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German Pages 312 Year 2014
Claudia Müller, Patrick Ostermann, Karl-Siegbert Rehberg (Hg.) Die Shoah in Geschichte und Erinnerung
Histoire | Band 66
2014-10-27 13-07-54 --- Projekt: transcript.titeleien / Dokument: FAX ID 03d7380822072208|(S.
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4) TIT2794.p 380822072216
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Claudia Müller, Patrick Ostermann, Karl-Siegbert Rehberg (Hg.) unter Mitarbeit von Maike Heber
Die Shoah in Geschichte und Erinnerung Perspektiven medialer Vermittlung in Italien und Deutschland
2014-10-27 13-07-54 --- Projekt: transcript.titeleien / Dokument: FAX ID 03d7380822072208|(S.
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Dieser Band wurde gedruckt in Zusammenarbeit mit dem Italien-Zentrum der TU Dresden und mit freundlicher Unterstützung des Deutschen Akademischen Austauschdienstes im Rahmen des Fachkonferenzen-Programms »Deutsch-Italienische Dialoge«, finanziert aus Mitteln des Bundesministeriums für Bildung und Forschung (BMBF).
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2015 transcript Verlag, Bielefeld
Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlagkonzept: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Umschlagabbildung: Bruno Canova: Il mondo prende atto delle parole di Hitler (Die Welt nimmt Hitlers Worte zur Kenntnis, 1972-73), © Lorenzo Canova Lektorat: Maike Heber, Claudia Müller, Patrick Ostermann Satz: Maike Heber Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar Print-ISBN 978-3-8376-2794-7 PDF-ISBN 978-3-8394-2794-1 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]
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Inhalt
Die Shoah in Geschichte und Erinnerung Perspektiven und Medien der Vermittlung in Italien und Deutschland Patrick Ostermann/Karl-Siegbert Rehberg/Claudia Müller | 9
Z UR P LURALITÄT DER E RINNERUNGEN AN DIE S HOAH Von der Erinnerung der Überlebenden zur kritischen Forschung Das Gedenken an die Shoah in Italien Ruth Nattermann | 27
Die Shoah in Italien Geschichte, Erinnerung, Geschichtsvermittlung, Musealisierung Michele Sarfatti | 41
Offen rassistisch? Die ‚arischen‘ Italiener und die Rassengesetze Mario Avagliano | 57
Eine ‚Schule des Rassismus‘ Über die Verantwor tung der katholischen Faschisten für die Judenver folgung in Italien Patrick Ostermann | 75
Karl Löwiths Exil in Japan und Italien im Vergleich Möglichkeiten und Grenzen der Wahrnehmung eines Zeitzeugen Kilian Bartikowski | 89
Zeugen des Nicht-Erlebten Die faschistische und nationalsozialistische Ver folgung in den Erinnerungen der römischen Juden dritter Generation Raffaella Di Castro | 107
Die europäische Erinnerung an die Shoah im Zeitalter der Opferkonkurrenz Emmanuel Droit | 127
H ISTORISCHES V ERSTEHEN UND G ESCHICHTSDIDAK TIK VOR NEUEN H ERAUSFORDERUNGEN Historisches Lernen mit Zeitzeugen? Geschichtsdidaktische Anmerkungen Alfons Kenkmann | 141
Zeitzeugenvideos am Ende der Zeitzeugenschaft Zwischen Perspektivwechsel, Erinnerungsdiskurs und Kompetenzer werb Martin Liepach | 157
Historische und aktuelle Bezüge in der politischen Bildungsarbeit Das Beispiel der Ausstellung Anne Frank. Ein Mädchen aus Deutschland Gottfried Kößler/Meron Mendel | 169
Der zunehmende zeitliche Abstand zur Verfolgungsgeschichte der NS-Zeit Folgen für die historische Bildung an authentischen Or ten Thomas Lutz | 183
Orte des Erinnerns und des Vergessens? Die Kriegsgräberstätten im Emsland als Beispiele regionaler Erinnerungskultur Ann Katrin Düben | 199
Das Lernen über den Holocaust via Internet Möglichkeiten und Fallstricke Juliane Wetzel | 211
P ERSPEK TIVEN ÄSTHETISCHER V ERMITTLUNG Felix Nussbaum und der ‚gemalte Holocaust‘ Biografie – Sammlung – museale Vermittlung Thorsten Heese | 225
Bruno Canova Shoah, Rassengesetze und La difesa della razza in den Werkzyklen L’arte della guerra und La strage degli innocenti Lorenzo Canova | 245
Erinnerung, Eden und Begräbniskunst Die Gärten der Finzi-Contini von Giorgio Bassani Sonia Gentili | 261
Erinnerung und Moderne Fremdheit und Gewöhnung im Umgang mit der Vergangenheit Ralph Buchenhorst | 277
Ein traumatisches Ereignis als Katalysator des Erinnerns Lorenza Mazzetti und die Auslöschung einer Familie Karl-Siegbert Rehberg | 297
Autorinnen und Autoren | 307
Die Shoah in Geschichte und Erinnerung Perspektiven und Medien der Vermittlung in Italien und Deutschland Patrick Ostermann, Karl-Siegbert Rehberg und Claudia Müller
1. P LURALE F ORMEN UND A MBIVALENZEN DER E RINNERUNG AN DIE S HOAH AM B EISPIEL VON D EUTSCHLAND UND I TALIEN Über heutige Formen des Gedenkens an die von Nazi-Deutschland geplante und grausam realisierte Ermordung der europäischen Juden nachzudenken, macht es notwendig, sich ebenfalls die lange Zeit der Verdrängung dieses und anderer Staatsverbrechen sowohl in der persönlichen und familialen als auch in der kollektiven und institutionell-kulturellen Erinnerung zu vergegenwärtigen. Bis heute werden die mit diesem Völkermord, mit Massenvernichtungsund Kriegsverbrechen verbundenen Taten allzu oft immer noch auch dadurch relativiert, dass man sie pauschal dem ebenfalls verbrecherisch begonnenen und geführten Zweiten Weltkrieg zuordnet, sozusagen die ‚Legitimität‘ der Kriegsführung zum Erklärungs- und Rechtfertigungsgrund für die Gräueltaten macht. Und andererseits wird oft versucht, Kriegsführung und Massenmord genau zu unterscheiden, damit die ‚Normalität‘ des kriegerischen Tötens von den durch kein Kriegsrecht gedeckten Taten so isoliert werden kann, dass die Mehrheit der Deutschen, die all das miterlebt und mitbedingt haben, sich nicht als (Mit)Täter nicht fühlen muss. Durchaus reagierten nach 1945 viele Deutsche mit Scham auf die NS-Verbrechen. Aber trotz aller diskursiven Auseinandersetzung mit, wenn schon nicht der „Kollektivschuld“, so doch einer „Kollektivverantwortung“1 drang das Ausmaß der systematischen Tötungen, besonders die Massenmorde in den Vernichtungslagern, nur gegen viele Widerstände ins Bewusstsein der Deutschen ein. Noch ein halbes Jahrhundert nach der bedingungslosen Kapitulati1 | Vgl. Karl Jaspers: „Die Schuldfrage“. Für Völkermord gibt es keine Verjährung, München 1979.
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on vermittelten die Reaktionen auf Jan Philipp Reemtsmas ‚Wehrmachtsausstellung‘2 eine Ahnung davon, was unmittelbar nach 1945 die Konfrontation mit den Großverbrechen sozialpsychologisch bedeutet hat. Gerade die erdrückenden Fakten und traumatisierenden Foto- und Filmdokumente machten das Verhalten des eigenen Volkes (für viele sogar das eigene) ‚unfassbar‘. Selbst Erich Kästner hatte seine Schwierigkeiten, angesichts der Dokumentierung des Grauens in den Konzentrationslagern Worte zu finden: „Was in den Lagern geschah, ist so fürchterlich, daß man darüber nicht schweigen darf und nicht sprechen kann“.3 Die meisten Deutschen wollten vom Ausmaß der Verbrechen nichts gewusst haben und delegierten die Schuld an eine relativ kleine Gruppe fanatischer Nazis und SS-Angehöriger. Zwar blieb der Zusammenhang der als katastrophisch empfundenen Lage und dem Völkermord an den europäischen Juden untergründig wirksam, äußerte sich anfangs aber zumeist nur in Andeutungen und in Sprachlosigkeit. Was die Historiker inzwischen doch dokumentiert und in seinen Abläufen rekonstruiert hatten,4 wurde erst 1978/79 durch den vierteiligen US-amerikanischen Fernsehfilm Holocaust von Marvin J. Chomsky und dessen erzählerische Konkretisierung des Schicksals der Familie Weiß für ein Massenpublikum greif bar – ein Effekt, von dem auch noch der Erfolg von Steven Spielbergs Schindlers Liste (1993) getragen war. Die Niederlage wurde von den meisten Deutschen nicht als Befreiung erlebt, sondern als historische Katastrophe. Was zur ‚Stunde Null‘ erklärt wurde, ließ Deutschland aus der Geschichte fallen, eine zugleich traumatisierende und entlastende Konstruktion für die zwanghaft stillgestellte Zeit in den Trümmerlandschaften und für den Ausstieg aus dem Fluss der geschichtlichen Kontinuität. In dieser Situation wurden Losungen ausgegeben wie: der „innerste Prozeß der Selbstbesinnung [...] muß ohne Worte [!] verlaufen, wenn
2 | Vgl. ausschnitthaft zur Debatte u.a.: Bogdan Musial: Bilder der Wehrmacht. Was ist der Kommissionsbericht wert?, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 30.11.2000; Rainer Blasius: Der Krieg der Dokumente, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 29.11.2001; Manfred Messerschmidt: Der Krieg der Generale war der Krieg Hitlers. Gibt es ehrenhaftes Soldatentum inmitten eines historischen Verbrechens? Anmerkungen zur Wehrmachtsausstellung, in: Berliner Zeitung, 25.4.1997. 3 | Erich Kästner: Wert und Unwert des Menschen, in: Gesammelte Schriften, Bd. 5, Köln 1959, S. 60, zit. in: Aleida Assmann und Ute Frevert: Geschichtsvergessenheit – Geschichtsversessenheit. Vom Umgang mit deutschen Vergangenheiten nach 1945, Stuttgart 1999, S. 129f; vgl. auch Dagmar Barnouw: Ansichten von Deutschland (1945). Krieg und Gewalt in der zeitgenössischen Photographie, Frankfurt a.M./Basel 1997. 4 | Vgl. Uwe Dietrich Adam: Judenpolitik im Dritten Reich, Düsseldorf 1972; Raul Hilberg: Die Vernichtung der europäischen Juden: Die Gesamtgeschichte des Holocaust, Berlin 1992.
Die Shoah in Geschichte und Erinnerung
er nicht von Anfang an verfälscht werden soll“5 oder in einer Formulierung Gottfried Benns: „Du trittst zurück in den Schatten“ und es bleibt, „die auferlegten Dinge schweigend zu vollenden“.6 Solches Schweigen erwies sich allerdings nur allzu oft als sehr beredt, überall wurden Verdeckungsformen produziert, wie die von der ‚dunklen Zeit‘. Mit derlei Bildern wurde aus der Katastrophik das „kommunikative Beschweigen“ geboren, jene geschichtliche ‚Rücksichtnahme‘ und Selbstentschuldigungschance, die Hermann Lübbe so treffsicher benannt hat, darin einen der Gründe für das Gelingen westdeutscher Demokratisierung sehend. Insgesamt herrschte 1945 ‚Schiff bruchstimmung‘. Aber gegen alle Bedrückungen in der Niederlage wollten die meisten Menschen nach 1945 sich doch noch eine Zukunftschance eröffnen, zumal die Alltagsroutinen nie stillzustellen sind und der Überlebenswille doch dominiert. So wurde „Wiederauf bau“ zum Schlagwort der Stunde.7 Die Verschärfung des Ost-West-Konfliktes bis hin zu der institutionellen Erstarrung im ‚Kalten Krieg‘ spaltete auch die Erinnerung an die NS-Vergangenheit und die Varianten des Vergessenwollens und erinnernden ‚Verschiebens‘: In der sich trotz des Auf baus einer neuen Diktatur genuin als ‚antifaschistisch‘ verstehenden DDR, wurden die Verbrechen der Nazis auch rituell in den Mittelpunkt der eigenen Staatsgründung gestellt, dafür aber deren detaillierte Erforschung weitgehend zurückgedrängt, da man die – zumindest organisatorischen – Ähnlichkeiten nicht zur Debatte stellen wollte. Währenddessen stand in der (alten) Bundesrepublik die herausgehobene Rechtfertigung der eigenen Staatlichkeit aus der Überwindung der NS-Vergangenheit gleichermaßen im Mittelpunkt, dafür leistete umgekehrt deren geschichtswissenschaftliche Erforschung bedeutsame (Selbst-)Aufklärungsarbeit. Und doch suchte und beanspruchte man in Ost und West, das „bessere Deutschland“ zu sein, an welches Thomas Mann etwa schon in seinen Rundfunkansprachen aus dem Exil appelliert hatte.8 So wurde die (besonders die institutionalisierte) Erinnerung in Ost- und Westdeutschland mit einer selektiven Neuaneignung der Vergangenheit verbunden. Dabei traten nach der (Selbst-) Zerstörung des kurzlebigen ‚Deutschen Reiches‘ beide deutschen Teil-Staaten ‚mental‘ aus der Geschichte heraus: Die Bundesrepublik flüchtete in die zuerst politisch-militärische Westbindung, die ihre, auch durch die junge Nachkriegs5 | Hans Freyer: Weltgeschichte Europas, Bd. 2, Wiesbaden 1948 (mit der Zulassungsnummer 20 der Nachrichtenkontrolle der [amerikanischen] Militärregierung), S. 1003. 6 | Gottfried Benn: Der Ptolemäer. Berliner Novelle, 1947, in: Ders: Sämtliche Werke, Bd. V: Prosa 3, S. 8-41, hier: S. 41. 7 | Axel Schildt: Moderne Zeiten. Freizeit, Massenmedien und „Zeitgeist“ in der Bundesrepublik der 50er Jahre, Hamburg 1995. 8 | Thomas Mann: An die gesittete Welt: Politische Schriften und Reden im Exil, Frankfurt a.M. 1986.
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generation getragene, Beglaubigung in einer kulturellen Orientierung an der ‚westlichen Welt‘ erhielt – und dies hauptsächlich durch ‚Trägergruppen‘, die der Politik Konrad Adenauers oft skeptisch bis feindlich gegenübergestanden hatten. Im Osten hingegen kam es nicht zu einer vergleichbaren ‚Ostbindung‘, vielmehr zu einer Flucht in die Geschichtsphilosophie, durch welche die DDR einen legitimen Platz in der Emanzipationsgeschichte der Menschheit einzunehmen schien. All das hatte Folgen für ein vielfach selektives und seinerseits ‚gespaltenes Erinnern‘.9 Bemerkenswert ist auch, dass die Verbrechen des NS-Systems und die durch sie entstandenen Ambivalenzen fast alle Formen des Erinnerns auch fragwürdig machen können: Lag in der schauerlichen Beschreibung der Vernichtungslager als ‚Mordmaschinerie‘ und ‚Todesfabriken‘ zugleich eine technizistisch-„‚kalte Amnestie‘ für die Täter“, wie Alf Lüdtke meinte?10 Liegt in Begriffsprägungen, die in Opferritualen (‚Holocaust‘) oder in theologischen Schicksalsgleichsetzungen des Völkermordes im 20. Jahrhundert mit den antiken Zerstörungen des Jerusalemer Tempels sowie der Vertreibung der Juden (‚Shoah‘), nicht auch eine Überhöhung und Immunisierung gegen die verbrecherische Energie der NS-Diktatur? Und könnte nicht auch die Konstruktion einer Verhängnisgeschichte der Deutschen unkritisch machen und insofern für die Täter und deren Unterstützer und Dulder entlastend wirken? Man denke hier an Thesen, wonach Deutschland durch den Dreißigjährigen Krieg die bürgerliche Entwicklung im Westen Europas verfehlt habe oder – wie Georg Lukácz das einseitig-vereinfachend und doch nicht in allem falsch suggerierte –, dass die Deutschen seit Reformation und Romantik in allen möglichen Spielarten ihres Philosophierens und Denkens die Prädisposition für einen ‚Irrationalismus‘ entwickelt hätten, die dann in das Verderben der faschistischen Massenmorde geführt hätte. Eine derart vieldeutige und unterschiedlichste Formen der Selbstexkulpation hervorbringende Geschichtsdeutung findet sich in beiden einstmaligen ‚Achsenmächten‘, denn Hitler-Deutschland und das Italien Mussolins waren die beiden Staaten, die ausgehend von einem jeweils eigenen nationalen und rassistisch begründeten Überlegenheitsanspruch Europa mit Krieg überzogen. Während Westdeutschland und das vereinigte Deutschland sich
9 | Vgl. Karl-Siegbert Rehberg: Der doppelte Ausstieg aus der Geschichte. Thesen zu den „Eigengeschichten“ der beiden deutschen Nachkriegsstaaten, in: Karl-Siegbert Rehberg: Symbolische Ordnungen. Beiträge zu einer soziologischen Theorie der Institutionen, hg. v. Hans Vorländer, Baden-Baden 2014, S. 325-356. 10 | Alf Lüdtke: Die Fiktion der Institution, in: Bernhard Jussen und Reinhard Blänkner (Hg.): Ereignis und Institutionen, Göttingen 1998, S. 355-379, hier: S. 376; vgl. Karl-Siegbert Rehberg: Die stabilisierende „Fiktionalität“ von Präsenz und Dauer. Institutionelle Analyse und historische Forschung, in: Ebd., S. 381-407.
Die Shoah in Geschichte und Erinnerung
schließlich doch zu ihrer Verantwortung als dem ‚Land der Täter‘ bekannten, dominierte in Italien (nicht unähnlich der DDR) seit den 1960er Jahren eine apologetische Resistenza-Vulgata, nach der die Italiener während des Zweiten Weltkrieges nicht Täter, sondern Opfer eines fremdbestimmten Nazifascismo gewesen seien. Dass auch der wichtigste italienische Intellektuelle der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, Benedetto Croce, den Faschismus auf deutsche geistesgeschichtliche Wurzeln zurückführte, tat ein Übriges. Dessen Deutung wurde von der italienischen Nachkriegsregierung unter Alcide De Gasperi bereitwillig aufgegriffen, um auf der Pariser Friedenskonferenz Italien moralisch zu entlasten. Konsequenterweise wurde südlich der Alpen bis gegen Ende des 20. Jahrhunderts der faschistische Antisemitismus fälschlicherweise als bloße Übernahme der NS-Rassendoktrin bagatellisiert. Den ‚bösen‘ Deutschen wurden die ‚guten‘ Italiener gegenübergestellt, die alles in ihrer Macht Stehende getan hätten, um die 47.000 Mitglieder jüdischer Gemeinden selbstlos zu schützen. Die italienische Nachkriegsgesellschaft versuchte sich auf diese Weise ihrer Verantwortung für die begangenen Kriegsverbrechen zu entledigen.11 Die Langlebigkeit dieser Erzählung zeigt sich in der nur schleppenden und unzureichenden materiellen Entschädigung der 30.000 überlebenden italienischen Juden nach 1945. Hinzu kam die mangelnde Empathie für die Opfer, weil die italienische Gesellschaft dem seit Einführung der italienischen Rassengesetze 1938 erfahrenen Leid der Juden wenig Verständnis entgegenbrachte.12 Zudem wurden – auch aus Angst vor einem „Bumerang“-Effekt, der die italienischen Kriegsverbrechen umso mehr zutage gebracht hätte – die nationalsozialistischen Verbrechen in Italien nur zögerlich aufgearbeitet.13 Man denke etwa an den ‚Schrank der Schande‘, der im Sitz der Allgemeinen Militäranwaltschaft in Rom bis 1994 eine Vielzahl von Akten über die Verbrechen unzugänglich aufbewahrte.14 Die fehlende Aufarbeitung von in Italien begangenen Kriegsverbrechen wurde – wie Ruth Nattermann in ihrem Beitrag darlegt – auch dadurch 11 | Vgl. Filippo Focardi: Il cattivo tedesco e il bravo italiano. La rimozione delle colpe della seconda guerra mondiale, Roma/Bari 2014.
12 | Vgl. Guri Schwarz: Der Wiederaufbau jüdischen Lebens in Italien, in: APuZ, 50/2007, S. 1825, hier: S. 24.
13 | Vgl. Filippo Focardi: Das Kalkül des „Bumerangs“. Politik und Rechtsfragen im Umgang mit deutschen Kriegsverbrechen in Italien, in: Norbert Frei (Hg.): Transnationale Vergangenheitspolitik. Der Umgang mit deutschen Kriegsverbrechen in Europa nach dem Zweiten Weltkrieg, Göttingen 2006, S. 536-566.
14 | Im sogenannten ‚Schrank der Schande‘ ‚archivierte‘ die italienische Militärstaatsanwaltschaft seit den 1950er Jahren Unterlagen über 2.274 Verbrechen, die die Deutschen von 1943 bis 1945 begangen hatten. Die ‚Wiederentdeckung‘ der Akten im Rahmen der Ermittlungen gegen den SS-Offizier Erich Priebke führte zu zahlreichen Prozessen gegen weitere deutsche Täter.
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gestützt, dass nicht wenige derer, die Bedrohung und Leid erfahren hatten selbst in ihren Familien kaum über ihr Schicksal sprachen. Auch in der ersten, 1961 erschienenen Auflage von Lorenza Mazzettis Il cielo cade wird das erlebte Verbrechen, der Mord an dem italienischen Zweig der Familie Einstein in der Villa ‚Il Focardo‘, in Romanform erzählt. Erst in der 1993 bei Sellerio wiederaufgelegten Edition widmet die Autorin das Buch ihrer Adoptivfamilie und macht dadurch die Authentizität und eigene Zeitzeugenschaft der darin beschriebenen Ereignisse deutlich. Erfolgten derlei öffentliche persönliche Schicksalsauseinandersetzungen der Betroffenen erst sehr spät, so finden sich künstlerische Reflexionen der Verbrechen an den Juden schon unmittelbar nach 1945, zuerst in neorealistischen Filmen (besonders eindrucksvoll etwa in Roberto Rosselinis Rom, offene Stadt) bis hin zu den Romanen von Giorgio Bassani, dessen subtiles Hauptwerk Die Gärten der Finzi Contini Sonia Gentili im Hinblick auf die Selbstvergewisserung der den Holocaust überlebt habenden italienischen Juden in ihrem Beitrag aufschlüsselt. Die Ausblendung der italienischen Eigenverantwortung und die strategische Verharmlosung der Mussolini-Diktatur setzten sich auf politischer Ebene bis in die jüngste Vergangenheit fort. Mitte der 1980er Jahre beendete Regierungschef Bettino Craxi die bis dahin gültige Ausgrenzung der von Gianfranco Fini geführten Neofaschisten und machte diese wieder salonfähig. Mit dem Zusammenbruch der ‚Ersten Republik‘ 1991, so Lutz Klinkhammer, zerbrach dann der antifaschistische Konsens endgültig.15 Diese Politik der Rehabilitierung des Faschismus wurde von Silvio Berlusconi nach 2001 fortgesetzt, der die Diktatur Mussolinis ganz gezielt eine „dittatura benigna“ nannte.16 In diesem für die Holocaust-Überlebenden belastenden politischen Klima hielt auch das kollektive Schweigen der jüdischen Gemeinschaft bis in die jüngste Vergangenheit an. Erst die dritte Generation, zu der auch die Römerin Raffaella Di Castro gehört, die zu dieser Thematik im vorliegenden Band schreibt, machte sich an die Entschlüsselung dieser für so lange Zeit verdrängten Erinnerungen, zeichnet sie auf und analysierte sie. Seit der Jahrtausendwende setzte eine verstärkte fachwissenschaftliche und öffentliche Beschäftigung mit dem Schicksal der italienischen Juden ein. Michele Sarfatti widerlegte in seiner fulminanten Monografie über die Verfolgung der Juden unter Mussolini die so lange suggerierte Unschuld der Italiener.17 Er, der seit 2002 das Centro di Documentazione Ebraica Contemporanea 15 | Lutz Klinkhammer: Der neue „Antifaschismus“ des Gianfranco Fini, in: Petra Terhoeven (Hg.): Neue Perspektiven der italienischen Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts, Göttingen 2010, S. 257-280, hier: S. 261.
16 | Ebd., S. 278. 17 | Michele Sarfatti: Die Juden im faschistischen Italien. Geschichte, Identität, Verfolgung, Berlin 2014 [im ital. Original erstmals im Jahr 2000, in überarbeiteter Fassung 2007 erschienen].
Die Shoah in Geschichte und Erinnerung
in Mailand leitet, sieht trotz aller Fortschritte die Aufarbeitung als längst noch nicht abgeschlossen an, zumal die Frage nach der italienischen Schuld in der Gesellschaft noch immer ein Politikum sei. So konterkarierte etwa die zweite Regierung Berlusconi die Einführung des Holocaust-Gedenktages im Jahr 2000 durch die Ausrufung des 10. Februars zum Gedenktag der heimatvertriebenen Italiener. Zuletzt zeigten im Jahr 2013 Mario Avagliano und Marco Palmieri, wie sehr die italienische Bevölkerung die Judenverfolgung nicht nur befürwortete und unterstützte, sondern auch aktiv betrieb.18 Seine Thesen präsentiert Avagliano in diesem Band erstmals dem deutschsprachigen Publikum. Und auch Patrick Ostermann belegt, wie der unter anderem in Universitäten und Offiziersschulen verbreitete italienische Rassismus die faschistischen Sicherheitsorgane so indoktrinierte, dass sie die Judenverfolgung sogar eigenständig aufnahmen. Wenn in Deutschland und Italien das Gedenken an die Verbrechen anfangs gleichermaßen widersprüchlich und oft verdeckend war, sich im Laufe der Nachkriegszeit dann allerdings deutliche Differenzen in der Geschichtspolitik beider Länder zeigen, so ist für die Zukunft nun danach zu fragen, wie man – auch einer jüngeren Generation gegenüber – von alledem sprechen kann. Bei der oben erwähnten Schwierigkeit, treffende Begriffe zu verwenden, erscheint es plausibel, dass man Ausdrucksweisen übernimmt, die in jüdischen Diskursen entwickelt wurden, man also sehr wohl – wie seit Mitte der 1980er Jahre zunehmend zu beobachten – von ‚Shoah‘ spricht; ein Ausdruck, der vor allem durch Claude Lanzmans verfremdend-eindringliche filmische Spurensuche in und über Auschwitz weite Verbreitung fand. Aber keiner der zur Verfügung stehenden Begriffe und Wortwahlen ist im Einzelnen problemlos und gerade davon hätte jede pädagogische Arbeit auszugehen.
2. H ISTORISCHES V ERSTEHEN UND G ESCHICHTSDIDAKTIK VOR NEUEN H ERAUSFORDERUNGEN Wie kontrovers immer die geschichtspolitischen und historischen Thesen über die Vergangenheit sein mögen: ‚unwiderlegbar‘ ist die (historisch selbstverständlich ebenfalls quellenkritisch zu reflektierende) Intensität der Berichte jener, die den Holocaust überlebt haben. Aber auch alle anderen historischen Quellen machen Betrachter bis heute ratlos und bestürzt. Diese unabweisbare Emotionalität ist eine wichtige, motivbildende Schicht des Erinnerns, die angereichert werden muss mit historischer und politischer Reflexion, damit 18 | Mario Avagliano und Marco Palmieri: Di pura razza italiana. L’Italia „ariana“ di fronte alle leggi razziali, Milano 2013.
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sie nicht in einer schlechten Selbstgewissheit erstarrt. Aber daraus ergibt sich auch das Problem einer Ablösung von der unmittelbaren Sichtbarkeit persönlicher Betroffenheit in den künftigen Auseinandersetzungen mit den Verbrechen im „Jahrhundert der Extreme“19, hier mit denen des Nationalsozialismus. Nach Saul Friedländer vollzieht sich mit zunehmendem zeitlichem Abstand zum Zweiten Weltkrieg ein Entkopplungsprozess, der die Zukunft der Shoah-Erinnerung erneut in Frage stellt: „[I]rgendwann wird man Bücher über das ‚Dritte Reich‘ und den Holocaust lesen wie heute Cäsars Gallischen Krieg. So wird es kommen, da hilft nichts“20, spitzt der in Prag geborene jüdische Historiker seine These zu. Dies liege auch daran, dass die nachwachsenden Generationen eine absolut andere Assoziationswelt besäßen. Zugleich sei im globalen Maßstab sowohl die Kenntnis über den Holocaust als auch die Empathie mit den Opfern schon heute oft sehr gering. Eine Ausnahme stellten Deutschland als das Land der Täter und die jüdische Gemeinschaft, aus der die Opfer stammen, dar. Friedländer berichtet über einen grotesken Vorfall: „So sprach ich einmal an der Uni von Los Angeles über Euthanasie und führte dabei die Ziele an, welche die Nazis damit verfolgten, wie die Idee der ‚Rassereinheit‘, die sich gegen ‚lebensunwertes‘ Leben richtete. Ein Student mit asiatischen Wurzeln fragte daraufhin ganz interessiert: ‚Und? Hat es der Rassereinheit genutzt?‘“
Auch Ralph Buchenhorst zeigt in seinem Beitrag, wie das Erinnern von „konstitutiven Widersprüchen“ durchzogen ist. Einer von diesen bestehe darin, dass die Globalisierung der Erinnerung keinesfalls zu einer Vereinheitlichung führe, sondern zu einer Heterogenisierung. Auch ist der Holocaust zunehmend zu einem interdisziplinären Gegenstand geworden.21 Nicht zuletzt ist die Zahl der öffentlichen und zivilgesellschaftlichen Akteure, die sich auf der Ebene der schulischen, universitären und politischen Bildung mit der Shoah befassen, sehr groß. Gleichzeitig versucht die von Politikern und Wissenschaftlern im Jahr 1998 gegründete International Holocaust Remembrance Alliance (IHRA)22, in deren 31 Mitgliedsstaaten auch Deutschland und Italien 19 | Eric Hobsbawm: Das Zeitalter der Extreme: Weltgeschichte des 20. Jahrhunderts, München 1995.
20 | Saul Friedländer: „Das tut mir weh, gewiss.“ Ein Gespräch mit dem Historiker Saul Friedländer über die Erinnerung an den Holocaust, Islamophobie und Papst Pius XII. von Alexander Cammann, in: Die Zeit, 16.1.2011, http://www.zeit.de/2011/03/Holocaust-Interview-Friedlaender/komplett ansicht [1.5.2014].
21 | Vgl. Robert Eaglestone und Barry Langford: Introduction, in: Dies. (Hg.): Teaching Holocaust Literature and Film, Basingstoke et al. 2008, S. 1-14, hier: S. 1. 22 | Vgl. Oliver Plessow: Länderübergreifende „Holocaust Education“ als Demokratieund Menschenrechtsbildung? Transnationale Initiativen im Vergleich, in: Zeitschrift für Geschichtsdidaktik (ZGD) 11, 2012, S. 11-30, hier: S. 18.
Die Shoah in Geschichte und Erinnerung
vertreten sind, die Arbeit in den Bereichen Bildung, Gedenken und Forschung zu koordinieren. Sie kann damit als die zentrale Institution bezeichnet werden, die auf Grundlage der Stockholmer Erklärung die Shoah langfristig weltweit im kollektiven Gedächtnis verankern möchte, um jegliche Verbrechen dieser Art in Gegenwart und Zukunft zu bekämpfen. Dennoch bleibt auch mit solchen transnationalen Kooperationen die Erinnerung an die Shoah nach wie vor überwiegend von nationalen Überlieferungen bestimmt. Über die durch den Kalten Krieg bedingte europäische Teilung der Erinnerungskulturen in Ost und West hinaus23, die sich erst allmählich annähern, ist die Aufarbeitung der Shoah bis heute selbst in den westeuropäischen Ländern höchst unterschiedlich geblieben, was gerade im deutsch-italienischen Vergleich exemplarisch sichtbar wird. Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage, ob eine gemeinsame, geteilte europäische Erinnerung an die Shoah überhaupt realisierbar ist. Emmanuel Droit plädiert dafür und begrüßt in seinem Aufsatz die Arbeit der 2011 gegründeten Platform of European Memory and Conscience – ein transnationales, von der EU gefördertes Netzwerk, dem neben öffentlichen Einrichtungen auch zahlreiche NGOs angehören. Laut Claus Leggewie ist eine gemeinsame europäische Erinnerungskultur ohnehin nur als Produkt eines in der europäischen Öffentlichkeit geführten, kollektiven zivilgesellschaftlichen Aushandlungsprozesses denkbar. Insofern kritisiert der Essener Politikwissenschaftler vehement, das ‚Haus der Europäischen Geschichte‘ in Brüssel, das 2015 eröffnet werden soll, weil die Gefahr bestehe, dass top-down ein teleologisches Geschichtsbild verordnet werde24, das möglicherweise den heterogenen und vielfältigen Erinnerungen der verschiedenen Trägergruppen in Europa ebenso wenig gerecht würde, wie den nationalen Erinnerungspolitiken. Auch der Beitrag von Kilian Bartikowski in diesem Band verweist am Beispiel der Exilerfahrungen Karl Löwiths auf die bereits in den 1930er und 40er Jahren national bestimmte Wahrnehmung der Judenverfolgung. Erst im Studium fremder Kulturen, so das Resümee des Philosophen während seiner Jahre in Japan, können Rückschlüsse auf die eigene Kultur gezogen werden. Insofern zeigen bereits die Erfahrungen Löwiths, dass kollektive Narrative auf begrenzten Per-
23 | Vgl. dazu etwa Emmanuel Droit: Die Shoah: Von einem westeuropäischen zu einem transeuropäischen Erinnerungsort, in: Kirstin Buchinger, Claire Gantet und Jakob Vogel (Hg.): Europäische Erinnerungsräume, Frankfurt a.M./New York 2009, S. 257-265, sowie Hartmut Kaelble: Europäische Geschichte aus westeuropäischer Sicht?, in: Gunilla-Friederike Budde, Sebastian Conrad und Oliver Janz (Hg.): Transnationale Geschichte: Themen, Tendenzen und Theorien, Göttingen 2006, S. 105-116.
24 | Claus Leggewie: Der Kampf um die europäische Erinnerung. Ein Schlachtfeld wird besichtigt, München 2011, S. 186ff.
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spektiven beruhen und es für eine ‚europäische Erinnerung‘ transnationaler Aushandlungs- und Verständigungsprozesse bedarf. Der vorliegende Band reflektiert die von Friedländer beobachtete Historisierung der Shoah, die sowohl für die Wissenschaft als auch für die Medien wie die Didaktik in Schulen und Bildungseinrichtungen Fragen aufwirft. Dabei soll näher bestimmt werden, wie sich die Erinnerung an die Shoah von der persönlichen Erfahrung zur mündlich weitergegebenen Erfahrung im ‚kommunikativen‘ Gedächtnis hin zur medial vermittelten Erinnerung disparater Trägergruppen, die als Nachfahren in die Geschehnisse nicht mehr involviert waren, gewandelt hat und noch wandelt. Damit wird das Moment der artifiziellen Realisierung eines zukünftigen ‚kulturellen‘ Gedächtnisses relevant, das als „kulturelle Schöpfung“ ganz mit den „Sinnbedürfnisse[n] und Bezugsrahmen der jeweiligen Gegenwarten“ in Bezug steht.25 Diese identitätsstiftende Form des kollektiven Gedächtnisses, in der die individuelle Erfahrung bestimmter historischer Ereignisse nur noch medial vermittelt werden kann, birgt Chancen und Risiken für die Erinnerung an die Shoah, die hier diskutiert werden sollen. Um ein möglichst generationenübergreifendes Publikum zu erreichen, kombiniert Esther Bejarano, eine der letzten Überlebenden des Mädchenorchesters in Auschwitz-Birkenau, die Lesungen aus ihrer Autobiografie mit einer ungewöhnlichen musikalischen Darbietung: Einhundertsiebzigmal trat sie bereits mit den Kölner Musikern Microphone Mafia auf, die ihre jiddischen Lieder durch einen lautstarken deutsch-türkisch-italienischen Rap-Mix verfremdet. Auf diese Weise gelingt es ihr, die von Friedländer erwähnte vollkommen unterschiedliche Assoziationswelt der Jugendlichen und jungen Erwachsenen anzusprechen.26 Diese künstlerische Form der Auseinandersetzung mit der Vergangenheit verweist auf zwei Herausforderungen, denen sich die Geschichtsdidaktik stellen muss: Einerseits werden die Stimmen der Zeitzeugen – Esther Bejarano wurde 1924 geboren – in naher Zukunft verstummen; andererseits pluralisieren sich, wie erwähnt, die Erinnerungen an historische Ereignisse bedingt durch die zunehmende Globalisierung und den wachsenden zeitlichen Abstand zum Holocaust. Den Akteuren der Erinnerungskultur in den Museen, Gedenkstätten sowie in der Bildung stellt sich mit der erstgenannten Problematik die Frage 25 | Jan Assmann: Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen, München 21997, S. 47f.
26 | Ulrike Schäfer: Esther Bejarano und Microphone Mafia: Allianz gegen das rassistische Gift, in: Allgemeine Zeitung, 9.7.2014, http://www.allgemeine-zeitung.de/lokales/alzey/vgwonnegau/osthofen [11.7.2014]. Der Artikel berichtet über Bejaranos Auftritte am 2. und 3. Juli 2014 in der Gedenkstätte des KZs Osthofen.
Die Shoah in Geschichte und Erinnerung
nach einer möglichst authentischen Tradierung der individuellen Erinnerung und damit der Form ihrer Mediatisierung. Autobiographien und Tagebücher sowie Videointerviews erscheinen als Möglichkeit, Zeitzeugenschaft zu konservieren, indem das kommunikative Gedächtnis ‚eingefroren‘ und in ein epochenübergreifendes institutionelles, ‚kulturelles‘ Gedächtnis überführt werden kann. Die Zeugnisse der Zeitzeugen genießen die Aura von Authentizität, da sie unmittelbar mit dem individuell Erlebten verknüpft und durch keine zusätzliche Instanz interpretiert sind. In Deutschland trifft diese Wertschätzung besonders auf die Tagebücher von Victor Klemperer und Anne Frank zu. Die Oral History sei, wie Alfons Kenkmann im vorliegenden Band ausführt, verdientermaßen fester Bestandteil der Lehrpläne geworden, weil sie sich auf die individuelle Erfahrung konzentriere. Längst seien die Zeiten passé, in der der Zeitzeuge als der ‚natürliche Feind des Historikers‘ diffamiert wurde. Dieses Urteil gilt sicherlich uneingeschränkt für die fundierte fachhistorische und geschichtsdidaktische Aufarbeitung im Unterricht, welche die individuellen Erlebnisse als gleichberechtigte Quelle neben weiteren Formen der historisch-dokumentarischen Aufarbeitung integriert. Damit sind allerdings auch persönliche Erinnerungen quellenkritisch zu behandeln, während die Aussagen von Zeitzeugen etwa in ‚Histotainment‘-Fernsehformaten oft verabsolutiert und kontextlos präsentiert werden. Die große emotionale und moralische Wirkung, die die persönliche Begegnung mit Zeitzeugen hat, sieht Thomas Lutz durch zahlreiche Evaluationen bestätigt. Nichtsdestotrotz seien die Gedenkstätten besonders an historischen Orten auf die Zeit nach den Zeitzeugen gut vorbereitet: Zum einen sei deren Authentizität durch Videodokumentationen, persönliche Gegenstände und nicht zuletzt durch den Ort selbst gewährleistet. Zum anderen habe die fortschreitende historische Aufarbeitung viele neue Erkenntnisse hervorgebracht, die gemeinsam mit den Zeitzeugenerfahrungen eine differenzierte Rekonstruktion der Vergangenheit ermöglichen. Für die Zukunft prognostiziert er ein bleibendes Interesse, auch wenn – hier ist er sich mit Saul Friedländer einig – die NS-Geschichte langfristig an öffentlicher Aufmerksamkeit verlieren werde. Seine These wird durch den Beitrag Martin Liepachs gestützt, der darin die Ergänzung von Bildungsangeboten durch die multiperspektivische Rekonstruktion historischer Ereignisse darstellt. Dabei wird auf unterschiedliche Quellentypen zurückgegriffen, wie dies etwa das ‚Oskar und Emilie Schindler Lernzentrum‘ und das ‚Fritz Bauer Institut‘ in der analytischen Auseinandersetzung mit Schindlers Liste zum Ziel hat, bei der der historische Gehalt dieses Filmes mithilfe von Videointerviews aus der Survivors of the Shoah Visual History Foundation bestimmt wird. Liepach diskutiert in seinem Beitrag die Chancen und Problematiken, die solche Zeitzeugenvideos bergen. Mit Bezug auf die steigende Diversifizierung der Adressaten der Geschichtsdidaktik kann der Beitrag von Gottfried Kössler und Meron Mendel über
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die Kombination geschichtsdidaktischer und migrationspädagogischer Elemente der Frankfurter ‚Bildungsstätte Anne Frank‘ gelesen werden. Er steht beispielhaft für die Verbindung von individuellen Zeugnissen und einer auf die Lebenswelt der Jugendlichen ausgerichteten Ausstellungsarbeit. Zwar sind Vergleiche der Shoah mit anderen Verfolgungs- und Gewaltereignissen unvermeidbar und deshalb legitim. Aber gerade dann käme es darauf an, die jeweilige Besonderheit der Gewaltsamkeit und des Leidens herauszuarbeiten.27 Einen idealen Raum, in dem verschiedenste Perspektiven auf historische Ereignisse aufeinandertreffen, stellt das Internet dar. Die damit verbundene Chance, eine Vielzahl exzellenter Informationsquellen zu nutzen, geht jedoch mit den Risiken der sich in den neuen Medien verbreitenden antisemitischen Propaganda einher. Juliane Wetzel warnt in ihrem Beitrag vor einem unreflektierten Umgang mit dem Netz und fordert eine bessere Medienkompetenz von Lehrenden und Lernenden. Sie konstatiert zudem das Desideratum von mehr auf Partizipation ausgerichteten Angeboten. Einen solchen interaktiven Ansatz stellt das Geocaching dar, das Ann Katrin Düben in ihrem Beitrag zum teilweise in Vergessenheit geratenen Erinnerungsraum der Konzentrations- und Strafgefangenenlager im Emsland erwähnt. Sicherlich wird aber diese Methode alleine nicht ausreichen, solche Lager dauerhaft im kollektiven Gedächtnis zu verankern. Das Beispiel entlegener Geschichtsorte belegt jedoch vielmehr, dass die Erinnerungen an historische Ereignisse durch heterogene Trägergruppen bestimmt sind und mit zunehmendem zeitlichen Abstand Auswahlprozessen unterliegen. Sie können verblassen und verdrängt oder auch wiederbelebt werden. Damit stellt sich die Frage, welche Erinnerungen künftig vergessen beziehungsweise langfristig konserviert werden. Die Konzentrationslager im Emsland, in denen zunächst politische Gegner des NS-Regimes und Kriminelle gemeinsam inhaftiert waren – erst nach 1939 gab es auch jüdische Häftlinge –, verweisen zugleich auf einen weiteren wichtigen Aspekt in der Betrachtung der Shoah, nämlich darauf, dass die Massenverbrechen an anderen Opfergruppen, die von den Deutschen und ihren Verbündeten ebenfalls begangen wurden, nicht immer trennscharf von der Verfolgung und Ermordung der europäischen Juden zu unterscheiden sind. Die Schwierigkeit solcher Zuordnung der Verbrechen zu bestimmten Zielen zeigt sich auch am Schicksal und im Werk zweier, bislang im deutschen Sprachraum weitgehend unbekannter italienischer Künstler, nämlich Lorenza Mazzetti und Bruno Canova, die selbst nicht jüdischer Herkunft waren, als Zeitzeugen in ihrem Werk jedoch die Traumata bearbeiten, welche ihnen 27 | Vgl. Alfons Kenkmann: Vom Ritual zur Routine. Geschichtsdidaktische Überlegungen zur Arbeit an den Gedenkstätten zur NS-Zeit in Deutschland, in: Patrick Ostermann, Claudia Müller und Karl-Siegbert Rehberg (Hg.): Der Grenzraum als Erinnerungsort. Über den Wandel zu einer postnationalen Erinnerungskultur in Europa, Bielefeld 2012, S. 203-211, hier: S. 211.
Die Shoah in Geschichte und Erinnerung
durch die antisemitisch motivierten oder kriegsverbrecherischen Mordaktionen der NS-Diktatur zugefügt wurden. Der 19-jährige Canova wurde unter dem Vorwurf der Partisanentätigkeit 1944 in ein Arbeitslager der ‚Sudetenländischen Treibstoffwerke‘ verschleppt. Sein imposantes Werk, das aus der lebenslangen Auseinandersetzung mit den Folgen der faschistischen und der nationalsozialistischen Diktatur hervorgegangen ist, wurde im Januar 2014 erstmals posthum in Rom gezeigt.28 In seinem Beitrag stellt es nun der Sohn Lorenzo Canova der deutschsprachigen Öffentlichkeit vor. Lorenza Mazzetti hingegen musste 1944 in der Toskana als junges Mädchen die Ermordung ihrer jüdischen Adoptivfamilie Einstein durch die Deutschen mit ansehen. Das Zeugnis des von ihr als antisemitischen Gewaltakt gedeuteten Mordes wird nicht nur in der wissenschaftlichen Aufarbeitung diskutiert.29 Zudem ist es auch im jüdischen Erinnerungsdiskurs umstritten, da Mazzetti und ihre Zwillingsschwester keine Jüdinnen sind. Damit stehen ihr Werk und dessen Rezeption emblematisch für die Vielschichtigkeit der Shoah-Erinnerung und den Kampf um die Deutungshoheit im Gedenken an den Holocaust. Der diesen Band schließende Beitrag von Karl-Siegbert Rehberg basiert auf seiner am 3. November 2013 im Saal der Jüdischen Gemeinde zu Dresden gehaltenen Eröffnungsrede zu Mazzettis Bilderzyklus Album di famiglia und seiner Einleitung in die hier dokumentierte Tagung. Die Dresdner Ausstellung zeigte Mazzettis Bilder, die beispielhaft für eine künstlerische Auseinandersetzung mit der Schreckensgeschichte des 20. Jahrhunderts sind, erstmals in Deutschland.
3. D IE R OLLE DER K UNST FÜR DIE E RINNERUNGSKULTUR UND DIE G ESCHICHTSDIDAKTIK Bilder, Comics, Filme, Romane, Skulpturen oder Tagebücher ermöglichen als künstlerische Verarbeitungen der Shoah und der mit ihr verknüpften Massenverbrechen auf besondere Weise eine Annäherung an das Leid der Opfer. Denn durch Kunstwerke wird die Erinnerung an die konkreten Menschen, die sie schufen oder an die erinnert wird, wieder lebendig, wo sonst die unvorstellbar hohe Zahl von anonym bleibenden Ermordeten die dahinter verborgenen Einzelschicksale verdeckt. Entsprechend regen die im vorliegenden Band vor28 | Maurizio Calvesi (Hg.): Katalog zur Ausstellung Bruno Canova. La memoria di chi non dimentica, Villa Torlonia, Roma: 15 dicembre 2013 - 26 gennaio 2014, Roma 2013.
29 | Unter dem Titel ,Il sangue degli Einstein. Storia di un crimine nazista‘ thematisierte eine Tagung des Istituto ligure per la storia della Resistenza e dell’età contemporanea im Februar 2011 die archivarische Aufarbeitung des Massakers. In Teilen sind die Beiträge veröffentlicht in: Storia e memoria. Rivista semestrale, 1/2011, S. 7-51.
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gestellten Werke der Bildenden Kunst von Bruno Canova und Lorenza Mazzetti sowie des in Auschwitz ermordeten jüdischen Ehepaars Felix Nussbaum und Felka Platek auch dazu an, mehr über den historischen Hintergrund ihrer Entstehung zu erfahren und sich mit dem Schicksal der Künstler zu beschäftigen. Gleiches gilt für die literarische Auseinandersetzung mit dem Holocaust, etwa im Tagebuch der Anne Frank oder in Bassanis Gärten der Finzi-Contini. Für die Nachfahren der dritten Generation wie für all jene, die ohne biografischen und familiären Bezug zum Holocaust sind, stellt die Kunst daher ein geeignetes Medium dar, einen individuellen Zugang zu eröffnen – zu einer Erinnerung, die kulturell vermittelt werden muss. Gerade darin liegt die große Bedeutung, die Kunstwerke als Medium für Erinnerungskultur und Geschichtsdidaktik haben. Dass den nachgeborenen Generationen auf diese Art eine ‚fremde‘ Erinnerung vermittelt wird, ist der widersprüchlichen „paradoxe[n] Beschaffenheit der Kunst“30 geschuldet, die zugleich einen emotionalen wie rationalen Zugang schafft. Denn Kunst ist „einerseits Mimesis, Widerspiegelung der Wirklichkeit, Wiedergabe von Erfahrungen, Ausdruck von Empfindungen und spontanen Regungen, anderseits der Inbegriff von Artefakten, Illusionen, Phantasiegebilden, Schein- und Wunschbildern.“31
Kunst ist aufgrund ihres Doppel- und Verweischarakters, aber auch für die Überlebenden zur Bewältigung ihrer Traumata und zur Dokumentation der Verbrechen wichtig. Schriftsteller wie Aharon Appelfeld oder Imre Kertész betonten von Anfang an gerade die Notwendigkeit einer künstlerischen Auseinandersetzung.32 Und auch in der Bildenden Kunst fand bereits unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg durch die Ausstellung Kunst und Widerstand, die im Februar 1946 in Paris eröffnet wurde, eine intensive Beschäftigung mit der Shoah statt.33
30 | Arnold Hauser: Soziologie der Kunst, München 31988, S. 421. 31 | Ebd. 32 | Vgl. Christian Angerer: Zur Didaktik ästhetischer Darstellungen des Holocaust. Eine theoretische Grundlegung, in: ZGD, 5/2006, S. 152-177, hier: S. 152.
33 | Das Interesse an der Konfrontation mit der Shoah schwand in den Bildenden Künsten aber bald. Dies hängt eng mit dem Siegeszug der abstrakten Malerei zusammen, die als Gegenmodell zur gegenständlichen Kunst der totalitären Systeme in Staatssozialismus und Faschismus betrachtet wurde, vgl. Ursula Ossenberg: Sich von Auschwitz ein Bild machen? Kunst und Holocaust. Ein Beitrag für die pädagogische Arbeit, Frankfurt a.M. 1998, S. 59. Hinzu kam, dass die Werke der wenigen abstrakt arbeitenden Künstler, die wie Anselm Kiefer die Auseinandersetzung mit dem Holocaust überhaupt in Angriff nahmen, ohne eine vertiefte Kenntnis der Intention der Künstler unverständlich blieben. Nicht mehr die ideologische Deutung der Kunst war jetzt das Problem, sondern die Kunst der Deutung. Um ein werkimmanentes Verstehen weitgehend zu ermöglichen,
Die Shoah in Geschichte und Erinnerung
In ihrer Auseinandersetzung mit der Thematik widersetzten sich die Künstler zudem dem Missbrauch der Kunst durch die Täter selbst, wie dies etwa im NS-Propagandafilm über das KZ Theresienstadt oder in der Einrichtung eines Häftlingsorchesters in Auschwitz geschah.34 In den Konzentrationslagern besaßen Dichtung, Musik und Bildende Kunst für die Insassen eine immense Bedeutung als ‚Über-Lebens-Mittel‘, weil sie Instrument der Opposition gegen die Allmacht der SS waren: „Die künstlerische Fähigkeit […] beweist die Rolle des Individuums gegenüber der Masse, gegenüber der Entindividualisierung, der Anonymität. Kunst bewirkt Unsterblichkeit, ist Überwinder des Todes. Kunst […] befreit aus den Niederungen des Alltags, bietet Trost. In der Kunst behauptet sich der Geist gegenüber der Macht.“35
Dieser Befund gilt wohl nicht nur für die Lagerhäftlinge, sondern auch für die Juden, die sich wie Anne Frank, Felix Nussbaum und Felka Platek zunächst noch vor ihren Häschern verstecken konnten. Eindringlich belegt Thorsten Heese in seinem Beitrag, wie Felix Nussbaum 1942 als sein Vermächtnis äußerte, dass seine Bilder ‚nicht sterben‘, sondern ausgestellt werden sollten, wenn es ihm nicht gelänge zu überleben. Die künstlerischen Werke geben damit den lang verstummten Opfern eine Stimme. So haben sie zugleich eine spezifisch humane Kraft, die in ihrem interpretatorischen Gehalt besonders für ein gemeinsames transnationales Gedenken an die Shoah geeignet erscheint. Denn „unsere Vergangenheit miteinander zu teilen, unser Gedächtnis, unsere bislang getrennten Erinnerungen zu einen“, ist, so Jorge Semprún, „eine der wirksamsten Möglichkeiten, der Zukunft eines vereinten Europas […] einen Weg zu bahnen.“36 Die Herausgeber danken an dieser Stelle den Autorinnen und Autoren für die gute Zusammenarbeit, d.h. schon für deren anregende Teilnahme an der vom Italien-Zentrum und dem Institut für Soziologie der Technischen Universität Dresden sowie der Facoltà di Lettere der Università di Roma ‚La Sapienza‘, in enger Verbindung mit dem Arbeitskreis ‚Historisches Lernen mit Musesind die meisten Zeichnungen, Bilder und Plastiken über den Holocaust daher gegenständlich gehalten.
34 | Besonders perfide ist der Auftrag, der in Ausschwitz von der SS an den Häftling Mieczyslaw Koscielniak erging: Der polnische Grafiker musste ein Plakat mit der Aufschrift ‚Eine Laus – Dein Tod‘ entwerfen, das in den Lagerbaracken aufgehängt wurde. Durch die Warnung vor einer TyphusEpidemie in einem Vernichtungslager, in dem nicht nur katastrophale hygienische Bedingungen herrschten, sondern jederzeit die Vergasung drohte, wurden die Opfer zusätzlich verhöhnt, vgl. ebd., S. 28-29.
35 | Ebd., S. 25. 36 | Jorge Semprún: Niemand wird mehr sagen können: „Ja, so war es“, in: Die Zeit, 14.4.2005, http://www.zeit.de/2005/16/BefreiungBuchenw_ [18.8.2014].
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en‘ der ‚Konferenz für Geschichtsdidaktik‘ organisierten Tagung Formen der Holocaust-Erinnerung – Von erfahrener Geschichte zur Europäisierung des Gedenkens. Sie fand im Rahmen der Ausstellung Album di famiglia von Lorenza Mazzetti statt. Wir danken dem Deutschen Akademischen Austauschdienst, der sowohl die Tagung als auch den vorliegenden Band im Rahmen des Fachkonferenzenprogrammes ‚Deutsch-Italienische Dialoge‘ finanziell unterstützt und dadurch ermöglicht hat. Unser Dank gilt darüber hinaus den Übersetzerinnen Gesine Seymer und Katrin Schmeißner, sowie im Besonderen Maike Heber vom Italien-Zentrum der TU Dresden, die uns zudem beim Lektorieren der Beiträge vorzüglich unterstützt und die graphische Umsetzung des Bandes übernommen hat. Dresden/Bonn, den 31. August 2014
Zur Pluralität der Erinnerungen an die Shoah
Lorenza Mazzetti: ohne Titel (2013/14)
Von der Erinnerung der Überlebenden zur kritischen Forschung Das Gedenken an die Shoah in Italien1 Ruth Nattermann
Noch heute wartet das seit mehr als zehn Jahren geplante Shoah-Museum in Rom auf seine Eröffnung. Architektonische Konzepte wurden mehrfach verworfen, die angekündigten Eröffnungstermine in den letzten Jahren mindestens dreimal geändert. Robert Gordon betont in seiner aktuellen, vielbeachteten Studie über den Holocaust in der italienischen Kultur zurecht die Verknüpfung zwischen dem problembehafteten italienischen Holocaust-Diskurs und dem bislang gescheiterten Versuch, diesem kulturelle Form zu verleihen.2 Tatsächlich ist das öffentliche Gedenken an die Shoah in Italien noch heute mit verschiedenen, häufig unterschwelligen Problemen verbunden. Ein zentrales Ereignis innerhalb der jüngeren Entwicklung bildete im Juli 2000 die einstimmige Entscheidung des italienischen Parlaments für die Einführung eines Tags der Erinnerung an die Shoah. Als geeignetes Datum einigte man sich auf den 27. Januar, den Tag der Befreiung des Vernichtungslagers Auschwitz-Birkenau. Den Vorschlag einiger Abgeordneter aus dem linken Parteienspektrum, den Giorno della Memoria auf den 16. Oktober zu legen, lehnte die Mehrheit des Parlaments ab.3 Im Jahr 1943 waren am 16. Oktober die Juden aus dem Ghetto der italienischen Hauptstadt in die Vernichtungslager depor1 | Dieser Beitrag bildet die von der Autorin aktualisierte und ins Deutsche übertragene Fassung ihres Artikels: Italian Commemoration of the Shoah: A Survivor-Oriented Narrative and its Impact on Politics and Practices of Remembrance, in: Bo Stråth und Małgorzata Pakier (Hg.): A European Memory? Contested Histories and Politics of Remembrance, Oxford 2010, S. 204-216. 2 | Vgl. Robert S. C. Gordon: The Holocaust in Italian Culture, 1944-2010, Stanford 2012, S. 12. 3 | Vgl. Filippo Focardi: La guerra della memoria. La Resistenza nel dibattito pubblico italiano dal 1945 a oggi, Roma/Bari 2005, S. 92f.
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tiert worden. Anders als der 27. Januar, der mit deutscher Schuld assoziiert wird, hätte der 16. Oktober auch schmerzhafte Erinnerungen an die eigene faschistische Vergangenheit wachgerufen. Die Kollaboration der italienischen Polizei mit den deutschen Besatzern, Denunziationen durch italienische Informanten, vielleicht sogar die umstrittene Haltung von Papst Pius XII. wären auf diese Weise Teil des öffentlichen italienischen Gedenkens an die Opfer der Shoah geworden.4 Im Vergleich dazu bildet der 27. Januar einen politisch und emotional weitaus neutraleren Bezugspunkt. Die Tendenz, öffentliche Diskussionen über Antisemitismus und deutschitalienische Kollaboration bei der ‚Endlösung‘ weitgehend zu vermeiden, ist jedoch keineswegs neu, sondern reicht bis in die unmittelbare Nachkriegszeit zurück. So kann man den komplexen italienischen Holocaust-Diskurs nur dann wirklich verstehen, wenn man ihn als das Ergebnis verschiedener langlebiger Narrative erklärt, die das Bild eines Italien schufen, in dem Antisemitismus und Judenverfolgung nicht existierten. Die Italiener erschienen aus dieser Perspektive als ‚brava gente‘, denen Judenfeindschaft fremd war. Interessanterweise entwickelte sich das Stereotyp des ‚guten Italieners‘5 und der wohlwollenden italienischen Politik gegenüber Juden nicht nur aus den oft apologetischen Erzählungen nicht-jüdischer Italiener, sondern wurde zu einem beachtlichen Teil auch durch die Erinnerungen von ShoahÜberlebenden selbst geprägt. Zur Festigung dieses Mythos trug zusätzlich der eminente italienische Historiker Renzo De Felice bei, der noch 1987 in einem Interview behauptete, Italien habe „außerhalb der langen Schatten des Holocaust“ gestanden.6 Der vorliegende Artikel erläutert die Entwicklung des italienischen Gedenkens an die Shoah seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs und unterzieht die ihm zugrunde liegenden Narrative einer kritischen Prüfung. Im Mittelpunkt des ersten Teils stehen die Erinnerungen von Shoah-Überlebenden. Zu fragen ist hier, auf welche Weise diese die Herausbildung des Narrativs einer allgemeinen italienischen Humanität gegenüber Juden beeinflussen konnten. Der Beitrag vertritt die These, dass das positive Image italienischer Menschlichkeit jahrzehntelang dazu beitrug, eine öffentliche Auseinandersetzung über Antisemitismus, die faschistische Rassengesetzgebung und Kollaboration in der
4 | Vgl. zu diesem Problemkomplex auch Lutz Klinkhammer: Kriegserinnerung in Italien im Wechsel der Generationen, in: Ders., Christoph Cornelißen und Wolfgang Schwentker (Hg.): Erinnerungskulturen: Deutschland, Italien und Japan seit 1945, Frankfurt a.M. 2003, S. 333-343, hier: S. 340. 5 | Zum Mythos des ‚guten Italieners‘ vgl. David Bidussa: Il Mito del bravo italiano, Milano 1994; Filippo Focardi: Il cattivo tedesco e il bravo italiano. La rimozione delle colpe della seconda guerra mondiale, Roma/Bari 2013. 6 | Vgl. Jader Jacobelli (Hg.): Il fascismo e gli storici oggi, Roma/Bari 1988, S. 3-6.
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‚Endlösung‘ zu umgehen bzw. zu ‚beschweigen‘. Dabei wird auch kurz auf die Gedenkpraktiken in der italienischen Nachkriegszeit eingegangen. Der zweite Teil thematisiert den Übergang von der Überlebenden-Erinnerung hin zu kritischer Forschung, der sich seit Ende der 1980er Jahre innerhalb wie auch außerhalb von Italien abzeichnete. Eine jüngere Historiker-Generation begann, die traditionellen Narrative zu hinterfragen und den antisemitischen Kurs des faschistischen Italien, Verfolgung, Denunziationen und Deportationen von Juden durch nichtjüdische Italiener anhand wissenschaftlicher Methoden zu prüfen. In diesem Zusammenhang wird die Frage gestellt, ob dieser veränderte Zugang zur italienischen Vergangenheit den öffentlichen Erinnerungsdiskurs, die Formen und Inhalte des italienischen Gedenkens an die Shoah bereits in irgendeiner Form beeinflussen konnte.
D IE E RINNERUNGEN DER Ü BERLEBENDEN Die meisten Selbstzeugnisse und Memoiren italienischer Juden, die die Shoah überlebten, weisen ein charakteristisches Element in der Rekonstruktion der Geschehnisse auf: Die Erinnerungen an den Alltag während der antisemitischen Gesetzgebung zwischen 1938 und 1943 sind entweder verschwommen oder werden beschönigt; insgesamt erscheint dieser Zeitraum als eine Periode, in der Juden „nicht wirklich litten“.7 Im Gegensatz dazu wird die deutsche Besetzung Italiens von 1943 bis 1945 mit all ihren realen Schrecken und existentiellen Ängsten erinnert. Angesichts des Terrors der deutschen Vernichtungspolitik und des Übergangs von der Bedrohung „jüdischer Rechte“ zur Bedrohung „jüdischen Lebens“, wie es Michele Sarfatti ausgedrückt hat 8, sind die Erinnerungen von Überlebenden oft in zwei Phasen unterteilt: jene vor und jene während der deutschen Besatzungszeit. Verglichen mit der traumatischen Erfahrung der Deportation durch die Deutschen scheinen die vorhergehenden Verhältnisse unter der faschistischen Gesetzgebung einigermaßen akzeptabel. In Interviews der Historikerin Silva Bon mit italienischen Juden, welche die Phase der nationalsozialistischen Verfolgung in Lagern wie Risiera di San Sabba, Auschwitz, Ravensbrück oder Bergen-Belsen erlitten hatten, zeigte sich eine auffällige ‚Verflachung‘ der Erinnerungen an die faschistische Diktatur bis 1943. In Extremfällen, so Silva Bon, gingen diese beinahe in eine Art dank-
7 | Aussage von Giulio Levi Casellini, in: Marco Coslovich: Racconti dal Lager. Testimonianze dei sopravvissuti ai campi di concentramento tedeschi, Milano 1997, S. 10. 8 | Michele Sarfatti: Die Juden im faschistischen Italien. Geschichte, Identität, Verfolgung, Berlin 2014 [im Original 2007 erschienen]; vgl. auch den Beitrag Sarfattis in diesem Band.
