Shabba Ranks Aussagen wurde GLAAD erneut aktiv und erreichte, dass der Künstler nicht im US-amerikanischen Fernsehsender NBC auftreten durfte (vgl. Rule 1993). Als Buju Banton 1993 bei Showtime at the Apollo, einer in Harlem, New York, aufgezeichneten Live-TV-Show auftreten sollte, wurde die Performance, veranlasst durch Proteste seitens GLAAD und dem New York City Gay and Lesbian Anti-Violence Project (AVP), abgesagt (vgl. Turner und Drummond 1993). Zwischen 1994 und 2002 ebbte das internationale Interesse an Homophobie auf Jamaika ab. Nur auf nationaler Ebene finden sich im Jamaica Gleaner Kommentare und Leserbriefe, welche die Gewalt gegen schwule und lesbische Jamaikaner_innen und deren Repräsentation in der Populärmusik scharf kritisieren (vgl. Boxill 1997; Williams 1999; Wishart 1999a; Wishart 1999b). Auf internationaler Ebene begann Peter Tatchell seinen Vorstoß gegen jamaikanische Dancehall-Künstler_innen mit homophoben Lyrics auf seiner Homepage unter dem Titel »Black Hate Singers Urge: Kill Queers. Why are reggae singers allowed to incite the murder of gay people?« im Jahr 2002 (vgl. Tatchell 2002). Dabei taucht 19 Carolyn Cooper spricht in ihrem Buch anstatt von Homophobie von »Heterophobie« (Cooper 2004a: 177). Darunter subsumiert sie nicht nur die Ablehnung vieler Jamaikaner_innen gegenüber Homosexuellen, sondern auch die Kritik, welche ihrer Ansicht nach primär ›westliche‹ Akteur_innen an den antihomosexuellen Dancehall-Lyrics äußern. Ihr Ansatz ist anfechtbar, da er Kritik und Kritiker_innen gleichsetzt und es sich bei den von Homophobie in der Dancehall Betroffenen um Jamaikaner_innen und eben nicht um sogenannte ›Fremde‹ handelt. Homosexualität ist auf Jamaika auch nicht ›fremd‹, wie es Cooper postuliert, sondern wird lediglich aufgrund der gesellschaftlichen Situation und dem öffentlichen Druck verheimlicht. Auch das ihrer Meinung nach »heterophobe« Verhalten der Aktivist_innen gegen Homophobie ist, da die Kampagne seit jeher auch von Jamaikaner_innen unterstützt wird, kaum haltbar. Verhaltensweisen, die wiederum Jamaikaner_innen als genuin homophob konstruieren beziehungsweise Homophobie als Teil von Schwarzsein darstellen, sollten besser mit dem Begriff Rassismus definiert werden. 20 Shabba Ranks Song »Mr Loverman« (1992) wurde von Sony Music (UK) vertrieben und stand 1993 auf Platz drei der britischen Singlecharts.
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bei Tatchell die Homophobie immer im Zusammenhang mit der sozialen Position Schwarz auf. Tatchell argumentiert, dass gerade Schwarze Künstler_innen, möglicherweise wegen ihres Schwarzseins, nicht wegen diskriminierendem Verhalten belangt werden: »When black artists call for the extermination of queers, they get away with it« (Tatchell 2002). Hier wird deutlich, dass es ihm und Outrage! nicht nur um die Situation auf Jamaika geht, sondern der Fokus der Argumentation auf einer Verschärfung der Hate Crime-Gesetze in Großbritannien liegt, in die er das Aufrufen zur Gewalt gegen Homosexuelle als Straftatbestand eingeschlossen sehen möchte: »Part of the problem is the law. Whereas incitement to racial hatred is a crime; inciting anti-gay hate is not« (vgl. Tatchell 2002). Aus diesem Grund empfiehlt er: »One possible solution is to extend the incitement to hatred laws, which currently criminalize only racist incitement« (Tatchell 2002). Auch in einem späteren Artikel Tatchells ist von »Schwarzer Homophobie« die Rede (Tatchell 2004a). 21 Durch diese Essentialisierung wurde der globale Fokus der späteren Stop Murder Music-Kampagne für die Öffentlichkeit immer weniger sichtbar. Im September 2004 startete Outrage! mit der Unterstützung von J-FLAG die Stop Murder Music-Kampagne, in der die Organisation gezielt gegen Konzerte von jamaikanischen Entertainer_innen vorging und Verantwortliche, Sponsor_innen und Veranstalter_innen dazu aufforderte, deren Veranstaltungen abzusagen. Ursprünglich hatte die internationale SMM-Kampagne von Outrage! neben den jamaikanischen Dancehall-Künstlern auch internationale Stars wie Eminem, Guns Nʼ Roses und Marky Mark, die durch homophobe Äußerungen auf sich aufmerksam gemacht hatten, im Visier. Da sich die Beschwerden gegen diese Musiker aber durch 21 Tatchell weist Vorwürfe aus der Schwarzen Gemeinschaft in Großbritannien und aus Jamaika, welche die SMM-Kampagne als rassistisch kritisieren, vehement zurück. Er beruft sich dabei unter anderem auf sein antirassistisches Engagement gegen das Apartheidsregime in Südafrika und die Tatsache, dass es sich bei den Opfern homophober Gewalt auf Jamaika um Schwarze Homosexuelle handelt: »I ask myself: how can it be racist to support black victims of homophobia and oppose violent homophobes in the music industry?« (Tatchell 2004a). Dabei missachtet Tatchell die Möglichkeit, dass nicht jede Intervention zugunsten subalterner Gruppen letztendlich zu deren Besten sein muss, wie Spivak in ihrem bereits erwähnten Beispiel verdeutlicht. Wenn weiße homosexuelle Aktivist_innen Schwarze Homosexuelle vor Schwarzen Unterdrückern befreien müssen und Homophobie bewusst als »Black Homophobia« charakterisiert wird, liegt in Tatchells Strategie sehr wohl eine essentialistische Verknüpfung von Homophobie und Schwarzsein vor, die als Rassismus kritisiert werden kann. Teilweise ist bei Outrage! festzustellen, dass Homophobie in der Schwarzen Gemeinschaft und auf Jamaika instrumentalisiert wurde, um die eigene privilegierte Position als weiße Homosexuelle sichern zu können. Das sollte unter anderem durch die Festschreibung von Anti-Hate-Laws stattfinden. Siehe Kapitel Alterisierungsprozesse und die internationalen LGBTTIQ-Organisationen.
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deren Einlenken bald erledigt hatten, richtete sich der Hauptfokus auf Jamaika und dessen Dancehall-Künstler (vgl. Tatchell 2011). Die Forderungen an die jamaikanischen Entertainer fasste Outrage! in einer Erklärung auf ihrer Homepage zusammen: 1. Make a public statement which specifically mentions that they are apologising to the lesbian and gay community, and which also explicitly states that they are apologising for encouraging and glorifying homophobic violence. Given that their lyrics specifically incite violence against lesbians and gays, a non-specific apology deploring violence in general would not be acceptable. 2. Affirm their support for the human rights of all people, including lesbians and gays. 3. Undertake to stop performing songs inciting homophobic violence, or re-releasing them, or licensing them; or recording any similar songs, or making any future public statements threatening or promoting violence against the gay community. 4. The apology must be a matter of public record. In other words, it should be from their own mouths in a national TV, radio or newspaper interview in the UK (Outrage! 2004).
Die Forderungen an Künstler wie Buju Banton, Elephant Man, Beenie Man, Sizzla, T.O.K., Bounty Killer, Capleton und Vybz Kartel wurden von keinem der jamaikanischen Deejays akzeptiert. Das hat unter anderem damit zu tun, dass ein Einlenken nicht nur ihre Glaubwürdigkeit innerhalb der jamaikanischen Fan-Gemeinde erschüttert hätte, sondern womöglich auch zu einer Infragestellung ihrer eigenen Heterosexualität in der jamaikanischen Öffentlichkeit geführt hätte. Da keiner der attackierten jamaikanischen Entertainer auf die Forderungen von Outrage! einging, wurden von 2004 an im großen Stil Veranstalter_innen von Dancehall-Konzerten in Kanada, den USA, Großbritannien, aber auch in Frankeich, Holland und Deutschland unter Druck gesetzt und dadurch zahlreiche Auftritte der besagten Künstler verhindert. Insgesamt wurden 2004 aufgrund des Drucks von LGBTTIQ-Organisationen nach inoffiziellen Angaben 36 Reggae- und Dancehall-Konzerte 22 abgesagt (vgl. Murder Inna Dancehall). Weder Outrage! und Peter Tatchell noch J-FLAG ging es nur um die homophoben Lyrics. Die Aktionen hatten auch das Ziel, den internationalen Erfolg der jamaikanischen Populärmusik als Vehikel dafür zu verwenden, die Frage nach der Gleichstellung von Homosexuellen und die Forderung nach einem Ende der Diskriminierung der LGBTTIQ-Gemeinschaft nach Jamaika zurückzubringen. 23 Darüber hinaus 22 Die inoffizielle Protesthomepage listet alle Konzerte, bei denen es im Jahr 2004 zu Protesten oder Absagen kam, auf. Sie verzeichnet insgesamt zwölf abgesagte Konzerte von Beenie Man, acht von Capleton, sieben von Sizzla, sechs von Buju Banton und je eines von Vybz Kartel, Elephant Man und Bounty Killer (vgl. Murder Inna Dancehall). 23 »J-FLAG set out the premises of the campaign. They said this is what we want to do. This is what we want to achieve. The purpose of the campaign was first of all to challenge this
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sollte die Kampagne eine generelle öffentliche Debatte über die Rechte von Homosexuellen, nicht nur auf Jamaika, sondern auch in Schwarzen Communitys in der Diaspora, katalysieren. Tatchell und Outrage! hatten also immer auch politische Interessen in Großbritannien. An der dortigen Schwarzen Gemeinschaft kritisierte Tatchell die Zurückhaltung bei der Verurteilung von Homophobie: »The silence of many black leaders means that anti-gay bigotry has free rein in parts of the black community. If Nelson Mandela, Jesse Jackson and Desmond Tutu can challenge homophobia and champion gay rights, why can’t British black leaders?« (Tatchell 2002). Des Weiteren versuchte Outrage! aus strategischem Interesse, die Debatte um die Gewalt gegen Homosexuelle und andere sexuelle Minderheiten in eine generelle Diskussion um Gewalt in der jamaikanischen Gesellschaft sowie in Großbritannien einzubetten. 24 Dabei sollten, laut Tatchell, auch misogyne Gewalt und die brutale Bandenkriminalität thematisiert werden. 25 Konkretere Bezüge auf Misogynie und Bandenkriminalität tauchten aber kaum in den Publikationen von Tatchell und Outrage! auf. Sie bildeten jedoch den strategisch wichtigen Verknüpfungspunkt mit sonstigen Kritiker_innen von Dancehall-Musik auf Jamaika und in der Diaspora. 26
particular Murder Music, but also to use the campaign around the music as a way of raising LGBT issues in the public mind. And then beyond that, to flag up the possibility of law reform and legal changes. So it wasn’t just narrowly focused on the music alone« (Tatchell 2011). 24 »Violent homophobia is the latest craze in the reggae off-shoot known as ragga or dancehall music. This descent into bigotry is surprising. Reggae once gave musical expression to voices for black liberation. Sadly, the love, peace and justice idealism of singers like Bob Marley and Delroy Washington has been usurped nowadays by a vicious homophobia and misogyny, and by the gratuitous glorification of gun culture and gang violence« (Tatchell 2002). Tatchell persönlich sieht die Musik auch in Verbindung zu Gewalt unter jamaikanischen Migrant_innen: »We did get some support from Black mothers in the UK who were campaigning against gun and knife crime. We saw and they saw Murder Music has being part of the whole gangster music culture which had some degree of culpability for the gang culture and mentality that has led to an extraordinary level of Black-on-Black knife and gun crime in cities like London« (Tatchell 2011). 25 »There is an extraordinary high level of rape in Jamaica. I can’t remember exactly what the figures are but a very high portion of young girls say that their first sexual experience was sexual assault or rape. And this whole macho violent culture oppresses both, women and gay people, and spills over into the whole of the Jamaican society« (Tatchell 2011). 26 Siehe Kapitel Der Diskurs gegen Dancehall.
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Die jamaikanische Diaspora und die Stop Murder Music-Kampagne Die Verflechtungen zwischen der jamaikanischen Diaspora und der Heimatinsel waren vor allem für die Argumentation gegen homophobe Dancehall-Lyrics von großer Bedeutung. Ohne die Diaspora und die transnationalen Verflechtungen innerhalb der LGBTTIQ-Organisationen wäre die Kampagne nicht umsetzbar gewesen. Bei einem Blick auf die jamaikanische Diaspora lässt sich diese in zwei Gruppen aufteilen. Für viele Migrant_innen aus der Karibik und deren Nachkomm_innen ist Homosexualität immer noch ein großes Tabuthema (vgl. Wahab und Plaza 2009: 3). Zu ihnen gehören die Jamaikaner_innen in Übersee, die Dancehall-Musik als Bestandteil eines jamaikanischen Identitätsgefühls schätzen und zelebrieren. Innerhalb dieser Gruppe bleibt die durch die Dancehall-Musik transportierte Ablehnung von Homosexuellen in der transnationalen jamaikanischen Diaspora aufrechterhalten. Homosexualität wird in diesen Teilen der Diaspora nicht nur infolge der Dancehall-Musik abgelehnt. Sie gilt auch allgemein als nicht-jamaikanisch. Die Diskussion um die Rechte von Homosexuellen wird in diesem Kontext von der Diaspora nicht als eine Auseinandersetzung zwischen homosexuellen Aktivist_innen und jamaikanischen Entertainern gesehen. Sie erhält eine größere Dimension und wird als eine Infragestellung der jamaikanischen Moralvorstellungen durch den hegemonialen ›Westen‹ aufgefasst (vgl. Wagstaffe 2006: 108). Auf der anderen Seite gibt es in der Diaspora auch einen kleinen Teil heterosexueller und homosexueller Jamaikaner_innen, die sich in Übersee dafür einsetzen, die homophoben Performances zu stoppen, um damit auf die Problematik um Homosexualität auf Jamaika und der jamaikanischen Diaspora aufmerksam zu machen. Dafür arbeiten sie nicht nur mit mehrheitlich weißen Organisationen in den USA, Kanada und Großbritannien zusammen, sondern auch mit J-FLAG auf Jamaika, woraus sich strategische Vorteile, aber auch Konfrontationen und Widersprüche ergeben. 27 Bei der transnationalen Interessenorganisation darf die zentrale Rolle des Internets nicht vernachlässigt werden (vgl. Wahab und Plaza 2009: 18). E-Mail-Verkehr und
27 Im Mai 2008 stellte beispielsweise die kanadische Homosexuellenorganisation Egale der damaligen jamaikanischen JLP-Regierung unter Bruce Golding ein Ultimatum. Egale drohte an, zum Boykott jamaikanischer Waren in Kanada aufzurufen, sollte die JLP-Regierung keine Bereitschaft signalisieren, die homophoben Gesetze überdenken zu wollen. Die kanadische Organisation wollte mit diesem Schritt ihr Angriffsfeld auf die ganze jamaikanische Gesellschaft ausweiten. J-FLAG distanzierte sich damals von diesem Boykottaufruf (vgl. Neufville 2008).
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YouTube verhalfen, neben persönlichem Austausch, den Aktivist_innen in unterschiedlichen Ländern zu einer guten Vernetzung und zu einem intensiven Informationsaustausch. 28 Die karibischen LGBTTIQ-Communitys in Nordamerika und Großbritannien bewegen sich generell im Spannungsfeld zwischen dem Rassismus, der ihnen sowohl in der weißen Mehrheitsgesellschaft als auch in der weißen LGBTTIQ-Gemeinschaft entgegenschlägt, und ihrem Status als Außenseiter_innen in der karibischen Gesellschaft. LGBTTIQ-Aktivist_innen aus den karibischen Gemeinschaften in Kanada berichten, dass weiße Schwulen- und Lesbenorganisationen der Problematik der homophoben Dancehall-Lyrics manchmal ignorant gegenüberstanden oder sie dafür instrumentalisierten, die freiheitliche Gesellschaft Kanadas und die Errungenschaften der weißen kanadischen LGBTTIQ-Gemeinschaft auf Kosten von Schwarzen Homosexuellen zu präsentieren. Dem liberalen und toleranten Kanada wurde das ›unterentwickelte‹ und intolerante Jamaika gegenübergestellt (vgl. Larcher und Robinson 2009: 6). Die transnationale SMM-Kampagne gab den karibischen Homo- und Transsexuellen in der Diaspora zwar eine Stimme und machte sie sichtbar, führte aber gleichzeitig dazu, dass mancherorts jamaikanische Migrant_innen lediglich als Übersetzer_innen für LGBTTIQ-Organisationen dienten und sie in die weitere Strategieplanung der Kampagnen kaum einbezogen wurden (vgl. Larcher and Robinson 2009: 7). Vereinzelt versuchten karibische Migrant_innen in der Diaspora den polarisierenden Aktionen der Hauptkampagne von Stop Murder Music entgegenzuwirken. Auch wenn J-FLAG in die Arbeit von Outrage! eingebunden war, wurden die britische Organisation und ihr Repräsentant Peter Tatchell international zu den Symbolfiguren des Protests und verdrängten die Repräsentant_innen sexueller karibischer Minderheiten weitgehend aus dem Zentrum der internationalen Berichterstattung. Darüber hinaus fügten Tatchells Vergleiche und Polemiken der Kampagne in den karibischen Ländern häufig Schaden zu (vgl. Larcher und Robinson 2009: 6). Die New Yorker No More Murder Music (NMMM)-Initiative ist ein Beispiel, wie eine kleine Gruppe von karibischen Migrant_innen ihre Ziele und Forderungen unabhängig von der SMM-Hauptkampagne formulierte. Ihr Ziel war es, der polarisierenden Hauptkampagne Stop Murder Music um Peter Tatchell und Outrage! einen eigenen Entwurf entgegenzusetzen. Im Mittelpunkt ihrer Argumentation standen folgende fünf Punkte: 1.
Der Einfluss von Dancehall-Musik auf Jamaika und Jamaikaner_innen sollte unterstrichen werden.
28 Interessant ist, dass Peter Tatchell, der Kopf der SMM-Kampagne, selbst nie Recherchen auf Jamaika durchgeführt hat und die Insel und die dortigen Verhältnisse lediglich aus Berichten von Jamaikaner_innen und Menschenrechtsaktivist_innen im Vereinigten Königreich kennt (vgl. Tatchell 2011).
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Die Aktionen verfolgten das Ziel, jamaikanische und karibische Stimmen in den Vordergrund zu rücken, auch wenn diese unter der Gesamtheit der Aktivist_innen eine Minderheit darstellten. Die Proteste sollten sich positiv auf jamaikanische Homo- und Transsexuelle auswirken. Außerdem wollte man Fans, Künstler_innen und Promoter_innen ansprechen, anstatt primär das Verhindern von Konzerten zu erreichen, was die karibische Gemeinschaft nur noch zusätzlich verprellen würde. Rassismus und die stereotype Darstellung von karibischer Kultur sollten keinen Platz in der Protestbewegung haben (vgl. Larcher und Robinson 2009: 5).
Die NMMM-Kampagne beschränkte sich aber auf wenige Aktionen und so blieb nicht nur auf Jamaika, sondern zum Beispiel auch in der Bundesrepublik Deutschland das Bild der Aktivist_innen auf Outrage!, Peter Tatchell, den LSVD und Politiker_innen, wie den Bündnis 90 / Die Grünen Bundestagsabgeordneten Volker Beck, reduziert. Diese Dichotomie drängte international die Schwarzen Stimmen im Protest an den Rand. Sie suggerierte den Jamaikaner_innen, dass lediglich ausländische Aktivist_innen an einer Verbesserung der Lebensbedingungen von Homosexuellen auf Jamaika interessiert waren und mit ihrer Agenda ›fremde‹ Inhalte auf die Insel bringen wollten. Im ›westlichen‹ Ausland half die Marginalisierung Schwarzer und afrokaribischer Stimmen in der Kontroverse, ein Bild von einer komplett homophoben und verrohten jamaikanischen Gesellschaft zu verbreiten. Dancehall-Lyrics und die Stop Murder Music-Kampagne Aufgrund der internationalen Kampagne gegen homophobe Lyrics entstand unter Akademiker_innen eine rege Diskussion um deren Sinn und Wirkung. Besonders Carolyn Cooper macht sich stark dafür, die Lyrics in einem spezifisch jamaikanischen kulturellen Kontext zu betrachten und sie lediglich als metaphorisch anzusehen (vgl. Cooper 2004a: 76, 77, 154). Cooper bedient sich in ihrer Argumentation einer starken Polarisierung, die Jamaika und den ›Westen‹ als völlige Gegensätze konstruiert und eine Dichotomie von ›fremder‹ Kultur und ›Heimatkultur‹ institutionalisiert (vgl. Chin 1997: 128). Die Übersetzungen der Patwah-Lyrics ins Englische werden aus dieser Sichtweise als eine Neuschreibung der Texte aufgefasst, die der sprachlichen Eigenständigkeit von Patwah mit »kultureller Arroganz« begegnet (vgl. Cooper 2004a: 177). Erst durch diesen Schritt, so Cooper, konnten LGBTTIQ-Aktivist_innen im ›Westen‹ die Anstiftungen zum Mord an Homosexuellen aus den Lyrics herauslesen (vgl. Cooper 2004a: 160). Den Gegner_innen der Lyrics wird vorgeworfen, diese außerhalb ihres »soziolinguistischen Kontexts« zu bewerten (Devonish 1996: 213). Dabei würden der orale Charakter der Dancehall-Lyrics und deren spezifischer Entstehungshintergrund vergessen. Die Texte hätten eigentlich keine Urheber_innen,
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sondern seien »Produkt der Gemeinschaft«, ergo der Interaktion zwischen Künstler_innen und Publikum bei Live-Auftritten (Devonish 1996: 229). Dies rechtfertige nicht, Künstler, wie zum Beispiel Buju Banton, für ihre Inhalte verantwortlich zu machen (vgl. Devonish 1996: 231). Gegen die Vorstellung von binären, abgeschlossenen und sich entgegengesetzten Kulturen spricht die transkulturelle und hybride Beschaffenheit der Dancehall-Musik, die trotz der Verwendung des jamaikanischen Patwah nie ein ›rein‹ jamaikanisches Produkt war (vgl. Welsch 1999: 198; Hope 2006b: 126). Stattdessen bedient sich die Musik zahlreicher Einflüsse außerhalb der Insel, die neben dem afrikanischen Erbe von den Vereinigten Staaten über Europa bis nach Japan reichen. Dancehall-Künstler_innen sind darüber hinaus »kulturelle Hybride« (Welsch 1999: 198). Ihre nationale Identität ist zwar oft jamaikanisch, die kulturelle Identität setzt sich hingegen aus der Vermischung und Einbeziehung unterschiedlicher kultureller Einflüsse zusammen (vgl. Welsch 1999: 199; Noble 2008: 111): Surely the hybridity of the dancehall complex entails that everyone is a stranger, just as much as everyone is a native; the distinction between insider and outsider collapses in the face of a bacchic intensity of display and desire (Bakare-Yusuf 2006a: 167).
Ferner kritisierten Wissenschaftler_innen die metaphorische Deutung der Lyrics, da diese nur begrenzt Raum für Interpretation ließen, konkrete Beschreibungen von Ermordungen aber kaum außerhalb ihrer eigentlichen Semantik begriffen werden konnten. Auch die Tatsache, dass Übergriffe auf Schwule und Lesben auf Jamaika nicht nur in Songtexten, sondern in der Realität vorkommen, unterstreicht die Wirkung der Lyrics auf das homophobe Gesamtklima auf Jamaika. Coopers Ansicht, dass es sich bei den antihomosexuellen Lyrics lediglich um Sprache handele, verharmlost überdies die Wirkung von Sprache bei der Herstellung von Realität (vgl. Noble 2008: 108). Die Zuschreibungen von ›wir‹ und die ›Anderen‹ beziehungsweise Insidern und Outsidern lassen gleich zwei Faktoren außer Acht. Erstens, dass viele Jamaikaner_innen aus der christlich fundamentalistisch beeinflussten middle class Dancehall mindestens so radikal ablehnen wie Homosexualität (vgl. Barnes 2006: 123). Zweitens, dass es auch auf Jamaika eine LGBTTIQ-Gemeinschaft gibt (vgl. Barnes 2006: 117). Letztere ist nicht nur auf der Insel, sondern auch in der Diaspora vorhanden, da es sich bei Homosexualität ebenfalls um ein universelles, kulturübergreifendes Phänomen handelt (vgl. Bakare-Yusuf 2006a: 171).
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Notions of race, class, culture and sexuality in Jamaica are crucially impacted by how gender is performed in Dancehall popular culture. AGOSTINHO PINNOCK 2007: 48
Dancehall-Musik ist primär das Artikulationsinstrument junger Schwarzer jamaikanischer Männer, die einen engen Bezug zu den armen Innenstadtgebieten Kingstons besitzen (vgl. Hope 2010: 13). Neben ihrer geographischen Komponente kann die Dancehall als ein »sozialer Raum« (Bourdieu 2006: 358) gesehen werden, in dem ein heterosexuelles, patriarchales Geschlechterbild durch Performances vermittelt, überwacht und aufrechterhalten wird (vgl. Stanley Niaah 2010: 140). Trotz eines Gleichgewichts zwischen Männern und Frauen bei Veranstaltungen, überwiegen Männer als Sänger, Deejays, Produzenten, Soundsystembesitzer, Promoter und Manager. Die jamaikanischen Frauen haben es aber geschafft, sich in der Dancehall ein eigenes, in Teilen autonomes Terrain, jenseits von männlicher Kontrolle, anzueignen. Die weibliche Aneignung fand und findet einerseits statt durch weibliche Deejays und Sängerinnen wie Lady Saw, Tanya Stephens, Spice und Macka Diamond und andererseits durch Tänzer_innen, allen voran den Dancehall-Queens. Das Phänomen slackness Ein spezifisches Charakteristikum der modernen Dancehall-Musik ist der Begriff slackness. Der Ausdruck diente anfänglich den ›respektablen‹ Eliten dazu, die vermeintlich »fahrlässige Sexualität« (Gray 2004: 310) der jamaikanischen lower class zu kritisieren. Seit den 1980er-Jahren fällt darunter ebenso das explizite Singen und Rappen über Sexualität in der Dancehall-Musik, das Teile der jamaikanischen Gesellschaft als Gefahr für die ›Zivilisation‹ interpretierten (vgl. Gray 2004: 311). Künstler_innen und Akademiker_innen eigneten sich den Begriff slackness anschließend in der Diskussion um Dancehall an und versahen ihn zusätzlich mit einer neuen, positiven Bedeutung (vgl. Cooper 1993: 141; Cooper 2004a: 3, 82). Dem Slackness-Diskurs liegt die bewusste und provokante Überschreitung traditioneller Anstandsnormen der jamaikanischen middle class zugrunde (vgl. Gray 2004: 310). Sexuell anzügliche Lyrics haben eine lange historische Tradition in der jamaikanischen Populärmusik, wurden aber durch Dancehall-Musik plötzlich in den Vordergrund gedrängt (vgl. Stanley Niaah 2006: 182). Die teils satirischen, teils schelmischen, teils pornografischen, teils frauenverachtenden Lyrics widersprechen
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den herrschenden Vorstellungen von Respektabilität, Moral und Heterosexualität in der jamaikanischen Gesellschaft. Sie werden deshalb sowohl von den fundamentalistischen Anhänger_innen der christlichen Konfessionen und den gesellschaftlichen Eliten als auch von vielen Rastafaris als vulgär abgelehnt. Das spiegelt sich besonders in regelmäßig wiederkehrenden Diskussionen über die Zensur von Dancehall-Musik in Radio und Fernsehen wider (vgl. Pfleiderer 2011: 180-81). Einer der erfolgreichsten Slackness-Deejays war Yellowman. Bekannt als »King Yellow«, erfreute er sich zwischen 1981 und 1984 auf Jamaika zeitweise einer ähnlichen Popularität wie Bob Marley zu seinen Lebzeiten (vgl. Duane, Barrow und Dalton 2001: 262, 273). Berühmt war Yellow Man unter anderem durch sexuell anstößige Lieder wie »Give Mi Vagina« und »Bedroom Bazooka« (vgl. Stolzoff 2000: 105). Später erschienene sexuell explizite Lieder aus dem 20. und frühen 21. Jahrhundert sind zum Beispiel das Duett »Healing« (1996) von Beenie Man und Lady Saw, Sizzlas »Pump Up« (2001), »Ramping Shop« (2009) von Vybz Kartel und Spice, das Lied »Freaky Gyal« (2011) von Vybz Kartel oder »A Yah So Nice« (2012) von Potential Kidd. Beinhalten »Pump Up«, »Ramping Shop« und »A Yah So Nice« 29 neben der expliziten Darstellung von männlicher Heterosexualität auch eine scharfe Ablehnung von Homosexualität, stellt »Freaky Gyal« eine Transgression innerhalb der gängigen Vorstellung von Heterosexualität dar, da der Track Oralsex thematisiert: Freaky gyal ah dem gyal deh mi luv freaky ‘oman ah dem gyal deh mi luv neva eva seh something weh mi luv suh every time mi fuck my cocki get suck (Vybz Kartel 2011).
Oralsex verstößt gegen gängige Vorstellungen von respektabler Sexualität und heterosexueller Männlichkeit auf Jamaika. Das gilt auch für die Dancehall, in der es in den 1990er-Jahren und nach der Jahrtausendwende keine Rolle spielte, ob der Oralverkehr von Männern oder Frauen durchgeführt wurde. In den letzten Jahren liberalisierten Texte über Blow-Jobs von Künstlern, wie zum Beispiel Vybz Kartel, den
29 Der Rastafari-Deejay Sizzla singt in »Pump Up«: »Di woman seh pump up her pum pum, pump up her pum pum / She wan mi wram it up wroom! / Di woman seh pump up her pum pum, pump up her pum pum / Shoot batty boy mi big gun boom!« (Sizzla 2001). Im Duett zwischen Vybz Kartel und Spice verurteilen beide im Intro gleichgeschlechtliche Sexualität »Kartel: Man to man, gyal to gyal dats wrong / Spice: Scorn dem« (Vybz Kartel feat. Spice 2009; Pfleiderer 2011: 168). Potential Kidd löste insbesondere mit der Zeile »Before mi turn a batty man mi prefer turn a raper« eine Welle der Kritik auf Jamaika aus (Potential Kidd 2012).
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Umgang mit dieser sexuellen Praktik. So konnten sie in einen Diskurs eingebaut werden, der heterosexuelle Männlichkeit und die sexuelle Kontrolle von Frauen in den Dancehall-Texten artikuliert. Die orale Befriedigung von Frauen wird aber nach wie vor als ›verweiblichte‹, unterwürfige und teilweise auch homosexuelle Praktik von den männlichen Dancehall-Deejays radikal abgelehnt. Die Künstlerin Ce’Cile kritisierte dieses Verhalten unter anderem in ihrem Lied »Give It To Me« (2003), welches das Recht der Frauen auf (orale) sexuelle Befriedigung zum Ausdruck bringt und gleichzeitig die Doppelmoral vieler Dancehall-Deejays und Besucher_innen anprangert: Nuff a dem a sing bout di slackness dat Lie dem a tell cau’ di gal dem chat Bout dem nah bow, will mek we watch Have dem pon video unda di frack Him a talk bout oh (Oh) no (No) Bwoy a freak unda di sheets (Ce’Cile 2003).
In Zeitungskommentaren über jamaikanische Populärmusik findet sich oftmals die von Carolyn Cooper angeführte Dichotomie zwischen slackness und culture (Cooper 2004a: 3f). Den Deejays wird dabei im Kontrast zu Bob Marley »Faulheit« und Mangel an Kreativität vorgeworfen: When Bob Marley and these singers went, laziness entered. Where talent struggled to find a niche in a society hurriedly moving towards fast-food mediocrity, the DJ took centre stage because it was much easier to talk and chat rubbish rather than spend years honing a voice and massaging sensible lyrics (Wignall 2004a: 15).
Unter culture fallen meist Reggae-Lieder, die emanzipatorische Botschaften vermitteln und sich gegen die Verherrlichung von Gewalt aussprechen. Bob Marley kann im frühen 21. Jahrhundert als Personifizierung von cultural music gesehen werden. Die Zweiteilung zwischen slackness und culture in Populärmusik reproduziert die Polarisierungen innerhalb der jamaikanischen Gesellschaft. Diese befindet sich in einem Spannungsfeld zwischen uptown und downtown, Kultur und ›Dekadenz‹ sowie verschriftlichtem Wissen und mündlichen Praktiken (vgl. Cooper 1994: 171). Natürlich wird Dancehall-Musik aber auch von Menschen aus der jamaikanischen lower class wegen ihrer Anstößigkeit abgelehnt. Sowohl auf Jamaika als auch außerhalb der Insel spiegelt sich dieser Dualismus zwischen Reggae und Dancehall in einer, die historischen Kontinuitäten vernachlässigenden, Polarisierung zwischen vermeintlich moralisch anständiger, aber revoluti-
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onärer Reggae-Musik auf der einen Seite und ›dekadenter‹, sexistischer und materialistischer Dancehall-Musik auf der anderen Seite wider. 30 Letzterer wird oftmals vorgeworfen, die Wertvorstellungen des Reggae vergessen zu haben (vgl. Thomas 2011b: 44). Die Diskussion um Reggae und Dancehall im späten 20. und frühen 21. Jahrhundert verkörpern die klassische Auseinandersetzung zwischen ›Hochkultur‹ und Populärkultur, die hier durch die gegensätzlichen Pole culture und slackness repräsentiert werden. Grenzten sich die jamaikanischen Eliten in den 1960er- und 1970erJahren noch vom Ska und Reggae ab, erfolgt die Grenzziehung nun gegenüber der Dancehall-Kultur. Auch Reggae-Musik stieß in ihren Anfängen auf starken gesellschaftlichen Widerstand und Reggae-Künstler_innen, wie beispielsweise Marleys Bandmitglied Peter Tosh, sind auch heute noch umstrittene Persönlichkeiten. 31 Wenn Dancehall, seine Protagonist_innen und Fans als vulgär, sexistisch und materialistisch abgewertet werden, geht es den Sprechenden daher nicht in erster Linie um die berechtigte Kritik an diesen Ausprägungen des Genres, sondern vielmehr darum, die eigene gesellschaftliche Position durch die Abgrenzung von der Populärkultur allgemein aufrechtzuerhalten. Das Phänomen slackness wird in der Wissenschaft kontrovers diskutiert und unterschiedlich bewertet. Obika Gray sieht darin die Repräsentation von badness-honour in der Dancehall (vgl. Gray 2004: 313). Slackness ist für ihn keine zufällige Erscheinung, sondern eine bewusste politische Reaktion, die Macht der einflussreichen classes und ihre Vorstellung von moralischem oder ›zivilisiertem‹ Verhalten herauszufordern (vgl. Gray 2004: 314). Norman Stolzoff kann dem Slackness-Diskurs kein emanzipatorisches Moment abgewinnen. Seiner Meinung nach haben sich durch slackness die sexuellen Freiheiten der Menschen in der Dancehall nicht verändert. Frauen erhielten zwar mehr Aufmerksamkeit, blieben aber reduziert auf ihre Rolle als sexuelle Objekte (vgl. Stolzoff 2000: 106). Carolyn Cooper widerspricht dieser Auffassung. Ihrer Definition nach ist slackness eine »metaphorische Revolte gegen Law and Order« (Cooper 1994: 141): [Slackness is] a radical, underground confrontation with the patriarchal gender ideology and the pious morality of fundamentalists Jamaican society. In its invariant coupling with Culture, Slackness is potentially a politics of subversion (Cooper 1994: 141).
30 Siehe Kapitel Der Diskurs gegen Dancehall. 31 Als bekannt wurde, dass Peter Tosh im Oktober 2012 post mortem der Order of Merit, die dritthöchste nationale Auszeichnung Jamaikas, verliehen werden sollte, stieß das wegen Toshs vulgären Lyrics, die jamaikanische Schimpfwörter wie bombo claat und ras claat zelebrieren, nicht nur auf positive Reaktionen auf Jamaika (vgl. Quill 2012).
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Cooper sieht in der Dancehall-Kultur nicht nur auf Jamaika, sondern auch in der Diaspora, die Möglichkeit der Errichtung eines Freiraums für Schwarze Frauen aus der working class, ihre Sexualität unabhängig von konventionellen Zwängen und Rassismus ausleben zu können. Sie weist darauf hin, wie Dancehall zum Raum für ein Empowerment Schwarzer Frauen werden kann. Cooper macht am Beispiel von Dancehall-Queens und weiblichen Deejays, wie Lady Saw, deutlich, wie Schwarze Jamaikanerinnen durch Dancehall-Performances rassistischen Diskriminierungen entgegentreten können und ihre marginale Position in der Gesellschaft mit ihrer zentralen Stellung in der Dancehall beantworten (vgl. Cooper 2004a: 134). DancehallKünstlerinnen erteilen den patriarchalen Vorstellungen vom respektablen, weiblichen Verhalten eine Absage, setzen auf weibliche »erotic agency« und grenzen sich bewusst als Gangsterinnen, rude gyal oder bad gyal von den hypermaskulinen Performances ihrer Kollegen ab (Sheller 2012: 245; vgl. Batson-Savage 2005: 11). 32 Tanya Batson-Savage beschreibt die Rolle von weiblichen Deejays am Beispiel von Tanya Stephens (Vivienne T. Stephenson) wie folgt: She presents a revolutionary take on the feminine, blending the violence of the gangsta in a refusal to simply accept any hand she is dealt, with the willingness to cry and with the duty to speak for those who cannot speak for themselves. In her disruption of the patriarchal social order, Stephens asserts that women are not merely voiceless beings victimized by patriarchal dancehall. Her lyrics declare her a gangsta and a lover, and unmistakeably a woman who is able to wine and rhyme with the best of them (Batson-Savage 2005: 11).
Das Dancehall-Queen-Phänomen beinhaltet neben seiner ermächtigenden Funktion auch eine Artikulation von afrikanischen und afrozentrischen Einflüssen in der Dancehall. Als Inspirationsquellen der Tänzerinnen führt Sonjah Stanley Niaah unter anderem die afrikanische Königin und Ehefrau von Haile Selassie, Menen Asfaw (1891-1962), und die Aschanti-Aufständische Yaa Asantewaa (1863-1923), an (vgl. Stanley Niaah 2010: 137). Carolyn Cooper lehnt Kritik, welche die erotischen Darbietungen von Frauen in der Dancehall als frauenfeindlich und pornografisch verurteilen, wie sie unter anderem Obiagele Lake äußert, ab (vgl. Lake 1998: 133; Cooper 2004a: 17). Cooper erläutert, was in ihren Augen der Grund für die Dämonisierung von slackness ist:
32 Sheller charakterisiert »erotic agency« wie folgt: »Erotic agency, in sum, is the antithesis of enslavement. It appears not only in the context of sexual relations, but also in the context of other forms of creativity, including all kinds of work. It is also crucially, connected not only to personal empowerment but also to social change« (Sheller 2012: 245).
132 | D ANCEHALL UND H OMOPHOBIE In the conservative discourse of fundamentalist ideology, Slackness is thus feminised and censured. Undomesticated female sexuality – erotic maroonage – must be repudiated: it has the smell of prostitution (Cooper 1994: 161).
Deborah Thomas unterstützt Coopers Auffassung. Sie sieht slackness als Form eines sogenannten »Ghetto Feminismus« (Thomas 2004a: 251), der die Sexualität von Frauen aus der lower class einerseits aus dem Privaten und andererseits von den Respektabilitäts- und Anständigkeitsvorstellungen der upper und middle class befreit. Neben den Texten und Tanzperformances stößt auch die Mode der Frauen in der Dancehall auf Widerstand in der Gesellschaft. Die selbstbewussten und leicht bekleideten Frauen werden von vielen Jamaikaner_innen als ›unanständig‹ wahrgenommen. Erotische Kleidung und (Replikate von) Designermode sind für die Menschen in der Dancehall eine weitere Möglichkeit, ihren unterprivilegierten Status aufzuwerten (vgl. Shaw 2012: 174). Wurden diese ursprünglich von lokalen Schneider_innen in grellen Farben produziert, ging der Trend im frühen 21. Jahrhundert immer mehr hin zu teuren, importierten europäischen Marken wie Chanel, Gucci oder Dolce und Gabbana, die für einen hohen sozialen Status der Träger_innen stehen sollen und damit gesellschaftliche Hierarchien attackieren (vgl. Shaw 2012: 181). Der Slackness-Diskurs birgt eine gewisse Ambivalenz und zeichnet sich sowohl durch subversive als auch affirmative Elemente aus. Die religiösen und konservativen Kräfte in der jamaikanischen Gesellschaft lehnen Dancehall als vulgär ab. 33 Dabei entgeht ihnen, dass die Moralvorstellungen der Dancehall-Teilnehmer_innen stark auf den christlichen, alttestamentarischen Vorstellungen von Sexualität basieren. Auch wenn Dancehall-Tänzer_innen sexuell anzügliche Tänze aufführen und Deejays von Potenz und punany 34 singen, ist Dancehall gleichzeitig eine Überwachungsinstanz, die keinerlei Toleranz gegenüber sexuellen Normabweichungen duldet. Abtreibungen, Oralverkehr und vor allem männliche Homosexualität werden innerhalb der Dancehall verbal und performativ durch das ritualisierte Abspielen und Singen antihomosexueller und patriarchalischer Textbotschaften bekämpft. Wie sich am erläuterten Songtext von Vybz Kartels »Freaky Gyal« zeigt, ist der SlacknessDiskurs keinesfalls homogen, sondern oftmals widersprüchlich und birgt dadurch Möglichkeiten, gesellschaftliche Normen, hier im Speziellen sexuelle Restriktionen, in Frage zu stellen.
33 Siehe Kapitel Der Diskurs gegen Dancehall. 34 Punany ist eines der zahlreichen Wörter im Dancehall-Slang für Vagina. Andere sind zum Beispiel pum pum, pussy oder muss come back.
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Maskulinität in der Dancehall Auch wenn slackness Frauen subversive Möglichkeiten bietet, dieses Denken zu umgehen und die Dancehall kein widerspruchsfreier Raum ist, bleibt die hegemoniale Position der heterosexuellen Männlichkeit unangefochten. In der Dancehall agiert der männliche Körper als Werkzeug des Gegendiskurses. Er widersetzt sich den Werten der upper und middle class, welche die Schwarze lower class ins Abseits schieben (vgl. Pinnock 2007: 54). Jamaikas Darstellung als multiracial nach der Unabhängigkeit 1962 und die bis heute gepriesene Ideologie der »color-blind meritocracy« wird in der Dancehall mit der Aufwertung Schwarzer Männlichkeit begegnet (BrownGlaude 2006: 46). Dadurch fordert Dancehall-Kultur das dominante Verständnis des jamaikanischen Staats heraus, in dem race keine Rolle mehr spielen soll, da angenommen wird, dass jeder und jede nun durch eigene Anstrengungen sozial aufsteigen könne (vgl. Brown-Glaude 2006: 46). Die Inszenierung Schwarzer Männlichkeit in der Dancehall vollzieht sich wegen des Mangels an ökonomischen Ressourcen und politischer Macht primär durch die Hervorhebung heterosexueller Potenz (vgl. Hope 2006a: 47). Das findet metaphorisch durch das Zelebrieren des Penis statt, der aber nur durch den Sexualakt mit einer Frau zum befreienden und ermächtigenden Instrument werden kann (vgl. Pinnock 2007: 55). Die Demonstration von heterosexueller Sexualität vollzieht sich, wie im Abschnitt zu slackness veranschaulicht, wider der Vorstellungen von respektabler Sexualität und Männlichkeit, gleichzeitig aber auch immer in einem strikt heterosexuellen Rahmen. Donna Hope spricht von fünf zentralen Bestandteilen, die die Maskulinität in der Dancehall ausmachen. Es handelt sich dabei um inszenierte Rollenmodelle und unterschiedliche, stets wiederholte, Performances. Sie repräsentieren zu guter Letzt Maskulinität in der Dancehall und widersprechen meist der herrschenden Vorstellung von einem respektablen männlichen Staatsbürger: 1. 2. 3. 4. 5.
Heterosexuelle Promiskuität. Gewaltbereitschaft und Gewaltverherrlichung. Radikale Antihomosexualität. Die Bedeutung von Statussymbolen. Homosozialität und feminin konnotierte Ästhetik 35 (vgl. Hope 2010: 143).
35 Unter Ästhetik wird in diesem Zusammenhang das äußerliche Erscheinungsbild der Künstler_innen verstanden, zu dem in erster Linie Kleidung, Accessoires, Frisuren, Tätowierungen, Nageldesigns, aber auch Statussymbole wie luxuriöse Kraftfahrzeuge oder Motorräder gehören, mit denen sich die Akteur_innen hervorheben und in Szene setzen.
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Heterosexuelle Promiskuität Heterosexuelle Promiskuität und das Bewerben der eigenen sexuellen Potenz steht im Zentrum vieler Dancehall-Lyrics und Performances. Frauen spielen dabei eine passive Rolle. Sie haben nicht selten nur Objektstatus oder dienen als Schmuckstücke einer maskulinen Ermächtigung (vgl. Hope 2010: 20). Untermauert wird das durch Musikvideos, in denen erfolgreiche Deejays in der Gefolgschaft von zahlreichen leicht bekleideten und erotisch tanzenden jungen Frauen gezeigt werden. Deejays erläutern in ihren Texten, wie einfach sie Frauen erobern können, wie es ihnen gelingt, diese in Massen sexuell zu befriedigen, wie Frauen sich um sie streiten, und signalisieren dadurch, dass sie als Mann Kontrolle über Frauen ausüben können. Die Fähigkeit, Frauen sexuell zu erobern, diese zu schwängern und sich gefügig zu halten, dient als Demonstration ihrer heterosexuellen Männlichkeit und widerspricht gleichzeitig respektablen Vorstellungen von der Kernfamilie. In der Dancehall erfährt ein Mann Anerkennung von anderen Männern, wenn er viele Kinder mit unterschiedlichen baby mothers 36 hat und dadurch seinen Ruf als gyallis, als potenter Mann mit Zugang zu vielen Frauen, untermauert. Der Fokus liegt dabei auf dem Zeugungsakt, nicht auf den Pflichten, die eine Vaterschaft mit sich bringt. Die sexuelle Eroberung von Frauen findet immer im Wettbewerb mit anderen Männern statt. 37 Dancehall-Lyrics verwenden häufig eine sehr direkte und sexuell explizite Sprache. Lyrics, die äußerst detailliert weibliche Körperteile und das sexuelle Können der Frauen beschreiben sowie pornografisch den Sexualakt darlegen, stehen an der Tagesordnung und sorgen immer wieder für Diskussionen über Zensur in den jamaikanischen Medien (vgl. »A Raging Debate ... Censorship vs Free Expression« 2009). Als Beispiel kann der bereits erwähnte Titel »A Yah So Nice« (2012) von Potential Kidd herangezogen werden. In ihm beschreibt der Deejay den Geschlechtsakt mit einer Frau, der metaphorisch unter anderem durch das Einstecken und Herausziehen eines Kabels in eine Steckdose ausgedrückt wird:
36 Baby mother und baby father sind die beiden Begriffe, die auf Jamaika und in der Dancehall im Zusammenhang mit der Zeugung und Erziehung von Kindern verwendet werden. Sie drücken aus, dass Kinder außerhalb einer Ehe gezeugt wurden und aufwachsen und beziehen sich auf eine Vielfalt von Beziehungsverhältnissen, zwischen Mutter und Vater, die von Lebenspartnerschaft bis zu gelegentlichen Besuchen reichen können (vgl. Hope 2010: 35). Beide Termini drücken Familienbeziehungen aus, die jenseits respektabler Vorstellungen von Ehe und christlicher Familienmodelle stehen. 37 In der Dancehall spiegelte sich die Konkurrenz um Frauen und baby mothers unter anderem in der Fehde zwischen den beiden Deejays Beenie Man und Bounty Killer wider. Beenie Man heiratete Bounty Killers Ex-Freundin D’Angel und zeugte ein Kind mit ihr, was in der Dancehall-Szene zur Infragestellung der sexuellen Potenz von Bounty Killer führte (vgl. Köhlings und Lilly 2006: 50).
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And she come inna mi ‘ouse and she neva fraidie Panty fly like mi bredda Beigie Her pussy pretty like her madda baby She mek mi feel […] She wine pon mi cocky put me cocky outa socket Boom pon mi cocky put it back inna di socket Coming like a door when mi knock it and mi knock it Knock it and mi knock it (Potential Kidd 2012).
Oftmals werden in den Songtexten ebenfalls überdimensionale Penisse erwähnt, für die es im Dancehall-Slang viele verschiedene Bezeichnungen, wie zum Beispiel anaconda, rattler, buddy oder cocky gibt. In Potential Kidds Lyrics und durch die Verwendung von Lautmalereien wie »boom« und »knock« wird in Dancehall-Lyrics Sexualität als etwas möglichst Aggressives und Hartes repräsentiert. Trotzdem fürchtet sich die Sexualpartnerin nicht davor (»she neva fraidie«). Dass Sexualität und Aggressivität häufig verbunden sind, lässt sich auch im Tanzstil daggering beobachten. Beim daggering (»dagger«, dt. Dolch) bilden Tänzer und Tänzerinnen heterosexuelle Pärchen und deuten Kopulationen und unterschiedliche Sexstellungen auf der Tanzfläche an. Der Tanzstil, wie auch die Lyrics über unendliche sexuelle Potenz und Ausdauer, können als Teil der Inszenierung von heterosexueller Maskulinität und männlicher Stärke gelesen werden. Außerdem verstößt daggering gegen die auf Jamaika vorherrschenden Vorstellungen von respektabler Sexualität. Gewaltbereitschaft und Gewaltverherrlichung In den Dancehall-Lyrics schlägt sich die Performanz von Gewaltbereitschaft in verbalen Demonstrationen von Furchtlosigkeit, verbalen Schüssen aus unterschiedlichsten Handfeuerwaffen auf Kontrahent_innen, Normabweichler_innen, Verräter_innen oder Neider_innen und der Bereitschaft zum Wettkampf (clash) mit konkurrierenden Deejays nieder. Der gewaltbereite und teilweise kriminelle Mann steht im Widerspruch zum respektablen Staatsbürger. Anstelle von Fleiß und Schulbildung werden oft hustling, ein sich Durchschlagen, und die Lehren des Lebens auf der Straße zelebriert. Anstelle respektabler Arbeit wird geachtet, wer aus nichts Geld macht, was auch mit der prekären ökonomischen Situation zu tun hat, mit der viele junge Männer in den innerstädtischen Bezirken konfrontiert sind. Die Pistole, die als gun in vielen Songs besungen wird, kann als Metapher für ein stets erigiertes Glied gesehen werden, die je nach Anlass Leben zeugt oder Leben zerstört (vgl. Hope 2010: 9). Nicht wenige Dancehall-Deejays beanspruchen für sich das Label don, shotta, Gangster oder badman, worin eine Fortsetzung der Figur des Rude Boy gesehen werden kann. Sowohl auf die frühen Dancehall-Künstler als auch
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auf die gunmen in den garrisons übten Westernhelden, Ninjas und Mafiosi eine Vorbildfunktion in Sachen aggressiver Männlichkeit aus. Die Auswahl möglichst theatralischer Künstlernamen, Namensänderungen und Auftritte, bei denen Künstler_innen plötzlich unter ihrem bürgerlichen Namen auftreten, unterstreicht den Rollenspielcharakter, der der Dancehall allgemein innewohnt (vgl. Senior 2003: 147). Ferner tauchen Vergleiche der eigenen Aggressivität mit der von medial bekannten ›Bösewichten‹ aus Politik und Zeitgeschichte auf. Dies wird deutlich durch die Erwähnung von aggressiven, bedrohlichen und mit Gewalt konnotierten Männern, wie beispielsweise Osama Bin Laden, Saddam Hussein, den Taliban und den deutschen Nationalsozialisten. Symbolisch wird badness auch durch die Auswahl möglichst martialischer Namen für die eigene Crew oder Wohngemeinde dargestellt. Vybz Kartel taufte seinen Heimatbezirk Waterford in Portmore deshalb prompt in Gaza um. 38 Ein echter badman zeichnet sich, wie im vorausgehenden Kapitel erläutert, immer auch durch Beziehungen mit vielen Frauen aus, die von ihm ökonomisch und sexuell abhängig sind. Nicht nur ein Deejay, sondern auch ein Gangster, der in seinem Innenstadtbezirk von potenziellen Rival_innen anerkannt und geachtet werden will, muss demonstrieren, dass er sexuell potent ist und viele Frauen kontrollieren kann (vgl. Hope 2010: 61). Carolyn Cooper beschreibt die gewaltverherrlichenden und aggressiven Äußerungen der Dancehall-Deejays als metaphorisch und spricht lediglich von einer »lyrical gun« (Cooper 2004a: 145), die Teil der Performances und Rollenspiele der künstlerischen Darbietung darstelle. Für sie ist der sogenannte badmanism als eine »theatralische Pose« (Cooper 2004a: 146) und die verbalen Schüsse der Deejays nur als Symbolik zu verstehen. Die kriminellen Handlungen zahlreicher Dancehall-Entertainer_innen sowie einzelne Gewaltausbrüche bei clashes zwischen rivalisierenden Deejays stellen diese These aber immer wieder in Frage. 39 Das hat auch zur 38 Vybz Kartel wählte für seinen Stadtbezirk den Namen »Gaza«, da seine ursprüngliche informelle Bezeichnung »Borderline« durch eine Aussage der populären Rootsplay-Schauspieler_in Keith »Shebada« Ramsey mit Homosexualität assoziiert wurde (vgl. Paul 2009). Shebada, in der jamaikanischen Öffentlichkeit durch eine ambivalente Geschlechtsidentität bekannt, antwortete in einem populären Theaterstück auf die Frage nach seinem Geschlecht mit: »Mi deh pon di borderline« (Paul 2009). Der Ausspruch erlangte nationale Popularität und beschmutzte in den Augen Kartels den (heterosexuellen) Ruf seines Bezirks. Um dessen heterosexuelle und maskuline badness aufrechtzuerhalten, benannte Kartel ihn um in »Gaza«, eine Ortsbezeichnung, die aufgrund ihrer Assoziation mit kriegerischen Auseinandersetzungen zwischen rebellierenden Palästinenser_innen und israelischen Soldat_innen seinem Image als badman gerecht werden konnte. 39 Beim Sting Festival im Dezember 2003 kam es bei einem clash auf der Bühne zu einem Handgemenge zwischen Vybz Kartel und Ninjaman (vgl. Stanley Niaah 2010: 103). Ferner
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Folge, dass Dancehall-Musik häufig, und nicht nur von christlichen Fundamentalist_innen, als Ursache von Gewalt kritisiert wird. 40 Radikale Antihomosexualität Seit dem Ende der 1990er-Jahre tauchen in zahlreichen Dancehall-Lyrics vermehrt radikale und brutale Ablehnungen von Homosexualität auf. Einige Texte schildern und begrüßen gar die Ermordung von Homosexuellen. In Teilen wird die aggressive Homophobie in einigen Dancehall-Lyrics auf die vermehrte Präsenz von Homosexuellen in der Öffentlichkeit zurückgeführt (vgl. Hope 2010: 76). Unter anderem gründete sich im Jahr 1998 die Organisation J-FLAG (Jamaica Forum for Lesbians, AllSexuals and Gays), die sich für die Rechte von Homosexuellen auf Jamaika einsetzt. Überdies tauchten in den auf Jamaika zu empfangenen TV-Serien aus den USA vermehrt homosexuelle Protagonist_innen auf, die Jamaikaner_innen den Eindruck vermittelten, dass ein plötzlicher Zuwachs an Homosexualität auf ihrer Insel kurz bevorstehe. Homophobie auf Jamaika, vor allem in der Populärkultur, lässt sich in fünf Motive aufschlüsseln: 1. 2. 3. 4. 5.
Antihomosexualität aufgrund des religiösen Fundamentalismus. Antihomosexualität aufgrund von ›Unnatürlichkeit‹ von Homosexualität. Unvereinbarkeit von Homosexualität und präkolonialer afrikanischer Kultur. Schutz der Jugend vor Homosexualität, die mit Pädophilie gleichgesetzt wird. Illegalität von Homosexualität auf Jamaika (vgl. Gutzmore 2004: 125).
Diese fünf Imperative beeinflussen die Sichtweise von Dancehall-Künstler_innen auf Homosexualität stark. Unterstützt wird die Antihomosexualität in der Dancehall ebenso von historischen, religiösen, sozialen, legislativen und geschlechterspezifischen Bedingungen (vgl. Hope 2010: 87). Antihomosexualität taucht im Kontext der Aufwertung der eigenen heterosexuellen Männlichkeit der Dancehall-Künstler auf. Das ereignet sich bei Performances von antihomosexuellen Lyrics oder ritualisierten Akklamationen in Form von verbalisierten Pistolenschüssen und Pistolengesten mit der Hand, wenn antihomosexuelle tunes in der Dancehall abgespielt werden. kommt es immer wieder zu Festnahmen und Verurteilungen von Deejays. Höhepunkt waren der Mordprozess und die lebenslange Verurteilung von Vybz Kartel im April 2014. Aber auch andere Künstler kamen, wie Sizzla wegen illegalem Waffenbesitz, Jah Cure wegen Vergewaltigung oder Bounty Killer wegen Gewalt gegenüber Frauen, mit dem Gesetz in Konflikt. 40 Siehe Kapitel Der Diskurs gegen Dancehall.