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bare Amnesie über, welche die einschneidendsten und schmerzhaftesten Erinnerungen überlagerte.9 Vor allem in der Zeit unmittelbar nach Kriegsende wählten italienisch-jüdische Überlebende bewusst oder auch unbewusst häufig den Weg des Vergessens oder stritten sogar ab, was ihnen unter dem faschistischen Regime angetan worden war. Ihr existentielles Bestreben ging verständlicherweise dahin, sich in die italienische Nachkriegsgesellschaft so schnell wie möglich zu integrieren. In den meisten Selbstzeugnissen und Studien, die kurz nach 1945 erschienen, schrieben die Autoren die Verantwortung für die Judenverfolgung in Italien ausschließlich den Deutschen zu. Auf diese Weise wurden die Einschränkungen der Rechte und der Freiheit von Juden vor September 1943 beschwiegen oder aus der Erinnerung getilgt, ebenso wie die Tatsache, dass die vom faschistischen Regime zwischen 1938 und 1943 geschaffenen Verhältnisse den Übergang zur Phase der sogenannten ‚Endlösung‘ ermöglicht und vereinfacht hatten. Diese Version wurde von der Mehrheit der italienischen Gesellschaft geteilt; sie gehörte zur kollektiven Erinnerung des demokratischen Italien der Nachkriegszeit.10 Zwei fundamentale Probleme trugen zusätzlich dazu bei, das Image der generell nicht judenfeindlichen, den jüdischen Mitbürgern gegenüber menschlichen Italiener zu festigen: Erstens liegen uns kaum Berichte von Juden vor, die nicht überlebten. Die seltenen zeitgenössischen Zeugnisse wiederum, die eine weniger positive Version der italienischen Seite schildern, sind auch von der einschlägigen Forschung über Jahre hinweg kaum beachtet worden. Zweitens sind die existierenden Memoiren und mündlichen Zeugnisse derjenigen, die überlebten, zwangsläufig retrospektiv und aufgrund ihrer zumeist großen zeitlichen Distanz zu den Geschehnissen von komplexen Mechanismen des Erinnerns, der Transformation und des Vergessens beeinflusst. Ein differenziertes Bild der Charakteristika von Antisemitismus und Judenverfolgung im faschistischen Italien, ihre Resonanz in der italienischen Gesellschaft und Auswirkung auf das Leben italienischer Juden kann daher nur erzielt werden, wenn auch zeitgenössisches Material wie Tagebücher, Briefe und offizielle Dokumente in die Diskussion mit einbezogen werden. Die Historikerin Iael Nidam-Orvieto etwa hat vor wenigen Jahren zahlreiche Briefe jüdischer Bittsteller an die italienischen Behörden aus dem Zeitraum 1938 bis 1941 analysiert.11 9 | Vgl. Silva Bon: Testimoni della Shoah. La Memoria dei Salvati: Una Storia del Nord Est, Gorizia 2005, S. 18. 10 | Vgl. Filippo Focardi: Alle origini di una grande rimozione: la questione dell’anti-semitismo fascista nell’Italia dell’immediato dopoguerra, in: Horizonte 4/1999, S. 135-170, hier: S. 141.
11 | Vgl. Iael Nidam-Orvieto: The Impact of Anti-Jewish Legislation on Everyday Life and the Response of Italian Jews, 1938-1943, in: Joshua D. Zimmermann (Hg.): Jews in Italy under Fascist and Nazi Rule, New York 2005, S. 158-181.
Von der Erinnerung der Überlebenden zur kritischen Forschung
Aus den Schreiben gehen in beeindruckender Weise die existentiellen Sorgen, materielle Not und emotionale Verzweiflung hervor, welche die Rassengesetzgebung und ihre diskriminierenden Konsequenzen bei der jüdischen Minderheit in Italien verursachten. Nidam-Orvietos Untersuchung bildet insofern eine kritische Ergänzung oder sogar Gegendarstellung zu den nachträglich verfassten Selbstzeugnissen und mündlichen Aussagen über den Zeitraum seit 1938. Klar erkennbar sind die Eigendynamiken von Erinnerungsprozessen auch in den Stellungnahmen von Juden, die in den von Italien besetzten Gebieten in Jugoslawien, Griechenland und Frankreich die Shoah überlebten. Der Deportation und dem Tod entkommen, haben jüdische Überlebende die Behandlung durch die italienischen Besatzer und die Internierungslager nahezu ausschließlich in einem positiven Licht geschildert. Dies gilt vor allem für die italienische Besatzungszone in Kroatien, wo zwischen 3.500 und 4.000 Juden überleben konnten, nachdem italienische Militärs und Diplomaten es abgelehnt hatten, die Juden dem deutschen Bündnispartner zur Deportation auszuliefern.12 Zur Entwicklung des Narrativs allumfassender italienischer Humanität, das selbst Hannah Arendt in ihrem Bericht über den Eichmann-Prozess reproduzierte13, hat dieser Fall entscheidend beigetragen. Bereits 1946 veröffentlichte der jüdische Historiker Jacque Sabille eine der ersten Studien über die Juden im italienisch besetzten Teil Kroatiens. Auf der Grundlage von Aussagen jüdischer Überlebender und Dokumenten des deutschen Auswärtigen Amtes kam Sabille zu dem Schluss: „Einzeln oder in Gruppen taten italienische Offiziere und ihre Soldaten ihr Möglichstes, die Juden aus den Gebieten des Terrors herauszuhalten und sie an sicheren Orten zu verstecken… Ihr wundervolles Werk der Hilfe verdient höchsten Respekt und Bewunderung.“14 Im Jahr 1977 räumte der in Mailand geborene israelische Historiker Daniel Carpi nach der Entdeckung weiterer Quellen in der ersten umfassenden Untersuchung zur Rettung von Juden in Kroatien zwar ein, dass bei den dortigen italienischen Aktionen auch Prestigedenken und territoriale Machtpolitik eine Rolle gespielt hätten, doch schloss auch er in seinem endgültigen Fazit an den seit 1945 vorherrschenden Diskurs an: Italienische Soldaten und Zivilisten 12 | Vgl. Ruth Nattermann: Humanitäres Prinzip oder politisches Kalkül? Luca Pietromarchi und die italienische Politik gegenüber den Juden im besetzten Kroatien, in: Lutz Klinkhammer, Amedeo Osti Guerrazzi und Thomas Schlemmer (Hg.): Die „Achse“ im Krieg. Politik, Ideologie und Kriegführung 1939-1945, München 2010, S. 319-339. 13 | „Was in Dänemark das Ergebnis eines echten Sinnes für Politik war […], das war in Italien Ausfluss einer fast automatisch gewordenen, alle Schichten erfassenden Humanität eines alten und zivilisierten Volkes“, Hannah Arendt: Eichmann in Jerusalem. Ein Bericht von der Banalität des Bösen, München 1964, S. 220.
14 | Leon Poliakov und Jacques Sabille: Gli Ebrei sotto l’Occupazione Italiana, Milano 1956, S. 134f.
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hätten den Umgang mit verfolgten Juden als humanitäres Problem betrachtet und dies jenseits aller politischer Erwägungen aus Gewissensgründen zu lösen versucht.15 Am deutlichsten wird der Topos italienischer Menschlichkeit in Berichten hervorgehoben, die explizit autobiographischen Charakter tragen. Menahem Shelahs 1991 auf Italienisch erschienene Studie über die Beziehungen zwischen der italienischen Armee und den Juden in Dalmatien basiert ausdrücklich auf der Dankbarkeit des Überlebenden.16 Shelah floh als Junge in die italienische Zone Kroatiens, wurde dort von italienischen Soldaten aufgegriffen, nach Kalabrien in das Konzentrationslager Ferramonti transferiert und im September 1943 von den Alliierten befreit. Sein Bericht ist das wahrscheinlich bedeutendste Beispiel für die Erinnerung vieler Überlebender, in der angesichts der extremen Grausamkeit der nationalsozialistischen Judenverfolgung die Zustände im Machtbereich der italienischen Faschisten geradezu positiv erschienen. Diese Form der Erinnerung führt zuweilen so weit, dass die italienische Praxis der Internierung als relativ harmlos und selbst das berüchtigte Lager Ferramonti verglichen mit Lagern der Deutschen oder der Ustascha als eine Art Oase geschildert werden und die Italiener wiederum ausschließlich als Retter in Erscheinung treten.17 Derartige Darstellungen sind mit ähnlichen Problemen verbunden wie die zuvor erwähnten jüdischen Selbstzeugnisse über den Alltag im faschistischen Italien. Die meisten der überlieferten Berichte aus den besetzten Gebieten wurden mit zeitlicher Distanz, teilweise lange nach dem Stattfinden der eigentlichen Geschehnisse geschrieben. Vor allem aber gibt es keine Zeugnisse von Juden, die nachweislich deportiert und in deutschen Lagern umgebracht wurden, nachdem man ihnen in der italienischen Besatzungszone Zuflucht verwehrt oder sie sogar aus diesen Gebieten vertrieben hatte. Einer der ganz wenigen erhaltenen zeitgenössischen Berichte ist die Aussage des jüdischen Anwalts Edo Neufeld, der aus dem Konzentrationslager Gospič in die Schweiz fliehen konnte und dort in einem Auffanglager im November 1943 eine lange Rede über seine Erfahrungen in der italienischen Besatzungszone hielt. Seine Stellungnahme lässt große Zweifel an der Version aufkommen, nach der Italiener ausschließlich die Rolle von Rettern spielten. Neufeld hatte gleichgültige,
15 | Vgl. Daniel Carpi: The Rescue of Jews in the Italian Zone of Occupied Croatia, in: Rescue Attempts during the Holocaust: Proceedings of the Second Yad Vashem International Historical Conference, Jerusalem, 8.-11. April 1977, S. 465-525.
16 | Vgl. Menahem Shelah: Un debito di gratitudine: Storia dei rapporti tra l’esercito italiano e gli ebrei in Dalmazia (1941-1943), Roma 1991.
17 | Vgl. Enzo Collotti und Lutz Klinkhammer: Il Fascismo e l’Italia in Guerra: Una Conversazione fra Storia e Storiografia, Roma 1996, S.13ff.; Carlo Spartaco Capogreco: I Campi del Duce. L’internamento civile nell’Italia Fascista (1940-1943), Torino 2004, S. 154f.
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selbst feindselige Verhaltensweisen seitens der italienischen Besatzer gegenüber Juden erlebt.18 Die generelle Vernachlässigung solcher zeitgenössischer Dokumente führte zusammen mit der Überzahl an Zeugnissen, die von der dankbaren Perspektive der Überlebenden beeinflusst sind, zur Konstruktion eines Narrativs, das die Humanität der italienischen Besatzer generalisierte. Im Extremfall führte dies zur Wahrnehmung der Italiener in ihrer Gesamtheit als brava gente, wie die Standardwerke von David Bidussa und Filippo Focardi zur Konstruktion des ‚guten Italieners‘ eindringlich zeigen.19 Das Engagement derjenigen italienischen Soldaten, Militärs, Diplomaten und einfachen Leute, die tatsächlich und zuweilen unter Einsatz des eigenen Lebens Juden halfen, wurde und wird teilweise noch heute durch diese allumfassende Typisierung zu Unrecht geschmälert. Auch ließ diese stereotype und eher anthropologische Interpretation italienischen Verhaltens keinen Raum für eine gründliche Untersuchung der politischen und militärischen Perspektive. Erst in den letzten Jahren hat die erneute Untersuchung relevanter Quellen, die Erschließung weiterer Dokumente und die Kontextualisierung der Ereignisse zur Erarbeitung eines erheblich differenzierteren Bildes geführt (s.u.). Dass jedoch über Jahrzehnte hinweg das Narrativ vom ‚guten Italiener‘ und die Darstellung Italiens in der ‚Judenfrage‘ als Opfer des nationalsozialistischen Deutschland den italienischen Holocaustdiskurs dominierten, lässt sich auch an den betreffenden Gedenkpraktiken ablesen, die sich seit der Nachkriegszeit in Italien etablieren konnten.
D AS G EDENKEN AN DIE S HOAH IM I TALIEN DER N ACHKRIEGSZEIT Seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs hatte das Wissen um die Weigerung der italienischen Besatzer, Juden aus ihrem Hoheitsbereich den Deutschen auszuliefern, um die real stattgefundenen individuellen Hilfeleistungen von Italienern für Juden und schließlich die symbolische Bedeutung des italienischen Widerstands den öffentlichen italienischen Erinnerungsdiskurs entscheidend geprägt und in eine bestimmte Richtung gelenkt: Italiens lange andauerndes Bündnis mit dem nationalsozialistischen Deutschland und seine eigene antisemitische Politik wurden im Ergebnis minimiert oder sogar beschwiegen. Bezeichnenderweise beschränkte sich die öffentliche Shoah-Erinnerung in der Nachkriegszeit letztlich auf einen einzigen Ort: Die Fosse Ardeatine in Rom. Im März 1944 hatten die deutschen Besatzer, angeführt von den SS-Of18 | Vgl. Zvi Loker: Documentation: The Testimony of Dr. Edo Neufeld. The Italians and the Jews of Croatia, in: Holocaust and Genocide Studies 7, 1/1993, S. 67-76.
19 | Vgl. Bidussa: Il mito; Focardi: Il cattivo tedesco.
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fizieren Erich Priebke und Karl Hass, 335 Menschen in den Ardeatinischen Höhlen als Vergeltungsmaßnahme für einen Anschlag auf deutsche Soldaten umgebracht.20 Die größte Gruppe der Ermordeten waren Mitglieder der Bandiera Rossa, einer kommunistischen Widerstandsgruppe. Aus diesem Grund erhielt die Memoralisierung des Massakers besondere Bedeutung für die Erinnerung des italienischen Widerstands insgesamt. Wie Lutz Klinkhammer in seiner Untersuchung deutscher Kriegsverbrechen in Italien ermitteln konnte, befanden sich unter den Opfern 75 Juden, die bereits zur Deportation in Vernichtungslager vorgesehen gewesen waren.21 Aufgrund der Involvierung mehrerer Opfergruppen entwickelten sich die Fosse Ardeatine rasch in eine Art Gemeinschafts-Symbol für das Leiden und das Engagement des italienischen Volkes als solches.22 Die italienischen Gedenkpraktiken der Nachkriegszeit spiegeln dies deutlich wider: In den 50er Jahren ging der römische Bürgermeister jedes Jahr um Allerheiligen herum zusammen mit einem führenden Mitglied der jüdischen Gemeinde zu den ardeatinischen Höhlen, um dort eine Gedenkfeier für die Opfer der nationalsozialistischen Verfolgung in Rom abzuhalten.23 Auf diese Weise wurde die Erinnerung an die Shoah in das Gedenken an die Verfolgung von Italienern durch die deutschen Besatzer insgesamt eingebettet oder sogar absorbiert, noch dazu an einem Tag, der nicht für das Judentum, sondern für das Christentum einen zentralen Stellenwert einnimmt. Wie Anna Bravo an anderer Stelle bemerkt hat, entwickelte sich die italienische Nachkriegserinnerung an die Shoah so zu einem „bloßen religiösen oder ethnischen Untertitel innerhalb der allgemeinen Unterdrückung von Widerstand und Antifaschismus“.24 Zweifellos waren die ardeatinischen Höhlen kein geeigneter Ort, um der Shoah in Italien zu gedenken; Stätten wie das ehemalige Konzentrationslager Risiera di San Sabba wären weitaus bedeutsamer gewesen. Noch charakteristischer für die italienischen Erinnerungspraktiken der Nachkriegszeit jedoch ist die Tatsache, dass man der Shoah im Kontext der Erinnerung an den italienischen Widerstand und die Verbrechen der deutschen Besatzer an italienischen Juden wie Nichtjuden gedachte. Italienischer Antisemitismus und deutsch-italienische Kollaboration in der ‚Endlösung‘ wurden auf diese Weise aus dem Erinnerungsdiskurs ausgeklammert. So konnten im kollektiven Gedächtnis 20 | Zum Massaker der Fosse Ardeatine vgl. u.a. Alessandro Portelli: The Order Has Been Carried Out: History, Memory, and Meaning of a Nazi Massacre in Rome, New York 2003.
21 | Vgl. Lutz Klinkhammer: Stragi Naziste in Italia (1943-44), Roma 2006, S.75. 22 | Vgl. Alessandro Portelli: Le Fosse Ardeatine e la Memoria: Rapporto su un Lavoro in Corso, in: Leonardo Paggi (Hg.): Le Memorie della Repubblica, Firenze 1999, S. 89-154, hier: S. 105.
23 | Vgl. Klinkhammer: Kriegserinnerung, S. 339. 24 | Anna Bravo: The Rescued and the Rescuers in Private and Public Memories, in: Zimmerman (Hg.): Jews in Italy, S. 311-320, hier: S. 311.
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auch die Ereignisse des 16. Oktober 1943 ausgeblendet werden. Man vermied die schmerzhafte Wahrheit, dass nur ein halbes Jahr vor dem Massaker der Fosse Ardeatine die Festnahme und Deportation von mehr als 1.000 römischen Juden nach Auschwitz durch die Kollaboration italienischer Polizei und Informanten erheblich vereinfacht und beschleunigt worden waren.25 Durch die Teilnahme eines Vertreters der jüdischen Gemeinde Roms bei den Gedenkfeiern an den ardeatinischen Höhlen erhielt der dominierende Erinnerungsdiskurs zusätzlich eine gewisse Legitimation. Die jüdische Gemeinde akzeptierte und unterstützte indirekt die offizielle Version der jungen italienischen Republik im Hinblick auf die Shoah. Wie deutlich geworden ist, trugen die Berichte dankbarer jüdischer Überlebender und das Defizit an kritischen Stellungnahmen jüdischer Verfolgter erheblich dazu bei, die kollektive Erinnerung des demokratischen Nachkriegsitalien zu prägen. Die weitverbreitete Tendenz unter jüdischen Überlebenden, den Antisemitismus der eigenen Landsleute aus der Erinnerung auszublenden oder abzustreiten, förderte zusammen mit den fehlenden Stimmen derjenigen, die umgebracht worden waren, eine allgemeine Atmosphäre von Amnesie und Verdrängung, in der eine kritische Aufarbeitung der italienischen Vergangenheit keinen Platz hatte.26
E NTWICKLUNGSLINIEN DER EINSCHLÄGIGEN F ORSCHUNG SEIT DEN 1980 ER J AHREN BIS HEUTE Kehren wir nun zurück zu der eingangs erläuterten Problematik des Giorno della Memoria, wird erkennbar, dass der seit Ende des Zweiten Weltkriegs vorherrschende Erinnerungsdiskurs bis weit in die 1990er Jahre hinein an Einfluss behielt. Die Entscheidung des italienischen Parlaments im Jahr 2000, den Giorno della Memoria nicht auf den 16. Oktober, sondern den 27. Januar zu legen, verdeutlichte die anhaltende Tendenz, die Diskussion italienischer Verantwortlichkeiten aus dem öffentlichen Gedenken so weit wie möglich herauszuhalten. Gleichzeitig jedoch ließen sich erste Spuren eines Sinneswandels erkennen: Zumindest hatte innerhalb des Parlaments ein Gegenvorschlag zum 27. Januar stattgefunden, vor allem aber wurde in der italienischen Presse des Mitte-Links-Spektrums auch Kritik an der parlamentarischen Entscheidung laut.27 Wie man sieht, zeichnete sich zumindest in Teilen der italienischen Gesellschaft ein zunehmendes Bewusstsein für die Notwendigkeit einer kritischeren Auseinandersetzung mit der Shoah und ihrer Erinnerung 25 | Vgl. dazu Amedeo Osti Guerrazzi: Caino a Roma: I Complici Romani della Shoah, Roma 2005. 26 | Vgl. Focardi: Alle origini, S. 140. 27 | Zu den betreffenden Diskussionen in den italienischen Medien vgl. auch Gordon: Holocaust, S. 196ff.
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in Italien ab. Zwei Faktoren trugen entscheidend zu dieser Entwicklung bei: Erstens verlor das von Überlebenden mitgeprägte Narrativ der ‚guten Italiener‘ aufgrund des generationellen Wandels seit Ende des 20. Jahrhunderts an Gewicht, zweitens wurden Studien über die italienische Politik gegenüber Juden während der faschistischen Diktatur zunehmend von jüngeren Wissenschaftlern durchgeführt, die eine größere zeitliche und emotionale Distanz zu den Geschehnissen hatten. Eine entscheidende vorbereitende Etappe dieses Prozesses bildete das Jahr 1988, als sich die Verabschiedung der italienischen Rassengesetze zum fünfzigsten Mal jährte. Das Ereignis löste ein verstärktes Interesse an der italienisch-jüdischen Geschichte im Allgemeinen und der Geschichte der Juden im faschistischen Italien im Besonderen aus. Eine jüngere Historikergeneration begann, bekanntes Quellenmaterial anhand neuer Interpretationen zu analysieren und bis dahin vernachlässigte oder unter Verschluss gehaltene Dokumente ans Licht zu holen. Auch die komplexen Mechanismen von Erinnerung und Vergessen in den Berichten von Shoah-Überlebenden wurden stärker berücksichtigt, das traditionelle Narrativ italienischer Humanität zunehmend hinterfragt. Susan Zuccottis The Italians and the Holocaust stellte in diesem Zusammenhang eines der Schlüsselwerke dar.28 Die amerikanische Historikerin betonte, wie Geschichten von Heldentum und Rettung während des Krieges die Aufmerksamkeit von den negativen Aspekten der Beziehungen zwischen italienischen Juden und Nichtjuden abgelenkt und somit zu Generalisierungen über den ‚guten Charakter‘ des italienischen Volkes geführt hätten. Der deutsche Historiker Klaus Voigt wiederum wies in seiner umfassenden Studie über das Exil in Italien zwischen 1933 und 1945 nach, dass sich das faschistische Regime jüdischen Flüchtlingen gegenüber weitaus weniger wohlwollend verhalten hatte als in früheren Arbeiten behauptet worden war.29 Einer der ersten, der die faschistische Rassengesetzgebung, ihre Wurzeln, Entwicklung und Spezifika eingehend analysierte, war Michele Sarfatti. Aufgrund seiner Befunde konnte er die traditionelle Version widerlegen, nach der die antisemitischen Gesetze von den Italienern nur auf Initiative des nationalsozialistischen Deutschland hin erlassen worden waren.30 Liliana Picciottos Libro della Memoria, das heute ein Standardwerk ist, schilderte die direkte Involvierung der Italienischen Sozialrepublik in Verfolgung, Gefangennahme und Deporta-
28 | Susan Zuccotti: The Italians and the Holocaust: Persecution, Rescue, Survival, New York 1987.
29 | Klaus Voigt: Zuflucht auf Widerruf: Exil in Italien 1933-1945, 2 Bde., Stuttgart 1989-1993. 30 | Michele Sarfatti: Mussolini contro gli Ebrei: Cronaca dell’Elaborazione delle Leggi del 1938, Torino 1994.
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tion von Juden.31 Weitere wichtige Beiträge von Giorgio Israel und Pietro Nasi, Roberto Finzi und Giorgio Fabre aus den 1990er Jahren verstärkten die Beweise für ein dem Faschismus „innewohnendes antisemitisches Projekt“, den pseudowissenschaftlichen Charakter antisemitischer Diskurse und ihre Einbettung in die faschistischen Institutionen und Bürokratie.32 In der bahnbrechenden, bereits zitierten Studie Il Mito del bravo italiano von 1994 distanzierte sich David Bidussa von dem traditionellen Bild italienischer Menschlichkeit und verurteilte die Tendenz, den faschistischen Antisemitismus als eine bloße Kopie des deutschen Modells aufzufassen. All diese Werke spielten eine fundamentale Rolle innerhalb des langsamen Übergangs von den Erzählungen über Humanität und Rettung hin zu einer kritischen Aufarbeitung der antisemitischen Strukturen im italienischen Faschismus. Und doch wurden die traditionellen Narrative von den Ergebnissen innovativer Forschung nicht vollständig verdrängt. Noch vor gut zehn Jahren konstatierte Filippo Focardi, trotz der Fülle an neuen Forschungsbeiträgen hätten die alten Stereotype bezüglich eines ineffektiven, in der italienischen Gesellschaft unbeliebten Antisemitismus einen beträchtlichen Einfluss auf die öffentlichen Diskussionen bewahren können.33 Wie stellt sich die Situation heute dar? Das wissenschaftliche Interesse an der Geschichte der Juden im faschistischen Italien ist ungebrochen und hat sich in letzter Zeit womöglich noch verstärkt, nicht zuletzt durch aktuelle Ereignisse wie den 75. Jahrestag der italienischen Rassengesetzgebung und den 70. Jahrestag der Deportationen aus Rom. Die Studien aus den 1990er Jahren waren zweifellos ein wichtiger Anreiz und die Basis für zahlreiche neuere Arbeiten, die ein breites Spektrum an weiterführenden Fragestellungen und Ergebnissen zu bieten haben.34 Von besonderer Relevanz ist Enzo Collottis Il Fascismo e gli Ebrei aus dem Jahr 2003, das die Genese, Anwendung und Konsequenzen der antisemitischen Gesetzgebung erläutert und auch die verspäteten italienischen Entschädigungszahlungen für Juden nach 1945 diskutiert.35 Weitere wichtige Beiträge sind Michele Sarfattis gerade auch an Schüler gerichtete Stu-
31 | Liliana Picciotto Fargion: Il Libro della Memoria: Gli Ebrei deportati dall’Italia 1943-1945, Milano 1991.
32 | Giorgio Israel und Pietro Nasi: Scienza e Razza nell’Italia Fascista, Bologna 1998; Roberto Finzi: L’università italiana e le leggi antiebraiche, Roma 1997; Giorgio Fabre: L’elenco. Censura fascista e autori ebrei, Torino 1999.
33 | Focardi: Alle origini, S. 140. 34 | Unter den neuesten, auch transnational angelegten Arbeiten sei hier genannt: Kilian Bartikowski: Der italienische Antisemitismus im Urteil des Nationalsozialismus 1933-1943, Berlin 2013.
35 | Enzo Collotti: Il Fascismo e gli Ebrei. Le leggi razziali in Italia, Roma/Bari 2004.
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die über die Shoah in Italien von 200536, Giorgio Fabres Untersuchung der ideologischen Entwicklung Mussolinis und seines persönlichen Einflusses auf den faschistischen Antisemitismus37 sowie Amedeo Osti Guerrazzis Caino a Roma, das die direkte Involvierung von Italienern bei der Verfolgung und Deportation ihrer jüdischen Nachbarn anhand einer breiten Quellengrundlage nachweist.38 Davide Rodognos Studie von 2003 über die italienische Besatzung in Frankreich und auf dem Balkan bildet eine kritische Gegendarstellung zu den traditionellen Narrativen italienischer Humanität und Hilfe während des Zweiten Weltkriegs.39 Seine Arbeit ist ein leidenschaftliches, auf wissenschaftliche Befunde gestütztes Plädoyer gegen den Mythos vom ‚guten Italiener‘. Rodogno wie auch weitere Autoren konnten etwa nachweisen, dass den scheinbar humanitären italienischen Aktionen auf dem Balkan hauptsächlich politisches Kalkül zugrunde lag: Angesichts der in den 1940er Jahren dort stetig wachsenden militärischen, politischen und wirtschaftlichen Konkurrenz der Achsenpartner entwickelte sich die Debatte hinsichtlich der Auslieferung von Juden zu einem Argument, das Macht und Prestige beinhaltete. Es bot den Italienern die Chance, ihre Souveränität den Deutschen gegenüber offen zu demonstrieren.40 Es bleibt die Frage, inwieweit diese Forschungen das öffentliche Bewusstsein bereits prägen konnten oder sich noch weitgehend im akademischen Elfenbeinturm befinden. Vor wenigen Jahren jedenfalls schien gerade das Projekt des Shoah-Museums einen Wandel im Umgang mit der faschistischen Vergangenheit und eine offenere Auseinandersetzung mit der Judenverfolgung in Italien zu signalisieren. Das 2001 von Roms ehemaligem Bürgermeister Walter Veltroni und der jüdischen Gemeinde der italienischen Hauptstadt initiierte Projekt wird heute von der Stiftung Fondazione Museo della Shoah getragen. Geplant war von Anfang an, den Schwerpunkt auf den Antisemitismus im fa36 | Michele Sarfatti: La Shoah in Italia, Torino 2005. 37 | Giorgio Fabre: Mussolini Razzista. Dal Socialismo al Fascismo: La Formazione di un Antisemita, Milano 2005. Zum innewohnenden antisemitischen „Projekt“ des italienischen Faschismus vgl. zudem Francesco Germinario: Fascismo e antisemitismo. Progetto razziale e ideologia totalitaria, Roma/Bari 2009.
38 | Osti Guerrazzi: Caino a Roma. 39 | Davide Rodogno: Il Nuovo Ordine Mediterraneo: Le Politiche di Occupazione dell’Italia Fascista in Europa (1940-1943), Torino 2003, S. 447ff.
40 | Vgl. Enzo Collotti: Sulla Repressione Italiana nei Balcani, in: Leonardo Paggi (Hg.): La memoria del Nazismo nell’Europa di Oggi, Firenze 1997, S. 181-208; Ders.: Il Fascismo e gli Ebrei, S. 118ff.; Brunello Mantelli: Die Italiener auf dem Balkan 1941-1943, in: Christoph Dipper, Lutz Klinkhammer und Alexander Nützenadel (Hg.): Europäische Sozialgeschichte: Festschrift für Wolfgang Schieder, Berlin 2000, S. 57-74, hier: S. 70f.; Nattermann: Humanitäres Prinzip, S. 335337; Rodogno: Nuovo Ordine, S. 447ff.
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schistischen Italien, die Rassengesetzgebung und die Deportationen zu legen. Die Vertreibung jüdischer Kinder aus italienischen Schulen und die Razzia im römischen Ghetto sollten besonders eindrucksvolle Teile der Dauerausstellung bilden. Ein sichtbares Zeichen für einen Wandel im öffentlichen Erinnerungsdiskurs bildete das für die Eröffnung des Museums vorgesehene Datum: Die Initiatoren hatten sich auf den 16. Oktober geeinigt, den das italienische Parlament noch im Jahr 2000 als Tag der Erinnerung an die Shoah abgelehnt hatte.41 Die für das Jahr 2008 ursprünglich geplante Eröffnung hat allerdings angeblich aufgrund finanzieller Gründe bis heute nicht stattgefunden. Zwar ist die Stiftung Museo della Shoah arbeitsfähig und hat einen Miniatursitz. Erst kürzlich, im Herbst 2013, organisierte sie eine Ausstellung im Complesso del Vittoriale zum 70. Jahrestag der Razzia im römischen Ghetto. Doch harrt die Stiftung bis heute des ersten Spatenstichs für den Bau des Museums. Das einst Hoffnung auf ein verändertes, kritischeres Gedenken an den Holocaust weckende Konzept des römischen Shoah-Museums hat sich auf diese Weise in ein weiteres Symptom für die noch immer vorhandenen Probleme bei der öffentlichen Holocaust-Erinnerung in Italien verwandelt. Es bleibt zu wünschen, dass die allzu pessimistischen Beobachter, die das Projekt bereits als gescheitert ansehen, letztlich eines Besseren belehrt werden. In jedem Fall darf das Museo della Shoah nicht den Endpunkt eines Prozesses darstellen, als ob mit der Eröffnung Italien seine politische und kulturelle Pflicht getan hätte. Genauso wenig sollte sich das Shoah-Museum zu einem Objekt politischer Korrektheit oder einem Symbol nationalen Stolzes innerhalb eines internationalen Wettbewerbs von Holocaustmuseen entwickeln. Insbesondere im Hinblick auf die anhaltende Debatte über eine gemeinsame europäische Holocaust-Erinnerung ist unklar, ob im italienischen Fall ein europäisiertes Gedenken zu einer kritischen Aufarbeitung der Vergangenheit beitragen würde. Die Gefahr besteht darin, dass eine europäische Erinnerung stattdessen eine ‚Entnationalisierung‘ der Ereignisse zur Folge hätte und damit zu einem Rückfall in alte Stereotype und zu einer erneuten Verdrängung italienischer Verantwortlichkeiten führen würde. Das Gedenken an die Shoah in Italien wie in anderen Ländern sollte freilich insgesamt nicht nur die Bewahrung, sondern auch die Weitergabe und Diskussion von Geschichte beinhalten. Um dies zu erreichen, genügt es nicht, Museen zu errichten und Gedenktafeln aufzustellen. Die italienische Forschung zu Antisemitismus und Judenverfolgung, die seit den 1990er Jahren vielversprechende Ergebnisse hervorgebracht hat, muss anhand der Öffnung zusätzlicher, bislang nur begrenzt 41 | Zum Entstehungsprozess des Museo della Shoah vgl. u.a. Gordon: Holocaust, S. 20-24; Samuel De Roche: Un tempio della memoria a Roma, in: Ideazione, 2.2.2006; Marcello Pradarelli: Legge Calpestata, la Shoah a Roma, in: L‘Espresso, 25.10.2006.
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zugänglicher oder noch gänzlich verschlossener Archive weitergeführt werden und verstärkt Eingang in die Öffentlichkeit finden. Im Kontext der Shoah gibt es noch immer das Bedürfnis nach seriösen Untersuchungen hinsichtlich Opferentschädigungen, Ermittlung von Familienmitgliedern und Rückgabe von Raubgut. Nicht zuletzt kann das Studium relevanten Materials denjenigen Italienern zu Recht verhelfen, deren Humanität gegenüber Juden Realität war. Der individuelle Mut und die persönliche Integrität dieser Menschen sind jedoch innerhalb des allumfassenden Narrativs vom ‚guten Italiener‘ zu Unrecht heute oft kaum noch zu erkennen.
Die Shoah in Italien Geschichte, Erinnerung, Geschichtsvermittlung, Musealisierung Michele Sarfatti
J UDENVERFOLGUNG IN I TALIEN Die Judenverfolgung in Italien lässt sich in zwei Phasen einteilen, die ich zum einen als Verfolgung jüdischer Rechte bezeichne, die sich in der Zeit von September 1938 bis zum 25. Juli 1943 im Königreich Italien abspielte, und zum anderen als Verfolgung jüdischen Lebens, die vom 8. September 1943 bis zum 25. April 1945 in der Italienischen Sozialrepublik und unter deutscher Besatzung stattfand.1 Der 1938 begonnenen Verfolgung gingen Maßnahmen voraus, die den zunehmenden Ausschluss von Juden aus wichtigen Positionen in Kultur, öffentlicher Verwaltung und anderen Gesellschaftsbereichen zur Folge hatten.2 1 | Zur Shoah in Italien vgl.: Michele Sarfatti: Die Juden im faschistischen Italien. Geschichte, Identität, Verfolgung, Berlin 2014 [ital. Original 2007 erschienen]; Liliana Picciotto: Il libro della memoria. Gli Ebrei deportati dall’Italia (1943-1945). Ricerca della Fondazione Centro di Documentazione Ebraica Contemporanea, Milano ³2002; Klaus Voigt: Zuflucht auf Widerruf. Exil in Italien 1933-1945, 2. Bde., Stuttgart 1989-1993; Commissione per la ricostruzione delle vicende che hanno caratterizzato in Italia le attività di acquisizione dei beni dei cittadini ebrei da parte di organismi pubblici e privati: Rapporto generale, Presidenza del Consiglio dei ministri, Roma 2001, auch zu finden unter: www.governo.it/Presidenza/DICA/beni_ebraici/index.html [2.11.2013]. 2 | Vgl. Giorgio Fabre: Il contratto. Mussolini editore di Hitler, Bari 2004; Ders.: Mussolini e gli ebrei alla salita al potere di Hitler, in: La rassegna mensile di Israel, LXIX, Nr. 1/2003, S. 187236; Ders.: Mussolini razzista. Dal socialismo al fascismo: la formazione di un antisemita, Milano 2005; Ders.: ‚L’informazione diplomatica‘ n. 14 del febbraio 1938, in: La rassegna mensile di Israel, LXXIII, Nr. 2/2007, S. 45-101; Ders.: I volenterosi collaboratori di Mussolini. Un caso di antisemitismo del 1931, in: Quaderni di storia 68, 2008, S. 89-122; Annalisa Capristo: L’esclusione degli ebrei dall’Accademia d’Italia, in: La rassegna mensile di Israel, LXVII, Nr. 3/2001, S. 1-36; Dies.: L’espulsione degli ebrei dalle accademie italiane, Torino 2002; Dies.: Il coinvolgimento delle accademie e delle istituzioni culturali nella politica antiebraica del fascismo, in: Pier Giorgio
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Dieses Vorgehen wurde nicht öffentlich gemacht, dennoch war es für viele Zeitgenossen offensichtlich; so schrieb beispielsweise Isacco Sciaky, italienischer Vertreter des Zionistenführers Vladimir Jabotinsky, an diesen im April 1932 (also bevor im ‚Deutschen Reich‘ die Macht an Hitler übergeben wurde), „der Hitlerismus der verschiedenen Länder […] findet in Rom sein Mekka des Antisemitismus“.3 Man muss sich allerdings ins Bewusstsein rufen, dass ein Teil der italienischen Juden ebenfalls die faschistische Ideologie vertrat oder zumindest Mitglied des Partito Nazionale Fascista (PNF, National-Faschistische Partei) war.4 Andere wiederum waren Antifaschisten, treue Anhänger der Monarchie oder an Politik nicht interessiert; herausgestellt werden soll an dieser Stelle jedoch, dass der Faschismus in seiner Anfangsphase sowohl antisemitische als auch israelitische Unterstützer fand. 1938 führte das faschistische Regime eine harte, gegen Juden gerichtete Gesetzgebung ein. Dieser Vorgang war, auch wenn er mit anderen politischen Richtungsentscheidungen zusammenhing (wie etwa der Vorbereitung des Bündnisses mit NS-Deutschland, der Entwicklung einer rassistischen, ‚antihamitischen‘, d.h. gegen die afrikanische Bevölkerung in den Kolonien gerichteten Politik, der Konstruktion einer ‚imperialen Würde‘ und eines neuen ‚faschistischen Charakters‘ etc.), vornehmlich ein innenpolitischer Akt, zurückzuführen auf den wachsenden Antisemitismus in Italien und nicht zuletzt auf die Feindseligkeit, mit der die führenden Zirkel des Faschismus der mehrfach demonstrierten Autonomie der Juden gegenüberstanden (1933 zum Beispiel, als sie es als gerechtfertigt ansahen, ihren von der neuen deutschen Regierung verfolgten Glaubensbrüdern Beistand zu leisten). Diese antijüdische Politik, für die sich der charismatische Führer und Diktator Benito Mussolini nachdrücklich einsetzte, umfasste die gesamte Gesellschaft in ihren politischen, sozialen, ökonomischen und kulturellen Bereichen. Sie richtete sich – zum ersten Mal in der Geschichte des vereinigten Italiens – gegen einen Teil der eigenen Staatsbürger, und sie traf sie mit einer Zunino (Hg.): Università e accademie negli anni del Fascismo e del Nazismo. Atti del Convegno internazionale (Torino, 11-13 maggio 2005), Firenze 2008, S. 321-341.
3 | Brief von Isacco Sciaky an Vladimir Jabotinsky, 25. April 1932; zitiert aus Vincenzo Pinto (Hg.): Stato e Libertà. Il carteggio Jabotinsky – Sciaky (1924-1939), Soveria Mannelli 2002, S. 70. Zu den Beziehungen zwischen italienischem und deutschem Antisemitismus vgl. Michele Sarfatti: Autochthoner Antisemitismus oder Übernahme des deutschen Modells? Die Judenverfolgung im faschistischen Italien, in: Lutz Klinkhammer, Amedeo Osti Guerrazzi und Thomas Schlemmer (Hg.): Die „Achse“ im Krieg. Politik, Ideologie und Kriegführung 1939–1945, Paderborn 2010, S. 231–243. 4 | Vgl. Michele Sarfatti: Eine Italienische Besonderheit: faschistische Juden und der faschistische Antisemitismus, in: Gudrun Jäger und Liana Novelli-Glaab (Hg.): ... denn in Italien haben sich die Dinge anders abgespielt. Judentum und Antisemitismus im modernen Italien, Berlin 2007, S. 131–154.
Die Shoah in Italien
solchen Gewalt und einer normativen Radikalität, wie sie bis dahin auf der italienischen Halbinsel noch nie in Erscheinung getreten war. Die gegen die Juden gerichtete Gesetzgebung stützte sich auf den biologischen Rassismus, das heißt auf die Vererbbarkeit des ‚jüdischen Bluts‘: Sie betraf denn auch all jene Personen, deren beider Eltern ‚jüdischer Rasse‘ waren und niemanden, dessen Eltern ‚der arischen Rasse‘ angehörten, unabhängig von der Religion, zu der sich diese Personen bekannten. Diejenigen mit Vorfahren aus beiden ‚Rassen‘ wurden jeweils in die eine oder in die andere Kategorie eingeordnet. Auf Grundlage der Daten, die bei der Ermittlung der Rassenzugehörigkeit der Juden im August 1938 erhoben wurden, kann abgeleitet werden, dass circa 51.100 Personen von der Verfolgung betroffen waren (etwas mehr als ein Tausendstel der italienischen Bevölkerung), 4.500 von ihnen gehörten nicht der jüdischen Religion an oder hatten keine jüdische Identität. Das faschistische Regime entzog dem größten Teil der ausländischen Juden unmittelbar die Aufenthaltserlaubnis. Im Juni 1940, als Italien in den Zweiten Weltkrieg eintrat, hatte etwa die Hälfte von ihnen die italienische Halbinsel verlassen. Die übrigen wurden mehrheitlich in Internierungslager gesperrt, wo sie bleiben sollten, bis sie nach dem Ende des Konfliktes hätten ausgewiesen werden können. Die Bedingungen in diesen Lagern waren wie in einem Gefängnis, aber ohne zusätzliche physische oder psychische antisemitische Gewalt. Auch die Juden mit italienischer Staatsbürgerschaft versuchte das faschistische Regime in der Zeit von 1938-1943 zur Emigration zu bewegen oder auszuweisen. Das Regierungshandeln war darauf ausgerichtet, sie aus dem ‚nationalen Leben‘ zu entfernen und sie von den Nicht-Juden zu trennen (u.a. durch das Verbot neuer, ‚rassisch gemischter‘ Eheschließungen); die Maßnahmen im Bereich der Schule und Arbeit waren diesbezüglich eine Form der direkten Verfolgung, hatten aber auch die Funktion, die so Bedrängten zur Ausreise zu bewegen. Bis zum Ausfall der letzten Emigrationskanäle 1941 waren etwa acht Prozent der italienischen Juden emigriert. Im Juni 1940 internierte die italienische Regierung einige Hundert von ihnen; 1942 wurden einige Tausend zu Zwangsarbeit genötigt; im Juni 1943 beschloss die Regierung, alle rechtlich als Juden geltenden Personen in vier Zwangsarbeitslagern zusammenzuführen (wobei diese Entscheidung auf Grund der Ereignisse vom 25. Juli 1943 nicht weiter umgesetzt werden konnte). Im zweiten Halbjahr 1942 erhielt Mussolini Informationen über die Deportationen und die in Europa stattfindenden Massaker. Sie deuteten, in ihrer Gesamtheit betrachtet, auf die Existenz eines Vernichtungsprogramms hin. Damit konfrontiert wirkte Rom bis zum 25. Juli 1943 nicht an den Verhaftungen und Deportationen mit (abgesehen von zwei komplexen Vorgängen in Pristina
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und Nizza)5, nichtsdestoweniger hatte die militärische und ideologische Allianz mit Berlin weiterhin Bestand. Am 25. Juli 1943 wurde Mussolini abgesetzt. In der darauffolgenden Phase der fünfundvierzig Tage wurden die antijüdischen Gesetze weder annulliert noch verschärft. Am 8. September wurde der Waffenstillstand verkündet. Das deutsche Vorgehen gegen die jüdische Bevölkerung begann in einigen Orten unmittelbar, auf Initiative der dortigen militärischen Einheiten. Die Anordnung, alle italienischen Juden in Haft zu nehmen oder zum Zweck der Deportation festzusetzen, ging in der zweiten Septemberhälfte 1943 an alle Spezialeinheiten der Polizei in ganz Europa. Die ersten Razzien fanden am 9. Oktober in Triest statt, wo ein autonomer Apparat agierte, und am 16. Oktober in Rom. Nicht verhaftet – oder umgehend freigelassen – wurden von der deutschen Polizei im Herbst 1943 Juden bestimmter Nationalitäten oder jene mit einem ‚arischen‘ Ehegatten oder Elternteil. Die Italienische Sozialrepublik beschloss ihre eigene antijüdische Politik am 14. November 1943, als die Versammlung des neuen Partito Fascista Repubblicano ein programmatisches Manifest verabschiedete, dessen Art. 7 besagte: „Die Angehörigen der jüdischen Rasse sind Ausländer. Während dieses Krieges gehören sie der feindlichen Nationalität an.“6 Am 30. November veröffentlichte der Innenminister den 5. Polizeibefehl, der die Verhaftung und die Internierung „aller Juden, […] gleich welcher Nationalität sie angehören“, anordnete und die Internierung „in regionalen Konzentrationslagern bis zur Zusammenführung in speziellen, hierfür eigens errichteten Konzentrationslagern“ vorsah, zusätzlich zur Beschlagnahmung (im Januar 1944 umgewandelt in Einziehung) ihrer Güter.7 Ab dem 1. Dezember 1943 begannen die Präfekten, die regionalen Konzentrationslager einzurichten und die Polizeipräsidenten setzten die Verhaftungen in Gang. Anfangs wurden Schwerkranke, über Siebzigjährige oder Juden mit ‚arisch‘ klassifiziertem Elternteil oder Ehegatten von der Verhaftung ausgenommen. Als Folge des faschistischen Beschlusses nahmen die von Deutschen vorgenommenen Verhaftungen an Zahl und Intensität ab. Die von Deutschen und Italienern gefangengenommenen Juden wurden in Gefängnissen und Lagern gesammelt und von den Deutschen in das Lager Auschwitz-Birkenau deportiert (in zwei Fällen mit Zwischenstation in den Lagern Reichenau in Österreich und Drancy in Frankreich). Juden mit ‚feindlicher‘ oder ‚neutra5 | Vgl. Michele Sarfatti: Fascist Italy and German Jews in south-eastern France in July 1943, in: Journal of Modern Italian Studies 3, Nr. 3/1998, S. 318-328; Ders.: Tra uccisione e protezione. I rifugiati ebrei in Kosovo nel marzo 1942 e le autorità tedesche, italiane e albanesi, in: La rassegna mensile di Israel LXXVII, 3/2010, S. 223-242. 6 | Sarfatti: Gli ebrei, S. 268. 7 | Ebd., S. 269.
Die Shoah in Italien
ler‘ Nationalität wurden nach Bergen-Belsen oder in andere Lager gebracht. Zuerst fuhren die Züge von den Orten der Massenverhaftungen oder von Mailand aus; von Februar 1944 an hingegen vom nationalen Konzentrationslager in Fossoli di Carpi in der Provinz Modena und ab August 1944 vom Lager in Bozen-Gries. Von den zahlreichen Massakern, die in diesen Monaten auf der italienischen Halbinsel begangen wurden, war das schwerste jenes am 24. März 1944 bei den Ardeatinischen Höhlen in Rom, bei dem die Deutschen als Vergeltungsmaßnahme 75 Juden zusammen mit 260 Nichtjuden ermordeten. Von den verfolgten Juden konnten etwa 500 die Frontlinie überwinden und in die bereits befreiten Gebiete gelangen. Über 5.500 gelang die Flucht in die Schweiz. Über 7.900 wurden auf der Halbinsel verhaftet (zu dieser Zahl müssen noch einige hundert Personen hinzugerechnet werden, die in Jugoslawien verhaftet und nach Triest überführt wurden). Von diesen wurden 300 in Italien ermordet und 7.600 deportiert; von 6.800 der letzteren konnte die Fondazione Centro di Documentazione Ebraica Contemporanea (CDEC) die Namen und die Schicksale rekonstruieren: Über 5.900 wurden ermordet und über 800 überlebten.8 Die verbliebenen 29.000 Juden in Italien lebten untergetaucht bis zum Ende des Befreiungskrieges, oft geschützt und versteckt von nichtjüdischen Mitbürgern; von ihnen nahmen etwa 1.000 am Partisanenkampf teil. Die Deportationen nach Auschwitz und die dortigen Ermordungen wurden von der deutschen Polizei durchgeführt und betrafen alle durch deutsche oder italienische Polizisten festgenommenen Juden. Diesbezüglich ist keinerlei Protest Mussolinis dokumentiert. Dokumentiert ist hingegen sein Einspruch gegen die Aneignung konfiszierter jüdischer Güter durch die Deutschen in der ‚Operationszone Adriatisches Küstenland‘. Es ist kein Dokument überliefert, das eine Vereinbarung zwischen den Regierungen des ‚Dritten Reiches‘ und der Italienischen Sozialrepublik über das letztendliche Schicksal der Verhafteten belegen würde; es ist jedoch Fakt, dass die Italiener Verhaftungen vornahmen und die Festgenommenen in das Lager Fossoli (später in dasjenige von Bozen-Gries) brachten, die Deutschen sie entgegennahmen und nach Auschwitz-Birkenau deportierten (und dabei das italienische Lager frei machten); die Italiener verhafteten und brachten die Festgenommenen nach Fossoli, die Deutschen nahmen sie entgegen und deportierten sie, und immer so weiter. Dies ist, sehr stark verkürzt, die Geschichte der Judenverfolgung in Italien zwischen 1938 und 1945. Es handelt sich dabei eben auch um die Geschichte vom antisemitischen Vorgehen Mussolinis und des italienischen Faschismus und von ihrer Beteiligung am Völkermord an den Juden.
8 | Vgl. Liliana Picciotto: Il libro della memoria. Gli Ebrei deportati dall’Italia (1943-1945). Ricerca della Fondazione Centro di Documentazione Ebraica Contemporanea, Milano ³2002, S. 28.
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G ESCHICHTSVERMITTLUNG UND E RINNERUNG NACH 1945 Nachdem der Krieg und die Shoah beendet waren, erhielt dieser spezifische italienische Beitrag zur Judenverfolgung in Italien weder einen Platz in der öffentlichen Erinnerung noch in adäquater Weise in geschichtswissenschaftlichen Untersuchungen. Dies ist auf ein komplexes Zusammenspiel sehr unterschiedlicher Faktoren zurückzuführen. Die wichtigsten Gründe lassen sich wie folgt, notwendigerweise verkürzt und nicht nach Relevanz geordnet, aufführen: •
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Am Ende des Krieges befand sich das Königreich Italien auf der Seite der Sieger und nicht der Besiegten. Das verhinderte die Einleitung internationaler Gerichtsverfahren, die auf wissenschaftlicher und allgemein gesellschaftlicher Ebene Signalwirkung gehabt hätten. Die jüdischen Italiener, die dank der Hilfe von nichtjüdischen Italienern überlebten, bewahrten sich die Erinnerung an ihre eigene Geschichte und gaben sie weiter; diejenigen hingegen, die von der italienischen Polizei festgenommen oder von ihren italienischen Mitbürgern denunziert worden waren, konnten nicht mehr erzählen. Die Juden, die in Italien überlebten oder aus dem Exil zurückkehrten, schlossen häufig eine Art stillschweigenden Pakt der Koexistenz mit dem Land, in dem sie ihr zukünftiges Leben verbringen wollten, und somit auch mit seinen Bewohnern. Darüber hinaus wollten sie nicht nachtragend sein und somit war es nicht an ihnen zu richten. In Italien gibt es eine sehr starke nationale Gesinnung (ein Beispiel hierfür ist die jüngste Verbreitung der nie bestätigten Behauptung, die italienische Verfassung sei ‚die schönste der Welt‘), die nur in geringer Weise ideologisch geprägt ist, und somit von jenen Wissenschaftlern nicht näher untersucht wird, die meinen, dieses Gefühl müsse auf einer durchdachten Ansicht beruhen. In Italien gibt es in Teilen der Gesellschaft, historisch motiviert, eine antideutsche Einstellung, die sich sehr gut dazu eignet, jegliche Verantwortlichkeit für die begangenen Verbrechen auf italienischem Gebiet den Deutschen zuzuschreiben. Das Abwälzen der Verantwortung seitens der Italiener ging zudem einher mit dem eisernen Willen einiger Deutscher, alle Verantwortung dem eigenen Land aufzubürden. Auf diese Weise entstand eine anormale ‚Achse‘ zwischen nicht-erinnernden Italienern und ‚über-erinnernden‘ Deutschen. In Italien entwickelte sich der Antisemitismus des 20. Jahrhunderts ebenfalls ohne einen starken und öffentlichen ideologischen Unterbau. Ebenso wie der Nationalismus wurde er nur schwerlich als solcher benannt und infolgedessen wenig erforscht.
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Der Faschismus verfügte über die Unterstützung der Massen; nach seiner Niederlage verlangten viele Parteien von der Bevölkerung zwar die volle Zustimmung zu den antifaschistischen Prinzipien, aber keine kritische Reflexion der eigenen jüngsten Vergangenheit. Insbesondere wurde das vormals verbreitete Bekenntnis zum Antisemitismus bzw. dessen Akzeptanz übersehen oder beiseite geschoben. Die katholische Kirche zeigte sich lange Zeit zu befangen, um sich der Tatsache eines Antisemitismus zu stellen, den sie teilweise selbst zu verantworten hatte (jedoch nicht in Bezug auf dessen rassistische Ausprägung und den Völkermord). Nach dem 25. Juli und dem 8. September 1943 stützte sich die staatliche Struktur des Königreichs Italien und später des ‚Königreichs des Südens‘ auf Funktionäre und Eliten, die in den fünf Jahren zuvor die Verfolgung der jüdischen Rechte betrieben hatten. Es lag in deren unmittelbaren Interesse, die jüngste Vergangenheit zu verbergen oder herunterzuspielen.
Selbst der außergewöhnliche und sicherlich positiv zu bewertende Erfolg von Primo Levi hat dazu beigetragen, die Aufmerksamkeit vom italienischen Kapitel der Shoah wegzulenken, da seine Erinnerungen, seine Romane und seine Artikel zumeist von Auschwitz und dem Völkermord in Mitteleuropa handeln. Liest man die wenigen Schriften, die er Italien widmete, bekommt man nicht den Eindruck, es habe Juden gegeben, die Selbstmord begingen, die an Infarkten starben, die in bitterer Armut endeten, die Schikanen erlitten, die Verfolgung überlebten, die zu Tausenden von ihren Mitbürgern verhaftet wurden, häufig nachdem sie von ihren Landsleuten bespitzelt worden waren. Es darf sicherlich nicht vergessen werden, dass es zahlreiche nichtjüdische Italiener gab, die Leben retteten oder sich immerhin gegen die Verfolgung stellten. Einige von ihnen waren Faschisten; bisweilen sogar mit antisemitischen Vorurteilen. Aber Erinnerung, Kenntnis und Bewusstsein können sich nur etablieren und wachsen, wenn sie weder ‚Gerechte‘ noch ‚Ungerechte‘ bevorzugen und wenn sie alle Aspekte der Geschichte berücksichtigen. In den 80er und 90er Jahren wurden durch zahlreiche gesellschaftliche Prozesse und Ereignisse die oben genannten Faktoren überwunden oder gerieten zumindest in eine Krise. Es handelt sich um zu vielschichtige Geschehnisse, als dass sie hier aufgeführt werden könnten.9 Es ist aber sinnvoll, an einen bestimmten Aspekt zu erinnern, auf den bisher in den Darstellungen wenig eingegangen worden ist: der Beitrag, den die Fondazione Centro di Documentazione Ebraica Contemporanea CDEC di Milano 9 | Vgl. Robert S. C. Gordon: Scolpitelo nei cuori. L‘olocausto nella cultura italiana (1944-2010), Torino 2013 [engl. Original 2012 erschienen]; Rebecca Clifford: Commemorating the Holocaust. The Dilemmas of Remembrance in France and Italy, Oxford 2013.
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für die historische Forschung geleistet hat. Aus all dem, was ihre Arbeit umfasst, halte ich es für wesentlich, zwei Beiträge herauszustellen: Erstens die kurze Tabelle zur Nationalität derjenigen, die die Verhaftungen vornahmen, die Liliana Picciottos beeindruckendem Werk, Il libro della memoria, aus dem Jahr 199110 enthalten ist. Zweitens die Veröffentlichungen des Korpus’ der antijüdischen Gesetze und der Geschichte ihrer Entstehung und Ausarbeitung, unter meiner Herausgeberschaft 1988 und 1994 erschienen.11 Die erstgenannten Forschungsergebnisse legten die hohe Zahl an Verhaftungen in italienischer Verantwortung offen, für viele Personen ungeahnt und unerwartet; letztere zeigte die Komplexität und die Einsatzbereitschaft bei der Ausarbeitung der Gesetze und offenbarte dadurch den vorhandenen Gestaltungswillen und somit auch die Vorreiterrolle des italienischen Faschismus. Diese beiden Beiträge standen am Anfang zahlreicher neuer Ansätze, neuer Studien und neuer Erkenntnisse. Das Zusammenwirken der genannten Prozesse in den 80er und 90er Jahren, um zum Thema zurückzukehren, war ausschlaggebend für das Aufkommen eines Bewusstseins dafür, dass die Shoah von kennzeichnender Bedeutung für die italienische Gesellschaft ist. Auch hier muss jedoch im Blick behalten werden, dass es sich um einen noch andauernden Prozess handelt: Zum einen kann und darf man die Verbreitung dieses Bewusstseins noch nicht als vollständig betrachten, zum anderen stößt sie sowohl auf Gegenreaktionen als auch auf Ausweichmanöver (d.h. auf eine Verzerrung der Fakten). Der zentrale Moment in diesem Prozess kann in den Jahren um die Jahrhundertwende angesetzt werden, im Übergang vom Jahrhundert der Shoah zum heutigen Jahrhundert. Von alldem, was in dieser Zeit geschah, genügt es, an drei Ereignisse zu erinnern: •
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Die Einsetzung einer Kommission im Jahre 1998, deren Aufgabe es war, zu rekonstruieren, auf welche Weise öffentliche oder private Einrichtungen in Italien sich Güter jüdischer Mitbürger aneigneten, mit anderen Worten, den Verbleib von jüdischem Raub- oder konfisziertem Gut zu klären.12 Der Beitritt Italiens zur neugegründeten Task Force for International Coope-
10 | Vgl. Picciotto: Il libro della memoria, S. 29. 11 | Vgl. Michele Sarfatti: Documenti della legislazione antiebraica. I testi delle leggi, in: 1938 le leggi contro gli ebrei (La rassegna mensile di Israel LIV, 1–2/1988), S. 49–167; Ders.: Mussolini contro gli ebrei. Cronaca dell’elaborazione delle leggi del 1938, Torino 1994.
12 | Commissione con il compito di ricostruire le vicende che hanno caratterizzato in Italia le attività di acquisizione dei beni dei cittadini ebrei da parte di organismi pubblici e privati, vgl. FN 1; Michele Sarfatti: Le vicende della spoliazione degli ebrei e la Commissione Anselmi (19982001), in: Giuseppe Speciale (Hg.): Le leggi antiebraiche nell’ordinamento italiano. Razza diritto esperienze, Bologna 2013, S. 299-311.
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ration on Holocaust Education, Remembrance and Research im Jahr 1999 und die Teilnahme am Stockolm International Forum on Holocaust vom 26. bis 28. Januar 2000. Das ebenfalls im Jahr 2000 vom Parlament beschlossene Gesetz zur Einrichtung eines Gedenktags an den Völkermord an den Juden (Giorno della memoria) am Jahrestag der Befreiung des Vernichtungslagers Auschwitz vom 27. Januar 1945. Es ist zu beachten, dass das Gesetz einerseits „die italienische Verfolgung jüdischer Bürger“ erwähnt und andererseits den Begriff ‚Faschismus‘ nicht enthält (im Gegensatz zum Ausdruck campi nazisti, ‚NS-Lager‘).13
Diese öffentliche Bekundung der Bedeutung der Shoah hat eine deutliche und nachhaltige Wirkung gezeigt, insbesondere im Bereich der Schulen und Museen. Was die Schulen angeht, so gab es bereits in den letzten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts vereinzelt Initiativen in Form von Lehrerweiterbildung und Studienfahrten für Schüler zu den Schauplätzen der Vernichtung.14 Die13 | Gesetz Nr. 211, vom 20.07.2000, „Einführung eines ,Tages des Gedenkens‘ in Erinnerung an die Verfolgung und Vernichtung des jüdischen Volkes und der in NS-Lager deportierten italienischen Politiker und Militärinternierten.“ (Istituzione del ‚Giorno della Memoria‘ in ricordo dello sterminio e delle persecuzioni del popolo ebraico e dei deportati militari e politici italiani nei campi nazisti): Art. 1: „Die Italienische Republik bestimmt den 27. Januar, den Jahrestag der Befreiung Auschwitz’, zum ‚Tag des Gedenkens‘, an dem an die Shoah (die Vernichtung des jüdischen Volkes), an die Rassengesetze, an die Verfolgung jüdischer Italiener und an die Italiener, die Deportation, Gefangenschaft und Tod erlitten, erinnert werden soll, wie auch an diejenigen, die sich in den Lagern und verschiedenen Bewegungen dem Vernichtungsprogramm entgegenstellten und ihr eigenes Leben riskierten, um andere zu retten und die Verfolgten zu beschützen.“ Art. 2: „Anlässlich des in Art. 1 bestimmten ‚Tages des Gedenkens‘ werden, insbesondere an den Schulen, unabhängig von Schulform und Sekundarstufe, feierliche Gedenkveranstaltungen, Initiativen, Begegnungen und Momente der Reflexion und Information organisiert, die das Schicksal des jüdischen Volkes und der aus politischen Gründen deportierten Italiener sowie der italienischen Militärinternierten in den NS-Lagern zum Gegenstand haben. Auf diese Weise soll in Italiens Zukunft die Erinnerung an diese tragische und dunkle Epoche in der Geschichte unseres Landes und Europas erhalten bleiben, damit ähnliche Ereignisse nie wieder geschehen können.“ Der italienische Wortlaut ist z.B. zu finden unter http://www.normattiva.it/ricerca/ semplice [26.6.2014] unter Eingabe der Gesetzesnummer und des Datums der Verabschiedung im Parlament. Vgl. Giovanni De Luna: La repubblica del dolore. Le memorie di un’Italia divisa, Milano 2011, S. 67-71; Robert S. C. Gordon: The Holocaust in Italian Collective Memory: Il giorno della memoria, 27 January 2001, in: Modern Italy 11, 2/2006, S. 167-188; Goffredo De Pascale: Viaggio di una legge, in: Diario, 27.01.2001 (Ergänzungsband zu Heft Nr. 4), S. 12-18.