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Ein Großteil der Dancehall-Produzent_innen und Rezipient_innen kommt aus einem sozialen Milieu, in dem sie permanent intersektionale Diskriminierung erfahren. 41 Das findet zum Beispiel durch Rassismus und die Ausgrenzung von Ressourcen wie Bildung oder lukrativen Beschäftigungsmöglichkeiten statt. Ursache der gesellschaftlichen Diskriminierung ist, dass sie Schwarze Menschen aus der jamaikanischen lower class sind. Innerhalb der Dancehall gibt es für mehrfachdiskriminierte Schwarze Männer aus der lower class die Möglichkeit, sich gegen Herabsetzungen aufzulehnen und Schwarze Männlichkeit positiv zu inszenieren. Dieser Akt vollzieht sich zum Teil durch eine »kompensatorische Unterordnung« (Cooper 2006: 868) von Frauen und sexuellen Minderheiten, die als Ausgleich in den Lyrics und Performances unterdrückt werden oder lediglich Objektstatus haben. Schwarze Männer, die aufgrund von Race- und Class-Strukturen diskriminiert werden, akzeptieren diese Hierarchien, wenn sie selbst zu Unterdrückern werden und somit die Hierarchisierung postkolonialer Identitäten durch Homophobie und Misogynie legitimieren (vgl. Cooper 2006: 868). Unterstützt wird Frank R. Coopers Aussage durch Carolyn Cooper, die in der Dancehall-Musik den Versuch sieht, eine bedrohte männliche heterosexuelle Identität durch sexistische Lyrics zu bewahren (vgl. Cooper 1994: 165). In der Dancehall wird der männliche Homosexuelle als schwach, impotent, ›verweiblicht‹ und verängstigt porträtiert. Dagegen charakterisieren Repräsentationen des heterosexuellen badman Stärke, Potenz, Kontrolle über Frauen und Furchtlosigkeit in Songtexten und auf der Bühne (vgl. Hope 2010: 87). In der Dancehall gilt der Homosexuelle als Genderverräter und Repräsentation des ›anti-badman‹ (vgl. Hope 2010: 68). Heterosexuelle Männlichkeit wird auf der einen Seite als etwas Aggressives und Mächtiges dargestellt, ist aber andererseits permanent bedroht durch Kontaminationen, wie zum Beispiel dem Kontakt mit Menstruationsblut, Oralsex oder anderen Praktiken, die mit ›Verweiblichung‹ gleichgesetzt werden. Paradoxerweise geht von der Vagina eine ambivalente Macht aus (vgl. Hope 2010: 69). Heterosexueller Sex ermächtigt den badman und signalisiert seine hegemoniale Machtstellung in der Geschlechterhierarchie. Davon abweichender Kontakt mit dem weiblichen Geschlechtsorgan hingegen führt zur Erosion dieser Macht und gefährdet die männliche Hegemonie. Die massiven antihomosexuellen 41 Der Begriff Intersektionalität (»intersectionality«) wurde zuerst von Kimberlé Crenshaw gebraucht, um aufzuzeigen, dass race und Gender nicht als sich gegenseitig ausschließende Analysekategorien verwendet werden sollen, sondern sich durch Überschneidung beider besondere Diskriminierungserfahrungen ergeben (Crenshaw 1989: 139f). Daraus leitet sie die Forderung ab, dass Rassismuskritik eine Sexismus- und Patriarchatsanalyse einschließen muss, während im Gegensatz dazu feministische Theorie immer auch die Kategorie race mitreflektieren muss (vgl. Crenshaw 1989: 166). Später wurde Crenshaws Theorie in Abhängigkeit des jeweiligen Analysekontexts um Kategorien wie Sexualität, class, Behinderung, Alter, Religion, Gesundheit etc. erweitert (vgl. Winker und Degele 2009: 11).
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Äußerungen der Deejays können auch als Repression des vermeintlich ›Weiblichen‹ im Mann betrachtet werden, das die männliche Vormachtstellung gefährdet. Die gewaltverherrlichende und provokante Ausdrucksweise vieler Dancehall-Deejays, die zusätzlich noch durch clashes mit anderen Deejays katalysiert wird, führt zu den brutalen Metaphern und Begrifflichkeiten, die den antihomosexuellen Diskurs in der Dancehall charakterisieren (vgl. Hope 2010: 67). Der antihomosexuelle Diskurs steht nicht im Widerspruch zur Vorstellung von respektabler Staatsbürgerschaft, sondern stützt religiös legitimierte Vorstellungen von Heterosexualität, Geschlechterrollen und Familienstruktur durch seine heteronormative Ausrichtung. Das unterscheidet ihn von anderen Elementen der Dancehall, die die heterosexuelle Maskulinität konstituieren. Die Bedeutung von Statussymbolen Ein weiteres Element der Inszenierung von heterosexueller Maskulinität in der Dancehall ist die Präsentation von teuren Markenartikeln und der demonstrative Konsum von Luxusartikeln und Genussmitteln. Teilweise gilt sogar verschwenderischer Gerbrauch und das Verschütten von teuren Spirituosen als besonderes Zeichen wirtschaftlicher Potenz. Solches Verhalten steht im Widerspruch zur Sparsamkeit, die respektable Staatsbürgerinnen und Staatsbürger auszeichnen soll und als Grundlage für sozialen Aufstieg von den Staatsgründern propagiert wurde. Die Dancehall hat außerdem einen spezifischen Kleidungsstil hervorgebracht, der statusträchtige Mode aus dem ›Westen‹ mit lokal angefertigten Designs vermischt und oft den Kriterien für präsentables Auftreten auf Jamaika widerspricht (vgl. Shaw 2012: 172). Neben dem Tragen von Markenkleidung demonstrieren berühmte Dancehall-Entertainer_innen ihren Status durch Tische voller Whiskyflaschen und anderen teuren alkoholischen Genussmitteln. Auch in Musikvideos wird durch Statussymbole wie Jachten, Jetskis, teure Autos von Mercedes oder BMW und Smartphones Vermögenskraft und damit männliche Macht bewusst inszeniert. Status- und Wohlstandssymbole werden als Voraussetzung dargestellt, sexuellen Zugang zu einer Vielzahl von Frauen zu bekommen (vgl. Hope 2010: 111). Darüber hinaus symbolisieren Reichtum und Wohlstand soziale Mobilität, die den aus den ›Ghettos‹ stammenden Künstler_innen ansonsten auf Jamaika verwehrt bleibt (vgl. Hope 2010: 110). Seit der Jahrtausendwende hat sich in der Dancehall-Kultur ein verstärktes Interesse an modischen Outfits für Männer entwickelt. Sauberes, gepflegtes Auftreten, gezupfte Augenbrauen, das Tragen von Markenkleidung, Accessoires und die Verwendung von Kosmetikartikeln haben dazu geführt, dass Männer als ästhetische Subjekte in der Dancehall auftreten und damit ein ursprünglich weiblich konnotiertes Terrain betreten (vgl. Hope 2010: 95).
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Homosozialität und feminin konnotierte Ästhetik Häufig sieht man bei Dancehall-Events kleinere Gruppen von Männern mit modisch eng anliegender Kleidung, die, abgeschottet von den Frauen, synchrone Tanzkombinationen darbieten. Ihr Interesse liegt dabei besonders darauf, vom stets präsenten Kameramann wahrgenommen zu werden. Dieser filmt männliche und weibliche Tanzende und Posierende stets auf geschlechtsspezifische Art und Weise. Auf DancehallPartys ist seit der Massenverbreitung von Videokameras auf Jamaika immer mindestens ein Kameramann präsent. Dieser filmt, geleitet durch einen männlichen Blick, die erotischsten Outfits und sexuellen Tanzbewegungen von Frauen von Kopf bis Fuß sowie die modischen und teuren Kleidungstile und die häufig synchronen Tanzperformances der männlichen Crews. Die Aufnahmen werden meist auf eine Leinwand oder einen Fernsehbildschirm auf der Party live übertagen, sind aber auch als Videos erwerblich oder via Internet auf der ganzen Welt erhältlich. Sie werden beispielsweise von internationalen Dancehall-Fans für die Adaption und Imitation jamaikanischer Dancehall-Events und Tanzstile verwendet. Donna Hope nennt das Bedürfnis der Dancehall-Anhänger_innen, ihre Präsenz in der Dancehall auf Video festzuhalten als »Video Light Syndrome« (Hope 2006b: 135). Das Videolicht, ein Scheinwerfer auf der Kamera, bildet oft das Zentrum der Dancehall. Wer im Scheinwerfer der Kamera steht, wird zum Blickobjekt und kann sich der Aufmerksamkeit aller Anwesenden sicher sein. 42 Dass die Kamera ausschließlich von einem Mann bedient wird, unterstreicht die Dominanz des männlichen heterosexuellen Blickes in der Dancehall (vgl. Shaw 2012: 178). Zur Jahrtausendwende fand ein Wandel des Erscheinungsbildes von Männlichkeit in der Dancehall statt. Männlichkeit wird seither ebenfalls anhand ästhetischer Kriterien objektiviert. Letzteres vollzog sich unter der Beeinflussung von metrosexuellen Modetrends aus Nordamerika und Europa, die als Statussymbole fungieren. Ferner unterstützte das Auftreten von Tänzern wie Gerald Levy, bekannt als Bogle (1964-2005), Chi Ching Ching, John Hype und Ding Dong die Adaption von ursprünglich feminin konnotierten Trends in der Dancehall und fügte zur bis dato dominanten Erscheinung der Tänzerin und der Dancehall-Queen den Tänzer hinzu (vgl. Hope 2006b: 133; Stanley Niaah 2010: 141). Rituale und Ästhetik, die früher als homosexuell oder ›verweiblicht‹ gebrandmarkt worden wären, sind heutzutage in der Dancehall zum Teil positiv belegt (vgl. Hope 2010: 126). Es ist daher nicht überraschend, Dancehall-Künstler, die von ›Ghettorealität‹ und Schusswaffen singen, in 42 Häufig wird bei einem Dancehall-Event der Eindruck vermittelt, dass Tänzer_innen gerade durch den Scheinwerfer zum Leben beziehungsweise zum sich Bewegen erweckt werden. Sie treten in die Mitte der stets kreisförmigen Menge, um ihre Tanzperformance darzubieten, und dann beim Weiterziehen des Lichts wieder zu erstarren. Unterschiedliche Crews von Tänzer_innen konkurrieren um die Aufmerksamkeit des Scheinwerferlichts, die sie je nach Geschlecht durch artistische oder explizit sexuelle Tanzpraktiken gewinnen wollen.
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pinken oder pastellfarbenen Outfits und hautengen Hosen auftreten zu sehen. Auch wenn eine Erosion der Grenzen zwischen maskuliner und femininer Ästhetik stattgefunden hat, die das Potenzial für Veränderungen birgt, verfechten vorzugsweise Männer in der Dancehall weiterhin die radikale Ablehnung von als ›unmännlich‹ geltender Homosexualität und glorifizieren den aggressiven, heterosexuellen und promiskuitiven Gangster. Nichtsdestotrotz hat die Veränderung des Outfits auch Möglichkeiten für queere Interventionen geschaffen (vgl. Ellis 2011). Parallel dazu hat der Wandel aber auch begünstigt, dass im öffentlichen Diskurs auf Jamaika zwei ›deviante‹ soziale Gruppen, Dancehall-Künstler_innen und Homosexuelle, wenn auch auf unterschiedliche Art und Weise, immer noch gesellschaftlich ausgeschlossen werden (vgl. Helber 2012: 125).
Die Analyse der medialen Kontroverse um homophobe Inhalte in der Dancehall
E INE Ü BERSICHT
JAMAIKANISCHER
AUSGEWÄHLTER Z EITUNGEN
Die vorausgehenden Kapitel haben die bedeutende, teils ambivalente Stellung von Populärmusik in der Geschichte der jamaikanischen Gesellschaft aufgezeigt. Die Musikgenres Ska, Rocksteady, Reggae und auch die moderne Dancehall-Musik artikulieren primär die sozialen Positionen der armen Schwarzen Bevölkerung der Insel. Verarbeitet wird darin meist ein Alltag, der auch nach der nationalen Unabhängigkeit 1962 noch zu großen Teilen vom Mangel an sozialer Mobilität, Gewalt und rassistischer, klassistischer und sexistischer Ausgrenzung bestimmt ist. Speziell DancehallMusik fordert die postkolonialen Machtstrukturen auf der Insel heraus, verstärkt gleichzeitig aber auch die tradierten Vorstellungen von Feminität, Maskulinität und Sexualität, welche die bestehende gesellschaftliche Ordnung stützen. In den medialen Diskussionen um das Genre und dessen homophobe und gewaltverherrlichende Elemente artikulieren sich unterschiedliche Positionen in der jamaikanischen Gesellschaft. Die anschließende Diskursanalyse hebt hervor, welche wesentliche Aufgabe Populärkultur und das Sprechen darüber in den jamaikanischen Printmedien im Jahr 2004 hatte. Sie zeigt auf, wie dieses Sprechen verknüpft ist mit einer von vielen Jamaikaner_innen wahrgenommenen gesellschaftlichen Krise sowie Aushandlungsprozessen von respektabler Staatsbürgerschaft und kultureller Identität. Grundlage für eine pluralistische Diskussion, sowohl innerhalb einzelner jamaikanischer Zeitungsorgane als auch medienübergreifend, ist die Gewährleistung einer allgemeinen Pressefreiheit. Obwohl sich die Medienunternehmen auf Jamaika vorwiegend im privaten Besitz einer kleinen Gruppe von Geschäftsleuten befinden, äußerte sich die Nichtregierungsorganisation Freedom House über die Situation der jamaikanischen Presse im Jahr 2004 wie folgt:
144 | D ANCEHALL UND H OMOPHOBIE A high degree of media independence prevails; the current government, led by the People’s National Party and Prime Minister P. J. Patterson, is recognized for its positive stance on press freedom. The four largest newspapers are all privately owned. There are 3 television stations and 16 radio stations. Jamaica has an estimated 1.9 million radios – the highest per-capita ratio in the Caribbean (Freedom House 2004).
Das Hauptfundament für die Analyse der Diskussion um Homophobie und gewaltverherrlichende Dancehall-Musik aus dem Jahr 2004 bilden Zeitungstextquellen. Die Zeitungsartikel sind zeitnah zu Ereignissen verfasst und gedruckt worden, um Leser_innen über aktuelle Geschehnisse zu informieren beziehungsweise Ereignisse zu kommentieren. Das Zeitungsquellenkorpus besteht insgesamt aus 248 Artikeln, 122 aus dem Jamaica Gleaner, 65 aus dem Jamaica Observer, 61 aus dem Jamaica Star. Die konsultierten Zeitungsartikel lassen sich in Kommentare, Nachrichtenbeiträge und Briefe von Leser_innen unterteilen, die sich auf die Themen Homophobie, Homosexualität, Dancehall und Gewaltverherrlichung beziehen. Außerdem werden Berichte von internationalen Menschenrechtsorganisationen, die in der jamaikanischen Presse abgedruckt und zitiert werden, sowie Internetpublikationen von Peter Tatchell und Outrage! in der Analyse verwendet. Zusätzlich fließen Karikaturen, die sich im Observer und Star finden und die Kontroversen illustrieren und kommentieren, in die Untersuchung ein. Alle drei in die Analyse einbezogenen Printmedien werden im anschließenden Kapitel kurz vorgestellt und kontextualisiert. Da öffentliche Kontroversen auf Jamaika durch zahlreiche Radiosender, Fernsehkanäle, Tageszeitungen und deren Internetpräsenz einem großen Publikum zu Hause und in der Diaspora zugänglich gemacht werden, findet bei der Diskussion um homophobe Dancehall-Lyrics eine rege Beteiligung der Öffentlichkeit durch Leserbriefe statt. Eine zentrale Rolle nehmen dabei die Online-Kommunikation und das Internet ein, indem E-Mails und im Falle des Jamaica Gleaner seit 2004 die Onlineplattform Go-Jamaica.com für das Verfassen von Leserbriefen verwendet werden. Im Jahr 2004 besaß nur 10,1 Prozent der jamaikanischen Bevölkerung einen Internetanschluss. In der Bundesrepublik Deutschland waren im Vergleich dazu 2004 bereits 64,7 Prozent der Haushalte mit dem Internet verbunden (vgl. The Global Economoy 2012). In den jamaikanischen Upper- und Middle Class-Haushalten war das Internet 2004 bereits der Standard. Menschen aus der working class und den Innenstadtbezirken besaßen an Schulen, in Bibliotheken und in Internetcafés die Möglichkeit, Leserbriefe per E-Mail zu verfassen. Schwieriger war der Internetzugang für die Bevölkerung auf dem Land. Auch wenn tendenziell die städtische upper und middle class vereinfachten Zugang besaß, lässt sich daraus nicht eindeutig schließen, ob wohlhabendere Jamaikaner_innen verstärkt an Leserbriefdiskussionen teilnahmen. Selbiges gilt für Jamaikaner_innen aus Kanada, den USA und Großbritannien, bei denen ein Internetanschluss im Haus ebenfalls von ihrer class abhängig war.
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Allgemein kann man die Debatte als transnationale Auseinandersetzung charakterisieren, die ein neues Diskussionskollektiv schafft, in dem verschiedene Akteur_innen auf zwei Ebenen die nationalstaatlichen Grenzen Jamaikas, der USA, Kanadas und des Vereinigten Königreichs transzendieren. Erstens findet dies statt durch das Engagement und die Reflexion bezüglich der Thematik, zweitens durch die Aktionen, Publikationen und Berichte von LGBTTIQ- und Menschenrechtsorganisationen auf Jamaika, in Nordamerika und in Großbritannien. Die Diskussion ist exemplarisch dafür, inwiefern transnationale Vergesellschaftung, verkörpert in transkontinentalen und transatlantischen sozialen Beziehungen, Kommunikationsnetzwerken und Räumen, für Jamaika im frühen 21. Jahrhundert von Bedeutung ist (vgl. Pries 2010: 13). Im öffentlichen Diskurs verwischen die Grenzen zwischen tatsächlichen jamaikanischen Staatsbürger_innen, der Diaspora und internationalen Aktivist_innen. Letztendlich müssen die an der Diskussion beteiligten Akteur_innen keinesfalls wirklich auf Jamaika leben, um durch ihre Partizipation an der Debatte und damit an der sozialen Konstruktion von kulturellen Praktiken und Geschlechterordnung auf der Insel beteiligt zu sein. Diese werden vielmehr, wie bei vielen karibischen Staaten im frühen 21. Jahrhundert der Fall, im Spannungsfeld zwischen Herkunftsland und Diaspora beziehungsweise zwischen der Karibik, Nordamerika und dem Vereinigten Königreich ausgetragen. Die jamaikanische Staatsbürgerschaft ist weder eine notwendige Bedingung noch ein Garant für die Artikulation von Interessen und die Partizipation an der Diskussion. Menschen aus der Diaspora können durch das Internet zum Teil sogar einfacher am Diskurs in Jamaika partizipieren als sexuelle Minderheiten auf Jamaika, die trotz jamaikanischer Staatsbürgerschaft bis zum Jahr 2004 nur wenig Gehör und Aufmerksamkeit erfuhren. Zur jamaikanischen Presselandschaft liegen bislang keine ausführlichen Forschungsarbeiten vor. Aus dem Quellenmaterial können aber einige Tendenzen ausgemacht werden. Die Leser_innen der jamaikanischen Presse lassen sich weder eindeutig einer konkreten politischen Richtung noch einer bestimmten Partei oder class zuordnen. Die beiden größten Zeitungen, Gleaner und Observer, richten sich nicht an bestimmte soziale oder politische Adressat_innen. Beide Presseorgane erheben den Anspruch, die gesamte jamaikanische Bevölkerung zu repräsentieren. Letzten Endes wird aber in beiden Blättern häufig vom Standpunkt der bürgerlichen upper und middle class gesprochen und geschrieben. Diese classes sind eng verbunden mit dem Status quo auf Jamaika und profitieren vom Konzept des respektablen multiracial Staats. Dennoch gehört auch die working class zur Leserschaft, was unterstützt,
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dass die Arbeiterschaft sich trotz marginaler Position mit den (moralischen) Wertvorstellungen der upper und middle class identifiziert, da diese Wertvorstellungen mit sozialem Aufstieg assoziiert werden. 1 In der Diskussion um Homophobie und Populärkultur unterscheiden sich Gleaner und Observer nicht sonderlich. Beide bringen zum Ausdruck, dass Homosexualität und speziell deren Legalisierung von der Mehrheit der Jamaikaner_innen im Jahr 2004 nicht befürwortet werden. Trotzdem kommen in beiden Presseorganen durchaus Stimmen zu Wort, die die Gewalt gegen sexuelle Minderheiten und die Homosexualität kriminalisierende Gesetzgebung kritisieren. Nachfolgend werden die drei Zeitungen Jamaica Gleaner, Jamaica Observer und Jamaica Star im Einzelnen vorgestellt. The Jamaica Gleaner Der Jamaica Gleaner ist die älteste und renommierteste Zeitung der Insel. Die erste Ausgabe wurde bereits 1834 gedruckt. Der Gleaner gilt in der westlichen Hemisphäre als die erste kontinuierlich publizierte Zeitung und erscheint täglich (vgl. O’Brien Chang 2010: 92). Ursprünglich diente er der Oligarchie weißer Plantagenbesitzer_innen als Presseorgan und hatte nur wenig für Schwarze kulturelle Praktiken, wie Rastafari oder Schwarzen Nationalismus und die Anhänger_innen von Marcus Garvey, übrig (vgl. Zahl 2002: 164; O’Brien Chang 2010: 92). In den 1970erund 1980er-Jahren kam es zu Veränderungen in der Redaktion. Es ergaben sich erstmals Möglichkeiten für zahlreiche Schwarze Journalist_innen, sich zu äußern, und das Blatt begann dem Establishment und den politischen Parteien der Insel mit differenzierterem Journalismus entgegenzutreten (vgl. Zahl 2002: 165). Laut dem heutigen Eigentümer Oliver Clarke ist es der Anspruch des Blattes, sich unparteilich und kritisch gegenüber jeglicher jamaikanischer Regierung zu äußern (vgl. O’Brien Chang 2010: 92). Der Jamaica Gleaner ist Teil der Gleaner Company Ltd, die außerdem den Sunday Gleaner sowie die wöchentlich erscheinenden Ausgaben des Gleaner in den USA, Kanada und Großbritannien herausgibt und somit auch in der Diaspora großflächig rezipiert wird. Die Ausgaben im Ausland und die Homepage des Blattes informieren die jamaikanischen Diasporagemeinschaften über aktuelle Ereignisse und
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Donna Hope beschreibt die Einstellung der (ländlichen) working class in einem persönlichen Interview wie folgt: »Not only individuals from the middle and upper classes will hold a strong moral sense. But for example rural working classes tend to hold similar views as middle and upper classes in Jamaica, because the class of aspiration, which is middle class for many rural working class individuals and rural poor, would carry for them the values that they hold« (Hope 2011b).
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Debatten auf der Insel und tragen dazu bei, dass sie sich ihrerseits durch Briefe und E-Mails an die Redaktion in die medialen Diskussionen zu Hause einbringen können. An Werktagen hat der Jamaica Gleaner im Jahr 2012 eine Auflagenstärke von 40.000 Exemplaren. Von der Sonntagsausgabe werden 100.000 Stück gedruckt. Für das Jahr 2004 liegen leider keine Auflagenzahlen vor. In einem Artikel über den Sunday Gleaner-Kolumnisten Ian Boyne aus dem Jahr 2003 wird von 580.000 Leser_innen gesprochen (»Ian Boyne – Man of Charisma and Magnetism« 2003). Im Analysezeitraum 2004 kostete ein Exemplar des Gleaner 20 jamaikanische Dollar (0,26 Euro) und eine Ausgabe des Sunday Gleaner 45 jamaikanische Dollar (0,59 Euro). 2 Zum Aufbau des Gleaner im Jahr 2004 ist zu sagen, dass das Titelblatt gewöhnlich eine größere Schlagzeile mit Foto und einem Aufmacher enthielt. Der Aufmacher wurde von kleineren Artikeln oder Überschriften, deren Fortsetzungen sich auf den folgenden Seiten fanden, eingerahmt. Die Diskussion um homophobe und gewaltverherrlichende jamaikanische Dancehall-Künstler_innen sowie um die Rechte von Homosexuellen auf Jamaika allgemein war während des Untersuchungszeitraums in zahlreichen Rubriken des Gleaner präsent. Das Thema Homosexualität / Homophobie / Dancehall wurde 2004 insgesamt sieben Mal auf der Titelseite der Zeitung abgedruckt: 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7.
»Ex-Jesuite ruffles male feathers« am 30. Mai 2004. »Outraged! British gays use Brian Williamson’s death to push agenda« am 16. Juni 2004. »Banned. London pressures dancehall stars« am 27. Juni 2004. »DJ boycott. Corporate giants threatening to withdraw support from music industry« am 2. Oktober 2004. »Beenie Man, Vybz Kartel blacklisted« am 8. November 2004. »Disgraceful. New report says Gov’t, police condone abuse of gays, HIV persons« am 17. November 2004. »›We won’t be bullied‹. Gov’t says it has no plan to repeal buggery law; denies anti-gay allegations« am 18. November 2004.
Daneben finden sich zahlreiche Beiträge, die den Themenkomplex Homosexualität / Homophobie / Populärkultur tangieren und / oder Verflechtungen erläutern, in erster Linie in den Rubriken News, Letters, In Focus (Analysis, Commentary, World Report) und Entertainment im Gleaner.
2
Ein US-Dollar war 2004 im Durschnitt 0,80 Euro beziehungsweise 61,34 jamaikanische Dollar wert, ein Euro damit durchschnittlich circa 77 jamaikanische Dollar (vgl. Bank of Jamaica 2013; Reisebuch.de 2014).
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Die Kontroverse um Dancehall und Homophobie wird im Gleaner neben etlichen Leserbriefen aus dem In- und Ausland von zahlreichen Kommentator_innen mit akademischer Ausbildung bewertet. Dabei fällt auf, dass die Autor_innen häufig aus der Diaspora schreiben beziehungsweise transnational, zwischen Nordamerika und Jamaika sozialisiert und ausgebildet wurden. Unter anderem kommen auch Theolog_innen, wie der Baptist Dr. R. Albert Mohler aus den USA, zu Wort. Beiträge dieser Autor_innen wurden nicht bedingt durch ihrer Nähe zu Jamaika, sondern aufgrund ihres akademischen beziehungsweise theologischen Expertenwissens, und wie im Falle Mohlers wegen dessen Ansichten zu Homosexualität, abgedruckt. Um die Autorität der Kommentator_innen zu unterstreichen, sind diese meistens mit Foto, Berufsbezeichnung oder Kurzbiographie neben ihrem Kommentar abgebildet. Zu den Kommentator_innen gehören unter anderem der Journalist und TV-Moderator Ian Boyne, der für den Sunday Gleaner seit 2001 Kolumnen schreibt, der Soziologe Orville W. Taylor, der an der University of the West Indies (UWI) arbeitet, Glenda Simms, die Direktorin des Bureau of Women’s Affairs, die Kulturwissenschaftlerin Donna P. Hope, die 2004 Doktorandin an der George Mason University in Virginia (USA) war, der Geschäftsmann und Buchautor Kevin O’Brien Chang, der katholische Diakon und Soziologe Peter Espeut, Robert Buddan, ein Dozent des Department of Goverment an der UWI, Matthew Kopka von der Florida State University und der freie Journalist Melville Cooke, der nicht nur für den Gleaner schreibt, sondern ebenfalls für das Boulevardmagazin Star und seit 2003 für das deutsche Reggae- und Dancehall-Magazin Riddim Beiträge zur Popkultur und Gesellschaft Jamaikas verfasst. Die Diskussion um Dancehall, Homophobie und Gewalt wird im Gleaner am differenziertesten ausgetragen. Autor_innen mit akademischer Bildung aus der middle class, die nicht nur Dancehall, sondern auch Homosexualität äußerst kritisch gegenüberstehen und die Einmischung von Menschenrechts- und LGBTTIQ-Organisationen in die nationalen Angelegenheiten Jamaikas ablehnen, bekommen am meisten Raum in der Zeitung. Besonders präsent ist Ian Boyne. Es kommen im Gleaner aber auch Journalist_innen und Leser_innen, die Homophobie auf Jamaika kritisieren, und Mitglieder der LGBTTIQ-Gemeinschaft zu Wort. Ein Stück weit versucht das Verlagshaus sogar seine Leserschaft über Homosexualität aufzuklären. Ein Glossar im Lifestyle-Magazin Flair, das dem Gleaner beiliegt, definiert Ausdrücke wie Coming out, Homophobia, Heterosexism und Transsexuality (»Glossary of Gay Terms« 2004: 11). The Jamaica Star Die täglich publizierte Boulevardzeitung The Star oder The Jamaica Star ist ebenfalls Teil der Gleaner Company Ltd. Der erste Star erschien am 24. November 1951. Im
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Jahr 1962 wurde der Star durch den Weekend Star ergänzt. Der Star beinhaltet eine Kombination aus spektakulären, reißerischen und kuriosen Nachrichten aus Jamaika und aller Welt. Des Weiteren liegt sein Schwerpunkt auf Sport, Musik, Unterhaltung und Mode. Außerdem werden täglich Schnappschüsse von leicht bekleideten Partybesucherinnen in der Rubrik Hottie Hottie. Femme Fashions abgebildet, die Artikel aus dem Entertainmentsegment umrahmen. Exklusiv im Star erscheint die Rubrik Tell Me Pastor des promovierten Psychologen und Klerikers Aaron Dumas. Dumas schreibt seine Kolumne bereits seit 1983 für die Gleaner Company Ltd. Seit Dezember 2002 moderiert der Pastor zusätzlich zur gedruckten Version auch noch eine Radioshow. In Dumas Kolumne können Jamaikaner_innen aus dem In- und Ausland ihre Beziehungs- und Sexualprobleme einsenden und erhalten dafür vom Pastor moralische und religiöse Ratschläge und Anweisungen. Die Ratsuchenden werden dabei häufig vom väterlich-autoritär auftretenden Pastor zurechtgewiesen, ihr Verhalten an den christlichen Normen und Wertvorstellungen zu orientieren, die respektable Bürgerinnen und Bürger auszeichnen. Vorwiegend Untreue und als unchristlich angesehenes Sexualverhalten werden vom populären Zeitungsseelsorger scharf verurteilt. Das große Interesse der Leser_innen und Zuhörer_innen an sexuellen Ausschweifungen und Beziehungsdramen ist aber gleichzeitig auch der Grund für die große Popularität von Dumas Kolumne und Radiosendung. Vom Star wurden 2012 montags bis samstags zwischen 30.000 und 40.000 Exemplare gedruckt. Die Auflagenstärke der Sonntagsausgabe liegt bei 45.000 bis 48.000 Zeitungen. Für 2004 liegen keine Informationen über die Auflagenstärke vor. Im Untersuchungszeitrum 2004 kostete eine Werktagsausgabe des Jamaica Star 15 jamaikanische Dollar (0,19 Euro). Der Star enthält, im Gegensatz zum Gleaner und Observer, keine Leserbriefe. Deshalb konzentrierte sich die Diskussion um Homophobie / Homosexualität dort hauptsächlich auf Nachrichtenbeiträge, vereinzelte Kommentare, Karikaturen und den Teil Starbiz – Jamaica’s Best Guide to Entertainment, der über aktuelle Ereignisse in der Populärkultur berichtet. Da der Star seine Leserschaft durch fett gedruckte, prägnante Schlagzeilen und Fotografien auf der Titelseite anzusprechen versucht, findet sich hier die Thematik Homophobie / Homosexualität mit mindestens acht Schlagzeilen im Jahr 2004 insgesamt am häufigsten auf dem Titelblatt: 1. 2. 3. 4.
»Leave Gays alone. Amnesty Int’l inciting world protest against Jamaica and homophobia« am 2. Juni 2004. »Tears of sorrow« am 10. Juni 2004. »Not an easy Road. UK may ban Buju« am 15. Juni 2004. »Gay Backlash. Some Jamaican deejays accused of being ›funny‹« am 8. Juli 2004.
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»Beenie Bows. ›I renounce violence towards other human beings in every way‹« am 4. August 2004. »Out for Blood. Outrage leader under death threat« am 28. September 2004. »›Leave JA DJs Alone‹. English group defends reggae against gays« am 2. Oktober 2004. »U.S. Gays Threaten Capleton. Artiste’s tour still continues« am 13. Oktober 2004.
Der Star nimmt in seiner Berichterstattung über die Diskussionen um Homophobie und Dancehall nicht selten eine Verteidigungshaltung gegenüber den jamaikanischen Deejays und deren Musik ein, die ein stark polarisierendes Bild der Auseinandersetzung zeichnet. Auf der einen Seite stehen die internationalen LGBTTIQ-Organisationen als Angreifer_innen, ihnen gegenüber die meist als Opfer porträtierten jamaikanischen Künstler: »Leave JA DJs alone« (»Leave JA DJs Alone« 2004: 3). Die Argumentation der LGBTTIQ-Verbände werden als »Propaganda«, »Lüge« und übertrieben geschildert (Levy 2004b: 8; »Outrage-Ous Lie!« 2004: 11). Die Forderungen von Outrage! werden als »OUTRAGE-ous demands« angesehen, während »›homophobic‹« von den Herausgeber_innen in einfache Anführungszeichen gesetzt wird (»Outrage-Ous Demands. Gay Group Goes All to Reign in ›Homophobic‹ Artistes« 2004). Laut Berichten des Star feiern sexuelle Minderheiten in der Schwarzen Gemeinschaft in Großbritannien die homophoben Dancehall-Texte und betrachten sie nur als Musik: »They’re popular tunes with the black gay crowd. They’re good beats. We don’t take what those records say seriously« (»›It's Just Music‹. British Gays Love Anti-Gay Songs« 2004: 11). Der durch J-FLAG und internationale LGBTTIQ-Gruppen formulierte Vorwurf, dass Brian Williamson Opfer eines homophoben hate-crime wurde, wird durch Artikel, die den Raubüberfall und das Geständnis des Angeklagten in den Vordergrund rücken, zu widerlegen versucht (vgl. »Man Pleads Guilty to Williamson’s Murder« 2004: 4; »Gays Silent. Mum since Guilty Plea by Williamson’s Accused Killer« 2004: 3) Als das Management des Künstlers Beenie Man (Anthony M. Davis) den Versuch unternahm, die Kampagne durch ein Gewaltverzichtsstatement ihres Künstlers zu entschärfen, wird dies im Star als Kneifen verstanden und gar mit dem doppeldeutigen »Beenie bows« kommentiert (Williams 2004b: 3). To bow steht sowohl im Dancehall-Jargon als auch im Jargon der Rastafari nicht nur dafür, sich einer (kolonialen) Autorität zu beugen, sondern impliziert auch für sexuelle Normabweichungen wie Homosexualität oder Oralverkehr.
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The Jamaica Observer Der Jamaica Observer ist die zweitgrößte Tageszeitung der Insel. Er wurde am 5. März 1993 als wöchentliche Zeitung gegründet, die damals noch in Florida gedruckt und per Flugzeug nach Montego Bay und Kingston ausgeliefert wurde. Seine anfängliche Auflage lag bei 50.000 Exemplaren (»Jamaica. New Weekly Newspaper to Appear March 5« 1993: 10A). Umgewandelt zur Tageszeitung wurde der Observer im Dezember 1994. Heute gehört er dem jamaikanischen Unternehmer und Millionär Gordon »Butch« Steward. Dieser ist Teil der weißen Elite Jamaikas und Besitzer zahlreicher Betriebe wie zum Beispiel der über die Karibik verteilten Hotelkette Sandals. Im Jahr 2004 kostete eine Observer-Ausgabe unter der Woche 20 jamaikanische Dollar (0,26 Euro). Über die Auflagenstärke des Blattes 2004 ist nichts bekannt. Besonderer Höhepunkt des Observer sind die täglich erscheinenden Karikaturen. Diese werden seit 1993 von Jamaikas populärstem Karikaturisten, Clovis Brown, angefertigt und erscheinen in der Rubrik Leserbriefe. Die Zeichnungen, die ein Leser als »Augenschmaus« (Pessoa 2004: 9) lobt, kommentieren auf ironische Weise politische und gesellschaftliche Geschehnisse auf Jamaika und der ganzen Welt, wobei der Dancehall-Kultur und ihren Provokationen, Skandalen und Rivalitäten viel Platz eingeräumt wird. 3 In die Untersuchung sind zwei Karikaturen eingeflossen, die sich explizit auf die Thematik Homosexualität / Homophobie beziehen. Auch im Observer wird das Engagement der Jamaikaner_innen aus der Diaspora durch eine Vielzahl von Leserbriefen deutlich, die aus Kanada, den USA und Großbritannien in vielen Ausgaben abgedruckt sind. Leser_innen aus dem Ausland nehmen dabei Bezug auf Themen wie Kriminalität, Visarestriktionen und insbesondere auf die Diskussion um die Rechte von Homosexuellen auf Jamaika und die internationale Kampagne gegen als homophob kritisierte jamaikanische Entertainer. Die Thematiken Homophobie, Homosexualität und gewaltverherrlichende Populärmusik werden im Observer unter anderem in den Rubriken News, Entertainment, Letters und in zahlreichen Kommentaren ausführlich diskutiert. Insgesamt erscheinen Artikel zu diesem Thema und die Forderungen von HRW 2004 mindestens viermal auf dem Titelblatt der Zeitung. Die Diskussion um homophobe Dancehall-Musik schafft es dagegen nicht auf die Titelseite: 1. 2.
3
»Gay rights activist stabbed to death« am 10. Juni 2004. »US group says gays abused in Jamaica. Calls for end to buggery law and recognition of gay rights« am 17. November 2004.
Der Karikaturist Clovis Brown zeichnet außerdem Cover für Reggae-Alben wie zum Beispiel für Cocoa Teas Veröffentlichung Tek Way Yuh Gal (2004). Dies macht deutlich, wie eng verwoben Musik und Printmedien auf Jamaika sind.
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3. 4.
»Gov’t slaps down US group. Tells Human Rights Watch that only Jamaicans can set legal agenda« am 18. November 2004. »US group report misleading. Health ministry says Human Rights Watch ›survey‹ contains unfounded testimonials and hearsay« am 23. November 2004.
Die Titelseite des Observer ist 2004 gewöhnlich mit einer fett gedruckten Schlagzeile und dem dazugehörigen Artikel aufgemacht. Ferner zeigt sie ein Foto, das entweder zum Titelartikel gehört oder auf ein anderes aktuelles Thema aufmerksam macht. Auch im Observer übernehmen hauptsächlich renommierte Journalist_innen und Persönlichkeiten aus der gebildeten upper und middle class die Rolle der Kommentator_innen. Zur Thematik Homosexualität / Homophobie / Dancehall-Kultur äußern sich primär Mark Wignall, unter anderem in seiner Kolumne Wignall’s World, und der linksorientierte Journalist John Maxwell (1934-2010) in seiner Kolumne Common Sense. Des Weiteren gibt es Beiträge von Clyde McKenzie, der 2004 für das Management des Künstlers Beenie Man verantwortlich war, dem Anthropologen Kingsley »Ragashanti« Stewart aus Connecticut, dem Verleger Lloyd B. Smith und der Journalistin Becki Patterson. Die Haltung des Observer in der Diskussion um Dancehall, Homophobie und Gewalt ist vergleichbar mit der des Gleaner. Auch der Observer berücksichtigt primär jamaikanische Autor_innen aus der upper und middle class, die eine Legalisierung von Homosexualität ablehnen, gleichzeitig aber auch Dancehall-Musik und die in den Lyrics präsente Gewalt, sowohl gegen homosexuelle als auch heterosexuelle Jamaikaner_innen, stark kritisieren. Vergleichbar mit dem Gleaner sind die ablehnenden Reaktionen gegenüber der als Einmischung wahrgenommenen Arbeit von Outrage!, AI und HRW. Anders als im Gleaner gibt es im Observer einzig in den Leserbriefen Platz für die Meinung von sexuellen Minderheiten. Größere Kommentare im Observer verurteilen gewaltsame Ausprägungen von Homophobie nur aus einer heterosexuellen, meist männlichen jamaikanischen Perspektive. Die gelebte Erfahrung von sexuellen Minderheiten in und außerhalb Jamaikas fehlt in dieser Rubrik und nimmt folglich nicht am Diskurs teil.
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Unter Diskursanalyse versteht man das systematische Auseinanderziehen, Entwirren und Offenlegen der in sich verflochtenen Diskurse und Diskursstränge, die den Gegenstand der Arbeit, die mediale Kontroverse um homophobe Inhalte in der jamaikanischen Dancehall-Musik, konstruieren. Auf das Konzept, das nachhaltig von Michel Foucault geprägt wurde, wird zurückgegriffen, weil Diskursen aufgrund ihrer
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Fähigkeit zu strukturieren, zu definieren und abzugrenzen, eine gesellschaftliche Macht innewohnt. 4 Die Analyse der jeweiligen Diskurse erfolgt pyramidenförmig. Ausgehend von der Untersuchung wiederholt auftretender Aussagen, wird zuerst auf den jeweiligen Diskursstrang und von dort auf den Diskurs als Ganzes geschlossen. Die Analyse konzentriert sich auf folgende Leitfragen: •
• • •
Welche Rolle spielen Diskussionen über Sexualität und Populärkultur für die Herausbildung einer transnationalen kulturellen jamaikanischen Identität im frühen 21. Jahrhundert? Wie artikuliert sich die Krise des creole multiracial Staats in den Diskursen um Dancehall-Kultur und Homosexualität? Wie wird diskursiv die Bedeutung der Kategorie Respektabilität in der medialen Diskussion wiederhergestellt? Inwiefern zeigt die Kontroverse auf internationaler Ebene, dass Praktiken zur Alterisierung von Schwarzen Menschen und People of Color auch im frühen 21. Jahrhundert Bestand haben?
Um diese Fragen zu beantworten, analysiert das vorliegende Buch, wie die Phänomene Homosexualität, Homophobie oder auch das gewaltverherrlichende Potenzial von Dancehall-Musik erst durch eine Bündelung von Aussagen diskursiv entstehen. Außerdem ist ihr Ziel, Verflechtungen zwischen den unterschiedlichen Diskursen und ihren jeweiligen Diskurssträngen herauszustellen und die dadurch erzeugten Effekte zu beleuchten. 5 Der Verlauf der unterschiedlichen Diskurse und ihre Verflechtungen werden überdies anhand wichtiger diskursiver Ereignisse rekonstruiert.
4
Im Buch beziehe ich mich auf Foucaults Machtbegriff. Dieser betont die produktive Komponente der Macht, unterstreicht ihre Omnipräsenz und charakterisiert sie als ein dezentrales Phänomen, das allen gesellschaftlichen Vorgängen innewohnt (vgl. Foucault 1983: 87, 93, 94). Aus diesem Grund lehnt er eine Aufteilung der Gesellschaft in Machtbesitzende und Machtlose ab (vgl. Foucault 1983: 94). Für Foucault ist Macht gekennzeichnet durch eine »Vielfältigkeit von Kraftverhältnissen, die ein Gebiet bevölkern und organisieren« (Foucault 1983: 93). Macht bleibt immer etwas Instabiles, nicht zuletzt deshalb, weil jedem Machtverhältnis bereits ein Widerstand innewohnt (vgl. Foucault 1983: 96).
5
Texte beinhalten für gewöhnlich thematische Bezüge zu verschiedenen Diskurssträngen. Eine Diskursstrangverschränkung weist darauf hin, dass ein Text aus unterschiedlichen Diskursfragmenten verschiedener Diskursstränge besteht und dadurch ein spezifischer Effekt erzeugt wird (vgl. Jäger 2010: 18). Siegfried Jäger analysiert unter anderem die Verschränkungen der Diskurse Rassismus und Antisemitismus und den dadurch erzeugten Effekt (vgl. Jäger 2006). Es ist ein Anliegen des Buches, die diskursive Verflechtung von Homophobie und Rassismus herauszuarbeiten. Diskursive Verschränkungen entstehen mit
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Verknüpfungen beziehungsweise diskursive Allianzen zwischen einzelnen Diskurssträngen führen dabei zu deren Verstärkung. So kann es sein, dass ein Diskurs durch eine Überschneidung mit einem anderen Diskurs zusätzliches Gewicht erhält, obwohl die jeweiligen Akteur_innen grundsätzlich entgegengesetzte Vorstellungen artikulieren. Verflechtungs- und Überschneidungseffekte unterschiedlicher Diskurse finden zwischen Kritiker_innen von Dancehall-Musik aus der middle class und LGBTTIQ-Aktivist_innen statt. Sie sind deshalb wichtig bei der Analyse, da sie die Elite des jamaikanischen Staats diskursiv ermächtigen. Die Diskurse lassen sich außerdem in hegemoniale Diskurse und Gegendiskurse unterscheiden. 6 Generell gilt, dass die vorliegende Diskursanalyse lediglich eine Möglichkeit darstellt, die ineinander verschränkten Diskurse zu strukturieren. Struktur und Schematisierung der Analyse sind deswegen von Interessengebiet, Fragestellung und gesellschaftlicher Verortung der Autor_innen abhängig. In meinem Falle gilt, dass die von mir als weißem Akademiker aus Deutschland besetzte gesellschaftliche Position Einfluss auf die Auswahl, Strukturierung und Ergebnisse des Forschungsprozesses ausübt. Andere Analytiker_innen, die sich denselben oder ähnlichen Aspekten widmen, können deshalb aufgrund einer unterschiedlichen sozialen Positionierung und Strukturierung des Themas zu anderen Hervorhebungen und Ergebnissen kommen. Der Themenkomplex der Debatte um homophobe Dancehall-Lyrics wird in zwei Elemente aufgeschlüsselt. Zuerst werden die Diskurse um Homophobie und Homosexualität dargelegt. Sie lassen sich unterteilen in: • •
Den antihomosexuellen Diskurs. Den Diskurs gegen Homophobie.
Der zweite Teil konzentriert sich auf die Diskurse um Dancehall-Musik und deren Konstruktion und Rezeption als populärkulturelles Erzeugnis der Schwarzen jamaikanischen lower class. Sie sind eng verflochten mit den im ersten Teil der Analyse dargelegten Diskursen um Homophobie und Homosexualität und untergliedern sich in folgende zwei Diskurse: • •
Den Diskurs gegen Dancehall-Musik. Den Diskurs für Dancehall-Musik.
Hilfe von Kollektivsymboliken, die unterschiedliche Typen von Diskurssträngen oder Diskursen miteinander verknüpfen. Sie werden als »die Gesamtheit der am weitesten verbreiteten Allegorien und Embleme, Vergleiche und metaphorae continuatae, Exempelfälle, anschaulichen Modelle und Analogien einer Kultur« verstanden (Link 2006: 413). 6
Siehe Kapitel Postkolonialismus und diskurstheoretische Überlegungen.
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Diskursive Ereignisse, Verlauf des Diskurses und Akteur_innen Der mediale Diskurs über Homosexualität auf Jamaika ist seit den 1990er-Jahren und speziell seit der Jahrtausendwende stetig angewachsen. Auch im Jahr 2004 lehnte die Mehrheit der jamaikanischen Gesellschaft Homosexualität entschlossen ab. Inwiefern antihomosexuelle Einstellungen auf Jamaika als mehrheitsfähig betrachtet werden, veranschaulicht eine ironische Darstellung des Karikaturisten Clovis Brown im Jamaica Observer am 21. November 2004 (Abbildung 1). Sie zeigt Premierminister Patterson, der von links und rechts mit Forderungen von Menschenrechtsorganisationen konfrontiert wird, die durch zwei Frauen mit Transparenten verkörpert werden. Die linke Frau thematisiert den Caribbean Court of Justice, die rechte hält dem Premierminister ein Plakat, auf dem »GAY ISSUE« steht, entgegen. Patterson wird in der Karikatur als Mensch mit zwei Köpfen porträtiert. Während der eine Kopf ein »Referendum« über den Caribbean Court of Justice entschlossen ablehnt, beantwortet der andere die Frage nach der Legalisierung von Homosexualität mit »… LET JAMAICANS DECIDE!«. Abbildung 1
Jamaica Observer 21. November 2004 (© Clovis Brown).
Die mehrheitliche Ablehnung von Homosexualität im Jahr 2004 geht jedoch mit einer angestiegenen Notwendigkeit einher, über gleichgeschlechtliche Sexualität sprechen zu müssen. Die verstärkte »›Diskursivierung‹ des Sexes« (Foucault 1983: 19), präsent im Sprechen und Schreiben über (Homo-)Sexualität, findet sich nicht nur in den jamaikanischen Printmedien, sondern auch seit Mitte der 1990er-Jahre in zahlreichen Lyrics von Dancehall-Künstler_innen wieder. Parallel dazu hat sich ein Diskurs um die gesellschaftliche Wirkung von Dancehall-Lyrics herausgebildet, denen gehäuft Gewaltverherrlichung und Vulgarität vorgeworfen wird. Im Zentrum des
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Diskurses steht die Annahme, dass die Texte für den Moralverfall und die große Anzahl an Gewaltverbrechen in der jamaikanischen Gesellschaft verantwortlich sind. Artikel, die das thematische Dreieck von Homophobie, die für die Gesellschaft ›destruktive‹ Populärkultur und Homosexualität betreffen, sind an konkrete soziale Geschehnisse gebunden. Ereignisse, über die ausgiebig in den Medien berichtet und diskutiert wird, werden diskursive Ereignisse genannt (vgl. Jäger 2010: 40, 41). Das bedeutet, dass nicht jedes Geschehnis automatisch zu einem diskursiven Ereignis werden muss. Darüber hinaus zeichnen sich diskursive Ereignisse dadurch aus, dass sie Einfluss auf den Verlauf von Diskursen nehmen (vgl. Jäger 2010: 41). So können sie einen hegemonialen Diskurs verstärken oder einen diskursiven Wandel einleiten. Anhand eines diskursiven Ereignisses kann deutlich werden, welche Aussagen die Sagbarkeitskriterien zu einer bestimmten Zeit und an einem bestimmten Ort zulassen (vgl. Jäger 2010: 41). Bei der Untersuchung der gesellschaftlichen Diskussion um Homophobie auf Jamaika lässt sich beispielsweise feststellen, dass eine unter anderem durch Homophobie ausgelöste Gefängnisrevolte mit mehreren getöteten vermeintlichen Homosexuellen im August 1997 kaum mediales Echo fand und keinen wirklich bedeutsamen gesellschaftlichen Diskurs um Homophobie auslöste. Neben dem damaligen »Sagbarkeitsfeld« (Jäger 2010: 106), das die in einer Gesellschaft zu einem bestimmten Zeitpunkt möglichen Aussagen eingrenzt, kann das geringe mediale Interesse auf Jamaika auch der Tatsache geschuldet sein, dass es sich bei den getöteten Homosexuellen um inhaftierte Verbrecher_innen handelte. Gefängnisinsass_innen kommen gewöhnlich primär aus der lower class der Gesellschaft und sind bereits durch Verurteilungen und Freiheitsstrafen als ›deviant‹ und außerhalb der ›Normalität‹ markiert. Im Falle des ermordeten J-FLAG-Aktivisten Brian Williamson war das Opfer ein Jamaikaner aus der uptown, der insbesondere wegen seines Engagements für die LGBTTIQ-Gemeinschaft der Öffentlichkeit der Insel bekannt war und neben der jamaikanischen auch Inhaber der kanadischen Staatsbürgerschaft war (vgl. Creary 2004a: 9). Sein Tod im Juni 2004 wurde deshalb sowohl international als auch auf Jamaika stark rezipiert, wobei das Wechselspiel zwischen internationalen und nationalen Akteur_innen und die darin enthaltenen Widersprüche zu einer verstärkten Präsenz des Themas in den Medien führte. Im Vorfeld hatten bereits im Jahr 2003 Artikel, die internationalen Protest gegen Dancehall, Homophobie und Homosexualität auf Jamaika thematisierten, eine Grundlage für ein verstärktes Interesse an der Thematik geschaffen. Im Zeitraum der Presseanalyse vom 1. Januar 2004 bis zum 31. Dezember 2004 gibt es insgesamt sechs Ereignisse, die es hervorzuheben gilt: 1.
Einen Bericht von Amnesty International (AI) im Juni 2004, der Jamaika pauschal als besonders homophob charakterisiert.
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2. 3. 4.
5.
6.
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Die Ermordung Brian Williamsons am 7. Juni 2004, die international als von Homophobie motiviertes Verbrechen dargestellt wurde. Eine vermeintliche Entschuldigung des Künstlers Beenie Man für seine homophoben Lyrics im August 2004. 7 Der Ausschluss der Entertainer Vybz Kartel und Elephant Man wegen homophober Lyrics von den Music of Black Origin Awards (MoBO) in Großbritannien im September 2004. Der Rückzug zahlreicher multinationaler Konzerne aus dem Sponsoring von Dancehall-Veranstaltungen auf Jamaika, verursacht durch gewaltverherrlichende Lyrics im Oktober 2004, der ebenfalls die ökonomische Konsequenz des politischen Drucks der LGBTTIQ-Organisationen innerhalb Jamaikas zum Ausdruck bringt. Die Veröffentlichung des Human Rights Watch Berichts Hated to Death im November 2004.
Der Diskurs um Homosexualität und Homophobie vollzieht sich in der ersten Jahreshälfte 2004 hauptsächlich auf der politischen und gesellschaftlichen Ebene. Dazu tragen vor allen Dingen der Bericht von AI und die gesellschaftliche Reaktion auf die Ermordung Brian Williamsons bei. Mit dem Auftreten der Kampagne von Outrage! und J-FLAG und deren Fokussierung auf jamaikanische Entertainer vollzieht sich ein Wechsel der Ebenen hin zur Populärkultur beziehungsweise konkret auf die Dancehall-Musik. Diese Ausrichtung bleibt erhalten, bis im November 2004 der Bericht von HRW und deren Forderungen an die jamaikanische Regierung den Diskurs erneut zurück auf die politische Ebene bringen. Dabei ist festzustellen, dass die Konzentration auf konkrete Politik und Gesetzgebung innerhalb der Kontroverse ein erheblich harscheres Diskussionsklima bewirken. Auch wenn Gewalt gegen sexuelle Minderheiten von vielen Jamaikaner_innen nicht begrüßt wird, steigt die Aggressivität des Diskurses an, wenn Forderungen von externen Akteur_innen an den jamaikanischen Staat gerichtet werden. Die Reaktionen fallen im Vergleich dazu weniger scharf aus, wenn sich die Kritik lediglich an die Dancehall-Künstler und deren Songtexte richtet, die vorzugsweise von konservativer und elitärer Seite auch auf Jamaika häufig geäußert wird. 7
Am 4. August 2004 vermeldete der Star, dass Beenie Man durch den Musikvertrieb Virgin mitteilen ließe, auf gewaltverherrlichende Texte jeglicher Art in Zukunft verzichten zu wollen. Das Statement wurde laut Presseberichten ohne das Wissen von Beenie Mans Management Shocking Vibes veröffentlicht. Homophobe Texte wurden im Schreiben von Virgin nicht gezielt thematisiert, weshalb Outrage! ihm keine große Bedeutung zusprach (vgl. Williams 2004b: 3). Innerhalb der jamaikanischen Presse wurde es als »Entschuldigung« betrachtet (Smith 2004b: 15). Das wurde als Nachgeben auf den Druck aus Großbritannien wahrgenommen und deswegen verurteilt (vgl. O’Brien Chang 2004a: G9).
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Für jamaikanische Dancehall-Musik als Forschungsgegenstand ist die Transnationalisierung und Globalisierung von Diskursen von großer Bedeutung (vgl. Keller 2010: 79). Einerseits tauchen, je nach nationalem, historischem und kulturellem Kontext, spezifische Diskurse beziehungsweise Diskurskoalitionen auf, die Wissen oder Definitionen über Gegenstände, wie beispielsweise Dancehall oder Homosexualität, liefern. Manche Diskurse und die dazugehörigen ›Wahrheiten‹ sind örtlich beschränkt oder treffen nur auf eine bestimmte Gruppe von Menschen zu (vgl. Maihofer 1995: 80-81). So existiert in der Dancehall, die auf ein extremes, pornografisches und vulgäres Vokabular zurückgreift, ein anderer Diskurs über Homosexualität als in den öffentlichen Printmedien auf Jamaika, auch wenn beide sich ablehnend äußern. Diskurse besitzen andererseits im frühen 21. Jahrhundert die Fähigkeit, sowohl nationale als auch kulturelle Konstruktionen zu transzendieren. Migrationsbewegungen und Kommunikationstechniken wie das Internet führen zu multiplen Überlappungen. Das Resultat davon ist, dass auf Jamaika auch Aussagen aus Nordamerika und Großbritannien Einfluss auf den öffentlichen Diskurs und andere Diskurse nehmen können sowie umgekehrt. Insbesondere spielt dabei auch der gesellschaftliche, politische und wirtschaftliche Einfluss der sprechenden Akteur_innen eine Rolle. Der Diskurs um die Rechte von sexuellen Minderheiten ist ein schwerpunktmäßig in Nordamerika und Europa hervorgebrachter hegemonialer, internationaler Diskurs. Er wird aber auch in den jamaikanischen Medien durch die gemeinsamen Aussagen von internationalen und jamaikanischen LGBTTIQ-Aktivist_innen sowie durch Jamaikaner_innen geäußert, die sich gegen Homophobie einsetzen. Die Diskurse um die kulturelle Identität Jamaikas und die Rolle, die Respektabilität darin spielen soll, verlaufen transnational. Äußerungen von Jamaikaner_innen aus der Diaspora, die ›respektable‹ Sexualität einfordern und Homosexualität ablehnen, sind dabei ähnlich bedeutsam wie die von Menschen auf der Insel. Lediglich die aus den Diskursen folgenden Direktiven und Institutionen, wie zum Beispiel die Aufrechterhaltung der Illegalität von Homosexualität, bleiben an nationale Grenzen und Gesetzbücher gebunden. Dies reduziert aber nicht den Einfluss, den solche Maßnahmen auf die Definition von kultureller Identität haben und produziert so auch Druck auf homosexuelle Jamaikaner_innen außerhalb Jamaikas. Verschiedene Sprecher_innen inner- und außerhalb Jamaikas tragen durch ihre Aussagen erst zu einem Anwachsen der Diskurse über Homosexualität, Homophobie sowie der Wirkung von Dancehall-Lyrics im jamaikanischen Kontext bei. Die drei Phänomene werden innerhalb der jamaikanischen Gesellschaft erst durch eine Vielzahl unterschiedlicher Aussagen und deren Strukturierung durch Diskurse geschaffen und erfahrbar gemacht. An der Entwicklung des öffentlichen Diskurses um Homosexualität sind unterschiedliche gesellschaftliche Akteur_innen und Gruppen beteiligt, denen in den Zeitungen, je nach angenommener Expertise, unterschiedlich viel Raum eingeräumt wird. Die Aussagen des Diskurses lassen sich nicht auf Jamaikaner_innen oder auf der Insel lebende Menschen eingrenzen, da durch das Internet, Leserbriefe
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und durch den Abdruck von Artikeln aus US-amerikanischen oder britischen Zeitungen auch internationale Akteur_innen am Diskurs mitschreiben. Aussagen über den Gegenstand Homosexualität werden in den jamaikanischen Medien von Journalist_innen, Vertreter_innen von unterschiedlichen Kirchen, Ärzt_innen, Psycholog_innen, Wissenschaftler_innen, Politiker_innen, Künstler_innen, LGBTTIQ- und Menschenrechtsaktivist_innen geäußert, aber auch von Privatpersonen aus Jamaika, Nordamerika und Europa. Aussagen über die (Dys-)Funktion von Dancehall treffen neben Privatpersonen aus Jamaika und der Diaspora, Tourist_innen, Journalist_innen, Intellektuelle und Wissenschaftler_innen sowohl aus dem Ausland als auch von der University of the West Indies. Bedingt durch die internationale Diskussion um Homophobie in der jamaikanischen Populärkultur haben sich darüber hinaus LGBTTIQ-, Menschenrechtsaktivist_innen und Politiker_innen aus dem Ausland in der Debatte zu Wort gemeldet. Es muss jedoch abgewogen werden, inwiefern diese Argumentationen von internationalen Akteur_innen primär von kampagnentaktischem Kalkül sind. 8 Die unterschiedlichen Sprecher_innen, die auf Jamaika und global Diskurse über jamaikanische Populärkultur und Homophobie produzieren, existieren ebenfalls nicht jenseits von Diskursen. Wenn Akteur_innen sich äußern, ist es wichtig, zu beachten, dass alle aufgelisteten gesellschaftlichen Subjekte selbst durch eine Vielzahl unterschiedlicher Diskurse konstruiert werden. Daraus folgt, dass sie unterschiedliche Positionen, die mit größerem oder geringerem Machtpotenzial verbunden sind, einnehmen. In jedem gesellschaftlichen Subjekt überschneiden sich grundsätzlich eine Vielfalt von Diskursen und Subjektpositionen (vgl. Keller 2011: 55). Menschen auf Jamaika können zugleich homosexuell, Schwarz, jamaikanisch, christlich, Bewohner_innen der downtown und Arbeiter_innen sein. Die diskursiv konstruierte Subjektposition wiederum steht in Verbindung damit, ob Akteur_innen gehört werden oder ihre Aussagen ungehört verhallen. 8
Peter Tatchell äußert im Interview 2011, dass Outrage!, neben der Problematik der Homophobie in den Lyrics, den destruktiven, gewaltverherrlichenden Charakter der Texte für die Gesellschaft, vor allem in der jamaikanischen Diaspora in Großbritannien, im Blick hatte: »For us, it was in the context of challenging the whole culture of violence in Jamaica and supporting all the victims. We never said that gay people are the only victims. We never for one minute devalued or diminished the horrific scale of general violence that exists in Jamaica. And, of course, most of the victims are not gay. Most of the victims are not targeted for any particular reason. It’s mostly gang warfare or robberies or sexual assaults (Tatchell 2011). Tatchell greift ebenfalls die vermeintlich destruktive Wirkung der Dancehall auf die Gesellschaft auf. Er beschreibt das Genre als »Bastardisierung« und »Perversion« des ursprünglichen »›love and peace‹-Ethos« (Tatchell 2011), in dessen Zentrum nicht die Verherrlichung von Gewalt, sondern die Befreiung der Schwarzen gestanden habe.
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Geschichtswissenschaft und Diskursanalyse Die medialen Aussagen zu homophoben Inhalten in der jamaikanischen DancehallMusik sollen mittels des Werkzeugs der Diskursanalyse untersucht werden. 9 Die Diskursanalyse kann dabei behilflich sein, Muster herauszuarbeiten, nach denen Aussagen strukturiert werden. Weiterhin kann durch sie der gesellschaftliche Konstruktionsprozess von Phänomenen, wie zum Beispiel Homosexualität, beleuchtet werden. Für die Analyse der Diskurse und den daraus resultierenden Definitionen ist es von Bedeutung zu prüfen, warum bestimmte Aussagen gehäuft auftauchen, andere Aussagen dagegen nie oder nur gelegentlich. Außerdem ist es wichtig darauf zu achten, welche Bilder, Metaphern und Symbole sich wiederholen, welche von geringer Bedeutung sind und besonders, was als ›normal‹ akzeptiert wird oder ›anormal‹ beziehungsweise unvorstellbar scheint (vgl. Landwehr 2008: 101). So tauchen in den jamaikanischen Medien Adam und Eva als Symbole für die vermeintlich gottgewollte Natürlichkeit von Heterosexualität auf, während das Bild der Stadt San Francisco für die ›Dekadenz‹ des ›Westens‹ und eine überdurchschnittliche gesellschaftliche Akzeptanz von Homosexualität steht (vgl. Stoddart 2004c: 9; Mills 2004b: A2). Diskurse können historisch verortet werden und besitzen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. So haben die Diskurse, welche die jamaikanische Geschlechterordnung, die sexuellen Moralvorstellungen, die Homophobie auf Jamaika und das Geschehen in der Dancehall betreffen, eine Vergangenheit, die bis in die Zeit der Plantagensklaverei und des Kolonialismus zurückreicht (vgl. LaFont 2001; Stanley Niaah 2010). Auch muss beobachtet werden, wann ein Diskurs im historischen Verlauf auftaucht und ob und wann er wieder verschwindet. Zudem ist festzustellen, ob ein Diskurs ausgrenzt, diskriminiert, versucht zu überzeugen oder soziale Unterschiede aufzeigt (vgl. Landwehr 2008: 128). Gerade weil Diskurse häufig weit in die Vergangenheit zurückreichen, bietet sich eine diskursanalytische Vorgehensweise auch bei geschichtswissenschaftlichen Fragestellungen an. Für die Anwendung der Diskursanalyse in den Geschichtswissenschaften setzen sich insbesondere Philipp Sarasin (Sarasin 2003; Sarasin 2006) und Achim Landwehr (Landwehr 2008; Landwehr 2010b; Landwehr 2010c) ein. Beide Forscher plädieren dafür, das Konzept des Diskurses in die geschichtswissenschaftliche Forschung zu integrieren.
9
In die Geschichtswissenschaft hielt das Konzept der Diskursanalyse im Anschluss an den Linguistic Turn Einzug. Unter Linguistic Turn wird allgemein die erkenntnistheoretische Einsicht verstanden, dass Sprache, Zeichen und Symbolsysteme eine bestimmende Rolle sowohl bei der Erkenntnis von Wirklichkeit als auch bei der Konstruktion von Wirklichkeit haben (vgl. Sarasin 2003: 11ff).
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Die Geschichtswissenschaft stand und steht poststrukturalistischen Ansätzen zum Teil äußerst kritisch gegenüber und bevorzugt hermeneutisches Arbeiten. Im Widerspruch zur Diskursanalyse in der Geschichtswissenschaft stehen laut Sarasin im Wesentlichen zwei Faktoren: •
•
Große Teile der Geschichtswissenschaft sind auch heute noch der Meinung, dass »empirische, objektivierbare ›Fakten‹ aus dem Bereich des politischen Handelns sowie staatlicher und wirtschaftlicher Verhältnisse gleichsam das Gerüst jener Wirklichkeit ausmachen, die die Historiker rekonstruieren« (Sarasin 2006: 56-57). Hier wird eine häufige Grundannahme von Historiker_innen deutlich, nämlich, dass es Bereiche gibt, die unabhängig von Sprache existieren und diese zusammen mit Kultur oft nur als Ornament oder Zusatz dient (vgl. Sarasin 2006: 57). Die Annahme, dass die Sprache der Historiker_innen als Bindeglied hinreichend kontrolliert werden kann, um die Vergangenheit ausreichend zu reflektieren (vgl. Sarasin 2006: 57).
Der diskursanalytische Ansatz geht davon aus, dass Objekte und Subjekte ihren Sinn erst durch unterschiedliche Diskurse bekommen. Es ist deshalb nicht möglich, Sinn lediglich aus »alltägliche[m] hermeneutische[m] Vorverständnis« (Sarasin 2003: 33) zu erklären, auch wenn deswegen eine Analyse des historischen Kontexts nicht ausgeschlossen, sondern lediglich dem diskursanalytischen Verständnis untergeordnet wird. Die Diskursanalyse konzentriert sich deshalb darauf, Erkenntnisse durch die Auswertung struktureller Voraussetzungen zu gewinnen, welche die Sinnerzeugung lenken (vgl. Sarasin 2003: 33). Nach Foucault geht es darum, die Diskurse nicht mehr ausschließlich […] als Gesamtheiten von Zeichen (von bedeutungstragenden Elementen, die auf Inhalte oder Repräsentationen verweisen), sondern als Praktiken zu behandeln, die systematisch die Gegenstände bilden, von denen sie sprechen. Zwar bestehen diese Diskurse aus Zeichen; aber sie benutzen diese Zeichen für mehr als nur zur Bezeichnung der Sachen. Dieses mehr macht sie irreduzibel auf das Sprechen und die Sprache. Dieses mehr muss man ans Licht bringen und beschreiben (Foucault 1988: 74 [Herv. i.O.]).
Das Ziel der Diskursanalyse ist es, das mehr, von dem Foucault spricht, herauszuarbeiten und zu analysieren. Landwehrs Konzept zur historischen Diskursanalyse stellt, basierend auf der Annahme, dass Wirklichkeit sozial konstruiert ist, die Frage, wie im Verlauf der Geschichte Kategorien des Wissens, der Wahrheit und der Wirklichkeit erzeugt werden.
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Dabei nimmt er das Machtpotenzial der Diskurse in den Fokus, das zur Strukturierung und Aufrechterhaltung von Ordnung beiträgt (vgl. Landwehr 2008: 98-99). 10 Zu den von Landwehr genannten Kategorien können auf Jamaika die Aspekte gezählt werden, die in den Zeitungsartikeln definieren, was Teil der hegemonialen Vorstellung von kultureller Identität ist und was nicht. Wissenschaftler_innen unterschiedlicher Disziplinen diskutieren eifrig über die Unterschiede zwischen Diskursivem und Nichtdiskursivem sowie die Existenz und Relevanz von Letzterem. 11 Das vorliegende Buch positioniert sich in dieser Frage 10 In den unterschiedlichen wissenschaftlichen Disziplinen haben sich zahlreiche Modelle und Differenzierungen von Foucaults Diskursanalyse entwickelt. Foucault selbst hat keine abgeschlossene Methode zur Analyse der Diskurse geliefert. Wenn von Diskursanalyse die Rede ist, bezieht sich das deshalb primär auf einen »breiten Gegenstandsbereich, ein Untersuchungsprogramm, keine Methode« (vgl. Keller 1997: 325 [Herv. i.O.]). Mehrere zeitgenössische Ansätze versuchen aus Foucaults Denkansätzen konkrete Vorgehensweisen zu formen. Neben Landwehrs Modell der historischen Diskursanalyse gibt es unter anderem auch noch Reiner Kellers wissenssoziologischen Ansatz sowie Siegfried Jägers Ansatz der Kritischen Diskursanalyse, der linguistisch vorgeht. Mit der Wissenssoziologischen Diskursanalyse (WDA) hat Reiner Keller zum Ziel, »Prozesse der sozialen Konstruktion, Objektivation, Kommunikation und Legitimation von Sinn-, d.h. Deutungs- und Handlungsstrukturen auf der Ebene von Institutionen, Organisationen bzw. sozialen (kollektiven) Akteuren zu rekonstruieren und die gesellschaftlichen Wirkungen dieser Prozesse zu analysieren« (Keller 2011: 59). Überdies betrachtet er, wie Aussagen durch bestimmte institutionalisierte Regeln kanalisiert werden und welche performative, die Wirklichkeit erschaffende Macht darin steckt (vgl. Keller 2011: 8). Siegfried Jägers Konzept der Kritischen Diskursanalyse versteht unter Diskursen »Flüsse von sozialen Wissensvorräten durch die Zeit« (vgl. Jäger 1999: 158). Diese beinhalten Anwendungsvorgaben für die Konstruktion sozialer Realitäten. Jäger liefert ein umfangreiches Instrumentarium zur Kategorisierung und Untergliederung der verschiedenen Aspekte von Diskursen, das teilweise auch im Buch genutzt wird. Außerdem bezieht er Jürgen Links Theorie der Kollektivsymbolik mit ein, die ein nützliches Analysekriterium bei der Untersuchung von medialen Erzeugnissen darstellt (Link 2006). 11 Keller beharrt auf einer Trennung von Diskursivem und Nichtdiskursiven, die er für nötig hält, um Ergebnisse aus der Diskursanalyse mit anderen sozialen Ebenen in Beziehung setzen zu können. Landwehr widerspricht Kellers Annahme und bestreitet die Existenz von Nichtdiskursivem. Für Landwehr geht Diskursforschung nicht davon aus, dass jedes wissenschaftliche Problem ausschließlich mit Hilfe des Diskurses zu begründen sei, sondern dass Diskursforschung lediglich eine Möglichkeit zur Analyse wissenschaftlicher Fragestellungen darstellt (vgl. Landwehr 2010a: 383). Kellers WDA nimmt zum Ausgangspunkt, dass Diskurse von Sprecher_innenrollen produziert, reproduziert und umgeformt werden. Diese Akteur_innen, die Aussagen individuell oder kollektiv erzeugen, besitzen nicht die
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wie folgt: Nicht alles auf der Welt ist diskursiv. Es gibt auch Phänomene, die jenseits von Diskursen stehen. Sie sind aber sprachlich nicht erfassbar und können deshalb nicht in der Publikation thematisiert werden. Jegliche Form des Sprechens verläuft in Diskursen und macht sich von Diskursen kreierte Kategorien zu Nutze. Das heißt, dass auch das vorliegende Buch wiederum ein Teil unterschiedlicher Diskurse ist. Für die Forschungsarbeit ist es wichtig zu verdeutlichen, dass sich nicht nur Gesprochenes und Geschriebenes, sondern auch homophob motivierte Gewalttaten oder Reglementierungen der Sagbarkeit in der Presse an Diskursen orientieren. Es ist außerdem unmöglich, derartige Aktionen jenseits von Sprache und Diskurs zu erfassen und zu beschreiben. Auch wenn Realität diskursiv, ergo durch gesellschaftliche Wissensflüsse konstruiert ist, sind die sozialen Akteur_innen deshalb nicht entmündigt und determiniert. Sie besitzen je nach Machtposition und Institution, von der aus sie sprechen, unterschiedliches Gewicht in einer Gesellschaft. So verfügen etwa die Institutionen Kirche oder Universität als Teil eines Diskurses über gesellschaftliche Macht. Im Falle Jamaikas wohnt auch der Institution Dancehall Macht inne. Dadurch kann sie beispielsweise diskursiv Kriterien entwerfen, die bestimmte Gruppen wie sexuelle Minderheiten von ihrer Definition von jamaikanischer kultureller Identität ausgrenzen. Schwierigkeiten und Grenzen diskurswissenschaftlichen Arbeitens Die Analyse des öffentlichen Diskurses in den jamaikanischen Printmedien um Homophobie in der Dancehall birgt einige Probleme. Von Schwierigkeit ist, dass sich in der medialen Diskussion mehrheitlich die gesellschaftliche Elite artikuliert. Speziell die Diskussion um die gesellschaftliche und akademische Akzeptanz von Dancehall-Musik findet zwischen Wissenschaftler_innen und konservativen Intellektuellen aus der upper und middle class statt. Darüber hinaus ist die Mehrheit der Kommentator_innen in den Zeitungen männlich. Dancehall-Künstler_innen werden aufgrund des Klassenunterschiedes außerhalb der Dancehall kaum wahrgenommen. Sie äußern sich wenig in den Medien. Ihre Standpunkte finden sich primär in den Dancehall-Lyrics, die ihrerseits andere Kriterien der Sagbarkeit besitzen als die gedruckte Presse. 12 Lediglich Bounty Killer (Rodney B. Price) äußerte sich im Oktober komplette Kontrolle über einen Diskurs und dessen Verlauf (vgl. Keller 2011: 68). Sie sind jedoch auch keine »Marionetten« (Keller 2010: 70) der Diskurse, sondern mit der Fähigkeit zu kreativer Interpretation und Aktion versehen. 12 Ihre Haltung gegenüber den Forderungen der LGBTTIQ-Organisationen verdeutlichen Dancehall-Künstler_innen in zahlreichen Songs. Vybz Kartels »No Apology« (2005), Sizzlas »Nah Apologize« (2005) und Beenie Mans »No Apology« (2005) sind drei Beispiele,
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2004 im Observer empört über die jamaikanische Presse, die, anstatt die international in die Kritik geratenen Künstler zu unterstützen, sich über diese lustig mache: Look at the press, when the gay rights groups overseas try to come down on the artistes and the artistes might say a few words to quell those people’s aggression and to make this business look appropriate in America, they say ›Oh Beenie bow, him mash up‹ (Hinds 2004: 30).
Homosexuelle Jamaikaner_innen auf der Insel sind 2004 kaum an der Diskursproduktion beteiligt. Viele homosexuelle Menschen schreiben hingegen aus der Diaspora. Die jamaikanische LGBTTIQ-Gemeinschaft taucht nicht selten nur über die Fremdrepräsentation durch Äußerungen von Outrage!, Berichte von AI und HRW sowie Zuschreibungen von heterosexuellen jamaikanischen Autor_innen in der Presse auf. Das verdeutlicht die Schwierigkeit für subalterne Akteur_innen, trotz oder gerade aufgrund politischer Unterstützung, Sichtbarkeit und Gehör zu finden. Auch wenn neben Nachrichtenbeiträgen und Kommentaren ebenfalls Leserbriefe in die Analyse einbezogen werden, ist es schwierig festzumachen, aus welchen gesellschaftlichen Gruppen die an der Diskussion partizipierenden Akteur_innen stammen. Es ist nicht ausgeschlossen, dass lediglich eine Minderheit der Beteiligten aus der unteren working class Jamaikas, insbesondere vom Land und aus Kingstons downtown, kommt. Im Zentrum der Diskursanalyse öffentlicher Auseinandersetzungen steht deswegen gezwungenermaßen die Analyse diskursiver Erzeugnisse der politisch-kulturellen Eliten: Sie haben Zugang zu den Medien, die Öffentlichkeit herstellen, initiieren politische Auseinandersetzungen, stehen mit ihrer Person zumeist für bestimmte politisch-kulturelle Milieus oder diskursive Gemeinschaften und verfügen über ein symbolisches Kapital, das ihnen Gehör verschafft und Aufmerksamkeit bindet (Schwab-Trapp 2003: 175).
Daneben ist bei der Arbeit mit Leserbriefen nie ersichtlich, welche Briefe die Herausgeber_innen der Zeitung nicht abgedruckt haben, inwiefern Briefe gekürzt wurden oder ob Briefe eventuell gezielt veröffentlicht wurden, um ein bestimmtes Meinungsbild in der Gesellschaft oder ein bestimmtes Bild der Zeitung zu inszenieren. in denen die Deejays ihre antihomosexuelle Position trotz des internationalen Drucks und damit auch ihre persönliche Heterosexualität vor dem jamaikanischen Publikum unterstreichen wollen. Im Gegensatz zum Pressediskurs verwendet die Dancehall eine drastischere und explizitere Sprache, um antihomosexuelle Einstellungen zu transportieren. Deutlich wird das am Wort batty boy, das in der jamaikanischen Presse kaum, mit Auslassungen und wenn überhaupt, meist als Zitat auftaucht. In den Medien wird gay und homosexual gegenüber dem vulgär anmutenden Patwah-Ausdruck batty boy, in dem bereits der Hinweis auf das Anale (batty) mitschwingt, bevorzugt (vgl. Wignall 2004b: 8).
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Es muss deshalb mitgedacht werden, dass die Zeitungen als Institutionen mit einer nicht sichtbaren Selektions- und Diskursregulierungsmacht versehen sind. Anhand derartiger Vorgänge wird auch der Einfluss von Institutionen auf die Bildung des öffentlichen Diskurses erkennbar. Nichtsdestotrotz geben die drei ausgewählten Medien einen breiten Querschnitt über die Kriterien der Sagbarkeit im öffentlichen Diskurs während des Untersuchungszeitraums 2004 wieder. Ein Nachteil der Diskursanalyse ist ihr qualitativ-interpretierendes Analysevorgehen. Im Rahmen von diskursanalytischen Arbeiten können Erkenntnisse nur schwierig durch eine Kalkulation der Häufigkeit von bestimmten Aussagen und Argumenten begründet werden (vgl. Schwab-Trapp 2003: 178). Nach Michael SchwabTrapp gibt es trotzdem unterschiedliche Kriterien, auf die Aussagen eines Diskurses geprüft werden können. Prominente Sprecher_innen, die von großen Teilen der jamaikanischen Öffentlichkeit unterstützt werden, zum Beispiel Politiker_innen, Akadamiker_innen und andere Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens, haben einen anderen Einfluss und mehr »symbolisches Kapital« (Bourdieu 1976: 352) im Diskurs als die Verfasser_innen von gewöhnlichen Leserbriefen. Ferner lässt sich die Wirkungskraft von Diskursaussagen durch die jeweilige soziale beziehungsweise politische Gruppe, an die sich die Sprechenden wenden, beurteilen. Abschließend spielen Deutungsangebote, die eine historische Tradition besitzen und bei der Bevölkerung aufgrund ihrer Bekanntheit auf Vertrauen und Wiedererkennen stoßen, eine verstärkende Rolle (vgl. Schwab-Trapp 2003: 179-180). Auf diese drei Faktoren wird in der Analyse gezielt Rücksicht genommen. Somit erklärt sich im Übrigen, weshalb Diskursstränge, die quantitativ weniger stark in den Medien repräsentiert sind, trotzdem eine wichtige Funktion bei der Analyse innehaben.
D ER
ANTIHOMOSEXUELLE
D ISKURS
AUF
J AMAIKA
I don’t want them writing books where a prince falls in love with another prince and they kiss and then live happily ever after. I have never burnt a book in my life, but there is a first for everything. MARK WIGNALL 2004B
Im Jahr 2004 überwiegen ablehnende Einstellungen gegenüber Homosexualität, wie im Zitat aus Mark Wignalls Kommentar »Those Flamin’ Homosexuals« aus dem Jamaica Observer, in den Printmedien eindeutig. Die meisten Menschen, die von der Insel aus schreiben, sehen diesen »alternativen Lebensstil« (Wignall 2004b: 8) als
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nicht kompatibel mit den auf Jamaika herrschenden gesellschaftlichen und moralischen Standards. Viele Jamaikaner_innen wehren sich gegen die Normalität von Homosexualität, wie sie Wignall im Prinzenpärchen darstellt. Homosexuelle und andere sexuelle Minderheiten werden stets als Normabweichler_innen markiert und so vom nach außen hin scheinbar durchgängig heterosexuellen nationalen Kollektiv Jamaikas ausgegrenzt. Es liegt nahe, dass Mark Wignall in seiner Überschrift »Those Flamin’ Homosexuals« gezielt die Doppeldeutigkeit des Wortes »flamin’« benutzt. Letzteres kann sowohl für die »wütenden« LGBTTIQ-Aktivist_innen stehen als auch »entflammt« bedeuten und damit auf den Ausspruch »bun chi chi man« aus der Dancehall verweisen. 13 Trotz derartiger Wortspiele rechtfertigt niemand in der jamaikanischen Presse die physische Gewalt gegenüber sexuellen Minderheiten, wie sie von HRW und AI in ihren 2004 veröffentlichten Berichten geschildert wird. Der antihomosexuelle Diskurs nimmt auf der Insel eine hegemoniale Position ein. Mit ihm ist in der Publikation die Gesamtheit aller Aussagen, Diskursfragmente und Diskursstränge gemeint, die sich ablehnend, ausgrenzend oder gar gewaltverherrlichend gegenüber Homosexuellen und anderen nichtnormativen Sexualitäten auf Jamaika sowie gegen die Aktivitäten der internationalen LGBTTIQ-Organisationen äußern. Gewaltverherrlichende Äußerungen in der Presse bleiben aber auf die extreme Sprache der Dancehall beschränkt und finden ausschließlich in Songtextzitaten, wie beispielsweise »b******* fi dead« (Wignall 2004b: 8), Erwähnung. 14 Die Bezeichnung Antihomosexualitäts-Diskurs trifft auf den Diskurs besser zu als die Bezeichnung Homophobie-Diskurs. Der Terminus Homophobie ist keine Wortwahl der Gegner_innen von Homosexualität, sondern wurde erst durch den Gegendiskurs, der Feindschaft und Hass gegenüber Homosexuellen ablehnt und kritisiert, etabliert. Um diese Einstellungen benennen zu können, wird als Abgrenzung dazu der Begriff Antihomosexualität verwendet. 15 Prinzipiell ist es oft schwierig zu
13 Dancehall-Texte, wie beispielsweise der Track »Bun Out Di Chi Chi« (2001) des RastafariDeejays Capleton, wurden von den LGBTTIQ-Organisationen als konkrete Aufrufe zum Verbrennen von homosexuellen Männern interpretiert. Daran änderten auch die Beteuerungen des Rastafari-Künstlers, es handele sich lediglich um ein »spirituelles Feuer«, wenig (»›Fireman‹ Scorched« 2004: 11). 14 »batty boy fi dead«. 15 Der Begriff »Homophobia« taucht im Jamaica Gleaner zum ersten Mal 1985 und dann wieder 1990 und 1991 auf. Die Artikel thematisieren primär keine Geschehnisse auf Jamaika und sind von Autor_innen außerhalb der Insel verfasst worden. Der Fokus der Artikel liegt auf den Vereinigten Staaten oder dem Vereinten Königreich, was verdeutlicht, dass der mediale Diskurs gegen Homophobie ursprünglich von außen nach Jamaika hineingetragen wurde und von Beginn an transnational fundiert war (vgl. »Researchers Say
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unterscheiden, ob ablehnende Haltungen gegenüber Homosexualität bereits als homophob klassifiziert werden können oder Homophobie erst dort beginnt, wo individuelle, kollektive und staatliche Akteur_innen die Freiheitsrechte von Homosexuellen einschränken und physische Gewalt gegen sie ausüben. Der Antihomosexualitäts-Diskurs auf Jamaika lässt sich grob in acht wesentliche Diskursstränge untergliedern, die ihn speisen und selbst wiederum aus zahlreichen unterschiedlichen Diskursfragmenten bestehen. Er konstituiert sich ferner aus zahlreichen Überschneidungen mit Spezialdiskursen. Der Diskursstrang erstreckt sich dabei über unterschiedliche Ebenen, wie die der Medien, der Religion, der Wissenschaft, der Medizin, der Psychologie, der Politik und der Populärkultur, vor allem der Dancehall. Letztere stellt, auch wenn sie selbst multimedial repräsentiert wird, eine signifikante Unterebene der Medien- und Populärkulturebene dar, die eine eigene Sprache, eigene Regeln und eigene Performances besitzt und sich nach Belieben andere Spezialdiskurse aneignet oder Geschehnisse auf anderen Ebenen kommentiert. Auch wenn es sich bei der Forschungsarbeit primär um eine Printmedienanalyse handelt, werden die Entwicklungen in der Dancehall immer parallel im Auge behalten. Überschneidungen gibt es nicht zuletzt, wenn in Artikeln oder Leserbriefen Dancehall-Lyrics zitiert werden. Die konstituierenden Elemente des antihomosexuellen Diskurses in der jamaikanischen Populärkultur ähneln ebenfalls den Strängen und Aussagen aus den Printmedien (vgl. Gutzmore 2004: 125). Das Buch thematisiert acht Subdiskurse, die den antihomosexuellen Diskurs in den jamaikanischen Zeitungen Jamaica Gleaner, Jamaica Observer und Jamaica Star konstituieren: 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8.
Homosexualität als ›Unnatürlichkeit‹, ›Krankheit‹ und ›Perversion‹. Homosexualität als ›verweiblichte‹ Männlichkeit. Homosexualität als sündhafte, dämonische und antichristliche Praktik. Homosexualität als (neo-)kolonialer Import. Antihomosexualität als Kritik an der upper class. Homosexuelle als Gefahr für die Kinder. Homosexuelle als Gewalttäter_innen. Die Tradition der Illegalität von Homosexualität auf Jamaika.
Homosexualität als ›Unnatürlichkeit‹, ›Krankheit‹ und ›Perversion‹ Der Diskursstrang, der Homosexualität und alle anderen Abweichungen von der heterosexuellen Norm als ›unnatürlich‹, ›krank‹ und ›pervers‹ konstruiert, kann in drei wesentliche Aspekte untergliedert werden. U.S. Govt. Bias Hampers Aids Research« 1985; Russell 1990; »Gays Have Last Laugh« 1991).
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Er verdeutlicht, dass Homosexualität eine Normabweichung darstellt. Diese Abweichung erhält den Charakter einer Bedrohung sowohl für das betroffene Individuum als auch für die Gesellschaft. Es werden Maßnahmen artikuliert, die zur ›Heilung‹ oder Beseitigung der Abweichung herangezogen werden können.
Der Diskursstrang wird im Folgenden durch eine Synthese der Aussagen aus den drei angeführten Zeitungen erläutert. Abschließend werden kurz die jeweiligen Besonderheiten der drei Medien angeführt. Im Jamaica Gleaner äußert sich eine Leserin wie folgt: DANCEHALL MUSIC has always disputed the idea of homosexuality as unnatural behaviourism […] In my eye homosexuality is nothing to be proud of. Sexual activity between persons of the same sex is unnatural both biologically and biblically (Anderson 2004: 8).
Anhand ihrer Aussagen wird ersichtlich, dass nicht nur in musikalischen Beiträgen aus der Dancehall, sondern auch im öffentlichen Diskurs Homosexualität oftmals als etwas ›Unnatürliches‹, ›Anormales‹ oder ›Krankes‹ beschrieben wird (vgl. Stoddart 2004c; Taylor 2004; Mills 2004a; Levy 2004a; Dumas 2004a). Es wird davon ausgegangen, dass Homosexualität von der »natürlichen Ordnung« (Taylor 2004: A9) abweicht und keine biologische Rechtfertigung für gleichgeschlechtliche Sexualität existiert. Manchmal wird diese ›Unnatürlichkeit‹ sogar auf eine Verführung durch ›böse Mächte‹ zurückgeführt: »Don’t let the devil fool you, you cannot be born that way« (Mills 2004a: A3). Für den Leserbriefschreiber, Reverend Marvin Stoddart aus Florida, sind homosexuelle Praktiken nichts weiter als »scheußliche sexuelle Gepflogenheiten« (Stoddart 2004c: 9). Homosexualität wird dargestellt als Verstoß, den Menschen gezielt oder durch Verführung begehen, um gegen die Gesetze der Natur oder Gottes zu verstoßen. Die Möglichkeit von Homosexualität als alternative sexuelle Orientierung wird in diesem Diskurs kategorisch ausgeschlossen. Heterosexualität wird als fundamentale biologische Grundlage betrachtet (vgl. Levy 2004a: 8; Anderson 2004: 8; Mitchell 2004: 9). Abweichungen von dieser Grundlage werden pathologisiert. In der Rubrik Tell Me Pastor im Star, in der Leser_innen den populären Seelsorger Reverend Aaron Dumas um Ratschläge zu persönlichen Problemen fragen können, verurteilt dieser die homosexuelle Affäre einer in New York lebenden Jamaikanerin mit den Worten »anormal« und »unnormal« (Dumas 2004a: 14). Die Pathologisierung von Homosexualität wird verstärkt durch Dumas Aussage, dass sie professionelle Hilfe benötige und ihr Verhalten anderenfalls zur Zerstörung ihrer selbst führen könne (vgl. Dumas 2004a: 14). Auch ein ratsuchender homosexueller Mann wird von Pastor Dumas gemaßregelt, sein Verhalten sei »abscheulich« und »anormal« (Dumas 2004b: 5).
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Eine im Star abgedruckte Kurzumfrage für die Radioshow Uncensored des Senders FAME 95 zum Thema »Homosexualität heilen«, präsentiert Äußerungen von vier Jamaikaner_innen auf die Frage: »Do you think homosexuals are sick persons who need to be cured?« (Gayle 2004: 3). Homosexualität wird dabei von allen vier Befragten als krankhaft angesehen und beschrieben: »Something is wrong with them«, »Yes, I think it is a sickness«, »Something is wrong with those people. God mek Adam and he made unto him Eve, him neva mek two Adams. If it was so, how would this world go on? How would we have children?«, »[I]t is a hormonal problem«, »[T]hey have psychological problems« (Gayle 2004: 3). Aus den Antworten wird deutlich, wie Homosexualität als krankhaft konstruiert wird, was wiederum Maßnahmen zur ›Heilung‹ von Homosexualität auf den Plan ruft, wie die Artikelüberschrift »Homosexualität heilen« nahelegt. Die Definition von gleichgeschlechtlicher Sexualität als ›unnatürlich‹ und ›pervers‹ steht in Verbindung mit dem Diskurs Heterosexualität. Die vermeintliche Natürlichkeit von Heterosexualität und ihre normierende Funktion sind dadurch entstanden, dass der Diskurs der Zweigeschlechtlichkeit global, weit in die Geschichte zurückreichende Kontinuitäten aufweist und Dispositive erzeugt, die ihre hegemoniale Rolle und Macht stützen und den Anschein erwecken, dass es sich bei ihnen um ›natürliche‹ Tatsachen handele. Die ›Unnatürlichkeit‹ von Homosexualität wird durch Kollektivsymbolik, wie zum Beispiel das wiederholte Zitieren der Schöpfungsgeschichte um Adam und Eva, mit dem religiösen Diskurs verbunden. Eine gängige Redewendung, die immer wieder in den Zeitungsartikeln auftaucht, lautet: »God mek Adam and Eve, not Adam and Steve« (Mills 2004b: A2). Sie versinnbildlicht die ›Abnormität‹ von Homosexualität und die Unvereinbarkeit sexuellen Begehrens zwischen zwei Männern nach den angenommenen Gesetzen der Biologie und der religiösen und biblischen Argumentation gegen Homosexuelle, die eine sexuelle Beziehung ausschließlich zwischen Mann und Frau für ›natürlich‹ und darüber hinaus auch für »das Überleben der menschlichen Zivilisation« für unabdingbar hält (Gabbidon 2004: A5). In einem Star-Artikel, verfasst von der US-amerikanischen Presseagentur Associated Press, über die Proteste gegen den jamaikanischen Rastafari-Deejay Capleton in Kalifornien, wird dieser, basierend auf einem Interview aus dem Santa Cruz Sentinel zum Thema Homosexualität, wie folgt zitiert: »It’s against humanity. It’s against your mother, it’s against your father, it’s against yourself« (»›Fireman‹ Scorched« 2004: 11). Auch in den Äußerungen des Entertainers taucht die Verbindung zwischen Sexualität und Reproduktion, unterstützt durch den biblischen Diskurs und die dortige Forderung Gottes »Seid fruchtbar und mehret euch« (1. Buch Mose, Kapitel 9, Vers 7), auf. Außerdem findet sich im Star häufig der Bezug auf die Gesetze Gottes, die zu unumstößlichen Naturgesetzen erklärt werden. Diese vermeintlichen Naturgesetze grenzen Homosexualität klar aus und bekommen eine universelle Gültigkeit zugesprochen, die auch in Zukunft keine vollständige Akzeptanz
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von Homosexualität zulassen werde: »The world will never entirely change to where gays are going to have it all their way. The laws of nature will never allow that, thank God« (Levy 2004b: 8). Der Diskursstrang ›Abnormität‹ von Homosexualität hat die Ordnungsfunktion das ›Unnatürliche‹ und das ›Anormale‹ zu definieren und vom ›Natürlichen‹, das durch den Strang Heterosexualität benannt wird, zu trennen. Letzterer zeigt auf, was den Kategorien der ›Normalität‹ entspricht oder nicht entspricht. Heterosexuelle Beziehungen und Heterosexualität werden zur gesellschaftlichen Norm erklärt und Fortpflanzung zum sinnstiftenden Moment der Sexualität gemacht. So kann Homosexualität als ›pervers‹, biologisch falsch oder gar Bedrohung für den Fortbestand der Menschheit stilisiert werden (vgl. Boyne 2004f: G7; Gabbidon 2004: A5). Homosexuelle Akte werden pathologisiert und durch die Verknüpfung mit der biblischen Argumentation für ›unnatürlich‹, ›krank‹ und ›pervers‹ erklärt: »Homosexuality is not only a sin. It is the pot of deprivation, and the Bible suggests that it is the very lowest level to which any member of homo sapiens may fall« (Stoddart 2004c: 9 [Herv. i.O.]). Die Bibel fungiert als Autorität, die definiert, was ›natürlich‹ und was wider die Natur ist. So wird der Diskursstrang durch die Verknüpfung mit der religiösen Ablehnung von Homosexualität verstärkt. In einem anderen Leserbrief im Observer heißt es »diese Menschen […] repräsentieren die Antithese zur Existenz der Menschheit« (Very Angry 2004: 28). Schwulen und Lesben wird ihre Menschlichkeit abgesprochen, und sie werden stattdessen zu einer Bedrohung für die Menschheit. Homosexuelle werden zu Kranken und Perversen gemacht, die gegen eine göttliche oder ›natürliche‹ Ordnung handeln und dies bewusst tun. Sie sinken dabei herab auf den niedrigsten Stand der Spezies Mensch oder werden zum absolut ›Anderen‹ oder gar ›Anti-Menschen‹. Dies trägt dazu bei, Homosexuelle gesellschaftlich zu isolieren und macht sie zusätzlich angreifbar. In einem Leserbrief im Jamaica Observer wird darauf hingewiesen, wie notwendig die Aufrechterhaltung des Buggery Act auf Jamaika für die richtige sexuelle Erziehung von Kindern ist. Diese sollten schließlich lernen, dass Sexualität zwischen zwei Menschen unterschiedlichen Geschlechts stattfinden müsse und das Ziel dieser Vereinigung die Reproduktion sei. Die Legalisierung von Homosexualität hingegen würde den Kindern demonstrieren, dass es gesellschaftlich akzeptabel sei, sich nicht zu vermehren: »To legalise gay activities is to say to your children that it is OK not to precreate and carry on the lifeline« (Mitchell 2004: 9). Die Akzeptanz von Homosexualität wird als Erdrutsch betrachtet, der die Gesellschaftsstruktur und das Sexualverhalten der Jamaikaner_innen plötzlich komplett verändern würde. Das basiert auf der Grundannahme, dass Homosexualität erst durch ihre Legalisierung wirklich Verbreitung auf Jamaika finden würde. So wird das Schreckensszenario einer vergreisten Gesellschaft gemalt, die entsteht, weil niemand mehr heterosexuellen Sex praktizieren möchte: »Imagine if all our boys and girls became gay then Jamaica would be filled with old people since there would be no
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birth of children. We cannot let this happen to our society« (Mitchell 2004: 9). Die Befürchtung, dass Homosexualität quasi wie eine Epidemie rasend auf die jamaikanische Gesellschaft übergreifen würde, die infolgedessen keine heterosexuellen Beziehungen mehr hervorbringe, verstärkt den Eindruck von Homosexualität als Krankheit und kreiert ein Krisenszenario. In diesem Fall liegt das Krankhafte nicht nur beim Individuum im angeblichen anormalen (Sexual)-Verhalten, sondern hat auch die Dimension einer nationalen Krise, die letzten Endes den Fortbestand der jamaikanischen Gesellschaft bedroht. Sexualitäten, die der heterosexuellen Norm zuwiderlaufen, werden durch den Diskurs ›Abnormität‹ von Homosexualität definiert und durch die unternommene Kategorisierung erst als solche konstruiert. Unterstützt wird der Diskurs dabei von unterschiedlichen Spezialdiskursen, wie beispielsweise der Psychologie, der Medizin, der Soziologie oder der Theologie. Auf die Erfindung des Homosexuellen und wie dessen Sexualität in alle Lebensbereiche projiziert wird, weist Michel Foucault hin: Der Homosexuelle des 19. Jahrhunderts ist zu einer Persönlichkeit geworden, die über eine Vergangenheit und eine Kindheit verfügt, einen Charakter, eine Lebensform, und die schließlich eine Morphologie mit indiskreter Anatomie und möglicherweise rätselhafter Physiologie besitzt. Nichts von all dem, was er ist, entrinnt seiner Sexualität. Sie ist überall in ihm präsent: allen seinen Verhaltensweisen unterliegt sie als hinterhältiges und unbegrenzt wirksames Prinzip; schamlos steht sie ihm ins Gesicht und auf den Körper geschrieben, ein Geheimnis, das sich immerfort verrät. Sie ist ihm konsubstantiell, weniger als Gewohnheitssünde, denn als Sondernatur (Foucault 1983: 47).
Erst nachdem unterschiedliche Diskurse Homosexualität als das Normabweichende benannt haben, können die entsprechenden abweichenden Subjekte von anderen abund ausgegrenzt werden. Wie in Foucaults Beschreibung des Homosexuellen werden auch im antihomosexuellen Diskurs in den jamaikanischen Medien Homosexuelle komplett auf den normabweichenden Sexualakt reduziert. Von ihm aus werden alle ihre restlichen Eigenschaften determiniert. Emotionalität, Liebe, Zuneigung und zwischenmenschliche Beziehungen spielen bei der Konstruktion von Homosexuellen keine Rolle. In postkolonialen Gesellschaften besteht darüber hinaus oftmals eine Verknüpfung zwischen der Pathologisierung von Homosexualität und antikolonialen Diskursen. Innerhalb der antikolonialen Diskurse wird Homosexualität auch als »Krankheit des weißen Mannes« (Batson-Savage 2004: E2; vgl. Aarmo 1999) beschrieben, die von außen in die ursprünglich homosexualitätsfreie präkoloniale Gesellschaft gebracht wurde. Das veranschaulicht im Übrigen die Verknüpfung des Pathologisierungsdiskurses mit dem Diskursstrang, der Homosexualität als (neo-)kolonialen Import nach Jamaika und als etwas ›Fremdes‹ konstruiert.
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Indem sie Homosexualität als eine Krankheit darstellen, wird Homosexuellen das Recht der Ausübung ihrer Sexualität genommen und gleichzeitig die Notwendigkeit geschaffen, dieser »Krankheit« mittels medizinischer oder auch religiöser Maßnahmen entgegenzuwirken: »I hope that this disease is eradicated as it will damage them both physically and spiritually« (McFarlane 2004: 2). Daraus folgt die Einweisung Homosexueller in Krankenhäuser, Psychiatrien und andere Institutionen, um deren ›krankhaftes‹ Verhalten zu ›heilen‹. Gesellschaftliche Reaktionen können dabei auch religiös motiviertes Mitleid und Fürbitten wie im folgenden Beispiel sein: I’m not condemning the poor boy who has some kind of satanic perversion or demonic impulse that drive them into that kind of a relationship. It’s really sad and I feel sorry for them! But I know that if they will sincerely pray and ask the Lord to free them and deliver them from that spirit, He will! (Rudow 2004: A5).
Die christlichen Maßnahmen, Kampagnen und Therapieangebote unterstreichen im Endeffekt den ›anomalen‹, ›krankhaften‹ Charakter von Homosexualität. Vor allen Dingen der öffentliche Auftritt von zum Christentum konvertierten und dadurch ›geheilten‹ Homosexuellen unterstützt die pathologische Darstellung von Homosexualität. Sichtbar wird das im Artikel über einen christlichen Workshop der Telefonseelsorgeeinrichtung WIRED: A highlight of the seminar was a session on ›Ministering to the Homosexual‹ where actual testimonies were heard from former gays who had changed over to a heterosexual lifestyle after converting to Christianity (Green-Evans 2004: 3).
Hinter dem Ansatz, seelische Hilfe für Homosexuelle liefern zu wollen, verbirgt sich der Versuch, diese ›Abweichung‹ durch die Vermittlung christlicher Lehren rückgängig zu machen. Vorrangiges Ziel ist nicht die Akzeptanz homosexueller Menschen und deren Persönlichkeit, sondern ein Zurückdrängen der als Anomalie wahrgenommenen Homosexualität in der Gesellschaft: »Our goal is to help homosexuals«, said McNally, noting that for years the church’s message towards the gay community had been the same, but without any resultant changes, while homosexuality was growing (Green-Evans 2004: 3).
Neben den Fürbitten oder der angestrebten Heilung durch Konversion schafft die ›krankhafte‹ Definition von Homosexualität jedoch ebenfalls die Notwendigkeit, den Rest der Gesellschaft vor Homosexuellen zu schützen. Verstärkt wird diese Ansicht durch die diskursive Verknüpfung mit dem Diskurs um die Verbreitung von HIV durch Homosexuelle und die Annahme, dass es sich bei HIV um eine Homosexuel-
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len-Krankheit handele. Der Kommentator des Star, Leighton Levy, empört sich beispielsweise über die Vorwürfe des HRW-Berichts, der bemängelt, dass besonders männliche HIV-Infizierte ihre Krankheit verheimlichen, um nicht als homosexuell verunglimpft zu werden. Dabei versucht er, zwei Argumentationsweisen gegeneinander auszuspielen: Erstens, dass es sich bei HIV nicht um eine Krankheit handele, die durch Homosexuelle verbreitet wird und zweitens, dass die HIV-Verbreitung nicht gestoppt werden kann, da mit dem Virus infizierte Menschen die Krankheit lieber verschweigen, um nicht für homosexuell gehalten zu werden: »I swear that I read somewhere, a long time ago, that AIDS was NOT a homosexual disease« (Levy 2004b: 8). Auch in anderen Artikeln, die sich mit dem Thema HIV beschäftigen, taucht immer wieder der Begriff »gay disease« auf, selbst wenn mehrfach klargestellt wird, dass es sich bei HIV eben nicht um eine Krankheit handele, die lediglich Homosexuelle betrifft oder nur von Homosexuellen übertragen werden kann (»HIV/AIDS Is Not a ›Gay Disease‹« 2004: 8). Die Pathologisierung bildet wiederum das Fundament für eine Kriminalisierung der Homosexuellen, da die Gemeinschaft vor der vermeintlichen Krankheit Homosexualität sowie vor der tatsächlichen Krankheit HIV geschützt werden soll. Die Auswirkungen davon sind ein repressives Vorgehen der Staatsorgane, Gerichte und Polizeibeamt_innen gegen Homosexuelle. Dies kann durch Gesetze umgesetzt werden, welche die Ausübung von Homosexualität unter Strafe stellen und Homosexuelle zu Verhaltensänderung zwingen sollen oder im Ausnahmefall durch das Wegsperren von Homosexuellen in Gefängnisse, um sie vom Rest der Gesellschaft fernzuhalten. Ein interessanter Aspekt ist, dass der Diskurs primär die männliche Homosexualität aus einer männlich heterosexuellen Perspektive konstruiert. Von diesem Standpunkt wird besonders die männliche Homosexualität als abstoßend angesehen. Deutlich wird das, wenn, ausgehend von der persönlichen Perspektive der Autoren, argumentiert wird, dass es zu viele hübsche Frauen gäbe, um der Homosexualität zu verfallen: »There are too many beautiful women for men to fall into homosexuality« (Stoddart 2004c: 9) . Die Verwendung des Verbes »verfallen« (»to fall into«) und die Annahme, dass Homosexuelle »schöne Frauen« verschmähen würden, unterstreicht erneut die Auffassung, dass ›biologisch korrekte‹ Sexualpartner und Sexualpartnerinnen grundsätzlich dem jeweils anderen Geschlecht angehören müssen. An den Diskurs, der Homosexuelle als ›krank‹ konstruiert, knüpft der Diskurs an, der in männlicher Homosexualität eine ›verweiblichte‹, ergo ›erkrankte‹ Männlichkeit sieht. Homosexualität als ›verweiblichte‹ Männlichkeit Nicht nur in der Dancehall, sondern auch im medialen Diskurs, wird der männliche Homosexuelle oft als ›verweiblichter‹ und damit schwacher Mann dargestellt. Dabei
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bedient sich der Diskurs stereotypen Bildern, die männliche Homosexuelle anhand von weiblich konnotiertem Aussehen und Verhalten repräsentieren. Diese Darstellungen machen deutlich, inwiefern Homophobie, Patriarchat und abwertendes Denken gegenüber Frauen miteinander verknüpft sind. Ein homosexueller Mann, der nicht den Kategorien hegemonialer Maskulinität entspricht, gefährdet deren Hegemonie und wird als Bedrohung für die Herrschaft des heterosexuellen Patriarchats wahrgenommen. Im Jamaica Gleaner wird Johann White, ein Vertreter von J-FLAG, bei der Veranstaltung Men on a Mission, in der über Maskulinität diskutiert wird, als »effeminierter junger Mann mit Cornrows 16« beschrieben (Mills 2004a: A3). Kontrastiert wird die mit Homosexualität assoziierte ›Verweiblichung‹ des J-FLAG Aktivisten durch aggressiv auftretende Redner, die Homosexualität kritisieren und deren Unterstützung durch das maskuline Publikum: Apostle Peterson upbraided the former Jesuit Schade for having »put down the Bible and quoting from the American Psychologist Association«. »Don’t let the devil fool you, you cannot be born that way. These men are struggling under a demonic influence«, he said to hoots of approval, and a few ›gun salutes‹ from elated males (Mills 2004a: A3).
Insbesondere die symbolischen »Salutschüsse« dienen in der Dancehall dazu, Beifall gegenüber einem Song oder einem Statement der Künstler_innen auszudrücken (vgl. Cooper 2004a: 153f). Die mit den Fingern geformte Pistolengeste ist aber auch Teil einer performativ inszenierten Männlichkeit. In ihr äußert sich die Verbindung zwischen Pistole und Phallus, die Cooper und Hope in ihren Untersuchungen zur Dancehall-Kultur herausstellen (vgl. Cooper 2004a: 159; Hope 2010: 55). In einem Kommentar im Jamaica Observer beschreibt Mark Wignall ausführlich eine persönliche Begegnung mit vermeintlich homosexuellen Männern in einer Bank in Kingston: I was in the line in a bank in New Kingston when three very talkative and animated young men joined the line behind me. Said one to the other in earshot of all the other customers: ›Lawd, as mi leave here, mi definitely going to Jencare for a massage. Mi muscles dem too tense‹. Another chimed in with: ›Yu a talk ‘bout dat? Look how mi just leave up me nails. Mi a follow yu go get a manicure and a pedicure‹. It was very obvious from their style of dress and their effeminate gesticulation that they were homosexual, […] In my mind I named the talkative two Daisy and Buttercup. At one stage Daisy playfully slapped Buttercup on a forearm then did a quick pirouette (Wignall 2004c: 26).
16 Cornrows ist eine ursprünglich aus Afrika kommende populäre Frisur, bei der die Haare auf dem Kopf zu in Reihen angeordneten Zöpfen geflochten werden.
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Die Annahme, dass es sich bei den von Wignall als effeminiert wahrgenommenen Männern in der Bank um Homosexuelle handele, veranschaulicht erneut, wie männliche Homosexuelle als ›verweiblicht‹ dargestellt werden. Männliche Homosexualität wird in diesem Text durch ›weiblich‹ konnotierte Verhaltensweisen, Gestiken und Praktiken repräsentiert. Wignall persönlich vollendet diesen Schritt, wenn er die ihm homosexuell erscheinenden Personen mit eigentlich für Frauen vorgesehenen Kosenamen wie »Daisy« (Gänseblümchen) und »Buttercup« (Butterblume) benennt. Damit festigt er das Bild vom feminisierten Homosexuellen und den unmännlichen »Buttercup-und-Daisy-Aktivisten« (Wignall 2004c: 27). Diese haben konsequenterweise, laut Wignalls Auffassungen, abgesehen von der Leitung einer internationalen Kampagne gegen die jamaikanischen Verhältnisse, lediglich Massagen, Maniküre und Pediküre im Kopf. Neben dem Bezug auf weibliche Kleidung und Verhaltensweisen spielt auch die Farbe Pink eine symbolische Rolle bei der Wahrnehmung von homosexuellen Männern. Pink ist eine Farbe, die hauptsächlich mit Weiblichkeit in Verbindung gebracht wird. Unterstützt wird die Wahrnehmung durch die internationale Vermarktung von Kleidung und Spielzeug für Frauen und Mädchen in Pink. Männlichkeit dagegen wird mit Farben wie Blau und Schwarz verbunden. Ein Mann, der diese Trennung unterläuft und sich pink kleidet, weicht folglich von gängigen Vorstellungen von heterosexueller Maskulinität ab. Daran anknüpfend kommt Leighton Levys ironischer Kommentar im Star zur Feststellung, dass im Anschluss an die Einführung der Rechte von Homosexuellen wahrscheinlich die Forderung stehen werde, Jamaikaner_innen müssten montags alle pinke Kleider tragen: If Amnesty is successful in this campaign and make us into a nation of gay-loving people, what’s next? Having scored what would amount to be a landmark victory of sorts, would they then press on with the momentum and lobby for us all to wear pink dresses to work on Mondays? (Levy 2004a: 10).
Levys provokante These transportiert drei grundlegende Aussagen. Erstens wird hier deutlich, dass ein homosexueller Mann sich in seinem Auftreten, Aussehen und Stil fundamental von einem heterosexuellen Mann unterscheidet, der seiner Meinung nach niemals in einem »rosa Kleid« zur Arbeit gehen würde. Zweitens legt Levys ironische Bemerkung die Annahme nahe, dass mit der Akzeptanz von Homosexuellen im großen Stil eine generelle ›Verweiblichung‹ der jamaikanischen Männer eintritt. Drittens bringt er zum Ausdruck, dass die geäußerte Kritik erst der Anfang einer Politik sei, die sich gegen die aktuelle Lebensart auf Jamaika richte. Auch visuell schlägt sich der Diskurs um eine vermeintliche Verweiblichung von homosexuellen Männern in den Medien nieder. So wird dieses Bild zum Beispiel in einer Karikatur des Zeichners Rainford Rowe (Mr. Straight) aus dem Jamaica Star vom 11. August 2004 visualisiert (Abbildung 2). Die Karikatur kommentiert die von
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Outrage! nicht akzeptierte Entschuldigung von Beenie Mans Management gegenüber der homosexuellen Gemeinschaft. Diese wird in der Zeichnung durch einen Mann repräsentiert, der einen Minirock trägt und dessen stark behaarte Beine in Damenschuhen mit hohen Absätzen stecken. Sein bauchfreies Oberteil trägt die Aufschrift »OUTRAGE«. Er ist darüber hinaus mit Armreifen, künstlichen langen Fingernägeln sowie großen Ohrringen, langen Wimpern, gezupften Brauen und dick aufgetragenem Lippenstift, der mit seinem langen Schnurrbart kontrastiert, dargestellt. Interessanterweise trägt er zwischen seinen beiden gezupften Augenbrauen den Bindi, einen rötlichen Punkt, den hinduistische Frauen tragen. Dieser legt nahe, dass es sich bei dem männlichen Homosexuellen nicht um einen Afrojamaikaner, sondern um einen Mann indischer Abstammung handele. Abbildung 2
Jamaica Star 11. August 2004 (© Rainford Rowe).