14 | Zu diesem Thema vgl. Alessandra Chiappano: La didattica della shoah in Italia, in Conoscere la Shoah in Italia e in Europa. Seminario di formazione febbraio 2005, Crema, ITCG „Luca Pacioli“, Crema 2006, S. 183-199; Fabio Maria Pace: L’insegnamento della Shoah nella scuola italiana e la formazione dei docenti, in: Studi e documenti degli Annali della Pubblica Istruzione 117/118, 2006/2007 (La lezione della Shoah. Questione etica, riflessione storica e culturale, sfida della
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se Entwicklung wurde deutlich vorangetrieben, als im Oktober 1998 der damalige Bildungsminister Luigi Berlinguer anlässlich des 60. Jahrestages der antijüdischen Gesetzgebung die Entscheidung verkündete, Projekte an weiterführenden Schulen zu fördern und zu finanzieren, die sich mit der Judenverfolgung auseinandersetzten und abschließend eine „Besichtigung eines der NS-Vernichtungslager“15 beinhalteten. (Es soll an dieser Stelle daran erinnert werden, dass zwei Jahre zuvor derselbe Minister die Lehrpläne für Geschichte in Grundschule, Mittelschule und Gymnasien dahingehend modifizierte, dass im jeweils letzten Schuljahr das 20. Jahrhundert behandelt wurde.16) Die Initiative aus dem Jahr 1998 trug den Titel Il 900. I giovani e la memoria (Das 20. Jahrhundert. Die Jugend und die Erinnerung) und es ist durchaus interessant, dass hier die ‚Erinnerung‘ titelgebend war, und nicht etwa Konzepte des Lernens, der Bildung und des Wissens. Das Projekt wurde in den folgenden zwei Schuljahren wiederholt, dann jedoch unterbrochen. Ab 2002/2003 – in der Zwischenzeit war das Gesetz zum Tag des Gedenkens verabschiedet worden – wurde es in veränderter Form wieder aufgenommen: als ein Wettbewerb für Untersuchungen zur Judenverfolgung, offen für alle Schulformen und organisiert vom Bildungsministerium in Zusammenarbeit mit dem Verband der jüdischen Gemeinden Italiens. Die Initiative wird jährlich wiederholt und seit dem Schuljahr 2003/2004 nennt sie sich I giovani ricordano la Shoah (Die Jugend erinnert an die Shoah)17, erneut ein Wettbewerb des Bildungsministeriums, der sich auf die Erinnerung beruft und nicht auf die Bildung. In einem anderen Bereich waren es ebenfalls die Schulen, die ein starkes Engagement zeigten, nämlich in der Organisation von Reisen zu den symbolischen Orten der Shoah, insbesondere nach Auschwitz-Birkenau. Schon vor der Ausschreibung des Ministeriums 1998 hatten Kommunalverwaltungen, Vereine oder einzelne Lehrer Studienfahrten in ehemalige Konzentrationslager wie Dachau oder Vernichtungslager wie Auschwitz veranstaltet. Nach der Ausschreibung und in Folge der zunehmenden Aufmerksamkeit, die der Shoah zuteil wurde, gab es nunmehr nicht nur vereinzelte Initiativen, sondern weit verbreitet entsprechende Angebote. Laut den Zahlen des Staatlichen Museums
memoria), S. 154-166; Laura Fontana: L’enseignement de la Shoah en Italie, in: Revue d’histoire de la Shoah 193, 2010, S. 621-659.
15 | Rundschreiben des Ministers (Circolare ministeriale) vom 9.10.1998, Nr. 411: Il 900. I giovani e la memoria.
16 | Vgl. Ministerialdekret (Decreto ministeriale) vom 4.11.1996, Nr. 682, in Kraft getreten mit dem Schuljahr 1997/1998.
17 | Vgl. Rundschreiben des Ministers vom 31.10.2002, Nr. 2911: L’Europa – dagli orrori della Shoah al valore dell’unità (Europa – vom Grauen der Shoah bis zur Bedeutung seiner Einheit); Rundschreiben des Ministeriums vom 6.11.2003, Nr. 2781: I giovani ricordano la Shoah.
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Auschwitz-Birkenau besuchten im Jahr 2006 51.000 Italiener das Lager, im Jahr 2008 waren es 43.000 (der niedrigste Wert) und vier Jahre später 84.500 Personen. In Prozentzahlen ausgedrückt machten die Italiener 5,15 Prozent, 3,80 sowie 5,91 Prozent der Besucher aus.18 Alle Informationen deuten darauf hin, dass die italienischen Besucher in ihrer großen Mehrheit Schüler sind. Die Zahlen bestätigen die Existenz eines gesellschaftlichen Phänomens – eines Phänomens, dass sich vom unteren Ende der Gesellschaft her entwickelt hat, werden die Fahrten doch auf lokaler Ebene organisiert (von den Kommunen, den Regionen, den Schulen, den Gewerkschaften etc.). Sie werden häufig als ‚Reisen des Gedenkens‘ bezeichnet, oder – wenn die Gruppen mit dem Zug unterwegs sind – als ‚Zug des Gedenkens‘; Wörter wie Bildung, Didaktik oder Pädagogik werden hingegen nicht verwendet. Jedes Mal wird zu der Teilnahme aufgerufen: alle Schüler einer Klasse, die Klassenbesten, diejenigen, die die Lehrer für am geeignetsten halten, oder jene, die sich von sich aus bewerben. Die Vorbereitung wird von den Organisatoren eigenständig durchgeführt; es gibt daher Angebote von unterschiedlicher Qualität. Wir müssen jedoch feststellen, dass keine angemessene öffentliche Auseinandersetzung stattfindet, weder über die Beschaffenheit und die Wirkung dieser Initiativen, noch über das Verhältnis von Erlebnis, Einprägung, Reflexion, Erlernen und Erinnerung während der Fahrten. Im Lager Auschwitz I beherbergen einige Blöcke (Backsteinbaracken) die so genannten Nationalausstellungen; im Block 21 konnte die Associazione Nazionale ex-Deportati (ANED, Nationale Vereinigung ehemaliger Deportierter) im Jahr 1980 ein Mahnmal mit dem Titel Memoriale in onore degli italiani caduti nei campi di sterminio nazisti (Denkmal zu Ehren der Italiener, die in den NS-Vernichtungslagern fielen) realisieren, in dem die Geschichte Italiens vom Beginn des Faschismus und des Antifaschismus bis hin zur Resistenza und der gesamten Deportationsgeschichte künstlerisch dargestellt wird. Der spezifischen Geschichte der verfolgten und nach Auschwitz deportierten Juden wird somit nur ein sehr begrenzter Platz eingeräumt. Darüber hinaus ist die Installation wenig geeignet für didaktische Zwecke, da es sich um ein Ehrenmahnmal handelt. 2008 stellte das italienische Parlament daher Mittel für eine Neugestaltung der Ausstellung bereit19; in den seither vergangenen fünf Jahren widersetzten sich jedoch die Befürworter des Ehrenmahnmals jeglichen Änderungsvorschlägen, die seitens der Erneuerer auf der Suche nach einer einvernehmlichen Lösung eingebracht wurden. Vor diesem Hintergrund wurde der italienische ‚Block‘ von der Direktion des Staatlichen Museums Auschwitz-Birkenau im Juli 2011 für das Publikum geschlossen, da er den neu18 | Vgl. Panstwowe Muzeum Auschwitz-Birkenau w Oswiecimiu, Sprawozdanie/Report 2006, 2007 und folgende.
19 | Vgl. Gesetz vom 28.2.2008, Nr. 31, Artikel 50.
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en Ausstellungskriterien nicht mehr entsprach, die das Museum selbst festgelegt hatte (eine historisch-didaktische Gestaltung, die vornehmlich auf die Geschichte der Deportationen nach Auschwitz ausgerichtet ist) und die nach und nach von den anderen Nationalausstellungen umgesetzt worden waren. So mussten sich die Erfordernisse der Didaktik und der Wissensaneignung den Erfordernissen dessen beugen, was wir als Gedenken an das Gedenken, also als Gedenken an sich selbst, bezeichnen können.
M USEALISIERUNG : N EUE P ROJEKTE Seit der Jahrtausendwende wurden auf italienischem Boden drei große Projekte in Form von Mahnmalen bzw. Ausstellungen initiiert und auf den Weg gebracht, nämlich in Mailand, Ferrara und Rom. Ehe auf diese drei Projekte näher eingegangen wird, ist daran zu erinnern, dass Italien über ein außergewöhnliches Netz an lokalen jüdischen Museen verfügt, in denen Kunstobjekte ausgestellt, Riten und Begriffe erläutert und die jahrhundertealte Geschichte der städtischen jüdischen Gemeinden dargestellt wird (die natürlich auch den Zeitraum der Shoah umfasst). Die größten Museen dieser Art sind jene in Rom und Venedig, die im Jahr 2012 85.000 bzw. 68.172 Besucher zählten.20 Was die Orte der Judenverfolgung in Italien betrifft, sind von denjenigen, die heute für Besucher und Schulklassen zugänglich sind, die ehemaligen Konzentrationslager Risiera di San Sabba und Fossoli die größten, die jährlich 100.000 bzw. 30.000 Besucher zählen.21 Bei diesen beiden Lagern muss allerdings bedacht werden, dass sie – obwohl sie als Sammel- und Durchgangslager für die große Mehrheit der deportierten Juden fungierten – nicht nur einen Ort der Judenverfolgung darstellen: Im Lager San Sabba wurden tausende politische Oppositionelle aus Italien und den slawischen Nachbarländern interniert und ermordet; in Fossoli wurden zahlreiche Politiker gefangen gehalten. Im Lichte dieser Ausgangslage, in der die Shoah zunehmend an Bedeutung gewinnt und Ausstellungen und Mahnmale bereits verwirklicht wurden, müssen die drei großen, neu entstandenen Initiativen betrachtet werden. Von diesen ist das Shoah-Mahnmal in Mailand (Memoriale della Shoah di Milano) der Fertigstellung am nächsten. Es befindet sich im Inneren des Mailänder
20 | Vgl. die Webseite der Jüdischen Gemeinde Rom, http://www.romaebraica.it/museoebraico/ [26.6.2014]; Comune di Venezia – Assessorato al turismo: Annuario turismo 2012, Venezia 2013, S. 74.
21 | Vgl. für die Besucherzahlen der Risiera di San Sabba die Webseite der Stadt Triest: http:// www.trieste.com/cultura/musei/risierasansabba.html [26.6.2014]; für das ehem. Lager Fossoli ist das entsprechende Dokument der Fondazione Fossoli leider nicht mehr verfügbar; http://www. fondazionefossoli.org/admin/upload/pdf/CS%20Quarantennale%20MMD.pdf [2.11.2013].
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Hauptbahnhofs, wo – auf einer unteren Ebene gelegen, unter den Gleisen für den Personenverkehr – die Verladung der deportierten Juden auf Waggons stattfand. Der Bereich (der auch die Hebevorrichtung umfasst, mit der zur damaligen Zeit die Waggons von einer Ebene auf die andere befördert wurden) wurde in seiner historischen Form restauriert, während unmittelbar daneben neue Räume mit Büros, einer großen Bibliothek und einem Hörsaal entstanden. Die Verladung der Opfer in Güterwagen – dank diesem Motiv konnte dem Mahnmal ein breiter und umfassender Raum gewidmet werden. In Europa gibt es nur sehr wenige Mahnmale für die Shoah, die sich in Bahnhöfen befinden; jenes in Mailand ist vielleicht das beeindruckendste. Neben den Juden, die nach Auschwitz und Bergen-Belsen oder in das italienische Lager Fossoli gebracht wurden, fuhren von hier aus auch die Konvois mit oppositionellen Politikern, die nach Mauthausen und Fossoli transportiert wurden. An der Stiftung, die als Träger das Mahnmal verwaltet, sind lokale Verwaltungseinheiten der Stadt Mailand, einige jüdische Einrichtungen und private Träger beteiligt, jedoch nicht der Staat. Die Idee der Realisierung konkretisierte sich im Jahr 2002, die Stiftung wurde dann 2007 gegründet und im darauffolgenden Jahr wurde der Vertrag mit der staatlichen Eisenbahngesellschaft Ferrovie dello Stato für die Nutzung des Areals unterzeichnet. Der restaurierte Bereich und das Auditorium wurden im Herbst 2013 für das Publikum geöffnet; die Arbeiten an der Bibliothek dauern noch an. Wegen der Intensität und Wirkung des Ortes soll die Ausstellungsgestaltung in sehr zurückgenommener Form ausgeführt werden. Das Projekt in Ferrara wurde 2001 vom damaligen Kulturstaatssekretär Vittorio Sgarbi ins Leben gerufen, ohne dass er sich zuvor mit den führenden Personen des italienischen Judentums oder wissenschaftlichen Shoah-Experten beraten hätte. Sein Ziel war es, außerhalb der Stadt ein großes Mahnmal zu errichten. Zwei Jahre später verabschiedete das Parlament ein Gesetz, dass das Museo Nazionale della Shoah (Nationalmuseum der Shoah) in Ferrara begründete.22 Nachdem plötzlich erneut Diskussionen aufgekommen waren, weil die Stadt Rom eigenständig entschieden hatte, ebenfalls ein Shoah-Museum einrichten zu wollen, kamen die beiden Städte schließlich 2006 überein, dass das Museum in Rom die Geschichte der Shoah darstellen würde – jedoch ohne den Titel ‚national‘, während das Museum in Ferrara den Namen Museo nazionale dell’ebraismo italiano (Nationalmuseum des italienischen Judentums) erhalten sollte. Die unmittelbar darauf aufkommenden Proteste in Ferrara wegen der Streichung der Judenverfolgung aus dem thematischen Programm führten dazu, dass der Name des Museums in Ferrara um ‚e della Shoah‘ (‚und der
22 | Vgl. Gesetz vom 17.4.2003, Nr. 91.
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Shoah‘) ergänzt wurde – eine Entscheidung, die zwei Monate später vom Parlament bestätigt wurde.23 Das Museum hat somit das festgeschriebene Ziel, beide Themen zu behandeln. Dies ist unzweifelhaft keine leichte Aufgabe, sind doch das jüdische Leben und die Judenverfolgung einander entgegengesetzte Themen. Darüber hinaus hat Italien die Besonderheit – einzigartig in Europa – zweitausend Jahre ununterbrochene jüdische Präsenz vorweisen zu können, und es wird nicht einfach sein, diese lange Tradition auf einem notwendigerweise begrenzten Raum darzustellen. Dem Museum in Ferrara steht bereits ein kleineres Gebäude zur Verfügung; die Arbeiten für den ersten Teil des eigentlichen Ausstellungsortes beginnen im Jahr 2014. Das Museum wird von einer Stiftung getragen, an der lokale Verwaltungseinheiten, das Ministero per i beni e delle attività culturali (Ministerium für kulturelle Güter und Aktivitäten) und einige jüdische Organisationen beteiligt sind. Ein Teil des Museums wird absurderweise in einem Gebäude untergebracht sein, das früher ein Gefängnis war. Die Entscheidung, mit der Gründung eines Shoah-Museums in Rom fortzufahren, geht also auf das Jahr 2006 zurück. Als Sitz ist ein Neubau auf einem an den Park der Villa ‚Torlonia‘ angrenzenden Gelände vorgesehen; aber die Arbeiten sind noch nicht in Auftrag gegeben worden und gelegentlich schlägt jemand vor, es anderswo in bestehenden, hierfür umzustrukturierenden Gebäuden einzurichten. Im Augenblick verfügt das Museum über einen provisorischen Ausstellungsort im Zentrum der Stadt. An der Stiftung als Träger des Museums sind jüdische Organisationen und lokale Verwaltungseinheiten beteiligt. Die Ausstellung wird die Geschichte der Shoah in Rom und Italien dokumentieren und in den gesamteuropäischen Kontext setzen. Sie wird stark didaktisch ausgerichtet sein. Die Einsetzung der wissenschafltichen Museumsleitung sorgt dafür, dass das Museum, obwohl es de facto noch gar nicht existiert, bereits eine rege didaktische und wissenschaftliche Aktivität entfaltet, u.a. mit Wechselausstellungen. Obwohl es keine institutionelle Koordinierung gegeben hat, suggerieren die räumliche Anordnung und inhaltliche Ausrichtung dieser drei Museen bzw. Mahnmale eine ausstellungsgestalterische Trennung der Geschichte der Judenverfolgung: Ferrara scheint darauf ausgerichtet, hauptsächlich das Vorgehen des faschistischen Regimes zwischen 1938 und 1943 und der Italienischen Sozialrepublik von 1943 bis 1945 hervorzuheben; Rom hingegen die Härte der NS-Polizeiaktionen (verantwortlich für die Hauptaktionen gegen die römischen Juden) und den europäischen Kontext; Mailand den spezifischen Aspekt der Deportation. Alle diese didaktischen und museologischen Initiativen zur Shoah müssen heute dieselben Herausforderungen meistern – wenn auch auf unterschiedli23 | Vgl. Gesetz vom 27.12.2006, Nr. 296, Art. 1/1144.
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che Weise: Sie müssen den Wert des Wissens vermitteln und dafür sorgen, dass sich aus diesem auch Bewusstsein entwickelt; sie müssen Ansätze fördern, die auf Erklärung und Deutung ausgerichtet sind und nicht auf Verurteilung; sie müssen das wechselhafte Schicksal der einzelnen Opfer herausstellen, da darüber der Zugang zur Geschichte insgesamt hergestellt werden kann; sie müssen die technische Entwicklung in den Dienst des Wissenserwerbs stellen und nicht umgekehrt. Ich hoffe, dass diese Herausforderungen angenommen und gemeistert werden können. Zum Schluss soll nicht übergangen werden, dass Initiativen zur Vermittlung und Speicherung historischen Wissens im digitalen Bereich zunehmend an Bedeutung gewinnen. Die zwei wichtigsten aktuellen Projekte gehen auf die Stiftung CDEC zurück: die Ausstellung der Dokumente zur Judenverfolgung in Italien in den Jahren 1938-1945 (www.museoshoah.it) und das Denkmal für die Opfer der Shoah in Italien, von denen jedes einzeln aufgeführt wird unter Angabe der Personalien und – wenn möglich – einem Foto (www. nomidellashoah.it). Beide Projekte weisen deutlich innovative Züge auf (zum Zeitpunkt ihres Entstehens). Aber die digitalen Möglichkeiten werden kontinuierlich wachsen und in den kommenden Jahren wird und muss es möglich sein, entsprechend ausgerichtete Projekte auf dem neuesten technischen Niveau zu realisieren. Übersetzung: Maike Heber
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Offen rassistisch? Die ‚arischen‘ Italiener und die Rassengesetze Mario Avagliano
H INTERGRUND : D IE ITALIENISCHEN R ASSENGESETZE „Es ist an der Zeit, dass die Italiener sich offen als Rassisten bekennen“. So lautete der siebte Punkt der Schrift Il fascismo e i problemi della razza (Der Faschismus und das Rassenproblem), auch bekannt als Rassenmanifest oder als Manifest der rassistischen Wissenschaftler, das im Juli 1938 offiziell die antisemitische Wende des faschistischen Italien einläutete. Das umstrittene Manifest, das als das Werk von zehn Wissenschaftlern unter der Führung des Ministeriums für Volkskultur vorgestellt wurde, widmete sich im neunten seiner zehn Punkte den Juden und erklärte kategorisch, dass diese „nicht der italienischen Rasse angehören“.1 In den 1930er Jahren lebte eine gut integrierte Gemeinschaft von ca. 40.000-50.000 Juden in Italien, die sich mit Eifer und Leidenschaft an den bedeutenden nationalen Ereignissen – vom Risorgimento bis zum Ersten Weltkrieg – beteiligt hatten und sich dann massenhaft dem Faschismus anschlossen, so wie die meisten Italiener. Nach der Annexion Äthiopiens und dem Ausruf des Imperiums (Mai 1936) erklärte Benito Mussolini, Italien müsse ein ‚strenges Rassenbewusstsein‘ annehmen und politisch eine ‚klare Trennung‘ zwischen der überlegenen italienischen Rasse und den anderen Rassen vornehmen. Die ersten rassistischen Maßnahmen trafen die dunkelhäutige Bevölkerung in den Kolonien. An die Stelle des ‚afrikanischen Rassismus‘ trat sehr bald der Antisemitismus. Im Laufe des Jahres 1937 läutete die faschis1 | Vgl. Manifesto della razza, in: La difesa della razza I, 1/1938, S. 2, im Online-Archiv der Fondazione Memoria della Deportazione (Stiftung Erinnerung an die Deportation) der Associazione nazionale ex deportati politici nei campi nazisti (ANED, Nationale Vereinigung der ehemaligen, in NS-Lager deportierten politischen Gefangenen): www.deportati.it/archivio/ manifesto_razza.html [26.8.2014].
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tische Regierung eine aggressive Propagandakampagne gegen die Juden ein, an der sich vor allem die nationalen und regionalen Zeitungen sowie ganze Scharen bereits bekannter oder aufstrebender Intellektueller beteiligten. Viele von ihnen konnten in der Nachkriegszeit eine herausragende gesellschaftliche Stellung einnehmen. Zwischen September und November 1938 ging das Regime von Worten zu Taten über, indem es der italienischen Rechtsordnung mit den sogenannten Rassengesetzen (genauer: rassistischen Gesetzen) das Gift des Antisemitismus einflößte. Von da an wurden die Juden durch unzählige Gesetze, Dekrete, Verordnungen und Rundschreiben – ca. 180 Maßnahmen in fünf Jahren – zum bürgerlichen Tod verurteilt und ihrer rechtlichen Gleichstellung beraubt, als Paria der italienischen Gesellschaft.2 Die ersten diskriminierenden Vorschriften betrafen die Schule. Mit der Königlichen Gesetzesverordnung Nr. 1390 vom 5. September 1938 namens Provvedimenti per la difesa della razza nella scuola italiana (Maßnahmen zum Schutz der Rasse in der italienischen Schule) wurden alle jüdischen Lehrer und Schüler von sämtlichen Schulformen und Bildungsstufen der staatlichen Schule ausgeschlossen (erst später durften jüdische Kinder die von den jüdischen Gemeinden gegründeten Schulen besuchen, in denen die suspendierten Lehrer eingesetzt wurden). Selbst Lehrbücher und Landkarten jüdischer Autoren wurden vielfach verbannt. Die Königliche Gesetzesverordnung Nr. 1381 vom 7. September 1938 Provvedimenti nei confronti degli ebrei stranieri (Maßnahmen gegenüber ausländischen Juden) regelte dagegen das Verbot eines festen Wohnsitzes ausländischer Juden in Italien, darüber hinaus den Entzug der italienischen Staatsbürgerschaft für diejenigen, die sie nach dem 1. Januar 1919 erhalten hatten, und deren Abschiebung innerhalb von sechs Monaten (wegen organisatorischer und bürokratischer Schwierigkeiten wurde diese Maßnahme allerdings nicht immer umgesetzt). Die Erschütterung darüber war so groß, dass viele Juden ins Ausland flohen und einige sogar den Freitod wählten. In der Nacht vom 6. auf den 7. Oktober 1938 erließ der Große Faschistische Rat die Dichiarazione sulla razza (Erklärung über die Rasse), die verheerende Auswirkungen für die Juden hatte, da sie unter anderem das Verbot von 2 | Für einen Überblick über die Judenverfolgung in Italien vgl. insbesondere: Renzo De Felice: Storia degli ebrei italiani sotto il fascismo, Torino 1988; Michele Sarfatti: Die Juden im faschistischen Italien. Geschichte, Identität, Verfolgung, Berlin 2014 [ital. Original 2007 erschienen]; Enzo Collotti: Il fascismo e gli ebrei. Le leggi razziali in Italia, Roma/Bari 2004; Marie-Anne Matard-Bonucci: L’Italia fascista e la persecuzione degli ebrei, Bologna 2008 [im frz. Original 2007 erschienen]; Mario Avagliano und Marco Palmieri: Gli ebrei sotto la persecuzione in Italia. Diari e lettere 1938-1945, Torino 2011, die die Verfolgung aus Sicht der Opfer mithilfe zeitgenössischer Dokumente analysieren. Die Zahl der erlassenen Maßnahmen ist dem Bericht der Commissione per la ricostruzione delle vicende che hanno caratterizzato le attività di acquisizione dei beni ebraici da parte di organismi pubblici e privati von 2001 entnommen.
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‚Mischehen’, das Verbot, Militärdienst zu leisten, den Ausschluss von öffentlichen Ämtern, eine gesonderte Reglementierung des Berufszugangs und das Verbot, Betriebe und Grundstücke einer bestimmten Größe zu besitzen bzw. zu verwalten, ankündigte. Diese Bestimmungen wurden erstmals im Gesetzesdekret Nr. 1728 vom 17. November 1938 geregelt und traten am 5. Januar 1939 als Gesetz mit dem Namen Provvedimenti per la difesa della razza italiana (Maßnahmen zum Schutz der italienischen Rasse) in Kraft. Diese schrecklichen Verfolgungsmaßnahmen wurden im kollektiven Gedächtnis und von einem Teil der Geschichtsschreibung lange Zeit lediglich als ein dunkles Kapitel wahrgenommen, das die ‚arischen‘ Italiener passiv erlitten hätten, ohne davon überzeugt und selbst daran beteiligt gewesen zu sein. Auch, weil die Verantwortlichkeit derart verschleiert wurde (eine Verschleierung, an der die politische Debatte der Nachkriegszeit durchaus mitgewirkt hat), waren die Rassengesetze – zumindest bis 1988, dem 50. Jahrestag ihrer Verabschiedung3 – fast vollständig aus der öffentlichen Erinnerung gestrichen, wurden von den Historikern vernachlässigt (mit Ausnahme von Renzo De Felice und wenigen anderen) und von den Schulbüchern ignoriert, obwohl sie in einigen Punkten zeitweise noch schikanöser als die deutschen Rassengesetze waren.4 Dieser Hang Italiens und des italienischen Volkes, sich selbst freizusprechen, hat im allgemeinen Rahmen der ‚Entfaschisierung‘ des Mussolini-Regimes durch seine Darstellung als „Operetten-Diktatur“5 zur fälschlichen Schlussfolgerung geführt, dass die Rassengesetze angesichts der ablehnenden Haltung der meisten Italiener nie wirklich oder zumindest nicht gründlich und wirksam angewandt worden seien, genauso wenig wie den nichtjüdischen Italienern eine Schuld an der dramatischen Wucht der Shoah auf der Halbinsel zuzuschreiben sei. Die Rassenverfolgung ist somit gewissermaßen als Inszenierung betrachtet worden, vergleichbar mit anderen, eher banalen als bedeutungsvollen Einfällen des Faschismus, wie der Grußformel Saluto al duce! – A noi!, der Abschaffung des höflichen Anredepronomens Lei und des Händeschüttelns, der 3 | Auf dieses Jahr datieren beispielsweise die von Michele Sarfatti herausgegebene Sonderausgabe von La rassegna mensile di Israel: 1938. Le leggi contro gli ebrei LIV, 1–2/1988, S. 49–167 sowie das Symposium zur antijüdischen Gesetzgebung in Italien und Europa, dessen Tagungsband 1989 von der italienischen Abgeordnetenkammer herausgegeben wurde: Camera dei deputati (Hg.): La legislazione antiebraica in Italia e in Europa. Atti del Convegno nel cinquantenario delle Leggi razziali (Roma 17-18 ottobre 1988), Roma 1989. 4 | Vgl. dazu Sarfatti: Gli ebrei nell’Italia fascista, S. 156 und Valerio Di Porto: Le leggi della vergogna. Norme contro gli ebrei in Italia e in Germania, Firenze 1999. 5 | Der Begriff stammt von Indro Montanelli: Il buonuomo Mussolini, Milano 1947, S. 105. Zum Phänomen der ‚Entfaschisierung‘ des Faschismus siehe Emilio Gentile: Fascismo. Storia e interpretazione, Roma/Bari 2002, S. VIII und Ders.: La via italiana al totalitarismo. Il partito e lo Stato nel regime fascista, Roma 2008.
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Einführung des Stechschritts oder der Lächerlichkeit dickbäuchiger Parteigrößen beim Versuch, durch einen Feuerring zu springen. Dagegen ist die offene, weitverbreitete Akzeptanz von Rassismus und Antisemitismus – für die es, wie noch gezeigt wird, umfangreiche Belege gibt – unterschätzt und auf die harmloseren und weniger kompromittierenden Deutungskategorien der Unterwürfigkeit und der Angst vor Vergeltungsmaßnahmen zurückgeführt worden. Geschürt wurde diese Tendenz zur Verdrängung sicherlich vom ungeheuren Ausmaß der Geschehnisse während des Zweiten Weltkriegs, mit Millionen von Toten in den nationalsozialistischen Vernichtungslagern, darunter ca. 8.000 aus Italien deportierte Juden, von denen nur 837 überlebten.6 Die entsetzliche Tragödie der Shoah sorgte dafür, dass die Erinnerung daran lange Zeit im Vordergrund stand, was dazu beitrug, einen Schleier des Vergessens über die Geschehnisse der vorangegangenen Jahre zu legen, auch bei den Opfern selbst. In der Erinnerung hat also eine Rückkoppelung stattgefunden oder, schlimmer noch, ein Kurzschluss. Durch die großzügige Hilfe vieler Italiener, die zahlreiche Juden vor der Deportation bewahrt hat und durch ca. 500 Ehrungen als ‚Gerechte unter den Völkern‘ (bei einer Gesamtzahl von über 23.000 weltweit) von der Gedenkstätte Yad Vashem anerkannt wurde, ist vergessen worden, dass etliche andere Italiener ein ganz anderes Verhalten während der deutschen Besatzung und auch vor der eigentlichen Verfolgung gezeigt hatten, als Italien „das einzige europäische Land neben dem NS-Staat war, das noch vor Ausbruch des Krieges biologisch begründete Rassengesetze erlassen hatte“7, wie Anna Foa feststellt. Die verfolgten Juden selbst haben sich jahrzehntelang in Schweigen gehüllt, getrieben von der „therapeutischen Notwendigkeit“8 des Vergessens und in der bitteren Gewissheit, dass es fester Wille der Führungsklassen war, ein neues Kapitel anzufangen und dieses kollektive Drama im Namen der nationalen Versöhnung zu vergessen (zusammen mit anderen unbequemen Ereignissen wie der politisch motivierten Deportation, der Militärinternierung und der Kriegsgefangenschaft, der Zwangsarbeit, den Foibe-Massakern und den politischen Racheakten der Nachkriegszeit). 6 | Zu den Zahlen der aus Italien deportierten Juden siehe Liliana Picciotto: Il libro della memoria. Gli ebrei deportati dall‘Italia 1943-1945, Milano 2002 [1991]. 7 | Anna Foa: Quando i cittadini tornarono paria, in: Marina Beer, Anna Foa und Isabella Iannuzzi (Hg.): Leggi del 1938 e cultura del razzismo. Storia, memoria, rimozione, Roma 2010, S. 125-131, hier: S. 126. Zu den ‚Gerechten unter den Völkern‘: Israel Gutman, Liliana Picciotto und Bracha Rivlin (Hg.): I Giusti d‘Italia. I non ebrei che salvarono gli ebrei. 1943-1945, Milano 2006; Ugo und Silvia Pacifici Noja: Il cacciatore di giusti: storie di non ebrei che salvarono i figli di Israele dalla Shoah, Cantalupa Torinese 2010; Massimiliano Tenconi: Silenziosa guerra degli italiani per sottrarre gli ebrei ai nazi, in: Storia in network 89, 3/2004. 8 | Georges Bensoussan: L’eredità di Auschwitz, Torino 2002, S. 23 [frz. Original 1998 erschienen].
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Die Summe dieser Faktoren hat dazu beigetragen, dass den ‚anständigen‘ Italienern (italiani brava gente) von Amts wegen zugesprochen wurde, die Rassengesetze im Allgemeinen nicht unterstützt und sie sogar kritisiert zu haben. Wie David Bidussa feststellt, entstand im Ergebnis „eine merkwürdige Dyskrasie zwischen einer Geschichtsschreibung, die dazu neigt, die Voraussetzungen und Umstände der Rassengesetze zu verharmlosen und einer ‚Mikrogeschichte‘“, die dagegen von einem „anderen Land“ erzählt, das sich „aus Denunzierung, Gleichgültigkeit, Egoismus und Zynismus zusammensetzt“.9 Eine Dyskrasie, die dem Ziel, „den ‚guten Italiener‘ als die Regel und das ‚andere Land‘ als die Ausnahme“ glaubhaft zu machen, wahrscheinlich „dienlich“ ist.10 Dem zugrunde liegen „hartnäckige stereotype Vorstellungen“, die als Mittel dienen, „eine ‚positive‘ nationale Identität zu erschaffen und nach unten durchzudrücken“11, wie Robert S. C. Gordon anmerkt. Einen idealen Nährboden für diese Lesart der Geschichte hat der klare Freispruch für die Italiener geliefert, den Renzo De Felice 1961 in seiner Storia degli ebrei italiani sotto il fascismo formulierte und der von den meisten Historikern lange Zeit geteilt wurde. Nach dem aus Rieti stammenden Historiker De Felice – der dem Thema nur wenige der insgesamt über 600 Seiten gewidmet hat12 – schlossen sich viele der Spitzenvertreter des faschistischen Regimes und der italienischen Gesellschaft „aus Feigheit oder Opportunismus“ der antijüdischen Kampagne an, während die Zustimmung weiter unten auf der sozialen Leiter zunehmend abnahm und „die antisemitischen Maßnahmen trotz der massiven und beweihräuchernden Vorbereitung durch die Presse und die direkte Intervention der National-Faschistischen Partei (PNF) bei der Mehrheit der Italiener keine Sympathien hervorriefen“.13
9 | David Bidussa: I caratteri „propri“ dell’antisemitismo italiano, in: Centro Furio Jesi (Hg.): La menzogna della razza. Documenti e immagini del razzismo e dell’antisemitismo fascisti, Bologna 1999, S.113-124, hier: S. 113. 10 | Ebd. 11 | Robert S. C Gordon: Scolpitelo nei cuori. L’olocausto nella cultura italiana (1944-2010), Torino 2013, S. 215 [engl. Original 2012 erschienen].
12 | De Felice: Storia degli ebrei italiani, S. 309-328. Auf die Frage kommt De Felice 1981 in: Mussolini il duce. Lo stato totalitario (1936-1940), Torino 1981, S. 247-248 und S. 499 zurück und betont, dass „die antisemitische Wende von 1938 [...] von der großen Mehrheit der Italiener und selbst von den Faschisten mit Skepsis und sehr häufig mit heftiger Abneigung“ aufgenommen wurde und dass „die antijüdischen Maßnahmen bei der großen Mehrheit der Italiener keinerlei Zustimmung“ erfuhren.
13 | De Felice: Storia degli ebrei italiani, S. 309.
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Im Gegenteil, „gerade bei der Rassenkampagne schlug die faschistische Propaganda erstmalig fehl und zum ersten Mal begannen viele Italiener, die bis dahin Faschisten oder, wenn man so will, Mussolini-Anhänger gewesen waren, aber sicherlich keine Antifaschisten, den Faschismus und Mussolini selbst mit anderen Augen zu sehen“.14
Als Beleg führt De Felice einige Beispiele an, die er für „mehr als ausreichend“ hält, um den „wahren Geisteszustand der italienischen Öffentlichkeit zu belegen“. So zum Beispiel die in der Nachkriegszeit geäußerte Ansicht des Chefs der faschistischen Geheimpolizei OVRA, Guido Leto: „das Rassenproblem war […] für die Gesamtheit des italienischen Volkes wahrhaft nicht vorhanden“15; einige in der damaligen Presse abgedruckte Briefe, in denen Mitleid gegenüber Juden zum Ausdruck kommt; fünf Geheimberichte von lokalen Informanten des PNF (aus Turin, Mailand und Triest). Doch ist es wirklich so gewesen? Zur Frage, inwieweit der Faschismus die Judenverfolgung und die Herausbildung einer Rassenthematik in Italien selbst verschuldet hat, inwieweit seine Entwicklung autochthon und unabhängig vom „Erlösungsantisemitismus“16 nationalsozialistischen Ursprungs war, haben sich in den vergangenen Jahren viele Historiker in groß angelegten Untersuchungen geäußert. Dabei stand eine genauere Prüfung der nicht nebensächlichen Frage nach dem Einverständnis der Bevölkerung – also der ‚arischen‘ Italiener – mit der rassistischen Politik des Regimes noch aus. Um ein vollständigeres Bild von der Einstellung der Bevölkerung gegenüber der Verfolgung ihrer jüdischen Mitbürger zu vermitteln, habe ich zusammen mit meinem Kollegen Marco Palmieri ein sehr umfangreiches Quellenkorpus (aus Tagebüchern, Briefen, Behördenkorrespondenz und Berichten von Informanten der politischen Polizei, des Ministeriums für Volkskultur und des PNF) aus den Jahren 1938 bis 1943 analysiert. Daraus ist ein Buch entstanden: Di pura razza italiana. Gli italiani ‚ariani‘ di fronte alle leggi razziali.17
14 | Ebd. 15 | Ebd., S. 311. 16 | Der Begriff stammt von Saul Friedländer: Das Dritte Reich und die Juden, 2 Bde., München 1998-2006 [engl. Original 1997 erschienen].
17 | Vgl. Mario Avagliano und Marco Palmieri: Di pura razza italiana. Gli italiani ‚ariani‘ di fronte alle leggi razziali, Milano 2013.
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M ETHODE UND Q UELLEN Die Einstellung der Italiener während der Zeit des Faschismus zu analysieren, ist ein schwieriges Unterfangen, auch wenn dabei nur ein spezifisches Thema wie die Rassengesetze untersucht wird. Die berücksichtigten Ereignisse und herangezogenen Quellen müssen dabei unter Abzug von zumindest drei entscheidenden Faktoren betrachtet werden: die vom Regime eingesetzten Mechanismen zur Kontrolle und zur Unterdrückung abweichender Meinungen; die geographischen Differenzen, die mit der unterschiedlichen Verteilung der vorrangig in Mittel- und Norditalien sowie in den Ballungsräumen lebenden Juden verbunden sind, und der unterschiedliche Politisierungsgrad der Bevölkerung; der relativ lange Zeitraum der Verfolgung, der überlagert wird von anderen emotional belastenden Ereignissen wie dem Krieg. Das faschistische Regime hatte sich mit sehr wirksamen Mitteln und Wegen ausgerüstet, um jede Form abweichender Meinung im Keim zu ersticken. Zu diesem Zweck gestattete die Diktatur nur ‚autorisierte‘ Meinungen und mischte sich massiv und engmaschig in das Leben der Menschen ein, um Unterstützung und Zustimmung für die eigenen Entscheidungen einzuholen. Der öffentliche Raum, in dem andersartige Meinungen ausgedrückt oder Abstand von der offiziellen Linie genommen werden konnte, war somit begrenzt. Daher ist es nicht leicht, zu bestimmen, inwieweit das von der Propaganda großzügig verteilte antisemitische Gift tatsächlich in den Blutkreislauf der Italiener übergegangen war und inwieweit Schweigen und Mitwisserschaft dagegen einfach von der Sorge um ein geruhsames Leben bestimmt waren. Um sich eine möglichst klare und realistische Vorstellung davon zu machen, ist es also notwendig, neben den öffentlichen Reaktionen auch ein anderes Element zu untersuchen: die weite, vielgestaltige und – vor allem aufgrund des Mangels an brauchbaren Quellen – flüchtige Welt der persönlichen Meinungen, die im Privaten und Verborgenen Ausdruck finden. Berücksichtigt man den öffentlichen und privaten Raum der Meinungen, kann die Ausgangsthese nur sein, dass es unmöglich ist zu verallgemeinern, die Italiener hätten alle auf dieselbe, einheitliche Weise auf die Rassengesetze und die Judenverfolgung reagiert. Aus diesem Grund haben wir uns einer breiten Palette an Quellen bedient. Diese wurden stets untereinander abgeglichen, so dass, auch wenn die Informationen uneinheitlich waren, Aspekte und Zwischentöne der öffentlich und privat geäußerten Reaktionen erfasst werden konnten, und ein klares und möglichst wahrheitsgetreues Bild der öffentlichen Gesinnung der damaligen Zeit entsteht.18 18 | Aus komparativer Sicht sind folgende Studien zu Deutschland zu erwähnen: David Bankier: The Germans and the Final Solution. Public Opinion Under Nazism, Oxford/Cambridge, Mass. 1992 [dt.: Die öffentliche Meinung im Hitler-Staat. Die „Endlösung“ und die Deutschen, Berlin
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Für die Untersuchung wurde auf unterschiedliche Bestände des Zentralen Staatsarchivs in Rom zurückgegriffen. Darin finden sich u.a. Meldungen der Polizeipräsidien und der Präfekturen zu rassistischen Vorfällen und Vermerke von Informanten der politischen Polizei, des PNF und des Ministeriums für Volkskultur. In den Informantenberichten wurden tagtäglich Ereignisse und Stimmungen in der Bevölkerung und in der Gesellschaft als Ganzem registriert, mit ausführlichen Bemerkungen zu spezifischen Bereichen und Berufsgruppen, wie jener der Händler und der Industriellen. Die Spitzel des Regimes waren überall und berichteten über alles Mögliche: über Vorfälle, deren Augenzeuge sie wurden, über Gespräche in der Bar, die sie bei vorgetäuschter Zeitungslektüre heimlich belauschten, über Nachrichten aus dritter Hand, über Meinungen, die in gewissen Kreisen und Umfeldern mehr oder weniger verbreitet waren, über Reaktionen auf Zeitungsartikel. Die Hinweise stammen aus ganz Italien, vorwiegend aus den großen Städten (Rom und Mailand, aber auch Turin, Venedig, Florenz, Genua) und aus Mittel- und Norditalien (aufgrund der dort höheren jüdischen Präsenz, aber auch, weil das Regime die stärker politisierten Gebiete intensiver kontrollierte). Zuweilen sind es ausführliche und mehrteilige Berichte, häufiger aber sind es Vermerke über einzelne (und spontane, wenn man sie nicht in ihrer Gesamtheit betrachtet) Ereignisse und Episoden. Es handelt sich um Quellen, die Fehler, Auslassungen, Hervorhebungen, Ausschmückungen, persönlichen Meinungen und Interessen ihrer Verfasser aufweisen, deren Persönlichkeit natürlich nicht unbedeutend ist. Auch können bewusste Fälschungen und Betrug beim Verfassen der Meldungen nicht ausgeschlossen werden. Um diesen Aspekt auszugleichen und darüber hinaus auch die individuellen Geschichten in den Blick zu nehmen, haben wir aus den Dokumenten und dem Schriftverkehr der Behörden sowie aus zeitgenössischen Schriften wie Tagebüchern und Briefen normaler Bürger (darunter einige zensierte und somit nie bei den Adressaten angekommene Seiten) und Leserbriefen an Zeitungen Angaben aus erster Hand zusammengetragen. Teilweise haben wir uns auch der Memoirenliteratur und rückblickender Darstellungen bedient, vor allem, um die zeitgenössischen Quellen zu ergänzen und kritisch zu vergleichen, wobei die Besonderheit dieser Art Zeugnisse – die Gefahr der rückblickenden Verzerrung – stets berücksichtigt wurde. Um die Standpunkte der damaligen Vertreter der politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Führungsklasse und der Dissidenten zu analysieren, haben wir ihre Tagebücher, ihren Briefverkehr, ihre Bücher und die in der offiziellen oder illegalen Presse publizierten Artikel untersucht. Schließlich haben wir von Fall zu Fall bestimmt, ob es sich um eine öffentliche, an die Masse 1995] und Ders. (Hg.): Probing the Depths of German Antisemitism. German Society and the Persecution of the Jews 1933-1941, New York 2000.
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gerichtete Reaktion handelte (Artikel, Publikationen, Vorträge, Flugblätter, Graffiti, Leserbriefe), um eine öffentliche, aber nur an wenige gerichtete Reaktion (an den ‚Duce‘ oder an Behörden gerichtete, anonyme Briefe; Handlungen, Gesten oder Aussagen im kleinen Kreis, die in Zusammenhang mit Verfolgung oder Solidarität standen) oder eine private Reaktion (persönliche Tagebücher, Briefe an Freunde oder Verwandte, anonyme persönliche Briefe, Handlungen, Gesten oder Aussagen im Privaten, die in Zusammenhang mit Verfolgung oder Solidarität standen), wobei zwischen zeitgenössischen dokumentarischen Quellen und Memoiren/Zeugnissen der Nachkriegszeit unterschieden wurde. Die Ergebnisse sind im Folgenden zusammengefasst.
Z USTIMMUNG , G LEICHGÜLTIGKEIT UND PRIVATE S OLIDARITÄT Die Prüfung des breiten Spektrums an Quellen, die für die Untersuchung herangezogen wurden, hat ergeben, dass Rassismus und Antisemitismus in der italienischen Geschichte keine Fremdkörper waren, sondern Ausdruck einer Allianz übergreifender Kräfte, Erfahrungen, Ideologien, Interessen und Vorteile. Weder als die Rassengesetze eingeführt wurden noch während der gesamten Zeit ihrer Anwendung gab es bedeutende bzw. größere Vorfälle von Rebellion oder Ablehnung. Die vorwiegende Haltung bei der Mehrheit der Bevölkerung war freilich die der Gleichgültigkeit (die sogenannte „Abwesenheitsliste“, von der Gabriele Turi spricht19). Besonders anfangs rief das Thema der Rassengesetze weder große Gefühlsregungen noch starke Ablehnung hervor, wie auch aus den Briefen an Mussolini hervorgeht – dem Gefühlsthermometer des italienischen Volkes. Die Untersuchung der Akten aus der Segreteria Particolare del Duce, dem Sondersekretariat Mussolinis, die sich im Zentralen Staatsarchiv in Rom befinden, zeigt, dass unter den Tausenden positiven oder negativen Briefen zu den verschiedensten Themen, die zwischen Juli 1938 und 1939 von ‚arischen‘ Italienern an Mussolini gerichtet wurden, nur einige Dutzend, und zumeist ohne Angabe des Absenders, die Rassenpolitik des Regimes betrafen (wohingegen es Hunderte von Briefen vonseiten der Juden gab, wie Paola Frandini ermittelt hat 20). Unter diesen äußerte nur ein Teil Kritik gegenüber dem ‚Duce‘, in einigen Fällen auch in aggressiver Form; andere äußerten dagegen explizit ihr Einverständnis mit den Verfolgungsmaßnahmen. In den Folgejahren
19 | Gabriele Turi: L’Università di Firenze e la persecuzione razziale, in: Italia contemporanea 219, 2/2000, S. 227-248, hier: S. 239.
20 | Paola Frandini: Ebreo, tu non esisti! Le vittime delle Leggi razziali scrivono a Mussolini, San Cesario di Lecce 2007.
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nahm das Phänomen der anonymen Briefe zu, aber mit gegenteiligem Zweck, nämlich insbesondere als Denunziation oder Anprangerung. Das von der Mehrheit der Italiener praktizierte ‚nichts Sehen, nichts Hören, nichts Sagen‘ lässt sich jedoch nicht vereinfachend als Duckmäuserei erklären. Denn im entscheidenden Moment verwandelte es sich de facto in Mitwisserschaft und Einwilligung, indem es dazu beitrug, das Ziel der Verfolgung zu erreichen, nämlich Isolierung, Boykott und Ausgrenzung der Juden gegenüber dem Rest der Gesellschaft. „Zusammengefasst kann man sagen,“ schreibt Michele Sarfatti, „dass der aktive, von einer Minderheit der Bevölkerung praktizierte Antisemitismus von einer Woge der passiven Gleichgültigkeit unterstützt wurde, die viel verbreiteter war als der aktive Antisemitismus, aber ihn de facto immer mehr begünstigte. Und so konnte das faschistische Regime den durchschnittlichen Antisemitismuswert der Nationalgesellschaft mit jedem Tag steigern“. 21
Schweigen war im Jahr 1938 gleichbedeutend damit, Komplize des Regimes zu sein, da das Schweigen bzw. die „moralische Feigheit“22 einerseits die Verfolger bestärkte, indem es ihr Tun legitimierte, und andererseits die Verfolgten isolierte, die bei ihren Mitbürgern weder auf Solidarität noch auf Empörung stießen. Und „auch wenn es bei denjenigen, die durch die Rassengesetze zutiefst beunruhigt waren, nicht an bemerkenswerten Bekundungen der Solidarität mangelte, war doch kaum jemand zu finden, der es ablehnte, sich mit dem Staat zu identifizieren, der diese Gesetze erlassen hatte: ein Beweis für die Verführungskraft, die das faschistische Regime auf allen Ebenen der italienischen Gesellschaft einzusetzen wusste“ 23,
wie Alberto Cavaglion betont. Zudem war die Gleichgültigkeit nicht immer neutral: Ein Teil der Bevölkerung, der sich mit den Rassengesetzen abfand, tat dies mit dem Hintergedanken ‚sie werden ihre Gründe dafür gehabt haben‘, denn sie waren dem unaufhörlich propagierten Dogma der Unfehlbarkeit des ‚Duce‘ verfallen. Diejenigen, die versuchten, sich herauszureden, wurden durch die Farce der so genannten discriminazione begünstigt – einem Sonderstatus, der es besonders ‚verdienstvollen‘ Juden ermöglichte, von der antijüdischen Gesetzgebung ausgenommen zu werden. Durch sie konnten 21 | Michele Sarfatti: La Shoah in Italia, Torino 2005, S. 97. 22 | Aldo Zargani: Für Violine solo. Meine Kindheit im Diesseits 1938-1945, Frankfurt a.M., 1998, S. 105 [im ital. Original 1997 erschienen].
23 | Alberto Cavaglion: La cultura italiana del dopoguerra, in: Roberto Chiarini (Hg.): L’intellettuale antisemita, Venezia 2008, S. 117-146, hier: S. 132.
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viele Italiener die Ver folgung leichter akzeptieren, denn sie waren der Überzeugung, dass immerhin die Rechte der ‚anständigen Italiener‘ und der guten Faschisten gewahrt würden. Hinweise auf diese Art moralischen Freifahrtschein sind sehr häufig in den Berichten der Informanten zu finden, in denen sich Beschwerden über die „unglaublichen Hürden im Labyrinth der unterschiedlichen bürokratischen Schrit te“24 sowie über die Korruption vieler hoher Parteifunktionäre und prominenter Faschisten finden, die häufig einen „schmutzigen Schacher“ trieben, wie Alessandro Galante Garrone schreibt.25 Anderen dagegen gelang es, mit ruhigem Gewissen wegzuschauen, weil sie sich einredeten, dass auf die hochtrabenden Ankündigungen und das erste Strohfeuer der Verfolgung – die nach einer verbreiteten Ansicht vor allem einen kleinen Kreis von Juden mit übermäßig machtvollen Positionen in Wirtschaft und Gesellschaft treffen sollte – eine entspanntere Phase „im Hinblick auf das sogenannte Rassenproblem in Italien“ folgen würde, „das es zuvor nicht gegeben hat und das es in Italien nie hätte geben sollen“26, wie es in einem Polizeibericht heißt. Solidaritätsbekundungen gab es nur in eingeschränktem Maß: Einige erwarben Güter, die beschlagnahmt werden sollten, zu Marktpreisen, ohne diese Situation für eigene Zwecke auszunutzen, andere fungierten als Strohmann, um es jüdischen Eigentümern zu ermöglichen, ihre Betriebe und Geschäfte nicht zu verlieren, wieder andere schrieben Briefe an den König, den ‚Duce‘ und einflussreiche Regimevertreter, um sie zu bitten, jüdischen Freunden oder Bekannten irgendeine Form der Gnade oder Milderung der Verfolgung zukommen zu lassen. Im persönlichen und privaten Umfeld, weitestgehend geschützt vor indiskreten Blicken, wurden zum Teil tröstende Worte an Juden gerichtet – was als „warmes und ehrliches Zeichen der Solidarität“27 und als „menschliche Gerechtigkeit“28 empfunden wurde, wie man in den Briefen einiger Verfolgter lesen kann. Ein anderes Phänomen, das es wahrscheinlich gab, aber das in seinem echten Ausmaß schwer nachzuweisen ist, war das der in der Öffentlichkeit und in offiziellen Dokumenten zur Schau gestellten, betonten Zustimmung zu Antisemitismus und Verfolgung, die im Privaten jedoch im Kontrast stand zu kleinen Gesten der Unterstützung und des Beistands für die Opfer („Ihr könnt ganz beruhigt sein“, schrieb beispielsweise der Bürgermeister ei24 | ACS, Polizia politica, fasc. 2, Roma, 27.4.1939. 25 | Alessandro Galante Garrone: Ricordi e riflessioni di un magistrato, in: Michele Sarfatti (Hg.): 1938. Le leggi contro gli ebrei, S. 19-35, hier: S. 34.
26 | ACS, Polizia politica, fasc. 1, Milano, 12.2.1939. 27 | ACS, Casellario Politico Centrale, b. 2891, fasc. Luzzatto Gino fu Giuseppe. 28 | Brief von Max Mayer an seinen antifaschistischen Freund Michele Cifarelli, abgedruckt in: Giuseppina Boccasile und Vito Antonio Leuzzi (Hg.): Benvenuto Max. Ebrei e antifascisti in Puglia, Bari 2008, S. 31.
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ner Gemeinde im Molise, in der ein Internierungslager errichtet werden sollte, an den Polizeipräsidenten von Campobasso, „wir wissen schon, mit wem wir es zu tun haben, mit den Juden! Verfluchte Rasse“, was ihn nicht daran hinderte, herzergreifend um ärztliche Untersuchungen, Genehmigungen und Verlegungen für sie zu bitten29). Seltener dagegen sind die Fälle öffentlichen Protests und explizit bekundeter Missbilligung. Norberto Bobbio berichtet: „In der Stadt, in der ich damals während des Krieges lehrte [Padua], tauchte in einer Bar, die ich öfter besuchte, ein Hinweisschild auf, das Juden den Zutritt verbot. ‚Jetzt reiße ich dieses Schild runter‘, sagte ich zu mir. Doch ich ging, ohne es zu tun. Ich hatte nicht den Mut dazu. Wie viele dieser feigen – bewusst feigen – Taten haben wir damals begangen?“30
Auch wenn die Möglichkeit oder der Mut zu Aufsehen erregenden Aktionen in der Öffentlichkeit fehlte, gab es eine Form impliziten Widerstands gegen den Antisemitismus: das Fortbestehen (oder das Entstehen) von Freundschaften und Liebesbeziehungen zwischen ‚arischen‘ Italienern und Juden. Wenige weitere Zeichen der Solidarität und des Widerstands gegen die Rassengesetze vonseiten der Italiener lassen sich aufzählen, bis auf isolierte Gesten wie jene derer, die in offener Wahl gegen den institutionellen Ausschluss von Kollegen stimmten; die Ablehnung, die Nachfolge der aus dem Amt gedrängten Kollegen zu übernehmen; vereinzelte Aufsätze oder Zeitungsartikel. Am deutlichsten bekundeten die Antifaschisten, vor allem jene im französischen Exil, ihre Betroffenheit gegenüber dem Drama der Juden (in dem Umfang, in dem es diese Bekundungen gab). Damit nahmen sie jene enge Verbindung zwischen der Resistenza und dem Widerstand gegen den Antisemitismus vorweg, die sich nach dem 8. September 1943, als sich viele Juden am Befreiungskrieg beteiligten, deutlich offenbarte. Für die Oppositionsparteien und die illegal in Italien agierenden Antifaschisten war das Thema des Rassismus und des Antisemitismus dagegen in jenen Jahren kein Anlass für konkrete Aktionen. Daraus entstand eine Lücke, die sich als „Belastung für den intellektuellen Antifaschismus der Nachkriegszeit“ herausstellte, wie der Verfolgte Vittorio Foa bemerkt. Dieser habe sich schuldig gemacht, „nicht zu erkennen, dass das große und nicht umkehrbare Böse [die Shoah] von der Nachsicht gegenüber dem kleinen und noch umkehrbaren Bösen abhängt“.31
29 | Michele Colabella: I campi di concentramento nel Molise 1940-1943, in: Lucia Guastaferri (Hg.): Le leggi razziali del 1938 e i campi di concentramento nel Molise, Campobasso 2004, S. 77-180, hier: S. 146.
30 | Norberto Bobbio: Le colpe rimosse di noi italiani, in: La Stampa, 6.12.1988. 31 | Vittorio Foa: Questo Novecento, Torino 1996, S. 151.
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Und doch gab es auch in der Diktatur gewisse Freiräume, sich dem rassistischen und antisemitischen Abdriften des Regimes öffentlich entgegenzustellen, aber man musste bereit sein, die Folgen zu tragen. Offensichtlich hatten wenige Italiener den Mut, sich wie ‚blödes Vieh‘ zu verhalten, als welches Telesio Interlandi jene, einen Vers von Dante zitierend, auf dem Titelblatt einer Ausgabe der Zeitschrift La difesa della razza bezeichnete: „Uomini siate, e non pecore matte / sì che ’l Giudeo di voi tra voi non rida“ („seid Menschen und nicht blödes Vieh, damit der Jude unter euch nicht über euch lache!“32). Auch die italienischen Intellektuellen der damaligen Zeit, die die notwendige Bildung und in manchen Fällen auch das Prestige gehabt hätten, um sich Gehör zu verschaffen, hatten diesen Mut nicht. Im Gegenteil, Scharen von Intellektuellen, Wissenschaftlern, Akademikern, Verlegern, Literaten, Schriftstellern, Journalisten und Künstlern gaben sich dafür her, rassistische und antisemitische Propaganda gegen Schwarze und Juden zu betreiben. Der damalige italienische Kulturbetrieb reagierte auf die Rassengesetze mit dem, was Concetto Marchesi in der ersten Ausgabe der Zeitschrift Rinascita vom Januar 1945 als ‚Lust des Sichheraushaltens‘ bezeichnet hat. Es mangelte fast völlig an einem „spürbaren Protest der Intellektuellen, auch bei denen“, stellt Vittorio Foa fest, „die sich später als Verfechter der Demokratie und des Kommunismus hervortaten“.33 Doch während der Nachkriegszeit, im Kontext der allgemeinen Verdrängung der Verfolgung und der Frage der Schuld, konnten die meisten Protagonisten aus Kultur und Wissenschaft – trotz des Makels, dem Rassismus und dem Antisemitismus explizit ihre Zustimmung gegeben zu haben – ihre Positionen im Kunst- und Verlagswesen, im Journalismus, an Universitäten und Forschungseinrichtungen aufrecht erhalten oder sogar verbessern, ohne dabei auf Widerstand zu stoßen.34 Sogar die beiden bekanntesten Wissenschaftler unter den Unterzeichnern des Rassenmanifests, Nicola Pende und Sabato Visco, kamen ungestraft davon: Nach dem Krieg wurden sie von allen Anschuldigungen freigesprochen und wieder im Amt eingesetzt, nachdem ihre Kollegen in Form von Appellen und Gesuchen sogar für sie eingetreten waren. Dasselbe geschah mit Richtern, Juristen, Beamten und Parteifunktionären, die sich in vielerlei Form an den rassistischen Maßnahmen beteiligt hatten. Beispielhaft ist der Fall von Gaetano
32 | Übersetzung aus: Dante: Commedia, in deutscher Prosa von Kurt Flasch, Frankfurt a.M. 2011, S. 299.
33 | Foa: Questo Novecento, S. 151. 34 | Vgl. Mirella Serri: I redenti. Gli intellettuali che vissero due volte. 1938-1948, Milano 2005; Barbara Raggi: Baroni di razza. Come l’Università del dopoguerra ha riabilitato gli esecutori delle leggi razziali, Roma 2012; Pierluigi Battista: Cancellare le tracce. Il caso Grass e il silenzio degli intellettuali italiani dopo il fascismo, Milano 2007.
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Azzariti, vormals Präsident des Rassengerichts, der 1957 zum Präsidenten des italienischen Verfassungsgerichts ernannt wurde.
M ASSENHAFTE Z USTIMMUNG Die Zustimmung zur Judenverfolgung und die aktive Beteiligung daran war keine besondere Eigenschaft der Elite, sondern hatte eine feste Grundlage bei der breiten Masse. Wie die Informantenberichte und andere zeitgenössische Quellen klar bezeugen, gab es ein breites Einverständnis der ‚arischen‘ Italiener mit Rassismus und Antisemitismus, das im Wesentlichen drei unterschiedliche Wurzeln hatte: ideologische Überzeugung, die der eigenen Bildung und Erziehung entsprang oder der Propaganda geschuldet war; Treue gegenüber dem Faschismus und Mussolini sowie gegenüber all seinen Ausdrucksformen und Weisungen; hinterlistiges Eigeninteresse daran, die frei werdenden Stellen der Opfer in unterschiedlichen Bereichen der Wirtschaft, des Gewerbes, der Kultur und der Gesellschaft zu besetzen. Die breit angelegte Untersuchung von Ereignissen und Quellen ermöglicht es, diese unterschiedlichen Komponenten zu gewichten und die mit Vorurteilen behafteten Deutungen, die sich lange Zeit um dieses Thema gerankt haben, zu dezimieren. Prinzipiell wurde die rassistische Wende auch von den Parteigrößen und der Parteibasis des PNF gebilligt und getragen, bis auf ein paar lokale Ausnahmen, die unter dem Strich unerheblich waren. Wie Sarfatti klargestellt hat, sind den Gegnern der Rassengesetze gewiss nicht die Mitglieder des Großen Faschistischen Rates zuzurechnen, „die in der Sitzung vom 6. Oktober, in der die Erklärung über die Rasse verabschiedet wurde, darum baten, die Kategorie der ‚Verdienstvollen‘ (Kriegsteilnehmer etc.) auszuweiten und sie teilweise von den antijüdischen Vorschriften auszunehmen. Tatsächlich widersprachen sie der Verfolgung nicht an sich (auch wenn sie dies nach dem Fall des Faschismus in ihren Memoiren behaupteten).“35
Die internen Mechanismen der faschistischen Hierarchie haben wir aus diesem Grund nicht in unserem Buch vertieft. Es ist festzustellen, dass der Konsens innerhalb des PNF sehr breit war, insbesondere unter den jungen Parteianhängern, die in der faschistischen Studentenorganisation GUF und anderen Organisationen aktiv an der rassistischen Kampagne teilnahmen, indem sie antisemitische Artikel schrieben und Vorträge, Zusammenkünfte und Debatten über das ‚jüdische Problem‘ organisierten, das in der zeitgenössischen Lokalpresse ausführlich behandelt wurde. Ziel war es, die rassistische Kampa35 | Michele Sarfatti: Quando gli italiani si scoprirono ariani, in: Corriere della Sera, 26.9.2008.