Umgekehrt wird der Diskurs von britischen Teilnehmer_innen an einem Protestmarsch zum Christopher Street Day 2004 und 2005 aufgegriffen (Abbildung 3). Die Demonstrierenden bedienen sich dem Stereotyp vom feminisierten Homosexuellen und tragen Plakate, auf denen populäre jamaikanische Dancehall-Deejays als Drag Queens dargestellt werden. Fotografien von diesem Marsch finden sich sowohl im Jamaica Gleaner als auch im Star, in dem ausführlich auf die Plakate eingegangen wird: Placard toting gays, painted lipstick, eye liner, and nail polish on the images of Elephant Man, Beenie Man, Bounty Killer and Buju Banton during the parade which had an estimated 35,000
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strong crowd. On the placards, the deejays were each branded ›Killer Queen‹. (»Gay Backlash. Some Jamaican Deejays Accused of Being ›Funny‹« 2004: 11).
Abbildung 3
Plakate der Stop Murder Music-Kampagne 2005 in London (© Peter Tatchell).
Der provokative Kunstgriff der Demonstrierenden, der aus den maskulinen und stets heterosexuellen Deejays durch Lippenstift und Make-up plötzlich ›feminisierte‹ Männer macht, löst auf Jamaika homophobe Gegenreaktionen aus. So äußert sich eine Kommentatorin im Star wie folgt: »How dare dem damn fags a put mi artiste dem inna make-up?« (»Feature« 2004: 39). Homosexualität als sündhafte, dämonische und antichristliche Praktik Wie bereits im Abschnitt zur vermeintlichen ›Unnatürlichkeit‹ und ›Abnormität‹ von Homosexualität angeklungen, beziehen sich zahlreiche Aussagen gegen Homosexualität auf deren angeblich sündhaften, dämonischen und satanischen Charakter (Rudow 2004: A5). Die Aussagen weisen eine Verbindung zum Diskurs Homosexualität als ›Unnatürlichkeit‹, ›Krankheit‹ und ›Perversion‹ auf, da sündhaftes Handeln
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ebenfalls als ein Akt der Kontamination gesehen werden kann, für die das jeweilige Individuum aufgrund von persönlichem Versagen verantwortlich ist. Homosexualität gilt als Abweichung von der von Gott verlangten Sexualmoral und wird als Sünde oder in der Sprache der Bibel ausgedrückt, als Gräuel betrachtet. Homosexuelle werden deshalb als »Gruppe, die nicht mit der christlichen Moral harmoniert« angesehen (Boyne 2004a: G). Wer eine Deviation von göttlichen Regeln bewusst praktiziert, verstößt nicht nur gegen diese, sondern weicht damit auch generell vom Christentum ab. Die Grundlage für die radikale Ablehnung von Homosexualität im Christentum stellt die Verurteilung gleichgeschlechtlicher Sexualität in der Heiligen Schrift dar. Im Zentrum der biblischen Argumentation gegen Homosexualität stehen speziell die Zerstörung der beiden Städte Sodom und Gomorra, das 3. Buch Mose (Levitikus) im Alten Testament sowie der 1. Römerbrief von Paulus im Neuen Testament. Zentrale Referenzen sind Bibelstellen, die für Christ_innen Homosexualität als Sünde brandmarken wie beispielsweise: »Du sollst nicht bei einem Mann liegen wie bei einer Frau; es ist ein Gräuel« (3. Mose, Kapitel 18, Vers 22) und »Wenn jemand bei einem Manne liegt wie bei einer Frau, so haben sie getan, was ein Gräuel ist, und sollen beide des Todes sterben; Blutschuld lastet auf ihnen« (3. Mose, Kapitel 20, Vers 13). In zahlreichen Zeitungsartikeln und Leserbriefen finden sich intertextuelle Verweise auf die Städte Sodom und Gomorra, den Levitikus und den Römerbrief oder gar wörtliche Zitate der oben angeführten Bibelstellen. In einem Leserbrief wird konstatiert: »[A] society overtaken by homos is likely to suffer the fate of Sodom and Gomorrah« (Stoddart 2004a: A4). Die beiden Städte wurden der biblischen Überlieferung nach von Gott durch einen Regen aus Feuer und Schwefel zerstört, da sich ihre Bewohner_innen nicht seinen Geboten unterwarfen und Männer mit Männern sexuell verkehrten: Aber ehe sie sich legten, kamen die Männer der Stadt Sodom und umgaben das Haus, jung und alt, das ganze Volk aus allen Enden, und riefen Lot und sprachen zu ihm: Wo sind die Männer, die zu dir gekommen sind in dieser Nacht? Führe sie heraus zu uns, daß wir uns über sie her machen (1. Mose, Kapitel 19, Vers 4-5).
Ein weiterer Leserbrief aus dem Gleaner zitiert direkt aus dem Römerbrief: In the same way the men also abandoned natural relations with women and were inflamed with lust for one another. Men committed indecent acts with other men, and received in themselves the due penalty for their perversion (Gushta 2004: A10). 17
17 Das vollständige Zitat aus dem Römerbrief schließt auch Geschlechtsverkehr zwischen Frauen aus und lautet: »Darum hat sie Gott dahingegeben in schändliche Leidenschaften;
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Selbst wenn Referenzen und Zitate der oben genannten Bibelstellen nicht in allen Artikeln affirmativ verwendet werden, transportieren sie den Diskurs, der die Sündhaftigkeit und Inakzeptanz von Homosexualität im Christentum zum Inhalt hat (vgl. Hope 2004d: A6; Gushta 2004: A10; Kraft 2004: A5; Stoddart 2004a: A4; Smith 2004a: A4; O’Brien Chang 2004b; McFarlane 2004: 2; Morant 2004: A5; Sauden 2004: A5; Mohler 2004: G9). Ein weiteres wiederkehrendes Motiv ist, wie bereits erwähnt, der Verweis auf die Schöpfungsgeschichte von Adam und Eva. Diese Referenz ist meistens an die Aussage gekoppelt, dass Gott keine sexuellen Beziehungen zwischen »Adam and Steve« vorgesehen hat, sondern Adam und Eva schuf (Mills 2004b; Radway 2004; Hope 2004d: A6; Kopka 2004; McFarlane 2004). Die Schöpfungsgeschichte ist das geläufigste Kollektivsymbol, mit dem die Heteronormativität des Christentums und der ganzen Welt artikuliert werden. Ihre Symbolik taucht nicht nur im Gleaner, sondern ebenfalls im Observer (Wignall 2004c) und im Star auf (vgl. Gayle 2004: 3). In ihr verknüpfen sich biblisch motivierte Antihomosexualität und die Ablehnung von Homosexualität als scheinbar widernatürlich. Für extrem christliche Jamaikaner_innen mag sogar zutreffen, dass ›Unnatürlichkeit‹ und Unchristlichkeit von Homosexualität ein und dasselbe sind. Eine kreationistische Sichtweise der Dinge würde schließlich die Natur nicht aus einer biologischen Perspektive sehen, sondern die gesamte Welt als ein Produkt der göttlichen Schöpfung wahrnehmen. 18 Der biblisch unterfütterte Diskurs gegen Homosexualität im Gleaner, Observer und Star lässt sich in drei Aspekte einteilen: • •
Die Demonstration essentieller christlicher Regeln. Die Gefahr, die von Homosexualität und Homosexuellen auf eine christliche Gesellschaft ausgeht.
denn ihre Frauen haben den natürlichen Verkehr vertauscht mit dem widernatürlichen; desgleichen haben auch die Männer den natürlichen Verkehr mit der Frau verlassen und sind in Begierde zueinander entbrannt und haben Mann mit Mann Schande getrieben und den Lohn ihrer Verirrung, wie es ja sein mußte, an sich selbst empfangen« (Römer 1, Kapitel 2, Vers 27). 18 Auch wenn auf Jamaika die Evolutionstheorie an den Schulen gelehrt wird, gibt es auf der Insel zahlreiche christlich-fundamentalistische Religionsgemeinschaften, wie beispielsweise die Siebenten-Tags-Adventist_innen oder Baptist_innen, die Kreationismus predigen und eine ablehnende Haltung gegenüber Homosexualität einnehmen. Auf die bedeutende Rolle des Christentums auf der Insel verweist ein Kommentar im Jamaica Gleaner, der Jamaika als Land mit mehr Kirchen als Arbeitsplätzen beschreibt (vgl. Taylor 2004: A9). Einige christliche Gruppen auf Jamaika werden auch von gleichgesinnten religiösen Organisationen aus den USA unterstützt (vgl. Kopka 2004: A4).
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•
Die Art der Sanktionen, die Homosexuelle für ihre Übertretung christlicher Normen erfahren.
Im christlich motivierten Antihomosexualitäts-Diskurs wird immer wieder die Existenz von moralischen beziehungsweise göttlichen Regeln angeführt, die Homosexualität nicht zulassen und auf die Autorität der Bibel verweisen: »We know what the Bible seh« (Mills 2004b: A2). Die Argumentation wird auch herangezogen, um legale Schritte gegen Homosexualität auf Jamaika zu verteidigen. Bischof Herro Blair äußert sich zum Beispiel in einem Artikel folgendermaßen zur Diskussion um die Abschaffung des Buggery Act: »[This] is one step from removing the laws of God, as most of our laws have a Biblical foundation« (Reid 2004: A3). Die als göttlich betrachteten Regeln werden als notwendig für den Fortbestand der Gesellschaft angesehen (vgl. Gabbidon 2004: A5). Ein Leserbrief im Jamaica Observer unterstreicht die Bedeutung der Bibel und der darin vorgegeben göttlichen Normen als Grundlage für die Moral in einer menschlichen Gesellschaft: »We live by the Bible and the Bible doesn’t support homosexuality« (R. E. 2004: 9 [Herv. i.O.]). »The source of our values is the Christian Bible, which, by the way, is read, and its teachings practised by many non-Christians in our society« (Blaine 2004: 10). Homosexualität sei daher aus einer christlichen Perspektive nicht hinnehmbar und gilt als Sünde oder »moralische Verirrung« (Very Angry 2004: 28). »Von Gott gegebene Prinzipien und Sitten« (Blaine 2004: 10), die im Römerbrief, im Levitikus oder in der Geschichte vom Untergang Sodom und Gomorras erläutert werden (vgl. Stoddart 2004c: 9; Blaine 2004: 10), gelten unwiderruflich und werden durch die Forderung »seid fruchtbar und mehret euch« unterstrichen (Blaine 2004: 10). Die apokalyptische Symbolik, die in erster Linie der Geschichte von Sodom und Gomorra innewohnt, weist auch auf einen generellen Krisendiskurs hin. So wie die biblischen Städte vom Zorn Gottes heimgesucht wurden, nachdem ihre Gesellschaften von dessen Geboten abwichen, wird auch die jamaikanische Gesellschaft im frühen 21. Jahrhundert teils als Gesellschaft auf moralischen Abwegen und in der Krise wahrgenommen. ›Dekadenz‹ und Sittenverfall werden in diesem Kontext mit einer gefühlten Zunahme an Homosexuellen und deren öffentlichen Auftreten und politischer Agitation verbunden. Einige der schärfsten Verurteilungen von Homosexualität finden sich in der Rubrik Tell Me Pastor des Zeitungspfarrers Aaron Dumas im Star. Der Seelsorger antwortet auf Leser_innen, die ihn um Rat bei gleichgeschlechtlichen Affären bitten, stets mit harschen Worten und dem Homosexualitätsverbot der Bibel: »I am putting it to you that it is unnatural and according to the Bible abominable for persons of the same sex« (Dumas 2004a: 14). »I can only urge you to stop making love to people of your own sex. Such behaviour is condemned in scripture. Pastor« (Dumas 2004b: 5).
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Homosexualität wird aber nicht nur als persönliches religiöses und moralisches Fehlverhalten gesehen. Sie wird ebenfalls mit dem Teufel oder Dämonen in Verbindung gebracht, von denen auch eine Gefahr für das Heil der gesamten Gesellschaft ausgeht (vgl. Rudow 2004: A5). Einige Artikel sprechen von »foreign devils« (Foreman 2004: A5), »demonic power« und einer »strong demonic force« (Mills 2004a: A3). Homosexuelle werden deshalb nicht nur als passive Sünder_innen, sondern zusätzlich als aktive Angreifer_innen auf Gottes Gebote angesehen: »Homosexuality is not just a little sympathetic curse. It is a serious evil, wickedness is at its core, and it is Satan at his brightest« (Mills 2004a: A3). Ferner wird die Arbeit der LGBTTIQGruppen als »militanter homosexueller Angriff auf das Angesicht Gottes im Menschen« betrachtet (Mills 2004a: A3). In diesem Kontext taucht der Begriff »BibleBashing homosexuals« auf (Boyne 2004c: G9). Der Ausdruck ist eine Aneignung und Abwandlung des Begriffs gay bashing, den Homosexuelle international zur Beschreibung eines aggressiven und homophoben gesellschaftlichen Klimas verwenden. In Ian Boynes Argumentation wird der Terminus aus dem Diskurs gegen Homophobie gegen die Kritiker_innen verwendet. Er beschreibt nun das Verhalten von Homosexuellen, die göttliche Normen ignorieren und dadurch »Bible-Bashing« betreiben. Die politische Agenda von Homosexuellen, die sich gegen die Kriminalisierung von Homosexualität und für eine Akzeptanz von gleichgeschlechtlichen Beziehungen in der jamaikanischen Gesellschaft einsetzt, wird als Angriff gegen die Bibel und das jamaikanische Verständnis von Religion gewertet (vgl. Morris 2004b: 9). Einstellungen pro Homosexualität werden gleichgesetzt mit antichristlichen Maßnahmen (vgl. Mason 2004: 9). Letztendlich wird die Befürchtung geäußert, dass die »Heilige Schrift« zur »Hass-Literatur« (Leigh 2004: 43) erklärt und ihre Aussagen als »Hasssprache« (Morris 2004b: 9) diffamiert werden könnten. Da Homosexualität als Sünde gilt, wird davon ausgegangen, dass Homosexuelle nach ihrem Tod kein Seelenheil erfahren, sondern in die »Hölle« kommen, wie Paul McFarlane im Jugendmagazin Youthlink, das dem Gleaner beiliegt, schreibt (McFarlane 2004: 2). Das wird unter anderem durch zynischen Humor und Doppeldeutigkeiten in der Sprache ausgedrückt: »Simply put, homosexuality is a sin and its practice effectively closes all access to heaven, including the back door« (Taylor 2004: A9). Ausdrücke wie »back door« oder »rectumphilia« (Taylor 2004: A9) veranschaulichen außerdem, inwiefern in der heterosexuellen Vorstellung speziell männliche Homosexualität auf Analverkehr reduziert wird. Auch wenn der Diskurs Homosexualität als eine Gefahr konstruiert und die Situation auf Jamaika manchmal gar als »Krieg« (Mills 2004a: A3) betrachtet wird, werden keine gewaltsamen Maßnahmen gegen Homosexuelle artikuliert. Mehrfach distanzieren sich christliche Autor_innen von Gewalt und unterstreichen die Sanktionen, die sexuelles Fehlverhalten am Tag des Jüngsten Gerichts provozieren: »The Bible
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condemns homosexuality as sinful and states unequivocally that God – not man – will bring judgment on homosexuals« (Boyne 2004c: G9). Gewaltsame Äußerungen, wie sie Dancehall-Künstler_innen schildern, werden mit den Worten wie »überlasst sie Gott« abgelehnt (Espeut 2004: A4). Meist beziehen sich die Argumentationen gegen Homosexualität auf biblische Ausführungen. Trotzdem wird gelegentlich, wie im Diskurs um die ›Unnatürlichkeit‹ von Homosexualität, das eigene heterosexuell-männliche Begehren als Begründung angeführt, weshalb Homosexualität nicht im Sinne Gottes oder seiner Gesetze sein kann. Hier liegt auch eine Verquickung von Aussagen vor, die männliche Homosexualität als ›Abnormität‹ darstellen. Von einem heterosexuellen Standpunkt aus wird argumentativ nicht auf religiöse Verbote zurückgegriffen, sondern das eigene Begehren verknüpft mit der göttlichen Schöpfung der »schönen Frau« zur allgemeinen Norm erklärt: For I firmly believe that a beautiful woman is the strongest argument in favour of the existence of God, and that a spark of this beauty is to be found in all females. That a man could find another man more compelling than the Lordʼs loveliest creation is something completely incomprehensible to me (OʼBrien Chang 2004b: G6).
Obwohl zahlreiche Reggae- und Dancehall-Künstler_innen Rastafaris sind oder sich mit Rastafari-Inhalten identifizieren, finden sich in der medialen Debatte und in religiös argumentierenden Diskursen gegen Homosexualität kaum Bezüge auf diese Gruppierung. Mit Sizzla und Capleton sind zwei Rastafari-Deejays von der Boykottkampagne direkt betroffen. Ihre Identifikation mit Rastafari sowie die Meinung der Rastas bezüglich Homosexualität gehen aber kaum in die Blätter ein. Nur in einem Artikel der Kulturwissenschaftlerin Donna Hope im Jamaica Gleaner wird die Parallele zwischen »christlichem und Rastafari-Fundamentalismus« angesprochen (Hope 2004d: A6). Daneben wird einmal der aus der Bibel stammende Ausdruck »Babylon« genannt, der in der Terminologie der Rastafari auf die moralisch verfallenen weißen Gesellschaften des ›Westens‹ abzielt, in denen sündhaftes Verhalten, wie Homosexualität, an der Tagesordnung ist und rechtschaffene jamaikanische Künstler_innen deshalb auf Probleme stoßen: »[O]nce they go into Babylon, they are subject to the whims and fancies of Babylon« (Mills 2004b: A2). Verglichen mit der Gesamtheit der Sprechenden lässt sich also, obwohl die oben genannten Rastafari-Künstler von den LGBTTIQ-Protesten betroffen sind, keine signifikante Präsenz von Rastafaris in der medialen Diskussion ausmachen. Das lässt darauf schließen, dass Rastafaris auch im frühen 21. Jahrhundert kaum Repräsentant_innen in den Medien besitzen und Journalist_innen für die Meinung der Rastas wenig Interesse übrig haben. Zudem könnte der Sachverhalt dadurch verstärkt werden, dass viele Rastas die Presse wegen ihrer Rolle im postkolonialen jamaikanischen Staat aus Überzeugung meiden.
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Im Vergleich zum Gleaner und Observer ist der Diskurs über die Sündhaftigkeit von Homosexualität im Star weniger stark ausgeprägt. Das mag auch daran liegen, dass der Star als Boulevardblatt keinen Raum für Briefe von Leser_innen enthält und weniger Kommentare beinhaltet als die beiden Tageszeitungen. Des Weiteren liegt sein Augenmerk primär auf der Berichterstattung über Ereignisse in der jamaikanischen Popkultur, anstatt der Analyse gesellschaftlicher Phänomene. Nichtsdestotrotz wird auch im Star die Geschlechtersozialisation der Jamaikaner_innen durch die Bibel hervorgehoben: »[M]ost of our socialisations and principles have their roots in the Bible« (Levy 2004a: 10). Wie im Gleaner und Observer tauchen Referenzen zur Symbolik der heteronormativen Schöpfungsgeschichte und das Homosexualitätsverbot aus dem Levitikus in der Berichterstattung des Boulevardblattes auf (vgl. »Feature« 2004: 39). Homosexualität als (neo-)kolonialer Import In zahlreichen Zeitungsartikeln wird deutlich, dass offen gelebte Homosexualität aus der Perspektive vieler Jamaikaner_innen nicht als ein Phänomen wahrgenommen wird, das Teil der jamaikanischen Nation, Kultur oder Gesellschaft ist. Die Existenz von Homosexuellen auf der Insel wird grundsätzlich nicht bestritten: »Gays and straight people have been existing harmoniously in Jamaica for decades« (Clunis 2004b: A7). Solange Homosexuelle ihre Sexualität im Privaten und für Jamaikaner_innen unsichtbar ausleben und somit nicht das Bild von einer jamaikanischen Nation frei von Homosexualität stören, werden sie geduldet. In der Debatte des Jahres 2004 liegt der Fokus schwerpunktmäßig auf der Befürchtung, offen gelebte und zur Schau gestellte Homosexualität könne von nun an überhandnehmen und das heterosexuelle Selbstverständnis von jamaikanischer Nation und Kultur sowie den Konsens, Homosexualität sei auf Jamaika nicht akzeptiert, gefährden: »But, as far as I know, Jamaicans were always against such a lifestyle before the first anti-gay lyrics ever touched wax« (»What an Outrage!« 2004: 8). Insbesondere gewandelte Einstellungen gegenüber Homosexuellen in Nordamerika und Europa führen dazu, dass sich Jamaikaner_innen mit ihrer ablehnenden Einstellung gegenüber Homosexualität in einem immer enger werdenden Belagerungsring fühlen: Just because the world is moving down a path where it is now afraid to take a stand against what is both morally and biologically an aberration does not mean that we should open up our country to such levels of unseemly behavior (Very Angry 2004: 28).
Durch solche Äußerungen wird die jamaikanische Nation letzten Endes als ein abgeschlossenes, heterosexuelles Gebilde dargestellt, das vor Eindringlingen geschützt
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werden muss: »[A]s long mankind lasts we will never be accepting of homosexuals, whether they be male or female« (Levy 2004a: 10). Die Notwendigkeit reproduktiver Sexualität und die biblischen Vorschriften aus dem Levitikus werden zu zentralen Stützpfeilern jamaikanischer nationaler Identität und zum »jamaikanischen kulturellen Standard über Homosexualität« erklärt (Stoddart 2004c: 9). Der Standard soll gegen einen »Kreuzzug« (Wignall 2004c: 27) von außen verteidigt werden. Transnationale Verbindungen, speziell in die USA, und Armut werden als mögliche undichte Stellen angesehen, durch die Homosexualität und deren Akzeptanz nach Jamaika gelangen kann (vgl. Blaine 2004: 10). Mark Wignall kritisiert in diesem Kontext im Jamaica Observer die jamaikanische Mentalität, jegliche Importe aus dem Ausland den jamaikanischen Produkten kritiklos vorzuziehen. Seine Aussage steht in Verbindung zu den Geld- und Warensendungen aus der Diaspora, von denen viele Jamaikaner_innen abhängig sind: We still have a cargo cult mentality in this country where goodies are always expected to arrive from ›farrin‹. And then, of course, when these goodies arrive, without testing for quality, it is taken as a given that the foreign fare is of superior design and delivery (Wignall 2004c: 27).
Neben dem Import von kulturellen Produkten aus Nordamerika, wie zum Beispiel US-Fernsehen, werden die politische Arbeit der internationalen LGBTTIQ- und Menschenrechtsorganisationen als Vehikel gesehen, die Homosexualität schleichend oder durch politischen und ökonomischen Druck nach Jamaika bringen: The result of this is that in countries like Jamaica, the people are forced to embrace a lifestyle that they are vehemently opposed to. We have to let these people who represent the antithesis of the very existence of mankind into our homes, just because we need the money to pay our bills (Very Angry 2004: 28).
Die internationale Kampagne für die Rechte der jamaikanischen LGBTTIQ-Gemeinschaft wird generell als externer Angriff auf Jamaika und dessen Souveränität artikuliert. Wesentliche Akteur_innen auf Seiten der LGBTTIQ-Organisationen und Medien werden als ›fremd‹, ›von Übersee‹, ›westlich‹, US-amerikanisch oder britisch charakterisiert. In den Texten ist von »westlichen Schwulengruppen« (Blaine 2004: 10) oder »Schwulenaktivisten aus Übersee« (Blaine 2004: 10) die Rede, die eine »fremde Kultur der Homosexualität« (Gilchrist 2004: 12) nach Jamaika bringen und die Insel im schlimmsten Fall gegen den Willen der jamaikanischen Bevölkerung in ein »kleines San Francisco« verwandeln (Stoddart 2004c: 9). Homosexualität und politische homosexuelle Agenda werden deutlich als ›westlich‹ und weiß konstruiert. Die andauernde Kriminalisierung von Homosexualität kann im Übrigen als Abwehr gegenüber als ›westlich‹ wahrgenommener kultureller Einflüsse gesehen werden:
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[M]ale homosexuality is legal in all the western (white) countries in contrast to majority of nonwestern (non-white) ones. Many of the latter countries oppose homosexuality on religious grounds, but they also do so to resist attempts at imposing the values of the west on other cultures (Buddan 2004: G3).
Beiträge, wie der von Robert Buddan im Jamaica Gleaner, führen dazu, dass Homosexualität als weiß und als ein neokoloniales Produkt wahrgenommen wird, das der ›Westen‹ ehemaligen Kolonien nun aufzwingt. Auch die Tatsache, dass Sprecher_innen aus der jamaikanischen LGBTTIQ-Gemeinschaft oder von J-FLAG kaum in den Artikeln zu Wort kommen, verstärkt den Eindruck von Homosexualität als Zwangsimport. Homosexuelle Aktivist_innen werden als »foreign devils« (Foreman 2004: A5) beschrieben, die durch die »Hintertüre« (Gilchrist 2004: 12) nach Jamaika gelangen und zum Verfall der sexuellen Sitten ermutigen. Organisationen wie Outrage! werden als Gruppen wahrgenommen, die ihre »degenerierten« Einstellungen Jamaikaner_innen aufzwingen wollen (Foreman 2004: A5). Um einen befürchteten Meinungsumschwung und die Akzeptanz von Homosexualität abwehren zu können, rufen deshalb zahlreiche Beiträge zur Verteidigung der heteronormativen Ordnung auf: »I am calling upon all well thinking Jamaicans that this alien culture must not creep into Jamaica« (Gilchrist 2004: 12). Inwiefern dabei die Ablehnung von Homosexualität in Teilen als nationaler Konsens verstanden wird, zeigt die Tatsache, dass in Leserbriefen von einem geforderten Eingriff durch den Premierminister gesprochen wird, um die »fremde Intervention von Leuten wie Outrage!« (Clunis 2004b: A7) abwehren zu können: »Somebody needs to say something to them. Our prime minister perhaps?« (R E 2004: 9). Zusätzlich zur von ihnen entfachten Diskussion um die Rechte von sexuellen Minderheiten auf Jamaika, werden die Kampagnen der internationalen LGBTTIQOrganisationen als Verletzung der jamaikanischen nationalen Souveränität wahrgenommen. Das ist vor allem von großer Brisanz, da Outrage! als LGBTTIQ-Organisation aus Großbritannien für die Einmischung der ehemaligen Kolonialmacht steht und die Auseinandersetzung neokoloniale Machtkonstellationen offenbart, wenn jamaikanischen Künstler_innen die Einreise nach Europa verweigert oder die Einnahmen vorenthalten werden.
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Abbildung 4
Jamaica Observer 26. November 2004 (© Clovis Brown).
Eine Karikatur des Zeichners Clovis Brown im Jamaica Observer veranschaulicht, wie der Druck der LGBTTIQ-Aktivist_innen als Intervention aus dem Ausland wahrgenommen wird (Abbildung 4). Am 26. November 2004, im Anschluss an die Vorstellung des HRW-Berichts Hated to Death, wird der jamaikanische Premierminister P. J. Patterson in einem kleinen Häuschen mit der Aufschrift »JAMAICA« abgebildet. Die Türe des Häuschens wird von zwei aggressiv dreinschauenden Männern mit einem Rammbock mit der Aufschrift »Remove Buggery Law« attackiert. Einer der beiden Männer trägt ein Hemd auf dem »Gay Rights Lobbyists« steht. Die Zeichnung zeigt den jamaikanischen Premierminister passiv, während die Unterstützer_innen der LGBTTIQ-Aktivist_innen aktiv mit Gewalt gegen Jamaika vorgehen. Die Darstellung suggeriert nicht nur, dass der Impetus für die Abschaffung des Buggery Act von außerhalb Jamaikas kommt, sondern setzt auch eine im Vergleich zum kleinen Jamaika wirtschaftlich und politisch übermächtige internationale LGBTTIQ-Lobby voraus. Die Annahme, dass die LGBTTIQ-Aktivist_innen über eine finanziell mächtige internationale Lobby verfügen, knüpft an den Diskurs an, in dem Homosexualität als Eigenschaft von ›dekadenten‹ gesellschaftlichen Eliten beschrieben wird. Das trifft nicht nur auf die wirtschaftlichen und politischen Eliten des ›westlichen‹ Auslands, sondern auch auf die Darstellung der jamaikanischen Eliten zu. Ein Beispiel dafür sind die erwähnten Homosexualitätsvorwürfe gegen den PNP-Premierminister P. J. Patterson, die sich auch die JLP-Opposition zu Nutze machte. Die von Cecile Gutzmore angeführte Argumentation eines homosexualitätsfreien präkolonialen Afrikas (vgl. Gutzmore 2004: 125), wie sie von einigen DancehallKünstler_innen vertreten wird, taucht in der jamaikanischen Presse kaum auf. Das
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mag daran liegen, dass die Sprecher_innen sich primär als Teil der creole multiracial Gesellschaft verstehen und nicht als Afrikaner_innen. Antihomosexualität als Kritik an der upper class Im Antihomosexualitäts-Diskurs in den jamaikanischen Medien artikuliert sich außerdem eine bestimmte Kritik an einer als ›dekadent‹ wahrgenommenen jamaikanischen upper class. Vermehrt wird davon ausgegangen, dass Homosexualität eine Praktik ist, die sich soziogeographisch primär oberhalb von Crossroads und Half Way Tree in Kingston abspielt. Homosexualität und ›Sodomie‹ sind in den Augen vieler Jamaikaner_innen ein »uptown business« (LaFont 2001: 64). Dancehall-Musik, in der Homosexualität vehement kritisiert und verdammt wird, dagegen wird als kulturelles Erzeugnis der working class aus der downtown und den Armenvierteln der Stadt angesehen. Der Kolumnist des Jamaica Observer, Mark Wignall, beschreibt die angenommene gesellschaftliche, politische und ökonomische Macht von Homosexuellen (Männern) auf Jamaika wie folgt: In fact, what I see is probably the exact opposite: a »homocracy« in Jamaica or pockets of it where in selected circles the very best, brightest homosexuals and some not so bright are placed in high-powered jobs, in government, in the civil service, in the private sector, in the media and the entertainment industry. It seems that the Human Resource Departments of some private sector companies are willing to go the extra mile to employ homosexuals (Wignall 2004b: 8).
Hier wird deutlich, dass davon ausgegangen wird, Homosexuelle würden im Hintergrund die Fäden auf Jamaika ziehen oder Kontakte zu einflussreichen Personen haben (vgl. Levy 2004d: 9). Zugespitzt wird diese verschwörungstheoretische Vermutung durch die Verwendung von »homocracy«, welche die Demokratie, die auf Jamaika herrscht, zu ihren Gunsten untergraben habe. Die verborgene Existenz einer sogenannten »homocracy« wird auch im folgenden Zitat vorausgesetzt: »Jamaica, with more churches than jobs, is not a pro-gay country even though there is much tolerance for suspected homosexuals, especially in high places« (Taylor 2004: A9). Im internationalen Rahmen wird diese vermeintliche Verschwörung und Unterwanderung durch den Ausdruck »The New Gay World Order« (Blaine 2004: 10) auf die Spitze gebracht. Durch Ausdrücke wie »homocracy« und »New Gay World Order« wird artikuliert, dass sich Homosexuelle schleichend an die entscheidenden Machtpositionen gebracht haben. Sie, und nicht mehr die ›normalen‹ Heterosexuellen, bestimmen nun sowohl auf der globalen Ebene als auch durch Einflussnahme und Mithilfe der lokalen Homosexuellen auf Jamaika das Geschehen. Die Proteste gegen jamaikanische Deejays, die jamaikanische Regierung und die Buggery Laws
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werden als Teil der »New Gay World Order« betrachtet. Mit dem Begriff wird gleichzeitig auch unterstrichen, inwiefern viele Jamaikaner_innen davon ausgehen, dass traditionelle christliche Werte und Normen im frühen 21. Jahrhundert in der Krise stecken und welche Gefahren das für die Menschheit im Allgemeinen und die jamaikanische Gesellschaft im Besonderen birgt (vgl. Heathe 2004: 9; O’Donnell 2004: 9; Brown 2004: 9; Blaine 2004: 10). Ian Boyne beschreibt diesen Zustand als »postchristliche Gesellschaft« (Boyne 2004d: G5). Der Diskurs Antihomosexualität als Kritik an der upper class bezieht sich positiv auf das Konzept von Respektabilität, richtet sich in diesem Falle aber gegen die vermeintlich respektable upper und middle class. Stattdessen wird darin die working class respektabel, da sie im Gegensatz zu den reichen Jamaikaner_innen uptown keine ›dekadenten‹ Sexualpraktiken ausübe. Die Verortung von Homosexualität in der jamaikanischen Elite verschafft den gewöhnlich als vulgär und unmoralisch kritisierten Afrojamaikaner_innen eine »moralische Überlegenheit« (LaFont 2001: 52). Die Wurzeln dieses Diskurses gehen laut Suzanne LaFont zurück auf die Zeit der Sklaverei, in der weiße Plantagenbesitzer_innen ihre Macht einsetzten, um die Sklav_innen nicht nur ökonomisch, sondern auch sexuell auszubeuten (vgl. LaFont 2001: 39). Die sexuelle Ausbeutung und das damit einhergehende Fehlverhalten der Eliten machte sie in den Augen der versklavten Schwarzen moralisch minderwertig (vgl. LaFont 2001: 51). Presumably same-sex sexual activity would have also occurred between slaves and elites. It is difficult to imagine that male slaves were not sexually exploited by colonial men or that they were blind to the advantages of having sex with Buckra. But we do not know the meaning of any of these relationships. We also know that same-sex sexual behavior was widespread among the indigenous peoples of the Americas, and surely knowledge of this behavior would have reached Jamaica (LaFont 2001: 36).
Das Zitat veranschaulicht, dass Respektabilität, die laut Thomas primär von nonkonformistischen Kirchen und später von der nationalen Elite als Vehikel des Fortschrittes gepriesen wurde, ebenfalls eine Anforderung war, an der die Schwarze Bevölkerung die Plantagenbesitzer_innen und später die Herrschenden im multiracial Staat maß (vgl. Thomas 2004a: 252). Respektabilität entsteht nicht nur durch die Vorgabe von ›oben‹. Der Diskurs veranschaulicht, wie sie dialektisch zwischen der Elite, der middle class und der lower class ausgehandelt wird (vgl. LaFont 2001: 68). In der Geschichte Jamaikas haben sowohl working class Communitys als auch die respektable middle class für die Aufrechterhaltung von Respektabilität gesorgt, indem sie die upper class der ›Dekadenz‹ beschuldigten (vgl. Thomas 2011a: 139).
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Homosexualität wird auf Jamaika prinzipiell anhand der gesellschaftlichen Machtbeziehungen artikuliert. Die im Diskurs auftauchenden Bilder von Homosexuellen lassen sich daher in zwei Gruppen einteilen. Auf der einen Seite steht der ›dekadente‹, reiche Homosexuelle aus der Elite, der sexuelle ›Devianz‹ zelebriert. Auf der anderen Seite befindet sich der verarmte und sexuell ausgebeutete junge Mann aus der lower class, der scheinbar primär wegen seiner prekären wirtschaftlichen Situation und seiner Abhängigkeit von der ›dekadenten‹ Elite homosexuelle Verhältnisse eingeht. Ein Grund für Homosexualität, die nach der Ansicht vieler Autor_innen von außen nach Jamaika dringt, sei die grassierende Armut. The tragedy of Jamaica is that we are ripe for infiltration, and for the proliferation of homosexuality because of the grinding and pervasive poverty that exists. More and more of our young children are being lured into homosexual acts entirely for money and the ability to get things. The combination of poor education and parenting, and the unrelenting exposure to the Western sex media, embellished by our own local porn networks, create fodder for young, vulnerable minds (Blaine 2004: 10).
Homosexualität wird im Zitat als Praxis beschrieben, die Jugendliche betreiben, um sich trotz Armut den Zugang zum Konsum zu ermöglichen. Die Fokussierung auf »kleine Kinder«, die in die Homosexualität »gelockt« werden, reproduziert das Bild des männlichen Homosexuellen als reichem Pädophilen und verbindet sich mit dem Diskurs, der (männliche) Homosexualität als Gefahr für Kinder und Heranwachsende darstellt. Der männliche Homosexuelle ist, bedingt durch seine finanzielle Macht, eine Bedrohung für verarmte Kinder, deren sexuelle Dienste er sich erkauft. Anfällig sind die Kinder nicht nur wegen ihrer Armut, sondern auch aufgrund des schlechten Einflusses von ›westlichen‹ Medien, die abweichende Sexualität und Pornografie von außen nach Jamaika transportieren. Zudem werden zerrüttete Familienstrukturen, denen es an Respektabilität und einem fürsorglichen Elternhaus mit traditionellen Geschlechterrollen mangelt sowie der Materialismus der Jugend als Erklärungen dafür verwendet, warum Homosexuelle aus der uptown Jugendliche aus den ›Ghettos‹ für ihre Dienste gewinnen können. Ein Kommentator argumentiert, dass das soziale Gefälle innerhalb homosexueller Beziehungen auf Jamaika mit der Notwendigkeit zusammenhängt, homosexuelle Affären vor der Öffentlichkeit zu verbergen. Because of the relatively small number of male homosexuals in Jamaica paired relationships are often complex insofar as it relates to the social equity in the bonding. A male executive who desires a male senior civil servant cannot afford to have him stay over for the night. Tongues will wag. But if that same executive has his »yardboy« homosexual lover living in an anteroom in his house, no one will suspect a thing (Wignall 2004b: 8).
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Auffällig ist, wie Homosexualität in diesem Diskurs dominant als männliche Homosexualität ausgedrückt wird. Darauf lassen Termini wie »›yardboy‹ homosexual lover« (Wignall 2004b: 8) oder auch der Ausdruck »Mr. Big Man homosexual« schließen (Boyne 2004c: G9). Zusätzlich unterstützt wird der Diskurs durch Diskussionen, die Homosexualität als ›fremd‹, nicht-jamaikanisch und einen weißen, (neo-)kolonialen Import wahrnehmen. Die Verortung von Homosexualität in der upper class, die stärker an weißen, auf die britische Kolonialzeit zurückgehenden Normen und Werten festhält, veranschaulicht diese Verschränkungen. In Zeiten, in denen Modern Blackness, das heißt Schwarzsein und Schwarze kulturelle Praktiken, die Definition von jamaikanischer kultureller Identität dominieren, wird die Elite des multiracial Staats, die seit der Unabhängigkeit das politische Sagen auf Jamaika hatte, gezielt als ›dekadent‹, ausbeuterisch und sexuell ›deviant‹ porträtiert. Diese Wahrnehmung machte sich auch die JLP zu Nutze, als sie im Wahlkampf 2001 versuchte, den amtierenden Premierminister Patterson als homosexuell zu diffamieren. Homosexuelle werden als einflussreiche Personen betrachtet, die zusätzlich von ihren transnationalen wirtschaftlichen Kontakten zum ›Westen‹ profitieren. Sie werden im Diskurs als »›homosexuelle‹ Elite« (Wignall 2004b: 8), »lokale VIP-Homosexuelle« (Wignall 2004c: 27), »in hohen Stellen« (Wignall 2004b: 8), »in Machtpositionen« (Very Angry 2004: 28) oder »Mr. Big Man homosexual employer« (Boyne 2004c: G9) beschrieben. Interessanterweise macht die ihnen zugesprochene gesellschaftliche und wirtschaftliche Macht sie nicht zu wehrlosen, ›feminisierten‹ Männern, wie sie der Dancehall-Diskurs oder einige Diskurse in den Medien darstellen. Des Weiteren wird die Macht der Homosexuellen auf ihre transnationalen Netzwerke zurückgeführt, derer sie sich bedienen können, um auf kleine Staaten, wie Jamaika, politischen und ökonomischen Druck auszuüben. Für die Protestaktionen wird eine wirtschaftlich einflussreiche homosexuelle Lobby verantwortlich gemacht: »What we have to be wary of, however, is this rabid remnant of homosexual activists, who use pressure, power and money, to intimidate us into accepting their particular lifestyle« (Blaine 2004: 10). Interessanterweise bedient sich nicht nur der antihomosexuelle Diskurs an Bildern von mächtigen homosexuellen Männern. Auch ein Kommentar von Glenda Simms, der geschäftsführenden Direktorin des Bureau of Women’s Affairs, betont die Machtposition von heterosexuellen und homosexuellen Männern im »Kampf um Anstand« (Simms 2004: G7). In ihrem Fall wird das Motiv vom mächtigen (homosexuellen) Mann aber verwendet, um Druck auf jamaikanische Dancehall-Entertainer auszuüben. »Mächtige und einflussreiche Männer« sollen ihrer Argumentation zufolge die Diskriminierung nicht nur von Homosexuellen, sondern auch von »Frauen und Mädchen« in der Dancehall beenden.
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Women and girls should welcome the coming together of powerful and influential men (both gays and straights) in this new battle for decency, accountability and restriction of the rights of individuals to abuse others (Simms 2004: G7).
Ein weiterer interessanter Kommentar vergleicht die einflussreiche Position von Homosexuellen auf Jamaika mit der Schwarzen Befreiungsbewegung Rastafari. Wie Homosexuelle fristeten auch deren Anhänger_innen lange Zeit ein Paria-Dasein auf Jamaika. 19 Ein offenes Bekenntnis zu Rastafari und das Tragen von Dreadlocks und ungeschorenem Bart führten zu sozialer Ausgrenzung und gewaltsamen Übergriffen vonseiten der Bevölkerung und Ordnungsmacht (vgl. Thomas 2011a: 173ff), vergleichbar mit dem Stigma, das Homosexuellen anhaftet: If we take it as a given that in the last 50 years the group or entity that has made the most important inroads or had impacted most on Jamaican society is Rastafari, then it would seem that the other entity out to claim a similar social passage in the last 10 years is the male homosexual community in Jamaica and their surrogates abroad (Wignall 2004c: 27).
Auch die transnationale Verortung von Homosexuellen und Rastafaris ist eine Gemeinsamkeit beider Bewegungen. Gravierender Unterschied ist, dass die RastafariBewegung und ihre Repräsentationen grundsätzlich als heterosexuell, männlich und Schwarz angesehen wurden. Die soziale Verortung ihrer Anhänger_innen fand sich aus diesem Grund meist in der urbanen und ländlichen lower class sowie dem Lumpenproletariat. Homosexuelle hingegen werden, wie vorausgehend dargelegt, mehrheitlich als Teile der jamaikanischen beziehungsweise internationalen Eliten wahrgenommen. Ihre gesellschaftliche Machtposition sowie die Tatsache, dass Homosexualität als Praxis gilt, die von außen nach Jamaika hereindringt, lässt sie, im Gegensatz zur Rastafari-Bewegung, als weiß und / oder ›braun‹ erscheinen. Trotzdem gehören sowohl Homosexuelle als auch Rastafaris zu den auf Jamaika marginalisierten Gruppen (vgl. Tafari-Ama 2008: 216). Homosexuelle als Gefahr für Kinder In der medialen Debatte wird Homosexualität und vor allem das Bild des männlichen Homosexuellen vermehrt als eine Gefahr oder Bedrohung für jamaikanische Kinder wahrgenommen. Auffallend ist dabei, dass Homosexuelle aufgrund der ihnen zugesprochenen Normüberschreitung im selben Atemzug genannt werden wie Vergewaltiger, sexuelle Straftäter_innen und andere Kriminelle: »I have never been a prude and I tend to avoid those who are. On the other hand, my circle of acquaintances are never ever overt freaks, homosexuals, paedophiles, drug users or serial killers« 19 Siehe Kapitel Die sozialgeschichtliche Entwicklung der jamaikanischen Populärmusik.
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(Wignall 2004a: 14). Dabei werden unterschiedliche ›deviante‹ Subjekte in einem bedrohlichen Kollektiv gesammelt und gleichzeitig vom Rest der Nation ausgegrenzt. Das Porträt des Homosexuellen ist in diesem Diskurs weniger bestimmt durch Schwäche und ›Verweiblichung‹, sondern vielmehr durch seine Machtposition gegenüber wehrlosen Kindern und ihren »jungen verletzlichen Seelen« (Blaine 2004: 10), die er, entweder durch gesellschaftliche Macht oder durch Gewalt, zu sexuellen Gefälligkeiten nötigt oder gar vergewaltigt (vgl. Blaine 2004: 10). Homosexuelle sind demnach sexuelle Straftäter_innen, eine Gefahr für die Kinder und damit auch für die gesamte Gesellschaft. In einem Leserbrief bringt eine empörte Mutter diese Annahme auf den Punkt: »I for one who have mothered two sons and am aunt to several nephews cringe at the thought of them ever being subjected to sexual harassment from any group, worst of all gays« (Mitchell 2004: 9). Das dominante Bild vom gefährlichen Homosexuellen wird auch im Gegendiskurs reproduziert: »Contrary to the popular perception, not all gay men go around picking up little unkempt boys like chicken hawks« (Smith 2004c: 8). Begrifflich wird die Überschneidung von Homosexualität und Pädophilie im Ausdruck des Straftatbestandes Buggery deutlich. Da der Paragraph sich allein auf sexuelle Normabweichungen bezieht, diese aber kaum über analen Geschlechtsverkehr und sexuelle Vergehen hinaus definiert sind, können damit sowohl Vergewaltiger von Kindern als auch männliche Homosexuelle in einer Kategorie vereint abgeurteilt werden. Das verstärkt wiederum in der öffentlichen Wahrnehmung den Glauben, Homosexuelle würden sich an kleinen Jungen vergreifen und gipfelt in der Benennung von LGBTTIQ-Aktivist_innen als »buggery activists« (Anderson-Brown 2004: A5). Erkennbar wird das Zusammenfallen von männlichen Homosexuellen und Vergewaltigern von Kindern auch in einem Artikel über die Aktivitäten des Center for the Investigation of Sexual Offences and Child Abuse (CISOCA). Darin wird von »einer gestiegenen Zahl homosexueller Männer, die sich an kleinen Kindern sexuell vergreifen«, gesprochen (»Leave Gays Alone« 2004: 3). Artikel wie dieser verschleiern die Tatsache, dass Homosexualität und Pädophilie zwei völlig unterschiedliche Phänomene sind und sowohl Mädchen als auch Jungen Opfer von heterosexuellen Sexualstraftäter_innen werden: One has to wonder if Amnesty is concerned about the rights of humans overall, or just a selected set of people. Why else would they claim that abuse against homosexuals are on the increase – a claim which the Centre for the Investigations of Sexual Offences and Child Abuse has refused – but they remain quiet on the number of children who have been buggered and their rights taken away (»Amnesty’s Position« 2004: 8).
Auch in der Argumentation für den Erhalt der Buggery Laws wird Homosexualität mit anderen sexuellen Transgressionen wie Inzest, Polygamie (vgl. Buckley 2004a:
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A4) oder Pädophilie gleichgesetzt: »Any group of rapists and pedophiles could come together to reinforce themselves in their ›ethics‹ but would that make it right? They have strong desires, too just like the homosexuals« (Boyne 2004f: G7). Neben der Gleichstellung von Homosexualität und Pädophilie schwingt hier die Aussage mit, dass nach einer befürchteten Legalisierung von Homosexualität jeglicher Art von sexuellen Verbrechen die Türe geöffnet werden würde und die LGBTTIQ-Aktivist_innen einzig den Anfang einer sexuellen ›Dekadenz‹ darstellen. Um das zu verhindern, wird für ein Festhalten an der Kriminalisierung von Homosexualität argumentiert: »[R]egardless of the basis in law for outlawing paedophilia, incest, bigamy or adultery, these are bedroom activities that fall under the ambit of the law. And the society wants them and buggery to remain there!« (Buckley 2004a: A4). Die Verknüpfung von Homosexualität und Pädophilie bewirkt eine Verstärkung des Bedrohungspotenzials von Homosexualität für die jamaikanische Gesellschaft. Das Bedrohungspotenzial, das bei der Pathologisierung, der moralischen ›Dekadenz‹ und religiösen Sündhaftigkeit eher abstrakt auf die gesamte Gesellschaft wirkt, bekommt im Angesicht der Opfergruppe, den wehrlosen Kindern, eine alarmierende Wirkung. Neben der direkten Gefahr für Kinder wird auch die politische Agenda der Homosexuellen-Organisationen als Bedrohung wahrgenommen: Jamaicans should not be forced by any group to change their laws. Laws which also acts [sic] as a protection for boys and girls who should be able to understand and appreciate that the coming together of two adults should be between opposite sexes, not the other way round (Mitchell 2004: 9).
Homosexualität und deren Normalität soll auf keinen Fall Teil einer Schulbildung sein, die jamaikanischen Kindern vermittelt wird. Das wolle man sich unter keinen Umständen aufzwingen lassen: »It is bad enough that people can choose to engage in perverted behavior, but to then believe that they have the right to impose their views and lifestyles on the rest of us, and to present it to children as normal, is to me the most abominable aspect of this growing scourge« (Blaine 2004: 10). Darstellungen von Homosexualität als alternatives Lebensmodell werden kategorisch ausgeschlossen: »As heterosexuals, we don’t have to embrace this lifestyle or teach it to our children as normal« (Whyte 2004: A10). Als besonderes Problem wird der mediale Einfluss des Auslands zur Kenntnis genommen. Im Zentrum stehen dabei Darstellungen von Homosexualität oder auch ›feminisierter‹ Männlichkeit in populärkulturellen Erzeugnissen und TV-Serien aus den Vereinigten Staaten. US-Fernsehen wird gar als gezielte Kampagne wahrgenommen, traditionelle Vorstellungen von Geschlecht und Sexualität auf Jamaika zu unterminieren: »Those who have Cable TV can run the gamut from Queer as Folk, Will & Grace to The Wire. They are even targeting our children, has anyone seen A Bug’s
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Life, et al?« (Whyte 2004: A10). Vor derartigen Fernsehinhalten sollen Minderjährige geschützt werden, um nicht auf moralische Abwege zu gelangen: »[C]ultural penetration, especially in the case of cable television, is right now more injurious and influential to young boys and girls in Jamaica than the flaming queen in Half-WayTree trying to pick up a street boy« (Smith 2004c: 8). Homosexuelle Einflüsse der US-amerikanischen Kulturindustrie werden als mächtiger angesehen als die Gefahr, die von ›feminisierten‹ Homosexuellen im Zentrum von Kingston ausgeht. Interessanterweise wird im Begriff der »kulturellen Penetration« der Einfluss von vermeintlich schädlichen äußeren kulturellen Einflüssen selbst als sexueller Akt ausgedrückt. Hier offenbaren sich deutliche Überschneidungen mit dem Diskurs, der Homosexualität als ein Importprodukt aus dem Ausland, insbesondere ›westlicher‹ Länder, konstruiert. Homosexuelle als Gewalttäter_innen Während der Debatte um Homophobie innerhalb der jamaikanischen Gesellschaft tauchte ein Diskurs auf, der aus den Opfern homophober Gewalt plötzlich selbst Täter_innen machte. Derartige Ansichten finden sich auch in der Wissenschaft wieder. So spricht Imani Tafari-Ama davon, dass kriminelle Homosexuelle aus der working class, die materiell von reichen Jamaikaner_innen für sexuelle Dienste entlohnt werden, eine Ursache für zunehmende antihomosexuelle Dancehall-Lyrics sein könnten (vgl. Tafari-Ama 2008: 192-193): These are not the poor defenceless and victimized Jamaican homos whose cause the British gay group Outrage! champions. No, these bad man chi chi boys are tough young killers who can defend themselves and who will not hesitate to shoot or cut up anyone trying to criticize or mock them for their decision to embrace this, still disdained lifestyle (Tafari-Ama 2008: 191).
Tafari-Amas Beschreibung stellt dem Bild von Homosexuellen als Opfer homophober Gewalt den brutalen »bad man chi chi boy« entgegen. Das bewirkt, dass Homosexuelle selbst als Gewalttäter_innen angesehen werden. Sie erscheinen dabei als gewalttätige homosexuelle Gangster_innen aus den ›Ghettos‹, die sich wie aggressive maskuline Rude Boys verhalten, Messer und Pistolen besitzen und überraschenderweise nicht der homosexuellen Männern unterstellten ›Verweiblichung‹ anheimgefallen sind. Die Vorstellung von gewalttätigen Homosexuellen, die zuvor allein wegen ihrer sexuellen Transgressionen kriminalisiert und moralisch verurteilt wurden, ermöglicht es, sexuelle Minderheiten nun auch als brutale Aggressor_innen zu kriminalisieren. Ein Teil dieses Diskurses sind Äußerungen in den Medien, die ermordete Homosexuelle als Opfer ihrer ebenfalls homosexuellen Freund_innen oder Liebhaber_innen
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porträtieren. Die Darstellung führt zu dem Schluss, dass homosexuelle Opfer von Gewalttaten nicht von homophob motivierten Jamaikaner_innen getötet wurden, wie die LGBTTIQ-Aktivist_innen proklamieren, sondern hinter den Verbrechen deren pathologisch eifersüchtige Liebhaber_innen steckten. Um die Gewalt von maskulinen Homosexuellen zu illustrieren, wird das Bild des extrem eifersüchtigen männlichen Homosexuellen geschaffen: [W]henever a gay man was killed, he was killed by one of his own. One deviant taking out another. Someone once told me that gays are so very passionate about their relationships that they are 10 times more jealous than any heterosexual obsessive lover could be. When I was a crime reporter I covered quite a few of those cases – gay men found dead in their homes, no signs of forced entry, and with multiple step wounds. Does that sound like a hate crime to you, or a crime of passion? (Levy 2004c: 11).
Warum Homosexuelle zu besonders grausamen Beziehungstaten neigen, wird mit der geringeren Auswahl bei der Suche nach Sexpartner_innen begründet (vgl. Wignall 2004b: 8). Dieser Mangel mache Homosexuelle zu erheblich obsessiveren Liebhaber_innen, die Untreue oder Trennungen brutaler bestrafen als heterosexuelle Partner_innen: If jealous rages among normal couples can be tinged with more than threats of violence in a land as violent as Jamaica, we can only imagine what it must be like among homosexuals where replacement lovers are hard to find. I am therefore not in the least surprised to read of extremely violent deaths in homosexual relationships after triangles get distorted and emotions run incongruent to passions (Wignall 2004b: 8).
Das im Juni 2004 begangene Verbrechen am Vorsitzenden von J-FLAG, Brian Williamson, wird in den Diskurs um den aggressiven, eifersüchtigen männlichen Homosexuellen eingeordnet: A little over one week ago Brian Williamson, at that time Jamaica’s most vocal advocate of homosexuality, was found horribly and brutally murdered in his uptown apartment. Based on cursory investigations, all indications are he was murdered by someone »in-house«. The police report suggests that he was chopped all over his body. This is fairly consistent with previous murders in Jamaica involving male homosexuals (Wignall 2004b: 8).
Es wird nahegelegt, dass es sich bei Williamsons Tod um einen Fall von »gay on gay violence« handele (Cooke 2004a: A4). Diese Argumentation wird verwendet, um Anschuldigungen von J-FLAG, Outrage! und HRW zu begegnen, die ein aggressives homophobes Klima in der jamaikanischen Gesellschaft als Erklärung für die Verfolgung und Ermordung von jamaikanischen Homosexuellen anführen: »It was reported
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that the head of J-FLAG was murdered because of his sexuality, when it was in fact a ›homosexual on homosexual‹ crime« (Escoffery 2004: 9). Das Argument, dass die Ursache der Gewalt innerhalb der Gemeinschaft der Homosexuellen zu suchen sei, wird auch herangezogen, um gewaltverherrlichende und homophobe Dancehall-Lyrics, die von Homosexuellen-Organisationen stark kritisiert wurden, zu entlasten: »There is no scientific evidence that pro-violence lyrics lead to attacks on gays here. Documented homicides of ›known‹ gay men have been by their ›friends‹« (Taylor 2004: A9). Entgegen der sonstigen Darstellungen, die sich auf den männlichen Homosexuellen konzentrieren, taucht im Diskurs um die Gewalttätigkeit von Homosexuellen auch das Bild von aggressiven und verführerischen Lesben auf. So schildert der Journalist Mel Cook ein Gerichtsurteil aus einem Mordprozess, in dem zwei Frauen des Mordes an einem Polizisten verurteilt wurden. Dieser habe sich von der Bekanntschaft mit den Lesben ein sexuelles Abenteuer versprochen: »The two, lesbians (Smith is bisexual), were sentenced for the murder of Detective Inspector Ancel George Dwyer on November 7, 2003. He took them to his home for a threesome and ended up with 79 stab wounds« (Cooke 2004a: A4). Des Weiteren wird von einer wachsenden Anzahl lesbischer Cliquen an jamaikanischen Schulen gesprochen, die als Bedrohung für die restlichen Schüler_innen wahrgenommen werden: »In almost every girls’ high school in Jamaica, there are growing lesbian cliques. There are a few in Kingston that are notorious for this because of their aggressive style of seeking new recruits« (Blaine 2004: 10). Wodurch sich die Praktiken zur Gewinnung von neuen »Rekrutinnen« auszeichnen, wird nicht erwähnt. Zu vermuten ist, dass sich darin Ängste ausdrücken, Kinder würden durch den Kontakt zu Homosexuellen beiderlei Geschlechts von der Vorstellung einer heterosexuellen Normalität abkommen und selbst sexuelle ›Abweichungen‹ praktizieren, wie es in einem Beitrag zur Sprache kommt: »I am also aware that nieces have been sent by mothers who are unaware that the aunt is a lesbian and so the girl is seduced by the aunt and begins to function as a lesbian« (Gordon 2004: 2). Das Zitat bringt auch zum Ausdruck, dass Homosexuellen zugesprochen wird, verführerisch oder aggressiv auf die sexuelle Ausrichtung von heterosexuellen Menschen einzuwirken. Zugespitzt formuliert heißt das, dass wenn ein heterosexueller Mensch zu nahe an die sexuellen ›Abweichler_innen‹ herankommt, die Gefahr der homosexuellen Verführung beziehungsweise ›Kontaminierung‹ besteht. Solche Behauptungen überschneiden sich wiederum mit dem Diskurs, der Homosexualität als Krankheit konstruiert. Der Diskurs birgt letztendlich den strategischen Effekt, zwei Gruppen von Normabweichler_innen, sexuelle Minderheiten und gewalttätige Straftäter_innen (aus der lower class), auf eine Stufe zu stellen. Durch ihre Kennzeichnung als Kriminelle werden sie außerhalb der staatsbürgerlichen Norm platziert. Das Manöver unterstützt einerseits die Tradition der Kriminalisierung von männlichen Homosexuellen durch
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den jamaikanischen Staat, andererseits verstärken die Buggery Laws die öffentliche Wahrnehmung, dass es sich bei Homosexuellen um eine gefährliche, außergesetzlich handelnde Gruppe von Normabweichler_innen handelt. Die Tradition der Illegalität von Homosexualität auf Jamaika In zahlreichen Artikeln, Leserbriefen und Kommentaren wird die Illegalität von Homosexualität beziehungsweise Analverkehr thematisiert. Meist wird dabei Bezug auf die Buggery Laws genommen. Die Beiträge lassen sich aufteilen in Äußerungen, die einzig auf den Strafrechtsbestand eingehen, die für den Erhalt von Gesetzen zur Kriminalisierung von männlicher Homosexualität plädieren und Äußerungen, die auf die koloniale Geschichte und Tradition der Buggery Laws aufmerksam machen. Die Kulturwissenschaftlerin Donna P. Hope weist in einem Artikel im Jamaica Gleaner auf den Straftatbestand hin: Jamaica’s Offences Against the Person Act prohibits »acts of gross indecency« between men in public and private. Section 76 of this same Act provides for up to ten years imprisonment for buggery, defined as anal intercourse between a man and a woman, or between two men (Hope 2004b: A6).