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gne an die Aussicht und die Hoffnung auf Aufschwung und Erneuerung des zukünftigen Faschismus zu knüpfen. Bei den ‚arischen’ Italienern, die keine Parteikader waren, drückte sich das Einverständnis mit der antisemitischen Kampagne auf unterschiedliche Weise aus: von der Weigerung, jüdische Freunde zu begrüßen und dem Eifer, die diskriminierenden Vorschriften zu befolgen, über Leserbriefe, denunzierende Anzeigen, Aushänge in Lokalen in der Art ‚Juden ist der Zutritt verboten‘, auf Hauswände geschriebene Beleidigungen, bis hin zu physischen und verbalen Übergriffen oder dem Ausnutzen der Situation zum eigenen wirtschaftlichen und beruflichen Vorteil. Durch die Engmaschigkeit der Propagandakampagne des Regimes gelang es, den rassistischen Giftstoff sogar den Kindern einzuimpfen (wie insbesondere in den Abschnitten unserer Studie zur Schule gezeigt wird). Gleichermaßen bezog sie ohne Einschränkungen den Staatsapparat und die lokalen Behörden, die Parteiverwaltung und -organisationen sowie die Berufsverbände ein. Die Staatsangestellten wurden als erste mobilisiert. Sie gehorchten, ohne zu zögern. Die Funktionäre, die die Anwendung der Diskriminierungsmaßnahmen überwachten, waren im Allgemeinen schnell, effizient und gründlich.36 Die rassistische Politik des Faschismus war daher „eine ausgezeichnete Gelegenheit für die hiesige Bürokratie, die häufig als chaotisch und überdimensioniert gilt, Effizienz und Pünktlichkeit zu beweisen, wenn die Führung sie aufforderte, ‚Sonderaufgaben‘ auszuführen, wobei es zu einer grundlegenden Konvergenz zwischen der von Rom geforderten Härte und den Straf- und Verfolgungsmaßnahmen kam, die die lokalen Behörden im ihnen zugestandenen Ermessensspielraum einsetzten.“37
Natürlich fehlte es nicht an Denunzianten und Spitzeln, die ihre jüdischen Mitbürger anzeigten – fast immer in anonymer Form –, wenn sie ihre Zugehörigkeit zur jüdischen Rasse nicht angaben oder verhandelten, um die discriminazione zu erhalten, oder sich in irgendeiner Form den Verfolgungsmaßnahmen entzogen. Ins Visier der Denunzianten gerieten auch diejenigen, die den verfolgten Juden in unterschiedlicher Form Beistand leisteten. Bei anderen Italienern hatte die Befürwortung des Antisemitismus utilitaristische Gründe oder war zynischem Eigennutz geschuldet. Im Rahmen des faschistischen Projekts der ‚Arisierung‘ der italienischen Wirtschaft (der damals aus dem Deutschen entlehnte Neologismus arianizzazione ging schnell in den faschistischen Wortschatz über) – die in der Übertragung jüdischen Eigentums in ‚arische‘ Hände bestand –, entpuppte sich die Verfolgung in der Tat in vielen Fällen als 36 | Zu diesem Thema vgl. Caviglia: Un aspetto sconosciuto della persecuzione. 37 | Daniela Adorni: Modi e luoghi della persecuzione (1938-1943), in: Fabio Levi (Hg.): L’ebreo in oggetto. L‘applicazione della normativa antiebraica a Torino 1938-43, Torino 1994, S. 102-103.
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ein ausgezeichnetes Geschäft für skrupellose Spekulanten, die von Juden geführte Betriebe und Gesellschaften übernahmen oder Immobilien und andere Güter unter Preis erwarben.38 Dasselbe gilt für die, die jene Arbeitsstellen – insbesondere im akademischen Umfeld und im Gewerbe – besetzen konnten, die wegen Entlassung oder anderen Gründen, die es Juden unmöglich machte, ihrem Beruf nachzugehen, frei geworden waren. In den Jahren 1938-1943 kam es in Italien auch zu Vorfällen physischer oder verbaler Gewalt. Deutlich stieg die Spannung vor allem nach Ausbruch des Krieges, was beweist, dass das rassistische Gift und die Gewöhnung an die antijüdischen Maßnahmen tief in die Seele der nichtjüdischen Italiener eingedrungen waren.
F AZIT Die Berichte von Informanten der politischen Polizei und des Ministeriums für Volkskultur, von Spitzeln der faschistischen Geheimpolizei OVRA, von Präfekten und Funktionären des PNF über die öffentliche Gesinnung, die Tagebücher und Briefe der damaligen Hauptakteure, die späteren Augenzeugenberichte und die weiteren in dieser Untersuchung herangezogenen Quellen (wie Berichte und Schriftverkehr der staatlichen und örtlichen Behörden) ergeben in der Analyse das Bild eines Italiens, das einerseits infolge der kolonialen Eroberungen hemmungslos dem Faschismus frönte und das andererseits – nach sechzehn Jahren Faschismus, Presseanweisungen des Ministeriums für Volkskultur, den so genannten veline, Denunziation, anonymen Anzeigen und Urteilen des Sondertribunals zur Verteidigung des Staates – unter der Betäubung der Propaganda und der Unterdrückung des Regimes stand. Ein Land, in dem Entrüstung, moralische Rebellion und Schamgefühl gegenüber der Rassenlüge ein wirklich seltenes Gut waren. Aus der Vielfalt der Reaktionen in den Jahren 1938-1943 vonseiten der Bevölkerung geht hervor, dass die ‚arischen‘ Italiener den staatlichen Antisemitismus auf unterschiedliche Weise erlebten bzw. an ihm teilnahmen: als Verfolger, Propagandisten, Theoretiker, Komplizen, Denunzianten, Nutznießer, mehr oder weniger gleichgültige Zuschauer (die Kategorie der bystander, um den Ausdruck eines der wichtigsten Holocaustforschers, Raul Hilberg, zu verwenden) und eine Minderheit als Gegner und Verbündete (in einigen Fällen kann man von ‚Gerechten‘ sprechen). Die ‚schöne Jugend‘ jener Zeit (Hochschullehrer im Schwarzhemd, Intellektuelle und angehende Journalisten, Berufsanfänger und sogar Studenten) war zugleich Hochburg und Avantgarde des Antisemitismus. Viele von ihnen stellten später das Rückgrat der
38 | Vgl. Pavan: Tra indifferenza e oblio.
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politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Führungsklasse der Republik dar, nachdem sie die Spuren ihrer dunklen Vergangenheit verwischt hatten. Nach einer Anfangsphase, in der es nicht an – wenn auch leisen – Bedenken, Unverständnis und Kritik mangelte und in der etliche Antifaschisten (vor allem jene im französischen Exil), ein Teil des Klerus und der Katholiken (die traditionell in einen philosemitischen39 und einen antisemitischen Flügel gespalten sind) und die weniger wohlhabenden und weniger gebildeten Schichten die tragende Rolle spielten, nahm die Akzeptanz der Rassenpolitik des Regimes bei allen sozialen Schichten fortlaufend zu – auch bei der katholischen Basis und den Antifaschisten, die der Kritik an der Rassenverfolgung den Ton abdrehten. Vor allem die antijüdischen Ressentiments nahmen in den ersten beiden Kriegsjahren beträchtlich zu. In dieser Zeit schlug die faschistische Propaganda gegen den Juden als ‚Feind Italiens‘ auch bei den unteren Bevölkerungsschichten ein und es kam zu etlichen physischen und verbalen Übergriffen (offene Gewalt gegen Juden, angezündete oder zerstörte Synagogen, Drohbriefe und -flugblätter). Ein Szenario, dass sich erst zwischen 1942 und 1943 zu verändern begann, als die Kriegskatastrophe, die großen wirtschaftlichen Probleme und die Krise des Faschismus alle Stützpfeiler der Regimepolitik ins Wanken brachten. Betrachtet man die Zustimmung und die direkte Beteiligung an der Verfolgung sowie die Willfährigkeit und Gleichgültigkeit, kommt man insgesamt zum Schluss, dass sich in jenen Jahren Millionen von Menschen als ‚offen rassistisch‘ und ‚der reinen italienischen Rasse zugehörig‘ betrachteten und dass die Rassenverfolgung auf überwiegende Zustimmung bei der Bevölkerung stieß – zum Teil aufgrund der wirksamen Propagandakampagne, zum Teil schließlich aus Gründen des Opportunismus und des Eigennutzes. Ihr Verhalten trug dazu bei, die italienischen Juden nach ihrer Emanzipation während des Risorgimento erneut in ein ‚Ghetto‘ zu verbannen. Ein unsichtbares Ghetto, dessen Mauern aus dem Entzug der bürgerlichen und sozialen Rechte, aus Demütigungen, aus Gesten der Gleichgültigkeit und aus mündlichen oder schriftlichen Beschimpfungen durch Nachbarn, Kollegen, frühere Freunde, antisemitische Fanatiker, Journalisten und Intellektuelle bestanden. Nach dem Fall des Faschismus (25. Juli 1943) setzte die neue Regierung unter Badoglio die Rassengesetze mit gravierender Verspätung – erst nach dem Waffenstillstand vom 8. September 1943 – außer Kraft. Die bürokratisch erstellten Judenlisten des faschistischen Regimes wurden von Nazis und Faschisten der Italienischen Sozialrepublik verwendet, um die von Hitler ent39 | Zum katholischen Philosemitismus vgl. Valerio De Cesaris: Pro Judaeis. Il filogiudaismo cattolico in Italia 1789-1938, Milano 2006; Gabriele Rigano: La Chiesa cattolica e il popolo d’Israele, in: Andrea Riccardi (Hg.): Le chiese e gli altri. Culture, religioni, ideologie e Chiese cristiane nel Novecento, Milano 2008, S. 57-95.
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fachte Verfolgungsjagd im besetzten Italien aufzunehmen. Dies geschah im vollen Einverständnis der Italienischen Sozialrepublik, die am 30. November 1943 die polizeiliche Anordnung Nr. 5 erließ, in der die Internierung aller Juden in Konzentrationslagern befohlen wurde. So vollzog sich der Übergang von einer Verfolgung jüdischer Rechte zu einer Verfolgung jüdischen Lebens (vgl. den Beitrag von Michele Sarfatti in diesem Band). Mit Tausenden rassistisch motivierten Festnahmen und ohne zwischen Kindern, Frauen, Erwachsenen und Alten zu unterscheiden, trat auch Italien in den Schatten der Shoah. Aus Italien wurden etwa 8.000 Juden deportiert (die meisten nach Auschwitz, aber auch in andere Lager, z.B. Mauthausen), von denen nur 837 überlebten. Weitere 800 festgenommene Juden wurden auf italienischem Boden umgebracht. Ein beträchtlicher Anteil der Juden wurden durch die Polizei der Italienischen Sozialrepublik oder in Folge von Denunziation festgenommen. Viele andere Italiener – Antifaschisten, Partisanen, einfache Bürger, Pfarrer und Nonnen – halfen Juden, sich in Sicherheit zu bringen und wurden nach dem Krieg von der Gedenkstätte Yad Vashem in Jerusalem als ‚Gerechte unter den Völkern‘ anerkannt. In der Nachkriegszeit ist dieses lange und vielgestaltige Verfolgungsgeschehen größtenteils vergessen und die Erinnerung und die Schuld den Nazis, die die Shoah geplant und durchgeführt haben, aufgeladen worden, ohne dass dabei die schwerwiegenden und selbstverschuldeten Verfehlungen Italiens und der Italiener aufgearbeitet worden wären. Übersetzung: Gesine Seymer
Eine ‚Schule des Rassismus‘ Über die Verantwortung der katholischen Faschisten für die Judenverfolgung in Italien Patrick Ostermann
I. Die katholischen Faschisten, angeführt vom dem Florentiner Germanisten Guido Manacorda, gehörten zu den einflussreichsten Intellektuellengruppen im Italien Mussolinis. Insbesondere Manacorda vermittelte seine Deutungen in zahlreichen Expertisen und Audienzen an Mussolini, zu dem er direkten Zugang hatte, sowie an die faschistischen Ministerien, wie dem Außen- und Erziehungsministerium oder dem Ministerium für Volkskultur, deren Minister er ebenfalls persönlich kannte. Politisch kommt ihm von 1935 bis 1937 das zweifelhafte Verdienst zu, als Vermittler des ‚Duce‘ in vier Audienzen bei Hitler das Achsenbündnis eingeleitet zu haben. Darüber hinaus traf er neben Hitler weitere zentrale Akteure des ‚Dritten Reiches‘ zu Vieraugengesprächen wie Frank, Goebbels, Hassell, Papen, Ribbentrop und Rosenberg. Besonders ab 1935 entfaltete Manacorda in Mussolinis Auftrag außerdem eine rege diplomatisch-propagandistische Aktivität in ganz Westeuropa sowie in Österreich und der Schweiz, auf die hier nicht näher eingegangen werden kann.1 Die nachfolgend vorgestellten Intellektuellen waren die Trägergruppe eines Denksystems, das sich Mitte der 1930er Jahre herausbildete und den Faschis1 | Vgl. die unveröffentlichte Habilitationsschrift Patrick Ostermann: „Col Duce e con Dio!“ Historische und wissenssoziologische Unter suchungen zu der katholisch-faschistischen Intellektuellengruppe um Guido Manacorda (1879-1965). Die Drucklegung ist in Vorbereitung. Vgl. außerdem Ders.: Lo stile di pensiero cattolico-fascista: i suoi effetti tra gli intellettuali. Il germanista Guido Manacorda e il romanista tedesco Victor Klemperer: una messa a punto, in: Nuova Storia Contemporanea XIV, 5/2010, S. 33-48; Ders.: Contro l’antisemitismo tedesco, per la lotta dell’ebraismo. Il concetto cattolico-fascista della razza, in: Sonia Gentili und Simona Foà (Hg.): Cultura della razza e cultura letteraria nell’Italia del Novecento, Roma 2010, S. 43-68.
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mus doppelt sakralisierte2: Die ‚politische Religion‘ des Faschismus wurde durch die Behauptung, sie sei katholisch, ein zweites Mal transzendiert. Denn dadurch, dass zentrale faschistische Begriffe wie u.a. Bella Morte, Glaube, Impero, Krieg, Mystik, Ordine Nuovo und Rasse aus katholischer Perspektive neu konnotiert wurden, entstand eine neue Synthese.3 Mit der Einführung der italienischen Rassengesetze 1938 rückte die letztgenannte Kategorie schlagartig in den Fokus. In der vorliegenden Untersuchung soll die nicht unerhebliche Rolle dargestellt werden, welche die katholischen Faschisten innerhalb des Regimes bei der ideologischen Begründung dieser Verfolgungsmaßnahmen spielten. Dieses Vorhaben wirft jedoch einige Fragen auf, die zuvor – notwendig verkürzt – wenigstens gestreift werden sollen: 1. 2. 3.
Was ist unter katholischen Faschisten zu verstehen und wie sind sie von ähnlichen Gruppen, etwa den faschistischen Katholiken, zu unterscheiden? Wer waren die Akteure dieser Gruppierung? Welche theoretische und praktische Bedeutung hat der katholische Faschismus für die Genese des italienischen Rassismus?
1. Der soziale und politische Standort der katholischen Faschisten Die katholischen Faschisten sahen sich, so der ‚Barde der Schwarzhemden‘ Auro d’Alba4, als katholische arditi und als unüberwindliche squadra der ‚Soldaten Christi‘.5 Die Fusion von christlichem und faschistischem Glauben gipfelte schließlich in einer religiösen Verklärung Mussolinis, dessen Sache man sich als eine von Gott gesandte zu opfern bereit war, wie es sich in Auro d’Albas Lyrik verdeutlicht.6 Auf diese Weise ist der katholische Faschismus als ein Phä2 | Ich gehe dabei vom Faschismus-Konzept Emilio Gentiles aus, das den Faschismus als politische Religion und damit als einfach sakralisiert auffasst vgl. Emilio Gentile: Il culto del littorio. La sacralizzazione della politica nell’Italia fascista, Roma/Bari 1993. 3 | Vgl. Claudia Müller und Patrick Ostermann: Romanità und Germanesimo – Zur wechselseitigen Legitimierung imperialer Hegemoniebehauptungen, in: Dies. und Karl-Siegbert Rehberg (Hg.): Der Grenzraum als Erinnerungsort. Über den Wandel zu einer postnationalen Erinnerungskultur in Europa, Bielefeld 2012, S. 27-42. 4 | Der Dichter und Schriftsteller mit dem Künstlernamen Auro d’Alba, eigentlich Umberto Bottone, wurde 1913 Mitglied der futuristischen Bewegung. Nach der Teilnahme am Ersten Weltkrieg schloss er sich Mussolini an und arbeitete beim Popolo d’Italia mit. Beim ‚Marsch auf Rom‘ gehörte er zur squadristischen Führung. Ab 1923 organisierte er den Aufbau der Miliz, vgl. die instruktive, aber apologetische Biografie Alessandro Tucci: Auro d’Alba. Futurista inquieto, Vasto 2010. 5 | Auro d’Alba an Manacorda, Brief vom Mai 1933, in: Archivio del Novecento (AdN) presso la Sapienza Università di Roma, Fondo Manacorda, Fasc. Carteggio Politico 1934-1935, 1˚ Semestre. 6 | Vgl. Auro D’Alba: Tonici, in: Corriere Padano,12.7.1933.
Eine ‚Schule des Rassismus‘
nomen zu begreifen, das innerhalb und nicht außerhalb des Faschismus zu verorten ist. Die katholischen Faschisten, alle entweder mit Parteibuch und/ oder im Dienste des Regimes, unterscheiden sich somit grundlegend von den anderen Verbindungen zwischen Faschismus und Katholizismus, die von außen auf den Faschismus einwirken wollten und eine Christianisierung des Faschismus anstrebten wie die Klerikalfaschisten um Egilberto Martire oder der weitverbreitete Philofaschismus der katholischen Kirche und des katholischen kulturellen Milieus.7
2. Die Akteure der katholisch-faschistischen Intellektuellengruppe Zu den bekanntesten Akteuren zählen in alphabetischer Reihenfolge der bereits erwähnte Milizgeneral Auro d’Alba aus Rom, der Direktor des Frontespizio und Generalinspektor im Unterrichtsministerium Piero Bargellini 8, der erwähnte Germanist und spiritus rector der Gruppe Guido Manacorda, der Schriftsteller Giovanni Papini9, allesamt aus Florenz, und unbekanntere wie der Veroneser Pädagoge und Direktor der explizit katholisch-faschistischen Zeitschrift Segni dei tempi Paolo Bonatelli10, der Frontespizio-Mitarbeiter und Journalist Riccardo Carbonelli11 oder der im katholischen Milieu bekannte Privatdozent Pasquale 7 | Renato Moro: Nazione, Cattolicesimo e Regime fascista, in: Rivista di Storia del Cristianesimo 1/2004, S. 129-147. 8 | Erziehungsminister Bottai berief Bargellini (1897-1980) im Jahr 1937 zum Hauptinspekteur seines Ministeriums, vgl. Giuseppe Bottai: Diario 1935-1944, hg. v. Giordano Bruno Guerri, Milano 2001, S. 537. Nach dem Krieg machte er Karriere in der Democrazia Cristiana als Bürgermeister von Florenz und als Senator. 9 | Giovanni Papini (1881-1956) galt zu Lebzeiten als einer der wichtigsten italienischen Intellektuellen. 1935 erhielt er eine Professur an der Universität von Bologna, ohne die dafür erforderliche akademische Qualifikation zu besitzen. Seine 1937 erschienene italienische Literaturgeschichte widmete er Mussolini. Darüber hinaus wurde er zum Mitglied der Italienischen Akademie ernannt, vgl. Giovanni Invitto: Giovanni Papini, in: Francesco Traniello und Giorgio Campanini (Hg.): Dizionario storico del movimento cattolico in Italia: I protagonisti, Bd. 2, Casale Monferrato 1982, S. 453-458. 10 | Paolo Bonattelli wurde am 3. Februar 1893 in Romano di Lombardia in der Provinz Bergamo geboren, vgl. Archivio di Stato di Verona, Fondo Archivio dell Società letteraria, Busta 137/01. Aus dem Briefwechsel mit Manacorda geht hervor, dass er auf eine jahrzehntelange Lehrtätigkeit im pädagogischen Bereich zurückblicken konnte. Allerdings war er im akademischen Bereich nicht arriviert, so dass er sich noch Anfang der 1940er Jahre um eine Privatdozentur bewarb, vgl. Paolo Bonatelli an Guido Manacorda, Brief ohne Datum, in: AdN, Fondo Manacorda, Fasc. 1943, 1˚ Semestre, I.
11 | Riccardo Carbonelli (1906-1943) besuchte das Jesuitenkolleg Collegio Massimo und anschließend die Universität des Heiligen Stuhls, die Gregoriana, die er mit dem Magisterdiplom über ‚Corsi di cultura religiosa‘ abschloss. Carbonelli schrieb für katholische Zeitschriften wie den Frontespizio, Vangelo und Roma cattolica und für eine Reihe regimenaher Organe. Carbonelli starb
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Pennisi12, beide aus Rom. Der schillernde faschistische Erziehungsminister Giuseppe Bottai13, der insbesondere Manacorda und Papini protegierte, sowie der Künstler, Kunstkritiker und langjährige Freund Picassos Ardengo Soffici waren eng mit dieser Gruppe verbunden.14 Die genannten katholischen Faschisten agierten in einem ebenso losen wie dauerhaften Netzwerk. Die 1929 gegründete literarische Zeitschrift Frontespizio, die bis 1937 das einflussreiche Leitorgan der katholischen Intelligenz war und bis weit in die Kreise der Azione Cattolica wirkte, kann mit einigem Recht als das Hausjournal und als Keimzelle der maßgeblichen Florentiner Fraktion gelten.15 Und die seit 1934 erscheinende Zeitschrift Segni dei tempi, die sich durch absolute Regimetreue auszeichnete, beeinflusste vor allem junge Katholiken, weil sie sich als Ausdruck des jungen ‚faschistischen Katholizismus‘ begriff und ihre Verfasser häufig junge militante Aktivisten waren. Katholische Faschisten veröffentlichten aber auch in den großen Tageszeitungen wie dem Corriere della Sera.
3. Die Genese des katholisch-faschistischen Rassismus Die unmittelbare Herausbildung des katholisch-faschistischen Antisemitismus weist mehrere Stränge auf. Ein wichtiger liegt in der Perzeption des Naam 23. März 1943 an Tuberkulose, vgl. Aktennotiz 24.10.1940, in: Archivio centrale dello Stato (ACS) di Roma, SPD-CO, Busta 1313, N. 510965; Riccardo Carbonelli è morto, in: Osservatore Romano, 24.3.1943.
12 | Pasquale Pennisi, Baron von Santa Margherita, Neffe des Marchese di San Giuliano, wurde am 29. Januar 1908 in Acireale (Catania) geboren. Er studierte Rechtswissenschaften und Politik an der Universität Padua. Er lehrte während des Krieges an der Universität Rom. Er war Leiter im Führungsstab des katholischen Studentenbundes Federazione Universitaria Cattolica Italiana (FUCI) sowie aktives Mitglied des Partito Nazionale Fascista (PNF). Er schrieb für zahlreiche katholische und nichtkatholische Blätter, vgl. Gabinetto del Ministro dell’Educazione Nazionale, Appunto per la Segreteria particolare del Duce, 22.02.1942, in: ACS, SPD-CO, Busta 1921, N. 530713, Pennisi, Prof. Pasquale – Docente alla R. Università di Roma. 13 | Gerade bei Bottai ist eine Hinwendung zum Katholizismus in den Kriegsjahren belegt, vgl. Renzo De Felice: Alcune lettere di Mons. Giuseppe De Luca a Giuseppe Bottai, in: Giuseppe Rossini (Hg.): Modernismo, fascismo, comunismo. Aspetti e figure della cultura e della politica dei cattolici nel ‘900, Bologna 1972, S. 419-451. Bottai stand – auch durch gegenseitige Besuche in Florenz und Rom – in engen, direkten und freundschaftlichen Kontakten mit Bargellini, Manacorda, Papini und Soffici, vgl. Bottai: Diario 1935-1944, S. 117f. und S. 222f.
14 | Der Maler Ardengo Soffici (1879-1964) lebte von 1900 bis 1907 in Paris, wo er als Illustrator arbeitete und mit vielen Künstlern, darunter Pablo Picasso, zusammenarbeitete. Nach Ansicht von Renzo de Felice ist Soffici derjenige der alten Weggefährten Mussolinis gewesen, dem sich dieser am meisten verbunden fühlte, vgl. Renzo De Felice: Prefazione, in: Yvon De Begnac: Taccuini mussoliniani, Bologna 1990, S. VII-XVII, hier: S. XIII.
15 | Vgl. Renato Moro: La formazione della classe dirigente cattolica (1929-1937), Bologna 1979, S. 140ff.
Eine ‚Schule des Rassismus‘
tionalsozialismus. In den katholischen Kreisen Italiens wurde von Anfang an die NS-Rassentheorie als heidnisch betrachtet. Kurz und prägnant bestimmte Auro d’Alba diesen römisch-germanischen Gegensatz: „Für uns hingegen bleibt völlig klar, dass auf der einen Seite das lateinische, christliche faschistische Licht erstrahlt, während auf der anderen Seite lutherischer, heidnischer, nazistischer Nebel ist.“16
Noch 1935 rechnete Manacorda kritisch und hellsichtig in der erweiterten zweiten Auflage seines Deutschlandbuches La selva e il tempio mit den Mythen des deutschen Rassismus ab.17 Für Manacorda stellte der Rassismus, wie er unter Pseudonym im Juni 1935 im Frontespizio schrieb, eine der Krankheiten des Jahrhunderts dar.18 In einer Audienz bei Mussolini im Mai 1935 schlug Manacorda daher eine koordinierte Propagandakampagne bei der katholischen Bevölkerung in Österreich und Südtirol vor, um die Unvereinbarkeit der Rassendoktrin mit dem katholischen Glauben zu demonstrieren.19 Dennoch erfolgte im katholischen Milieu insgesamt eine höchst selektive Perzeption der NS-Rassentheorie, die sich auf deren Auswirkung auf die katholische Kirche beschränkte und die Judenverfolgung im Reich nicht thematisierte. Sie wurde auch von Manacorda in seinen Gesprächen mit Hitler und der NS-Führung nie angesprochen. Auch kann seine Kritik an der NS-Rassendoktrin nicht als Ablehnung des ‚Dritten Reiches‘ verstanden werden, denn drei Monate nach Erscheinen des Frontespizio-Beitrages beschwor er im September 1935 in seinem ersten Gespräch mit Hitler „von Frontkämpfer zu Frontkämpfer“, die Zukunft gehöre dem Nationalsozialismus und Faschismus und er wolle daran nach Kräften mitarbeiten.20 Mögliche Beweggründe für Manacordas Ambivalenz finden sich in einem seiner Briefe vom 8. August 1936, worin er schrieb, er sei Deutschlandkenner seit mehr als 30 Jahren und man solle das ‚Dritte Reich‘ nicht als eine Übergangserscheinung betrachten. Der Nazismus sei eine Revolution, der in den tiefsten Wurzeln des deutschen Volks verankert sei und der deshalb sicherlich nicht kürzer als die Reformation dauere.21 16 | Auro D’Alba: Tonici, in: Il Frontespizio, 12/1934, S. 6. 17 | Guido Manacorda: La luce del nord, in: Ders.: La selva e il tempio, Firenze 1935, S. 281-289. 18 | Opifex [Guido Manacorda]: Malattie del secolo (seconda serie), in: Il Frontespizio, 6/1935, S. 8.
19 | Notizen Manacordas zur Unterredung im Mai 1935 sowie Manacorda an Mussolini, Brief vom 8. Mai 1935, in: AdN, Fondo Manacorda, Fasc. Carteggio Politico 1934-1935, 1˚ Semestre.
20 | Guido Manacorda an Ulrich von Hassell, Brief vom 15. September 1935, in: PA Berlin, Bestand Rom Quirinal, Bd. 450/21a, privater Briefwechsel des Botschafters von Hassell von März 1935 bis Januar 1936.
21 | AdN, Fondo Manacorda, Fasc. Carteggio Politico 1936, 2˚ Semestre I-Z.
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Darüber hinaus bedeutete die Verdammung des Sozialdarwinismus des NS-Regimes nicht, dass die Gruppe um Manacorda selbst frei von jedweder judenfeindlichen Haltung gewesen wäre. Das war weder vor noch nach Einführung der italienischen Rassengesetze im Juli 1938 der Fall. Sie wurzelte im nationalistischen Humus der Jahrhundertwende französischer katholischer Autoren wie Veuillot 22, die Manacorda über den intransigenten Rekonvertiten Domenico Giuliotti vermittelt bekam. Giuliotti und Papini veröffentlichten 1923 den sog. Dizionario dell’Omo Salvatico.23 Darin hieß es u.a., die Juden seien materialistisch, zum Handel geboren und kalt berechnend.24 Der Christ, der als Bankier tätig sei, werde zum Juden.25 Die Argumentation gipfelt in der Behauptung, wie alle Komposita mit dem Präfix ‚anti‘ sei auch der Antisemitismus eine jüdische Erfindung. In seinem Buch Gog, das 1931 erschien und von großem Einfluss auf das katholische Milieu war – bis 1942 erreichte es die sechste Auflage –, zeichnete Papini wiederum das Bild eines Judentums, das die Völker ökonomisch versklave und sie geistig durch eine alle Seinsbereiche auflösende moderne Kultur zugrunde richte.26 Ziel der Juden sei die Vernichtung des Christentums aus Hass und Rache. Der römische Historiker Amedeo Osti Guerrazzi verweist auf die Katalysatorwirkung, die die Sanktionen des Völkerbundes gegen Italien während des Äthiopienkrieges für die Genese des faschistischen Rassismus gehabt haben. Es sei naheliegend gewesen, dafür die Juden verantwortlich zu machen.27 In Bezug auf die katholischen Faschisten ist tatsächlich zu beobachten, dass antisemitische Äußerungen der Manacorda-Gruppe seit dieser Zeit fester Bestandteil ihrer Veröffentlichungen wurden. Als im Juli 1938 Italien eigene Rassengesetze einführte, betrieb das von Giuseppe Bottai geführte Erziehungsministerium von allen Ministerien am 22 | Im Jahre 1858 entwarf der Publizist Veuillot während der sog. Mortata-Affäre das Bild von einem jüdischen Komplott an Universitäten, im Finanzsektor und in der Presse gegen die Kirche. Dies fordere der Talmud, der den Hass gegen alle Völker predige. Veuillot beeinflusste den Antisemitismus bis in die 1880er Jahre, u.a. La Croix und La France juive von Drumont, vgl. Michel Winock: Louis Veuillot et l’antijudaïsme français lors de l’affaire Mortata, in: Catherine Brice und Giovanni Miccoli (Hg.): Les Racines chrétiennes de l’antisémitisme politique (fin XIXe-XXe siècle), Roma 2003, S. 79-88.
23 | Domenico Giuliotti und Giovanni Papini: Dizionario dell’Omo Salvatico, Firenze 1923. 24 | Ebd., S. 51f. 25 | Ebd., S. 319. 26 | Vgl. Renato Moro: Le premesse dell’atteggiamento cattolico di fronte alla legislazione razziale fascista. Cattolici ed ebrei nell’Italia degli anni venti (1919-1932), in: Storia contemporanea, 6/1988, S. 1013-1119, hier: S. 1093-1096.
27 | Amedeo Osti Guerrazzi: Il nemico perfetto. Il Guf di Roma e l’antisemitismo, in: Marina Caffiero (Hg.): Le radici storiche dell’antisemitismo. Nuove fonti e ricerche. Atti del Seminario di studi, Roma, 13-14 dicembre 2007, Roma 2009, S. 161-187, hier: S. 164.
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energischsten deren Umsetzung. In einem Editorial der Critica fascista vom 1. August 1938 feierte Bottai die Rassengesetze als eine der größten Errungenschaften des Regimes.28 Manacorda erklärte in einem Brief an Bottai, dass er damit vollkommen einverstanden sei.29 Die katholischen Faschisten standen nun vor der Notwendigkeit, den biologischen Rassismus in ihre Synthese zu integrieren. Die Ergebnisse dieser Bemühungen und die Funktionen, die der neue Rassismus für das Regime erfüllte, sollen hier skizziert werden.
II. Am 2. August 1938 verteidigte Pennisi in einem Artikel in Farinaccis Tageszeitung Il Regime fascista die Rassengesetze. Dieser Beitrag bildete ein Kapitel seines noch im gleichen Jahr erschienenen Buches Presa di posizione francamente razzista. Note di un cattolico italiano (Ein offen rassistischer Standpunkt. Anmerkungen eines italienischen Katholiken), das er Farinacci widmete.30 In den folgenden Jahren war Pennisi mit zahlreichen Veröffentlichungen ein zentraler Protagonist der faschistischen Rassentheorie. Gleichfalls ging die Zeitschrift Segni dei tempi umgehend daran, die italienische Rassenpolitik aus katholisch-faschistischer Perspektive zu bestimmen, d.h. als im formalen Einklang mit dem Evangelium stehend: Domenico Massè brachte diese neue Synthese auf den Punkt: „Auch der Faschist liebt seine Nächsten, aber das ändert nichts […] an Differenzierungen und Distanzierungen.“31 Und Bonatelli warnte in seiner Ansprache als Rektor die Schülerinnen seines Mädchenkollegs und als Parteifunktionär die Veroneser Kameradinnen vor ‚Blutschande‘ und Mischehen.32 Dieser katholisch-faschistische Rassebegriff erfüllte nun für die italienische Auslandspropaganda eine doppelte Funktion: zum einen zur Diffamierung der Gegner der ‚Achse‘ und zur Legitimation des Führungsanspruchs der ‚arischen‘ Nationen Deutschland und Italien, zum anderen als ideologische Legitimation des italienischen (Führungs-) Anspruchs innerhalb der
28 | Vgl. Mirella Serri: I redenti. Gli intellettuali che vissero due volte. 1938-1948, Milano 2005, hier: S. 39.
29 | Manacorda an Bottai, Brief vom 5. August 1938, in: AdN, Fondo Manacorda, Fasc. Carteggio Politico Religioso, 1938, 1˚ Semestre, Sottofasc. Ministero Educazione Nazionale Bottai.
30 | Pasquale Pennisi: Presa di posizione francamente razzista. Note di un cattolico italiano, Messina 1938.
31 | Domenico Massè: Universalità del fascismo italiano, in: Segni dei tempi, 5/1938, S. 33-60, hier: S. 52.
32 | Paolo Bonatelli: La Questione della Razza (Discorso alle Donne Fasciste di Verona), in: Ders.: Orientamenti, Parma 1942, S. 347-364, hier: S. 363.
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‚Neuen Ordnung‘ Europas gegenüber Deutschland. In einem Artikel über den spanischen Bürgerkrieg aus dem Jahr 1940 stellte Manacorda die biologistische Diagnose, das geschwächte Land sei für die Erreger einer freimaurerisch-jüdischen und noch gefährlicheren bolschewistischen Infektion anfällig gewesen.33 Papini übertrug jetzt die vermeintlichen jüdischen Merkmale auf das ganze englische Volk. Die Engländer seien die Juden nordischer Rasse.34 Eines von vielen Beispielen für den Führungsanspruch der Achsenmächte gegenüber den Demokratien formulierte Manacorda kurz vor Ausbruch des Zweiten Weltkrieges. Bezüglich des nunmehr verbündeten Deutschlands aktualisierte er seine Konzeption: Die die Germanen bestimmenden Naturmerkmale lud er mit rassistischen Termini dramatisch auf. Deutschland erschien jetzt als überwältigende Bestätigung „des Bodens, des Blutes, der Rasse, des Instinkts, der ewigen Blüte des Mythos und des Heroismus“.35 Diese Werte hatte er noch 1935 heftig verurteilt. Die offensivste Variante stammte von Pasquale Pennisi. Er behauptete sogar die Überlegenheit der römischen Rasse, die das Impero regieren solle, über die nordische und stellte damit die Gültigkeit der NS-Rassendoktrin und den Kern der NS-Weltanschauung überhaupt in Frage.36 Mussolini favorisierte daher die Rassenkonzeption der katholischen Faschisten gegenüber konkurrierenden Entwürfen, die sich stärker an nationalsozialistischen Konzepten orientierten, was unvereinbar mit dem ideologischen Führungsanspruch des Faschismus war. Der ‚Duce‘ beauftragte konsequenterweise Manacorda mit der zentralen Inlandspropaganda im Winter 1942/1943. Der Rassebegriff der katholisch-faschistischen Intellektuellen hatte für das Regime den Vorteil, den Primat der faschistischen Leitidee abzusichern. Dies tat Papini in seiner legendären Rede vor dem Kongress der Vereinigung europäischer Schriftsteller im März 1943 in Weimar auf defensive Weise, indem er den katholischen Universalismus als einen von drei Beiträgen des faschistischen Italiens für die neue Ordnung Europas anpries. Dieses Christentum sei nicht afrikanisch-orientalisch-jüdisch, sondern hellenistisch und nach der römischen Ordnung aufgebaut.37 33 | Guido Manacorda: Dell’autore di questo libro, in: Isidoro Goma y Tomas: Martirio e resurrezione di Spagna di I. G. Y. T.: Lettera collettiva dell’episcopato spagnolo e riposta del mondo cattolico, con una prefazione di Guido Manacorda, Brescia 1940, S. IX-XIX, hier: S. XIIf.
34 | Giovanni Papini: Notizie sull’Inghilterra, in: Il Frontespizio, 6/1940, S. 315-323, hier: S. 317f. 35 | Italienische Ausarbeitung des Vortrags Manacordas in Malcesine anlässlich der Verleihung des zweiten Premio Goethe di Poesia, 6.8.1939, S. 2, in: AdN, Fondo Manacorda, Fasc. 1941, 1˚ Semestre – II bis. Der Artikel erschien unter dem Titel „Premio Goethe di poesia a Malcesine“, in: Illustrazione Italiana, 34/1939, S. 309.
36 | Pasquale Pennisi: Mistica del fascismo e dinamica della rivoluzione, Roma 1941, S. 90. 37 | Minculpop. DG Servizio della Stampa italiana: Discorso che l’Accademico d’Italia Giovanni Papini ha pronunciato a Weimar nel recente Convegno degli scrittori europei della cui Unione egli è stato nominato Vice Presidente del 9 aprile XX ore 13, in: ACS, Minculpop, Gabinetto, Busta 68,
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Darüber hinaus trug der katholische Faschismus zur Fanatisierung der faschistischen Bewegung bei. Besonders Pennisi propagierte seine Konzeption in der akademischen Lehre und in der politischen Schulung. Unter anderem war er als Dozent für die Indoktrinierung der Miliz tätig. Tatsächlich war die politische Erziehung ein zentraler Auftrag der Miliz. Wollte das Regime den ‚neuen Menschen‘ propagieren, so ging das Ideal der Miliz noch darüber hinaus: Der Milizionär sollte sich für sein Vaterland und seine Rasse als Märtyrer opfern. Pennisi hielt im Miliz-Kurs über Rassenprobleme mehrere Vorlesungen im Modul Razzismo fascista e Cattolicesimo (faschistischer Rassismus und Katholizismus). Er benannte sie wie folgt: Politica razziale e dottrina religiosa (Rassenpolitik und katholische Doktrin), Razza interna italiana e dottrina religiosa (Rasse des italienischen Mutterlands und katholische Doktrin) sowie Il problema della Civiltà e dell’Impero (Problem der Gesellschaft und des Impero).38 Einer seiner Hörer war Auro d’Alba, der in seiner Funktion als Leiter der Presseabteilung der Miliz als der maßgeblichste Propagandaaktivist der Bewegung gilt. Er befasste sich nicht nur mit der üblichen Propagandaarbeit, indem er beispielsweise für die Milizpresse schrieb, sondern verfasste auch politische Lyrik. Seine Verse wurden im Radio verlesen und bei Kundgebungen der Squadristen wie etwa anlässlich der Feiern zum Jahrestag der Gründung des Faschismus verteilt. Sie trugen ihm den Titel ‚offizieller Dichter der Miliz‘ ein. Der Philosoph Gennaro Sasso erinnert sich, wie er als Jugendlicher in Rundfunksendungen die dramatisch aufgeladene Stimme des Poeten der Miliz hörte, der sich in seinen lyrischen Litaneien der ebbrezza fascista, dem faschistischen Rausch, hingab.39 Außerdem wurden seine Gedichte vertont. Seine suggestiven Liedtexte, u.a. Italia, Preghiera del legionario (Gebet eines Legionärs), Duce, Cantate di legionari (Gesang der Legionäre) und L’acquila legionaria (Legionsadler), gehörten zum Kanon der Bewegung, die wie die Parteihymne Giovinezza (Jugend) oder der Marcia reale (Königlicher Marsch) an den großen Feiertagen des Regimes fester Bestandteil des musikalischen Radioprogramms waren, die auch durch Lautsprecher auf den Straßen zu hören waren. In Zusammenarbeit mit Bottais Erziehungsministerium stellte er Radioansprachen für Schulen zusammen, die wiederum broschiert erschienen. Ein Beispiel dafür, wie d’Alba Pennisis Rassenkonzept ästhetisch transformierte, ist das Lied Battaglioni ‚M‘, das er 1941 den aufgestellten Eliteformationen der Miliz widmete, wobei ‚M‘ für Mussolini stand. Der Text war in einem handlichen Liederbuch enthalten, das die faschistische Partei in die Tornister Fasc. Convegni italo tedeschi, Sottofasc. Annuale incontro scrittori di Weimar, Bl. 76-80, hier: Bl. 78.
38 | Milizia Volontaria per la Sicurezza Nazionale, Comando Generale: Primo Corso sui Problemi della Razza Roma – 11-21 Maggio XX, Roma 1942.
39 | Gespräch des Verfassers mit Gennaro Sasso vom 9.12.2008.
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der italienischen Infanteristen legte. Berüchtigt sind die folgenden Zeilen der zweiten Strophe: „Gegen Juda, gegen das Gold wird es das Blut sein, das die Geschichte macht“.40 Außerdem ist vom Kampf gegen die Ghettos die Rede. Giacomo De Marzi, Herausgeber einer Anthologie faschistischer Lieder, nennt es das antisemitischste Lied, das der Faschismus im Sinne der ‚Endlösung‘ überhaupt hervorgebracht habe.41 Als sich nach 1943 die Niederlage der Achsenmächte abzeichnete, diente in der Repubblica Sociale Italiana (RSI, Italienische Sozialrepublik) die Rassendoktrin der katholischen Faschisten nun dazu, ebendiese ‚Endlösung‘ zu legitimieren, wie im Folgenden gezeigt wird. Weil die Kräfte der SS nicht ausreichten, um die Juden in Italien zu deportieren, wurden dafür die bewaffneten Verbände der RSI herangezogen. So kam es zu einer engen ideologischen und administrativen Kollaboration von RSI und ‚Drittem Reich‘: Ganz überwiegend hätten, so Matteo Stefanori, die RSI-Organe die Lösung der Judenfrage befürwortet und autonom ohne deutschen Druck ausgeführt.42 Zwischen Dezember 1943 und Februar 1944 einigten sich das ‚Dritte Reich‘ und die RSI über die Deportation der Juden, die im zentralen Polizei- und Durchgangslager Fossoli gesammelt wurden. Ab September 1943 wurde in der RSI die Internierung von Juden angeordnet.43 Die nach dem 25. Juli ausgesetzten Rassengesetze von 1938 traten wieder in Kraft. Die erste Versammlung der neuen Faschistischen Republikanischen Partei erklärte am 14. November im Manifest von Verona in Punkt 7 alle Juden zu feindlichen Ausländern. Am 30. November verfügte das Innenministerium die Internierung sämtlicher Juden in Konzentrationslagern der Provinz. Am 4. Januar 1944 wurden die Präfekten per Dekret dazu aufgefordert, sämtlichen jüdischen Besitz umgehend zu konfiszieren. Die Zahl der Deportierten beläuft sich auf annähernd 8.000.44 Allein 2.772 von ihnen entfielen auf Fossoli.45
40 | Vgl. Canzoniere del soldato. Il Partito Nazionale Fascista ai Soldati d’Italia, Milano 1942, S. 397.
41 | Giacomo De Marzi: I canti del fascismo, Genova 2004, S. 143f. 42 | Matteo Stefanori: „Ordinaria amministrazione“: I campi di concentramento proviniciali per ebrei nella RSI, in: Studi storici, 54/2013, S. 191-226.
43 | Michele Sarfatti: Gli ebrei nell’Italia fascista. Vicende, identità, persecuzione, Torino 2007, S. 251ff.
44 | Liliana Picciotto geht von 8.028 bis 8.128 aus Italien deportieren aus, ebd., S. 291. Andere Quellen sprechen von 7.700 bis 7.900, vgl. Thomas Schlemmer und Hans Woller: Der italienische Faschismus und die Juden 1922 bis 1945, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte, 53/2005, S. 165-201.
45 | Liliana Picciotto: L’Alba ci colse come un tradimento. Gli ebrei nel campo di Fossoli, 19431944, Milano 2010, S. 232.
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Währenddessen begleiteten d’Albas Lieder die Täter der Shoah: Battaglioni ‚M‘ wurde im schmalen Liederbuch Canti fascisti erneut abgedruckt.46 Im Jahre 1944 legte der Miliz-General, der inzwischen als ‚Capo dell’Ufficio storico della GNR‘ fungierte47, seine ‚Hymne der italienischen SS‘ vor, in der er wesentliche Metaphern aus Battaglioni ‚M‘ wiederaufnahm. Der christliche Glaube werde über das jüdische Gold siegen, heißt es darin in der vierten und letzten Strophe.48 Der katholische Faschismus fand auf diese geschilderte Weise nicht nur Eingang in die Propaganda der Sozialrepublik, sondern wurde durch d’Albas Sohn, Major Sergio d’Alba, der als Rassenforscher in regem Kontakt zum Leiter des Rasseninspektorats Giovanni Preziosi stand, Bestandteil der Ausbildung in der Offiziersschule der Republikanischen Nationalgarde in Fontanellato, die insgesamt 4.000 überwiegend akademisch vorgebildete Absolventen durchliefen.49 Sie nahm ihren Lehrbetrieb zum 1. März 1944 offiziell auf.50 Sergio d’Alba war Dozent des rassepolitischen Kulturkurses der Offiziersanwärter des Jahrganges 1924, der von März bis August des Jahres XXII – das christliche Kalenderjahr 1944 entfiel jetzt – dauerte. Zur Frage ‚Wie kann die Rassenpolitik in der RSI umgesetzt werden?‘, ließ d’Alba die Kadetten Aufsätze schreiben. Die ‚besten‘ 13 Abschlussarbeiten legte sein Vater Auro bei einer Audienz
46 | De Marzi: I canti del fascismo, S. 23. 47 | Vgl. Paolo Ferrari und Mimmo Franzinelli: A scuola di razzismo. Il corso allievi ufficiali della Gnr di Fontanellato, in: Italia contemporanea 211, 2/1988, S. 417-444, hier: S. 421.
48 | Vgl. De Marzi: I canti del fascismo, S. 184-185. 49 | Nach seiner Dozententätigkeit wurde Sergio d’Alba dem Ufficio Propaganda e Informazione della GNR in Brescia zugeteilt, vgl. Ferrari und Franzinelli: A scuola di razzismo, S. 422. Neben dieser seriösen Untersuchung liegt zu Fontanellato eine weitere Studie von Andrea Pirani Cevolani vor, die auf schriftlichen und mündlichen Befragungen von ehemaligen Offiziersanwärtern basiert. Auf diese Weise sichert der Autor spannende Details, geht allerdings viel zu unkritisch mit den apologetischen Aussagen der Befragten um und vernachlässigt den historischen Kontext. Beispielsweise betont er, der Kurs habe für die Ausbildung nur marginale Bedeutung gehabt, weil er fakultativ und nicht prüfungsrelevant gewesen sei und aufgrund seiner Inkonsistenz keine weitere Wirkung auf die Anwärter gehabt habe. Darüber hinaus sei der Kurs auf d’Albas persönlich Initiative entstanden, keinesfalls sei daraus eine rassistische Haltung des GNR-Kommandos abzuleiten. Allenfalls sei sie toleriert worden. Über die Person Sergio d’Alba wird geurteilt, er sein kein Fanatiker und Antisemit gewesen etc., vgl. Andrea Pirani Cevolani: Le Scuole Allievi Ufficiali della GNR durante la RSI. L’esperienza di Fontanellato, Roma 2008, S. 112ff. Siehe hierzu v.a. die Fußnoten auf S. 76, 114 und 118. Es handelt sich um eine Tesi di Laurea (Abschlussarbeit) an der Università degli Studi di Milano aus dem Jahr 2000.
50 | Bereits Ende 1943 begannen erste Kurse in der ehemaligen Schule der Miliz in Ravenna. Weil Ravenna mehrfach bombardiert wurde, verlegte man die Schule in die ruhigere, rund 15 Kilometer von Parma entfernte Kleinstadt Fontanellato, vgl. Pirani Cevolani: Le Scuole Allievi Ufficiali., S. 75f. und 109.
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Mussolini vor.51 An ihnen lässt sich der spezifische Denkstil des Rassismus der Sozialrepublik aufzeigen. Sie bestätigen, so Paolo Ferrari und Mimmo Franzinelli, sowohl ideologisch die spezifische Autonomie des faschistischen Antisemitismus und Rassismus als auch dessen Praxis der Verfolgung52, wofür, so Liliana Picciotto, die RSI ihren ganzen Staatsapparat einsetzte.53 Nicht weniger aussagekräftig ist die Kursbeschreibung von Major d’Alba.54 Die Rasse sei der Mythos des Jahrhunderts, transzendierte er den Begriff in direktem Bezug auf Rosenberg.55 D’Alba stellte den deutschen und den italienischen Rassismus einander gegenüber. Judentum und Freimaurer würden die spirituellen Werte der arischen Kulturen seit Jahrhunderten in Kriegen zersetzen, lautete sein kulturhistorischer, keinesfalls rein biologistischer Ansatz. Der gegenwärtige Krieg sei ein Rassenkrieg. Der Faschismus wolle zurück zur arisch-romanischen Spiritualität, dazu sei eine Verbesserung der italienischen Rassensubstanz nötig.56 Die Rassenlehre, die in d’Albas Kurs vermittelt wurde, war eine Mischung der verschiedenen in Italien kursierenden biologistischen und kulturalistischen Rassenlehren: Einige der Offiziersanwärter bezogen sich auf Werke eugenischer Rassisten wie Evolas Il mito del sangue (Mythos des Blutes) und Preziosis Protokolle der Weisen von Zion, andere gaben als Referenzen den antisemitischen Roman Gog von Papini an, ohne zu bedenken, dass es sich um eine fiktive Erzählung handelte. Außerdem bezogen sie sich auf Manacordas Selva e tempo.57 Giglio Rustignoli von der 2. Kompanie beispielsweise
51 | Die Aufsätze liegen der Personalakte von Sergio d’Alba im Archivio Centrale dello Stato bei: Il corso di cultura politico-razziale tenuto dal marzo all’agosto XII˚ presso la scuola allievi ufficiali della G.N.R. di Fontanellato, in: ACS Roma, RSI, SPD, Carteggio Riservato (1943-45), Busta 47, N. 498, Sergio d’Alba.
52 | Ferrari/Franzinelli: A scuola di razzismo, S. 418. 53 | Picciotto: L’Alba ci colse come un tradimento, S. 22ff. 54 | Corso di Cultura, Politica, Razziale, in: ACS Roma, RSI, SPD, Carteggio Riservato (1943-45), Busta 47, N. 488, Sergio d’Alba.
55 | Vgl. Auswertung der Kursarbeiten des Corso di Cultura, Politica, Razziale, S. 1, in: ACS Roma, RSI, SPD – Carteggio Riservato (1943-45), Busta 47, N. 488, Sergio d’Alba. Sie ist auf S. 423 im Anhang des Bandes von Paolo Ferrari und Mimmo Franzinelli abgedruckt. Dort finden sich auf den S. 423-444 auch sieben der 13 Abschlussarbeiten.
56 | Die angelsächsischen Staaten und der Bolschewismus seien Instrumente des Judentums, wobei er sich auf die Protokolle der Weisen von Zion beziehe, so d’Alba, vgl. Auswertung der Kursarbeiten. Die italienische anima war nach d’Alba abhängig von der rassischen Umwelt in Italien, ebd., S. 1.
57 | Vgl. All. Uff. Cesare Mosconi , V. Brig. 2^ Compagnia Allievi: Come concepite un’azione politica razziale nella Repubblica Sociale, S. 1, sowie Nino Muccioli, V. Brig. 2^ Compagnia Allievi, Come compite un’azione politica razziale nella Repubblica Sociale, S. 1.
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äußerte, nur gesunden Menschen solle die Fortpflanzung ermöglicht werden.58 Ansonsten begehe man ein Unrecht und versündige sich gegen Gott. Die Anwärter riefen zur Jagd auf alle Juden auf und schlugen radikale Maßnahmen vor, wie eine an eine rassenbiologische Untersuchung des Blutes gebundene Heiratserlaubnis.59 Für die Gesellschaft schädliche Individuen – wie Erb- und Tuberkulosekranke, Alkoholiker, Verrückte, Idioten, Kriminelle sowie Juden, – sollten je nach moralischem bzw. rassischem Wert ausgesondert, deportiert, überwacht, sterilisiert oder ggf. eliminiert werden.60 Einige plädierten für massive Säuberungen in der Nationalgarde von den ‚Verrätern des 8. September‘, von Juden sowie Freimaurern, um aus der Guardia einen rassischen Orden wie die SS zu machen.61 Im Abschlussbericht von Sergio d’Alba heißt es, die vorliegenden Arbeiten seien ausgewählt worden, um einen Eindruck von der Denkweise des 400 Mann starken Bataillons zu geben. Aber auch in sämtlichen Arbeiten der anderen Anwärter sei eine Rassenselektion gefordert worden. Diese jungen Leute seien „die Blume der Rasse, in der die wahre Aristokratie keime“, und die die Hoffnungen der Gefallenen erfüllen würden.62 Das taten sie. Bereits im Juni und damit noch vor dem Abschlussexamen im September rückten vier Kompanien aus Fontanellato zur Partisanenbekämpfung aus.63 Pennisis und Sergio d’Albas Schulungen, Auro d’Albas Propagandalieder und Appelle sowie die Hetzartikel von Bonatelli, Manacorda, Papini etc. hatten sie indoktriniert. Diese katholischen Faschisten gehören zu den „schlechten Lehrmeistern“64, die die jungen Faschisten zu blindem Hass erzogen und aufhetzten. Die katholisch-faschistische Rassismus-Konzeption leistete der Diskriminierung und Verfolgung der italienischen Juden durch ihre moralisch-religiöse Entlastung einer Rassengesetzgebung Vorschub, die – im Unterschied zur biologisch-geschichtlich-spirituellen Komplexität des katholisch-faschistischen Rasse-Modells – nach ausschließlich rassenbiologischen Kriterien operierte, wie Michele Sarfatti zu Recht betont.65 Es wäre grundlegend falsch, diese aus heutiger Sicht absurden Auslassungen als geistige Ver58 | Giglio Rustignoli (II^ Compagnia): Come concepite un’azione razziale nella Repubblica Sociale, S. 2f.
59 | Luciano Chitarrini, III^ Compagnia „Tigre“: Come concepite un’azione razziale nella R.S.I., 21.8.1944, S. 2f.
60 | Vgl. Araldo Forbicioni, Allievo Ufficiale III^ Compagnia „Tigre“: Un’azione razzista nella Repubblica Sociale Italiana, S. 7.
61 | Nicola Guccione (I^ Compagnia): Tema di cultura politico-razziale, S. 2-3. 62 | Vgl. Auswertung der Kursarbeiten des ‚Corso di Cultura, Politica, Razziale‘, S. 1-2. 63 | Pirani-Cevolani: Le Scuole Allievi Ufficiali della GNR durante la RSI, S. 174. 64 | Ferrari und Franzinelli: A scuola di razzismo, S. 419. 65 | Michele Sarfatti: Grundzüge und Ziele der Judengesetzgebung im faschistischen Italien 1938-1943, in: QFIAB 83/2003, S. 436-443, hier: S. 438.
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wirrungen abzutun. Denn den Faschismus zu begreifen, so der in Amerika lehrende Soziologe Michael Mann, bedeute auch zu verstehen, wie Menschen mit vermeintlich hohen Idealen nie gekannte Gräueltaten verüben konnten: „Die ‚kompromisslosen‘ Faschisten müssen noch unter einer anderen, düsteren Hinsicht ernst genommen werden, nämlich als Vollstrecker großer Verbrechen. […] Das Vermögen, Böses zu tun, gehört zu den menschlichen Grundeigenschaften. Zu ihm gehört auch die Möglichkeit, Böses aus vermeintlich moralisch gebotenen Gründen zu tun. Zu dieser Art von Selbstbetrug neigten gerade die Faschisten.“66
Die faschistischen Wertvorstellungen sollten daher ernst genommen werden, so Mann. Diese Feststellung gilt in besonderer Weise für die katholischen Faschisten, die das gewalttätige totalitäre faschistische Projekt als zeitgemäße Adaption einer gottgewollten katholischen Moral- und Sittenlehre definierten. Manacorda und seinesgleichen führten Gewalttaten nicht selbst aus, aber sie legitimierten sie und riefen dazu auf. 1945 log Manacorda dreist, Hitler nur getroffen zu haben, um vor allem den deutschen Juden zu helfen. Außerdem erklärte er, schon immer gegen die deutsche Rassenlehre gewesen zu sein.67 Seinen eigenen Rassismus verschwieg er feige.
66 | Michael Mann: Der Faschismus und die Faschisten. Vorbereitende Überlegungen zur Soziologie faschistischer Bewegungen, in: Mittelweg 36, 1/2007, S. 26-54, hier: S. 29.
67 | La Commissione per l’epurazione del personale universitario (composta da Lorusso Caputi, Dott. Andrea, Consigliere della Corte Suprema di Cassazione – Presidente, Tocco, Dott. Antonio, Ispettore Superiore nel Ministero, Patriasca, Avv. Natalino, Membro supplente – Rappresentante dell’Alto Commissariato aggiunto per l’epurazione), 30.07.1945, S. 4, in: ACS, Ministero Pubblica Istruzione, DG. Istruzione Universitaria, Fascicoli Professori Universitari III Serie (1940-1970), Busta 286, Fasc. Prof. Manacorda, Guido.
Karl Löwiths Exil in Japan und Italien im Vergleich Möglichkeiten und Grenzen der Wahrnehmung eines Zeitzeugen Kilian Bartikowski
Vor gut 40 Jahren starb am 26. Mai 1973 der Philosoph Karl Löwith. Seine Biografie sei ein „Lebenslauf eines Gejagten gewesen, der von Natur aus auf Kontemplation eingestellt war“, wie der Historiker Reinhardt Koselleck – ein ehemaliger Schüler Löwiths – treffend feststellt.1 Zwar hinterließ Löwith keine eigene Schule, jedoch war er einer der produktivsten deutschen Philosophen des 20. Jahrhunderts, der bis heute leider nur vorwiegend von Spezialisten gelesen wird.2 1897 wurde er als Sohn des angesehenen Münchner Kunstmalers Wilhelm Löwith in München geboren. Nach dem Abitur meldete er sich freiwillig zum Kriegsdienst im Ersten Weltkrieg und geriet in Italien in Gefangenschaft. Nach dem Krieg wurde er Zeuge der Münchner Räterepublik, nahm ein Studium der Philosophie und Biologie in München auf und ging später nach Freiburg, wo er auf seine akademischen Lehrer Edmund Husserl und dessen damaligen Assistenten Martin Heidegger traf. 1923 wurde er bei Moritz Geiger mit einer Arbeit zur Nietzscheinterpretation promoviert, die Habilitation folgte 1926 bei Heidegger in Freiburg mit der Studie Das Individuum in der Rolle des Mitmenschen. Bis 1934 war er Privatdozent an der Universität Marburg. Bis dahin liest sich dieser Lebenslauf wie der eines typischen deutschen Bildungsbürgers. We1 | Reinhardt Koselleck: Vorwort, in: Karl Löwith: Mein Leben in Deutschland vor und nach 1933. Ein Bericht, hg. v. Frank-Rutger Hausmann, Stuttgart 2007, S. X, im Folgenden wird aus dieser Ausgabe zitiert. 2 | Der Philosoph hinterließ mehr als 300 Schriften, vom Metzler-Verlag wurde zwischen 1981 und 1988 eine achtbändige Werkausgabe herausgegeben, vgl. Karl Löwith: Sämtliche Schriften, hg. v. Klaus Stichweh, Stuttgart 1981-1988.
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gen des Rassenwahns der neuen Machthaber und Löwiths jüdischer Herkunft wurde seine akademische Lauf bahn an einer deutschen Universität jedoch jäh unterbrochen, und er ging begleitet von seiner Frau Ada in die Emigration.3 Zuerst kam er über ein Stipendium der Rockefeller Foundation nach Rom, wo er zwei Publikationen vollendete: ein Buch über Nietzsche4 und eine Biografie über den Schweizer Kulturhistoriker Jacob Burckhardt.5 Das Rockefeller Stipendium lief 1936 aus, zudem wurde die Situation in Italien wegen der sich formierenden ‚Achse Berlin-Rom‘ immer schwieriger. Deshalb empfand Löwith es als eine besonders günstige Wendung des Schicksals, als er auf Grund einer zufälligen Begegnung mit einem japanischen Studenten die Anregung erhielt, sich um eine Stelle in Japan zu bewerben, wo seine Habilitationsschrift äußerst positiv rezipiert wurde. Nachdem Löwith wissenschaftliche Kontakte in Japan aktiviert hatte, erhielt er eine Einladung an die kaiserliche Universität Tōhoku im nordjapanischen Sendai, um dort bis 1941 als Gastprofessor lehren zu können.6 Über seiner Stelle schwebte jedoch wieder ein Damoklesschwert. Besonders der Auslandsorganisation der NSDAP war er ein Dorn im Auge und als sich sechs Monate vor dem Angriff auf Pearl Harbor die Beziehungen zwischen Japan und dem nationalsozialistischen Deutschland verdichteten, erhielten die Löwiths ein Visum für die USA, wo Karl Löwith auf Empfehlungen von Paul Tillich und Reinhardt Niebuhr am Theologischen Seminar in Hartford, Connecticut, angestellt wurde. 1952 erhielt Löwith auf Empfehlung von Hans-Georg Gadamer einen Ruf an die Rupprecht-Karls-Universität Heidelberg.7 Im japanischen Exil vollendete er im Frühjahr 1939 eine Philosophiegeschichte von Hegel zu Nietzsche und etwa ein Jahr später am 14. Januar 1940 den autobiografischen Lebensbericht Mein Leben in Deutschland vor und nach 1933.8 Mit dem Bericht reagierte er auf ein mit 1.000 Dollar dotiertes Preisausschreiben der Harvard University, das Zeitzeugen aufforderte „einfach und unmittelbar“ geschriebene Lebensbeschreibungen einzureichen, um eine „wissenschaftliche Materialsammlung über die gesellschaftlichen und seelischen
3 | Vgl. Curriculum Vitae (1959), in: Karl Löwith: Mein Leben in Deutschland, S. 182-193. 4 | Vgl. Karl Löwith: Nietzsche. Sämtliche Schriften, Bd. 6, Stuttgart 1987. 5 | Vgl. Karl Löwith: Jacob Burckhardt. Sämtliche Schriften, Bd. 7, Stuttgart 1984. 6 | Vgl. Löwith: Mein Leben in Deutschland, S. 105 und 186; nach der Begegnung mit dem japanischen Studenten schrieb Löwith an den Baron Shûzô Kuki, den er aus seiner Heidelberger Studienzeit noch flüchtig kannte. Darauf erhielt er im Juni 1936 eine Einladung nach Sendai, um dort als Professor lehren zu können.
7 | Ebd., S. 186. 8 | Erstausgabe Karl Löwith: Mein Leben in Deutschland vor und nach 1933. Ein Bericht, hg. v. Reinhart Koselleck, Stuttgart 1986 und zur Neuedition bei Metzler mit kritischem Apparat, vgl. FN 1.