Weitere Stimmen zeigen das Dilemma auf, in dem sich nationale und internationale LGBTTIQ-Aktivist_innen befinden, wenn sie sich für die Rechte von sexuellen Minderheiten einsetzen, die per Gesetz verboten sind: »If two men have sex then it is the offence of ›buggery‹. This presents a dilemma for gay rights activists in Jamaica. How can one seek to claim rights to perform an act, which is by its very nature illegal?« (Taylor 2004: A9). Das bis heute bestehende Homosexualitätsverbot, das auf einer langen historischen Kontinuität basiert, wird zudem als Grund angeführt, weshalb sich die Einstellung der jamaikanischen Bevölkerung zu gleichgeschlechtlichem Sex nur schwerlich ändern lässt: »What the human rights group needs to understand is that in Jamaica homosexuality is against the law and for people like us with a strong culture of homophobia, accepting such a practice can and will never be easy« (»Amnestyʼs Position« 2004: 8). Viele Stimmen setzen sich vehement dafür ein, dass die Buggery Laws auch im frühen 21. Jahrhundert aufrechterhalten werden sollen und fordern die Bevölkerung auf, sich hinter die Regierung und die Gesetzgebung zu stellen: I implore all Jamaicans who support the call not to repeal our laws to take a stand. Stand behind the Jamaican Government as one voice and send a clear and resounding »no!« to this and any other group, local or foreign, which might have similar ideas up their sleeves (Whyte 2004: A10).
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Angesichts der internationalen Debatte und dem Druck von LGBTTIQ-Organisationen wird sogar für eine Verschärfung der Gesetze argumentiert: »I believe that the buggery laws should remain on the books in Jamaica and perhaps made more stringent to prevent brazen, open male-on male sexuality« (Stoddart 2004c: 9). Argumente für den Erhalt der Buggery Laws verknüpfen sich mit religiös und moralisch motivierter Ablehnung von Homosexualität. Dabei werden die Buggery Laws als ein Teil der Gebote Gottes betrachtet (vgl. Reid 2004: A3). Insbesondere Kirchenoberhäupter stehen den Forderungen der Menschenrechts- und LGBTTIQ-Organisationen ablehnend gegenüber. Pastor Garfield Delay äußert sich im Gleaner wie folgt: »The said law is consistent with the word of God and I don’t think it should be removed to accommodate anyone« (Reid 2004: A3). Reverend Country Richards von der Missionary Church Association wirft HRW vor, Sachverhalte zu vermischen und sieht in den Gesetzen gegen Analverkehr kein Problem: »›It is not the law itself that is the problem. They are making a leap here. I see no reason to change the law, it is to be upheld‹« (Rose 2004: A3). Entgegen der Auffassung, Gesetze hätten nichts in den Schlafzimmern verloren, werden Pädophilie und Inzest angeführt: »I cited incest, adultery and paedophilia as examples where the law applied in the bedroom, and hence the law against buggery should remain in force« (Buckley 2004a: A4). Darüber hinaus werden die Buggery Laws als eine notwendige moralische Instanz gewertet, die auch das Private betrifft: If the law has no place in the bedroom, why is adultery still the basis for divorce and why are men and women not allowed to simultaneously have several marriage partners? Yes, Mr. Chuck morality is still legislated! (Buckley 2004b: A4).
Oft wird mit vermeintlichen Schreckensszenarien argumentiert, die auf eine Legalisierung von Homosexualität und der Abschaffung der Buggery Laws folgen könnten: »Today the call is to repeal the buggery law: tomorrow it may be to allow gay marriages – as Americans found out to their horror« (Buckley 2004a: A4). Die Entwicklung beim größten nördlichen Nachbarn dient dabei als schlechtes Vorbild. Einige Beiträge weisen auf die kolonialen Wurzeln der Gesetze gegen Analverkehr hin (vgl. Hope 2004d: A6). Sie stellen dar, wie homophobe Gesetzgebungen von der britischen Kolonialführung aufoktroyiert wurden und weisen deshalb jegliche Verantwortung von sich: »We must not be held responsible for a culture that was imposed upon us by a colonial regime« (White 2004: 9). Inwiefern die Ablehnung von Homosexualität im heutigen Jamaika mit Kolonialismus und der Versklavung und Deportation Schwarzer Menschen aus Afrika zu tun hat, bringt der Soziologe Orville W. Taylor im Gleaner zum Ausdruck. In seinem Kommentar wendet er sich mit den Worten »›[E]s tut mir so leid, Kumpel‹! Eure Vorfahren haben geholfen,
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dieses Monster zu erschaffen« an Peter Tatchell und dessen Kampagne gegen jamaikanische Dancehall-Künstler und für die Abschaffung der Buggery Laws (Taylor 2004: A9). Letztendlich können die Buggery Laws und das Eintreten für ihr Fortbestehen als Schritt gesehen werden, Respektabilität durch Gesetze zu verankern und die Kontrolle, die von diesen auf die Sexualität der Staatsbürger_innen ausgeht, zu bewahren. Ihnen kommt aber auch jenseits der sexuellen Kontrolle eine ambivalente Funktion auf internationaler Ebene zu. Dort trugen sie ursprünglich zur Demonstration von Respektabilität des unabhängigen jamaikanischen Staats bei. Im frühen 21. Jahrhundert sind sie auch eine institutionalisierte Form des Widerstandes gegen Neokolonialismus. Der Widerstand richtet sich gegen einen als politisch und wirtschaftlich dominanten, aber moralisch aufgrund der Akzeptanz von Homosexualität als degeneriert wahrgenommenen ›Westen‹.
D ER D ISKURS GEGEN H OMOPHOBIE Oftmals unbeachtet von vielen europäischen und nordamerikanischen Kritiker_innen der Homophobie auf Jamaika, gibt es im Jahr 2004 auch einen Gegendiskurs zu den antihomosexuellen Äußerungen in den jamaikanischen Medien. Ablehnende Haltungen gegenüber Homosexualität dominieren und erhalten Unterstützung durch die Populärkultur, Gesetzgebung und Politiker_innen. Dennoch wird in den jamaikanischen Printmedien auf unterschiedliche Weise Kritik an Homophobie, den Buggery Laws, gewaltsamen Ausschreitungen gegen sexuelle Minderheiten und homophoben Dancehall-Lyrics artikuliert. Der Diskurs gegen Homophobie wird von einer Vielzahl unterschiedlicher Akteur_innen transportiert. Einen wichtigen Teil stellen Bezüge auf Publikationen von Outrage!, AI und HRW dar, deren Positionen in vielen Artikeln aller drei Zeitungen wiedergegeben werden. Neben dieser primär von einer weißen sozialen Position geäußerten Kritik, sprechen sich sowohl heterosexuelle und homosexuelle Jamaikaner_innen aus Jamaika, der jamaikanischen Diaspora als auch Einzelpersonen aus dem Ausland kritisch zum Status quo aus. Der dortige Zustand der gesellschaftlichen Ausgrenzung und Gewalt wird als Symptom einer gesellschaftlichen Krise wahrgenommen und Homophobie, in erster Linie in der Dancehall, als Gegenteil von »zivilisiertem Verhalten« präsentiert (Maxwell 2004c: 9). Im Gegensatz zur antihomosexuellen Argumentation sind hier nicht die Homosexuellen die Bedrohung für die Ordnung, sondern Menschen, die mit Gewalt auf schwule und lesbische Staatsbürger_innen reagieren. Sowohl im Jamaica Observer als auch im Jamaica Gleaner finden sich zahlreiche Leserbriefe, die homophobes Verhalten kritisieren. Insbesondere der Jamaica
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Gleaner druckte 2004 mehrere Kommentare ab, in denen, außerhalb der Leserbriefsektion, für Menschenrechte und gegen homophobe Übergriffe argumentiert wurde (vgl. Glave 2004: G9; McDonnough 2004: 10-11; Henry 2004: 10; Kopka 2004: A45; Simms 2004: G1, 7). Dabei kommen schwule, lesbische und transsexuelle Jamaikaner_innen zu Wort, die entweder auf Jamaika oder in der Diaspora leben. Im Observer ist die Anzahl an Artikeln, die Homophobie kritisieren, etwas geringer. Gesprochen wird hier ausschließlich von einem heterosexuell-männlichen Standpunkt (vgl. Maxwell 2004a: 28; 2004b: 16; Smith 2004c: 8). Im Jamaica Star ist der Diskurs gegen Homophobie fast ausschließlich in Zitaten der LGBTTIQ-Organisationen präsent (vgl. »One Love? Uproar over Anti-Gay Lyrics Stirs Controversy« 2004: 3, 8; »Tolerance for All« 2004: 8). Die zentralen Subdiskurse in der medialen Argumentation gegen Homophobie sind: 1. 2. 3. 4. 5.
Die Untätigkeit von Regierung und Polizei. Die Abschaffung der Buggery Laws. Das Recht auf selbstbestimmte Sexualität. Der Zusammenhang zwischen Homophobie und Rassismus. Die homophobe Gewalt in der Dancehall.
Bei den fünf genannten Diskurssträngen, die im Anschluss weiter ausgeführt werden, handelt es sich nicht um die einzigen Argumentationen, die sich gegen Homophobie aussprechen und diese kritisieren. Aus Fokussierungsgründen wird darauf verzichtet, weitere Diskurse in ihren Grundbausteinen abzubilden. Die ersten drei Diskurse wurden ausgewählt, weil sie die zentralen Anliegen und Argumentationen der LGBTTIQ-Organisationen auf Jamaika und im Ausland wiedergeben. Der vierte Diskurs wird hinzugefügt, da er versucht, Homophobie anhand der Funktionsweise von Rassismus zu erklären. Im postkolonialen jamaikanischen Staat ist die Bevölkerung unausweichlich positiv oder negativ von Rassismus betroffen. Auf der Grundlage von Rassismus-Erfahrungen versucht die Argumentation des Diskurses, Empathie für andere, von menschenfeindlichen Einstellungen betroffenen Gruppen aufzubauen. Der fünfte Diskurs zeigt die Verknüpfung zwischen Homophobie und jamaikanischer Populärkultur auf und ist deswegen für die Publikation von besonderem Interesse. Ein weiterer, nicht ausführlich dargestellter Diskurs gegen Homophobie stellt die Verbindung von Homophobie und der Verbreitung von HIV dar. Dabei geht es darum, dass HIV-positive Menschen in Anbetracht von Homophobie zum Verschweigen der Infektion gezwungen werden und das wiederum die Verbreitung von HIV fördert (vgl. »UK Junior Minister Raps Jʼcan DJs for Anti-Gay Lyrics« 2004: 2; McGrath 2004: A5; Clarke 2004a: 1-2).
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Eine Gemeinsamkeit der Diskurse gegen Homophobie ist das Bestreben, Heterosexualität als zentrale Kategorie für Staatsbürgerschaft auf Jamaika auszuhebeln und so den Ausschluss von nicht-heterosexuellen Jamaikaner_innen und die Gewalt gegenüber sexuellen Minderheiten zu beenden. Die Kategorien des konformen Staatsbürgers und der konformen Staatsbürgerin sollen auch für sexuelle Minderheiten geöffnet werden, die aus ihr wegen ihres sexuell ›devianten‹ Verhaltens ausgeschlossen sind. Den Versuch, konformes Verhalten Homosexueller zu demonstrieren, unternimmt beispielsweise Matthew Kopkas Kommentar im Gleaner. Der US-Amerikaner Kopka spricht über seinen homosexuellen Vater, ebenfalls einen US-Staatsbürger und Kritiker des Vietnamkriegs, der trotz Homosexualität seiner Vaterrolle nachkam und drei heterosexuelle Söhne großzog: MY FATHER was a gay man. He was born that way, he became to believe, though nothing his very conventional mother or father identified in his early behaviour would have helped them to guess his sexual orientation. Robert Kopka was one of the most likeable people you could ever meet. He was decades ahead of his time, too, a civil worker, a vocal opponent of the Vietnam War who organised a teach-in and protests against it; he even for a time published his own magazine, Ethical Impact. He was a marvellous father and raised three heterosexual sons who are all tolerant of gay people and working to increase acceptance of homosexuality (Kopka 2004: A4).
Der Kommentar betont, dass der Vater des Autors, trotz seiner Homosexualität, ein weitgehend mit den bürgerlich-heterosexuellen Normen von Staatsbürgerschaft in den USA konformes Leben führte und drei heterosexuelle Staatsbürger großzog. Im Gegensatz zu Jamaika hat sich in Nordamerika und Europa die Wahrnehmung von Homosexuellen bereits seit den späten 1970er-Jahren verändert. Salih Alexander Wolter spricht in diesem Zusammenhang von »bürgerlicher Respektabilität«, die primär weiße Homosexuelle in Nordamerika und Europa durch die Anpassung an die Normen des Staats erlangen können (Voß und Wolter 2013: 18). Der Fokus der Homosexuellen richtet sich dabei auf die vollständige »Teilhabe an lukrativen und prestigeträchtigen Positionen in der bürgerlichen Gesellschaft« und findet Ausdruck in einer Agenda, die Ehe, Adoption sowie Steuer- und Erbgesetzgebung anstatt radikale LGBTTIQ-Politik betont (Voß und Wolter 2013: 138). 20 Wolters Gebrauch von »bürgerlicher Respektabilität« darf nicht mit dem Gebrauch von Respektabilität im jamaikanischen Kontext verwechselt werden. In Nordamerika und Europa sind besonders weiße homosexuelle Männer aus der Ober- und Mittelschicht gegen Ende
20 Radikale LGBTTIQ-Politik sollte stets das Zusammenwirken von Rassismus, Sexismus, Geschlechter- und Generationsverhältnissen und kapitalistischer Produktionsweise berücksichtigen (vgl. Voß und Wolter 2013: 14).
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des 20. und im frühen 21. Jahrhundert zu wichtigen Wirtschaftsakteuren und Konsumenten geworden. Durch die Anpassung an die bürgerlichen Normen des Nationalstaats konnten sie Respektabilität erlangen. Queers of Color, Transmenschen, Transsexuellen, Intersexuellen und Homosexuellen aus der Unterschicht bleibt dieser Schritt aber auch dort verwehrt (vgl. Voß und Wolter 2013: 42). Auf Jamaika ist Respektabilität neben der Konformität mit heterosexuellen Vorstellungen exklusive verknüpft mit dem kolonialen Erbe, dem Christentum und dem Nationalismus und der gesellschaftlichen Position der middle class, die sich dadurch von der Schwarzen working class abgrenzt (vgl. Ulysse 1999: 149). Untätigkeit von Regierung und Polizei Ein wichtiger Punkt im Diskurs gegen die Homophobie auf Jamaika ist der wiederholt geäußerte Vorwurf, die jamaikanische Politik und Polizei unternehme nichts gegen die Gewalt gegenüber Homosexuellen. Zentrales diskursives Ereignis ist der Mord am damaligen Vorsitzenden von J-FLAG, Brian Williamson, der im Juni 2004 ermordet in seiner Wohnung aufgefunden wurde. Auf Williamsons Ermordung reagieren nationale und internationale LGBTTIQ-Organisationen mit Anschuldigungen gegenüber dem jamaikanischen Staat, der seine homosexuellen Bürger_innen nicht schützen könne. Die Ermordung Williamsons wurde entgegen der Polizeimeldungen, die von einem Raubüberfall ausgingen, zu einem »Hate Crime« erklärt (Campbell 2004: A3). Williamson sei demnach getötet worden, weil er in der homophoben jamaikanischen Gesellschaft seine Homosexualität offen auslebte und sich zudem für die Rechte der LGBTTIQ-Gemeinschaft einsetzte: [T]he Jamaica Forum for Lesbians, All-Sexuals and Gays (J-FLAG), a group which Williamson founded, on Wednesday branded the killing a »hate-related crime«. Williamson, the group said, was »one of Jamaica’s most courageous human rights activists« who had been killed because he was a highly visible homosexual (»Gay Rights Activist Stabbed to Death« 2004: 13).
Ein Leserbrief weist darauf hin, dass es aufgrund der Gefahr, als homosexuell angesehen zu werden, nicht einmal wirklich möglich war, Trauer über die Ermordung von Williamson äußern zu können: »An open show of sympathy, or worse empathy, could ›sell the story‹ that like Brian, one is gay. And in Jamaica, gay is as good as dead« (Williams 2004a: 9). Das Verbergen der eigenen sexuellen Identität wird hier zur ausschlaggebenden Frage über Leben und Tod erklärt. Der jamaikanischen Bevölkerung, der Regierung um P. J. Patterson, der Kirche und der Polizei wird vorgeworfen, die Bürgerrechte von Homosexuellen zu ignorieren: »Where is the government, where is the church when we really need them to protect us?« (Porter 2004: 9).
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Die Situation auf Jamaika wird wie folgt beschrieben: »Jamaica is one of a few places in the western world where a majority of its citizens do not believe same-sex couples should have rights« (Mercier 2004: 9). Das wird auch in den Artikeln unterstrichen, die Ausschnitte aus dem HRW-Bericht vom November 2004 zitieren oder auf diese Bezug nehmen: »Human Rights Watch directly labelled the Patterson administration as a facilitator of abuse and told the government to act ›forcefully and quickly‹ to change course« (Clarke 2004a: 2). Immer wieder wird auf die Unsicherheit, der die jamaikanische LGBTTIQ-Gemeinschaft ausgeliefert ist, angespielt und auf die Ignoranz der Verantwortlichen hingewiesen, die zu einer »staatlich gesponserten Homophobie und Diskriminierung« geführt habe (Simpson 2004: A1): On the human rights group’s website, amnesty.org, a report entitled ›Crimes of Hate, Conspiracy of Silence‹, portrays Jamaica as a place where persons of homosexual orientation are unsafe, even with the police (»Leave Gays Alone« 2004: 3).
Das Wegsehen der jamaikanischen Politik kommt außerdem in Artikeln zum Ausdruck, die beschreiben, dass, abgesehen von der LGBTTIQ-Gemeinschaft, kaum jemand auf Jamaika über die Ermordung Brian Williamsons empört gewesen sei (vgl. Clunis 2004c: A3). Insbesondere das Schweigen des Premierministers wird kritisiert: »The Jamaican Prime Minister P. J. Patterson, has said nothing about Williamson’s murder. The entire Jamaican political establishment has ignored his horrific killing« (»London Mayor Joins Gay Fight« 2004: 2). Der Mangel an Anteil- und Kenntnisnahme vergegenwärtigt erneut, dass Homosexuelle auf Jamaika nicht als ein Teil des nationalen Kollektivs wahrgenommen werden: »Based on personal experiences and media reports, it is clear that gay people are not a part of ›one people‹« (Aphrodite 2004: A5). 21 Das habe sich auch nach der Ermordung Williamsons nicht verändert, wie ein Statement von J-FLAG im Juli 2004 beschreibt: »›Since Brian […] died there have been many people threatened. Even at the crime scene, there were those singing Boom Bye Bye and saying we going to kill them one by one‹, said the J-FLAG spokesperson« (»Homophobia Thriving in Jamaica« 2004: 4). Besonders schwere Vorwürfe wurden an die jamaikanische Polizei gerichtet. Sie sehe nicht nur weg, sondern unterstütze die homophoben Gewalttaten. Das wird insbesondere in Auszügen aus dem HRW-Bericht erläutert: Police abuse is a fact of life for many men who have sex with men and women who have sex with women in all of the communities that Human Rights Watch visited in Jamaica. […] 21 Auch wenn das hier zitierte, durch den kreolischen Nationalismus inspirierte, jamaikanische Nationalmotto Out of Many, One People dazu dient, eine Gemeinschaft trotz vieler Unterschiede zu formen, ist Diversität im Bereich der Sexualität kein Bestandteil des nationalen Kollektivs.
204 | D ANCEHALL UND H OMOPHOBIE [H]omophobic police violence can be a catalyst for violence and abuse by others. It is sometimes lethal (»Report: Gays Suffer in Jamaica« 2004: A7).
Der Diskursstrang drückt aus, dass der Staat seiner Funktion als Sicherheitsgarant der Staatsbürger_innen nicht nachkommt, wenn diese vom Modell des heterosexuellen Staatsbürgers beziehungsweise der heterosexuellen Staatsbürgerin abweichen. Stattdessen unterstütze er durch seine Gesetzgebung den Ausschluss einer Gruppe aus dem Kollektiv der Staatsbürger und -bürgerinnen. Wie sich diese Kritik äußert wird im folgenden Abschnitt aufgezeigt. Abschaffung der Buggery Laws Die Kritik am homophoben gesellschaftlichen Klima auf Jamaika und der Untätigkeit von Regierung und Polizei führte zur Forderung nach der Abschaffung der Buggery Laws. Neben der homophoben Dancehall-Musik werden die kolonialen Gesetze zur Regulierung von Sexualität als Hauptgrund für die starke Ablehnung von sexuellen Minderheiten betrachtet (vgl. Clunis 2004c: A3). In der Argumentation werden die Buggery Laws als juristische Stütze für Homophobie und Ausgrenzung von sexuellen Minderheiten gesehen. Wenn Homosexualität als Straftatbestand wegfalle, so die Sprecher_innen, werde es für Homosexuelle einfacher, ihre Menschen- und Bürgerrechte einzufordern: Repeal sections 76, 77 and 79 of the Offences against the Person Act, which criminalise sex between consenting adult men and are used as justification for harassment of men who have sex with men and HIV/AIDS educators working with them (»Human Rights Watch Proposal« 2004: A9).
Der Appell nach einem Widerruf der Buggery Laws kommt nicht nur in Zitaten der Berichte von AI, Outrage! und HRW vor, sondern wird auch von J-FLAG gefordert: Janthony Simmonds, spokesperson for the GLBT, told the Gleaner. »The government also needs to protect the GLBT community here and the only way to do that is to repeal Sections 76, 77 and 79 of the Offences against the Person Act«, said Simmonds (Plunkett 2004: A3).
Ferner wird beschrieben, dass AI Menschen aus aller Welt dazu aufrufe, Briefe an Premierminister Patterson zu schreiben, um diesen zu einer Gesetzesänderung zu bewegen (vgl. »Leave Gays Alone« 2004: 3). Ein Leserbrief im Jamaica Gleaner veranschaulicht den Zusammenhang zwischen der Kriminalisierung von Homosexuali-
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tät durch die »archaischen« Buggery Laws und der Schutzlosigkeit, der speziell Homosexuelle aus der lower class bei Begegnungen mit der Staatsmacht ausgeliefert sind: Such laws serve only to reinforce negative attitudes of intolerance and hatred, which causes discrimination and rampant abuse of homosexuals. Such archaic laws also encourage the police to intimidate and harass homosexuals. This is especially true in the case of the poor ghetto youth who, when suspected or caught in the act, is arrested, abused and humiliated in a way that his upper-class counterpart in upper St. Andrew is not. In short, the law as it now stands only creates and fosters social divisiveness and a very hostile environment for gays. There is definitely a link between the law and homophobia in Jamaica as rightly pointed out by HRW (McGrath 2004: A5).
Auch Mark Wignall, der Observer-Kolumnist aus der middle class, gibt zu, dass die Buggery Laws nicht mehr zeitgemäß sind, selbst wenn seine weiteren Äußerungen über Homosexuelle stark von Ablehnung und Stereotypen geprägt sind: Jamaica’s buggery laws are archaic and draconian. If two big, muscular hairy men want to tickle each other and play pillow fight and call each other »snookums« behind closed doors, it is none of your business and it certainly is not mine. I agree that any law which empowers the police to break down their doors and arrest them for buggery is outdated and must be repealed (Wignall 2004b: 8).
Das Recht auf selbstbestimmte Sexualität Der Diskurs artikuliert die Freiheit des Individuums, seine sexuelle Identität selbst auswählen zu dürfen und plädiert für eine offene Akzeptanz sexueller Diversität, deren Ausgrenzung als nicht mehr zeitgemäß angesehen wird (vgl. Mercier 2004: 9). Im Vordergrund steht dabei die Akzeptanz des Menschen unabhängig von seiner Sexualität (vgl. Kopka 2004: A4-5). Im Brief einer homosexuellen Leserin aus Kanada im Jamaica Observer wird dies folgendermaßen ausgedrückt: You might not like us, or embrace our sexuality, but we deserve the right to exist, without fear or prejudice in any society. Our sexuality does not define our purpose or goals or individuality for that matter. After all sexuality is a private matter between consenting adults (Creary 2004b: 9).
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Wird in diesem Brief noch der private Aspekt von Sexualität unterstrichen, geht der folgende Leserbrief aus dem Jamaica Gleaner noch weiter und fordert gleiche Bürger- und Menschenrechte für Homosexuelle und die Akzeptanz von Homosexualität, auch außerhalb von Verstecken und sozialen Nischen: Many gays and lesbians simply do not want to live a closeted existence. This is who they are. They are still the minority of our population. Many are tired of fighting the battle for basic civil and human rights. Many simply want to be recognised for who they are. As heterosexuals we are to be careful how we approach the subject. Homosexuals are caring and created in the likeness of God, and should be treated with love and respect (Omar 2004: A10).
Um Homosexualität überhaupt erst als eine mögliche Lebensweise zu präsentieren, wird diese zuerst, entgegen der verbreiteten Vorurteile, als etwas Normales dargestellt: »We are individuals like anyone else« (McDonnough 2004: 10). Gegen den Diskurs, der sexuelle Minderheiten als etwas von außerhalb der jamaikanischen Gesellschaft Kommendes präsentiert, werden Diskurspositionen eingenommen, die verdeutlichen, dass Homosexualität eine lange Geschichte und Tradition hat, keine biologische Abweichung darstellt und nicht nur auf Jamaika, sondern auch global seit Menschengedenken präsent ist: But homosexuality, despite its raised profile, is not just a fashion. It has existed forever (the Old Testament proves it, and if it didn’t exist in Jamaica this debate wouldn’t be taking place.) It is found not only among the birds and bees but animals and flowers. Studies document it on every continent, with investigations suggesting the numbers of gay people remain fairly constant from five to 10 people per hundred with the numbers rising to as many as 15 in big cities. (One wonders, under such circumstances, how religious opponents of homosexuality can presume their God doesn’t want such people here) (Kopka 2004: A5).
Normalität wird hergestellt, indem eine Position gegen nationalistische, biologische und religiöse Diskurse eingenommen wird, die in Homosexualität eine Normabweichung sehen. Homosexuelle sind in diesem Diskurs keine ›fremden‹ Menschen oder Importe des ›Westens‹, sondern seit jeher ein Teil des jamaikanischen Kollektivs, auch wenn das auf der öffentlichen Ebene nicht immer sichtbar sein mag: »Gays are your brothers and sisters, your family, friends and co-workers, and what’s funny, most Jamaicans just don’t know it. We are in every class, every sector, every imaginable profession and age group« (Creary 2004b: 9). Ferner wird Normalität hergestellt, indem Homosexuelle entgegen häufiger Annahmen als Bestandteil jamaikanischer Kultur beschrieben werden. Das findet in einem Brief des Literaturprofessors und Autors Thomas Glave statt, der anlässlich der Ermordung von Brian Williamson im Jamaica Gleaner abgedruckt wurde:
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In our private spaces we still love and make love to each other, we still tell jokes and drink, play cards and watch T.V. nyam our curry goat and brown stew chicken, go on bad and tek bad tings mek laugh. We still dream of love, like everyone else, and, when necessary, we take care of each other. If anything, Brian’s death should teach us all to do all these things even better (Glave 2004: G9).
Jamaikanische ›Normalität‹ wird hier erzeugt, indem gezielt spezifisch jamaikanische Nahrung, wie »curry goat« oder »brown stew chicken«, verzehrt wird. Durch das »take care of each other« wird außerdem die Teilnahme am respektablen und fürsorglichen Gemeinschaftsleben suggeriert. Darüber hinaus bedient sich Glave einer sprachlichen Mischung aus Jamaican Patwah und Englisch im Artikel. Er verwendet Wörter wie »nyam« anstatt eat und macht dadurch deutlich, dass sexuelle Minderheiten eben nicht von außen kommen, sondern wie gewöhnliche Jamaikaner_innen das Patwah der lokalen Bevölkerung sprechen und damit ein Teil von ihr sind. Liebe, Fürsorge, Humor oder Trinken, Lachen, Kartenspielen und Fernsehen haben die Funktion, Homosexualität und Normalität auf einen Nenner zu bringen und heterosexuellen Jamaikaner_innen eine Identifikations- und Empathiebrücke zu sexuellen Minderheiten zu bieten, die sonst rein auf ihr ›deviantes‹ Sexualverhalten reduziert werden. An die jamaikanische Mehrheitsbevölkerung wird nebenbei appelliert, gesellschaftlichem Wandel mit Offenheit zu begegnen und sich nicht vor Veränderungen zu verschließen. Das drückt sich in Äußerungen aus wie: »Jamaica needs to wake up and get with the time« (McDonnough 2004: 10), »Jamaica, it is time to move on and rejoice in the diversity of your population – that includes gay people« (Ericksen 2004: 9) und »People do have a right to live how they choose and Jamaica is one of a few places in the western world where a majority of its citizens do not believe same-sex couples should have rights« (Mercier 2004: 9). Wörter, wie »move« und »wake up«, suggerieren Wandel und stehen im Gegensatz zu einer vermeintlich stillstehenden jamaikanischen Gesellschaft. Zusammenhang zwischen Homophobie und Rassismus Ein weiterer Diskursstrang versucht, Parallelen zwischen Homophobie und Rassismus herzustellen. Der Diskurs manifestiert sich unter anderem in Peter Tatchells Forderung, Homophobie in derselben Weise zu verurteilen wie Rassismus und Antisemitismus: »[Tatchell] argues that if any singer had done songs about killing Jews or Blacks they would be treated harshly, so dancehall acts should be criticized for doing the same thing about gays« (vgl. »Not a Gay Time. Outrage’s Leader Gets Death Threats« 2004: 11). Dabei baut die Argumentation darauf auf, dass der Groß-
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teil der Schwarzen jamaikanischen Bevölkerung Erfahrungen mit Rassismus gemacht hat und so eine Empathie mit von Homophobie betroffenen Menschen erzeugt werden kann: What people want from Beenie Man and others like him is civilized behavior; to preach love instead of hate and to try to understand that we are not all exactly alike. As a black man, Beenie Man should at least be aware of the last. WE have suffered enough by being singled out by the haters (Maxwell 2004c: 9).
John Maxwells Äußerung bezieht sich auf die Schwarze Erfahrung von kolonialem Rassismus und Plantagensklaverei. Sie dient ihm als Grundlage dafür, andere Diskriminierungen erkennen und kritisieren zu können. Dasselbe erwartet Maxwell vom Künstler Beenie Man. Der Diskurs zeigt ferner auf, inwieweit sich die strukturellen Muster der beiden menschenverachtenden Einstellungen Rassismus und Homophobie ähneln (vgl. Kopka 2004: A4). Insbesondere der Prozess des Othering und die Möglichkeit, sich auf diese Weise als privilegiert von einem abgewerteten ›Anderen‹ abgrenzen zu können, wird dabei hervorgehoben und mit weiteren menschenfeindlichen Einstellungen in Verbindung gebracht: »The root cause of sexism, racism, homophobia, ageism, classism and other social ills is firmly rooted in a history that systematically created the »other« in order to maintain the privileges of some others« (Simms 2004: G7). Phänomene wie Rassismus und Homophobie werden aufgrund ihrer gemeinsamen Basis in Ignoranz, Angst vor dem ›Anderen‹ und Vorurteilen erläutert (vgl. Creary 2004b: 9; Kopka 2004: A4). Als Lösungsweg aus der Hass stiftenden Ignoranz wird Aufklärung und Bildung angeführt (vgl. Omar 2004: A10). Die homophoben Einstellungen auf Jamaika werden außerdem von verschiedenen Akteur_innen mit der Herrschaft des Nationalsozialismus und Adolf Hitlers verglichen. Dabei geht es weniger um historische Parallelen, die aufgrund des kolonialen Kontextes und der Spezifität des deutschen Antisemitismus nicht möglich sind, als vielmehr um die Verwendung eines allgemein bekannten Kollektivsymbols für Hass, Ausgrenzung und Auslöschung von als den ›Anderen‹ konstruierten Menschengruppen. Die Symbolik wird sowohl von Outrage!-Sprecher Peter Tatchell als auch von LGBTTIQ-Aktivist und Autor Thomas Glave verwendet. Ersterer vergleicht eine mögliche Visumvergabe an den Rastafari-DJ Sizzla (Miguel O. Collins) 2004 mit einer Einreiseerlaubnis Adolf Hitlers in das Vereinigte Königreich, nachdem dieser versprochen hätte, keine Jüd_innen mehr zu ermorden: Even though Sizzla signed a document guaranteeing he would not sing homophobic lyrics while in the U.K., Tatchell maintained in the radio interview that »it would be a bit like inviting
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Adolf Hitler to Britain in 1939, so long as he promised not to kill any more Jews« (Roache 2004: E7). 22
Durch Tatchells Aussage wird der Rastafari-Künstler Sizzla zu einem politischen Agitator und wichtigen Entscheidungsträger in Sachen Homophobie auf Jamaika. Auch Thomas Glave zieht Vergleiche zwischen der Ablehnung von Homosexuellen auf Jamaika und dem Umgang mit Jüd_innen im nationalsozialistischen Deutschland. Er bedient sich aber, im Gegensatz zu Tatchell, nicht der Symbolik Adolf Hitlers, sondern spielt auf die Situation des Versteckens und der Verfolgung an: »We are Nazis towards lesbians and gay men, but Hitler’s fury didn’t wipe out all the Jews, and Jamaica’s rage won’t kill all of us« (Glave 2004: G9). Interessant ist, dass in beiden Diskursfragmenten aus Jamaikaner_innen, die selbst von kolonialem Rassismus betroffen sind, Nationalsozialist_innen werden. Letztere können als die Verkörperung einer Extremform von Rassismus und weißen, mit eliminatorischen Vorstellungen versehenen Überlegenheitsfantasien betrachtet werden. Eine andere Rassismus und Homophobie verknüpfende Position nimmt ein Artikel von Matthew Kopka im Jamaica Gleaner ein. In seiner Argumentation verbinden sich Rassismus und Homophobie im Oktroyieren von »weißer Kultur« auf die Kolonien: There is much more reason to say that intolerance of homosexuals especially in its current ideological manifestation is an imposition of white culture on African culture and the cultures of African diaspora than that Europeans or Americans are somehow (suddenly) demanding practices foreign to Black people. Homophobia, much more than any love of gay people, is the Euro-American export (Kopka 2004: A4).
Seine Argumentation richtet sich gegen die Annahme und den Diskurs, dass Homosexualität ein (neo-)koloniales Importprodukt in afrikanische / afrokaribische Gesellschaften sei. Sie bringt zum Ausdruck, dass es sehr wohl Homosexualität vor der Kolonialisierung in Afrika gab und Heteronormativität als Bestandteil von Jamaicanness und Blackness, wie beide in den Medien und der Dancehall repräsentiert werden, eine gegenwärtige Ideologie und eigentliche Folge der kolonialen Auferlegung seien. Das heißt, dass letztendlich die Homophobie das Produkt ist, das ursprünglich von außen nach Jamaika gebracht wurde.
22 Peter Tatchell bestätigte die Äußerung im persönlichen Interview 2011.
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Homophobe Gewalt in der Dancehall Im Diskurs gegen Homophobie in den jamaikanischen Medien und für die Rechte der LGBTTIQ-Gemeinschaft auf Jamaika wird thematisiert, dass Dancehall-Musik zur Gewalt und im Extremfall sogar zur Ermordung von Homosexuellen aufruft (vgl. Leigh Campbell 2004: 18). Die »anti-gay lyrics« (Williams 2004b: 3) der Dancehall und das »musikalische Gay Bashing« (Simms 2004: G7) werden als wichtige Grundlage für die Homophobie und die Gewalt gegenüber Homosexuellen betrachtet. Im Zuge der Ermordung Brian Williamsons schreibt ein anonymer Leser an den Jamaica Gleaner: The perpetrators of this crime are products of this environment that fosters hatred of gay people. They have heard countless songs calling for violence against gay people on the radio, at dances and at concerts. We have heard Beenie Man, Sizzla, Spragga Benz, Buju Banton, T.O.K. etc. say repeatedly that gay people should be killed (Heterosexual against homophobic attacks 2004: A5).
Auch wird von »Boom Bye-Bye« singenden Schaulustigen am Tatort nach Brian Williamsons Ermordung berichtet (vgl. »Homophobia Thriving in Jamaica« 2004: 4). Der Vorwurf, Dancehall-Musik rufe zur Gewalt und zur Ermordung von Homosexuellen auf, wird in den Medien in Zitaten der britischen LGBTTIQ-Organisation Outrage! zum Ausdruck gebracht. Insbesondere Ausdrücke wie »Black hate singers« (Cooke 2004b: A4) und »Murder Music« (»Aussie Paper Calls Reggae ›Murder Music‹« 2004: 13), der der internationalen Kampagne ihren Namen gab, schaffen eine diskursive Verbindung zwischen der Gewalt gegen sexuelle Minderheiten auf Jamaika und den aggressiven homophoben Lyrics der Dancehall-Deejays. Zitate von Outrage! tauchen in Artikeln auf, die Aktionen, Boykotts und Kritik an jamaikanischen Entertainern im Ausland beschreiben. Das vollzieht sich in Berichten, deren genereller Tenor auf Seiten der Künstler ist oder die von Medien im Ausland geschrieben wurden. Ein Beispiel dafür ist ein Beitrag über Konzertabsagen des Rastafari-Künstlers Capleton in Los Angeles und San Francisco: Gay activists there vowed to protest the concert of the Jamaican native, whose lyrics have suggested gays be hanged, drowned, burned or shot. Among his songs is one with the Jamaicandialect lyrics, Bun Out Di Chi Chi, which translates to »burn out gay man« (»›Fireman‹ Scorched« 2004: 11).
Ähnliche Artikel erschienen, als die Künstler Vybz Kartel und Beenie Man mit der Begründung, sie würden zur Gewalt und zur Ermordung von Schwulen und Lesben
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aufrufen, von den Urban Music Awards in London ausgeschlossen wurden (vgl. »Beenie Man, Vybz Kartel Blacklisted« 2004: A1). Außerdem wurde der Ausschluss der Deejays Elephant Man und Vybz Kartel bei den MOBO Awards, ebenfalls in Großbritannien, wie folgt im Jamaica Gleaner dargestellt: The run-up to this year’s MOBO awards was overshadowed by a row over two Jamaican reggae singers nominated for awards, whom gay rights campaigners accused of inciting violence against homosexuals with their lyrics. Elephant Man and Vybz Kartel, who were nominated for the ›Best Reggae Artiste‹ category, were stripped from the list of nominees after failing to apologize in writing anti-gay lyrics. Gay rights group OutRage! said the offensive lyrics included Elephant Man’s B…man fi dead!, which the group said meant »Queers must be killed!« (»US Artistes to Top UK Black Music Awards« 2004: E7).
Einige der Artikel enthalten Auszüge aus homophoben Lyrics der Künstler, teilweise auch mit der Übersetzung ins Englische. Die expliziten und pejorativen Bezeichnungen werden, wie beispielsweise batty man, oft in zensierter Form als »B…man« in der Presse wiedergegeben (»US Artistes to Top UK Black Music Awards« 2004: E7). Outrage! und deren Sprachrohr, Peter Tatchell, betonen den Zusammenhang zwischen der Gewalt gegen Homosexuelle und Dancehall-Musik in unterschiedlichen Briefen und Meldungen auf der Homepage der Organisation, die vielfach in den jamaikanischen Medien zitiert werden (vgl. Leigh Campbell 2004: 18; »One Love? Uproar over Anti-Gay Lyrics Stirs Controversy« 2004: 3). So wird unter anderem aus einem Brief von Outrage! an Scotland Yard zitiert, den die Organisation im Anschluss an die Ermordung von Brian Williamson verfasst hat: Beenie Man’s UK concert takes place just two weeks after the horrific murder of Jamaican Gay activist Brian Williamson, who was hacked to death in Kingston. His murder occurred in an atmosphere of homophobic hatred stirred up by the anti-gay dancehall lyrics of singers like Beenie Man (Leigh Campbell 2004: 18).
Beenie Mans Dancehall-Lyrics werden so in eine direkte Verbindung mit der Ermordung des Aktivisten Williamson gesetzt. Dancehall-Musik dieser Art habe, so das Zitat, »homophoben Hass« heraufbeschworen. Auch Vertreter_innen von J-FLAG thematisieren den Zusammenhang zwischen homophober Populärkultur und der Gewalt gegen Homosexuelle. Interessanterweise sehen sowohl Vertreter_innen aus der jamaikanischen middle class als auch J-FLAG-Aktivist_innen in den Deejays die falschen Vorbilder. Ersteren geht es um die allgemeine Gewalt in der Gesellschaft, Letzteren um Homophobie:
212 | D ANCEHALL UND H OMOPHOBIE J-FLAG, Jamaica’s sole gay rights group, says it has received dozens of reports of abuse against gays this year and says dancehall lyrics are a factor. »These artists are Jamaica’s role models. If you grow up hearing songs saying ›burn gay people‹, of course that’s going to have an effect«, said a J-FLAG spokeswoman, who asked not to be named for fear of retribution (»One Love? Uproar over Anti-Gay Lyrics Stirs Controversy« 2004: 8).
Dabei wird insbesondere von J-FLAG geäußert, dass es nicht darum geht, ein musikalisches Genre zu stigmatisieren, sondern gewaltverherrlichende Texte gegen sexuelle Minderheiten nicht als kulturell akzeptable Praktik zu entschuldigen: »It is not a campaign against the music, just the lyrics. Too many people excuse this type of prejudice as acceptable because it’s culture« (Kavelle 2004: 6). Die anonyme Sprecherin von J-FLAG führt die Funktion der Dancehall-Deejays als Vorbilder in der jamaikanischen Gesellschaft an. Interessanterweise taucht das Motiv der falschen Vorbilder ebenfalls in anderen Diskursen auf. Es gehört sowohl zum allgemeinen gesellschaftlichen Krisendiskurs als auch in den Diskurs, der sich gegen die gewaltverherrlichende Aspekte von Dancehall ausspricht. Letzterer ist in der jamaikanischen Gesellschaft weit verbreitet, kommentiert aber Feindseligkeiten gegen sexuelle Minderheiten kaum. Nicht zuletzt sehen zahlreiche Jamaikaner_innen, die Homosexualität ablehnen, im Genre Dancehall einen Grund für die hohe Gewaltbereitschaft und Mordrate in der jamaikanischen Gesellschaft. Entscheidend ist, dass sich hier Anknüpfungspunkte und gemeinsame Argumentationsstrategien finden, in denen sich die Argumentation gegen Homophobie mit der allgemeinen Kritik an Dancehall auf Jamaika sowie dem Krisendiskurs, der den Verfall der Gesellschaft und einen Mangel an guten Vorbildern beklagt, verbindet.
D ER D ISKURS GEGEN D ANCEHALL Obwohl Dancehall-Musik im frühen 21. Jahrhundert die populärste Repräsentation jamaikanischer Populärkultur darstellt, steht das Genre aus den Armenvierteln Kingstons im eigenen Land permanent in der Kritik. 23 Für seine Kritiker_innen symbolisiert das Genre das Gegenteil von respektabler Staatsbürgerschaft und wird deshalb häufig als Sündenbock für zahlreiche soziale Missstände herangezogen.
23 Donna Hope beschrieb im persönlichen Interview 2011 die Konfliktsituation um Dancehall folgendermaßen: »Dancehall is and has been for more than twenty years the biggest external reflection and representation of Jamaican identity. I try to understand and explain it, because even for many Jamaicans Dancehall is a hidden category. They look at it and they reject it or they shy away from it. The religious groups have usually one line that they
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Im Folgenden wird der Diskurs, der sich kritisch bis ablehnend gegenüber dem Genre und der Dancehall-Subkultur ausdrückt, in seinen Bestandteilen aufgezeigt. Die Gemeinsamkeit der vielen Diskursstränge ist das Bild einer sich im Zerfall befindenden jamaikanischen Gesellschaft. Dancehall wird insbesondere deswegen kritisiert, weil es sowohl als Symptom als auch als Ursache einer tiefen gesellschaftlichen Krise wahrgenommen wird, die, wie dargestellt, auch im antihomosexuellen Diskurs artikuliert wird. Ferner werden im Diskurs gegen Dancehall Maßnahmen aufgezeigt, die zur Bekämpfung von »negativem Dancehall« 24 (Boyne 2004a: G6) genutzt werden können. Wesentliche Diskursstränge dieses Überdiskurses sind: 1. 2. 3. 4. 5. 6.
Gewaltverherrlichung und Kriminalität. Dancehall ist vulgär. Sexismus und Misogynie. Falsche Vorbilder. Die Notwendigkeit von Allianzen. Dancehall ist kein wertvolles Kulturgut.
Gewaltverherrlichung und Kriminalität Ein wesentlicher Kritikpunk an der Dancehall-Kultur bezieht sich auf die Lyrics und Performances von Deejays, die Gewaltbereitschaft glorifizieren und gewaltsame Handlungen besingen oder gar auf der Bühne darbieten. Das Zelebrieren und positive Inszenieren des Daseins als Gangster_innen wird, insbesondere von Intellektuellen der middle class, kritisiert. Vor allem der Kolumnist Ian Boyne setzt sich mit diesem Element 2004 ausführlich auseinander. Er wendet sich im Gleaner gegen die live im Fernsehen übertragenen Ausschreitungen beim Sting Festival im Dezember 2003, auf die nachfolgend eingegangen wird. Das Sting Festival ist auf Jamaika seit Jahren äußerst bekannt, da dort jährlich der »Lyrical Gladiator« der Dancehall in einem hitzigen Wettkampf der Worte zwischen unterschiedlichen, rivalisierenden Deejays ausgetragen wird (Hope 2004c: A10). Im Jahr 2003 war es zu einem verbalen Schlagabtauschs zwischen dem Deejay-Veteranen Ninjaman und dem damals aufstrebenden Youngster Vybz Kartel gekommen, der in einem Faustkampf zwischen den beiden Entertainern endete. Im aufgestachelten und eifernden Publikum kam es anschließend zu Tumulten und Flaschenwürfen parole: ›It is the devil’s work. It is immoral. And therefore it should not exist‹« (Hope 2011b). 24 Ian Boyne macht durch die Verwendung des Begriffs »negative Dancehall-[Musik]« deutlich, dass er das Genre nicht grundsätzlich ablehnt, sondern seine Kritik auf bestimmte Künstler_innen abzielt: »Dancehall is not all bad and is not all negative. Let me get that out of the way before the apologists come with their lame rebuttals« (Boyne 2004e: E8).
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zwischen den jeweiligen Anhänger_innen der beiden Deejays, die durch die spontane Absage des Konzertauftritts von Bounty Killer zusätzlich verärgert waren. Die gewaltsamen Ausschreitungen auf dem Festival wurden anschließend ausführlich in der jamaikanischen Presse diskutiert und teilweise als Blamage von nationalem Ausmaß beklagt (vgl. Boyne 2004e: E7). Ian Boyne nimmt deshalb nach dem Festival kein Blatt vor den Mund: »The nastiness, crudeness and promotion of criminality in dancehall culture zoomed into middle and upper class homes across Jamaica forcing the sanitized to see what takes place below« (Boyne 2004e: E7). Das Zitat veranschaulicht, wie Boyne das Epizentrum von Gewalt, Kriminalität und Krise in der jamaikanischen lower class ausmacht. Deren verfehltes Verhalten ist es, das als Entertainment über die Fernsehkanäle live in die Wohnzimmer der upper class übertragen wird. Der Diskurs um die Gewaltverherrlichung und die Glorifizierung bestimmter Formen von Kriminalität in der Dancehall porträtiert die Deejays als »gun lyric hawks« (Boyne 2004b: G8) und Verbreiter_innen von Hass und Anarchie, die Gesetze und die gesellschaftliche Ordnung aus den Fugen bringen (vgl. Boyne 2004e: E8; Boyne 2004a: G1; Maxwell 2004d: A5). Anstatt Einheit zu schaffen, wird ihnen vorgeworfen, Gewalt zu katalysieren und die Gesellschaft zu teilen: »For too long our entertainers have been promoting crime and violence, hate and division in our society« (Townsend 2004: 9). Das wird ebenfalls in einem weiteren Beitrag von Ian Boyne deutlich, in dem der Journalist Dancehall die Fähigkeit abspricht, positiven gesellschaftlichen Wandel für Schwarze Jamaikaner_innen erzeugen zu können: When dancehall glorifies the shotta who »nuh tek foolishness and dissing«; when it encourages youth and youth to kill because disrespect was shown to their women, when it intimidates the informers needed to stop crime in Jamaica and when it promotes the »who badda than who« contest, how is that advancing us as black people? (Boyne 2004a: G6).
Viele Beiträge wenden sich explizit gegen die auf Bühnen und in Songtexten inszenierte »Glorifizierung von Gewalt« (Boyne 2004e: E7). Dabei geraten neben den Texten insbesondere Stageshows, wie das alljährige Sumfest oder das erwähnte Sting Festival, in die Kritik, bei denen das Publikum »gun talk«, »badness« und »slackness« auf der Bühne dargeboten bekommt und gewaltbereite, aggressive Männlichkeit, verkörpert in der Figur des shotta oder des gunman, gefeiert wird (Boyne 2004e: E8). Gelegentliche Auseinandersetzungen zwischen rivalisierenden Künstler_innen und die erwähnten Ausschreitungen, dienen als Beweis für die »Geschichte der Gewalt« des Sting Festivals, dem seine Funktion als Entertainment, insbesondere für die Schwarze working class, abgesprochen wird (Boyne 2004e: E8). Wie bei der Interpretation durch die LGBTTIQ-Verbände, werden Dancehall-Lyrics als konkrete Aufrufe zu Straftaten, Gewalt und Mord gelesen, die zu einer »promotion of violence« in der jamaikanischen Gesellschaft führen (Lawrence 2004: A5).
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Gewaltsame Ausschreitungen bei Dancehall-Veranstaltungen werden dafür als Beweis herangezogen. Dancehall-Lyrics sind in diesem Fall keine bloße Beschreibung der sozialen Umstände in den ›Ghettos‹ von Kingston oder eine künstlerische Performance. Ihnen wird attestiert, dass sie selbst soziale Realität und Handlungen von Akteur_innen bestimmen, und sie verankern somit, durch das Zelebrieren von Gewalt, diese in der Gesellschaft. Kritisiert wird ferner das von Doppelmoral bestimmte Verhalten zahlreicher Sponsoren. Angeführt wird, dass viele Firmen finanziell von Massenveranstaltungen, wie dem Sting und dem Sumfest, profitieren, bei denen gewalttätiges Verhalten von Dancehall-Deejays zelebriert wird (vgl. Boyne 2004a; Boyne 2004e). Boyne demonstriert das durch Vybz Kartels Ankündigung beim Sting 2003: »Vybz Kartel, before he reeled of some favourite gun lyrics, told his audience bluntly: ›This is not Heineken Startime: it is Guiness Wartime‹. Weel!« (Boyne 2004e: E8) Die populären Biermarken Guinness und Heineken sind nur zwei Beispiele für multinationale Unternehmen, die ihre Produkte durch Künstler_innen, die in den ärmeren Innenstadtgebieten große Popularität genießen, bewerben. Häufig sind die Werbeträger_innen oder deren Stadtviertel in die kriminellen außerstaatlichen Strukturen verstrickt und preisen nicht nur Produkte wie Heineken oder Guinness an, sondern auch die dons in ihren Songtexten bei Liveshows. Berühmte dons und deren Rolle für gesellschaftlichen Frieden werden zum Beispiel in Spragga Benz’ Lied »Peace« (1998) angesprochen: Peace is when Dudus a bun him chalice up a Zeeks Peace is when no gun nuh buss fi weeks pon top a weeks Peace is when police dem get an ease and nuh haffi run like dem a thief Because we gunfire cease (Spragga Benz 1998).
Ein Ende der Gewalt wird im Lied vom Verhältnis der beiden area leader, Christopher »Dudus« Coke aus Tivoli Gardens und Donald »Zeeks« Phipps aus der Matthews Lane in West-Kingston, abhängig gemacht. Treffen sich die beiden dons zum gemeinsamen Kiffen, herrscht Friede in Kingston, so Spragga Benz. Ian Boyne kritisiert 2004 im Gleaner die Verbindung von Dancehall-Künstler_innen und dons. Er verurteilt die musikalische Anerkennung, die Kriminelle und Bandenoberhäupter aus diversen Stadteilen in den Lyrics und von Soundsystembetreiber_innen erfahren: [L]et us keep up the fight against those who are using our culture to reinforce the worst in us. Let us vehemently oppose those who are verbally supporting the criminals and dons who are holding our people in bondage and snuffing out our lives daily (Boyne 2004a: G6).
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Dancehall wird in diesem Falle nicht nur als Medium diffamiert, das auf der Bühne Gewalt darstellt und Kriminalität promotet, sondern auch aktiv in realexistierende Gewaltverhältnisse verstrickt ist und Unterstützung von krimineller Seite erfährt (vgl. Boyne 2004g: G9). Das Zitat veranschaulicht darüber hinaus die Deutungskämpfe um Kultur und kulturelle Identität auf Jamaika, die je nach Position der Akteur_innen anders ausgelegt wird und unterschiedliche Ein- und Ausschlusskriterien beinhaltet. Dancehall ist vulgär Ein weiterer Kritikpunkt an Dancehall-Musik ist die Vulgarität, die zahlreichen Künstler_innen vorgeworfen wird. Die Songtexte bedienen sich einer »unanständigen Sprache« (Johnson 2004: G1). Sie schildern explizite sexuelle Praktiken oder widmen sich der Beschreibung von Körperteilen und Genitalien. Aufgrund dieser »öffentlichen Zurschaustellung von Vulgarität« (Johnson 2004: G1) werden die Lyrics von vielen Jamaikaner_innen als anstößig, vulgär und obszön angesehen und abgelehnt (vgl. Boyne 2004e: E7, 8). Die sexuellen Performances von Künstler_innen und Tänzer_innen brechen bewusst mit dem Verständnis von »repressiver« respektabler (weiblicher) Sexualität, das insbesondere von der upper und middle class eingefordert wird (Cooper 1994: 11). Anstelle von passiver weiblicher Heterosexualität, die häufig mit Mutterschaft verbunden ist, stellen die Künstlerinnen sexuelle Ansprüche an die jamaikanische Männerwelt, wie beispielsweise Tanya Stephens in ihrem Song »Yuh Nuh Ready Fi Dis Yet« (1995) oder Macka Diamond in ihrem Duett »Bun Him« (2004) mit Black-er. 25 Werden die sexuellen und emotionalen Bedürfnisse nicht erfüllt, werden auf der Bühne Seitensprünge, Trennungen und Gerichtsverfahren als Waffen der Frau von den Künstler_innen propagiert. Trotz der zahlreichen Kritik an Dancehall-Musik sind für das jamaikanische Publikum gerade die Auftritte und Performances von Entertainer_innen, die (sexuelle) Normen überschreiten und provozieren von besonderem Interesse: »But what else attracts the biggest crowds in Jamaica but dancehall music, particularly when it exhibits riotous indecency and vulgarity?« (Johnson 2004: G1). Wie schon im Diskurs um die Gewaltverherrlichung von Dancehall spielt das Festival Sting und die dortigen Performances eine große Rolle in der Diskussion um Vulgarität. Der Journalist Ian Boyne kritisiert bei Sting auch die Vulgarität und deren Reiz für die Massen, die zu Dancehall-Events kommen: »They want to hear Lady
25 To give bun bedeutet im Patwah jemanden sexuell zu betrügen. Der Song von Macka Diamond und Black-er kann als Aufforderung an Frauen gelesen werden, schlechte Behandlung und Vernachlässigung mit Betrug des Partners zu beantworten: »Macka bun him (Wuy!), tek man pon him, tek di house and land and run it (Well) / Bun him (Wuy!), tek man pon him, tek di car and van and run it (Well)« (Diamond feat. Black-er 2004).