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Wirkungen des Nationalsozialismus auf die deutsche Gesellschaft und das deutsche Volk“ anzufertigen.9 Den Wettbewerb gewann die Lebensbeschreibung der Berliner Ärztin Hertha Nathorff, eine entfernte Verwandte des Physikers Albert Einstein, deren Biografie paradigmatisch für die Diskriminierung und Verfolgung der Juden während der NS-Zeit steht.10 Löwiths Bericht schaffte es nicht einmal in die engere Auswahl des Preisausschreibens, denn seine philosophischen Betrachtungen des Themas entsprachen nicht den Erwartungen der Juroren.11 Eine Abschrift von Löwiths Bericht wurde von seiner Frau Ada 1973 wieder entdeckt, er ist nun mehrmals ediert worden, und ist mittlerweile Gegenstand wissenschaftlicher Abhandlungen.12 Er soll auch im Zentrum dieses Beitrages stehen. Einmal, weil der Bericht unter anderem von dem „Denken und Tun der Deutschen im Ausland“ handelt und alle drei Räume des ‚Achsenbündnisses‘ beinhaltet.13 Und zweitens, weil diese Lebensbeschreibung eben nicht immer „einfach und unmittelbar“ war – wie Löwith
9 | Initiatoren des Wettbewerbs waren der Psychologe Gordon Allport, der Historiker Sydney Fay und der Soziologe Edward Hartshorne. Ziel des Preisausschreibens war es, mittels der Augenzeugenberichte auf die Verlogenheit der NS-Propaganda und auf die Eskalation der Gewalt um den Novemberpogrom von 1938 hinzuweisen, vgl. Liliane Weissberg: Preisfragen zu einem Leben in Deutschland vor und nach 1933. Karl Löwiths Autobiographie und der Harvard Wettbewerb von 1939, in: Exil 18, 2/1998, S. 14-23; Dies.: East and West. Karl Löwith’s Routes of Exile, in: Hans Otto Horch et al. (Hg.): Exilerfahrung und Konstruktionen von Identität 1933 bis 1945, Berlin 2013, S. 159-193. 10 | Vgl. Wolfgang Benz: Deutsche Juden im 20. Jahrhundert. Eine Geschichte in Porträts, München 2011, S. 123-145, hier: S. 134; Nathorffs Bericht wurde trotz intensiver Bemühungen der Autorin nicht publiziert und verschwand zuerst im Archiv der Harvard Universität, ihr Tagebuch wurde seit 1986 mehrmals ediert und erhielt eine erstaunliche Resonanz, vgl. ebd., S. 140; das Buch ist mittlerweile in der 5. Auflage im renommierten Fischer-Verlag erschienen, vgl. Hertha Nathorff: Das Tagebuch der Hertha Nathorff, Berlin-New York. Aufzeichnungen 1933 bis 1945, hg. v. Wolgang Benz, Frankfurt a.M. 2010.
11 | Vgl. Weissberg: East and West, S. 8; die Harvard-Professoren beauftragten ihre Assistenten, die Berichte nach Kriterien zu untersuchen, die für spätere wissenschaftliche Veröffentlichungen von Nutzen sein konnten. Zu einer solchen Publikation kam es jedoch nicht; weil Hartshorne, der die Berichte für eine Veröffentlichung zusammenstellte, mit Kriegseintritt der USA in den Geheimdienst wechselte und 1946 ungeklärt in Deutschland ermordet wurde, vgl. ebd., S. 164f.; Uta Gerhardt und Karlauf Thomas (Hg.): Nie mehr zurück in dieses Land. Augenzeugen berichten über die Novemberpogrome 1938, Berlin 2009, S. 319-355; ein Teil der Berichte ist von Gerhardt und Karlauf mittlerweile ediert worden.
12 | Vgl. Frank Rutger Hausmann: Zur Neuausgabe von Karl Löwiths Exilbericht „Mein Leben in Deutschland vor und nach 1933“, in: Internationale Zeitschrift für Philosophie 16, 2/2007, S. 79-126; in der Neuauflage von 2007 wurden viele der vom Autor teilanonymisierten Namen dechiffriert. 13 | Vgl. Löwith: Mein Leben in Deutschland [im Vorwort ohne Seitenangabe].
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selbstkritisch feststellte – und somit für die Verschiedenartigkeit und Widersprüchlichkeit unterschiedlicher Exilerfahrungen steht. Löwith war zudem ein Zeitzeuge, der der Geschichte als teleologische Heilserwartung und der Geschichtswissenschaft äußerst skeptisch gesinnt war, weshalb zuerst seine Geschichtskritik behandelt wird, um dann auf sein Exil in Japan (1936-1941) und im faschistischen Italien (1934-1936) einzugehen. Gerade in Hinblick auf den italienischen Antisemitismus ist zu fragen, ob Löwith zum gleichen Urteil wie die 1933 in die USA emigrierte Heidegger-Schülerin Hannah Arendt kommt. Im Zweiten Weltkrieg forderten die Deutschen von ihrem italienischen Bündnispartner eine Auslieferung der Juden, dies geschah ausschließlich in den von Deutschland und Italien besetzten Gebieten Jugoslawiens. Da sich die Diplomaten und Soldaten in der italienischen Besatzungszone den Auslieferungsforderungen der deutschen Besatzer widersetzten, zog Arendt in ihren berühmt gewordenen Beobachtungen des Eichmann-Prozesses die Schlussfolgerung, dass die Italiener ein in „allen Schichten von Humanität erfasstes zivilisiertes Volk“ seien, da Verbrechen, wie sie im Nationalsozialismus stattgefunden hatten, im italienischen Faschismus nicht möglich gewesen seien.14 Nicht nur in der öffentlichen Erinnerung, sondern auch von Historikern, die Unterschiede zwischen dem italienischen Faschismus und dem deutschen Nationalsozialismus hervorheben wollen, wird Arendts These aufgegriffen, um einen Fokus auf die italienischen Rettungsaktionen zu legen.15 Eine so klare Demarkationslinie zwischen dem deutschen Nationalsozialismus und dem italienischen Faschismus, die im Gleichklang mit dem Mythos des ‚guten Italieners‘ steht, muss wegen der neuen Forschungsergebnisse zum italienischen Antisemitismus und zur Gewalt in den italienischen Kolonien angezweifelt werden.16 Zog Löwith, dessen Betrachtungen unmittelbarer waren 14 | Vgl. Hannah Arendt: Eichmann in Jerusalem. Ein Bericht von der Banalität des Bösen, München 1964, S. 220.
15 | Zur Wirksamkeit von Arendts Urteil vgl. Jonathan Steinberg: Deutsche, Italiener und Juden. Der italienische Widerstand gegen den Holocaust, Göttingen ²1993, S. 21; kritisch hierzu Ruth Nattermann: Humanitäres Prinzip oder politisches Kalkül? Luca Pietromarchi und die italienische Politik gegenüber den Juden im besetzten Kroatien, in: Lutz Klinkhammer, Amedeo Osti Guerrazzi und Thomas Schlemmer (Hg.): Die „Achse“ im Krieg. Politik, Ideologie und Kriegführung 19391945, München 2010, S. 319-339; bei den Experten der Zeitzeugendebatte besteht Konsens, dass der Eichmannprozess die mediale Figur des Zeitzeugen hervorgebracht hat, vgl. Martin Sabrow und Norbert Frei (Hg.): Die Geburt des Zeitzeugen nach 1945, Göttingen 2012.
16 | Zum Mythos des ‚guten Italieners‘ vgl. neuestens Robert S. C. Gordon: The Holocaust in Italian Culture, 1944-2010, Stanford 2012, 139-156; vor allem die Arbeiten von Michele Sarfatti, Angelo del Boca und Davide Rodogno haben dazu beigetragen, den Mythos des ‚guten Italieners‘ zu dekonstruieren, siehe hierzu Davide Rodogno: Il nuovo ordine mediterraneo, Torino 2003; Michele Sarfatti: Gli ebrei nell‘Italia fascista. Vicende identità persecuzione, Torino 2007; Angelo
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als der Rückblick Arendts, die gleichen Schlussfolgerungen bezüglich der von Mussolini im Jahr 1938 eingeführten antisemitischen Gesetze?
L ÖWITHS G ESCHICHTSKRITIK Löwiths Geschichtsphilosophie zeigt, dass er kein gewöhnlicher Zeitzeuge war. Wie die griechischen Stoiker, die sich auf eine höhere Naturordnung beriefen, und wie der Nihilist Nietzsche17, hält Löwith eine vertiefte Beschäftigung mit geschichtlichen Ereignissen für erkenntnistheoretisch strittig: „Daß wir aber überhaupt die Geschichte im ganzen auf Sinn und Unsinn hin befragen, ist selbst schon geschichtlich bedingt: jüdisches und christliches Denken haben diese maßlose Frage ins Leben gerufen. Nach dem letzten Sinn der Geschichte ernstlich zu fragen, überschreitet alles Wissen können und verschlägt uns den Atem; es versetzt uns in ein Vakuum, das nur Hoffnung und Glaube auszufüllen vermögen.“18
Nach dem Sinn der Geschichte zu fragen sei letztlich unsinnig, denn das „Weltgeschehen“ überschreite die Erkenntnisfähigkeit des Menschen. Für ebenso unsicher hält er die Beschäftigung mit dem aktuellen Zeitgeschehen: „Wenn uns die Zeitgeschichte irgend etwas lehrt, dann offenbar dies, dass sie nichts ist, woran man sich halten und woran man sein Leben orientieren kann. Sich inmitten der Geschichte an ihr orientieren wollen, das wäre so, wie wenn man sich bei einem Schiffbruch an den Wogen festhalten wollte.“19
Erste Gedanken der späteren Geschichtskritik des Philosophen finden sich bereits im ‚Lebensbericht‘ des Zeitzeugen Löwith. Einerseits verweisen seine Worte auf die nach 1933 erfahrene Entrechtung und Entwurzelung aus der deutschen Gesellschaft und die Erfahrung des Exils, in der der Verbannte mit Sinnlosigkeit und Orientierungslosigkeit konfrontiert wurde. Andererseits spricht aus Ihnen auch die Hoffnung, dass das sogenannte ‚tausendjähDel Boca: Italiani, brava gente? Un mito duro a morire, Vicenza 2008; zum Forschungsstand vgl. Thomas Schlemmer und Hans Woller: Der italienische Faschismus und die Juden 1922 bis 1945, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte (im Folgenden VfZ) 53, 2/2005, S. 165-200. Vgl. zudem die Beiträge von Nattermann, Sarfatti und Mario Avagliano in diesem Band.
17 | Vgl. Karl Löwith: Weltgeschichte und Heilsgeschehen. Zur Kritik der Geschichtsphilosophie. Sämtliche Schriften, Bd. 2, Stuttgart 1983, S. 228-239; Ders.: Der europäische Nihilismus. Betrachtungen zur Vorgeschichte des europäischen Krieges, in: Ders.: Weltgeschichte und Heilsgeschehen, S. 473-541, hier: S. 506-511. 18 | Vgl. Löwith: Weltgeschichte und Heilsgeschehen, S. 14. 19 | Ebd., S. 345.
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rige Reich‘ von weitaus kürzerer Dauer sein sollte, als es die Machthaber in Deutschland annahmen: „Mein Leben ist nun in der Tat durch den Abbruch der Emanzipation in Deutschland bedingt, und daraus ergibt sich die Zuspitzung auf einen springenden Punkt: dass man Deutscher oder Jude ist, gerade weil in Deutschland das eine vom anderen getrennt worden ist. Auch wer sich neu beheimaten kann und das Bürgerrecht eines anderen Landes erwirbt, wird einen grossen [sic!] Teil seines Lebens verbrauchen, um diesen Riss auszufüllen, und zwar um so mehr, je selbstverständlicher er vor Hitler ein Deutscher war und sich als solcher empfand. Obwohl dem so ist, ist die Geschichte des eigenen Lebens nicht auf e i n e Frage zusammenzuziehen. Die Welt ist weiter und das Leben reicher, als sich ‚vor‘ und ‚nach‘ irgendwem einteilen liesse [sic!]. Nur die Geschichte kennt solche Einschnitte, aber alle Geschichten überleben sich selbst und beständig bleibt nur, was weder ein vorher noch nachher kennt, weil es immer so ist, wie es schon war und auch sein wird.“20
Löwith ist der Geschichte und der Zeiteinteilung in historische Zäsuren skeptisch gesinnt, dennoch ist er ein überaus scharfsinniger Beobachter seiner unmittelbaren Umgebung. Die politische Geschichte bildet für ihn lediglich den Rahmen, deshalb konzentriert sich der am Individuum und dessen Rolle in der Gesellschaft interessierte Philosoph auf Mentalitäten. Die Forschungsinteressen beeinflussen den Zeitzeugen in Sichtweise und Wahrnehmung, nicht umsonst heißen die Titel von Löwiths ersten Studien Menschen und Menschenwelt. Beiträge zur Anthropologie oder Das Individuum in der Rolle des Mitmenschen. Gerade die Machtübernahme der Nationalsozialisten im Januar 1933 und die Folgen dieses Einschnittes für das Leben in Deutschland, veranlassen ihn zu Urteilen über die Reaktionen seiner Zeitgenossen. Gleich einem Anthropologen betreibt er Feldforschung und gleich einem Historiker sammelt er Material – schriftliche Dokumente und Fotografien – und er tut dies transnational, denn er berichtet über Deutsche, Italiener und Japaner und versucht, vergleichende Gesamturteile zu ziehen.21 Besonders eindringlich sind die Schilderungen persönlicher Begegnungen – oft mit Persönlichkeiten der politischen und akademischen Elite seiner Zeit, so dass ihn der Sozialhistoriker Koselleck als einen wahren Meister des biografischen Kurzportraits mit „taciteischem“ Stil bezeichnet, der sowohl Opportunisten, Ehrgeizlinge und Fanatiker eben dieser unruhigen Zeiten meisterhaft entlarvt, als auch Mensch gebliebene
20 | Vgl. Löwith: Mein Leben in Deutschland, S. 136. 21 | Eine eindrucksvolle Quelle dieser Sammelleidenschaft ist Löwiths Reisetagebuch: Karl Löwith: Reisetagebuch 1936 und 1941. Von Rom nach Sendai, von Japan nach Amerika, Marbach 2001.
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Zeitgenossen entsprechend schildert.22 Der Philosoph Löwith verweist auch klar auf die Grenzen seines Lebensberichtes, indem er selbstkritisch in dessen Einleitung vermerkt: „Die folgenden Aufzeichnungen wollen eigenes Material zur Veranschaulichung dieses ‚Umbruchs‘ geben. Sie beruhen ausschließlich auf der Erinnerung eigener Erlebnisse sowie auf Briefen und anderen authentischen Dokumenten, welche ich seit 1933 in der ihnen zukommenden Unvollständigkeit und Zufälligkeit aufbewahrt habe. Gemessen an den offiziellen Berichten des Nürnberger Parteitags, oder auch an inoffiziellen Berichten über die Konzentrationslager, sind die Worte und Handlungen, die mich persönlich betrafen, so unbedeutend wie das Geschick eines deutschen Privatdozenten im Vergleich zu einer totalen und systematischen Umwälzung. […] Sie geben nicht mehr und nicht weniger als ein alltägliches Bild von dem, was im beschränkten Umkreis eines unpolitischen Einzelnen wirklich geschah.“23
Die Judenverfolgung der 1930er Jahre und die eigene Exilerfahrung sind zentrale Themen in Löwiths Autobiografie, jedoch identifizierte er sich im Gegensatz zu anderen Exilanten, die wie er Opfer des nationalsozialistischen Abstammungsdenkens wurden, nicht mit seiner jüdischen Herkunft, sondern sah in seiner Vertreibung einen Verrat an der deutschen Identität. Den nach Rom emigrierten Kirchengelehrten Erik Peterson verunsicherte es sogar, dass Löwith „weder auf die Seite des Judentums noch des Christentums trat“.24 Diese Betrachtungen eines nach eigenen Worten „unpolitisch“ gebliebenen Skeptikers wurden in einigen Beiträgen in der Forschung zu Juden im japanischen Exil problematisiert. Deshalb soll auf diese Diskussion rekurriert werden, bevor auf Löwiths Exiljahre im faschistischen Italien eingegangen wird, die bisher noch nicht in den Fokus der Löwith-Forschung gerieten.
22 | Vgl. Löwith: Mein Leben in Deutschland, S. X; siehe ebd., S. 57-60; das Kapitel ‚Mein letztes Wiedersehen mit Husserl in Freiburg 1933 und mit Heidegger in Rom‘, d.h. der Abschnitt, der von Löwiths und Heideggers Treffen in Rom zeugt, wurde sogar ins Englische übersetzt, vgl. Karl Löwith: My Last Meeting with Heidegger in Rome, 1936, in: New German Critique: An Interdisciplinary Journal of German Studies 45, 1988, S. 115-116; zur späteren Kritik an Heidegger vgl. Karl Löwith: Heidegger – Denker in dürftiger Zeit. Zur Stellung der Philosophie im 20. Jahrhundert. Sämtliche Schriften, Bd. 8, Stuttgart 1984.
23 | Löwith: Mein Leben in Deutschland, S. 2. 24 | Ebd., S. 94.
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K ARL L ÖWITH IN DER F ORSCHUNG ZUM JAPANISCHEN E XIL I NTERKULTURELLE K ULTURTEXTE Als Karl und Ada Löwith etwa Mitte Oktober 1936 in Neapel die Suwa Maru – einen japanischen Überseedampfer – besteigen, befinden sie sich hauptsächlich unter Japanern und sind neben einigen Amerikanern und Engländern die einzigen Deutschen.25 Mit der Gewissheit, in einen völlig fremden Kulturkreis aufzubrechen, notiert Löwith wenige Tage vor der Abfahrt in sein „Reisetagebuch“: „‚Credere, obbedire, combattere‘ heißt es in der Stadt des Papstes und in dem gehorsamswilligen Deutschland und im marxistischen Russland, dessen Revolution doch die gewichtigste und ehrlichste und mit den größten Opfern und Untaten bezahlte ist.“26
Erleichtert ist er fast, dass ihm die Entscheidung abgenommen wurde, sich als Beamter in die Dienste des nationalsozialistischen Staates zu stellen, eines Staates dessen ‚Weltanschauung‘ alle Philosophie überflüssig mache. Denn faktisch genieße er „das Privileg des frei gebliebenen Geistes, des Exilierten“ und würde „mit diesem leichten Gepäck der negativen Freiheit“ in ein fremdes Land ziehen, „um dort, unter wirklich Fremdrassigen, wieder zum ‚Deutschen‘ zu werden, während einen die ‚Volksgenossen‘ des eigenen Landes verleumden und diffamieren, soweit sie nicht – mit wenigen Ausnahmen – etwas betreten bei der Begegnung ausweichen.“27
Eigentlich Patriot, aber aus der sogenannten Volksgemeinschaft ausgeschlossen, notiert er folgende Worte, die ihm und uns noch einmal vor Augen führen, dass das zurückliegende Europa sich in einem Transformationsprozess befand, der von den faschistischen Machthabern in Deutschland und Italien vorangetrieben wurde. „Beim Verlassen des Hafens von Neapel überfällt mich beim Klang der fremden Nationalhymne noch einmal das ganze Elend des Zwanges zur Emigration. Es wäre nicht so aufreizend und bedrückend, wenn man nicht wüsste, das selbst die meisten ‚guten‘ Deutschen so hoffnungslos der Presse, dem Radio und der Propaganda anheimgefallen sind, dass sie sich unter ‚Emigranten‘ nur noch hasserfüllte Subjekte, ‚Greulpropaganda‘ und unsaubere Elemente vorzustellen vermögen, deren Lebenszweck darin besteht, Deutschland im Ausland zu schaden, während doch eben diese guten Deutschen so25 | Vgl. Löwith: Reisetagebuch, S. 15. 26 | Ebd., S. 13. 27 | Ebd.
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wohl die noch in Deutschland lebenden wie die zur Auswanderung gezwungenen Juden und sogar die im Krieg für Deutschland Gefallenen in einer wahrhaft niederträchtigen Weise behandeln und von dem lautlosen Anstand so vieler Betroffenen keine blasse Ahnung haben und haben wollen, um nicht in ihrer allzu einfachen ‚Lösung der Judenfrage‘ gestört zu sein. Die Judenfrage ist nun zwar in Deutschland gelöst – aber das deutsche Problem ist damit keineswegs gelöst, und ein deutscher Jude weiss [sic!] immer noch besser, was deutsch ist als ein germanischer Deutschtümling.“28
Dennoch resigniert Löwith nicht. Von den japanischen Kollegen und Studenten an der Gastuniversität wird der deutsche Philosoph hochgeschätzt, weil er aus erster Quelle europäische Philosophiegeschichte vermittelt.29 Sein Stoizismus hilft ihm, in der vita contemplativa die fremde Kultur zu studieren, um Rückschlüsse auf die eigene Kultur zu ziehen. Das Land das ihm als eine Inversion der europäischen Kultur erscheint, dort wo der geschlossene Regenschirm nicht am Griff, sondern an der Spitze getragen wird, wird zur Erfahrung und zum Studium der eigenen Kultur.30 So schreibt er 1942 – kurz nachdem er in die USA geflüchtet war – in dem Aufsatz Japan’s Westernization and Moral Fondation31: „Ein paar Jahre im Fernen Osten sind für ein kritisches, das heißt differenziertes Verständnis unserer selbst unerlässlich. Alle unsere Begriffe und Worte wie Diktatur und totalitärer Staat, Kaiser und Familie, Treue und Aufrichtigkeit, das Menschliche und das Göttliche haben, auf die Japaner angewandt, eine andere Bedeutung und anderen Wertemaßstab.“32
Der Germanist Thomas Pekar zählt deshalb Löwiths Texte zu Kulturtexten, die einerseits idealtypisch für das Festhalten an der Heimatkultur stehen, andererseits in einem interkulturellen Zwischenraum zu lokalisieren sind, da Löwith die eigene Kultur mittels Verwendungen der fernöstlichen Denkweisen de-
28 | Löwith: Reisetagebuch, S. 14f. 29 | Zur bis heute noch sehr aktiven Löwith-Rezeption in Japan vgl. Wolfgang Schwentker: Karl Löwith und Japan, in: Archiv für Kulturgeschichte 76, 1994, S. 415-449.
30 | Vgl. Curriculum vitae (1959), in: Löwith: Mein Leben in Deutschland, S. 187-186. 31 | Erstveröffentlichung in: Religion and Life. A Christian Quaterly of Opinion and Discussion, 12,1/1942-43, S. 114-127; siehe auch Karl Löwith: Weltgeschichte und Heilsgeschehen, S. 541556; im Folgenden wird aus der neuestens erschienenen deutschen Übersetzung zitiert: Karl Löwith: Japans Verwestlichung und moralische Grundlage 1942-43, in: Ders.: Der japanische Geist, hg. v. Lorenz Jäger, Berlin 2013, S. 48-74.
32 | Löwith: Japans Verwestlichung, S. 48.
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konstruiere.33 Zudem ist auffällig, wie der Germanist Josef Fürnkäs in einem Beitrag zu Karl Löwith untersucht, dass Löwith entschieden von ‚Emigration‘, nicht von ‚Exil‘ spricht, wie man es nach dem heutigen Sprachgebrauch und den begrifflichen Konventionen der deutschen Exilforschung erwarten müsse.34 Löwith habe in seinem Lebenslauf die Jahre seiner ‚Emigration‘ aus der Rückschau gar als „eine Reihe glücklicher Zufälle, die man gern Schicksal nennt“ betrachtet: Einzig in den ersten Aufzeichnungen von Löwiths Reisetagebuch Von Rom nach Sendai würden die Begriffe des ‚Exils‘ und des ‚Exilierten‘ fallen. Wohl unmittelbar unter dem Eindruck des Abschieds von Italien und Europa, den die Abreise von Rom mit seiner Frau Ada bedeutete, sei hier mit historisierender Anspielung auf das vergangene, alteuropäische Aristokratenleben gar vom „soggiorno und freiherrlichem Exil“ die Rede. Zu dieser Selbsteinschätzung trug bestimmt bei, dass Löwith im japanischen Exil wenig materielle Entbehrungen erleiden musste und an der japanischen Universität Philosophie und Literatur auf Deutsch lehren konnte. Im Gegensatz zu Rom war er auch wieder im Besitz seiner Bibliothek.35 Deshalb verstand er Sendai eher als Zufluchtsstätte, wo er bisherige Studien wieder aufnehmen konnte, als dass er es als Verbannungsstätte wahrnahm. Löwith schreibt in seinem ‚Lebensbericht‘ an die Harvard Universität: „In Sendai stand uns ein Haus der Universität zur Verfügung, im Januar kamen unsere Möbel und Bücher nach und wir fühlten uns alsbald wie zuhause, sodass wir uns manchmal versprachen und ‚Marburg‘ statt ‚Sendai‘ sagten.“36
Birgit Pansa kommt in ihrer Studie Juden unter japanischer Herrschaft. Jüdische Exilerfahrungen und der Sonderfall Karl Löwith zu einem schonungslosen Urteil und kritisiert, dass Löwiths Äußerungen völlig apolitisch und folglich für die Diskussion um das politische und jüdische Exil nutzlos seien. Seine Autobiographie sei eine oberflächliche Beschreibung der Ereignisse seines Privatlebens. Auffällig an der Darstellungsweise sei zudem die fehlende Betroffenheit des Autors.37 Jedoch stellt Fürnkäs mit Recht fest, dass die Kritikerin übersehe,
33 | Thomas Pekar: Kultur-Texte des japanischen Exils. Karl Löwith, Kurt Bauchwitz und Kurt Singer, in: Ders. (Hg.): Flucht und Rettung. Exil im japanischen Herrschaftsbereich (1933-1945), Berlin 2011, S. 179-191, hier: S. 184.
34 | Josef Fürnkäs: Von Europa nach Amerika. Karl Löwith, ein philosophischer Skeptiker in Sendai, in: ebd., S. 192-217, hier: S. 193.
35 | Vgl. Löwith: Mein Leben in Deutschland, S. 57-58; Heidegger, der Löwith in Rom besuchte, war betroffen von der dürftigen Einrichtung der Löwiths und der fehlenden Bibliothek.
36 | Ebd., S. 111. 37 | Birgit Pansa: Juden unter japanischer Herrschaft. Jüdische Exilerfahrungen und der Sonderfall Karl Löwith, München 1999, S. 111.
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dass Löwiths Text als Bericht nicht als Autobiographie im klassischen Sinne zu verstehen sei. Da der Bericht an die Auswahlkommission der Havard University ging, hatte er durchaus eine politische Dimension.38 Außerdem habe Pansa nicht beachtet, dass Löwith sich selbstkritisch zu seinem philosophischen Schreibstil und der Besonderheit seiner Situation geäußert habe. Mit der Situation der sich im Shanghaier Exil und späteren ‚Ghetto‘ befindenden Juden ist Löwiths Aufenthalt in Sendai natürlich nicht gleichzusetzen und somit war Löwiths Schicksal ein „Sonderfall“39, jedoch ist es auch verfehlt, ihn als gefühllosen und unbeteiligten Zeugen dieser Zeit hinzustellen. Aufschluss gibt uns das zweijährige ‚freiherrliche‘ Exil in Rom, denn im Gegensatz zu Sendai, wo die Löwiths die einzigen deutsch-jüdischen Exilanten waren und verständlicherweise kaum Kontakt zu ansässigen Auslandsdeutschen pflegten – die meisten Deutschen vor Ort verstanden sich schließlich als Botschafter der nationalsozialistischen ‚Weltanschauung‘ –, verkehrte Löwith in Rom häufiger mit dort ansässigen Auswanderern, die NS-Deutschland wegen ihrer politischen Gesinnung oder wegen Rassendiskriminierung verlassen hatten. Als Zuhörer von geisteswissenschaftlichen Vorträgen an den deutsch-italienischen Instituten in Rom wurde er zudem Zeuge des sich mit der ‚Achse Berlin-Rom‘ wandelnden Kulturaustausches zwischen Deutschland und Italien.
D IE Z EIT IN I TALIEN : L ÖWITH ZU DEUTSCH - ITALIENISCHEN N ETZWERKEN UND ZUR J UDENVERFOLGUNG IN I TALIEN Es mag erstaunlich erscheinen, doch war das faschistische Italien für viele deutsche Juden, die nach 1933 mit den ersten Wellen nationalsozialistischer Verfolgung ihre Heimat verließen, eine wichtige Zufluchtsstätte, wenn auch meist Transitland. Ein wichtiger Grund, dass so viele Juden Italien als Zufluchtsland wählten, dessen politisches System doch dem Nationalsozialismus in vielen Punkten als Vorbild diente40, war, dass Juden vorerst keine Nachstellungen zu fürchten hatten, sondern in relativer Freiheit leben konnten und noch solange rechtliche Gleichstellung genossen, bis Benito Mussolini 1938
38 | Zu Fürnkäs’ Kritik an Pansa vgl. Fürnkäs: Von Europa nach Amerika, S. 198-205. 39 | Zum Shanghaier Exil und zur japanischen Judenpolitik vgl. Heinz Eberhard Maul: Warum Japan keine Juden verfolgte. Die Judenpolitik des Kaiserreiches Japan während der Zeit des Nationalsozialismus (1933-1945), München 2007; und Martin Kaneko: Die Judenpolitik der japanischen Kriegsregierung, Berlin 2008.
40 | Vgl. Wolfgang Schieder: Das Italienische Experiment. Der Faschismus als Vorbild in der Krise der Weimarer Republik, in: Historische Zeitschrift 262, 1996, S. 47-70.
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ebenso antijüdische Rassengesetze verkünden ließ.41 Auch Löwith hatte in Italien seitens der faschistischen Regierung wegen seiner jüdischen Herkunft keine Entbehrungen zu erleiden. Löwith erinnert sich in seinem Reisetagebuch in den letzten Tagen in Italien: „Und wieder zehn Jahre früher, im Juli 1915, ging mir Italien als Kriegsgefangener auf. Seitdem liebe ich dieses Land und seine Menschen, als wäre ich hier irgend einmal von Natur aus zu Hause gewesen. Man kann hier leben, ohne etwas Bestimmtes für die nächste und weitere Zukunft zu tun – selbst heute noch, unter dem Druck der politischen Mächte und der grossen [sic!] (schlechten) Geschäfte.“42
Auch in seinem Bericht an die Harvard Universität schreibt er über die Situation der deutschen Emigranten: „Italiens Politik hatte sich damals noch nicht auf die Achse versteift, im Gegenteil: Mussolini machte mit Österreich gemeinsame Politik gegen den Anschluss an Deutschland, und die deutschen Emigranten waren infolgedessen wohlaufgenommen, wenigstens machte man ihnen keine besonderen Schwierigkeiten.“43
Als die Löwiths 1934 von Deutschland nach Italien ‚emigrierten‘, gab es Verwerfungen zwischen dem deutschen Nationalsozialismus und dem italienischen Faschismus. Wegen der ‚Österreichfrage‘ und um nicht als möglicher Juniorpartner des rasch allzu mächtig werdenden politischen Systems nördlich der Alpen dazustehen, kritisierten Benito Mussolini und andere italienische Faschistenführer 1934 den Nationalsozialismus. Zwei Jahre später, als Löwith Italien am 15. Oktober 1936 verließ, und nachdem die italienische Armee völkerrechtswidrig in Abessinien eingefallen war, waren die Machthaber beider Regime auf Zusammenarbeit eingestellt. Mussolini hatte seine Oppositionshaltung gegenüber Deutschland vergessen und rief am 1. November 1936 die ‚Achse Berlin Rom‘ aus. Zwei Besuche nationalsozialistischer Politiker bilden den äußeren Rahmen, an dem sich der Wechsel des politischen Kurses nachvollziehen lässt: Einmal der Staatsbesuch von Reichskanzler Adolf Hitler im Juni 1934 und zweitens der inoffizielle Besuch von Justizminister Hans Frank im Frühjahr 1936. Dass die Nationalsozialisten beim Besuch von 1934 noch von dem rauschenden Propagandaspektakel der italienischen Faschisten lernen konnten, zeigt sich darin, dass Hitler im Sommermantel erschienen war
41 | Immer noch maßgeblich die Studien von Klaus Voigt: Zuflucht auf Widerruf: Exil in Italien 1933-1945, 2 Bde., Stuttgart 1989-1993; zu Italien als Zufluchtsland vgl. Bd. 1, S. 17-65. 42 | Vgl. Löwith: Reisetagebuch 1936 und 1941, S. 7. 43 | Vgl. Löwith: Mein Leben in Deutschland, S. 82.
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und neben Mussolini in Uniform marschieren musste.44 Löwith kommentierte den Staatsbesuch mit den Worten eines italienischen Matrosen: „Unübertrefflich charakterisierte mir nach Hitlers missglücktem Besuch in Venedig (1934) ein Matrose seinen Duce und unseren Führer: ‚Questo qui‘ [Dieser da] mache doch immer eine ‚bella figura‘ [gute Figur], ‚questo qua‘ [jener da] habe eine ‚faccia stravolta e meschina‘ [verwirrten und gemeinen Gesichtsausdruck].“45
Als der Minister Frank nach Italien kam, hatte sich das Blatt gewendet. Denn entscheidend war, dass Frank von Mussolini zu einer Audienz empfangen wurde, nach deren Zustandekommen die ‚Achse Berlin Rom‘ ausgerufen wurde.46 Dem Protokoll nach war Frank nicht auf Staatsbesuch, sondern wurde zu einem kulturpolitischen Vortrag in das Istituto Fascista di Cultura eingeladen. Die jüngere Faschismusforschung konnte in mehreren Fällen darlegen, dass solche Vortragsreisen paralleldiplomatische Ziele verfolgten, die Rückschlüsse über die inhaltliche Nähe zwischen italienischem Faschismus und deutschem Nationalsozialismus zulassen.47 Auffällig ist, dass der den Nationalsozialisten missliebige deutsche Botschafter Ulrich von Hassell beim Besuch des Ministers nur als Quartiermacher fungierte.48 Löwith hielt jedoch Franks Vortrag, der den „Italienern die Notwendigkeit der deutschen Rassengesetze beibringen sollte“, nicht für besonders erfolgreich49, jedoch konnte er nicht die Verhandlungen hinter ‚verschlossener Tür‘ beobachten, die oft das eigentlich Ziel dieser kulturpolitischen Missionen waren50, und war sich auch nicht bewusst,
44 | Vgl. Wolfgang Schieder: Mythos Mussolini. Deutsche in Audienz beim Duce, München 2013, S. 169-170; siehe auch Nina Breitsprecher: Die Ankunft des Anderen im interepochalen Vergleich. Heinrich III. von Frankreich und Adolf Hitler in Venedig, in: Susann Baller (Hg.): Die Ankunft des Anderen. Repräsentationen sozialer und politischer Ordnungen in Empfangszeremonien, Frankfurt a.M. 2008, S. 82-105. 45 | Vgl. Löwith: Mein Leben in Deutschland, S. 83. 46 | Vgl. Schieder: Mythos Mussolini, S. 178-180. 47 | Vgl. Sven Reichardt (Hg.): Faschismus in Italien und Deutschland. Studien zu Transfer und Vergleich, Göttingen 2005; zu dem Mittelsmann Giuseppe Renzetti vgl. den Beitrag Wolfgang Schieder: Faschismus im politischen Transfer. Giuseppe Renzetti als faschistischer Propagandist und Geheimagent in Berlin 1922-1944, in: Ebd., S. 28-58; zum Fall Guido Manacorda vgl. Patrick Ostermann: „Col Duce e con Dio!“ Historische und wissenssoziologische Unter suchungen zu der katholisch-faschistischen Intellektuellengruppe um Guido Manacorda (1879-1965). Die Drucklegung ist in Vorbereitung.
48 | Vgl. Schieder: Mythos Mussolini, S. 179. 49 | Vgl. Löwith: Mein Leben in Deutschland, S. 85. 50 | Aufschlussreich ist hier auch die geheime Audienz des Reporters Sven von Müller vom Hamburger Fremdenblatt vom 9.7.1935, dem Mussolini mitteilte, dass „Juden keine Faschisten
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dass man den Auftritt von der italienischen Seite für durchaus wichtig erachtete, da man Franks Vortrag später als Broschüre auf Italienisch veröffentlichte.51 Karl Löwith hörte nicht nur den deutschen Justizminister reden, sondern auch die neuen Koryphäen der Wissenschaft im ‚Dritten Reich‘. Von besonderem Wert sind deshalb Löwiths Beobachtungen zu deutsch-italienischen Netzwerken im Vorfeld der ‚Achse‘. In seinem Lebensbericht widmet er dem Thema deutsch-italienische Kontakte die Kapitel ‚Italiener und Deutsche‘, ‚Nationalsozialistische Professoren in Rom‘ und ‚Zwei deutsche Institutsdirektoren‘. Löwith schreibt über die Vorträge, die deutsche Professoren am Istituto Italiano di Studi Germanici und an der Bibliotheca Hertziana hielten.52 Sein Urteil basiert auf Begegnungen mit eben diesen Wissenschaftlern, die sich karrierebewusst auf nationalsozialistischer Mission befanden und den Geist der ‚Nationalen Erhebung‘ von 1923 in Italien beschworen. Die Professoren, auf die Löwith in Rom traf, waren oft ehemalige gute Bekannte und bildeten die wissenschaftliche Elite des ‚Dritten Reiches‘: Sein Lehrer Martin Heidegger, der Germanist Hans Naumann, der Philosoph Hans Heyse, Staatsrat Carl Schmitt, der Geograph Karl Ernst Haushofer und der Soziologe Hans Freyer.53 Bereits von Distanz gekennzeichnet war das Wiedersehen mit Heidegger in hinter die nationalsozialistische Ideologie stellte; schmerzlich war dann für Löwith im japanischen Exil, dass der eigene Lehrer nicht einmal mehr auf seine Briefe antwortete.54 Löwiths Fazit ist eindeutig. Deutsche sind Fanatiker mit Kadavergehorsam und Italiener bleiben auch in der Diktatur ihrem Individualismus noch treu: „Der Deutsche nimmt den N.S. als eine Doktrin, mit der es ihm blutiger Ernst ist; der Italiener betrachtet seinen Faschismus als Mittel zum Zweck und lässt sich durch nichts imponieren. Der Deutsche ist pedantisch und intolerant, denn er nimmt die Sache stets
sein könnten“ und er sie deshalb aus den wichtigen Ämtern entfernt habe, vgl. Schieder: Mythos Mussolini, S. 174-176.
51 | Vgl. Schieder: Mythos Mussolini, S. 179. 52 | Zur Bedeutung der Bibliotheca Hertziana als Treffpunkt nationalsozialistischer und italienischer Politiker, vgl. Rüdiger Hachtmann: Wissenschaftsmanagement im „Dritten Reich“. Geschichte der Generalverwaltung der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft, Bd. 1, Göttingen 2007, S. 544-556; Kilian Bartikowski: Der italienische Antisemitismus im Urteil des Nationalsozialismus 1933-1943, Berlin 2013, S. 137-151; Wolfgang Schieder: Werner Hoppenstedt in der Bibliotheca Hertziana. Perversion von Kulturwissenschaft im Nationalsozialismus (1933-1945), in: Sybille Ebert-Schifferer und Marieke von Bernstorff (Hg.): 100 Jahre Bibliotheca Hertziana, Max-PlanckInstitut für Kunstgeschichte. Die Geschichte des Instituts 1913-2013, München 2013, S. 90-115.
53 | Löwith: Mein Leben in Deutschland, S. 85. 54 | Vgl. FN 21.
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prinzipiell, indem er sich von dem Menschen trennt; der Italiener ist auch im schwarzen Hemd noch human, weil er einen Sinn für die menschlichen Schwächen hat.“ 55
Ein typisches Beispiel für diesen ‚Opportunismus mit gutem Gewissen‘ bei den Italienern, der nichts mit der deutschen ‚Gleichschaltung‘ gemein habe, sieht er bei Giuseppe Gabetti, dem damaligen Direktor des Istituto Italiano di Studi Germanici in der Villa ‚Sciara‘ in Rom. Zwar habe Gabetti alle Schwankungen des italienischen Faschismus mitgemacht, z.B. habe er den jüdischen Emigranten Karl Wolfskehl, einen George-Schüler, 1934 noch eine Gedenkrede auf den Meister halten lassen, 1936 habe er es vermieden, den Literaturhistoriker Max Kommerel einzuladen, weil dieser in der NSDAP nicht beliebt war. Löwith sieht hinter dieser Politik der Institutsleitung ein recht einfaches Prinzip: Gelderbeschaffung.56 Freilich stößt Löwith in seinen Beobachtungen immer wieder an Grenzen, wie er selbstkritisch im Vorwort seines Berichts reflektiert.57 Wie beurteilt er die Situation der in Italien lebenden Juden, die ab Mitte der 1930er Jahre auch hier immer beklemmender wurde?
J UDENVERFOLGUNG IN I TALIEN Den 1938 in Italien zur Staatsräson gewordenen Antisemitismus hat Löwith nicht selbst erfahren müssen. Aber von Japan aus stand er mit deutschen Emigranten in Rom – verbunden durch das ähnliche Schicksal – noch im Briefkontakt. Durch die italienischen Rassengesetze wurde diese Gruppe am stärksten von Staatenlosigkeit bedroht. Dem faschistischen Regime in Italien waren sie – sowohl als Ausländer als auch als Juden suspekt geworden – wegen des Achsenbündnisses ein Dorn im Auge.58 Löwith nahm deshalb kein Blatt
55 | Löwith: Mein Leben in Deutschland, S. 82. 56 | Ebd., S. 83. 57 | Vgl. FN 22. 58 | Vgl. Voigt: Zuflucht auf Widerruf, S. 122-140; während Hitlers Staatsbesuch im April 1938 wurden jüdische Emigranten im Geheimen von der italienischen Polizei verhaftet, da sie als ‚Achsengegner‘ galten, bereits am 1. April 1936 kam es mit einem geheimen Polizeiabkommen zwischen Heinrich Himmler und dem italienischen Polizeichef Arturo Bocchini zu einer gemeinsamen ‚Gegnerbekämpfung‘ zwischen Faschismus und Nationalsozialismus, die die internationale Rechtsgrundlage nicht berücksichtigte, vgl. Patrick Bernhard: Konzertierte Gegnerbekämpfung im Achsenbündnis. Die Polizei im Dritten Reich und im faschistischen Italien 1933 bis 1943, in: VfZ 59, 2/2011, S. 229-259; Juden waren zwar noch nicht explizit Bestandteil dieses Abkommens, jedoch führte der nach 1938 eingeführte staatliche Antisemitismus dazu, dass sie nach Italiens Kriegseintritt interniert wurden, vgl. Voigt: Zuflucht auf Widerruf, Bd.2, S. 299-304.
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vor den Mund und schilderte die Situation der zurückgebliebenen Freunde mit unverhohlener Empörung: „Die meisten unserer römischen Bekannten wurden 1938 durch die italienischen Rassengesetze aufs Neue vertrieben, nachdem sie sich in fünf mühsamen Jahren eine dürftige Existenz erarbeitet hatten. Sechs Monate hatten sie Zeit, um sich für irgendeinen Teil der weiten Welt, die noch nie so eng war, ein Visum zu erkämpfen und sich einen Schiffsplatz zu sichern. Sandsteins verkauften ihre Pension an Parterreakrobaten, um sich das Reisegeld zu beschaffen; sie wanderten zu einem Freund nach Bolivien aus. Die meisten gingen nach [sic!] USA und einer nach England.“59
Zu den italienischen Gesetzen bemerkt Löwith: „Diese Gesetze waren trotz etwas gelinderer Formen im Grunde noch schmählicher als die deutschen, denn Italien hatte ja selbst den Emigranten eine Zuflucht gewährt, ehe es sie wieder des Landes verwies. Selbst von den legal aus Deutschland transferierten Vermögensanteilen durften die deutschen Emigranten nur 2000 Lire (das entsprach etwa 500 Reichsmark) mit sich nehmen. Alle Mühe, Arbeit, Aufwendungen und Hoffnungen waren mit einem Schlag vernichtet.“60
Für die nach Italien geflohenen Juden verschlechterte sich die soziale Situation nahezu von einem Tag auf den anderen. Wie Löwith schilderte und wie es Klaus Voigt in seinen profunden Studien zur Flüchtlingsthematik formuliert hat, erhielten die deutschen Juden eine ‚Zuflucht auf Widerruf‘. Die ausländischen Juden, die durch ein nach den italienischen Gesetzen veröffentlichtes Ausweisungsdekret zur Emigration gezwungen waren, verloren nicht nur ihr Aufenthaltsrecht. Sie mussten ein zweites Mal ihr gesamtes Hab und Gut abgeben. Wer es sich leisten konnte, verließ Italien. Mit dem Ausweisungsdekret war aber gleichzeitig ein allgemeines Arbeitsverbot verbunden, das mit dem Stichtag der Ausweisung am 12. März 1939 in Kraft trat. Die bis zu diesem Zeitpunkt noch nicht aus Italien emigrierten ausländischen Juden verarmten und verelendeten rasch. Besonders hart traf es die vertriebenen, nahezu mittellosen jüdischen Flüchtlinge aus dem von Deutschland annektierten Österreich. Sie standen vor der absurden Situation, sowohl in Deutschland als auch in Italien abgeschoben zu werden, ohne die nötigen Geldmittel für die Ausreise auf bringen zu können. Durch das Vorgehen der italienischen Behörden wurden Not und Verzweiflung zum Alltag der Zurückgebliebenen, und es kam zu
59 | Löwith: Mein Leben in Deutschland, S. 95; zu den Emigranten in Rom, vgl. ebd., S. 89-95. 60 | Ebd., S. 95.
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einem statistisch nicht erfassten Anstieg an Suiziden.61 Andererseits bezeugen die Erinnerungen der Vertriebenen nicht nur Not und Entbehrung, sondern auch immer wieder die individuelle Hilfsbereitschaft einzelner Italiener. Aber über solche Themen durfte nicht offen gesprochen werden. Als sich Löwith von Japan per Brief bei einem namentlich nicht genannten Freund in Italien nach dem Schicksal der Zurückgebliebenen erkundigte, schien dies dem Empfänger gefährlich, und er bat Löwith mit einem indirekten Hinweis auf die faschistische Zensur, über „solche Fragen“ in Briefen lieber zu schweigen.62
R ESÜMEE Wie lassen sich Löwiths Urteile deuten? Bei den Diktaturerfahrungen differenziert er, wenn er sich den Mentalitäten in den einzelnen Ländern widmet. Die eigenen Landsleute schildert Löwith im Vergleich zu den Italienern als unbarmherzig, militärisch und obrigkeitshörig. Das autoritäre System Japans, das für ihn idealtypisch für den asiatischen Kontext steht, lässt sich seiner Meinung nach nicht an europäischen Maßstäben messen, sondern muss aus dem eigenen kulturellen Kontext betrachtet werden. Gewiss ist sein Urteil auch von nationalen Stereotypen – wie sie in Zeitzeugenberichten oft vorkommen – beeinflusst.63 Jedoch spielen diese bei seiner Einschätzung über die drastisch verschlechterte Situation der Juden im faschistischen Italien keine Rolle. Die ausgrenzenden Wirkungen der italienischen Rassengesetze und der ‚Nürnberger Gesetze‘ sind für Löwith gleichermaßen unmenschlich. Von Bedeutung ist die zeitliche Nähe von Löwiths Bericht. Im Vergleich zu Arendt und ihrem Bericht über den Eichmannprozess, der maßgeblich die Diskussionen um die ‚Endlösung‘ voranbrachte, kannte Löwith noch nicht die Dimensionen des nationalsozialistischen Völkermordes. Arendts Urteil muss aber auch in seinem zeitlichen Kontext betrachtet werden, denn in Anbetracht der Größenordnung dieses Verbrechens und ausgehend vom damaligen Wissensstand der Geschichtswissenschaft existierte für die Philosophin – abgesehen von der Judenfeindschaft der Kirche – kaum Judenhass in Italien. Im Gegensatz zu Arendt war Löwiths Urteil aber auch nicht von der Historiographie der 1960er Jahre geprägt, die den in Italien ab Mitte 61 | Zur Situation der ausländischen Juden im faschistischen Italien, vgl. Voigt: Zuflucht auf Widerruf, S. 342-348. 62 | Vgl. Löwith: Mein Leben in Deutschland, S. 96. 63 | Zur Problematik von Zeitzeugenberichten und Stereotypen, vgl. vor allem die Arbeiten von Harald Welzer, z.B. Harald Welzer: Re-narrations: How Pasts Change in Conversational Remembering, in: Memory Studies, 3/2010, S. 5-17, hier: S. 15f.; vgl. auch Sabrow und Frei: Die Geburt des Zeitzeugen nach 1945.
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der 1930er Jahre staatlich verordneten Rassismus und Antisemitismus auf den deutschen Druck zurückführte, was von den Ergebnissen der aktuellen Forschung widerlegt wurde.64 Löwith ist nicht an Ursachenforschung interessiert, jedoch verdeutlicht sein Zeitzeugenbericht, dass die Wissenschaftspolitik entschieden zum Auf bau von Kongruenzen im ‚Achsenbündnis‘ beitrug. Antisemitisches Gedankengut war zwar in der deutschen Kolonie in Rom verbreitet, jedoch wurde dieses erst nach Verabschiedung der italienischen Gesetze in die Bündnispolitik mitaufgenommen65, was die These einer autochthonen Entwicklung nochmal verstärkt. Löwiths Bericht zeugt vielmehr davon, wie die Opfer dieser Politik die Verschärfung der damaligen Situation durch den italienischen Antisemitismus wahrnahmen, auch wenn dieser nicht bis zur Extermination gedacht wurde.
64 | Vgl. Arendt: Eichmann in Jerusalem, S. 219; zur historiographischen Debatte vgl. Olindo de Napoli: The Origin of the Racist Laws under Fascism. A Problem of Historiography, in: Journal of Modern Italian Studies 17, 1/2012, S. 106-122. 65 | Vgl. zur deutsch-italienischen ‚Zusammenarbeit in rassenpolitischen Fragen‘ an der Biblitheca Hertziana, Bartikowski: Der italienische Antisemitismus im Urteil des Nationalsozialismus 1933-1943, S. 137-150.
Zeugen des Nicht-Erlebten Die faschistische und nationalsozialistische Verfolgung in den Erinnerungen der römischen Juden dritter Generation 1 Raffaella Di Castro
M EIN EISERNER K ASTEN Lange Jahre war es in einer Art Kasten tief in mir vergraben. […] Es mußte Menschen geben wie mich, die ebenfalls einen eisernen Kasten, ähnlich dem meinen, in sich herumtrugen. [...] Ich machte mich auf den Weg, um Menschen zu finden, die wie ich im Bann einer Geschichte lebten, die sie nicht selbst erlebt hatten. H ELEN E PSTEIN , D IE K INDER DES H OLOCAUST (1979)
Mit ‚dritter Generation‘ bezeichne ich nach gängiger Praxis die zwischen 1960 und 1980 geborenen Juden, da ihre Erinnerung an die faschistische und nationalsozialistische Verfolgung durch die Kindheitserfahrungen ihrer Eltern und durch die Erfahrungen ihrer damals schon erwachsenen Großeltern vermittelt wurde, aber auch, weil sie selbst in den letzten Jahren Zeugen einer doppelten Transformation in Bezug auf das Holocaustgedenken geworden sind. Diese Transformation markiert sozusagen den Eintritt in eine dritte Phase, die sich an die Erinnerungsbildung während der Ereignisse und die Tendenzen des Gedenkens in der Nachkriegszeit anschließt: den Übergang von einem ausschließlich privaten, einsamen und stummen Gedenken hin zu öffentlichen 1 | Dieser Beitrag ist eine Weiterentwicklung und Vertiefung meines Buchs: Testimoni del non-provato. Ricordare, pensare, immaginare la Shoah nella terza generazione, Roma 2008. Den Ausdruck ‚Zeugen des Nicht-Erlebten‘ übernehme ich von Maurice Blanchot: L’écriture du désastre, Paris 1980, S. 186.
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Gedenktagen, von einer „Ära der Zeitzeugen“ – wie die Historikerin Annette Wieviorka2 sie definiert – hin zu einem Gedenken, für das es bald keine Zeitzeugen mehr geben wird. Die dritte Generation ist meine Generation. Die Fragen, die ich mir in Bezug auf sie stelle, sind untrennbar mit der Entwicklung meines eigenen Gedächtnisses verbunden und mit dem Bedürfnis, mich einem Kern von ‚Erinnerungen‘ zu nähern, die, wie ich festgestellt habe, integraler Bestandteil meiner Identität sind. Als Ende der 1990er Jahre in einem allgemeinen Klima des erneuerten Interesses an der Judenverfolgung und -vernichtung in Europa auch das Tagebuch meines Großvaters erschien, in dem er die Geschichte meiner Familie in den Jahren 1938 bis 1944 beschreibt3, begannen mir Erinnerungen bewusst zu werden, in die ich zuvor nur eingetaucht gewesen war. Diese Vergangenheit vermischte sich in mir (Jahrgang 1970) mit einem paradoxen Gefühl, das zu intim und zugleich zu abstrakt war, losgelöst von Zeit und Raum, das nicht als Erinnerung oder Erzählung wiederzugeben war und das womöglich unausgesprochen in meinem Kopf verschüttet bleiben musste. Meine Mutter, die 1940 in Rom geboren ist, hat mir eigentlich immer von den Ereignissen ihrer frühen Kindheit – die für sie zum Glück gut ausgegangen sind – erzählt. Dennoch kann ich mich an nichts erinnern außer an ihr Weinen und meine Beklemmung. Das verfolgte, vor den Nazis flüchtende und sich unter falschem Namen versteckende Mädchen war ich – das war die Geschichte, andere interessierten mich nicht. In den Jahren zwischen 1999 und 2001 arbeitete ich auch mit der italienischen Kommission zur Verteilung des ‚Schweizer Bankenfonds für hilfsbedürftige Opfer der Shoah‘ bei der Deputazione Ebraica di Assistenza e Servizio Sociale (Jüdische Vertretung für Beratung und soziale Dienste) in Rom zusammen und interviewte Zeitzeugen der ersten Generation, von denen viele erstmalig über ihre Erfahrungen sprachen.4 Mein symbiotisches, aber leeres Gedächtnis begann sich mit Gesichtern, Daten, Dokumenten, wohlbekannten Straßenzügen, ähnlichen und unterschiedlichen Geschichten sowie offensichtlichen Spuren an Körper und Seele zu füllen. Ich fing an, unterscheiden zu können: zwischen mir und meiner Mutter, zwischen jener Vergangenheit und meinen eigenen Erlebnissen, zwischen wirklichen Orten und den Räumen in meinem Kopf. Zugleich konnte ich sie in mir wiedererkennen, mit der gleichen Beklemmung, die mich jedes Mal, wenn ich wieder mit diesen Dingen konfrontiert werde, befällt. Eine leere Beklemmung, die aber in Wirklich2 | Annette Wieviorka: The Era of the Witness, London 2006 [1998]; Dies.: L’avvento del testimone, in: Marina Cattaruzza et al. (Hg.): Storia della Shoah, Bd. 3, Torino 2006, S. 304-329. 3 | Mario Tagliacozzo: Metà della vita. Ricordi della campagna razziale 1938-1944, Milano 1998. 4 | Diese Zeitzeugenberichte wurden veröffentlicht in: Raffaella Di Castro und Franca Tagliacozzo: Gli ebrei romani raccontano la „propria“ Shoah, Firenze 2010.
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keit voller vielfältiger und widersprüchlicher Eindrücke ist. Eine schon immer empfundene, aber weder erkannte, gedachte, geteilte, in Worte gefasste noch in echte Erinnerung übersetzte Beklemmung.
„E INE ZIEMLICH HÄSSLICHE S ACHE …“ Damit diese Beklemmung sich in Erinnerung verwandeln könne, schien es mir notwendig, mich auch mit meiner Generation auseinanderzusetzen. In den Jahren 2004 und 2005 habe ich daher 23 zwischen 1960 und 1980 geborene römische Juden interviewt, deren Eltern in ihrer Kindheit die faschistische Diktatur und die deutsche Besatzung erlebt hatten. Es ist auffällig, dass in der öffentlichen, fachspezifischen5, literarischen und autobiographischen6 Debatte über die neue Generation fast ausschließ5 | Ich erinnere an folgende Hauptwerke (in chronologischer Reihenfolge): Nadine Fresco: Remembering the Unknown, in: International Review of Psychoanalysis 417, 11/1984, S. 417427; Robert M. Prince: Second Generation Effects of Historical Trauma, in: The Psychoanalytic Review 72, 1/1985, S. 9-29; Dina Wardi: Siegel der Erinnerung: das Trauma des Holocaust. Psychotherapie mit Kindern von Überlebenden, Stuttgart 1997 [im Original 1992 erschienen]; Dori Laub: Knowing and not Knowing. Massive Psychic Trauma: Forms of Traumatic Memory, in: International Review of Psychoanalysis 287, 74/1993, S. 287-302; Dan Bar-On: Furcht und Hoffnung. Von den Überlebenden zu den Enkeln – drei Generationen des Holocaust, Hamburg 1997 [im Original 1995 erschienen]; Nathalie Zajde: Enfant de survivants, Paris 1993; Gary Weissman: Fantasies of Witnessing. Postwar Efforts to Experience the Holocaust, Ithaca/London 2004. 6 | Art Spiegelman: Maus: die Geschichte eines Überlebenden, 2 Bde., Frankfurt a.M. 2008 [1973; 1986]; Helen Epstein: Die Kinder des Holocaust. Gespräche mit Söhnen und Töchtern von Überlebenden, München 1987 [im Original 1979 erschienen]; Alain Finkielkraut: Der eingebildete Jude, Frankfurt a.M. 1984 [im Original 1980 erschienen]; David Grossman: Stichwort: Liebe, München 1994 [im Original 1986 erschienen]; Lizzie Doron: Warum bist du nicht vor dem Krieg gekommen?, Frankfurt a.M. 2006 [im Original 1998 erschienen]; Jonathan Safran Foer: Alles ist erleuchtet, Köln 2003 [im Original 2002 erschienen]; Daniel Mendelsohn: Die Verlorenen. Eine Suche nach sechs von sechs Millionen, Köln 2010 [im Original 2006 erschienen]; Berenice Eisenstein: Ich war das Kind von Holocaust-Überlebenden, Berlin 2007 [im Original 2006 erschienen]; Shira Nayman: Awake in the dark, New York 2006. Mit Bezug auf Italien erinnere ich an: Eraldo Affinati: Ein Weg der Erinnerung: von Venedig nach Auschwitz, Frankfurt a.M. 1999 [im Original 1997 erschienen]; Franca Tagliacozzo, Raffaella und Flavia Di Castro: La memoria della persecuzione antiebraica: due generazioni a confronto, in: Generazioni, Parolechiave 16, 1998, S. 159-171; Francesco Spagnolo Acht: (Ri-)annodare. Da Milano alla Moldavia, in: La Rassegna Mensile di Israel LXVIII, 1/2002, S. 297-306; Alessandro Schwed: Lo zio coso, Milano 2005; Lia Tagliacozzo: Melagrana. La nuova generazione di ebrei italiani, Roma 2005; Berenice Eisenstein: Ich war das Kind von Holocaust-Überlebenden, Berlin 2007 [im Original 2006 erschienen]; Eva Schwarzwald: La prigione rosa, Milano 2009. Siehe auch die Berichte zur Veranstaltung Memoria familiare, eine seit 2006 von der mailändischen Sektion der Deportierten-Vereinigung Associa-
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lich von den Kindern der KZ-Überlebenden die Rede ist. Selten findet man dagegen Überlegungen zu den generationenübergreifenden Auswirkungen speziell der Verfolgung, d.h. der in Italien eher faschistisch als nationalsozialistisch motivierten „Verfolgung der Gleichheit und der Rechte der Juden“7, als zwangsläufiger Voraussetzung der Vernichtung. Auch bei meinen Interviews, die ich aufgrund dieser Forschungslücke vor allem mit Kindern von Verfolgten geführt habe, fällt auf, wie schwer es den Befragten fällt, diese anderen Geschichten als erwähnenswert zu erachten; als ob nur Auschwitz ‚das Gedenken‘, ‚die Geschichte‘, ‚das Grauen‘ verkörpert, von dem man sprechen darf. „Was soll ich dir schon von meiner Tragödie erzählen? Habe ich denn mein Zuhause verlassen und riskieren müssen, geschnappt zu werden, wo ich doch nie von jemandem erwischt wurde?“ So versucht Amedeo8, sich in seine Mutter hineinversetzend, zu erklären, warum sie nie viel erzählt hat. „Merkwürdigerweise hatte die dramatischere Geschichte meines Vaters in der Familie das größere Gewicht“, fährt Amedeo erstaunt fort, als ob es ihm zum ersten Mal klar würde. Amedeos Vater wuchs als Waise auf, nachdem seine Eltern in Auschwitz umgebracht worden waren. Giorgio unterbricht seine Erzählung von der Rückkehr einer Großtante aus Auschwitz und beginnt, die Legitimität des Interviews, das ich mit ihm führe, anzuzweifeln, da er ein ‚einfacher’ Sohn von Verfolgten sei, die zu der Zeit zudem noch sehr klein waren: „In deinen nächsten Interviews wirst du dann wirklich... mit den Personen... sprechen, das ist klar!“, sagt er zu mir. Also mit den Kindern der ehemals Deportierten, wenn nicht sogar mit den ehemals Deportierten selbst, die er implizit für ‚geeigneter‘ hält, von ihren Erfahrungen zu berichten. „Da meine Eltern es beinahe nicht erlebt hatten, nur als Kinder und mit bruchstückhaften Erinnerungen“, fährt er fort, „blieb ihnen später nur die Erzählung der besonderen, beinahe lustigen Begebenheiten“. Doch als ich ihn frage, ob er sich an eine dieser Anekdoten erinnert, zögert Giorgio mit der Antwort und erzählt dann eine, die gar nicht ‚lustig‘ ist: Giorgio: „Ich erinnere mich an… nein! Keine schöne Sache, eine hässliche Anekdote. Als meine Oma mit meiner neugeborenen Mutter auf dem Arm zum Konvent ging, um sich zu
zione nazionale ex deportati nei campi nazisti (ANED) organisierte, eintägige Zusammenkunft von Kindern und Enkeln der Überlebenden politischer Verfolgung und der Konzentrationslager. Ich erinnere zudem an den Dokumentarfilm L’isola delle rose, Regie/Drehbuch: Rebecca Samonà, Italien 2007 sowie an Michel Kichka: Zweite Generation. Was ich meinem Vater nie gesagt habe, Berlin 2014 [im Original 2012 erschienen].
7 | Michele Sarfatti: Die Juden im faschistischen Italien. Geschichte, Identität, Verfolgung, Berlin 2014 [im Original 2007 erschienen]. Vgl. auch den Beitrag Sarfattis in diesem Band. 8 | Die Namen aller Interviewten wurden verändert.