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Saw and the ›bruk out, skin out‹ female artistes who can best describe their anatomical make-up« (Boyne 2004e: E8). Lady Saw (Marion Hall) ist eine Künstlerin, die insbesondere durch sexuell explizite Performances von sich reden macht. Sie wird als Befürworterin von slackness kritisiert, artikuliert aber in ihren Lyrics eine spezielle Position Schwarzer Weiblichkeit, die ansonsten kaum Gehör erfährt: »In many ways, therefore, and especially in her verbal discourse, body language and stage act, Lady Saw has come to represent the voice of the inner-city and working class Black woman« (Tafari-Ama 2008: 151). Carolyn Cooper beschreibt Lady Saw folgendermaßen: »The flamboyantly exhibitionist DJ Lady Saw epitomizes the sexual liberation of many African Jamaican working-class women from airy-fairy Judaeo-Christian definitions of appropriate female behavior« (Cooper 2004a: 99). Für Cooper »verkörpert« Lady Saw auf der Bühne »das Erotische« (Cooper 2004a: 99). Sie argumentiert, dass bei Diskussionen um Vulgarität häufig unangemessene Weiblichkeit der Stein des Anstoßes ist. Das Sting Festival wird von Boyne sinnbildlich als »alljährliche Orgie der Vulgarität« beschrieben (Boyne 2004e: E7). Hier wird unmissverständlich erkennbar, wie Dancehall-Kultur als ein Ort der (sexuellen) ›Dekadenz‹ und Normüberschreitung konstruiert wird. Für die Verbreitung der Vulgarität werden unter anderem die Künstler_innen verantwortlich gemacht, die als »purveyors of vulgarity« charakterisiert werden (Boyne 2004e: E8). Laut Ian Boyne, dem Journalisten aus der middle class, unterstützen jamaikanische und internationale Firmen, die Sting und andere Festivals finanzieren, Obszönitäten auf der Bühne und machen sexuell Anzügliches zum Aushängeschild der Festivals: »This show [is] trademarked for vulgarity, the promotion of violence and some of the worst aspects of Jamaica« (Boyne 2004e: E7). In seinen Augen werden durch Dancehall-Events dieser Art die negativen Seiten von Jamaika hervorgehoben und verstärkt. Auch beim Sumfest wird von einer »weitverbreiteten Vulgarität« gesprochen, die von »mehreren Künstlern während ihrer Performances auf der Bühne zur Schau gestellt wurde« (Johnson 2004: G1). Vulgarität wird als ›unzivilisiertes‹ Verhalten angesehen, das sich negativ auf die jamaikanische Kultur auswirkt: »We have long allowed vulgarity and incivility to fester and become an entrenched aspect of our cultural discourse. Where our citizens have not acted, our artistes have rushed in and have become our unapologetic spokespersons« (Johnson 2004: G5). Sowohl Boyne als auch Hume N. Johnson sehen die Verantwortung aber nicht alleine bei den Künstler_innen, sondern kritisieren das von Doppelmoral geprägte Verhalten von Sponsoren und unterschiedlichen Teilen der Gesellschaft, die Vulgarität je nach Kalkül kritisieren oder von ihrer Kommodifizierung profitieren. Thematisiert Vulgarität lediglich die Anstößigkeit von Dancehall-Performances und Songtexten, setzt sich der Diskurs um Sexismus und Frauenfeindlichkeit mit konkreten Diskriminierungsprozessen, die in der Subkultur auf Jamaika stattfinden, auseinander.
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Sexismus und Misogynie Stärker als homophobe Inhalte werden in den jamaikanischen Printmedien Dancehall-Texte kritisiert, die Frauen abwerten beziehungsweise Weiblichkeit und weibliche Sexualität auf vulgäre Art und Weise porträtieren (Maxwell 2004d: A5). Hier verknüpfen sich feministische Argumentationen gegen Sexismus in Teilen mit konservativen Vorstellungen bezüglich der Rolle von weiblicher Sexualität und gegen Vulgarität. Im Zentrum der Kritik steht dabei der Begriff slackness. Darunter fallen gewöhnlich sowohl männliche Deejays, die über ihre sexuellen Errungenschaften und ›Beutezüge‹ singen, als auch explizite Lyrics und Performances von weiblichen Deejays wie beispielsweise Lady Saw. Primär konzentriert sich die Kritik an slackness in der Presse auf zwei Faktoren: Erstens die Reduktion von Frauen auf Sexobjekte und zweitens die Übertretung von sozial akzeptierten Modellen von Weiblichkeit. Männer als Objekte eines aggressiven Begehrens, wie sie in den Lyrics weiblicher Deejays auftauchen, sind kein Gegenstand der Sexismuskritik in der Presse. Im Jugendmagazin Youthlink des Gleaner appelliert ein Leserbriefschreiber, der sich kritisch mit dem Songtext »Tek Budy Gal« (2004) von Vybz Kartel beschäftigt, an die jamaikanischen Frauen: »Ladies, do you feel good as women supporting that song? Womanhood is not about being a man’s sexual dolly. Our women deserve better« (Renee 2004: 4). In diesem Kontext werden Dancehall-Lyrics lediglich als Abwertung von Frauen und gleichzeitige Aufwertung von maskuliner Heterosexualität angesehen (vgl. Simms 2004: G1). Neben quasi pornografischen Texten wird Dancehall-Musik vorgeworfen, den Penis als Waffe zu zelebrieren, mit dem Frauen zu erobern oder gar zu erniedrigen sind (vgl. Simms 2004: G1). Die Musik legitimiere außerdem »date rape« und sexuellen Druck auf Frauen (Simms 2004: G1). Das würde wiederum begünstigt durch ein Bild von Frauen als Objekte oder gar »Huren« (Boyne 2004g: G9), die Männer je nach Belieben sexuell ausbeuten können. Ian Boyne spricht in diesem Zusammenhang von »sex-ploitation« (Boyne 2004g: G9) und positioniert sich folgendermaßen: I have always maintained a consistent critical line against negative dancehall for a number of years, focusing on its violent lyrics, its objectification and demeaning of women as well as its obsession with bling bling culture and crude consumerism (Boyne 2004b: G8).
Der Diskurs um Sexismus und Misogynie wird zu einem kleinen Teil auch durch Zitate von Outrage! in der Presse getragen: »Peter Tatchell, its founder remarked that they have ›dragged‹ reggae into a ›cesspit of homophobia and misogyny‹« (Taylor 2004: A9). Der Begriff Misogynie wird gleichzeitig von anderen Autoren relativiert, verdreht und zur Verhöhnung von Homosexuellen verwendet: »Let’s break down the
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big word ›misogyny‹. This is ›an exaggerated pathological aversion (dislike) towards women‹. Although not quite the same as being usually attracted to men, a homosexual using the term is amusing« (Taylor 2004: A9). In der Misogynie-Definition, die Orville W. Taylor im Gleaner anführt, wird Frauenfeindlichkeit als der Mangel an sexuellem Begehren für Frauen gelesen. Solche Kommentare konstruieren ein Frauenbild, das von männlicher heterosexueller Begierde abhängig ist. Die Aneignung, Entwertung und Neuverwendung von Begriffen aus dem Gegendiskurs, wie sie in diesem Beispiel stattfindet, ist eine rhetorische Strategie. Sie ermöglicht, Begriffe aus dem Gegendiskurs gegensätzlich ihrer ursprünglichen Intention zu verwenden. So können aus Opfern beispielsweise Angreifer_innen werden, wenn der Begriff gay bashing plötzlich zu »Bible-Bashing« wird (Boyne 2004c: G9). Es lässt sich generell feststellen, dass der Diskurs um Sexismus und Frauenfeindlichkeit im Jahr 2004, abgesehen von Glenda Simms, von Männern und Stimmen aus dem Ausland getragen wird, die repräsentativ für diskriminierte jamaikanische Frauen sprechen. Dabei kommt es zu Interessenverschiebungen. Anstatt Sexismus aufzuzeigen wird oft nur respektable Sexualität eingefordert oder Misogynie unterstellt, um homosexuelle Männer und deren fehlendes Begehren für Frauen zu diffamieren. Falsche Vorbilder Dancehall-Musik verherrlicht in den Augen vieler Jamaikaner_innen Gewalt und kriminelle Maskulinität, feiert vulgäre Sexualität und nimmt dabei billigend die Abwertung und Diskriminierung von Frauen in Kauf. Die Kritikpunkte führen dazu, dass das Genre häufig für die Verbreitung von falschen und für Heranwachsende auf Jamaika schädlichen Rollenbildern verantwortlich gemacht wird (vgl. Boyne 2004g: G9). Letztendlich trägt die jamaikanische Populärkultur ihren Teil dazu bei, die stereotypen Geschlechterbilder, die die Elite von der breiten Bevölkerung hat, zu verstärken (vgl. LaFont 2000: 255). Speziell Schwarze Menschen der lower class, so der Tenor, bekommen von Dancehall kein sozial verantwortliches Verhalten vermittelt, sondern lediglich Vulgarität, Materialismus, Draufgängertum und die Akzeptanz von Gewalt und Mord als Möglichkeiten der Konfliktlösung gelehrt (vgl. Boyne 2004a: G6). Im Zentrum der Kritik stehen die »semi-pornografischen und pornografischen Bilder« (Boyne 2004d: G5), mit denen Dancehall-Künstler_innen und Musik-TVSender die jamaikanische Jugend täglich versorgen, sowie die Glorifizierung des »bad man shotta« (Boyne 2004e: E7). Darunter wird stereotypisch ein junger Schwarzer Mann verstanden, der laut der Kritiker_innen, lediglich Gewalt und Kriminalität als Wege zum persönlichen Erfolg kennt.
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Das Vermitteln von falschen Rollenbildern dient den Kritiker_innen als Erklärungsmodell für die hohe Mord- und Kriminalitätsrate, Revierkriege und die Verrohung der Gesellschaft, insbesondere in den Armenvierteln, sowie die zerrütteten Familienstrukturen und die große Anzahl an alleinerziehenden Müttern: But if the young people who are »hotting up« Spanish Town and other parts of Jamaica were reared in responsible homes with two parents who loved each other, is it likely that they would be such a menace to all of us? (Boyne 2004d: G5).
Die Abweichungen von der dominanten Vorstellung von Gender und Respektabilität werden von der upper und middle class genutzt, um soziale Probleme der Schwarzen lower class zu erklären (vgl. LaFont 2000: 255). While some ethnic groups like the Jews, Lebanese and the Chinese are building strong family ties and hence enhancing their wealth and social advancement, the black majority are ›flashing it‹ with wild abandon, disdainful of the consequences of their promiscuity on family stability (Boyne 2004d: G3).
Untreue und multiple sexuelle Beziehungen werden nicht nur als verhängnisvolle Eigenschaft der Schwarzen jamaikanischen working class wahrgenommen. Die Gruppe sei aber aufgrund ihrer allgemein hohen Verwundbarkeit besonders von den negativen Folgen dieses Verhaltens betroffen, so Boyne: »The whites can better afford their sleeping around and wrecking of their family life. We can’t afford it economically, socially and psychologically for too many other things are stacked against us« (Boyne 2004d: G5). Indem die Ursache von sozialen Problemen im promiskuitiven Verhalten der Schwarzen working class gesucht wird, können die gesellschaftlichen Eliten, unabhängig ob weiß, ›braun‹ oder Schwarz, ihre persönliche politische und soziale Verantwortung für die Armut auf Jamaika von sich weisen und sich selbst als respektabel inszenieren. Anstelle einer differenzierten Kritik der soziökonomischen Verhältnisse im postkolonialen Jamaika fokussiert sich die Empörung auf die Dancehall. Parallel wird die Wichtigkeit der christlichen Ehe und Monogamie hochgehalten, die »Respektabilität« erzeugt und »sexuelle Anarchie« reduziert (McGill 2004: C3). Von den Künstler_innen promotete und vorgelebte Verhaltensweisen schaden dagegen der jamaikanischen Bevölkerung und leisten keinen Beitrag zum Empowerment der Schwarzen, so Ian Boyne (vgl. Boyne 2004a: G6). »Negative dancehall reinforces anti-social and violent behavior and encourages young men to validate themselves through violence rather than through wholesome activities« (Boyne 2004g: G9). Mark Wignall, Boynes Kollege im Observer, sieht gar im Deejay und im Drogendealer die »wirklichen Vorbilder in den Inner-City-Gebieten« (Wignall 2004a: 14). Den Dancehall-Deejays und ihren Lyrics wird ein großer Einfluss insbesondere auf heranwachsende junge
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Männer in den ärmeren Stadtteilen Kingstons zugesprochen. Die jungen Männer aus dem ›Ghetto‹ und nicht primär die in vielen Texten diskriminierten Homosexuellen seien die wahren Opfer von Dancehall-Musik: »The many straight black youth whose minds are being corrupted by negative dancehall and who are the victims of music which reinforces violence also suffer« (Boyne 2004g: G9). Neben der Gewalt als akzeptiertes Mittel zur Interessendurchsetzung bemängeln Kritiker_innen prahlerisches, materialistisches und verschwenderisches Verhalten, das die Bevölkerung der Armenviertel von den Künstler_innen übernimmt, um ihre marginale Position in der Gesellschaft überwinden zu können: »These fellows are not committed to anything except filthy lucre – their flashy vehicles, showy houses, bling bling, which are supposed to compensate for the low status we assign to people who haul from the innercities« (Boyne 2004a: G6). Die Vermittlung von falschen Vorbildern würde zusätzlich unterstützt von Firmen und Sponsoren, die Dancehall-Veranstaltungen zur Vermehrung ihres Reichtums, aber zum Schaden der Gesellschaft ausrichten und unterstützen: The promoters and marketers sell this notion of Jamaica, the home of ›bad man shotta‹, to impressionable youth and inner-city community and other young people, oblivious to the deeper damage they do to the society (Boyne 2004e: E7).
Dabei kommen auch Bedenken über das internationale Ansehen des Landes auf. Promoter_innen prägen durch die Kommodifizierung der Dancehall-Badness die internationale Wahrnehmung Jamaikas als von Gewalt beherrschte Insel. Um gegen die in der Dancehall betriebene Glorifizierung von aggressiver, heterosexueller Maskulinität und die damit verknüpfte Diskriminierung von Frauen vorgehen zu können, erklingt in den Medien oft der Aufruf zur Bündnisbildung. Dieser schließt bemerkenswerterweise Akteur_innen ein, die sowohl die nationalen Grenzen als auch die Grenzen sexueller Toleranz auf Jamaika transzendieren. Die Notwendigkeit von Allianzen In der Kritik von Dancehall oder negativer Dancehall-Musik taucht immer wieder die Forderung nach Allianzen auf (vgl. Simms 2004; Boyne 2004a). Die Argumentation für die Bündnisse wird begünstigt durch eine Verflechtung der Diskurse, die die aggressive Homophobie kritisieren, und Diskursen, die sich gegen Dancehall wegen Gewaltverherrlichung, Kriminalität, abwertenden Haltungen gegenüber Frauen, Vulgarität und Materialismus wenden. Die Kritik der LGBTTIQ-Gruppen wird so nicht ausschließlich als etwas Negatives betrachtet: »If OutRage! has done anything positive, it is in forcing the hand of Jamaican deejays to use their ›creativity‹ to create
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and not promote senseless gibberish« (Wignall 2004c: 26). Die Verflechtung der Argumentationen erzeugt ein gemeinsames Interesse von denkbar unterschiedlichen Gruppen. Christ_innen aus der jamaikanischen middle class teilen beispielsweise ihre Oppositionsposition gegen Dancehall-Musik mit den LGBTTIQ-Organisationen, auch wenn sie Homosexualität und deren Legalisierung grundsätzlich ablehnen: The homosexual community in Britain and America has scored major victories against some of the violence-promoting Jamaican deejays and as a consistent critic of negative dancehall, I am happy that some group has had the clout and courage to send a clear signal to these fellows (Boyne 2004a: G1).
Die Protestaktionen der LGBTTIQ-Gruppen in Nordamerika und Großbritannien werden aufgrund ihres Drucks auf die Texte der Künstler_innen begrüßt. Nichtsdestotrotz ist den Akteur_innen aus der christlichen middle class auf Jamaika bewusst, mit welchen Gruppen sie ihr Interesse teilen: It is ironic that the successful career-jolting of the highly ambitious deejays should come from a group so out of sync with Christian morality, but just as the capitalist West and Communist Soviet Union had to come together to defeat Hitler and the Nazis, so it is necessary to make strategic alliances with groups with whom one is vehemently opposed to fight certain causes (Boyne 2004a: G1, G6).
Das gemeinsame Interesse mit der LGBTTIQ-Gemeinschaft wird verglichen mit der Anti-Hitler-Koalition zwischen den Vereinigten Staaten von Amerika und Stalin im Zweiten Weltkrieg. Die Auswahl derartig martialischer Vergleiche macht deutlich, inwieweit die Auseinandersetzungen um Dancehall in der jamaikanischen Gesellschaft den Charakter eines ideologisch aufgeladenen Kulturkampfes haben, in dem es für Teile der Gesellschaft um alles oder nichts zu gehen scheint. Martialische Sprache und Kriegsmetaphern tauchen nicht nur in den Dancehall kritisierenden Äußerungen von Ian Boyne auf. Sie werden auch von den Verteidiger_innen der Dancehall-Kultur und Kritiker_innen von Homosexualität verwendet (vgl. Mills 2004a: A3; Mills 2004b: A2; Foreman 2004: A5). Die Dominanz von Kriegsrhetorik in den medialen Debatten ist wiederum mit Binarismen verbunden, die komplexe gesellschaftliche Konstellationen, je nach Positionierung der Autor_innen, auf befreundete und feindliche Blöcke reduzieren und teilweise eine differenzierte Auseinandersetzung unmöglich machen. Im Diskurs gegen Dancehall-Musik wird sogar eine Abhängigkeitsbeziehung zwischen den Kritiker_innen von Dancehall auf Jamaika und den primär als international agierend wahrgenommenen LGBTTIQ-Gruppen aufgezeigt: »For those who love decency, order and civility, we just have to depend on the gays to give these deejays the backsiding (oops!) they deserve« (Boyne 2004a: G6). In diesem Fall sind
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es ironischerweise organisierte sexuelle Minderheiten, die sonst als Ursache für Verfall und ›Dekadenz‹ angesehen werden, die Ordnung und Anstand gegen die Dancehall-Deejays verteidigen sollen. Als Grund dafür wird angeführt, dass »respektable« Kräfte aus dem privaten Sektor Jamaikas versagt haben und die Dancehall zu lange ungezügelt walten ließen (Boyne 2004a: G6). Deshalb sind nun selbst als sexuell ›deviant‹ wahrgenommene Gruppen aus dem Ausland, die von der Moralvorstellung der christlichen middle class radikal abweichen, eine willkommene Hilfe in der Auseinandersetzung. Nicht zuletzt weil diese die notwendige Macht besitzen, um Dancehall-Künstler_innen und deren Karrieren ökonomischen Schaden zufügen zu können: At least the gays have used their power and influence to bring pressure on the dancehall vulgarians and purveyors of hate. They have done more than our ›respectable‹ private sector companies that profit from these dancehall acts who promote violence and criminality (Boyne 2004a: G6).
Die Diskursverknüpfung wird ebenfalls auf der sprachlichen Ebene deutlich. Sprechen LGBTTIQ-Aktivist_innen von »Hasssängern«, wird im Diskurs gegen gewaltverherrlichende Dancehall-Musik auf Jamaika mit dem Wort Hass argumentiert (Cooke 2004b: A4). Die Künstler_innen werden als »Lieferanten des Hasses« bezeichnet, die »multidimensionale Hassbotschaften« verbreiten (Simms 2004: G7). Um diesen entgegentreten zu können, ist der Schulterschluss mit anderen diskriminierten und marginalisierten Interessengruppen unabdingbar (vgl. Simms 2004: G7). Dabei dürfen Sexualität und Geschlecht kein Hindernis für mögliche Allianzen sein (vgl. Simms 2004: G7). Die Bildung von (diskursiven) Allianzen muss, wie im Falle der christlichen Kritiker_innen von Dancehall und den LGBTTIQ-Aktivist_innen demonstriert, nicht unbedingt immer beabsichtigt geschehen. Eine weitere Möglichkeit, um das Genre und die Subkultur von gewissen gesellschaftlichen Räumen der Insel fernzuhalten, ist die Ausgrenzung von Dancehall-Musik aus dem Kanon für wertvolle kulturelle Erzeugnisse auf Jamaika. Dancehall ist kein wertvolles Kulturgut Anknüpfend an die Diskussionen um die Inszenierung von Vulgarität und Unanständigkeit in der Dancehall artikuliert sich ein Diskurs, der Dancehall-Kultur als etwas Minderwertiges, ›Unzivilisiertes‹ und Negatives für den Kanon der jamaikanischen Kultur markiert, aus dem es im besten Falle ausgeschlossen bleiben soll. Diskussionen um Dancehall-Kultur und deren Beitrag zum Verfall der Gesellschaft führen dazu, dass die verarmte Bevölkerung als Produzent von wertlosen oder gar gefährlichen Kulturgütern stigmatisiert wird (vgl. Thame 2011: 80).
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Der Diskurs beschreibt Dancehall-Musik als »Unsinn« (Boyne 2004e: E7) oder »Geschwafel der DJs« (Wignall 2004a: 14) und bezeichnet Dancehall-Künstler, wie beispielsweise Ninja Man oder Vybz Kartel, als »Schwachköpfe« (Boyne 2004e: E8) und »idiotische DJs« (Wignall 2004b: 8). Mark Wignall empört sich im Jamaica Observer darüber, dass Jamaikaner_innen an ihre Künstler_innen keine Ansprüche stellen und bezweifelt gleichzeitig deren geistige Fähigkeiten, auf Kritik eingehen zu können (Wignall 2004a: 15). In derartigen Schmähungen wird ersichtlich, wie Journalist_innen aus der middle class ihre eigene gehobene soziale Position diskursiv festigen, indem sie sich von der städtischen working class und deren Kultur abgrenzen. Den zu jamaikanischer Populärkultur arbeitenden Wissenschaftler_innen an der University of the West Indies wird in diesem Diskurs vorgeworfen, kulturell wertlose und gefährliche Praktiken durch pseudo-intellektuelle Argumentationen und das Einstehen für die »Kultur der Armen« verschleiern zu wollen: »For years the UWI apologists have told us that we must not fight down ›poor people’s culture‹« (Boyne 2004e: E8). Noch radikaler wird dies von Mark Wignall kritisiert, der die intellektuellen Fähigkeiten der Kulturwissenschaftler_innen an der University of the West Indies komplett anzweifelt: At the university we have persons like Carolyn Cooper who find it difficult to admit that there is a difference between crap and art. She needs to have a ready-made set of guinea pigs to give credence to her studies so she cannot tell them to deal with creativity because they are convinced that they are into it anyway (Wignall 2004a: 15).
Oft wird im Diskurs eine Zweiteilung zwischen Dancehall-Musik und Reggae konstruiert. Reggae wird zu ermächtigender Musik, die den Globus bewegt, während Dancehall, vergleichbar mit US-amerikanischem Gangsterrap, als negatives kulturelles Produkt charakterisiert wird: As the debate, both in Jamaica and abroad, swirls about the effect of some of your dancehall music, I would like to encourage Jamaicans everywhere not to define themselves by this latest public perception. This music does not represent one element of your national consciousness but a minor one, just as »gangsta rap« represents only a splinter of the American heart and soul. If a society is to define itself by the acts of a few, let it be the acts of the best of its citizens. Jamaica must define itself not by its few recently-popular »unconscious« performers but by its 50+ well-known »conscious« artistes who have put out a global message of One Love for over three decades (Roskind, Roskind und Roskind 2004: 9).
Die Reggae-Legende Bob Marley wird im Diskurs angeführt, um ein klares Gegenbild zu den angeblich degenerierten und gewaltverherrlichenden Dancehall-Künstler_innen zu etablieren. Der internationale Superstar hat eine gewichtige Symbolfunktion, weshalb unterschiedliche nationale und internationale Akteur_innen ihn für
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ihre Argumentation instrumentalisieren. Teilweise wird die Entstehung von Dancehall und die scheinbare Abweichung von sozialkritischen Texten direkt mit Marleys Tod 1981 in Verbindung gebracht (vgl. »One Love? Uproar over Anti-Gay Lyrics Stirs Controversy« 2004: 8): A GENERATION AGO, reggae anthems preached concepts of »one love«, legal marijuana and social justice. But today’s version of the music made famous by Bob Marley is more likely to advocate casual sex, »bling-bling« opulence and, critics say, sometimes violence against gays (»One Love? Uproar over Anti-Gay Lyrics Stirs Controversy« 2004: 3).
Die Bezüge zu Bob Marley tauchen in der Diskussion sowohl bei Sprecher_innen aus dem ›Westen‹ als auch bei Jamaikaner_innen aus der middle class auf: »These deejays do not have one-tenth of the talent of Bob Marley, Peter Tosh or the awesome writing skills of Bob Andy« (Wignall 2004c: 26). Den Dancehall-Künstler_innen zu Beginn des 21. Jahrhunderts wird Mangel an Geist und Kreativität unterstellt. Sie könnten unmöglich »die Marleys von Morgen« werden (Wignall 2004a: 15). Laut dem selbsternannten US-amerikanischen Reggae-Historiker Roger Steffens, der im Star zitiert wird, hätte sich Marley 2004 über den Zustand der jamaikanischen Musik keinesfalls gefreut: »And what would the late king of reggae think about today’s music? ›I think Bob would be righteously angry‹« (»One Love? Uproar over Anti-Gay Lyrics Stirs Controversy« 2004: 8). Insgesamt gesehen, wird Marley in den jamaikanischen Medien von jamaikanischen und ausländischen Kritiker_innen als Vorbild für kulturell wertvolle, emanzipatorische Populärmusik betrachtet (vgl. Roskind, Roskind und Roskind 2004: 9; »One Love? Uproar over Anti-Gay Lyrics Stirs Controversy« 2004: 3, 8; »Not a Gay Time. Outrageʼs Leader Gets Death Threats« 2004: 11). Dabei findet die Hervorhebung von Marley auf Jamaika oft ungeachtet dessen statt, dass der Superstar anfänglich als Rastafari außerhalb der respektablen jamaikanischen Gesellschaft platziert und zahlreicher Kritik aus der upper und middle class ausgesetzt war. Die Binarität zwischen Reggae und Dancehall, die anhand Marley und seines musikalischen Erbes konstruiert wird, funktioniert nur aufgrund argumentationsstrategisch reduzierter Darstellungen. So gibt es zwischen Bob Marley und den DancehallKünstlern des frühen 21. Jahrhunderts zahlreiche Parallelen. Marleys heterosexuellpolygamer Lebensstil entspricht den geläufigen Vorstellungen von Maskulinität in der Dancehall und auch sein Song »I shot the Sheriff« (1973) steht thematisch der Rolle des badman in nichts nach (vgl. Cooper 2004a: 82). Ferner widersetzten sich sowohl Marley als auch Dancehall-Künstler wie Shabba Ranks in ihren Texten der von der jamaikanischen upper und middle class eingeforderten Respektabilität: »Bob Marley’s incendiary, confrontational lyrics of class war and Shabba Ranks’s explicit, hard-core celebration of X-rated sexuality share a common concern with destabilizing the social space of the respectable middle class« (Cooper 2004a: 81). Derartige
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Gemeinsamkeiten sind in der Presse nicht auffindbar. Mediale Äußerungen aus dem Ausland, wie von Peter Tatchell, entwerfen dagegen das Bild von Bob Marley als friedlichem Hippie, dem die Brüderlichkeit der Menschen, anstatt die Diskriminierung von sexuellen Minderheiten am Herzen lag: »We’d like to see Jamaican music reclaimed for Bob Marley’s spirit of peace and brotherhood« (Clunis 2004a: A2). Auch hier wird jamaikanische Populärmusik in zwei Lager gespalten. Die Grenzziehung erfolgt zwischen homophoben, gewaltverherrlichenden und bedrohlichen Dancehall-Künstler_innen auf der einen Seite und politisch wertvollen Interpret_innen, wie Marley, auf der anderen Seite. Dabei wird verschwiegen, dass Marleys militante Botschaften des sozialen Protests keinesfalls ausschließlich pazifistisch gedacht waren (vgl. Cooper 2004a: 180). In der Zweiteilung findet sich das binäre Schema des Bad Black Man und des Good Black Man wieder. Frank Rudy Cooper sieht in der vermeintlichen Bipolarität zwischen dem bedrohlich porträtierten »Bad Black Man« und dem Bild des an weiße Normen angepassten »Good Black Man« eine rassistische Praxis. Sie legitimiert seiner Meinung nach, speziell in den USA, den Ausschluss der breiten Masse an Schwarzen Männern von gesellschaftlichen Ressourcen. Mit der Verbannung Schwarzer Männer in die Gefängnisse werden gleichzeitig multikausale gesellschaftliche Probleme verschwiegen (vgl. Cooper 2006: 859). Wenn Marley und seine Friedensbotschaften den gefährlichen und degenerierten Dancehall-Künstlern des frühen 21. Jahrhunderts gegenübergestellt werden, wird aus dem ›König des Reggae‹ im ›Westen‹ der ›edle Wilde‹: »›Heroic savages‹ have peopled adventure stories, Westerns, and other Hollywood and television films ever since, generating an unending series of images of ›the noble Other‹« (Hall 1992: 311). Der ›edle Wilde‹ verkörpert für den (neo-)kolonialen Blick die vermeintliche Ursprünglichkeit und Unberührbarkeit, die weiße Menschen aufgrund ihres ›zivilisatorischen‹ Fortschrittes gegenüber kolonialisierten Subjekten verloren haben. Neben der Exotisierung der ›Anderen‹ schreibt diese Perspektive auch deren ›zivilisatorische‹ Rückständigkeit fest, die in diesem Falle begehrt, anstatt abgelehnt wird. In den jamaikanischen Medien wird Dancehall-Musik von internationalen und nationalen Kritiker_innen vermehrt mit ›Dekadenz‹, Werteverfall und ›Kulturlosigkeit‹ in Verbindung gebracht. Häufig geschieht das, indem das Genre aus den ›Ghettos‹ von Kingston als Gegensatz zu rechtschaffenem und sozialkritischem Reggae gezeichnet wird. In dieser Gleichung steht Reggae für die Verbesserung der Lebensverhältnisse der Unterdrückten und Dancehall für eine Abwärtsspirale geprägt von Gewalt, Sex und Materialismus. Wissenschaftler_innen an der University of the West Indies (UWI) hingegen nutzen ihre privilegierte Position als Akademiker_innen, um gemeinsam mit Stimmen in der Presse zu demonstrieren, dass beide Genres zahlreiche Gemeinsamkeiten besitzen und Dancehall ein wesentlicher Bestandteil jamaikanischer Kultur auf der Insel und in der Diaspora ist.
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Trotz zahlreicher Kritiker_innen wird Dancehall-Musik in den Printmedien auch durch die Beiträge vieler Jamaikaner_innen gestützt. Eine wesentliche Rolle spielen dabei Akademiker_innen aus dem Bereich der Cultural Studies und speziell der Reggae Studies Unit an der UWI. Sie verhelfen dem akademischen Diskurs über Dancehall zu Gehör in den jamaikanischen Medien. Ferner unterstützen sie durch ihre Arbeit eine alternative Repräsentation von Jamaicanness, die Schwarze urbane Populärkultur ins Zentrum rückt. Häufig findet das aber durch eine Repräsentation aus der middle class und nicht aus der lower class statt. Eine Institution, die auf Jamaika für die Produktion des Diskurses für DancehallMusik steht, ist die Reggae Studies Unit. Carolyn Cooper gründete die Einrichtung an der University of the West Indies in Mona, nordöstlich der Hauptstadt Kingston, im November 1997 (vgl. Cooper 2012: 311). Die Motivation für die akademische Arbeit zu jamaikanischer Populärkultur und Reggae und Dancehall im Speziellen, lieferten die zahlreichen nationalen und internationalen Konflikte, die sich um die Populärmusik entwickelten und den Export der beiden Genres gefährdeten (vgl. Cooper 2012: 307). Dazu gehörten besonders die Reaktionen, die homophobe Dancehall-Lyrics wie Buju Bantons »Boom Bye-Bye« zu Beginn der 1990er-Jahre in Nordamerika und Großbritannien auslösten, und die Notwendigkeit, jamaikanische Populärkultur aus der Schwarzen working class ins Zentrum von jamaikanischer kultureller Identität zu rücken und ihr nationale Legitimation zu verschaffen. Die Erforschung von Reggae und Dancehall steht darüber hinaus in Zusammenhang mit der wirtschaftlichen Vermarktung der Genres. Diskussionen um Homophobie in Verbindung mit Reggae und Dancehall führen zu einem Imageschaden der Marke Jamaika auf dem nordamerikanischen und europäischen Musikmarkt. Das weckte in der jamaikanischen Musikindustrie Interesse an der akademischen Forschung zu Dancehall-Musik. Diskussionen um die Thematiken Homophobie, Gewalt und Vulgarität sind auch im jamaikanischen medialen Diskurs Angelpunkte, um die sich die Aussagen und Argumentationsmuster und der Diskurs für Dancehall-Musik entfaltet. Cooper und ihre Arbeit tauchen 2004 in unterschiedlichen Artikeln im Observer und Gleaner auf. Sie fungiert darin als Instanz, auf die sich sowohl Kritiker_innen als auch Befürworter_innen berufen. Das dem Gleaner beiliegende Magazin Outlook zeigt im Januar 2004 ein ganzseitiges Foto von Cooper untertitelt mit »Carolyn Cooper. The doctor of the dancehall« (Ustanny 2004). Neben Cooper äußern sich auch die Akademiker_innen Donna Hope und Kingsley Stewart positiv zu Dancehall-Kultur in der Presse. Sowohl im Gleaner und Observer als auch im Star finden sich Fragmente eines Diskurses, der die Populärkultur aus der Schwarzen working class aufwertet. Nicht
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für alle Jamaikaner_innen ist das Genre Ausdruck einer sich im Zerfall befindenden Gesellschaft. Dancehall wird im Diskurs vielmehr als Teil der jamaikanischen kulturellen Identität hervorgehoben: »The solution is not to shun dancehall music. Dancehall represents the vibrancy and confidence of this country and its people« (Johnson 2004: G5). »Dancehall culture is an organic product of Jamaica. For good or evil it is our culture« (Hope 2004c: A11). Die Darstellung von Dancehall als nationalem Kulturgut kann damit also auch als Antwort beziehungsweise Gegendiskurs zu den nationalen und internationalen Anfeindungen durch konservative Jamaikaner_innen und LGBTTIQ-Organisationen betrachtet werden. Beiträge reagieren in diesem Kontext insbesondere auf die Anschuldigungen aus dem Ausland mit Vorwürfen des Rufmords an der Musik und Verunglimpfung von jamaikanischer Kultur: »So they try to violate, criminalize and malign our culture, music, artiste, and country, and even the religion of other people who do not agree with them« (vgl. Morris 2004b: 9). Die Kampagne Stop Murder Music von Outrage! und J-FLAG wird in diesem Zusammenhang primär als Feldzug internationaler LGBTTIQ-Organisationen wahrgenommen, die ihre Macht gegen die jamaikanischen Künstler_innen zum Einsatz bringen. Auch hier ist die kriegerische Sprache auffällig, die den Berichterstattungen innewohnt: As grammy award winner Beenie Man, platinum-selling artiste Bounty Killer, and former reggae Grammy nominee Buju Banton continue to fall under the baleful ›gay-dar‹ of the United Kingdom’s most forceful gay rights group OutRage, the question on everyone’s lip is: could the political pressure signal the death throes of dancehall in Europa? (Mills 2004b: A2).
Ein Kernaspekt des Diskurses für Dancehall ist die internationale Wahrnehmung Jamaikas durch seine Musiker_innen und die damit verbundene ökonomische Komponente. Außerdem hebt der Diskurs die wichtige Funktion von Dancehall als Medium des sozialen Kommentars hervor. Diese Form der Kritik an den bestehenden Verhältnissen ist wiederum nur möglich, wenn die Meinungsfreiheit der Künstler_innen gewährleistet wird (vgl. Escoffery 2004: 9). Der Diskurs äußert daneben starke Kritik an der Stigmatisierung von Dancehall zum Sündenbock für Gewalt, Kriminalität und Homophobie auf Jamaika (vgl. Stewart 2004: 35). In diesem Zusammenhang wird auch von »Hexenjagd« (»What an Outrage!« 2004: 8) und »Anti-Dancehall-Propaganda« gesprochen (Hope 2004d: A6). Angeführt wird, dass viele der Probleme, über die die Künstler_innen singen, unabhängig davon existieren: »If dancehall music should be eradicated, murders, hate-crimes, and other criminal acts would not disappear« (»Blame Dancehall?« 2004: 8). Ferner wird klargestellt, dass gewalttätige Lyrics keinesfalls Handlungsanweisungen für Jamaikaner_innen sind: »Dancehall lyrics are not directives and Jamaicans are not mindless lemmings. Jamaicans enjoy wide-ranging freedom of speech and these lyrical metaphors provide and outlet for
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men to vocalize their fears and tensions about male homosexuality« (Hope 2004b: A6). Dancehall wird als Medium gesehen, das die kleine Nation Jamaika global berühmt gemacht hat: It is this same dancehall music that has helped to make Jamaica known around the world. It is even the same dancehall music that has taken many women and children off the streets and has given them a better life (Sullivan 2004: A5).
Die Populärmusik der Insel führte nicht nur zu deren Wahrnehmung auf der Weltkarte, sondern bringt auch wichtiges Geld in die finanziell schwächeren Communitys. Die wirtschaftliche Kette, die beispielsweise mit Straßenpartys, wie dem allsonntäglichen dance in Rae Town, verknüpft ist, reicht von Straßenhändler_innen, Marihuana verkaufenden Rastas über lokale Kneipen, Taxifahrer_innen, bis zu Soundsystembetreiber_innen und Musiker_innen. 26 Der ökonomische Wert der Musik wird deswegen in den Beiträgen hervorgehoben: »Dancehall music culture forms an important part of the music sector which contributes significantly to the foreign exchange earnings in Jamaica« (Hope 2004b: A6). Repräsentationen von Jamaika in der Populärmusik werden wiederum in Zusammenhang mit dem Tourismus wahrgenommen, der eine der wichtigsten Einnahmequellen auf Jamaika darstellt, und stark mit dem internationalen Ruf des Landes zusammenhängt: »It is this same music that rakes in foreign exchange to our struggling economy and multiply the number of tourists that visit our island« (Sullivan 2004: A5). Diese Einnahmen werden wiederum durch die Stigmatisierung Jamaikas als außerordentlich homophob beziehungsweise gewalttätig gefährdet. Dancehall-Musik wird darüber hinaus als ein Stück jamaikanischer Jugendkultur und als künstlerisches Ausdrucksmedium konstruiert. Im Zentrum steht dabei immer die Möglichkeit, Interessen zu artikulieren: »Young people along with many senior persons such as Dr. Carolyn Cooper […] share the belief that dancehall music is a beautiful music, a work of art« (Sullivan 2004: A5). Dancehall fungiert außerdem als eine Art Wissensarchiv und »Bibliothek« (Sullivan 2004: A5), derer sich Menschen bedienen, um soziale Kommentare zu äußern. Das Genre ist quasi ein alternatives Kommunikationsmittel, in dem selbst sozi-
26 Rae Town ist eine Community in der Nähe des Hafens von Kingston. Aus ihr stammen unter anderem die Künstler Shaggy und Mutabaruka. Seit 32 Jahren wird dort vor der Bar Capricorn Inn in der Rae Street jeden Sonntag eine Straßentanzparty abgehalten, die bei Jamaikaner_innen generationsübergreifend populär ist und Geld in die Gemeinde bringt. Zusätzlich profitiert der Bezirk davon, wenn international populäre Musiker, wie beispielsweise Shaggy, Veranstaltungen an ihrem Herkunftsort abhalten (vgl. Meschino 2013).
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ale Kommentare und Kritik an der Gesellschaft geäußert werden. Diese Art der Ausdrucksweise wird in den Medien als durch die Meinungsfreiheit gedeckt betrachtet (vgl. Morris 2004b: 9). Im Kontext der Diskussion um Homophobie wird betont, dass Meinungsfreiheit nicht von einer durch Homophobie diskriminierten Minderheit eingefordert werden kann, wenn diese Gruppe gleichzeitig international einer durch Rassismus diskriminierten Menschengruppe das Recht auf freie Meinungsäußerung abspricht: Patrick Roberts, CEO of the Shocking Vibes productions, and manager of Beenie Man, pointed out the irony of a gay rights advocacy group seeking to limit the freedom of expression and rights of another minority group – black Jamaican dancehall performers (Mills 2004b: A2).
Donna Hope, die 2004 an der George Mason University in Fairfax, Virginia zu Dancehall-Kultur promovierte, kritisiert die Angriffe von jamaikanischen Autor_innen aus der middle class auf Dancehall. Sie veranschaulicht in einem Kommentar im Jamaica Gleaner, dass Veranstaltungen wie Sting keineswegs nur von Menschen aus den ›Ghettos‹ besucht werden, denen häufig ›zivilisiertes‹ und respektables Verhalten von der upper und middle class abgesprochen wird. Stattdessen bildet das Publikum beim Sting ihrer Meinung nach einen Querschnitt der jamaikanischen Gesellschaft ab: Sting is identified not only as the crowning glory of the dancehall entertainment, but also as the place and space where the audience is served a special diet of violence and crassness. Why is this so? I sincerely believe that this resulted from an original and continuing perception that the dancehall audience was / is unilaterally made up of »ghetto people«. In true Jamaica condescension, these ghetto people are all identified as violent, dunce, boorish, aggressive and crass, and would, therefore, more than appreciate this special diet. Give the people what they want indeed! Little note is taken of the fact that in the first instance, there are overwhelming numbers of »ghetto people« who are decent, upstanding citizens. And in the second instance, that the Sting audience is made up of a diverse crowd […] [T]he Sting crowd is representative of our diverse society. Lawyer, doctor, Indian chief, uptown, downtown, country and town, foreign and local all rub shoulders at this event (Hope 2004c: A10).
Hope dekonstruiert hier die Vorstellung, die jamaikanische middle class unterscheide sich von den scheinbar per se aggressiven, minderbemittelten und unbeherrschten Menschen in den ›Ghettos‹ durch ihren respektablen Lebensstil. Sie demonstriert, dass Dancehall quer durch die Gesellschaft rezipiert und konsumiert wird und es den Menschen downtown nicht an Respektabilität fehlt. Dafür offenbart sie die Scheinheiligkeit, mit der sich Anhänger_innen der upper und middle class durch die Verurteilung von Dancehall und Working Class-Kultur als respektable Bürger_innen in-
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szenieren. Das Publikum, das sie auflistet, weist deutliche Parallelen zum jamaikanischen Nationalmotto Out of Many, One People auf. Dieses Argumentationsmuster platziert Dancehall und dessen Rezipient_innen innerhalb des Konzepts des creole multiracial Staats. Die Aussagen von Carolyn Cooper in der Presse verfolgen eine andere Strategie. Cooper platziert Dancehall-Kultur nicht nur in den creole multiracial Staat, dessen Motto sie kritisiert, sondern argumentiert im Rahmen der Debatten um Dancehall für Patwah und Africanness als zentrale Aspekte von jamaikanischer Kultur. Das wird auch durch die bewusste Verwendung von Patwah, trotz ihrer akademischen Position als Professorin, ersichtlich. Jamaikanische Kultur transzendiert für sie immer die nationalen Grenzen der Insel 27: »The language has been globalised by our world class culture. We little but we tallawah. We are an island people with a continental consciousness. We just big and broad« (Ustanny 2004: 16). Cooper sieht den Großteil der Jamaikaner_innen als Afrikaner_innen und betont das explizit (Ustanny 2004: 9). Ihre Argumentation gegen das Out of Many, One People-Denken, hin zu einer Aufwertung Schwarzer urbaner Populärkultur als zentralem Bestandteil der kulturellen Identität Jamaikas, geht einher mit einer Kritik der Kategorie Respektabilität. Demgemäß sieht Cooper explizit sexuelle Darbietungen von Künstlerinnen als das »Feiern von weiblicher Unabhängigkeit« und nicht als vulgär an (Ustanny 2004: 16). Dazu demonstriert sie Parallelen zwischen den Frisuren und Hüten, die christliche jamaikanische Frauen zum Gottesdient, tragen und den schrillen und ausgeschmückten Dancehall-Frisuren. Bei beiden stehe laut Cooper Dekoration und nicht Anständigkeit im Zentrum (vgl. Ustanny 2004: 9). Der Diskurs für Dancehall in den jamaikanischen Medien geht unterschiedlich mit den dominanten Modellen von nationaler kultureller Identität, Respektabilität und dem Out of Many, One People-Staat um. Die Krise, in der sich das hegemoniale Staatsmodell am Anfang des 21. Jahrhunderts befindet, wird in diesem Diskurs kaum thematisiert. Generell wird Dancehall als ein Teil Schwarzer urbaner Populärkultur aufgewertet. Unterschiedliche Autor_innen betonen die Wichtigkeit von DancehallKultur bei der weltweiten Repräsentation Jamaikas. Die Argumentationsstrategien unterscheiden sich in dem Punkt, ob die Dancehall und ihre Anhänger_innen ein Teil des respektablen Out of Many, One People-Staats sind, aus dem sie von der jamaikanischen Elite ausgegrenzt werden, oder ob Dancehall selbst ein Gegenmodell entwirft, das den respektablen creole multiracial Staat
27 Coopers Argumentationsstrategie kommt ins Wanken, wenn sie sich in ihren wissenschaftlichen Arbeiten zur Diskussion um homophobe Dancehall-Musik äußert. Dann wird aus offener und von Afrika stark beeinflusster jamaikanischer Populärkultur plötzlich ein Phänomen, das Außenstehenden nicht zugänglich ist und lokale Kenntnisse, insbesondere Verständnis für metaphorische Ausdrucksweisen des Patwah, voraussetzt.
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ablehnt und Blackness und das afrikanische Erbe ins Zentrum von Jamaika und jamaikanischer kultureller Identität rückt.
Auswertung der Analyse
F AZIT
DER VIER PORTRÄTIERTEN
D ISKURSSTRÄNGE
Die mediale Diskussion um homophobe und gewaltverherrlichende Populärkultur in der jamaikanischen Presse kann als ein Machtkampf gelesen werden, in dem unterschiedliche Akteur_innen um die nationale und internationale Repräsentation von Jamaika beziehungsweise jamaikanischer Kultur streiten (vgl. Thomas 2004a: 11). Dabei treffen historisch gewachsene, teilweise miteinander konkurrierende Kategorien aufeinander. Im Zentrum stehen Auffassungen über Respektabilität, (sexuelle) Moralvorstellungen, kulturelle Identität und Staatsbürgerschaft. In der Diskussion um Populärkultur werden aber auch immer Repräsentationen von sexueller, geschlechtlicher und racial Identität ausgehandelt. Letztere betrifft die Auseinandersetzung zwischen dem Entwurf von Jamaika als kreolischem Staat und Ideen, die Schwarzsein im Zentrum von jamaikanischer Identität sehen. In der medialen Diskussion im Jahr 2004 sind der antihomosexuelle Diskurs und der Diskurs gegen Dancehall auf Jamaika von hegemonialer Natur. Beide Diskurse beinhalten die Diskursposition der Eliten des creole multiracial Staats. In ihnen wird Homosexualität als ein nichtakzeptables Phänomen kreiert und gleichzeitig ausgeschlossen. Es äußert sich darin, dass Homosexuelle und besonders homosexuelle Männer als emotional, ›widernatürlich‹, ›krank‹, kriminell, gefährlich und illegal angesehen werden. Dabei wird davon ausgegangen, dass die Homosexualität von außen nach Jamaika eindringt. Lediglich der Diskursstrang, der Homosexualität in der als degeneriert wahrgenommenen upper class verortet, rüttelt an der Integrität und heterosexuellen Maskulinität der nationalen Eliten. Im Diskurs gegen Dancehall-Musik werden das Genre und seine Subkultur von verschiedenen Sprecher_innen im In- und Ausland als gesellschaftlich gefährlich, kriminell, kulturell wertlos und homophob dargestellt. Eine derartige Konstruktion ermöglicht es, Schwarze urbane Populärkultur, die die Repräsentation von Jamaika als creole multiracial Staat hinterfragt, auszugrenzen. Auch wenn eine Kritik an Ho-
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mophobie nicht zum Konsens der jamaikanischen Elite gehört, begünstigt die internationale Kampagne gegen diverse Künstler_innen deren Argumentation gegen Dancehall. Die Diskurse gegen Homophobie und für die Dancehall-Kultur sind beides Gegendiskurse gegen die Vorstellungen der Elite. Zwischen ihnen besteht aber bislang kaum eine sich verstärkende oder unterstützende Funktion. Stattdessen treffen konträre Positionen, die entweder lediglich racial Emanzipation fordern oder sich ausschließlich auf die Beendigung von sexueller Diskriminierung fokussieren, aufeinander. Getreu dem Prinzip divide et impera wirkt sich das eher stabilisierend auf die Eliten aus. Der Diskurs für Dancehall hat zum Ziel, Dancehall-Kultur als integralen Bestandteil Jamaikas zu präsentieren. Das findet unter anderem statt durch die Aufwertung kultureller Erzeugnisse aus der working class, ihren ökonomischen Nutzen für die jamaikanische Nation sowie die Betonung von Schwarzsein für Jamaikaner_innen und deren Identität. Dabei wird zwar partiell Kritik am Konzept der Respektabilität geäußert, die Festschreibung von Heteronormativität und der Binarität von Geschlecht und Begehren, wie es in der Dancehall stattfindet, aber nicht angerührt und damit reproduziert. Auf der anderen Seite hat der Diskurs gegen Homophobie sein Hauptziel darin, Gewalt gegen sexuelle Minderheiten aufzuzeigen und staatliches sowie polizeiliches Versagen anzuprangern. Homophobie und nicht Homosexualität wird hier als anomales Verhalten konstruiert. Im Diskurs wird artikuliert, dass sexuelle Minderheiten ebenfalls ein Teil von »One people« sind und keinesfalls vom jamaikanischen Kollektiv auf der Insel, aber auch in der Diaspora ausgegrenzt werden sollten. Die Inklusion von sexuellen Minderheiten und insbesondere Homosexuellen als jamaikanisch vollzieht sich durch den Aufruf zur Abschaffung der Buggery Laws, der Betonung des Menschenrechts auf eine selbstbestimmte Sexualität und eine Kritik am aggressiven antihomosexuellen Diskurs der Dancehall. Dadurch liegt eine Interessenüberschneidung mit allgemeinen Kritiker_innen der Dancehall-Kultur vor. Ferner wird der Versuch unternommen, die Menschen auf Jamaika durch Vergleiche zwischen rassistischer und homophober Diskriminierung für die Leiden und Rechte von sexuellen Minderheiten zu sensibilisieren. Inwiefern Verflechtungen von Rassismus, Sexismus und Homophobie spezielle intersektionale Diskriminierungserfahrungen produzieren, wird nicht thematisiert. In der Diskussion in den Printmedien nehmen Diskurse, die die Auffassungen der jamaikanischen Elite repräsentieren, eine dominante Position ein. Das darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass sich zentrale Bereiche des creole multiracial Staats schon vor 2004 in einer ›realen‹ politischen, gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Krise befanden. Jene Krise geht mit diskursiven Angriffen auf das Respektabilitätsverständnis der middle class einher.
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Die Kontroverse um homophobe und gewaltverherrlichende Lyrics in den jamaikanischen Medien schuf das Fundament für eine große gesellschaftliche Diskussion über die Aushandlung von jamaikanischer kultureller Identität im frühen 21. Jahrhundert. Sie unterstreicht die Wichtigkeit von Respektabilität für kulturelle Identität und Staatsbürgerschaft auf Jamaika und verdeutlicht, inwiefern sich grundlegende Elemente des »respektablen Staats« in einer umfassenden Krise befinden (Thomas 2004a: 11). Die Krise des kreolischen Staats auf Jamaika drückt sich nicht nur diskursiv aus, sondern ist auch an gesellschaftliche, wirtschaftliche und politische Ereignisse gebunden. 1 In den Augen der verarmten jamaikanischen working class hat der von der Elite propagierte kreolische Nationalismus versagt, weshalb sie Ermächtigung durch die Dancehall-Kultur oder den transnationalen Drogenhandel sucht (vgl. Kamugisha 2007: 34). Krisensymptome des creole multiracial Staats sind die außerordentlich hohe Mordrate, der staatliche Kontrollverlust über Territorien in Kingstons Innenstadt, der Zugewinn an wirtschaftlicher Unabhängigkeit unter der Schwarzen Bevölkerung durch transnationale Waren- und Geldflüsse und die Unfähigkeit des Staats, den strikten Anforderungen des Internationalen Währungsfonds zu genügen (vgl. »Murder Rate Climbs in ‘04« 2004: 4; Robotham 2009: 223; Thame 2011: 86; Thomas 2011a: 33). Die Deutungshoheit der Eliten des creole multiracial Staats wurde darüber hinaus durch eine Reihe weiterer Erscheinungen erschüttert. Dazu gehörten neben dem gestiegenen Selbstbewusstsein der Schwarzen urbanen Bevölkerung, das sich unter anderem in der Dancehall-Kultur manifestierte, ebenso die Herausforderung des Staats durch transnational agierende Akteur_innen. Deutungsmonopole und die Diskurshoheit der staatlichen Eliten wurden durch das Engagement von LGBTTIQOrganisationen aus der Diaspora angegriffen. Das Gewaltmonopol sowie die politische Kontrolle und Versorgung der Bevölkerung in den inner-cities machten dem Staat die Drogenkartelle und ihre in den garrisons ansässigen dons streitig. Bevor der Krisendiskurs und seine Rolle bei der diskursiven Verstärkung von Respektabilität dargestellt werden, wird kurz skizziert, wie die ursprünglich viktorianische Auffassung von Respektabilität im Verständnis der jamaikanischen Nation verankert wurde. 1
Aaron Kamugisha veranschaulicht, inwiefern der Begriff der Krise oder die Krisenhaftigkeit des Staats in zahlreichen politikwissenschaftlichen Forschungsarbeiten zur anglophonen Karibik auftaucht (vgl. Meeks 1996; Gray 2004; Kamugisha 2007: 21; Robotham 2009). Auch in den jamaikanischen Medien ist der Krisenbegriff populär. Beispiele dafür sind die »AIDS-Krise« (Boyne 2004d: G3) oder die »Krise der menschlichen Sexualität« (Thompson 2004: A9).
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Respektabilität, Sexualität und Staatsbürgerschaft auf Jamaika Wie einleitend bemerkt, setzt sich Respektabilität auf Jamaika durch die Intersektion eines Sets von bestimmten Auffassungen über und Anforderungen an race, class, Gender und Heterosexualität zusammen. Sie stellt einen wesentlichen Teil der Identität der middle class dar, deren kreolischer Nationalismus Respektabilität wiederum zu einem elementaren Faktor der Beschaffenheit von jamaikanischer nationaler und kultureller Identität werden ließ. Respektabilität ist keine Eigenschaft, die Menschen auf Jamaika durch den Aufstieg in eine wirtschaftlich besser situierte class erlangen können. So gelten international erfolgreiche Dancehall-Künstler_innen, die ursprünglich aus armen Verhältnissen stammen, selbst wenn sie in teurere Wohngegenden ziehen, nicht automatisch als respektabel. Respektabilität ist letztendlich ein Ausschlussmechanismus, den sich insbesondere die staatstragende middle class zu Nutze macht, um sich von der Schwarzen urbanen Bevölkerung abzugrenzen: »The term respectability is used primarily by high class people to describe themselves and to characterize others as not respectable« (Wilson 1973: 99 [Herv. i.O.]). Für die Schwarze working class ist es folglich fast unmöglich, respektabel zu werden, obwohl ihr Verhalten anhand von Respektabilitätsnormen sowohl von der eigenen sozialen Gruppe als auch von den Eliten gemessen und beurteilt wird (vgl. LaFont 2000: 243). Im Buch wird Respektabilität sowohl als historisch gewordenes Ideologieelement der jamaikanischen middle class als auch als Analysekategorie verwendet, um Vorgänge des Machterhalts bei bestimmten gesellschaftlichen und politischen Akteur_innen benennen zu können. Respektabilität kann auf unterschiedlichen Ebenen, wie dem Individuum, dem Haushalt, der Gemeinschaft oder dem Staat ausgehandelt werden. Auch wenn Frauen historisch betrachtet im Zentrum der Diskussionen um Respektabilität stehen, dreht sich die Diskussion ebenfalls um Männlichkeit. Respektabilität geht einher mit christlichen Vorstellungen und heteronormativen Auffassungen von Staatsbürgerschaft. Ihre Aufrechterhaltung spielt eine wichtige Rolle in der Argumentation gegen Homosexualität und andere Praktiken, die als sexuelle Abweichungen definiert werden. Jacqui Alexander veranschaulicht in ihrem Aufsatz »Not Just (Any) Body Can Be a Citizen«, inwiefern sozioökonomische Herausforderungen an den Nationalstaat im 20. und frühen 21. Jahrhundert dazu geführt haben, dass die zwanghafte Aufrechterhaltung der heterosexuellen Staatsbürgerschaft durch Gesetzesmaßnahmen in der Karibik eine verbreitete Praxis geworden ist (vgl. Alexander 1994: 7). Die Staaten machen sich dabei die Gesetze, die den gleichgeschlechtlichen Verkehr zwischen Männern in Form von Analverkehr kriminalisieren und aus der Zeit der kolonialen Herrschaft stammen, zu Nutze. Gesetze wie die Buggery Laws hatten im Kolonialismus zwei Funktionen. Erstens regulierten sie die
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Heterosexualität der Kolonialisierten und Kolonisierenden anhand binärer Geschlechtervorstellungen. Männer wurden damit als Penetrierende und Frauen als Penetrierte festgeschrieben. Zweitens war ihnen eine wichtige biopolitische Komponente inhärent. Sexualität sollte nicht nur anhand heterosexueller Normen verlaufen. Durch die Kriminalisierung von heterosexuellem Analverkehr wurde außerdem eine gängige Verhütungspraktik ausgeschlossen und somit Sexualität und Reproduktion der Bevölkerung auf das Engste verknüpft. Den Buggery Laws kommt somit auch die Aufgabe zu, die Reproduktion von Sklav_innen und Arbeiter_innen für die Kolonie und später den unabhängigen jamaikanischen Staat sicherzustellen (vgl. Voß und Wolter 2013: 100). Historisch gesehen gehen staatsbürgerliche Rechte und Pflichten mit der Idee einher, dass lediglich Männer als autonome politische Subjekte tätig werden können (vgl. Appelt 2001: 64). In der Karibik kommt hinzu, dass Schwarze Männer während des Kolonialismus versklavt und keine Staatsbürger waren. Weiß sein hieß, Rechtssubjekt zu sein, während Schwarze ausschließlich Objekte von Recht und Ordnung waren (vgl. Carr 2007: 406). Die ursprüngliche Idee der Staatsbürgerschaft ging davon aus, dass sich Männer zu einem politischen Gemeinwesen zusammenschlossen, an das sie gewisse Rechte abtraten, für das sie Abgaben leisteten und in dem sie als Gegenleistung ein politisches Mitspracherecht sowie Schutz durch das staatliche Gewaltmonopol erhielten (vgl. Appelt 2001: 64). Staatsbürgerschaft lässt sich nach dem britischen Soziologen Thomas H. Marshall in drei grundlegende Elemente aufteilen: Erstens die zivile Dimension, die Aspekte wie Meinungs- und Religionsfreiheit, das Recht auf eigenen Besitz und Gleichheit vor dem Gesetz beinhaltet. Zweitens die politische Dimension, die das Recht auf Teilhabe am politischen Prozess als wählende oder gewählte Person beschreibt. Drittens die soziale Dimension, die garantiert, dass alle in der Gemeinschaft das notwendige Minimum an wirtschaftlichem Wohlstand besitzen (vgl. Marshall 1992: 8). Im Falle Jamaikas ist es wichtig, die Einflüsse des Kolonialismus auf das Verständnis von Staatsbürgerschaft hinzuzuziehen und Marshalls Definition zu erweitern. Aaron Kamugisha betont deshalb, dass eine Auseinandersetzung mit Staatsbürgerschaft in der Karibik über die »begrenzten legalen Definitionen« von Staatsbürgerschaft hinausgehen muss (Kamugisha 2007: 21). Seiner Meinung nach manifestiert sich Kolonialität bei der Definition von Staatsbürgerschaft in der Karibik im 20. und frühen 21. Jahrhundert in drei Hauptaspekten, die wiederum dazu beitragen, dass Teilen der Bevölkerung in anglokaribischen Staaten die volle Staatsbürgerschaft ver-
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weigert wird (vgl. Kamugisha 2007: 21): Erstens die Dominanz der gesellschaftlichen Eliten. Zweitens die Tourismusindustrie. 2 Drittens der geschlechtsspezifische und heteronormative Blick des karibischen Staats (vgl. Kamugisha 2007: 22). Diese drei Aspekte sind ihrerseits verknüpft mit Neoliberalismus und Überbleibseln des kolonialen Autoritarismus (vgl. Kamugisha 2007: 20). Kamugisha veranschaulicht, inwiefern die Dominanz der nationalen Eliten in der anglophonen Karibik aus einer Art Abkommen mit der britischen Kolonialadministration hervorgeht: »The Anglophone Caribbean postcolonial state was, in part a gift of the British to the Caribbean middle class, who were seen as possessing the social and cultural capital which made them fit to rule« (Kamugisha 2007: 24). Auf Jamaika übertragen bedeutet das, dass die nationale Unabhängigkeit 1962 nicht durch ein revolutionäres Aufbegehren der gesamten Bevölkerung, sondern de facto durch eine Art bestandenen Eignungstest der Eliten herbeigeführt wurde. Deren Machtposition und Erhalt waren auf das Engste mit dem Diskurs der Kreolisierung verbunden: Creole discourse has been the bonding agent of Caribbean society. It has functioned in the interest of the powerful, whether represented by a colonialist or nationalist elite. It is the identific glue that bonds the different, competing, and otherwise mutually exclusive interests contained within Caribbean society. It paved the way for accommodation of racialized discourses of difference upon which rested the legitimacy of colonial power and exploitation (Hintzen 2002).
Der kreolische Staat vermittelte wiederum ein bestimmtes Modell an »kultureller Staatsbürgerschaft« (Rosaldo 1994: 402) an seine Bevölkerung, das frei war von Schwarzen revolutionären Ansätzen, wie sie auf Jamaika von Marcus Garvey, den Rastafaris oder später Walter Rodney formuliert wurden: It reveals again the deep limitations of ›cultural citizenship‹ offered (often hesitantly) to the postcolonial masses by the middle-class elites, a citizenship often bereft of the revolutionary potential of anti-colonial nationalism after it has gone through the organisational rationalities of the middle class (Kamugisha 2007: 25-26).
Laut Renato Rosaldo ist mit dem Begriff kulturelle Staatsbürgerschaft das Recht der Bürger_innen auf kulturelle und individuelle Vielfalt verbunden. Die Existenz als Staatsbürger_innen soll demnach frei von rassistischer, klassistischer, sexistischer und religiöser Diskriminierung sein (vgl. Rosaldo 1994: 402). Daran knüpft auch 2
Da die jamaikanische Wirtschaft stark auf weiße Tourist_innen angewiesen ist, wird das Interesse der Bevölkerung aus wirtschaftlichen Gründen den Vorstellungen der Besucher_innen aus dem ›Westes‹ und deren Projektionen vom karibischen Inselparadies untergeordnet (vgl. Kamugisha 2007: 29).
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Homi Bhabha an, der betont, dass das Konzept der Staatsbürgerschaft aufgrund von Migration und transnationalen Prozessen der Vergesellschaftung zahlreiche Veränderungen im 20. und frühen 21. Jahrhundert erfahren hat: Staatsbürgerschaft nimmt zunehmend eine Komplexität an, die sich nicht mehr auf rechtliche, soziale oder politische Ideale beschränkt, die aus Territorialstaaten und deren Solidaritäten erwachsen. Staatsbürgerschaft ist heute eine von gesellschaftlichen Gruppen erhobene Forderung nach Formen von politischer und kultureller Anerkennung, die über nationale Grenzen und rechtliche Identitäten hinausgeht (Bhabha 2012: 55).
Laut Kamugisha wurden die veränderten Voraussetzungen und die sich daraus ableitenden Rechte, insbesondere von Frauen und sexuellen Minderheiten, in Jamaika nur begrenzt anerkannt. Grund dafür ist die spezielle Verknüpfung von Respektabilität und Anständigkeit in der anglophonen Karibik, die er als »pseudo-viktorianische Mutation« eines kolonial geprägten Ordnungssystems entlarvt (Kamugisha 2007: 35). Auch wenn auf Jamaika 1944 das allgemeine Wahlrecht eingeführt wurde, das demokratische Mitsprache zumindest formal loslöste von Besitz, Geschlecht und rassistischen Einschränkungen, blieben Männer als Staatsbürger die primär Agierenden im öffentlichen Raum (vgl. Kamugisha 2007: 32). 3 Frauen war lediglich der private Raum zugeschrieben, in dem reproduktive Tätigkeiten stattfanden. Bei der Aufrechterhaltung dieser Geschlechterhierarchie spielte die Idee der Respektabilität eine wichtige soziale Rolle. Da respektables Verhalten an bestimmte geschlechtsspezifische Vorstellungen und Tätigkeitsbereiche gebunden war, unterstützte sie die aktive Position des Mannes im Staat, während die der Frau auf das Gebären und Versorgen von neuen Staatsbürger_innen begrenzt war. Deshalb ist Respektabilität für Alexander nicht nur mit der vermeintlichen Natürlichkeit von Heterosexualität verbunden, sondern auch immer mit Schwarzer Maskulinität und Nationalismus (vgl. Alexander 1994: 7). Wo die Ursprünge der von Alexander hervorgehobenen Trias liegen, wird im Folgenden anhand der historischen Wurzeln von Respektabilität auf Jamaika näher erläutert.
3
Mit dem öffentlichen Raum ist hier der Raum, in dem sich staatliches politisches Handeln abspielt, gemeint. Die klassische Aufteilung zwischen einem öffentlichen und einem privaten Raum betrifft auf Jamaika primär die upper und middle class. In den ärmeren Stadtbezirken finden große Teile des sozialen Lebens in der Öffentlichkeit statt. Nichtdestotrotz gibt es auch hier Räume, die primär Männern offenstehen, wie beispielsweise Herrenfriseure, Bars und Wettbüros.
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Die historische Entwicklung von Respektabilität Ursprünglich stammt der Begriff Respektabilität aus dem Großbritannien der Viktorianischen Zeit: »Respectability – along with those other shibboleths of the Victorian age, ›progress‹ and ›improvement‹ – was closely associated in the Victorian public with a societal and cultural shift towards a more orderly, restrained and civilized society« (Masters 2010: 2-3). Das Konzept fand seinen Weg von der britischen middle class über den Atlantik hin zur afro- und indokaribischen Bevölkerung in den britischen Kolonien. Dort diente es zuerst den Kolonialist_innen und später der nationalen Elite als Abgrenzungsstrategie und war gleichzeitig Teil eurozentrischer Vorstellungen von einer ›zivilisierten‹ Gesellschaft. Wie im viktorianischen Großbritannien wurde auch auf Jamaika Respektabilität verknüpft mit gesellschaftlichen Ordnungsmaßnahmen und dem Streben nach Fortschritt. Die Eliten, die Kirche und später der unabhängige Staat gaben beispielsweise eine strikte Definition von Mutterschaft vor und unterstrichen die Notwendigkeit von Heirat und respektablem Verhalten (vgl. Sheller 2012: 255). Die Rhetorik der Respektabilität auf Jamaika wurde durch die Baptistische Kirche vorangetrieben, die in der Zeit nach der Emanzipation der Sklav_innen Land aufkaufte, verteilte und kirchliche Gemeinden schuf, die »freie Dörfer« genannt wurden (Thomas 2004a: 39). Im Kern der baptistischen Bemühungen stand dabei die Auffassung, dass Schwarze Männer, die aufgrund der Sklaverei als ›entmannt‹ wahrgenommen wurden, nun in den Rang ›vollwertiger‹ weißer Männer aufsteigen könnten (vgl. Stone 1986: 67; Thomas 2004a: 39). Hier wird die zuvor von Jacqui Alexander thematisierte Verbindung von Respektabilität und Schwarzer Maskulinität offensichtlich (vgl. Alexander 1994: 7). Ansätze zur Verbesserung der Lebensbedingungen der Schwarzen Bevölkerung fokussierten auf eine Befreiung von rassistischer Diskriminierung. Da Schwarze Maskulinität im Mittelpunkt des Interesses stand, blieben parallel zum Rassismus existierende geschlechtsspezifische Hierarchien unangetastet. Die Baptist_innen traten mit dem Ziel an, ein von ihnen bei der Schwarzen männlichen Bevölkerung ausgemachtes Defizit zu beseitigen. Schwarze Maskulinität war ihr Hauptaugenmerk, da im Europa des 19. Jahrhunderts Staatsbürgerlichkeit ebenfalls als eine maskuline Domäne wahrgenommen wurde. Auf dem Weg zur Gestaltung eines jamaikanischen Nationalstaats war die Formung dieses Staatsbürgers wiederum unabdingbar. Für Baptist_innen war die Heirat ein wichtiger Bestandteil eines respektablen Lebens: »Marriage also confers to respectability, so respectability is a degree of approximation to standards of the external, legal society and is mostly incurred by older people« (Wilson 1969: 78). Die Ehe sollte nach europäisch geprägter Vorstellung für den Zusammenhalt der Kernfamilie sorgen. Sie verband die binäre Vorstellung vom Mann als »Familienoberhaupt« und der Frau als »Reproduktionskraft« zu einer Einheit (Appelt 2001: 65). Die Versuche der Baptist_innen, die Familienstrukturen der Schwarzen Bevölkerung zu reformieren, scheiterten aber. Ehen blieben weiterhin
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eine Seltenheit und uneheliche Kinder stellten die Normalität dar (vgl. Thomas 2004a: 40). 4 Im Respektabilitätsbegriff, den die Schwarze working class adaptierte, spielte weniger die Ehe, als vielmehr die strikte Abgrenzung von als ›deviant‹ wahrgenommenen sexuellen Praktiken eine Rolle (vgl. LaFont 2001: 54). Wie in der Analyse demonstriert wurde, ist das Verständnis von Respektabilität auf Jamaika eng verknüpft mit den sexuellen Sitten der Bevölkerung. Diese haben sich, wie LaFont argumentiert, in einem dialektischen Prozess zwischen kolonialen Unterdrücker_innen, Sklav_innen und deren Nachkomm_innen herausgebildet (vgl. LaFont 2001: 52). Verhaltensmuster, die ursprünglich vonseiten der Kolonialist_innen eingefordert und erzwungen wurden, sind modifiziert und initialisiert worden und bilden heute einen Teil der kollektiven Selbstdefinition von vielen Jamaikaner_innen. Sie bestimmten nicht nur die Wahrnehmung der weißen Kolonialist_innen, sondern auch der kreolischen Bevölkerung und den Nachfahr_innen der versklavten Afrikaner_innen und überdauerten das Ende der Missionsarbeit (vgl. Thomas 2004a: 39). Das erklärt wiederum, warum sich Vorstellungen von Respektabilität und die damit verbundenen Geschlechterrollen und sexuellen Normen in der jamaikanischen Bevölkerung trotzdem festsetzen konnten. Deborah Thomas veranschaulicht den Zusammenhang zwischen Respektabilität und dem jamaikanischen Nationsbildungsprozess. Sie demonstriert, wie bereits bei der 1888 von Schwarzen Jamaikaner_innen verfassten antirassistischen Schrift Jamaica’s Jubilee; or, What We are and What We Hope to Be die Autor_innen, die Vermittlung von moralischen Werten als Mittel zum Aufstieg der Schwarzen Jamaikaner_innen betrachteten (Thomas 2004a: 35). 5 Zu einem respektablen Leben gehörten zu dieser Zeit, laut Thomas, der Besitz eines kleinen Stück Landes, das einfache, auf Landwirtschaft ausgerichtete Leben in den Bergen, die Fähigkeit, die eigene Familie zu ernähren, und eine ruhige Gemütseinstellung zu haben. Zusätzliche Säulen waren ein gutes Arbeitsethos, das zur Industrialisierung hinführen sollte, wirtschaftliches Denken, dem Bescheidenheit und Sparsamkeit zugrunde lagen, sowie christli-
4
Ein Grund dafür war, dass bis ins 18. Jahrhundert Eheschließungen zwischen den Versklavten vonseiten der Besitzer_innen weder angestrebt noch anerkannt wurden (vgl. Thomas 2011a: 58).
5
Als Autor_innen von Jamaica’s Jubilee waren nur Schwarze Jamaikaner_innen zugelassen. So sollte eine bestmögliche Auseinandersetzung mit den Folgen von Missionierung und Emanzipation garantiert werden. Insgesamt diente die Schrift dazu, einem kreolischen und britischen Publikum die Fähigkeiten der ehemals versklavten Schwarzen Bevölkerung zu demonstrieren. Die Autor_innen betonten deshalb ihre Rolle als Stellvertreter_innen und unterstrichen, dass nicht nur sie, sondern eine Vielzahl Schwarzer die Schrift hätte verfassen können (vgl. Thomas 2004a: 33, 286).
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che Frömmigkeit (vgl. Thomas 2004a: 35). Verkörpert wurde diese Form von Respektabilität im unabhängigen Landwirt, der als Symbol des Fortschritts und als Gegenfigur des Plantagenarbeiters gezeichnet wurde (vgl. Thomas 2004a: 35). In den 1930er-Jahren wurde die Wichtigkeit von Respektabilität hervorgehoben, als es auf Jamaika erneut darum ging, die Kernfamilie als Idealmodell für gesellschaftlichen Fortschritt beziehungsweise den reibungslosen Verlauf des kapitalistischen Verwertungsprozesses zu propagieren (vgl. Thomas 2004a: 49). Auch dieser war auf die tradierten Geschlechterrollen angewiesen. Nur wenn sich die Frauen um die reproduktiven Lebensaspekte kümmerten, konnten die Männer problemlos in den Verwertungsprozess eingebunden werden: Das galt sowohl für Schwarze als auch für weiße Familien: »[B]y the Interwar years the concept of female respectability had also become firmly established in the Anglophone Caribbean and that it was used to judge not only the behaviour of white women but also of black women« (Altink 2003: 2). Deborah Thomas betont die anhaltende Fokussierung auf Respektabilität in der Zeit zwischen dem Zweiten Weltkrieg und den 1960er-Jahren. In dieser Phase konsolidierte sich ihrer Meinung nach die Idee vom kreolischen jamaikanischen multiracial Staat und dessen Definition von kultureller Identität (vgl. Thomas 2004a:4). Die ideale Verkörperung von respektabler Staatsbürgerschaft fand sich in der ländlichen Bevölkerung (Thomas 2004a: 5f). Aus diesem Grund wurde bei der Herausbildung jamaikanischer kultureller Identität zur Unabhängigkeit auch die ländliche afrojamaikanische Kultur als respektabel ins Zentrum gerückt, während urbane Schwarze Kultur als vulgär ausgegrenzt wurde. Respektabilität im 20. und frühen 21. Jahrhundert Respektabilität und die sich historisch daraus ableitenden Imperative für die jamaikanische Familienstruktur werden bis heute sowohl für die soziale als auch für die ökonomische Entwicklung Jamaikas für notwendig gehalten (vgl. Thomas 2004a: 48, 49). Wichtigste Befürworter_innen von Respektabilität sind nicht nur die kulturellen und politischen Eliten des Landes, weite Teile der middle class und die meisten religiösen Gemeinschaften, sondern auch Teile der working class (vgl. Thomas 2011a: 139). Trotzdem trat stets die middle class als Hauptträgerin des respektablen jamaikanischen Nationalstaats auf. Neben dem Konzept der Staatsbürgerschaft steht Respektabilität immer auch in enger Verbindung mit Foucaults Begriff der Biopolitik (vgl. Sheller 2012: 239). Unter Biopolitik werden Maßnahmen zur Kontrolle und Steuerung einer Bevölkerung verstanden. Sie umfasst Populationszählungen, Mittel zur Förderung der öffentlichen Sauberkeit, Gesundheit der Staatsbürger_innen, Geburtensteigerung und Eugenik (vgl. Sarasin 2012: 170-171). Das biopolitische Vorgehen auf Jamaika ist bis in die jüngste Vergangenheit gekennzeichnet durch die Einflussnahme und die Kontrollen des Staats gegenüber Schwarzen Frauen aus der working class (vgl. Thomas 2011a:
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81). So wurde 2003 von zwei Parlamentarier_innen ein Jungfräulichkeitstest bei Mädchen unter 16 Jahren sowie die Zwangssterilisation von unverheirateten Frauen mit mehr als zwei Kindern diskutiert (vgl. Thomas 2011a: 80). Wie in der Analyse der Diskussion um homophobe Dancehall-Musik dargestellt und auch von Thomas geäußert, gibt es, gerade aufgrund der gesellschaftlichen Schlüsselrolle von Respektabilität, die Tradition, soziale Probleme dem Versagen der heteronormativen Kernfamilie anzulasten (vgl. Thomas 2004a: 49). 6 Das wird überdies in einer medialen Auseinandersetzung deutlich, in der die freizügige Kleidung von jungen Frauen und Vergewaltigungsopfern in einen kausalen Zusammenhang gerückt werden. Die Debatte fand parallel zur Diskussion um Homophobie in der jamaikanischen Populärkultur im Jahr 2004 statt. 7 Hier wurde ebenfalls Sexualität in das Zentrum 6
Siehe Kapitel Der Diskurs gegen Dancehall.
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Außer der Kontroverse um gewaltverherrlichende und homophobe Populärkultur gab es im Untersuchungszeitraum 2004 eine Debatte über zu freizügige Kleidung bei jungen Frauen, die ebenfalls Diskurse zur Wiederherstellung von Respektabilität und Kontrolle von Schwarzer Weiblichkeit artikulierte (vgl. Stoddart 2004b; Abdul-Akbar 2004: 9; Morris 2004a: 9; Boyne 2004d: G3, G5). Bischof Herro Blair hatte eine Diskussion im Sommer 2004 angestoßen, in der die freizügige Kleidung von jungen Frauen als ein möglicher Grund für Vergewaltigungen herangeführt wurde. So wurden die Opfer von sexueller Gewalt selbst zu Mitschuldigen gemacht. Die Kontroverse reihte sich ein in die Diskursformation, die ›deviante‹ Sexualität hervorhebt und sie als Teil einer allgemeinen gesellschaftlichen Krise porträtiert. Teil davon ist auch der Diskurs gegen Dancehall-Kultur, die aufgrund provokativer und freizügiger Frauenmode häufig in den Fokus der Kritik gerät. Blairs Äußerungen stießen auf starken Widerspruch, unter anderem auch von Carolyn Cooper, die sich im Gleaner dazu äußerte: »THERE’S NO correlation between the way women dress and how rapacious men are. Rape is not about sex, it’s about power, and I don’t think women should feel that they now have to dress like nuns to avoid being raped« (Cooper 2004b: 5). In den Medien, nicht nur auf Jamaika, sondern auch im ›Westen‹, schlugen und schlagen sich die Diskussionen um Respektabilität ferner nieder, wenn allgemein die Dysfunktion Schwarzer Familien als Grund für die Gewaltbereitschaft von Schwarzen Jugendlichen verantwortlich gemacht wird: »[T]he argument that black youth are violent because they have been raised within households that deviate from the normative pattern of sexual relations and family formation provides both a racialized and a sexualized justification for exclusion from the legitimate community of the nation-state« (Thomas 2011a: 79). Anstatt die Ursachen für soziale Probleme in den seit dem Kolonialismus und der Plantagensklaverei fortbestehenden Ungerechtigkeiten zu suchen, ist es so möglich, von einer »Kultur der Armut« oder einer »Kultur der Gewalt« (Thomas 2011a: 83) zu sprechen und jegliche gesellschaftliche Verantwortung auf die working class und insbesondere auf Schwarze Frauen abzuschieben. Der Ausdruck »Kultur der Gewalt« wird auch von Peter
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staatlicher Initiativen gerückt, deren Ziel es war, die gesellschaftliche Moral zu bewahren (vgl. Sheller 2012: 250). Stigmatisiert werden so primär Schwarze Working Class-Frauen, wobei Homosexuelle und ›deviante‹ Maskulinität ebenfalls problematisiert werden und als staatsgefährdend gelten. Soziale Mobilität ist oftmals an das Erlangen von Respektabilität gebunden (vgl. LaFont 2000: 243). Nur wer mit dem Geschlechterverhalten in der dominanten Geschlechterideologie konform geht, wird auch wirklich als Teil der gesellschaftlichen Elite wahrgenommen (vgl. LaFont 2000: 243). Oftmals macht die ökonomische Situation der armen Bevölkerungsteile aber eine Anpassung an die Forderungen der Elite unmöglich. LaFont verdeutlicht, dass Männer und Frauen aus der lower class häufig aufgrund finanzieller Engpässe gezwungen sind, Partner_innen durch Schwangerschaften an sich zu binden und multiple Beziehungen jenseits der respektablen Vorstellungen der Eliten einzugehen: Although the conjugal bond is weak, childbearing is central to gender relations between poor woman and men. Serious and long-term relationships are supposed to produce children, and children are used by both sexes to hold on to their mates. Just as women try to »hold« men and gain economic commitment through children, men feel that women can leave them more easily if they do not breed [impregnate] them (LaFont 2000: 239).
Das Ideal des respektablen Staatsbürgers oder der respektablen Staatsbürgerin ist für die meisten Menschen aus der jamaikanischen lower class nicht erreichbar. Trotzdem wird es weiterhin von einkommensschwachen Jamaikaner_innen idealisiert, da es für sozialen Aufstieg steht (LaFont 2000: 243). Das liegt daran, dass Familien mit geringen Einkommen Respektabilität als einen Weg sehen, ihre soziale Position zu verbessern (vgl. LaFont 2000: 243). Aufrechterhalten wird das Ideal ebenso durch mediale Diskurse, die die Wahrnehmung des Geschlechterverhaltens der lower class prägen und es gleichzeitig als außerhalb von Respektabilitätsvorstellungen porträtieren und kritisieren (vgl. LaFont 2000: 242). Die medialen Äußerungen der gebildeten jamaikanischen middle class zur Dancehall-Kultur sind dafür exemplarisch. Trotzdem kann Respektabilität auch von der lower class als gesellschaftlicher Maßstab benutzt werden, um das Verhalten der Elite beziehungsweise des ›westlichen‹ Auslandes zu kritisieren. 8 Das geschieht nicht nur in den Medien, sondern auch innerhalb des antihomosexuellen Dancehall-Diskurses selbst. Beide Male gelingt es dort, der
Tatchell in einem persönlichen Interview 2011 verwendet (Tatchell 2011). Die Ausdrucksweise ist problematisch, da sie die historischen, gesellschaftlichen und politischen Ursachen von Gewalt auf Jamaika ausklammert und dazu verleitet, Jamaikaner_innen als per se gewalttätigere Menschen zu illustrieren. 8
Siehe Kapitel Der antihomosexuelle Diskurs auf Jamaika.
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marginalisierten Schwarzen working class, mittels des bürgerlich und kolonial geprägten Kriteriums der Respektabilität und dessen Verengung auf die Kritik an ›devianten‹ Sexualitäten, die nationale Elite oder das ›westliche‹ Ausland als in der (moralischen) Krise, dekadent und verkommen zu porträtieren. Durch diesen Schritt verlässt die Schwarze lower class ihre passive Position und ermächtigt sich dadurch diskursiv selbst (vgl. LaFont 2001: 7). Die Frage bleibt, ob die diskursive Ermächtigung von der jamaikanischen lower class wirklich genutzt werden kann, da sie auch zum generellen Erhalt des Diskurses um Respektabilität beiträgt, in dem letzten Endes erneut die gesellschaftlich wirkmächtigen Akteur_innen das Sprechen dominieren, mehr Gehör finden und so ihre Abgrenzung zur working class gewährleisten. Kritik an den gesellschaftlichen Verhältnissen auf Jamaika müsste demnach primär außerhalb der den respektablen Staat stützenden Diskurse artikuliert werden. Die Krise des respektablen jamaikanischen Staats Die analysierten Artikel aus dem Jahr 2004 enthalten eine Vielzahl von Aussagen, die den jamaikanischen Staat in einer bedrohlichen Krise darstellen. Was aber ist charakteristisch für eine Krise beziehungsweise Krisendiskurse? Krisen zeichnen sich generell dadurch aus, dass eine bestimmte Gesellschaft sich in einer fundamentalen Entscheidungssituation befindet. Diese ist meist geprägt von Extremen. Oft ist es in einer Krise ungewiss, ob sich die gesellschaftlichen Verhältnisse zum Guten oder zum Schlechten wenden (vgl. Meyer, Patzel-Mattern und Schenk 2013: 9). Die Wahrnehmung einer Krise versteht sich somit immer auch als Selbstreflexion und Prognose aus der Perspektive einer bestimmten Gruppe sozialer Akteur_innen (vgl. Meyer, Patzel-Mattern and Schenk 2013: 10, 12). In der Geschichtswissenschaft wird die Krise definiert als ein »Umbruch, der die sozialen Verhältnisse tiefgreifend verändert, nach dem alles anders ist« (Meyer, Patzel-Mattern und Schenk 2013: 12). Das Phänomen Krise ist kein Spezifikum der ›westliche‹ Moderne, sondern eine soziale und diskursive Konstruktion, die durch ihren jeweiligen kulturellen und historischen Kontext geprägt wird (vgl. Meyer, Patzel-Mattern und Schenk 2013: 14). Die Krise auf Jamaika im Jahr 2004 resultiert aus einer Vielzahl von sozialen, kulturellen, politischen und wirtschaftlichen Veränderungen, die sich in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhundert ereigneten. Thomas äußert sich wie folgt dazu: [W]hen the hegemony of the respectable state has been threatened, what often emerges is a discourse that foregrounds a sense of crisis rather than one that acknowledges or celebrates a particular kind of liberation (Thomas 2004a: 11).
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Im Folgenden wird erläutert, was genau durch die Krise gefährdet ist. Das Zitat von Thomas betont, dass die »Hegemonie des respektablen Staats« bedroht wird. Sie bezieht sich dabei auf das lange dominierende Konzept von Jamaika als creole multiracial Staat, das nun durch eine Erscheinung, die Thomas als Modern Blackness beschreibt, herausgefordert wird. Sie definiert Modern Blackness als ein städtisches Phänomen, das von Schwarzer Jugend- und Populärkultur beeinflusst ist und durch Migrationsprozesse zwischen der Karibik und den nördlichen Metropolen inspiriert wird. Dabei wirken sich besonders Einflüsse aus der afroamerikanischen Populärkultur, verstärkter Individualismus und Konsumdenken auf die jamaikanische working class aus. In einem transnationalen Kontext, der neue soziale Mobilität eröffnet, artikuliert sich außerdem ein »Ghettofeminismus«, der seinen Ursprung bei finanziell unabhängigen Händlerinnen und Dancehall-Künstlerinnen hat (Thomas 2004a: 23). Ferner weist Thomas auf den Machtkampf um öffentliche Repräsentation hin, der zwischen Dancehall-Musik, dem stärksten Element der Populärkultur, und dem »respektablen Staat« stattfindet (Thomas 2004a: 11). Der Sachverhalt unterstreicht Stuart Halls Feststellung über die Bedeutung von Repräsentation im Konstruktionsprozess von kultureller Identität (Hall 1990: 222). Die gemeinsame Repräsentation von Blackness und Jamaicanness in der Dancehall ist gleichzeitig ein Gegenentwurf zur kulturellen Identität des creole multiracial Staats von 1962. Welche Wirkungen und Konflikte an diese Identitätskonstruktion gebunden sind, wurde in den Kapiteln, die sich mit den Diskursen um Dancehall-Musik befassen, verdeutlicht. 9 Die zwei Konzepte von jamaikanischer kultureller Identität, Blackness versus creole multiracial Nationalismus, sind keine neuen Phänomene in der Geschichte Jamaikas. Das Spannungsverhältnis dieser Konzepte hat eine lange Tradition, die bis in die Zeit vor der Unabhängigkeit zurückgeht (vgl. Thomas 2004a: 13). Ein Beispiel dafür sind die antikolonialen Bewegungen vor der Unabhängigkeit, wie die Jamaica Progressive League in New York, die auf die Nation setzte, während die Anhänger_innen des berühmten Panafrikanisten Marcus Garvey race und Blackness ins Zentrum ihrer politischen Arbeit stellten. Der Ursprung des respektablen Staats liegt in der Vereinigung der »beiden Jamaikas« (Sherlock und Bennett 1998: 389), die auf dem Weg zur Unabhängigkeit 1962 eine gemeinsame kulturelle Identität benötigten, um die Spaltungen zwischen Sklavenhalter_innen und Sklav_innen, die über Jahrhunderte auf der Insel dominierten, zu überbrücken. Zwischen 1655 und 1940 existierten in der britischen Kolonie stets zwei Gruppen, die voneinander durch race, color und den Zugang zu politischer Macht getrennt waren (vgl. Sherlock und Bennett 1998: 389). Die Überwindung dieser Trennung ist ebenfalls im jamaikanischen Staatswappen versinnbildlicht, das den Slogan Out of Many, One People enthält.
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Siehe die Kapitel Der Diskurs gegen Dancehall und Der Diskurs pro Dancehall.
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Worin drückt sich die wahrgenommene Bedrohung, Gefahr und Verunsicherung, die typischerweise mit einer Krise einhergehen, im Jahr 2004 aus (vgl. Nünning 2013: 131)? Die »Hegemonie des respektablen Staats« (Thomas 2004a: 11) wird vorwiegend bedroht von einer Verknüpfung aus transnationalen, internationalen und lokalen Einflüssen. Die transnationale Unterstützung für zivilgesellschaftliche Organisationen wie J-FLAG und die permanente Mobilität von Menschen und Produkten der Populärkultur zwischen Jamaika, Nordamerika und dem Vereinigten Königreich sind Beispiele für die Erosion der Grenzen. Sie führt zur Wahrnehmung, dass der jamaikanische Staat vermehrt gefährlichen und fremden Einflüssen aus dem Ausland ausgesetzt ist. In der Kritik an Homosexualität und Dancehall manifestiert sich ein Krisendiskurs. Insbesondere soziale, kulturelle, wirtschaftliche und politische Transformationen auf Jamaika haben zu Zweifeln, Unsicherheiten und Ängsten über die Zukunft des Landes geführt (vgl. Thomas 2011a: 129). Die Unsicherheiten und Übergänge produzieren einen Diskurs in den öffentlichen Printmedien, der sich auf die zentralen Aspekte der Auflösung, Abweichung und Degeneration in sämtlichen classes, nicht nur in der jamaikanischen Gesellschaft, sondern auch in der ›westlichen‹ Welt, konzentriert. Die wahrgenommene Krise ist aber weder etwas Gegebenes noch ist sie von natürlichem Ursprung. Ihre Genese ist bedingt durch eine Selektion, Abstraktion und Auszeichnung von bestimmten Elementen, die zu ihrem diskursiven Charakter beitragen (vgl. Nünning 2013: 125). Das heißt allerdings nicht, dass Krisen nicht auch über ihren diskursiven oder metaphorischen Charakter hinaus existieren (vgl. Nünning 2013: 130). Im Folgenden wird demonstriert, inwiefern Dancehall und Homosexualität ausschlaggebend für die Konstruktion der Krise sind. Die ›Degeneration‹ der Gesellschaft durch Homosexualität Die Krise wird konstruiert durch das Vorkommen von Abnormitäten, die ›Versündigung‹ der Gesellschaft, eine sexuell ›dekadente‹ upper class, die ›Verweiblichung‹ von Maskulinität, sexuelle Übergriffe auf Kinder und damit die Gefährdung der Zukunft der Nation, Gewalt und das Eindringen von ›fremden‹ Einflüssen aus dem Ausland. Die vehemente Kampagne zur Unterstützung von J-FLAG und gegen Homophobie auf Jamaika, primär getragen von LGBTTIQ-Organisationen mit Sitz in den USA und Großbritannien sowie HRW und AI, sind Teil der als bedrohlich wahrgenommenen transnationalen Entwicklungen. Ängste unter Jamaikaner_innen bezüglich des wachsenden Auftretens von Homosexuellen und einer sichtbaren Präsenz Homosexueller auf Jamaika veranschaulichen den Zusammenhang von Heteronormativität, Staatsbürgerschaft und dem Überleben der Nation, das von der Reproduktion durch Heterosexualität abhängig gemacht wird (vgl. Alexander 1994: 6). Abweichungen von der heterosexuellen Norm werden mit Schreckensszenarien verbunden: »Sodom
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and Gomorrah started with a few homosexuals that perverted the cities into acceptance of its ›alternative lifestyles‹. They ultimately incurred the wrath of God. Should we not learn from history?« (Sauden 2004: A5). Die Kampagnen der LGBTTIQ-Aktivist_innen werden 2004 auf Jamaika oft als ein Versuch und manchmal sogar als ein »Kreuzzug« (Levy 2004a: 10) betrachtet, dessen Ziel es sei, das Land durch Zwang in einen ›homophilen‹ Staat zu verwandeln. Mark Wignall spricht in seiner Kolumne im Jamaica Observer von Homosexuellen, die sich sowohl in das kollektive Bewusstsein als auch in die Wohnzimmer der Jamaikaner_innen drängen (vgl. Wignall 2004b: 8). Dabei spielt er auf die US-Kulturindustrie an, deren Serien in den 1990er-Jahren und nach dem Millennium vermehrt homosexuelle Charaktere beinhalten. Populärkultur aus den USA wird oft als Vehikel angesehen, das Transgressionen wie Homosexualität, Vulgarität, Materialismus und Gewalt in die jamaikanische Gesellschaft einschleust. In Leserbriefen an den Gleaner und den Observer wenden sich viele Jamaikaner_innen auf der Insel und aus der Diaspora gegen die Kampagnen und fordern AI, HRW und Outrage! dazu auf, sich aus den nationalen Angelegenheiten Jamaikas herauszuhalten (vgl. Reid 2004: A3). Die internationalen Kampagnen werden überwiegend als ein Versuch wahrgenommen, Jamaikaner_innen durch politischen und ökonomischen Druck dazu zu zwingen, sexuelle Praktiken zu akzeptieren, die sie nicht als Teil ihrer nationalen Identität und Kultur wahrnehmen (vgl. Very Angry 2004: 28). Ein anonymer Brief an den Jamaica Observer beklagt das Verwischen der Grenzen zwischen Normalität und Abnormität: »We live in a world where there is an increasing tolerance of abnormal behavior. Such tolerance has got to the worrying extent where the lines between what is right and what is wrong have become seriously blurred« (Very Angry 2004: 28). Ein anderer Kommentar im Star liest sich ähnlich: »All of a sudden the world has become a lot more uncomfortable and it has nothing to do with terrorism or the war in Iraq. Change is inevitable but not all change must be about throwing away what is right for what has become socially acceptable« (Levy 2004a: 10). Ein Leserbrief im Gleaner positioniert sich deutlich gegen die gewaltsamen Texte der Dancehall, ruft aber gleichzeitig die Politiker_innen zum Festhalten an der antihomosexuellen Gesetzgebung auf: I think the Government should take a strong stand against artistes who promote violence against any group of people (this must include informants, persons who practice oral sex etc.) while ensuring that as a people we are protected from the moral degeneration that many first world countries now suffer from. I really would be worried if the Government allowed homosexuals to con our children into thinking that homosexuality is a normal and acceptable behavior (Clarke 2004b: A5).
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Der vermeintliche Zerfall der »Ersten Welt« und deren »moralische Degeneration« werden oftmals als ein Teil der jamaikanischen Krise wahrgenommen. Das geschieht deshalb, weil transnationale Beziehungen als gefährliche Einflüsse dargestellt werden, die in die jamaikanische Gesellschaft Einzug halten. So sieht dieser Leser die Kampagne der LGBTTIQ-Aktivist_innen als Versuch, jamaikanische Kinder »zu betrügen«. Der Betrug liegt für ihn darin, dass Homosexualität als eine legitime Form von Sexualität präsentiert wird. Nicht nur jamaikanische Kinder, sondern Jamaikaner_innen generell, werden in vielen Artikeln als Menschen dargestellt, die sich leicht für Dinge aus dem Ausland begeistern können und diese kritiklos als »Annehmlichkeiten« übernehmen (Wignall 2004c: 27). Aus diesem Grund sind Zukunftsängste auch in einem Artikel mit der Überschrift »The New Gay World Order« im Jamaica Observer enthalten: »I realize that what we are seeing is the ever-expanding borders of human degradation, where absolutely anything goes, and where people with a sense of decency are being goaded into silence« (Blaine 2004: 10). Zukunftsängste und der vermeintliche Verfall von sozialen und sexuellen Werten werden auch ausgedrückt, wenn Jamaika davor geschützt werden soll, sich zum »kleinen San Francisco« zu entwickeln (Stoddart 2004c: 9). Die Stadt San Francisco steht international für eine virulente und offene Präsenz von Homosexuellen und ist Austragungsort einer der größten Gay Prides der Welt. Gerade das öffentliche Auftreten von Homosexuellen und deren kollektives Coming Out sind besonders gefürchtet und werden deshalb von vielen Jamaikaner_innen abgelehnt (vgl. Wignall 2004c: 26). Die ›Degeneration‹ der Gesellschaft durch Dancehall Neben ›fremden‹ Einflüssen aus dem Ausland und Homosexualität stellt das sowohl lokale als auch transnationale Phänomen Dancehall eine ernsthafte Herausforderung für den respektablen Staat dar. Es provoziert die Hegemonie des creole multiracial Staats als urbane Populärkultur, die Schwarzsein in den Mittelpunkt stellt (vgl. Thomas 2004a: 12). Dancehall-Kultur etabliert einen Raum für Gegenkultur (vgl. Thomas 2004a: 7), der die Möglichkeit zur Gestaltung von Schwarzer Identität und Solidarität innerhalb der urbanen Bevölkerung schafft (vgl. Stolzoff 2000: 6) und in dem ein weibliches Empowerment stattfindet, das Carolyn Cooper als »erotic maroonage« beschreibt (Cooper 1994: 161). Im Gestaltungsraum der Dancehall wird das Konzept der Respektabilität herausgefordert. Stattdessen erfahren marginalisierte Schwarze Männer und Frauen aus der working class Anerkennung. Der Diskurs um respektable und normabweichende Weiblichkeit und Mutterschaft findet sich auch im Roman Bun Him!!! der populären Dancehall-Künstlerin Macka Diamond wieder. Anhand der Romanfigur Mitsie illustriert Macka Diamond den Umgang mit Schwarzer weiblicher Sexualität in der Dancehall:
250 | D ANCEHALL UND H OMOPHOBIE She may’ve been thirty-five with three children, and had more baby-father drama than a soap opera, but Mitsie still considered herself to the hottest thing since jerk chicken. Then again, it wasn’t as if she was lying to herself, ‘cause in all aspects, she was who she was, a bashment girl of the highest order (Diamond 2007: 38).
Anhand des Romanzitates wird offensichtlich, wie Dancehall die Fähigkeit besitzt, Beziehungen zwischen race, class und Gender auf Jamaika neu zu definieren (vgl. Stolzoff 2000: 6). Außerhalb der Dancehall verstößt eine Frau wie Mitsie gegen das Bild von respektabler Weiblichkeit, innerhalb der Dancehall-Kultur ist sie immer noch »auf höchstem Niveau«. Dancehall nimmt eine sehr ambivalente Position in den sozialen, kulturellen und politischen Kämpfen Jamaikas ein. Auf der einen Seite unterwandert die DancehallKultur die Säulen des creole multiracial Staats durch das provokative und lautstarke Feiern von städtisch geprägter Blackness und Heterosexualität der Schwarzen working class. Auf der anderen Seite verstärkt Dancehall aber auch Auffassungen von Respektabilität durch Antihomosexualität oder die Stigmatisierung von Frauen, die abgetrieben haben. Denise Noble spricht in diesem Zusammenhang von der »Reproduktion zwanghafter Heterosexualität als Schlüsselreferenz postkolonialer Blackness« (Noble 2008: 117). In der Kritik an Dancehall artikuliert sich ebenfalls ein Krisendiskurs, der die jamaikanische Gesellschaft im Verfall sieht. Die in den vorausgehenden Abschnitten beschriebenen Befürchtungen des Überhandnehmens von Gewalt, Kriminalität, Vulgarität, kultureller ›Dekadenz‹, negativen Vorbildern und Sexismus können als Teilaspekte dieses Krisendiskurses gesehen werden. Ein Leserbrief im Gleaner setzt die Dancehall-Lyrics von Kiprichs und Predators Lied »Head Nuh Good« (2003) direkt mit der gesellschaftlichen Krise in Verbindung: ALTHOUGH THE song ›Mad, sick, head nuh good‹ really mocked us, it appears to have a lot of truth to it. Over the past month I was shocked by the level of madness taking place in our country. From di house of Parliament to di men on the street, wi watch it pan T.V. and read it in the papers. Then we watched two entertainers at the recent Sting acting out what seems to be ›The Crazy Hype‹. Followed by patrons throwing bottles without any sense of purpose (Williamson 2004: A5).
Der Leserbrief greift Krankheit und Verfall auf, die zusammen mit der Auflösung von moralischen Werten und »sozialer Verantwortung« zentrale Motive im Diskurs sind (Wignall 2004a: 14). Die Kritik an Dancehall geht dabei oft einher mit einer Markierung der working class und deren Lebensformen als vermeintlichem Epizentrum des Verfalls und Gefahrenherd für die Gesellschaft. Mark Wignall beschreibt die Situation in den Innenstadtbezirken deshalb als Zeitbombe: »In the inner-city areas a time bomb is ticking
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which, if left unchecked, will overtake this country in another 10 years« (Wignall 2004a: 14). Der Krisendiskurs beschränkt sich aber nicht auf die Schwarze working class (vgl. Boyne 2004e: E8). Politiker_innen und Unternehmer_innen werden ebenfalls als Mitverursacher_innen wahrgenommen: »[T]he degeneracy is not limited to downtown and the dancehall. The degeneracy is from top to bottom. Sections of the capitalist class are irresponsible, morally bankrupt and philosophically nihilistic« (Boyne 2004e: E8). Dancehall-Deejays sind demnach nicht die alleinigen Verantwortlichen, katalysieren aber gesellschaftliche Verfallserscheinungen: »The dancehall artistes are not the originators of the rot, but they contribute to and reinforce it« (Boyne 2004a: G6). Trotzdem werden Menschen aus der unteren working class als Hauptbetroffene wahrgenommen, wenn über negative Aspekte von Dancehall-Musik gesprochen wird. Aufgrund von Armut und Perspektivlosigkeit gelten sie als besonders anfällig für die Botschaften der Dancehall-Künstler_innen, die aus ihren eigenen Reihen stammen (vgl. Wignall 2004a: 14; Boyne 2004g: G9). Dancehall wird als Produkt der lower class dargestellt, das dieser keinerlei soziale Vorteile bringt, sondern den prekären Status quo vielmehr zementiert oder gar zum vollständigen Verfall von Sitten, Moral und Ordnung führt. Als Ursache dafür wird ein Mangel an Moral und Kontrolle in der Dancehall-Kultur angeführt: We need to look at who makes dancehall what it is, a rotten tree with the stench of unbearable proportions. Dancehall is the only social event in the entire Jamaica that was not established and developed by any sets of moral standards (Davis 2004: A5).
Aufgrund der angenommenen Abwesenheit von moralischen Reglementierungen wird geäußert, dass Dancehall Teil eines Prozesses ist, der die Grundfeste der jamaikanischen Gesellschaft zersetzt: »[A]s a nation we have allowed the moral fabric of our society to be eaten away like sliced bread« (Davis 2004: A5). Ferner wird ausgedrückt, dass Einstellungen, die durch Dancehall-Festivals wie Sting verbreitet werden, die jamaikanische Gesellschaft in »Unterentwicklung« und »Armut« gefangen halten (Boyne 2004e: E8). Zugleich begünstigen sie die »Perversion von Werten« (Boyne 2004e: E8), bedingt durch das Zelebrieren von Gewalt und Materialismus. Antimoderne Zuschreibungen wie »Sind Jamaikaner barbarische Menschen?« (Lawrence 2004: A5) und Vergleiche zwischen Dancehall-Musik und sexueller ›Degeneration‹, die im Ausdruck »›Bastardisierung‹ des Dancehall-Genres« stecken (Johnson 2004: G1), werden als Symptome für den erkrankten und »dysfunktionalen« (Boyne 2004a: G6) Zustand der jamaikanischen Gesellschaft im Jahr 2004 gesehen: »Negative dancehall is, indeed a reflection of a sick society« (Boyne 2004b: G8). Auch wenn die Deejays dafür keine komplette Verantwortung tragen, werden
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sie doch als Teil eines Prozesses wahrgenommen, der Werte zersetzt und zu abweichendem Verhalten anleitet: »[T]he DJs have encouraged the rot – I must place some responsibility at the feet of the DJs« (Wignall 2004a: 15). Wie moralischer Verfall und Sexualität zusammenwirken, wird aus einem Artikel deutlich, in dem sich Mark Wignall über einen Dancehall-Song empört, den er Anfang der 1980er-Jahre mit einem Freund zufällig in einer Bar hörte. Auch wenn es sich dabei um ein bewusst übertriebenes Beispiel handelt, wird die sexuelle Transgression des Inzests aus dem Songtext stellvertretend für die vermeintliche Dekadenz und Wertlosigkeit eines ganzen Genres angeführt: The ›song‹ related to us the DJ’s journey from his hill country to town and the hardships he experienced while living in the city. It told of his job, a woman and regular sex. Then the punch line came when he made the decision to go back to the country especially to satisfy his sexual desires. In the ›song‹ he said, not exactly in similar words, that he would be better off returning to the country to ›f..k mi one-teeth granny‹ (Wignall 2004a: 14).
Interessanterweise werden im Diskurs häufig sexuelle Ausdrücke und Bilder verwendet, um die ›Krankheit‹ und den Niedergang der Gesellschaft zu veranschaulichen. Darin offenbaren sich Parallelen zwischen der Degeneration der Gesellschaft durch den Einfluss der Homosexualität und dem Verfall der Gesellschaft durch die Verbreitung von Dancehall-Musik. Neben der in den vorausgegangenen Paragraphen beschriebenen Möglichkeit zur Allianzbildung wird das Zusammentreffen von LGBTTIQ-Organisationen und Dancehall-Künstler_innen auch als doppelte Bedrohung für die jamaikanische Gesellschaft wahrgenommen. Dieses Zusammentreffen von »fremdem Übel und lokalem Übel« wird wiederum als »Krieg« beschrieben (Foreman 2004: A5). Die Auswirkungen dieser Auseinandersetzung, zwischen »Zerfall« im Inneren und der »Degeneration« von außen nehmen in den Augen eines Betrachters gar apokalyptische Dimensionen an: [T]he only voice that makes itself hear against this decay of civilization is the voice of foreign reprobates trying to force their degenerate will on the Jamaican people […] I know that the victory of either faction will be a loss for Jamaica. The only solution that will lead to victory is the defeat of both factions by a third power, but I fear that nothing short of Armageddon will cause this to happen (Foreman 2004: A5).
Das Prophezeien apokalyptischer Szenarien ist in den jamaikanischen Medien keine Seltenheit. Da religiösen Fundamentalist_innen dort ebenfalls Raum gelassen wird, finden sich in Anzeigen des Jamaica Gleaner im Jahr 2004 Krisenszenarien, die den Weltuntergang verkünden und dabei Homosexuelle, Politiker_innen, die ihren
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Pflichten nicht nachkommen, und dons zugleich ansprechen. Umrahmt wird das Untergangsszenario durch das Bild der Städte Sodom und Gomorra: A Prophetic Word. Earthquake Warning for Jamaica. Thus saith the Lord God Almighty to Jamaicans from Alms House, King’s House to Church House. The Prime Minister, P. J. Patterson and cabinet, opposition leader Edward Seaga and cabinet, all political leaders, all pastors and elders, all dons, gang leaders – it is time to repent. All people of Jamaica, God is calling us to a national repentance. The Prime Minister’s rulership is like King Nebuchadnezzar, who refuses to listen to the call of God to repentance. The Politicians who continue to indulge in sinfulness. The downtown dons who continue to revenge Blood for Blood, practicing the sins of Cain against your brothers. […] From Morant Point to Negril Point, MUST REPENT NOW, said the Lord. The country is devastated with sins. God has compared the state to that of a pit toilet – sins of Sodom and Gomorrah. Homosexuality, heterosexuals, lesbians, witchcraft, obeah, idolatry of material things, pornography, gambling, blood upon blood, incest, prostitution, reveling Lenten seasons (Maragh 2004).
Der Aufruf zur Buße bedient sich zahlreicher Bilder aus dem Alten Testament, von denen Parallelen zum scheinbar akuten Krisenzustand der jamaikanischen Gesellschaft gezogen werden. Premierminister Patterson wird als Pendant des babylonischen Königs Nebukadnezar II. porträtiert. Die alltäglichen gewaltsamen Auseinandersetzungen in den ›Armenvierteln‹ Kingstons als sich stetig wiederholender Brudermord Kains an Abel und Jamaikas Schicksal, werden mit dem Untergang der Städte Sodom und Gomorra verglichen. Interessant ist, dass neben Gewalt und sexuellen Verfehlungen auch Abweichungen vom Christentum in Form von afrokaribischen religiösen Praktiken, wie Obeah, angeprangert werden. Solche Horrorszenarien werden meist von religiösen Fundamentalist_innen angesprochen. Trotzdem erhalten derartig fanatische Verheißungen Unterstützung durch historische Ereignisse wie die Erdbeben, die 1629 und 1907 die Hafenstadt Port Royal südlich von Kingston zerstörten. Port Royal war im 16. und 17. Jahrhundert ein reiches Handelszentrum, in dem sich Pirat_innen niederließen. Einer populären Legende nach wurde der durch Piraterie bedingte Sittenverfall für den Untergang der Stadt am 7. Juni 1692 durch ein starkes Erdbeben und eine darauf folgende Flutwelle verantwortlich gemacht (vgl. Zahl 2002: 41). Die Auswirkungen des Krisendiskurses Was sind die Auswirkungen des Krisendiskurses? Welche Akteur_innen profitieren von ihm? In den vorausgehenden Kapiteln wurde erläutert, dass erst mediales Sprechen aus bestimmten Ereignissen Krisen erzeugt (vgl. Nünning 2013: 120). Das un-
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terstreicht wiederum, dass Krisen nie neutrale Situationsbeschreibungen sind, sondern immer von der Perspektive der jeweiligen Betrachter_innen abhängen (vgl. Nünning 2013: 119). Ansgar Nünning spricht von einer »regelrechten Kriseninflation« (Nünning 2013: 117) in den Medien, die trotz seiner auf Deutschland basierenden Analyse auch auf die Häufigkeit des Begriffs Krise in der Presse Jamaikas übertragen werden kann. Nünning unterstreicht dabei den Prozesscharakter von Krisen, die trotz ihrer Bedrohlichkeit meist nach einem bestimmten Schema verlaufen (vgl. Nünning 2013: 127). Nachdem zuerst die Dringlichkeit der jeweiligen Situation beschrieben wird, erfolgt die Suche nach Krisenhelfer_innen. Dabei wird ersichtlich, dass gewöhnlich diejenigen, die von der Krise sprechen, gleichzeitig zu Krisen- und Lösungsmanager_innen werden (Nünning 2013: 127). In patriarchalen Gesellschaften sind das meist Männer in politisch, wirtschaftlich und gesellschaftlich bedeutenden Positionen. Somit zeigt Nünning auf, inwiefern das Sprechen über Krisen für die Akteur_innen auch eine gewisse Autorität mit sich bringt. So wie Ärzt_innen im ursprünglich medizinischen Sinne des Wortes Krise durch die Diagnostik gleichzeitig ihre Position als Expert_innen und Agierende legitimierten, verschafft der Krisendiskurs und das Sinnbild der Krise auf Jamaika einer bestimmten sozialen Gruppe Handlungsmacht (vgl. Nünning 2013: 131, 139). Im vorliegenden Fall sind das die Eliten der jamaikanischen middle class, die Hauptträger des creole multiracial Staats. Daran ändert auch die Tatsache, dass der Diskurs der Krise nicht von ihr allein produziert wird und sich teilweise auch gegen sie richtet, nichts. 10 Positiv für die Elite wirkt sich zusätzlich aus, dass der Griff zur Krisenrhetorik andersdenkende Gruppen als gefährlich oder inkompetent dargestellt und Emotionen zur Unterstützung der eigenen Position und Argumentation bei der Bevölkerung hervorruft (vgl. Nünning 2013: 136, 138). Letztendlich handelt es sich im Krisendiskurs um eine Praktik, die diskursiv Respektabilität wiederherstellt. Der Diskurs kann als ein Appell gesehen werden, der die Staatsbürger_innen zurechtweist und von ihnen verlangt, wieder im Rahmen einer idealisierten Ordnung zu funktionieren. Profiteur_innen davon sind primär die alten Eliten Jamaikas, die zwar nicht mehr im politischen Zentrum der Insel stehen, aber immer noch einen Großteil der Wirtschaft des Landes kontrollieren (vgl. Robotham 2000: 1). Die politische und gesellschaftliche Elite kann sich auf den Krisendiskurs und die Diskurse um das von Respektabilitätsnormen abweichende Verhalten bestimmter gesellschaftlicher Akteur_innen (Homosexuelle und Schwarze Arbeiter_innen) berufen und sie für den Status quo der Massen des Landes verantwortlich machen (LaFont 2000: 254f). Dabei hat der Krisendiskurs zwei entscheidende Folgen: Erstens wird durch ihn die gesellschaftliche Position der Elite gefestigt. Sie kann ihre eigene Macht legitimieren, indem Respektabilität und deren Bedeutung diskursiv verstärkt werden. 10 Siehe Kapitel Der antihomosexuelle Diskurs auf Jamaika.