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verstecken und sie sie nicht hineinlassen wollten, wenn sie meine Mutter nicht taufen ließe. […] Und das war eine ziemlich… na ja, so eine Sache eben.“
„Eine ziemlich… hässliche Sache“, aber im Vergleich zum absoluten Grauen der „Öfen“ erscheint ihm diese Geschichte einer abgewendeten Gefahr beina he wieder beschämend unbedeutend: Giorgio: „Aber es war in keinster Weise tragisch, wie darüber gesprochen wurde, nein, gar nicht, auch, weil es schließlich eine Geschichte war, die gut ausgegangen ist, […] sie waren ja hier und sind nicht in den..., in den Öfen geendet [geflüstert].“
„M IT JEMANDEM ERZÄHLEN “ Ich verwende den Begriff ‚Generation‘ in einem weiten Sinne, d.h. in demographischer Perspektive und mehr als Forschungshypothese als zur Definition echter, schon etablierter und als sozial relevant anerkannter Beziehungen.9 Statt eines echten Generationenbewusstseins in Bezug auf das Holocaustgedenken spüren die Befragten nämlich eher ein vages und stummes Grundgefühl, das über die individuellen familiären Erfahrungen hinausgeht, sich aber scheinbar nicht für offene Auseinandersetzungen eignet. Mit irritierter Empörung antwortet mir Letizia auf die Frage, ob sie manchmal mit anderen über die Verfolgungs- und Deportationserlebnisse in ihrer Familie spricht: Letizia: „Nein, nein, mit wem sollte ich mich da vergleichen?! [...] noch nie habe ich... mit jemandem über meine Erfahrung erzählt. Das waren Familienangelegenheiten, die ich mit meinem Cousin, mit meiner Schwester teilte! […] Aber wir sprachen nie darüber. [...] es war eine gemeinsame Erfahrung und daher brauchten wir nicht darüber zu sprechen.“
Die Identifikation mit Eltern und Großeltern, die diese Ereignisse selbst erlebt haben, ist – wie noch gezeigt wird – derart symbiotisch, dass sie für die horizontale Identifikation scheinbar keinen Raum lässt. Sich mit Gleichaltrigen zu identifizieren, impliziert nämlich, sich als von Eltern und Großeltern verschieden wahrzunehmen, die Identifikation mit ihnen also als Identifikation statt als Identität wahrzunehmen und sie somit zu durchbrechen. „Noch nie habe ich... mit jemandem über meine Erfahrung erzählt“, sagt Letizia im oben zitierten Gesprächsausschnitt. Mit jemandem erzählen, so als ob diese Erfahrung über die Erzählung hinaus erst mit jemandem zu einer echten – eigenen – Erfah9 | Vgl. Karl Mannheim: Das Problem der Generationen [1928], in: Ders.: Wissenssoziologie. Auswahl aus dem Werk, hg. von Kurt H. Wolff, Neuwied ²1970, S. 509-565; Tagliacozzo/Di Castro: La memoria della persecuzione antiebraica.
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rung werden kann, auch wenn sie mit den Erlebnissen und der Vergangenheit anderer zusammenhängt.
K OLLEKTIVE A MNESIE UND ALLTÄGLICHE T RAUER Es ist immer wieder zu hören, dass die Überlebenden aufgrund des Traumas verstummt sind. Wie dies vielfach bezeugt und mittlerweile auch durch die Gedächtnishistoriker10 bestätigt wurde (und wie in diesem Band von Michele Sarfatti und Ruth Nattermann in Erinnerung gerufen wird), ist der Judenverfolgung und -vernichtung in Wirklichkeit durch eine Art kollektive Amnesie, die neben psychologischen auch politische und kulturelle Hintergründe hat, in Italien und Europa für Jahrzehnte nur ein privates, einsames Gedenken im Familienverband oder bestenfalls in Gruppen eingeräumt worden, das gegenüber der Heldenverehrung der Resistenza und dem Wunsch der Nachkriegsgesellschaft nach Normalisierung marginal war. Da es kein Zuhören, keine moralische und materielle Unterstützung, kein Verständnis für die umfassende Tragweite der erlittenen Verletzungen gab, hat man die Erinnerungen der Überlebenden an die Vernichtungslager und die unterschiedlichen lokalen Erfahrungen mit Rassismus, Gewalt und Illegalität über Jahre verstummen lassen, ohne Gedenken und ohne Geschichte. Der ethisch-politische Schweregrad dieser ‚Amnesie‘ ist kaum zu verstehen, nimmt man nicht Primo Levis Einladung ernst, die „gesamte Geschichte des kurzlebigen ‚Tausendjährigen Reiches‘ als Krieg gegen das Erinnern“11 zu interpretieren. Während der Vernichtung wurde allein die Vorstellung einer möglichen Erinnerung als Form des Widerstands gegen den Nationalsozialismus gewertet. Für die Opfer kam sie hingegen quasi dem Sinn des Überlebens gleich. Für die isolierten jüdischen Familien hatte die Erinnerung somit lange Zeit – wie meine Interviews mit Vertretern der dritten Generation bestätigen – 10 | Siehe einige der hierzu wichtigsten Werke für Italien: David Bidussa: Il mito del bravo italiano, Milano 1994; Leonard Paggi (Hg.): La memoria del nazismo nell’Europa di oggi, Firenze 1997; Anna Rossi-Doria: Memoria e storia: il caso della deportazione, Soveria Mannelli 1998; Michele Sarfatti (Hg.): Il ritorno alla vita: vicende e diritti degli ebrei in Italia dopo la seconda guerra mondiale, Firenze 1998; IRSIFAR (Hg.): La memoria della legislazione e della persecuzione antiebraica nella storia repubblicana, Milano 1999; Ilaria Pavan und Guri Schwarz (Hg.): Gli ebrei in Italia tra persecuzione fascista e reintegrazione postbellica, Firenze 2001; Guri Schwarz: Ritrovare se stessi. Gli ebrei nell’Italia postfascista, Roma/Bari 2004; Enzo Traverso: Auschwitz denken. Die Intellektuellen und die Shoah, Hamburg 2000 [im Original 1997 erschienen]; Saul Meghnagi (Hg.): Memoria della Shoah. Dopo i „testimoni“, Roma 2007; Marcello Flores et al. (Hg.): Storia della Shoah in Italia. Vicende, memorie, rappresentazioni, 2 Bde., Torino 2010.
11 | Primo Levi: Die Untergegangenen und die Geretteten, München 1997, S. 28 [im Original 1986 erschienen].
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eher die Gebärden und schamhaften, aber alldurchdringenden Züge der Trauer als die der Erzählung. Sabrina berichtet, dass ihr Großonkel in den Fosse Ardeatine ermordet wurde, doch dass niemand von der „Sache in den Ardeatinischen Höhlen“ sprach, solange ihr Großvater lebte. „Wir gingen jedes Jahr zu den Ardeatinischen Höhlen“, aber „es war eine Art Tabu“. Die Mutter von Angelo hat „bis zu ihrem Tod um ihren Vater, ihre Tante, ihren Onkel und ihre Schwester getrauert, die sie am 16. Oktober deportiert haben“12: „Sie band sich das schwarze Kopftuch um, erholte sich nie wieder und trauerte den Rest ihres Lebens, jeden Tag […]. An allen jüdischen Festtagen deckte sie den Tisch für ihren Papa und ihre Schwester, stellte einen Teller für sie hin und kochte für sie“.
Ähnlich war es in der Familie von Nello, in der es jeden Tag „unerlässlich Pasta gab“, vor allem Nudeln mit Brokkoli, als „Zeichen der Freude“, doch an den Trauertagen – dem 16. Oktober, dem Tag, an dem die Großeltern väterlicherseits deportiert worden waren, und am 31. März, Tag der Deportation des Großvaters mütterlicherseits – aß man jedes Mal Suppe statt Nudeln mit Brokkoli. Viele der Interviewten beschreiben, dass zwischen Kindern, Eltern und Großeltern eine Art ‚stillschweigende Übereinkunft‘ herrschte, Tabus und Geheimnisse nicht anzurühren. „Bei mir zu Hause herrscht eine wahre Verschwörung des Schweigens gegenüber diesen Ereignissen, die sich in den letzten Jahren vielleicht etwas aufgelöst hat“, erzählt Noemi, die als Erwachsene durch heimlich belauschte Gespräche und Fotos, die hinter einer alten, für die Kinder strengstens verbotenen „Klappe“ versteckt waren, von einer jüngeren Schwester ihres Vaters erfahren hat, die am 16. Oktober 1943 deportiert worden war. Andere Befragte erwähnen „Schachteln“, „Schränke“, echte oder symbolische „Schatzkisten“ der Erinnerung13, deren Berührung gefährlich ist, „weil man nicht weiß, was dabei herauskommen kann“, sagt Ester, die außerdem beichtet, heimlich das Tagebuch ihrer Mutter gelesen zu haben.
M AUERN , DIE SCHWER ZU DURCHBRECHEN SIND Inzwischen haben sich die Zeiten geändert und nach einem langen und schwierigen Weg – der in Italien ungefähr in den 1980er Jahren begann, also später als in anderen europäischen und außereuropäischen Ländern –, der die 12 | Am 16. Oktober 1943 fand die erste große Razzia gegen die römischen Juden statt. 13 | Im Roman Alles ist erleuchtet von Johathan Safran Foer scheint das ganze, von den Nazis vernichtete Dorf Trachimbrod in den Schachteln der Erinnerung, mit denen das Haus der einzigen Überlebenden Augustine gefüllt ist, ‚weiterzuleben‘.
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Shoah und die Zeitzeugenberichte der Opfer in den Mittelpunkt der öffentlichen und fachlichen Diskussion gerückt hat, wurde im Jahr 2001 die Ära der Gedenktage eingeläutet. Die Vertreter der dritten Generation erleben diesen Übergang von einem privaten zu einem öffentlichen Gedenken und dessen großen Facettenreichtum als Erwachsene. Neben der Erleichterung und der Dankbarkeit gegenüber der Gesellschaft, die die Vergangenheit aufzuarbeiten und die Verantwortung für das Gedenken auf sich zu nehmen scheint, bleibt die Last einer vom Schweigen erdrückten Kindheit und Jugend jedoch bestehen. „Ich musste diese ganze Last tragen! Ich bin soweit gekommen, meine Mutter zu hassen wegen dieser Mauer aus Schweigen, die ich zwischen mir und ihr spürte!“ ruft Ester, Tochter einer Auschwitz-Überlebenden. Aber Ester erzählt auch – mit einem Detailreichtum, als wäre sie dabei gewesen – von einer Begebenheit unmittelbar nach dem Krieg, die die Mutter für immer „blockiert“ hat: Nachdem sie, noch als Kind, aus Auschwitz zurückgekehrt war und versuchte, das, was sie erlebt hatte, zu erklären, blickte sie auf und sah zwei Frauen, die sich zu verstehen gaben „die da ist verrückt“. Von diesem Moment an sprach die Mutter nicht mehr. Ester, der die sozialen Komponenten, die „die Mauer“ bei ihr zu Hause zementiert haben, also bewusst sind, nimmt an den Gedenktagen nicht teil und empfindet in diesen Momenten eher das Bedürfnis nach „einer Art Schweigefasten“. Viele der Interviewten haben das Gefühl eines Missverhältnisses, fast einer beschämenden Enteignung angesichts der Paradoxie einer schrecklichen, für sie jedoch alltäglichen Wirklichkeit mit sehr intimen, an ein Datum geknüpften Trauererinnerungen, die plötzlich, noch bevor sie im Privaten wirklich gezeigt werden konnten, zum öffentlichen Eigentum werden. Das Foto der kleinen Tante von Noemi, das jahrelang hinter der verbotenen Klappe verschlossen lag, hängt jetzt an der Wand einer Schule, die sogar nach ihr benannt wurde. Andere Gesprächspartner erzählen, dass sie erst in den letzten Jahren von der Vergangenheit ihrer Eltern und Großeltern erfahren haben, als diese anlässlich öffentlicher Gedenkfeiern oder Schulprojekten als Zeitzeugen mit Fremden sprachen. Insbesondere aber haben alle den Eindruck, dass im – wie Sabrina sagt – „übermäßigen Aufsehen“ dieser Gedenktage, das manchmal ein wenig rhetorisch ist, das wahre Ausmaß der Vergangenheit in gewisser Weise ungehört bleibt und banalisiert, verdreht, wenn nicht sogar „verkleinert“ wird – wie Alberto sagt, der den provokativen Vorschlag macht, einen „Kalender mit sechs Millionen Gedenktagen“ einzuführen – und somit wiederum in die Sphäre des Privaten und Stummen gedrängt wird. Wie Ester tut sich auch Noemi schwer, das Schweigen zu brechen: „Wenn das Schweigen einmal gebrochen ist… tja… weil… na ja… verstehst du rückwirkend mehr“. Denn das Schweigen zu beenden, erklärt sie selbst im Laufe des Interviews, „zieht unvermeidlich“ einen Berg an Problemen nach sich, der
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„durchbrochen“ werden muss. Probleme, die erneut eher politischer als psychologischer Natur sind und in der Art, in der sie sich auf die Vergangenheit beziehen, offenbaren, wofür die Gegenwart steht. Tatsächlich stoßen die Befragten im Gespräch mit Nicht-Juden über die Shoah auf verschiedene „Mauern“ – wie viele von ihnen sagen. Diese reichen von den selteneren, aber aufsehenerregenderen Fällen des Antisemitismus oder sogar der Holocaustleugnung bis hin zu den verbreiteteren und konsolidierten Vorurteilen, auf die mehr oder weniger bewusst zurückgegriffen wird, um die Verfolgung zu rechtfertigen und deren Verantwortung auf die Opfer zu übertragen (die jüdische Lobby, der Reichtum, das Klammern an der ‚Herkunft‘, die Verschlossenheit, die Passivität…). Juden werden entweder nur in ihrer Opferrolle wahrgenommen oder ihnen wird vorgeworfen, sie gefielen sich im Selbstmitleid, sie würden die Vergangenheit übertreiben und in ihr ‚festsitzen‘. Wie eine Art Erpressung zieht diese ‚Vergangenheit, die nicht vergeht‘ ungerechtfertigte Gleichsetzungen nach sich. Die häufigste ist die zwischen Nationalsozialismus und israelischer Politik, für die sich jeder Jude zu rechtfertigen hat. Alle Interviewten finden es schließlich unangenehm, wenn sie als Juden – auch wenn dies mit ehrlichem und respektvollem Mitgefühl geschieht – als ausschließliche Hauptfiguren jener Ereignisse und quasi als einzig rechtmäßige Hüter des Gedenkens und der Debatten darüber hingestellt werden. Die Leute sprechen über die Shoah, meint Daniele, „so als ob man mit Eltern eines behinderten Kindes über dessen Behinderung spricht“.
D IE E RINNERUNG ALS ‚S PRENGKRAFT ‘ Als Kinder der letzten direkten Zeugen der Ereignisse sind die Juden der dritten Generation zudem das Verbindungsglied zu einem Gedenken ohne Zeitzeugen bzw. zum „Postgedächtnis“. Dieser von Marianne Hirsch geprägte Begriff (engl. postmemory)14 beschreibt, wie die Nachkommen von Überlebenden traumatischer historischer Ereignisse Erzählungen, Bilder und Vorstellungen aus der Vergangenheit ihrer Eltern oder Großeltern als echte Erinnerungen wahrnehmen. Die Herausforderung dieser neuen Ära besteht nicht darin, eine angemessene Menge an Beweisen, Dokumenten und Zeitzeugenberichten sicherzustellen oder Ersatzmittel für die erlebten Erfahrungen zu finden. Wie David Bidus14 | Marianne Hirsch: Projected Memory: Holocaust Photographs in Personal and Public Fantasy, in: Mieke Bal, Jonathan Crewe und Leo Spitzer (Hg.): Acts of Memory. Cultural Recall in the Present, Hanover 1999, S. 3-23; Dies.: Family Frames. Photography, Narrative and Postmemory, Cambridge/London 2002; Dies.: Immagini che sopravvivono: le fotografie dell’Olocausto e la post-memoria, in: Marina Cattaruzza et al. (Hg.): Storia della Shoah, S. 384-421.
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sa15 erklärt, hat das Postgedächtnis dadurch Bestand, dass es ermöglicht, das Paradigma der Verurteilung – das aus holocaustleugnender Logik heraus die Verbindung zwischen Geschichte und Erinnerung an die Shoah unterbricht – zu verlassen und stattdessen die Fähigkeit wiederzuerlangen, Dokumente auszuwerten, Zusammenhänge zu prüfen und Fragen zu formulieren, die zugleich Vergangenheit und Gegenwart betreffen. Die Debatte in der Öffentlichkeit und in Fachkreisen darüber, wie das Gedenken an die nachfolgenden Generationen zu vermitteln sei, die immer drängender wird, je näher das Verschwinden der direkten Zeitzeugen rückt, läuft Gefahr, sich in zwei Extremen festzufahren: der Trauma-Erinnerung, die scheinbar nur die Juden und ihre Psyche betrifft, und der Pflicht-Erinnerung, die eher einem Beschwörungsritus gegen die Wiederholung des Grauens als einem echten Bemühen um Wissensvermittlung und kritisches Bewusstsein ähnelt. Zwischen diesen beiden Stereotypen kann leicht vergessen werden, dass die Erinnerung immer die Aufgabe hat, sich mit einem Mangel, einer nicht verringerbaren Andersartigkeit auseinanderzusetzen, und zwar nicht nur beim Übergang von einer Generation zur nächsten. Nach Walter Benjamin, der während des aufkommenden Nationalsozialismus und Faschismus in Europa gerade die Erinnerung zum Inhalt und zur Methode seines Denkens gemacht hat, kann die Zeit durch die Erinnerung „wiedergefunden“16 werden, weil die Erinnerung kein Überbleibsel der Zeit ist, sondern Voraussetzung einer vom Schicksal verschiedenen Zeit oder einer Zeit, die als Möglichkeit zu verstehen ist. Die Erinnerung ist keine Gegebenheit – ein Souvenir, ein Beweisstück oder ein Nachlass – sondern ein „Chock“17, eine Sprengkraft. Die Vergangenheit, erklärt Benjamin, überlebt nur im kritischen „Gestus“18, der das Vergessene jederzeit wieder in Erinnerung ruft und sich dem Feind, „der zu siegen nicht aufgehört“19 hat, entgegenstellt. Eine Geste der Unterbrechung, die erst recht gegenüber der NS-Vergangenheit notwendig ist mit ihrem systematischen Versuch, die Zukunft zu kolonisieren und die Erinnerung zu zerstören – einerseits die Erinnerungsfähigkeit, andererseits das Gedenken an Millionen menschlicher Leben.
15 | David Bidussa: Dopo l’ultimo testimone, Torino 2009; Ders.: Testimonianza e storia. Verso la post-memoria, in: La Rassegna mensile di Israel LXX, 2/2004, S. 1-15.
16 | Walter Benjamin: Proust-Papiere, in: Ders: Gesammelte Schriften, Bd. II-3, Frankfurt a.M. 1977, S. 1048-1069, hier: S. 1063.
17 | Walter Benjamin: Über den Begriff der Geschichte, in: Ders: Gesammelte Schriften, Bd. I-2, Frankfurt a.M. 1974, S. 702, These XVII.
18 | Walter Benjamin: Erzählen. Schriften zur Theorie der Narration und zur literarischen Prosa. Frankfurt a.M. 2007, S. 128 und Ders.: Benjamin über Kafka. Texte, Briefzeugnisse, Aufzeichnungen, hg. von Hermann Schweppenhäuser, Frankfurt a.M. 1981, S. 19ff.
19 | Benjamin: Über den Begriff der Geschichte, S. 695, These VI.
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S EELISCHE B ÜRDEN Auf ihren Schultern sehe ich eine Last wie bei Maultieren, eine Bedrückung, die sie überragt wie eine schreckliche seelische Bürde. Für die Träger sind diese Dinge unkenntlich geworden. A LESSANDRO S CHWED, L O ZIO COSO (2005)
Egal, wie dieser Krieg ausgehen würde und auch, wenn es jemandem gelingen sollte zu überleben, so wiederholten es die SS-Leute in Auschwitz zynisch, den Überlebenden würde niemand glauben und damit sei der Krieg gegen sie gewonnen.20 Der biologisch begründete Rassismus des Faschismus und des Nationalsozialismus beschränkte das Judentum auf eine vollkommen negative, homogene Identität, die keinerlei Differenzierung in ihrem Innern und keinerlei Kontakte nach außen zuließ. Dieses Schicksal zwang er jedem einzelnen Juden auf, sei er echt oder fiktiv, gegenwärtig oder in der Zukunft lebend. Im traumatischen Leiden der Opfer, das sich in ein- und derselben Form von einer Generation zur nächsten stets zu wiederholen scheint, bewahrheitet sich scheinbar die ‚Prophezeiung‘ der Nazis. Mit einer unheilvollen Anziehungskraft droht der lange Schatten der Shoah den Generationenwechsel zu unterbrechen und den ‚Geist‘ der Nachgeborenen in einem einzigen, undifferenzierten „Stumpf“21 zusammenzudrängen. Unabhängig vom Umfang der erlittenen Schäden, von der Art und Weise, wie die Geschichten weitergegeben wurden und vom eigenen Wollen, spüren alle – Kinder, Enkel, Urenkel und immer so weiter – die Verfolgung, die Deportationen und die Vernichtung ‚am eigenen Leib‘, als ob es sich um Erfahrungen handelte, die sie selbst gemacht hätten. Dieses als ob kehrt bei allen von mir interviewten Juden der dritten Generation geradezu zwanghaft wieder: „als ob diese Geschichte zusammen mit mir gewachsen wäre“, „als ob man diesen Moment erlebt hätte“, „als ob ich in Auschwitz gewesen wäre“, „als ob man mir in der Wiege gesagt hätte ‚Pass auf! Du bist der Auschwitz-Gefangene‘“, „als ob ich einen Tumor hätte, von dem ich krank geworden wäre, hätte ich ihn noch weiter in mir getragen“. Gioia, eine der Interviewten, nennt das „die unendliche Geschichte“. Die nicht verarbeitete und nicht zu verarbeitende Trauer der Eltern und Großeltern, die in der Nachkriegszeit durch Einsamkeit und das fast vollständige Vergessen noch verschlimmert wurde, droht die Shoah als eine Art gene20 | Vgl. Simon Wiesenthal: Doch die Mörder leben. München/Zürich 1967, zitiert nach Levi: Die Untergegangenen und die Geretteten, S. 7.
21 | „Bis auf einen Stumpf war unser Stammbaum niedergebrannt worden.“, Epstein: Die Kinder des Holocaust, S. 10.
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tischen ‚Ballast‘ einzukapseln, den am Ende die neue Generation tragen muss, wie Psychologen und Psychoanalysten verdeutlicht haben: als ‚Krypten‘22 oder „Gedenkkerzen“: „[I]n letzter Zeit merke ich, dass ich die Gedenkkerze meiner ganzen Familie bin“, erzählt Hava in der Pionierstudie von Dina Wardi über die Weitergabe der Traumata von Überlebenden an ihre kurz nach dem Krieg geborenen Kinder. „Ich trage wirklich die ganze Familie auf meinen Schultern“, klagt Arieh-Zwi-Mosche, nachdem er herausgefunden hat, dass man ihn mit den Vornamen getöteter Verwandter ‚überhäuft‘ hat.23 Ähnliche Vorstellungen findet man auch in den Gesprächen mit meinen jüngeren Interviewpartnern vor: Ester: „Unvermeidlich trug ich die Last dieses schweren Gepäcks, das wir in uns herumtragen.“ David: „Es steckt in den Genen, es steckt in meinen Genen, [...] die Shoah ist eine typische Familienangelegenheit, die jeder mit sich herumschleppt, [...] mein Vater ist so ich bin so mein Bruder ist so.“
Somit besteht die Gefahr, dass sich die Shoah in eine „Familienangelegenheit“ verwandelt, wie David sagt, der sogar in seiner Artikulation – hintereinander weg und ohne Pause – eine Verschmelzung der Generationen vollzieht.
D IEBE DER E RINNERUNG I have nothing but that absurd, desperate, almost obscene regret for a time in which I cannot have been. N ADINE F RESCO, R EMEMBERING THE UNKNOWN (1984)
Die Identifikation mit den Opfern löst so intime und zugleich so heftige Gefühle aus, dass diese beim Versuch, sie zu erfassen, noch im selben Moment verloren gehen und lediglich als private ‚Phantasie‘ weiterexistieren, die schwer zu erfassen und mitzuteilen ist. Sie kann nur ausgesprochen werden, indem sie bejaht und sofort wieder negiert wird oder indem Pausen und Zweifel eingeschoben und abschwächende bzw. distanzierende Gesprächsstrategien angewandt werden: Daniele: „Ich sage nicht, dass ich es selbst erlebt habe, aber was meine Gefühle angeht, glau-, kann ich sagen, dass… es ist, als ob ich es selbst erlebt hätte.“
22 | Vgl. Nicolas Abraham und Maria Torok: L’éscorce e le noyau, Paris 1987. 23 | Wardi: Siegel der Erinnerung, S. 153 und 159.
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Die Identifikation vollständig als solche anzuerkennen, ist nicht befreiend, sondern erzeugt ein komplexes Gefühl von Unrechtmäßigkeit, das sich mit Scham und Schuldgefühlen vermischt, als ob man sich widerrechtlich fremder Identitäten und Traumata bemächtigte, wie ein eingebildeter Kranker. Ester, die von sich sagt, sie habe „bei sich, am eigenen Leib, das Schuldgefühl nicht mehr und nicht weniger als aller Überlebenden“ gespürt, träumt von Dieben statt von Nazis. Noemi hält es für eine „völlig unangemessene Assoziation“, dass sie beim Stillen ihrer Kinder dachte, „und wo verstecke ich mich, wenn jetzt die Deutschen kommen?“. Daniele „entkräftet mit dem Verstand“ seine vielfältigen Phantasien von Verfolgung und Deportation, indem er sie alle seinem „nicht-gesunden“, „unausgeglichenen“, „kindlichen“ und „unbewussten“ Teil zuschreibt. Sogar dann, wenn die Identifikation wirklich unbewusst stattfindet, besteht das Bedürfnis, das Diebesgut den rechtmäßigen Besitzern zurückzugeben: Letizia: „Es gab auch eine Zeit, in der ich von der Shoah träumte! […] furchtbare Träume! Denn wenn man etwas träumt, dann erlebt man es! Aber das werde ich nie sagen können, nie ist es so stark wie für den, der es erlebt hat!“
Entweder ist man eins mit der Geschichte oder der Zugang zu ihr ist scheinbar unmöglich oder verboten. Ich bitte Angelo, mir die Geschichte seiner Familie während der Verfolgung zu erzählen, so, wie es ihm erzählt wurde. „Das ist, was mir erzählt wurde!“, ruft er, wie um zu sagen: ‚Was kann ich dir schon erzählen?‘ Ähnlich korrigiert sich Mimmo, als er die Geschichte seines Vaters erzählt, der wie durch ein Wunder am 16. Oktober 1943 während der Deportation gerettet wurde: „Also die wahre Geschichte von meinem Vater… das heißt, die wahre Geschichte! Die Geschichte, die mir erzählt wurde!“ Obwohl die Interviews explizit thematisierten, wie die dritte Generation die Erinnerung an die Verfolgung erlebt, ist mir aufgefallen, dass die Befragten die Interviewsituation eher so interpretieren, als seien sie um eine Zeugenaussage gebeten worden, und zwar um eine Zeugenaussage, die das Vergangene idealerweise vollständig und absolut genau wiedergibt. Zu jedem Erzählfetzen versuchen sie, so viele Details wie möglich zu geben: Daten, Personen, Orte. Sobald eine Information fehlt, sagen sie gewissenhaft: „wenn du willst, kann ich fragen“, „der Sache nachgehen“, aber dabei befällt sie ein Schuldgefühl. Ständig stellen sie die Genauigkeit ihres Wissens in Zweifel; manchmal werten sie auch die Erzählungen ihrer Eltern ab, da sie damals zu klein gewesen seien oder sogar die ihrer Großeltern, weil sie eher anekdotisch, sagenumwoben und abenteuerlich als tragisch seien. Um ihrer Erzählung mehr Glaubwürdigkeit zu verleihen, unterbrechen einige ihren Bericht und zeigen mir ‚Beweise‘: Dokumente, Fotos, Briefe und Tagebücher von Großeltern oder anderen Verwandten. Doch die gewünschte Glaubwürdigkeit scheint sich immer
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zu entziehen: „ich verstehe nicht, warum es die wahre Geschichte nicht gibt!“ seufzt Mimmo, nachdem er die verschiedenen Versionen zur Rettung seines Vaters am 16. Oktober erzählt hat. Keine zusätzliche Information, keine Erinnerung, kein Dokument kann das Gefühl von „Unrechtmäßigkeit“ und von „Frustration“ bei der dritten Generation lindern. Daniele: „[...] da ist diese Art Frustration […], die, so sehr man auch die Details, die Untertöne analysieren kann, von dieser Sache sprechen kann, was du auch sagst, es ist immer ungenügend! […] es entspricht nie der Wirklichkeit! [...] so sehr du dir auch vorstellst, was du empfinden kannst, es ist nicht dasselbe wie es direkt zu empfinden.“
Denn wie viele mehr oder weniger explizit offenbaren, ist der „letzte Schritt, der noch fehlt“, eine „Reise“ „zurück in die Zeit“, die den Abstand zwischen den Generationen füllen und verhindern könnte, dass die Vergangenheit sich erfüllt. In diesen Fantasien eines unmöglichen Wiederzusammenfügens hallt beinahe das Echo der Nazi-Drohung wider und schließt somit erneut das Vergangene ‚in die Köpfe‘ der Juden ein, verdreht die Tatsachen und macht sie zu irrwitzigen Erfindungen, die nicht mitteilbar, nicht glaubwürdig und nicht Teil einer bewiesenen und geteilten Geschichte sind. Daniele: „Ich habe die Vorstellung, dass die absolut unangefochtene Macht der Nazis vielleicht… ach, bei dieser Sache habe ich wohl eine falsche Vorstellung, weil ja dann, also mit dem Verstand sage ich mir, ja okay, nicht alle waren… aber dann, vom Gefühl her, ist es in meiner Vorstellung so, als ob […] in den Jahren der Naziherrschaft alle Nazis gewesen wären. Mein Verstand sagt mir, dass es nicht so ist, aber […] ich glaube, dass wenige Menschen damals etwas getan haben, um das Schicksal der Welt zu verändern.“24 Sharon: „Ich finde es so merkwürdig! […] alles, was gewesen ist, scheint mir so unglaubwürdig, dass ich… ich mir auf die vielen Fragen, die in meinem Kopf entstehen, wirklich keine Antwort geben kann! Am Ende bin ich die, die merkwürdig ist!“
24 | Vgl. Theodore S. Hamerow: Why We Watched: Europe, America, and the Holocaust, New York 2008.
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I NVESTITUR Die Art, in der es [das Gewesene] als „Erbe“ gewürdigt wird, ist unheilvoller als seine Verschollenheit es sein könnte. WALTER B ENJAMIN, Ü BER DEN B EGRIFF DER G ESCHICHTE
Seit ein paar Jahren werden die neuen Generationen ernsthaft gebeten, zu ‚Zeugen‘ zu werden. Insbesondere die dritte Generation, die, wie bereits erwähnt, kurz vor dem Übergang der „Ära der Zeitzeugen“25 – deren Probleme und Gefahren Annette Wieviorka bereits aufgezeigt hat – in die Ära der ‚Zeugen der Zeugen‘ steht. Die Überlebenden, die in der Nachkriegszeit aus der Erinnerung und der Gesellschaft gedrängt wurden und später, als ‚Zeitzeugen‘, zu ‚lebenden Beweisstücken‘ degradiert wurden und eine Ersatzrolle für Richter, Historiker, Politiker, Pädagogen einnehmen sollten, werden nun von der öffentlichen Pflicht zum Gedenken aufgefordert, auf ewig zu ‚überleben‘. – Einem Gedenken, das sich noch immer schwer tut, die umfassenden Auswirkungen der Shoah zu verstehen, abgesehen von einer Verpflichtung zum Mitgefühl für die Opfer. Die Erinnerung und das Wissen nehmen pseudopositivistische Töne an: Sie verlangen vollständige, greif bare, direkt erfahrbare und ohne Verluste darstellbare Wahrheiten. Zugleich hat die Illusion, Erinnerung und Wissen könnten durch den Kontakt, also durch die Erzählungen der Zeitzeugen oder Auschwitzbesuche übertragen werden, etwas Initiatorisches an sich, wodurch sie implizit dem rassistischen Determinismus anheimfallen. Diese Veränderungen scheinen die dritte Generation von ihrem ‚stillschweigenden und unterschwelligen Einverständnis‘ zu erwecken und zu einer entscheidenden Generationenaufgabe hinzuführen. Angelo: „Wenn die ehemals Deportierten nicht mehr da sind, weil sie alle gestorben sind, was machen wir dann?“ David: „Wir sind jetzt dran, dass uns der Ball der Erinnerung zugespielt wird. […] wir sollten alle zuständig sein! […] es ist eine Mission.“ Amedeo: „Das ist eine Herausforderung! […] den Zeugen, der etwas zu erzählen hat, aufsammeln, dieses Erbe der Erinnerung.“
Die ‚Schachteln der Erinnerung‘ – die anzufassen strengstens verboten oder gefährlich war und die zu verkörpern die Kinder zugleich unbewusst aufgefordert gewesen waren – auszugraben, zu öffnen und sie der Öffentlichkeit zu übergeben, ist nun zu einer moralischen Pflicht geworden. Kinder und Enkel 25 | Wieviorka: The Era of the Witness; vgl. auch Régine Robin: La mémoire saturée, Paris 2003.
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beeilen sich, die Überlebenden zu interviewen, zu filmen, bis zum Letzten „auszuquetschen“ und sich auf die Reise zu den Spuren der verschwundenen Vergangenheit zu begeben.26 Letizia: „Jeder ehemalige Deportierte ist eine Seltenheit! So wichtig und grundlegend, dass wir alles herausreißen… alles herausziehen…, wirklich alles herausdrücken müssen!“ Sabrina: „Ich wollte immer eine Art Geständnis meiner Großeltern über diese Jahre filmen, […] ich habe immer gesagt, wir müssen es machen müssen es machen müssen es machen, müssen ihnen Fragen stellen, müssen sie zum Sprechen bringen, weil diese Erinnerung sonst verschwindet, nachlässt!“
Als ob die dritte Generation durch das Erfüllen dieser Pflicht – die eher einem Wiederholungszwang ähnelt – die Investitur, die fehlende Legitimierung für ihre Probleme mit der Erinnerung, erhalten könnte. Doch diese Investitur kann stattdessen dazu führen, die Traumawirkung zu verwischen, zu rechtfertigen und als moralische und erkenntnisorientierte Aufgaben zu sublimieren oder umgekehrt die Erinnerung durch Dogmen zu blockieren, die keine Inhalte mehr kennen: Sharon: „[...] eine Erfahrung, die ich gern machen möchte, ist, nach Polen zu fahren [d.h. nach Auschwitz] […] ich habe das Gefühl, ich muss es machen […] das ist etwas, das man machen muss. Ich fühle mich verpflichtet! Frag’ mich nicht wozu, aber ich fühle mich verpflichtet.“
Das Generationenbewusstsein der dritten Generation läuft auf diese Weise Gefahr, auf dem Altar eines Gedenkens ‚geopfert‘ zu werden, das nicht als Verbindung zwischen Vergangenheit und Gegenwart verstanden wird, sondern als einseitiger Übergang der Vergangenheit in die Gegenwart, auf einer ausschließlich vertikalen, vererbten und ununterbrochenen Linie. Ester: „[...] es ist wichtig, dass ich im Einklang bin, mit mir selbst, […] indem ich das, was wohl die Erinnerung meiner Mutter gewesen ist, weitertrage […] als ob dieser Faden nicht abgerissen wäre. […] es ist ein wenig so, wie die Christen das Opfer von Jesus betrachten! […] die einzige Erklärung, die ich mir dafür geben kann, warum so viele Leben
26 | Im bereits zitierten Roman „Alles ist erleuchtet“ parodiert Jonathan Safran Foer mit feiner und tiefgründiger Selbstironie die bei der jungen Generation verbreitete soziale Praxis der Erinnerungsreisen oder des ‚Heritage-Tourismus‘ – worauf der Name der belustigenden Reiseagentur („Heritage Touring“) verweist, die Jonathan, den „strengen Sammler von Erinnerungen“, auf seiner Suche nach Trachimbrod begleitet, jenem ukrainischen Dorf, aus dem sein Großvater stammte und das die Nazis von der Landkarte gestrichen haben.
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geopfert wurden, ist die, den Verbliebenen etwas zu lehren. Das ist sicher eine Pflicht derjenigen, die geblieben sind.“
Die Erinnerung als ‚Opfer‘ der Vergangenheit für die Zukunft zu verstehen, ist dem Judentum und seiner Vorstellung von Erinnerung eigentlich fremd.
J ENSEITS DER UNENDLICHEN G ESCHICHTE Das durch Auschwitz in Kraft gesetzte ‚als ob‘ läuft Gefahr, lange nach der Öffnung seiner Lagertore mit jenem ‚als ob‘ vermengt zu werden, mit dem die Juden kurz nach dem Auszug aus Ägypten ihr Volk begründeten, indem sie jedem Einzelnen die Verantwortung für die Freiheit anvertrauten – kraft der Erinnerung als einem Mittel, die immerwährenden Gefahren der Sklaverei und der Götzenverehrung zu erkennen. „In jeder einzelnen Generation soll ein Mensch sich so betrachten, als ob er selbst aus Ägypten ausgezogen sei. […] Nicht nur unsere Vorfahren allein hat Gott – Gottes Heiligkeit sei gepriesen! – erlöst, sondern mit ihnen erlöst Gott auch uns.“27
Nicht nur die leibhaftigen Juden, sondern das Judentum selbst bleibt dauerhaft ‚Opfer‘ der Shoah, wenn es sich weiter ‚auf bürdet‘, seine eigene Vernichtung zum makabren Kern seiner Identität zu machen.28 Doch wenn man den Nachgeborenen genau zuhört, erkennt man, dass die Identifikation mit den Opfern selten zum ausschließlichen Identitätsmerkmal wird, auch bei denen (von meinen Interviewpartnern), die weniger mit der Tradition verbunden und sich ihres Jüdischseins unsicher sind oder bemüht, das Holocaustgedenken zu einer ‚Mission‘ oder einem ‚starken Identifikationssignal‘ zu machen. Eine ausschließlich negativ konstruierte Identität ist nicht nur psychologisch für alle unerträglich, sondern scheint auch den Kern des Judentums und den Wert der Erinnerung für die Juden zu verraten. 27 | Michael Shire (Hg.): Die Pessach Haggada, mit Illustrationen aus den Handschriften der British Library, Berlin 2001, S. 23; vgl. auch Deuteronomium 29,13 und 5,3. Elie Wiesel hat von Auschwitz als einem „neuen Sinai“ gesprochen, einem neuen Bund aller Generationen Israels mit dem Heiligen Vater (zit. nach Wieviorka: The Era of the Witness, S. 41). 28 | Im öffentlichen Diskurs und in der Literatur zur Shoah wird mitunter die Meinung vertreten, das Holocaustgedenken sei für die neue Generation, die sich immer weniger mit Traditionen, Riten, der Thora und dem Talmud beschäftigt, das einzige identitätsstiftende Moment, das somit zu einer Art ‚Ersatzreligion‘ werde, vgl. Esther Benbassa: La Souffrance comme identité, Paris 2007; Yeshayahu Leibowitz: La fede ebraica, Firenze 2001, S. 105; Shmuel Trigano: Introduzione, in: o.A.: Pensare Auschwitz. Con un intervista a Leo Valiani, Milano 1995, S. 15 [frz. Original 1989 erschienen]; Schwarz: Ritrovare se stessi, S. 182-184; Finkielkraut: Der eingebildete Jude, S. 114.
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Vielleicht ist die traumatische Wiederholung nicht so allumfassend und homogen wie es scheinen könnte.29 Ebenso stark scheint der entgegengesetzte Impuls der neuen Generation zu sein, die Spuren der Verfolgung, die das Judentum noch immer vergiften, abzuschütteln, um aus ihm wieder Freude, Lebenskraft und Vielfalt zu ziehen. Daniele: „Das Judentum ist mir als Revanche gegenüber den Nazis vermittelt worden: ‚Nehmt das! Wir haben euch reingelegt, wir geben diese Dinge weiter!‘ Wenn ich einmal ein Kind habe, würde ich ihm niemals so eine Vorstellung mitgeben wollen. [...] das Judentum hat Vieles zu bieten, es ist eine sehr fröhliche Kultur, Tradition oder Religion!“ Ester: „Wir fühlen alle die Last der Shoah, aber […] man muss auch die Fähigkeit entwickeln, weiter gehen zu können. […] ich habe endlich angefangen, mich wirklich als Jüdin zu fühlen, weil es mir gefällt!“
Es geht nicht darum, die Vergangenheit zu vergessen oder ad acta zu legen, sondern die Erinnerungen, in die man hineingeboren ist, in Gedanken, Geschichten und echte Erinnerung zu fassen oder sogar als ‚zusätzliche Erfahrungen‘ zu begreifen. David: „Ich bin nur dank der Tatsache auf der Welt, dass mein Opa sich retten konnte! […] Daher habe ich ein viel schwereres Bündel zu tragen. Aber ich muss mit allen Mitteln dafür sorgen, dass es nicht nur eine Last ist! Versuchen, der Welt etwas zu geben, weil wir, auch wenn wir es nicht selbst erlebt haben, ein wenig mehr Erfahrung, mehr Geschichte haben.“
Es ist wichtig, diese Anstrengungen ernst zu nehmen, auch in der Art, in der man sich der neuen Generation nähern möchte. Das Nachdenken darüber, wie Kinder und Enkel sich erinnern und sich zu jenen Ereignissen in Beziehung setzen, kann ein Modell sein, um Erinnerung und Trauma zu ihrer vergangenen, aber auch gegenwärtigen Geschichte zurückzuführen und zu versuchen, in ihnen nicht nur die Wiederholung des von den Nazis verhängten, unabänderlichen Schicksals zu sehen, sondern dank des Generationenwechsels und veränderter Umstände auch Spuren möglicher Unterschiede und Transformationen – wenn auch nur in Form neuer oder sich anders präsentierender, aber im Kern gleichbleibender Probleme. Nur wenn man die unterschiedlichen Formen erkennt, in denen sich das Trauma in der Geschichte fortzusetzen droht, kann man auch die unterschiedlichen Stimmen, die in ihm sprechen und die Zeitpunkte erkennen, an denen 29 | Ich stimme dem Psychoanalytiker Robert M. Prince zu, der die Vorstellung, die Weitergabe des Holocausttraumas finde auf ein- und dieselbe Weise statt, als „Mythos“ bezeichnet, vgl. Prince: Second Generation Effects of Historical Trauma, S. 12.
Zeugen des Nicht-Erlebten
seine Verschmelzungen unterbrochen und ihm die Legitimation entzogen werden kann. Ester: „In diesem Moment ist mir klar geworden, dass… ich nie erfahren werde, was genau meine Mutter erlebt hat.“
Übersetzung: Gesine Seymer
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Die europäische Erinnerung an die Shoah im Zeitalter der Opferkonkurrenz Emmanuel Droit
Mit dem ‚Erwachen‘ des jüdischen Erinnerns Anfang der 1960er Jahre rückte das Gedenken an die Shoah über die jüdische Welt hinaus allmählich in den Mittelpunkt der westlichen Erinnerungskultur und veränderte die bis dahin heroisch-patriotisch geprägte Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg: Sowohl die heldenhafte Figur des Widerstandskämpfers als auch die tragische Figur des Deportierten wurden im kollektiven Gedächtnis der jüngeren Generationen immer mehr durch das Bild des jüdischen Opfers ersetzt. Spätestens nach dem Zerfall des sowjetischen Blocks 1989 und der politischen Wiedervereinigung des europäischen Kontinents 2004 (und in einem zweiten Schritt 2007) wurde die Shoah zum gesamteuropäischen Erinnerungsort, zum negativen Fundament einer Schicksalsgemeinschaft.1 Als absolutes Symbol des Bösen ist Auschwitz „zur Signatur eines ganzen Zeitalters geworden“2, nämlich jene des „Zeitalters der Extreme“.3 In der Tat führt die aktuelle Zentralität der Erinnerung an den Völkermord an den Juden zu einer vorwiegend düsteren Sicht zumeist angelsächsischer Historiker auf die europäische Geschichte des 20. Jahrhunderts. Als gesamter „dark“ oder „savage continent“4 oder, als dessen Einzelteile, „Bloodslands“5, hat das Europa 1 | Vgl. Emmanuel Droit: Le Goulag contre la Shoah. Mémoires officielles et cultures mémorielles dans l’Europe élargie, Vingtième Siècle 94, 2/2007, S. 101-120. 2 | Jürgen Habermas: Eine Art Schadensabwicklung. Kleine politische Schriften, Band VI, Frankfurt a.M. 1987, S. 163. 3 | Eric Hobsbawm: Das Zeitalter der Extreme. Weltgeschichte des 20. Jahrhunderts, München 1995. 4 | Mark Mazower: Dark Continent: Europe‘s 20th Century, London 1998; Keith Lowe: Savage Continent. Europe in the Aftermath of World War II, London 2012. 5 | Timothy Snyder: Bloodlands. Europa zwischen Hitler und Stalin, München 2011.
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des 20. Jahrhunderts als Raum massenhafter Gewalt unzählige Opfer gefordert: Opfer der Kriege zwischen Staaten oder Imperien, der Bürger-, Klassenund Rassenkriege. Die seit etwa zwei Jahrzehnten bestehende, feste Verankerung der Erinnerung an die Shoah in Westeuropa hat zur Herausbildung eines Konkurrenzsystems zwischen verschiedenen Opfergruppen geführt, in dem das Gedenken an den NS-Völkermord als Maßstab fungiert. So liegt seit dem Ende des Kalten Krieges der Schwerpunkt der Erinnerungskultur der postsozialistischen Länder Europas stärker auf den Verbrechen der kommunistischen Regime. Die daraus entstehende erinnerungskulturelle Debatte wirft fundamentale Fragen auf: Soll der Erinnerung an die Verbrechen des Stalinismus in der europäischen Erinnerungskultur eine gleichermaßen zentrale Stellung eingeräumt werden wie dem Gedenken an den NS-Völkermord? Kann die Singularität der Erinnerung an die Shoah im Kontext der immer stärker fragmentierten Erinnerungslandschaft des wiedervereinigten Europas weiter im Vordergrund stehen? Im Folgenden wird zunächst die Erinnerung an die Shoah in das Zeitalter des Gedenkens eingeordnet und im Anschluss sowohl die Asymmetrie der europäischen Erinnerung an die Shoah als auch die Rolle der Europäischen Union als Homogenisierungsakteur der Erinnerungskultur dargestellt. Schließlich werden das Problem der Konkurrenz und die Suche nach einer ‚gerechten Erinnerung‘ analysiert.
D IE E RINNERUNG AN DIE S HOAH IM Z EITALTER DES G EDENKENS Seit nun etwa einem Vierteljahrhundert hat der französische Historiker Pierre Nora das „Zeitalter des Gedenkens“6 diagnostiziert, im Sinne einer zeitlichen Konjunktur 7, in der die Gedächtnisfrage eine neue und bisher unbekannte Relevanz und Aktualität gewonnen hat. Diese Zeit, deren erste Merkmale im Falle Frankreichs in den 1970er Jahren auftraten (wie das Ende der bäuerlichen Gemeinschaft als Träger eines kollektiven Gedächtnisses oder den Aufstieg des ‚Kulturerbes‘), stellt eine wichtige Zäsur in unserem Verhältnis zur temporalen Zeitordnung dar. Mit dem Ende der Hochmoderne begann eine ungewisse Phase, die sich durch die zunehmenden Globalisierungs- und Interdependenzprozesse, das damit verbundene Ende der Ära der nationalzentrier-
6 | Pierre Nora: Das Zeitalter des Gedenkens, in: Ders. (Hg.): Erinnerungsorte Frankreichs, München 2005, S. 543-575. 7 | Etienne François: Die Konjunktur des Gedächtnisses. Eine Antwort auf die Beschleunigung der Zeit?, in: Ernst Peter Fischer und Klaus Wiegandt (Hg.): Dimensionen der Zeit. Die Entschleunigung unseres Lebens, Frankfurt a.M. 2012, S. 163-181.
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ten Territorialität 8 sowie die verschiedenen Krisenerfahrungen (vom Auftreten einer massiven Arbeitslosigkeit über Energieknappheit bis zu Umweltkatastrophen) kennzeichnen lässt. Seither verlieren die Zukunft und viel noch mehr die Zukunftsutopien (verbunden mit der Idee des Fortschrittes) ihre Funktion als geschichtliche Triebkraft und die Vergangenheit erscheint entweder als eine sehr weit entfernte, manchmal exotische, manchmal fremde Zeit oder als eine Last, als zu tragende Bürde. In diesem Kontext wird unser Zeitregime durch die Omnipräsenz der Gegenwart maßgeblich geprägt: Wir leben mit den Worten des französischen Historikers François Hartog im Zeitalter des Présentisme.9 In dieser Konstellation des Zeitalters des Gedenkens entwickeln sich zwei miteinander verbundene, aber gleichzeitig gegenläufige Tendenzen. Die erste besteht in der Abschwächung der nationalen Erinnerungskultur im Sinne eines homogenen, von allen Bürgern geteilten Gedenkens. In den frühen 1980er Jahren hatte Pierre Nora die Auflösung Frankreichs als imagined community beobachtet. Die Erinnerungskultur der III. Republik, die zum Fundament der nationalen Identität Frankreichs erhoben wurde, löste sich allmählich auf. Parallel zu diesem Prozess fand ein Wandel des Gedenkens an den Zweiten Weltkrieg statt. Nach dessen Ende traten in Ländern wie Frankreich oder Italien (wo der Krieg die Dimension eines Bürgerkriegs angenommen hatte) zunächst heroisierte Erinnerungspraxen in den Vordergrund, die die anderen, dunklen Erinnerungen überlagern sollten. Ein im Widerstand geeintes Frankreich war die Grundlage einer Meistererzählung, deren vorrangiges Ziel es war, die nationale Einheit so schnell wie möglich wieder herzustellen. Die Vergangenheitspolitik de Gaulles beinhaltete drei Hauptideen, die aufeinander bezogen wurden: Es ging es darum, erstens einen Schlussstrich unter den dreißigjährigen Krieg gegen Deutschland (1914-1945) zu ziehen, zweitens das Buch der inneren Konflikte (Vichy und Algerien) mithilfe einer Helden- und Amnestiepolitik zu schließen und drittens das neue politische Regime der V. Republik auf eine Grundlage zu stellen, die teilweise der Résistance entstammte. Seit den 1970er Jahren wurden parallel zum Prozess der Universalisierung der Shoah dann aber zahlreiche Tabus im Umgang mit der Vergangenheit gebrochen. In Frankreich verblasste das heroische Bild des einheitlichen Widerstands und das „Vichy-Syndrom“10 kam ans Tageslicht. Die
8 | Damit meint Charles Maier einen weltweit zu beobachtenden gesteigerten Grad politischer, sozialer und vor allem technisch-ökonomischer Durchdringung präzise abgegrenzter (in der Regel nationalstaatlich verfasster) Territorien, vgl. Charles Maier: Consigning the 20th Century to History: Alternative Narratives for the Modern Era, in: American Historical Review 105, 1/2000, S. 807-831. 9 | Vgl. François Hartog: Régimes d’historicité. Présentisme et expériences du temps, Paris 2003. 10 | Henry Rousso: Frankreich und die „dunklen Jahre“. Das Regime von Vichy in Geschichte und Gegenwart, Göttingen 2010.
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prägende nationale Meistererzählung der unmittelbaren Nachkriegszeit wirkte nicht mehr so effizient auf die Nachkriegsgenerationen, die andere Erfahrungen und Perspektiven als viele ihrer Vorgänger hatten. Diese Generation des ‚Baby-Booms‘ wurde in einen wachsenden gesellschaftlichen Wohlstand hineingeboren, hatte bessere Bildungsmöglichkeiten. Aus dieser Konstellation entstand ein Bedarf nach Vergangenheitsaufarbeitung, nach Anerkennung der Verantwortung Frankreichs. Das erklärt, warum die Erinnerung an die Shoah auf ein breites Echo in der französischen Gesellschaft stieß. Die Rezeption wurde auch durch kulturelle Vermittlungsformen wie Spiel- oder Dokumentarfilme ermöglicht und beschleunigt. Eine zweite Entwicklungslinie stellt die zunehmende Bedeutung der Erinnerung sozialer Gruppen dar, die vor allem das tragische Schicksal einer spezifischen Opfergruppe während des Zweiten Weltkrieges in die Öffentlichkeit tragen möchten. Es kam zu einer sichtbaren Fragmentierung des nationalen Gedächtnisses und zur Formierung antagonistischer Erinnerungskulturen, die sich oft in einer „Konkurrenz der Opfer“11 gegenüberstanden. Ende der 1990er Jahre diagnostizierte der belgische Sozialwissenschaftler Jean-Michel Chaumont dieses Phänomen, in dem jedes Opfer (oder ein Nachkomme der Opfer) fest davon überzeugt ist, dass sein Leiden einzigartig ist und Anerkennung verdient. In Bezug auf den Zweiten Weltkrieg kämpfen neben den ‚Gedächtnisunternehmern‘12 der Shoah auch Vertreter anderer Opfergruppen (wie etwa Sinti und Roma, Homosexuelle oder Zwangsarbeiter) um juristische, aber vor allem um politische und soziale Anerkennung. Die Universalisierung der Shoah13 als Erinnerungsort hat den Damm der national-einheitlichen Erinnerungskulturen in Westeuropa gesprengt. Wir sind inmitten des Zeitalters der Opfer und jedes demokratische Land in Europa ist zum Kampfplatz einer Opferkonkurrenz geworden.14 Nur in Russland und in seinen ‚Satellitenstaaten‘ wie Weißrussland gibt es unter autoritären politischen Regimen keinen Raum für etwas anderes als die offizielle heroische Geschichtspolitik. 11 | Jean-Michel Chaumont: Die Konkurrenz der Opfer. Genozid, Identität und Anerkennung, Lüneburg 2001.
12 | Unter diesem Begriff verstehe ich alle Akteure, die versuchen, neue vergangenheitspolitische Normen im öffentlichen Raum durchzusetzen. Es ist eine Anspielung auf den Begriff ‚Moralunternehmer‘ vom amerikanischen Soziologen Howard Becker. Vgl. Howard Becker: Außenseiter. Zur Soziologie abweichenden Verhaltens, Frankfurt a.M. 1972. 13 | Vgl. Daniel Levy und Natan Sznaider (Hg.): Erinnerung im globalen Zeitalter. Der Holocaust, Frankfurt a.M. 2001.
14 | Vgl. Claus Leggewie und Anne Lang: Der Kampf um die europäische Erinnerung. Ein Schlachtfeld wird besichtigt, München 2011. Vgl. auch die Perspektive des amerikanischen Literaturwissenschaftlers Michael Rothberg, der die interkulturelle Dynamik der Interaktion zwischen verschiedenen kollektiven Erinnerungskulturen herausstreicht: Michael Rothberg: Multidirectional Memory. Remembering Holocaust in the Age of Decolonization, Stanford 2009.
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Infolgedessen sind die westeuropäischen Staaten in die unbequeme Position geraten, keine Initiative im Bereich der Gedächtnispolitik ergreifen zu können, sondern lediglich zu reagieren und letztlich den Prozess zu begleiten. In dieser Zeitordnung ist die „Pflicht zur Erinnerung“ zu einer Art kategorischem Imperativ geworden und „das Gebot zu vergessen“15 wird verurteilt.
D IE TRANSNATIONALE E RINNERUNG AN DIE S HOAH IN E UROPA Seit den späten 1970er Jahren ist die Erinnerung an die Shoah zu einem wichtigen Element der westlichen bzw. westeuropäischen Identität geworden. Die Zentralität dieses „heißen Gedächtnisses“16 zeigt sich im Westen sowohl im öffentlichen Raum als auch in der politischen Kommunikation (durch öffentlich bekundete Reue, die Einführung eines nationalen Gedenktages an den NS-Völkermord17), im Schulsystem (durch neue Geschichtslehrpläne) und in den Medien. Seit den 1980er Jahren und dank der Initiative jüdischer Nachkommen stieg die Zahl der Shoah-Gedenkstätten (und jüdischen Museen) von Washington über Berlin nach Paris stetig an.18 Dieses Netz von Erinnerungsorten trägt zur Entstehung einer gemeinsamen Erinnerungskultur in Westeuropa bei. Nach dem Ende des Kalten Krieges hat aber Europa eine Erinnerungsdiskordanz erfahren: Der Fall des ‚Eisernen Vorhangs‘ ging nicht sofort und selbstverständlich Hand in Hand mit der Entwicklung einer gemeinsamen Erinnerungskultur an die Shoah. Das Gedächtnis Europas war (und ist zum Teil noch) durch einen immateriellen ‚Eisernen Vorhang‘ der Erinnerungskulturen tief gespal ten: Auf der einen Seite steht die Zentralität der Shoah in Westeuropa und auf der anderen Seite das Primat der Erinnerung an die stalinistischen Verbrechen in Osteuropa. Der Übergang von einem von außen erzwungenen politischen 15 | Christian Meier: Das Gebot zu vergessen und die Unabweisbarkeit des Erinnerns. Vom öffentlichen Umgang mit schlimmer Vergangenheit, München 2010.
16 | Der Ausdruck „heißes Gedächtnis“ ist eine Anspielung auf die Typologie von Charles Maier. Mit diesem Begriff meint er, dass die Erinnerung an den Nationalsozialismus noch lebendig ist im Gegensatz zur Erinnerung an den Kommunismus. Charles Maier: Mémoire chaude, mémoire froide. Mémoire du fascisme, mémoire du communisme, in: Le Débat 122, 5/2002, S. 109-117.
17 | Im Januar 1996 hat Bundespräsident Roman Herzog den 27. Januar zum ‚Tag des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus‘ erklärt und damit das nationale Gedächtnis der Deutschen auf das Gedächtnis der Opfer der Shoah hin erweitert; vgl. Aleida Assmann: 27. Januar 1945. Genese und Geltung eines neuen Gedenktags, in: Etienne François und Uwe Puschner (Hg.): Erinnerungstage. Wendepunkte der Geschichte von der Antike bis zur Gegenwart, München 2010, S. 319-334. 18 | Vgl. Peter Carrier: Holocaust Monuments and National Memory Cultures in France and Germany, Oxford 2005.
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System auf eine sich selbst erkämpfte Demokratie führte im ehemaligen Ostblock zu einem ideologischen Entkolonialisierungsprozess: Die von der Sowjetunion oktroyierte offizielle Erinnerungspolitik wurde liquidiert und durch ein neues, nationales Narrativ ersetzt, das die Anerkennung der Opfer des stalinistischen Terrors in den Vordergrund stellte. Unter dem Einfluss der Europäischen Union, aber auch der Task Force for International Cooperation on Holocaust Education, Remembrance and Research (ITF) erfolgte jedoch ein Transferprozess von West- nach Osteuropa. Die Erinnerung an die Shoah etablierte sich allmählich (wenn auch nicht ohne Schwierigkeiten und Widerstand) im offiziellen Gedächtnis der Beitrittskandidaten. Im Rahmen des Erweiterungsprozesses fungierten bestimmte Institutionen der Europäischen Union wie das Europäische Parlament als ‚Gedächtnisunternehmer‘. Im politischen Feld spielte die Shoah eine nicht zu unterschätzende Rolle bei den Verhandlungsrunden mit den Beitrittskandidaten. Sie wurde neben den demokratischen Werten ein inoffizielles Beitrittskriterium, eine Art ‚Kopenhagener Erinnerungskriterium‘. Dieser Erinnerungsimperativ wurde vor allem vom Europäischen Parlament formuliert. Am 3. Juli 1995 veröffentlichte es eine Entschließung zum Holocaust-Gedenktag. Darin werden die Mitgliedstaaten aufgefordert, „anlässlich dieses Gedenktages Initiativen zu ergreifen, mit denen an den Zweiten Weltkrieg und den Holocaust erinnert wird“ und darüber hinaus die „Mitgliedstaaten des Europarates“ angeregt (d.h. vor allem die Beitrittskandidaten der EU), sich dieser Initiative anzuschließen.19 Dieser Erinnerungsimperativ wurde 1998 auch mit rechtlichen Forderungen verbunden: die Rückgabe von Vermögen jüdischer Opfer durch die jeweiligen Staaten. Parallel wurden osteuropäische Länder eingeladen, an der ITF teilzunehmen. Diese breit angelegte internationale Initiative wurde 2000 vor allem von Schweden, den USA, Großbritannien, Israel und Deutschland angetrieben. Einige osteuropäische Länder schlossen sich dieser Initiative an, wie zum Beispiel Lettland, Litauen, Polen, Rumänien, die Slowakei, Tschechien und Ungarn. Das neue kroatische EU-Mitglied kam im Jahr 2002 hinzu. Die Europäische Union beschleunigte somit die Phase der Anamnese (d.h. die Rückkehr der Erinnerung) in Osteuropa. In Ungarn passte sich die Regierung den Forderungen der Europäischen Union an, betonte aber die Erinnerung an den Kommunismus, indem ihr kalendarisch ein Vorrang eingeräumt wurde: Der Gedenktag an die Shoah wurde im Jahr 2000 eingeführt und auf den 16. April festgelegt; 1999 war aber bereits der Gedenktag für die Opfer des Kommunismus am 25. Februar initiiert worden. Rumänien wartete bis 2004, um einen solchen Tag einzuführen. Auch wenn die Regierungen der osteuropäischen Länder der Shoah einen Platz in Reden und in Kalendern einräumen, 19 | Vgl. Amtsblatt der Europäischen Union, Entschließung des Europäischen Parlaments zum Holocaust-Gedenktag 166, 3.7.1995.
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so bleibt diese jedoch in der Topographie der Erinnerung (abgesehen vom Holocaust-Museum in Budapest 20 oder einigen Denkmälern in baltischen Staaten21) eher unsichtbar. Seit den 1990er Jahren entwickelt sich somit ein transnationales und gesamteuropäisches Gedenken an die Shoah. Aber gleichzeitig fungiert dieses als Modell für andere Opfergruppen. Sie versuchen, die Einzigartigkeit der Erinnerung an die Shoah in Frage zu stellen. Deshalb stehen heute auf europäischer Ebene vier Hautgruppen in Konkurrenz: Die Opfer des Nationalsozialismus – vor allem des NS-Völkermordes –, des Stalinismus, des Kolonialismus und der Vertreibungen. Jede dieser Hauptgruppen kämpft entweder um Wiedergutmachung oder um Anerkennung durch die Politik, etwa um die Einweihung eines Denkmals, denn vergessen zu werden würde einen zweiten und diesmal definitiven Tod bedeuten. Mit dem Gedenken an die Shoah ist Europa nicht nur zur transnationalen Erinnerungsgemeinschaft geworden, diese Gedächtniskultur hat zugleich Europa zu einem Kampfplatz für konkurrierende Erinnerungen gemacht, die miteinander interagieren.
E UROPA ALS ‚ MULTIERINNERUNGSKULTURELLE ‘ G ESELLSCHAFT : DAS B EISPIEL DER O PFER DES S TALINISMUS In einer Rede vor dem deutschen Bundestag in Berlin am 27. Januar 2004 drückte Simone Veil, Holocaust-Überlebende, ehemalige Gesundheitsministerin in Frankreich unter der Präsidentschaft von Valéry Giscard d’Estaing (1974-1979), erste Präsidentin des Europäischen Parlaments (1979-1982) und seit 2000 Vorsitzende der Stiftung für das Gedenken an die Shoah in Paris, ihre tiefsten Sorgen über die Verankerung der Erinnerung an die Shoah in Osteuropa aus:
20 | Zurzeit ist Ungarn, wo die größte jüdische Gemeinschaft Osteuropas mit etwa 100.000 Mitgliedern lebt, das einzige osteuropäische Land, in dem ein Museum über die Shoah eingeweiht wurde. 2003 entschloss sich die Regierung Orbán, dieses Museum einzurichten. Es sollte die guten Absichten der ungarischen Regierung belegen und die Polemik um die Einweihung des tendenziösen Haus des Terrors (Terror háza) mindern.
21 | Das erste Denkmal in Riga, zur Erinnerung an die ermordeten Juden, war ein 1991 eingeweihter Gedenkstein für die am 4. Juli 1941 niedergebrannte Synagoge. Er wurde auf Initiative jüdischer Überlebender aufgestellt. Vier Jahre später wurde an derselben Stelle ein Denkmal errichtet, das die Ruinen der Synagoge nachbildet. Außerhalb der lettischen Hauptstadt wurde am 30. November 2001 eine Gedenkstätte für die erschossenen Juden (HolocaustDenkmal) errichtet. Dieses Denkmal befindet sich aber im Wald (Bikernieku) und ist aufgrund seiner geographischen Lage kaum bekannt.
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„Es geht nicht überall gleich schnell voran, dies muss gesagt werden. Insbesondere ist die Shoah in einigen osteuropäischen Ländern noch nicht ausreichend anerkannt: auf Grund der Manipulation durch die kommunistischen Regime, die lange an der Macht waren, hat die Erinnerung an das den Völkern von den Nazi-Besatzern zugefügte Leid den Blick auf die Erinnerung an das den Juden manchmal sogar mit dem geheimen Einverständnis dieser Völker zugefügte Leid verstellt. Diese Realität muss man sehen. In den jetzt vom kommunistischen Joch befreiten osteuropäischen Staaten gibt es andere, als Schutzschild fungierende Erinnerungen, die die notwendige Erinnerungsarbeit zur Shoah überdecken: Für diese fast ein halbes Jahrhundert lang der sowjetischen Herrschaft unterworfenen Völker haben die Opfer des Kommunismus die Opfer des Nationalsozialismus verdrängt. Schlimmer noch: Erinnerung und Geschichte werden bisweilen so manipuliert, dass sie unter Verweis auf das durch die Sowjets zugefügte Leid als Rechtfertigung für den Antisemitismus dienen. Zu einer Zeit, wo Europa sich nach Osten öffnet, sind diese Entgleisungen in höchstem Maße alarmierend, denn diese angeblichen geschichtlichen Kontroversen berühren die Identität des zukünftigen Europa im Kern.“22
Für Simone Veil und viele Westeuropäer ist die Erinnerung an die Shoah zu einem Maßstab für universelle Werte geworden. Sich an den NS-Völkermord zu erinnern, ist zur Pflicht der westlichen Zivilisation geworden. Die Westeuropäer, die die Erinnerung an die Shoah in den Vordergrund rücken, übersehen aber oft, bewusst oder unbewusst, die Relevanz der Erinnerung an den stalinistischen Terror in den postsozialistischen Ländern Europas. Dieses interkulturelle Missverständnis führte 2004 in Deutschland sogar zu einer Polemik anlässlich der Rede der früheren lettischen Außenministerin und kurzzeitigen EU-Kommissarin Sandra Kalniete am 24. März 2004 im Leipziger Gewandhaus. Vor dem Hintergrund ihrer persönlichen Erfahrung 23 hatte sie den Erinnerungskonsens des ‚Alten Europas‘ bezüglich der Hierarchisierung von Kommunismus und Nationalsozialismus verletzt: „Über 50 Jahre lang ist die Geschichte Europas ohne uns geschrieben worden. Die Sieger des Zweiten Weltkriegs haben jeden nach Gut und Böse, Richtig und Falsch eingeteilt. Erst nach dem Fall des Eisernen Vorhangs erhielten die Forscher Zugang zu den archivierten Dokumenten und Lebensgeschichten dieser Opfer. Diese belegen, dass beide totalitäre Regime – Nazismus und Kommunismus – gleich kriminell waren. Es darf niemals eine Unterscheidung geben, nur weil eine Seite auf der der Sieger gestanden hat. Ihr Kampf gegen den Faschismus kann nicht als etwas gesehen werden, das die 22 | Simone Veil: Rede von Simone Veil vor dem Bundestag, Berlin, 27. Januar 2004, http://www. bundestag.de/kulturundgeschichte/geschichte/gastredner/veil/rede_veil.html [10.4.2014].
23 | Sandra Kalniete, 1952 in Sibirien geboren, stammt von einer vom NKWD deportierten lettischen Familie.
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Sowjetunion, die zahllose Unschuldige im Namen einer Klassen-Ideologie unterdrückte, für immer von ihren Verbrechen entschuldet“. 24
Das ‚heiße Gedächtnis‘ der osteuropäischen Gesellschaften ist nicht die Shoah, sondern es sind die Verbrechen des stalinistischen Terrors. Die Stellungnahmen von Simone Veil und Sandra Kalniete spiegeln den fundamentalen vergangenheitspolitischen Dissens zwischen West- und Osteuropa vor der EUOsterweiterung wider: Der Westen bezieht sich auf die Shoah als „negative[m] Gründungsmythos Europas“25, was von Osteuropa nicht unbedingt geteilt wird. Zwei konkrete Beispiele aus den baltischen Staaten belegen diese umgekehrte Hierarchisierung der Erinnerungskulturen deutlich: In Lettland wird der Güterwagen mit den stalinistischen Massendeportationen nach Sibirien verbunden, während dasselbe Motiv, insbesondere durch kulturelle Vermittler wie Filme, im Westen zum Symbol der Deportationen der Juden geworden ist. Das 2001 eingeweihte Denkmal für das Gedenken an die stalinistischen Deportationen in Riga ist ein originaler Güterwagen. Ein weiteres Beispiel ist die estnische Stadt Parnü, auf deren Friedhof im Jahr 2002 das Denkmal eines estnischen Soldaten in deutscher SS-Uniform eingeweiht wurde, was zu Polemiken in Westeuropa führte. Unter dem Druck der Europäischen Union wurde die Statue sogar zerstört. An ihrer Stelle wurde 2003 ein neues Denkmal für die estnischen Soldaten, die für die SS gekämpft haben, eingeweiht. Die EU forderte, dass keine Vertreter der Regierung an der Zeremonie teilnahmen. Der ‚Triumph‘ der Nationalgeschichte in den osteuropäischen Ländern, die Betonung des eigenen Schmerzes und der eigenen Opfer, erklären den noch existierenden ‚Eisernen Vorhang‘ und tragen zur Entstehung einer konkurrierenden Erinnerungslandschaft bei. Zu Recht hat Aleida Assmann jüngst festgehalten: „Wo aber Erinnerung und Anerkennung ausbleiben, bleiben die inneren Grenzen Europas stehen. In dieser Hinsicht ist die Aufarbeitung der Vergangenheit, die die Grundlage eines neuen Europas wäre, noch lange nicht beendet.“26
24 | Sandra Kalniete: Old Europe, new Europe, Rede am 24.03.2004 zur Eröffnung der Leipziger Buchmesse, http://www.die-union.de/reden/altes_neues_europa.htm [29.4.2014].
25 | Leggewie: Der Kampf, S. 15. 26 | Aleida Assmann: Zukunft Europas: Morgen kommt Moskau, in: Die Presse, 17.5.2006, http://diepresse.com/home/kultur/news/62043/Morgen-kommt-Moskau [29.4.2014].
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I ST EINE GEMEINE GESAMTEUROPÄISCHE E RINNERUNGSKULTUR MÖGLICH ? Die Erinnerung an die kommunistischen Diktaturen Osteuropas spielt bis heute in der westeuropäischen Erinnerungskultur eine eher untergeordnete Rolle. In Frankreich hatte die Polemik 1997 um das „Schwarzbuch des Kommunismus“ von Stéphane Courtois zu keinem nachhaltigen Interesse an den stalinistischen Verbrechen in Osteuropa geführt. Es handelte sich vor allem um eine Abrechnung des Historikers mit sich selbst und seinen Kollegen, die mit dem Kommunismus sympathisiert hatten und auch Mitglieder der französischen KP gewesen waren. Die Verbrechen des Stalinismus gehören laut Charles S. Maier zur Kategorie des „kalten Gedächtnisses“27, selbst in der heutigen Bundesrepublik, wo der Antikommunismus ein ideologisches Grundelement war. Um zusammenwachsen zu können, braucht Europa jedoch eine gemeinsame Erinnerungskultur. Dies bedeutet nicht nur die Ausdehnung der westeuropäischen Erinnerungskultur und -topographie auf Osteuropa, sondern vor allem eine wirklich geteilte Erinnerungskultur, das heißt, gegenseitigen Respekt für die affektive, empfindsame und schmerzhafte Erinnerungskultur des Anderen. In einer am 10. April 2005 im Weimarer Nationaltheater gehaltenen Rede anlässlich des 60. Jahrestages der Befreiung des nationalsozialistischen Konzentrationslagers Buchenwald stellte der Schriftsteller Jorge Semprún hierfür die Weichen: „Der kürzlich erfolgte Beitritt von zehn neuen Ländern Mittel- und Osteuropas – dem anderen Europa, das im sowjetischen Totalitarismus gefangen war – kann kulturell und existentiell erst dann wirksam erfolgen, wenn wir unsere Erinnerungen miteinander geteilt und vereinigt haben werden. Hoffen wir, dass bei der nächsten Gedenkfeier in zehn Jahren, 2015, die Erfahrung des Gulag in unser kollektives europäisches Gedächtnis eingegliedert worden ist. Hoffen wir, dass neben die Bücher von Primo Levi, Imre Kertész oder David Rousset auch die ‚Erzählungen aus Kolyma’ von Warlam Schalarnov gerückt wurden“. 28
Dieser Appell fiel in die Zeit des Übergangs vom ‚Zeitalter des Zeugen‘ in die Zeit des ‚Postgedächtnisses‘. Auch der stellvertretende Vorsitzende des Zentralrats der Juden in Deutschland, Salomon Korn, plädierte für einen erinnerungskulturellen Konsens in Europa: 27 | Charles Maier: Heißes und kaltes Gedächtnis: Über die politische Halbwertszeit von Nazismus und Kommunismus, in: Transit 22, 2001-02 (Themenheft), S. 153-165. 28 | Ansprache von Jorge Semprún: Stiftung Gedenkstätten Buchenwald und Mittelbau-Dora (Hg.): 60. Jahrestag der Befreiung der Konzentrationslager Buchenwald und Mittelbau-Dora, 6.-12. April 2005, Weimar 2005, S. 54-57, hier: S. 57.
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„Das ist und bleibt der ethische Kern des in Westeuropa inzwischen weitgehend unumstrittenen Imperativs, die Ermordung der europäischen Juden im kollektiven Gedächtnis zu bewahren. (…) Aus dem gleichen Grund ist der mittel- und osteuropäische Imperativ, die Erinnerung an die stalinistischen Verbrechen wachzuhalten, berechtigt – wenn und soweit diese Forderung sich nicht gegen den westeuropäischen Konsens richtet.“29
Eine gemeinsame europäische Erinnerungskultur ist sicherlich notwendig. Jeder europäische Bürger soll sich an Auschwitz und Kolyma erinnern. Die Europäische Union soll weiter als Gedächtnisunternehmen tätig sein, aber diesmal in die andere Richtung, von Ost- nach Westeuropa. Sie soll den Respekt der Erinnerungskulturen fördern, das heißt, einen wirklichen Austauschprozess ermöglichen. Die Shoah als ‚Gedächtnisloch‘ würde laut Marek Edelmann einen „postume[n] Sieg von Hitler“ bedeuten.30 Wären die stalinistischen Verbrechen als ‚Gedächtnisloch‘ nicht auch ein postumer Sieg, diesmal von Stalin? Diese gegenseitige und geteilte Erinnerung hat vielleicht einen symbolischen Anfang in Straßburg gefunden. Am 26. Januar 2006 verabschiedete die Parlamentarische Versammlung des Europäischen Rates eine von einem Mitglied der schwedischen parlamentarischen Delegation des Europarates (Göran Lindblad) skizzierte Entschließung über die Notwendigkeit der internationalen Verurteilung von Verbrechen totalitärer kommunistischer Regime.31 Dieser symbolische Akt war das Ergebnis eines Anfang 2005 formulierten Appells baltischer Abgeordneter an den europäischen Kommissar für Freiheit, Sicherheit und Recht, Franco Frattini. Das Ziel der Anerkennung der kommunistischen Verbrechen ist es, nicht die beiden totalitären Regime gleichzusetzen, sondern ein gegenseitiges Kennenlernen der Leiden des Anderen zu fördern. Seit 2011 wurde eine neue Entwicklungsstufe erreicht mit der Gründung der Platform of European Memory and Conscience. Als Bildungsprojekt der Europäischen Union fungiert sie als ein Netzwerk von staatlichen Institutionen und Organisationen aus ganz Europa (jedoch vorwiegend aus Osteuropa32), dessen Ziel es ist, durch Forschung und Dokumentation für die Verbrechen der kommunistischen Regime zu sensibilisieren.
29 | Salomon Korn: Die Zukunft der Erinnerung in Europa, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 2.6.2005.
30 | Marek Edelmann in der belgischen Zeitung Soir, 19.4.2003. 31 | Entschließung des Europarates Nr. 1481 (2006) betr. die Notwendigkeit der internationalen Verurteilung von Verbrechen totalitärer kommunistischer Regime, http://www.coe.int/t/d/Com/ Dossiers/PV-Sitzungen/2006-01/Entschl1481_kommunist.asp [10.4.2014].
32 | Die Gründungsmitglieder waren staatlichen Institutionen der Tschechischen Republik, Polens, Deutschlands, Ungarns, Rumäniens, Litauens, Estlands und Lettlands sowie mehrere NGOs aus dem europäischen Raum.
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Die Wiedervereinigung des europäischen Kontinents am 1. Mai 2004 bedeutete nicht, dass sich die Erinnerungskulturen vereinigten. Die Erinnerungskultur Westeuropas deckte sich nicht automatisch mit jener Osteuropas. Einerseits stellen die Vernichtung der Juden die gräulichsten Verbrechen des „Jahrhunderts der Barbarei“33 dar, andererseits bleibt die Erinnerung an die kommunistischen Verbrechen im Osten vorrangig. Unter dem Einfluss der Europäischen Union kam es zwar in vielen osteuropäischen Staaten zu einer Wende in der Erinnerungspolitik. Dieser Transferprozess hat aber Grenzen und reicht nicht bis zu Ländern, die bis heute unter russischem Einfluss stehen wie etwa Weißrussland.34 Nach Claus Leggewie ist „Europas kollektives Gedächtnis ebenso vielfältig wie seine Nationen und Kulturen“.35 Eine transnationale Erinnerungskultur soll nicht zu einer uniformierten Form des Gedenkens führen, in dem die Shoah eine „Tyrannei des Gedächtnisses“36 ausübt. Der Prozess hin zu einem Erinnerungskonsens braucht noch Zeit, soll aber letztendlich zu der Entstehung eines transnationalen, „gerechten Gedächtnisses“37 beitragen. Und die Geschichtswissenschaft kann ihren Beitrag zu einer „Politik der gerechten Erinnerung“38 leisten.
33 | Jean Améry: Jenseits von Schuld und Sühne. Bewältigungsversuche eines Überwältigten, Stuttgart 2000.
34 | Die Ukraine ist ein besonderer Fall. Ihre Erinnerungskultur ist zwischen dem pro-russischen und dem pro-westlichen Lager stark polarisiert. Ein Denkmal für die Opfer des Massakers von Babi Jar wurde zwar 1991 errichtet, das Hauptthema bleiben aber der ukrainische Gulag und die Hungersnöte der Jahre 1932-1933.
35 | Claus Leggewie: Gleichermaßen verbrecherisch? Totalitäre Erfahrung und europäische Erinnerung, in: eurozine, http://www.eurozine.com/articles/article_2006-12-20-leggewie-de. html [20.12.2006].
36 | Nora: Zeitalter des Gedenkens, S. 575. 37 | Paul Ricoeur: La mémoire, l’histoire, l’oubli. Paris, 2000, S. 650f. 38 | Ebd., S.1.
Historisches Verstehen und Geschichtsdidaktik vor neuen Herausforderungen
„Ein Staat, der im Zeitalter der Rassenvergiftung sich der Pflege seiner besten rassischen Elemente widmet, muß eines Tages zum Herrn der Erde werden.“ (Adolf Hitler)
Bruno Canova: Una nazione padrona del mondo (Eine weltbeherrschende Nation, 1973)
Historisches Lernen mit Zeitzeugen? Geschichtsdidaktische Anmerkungen 1 Alfons Kenkmann
In der aktuellen Hochzeit des Public-History-Booms haben Zeitzeuginnen und Zeitzeugen feste Plätze eingenommen. Nehmen wir ein Beispiel aus dem Jahr 2008: ‚„06.02.1942. Wir wurden deportiert“ – Eine Zeitzeugin berichtet‘. Mit diesen Worten unter einem historischen Photo von zwei jüdischen Mädchen bewarb ein stadtweit angeschlagenes Großplakat eine Veranstaltung im altehrwürdigen Erbdrostenhof im westfälischen Münster. Am Tag der Veranstaltung war der Andrang derart groß, dass der Saal die Menschen nicht fassen konnte. Die Interessenten kamen, ohne dass ihnen die angekündigte Zeitzeugin bekannt war. Allein dass es sich um eine Zeitzeugin handelte, reichte aus, um die Veranstaltung zu einem Erfolg zu machen. Der „Tod des Zeitzeugen“2 ist von manchem Historiker wohl doch vorschnell ausgemacht worden.
1. Z EITZEUGEN IN DER S CHULE UND IN DER Ö FFENTLICHKEIT Dies wäre noch zwanzig Jahre zuvor gänzlich anders gewesen. Veranstaltungen mit Zeitzeugen fanden damals nur einen kleinen Zuhörerkreis mit den üblichen Verdächtigen. Wie kam der Zeitzeuge in Öffentlichkeit und Unterricht?
1 | Der Beitrag ist eine leicht überarbeitete Fassung von Alfons Kenkmann: Vom Umgang mit Zeitzeugen im Unterricht, Geschichtsdidaktik und Oral History, in: Bettina Joergens (Hg.): Jüdische Genealogie im Archiv, in der Forschung und digital (= Quellenkunde und Erinnerung, Veröffentlichungen des Landesarchivs Nordrhein-Westfalen; Bd. 41), Essen 2011, S. 199-212. 2 | Günter Platzdasch: Als Zidane durchdrehte, waren die Zuschauer gerade durch den Spielverlauf abgelenkt. So geht es den Zeitzeugen oft: Eine Potsdamer Debatte über die Rolle der Zeitgenossenschaft und des Dabeigewesenseins in der historischen Forschung, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 30.12.2008.
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1.1 Ein Schüler wettbewerb als Initialzündung des intergenerationellen Gesprächs Die historische Recherche führt uns zurück in die Mitte der 1970er Jahre zum Schülerwettbewerb Gustav-Heinemann-Preis für die Schuljugend – und zwar zu dem Film, dem die Fernsehredakteure des WDR den Titel ‚War Opa revolutionär?‘ gaben – dort ausgestrahlt am Neujahrstag 1975, 21:45-22:30 Uhr. Damit wurde der Blick auf ein Bündel von Anregungen gelenkt, mit denen der Gustav-Heinemann-Preis für die Schuljugend und denen das gewählte Thema ‚Vom Kaiserreich zur Republik 1918/19‘ die bundesdeutsche Geschichtskultur entscheidend vitalisierte.3 Die inhaltliche Ausrichtung des Wettbewerbs transportierte ein an den Universitäten in dieser Zeit vieldiskutiertes Thema, vor allem den Aspekt der Revolution und den Gedanken der ‚Rätedemokratie‘ in die außerwissenschaftliche Öffentlichkeit und die Lebenswelt der Teilnehmer. In der Jugendprotestbewegung Ende der 1960er/Anfang der 1970er Jahre war der Rätegedanke allgegenwärtig. Dies gilt für die erhitzten Diskussionen um die Einführung von Pfarrgemeinderäten im Bereich der katholischen Kirche ebenso wie für die unter den Protestbewegten skandierte Losung ‚Brecht dem Schütz die Gräten – Alle Macht den Räten‘. Die Bundesrepublik galt als Scheindemokratie, die ‚richtige‘ Demokratie verortete man bei den Arbeiter- und Soldatenräten von 50 Jahren zuvor. Diesen virulenten Rätediskurs griff der Wettbewerb 1975/76 auf. „Gehen Sie den Spuren der Revolution von 1918/19 [...] nach! [...] Zeigen Sie [...] an Beispielen aus Ihrer Familie, Ihrem Wohnort, Ihrem Heimatraum [...] welche Auseinandersetzungen [...] sich vollzogen haben“4 – so steht es im Ausschreibungsheft. Durch diese Aufforderung zur regionalen, lokalen und familialen ‚Spurensuche‘ drängte der Schülerwettbewerb der Jahre 1974/75 auf eine Auseinandersetzung mit einem Topos der ‚rebellischen Generation‘. Nicht nur ‚Wyhl war überall‘ – wie der gängige Slogan der frühen Anti-Atomkraftbewe3 | Das Kapitel zur Historisierung der mündlichen Geschichte im Rahmen des Schülerwettbewerbs Deutsche Geschichte um den Preis des Bundespräsidenten basiert auf folgenden Aufsätzen: Alfons Kenkmann: Einleitung. Ein Phänomen in der bundesdeutschen Geschichtslandschaft. Der Schülerwettbewerb Deutsche Geschichte um den Preis des Bundespräsidenten, in: Ders. (Hg.): Jugendliche erforschen die Vergangenheit. Annotierte Bibliographie zum Schülerwettbewerb Deutsche Geschichte um den Preis des Bundespräsidenten, Hamburg 1997, S. 7-25; Ders.: Der Schülerwettbewerb Deutsche Geschichte um den Preis des Bundespräsidenten und sein Beitrag zur Vitalisierung der Kommunikationsfunktion von Geschichte, in: Bernd Schönemann, Uwe Uffelmann und Hartmut Voit (Hg.): Geschichtsbewusstsein und Methoden historischen Lernens, Weinheim 1998, S. 250-275. 4 | Gustav-Heinemann-Preis für die Schuljugend zum Verständnis deutscher Freiheitsbewegungen (Hg.): Wettbewerb 1974. Ausschreibungsheft des Wettbewerbs 1974, Hamburg 1974.
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gung 1974 hieß –, auch die Revolution 1918/19, so sollten die Teilnehmer erfahren, gab es reichs- bzw. republikweit, wenn auch in sehr unterschiedlicher Ausprägung. Der Titel „War Opa revolutionär?“ enthält noch einen wichtigen Vitalisierungsaspekt: die Idee des intergenerationellen Gesprächs, des Austausches zwischen den Generationen. „Fragen Sie auch ältere Verwandte und Bekannte, die Ihnen ihre Erlebnisse aus dieser Zeit erzählen können, oder sprechen Sie mit älteren Menschen auf der Straße darüber“5 – so lautete die Aufgabenstellung. Der ‚kommunikative Bogen‘ war gespannt, der großväterliche Zeitzeuge wird vom Hobbyhistoriker-Enkel befragt. Die ungewöhnliche Aufforderung stieß bei den Teilnehmern auf Resonanz: Über Zeitungsaufrufe und Anfragen bei damals noch so genannten ‚Altenwohnheimen‘ fand z.B. eine dreiköpfige Münsteraner Arbeitsgruppe die gesuchten Augenzeugen.6 Und in der Laudatio auf eine 13-köpfige Teilnehmergruppe aus Göttingen hob die Zentraljury 1975 ausdrücklich hervor, „daß die methodisch sehr umsichtig durchgeführten, detaillierten Befragungen einer großen Zahl von Augenzeugen einen wesentlichen Erkenntniszuwachs“7 boten. Wenn auch vom heutigen Standpunkt aus methodisch erstaunlich unreflektiert, wurde hier bereits versucht, die erfahrungsgeschichtliche Dimension von Geschichte in den Wettbewerb zu integrieren. Damit erfuhr diese Teildisziplin der Geschichtswissenschaft erheblich früher als in der historischen Fachwissenschaft die Aufmerksamkeit, die sie verdiente. Denn bis dato hatten sich in der deutschen Zeitgeschichte nur Historiker unter der Leitung von Theodor Schieder in den 1950er Jahren mit der „Dokumentation der Vertreibung der Deutschen aus Ostmitteleuropa“8 an der Oral History-Methode versucht. Martin Broszat begründete in diesem Forschungskontext schon 1954 die Notwendigkeit einer Oral-History-artigen Forschung, lange bevor es diese historische Teildisziplin in der Bundesrepublik überhaupt gab. Der Aufnahme ‚erinnerter Geschichten‘ in Form von Interviews (hier noch irreführend als ‚Vernehmungsprotokolle‘ bezeichnet) in der Massendokumentation lag die Einsicht zugrunde, dass mit dem Vertreibungsgeschehen die „breite 5 | Ebd. 6 | Vgl. Jürgen Bachmann, Hermann-Josef Meeck und Berthold Riering: Vom Kaiserreich zur Republik. Das Beispiel Münsters unter politischen Aspekten, unveröffentlichtes maschinenschriftliches Manuskript, Münster 1975, S. 6f, in: Bundesarchiv Koblenz, Zweigstelle Rastatt, Wettbewerbsarbeit 75-0272.
7 | Zentraljury des Schülerwettbewerbs Deutsche Geschichte um den Preis des Bundespräsidenten: Laudatio der Zentraljury vom 10.6.1975, in: Archiv des Schülerwettbewerbs Deutsche Geschichte um den Preis des Bundespräsidenten, Hamburg, Karton 34 SDG, Ordner 7, GHP 1975 Bewertungsverfahren 40. 8 | So der Titel der Dokumentation, in vier Bänden unter der Herausgeberschaft von Theodor Schieder zwischen 1954 und 1957 in Bonn erschienen.
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Masse, die Gesellschaft als Ganzes weitgehend selbst Subjekt der Geschichte geworden“9 war. Rezipiert wurde dieses von der Bundesregierung in Auftrag gegebene, methodisch innovative Projekt in der Öffentlichkeit jedoch kaum.10 Von wissenschaftlicher Seite setzte sich erst mehr als zwei Jahrzehnte später Lutz Niethammer – dieses Mal jedoch auf hoch reflektiertem Niveau – mit der mündlichen Geschichte auseinander. Doch erschien der wegweisende wissenschaftliche Sammelband zum Stand internationaler Oral History-Forschung erst fünf Jahre nach dem hier behandelten Wettbewerb.11 Als drittes fokussiert der Filmtitel die anthropologische Dimension der Geschichtswissenschaft. Der Mensch, der Großvater bzw. alte Mann – das Subjekt – wird plakativ in den Mittelpunkt gestellt und zwar an einem politikgeschichtlich relevanten „Wendepunkt deutscher Geschichte“.12 Gleichzeitig enthält der Titel in seiner Fragestellung einen konkreten Gegenwartsbezug, indem die Frage „War Opa revolutionär?“ bzw. „War Oma revolutionär?“ aus der Perspektive von 1975 gestellt wurde. „Machen Sie ferner auf der Grundlage Ihres Materials deutlich, welche Einstellung zu den Ereignissen die Menschen damals besaßen, und sagen Sie, wie Sie heute die Vorgänge sehen“, heißt es in den Ausschreibungsunterlagen zur mündlichen Geschichte. Die eingegangenen Arbeiten zeigen, dass die Schüler diese zentrale Forderung auch annahmen. Erstpreisträger aus Würzburg resümierten: „Das Problem der Gewaltanwendung in der Politik stellt sich heute wie damals [...] was hätte man nicht alles lernen können aus den heißen Tagen.“13 „Geschichte wird dann am lebendigsten“ eröffneten fünf Schüler ihren Beitrag, „wenn sie uns die Augen dafür öffnet, daß die Vergangenheit unsere
9 | Martin Broszat: Massendokumentation als Methode zeitgeschichtlicher Forschung, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 2, 2/1954, S. 202-2013, hier: S. 203. 10 | Siehe auch die kritische Kommentierung durch Marian Wojciechowski: Die Evakuierung, die Flucht und die Zwangsumsiedlung der deutschen Bevölkerung aus den Gebieten östlich der Oder und Neiße (1944-1951), in: Deutsch-polnische Schulbuchkonferenz der Historiker/Gemeinsame deutsch-polnische Schulbuchkommission (Hg.): Die Beziehungen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Volksrepublik Polen bis zur Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (Helsinki 1975). XIX. deutsch-polnische Schulbuchkonferenz der Historiker vom 20. bis 25.5.1986 in Saarbrücken (Schriftenreihe des Georg-Eckert-Instituts für Internationale Schulbuchforschung, Bd. 22/10), S. 73-86.
11 | Vgl. Lutz Niethammer (Hg.): Lebenserfahrung und ‚kollektives Gedächtnis‘. Die Praxis der „Oral History“, Frankfurt a.M. 1980.
12 | Carola Stern und Heinrich A. Winkler (Hg.): Wendepunkte deutscher Geschichte 1848-1945, Frankfurt a.M. 1979.
13 | Martin Riegler et al..: Die revolutionären Ereignisse in Würzburg, München und in Bayern allgemein, unveröffentlichtes Manuskript, Würzburg 1975, in: Bundesarchiv Koblenz, Zweigstelle Rastatt, Wettbewerbsarbeit 750404-2/2, S. 6/10f.
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Gegenwart beeinflußt.“14 Gleichzeitig konnte und kann an der von den Schülern selbst mitproduzierten Quelle ‚lebensgeschichtliches Interview‘ die in den Richtlinien geforderte ‚Erkenntnis von Grenzen wissenschaftlicher Aussagen‘ paradigmatisch erhellt werden. Im Prozess historischen Lernens sollten die Schüler ‚fit‘ für die Aneignung von ‚Welt‘ gemacht und gleichzeitig die Brücke zur Universität geschlagen werden. Nicht mehr unbedarft wie ein Kleinkind an die Fakultät, sondern mit Vorwissen um das wissenschaftliche Handwerkszeug an die Brust der alma mater! Seither betritt nicht mehr der historische überlegene Meister, sondern Paul Klees‘ „zweifelnder Engel“15 die Bühne der Geschichtsvermittlung. Hinter diesen erreichten Stand können und dürfen wir nicht wieder zurück.
1.2 Oral History als integraler Bestandteil bundesrepublikanischer Lehrpläne Der Siegeszug der lebensgeschichtlichen Befragung an den Schulen kam erst später mit deren Absicherung in den Lehrplänen Ende der 1980er Jahre. Heute ist die Oral History fest in den Lehrplänen zur zeitgeschichtlichen Epoche integriert. Nehmen wir das Land Brandenburg. Der Rahmenlehrplan Geschichte für die Sekundarstufe I hebt den interdisziplinären sozial- und kulturwissenschaftlichen Ansatz hervor, unter dessen Dach „das wichtige Feld der Erinnerungen im Rahmen von Geschichtskultur(en)“ thematisiert wird – womit dann auch der Zeitzeuge durch „Befragungen […] zu historischen Sachverhalten“16 seinen festen Platz beim historischen Lernen innehat. In dem Lehrplan Gesellschaftswissenschaften, Erdkunde/Geschichte/Sozialkunde in Rheinland-Pfalz für Hauptschule, Realschule, Gymnasium, regionale Schule für die Klassen 7-9/10 heißt es sehr konkret:
14 | Michael Rupprecht et al.: Der Vorsitzende des bayerischen Bauernrates Ludwig Gandorfer und seine Rolle bei der Revolution von 1918 in Bayern, unveröffentlichtes Manuskript, Straubing 1975, in: Bundesarchiv Koblenz, Zweigstelle Rastatt: Wettbewerbsarbeit 75-0414.
15 | Zentrum Paul Klee (Hg.): Die Engel, Bern/Ostfildern 2012, S. 90. 16 | Ministerium für Bildung, Jugend und Sport Land Brandenburg (Hg.): Rahmenlehrplan für die Sekundarstufe I, Jahrgangsstufen 7-10, Geschichte, Potsdam 2010, http://bildungsserver.berlinbrandenburg.de/fileadmin/bbb/unterricht/rahmenlehrplaene_und_curriculare_materialien/ sekundarstufe_I/2010/Geschichte-RLP_Sek.I_2010_Brandenburg.pdf [21.5.2014], S. 20f.
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„Der Geschichtsunterricht muss der Schülerin/dem Schüler einen großen Raum zur Eigentätigkeit bieten, wobei sie/er Geschichte erfahren, nachvollziehen und vergegenwärtigen kann (Spurensuche, Regionalgeschichte, Familiengeschichte, Oral-History etc.)“.17
„Es müssen“ – so im O-Ton – „Unterrichtsmethoden gewählt werden, die der Schülerin/dem Schüler historische Vorgänge in Vergangenheit und Gegenwart anschaulich und durchschaubar machen und ihm damit den Weg zur eigenen Erkenntnis ermöglichen (Projektunterrichtsform, offene Unterrichtsform, vielfältige Kommunikationsformen, etc.).“18
Für die Senatsverwaltung Berlin für Bildung, Jugend und Sport, Rahmenplan für Unterricht und Erziehung in der Berliner Schule, politische Weltkunde/ Geschichte, Gymnasium der Klassen 11-13, besitzen „außerschulische Lernorte, wie Museen, Gedenkstätten, Archive […] besonders für den Unterricht in zeitgeschichtlichen und aktuellen Themen eine wichtige und ergänzende Bedeutung. Das gilt auch für Referenten als Zeitzeugen der jüngsten Vergangenheit und Gegenwart. Diese Möglichkeiten für die Ergänzung des Unterrichts müssen in die Planung miteinbezogen werden.“19
In Hessen ist man am Bildungsgang Gymnasium der Jahrgangsstufen 6-12 für das Unterrichtsfach Geschichte darauf bedacht, „eine möglichst selbstständige Auseinandersetzung mit den Lerngegenständen“ zu fördern. Diese werde vor allem durch „[h]andlungs- und produktorientierte Verfahren, kreative Formen der Beschäftigung mit historischen Fragestellungen, Erkundungen, Befragungen von Zeitzeugen“20 gefördert. In Sachsen wird im Lehrplan für die Oberschule in den Klassen 9 und 10 der „Einblick […] in die Methode der Zeitzeugenbefragung“ bzw. das „Kennen der
17 | Pädagogisches Landesinstitut Rheinland-Pfalz (Hg.): Lehrpläne, Lernbereich Gesellschaftswissenschaften, Erdkunde, Geschichte, Sozialkunde, Hauptschule, Realschule, Gymnasium, Regionale Schule (Klassen 7-10), Speyer 1999, S. 90.
18 | Pädagogisches Landesinstitut Rheinland-Pfalz: Lehrpläne, Lernbereich Gesellschaftswissenschaften, S. 90.
19 | Senatsverwaltung für Bildung, Jugend und Sport Berlin (Hg.): Rahmenlehrplan für die Sekundarstufe I, Jahrgangstufe 7-10, Hauptschule, Realschule, Gesamtschule, Gymnasium, Berlin 2007, http://www.berlin.de/imperia/md/content/sen-bildung/schulorganisation/lehrplaene/ sek1_geschichte.pdf?start&ts=1394618125&file=sek1_geschichte.pdf [21.5.2014], S. 3.
20 | Hessisches Kultusministerium (Hg.): Lehrplan Geschichte, Gymnasialer Bildungsgang, Jahrgangsstufen 6G bis 9G und gymnasiale Oberstufe, Wiesbaden 2010, S. 5.
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Methode der Zeitzeugenbefragung“21 verlangt. Auf das „Methodenbewusstsein“ in Sachen „Zeitzeugenbefragung“ drängt der Lehrplan für das Gymnasium sowohl in der Klassenstufe 10 als auch für den Grundkurs 11/12.22 In den Leistungskursen Geschichte für die Jahrgangsstufen 11 und 12 in Sachsen wird darüber hinaus das Oral-History-Methodenrepertoire noch zusätzlich erweitert, indem die Schülerinnen und Schüler hier in die Lage versetzt werden sollen, „Befragungen von Zeitzeugen durchzuführen und die mit mündlichen Geschichtsquellen verbundene Problematik zu beurteilen.“23 Kenntnisse in den Methoden der Mündlichen Geschichte sollen sowohl bei der Behandlung der Systemkrise und der Friedlichen Revolution als auch der „[p]olitischen Partizipation von Juden zwischen Ausgrenzung und Integration“ Anwendung finden.24 Der Zeitzeuge ist in der Lebenswelt der jungen Generation angekommen, wenn er nicht schon immer hier seinen Platz hatte.
1.3 Über Zeitzeugeninter views zur Medienbzw. Methodenkompetenz Auch im derzeitigen kategorialen Kompetenzenstreit aufgrund der Ergebnisse der internationalen Schulleistungsstudie der OECD (Programme for International Student Assessment, PISA)25 wird – folgt man dem Geschichtslehrerverband – unter dem Rubrum ‚Medien-/Methodenkompetenz‘ dem Zeitzeugengespräch eine bedeutende Rolle zugeschrieben: So wird für die Klasse 10 am Gymnasium gefordert, dass die Schüler „mit Zeitzeugen arbeiten“, das heißt konkret: „[…] sie können • ein Zeitzeugeninterview ergebnisorientiert vorbereiten, durchführen und auswerten, • zwischen persönlichen Erinnerungen von Zeitzeugen und historischer Wirklichkeit unterscheiden,
21 | Sächsisches Ministerium für Kultus (Hg.): Lehrplan Mittelschule, Geschichte, Dresden 2004/2006, http://www.schule.sachsen.de/lpdb/web/downloads/lp_ms_geschichte_2009. pdf?v2 [21.5.2014], S. 17.
22 | Sächsisches Ministerium für Kultus (Hg.): Lehrplan Gymnasium, Geschichte, Dresden 2004/2007,/2009/2011, http://www.schule.sachsen.de/lpdb/web/downloads/lp_gy_geschich te_2011.pdf?v2 [21.5.2014], S. 29 und 34.
23 | Sächsisches Ministerium für Kultus: Lehrplan Gymnasium, Geschichte, S. 37. 24 | Ebd., S. 40. 25 | OECD (Hg.): PISA, Internationale Schulleistungsstudie der OECDS, 2013, http://www.oecd.org/ document/20/0,3746,de_34968570_39907066_39648148_1_1_1_1,00.html [20. 5.2014].
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• erkennen, dass ein Zeitzeugeninterview immer nur einen Detailausschnitt bietet, der durch weitere Quellen ergänzt, eingeordnet und gewertet werden muss.“26
Von den Grundformen historischer Untersuchung werden im Rahmen der schulpädagogischen Arbeit mit Zeitzeugen vor allem das biographische (und das perspektivisch-ideologiekritische) Verfahren Berücksichtigung finden.
2. Z UGRIFFE ZUR O PFER - UND T ÄTERGESCHICHTE ÜBER MÜNDLICHE G ESCHICHTE Zeitzeugeninterviews und -berichte sind für die Geschichtsforschung und -didaktik weniger wegen der darin vermittelten ‚Fakten‘ i.S. eines positivistischen Geschichtsverständnisses bedeutsam – obgleich auch dies für die Holocaustforschung relevant ist –, sondern vielmehr kommt durch den für die Oral History charakteristischen erfahrungsgeschichtlichen Moment der ‚subjektive Faktor‘ in der Geschichtsvermittlung und -deutung zum Tragen. Dies soll an drei Beispielen gezeigt werden. Sie stammen aus der Zeit unmittelbar nach der Befreiung vom NS-Regime, bzw. aus den 1990er Jahren.
2.1 Der Überlebensbericht eines Kindes Der erste Zugriff bringt die Erfahrungen eines jüdischen Jungen, der den Holocaust überlebt hat. Das Interview wurde unmittelbar nach Kriegsende von Angehörigen einer jüdischen historischen Kommission geführt, die die Verbrechen der Nationalsozialisten für die Nachwelt festzuhalten versuchten, um die Zeugenschaft der Überlebenden evtl. auch für die anstehenden NS-Kriegsverbrecher- und Gewaltverbrecherprozesse zur Verfügung zu haben. Die damaligen Befragungen wurden nicht aufgezeichnet und anschließend transkribiert, wie es heute in lebensgeschichtlichen Interviews Standard ist. Ihr Inhalt wurde von dem beteiligten Erwachsenen zusammengefasst und schriftlich festgehalten. Das Protokoll vermittelt Einblicke, welche Formen der Drangsalisierung und Verfolgung jüdische Kinder in Polen durchlitten und wie sie dem Holocaust entgehen konnten. Die Intention der Kommission war es, neben der faktischen Überlebensgeschichte vor allem die Ausgestaltung des Alltags im Überleben sowie die Erfahrungen und die Gefühle der Kinder zum Ausdruck zu bringen. Es ging weniger um die präzise detailgetreue Rekonstruktion der einzelnen Überlebensgeschichten als vielmehr um die Frage, wie die Kinder die Verfolgung wahrgenommen, wie sie reagiert, was sie empfun26 | Verband der Geschichtslehrer Deutschlands (Hg.): Bildungsstandards Geschichte, Rahmen modell Gymnasium, 5.-10. Jahrgangsstufe, Schwalbach/Taunus 2006.
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den hatten und welche psychischen Verletzungen sie noch mit sich trugen. Im Zentrum der Interviews standen individuelle Erlebnisse, subjektive Wahrnehmungen und Gefühle. Diese Binnenperspektive findet sich auch in den schriftlichen Protokollen wieder. Diese stellen dichte Quellen dar, die einen alltags- und erfahrungsgeschichtlichen Zugang zu den nationalsozialistischen Verbrechen ermöglichen.27 Sie lassen die Schwächsten unter den Verfolgten – die jüdischen Kinder – sichtbar werden: Von fast einer Million jüdischer Kinder im Herbst 1939 lebten gegen Kriegsende noch 5.000 – ein halbes Prozent.28 Deren Überlebensberichte liefern ein beeindruckendes Beispiel früher Oral History: Durch die Interviews wurde den Verfolgten schon in frühester Nachkriegszeit eine Stimme gegeben, die ansonsten kaum wahrzunehmen gewesen wären. Wir befinden uns auf dem Feld zeitgenössischer Opfererfahrungen in der gesellschaftlichen Katastrophe der 1930er und 1940er Jahre. Das Exemplum ist im Original in deutscher Sprache verfasst. Es ist hier buchstabengetreu wiedergegeben, Schreib- und Formulierungsfehler eingeschlossen: „Protokoll aufgenommen im Flüchtlings-Haus in Bukarest, Calea Mo ilor 128, vom 9. Mai 1945. Zwecks Abgabe der Aussage erscheint BARAN Jankiel (Isrosch), geb. 1929 in Brünn, wohnhaft in Luck, und erzählt Folgendes: Im Juni 1941 befand ich mich in Luck. Eine Woche nach dem Einmarsch der Deutschen in diese Stadt nahmen sie bei sehr regem Anteil der Ukrainer eine gewisse Anzahl Juden, führten sie auf das Schloss und erschossen sie dort. In der nächsten Woche wiederholte sich das Gleiche. Damals gab es etwa 20.000 Juden in Luck. Es begannen Verfolgungen, hauptsächlich von Seiten der Ukrainer: man verkaufte den Juden kein Essen, schlug sie bei jeder Gelegenheit, sie durften nicht auf den Fusssteigen noch in den Hauptstrassen gehen. Im Herbst 1941 wurden 2 Ghettos in Gnidawa und in Damba Gnidawska bei Luck errichtet. Nach einiger Zeit überführte man alle aus Gnidawa nach Damba. Während dieses Umzuges wurden 2.000 bis 2.500 Personen erschlagen. Das Leben im Ghetto war sehr schwer. Es gab keinen Verkehr mit der Aussenwelt. Von 10 Jahren aufwärts musste jeder auf Brust und Rücken einen gelben Flicken tragen. Ich ging mit dem Vater zur Arbeit. Es war allgemein sehr streng, für das geringste „Verschulden“ wurde man erschossen. Im Frühling 1942 umzingelte man eines Tages das Ghetto am Morgen. Alle Juden wurden zum Judenrat gerufen, um sich in der Evidenz 29 der Spezialisten zu registrieren, 27 | Vgl. Alfons Kenkmann und Elisabeth Kohlhaas: Überlebenswege und Identitätsbrüche jüdischer Kinder in Polen im Zweiten Weltkrieg, in: Feliks Tych et al. (Hg.): Kinder über den Holocaust, Frühe Zeugnisse 1944-1948. Interviewprotokolle der Zentralen Jüdischen Historischen Kommission in Polen, Berlin 32009, S. 15-67, hier: S. 42-47. 28 | Ebd., S. 37. 29 | Das bedeutet hier ‚Übersicht‘.
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denen man Fachausweise herausgab. Die Registrierung dauerte bis zum Abend. Alle, die damals keinen Fachausweis erhielten, begann man mit Autos wegzubringen nach IRKA PALAKA (4 km von Luck), wo Gruben vorbereitet waren (von Polen und Juden aus anderen Lägern gegraben). Dort erschoss und vergrub man alle. Vor dem Erschiessen mussten sich alle nackt ausziehen. Kleine Kinder erschoss man nicht: man warf sie lebend in die Grube oder tötete sie, indem man sie an Bäume oder Steine schmetterte. Die bei dieser Aktion beschäftigten SS-Männer und Ukrainer hatten dort vorbereitetes Essen und Schnaps, man ass, trank, sang, spielte. Diese Aktion dauerte 17 Tage. Es fielen in ihr etwa 20.000 Menschen. Einigen gelang es sich zu retten, sogar aus den Gruben entkommend. Nach dieser Aktion blieben im Lager etwa 1000 Personen, lauter Fachleute. 30 Während dieser Aktion flüchtete ich auf Zureden der Mutter (welche damals mit den Schwestern ebenfalls weggebracht wurde) auf den Boden des Nachbarhauses. Wir waren dort 35 Personen versteckt. Wir blieben dort 6 Tage lang. Es war höllisch heiss, wir hatten weder Wasser noch Essen, man konnte es vor Hitze nicht aushalten. Wir hatten solchen Durst, dass die Mehrzahl in Flaschen urinierte und wir den eigenen Urin tranken. Man suchte mehrfach in der Nähe, entdeckte uns aber erst am 6. Tage. Sie brachten uns in einen Lagerraum, von wo ich ausriss, mich auf Wassersuche begebend. Ich begegnete 3 Juden, welche mich auf einen anderen Dachboden mitnahmen, wo bereits 150 Menschen verborgen waren. Es war dort eine Frau mit einem Kind, welche sehr unruhig war, verriet Anzeichen einer Nervenkrise und als sie begann, sich laut zu betragen, da erwürgte der Kommandant des Bodens, welcher die Situation sehr energisch beherrschte und Ruhe zu halten verstand, – zwecks Rettung aller anderen – diese Frau eigenhändig. Auf diesem Boden saß ich 7–8 Tage. Wir nährten uns von Kartoffelschalen. Da ich die ganze Zeit hindurch nur in Höschen war und nicht einmal ein Hemd anhatte, ging ich hinunter, um mir in irgendeinem der Zimmer ein Hemd zu finden. Während dieser Zeit war auf dem Boden eine Revision 31, alle wurden herausgebracht und getötet.“32
Der 16-jährige Jankiel Baran erzählt seine Überlebensgeschichte einen Tag nach der militärischen Kapitulation am 9. Mai 1945 im Flüchtlings-Haus in Breslau. Ort des Geschehens ist Ostgalizien: Im Unterschlupf mit anderen jüdischen Verfolgten konnte die Situation entstehen, dass die Gruppe befürchten musste, durch ein einzelnes Mitglied verraten zu werden, beispielsweise durch das Schreien eines Babys, oder wenn jemand drohte, in dieser existentiellen Lage den Verstand zu verlieren. In diesem Fall konnte die Gruppe oder ihr 30 | Die zur Arbeit ausgesuchten Juden, die von der Ermordung ausgenommen worden waren, lebten nun in einem Zwangsarbeitslager, das die SS im Oktober 1941 eingerichtet hatte.
31 | Das bedeutet hier ‚Durchsuchung‘. 32 | Abdruck des Überlebensberichts als Faksimile in: Alfons Kenkmann, Elisabeth Kohlhaas und Astrid Wolters: „Vor Tieren hatten wir keine Angst, nur vor Menschen“, Kinder über den Holocaust in Polen, Didaktische Materialien, Münster 22011, S. 25.
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informeller Anführer beschließen, den für alle potenziell gefährlichen Menschen zu töten, um das Überleben der Gruppe zu sichern. Der Junge Jankiel Baran schilderte eine solche Situation in seinem Bericht. Es kam vor, dass in Familien die eigenen Angehörigen ermordet wurden, um nicht verraten zu werden.33 Das Leben jüdischer Kinder in der Zeit der Verfolgung ist geprägt von Gewalt und Tod, körperlichen und seelischen Strapazen. Die Angst um das eigene Leben beherrschte den Alltag.34 Der Text führt an die Grenzen individueller Imagination, führt den Rezipienten unfassbar nah an den Orkus zeithistorischen Grauens.
2.2 Die Erfahrungen eines ungarischen Holocaustüberlebenden Vom schriftlichen Erinnerungsbericht aus der Endphase des Zweiten Weltkriegs zur Audioaufnahme eines Interviews, das ich im Jahr 1994 in Hamburg führte. Der Zeitzeuge war als ungarischer Jude zum todbringenden Arbeitseinsatz zwangsverpflichtet worden. G.T.: „… diese Hoffnung, dieser Glaube… es wird schon besser. Außerdem waren wir schon damals überzeugt, als wir zurückkamen aus der Sowjetunion, aus Russland, dass die Deutschen diesen Krieg nicht gewinnen werden.“ Kenkmann: „Wie kamen Sie zu dieser Überzeugung?“ G.T.: „Das konnten wir sehen, wenn wir ja auf der äußersten Front waren in Brest-Litowsk und andere jüdische Arbeitsdiensteinheiten an der Don und die haben den Rückzug mit gemacht. Sind ja sehr viele da in Gefangenschaft gefallen. Wenn die Russen dann die behandelt haben wie deutsche Soldaten oder ungarische Soldaten [undeutlich: und] gesagt haben: „Die arbeiten mit den Ungarn und mit den Deutschen zusammen.“ Tja. Das waren ja tragische Fälle. Die waren mit ihrer Verfolger zusammen waren, die waren in ein Lager dann. Aber eh… das war bei mir nicht der Fall. Aber wir haben ja auch in Brest-Litowsk gesehen, wir waren in Brjansker Wald, wo wir waren. Der Partisanenkampf war immer stärker und stärker und eh… wir bemerkten auch…schon wir haben zum Beispiel Minen gesucht. Die, die deutschen haben sich damals schon Nachts immer eingeigelt …eh… in diese Gebiet. Das war nicht überall so, aber da bei uns in Brest-Litowsk war so. Und dann mussten wir früh morgen… immer eine Gruppe Judenarbeitsdienstler wurden auf diese Straßen hinaus geschickt und auf der anderen Seite auch und eh… wenn wir Minen gefunden haben, denn die Partisanen haben diese Straßen immer wieder vermint, da war man tot oder so verwundet, dass man starb.“ Kenkmann: „Also sie wurden über die, sie mussten über diese Straßen marschieren und….“ 33 | Vgl. ebd., S. 7-8. 34 | Vgl. Jane Marks: Die versteckten Kinder. Dokumente von Angst und Befreiung, Augsburg 1994, S. 249ff.
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G.T.: [unterbricht] „… über diese Straßen eng, ganz eng, nebeneinander… spazieren. [betroffen] Jeden Tag…JEDEN Tag.“ Kenkmann: „Wie haben Sie das da durchgestanden?“ G.T.: [sehr leise] „… man hatte die Hoffnung, den Optimismus. …wissen Sie, das ist für mich sehr grausam … den Vortrag jetzt [zu] halten. …Sehr grausame Szenen. … Deshalb mag ich auch nicht diese… eh… solche Berichte machen.“
G.T. berichtet von seinen Erfahrungen als Arbeitsdienstler und ungarischer Jude in Brest-Litowsk in Weißrussland. In Ungarn gab es eine Besonderheit „rasseanthropologischer Maßnahmen“35: 1939/40 war ein Arbeitsdienst für jüdische Männer im Militärdienstalter eingeführt worden, die in Bataillonen und Regimentern zusammengeschlossen an der Front im Osten für unterschiedliche Maßnahmen (Bau, Reparatur von Straßen, Anlegen von Panzersperren) zwangseingesetzt wurden. Allein 42.000 ungarische Juden kamen in diesen Einheiten um, bevor am 19. März 1944 die deutsche Besatzung Ungarns begann. Dieses lebensgeschichtliche Interview thematisiert die Erfahrungen eines ungarischen Holocaustüberlebenden. Das Interview führte den Zeitzeugen in die Situation, die er jahrelang zu vermeiden versucht hatte, indem er Gesprächsanfragen zu seiner Leidenszeit unter der NS-Herrschaft immer schon im Vorfeld negativ beschied. Emotional aufgewühlt brach er das Interview ab, nachdem er sich der Situation als menschlicher Minenentschärfer erinnerte. „Das ist für mich jetzt sehr grausam, … den Vortag zu halten. … Deshalb mag ich auch nicht … solche Berichte [d.h. seine Zeitzeugenschaft] machen“. Die Bezeichnung ‚Bericht‘ ist eher unpassend, da sie in der Regel eine nüchtern gehaltene Informationsübermittlung umgreift. Tatsächlich stand der Zeitzeuge kurz vor dem psychischen Zusammenbruch, weshalb das Interview abgebrochen werden musste. In der historisch-politischen Bildung und im Unterricht eingesetzt sensibilisiert das Interview zum einen für die Vielfalt der mörderischen Drangsalisierungen, die Ohnmacht der jüdischen Opfer – aber auch für die absolute Zufälligkeit des Überlebens. Auch bringen die Schilderungen des Zeitzeugen zum Ausdruck, dass auch Gefühle ihren Platz im individuellen Geschichtsbewusstsein haben.36 Außerdem kommen die Schüler nicht umhin, sich den historischen Kontext zu erschließen, um die Erfahrungen des Zeitzeugen 35 | Eberhard Jäckel, Peter Longerich und Julius H. Schoeps (Hg.): Enzyklopädie des Holocaust, Die Verfolgung und Ermordung der europäischen Juden, Bd. III: Q-Z, München/Zürich 21998, S. 1464-1468, hier: S. 1464f.
36 | Vgl. Ute Frevert: Was haben Gefühle in der Geschichte zu suchen?, in: Geschichte und Gesellschaft, 35/2009, S. 183-208; Dies. et al.: Gefühlswissen. Eine lexikalische Spurensuche, Frankfurt a.M. 2011.
Historisches Lernen mit Zeit zeugen?
überprüfen zu können. Gleichzeitig sensibilisiert G.T. für das schwierige, aber interessante Arbeitsfeld des Historikers, der es nicht nur mit übergeordneten Strukturen zu tun hat, sondern ebenso mit konkreten Subjekten.37
2.3 Die späte Konfrontation mit der eigenen Verstrickung. Die Perspektive eines Polizisten Mit dem letzten Beispiel wird die Opferperspektive verlassen und den Bekundungen eines ehemaligen NS-Täters zugehört. Es ist eine Sequenz aus einem Interview mit einem ehemaligen Angehörigen eines Polizeiregiments. Das Zeitzeugeninterview führte der Historiker Martin Hölzl 1997 in einem Seniorenheim im Ruhrgebiet. Der Interviewpartner erzählte Folgendes: „…wir wurden zusammengestellt, wurden kommandiert und dann mussten wir schießen. Und mit dem Schießen is‘ dat so ’ne Sache, für mich war dat furchtbar [der Interviewte beginnt zu weinen]. Für mich war dat furchtbar. Ich sollt auf einmal Menschen erschießen, nu‘ steht man vor so ’nem Kerl. Ich konnt et nicht. Ich hab‘s auch [oder: nicht – undeutlich] fertiggebracht und hab‘s abgewendet - ‚Herr Hauptmann, sind S‘e mir nicht böse, aber ich hab‘ keine Schießbrille mit, ich kann nicht zielen. Ich, ich… Auf‘n Kerl schießen, keine Brille, geht nicht.‘ [Schluckt und schluchzt] ‚Hau‘n s‘e ab.‘ So hab ich mich auch ‚rausgeredet bei meiner Vernehmung in Essen und überall, wo ich war. Ich sach, ich bin. Ich habe nicht geschossen. Hab es nicht fertiggebracht. [Wischt sich hörbar Tränen ab]. Und ich bin auch freigesprochen.“38
Wir haben es hier mit der Erfahrungsgeschichte eines deutschen Täters zu tun. Im Unterricht eingesetzt erweitert diese Zeitzeugensequenz die Perspektive auf den Holocaust – es erfüllt das Lehrplan-Postulat nach Multiperspektivität. Auch liefert es über die gezeigten Emotionen genügend Anreiz für die Überprüfung des Wahrheitskerns des Zeitzeugenstatements. Hat der Ordnungspolizist wirklich nicht geschossen? Wie verräterisch ist das Wort ‚rausgeredet‘? Hat der Schüler es hier mit einem ‚gebrochenen‘ alten ehemaligen Täter zu tun oder einer individuellen Abwehrstrategie zur posthumen Entlastung? Dies sind alles Fragen, die Schülerinnen und Schüler mit der „Wut des Verstehens“ – wie der Germanist Jochen Hörisch es einmal formuliert hat 39 – begegnen 37 | Vgl. Ute Daniel: Kompendium Kulturgeschichte, Theorien, Praxis, Schlüsselwörter, Frankfurt a.M. 2001, S. 17.
38 | Marin Hölzl (Interviewer): Anonymisiertes Interview aus dem Jahre 1997. Das Interview ist als Audiodatei zu hören in der Multimediaanwendung von Raum 4 der Dauerausstellung „Im Auftrag. Polizei, Verwaltung und Verantwortung“ am Geschichtsort Villa ‚ten Hompel‘ in Münster, http://www.muenster.de/stadt/villa-ten-hompel/ausstellungen_im-auftrag.html [17.5.2014].
39 | Jochen Hörisch: Wut des Verstehens. Zur Kritik der Hermeneutik, Frankfurt a.M. 1988.
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Alfons Kenkmann
sollten. Gleichzeitig setzt dieses Interview einen deutlichen Kontrapunkt gegenüber Festsetzungen, ehemalige NS-Täter könnten keine Zeitzeugen sein, womit sich Täterinterviews als wenig aussagefähig für die Disziplin der Oral History erwiesen.40 Vergangenheit ist – wie es Fritz Stern treffend erfasst hat – nicht schwarz-weiß, sondern ein „Gewebe mit unterschiedlich schimmernden Farben.“41
3. M IT Z EITZEUGEN E RFAHRUNGSHORIZONTE BEWUSST MACHEN
Die Beispiele des jungen Holocaustüberlebenden, des ungarischen Juden und des deutschen Ordnungspolizisten entfalten eine ganze Bandbreite menschlicher Erfahrungsräume unter den Bedingungen einer Gesellschaft in der Katastrophe. Die Methode der mündlichen Befragung – das Zeitzeugeninterview – hat über den Schülerwettbewerb Deutsche Geschichte erheblich zur Aufwertung der Traditionsquellen innerhalb der deutschen Methodenlehre beigetragen.42 Nach Jahren des Streits um den Ertragswert der mündlichen Geschichte ist die Zeit vorbei, in der der Zeitzeuge vor allem als der ‚natürliche Feind des Historikers‘ verunglimpft oder belächelt wurde.43 Im Unterricht eingesetzt gibt das Zeitzeugengespräch Anregungen für neue Fragestellungen, es hält zur Rekonstruktion alltäglicher Lebenswelten an, weckt Interesse für weitere historische Recherchen und trägt darüber hinaus zur Offenlegung historischer Erfahrungsmuster bei. Dass die Vor- und Nachbereitung von Zeitzeugengesprächen einen hohen Zeit- und Arbeitsaufwand verlangen, muss bei der Einladung von Zeitzeugen im Unterricht Berücksichtigung finden: Dafür entschädigt aber das Gespräch, das aufgrund seiner engen Verwobenheit mit den Erfahrungen der Mitlebenden fast immer hinführt zur Begegnung mit „Geschichte … während sie noch qualmt“.44
40 | Vgl. etwa Martin Sabrow: Der Zeitzeuge als Wanderer zwischen den Welten, in: Ders. und Norbert Frei (Hg.): Die Geburt des Zeitzeugen nach 1945, Göttingen 2012, S. 13-32, hier: S. 27.
41 | Fritz Stern: Fünf Deutschland und ein Leben. Erinnerungen, München 2007, S. 11. 42 | Vgl. Lutz Niethammer: Ego-Histoire? und andere Erinnerungsversuche, Wien et al. 2002, S. 136f.
43 | Vgl. Alfons Kenkmann: Das Zeitzeugeninterview/-gespräch – Möglichkeiten und Grenzen der Oral History (Basisartikel), in: „Damals nach dem Krieg“. Deutschland 1945-1949, DVD-Rom, Leipzig 2008; Barbara Tuchman: Wann ereignet sich Geschichte?, in: Dies.: In Geschichte denken. Essays, Frankfurt a.M. 1984, S. 31-39, hier: S. 31.
44 | Ebd.
Historisches Lernen mit Zeit zeugen?
Mit dem Wegfall der Zeitzeugen des Holocaust – mit dem Übergang vom kommunikativen zum kulturellen Gedächtnis – verlieren wir in der Schule, verliert die Gesellschaft, die Authentizität der individuellen Erinnerung. Der Staffelstab wird an uns – die Akteure der historischen und pädagogischen Vermittlung weitergegeben. Der Sozialpsychologe Harald Welzer – man muss ihm nicht folgen – sieht darin auch eine Entlastung, weil damit das Pathos der Erinnerung wegfalle. Parolen wie ‚Wir dürfen nicht vergessen‘ verfehlen nicht ihre Wirkung unter den Angehörigen der Mitlebenden und Zeitzeugen, wohl aber unter den nachwachsenden Generationen. Gleichzeitig wird unter Migrationsaspekten die biographische Aufschließung in komplexerer Perspektive stattfinden müssen. Die Geschichtslehrkraft, der Archivpädagoge und der Erwachsenenbildner wird den Zeitzeugen ersetzen müssen – und ich hoffe inständig, dass den Zeitzeugen nicht nur das Medium Arbeitsblatt ersetzt. Wir werden aber in den Schulen nach dem Wegfall der Zeitzeugen zu Beginn des 21. Jahrhunderts natürlich nicht wieder bei Null anfangen. Ebenso wenig geht es um die „Erprobung einer neuen [!-A.K.] Herangehensweise an das Thema Nationalsozialismus und Holocaust“45, wie es in einem gerade aktuellen Informationsblatt einer norddeutschen Erinnerungs- und Gedenkstätte heißt, oder um ‚richtiges Erinnern‘ – wenn auch in Frageform – auf einer Lehrerfortbildung zu trainieren. Wir sollten die Geschichte nicht nur „in die Verantwortung für den Selbstdruck unserer Gegenwart“, sprich unter die Allmacht des Gegenwartsbezugs stellen, sondern darauf achten, „dass … ihr jene Fähigkeit [nicht] ausgetrieben wird, die Distanz heißt.“46 Der Gegenwartsbezug darf sich nicht zu einer Form kategorialer Alleinherrschaft erheben. Oder mit Roman Frister formuliert: „Welche Bedeutung [hat meine Zeugenschaft], haben meine Erfahrungen [von Auschwitz-Birkenau] für ähnliche Situationen in der Zukunft? … Null. Gar keine. Aus dem einfachen Grund, weil es ähnliche Situationen nicht gibt.“47
Der Holocaustüberlebende Frister kehrt den Akteuren der Menschenrechtserziehung voller Überzeugung den Rücken, die sich didaktisch v.a. auf vergangene Grausamkeiten beziehen. Nichtsdestoweniger bleiben die Erfahrungen der Zeitzeugen von zentraler Bedeutung für das kommunikative wie das kulturelle Gedächtnis unserer Gesellschaft. Denn obgleich die Vielfalt der Historie auf der Skala nach oben sehr 45 | Projektseminar an der KZ-Gedenkstätte Neuengamme (Hg.): Seminar–Ausschreibung 2011, http://gegenwartdervergangenheit.wordpress.com/ablauf/ausschreibung/ [21.5.2014].