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Zweitens bewirkt der Krisendiskurs eine Disziplinierung beider, vonseiten der Eliten als normabweichend betrachteten sozialen Gruppen: Die Homosexuellen, die gegen die heteronormative Doktrin des Staatsbürgers und der Staatsbürgerin verstoßen sowie die Schwarze working class, die durch urbane Populärkultur den Normen respektablen Geschlechterverhaltens widerspricht. Letztere wird für die dysfunktionalen Familienstrukturen verantwortlich gemacht, aus denen wegen des Mangels an Respektabilität wiederum kriminelle junge Männer und Mädchen und Frauen hervorgehen, die erneut dysfunktionale Familien produzieren. Ein Bündnis der beiden als ›deviant‹ konstruierten Gruppen ist nicht auszumachen. Stattdessen berufen sich Anhänger_innen der working class ebenfalls auf ihr eigenes respektables Verhalten, wenn sie die korrupte, ›dekadente‹ und aus diesem Grund oft als sexuell ›deviant‹ porträtierte upper class kritisieren. 11 Der Drang nach Respektabilität wird in vier Diskursen über Populärkultur und Homosexualität betont. Der erste Diskurs bezieht sich auf die Bedeutung des Christentums und der Bibel. Beide sollen Grundlagen für die Werte in der heutigen jamaikanischen Gesellschaft sein. 12 Die Verbindung zwischen Populärkultur, Sexualität und selektiven christlichen Werten wird im folgenden Zitat deutlich: Buju Banton was right when he sang Boom Bye Bye, in spite of the uproar that caused him to refine or recant his original message. The lyrics might have been harsh, but clearly spoke figuratively about ridding Jamaica of the nasty sex habits. Buju was also right in his follow-up song that pointed to Leviticus as the Jamaican cultural standard on homosexuality (Stoddart 2004c: 9 [Herv. i.O.]). 13
Der Appell, die Bibel als moralische Leitinstanz anzusehen, findet sich auch in den angeführten Anspielungen auf die Schöpfungsgeschichte: »God mek Adam and Eve, not Adam and Steve« (Mills 2004b: A2). Durch die Verwendung der biblischen
11 Siehe Kapitel Der antihomosexuelle Diskurs auf Jamaika. 12 Siehe Kapitel Der antihomosexuelle Diskurs auf Jamaika. 13 Wenn der Levitikus, den Buju Banton in die Sprache der Dancehall übersetzt hat, zum »jamaikanischen kulturellen Standard« erklärt wird, bezieht sich das nur auf die Teile, die Homosexualität betreffen. Passagen des Levitikus, in denen die Todesstrafe für Ehebrecher_innen vorgeschrieben wird, sind keineswegs Teil des »kulturellen Standards«. So steht in der Bibel auch: »Wenn jemand die Ehe bricht mit der Frau seines Nächsten, so sollen beide des Todes sterben, Ehebrecher und Ehebrecherin, weil er mit der Frau seines Nächsten die Ehe gebrochen hat« (3. Mose, Kapitel 20, Vers 10). Einige Leserbriefe und Kommentare machen auch auf diese argumentativen Widersprüche aufmerksam (vgl. Thomas 2004b: 18; Smith 2004a: A4; Kraft 2004: A5).
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Schöpfungsgeschichte wird auch der zweite Diskurs erwähnt. Er hat die Aufgabe Heterosexualität zu naturalisieren. 14 Der Diskurs formt Jamaika als strikte heteronormative Gesellschaft und verurteilt Homosexualität als inakzeptable Moralverletzung und Sünde. Seine Aussagen tragen dazu bei, dass die Wichtigkeit der Kategorie Respektabilität für die jamaikanische Gesellschaft unterstrichen wird, auch wenn sie niemals auf die komplette Gesellschaft, sondern lediglich auf die Eliten zutraf. Die Verstärkung der Kategorie Respektabilität ist wiederum verknüpft mit der rigiden Vorstellung von heteronormativer Sexualität, die nur zwischen einem Mann und einer Frau stattfinden soll. Symbolisch wird das ausgedrückt im folgenden Zitat aus dem Jamaica Observer: »Most importantly, we do not want a mountain of a crusade in our society acculturated into a belief that male / male sex is sinful, sick and alien to a nation of people who have bought into the idea that a vagina is a penis’ best friend« (Wignall 2004c: 27). Sexualität wird in diesem Zusammenhang als Praktik konstruiert, die weniger mit individueller Lust zu tun hat, sondern sich auf Reproduktion und »das Überleben der menschlichen Zivilisation« bezieht (Gabbidon 2004: A5). Der dritte Aspekt ist die Überwachung von Respektabilität durch verbale Verurteilungen und Einschränkungen von Vulgarität und sexuell expliziten Praktiken in der Dancehall-Kultur. 15 Ian Boyne hebt hervor, dass Dancehall-Massenveranstaltungen, wie das Sting Festival, hauptsächlich wegen der pornografischen Texte und Performances großen Zulauf haben (Boyne 2004e: E7). Respektabilität wird ebenso wiederhergestellt, wenn Autor_innen die Reduktion von Frauen und Mädchen auf Sexobjekte (vgl. Boyne 2004b: G8) und das Zelebrieren »des Penis als Waffe« kritisieren (Simms 2004: G1). Glenda Simms, Exekutivdirektorin des Büros für Women’s Affairs, schreibt im Jamaica Gleaner: [T]he mainstay of dancehall and related musical styles is the disrespect that is aimed at women and girls. The so-called »slackness« that is the titillater of both genders is part and parcel of the content of artistes who produce some of the most disgusting lines about women’s sexuality, their body parts, their undergarments and their age-related potential or lack thereof. The music that glamorizes date rape, the use of the penis as a weapon of pain and humiliation must be seen as violent hate-based music (Simms 2004: G1).
In diesem Kontext ist es wichtig anzumerken, dass Argumentationen, die sich primär gegen Sexismus und Frauenfeindlichkeit wenden, ebenfalls weibliche Respektabilität einfordern können. Überdies ist es problematisch, dass die Vulgarität in der Dancehall meist nur kritisiert wird, wenn es um Frauen oder heterosexuellen Geschlechtsverkehr geht. Vulgäre Ausprägungen von Homophobie erscheinen den meist aus der middle class stammenden Autoren demnach weniger problematisch zu 14 Siehe Kapitel Der antihomosexuelle Diskurs auf Jamaika. 15 Siehe Kapitel Der Diskurs gegen Dancehall.
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sein. Sexuell anzügliche und abwertende Äußerungen und Witze gegenüber Homosexuellen offenbaren so die Doppelmoral der middle class. So macht sich Orville W. Taylor zum Beispiel über Peter Tatchell und dessen Kritik an Homophobie durch den Ausdruck »rectumphilia« lustig (Taylor 2004: A9). Der vierte Diskurs erhält Respektabilität aufrecht, indem er eine Unterscheidung zwischen ›Hochkultur‹ und niederer Kultur postuliert. 16 In ihm wird Dancehall-Musik für den kultivierten Teil der Gesellschaft zu etwas kulturell Wertlosem und gleichzeitig Gefährlichem. Der Diskursstrang verstärkt, dass kulturellen Praktiken aus der städtischen working class, insbesondere Dancehall, bei der Definition von jamaikanischer ›Hochkultur‹ ausgeschlossen werden. Dancehall-Kultur wird ausgegrenzt, da sie weder den Kriterien von Respektabilität noch von Präsentabilität entspricht. Mark Wignall etwa bestreitet den kulturellen Wert von Dancehall-Musik: Brought up in a time when lyricists were royalty, Elvis was king, Sinatra was chairman of the ›bored‹, Nat King Cole was the smoothest and Jazz was the soul which kept them all alive, it is difficult for people like me to listen to even two minutes of American hip hop or 20 seconds of Elephant Man (Wignall 2004a: 14).
Das Zitat demonstriert, wie Wignall gewisse Musikrichtungen von Schwarzer urbaner Populärkultur abgrenzt von dem, was für ihn kulturell wertvolle Musik darstellt. Es scheint so, als seien lediglich Jazz oder Rock and Roll von intellektuellem Gehalt. Ein solcher fehle Dancehall-Musik und den Unterstützer_innen des Genres, so Wignall: Quite apart from the ›fact‹ that DJs have neither the brains nor the ›socially responsible‹ acumen to deal with criticisms such as mine, what galls me is that they insist that they are ›giving the people what they want‹. What this means is, they feed the people crap (Wignall 2004a: 15).
Der Mangel an »sozialer Verantwortung« kann als Mangel an respektablem Verhalten angesehen werden. Das respektable Verhalten ist wiederum verknüpft mit Bildung, angemessener Ausdrucksweise, Habitus 17 und Stil. Dancehall-Kultur dagegen wird als minderwertige kulturelle Erscheinung konstruiert, die, anstelle der Förderung von Respektabilität, Tendenzen unterstützt, die zum Verfall der jamaikanischen Gesellschaft führen. Das geschehe vor allem durch falsche Vorbilder für die Jugend, wie dons, Drogendealer_innen und shottas (Wignall 2004a: 15). 18 16 Siehe Kapitel Der Diskurs gegen Dancehall. 17 Unter Habitus wird nach Pierre Bourdieu ein ansozialisiertes Verhalten verstanden, das den konkreten Lebensstil einer gesellschaftlichen Gruppe und deren Individuen ordnet (vgl. Simonis 2008: 272; Bourdieu 2010: 166). 18 Siehe Kapitel Der Diskurs gegen Dancehall.
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A LTERISIERUNGSPROZESSE UND INTERNATIONALE LGBTTIQ-G RUPPEN Die internationale Kampagne von Outrage! und J-FLAG ermöglichte erstmals eine umfassende Auseinandersetzung mit der Homophobie in der Dancehall und ihren Auswirkungen auf sexuelle Minderheiten auf Jamaika und in der Diaspora. Durch die zahlreichen Proteste, Boykotts und Aktionen gerieten die Menschenrechtsverletzungen auf der Insel in das Blickfeld von Akteur_innen und Fans jamaikanischer Populärkultur außerhalb Jamaikas. Dass homophobe Lyrics in Nordamerika und Europa heute nicht mehr ignoriert oder heruntergespielt werden können, ist der Hauptverdienst der Bemühungen von Outrage! und dessen Sprachrohr Peter Tatchell. Nichtsdestotrotz beinhaltete die Stop Murder Music-Kampagne auch problematische Aspekte, die in diesem Kapitel aufgeführt werden. An erster Stelle ist es wichtig zu erwähnen, dass nicht nur Jamaikaner_innen Homosexualität als etwas absolut ›Unjamaikanisches‹, Bedrohliches und von außen Kommendes wahrgenommen haben. Weiße LGBTTIQ-Aktivist_innen konstruierten ebenfalls oft ein Bild von Schwarzen jamaikanischen Homosexuellen und Queers of Color 19 als völlig außerhalb ihrer jeweilig eigenen Kultur. Die Kultur, die Queers of Color und Schwarze Homosexuelle umgibt, wird häufig als essentiell homophob und feindlich porträtiert. Solche Darstellungen werden durch deren vermeintlichen Mangel an ›Zivilisation‹, ›Modernität‹ und demokratischer ›Entwicklung‹ begründet und durch die unterschiedliche wirtschaftliche Entwicklung sowie durch Diskurse über Menschenrechte aufrechterhalten. Der Wandel in den Gesellschaften des globalen Nordens von der Industrie- hin zur Dienstleistungsgesellschaft hat im 20. und frühen 21. Jahrhundert dazu geführt, dass soziale Gruppen wie sexuelle Minderheiten und Frauen, die über Jahrhunderte hinweg in den weißen, patriarchalen Gesellschaften benachteiligt, ausgegrenzt und bekämpft wurden, nun aufgrund der Wichtigkeit von Individualität und Diversität ins Zentrum der Dominanzgesellschaft aufgestiegen sind (vgl. Voß und Wolter 2013: 42). Der globale Kapitalismus schuf somit die Voraussetzung für die gesellschaftlichen Veränderungen, die es bestimmten Gruppen von Frauen und Homosexuellen ermöglichten, sich teilweise zu emanzipieren. Anstelle von »fabrikmäßige[r] Disziplinierung und Zurichtung der Menschen, ihrer Körper und (geschlechtlichen) Handlungen« (Voß und Wolter 2013: 105) werden im globalen Norden und dessen Dienstleistungsgesellschaften im frühen 21. Jahrhundert Minderheitengruppen, wie
19 Der Begriff Queers of Color oder Queer People of Color dient wie der Ausdruck People of Color der Selbstbezeichnung von nicht-weißen Menschen. Queer bedeutet in diesem Kontext, dass die bezeichneten Personen sowohl von Rassismus als auch von Homophobie negativ betroffen sind.
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männliche Homosexuelle, anhand ihrer Vielfältigkeit und ihrer Rolle als wirtschaftliche Akteure klassifiziert. Ermöglicht wurde die veränderte Position von Homosexuellen im globalen Norden unter anderem dadurch, weil Menschen, insbesondere Frauen im globalen Süden, weiterhin durch unmenschliche Arbeitsbedingungen und niedrige Löhne Reichtum für den globalen Norden erwirtschaften (vgl. Voß und Wolter 2013: 106). Von diesem Prozess profitieren nicht nur die Kapitalist_innen, sondern auch die Arbeiter_innen im Norden. Das Resultat der Entwicklung ist, dass sich die weiße Dominanzgesellschaft des Nordens im frühen 21. Jahrhundert nicht mehr gegen weiße, mittlerweile nahezu als konform geltende, homosexuelle Männer, sondern hauptsächlich gegen Transmenschen, Intersexuelle, People of Color und nicht-weiße sexuelle Minderheiten abgrenzt (vgl. Voß und Wolter 2013: 42). Ferner distanziert sie sich von Homophobie und Sexismus aus dem nicht ›aufgeklärten‹ globalen Süden. Auch die jamaikanische Gesellschaft, die von wirtschaftlichen Imperativen des Internationalen Währungsfonds stark betroffen ist, zählt zum globalen Süden. Da die Menschen in Nordamerika und Europa ausklammern, welche global wirksamen Unterdrückungsmechanismen ihre neuen (sexuellen) Freiheiten ermöglichen, werden diese von europäischen LGBTTIQ-Organisationen und Politiker_innen als Zeichen des Fortschritts und der ›Zivilisation‹ gewertet (vgl. Voß und Wolter 2013: 107). Den in Nordamerika und Europa etablierten Grad an ›Zivilisation‹ und Fortschritt lassen ihrer Meinung nach die ›rückständigen‹ Gesellschaften des Südens vermissen, zu denen neben Jamaika auch zahlreiche afrikanische und asiatische Länder gezählt werden. Sie werden deswegen häufig stereotyp repräsentiert (vgl. Voß und Wolter 2013: 107). Anstatt rassismuskritische Bündnisse mit Queers of Color einzugehen, bevorzugen große Teile der weißen LGBTTIQ-Gemeinschaft lieber, ihre Privilegien durch die Konstruktion der bedrohlichen, nicht-weißen ›Anderen‹ zu sichern (vgl. Voß und Wolter 2013: 135). Dabei machen sie sich den ›westlichen‹ Diskurs um Menschenrechte und die Rechte für LGBTTIQ-Personen im frühen 21. Jahrhundert, die als Ausprägungen einer modernen Gesellschaft wahrgenommen werden, zu Nutze. 20 Wie sich das im Falle der internationalen Kampagne gegen homophobe jamaikanische DancehallKünstler zeigt, wird an einem Kommentar von Peter Tatchell deutlich: In recent years, more than 30 gay men have been killed in Jamaica. They have died horrible, gruesome deaths at the hands of homophobic mobs. It is like Afghanistan under the Taliban. Queers are stoned to death, chopped up with machetes, beaten unconscious with sticks, dowsed 20 Deutlich wird das bei der Rechtfertigung von Interventionen in Afghanistan, in denen die Befreiung von unterdrückten rassifizierten Frauen häufig eine Rolle spielte. Zur Bedeutung von LGBTTIQ-Rechten bei der Legitimation von (militärischen) Interventionen siehe auch Queer und (Anti-)Kapitalismus von Heinz-Jürgen Voß und Salih Alexander Wolter (vgl. Voß und Wolter 2013: 95).
260 | D ANCEHALL UND H OMOPHOBIE with petrol and set ablaze, blasted in the head with shotguns and chased into the sea until they drown from exhaustion (Tatchell 2002).
Peter Tatchells Versuch, Homophobie in der jamaikanischen Gesellschaft aufzuzeigen, ist Teil eines Diskurses, den Stuart Hall »The West and The Rest« nennt (Hall 1992). Hall zeigt auf, inwieweit dieser Diskurs einen Schlüsselmechanismus bei der Erschaffung und Aufrechterhaltung eines ›westlichen‹ Selbstverständnisses darstellt: Thus, we argue, the West’s sense of itself – its identity – was formed, not only by the international processes that gradually moulded Western European countries into a distinct type of society, but also through European’s sense of difference from other worlds – how it came to represent itself in relation to these »others« (Hall 1992: 279).
Hall verdeutlicht außerdem die Wichtigkeit von Heterosexualität bei Prozessen der Identitätsbildung und beim Othering von Personen und Personengruppen: »Sexuality was a powerful element in the fantasy which the ›West‹ constructed, and the ideas of sexual innocence and experience, sexual domination and submissiveness, play out a complex dance in the discourse of ›the West and the Rest‹« (Hall 1992: 302). 21 Obioma Nnaemeka veranschaulicht, dass Schwarze Körper in der Geschichte des Kolonialismus traditionell mit Normabweichungen verbunden waren. Kriminalität, Immoralität und sexuelle Bedrohung waren gängige Sachverhalte, die Schwarzen Menschen zugeschrieben wurden und bis heute oft zugeschrieben werden (vgl. Nnaemeka 2009: 91). Zu Beginn des 21. Jahrhunderts kommt ein neuer Marker für Alterität ins Spiel. Das postkoloniale Subjekt wird nun zusätzlich als außerordentlich homophob und gewalttätig im Vergleich zum weißen europäischen Subjekt dargestellt. Letzteres wird als totales Gegenteil zum Schwarzen homophoben ›Wilden‹ und dessen Verkörperung im »Black Hate Singer« aus Jamaika gesehen (Tatchell 2002). Tatchells Ausdrucksweise kann als Teil eines neokolonialen Macht- und Repräsentationssystems gelesen werden. In ihnen steckt die Essenz der »hegemonialen Erzählweisen des Kolonialismus«, die zur Befreiung aus der ›Barbarei‹ aufrufen (Voß und Wolter 2013: 91). Tatchells Rhetorik bewirkt, dass Einstellungen wie Homophobie und Sexismus als entscheidende Teile der Kultur der ›Anderen‹ wahrgenommen werden. Sie gehen über die Kritik an Homophobie auf Jamaika oder der von jamaikanischen Akteur_innen formulierten ablehnenden Haltung gegenüber Einmischungen aus dem globalen Norden hinaus. Durch den Vergleich von Jamaika mit Afghanistan oder dem Label des »most homophobic place on earth« (Padgett 2006) werden
21 Die Rolle von Homosexualität im Diskurs vom »Westen und dem Rest« wird von Hall nicht thematisiert.
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diskursiv Grenzen bestätigt und die koloniale Zweiteilung zwischen Modernität und ›Rückständigkeit‹ aufrechterhalten. Grada Kilomba beschreibt den Effekt, den Aussagen, wie die von Tatchell, bei Schwarzen Menschen verursachen, in ihrem Werk Plantation Memories. Darin analysiert die Psychologin unterschiedliche Prozesse des alltäglichen Rassismus: The combination of these two words, ›plantation‹ and ›memories‹, describes everyday racism as not only the restaging of a colonial past, but also as a traumatic reality, which has been neglected. It is a violent shock that suddenly places the Black subject in a colonial scene, where as in a plantation scenario, one is imprisoned as the subordinate and exotic ›Other‹ (Kilomba 2008: 13).
Tatchells Worte beschreiben nicht nur die Situation von sexuellen Minderheiten auf Jamaika, sondern katapultieren gleichzeitig auf der internationalen Ebene die Bevölkerung der Insel in das von Kilomba beschriebene koloniale Szenario zurück. Das Gefühl der stetigen Zurückweisung wird von Kilomba als Trauma charakterisiert. Das Trauma und die kollektive Verletzungserfahrung drücken sich ebenfalls in einem Leserbrief im Jamaica Observer aus, der das Vorgehen von Outrage! kritisiert: »In dubbing Jamaica homophobic, our country is being stigmatized as abnormally intolerant towards gays without any real supporting evidence« (McKenzie 2004: 38). Das Festhalten an der Kategorie Respektabilität, wie es in den medialen Diskursen stattfindet, kann als ein wichtiges Werkzeug angesehen werden, um einen gewissen Grad an Modernität und ›Zivilisation‹ zu demonstrieren. Dieser Beweisdrang konzentriert sich nicht nur auf Jamaika, sondern richtet sich auch auf die internationale Wahrnehmung des Landes, dessen kreolischem Nationalismus das Streben, »völlig europäisch« zu werden, stets innewohnte (Hintzen 2002). Respektabilität aufrechtzuerhalten und zu präsentieren, kann damit als ein Versuch gelesen werden, Anerkennung vonseiten der westlichen Staatengemeinschaft und den früheren Kolonialmächten zu gewinnen. Auf nationaler Ebene verschaffen die Diskussion und der Krisendiskurs der middle class ein Handlungspotenzial, das ihre Überlegenheit- und Abgrenzungsbestrebungen gegenüber der Schwarzen lower class unterstützt. Sie werden durch die Krise als Agierende auf den Plan gerufen. Das findet sich beispielsweise in den Kommentaren von Ian Boyne und Mark Wignall wieder (vgl. Wignall 2004a; Wignall 2004b; Wignall 2004c; Boyne 2004a; Boyne 2004b; Boyne 2004c; Boyne 2004e; Boyne 2004g). Ferner bewirkt die diskursive Verflechtung des Anti-HomophobieDiskurses mit der Kritik an Dancehall eine internationale Allianz bürgerlicher Kräfte, welche die Schwarze jamaikanische working class und ihre kulturellen Praktiken in ihre marginale Position zurückweisen (vgl. Boyne 2004a; Simms 2004). Es stellt sich die Frage, ob die Institution des postkolonialen Staats an sich nicht durch die ständige Präsenz von diskursiven und ›realen‹ Krisen gekennzeichnet ist.
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Das würde erklären, warum der Ermächtigungsprozess der Eliten letztendlich kaum Verbesserung für die breite Masse der Jamaikaner_innen mit sich bringt und sie weiterhin den multiplen und sich gegenseitig verstärkenden Nachwirkungen von Kolonialismus, Plantagensklaverei und Rassismus ausgesetzt ist. Die Annahme der permanenten Krisenhaftigkeit postkolonialer Staaten sollte aber kritisch auf ihre Bedeutung im Diskurs vom »Westen und dem Rest« geprüft werden (vgl. Hall 1992). Eine solche monokausale Diagnose würde am Ende zu sehr eine ›westliche‹ Überlegenheitsrhetorik reproduzieren. Es ist außerdem möglich, den Alterisierungsprozess auf der Ebene der internationalen Beziehungen durch die Rassismus-Theorie des Psychoanalytikers Frantz Fanon zu lesen. In diesem Kontext fungieren Homophobie und die Abwesenheit von universellen Menschenrechten als Indikatoren, anhand derer aus ›westlicher‹ Perspektive Inferiorität und der Mangel an einem gewissen Grad von ›Zivilisation‹ ausgemacht wird. In seinem Buch Peau noire, masques blancs (1952) spricht Fanon von einem Abhängigkeits- und Minderwertigkeitskomplex, der das Schwarze Subjekt in der kolonialen Situation kennzeichnet. Fanon erläutert in seiner Arbeit, inwiefern der gebildete und an europäische Normen assimilierte Schwarze plötzlich von der ›Zivilisation‹ abgelehnt und ausgesondert wird, obwohl er deren Normen verinnerlicht hat (vgl. Fanon 2008: 82). Übertragen auf die Ebene eines kollektiven Verhaltensmusters bedeutet dies, dass Jamaikaner_innen, die durch die Demonstration von Respektabilität Ankerkennung suchen, vonseiten Europas und Nordamerikas aufgrund einer scheinbar außerordentlichen Homophobie beschämt und verstoßen werden. Fanon schreibt über den Schwarzen Mann: »[B]ut if he forgets his place, if he thinks himself equal of the European, then the European becomes angry and rejects the upstart, who on this occasion and in this ›exceptional instance‹ pays for his refusal to be dependent with inferiority complex« (Fanon 2008: 74). Die Erfahrung, abgelehnt und erneut zum kolonialisierten Subjekt gemacht zu werden, erinnert an das von Grada Kilomba beschriebene Trauma durch die permanente Wiederholung der Plantation Memories. Kritiker_innen argumentieren, dass Fanons These, wonach Schwarze Menschen danach streben, weiß zu werden, Schwarze Menschen per se pathologisiere: 22 »Even
22 Frantz Fanon wird außerdem von unterschiedlicher Seite Homophobie und die Missachtung spezifischer Verbindungen zwischen Rassismus, Sexismus und Homophobie vorgeworfen. An seinem Werk Peau noire, masque blancs wird bemängelt, dass Fanon Homosexualität als ›Krankheit‹ charakterisiert: »Homosexuality is not pathology but the oppression of the straight world has made it pathology. Gay Skin, Straight Masks« (Goldie 1999: 83 [Herv. i.O.]). Auch Fanons Aussagen über Schwarze Frauen in Frankreich und auf den Antillen, die sich darauf reduzieren, dass diese weiße Partner begehren, um Kinder zu gebären, die weißer als sie selbst sind, steht in der Kritik (vgl. Mama 1995: 147). Trotz dieser
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Fanon’s (1967) theory of ›lactification‹, according to which black people desperately desire to become white, also implicitly pathologised black people« (Mama 1995: 142). Sie gehen davon aus, dass Fanons Theorie ungewollt wissenschaftliche und psychologische Diskurse unterstütze, die Schwarze Menschen als die ›Anderen‹ konstruieren und letztendlich wieder weiße Vorherrschaft aufrechterhalten (vgl. Mama 1995: 160). Es ist aber wichtig, sich zu vergegenwärtigen, dass Schwarze Menschen, wie sie Fanon beschreibt, erst durch rassistische Diskurse geschaffen wurden: »White civilization and European culture have imposed an existential deviation on the black man. We shall demonstrate furthermore that what is called the black soul is a construction by white folk« (Fanon 2008: xviii). Das bedeutet, dass Attribute, die Schwarzen kolonialisierten Subjekten zugeschrieben werden, Teil eines Konstruktionsprozesses durch weiße Kolonialist_innen sind. Fanon bringt das deutlich zur Sprache: »It is the racist who creates the inferiorized« (Fanon 2008: 73 [Herv. i.O.]). Er pathologisiert demnach Schwarze Menschen nicht, sondern befasst sich mit vorausgegangenen Konstruktionen und Pathologisierungen Schwarzer Menschen durch die Kolonisator_innen. Es bleibt der Einwand bestehen, dass viele Jamaikaner_innen gar kein Interesse daran haben, die Rechte sexueller Minderheiten zu stärken, um auch in diesem Bereich mit dem ›Westen‹ gleichzuziehen. Der Rückstoß, den Jamaika durch das Stigma der Homophobie erfährt, überschreitet aber das Thema der sexuellen Selbstbestimmung und reproduziert ein allgemeines koloniales Szenario. So erinnern Tatchells Darstellungen von außerordentlich homophober Gewalt auf Jamaika zum Teil an Bilder von Kannibal_innen, welche die Kolonialist_innen entwarfen, um die kolonialisierten Subjekte als die ›Anderen‹ darzustellen. Tatchells Illustrationen bedienen sich kolonialer Diskurse, die Schwarze Männer und Frauen sexualisieren, rassifizieren und als gefährlich porträtieren. Fanon betont selbst die Notwendigkeit der weißen Gesellschaft, die kolonialisierten Subjekte immer wieder an die Zeiten des Kannibalismus zu erinnern (vgl. Fanon 2008: 200). In Tatchells detaillierter Beschreibung der homophoben Zustände auf der Karibikinsel hallt das rassistische Bild von Kannibal_innen wider, das Bestandteil traditioneller kolonialer Diskurse ist. Die Repräsentation von Schwarzen und indigenen Menschen als Kannibal_innen unterliegt im frühen 21. Jahrhundert zwar einigen Veränderungen, verfehlt aber nicht ihre ursprüngliche Bedrohungs- und Wildnissymbolik. Die weiße Fremdrepräsentation von Schwarzen Männern und Frauen verspeist nun nicht mehr ihre Opfer, offenbart aber weiterhin durch die grausame Behandlung von Homosexuellen ihren Mangel an ›Zivilisation‹. Dieser Mangel erfordert das Eingreifen und die Domestizierung durch die Hand des ›Westens‹. Internationale Interventionen werden außerdem durch die Ver-
Vorwürfe von Feministinnen und sexuellen Minderheiten sind Fanons Arbeiten bis heute Schlüsselwerke bei der Erforschung von Rassismus.
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wendung des Begriffs »Taliban« suggeriert. Dieser Terminus ist seit den terroristischen Angriffen des 11. September 2001 ein international bekanntes Symbol für antiwestlichen Fundamentalismus, ›Rückständigkeit‹, Barbarei und die Gefahr des internationalen Terrorismus. Zusätzlich gibt es deutliche Parallelen zwischen Tatchells Begriff »Hate Singer« und dem Ausdruck »Hate Preacher«, der nach dem 11. September 2001 insbesondere in islamophoben Diskursen in Nordamerika und Europa eine große Popularität erlangte. Darstellungen von aggressiven, heterosexuellen jamaikanischen DancehallKünstlern entsprachen außerdem dem Bedrohungsbild, das die Medien in Kanada, den USA und Großbritannien von jamaikanischen Migrant_innen zeichneten. Während auf Jamaika in Homosexuellen eine Gefahr für die Nation gesehen wird, ist es in Großbritannien und Nordamerika häufig der Schwarze kriminelle Jamaikaner, der als Bedrohung für das Wohlergehen der Bürger_innen stigmatisiert wird (vgl. Davis 2006: 25). Bell hooks, eine der bekanntesten Vertreterinnen des Black Feminism in den USA, unterstreicht, dass gerade Bilder von Schwarzer phallozentrischer Maskulinität, wie sie in der Dancehall-Musik und im Hip-Hop zelebriert werden, gleichzeitig auch den Repräsentationen entsprechen, die mehrheitlich weiße Gesellschaften verwenden, um gesellschaftliche Unterstützung für die Ausgrenzung, Kriminalisierung und Abschiebungen von Schwarzen Menschen zu erzielen (vgl. hooks 1992: 109). Dabei wird meist an rassistische Bilder von gewalttätigen und ›unzivilisierten‹ Schwarzen aus der Zeit des Kolonialismus angeknüpft, die im kollektiven Gedächtnis der weißen Bevölkerung durch eine jahrhundertelange historische Tradition verankert sind (vgl. Nnaemeka 2009: 91). 23 Derartige Diskurskonstellationen erschaffen in der weißen Gesellschaft Großbritanniens eine Parallele zwischen der Bedrohung der Sicherheit durch Schwarze Migranten aus Jamaika und einer Bedrohung der Homosexuellen, durch die Botschaften
23 Ein Beispiel für das Hervorrufen dieser Wissensvorräte lieferte der britische Historiker David Starkey in einer BBC-Talkshow 2011. Die Ursache für die militanten Ausschreitungen zwischen Jugendlichen und der Polizei in London, Liverpool, Birmingham, Manchester und Bristol im August 2011 sah Starkey in den kulturellen und sprachlichen Einflüssen der jamaikanischen Gemeinschaft auf die weiße Mehrheitsgesellschaft in England: »What has happened is that the whites have become black. A particular sort of violent, destructive, nihilistic gangster culture has become the fashion. Black and white, boy and girl, operate in this language together. This language, which is wholly false, which is this Jamaican patois that’s been intruded in England. And this is why so many of us have this sense of literally a foreign country« (Lowrie-Chin 2011). Starkey bedient sich hier rassistischer Diskurse, die gewisse kriminelle Praktiken ausschließlich mit Schwarzen Menschen verbinden und seiner Ansicht nach das Verhalten der weißen britischen Mehrheitsgesellschaft kontaminieren.
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Schwarzer jamaikanischer Dancehall-Künstler. Die Verbindung zwischen kriminellen jamaikanischen Migranten, den kritisierten Dancehall-Künstlern und der Gefahr für (homosexuelle) Brit_innen wird zudem verstärkt, wenn in den englischen Medien über von yardies ausgesprochene Todesdrohungen an Peter Tatchell berichtet wird (vgl. Chittenden 2004). Jamaikanische yardies, wie Migrant_innen beziehungsweise deren Nachkomm_innen genannt werden, avancieren zum Stereotyp für Banden- und Drogenkriminalität. Das brutale Vorgehen jamaikanischer Gangs wurde in den britischen Medien als massive Bedrohung für die Sicherheit der Nation stilisiert. Ein Scotland Yard-Beamter spricht davon, dass »Yardie-style gangsters«, abgesehen vom internationalen Terrorismus, die größte Gefahr für die nationale Sicherheit darstellen würden (»Drug Gang Warning by Police« 2003). 24 Daran knüpft auch das Zitat aus einem Artikel der britischen Zeitung Guardian aus dem Jahre 2003 an, das Gewalt als einen Import aus Jamaika darstellt: »Yardies have brought a horrific new level of violence to Britain« (Thompson 2003). Der Jamaica Observer berichtet im Oktober 2004 von der geplanten Abschiebung von fast tausend Jamaikaner_innen aus britischen Gefängnissen zurück nach Jamaika (vgl. Virtue 2004: 3). Das Berdrohungsszenario durch jamaikanische Drogenkartelle fungierte als Legitimation für die Regierung Tony Blairs, 2003 eine Visumspflicht für Jamaikaner_innen in Großbritannien einzuführen (vgl. Thomas 2011b: 7). Diese erschwert es Jamaikaner_innen immens ins koloniale Mutterland zu reisen, zu dessen Aufbau nach dem Zweiten Weltkrieg sie und andere Migrant_innen aus den West Indies wesentlich beigetragen haben. Die veränderten und verschärften Visa- und Einreisebestimmungen für Jamaikaner_innen versahen britische LGBTTIQ-Organisationen wiederum mit einem Machtinstrument, das sie gegen Dancehall-Künstler_innen mit homophoben Texten verwenden konnten. Dabei wurde die rassistische Dimension von Einreiseverweigerungen für Menschen, deren Vorfahren einst von den Brit_innen aus Afrika nach Jamaika verschleppt wurden, nicht reflektiert. Outrage! erreichte zum Beispiel ein Einreiseverbot gegen den Rastafari-Künstler Sizzla, der deshalb eine für November 2004 geplante Tour in Großbritannien absagen musste. 25 24 In Großbritannien waren in den 1980er- und 1990er-Jahren die jamaikanischen Banden »Yardman Gang« und »Yardie« aktiv (Virtue 2004: 3). Da sich der Begriff yardies aber auch als allgemeine Selbstbezeichnung von Jamaikaner_innen in Übersee etabliert hat, ist bei seiner Verwendung in der britischen Presse nicht ersichtlich, wo die Grenzen zwischen kriminellen Jamaikaner_innen und gesetzestreu im Ausland lebenden Jamaikaner_innen verläuft. 25 Auf der Homepage von Peter Tatchell wird der Grund für das Einreiseverbot von Sizzla erläutert: »Jamaican reggae star, Sizzla Kalonji, has been denied a visa to enter the UK. The Home Office has indicated to gay rights group OutRage! that it has not issued Sizzla a visa for his five-city UK concert tour, which was to have begun last night at the Empire
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In der Diskussion über Homosexualität und jamaikanische Populärkultur kommt zu den gängigen kolonialrassistischen Zuschreibungen gegenüber Schwarzen Menschen ein neuer Faktor hinzu. Er wird darin ausgedrückt, dass eine angenommene außerordentliche Homophobie nun Hauptmarker für die Alterität des Schwarzen Subjekts ist. Auf der internationalen Ebene hat das den Effekt, dass Jamaikaner_innen an ihrer marginalen Position und außerhalb der ›westlichen‹ Moderne festgeschrieben werden. Letztere wird definiert durch die vermeintliche Garantie bestimmter Menschenrechte. Die Konstruktion von Jamaikaner_innen als homophobe ›Andere‹ verschafft weißen LGBTTIQ- und Menschenrechtsaktivist_innen in Nordamerika und Europa gleichzeitig die Möglichkeit, sich selbst als normativ und ›fortschrittlich‹ zu inszenieren. Das bewirkt, dass die Karibik, in diesem Falle repräsentiert durch Jamaikaner_innen auf der Insel und in der Diaspora, als zurückgeblieben und entfernt von der ›westlichen Moderne‹ charakterisiert wird. Auch wenn die Karibik eigentlich im Zentrum der westlichen Hemisphäre liegt und historisch nicht nur für die Konstruktion und Selbstwahrnehmung des ›Westens‹, sondern auch für dessen heutigen Wohlstand einen kaum zu vernachlässigenden Beitrag geleistet hat, platzieren sie koloniale Diskurse des ›Westens‹ weiterhin sowohl räumlich als auch zeitlich außerhalb der ›westlichen Moderne‹: »The imagined community of the West has no space for the islands that were its origin, the horizon of its self-perception, the source of its wealth« (Sheller 2003: 1). Der Konsum von karibischer und speziell jamaikanischer Populärkultur in Europa und Nordamerika außerhalb der karibischen Diasporagemeinden dient häufig dazu, weiße Mainstreamkultur durch die Exotik des ›Anderen‹ aufzupeppen (vgl. hooks 1992: 21). Dabei üben sexuelle Tabubrüche und nichtnormatives Begehren einen besonderen Reiz aus (vgl. hooks 1992: 21). Es existiert quasi eine gleichzeitiges Begehren und Ablehnen der Kultur des vermeintlich ›Anderen‹. Jamaikanische Populärkultur in Form von Reggae und Dancehall erfüllt so im ›Westen‹ zwei Funktionen: Erstens ermöglicht sie dem weißen nordamerikanischen und europäischen Publikum den Konsum von Differenz innerhalb ihrer gewohnten Umgebung. Zweitens bestärkt sie, basierend auf der Darstellung von Jamaikaner_innen als außerordentlich homophob und gewalttätig, das ›westliche‹ ›aufgeklärte‹ Selbstbild in Abgrenzung zum kulturellen ›Anderen‹. Diese Form der Kommodifizierung des ›Anderen‹, bei gleichzeitiger Ausgrenzung und Dekontextualisierung dessen spezifischer
nightclub in Milton Keynes. The visa denial follows lobbying by OutRage! and the Green Party, both of which urged the Home Secretary to issue an exclusion order against Sizzla on the grounds that he has incited the murder of white people and homosexuals« (Tatchell 2004b).
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historischer Erfahrungen und deren Verflechtungen mit der Unterdrückungsgeschichte des ›Westens‹, wird von bell hooks als »Konsumentenkannibalismus« bezeichnet (hooks 1992: 31). Bei dieser Schlussfolgerung geht es nicht darum, die gewalttätigen Ausprägungen von Homophobie auf Jamaika zu verschleiern oder Homophobie in der dortigen Populärmusik kleinzureden. Homophobie und Sexismus müssen sowohl im globalen Norden als auch im Süden kritisiert und bekämpft werden. Ihre Einbettung in postkoloniale Diskurse dient keineswegs ihrer Relativierung. Das Buch zeigt vielmehr auf, dass Homophobie, die Kritik an Homophobie und Rassismus häufig ineinander verflochten sind. ›Westliche‹ Repräsentationen von Homophobie auf Jamaika sind oft eher Selbstrepräsentationen des ›Westens‹ als reflektierte Kritik. Die Bilder, die unter anderem Peter Tatchell verwendet, machen es möglich, die Bevölkerung und die Politik postkolonialer Staaten zu kritisieren, während simultan deren historischer Kontext und rassistische und homophobe Diskriminierungen in Europa und Nordamerika unbeachtet bleiben. Zusätzlich erschaffen und verhärten diese Prozesse Umstände, in denen jamaikanische und andere nicht-weiße Homosexuelle kaum Chancen besitzen, ihre eigenen Interessen und die eigene politische Agenda zu artikulieren. Solche Dynamiken können auch ausschlaggebend dafür gewesen sein, dass der J-FLAG Vorsitzende Dane Lewis 2012 äußerte, keine internationalen Kampagnen mehr gegen homophobe Dancehall-Künstler_innen unterstützen zu wollen: I want to make it clear that J-FLAG is not directly involved and does not support these »antimurder music campaigns« anymore. That has sort of taken on a life of its own […] we maintain that boycotts cannot be the first option as they prevent objective dialogue (Lewis 2012).
Untersuchungen zu Homophobie in jamaikanischer Populärkultur sollten deshalb immer auch kritisch gegenüber verbreiteten Repräsentationen der ›Anderen‹ sein und darauf achten, dass die Stimmen und das Eigeninteresse von Queers of Color darin nicht zu kurz kommen. Ferner muss Jamaika als Teil der Karibik immer auch als ein Teil der Geschichte des ›Westens‹ wahrgenommen werden und kann nicht außerhalb davon platziert werden. Werden derartige Prämissen außer Acht gelassen, besteht die Gefahr, dass Forschungsarbeiten lediglich Gayatri Spivaks berühmte These »White men are saving brown women from brown men« reproduzieren (Spivak 1994: 93). Auf Jamaika angewandt würde diese dann »White homosexuals are saving Black homosexuals from Black heterosexuals« lauten. Das Streben sexueller Minderheiten nach gesellschaftlicher Akzeptanz, das sich in Nordamerika und Europa im Kampf vieler LGBTTIQ-Organisationen um die Anerkennung gleichgeschlechtlichen Ehen und daran angepasste Steuergesetzgebungen manifestiert, ist weder für LGBTTIQ-Migrant_innen im globalen Norden noch für sexuelle Minderheiten auf Jamaika eine vielversprechende Perspektive. Die Konformität von Homosexuellen mit traditionellen Vorstellungen von Staatsbürgerschaft
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kann letztendlich weder in Europa noch auf Jamaika gesellschaftliche Ausschlüsse und Diskriminierung überwinden. Wenn in Nordamerika und Europa Homosexuelle durch Eheschließungen und Steuervergünstigungen an das Konzept von konformen Staatsbürger_innen herangeführt werden, profitieren durch diese Schritte meistens lediglich weiße homosexuelle Männer, die den oberen Gesellschaftsschichten angehören. Im Falle Jamaikas, wo die Gesellschaft aufgrund des kolonialen Erbes und neokolonialer Abhängigkeiten noch stärker durch sich bedingende rassistische und klassistische Strukturen geprägt ist, kämen die Früchte solcher Bemühungen, wenn überhaupt, einer Minderheit an Bürger_innen zugute. Parallel würde die Ausgrenzung des Großteils der LGBTTIQ-Gemeinschaft, insbesondere der sexuellen Minderheiten aus der Schwarzen working class, reproduziert werden.
Ausblick
Seit dem Beginn der Stop Murder Music-Kampagne im Jahr 2004 und der darauf folgenden Kontroverse in den jamaikanischen Medien sind elf Jahre vergangen. Die Diskussion hat sowohl auf Jamaika als auch in den jamaikanischen Diasporagemeinschaften in Nordamerika und Großbritannien zu einer großen Auseinandersetzung mit Homosexualität und Homophobie geführt, die bis zum heutigen Tag andauert. 1 Auch wenn die Bevölkerungsmehrheit auf Jamaika Homosexualität weiterhin kritisch gegenübersteht, hat ein Prozess des diskursiven und gesellschaftlichen Wandels eingesetzt. Die Gruppe J-FLAG kann mittlerweile offener arbeiten und wirkt mit Demonstrationen, Pressemeldungen und Videos im Internet gezielt auf das politische Geschehen des Landes ein. Dane Lewis, der aktuelle Vorsitzende von J-FLAG, ist nicht mehr zum anonymen Agieren gezwungen und repräsentiert die jamaikanische LGBTTIQ-Gemeinschaft sowohl auf der Insel als auch in den internationalen Medien. Dies ist ein wichtiger Unterschied in der Wahrnehmung von Homosexuellen auf Jamaika. Im Untersuchungszeitraum wurden sexuelle Minderheiten noch primär fremd repräsentiert und mit dem Gesicht von Peter Tatchell assoziiert. Neben Tatchell tauchte 2004 lediglich der ermordete Brian Williamson auf Fotos in den jamaikanischen Medien auf. Stimmen, die sich gegen die Illegalität von Homosexualität auf Jamaika wenden und Homophobie kritisieren, sind deutlich lauter und präsenter geworden. Das hatte zur Folge, dass die aktuell amtierende Premierministerin der PNP, Portia Simpson Miller, im Wahlkampf 2011 betonte, die Buggery Laws zur Diskussion stellen zu
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In der jamaikanischen Diaspora in Kanada, den USA und Großbritannien sorgen Autor_innen, Künstler_innen und Filmemacher_innen, wie Makeda Silvera mit ihrem Roman The Heart Does Not Bend (2002), Campbell X mit dem Film Stud Life (2012) sowie Staceyann Chin und Thomas Glave, für eine vermehrte Sichtbarkeit von jamaikanischen Queers of Color. Ihre kulturellen Produktionen brechen wiederum mit den Vorstellungen einer heteronormativen, nationalbegrenzten jamaikanischen kulturellen Identität und betonen spezifische Lebenserfahrungen, geprägt von Migration, Rassismus und Homophobie.
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wollen. Selbst wenn dem Wahlversprechen noch keine Taten gefolgt sind, hat sich die jamaikanische Gesellschaft, was die Bedürfnisse sexueller Minderheiten angeht, sensibilisiert. Sogar Vertreter_innen der Kirche kritisierten vereinzelt den Umgang mit Homosexuellen und das Wegsehen vieler Christ_innen bei Menschenrechtsverletzungen gegenüber sexuellen Minderheiten (vgl. Matthews 2013). Simpson Millers Vorhaben führte gleichzeitig aber auch zu öffentlichen Protesten gegen die Akzeptanz von Homosexualität. Ende Juni 2014 gingen deshalb bei einem Protestmarsch für die Beibehaltung des Buggery Act und gegen eine vermeintliche »homosexuelle Agenda« 25.000 Menschen in Kingston auf die Straße (Skyers 2014). Im Jahr 2013 kam es auf Jamaika immer noch zu Gewalt gegenüber sexuellen Minderheiten oder Menschen, die in ihrem Aussehen oder Verhalten heteronormativen Imperativen widersprachen. Das ist aber kein jamaikanisches Spezifikum, sondern lediglich Resultat heteronormativer und sexistischer Diskurse, die Gewalt und Vergewaltigung als äußerstes Mittel legitimieren, um die globale Dominanz des heterosexuellen Patriarchats aufrechtzuerhalten. Nach der Ermordung des 16-jährigen Crossdressers Dwayne Jones Ende Juli 2013 in Montego Bay folgten erneut internationale Proteste, die sich auch auf jamaikanische Dancehall-Künstler_innen auswirkten. Das Ausmaß der Proteste blieb aber deutlich unter dem von 2004. Außerdem erfolgte im Unterschied zu der damaligen Kampagne auch außerhalb der Medien sichtbarer Protest gegen Homophobie auf Jamaika. Dwayne Jones war nach einer Dancehall-Veranstaltung von einem aufgebrachten Mob getötet worden, nachdem zuvor bekannt geworden war, dass es sich bei dem Crossdresser nicht um eine Frau handelte, wie von einigen Teilnehmer_innen angenommen worden war (vgl. J-FLAG 2013). Die mediale Diskussion um die Ermordung von Dwayne Jones griff dabei Diskurse auf, die im Buch übergreifend im Kapitel der Diskurs gegen Homophobie thematisiert werden (vgl. Martínez 2013). Im Zentrum standen Menschenrechtsfragen, die Abschaffung der Buggery Laws und eine Kritik an gewalttätiger Homophobie. Ebenfalls tauchte erneut die Symbolik von Jamaika als »most homophobic place on earth« sowohl im Jamaica Gleaner als auch auf Webseiten internationaler LGBTTIQ-Organisationen auf (vgl. Queerty 2013; Martínez 2013). Die jamaikanische Populärkultur wurde von den Diskussionen um den brutalen Mord durch die Ansprache, die die Rastafari-Künstlerin Queen Ifrica kurz darauf bei der Grand Gala zum 51. Jubiläum der jamaikanischen Unabhängigkeit hielt, eingeholt. Bei ihrem Auftritt vor 20.000 Zuschauer_innen im National Stadium und tausenden Jamaikaner_innen, die das Event im Fernsehen live verfolgten, betonte die Künstlerin die Wichtigkeit von heterosexueller Maskulinität und der Kernfamilie und kritisierte gleichzeitig Homosexualität (vgl. Bryan 2013). Das Verhalten zeigt auf, inwiefern heteronormative Imperative immer noch eine zentrale Rolle für die Repräsentation von jamaikanischer kultureller Identität und Staatsbürgerschaft spielen. Au-
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ßerdem demonstriert es den ambivalenten Umgang mit Vorstellungen der Respektabilität innerhalb der Populärkultur. Anders als homophobe Äußerungen von Reggaeund Dancehall-Künstler_innen um die Jahrtausendwende sorgte Queen Ifricas Aufritt nicht nur für Kritik aus der LGBTTIQ-Gemeinschaft. Selbst das Ministerium für Kultur und Jugend kritisierte Queen Ifricas Statement. Insbesondere weil die Künstlerin ursprünglich aufgrund ihrer für Jugendliche geeigneten und im Vergleich zu anderen Dancehall-Künstler_innen respektablen Texte für den Auftritt ausgewählt worden war: The Ministry of Youth and Culture expresses our regret that the Grand Gala stage was used by one artiste, Queen Ifrica as a platform to express her personal opinions and views on matters that may be considered controversial, rather than to perform in the agreed scripted and rehearsed manner consistent with the thematic production (»Culture Minister Regrets Queen Ifrica’s Gala Gay Comments« 2013).
Die LGBTTIQ-Organisation Jamaica Association of Gays and Lesbians Abroad (JAGLA) setzte sich daraufhin für ein Konzertverbot der Künstlerin beim Rastafest am 24. August 2013 in Toronto ein, das vom Veranstalter, der Upfront Theatre Foundation, am 23. August 2013 bekannt gegeben wurde. Die Ereignisse erinnern in gewisser Weise an die Reaktionen auf die Ermordung des J-FLAG Vorsitzenden Brian Williamson im Sommer 2004. Neu ist, dass es sich erstmals um eine Rastafari-Künstlerin handelt, deren Konzert aufgrund antihomosexueller Äußerungen abgesagt wurde. Queen Ifricas künstlerische Performance artikuliert Schwarze feministische Ansichten. Als Rastafari-Künstlerin befürwortet sie aber auch die respektable heteronormative Familie. Deshalb kritisiert sie nicht nur Homosexualität, sondern auch die explizite Sexualität und Gewaltverherrlichung in den Texten vieler Dancehall-Künstler_innen. Letzteres hatte zur Folge, dass in der medialen Diskussion der gewaltverherrlichende und vulgäre Aspekt von DancehallKultur nicht thematisiert wurde. In der jamaikanischen Populärkultur haben die Proteste und Diskussionen seit 2004 ebenfalls Veränderungen ausgelöst. Künstler_innen mit bewusst ungeklärter Geschlechtsidentität, wie Schauspieler_in Keith »Shebada« Ramsay, erhalten mehr gesellschaftliche Akzeptanz. Die Sängerin Tanya Stephens kritisiert Homophobie und Rassismus in ihren Performances und Songs wie »Do you still care« (2006) und »Broken People« (2013) als vergleichbare Diskriminierungspraktiken. Im Musikvideo »Like a Man« (2014) demonstriert die Künstlerin Spice durch eine Drag Performance mit Schnurrbart den konstruierten Charakter von heterosexueller Maskulinität in der Dancehall.
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Beenie Man, der 2004 noch im Fokus der Stop Murder Music-Kampagne stand, hat sich in einer Videobotschaft im Sommer 2012 von früheren homophoben Statements auf der Bühne distanziert. 2 Seit den internationalen Protesten und dem starken wirtschaftlichen Druck auf die Künstler_innen hat die Anzahl an explizit gewaltverherrlichenden Texten gegen Schwule und Lesben stark nachgelassen (vgl. Hope 2011b; Lewis 2011). Der Weg zur völligen Akzeptanz von Homosexualität auf Jamaika ist noch weit. Noch immer definieren auf Jamaika, aber auch in Deutschland und anderen Ländern des globalen Nordens, viele Männer in- und außerhalb der Dancehall ihre Maskulinität durch die Abwertung von Frauen, Homosexuellen und anderen sexuellen Minderheiten. Bei Dancehall-Lyrics findet das nun nicht mehr durch Äußerungen, die zur Ermordung von Homosexuellen aufrufen, statt, sondern indem heterosexuelle Maskulinität und Heteronormativität allgemein hervorgehoben werden. Das Sprechen von der Krise ist auch ein Jahrzehnt später nicht aus dem öffentlichen Diskurs in Jamaika verschwunden. Bei der Eröffnungsrede zur International Reggae Conference im Februar 2013 an der University of the West Indies äußerte sich Lisa Hanna, die jamaikanische Ministerin für Jugend und Kultur, wie folgt: »It goes without saying that there is an urgent need for a social and cultural revolution in Jamaica. It is a revolution to restore sanity to our social relations, to the end of murder, the end of bloodshed, and the abuse of our children« (University of the West Indies TV 2013). Das Zitat veranschaulicht, dass Jamaika auch von offizieller Seite weiterhin als ›erkrankte‹ Nation in einem prekären Gesundheitszustand wahrgenommen wird. In der Presse wird der Verfall moralischer und sexueller Normen unter anderem im Kontext von »lesbischen Gangs« an Schulen, obdachlosen Homosexuellen und Schüler_innen, die am zentralen Busbahnhof Kingstons durch (homo-)sexuelle Anzüglichkeiten, Ungehorsam und Gewalt auffallen, beklagt (vgl. Budd 2011; Walker 2013; Henry 2013b). 2
Beenie Mans Statement erfolgte im Kontext des Rototom Sunsplash Festivals 2012 in Spanien. Die Veranstalter_innen sicherten sich durch die Videobotschaft des Künstlers gegen eventuelle Proteste von LGBTTIQ-Organisationen ab. Auf der offiziellen Homepage des Festivals äußerte sich Beenie Man wie folgt: »Let me make this clear and straight. I have nothing against no one. I respect each and every human being, regardless of which race or creed, regardless of which religious belief you believe in, and regardless of which sexual preference you have, including gay and lesbian people. I respect all human beings« (Rototom Sunsplash 2012). Es steht außer Frage, dass sowohl Beenie Man als auch die europäischen Veranstalter_innen ein ökonomisches Interesse zu dem Statement bewogen haben. Nichtsdestotrotz war Beenie Mans Schritt für jamaikanische Künstler ein Novum und wurde auf der Insel von Teilen der Öffentlichkeit und auch in der Dancehall-Musik, beispielsweise von Sizzla, kritisiert.
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Auch die Diskussion um den kulturellen Wert und die gesellschaftliche Rolle von Dancehall-Musik dauert an. Die 30. Ausgabe des Sting Festivals, im Dezember 2013, führte erwartungsgemäß zu Skandalen, die wiederum in den jamaikanischen Medien ausführlich diskutiert wurden. 3 Eine Leserin äußerte sich im Gleaner anschließend wie folgt: »Our culture is not wine and grind and who has the biggest, tightest whatever; who can shoot who; who can bend / back up who fi dead. This might have become culturalised in our country, but it is not our culture« (Morgan 2013). Letztendlich gibt es auch gegenwärtig einen Krisendiskurs auf Jamaika, dessen Sprecher_innen eine Variation an unterschiedlichen Krisenherden, Symptomen und Lösungen artikulieren. Dazu gehört ebenso die Kritik an einer Gesellschaft, die sexuellen Minderheiten weiterhin die vollen Staatsbürgerrechte vorenthält (vgl. Massiah 2013). Die unterschiedlichen Standpunkte im Krisendiskurs spiegeln letzten Endes die andauernde »Fragmentierung [der postkolonialen] Gesellschaften« in der englischsprachigen Karibik wider (Carr 2007:418). Ob das Sprechen von der Krise auch zukünftig primär dem Machterhalt der postkolonialen Eliten dient oder ob darin auch für subalterne Jamaikaner_innen die Möglichkeit liegt, »kulturelle Staatsbürgerschaft« zu erlangen, wird sich in den kommenden Jahren zeigen.
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Im Anschluss an das Festival verkündete der Hauptveranstalter Isaiah Laing, dass die Künstlerin D’Angel und der Rastafari-Künstler Sizzla zukünftig von der Teilnahme am Sting ausgeschlossen seien. D’Angels Auftritt löste eine Welle der Empörung aus, da sie im Rahmen einer verbalen Auseinandersetzung mit dem Deejay Ninja Man kurzzeitig ihren Genitalbereich auf der Bühne entblößte. Sizzla seinerseits werden künftige Auftritte untersagt, da er sich trotz vorheriger Abmachung nicht an die Auflagen der Veranstalter_innen hielt und homophobe Lyrics darbot (vgl. Henry 2014). Die Entscheidung verdeutlicht, dass die Organisator_innen großer Events es sich nicht zuletzt wegen des Drucks internationaler Sponsoren nicht mehr leisten können, bei homophoben Performances wegzusehen.
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