46 | Michael Jeismann: Der Feind, das ist die Geschichte, Historiker als story teller, in: Geschichte für heute, 4/2008, S. 29-32, hier: S. 32.
47 | Roman Frister: Die Mütze oder Der Preis des Lebens. Ein Lebensbericht, Berlin 1997, S. 349.
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Alfons Kenkmann
offen ist, gibt es nur eine Entität, einen Wert, der kontinuierlich eine zentrale Rolle spielt – und das ist der Mensch. Denn „alles, was unser Menschsein ausmacht, vollzieht sich im vergänglichen Individuum, das durch tausend biographische Zufälle geprägt ist, und nur dort.“48
48 | Petra Morsbach: Warum Fräulein Laura freundlich war. Über die Wahrheit des Erzählens, München/Zürich 2006, S. 27.
Zeitzeugenvideos am Ende der Zeitzeugenschaft Zwischen Perspektivwechsel, Erinnerungsdiskurs und Kompetenzerwerb Martin Liepach
Als das Fritz Bauer Institut mit der Sammlung und Erstellung von Zeitzeugen-Videos als Unterrichtsmaterial begann, ahnte niemand, wie die technologische Entwicklung voranschreiten würde. Die Digitalisierung und Speicherung von Informationen ermöglicht in einem gegenüber früheren Zeiten ungeahnten Ausmaße Archivierungskapazitäten und visuelle Zugänge. Erste Video-Interviews wurden 1995 geführt und gehen zurück auf die Arbeit verschiedener Gruppen zur Regionalgeschichte in der Rhein-Main-Region. Im Rahmen der Arbeitsgruppe Spuren jüdischen Lebens in Frankfurt (1993) und des Projekts Konfrontationen des Fritz Bauer Instituts wurden Oral-History-Projekte in pädagogischen Arbeitszusammenhängen betrieben, deren Ursprünge in die 1980er Jahre zurückreichen. Zweck der Projekte war von Anfang an, subjektive Quellen mit für den Schulunterricht interessanten thematischen Schwerpunkten und unterschiedlichen Erzählperspektiven herzustellen. Sie sollten auch anregen, in der jeweils eigenen Region ähnliche Projekte zu wagen. Bei den durchgeführten Interviews entschied man sich für eine offene, narrative und lebensgeschichtlich ausgerichtete Interviewform. Durch die zeitliche wachsende Distanz zur Epoche des Nationalsozialismus tragen die Zeitzeugenvideos unumgänglich Tendenzen der Historisierung in sich. Eine weitere Einrichtung für Arbeit mit Zeitzeugenvideos wurde mit dem im November 2003 eröffneten Oskar und Emilie Schindler Lernzentrum im Jüdischen Museum Frankfurt geschaffen. Das Jüdische Museum Frankfurt verfügt zurzeit über knapp 100 Interviews mit Überlebenden von Schindlers Liste, die aus den Beständen des Visual History Archive der Shoah Foundation stammen. Technisch sind die Interviews in verschiedene Sequenzen unterteilt
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Mar tin Liepach
worden, die als Dateien einzeln und unabhängig voneinander abruf bar sind. Somit lässt sich relativ problemlos sofort jede Stelle innerhalb eines Interviews ansteuern. Die Bildschirmarbeitsplätze sind alle mit Kopfhörern versehen, so dass die Benutzer unabhängig voneinander zeitgleich verschiedene Interviews bzw. -sequenzen hören können, ohne dass andere sich gestört fühlen. Für die pädagogische Arbeit bedeutet diese Möglichkeit, dass hier Schülerinnen und Schüler eine gewisse Lernautonomie im Umgang mit den Interviews haben.1 Die im Oskar und Emilie Schindler Lernzentrum vorhandenen mehrstündigen Video-Interviews sind nicht nur als historische Dokumente wichtig, ihre Bedeutsamkeit wird vor allem in der künftigen pädagogischen Auseinandersetzung mit dem Holocaust zunehmen. Vor die Alternative gestellt, ein Gespräch mit einem Zeitzeugen zu führen oder sich eine Videoaufzeichnung anzuschauen, werden Lehrerkräfte aus gutem Grund das Gespräch immer bevorzugen, da hier die Möglichkeit besteht, den Partner zu befragen. So gesehen sind die Zeitzeugenvideos immer nur die zweitbeste Möglichkeit. Dennoch besitzen sie einen großen Vorteil gegenüber reinen Textquellen: Personen werden anschaulich, ihre visuelle Präsenz kann affektive Reaktionen hervorrufen. Eine erzählende Person wirkt auf den Betrachter sympathisch, überzeugend, glaubhaft, verletzlich oder vielleicht auch unsympathisch. Für die Reflexion und die Analyse der Mimik, Gestik und Körpersprache von Zeitzeugen sprechen sich daher auch die entsprechenden Handreichungen aus.2 Der französische Filmemacher Jean-Luc Godard kommentierte einmal sarkastisch: „Die Objektivität? Das sind fünf Minuten für Hitler und fünf Minuten für die Juden.“3 Hinter dem angedeuteten Problem einer formalistischen, scheinbaren Ausgewogenheit verbergen sich auch die Fragen des Umgangs
1 | Wichtigstes Interview für die pädagogische Arbeit ist ein Interview mit Mieczyslaw (Mietek) Pemper. 1943 wurde Pemper aufgrund seiner Sprach- und Stenografiekenntnisse Schreibkraft bei Göth, dem Kommandanten des Konzentrationslagers Plaszów. Pemper gab Schindler den entscheidenden Hinweis, seine Emaille-Produktion zum Teil auf Granathülsen umzustellen, um die Arbeiter so vor der Deportation zu retten, vgl. Mietek Pemper: Der rettende Weg – Schindlers Liste. Die wahre Geschichte. Aufgezeichnet von Viktoria Hertling und Marie Elisabeth Müller, Hamburg 2005. 2 | Siehe dazu: Dimensionen eines Video-Interviews, in: Bundeszentrale für politische Bildung und Freie Universität Berlin (Hg.): Zeugen der Shoah. Schulisches Lernen mit Video-Interviews. DVD-Begleitheft für Lehrende, Berlin 2012, S. 29. Ralph Erbar fordert diese Analyse für ein Zeitzeugengespräch, das in Form einer Videodokumentation gesichert wird, vgl. Ralph Erbar: Zeugen der Zeit? Zeitzeugengespräche in Wissenschaft und Unterricht, in: geschichte für heute 5, 3/2013, S. 5-20, hier: S. 16. 3 | U.a. zitiert in: Henry Rousso: Les racines politiques et culturelles du négationnisme en France, http://www.chgs.umn.edu/histories/occasional/Rousso_Roots_of_Negationism_in_France. pdf [18.8.2014], S. 3 sowie auch in: The Political and Cultural Roots of Negationism in France, in: Fascism, Nazism: Cultural Legacies of Reaction, in: South Central Review 23, 1/2006, S. 67-88.
Zeit zeugenvideos am Ende der Zeit zeugenschaf t
mit dem didaktischen Grundprinzip der Multiperspektivität und den verschiedenen Narrativen. Nach wie vor gibt es in den Schulbüchern die Dominanz einer täterorientierten NS-Geschichte, die sich auf zahlreiche NS-ideologische Verlautbarungen stützt. Es besteht die Notwendigkeit über Zeitzeugen ein Gegengewicht zu einer täterorientierten Geschichtsschreibung zu schaffen. Zum Beleg der These nachfolgend ein Blick in eine Untersuchung derzeitiger im Gebrauch befindlicher Schulbücher der Sekundarstufe I.4 Tabelle 1: Ergebnisse Schulbuchanalyse Sek. I Quellen (Dokumente und Textquellen) Gesamt
NS-Provenienz
Jüdische Perspektive
Dritte
Anz.
%
Anz.
%
Anz.
23 %
Anz.
%
GuG 5
22
100%
12
55 %
5
23 %
5
23 %
GPlus 9/10
16
100%
6
38%
5
31%
5
31%
Mos B 9
6
100 %
1
17 %
4
67%
1
17%
Hor 3
12
100%
9
75%
1
8%
2
17%
RiV 4
11
100%
8
73%
2
18%
1
9%
EuV 9/10 (BB)
16
100%
11
69%
4
25%
1
6%
EuV 3 (Nds)
21
100%
14
67%
5
24%
2
10%
Zr 3 (Nds.)
20
100%
11
55 %
3
15 %
6
30%
DwZ 4 ( 2010)
24
100%
12
50%
10
42%
2
8%
FG 9/10
21
100%
6
29%
6
29%
9
43%
EG 2
13
100%
11
84%
1
8%
1
8%
ZfG 8
10
100%
5
50%
3
30%
2
20%
ZuM 4
14
100%
6
43%
6
43%
2
14%
GkuV 9
4
100%
2
50%
1
25%
1
25%
Gerl 4
11
100%
5
45%
5
45%
1
9%
Gk 3
2
100%
2
100%
0
0%
0
0%
4 | In den vergangenen Jahren untersuchte das Pädagogische Zentrum des Fritz Bauer Instituts und des Jüdischen Museums Frankfurt in Kooperation mit dem Georg-Eckert-Institut, dem Institut für Internationale Schulbuchforschung, anhand eines repräsentativen Samples die Darstellung jüdischer Geschichte in aktuellen Schulbüchern der Sekundarstufe I für den Gymnasial- und den Real- und Hauptschulbereich. Die Ergebnisse sind nachzulesen in: Martin Liepach und Wolfgang Geiger: Fragen an die jüdische Geschichte. Darstellungen und didaktische Herausforderungen, Schwalbach/Taunus 2014.
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Mar tin Liepach
VB 3
8
100%
6
75%
0
0%
2
25%
Gr 3
5
100%
2
40%
0
0%
3
60%
236
100%
129
55%
61
26%
46
19%
GESAMT
GuG= Geschichte und Geschehen; GPlus=Geschichte Plus; Mos=Mosaik, Hor=Horizonte, RiV=Reise in die Vergangenheit; EuV=Erinnern und Verstehen; Zr=Zeitreise; DwZ=Das waren Zeiten; FG=Forum Geschichte; EG=Expedition Geschichte; ZfG=Zeit für Geschichte; ZuM=Zeiten und Menschen; GkuV=Geschichte kennen und verstehen; Gerl=Geschichte erleben; GK=Geschichte Konkret; VB=Von . . .Bis; Gr=Geschichte real 5
Insgesamt dominieren mit wenigen Ausnahmen die Quellen nationalsozialistischer Provenienz. Die Schulbücher enthalten mehr als doppelt so viele Quellen aus der Täterperspektive als aus der jüdischen Perspektive, wenn es um die Verfolgungs- und Ausgrenzungsgeschichte und den Holocaust geht. Im Extremfall verzichten die Realschulwerke Gk 3, VB 3 und Gr 3 auf gänzlich auf Textquellen aus jüdischer Perspektive. Gk 3 und VB 3 zeigen jedoch Zeichnungen von Lagerhäftlingen aus Auschwitz. Formal wurde die Anzahl der vorhandenen Textquellen gezählt. Dies ist zwar methodisch kritisierbar, denn auch die Länge der Quelle könnte ausgewertet und entsprechend dem Umfang anteilig im Buch berechnet werden. Dennoch, die Zahlen besitzen eine gewisse Aussagekraft. Neben den in der Tabelle aufgenommenen Textquellen könnte man auch die Bildquellen noch berücksichtigen, die fast ausschließlich aus Propagandamaterial bestehen.6 Sehr häufig finden sich unter den Bebilderungen Fotografien, die zumeist aus dem NS-Propagandakorpus stammen (Inszenierung von Hitler, Täteraufnahmen aus dem Warschauer Ghetto) oder antisemitische Plakate. Demnach wäre der Anteil täterorientierter Quellen noch höher anzusetzen. Dass es auch anders geht, zeigt Mos B9. In den Kapiteln: „Wer gehört nicht zur nationalsozialistischen ‚Volksgemeinschaft‘“ und „Die Ermordung der europäischen Juden“ kommen überwiegend Betroffene zu Wort. Wichtige historische Informationen (Nürnberger Gesetze, Novemberpogrom, Wannsee-Konferenz, Babi-Yar, Warschauer Ghetto) sind in den Autorentext verlagert worden, während im Quellenteil ergänzend eine neue Perspektive eröffnet wird. Einschränkend muss gesagt werden, dass die Anzahl der Quellen im Vergleich zu anderen Werken insgesamt geringer ist.7
5 | Zu den genauen bibliographischen Angaben siehe auch Liepach/Geiger: Fragen an die jüdische Geschichte. 6 | Hans-Jürgen Pandel: Bildinterpretation. Die Bildquelle im Geschichtsunterricht. Bildinterpretation I, Schwalbach/Taunus 2008, S. 159. 7 | Mos B9, S. 40f. und 54f.
Zeit zeugenvideos am Ende der Zeit zeugenschaf t
Neben Gesetzen und amtlichen Dokumenten sind vor allem sehr häufig Auszüge aus Hitlers Reden und seinem Werk Mein Kampf zu finden. Auch wenn man die Ideologie des Nationalsozialismus wohl kaum ohne die Person Hitlers und Auszüge aus Mein Kampf erschließen kann, stellt sich die Frage nach der sinnvollen Quantität. ZfG 4 präsentiert unter seinen zahlreichen Materialien immerhin achtmal Hitler im O-Ton (Auszüge aus verschiedenen Reden und Mein Kampf ). Der Sinn dieser didaktischen Entscheidung ist fraglich, vor allem, wenn man berücksichtigt, dass bereits der Autorentext durch entsprechende Unterabschnitte (Rassenlehre, Antisemitismus, Antibolschewismus, Antikapitalismus etc.) auf die Bausteine der NS-Ideologie verweist. Problematisch ist auch die starke Personifizierung durch die Fokussierung auf Hitler. Einige Werke stellen Täter- und Opferperspektive systematisch gegenüber. In EuV 3 beispielsweise finden sich auf einer Seite Interviews mit dem Lagerkommandanten von Treblinka, Franz Stangl, und dem Überlebenden Joe Siedlecki.8 Der Arbeitsauftrag fordert zur Untersuchung der Sprache und der Sichtweise der beiden Personen auf. Eine explizite Gegenüberstellung findet sich auch in ZuM 4 im Kapitel ‚Holocaust – der Massenmord an den Juden‘, wo auf zwei Seiten ‚Die Perspektive der Täter‘ und auf den zwei folgenden Seiten ‚Die Perspektive der Opfer‘ mit entsprechendem Quellenmaterial präsentiert wird.9 Zu den Materialien aus der Täterperspektive gehören Schilderungen von Reinhard Höß, dem Lagerkommandanten von Auschwitz, die Rede Heinrich Himmlers vor SS-Führern in Posen 1943 und Aussagen des Wachpersonals im Frankfurter Ausschwitz-Prozess. Der zugehörige Arbeitsauftrag fordert die Schüler auf, das „Täterprofil eines typischen Vollstreckers“ zu erstellen.10 Doch wie sollte ein solches Täterprofil, noch dazu das eines ‚typischen Vollstreckers‘, auf der Grundlage des vorhandenen Materials aussehen?11 Auffällig ist die Häufigkeit mit der Reinhard Höß zitiert wird.12 Dies hat zur Folge, dass als eigentliche Täter nur die Ideologen, d.h. vor allem SS und Partei auftreten, während die Techniker und Administratoren des Terrors, ob Richter, Ärzte oder Verwaltungsbeamte in den Hintergrund treten. Bereits Falk Pingel
8 | EuV 3, S. 36 f. Eine Gegenüberstellung, findet sich auch in FG 9, jedoch handelt es sich bei der kurzen Opferbiografie (Heinrich Jaspers, Sozialdemokrat) nicht um eine jüdische; FG 9, S. 93. 9 | ZuM 4, S. 112-115. 10 | ZuM 4, S. 113. Zur Kritik an der Aufgabenstellung siehe auch Thomas Sandkühler: Nach Stockholm: Holocaust-Geschichte und historische Erinnerung im neueren Schulgeschichtsbuch für die Sekundarstufen I und II, in: Zeitschrift für Geschichtsdidaktik 11, 2012, S. 50-76, hier: S. 66.
11 | Zu dieser Frage siehe auch Anette Hettinger: „Die Mechanismen erkennen“. Überlegungen zum historischen Lernen an Biografien von NS-Täterinnen und Täter, in: Zeitschrift für Geschichtsdidaktik, 2012, 11. Jg., S. 77-97.
12 | ZuM 4, S. 113, EuV 9-10, S. 80, EuV 3, S. 97, GKuV 9, S. 143, Zr 3 (Nieds.) S. 73 f., Zr 3 (Sachs.) S. 117, FG 9, S. 136.
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Mar tin Liepach
bemerkte, dass eine Figur wie Adolf Eichmann etwa, von dem reichlich Prozessaussagen vorliegen, die Hannah Arendt zu ihrem umstrittenen Begriff der ‚Banalität des Bösen‘ führten, kaum Aufmerksamkeit der Schulbuchautoren findet.13 Die einseitige Gewichtung schlägt sich im Unterricht nieder. Dazu passt die Beobachtung der FU Berlin im Zusammenhang mit Projekttagen zu Zeitzeugenvideos: „Die Jugendlichen gaben übereinstimmend an, dass sie dort [im Schulunterricht, Anm. d. Verf.] nichts über die Perspektive der Verfolgten und die Spätfolgen bei den Überlebenden und deren Kampf für Anerkennung erfahren haben.“14
Angesichts des aktuell und wohl auch künftig hohen Stellenwerts der NS-Geschichte in den Lehrbüchern gilt es bei der Quellenauswahl darauf zu achten, dass offiziellen NS-ideologischen Verlautbarungen auch die Reaktionen der Betroffenen gegenüber gestellt werden. Zeitzeugenvideos bilden daher eine wichtige Gegenerzählung zur täterdominanten Darstellung des Nationalsozialismus. In letzter Zeit wird vermehrt am historischen Wert von Zeitzeugen gezweifelt. Dies hängt sicherlich auch mit dem mittlerweile inflationär gebrauchten Begriff des Zeitzeugen zusammen, der allgegenwärtig ist.15 Judith Keilbach stellt gar den Wert der Interviews, die im Zusammenhang mit dem Holocaust Survivors Film Project entstanden sind, in Abrede: „Die Gesprächspartner, die durch diese Konzeption der Interviews hervorgebracht werden, sind keine Zeitzeugen, die maßgeblich zur Rekonstruktion beitragen (können). Ihre Aussagen sind oft inkohärent, assoziativ und von Brüchen, Lücken und Wiederholungen gekennzeichnet. In der Regel bringen sie keine für die Geschichtswissenschaft relevanten Fakten hervor. Mehr noch: Die Erinnerungen von Holocaust-Überlebenden können einer historischen Überprüfung oft nicht standhalten.“16
13 | Vgl. Falk Pingel: Unterricht über den Holocaust. Eine kritische Bewertung der aktuellen Diskussion, in: Georg-Eckert-Institut (Hg.): Grenzgänger/Transcending Boundaries. Aufsätze von Falk Pingel, Göttingen 2009, S. 165-179, hier: S. 176; Hannah Arendt: Eichmann in Jerusalem. Ein Bericht von der Banalität des Bösen, München 1964.
14 | Bundeszentrale für politische Bildung und FU Berlin (Hg.): Zeugen der Shoah . Schulisches Lernen mit Video-Interviews. DVD-Begleitheft für Lehrende, Bonn 2012, S. 26.
15 | Einige Beispiele dazu auch bei Deborah Hartmann und Katja Krause: Wessen Zeugenschaft? Überlegungen zum Begriff des „Zeitzeugen“ und dessen Verwendung im Jahr 2013, in: Informationen. Wissenschaftliche Zeitschrift des Studienkreises Deutscher Widerstand 19331945 78, 2/2013, S. 3-8.
16 | Judith Keilbach: Mikrofon, Videotape, Datenbank. Überlegungen zu einer Mediengeschichte der Zeitzeugen, in: Martin Sabrow und Norbert Frei (Hg.): Die Geburt des Zeitzeugen nach 1945, Göttingen 2012, S. 281-299, hier: S. 298.
Zeit zeugenvideos am Ende der Zeit zeugenschaf t
Auch das Lehrerbegleitheft zum Lernsoftware-Paket Zeugen der Shoah der Bundeszentrale für politische Bildung geht distanziert kritisch mit den Zeitzeugen ins Gericht. Das umfangreiche und elaborierte Paket enthält zwölf Video-Interviews aus den Beständen der Shoah-Foundation, die auf jeweils ca. 30 Minuten zusammengeschnitten wurden, hinzu kommen zusätzliche Medienangebote (Karten, Hintergrundfilme) und Aufgabenstellungen. In der Handreichung für die Unterrichtspraxis heißt es: „Die Jugendlichen begreifen, was es bedeutet, dass die Video-Interviews ‚Erinnerungsquellen‘ sind: Sie sind höchst subjektiv, oft assoziativ und daher weniger geeignet zur Rekonstruktion von Fakten und Ereignissen.“17 Dem steht aber die Wahrnehmung der Schüler gegenüber, dass Zeitzeugenberichte für ein historisch verbürgtes Wissen über das Verbrechen stehen. Es sind Personen, die etwas erlebt und zu erzählen haben. Es wird ihnen folglich eine ‚Deutungshoheit‘ zugesprochen.18 Dieses sehr allgemeine Zeitzeugen-Verständnis ruft die Geschichtsdidaktik auf den Plan. Elektronische Aufzeichnungen sind zunächst und vor allem historische Quellen. Im Unterricht löst sich der Bericht von der realen Person ab und wird zum Arbeitsgegenstand. Wo ist der inhaltliche Unterschied zwischen der digitalisierten Erinnerung und dem was wir in den Schulbüchern als abgedruckte Erinnerungen und Zeugnisse vorfinden? Ein Auszug aus den 1997 veröffentlichten Lebenserinnerungen von Anita Lasker-Wallfisch war im Jahr 2011 Quelle für das Landesabitur Geschichte in Hessen.19 Die Cellistin Anita Lasker-Wallfisch gehörte dem Lagerorchester in Auschwitz an. Die literarischen Zeugnisse von Ruth Klüger, Primo Levi oder Max Mannheimer entstanden ebenfalls nicht zeitnah, sondern sind Ergebnisse eines Reflexionsprozesses und der persönlichen Auseinandersetzung mit der eigenen Geschichte. Und doch würde man ihnen ihre Subjektivität und ihre Assoziationskraft nicht zum kritischen Vorwurf machen. Videografierte Lebenserinnerungen unterscheiden sich daher nicht grundsätzlich von Textquellen. In der Lehrerhandreichung zur DVD Zwangsarbeit 1939 – 1945 Erinnerungen und Geschichte heißt es: „Um die Spezifik lebensgeschichtlicher Interviews als historische Quelle zu verstehen, sollen die Schülerinnen und Schüler Zeitzeugen-Berichte und Historiker-Texte vergleichen.“20 Es stellt sich die Frage, warum Schülerinnen und Schüler gerade diesen Vergleich anstellen sollen? Es 17 | Zeugen der Shoah. Lehrerheft, S. 27. 18 | Eine Einschätzung zur Wirkung von Videointerviews findet sich bei Dorothee Wein: „Noch besser wäre es gewesen, jemanden ‚live‘ da zu haben.“ Zur Wirkung von Video-Interviews mit Holocaust-Überlebenden auf Jugendliche, in: Informationen, 2/2013, S. 31-35.
19 | Vgl. Abitur. Prüfungsaufgaben mit Lösungen 2013. Geschichte Grund- und Leistungskurs. Gymnasium Gesamtschule Hessen, Freising 2012.
20 | Bundeszentrale für politische Bildung und Freie Universität Berlin (Hg.): Zwangsarbeit 1939 – 1945. Erinnerungen und Geschichte. Zeitzeugen-Interviews für den Unterricht. Angela Martin,
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gehört zu den geschichtsdidaktischen Basics – oder zur ‚Gattungskompetenz‘ im derzeitigen Jargon gesprochen – dass Schüler zwischen Primärzeugnissen und Sekundärquellen oder Literatur unterscheiden lernen sollen. Sinniger ist dagegen der Hinweis eines Vergleichs mit den Quellen im Schulbuch, bei dem Schülerinnen und Schüler herausfinden können, mit welchen Arten von Dokumenten dort gearbeitetet wird und welche Informationen sie daraus erhalten.21 Inhaltlich können Zeitzeugenvideos Perspektiven eröffnen, die nicht im engeren Sinne nur mit der Verfolgungsgeschichte verbunden sind, sondern auch einen Blick auf jüdisches Alltagsleben und Selbstverständnis erlauben. Beispielhaft ist die genannte DVD Zwangsarbeit 1939-1945, die sechs etwa 30 Minuten lange Interviews enthält, darunter das Video mit Helena BohleSzacki, für das vorgeschlagen wird, dieses zum Ausgangspunkt für eine Debatte über die ‚große Frage der Identität‘ zu nehmen. Die im Lehrerheft formulierte Fragestellung „Deutsche? Jüdin? Polin?“ thematisiert die unterschiedlichen und multiplen Ethnizitäten der Zeitzeugin.22 Auch die in Frankfurt vorhandenen Videos bieten einen Einblick in die Vielfalt jüdischen Lebens, deren Potenzial bei Weitem noch nicht erschlossen ist. Zudem ist der Einsatz der Zeitzeugenvideos sinnvoll, da damit der fragwürdigen Reduzierung von Juden als passive Opfer eine aktive akteursbezogene Perspektive entgegengestellt wird, ein Problem, dem sich auch die Forschung stellen muss. Saul Friedländer schreibt dazu: „In vielen Arbeiten sind die Opfer dadurch, daß man implizit von ihrer generellen Hoffnungslosigkeit und Passivität ausging oder von ihrer Unfähigkeit, den Lauf der zu ihrer Vernichtung führenden Ereignisse zu ändern, in ein statisches und abstraktes Element des historischen Hintergrundes verwandelt worden. Zu häufig vergißt man, daß sich die Einstellungen und Politik der Nazis ohne Kenntnis vom Leben und zuletzt von den Gefühlen der jüdischen Männer, Frauen und Kinder selbst nicht vollständig beurteilen lassen.“23
Zeitzeugenvideos stehen auch unter dem Diktum des kompetenzorientierten Geschichtsunterrichts und müssen entsprechend anschlussfähig gemacht werden. Dabei muss man jedoch nicht so weit ausholen, wie es gelegentlich der
Cord Pagenstecher: Lehrerheft: Informationstexte – Aufgabenvorschläge – Arbeitsblätter, Bonn 2010, S. 56.
21 | Zeugen der Shoah. Lehrerheft, S. 26. 22 | Vgl. Zwangsarbeit. Lehrerheft, S. 34. 23 | Saul Friedländer: Das Dritte Reich und die Juden. Verfolgung und Vernichtung 1933-1945, Bonn 2006, S. 12.
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Fall ist.24 Erinnerungen sind ohne Sprache in der Gegenwart nicht präsent. So gesehen verlangt die Beschäftigung mit Zeitzeugen eine narrative Kompetenz. Diese Kompetenz ist per se nicht urwüchsig und selbstverständlich vorhanden, sondern muss im Laufe eines Schülerlebens entwickelt und gefördert werden. Die Sprache der Quellen ist zumeist nicht die gleiche wie die der Darstellungen. Diese wiederum ist häufig eine andere Sprache als die Sprache der Schüler. Bei historischen Verstehensprozessen handelt es sich folglich auch immer um Transformationsleistungen.25 Das gilt auch für Zeitzeugengespräche oder Zeitzeugenvideos. Die Zeitzeugen entwickeln in den Erzählungen ihre eigene Narration. Diese Narration muss von den Schülerinnen und Schülern jedes Mal aufs Neue zunächst vollzogen werden. Darüber hinaus besteht aber ein grundlegender Unterschied zwischen Zeitzeugengesprächen und Zeitzeugenvideos. Erstere sind soziale Wirklichkeit und authentisch und beinhalten die Wahrnehmung des Anderen. In beiden Fällen besteht aber die Notwendigkeit die Zeitzeugenerinnerungen zu kontextualisieren, sie mit anderen Überlieferungen in Beziehung zu setzen. Zeitzeugengespräche eröffnen insbesondere dann Möglichkeiten der Weiterentwicklung der methodischen Kompetenzen, wenn es dabei nicht einfach um nur um Wahr oder Falsch geht, sondern in der Auswertung der Gespräche auf die historische Narration, auf die Geschichte, die der Zeitzeuge erzählt, geachtet wird. Dabei spielen die Deutungen, die Sinnbildungen und Botschaften des Zeitzeugens eine zentrale Rolle. Zeitzeugenvideos können die grundlegende geschichtstheoretische Einsicht fördern, zwischen ‚Vergangenheit‘ – und den dort verankerten Erfahrungen der Zeitzeugen – und ‚Geschichte‘, verstanden als historische Narration über Vergangenes, die im Nachhinein aufgrund historischer Fragestellungen entsteht, zu unterscheiden. Nimmt man die Narrationen der Zeitzeugen Ernst, stellt sich die Frage, ob in der unterrichtlichen Auseinandersetzung die besondere Quellengattung der Zeitzeugenvideos oder deren Botschaft im Vordergrund stehen soll. An24 | So listet das Lehrerheft Zeugen der Shoah eine ganze Reihe von Kompetenzen auf, die im Umgang mit Zeitzeugenvideos erworben werden können, vgl. Zeugen der Shoah. Lehrerheft, S. 35, vgl. zudem ebd. S. 6. Auch bemühen sich die Lehrerhandreichungen den Aspekt des Gegenwartsbezugs zu bedienen: „Ausgangspunkt der konkreten Arbeit mit dem Material ist immer die intensive Auseinandersetzung mit einer einzelnen Biographie [...]. Wenn ein Gegenwartsbezug hergestellt werden soll, erlaubt die Verortung möglicherweise auch den Anschluss an familiäre Migrationserfahrungen. Die quellenkritische Dekonstruktion des Zeitzeugen-Interviews erfolgt also zusammen mit einer biografischen Rekonstruktion.“, Zwangsarbeiter. Lehrerheft, S. 21. Etwas mehr Realitätssinn statt theoretischer didaktischer Überfrachtung hätte einem Heft gut getan, das den Anspruch hat praxistauglich zu sein.
25 | Vgl. Olaf Hartung: Die „sich ewig wiederholende Arbeit“ des Geschichtsbewusstseins – Sprache als Medium des historischen Lernens, in: Zeitschrift für Geschichtsdidaktik 9, 2010, S. 180-190.
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ders gefragt, geht es in der Beschäftigung vorrangig um Form oder Inhalt? Christoph Hamann erklärt in der Einleitung zum Begleitheft Zeugen der Shoah sehr deutlich: „Die Besonderheit dieser Quellen sollte im Unterricht im Vordergrund stehen. Die Interviews als Reservoir zu nutzen, um Daten und Fakten zum Nationalsozialismus zu sammeln würde ihren spezifischen Wert außer Acht lassen und dem Leben und Erleben der Zeitzeugen nicht gerecht werden. Im Mittelpunkt der Annäherung mit Lernenden sollte vielmehr die Frage nach den Möglichkeiten und Unmöglichkeiten der individuellen Sinnbildung über das Sinnlose stehen: Worüber berichten die Überlebenden, wo versagt die Stimme und wo endet die Erinnerung?“26
In der didaktischen Erläuterung zu den Zwangsarbeiter-Zeitzeugenvideos heißt es: „Die Video-Interviews können ein persönliches Gespräch mit Überlebenden des Nationalsozialismus nicht ersetzen, deren moralische Autorität und Authentizität gerade im direkten Dialog erfahrbar wird. Andererseits erlauben die Interviews gerade deswegen eine aktive Quellenarbeit, kritische Analyse und eigene Deutungsversuche. Entsprechend soll ein lebendiger Dialog mit dem Material angeregt und gleichzeitig ein respektvoller Umgang mit den Berichten der Zeitzeuginnen und Zeitzeugen gewährleistet werden.“27
Doch wie sieht ein Dialog mit einem technisch abgespeicherten Material aus? Vor allen Dingen ein lebendiger Dialog? Die kurze Passage verweist auf ein Spannungsverhältnis zwischen den Botschaften der Zeitzeugen, die als moralische Autorität gesehen werden, und dem gleichzeitigen Anspruch einer kritischen Quellenarbeit. Der Verweis auf den ‚respektvollen Umgang‘ mit den Berichten transzendiert den Anspruch auf die moralische Autorität in die digitalisierte Form des Zeitzeugenvideos. Doch kann man beides in der Praxis haben? Kritische Analyse bis zur Dekonstruktion der Quelle und zugleich die Auseinandersetzung mit der moralischen Botschaft? Aleida Assmann unterschiedet vier Grundtypen von Zeugenschaft, die hier kurz skizziert werden sollen, weil sie eine sinnvolle Orientierung für den Umgang mit Zeitzeugen, aber auch Zeitzeugenvideos bieten können. Dabei wird die Tätigkeit des Zeugens als eine nach außen gerichtete Tätigkeit gesehen: „Weit mehr als beim Erinnern handelt es sich beim Zeugen um einen
26 | Zeugen der Shoah. Lehrerheft, S. 6. 27 | Zwangsarbeit. Lehrerheft, S. 17.
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performativen Akt“.28 Folgende vier Grundtypen sind als Idealtypen im Sinne von Max Weber zu verstehen: der juridische Zeuge, der historische Zeuge, der moralische Zeuge und der religiöse Zeuge. Letzterer soll an dieser Stelle außen vorgelassen bleiben. Der juridische Zeuge tritt im Strafprozess, aber auch im Zivilprozess auf. Im Zivilprozess bringt er als Zeuge eine unparteiische Außenperspektive in den Prozess ein. Im Gerichtsprozess spricht der Zeuge nicht für sich, sondern übernimmt eine ihm zugewiesene Rolle. In einem übergeordneten Verfahren geht es um die nachträgliche Wahrheitssuche und Wahrheitsfindung. Die Zeugenaussage findet in der rigiden Form der Anhörung bzw. des Verhörs statt. Im Zentrum steht das Verfahren, nicht das Individuum. Daher kann das Opfer, auch wenn in es in eigener Sache spricht, die Informationsübermittlung nicht selbst bestimmen, sondern hat auf präzise Fragen in einer festgelegten Reihenfolge zu antworten. Ein Beispiel dafür sind die Zeugenaussagen im Frankfurter Auschwitz-Prozess.29 Der historische Zeuge ist, wie Aleida Assmann es formuliert, der missing link zwischen dem Ort einer Katastrophe und den in Ort und Zeit entfernten Ahnungslosen. Sein Zeugnis des Zeugens ist nicht eine einfache Mitteilung, sondern immer eine beglaubigte autorisierte Aussage. Das Zeugnis des historischen Zeugens fließt in die Rekonstruktion des Geschichtsschreibers ein. Eine Geschichtsschreibung ohne den historischen Zeugen ist kaum denkbar, dennoch bleibt sein Status vor allem für die professionelle Historiografie kontrovers. Zeugnisse, die zeitnah zum Ereignis niedergelegt wurden, sind anders zu bewerten als Zeugnisse, die fünfzig Jahre nach dem jeweiligen Ereignis niedergelegt wurden. Im Zusammenhang mit dem Holocaust gibt es sehr viele Zeugnisse von Opfern. Diese Zeugnisse stellen ein historisches Novum dar und erfordern die Einführung eines neuen Typus, den des moralischen Zeugen. Der moralische Zeuge hat Züge von allen anderen Zeugen in sich aufgenommen, verkörpert aber etwas grundlegend Unterschiedliches. Drei Aspekte gelten als wichtig: die verkörperte Wahrheit des Zeugnisses, die Konstruktion einer moralischen Instanz und die Wahrheitsmission. Der moralische Zeuge verkörpert in Personalunion Opfer und Zeuge. Er hat das Verbrechen, das er bezeugt, am eigenen Leibe erfahren. Die Wahrheit und Autorität seines Zeugnisses liegt allein in der Teilhabe am Trauma des Holocaust durch die unmittelbare und unveräußerliche Erfahrung von Gewalt. Das Zeugnis des moralischen Zeugen findet nicht innerhalb einer Institution wie einem Gericht, sondern in einer viel all28 | Aleida Assmann: Vier Grundtypen von Zeugenschaft, in: Fritz Bauer Institut (Hg.): Zeugenschaft des Holocaust. Zwischen Traum, Tradierung und Ermittlung, Jahrbuch zur Geschichte und Wirkung des Holocaust, Frankfurt a.M. 2007, S. 33–51, hier: S. 34, Herv. i.O.
29 | Vgl. dazu die Tonbandmitschnitte des 1. Frankfurter Auschwitzprozess unter: http://www. auschwitz-prozess.de.
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gemeineren, öffentlichen Arena einer moralischen Gemeinschaft statt. Das dritte Merkmal des moralischen Zeugen ist die Wahrheitsmission. Sie steht im unmittelbaren Gegensatz zu einem Verschleierungsbedürfnis der Täter. So ist es Merkmal von Zeitzeugenberichten der Überlebenden des Nationalsozialismus, dass sie in einer eigenartigen ‚Zwitter-Funktion‘ zwischen moralischer Botschaft und historischem Zeugnis daher kommen. Das erklärt auch die Unsicherheit bei der Beantwortung der Frage nach der Akzentuierung zwischen kritischer Analyse und moralischer Botschaft. Zeitzeugenschaft ist damit aber mehr als nur eine Erfahrungsgeschichte. Zeitzeugenvideos bilden somit eine neue audiovisuelle und orale Textform, die eine eigene Technik der Erschließung erforderlich macht. „Video-Zeugnisse sind mit ihren besonderen Lerngelegenheiten als vollwertige Quellen der historischen Erkenntnis anzuerkennen“ so lautet die zentrale Botschaft der jüngsten geschichtsdidaktischen Reflexion von Michele Barricelli und Martin Lücke.30 Die Täterfokussierung in den Schulgeschichtsbüchern belegt die Notwendigkeit einer Gegenerzählung. Nur unter Berücksichtigung der Perspektive der Leidenden wird ein angemessenes Verständnis der Geschichte des Nationalsozialismus und seiner Verbrechen möglich sein.
30 | Michele Barricelli und Martin Lücke: Für eine Weile noch. Videozeugnisse zur NSVergangenheit aus geschichtsdidaktischer Sicht, in: Nicolas Apostolopoulos und Cord Pagenstecher (Hg.): Erinnern an Zwangsarbeit. Zeitzeugen-Interviews in der digitalen Welt, Berlin 2013, S. 49-58, hier: S. 58.
Historische und aktuelle Bezüge in der politischen Bildungsarbeit Das Beispiel der Ausstellung Anne Frank. Ein Mädchen aus Deutschland Gottfried Kößler und Meron Mendel
„Junge Menschen sollten frühzeitig lernen, wohin Diskriminierung und Ausgrenzung führen können. Die deutsche Geschichte ist eigentlich das perfekte Lehrstück […].“1 Dieser Satz stammt aus dem jüngsten ‚Report über wirkungsvolles zivilgesellschaftliches Engagement gegen Rechts‘. Er gibt eine gesellschaftliche Erwartung wieder, die häufig an die historisch-politische Bildung herangetragen wird: Mittels der pädagogischen Ausstellungsarbeit zum Thema Nationalsozialismus soll nicht allein ‚persönlicher Bezug‘ und ‚Nähe‘ zur Geschichte hergestellt, sondern auch eine präventive Arbeit gegen aktuelle Formen von Rechtsextremismus und Antisemitismus geleistet werden. Vor dem Hintergrund dieser Erwartungen ist es erstaunlich festzustellen, wie wenig über die tatsächlichen Inhalte und die Gestaltung der pädagogischen Angebote in der historisch-politischen Bildung diskutiert wird. Auch die Frage, ob die Angebote sich überhaupt dafür eignen, diese Ziele zu erfüllen, wird kaum verhandelt. In diesem Beitrag möchten wir die Konzeption der multimedialen, interaktiven Ausstellung Anne Frank. Ein Mädchen aus Deutschland in Frankfurt am Main skizzieren, um die Grenzen und Möglichkeiten solcher Ausstellungsarbeit zu reflektieren. Die Ausstellung ist in den Jahren 2003 bis 2005 im Rahmen eines Kooperationsprojektes zwischen dem Anne Frank Haus (Amster-
1 | Franz-Martin Schäfer und Andreas Schmidt: Vielfalt wirkt! Report über wirkungsvolles zivilgesellschaftliches Engagement gegen Rechts, Berlin 2013; Anhang I: „Ausstellungs- und Botschaftsprojekt“.
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dam)2, dem Anne Frank Zentrum (Berlin)3 und der Bildungsstätte (damals Jugendbegegnungsstätte) Anne Frank (Frankfurt am Main)4 entstanden.5 Die Einrichtung befindet sich im Frankfurter Stadtteil Dornbusch, in dem Anne Frank geboren wurde und mit ihrer Familie bis zur Emigration in die Niederlande lebte. Seit der Eröffnung im Jahr 2004 nahmen etwa 68.000 Jugendliche und Erwachsene an pädagogischen Programmen rund um die Ausstellung teil. Etwa 80 Prozent der Besucher kommen aus der Rhein-Main-Region. Die Ausstellung wurde von allen Schultypen gleichermaßen genutzt. So stellen beispielsweise Klassen von Haupt-, Real- und Berufsschulen fast 40 Prozent der Besuchergruppen. Im Mittelpunkt der Ausstellung steht das Tagebuch. Hier spricht Anne Frank Themen an, die bis heute bei jungen Lesern großes Interesse wecken: Ausgrenzung, Generationskonflikte, die Beschäftigung mit Grundwerten, Religion und Glaube und nicht zuletzt die Entwicklung eigener Zukunftsträume. Ausgehend von der Biographie Anne Franks werden Informationen über historische Zusammenhänge, unterschiedliche Perspektiven, aber auch aktuelle Bezüge angeboten.
1. D IE A USSTELLUNG Die Ausstellung besteht im Wesentlichen aus einem Raum, dem ein Eingangsbereich vorgeschaltet ist, der sich für Seminarsituationen nutzen lässt. Hier werden erstmals und prominent die drei Fragen Wer bin ich?, Was geschieht mit mir? und Was ist mir wichtig? präsentiert.
2 | Das Anne Frank Haus ist eine Non-Profit-Organisation. Die Verwaltung des Museums, die Vermittlung von Anne Franks Lebensgeschichte und die Verbreitung ihrer Ideale sind die wichtigsten Aufgaben, vgl. www.annefrank.org/de/. 3 | Das Anne Frank Zentrum ist Partnerorganisation des Anne Frank Hauses in Amsterdam. Es rückt deutschlandweit die Erinnerung an Anne Frank und ihr berühmtes Tagebuch in den Blickpunkt. Es zeigt die Ausstellung Anne Frank. hier & heute in Berlin und führt Wanderausstellungsprojekte in ganz Deutschland durch, vgl. www.annefrank.de. 4 | Die Bildungsstätte Anne Frank setzt sich seit ihrer Gründung 1997 mit der Geschichte des Nationalsozialismus und ihren vielfältigen Bezügen zur Gegenwart auseinander. Die Projektformate beinhalten Konfliktbearbeitung und das demokratische Miteinander und sollen die Teilnehmerinnen und Teilnehmer zur aktiven Teilhabe in der Gesellschaft ermutigen, vgl. www. bs-anne-frank.de. 5 | Das Ausstellungsprojekt Anne Frank. Ein Mädchen aus Deutschland wurde durch die Förderung des Bundesministeriums für Familie, Frauen und Jugend im Rahmen des Aktionsprogramms Jugend für Toleranz und Demokratie – gegen Rechtsextremismus, Frem-denfeindlichkeit und Antisemitismus ermöglicht.
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Im eigentlichen Ausstellungsraum befindet sich in der Mitte ein drehbares Element, welches gestalterisch an Ausstellungsvitrinen erinnert und über die Lichtinszenierung zusätzlich als zentraler, wertiger Ort gekennzeichnet wird. Hier sind sowohl ein Faksimile des ersten Fragments der Tagebücher von Anne Frank – das gebundene Buch, welches sie zu ihrem dreizehnten Geburtstag geschenkt bekam – als auch virtuelle Auszüge des Tagebuches zu sehen. Gemeinsam bilden sie Ausgangspunkt und Steuerelement der Ausstellung. Das Faksimile des Tagebuches zeigt zwei mit Fotografien ergänzte, handbeschriebene Seiten (Abb.1). Handschrift und Sprache des Textes sind erkennbar. Unterhalb des unter Glas liegenden Faksimiles befindet sich ein Touchscreen, der einzelne Zitate oder Zusammenstellungen von Zitaten zeigt. Werden diese Zitate berührt, aktiviert sich eine Filmvorführung, die jeweils mit der Lesung des Zitates beginnt. Die Zitate des Tagebuches werden dabei bewusst von einer Schauspielerin mit niederländischem Akzent gesprochen. Den Zitaten folgende Texte zur Erläuterung und Vertiefung werden von einem anderen Sprecher eingelesen. Das zentrale Steuerelement bietet also zugleich Anlass, über Provenienz, Überlieferung und Rezeption des Tagebuches zu sprechen. Abbildung 1
Faksimile einiger Tagebuchseiten, Foto: Bildungsstätte Anne Frank
Die vier Raumseiten bilden in vier Wänden die Hauptkapitel der Ausstellung. Im Auf bau sind die Wände im unteren Drittel kleinteilig gestaltet. Hier können die Besucher die verschiedenen Vertiefungsebenen und Funktionen der
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interaktiven Installationen selbstständig erkunden (Abb.2). Nach oben hin werden die Präsentationen auf den Wänden großflächiger und kommunizieren in den gesamten Ausstellungsraum. Die Wände werden sichtbar von Stahlträgern getragen und gestützt. So soll Geschichte als Konstruktion gestalterisch visualisiert werden. Die Rückseite einer der Wände stellt einen direkten Bezug zu dem Stadtteil Frankfurts her, in dem Anne Frank geboren wurde und grenzt die Ausstellung zum Durchgang in eine Wechselausstellungsfläche ab. Abbildung 2
Schülerinnen in der Ausstellung, Foto: Bildungsstätte Anne Frank
Die vier Hauptthemen der Ausstellung widmen sich den Fragen Wer bin ich? und Was geschieht mit mir?. Die dritte Frage Was ist mir wichtig? befindet sich in einer Nische, die gleichzeitig einen kleinen Rückzugsraum bietet. Wird das ‚Tagebuch‘ im Zentrum so gedreht, dass es einer der Wände direkt gegenübersteht, blättert sich ein dem jeweiligen Themenkomplex zugehöriger Abschnitt des Tagebuches auf, der die Wand und ihre Funktionen aktiviert. Die erste Textseite initiiert eine Vorstellungssequenz (den Trailer), die in Orte, Themen und Funktionen der Wand einführt und ihre drei Schichten sichtbar macht. Die zweite Tagebuchseite startet eine Filmvorführung, die vertiefende Informationen zum historischen Kontext bietet, die letzte Tagebuchseite schließlich aktiviert mit der ‚dritten Schicht‘ die Interviewsequenz zum aktuellen Bezug.
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2. D IE DIDAKTISCHE K ONZEPTION Eine erste Übereinkunft der Projektpartner war, dass es für die pädagogische Arbeit mit dem Thema Holocaust in Deutschland erforderlich ist, die Besonderheiten der deutschen Gesellschaft der Gegenwart mit ihrem spezifischen Bezug auf die Geschichte des Nationalsozialismus zu berücksichtigen. Grundlegendes Prinzip ist der Perspektivenwechsel – also das Angebot, unterschiedliche Wahrnehmungen historischer Ereignisse kennen zu lernen. Die zweite Übereinkunft betrifft die Zielgruppe. Die Ausstellung richtet sich an Schulklassen. Sie ist ein Arbeitsinstrument für die jugendlichen ‚Begleiter‘ und basiert auf dem pädagogischen Konzept der peer-education. Die Entwicklung der Ausstellung war also alles andere als ein üblicher Prozess, sie stand vielmehr schon vor der Eröffnung auf dem Kopf: Schließlich werden Pädagogen in Gedenkstätten und Museen nur äußerst selten um ihre konzeptionellen Beiträge gebeten, bevor eine Ausstellung eröffnet wird. Die dritte Übereinkunft war, dass der Text des Tagebuches im Mittelpunkt der Ausstellung steht. Es ist keine Ausstellung über den Holocaust, auch nicht über den Nationalsozialismus oder die Juden zur Zeit der Verfolgung. Diese Ausstellung bemüht sich, möglichst eng an ihrer zentralen Quelle zu bleiben. Diese Entscheidung folgt den Interessen der Nutzer. Die meisten Schulklassen besuchen die Ausstellung, um die Lektüre des Tagebuchs im Unterricht zu ergänzen. Schließlich geht die Ausstellung nicht von der Biographie oder der chronologischen Geschichtserzählung aus, sondern vom Text des Tagebuches. Sie ist als erweiterter Kommentar zum Tagebuch zu verstehen. Aus der Lektüre sind die genannten drei einfachen, aber zentralen Fragen abgeleitet, die Anne Frank in ihrem Tagebuch beschäftigten. Es ist kein Zufall, dass es drei Fragen sind, die den Kernbestand der Suche nach Identität und Sinn für alle Heranwachsenden umspannen. Sie lassen sich auch abstrakt als die Themen Identität, Geschichte und Zukunft identifizieren.
2.1 Wer bin ich? Hier werden Fragen der Herkunft, der Heimat und der Zugehörigkeit thematisiert. Am Beispiel der Zugehörigkeit zur deutschen Nation wird die problematische Spannung zwischen den möglichen Entwürfen von nationaler Gemeinschaft – entweder als freie Gemeinschaft gleicher Bürger oder als völkische Gemeinschaft gleicher Abstammung – gezeigt. Das Beispiel der deutsch-jüdischen Familie Frank macht diese Spannung als persönliches Schicksal erkennbar. Einer unbedachten Identifikation mit einer ‚nationalen Identität‘ soll die Schwierigkeit gegenübergestellt werden, sich zugehörig zu fühlen. Die Geschichte der Emanzipation der jüdischen Minderheit in Deutschland im Lauf des 19. Jahrhunderts macht deutlich, wie weit die einzelnen Menschen
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sich in ihrer Entwicklung von der Zugehörigkeit zu einer religiösen Minderheit lösen können, wenn die politischen Freiheiten gegeben sind. Zugleich wird umgekehrt deutlich, wie stark sich die Zugehörigkeit zu einer Minderheit auf die persönliche Entwicklung eines Menschen auswirkt. Die Trennung zwischen der Selbstwahrnehmung der minoritären Gruppe und der Fremdwahrnehmung der Mehrheit ist ein weiteres Lernfeld, das hier eröffnet wird. Abbildung 3
Präsentationswand zum Thema ‚Wer bin ich?‘, Foto: Bildungsstätte Anne Frank
Das Schicksal, Mitglied einer verfolgten Minderheit zu sein, gehört zu den bestimmenden Anteilen der Persönlichkeit von Anne Frank. Für die politische Bildung in unserer Gesellschaft, die heute von Einwanderung und Transmigration mit all den Mühen der Integration und der Toleranz geprägt ist, bietet diese Geschichte Material für die Arbeit an Problemen, die im eigenen Alltag bestehen, aber oft nicht formuliert werden. Das historische Schicksal, das weit entfernt und zugleich als persönliche Geschichte konkret und fassbar ist, lässt es zu, über Erfahrungen mit Migration zu sprechen, die sonst oft verdeckt bleiben.
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2.2 Was geschieht mit mir? Diese Frage wird in drei Ausstellungsabteilungen bzw. an den Wänden des Hauptraumes behandelt. Die Überlegungen zu den Ereignissen des Krieges und zu den Informationen, die Anne Frank über die Verfolgung der Juden erhält, nehmen einen großen Stellenwert in ihren Aufzeichnungen ein. Das sind auch die zentralen Themen für eine Ausstellung, die darauf zielt, die Lektüre des Buches zu unterstützen. Grundlegende didaktische Überlegungen sollen an den einzelnen Themen erläutert werden: Mit den Themen Krieg und Genozid sind Zugänge zu ethischen Grundfragen verbunden. Die Gedenkstättenpädagogik und die pädagogischen Konzepte zum Thema Holocaust thematisieren die Ereignisse des Zweiten Weltkrieges nur sehr wenig.6 Die Ausstellung präsentiert dagegen den Bombenkrieg auf einer kompletten Ausstellungswand als eines der wichtigen Themen. Es gab mehrere Motive dafür: Zunächst bringt die gründliche Lektüre des Tagebuches ans Licht, wie wichtig das Geschehen des Krieges für Anne Frank in ihrem Versteck war. Sie notiert Informationen über den Verlauf der Schlachten und über die beginnende Invasion in der Normandie. Aber sie reflektiert auch über die Ängste der Zivilbevölkerung unter den Bombardements. Die Untergetauchten selbst erleben Luftangriffe auf Amsterdam, ohne die Chance zu haben, in einem Bunker Zuflucht zu finden. Das zweite Motiv geht auf die naheliegende Beobachtung zurück, dass junge Männer mit dem Tagebuch der Anne Frank häufig wenig anfangen können. Es ist das Tagebuch eines Mädchens und behandelt in weiten Teilen Probleme der weiblichen Pubertät. Die Jungen in den Besuchergruppen brauchen also einen starken Impuls, um zu einer Erkundung der Ausstellung motiviert zu werden. Ob es uns gefällt oder nicht, bringt der Krieg eine Reihe von Themen mit sich, die hier anschlussfähig sind: Technikgeschichte, die Erfahrung von Grenzsituationen, Strategie, aber vor allem die heute hoch aktuelle Frage nach der Legitimität des Krieges. Diese Fragen werden in Kurzfilmen durch Statements von Jugendlichen kontrovers diskutiert. Die Frage nach der Möglichkeit eines legitimen Krieges ist der didaktische Horizont dieser Ausstellungsabteilung. Anne Frank formuliert zwei völlig entgegengesetzte moralische Positionen zum Krieg. Sie ist einmal radikal pazifistisch. Fast gleichzeitig erwartet sie voll Hoffnung die militärische Befreiung durch die Alliierten. Dieser Gegensatz ist das Thema der Ausstellungswand. Er steht auch hinter der Frage, die mit den Meinungsäußerungen von heutigen Jugendlichen in der entsprechenden Vorführung angesprochen wird: Kann es einen gerechten Krieg geben? Die Ausstellung bietet in der inszenierten Privatwelt der Untergetauchten jene 6 | Vgl. Gottfried Kößler: Anne Frank. Ein Mädchen aus Deutschland, Gedenkstättenrundbrief 118, 4/2004, S. 3-19.
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Medien als Reproduktionen an, die Anne Frank damals als Informationsquelle verwendete. Zu einer Textstelle aus dem Tagebuch finden sich also die exakt entsprechenden Zeitungen und Radiosendungen.7 Bombardements werden in historischen Fotografien sowie in Interviewtranskriptionen, Zeitungsausschnitten und Radiomitschnitten aus Sicht der Politiker, der Bomberpiloten und der Zivilisten vorgestellt. Diese drei Perspektiven werden jeweils aus alliierter und deutscher Sicht gezeigt, um die Situation aus verschiedenen Blickwinkeln zu beleuchten. Gegenübergestellt können auch Materialien zur Kriegspropaganda betrachtet werden. Abbildung 4
Ausstellungsraum, im Hintergrund der Bereich zum Thema Krieg, Foto: Bildungsstätte Anne Frank
Der Zugang zum Thema Holocaust über die Aufzeichnungen der Verfolgten bringt hier eine sehr persönliche Ebene mit sich. Anne Frank beschreibt ihre 7 | Beispielhaft seien hier folgende Einträge aufgeführt: 8.11.1942 Radioansprache Hitlers: „Abends hat Hitler eine abscheuliche Rede gehalten“, 10.11.1942 Rede Churchills, Erfolge in Nordafrika: „Dies ist nicht das Ende. Es ist nicht einmal der Anfang vom Ende. Aber vielleicht ist es das Ende vom Anfang.“, 16.3.1943 Hitler besucht verwundete Soldaten an der Ostfront: „Die Verwundeten scheinen noch stolz auf ihre Verwundung zu sein…“, 21.7.1943 Landung auf Sizilien „Inzwischen sind die Engländer auf Sizilien gelandet, und Vater ist wieder auf ein ‚baldiges Ende‘ eingestellt.“, 6.6.1944 D-Day: „Sollte denn nun wirklich die lang ersehnte Befreiung nahen?“, 20.7.1944 Mordanschlag auf Hitler: „Ein Mordanschlag…, und nun mal nicht durch jüdische Kommunisten oder englische Kapitalisten, sondern durch einen hochgermanischen deutschen General.“ Vgl. Anne Frank: Tagebuch. Frankfurt a.M. 1992.
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Empfindungen, angesichts der zunehmenden Verschleppungen von Juden in ihrer Umgebung und ihrer eigenen Angst in dieser Situation. Diese private und zugleich sehr weitsichtige Perspektive löst Mitgefühl aus. Diese Empfindung allein kann aber nicht didaktisches Ziel der Ausstellung sein. Daher ist die Frage nach dem Verhalten der ‚ganz normalen Deutschen‘ das inhaltliche Zentrum dieser Sektion. Die Besucher sollen hier in tradierten stereotypen Ansichten über die NS-Zeit verunsichert werden, indem alltägliche Situationen des Profitierens, des Wegsehens, aber auch der Hilfe vorgestellt werden.8 Didaktischer Ausgangspunkt ist die Unsicherheit der Tagebuchschreiberin darüber, wie es eigentlich möglich ist, dass ein Volk, in dem doch die Mehrheit mit der Minderheit eine lange gemeinsame Geschichte teilt, einen Völkermord begeht. Als Kommentar zu der Textstelle „Ein schönes Volk, die Deutschen, und da gehöre ich eigentlich auch noch dazu!“9 wurde eine Reihe von Fragen entwickelt, die sich mit der Mehrheit der Deutschen und ihrem Verhältnis zur Verfolgung der Juden befassen. Die Situation im Versteck spielt für viele Leserinnen und Leser des Tagebuches eine besondere Rolle. Sie wird daher in diesem Ausstellungsbereich besonders anschaulich dargestellt. Die Unsicherheit der Untergetauchten war auch durch die Ambivalenz der niederländischen Gesellschaft zum Besatzungsregime geprägt. Diese wird durch zwei anonyme Figuren aus Blech repräsentiert, in deren Innern ein Bildschirm und an den Seiten ein Hörer angebracht ist. Darüber informieren die Metall-Silhouetten zu verschiedenen Personen. Diese sind, dem Zufall folgend: ein Nachbar des Hinterhauses, der die Existenz der Untergetauchten ahnte; ein niederländischer Polizist, der die Untergetauchten verhaftete; ein niederländischer Widerstandskämpfer, der zum Tode verurteilt wurde; und der deutsche SS-Kommandant der Niederlande. Bei der Konzeption dieser Installation haben wir uns an der Frage orientiert, welche Verhaltensoptionen dem Einzelnen angesichts der wachsenden antisemitischen Aktionen der deutschen Besatzer zur Verfügung standen. Sie soll dazu anregen, nach den Motiven der Menschen in den Niederlanden zwischen 1940 und 1944 zu fragen, sich für den Widerstand, die Kollaboration oder für das scheinbar unbeteiligte Leben zu entscheiden. Diese Überlegungen leiten zu der aktuell relevanten Frage, wie und wovon die Entscheidun8 | Vgl. Harald Welzer: Täter. Wie aus ganz normalen Menschen Massenmörder werden, Frankfurt a.M. 2005; Harald Focke und Uwe Reimer: Alltag unterm Hakenkreuz. Wie die Nazis das Leben der Deutschen veränderten. Ein aufklärendes Lesebuch. Reinbek bei Hamburg 1979; Victoria J. Barnett: Bystanders. Conscience and Complicity During the Holocaust, Westport CT 1999; Heidi Rosenbaum: Und trotzdem war’s ‘ne schöne Zeit: Kinderalltag im Nationalsozialismus, Frankfurt a.M. 2014. 9 | Vgl. Frank: Tagebuch, Eintrag vom 9.10.1942: „Ein schönes Volk, die Deutschen, und da gehöre ich eigentlich auch noch dazu! Aber nein, Hitler hat uns längst staatenlos gemacht. Und im übrigen gibt es keine größere Feindschaft auf dieser Welt als zwischen Deutschen und Juden.“
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gen in moralischen Konfliktsituationen jeweils beeinflusst werden. Aus der Sicht der niederländischen Projektpartner bedeutete die Thematisierung der Kollaboration und des Alltags unter der deutschen Besatzung eine Öffnung für neue Themen. Aus der deutschen Sicht war es gerade deshalb wichtig, den SS-Kommandanten Rauter vorzustellen, um die Verantwortlichkeiten nicht zu verschleiern. Die symbolische Inszenierung der Privatsphäre des Hinterhauses erfolgt hier durch die Installation eines Regals, das einen Durchgang verdeckt – wie es auch in der Prinsengracht zu finden ist.10 In diesem Regal stehen Aktenordner, die weiterführendes Material zu den Untergetauchten, ihren Helfern, den übrigen Personen und zu weiteren Themen der Ausstellung enthalten.
2.3 Was ist mir wichtig? Das Regal leitet in einen abgedunkelten Raum. Darin können Hörbilder zu drei Themen aktiviert werden, die Anne Frank besonders bewegten: Gewissen, Liebe und Schreiben. Der Raum soll nicht zuletzt Anne Frank als Schriftstellerin zeigen. Einige der Dialoge aus dem Tagebuch wurden vorsichtig redigiert, so dass sie als kleine Hörspiele funktionieren. Schattenrisse der Hinterhausbewohner sind auf einer Projektionsfläche zu sehen. So entsteht ein Raum der Konzentration auf den Text und des Nachsinnens über die alltäglichen Dinge, die Anne Frank – wie viele 14-jährige – umtrieben. Dieser Raum soll eine Ausnahme von der starken visuellen Dynamik der Ausstellung bilden. Er eignet sich nicht zur Rezeption von Wissen, sondern nimmt die emotionale Hinwendung zu Anne Frank auf, die viele jugendliche Leserinnen mitbringen.
3. E RFAHRUNGEN MIT DER A USSTELLUNG Nach zehn Jahren der pädagogischen Arbeit in der Ausstellung lässt sich feststellen, dass sich die konzeptionellen Entscheidungen im Wesentlichen bestätigt haben. Der Einstieg durch eine ‚Schau‘, die vom Text des Tagebuches ausgeht und alle wesentlichen Themen anreißt, motiviert die Besucher, anschließend die Details zu erkunden. Das schulische Lernsetting in Form des Frontalunterrichts ist in der didaktischen Konstruktion der Ausstellung tatsächlich erfolgreich vermieden worden. Für viele Schulklassen und Jugendgruppen ist die Ausstellung der erste Anlaufpunkt, um sich mit den Themen Nationalsozialismus, Holocaust und 10 | Im Hinterhaus der Prinsengracht 263 – wo sich das Büro von Otto Frank befand – versteckte sich die Familie Frank zusammen mit vier weiteren Personen. Die Untergetauchten teilten sich dort zwei Jahre lang etwa 50m², bis zum Verrat im August 1944.
Historische und aktuelle Bezüge in der politischen Bildungsarbeit
Zweiter Weltkrieg zu beschäftigen. Viele lesen das Tagebuch der Anne Frank im Deutsch- oder Religionsunterricht, lange bevor im Geschichtsunterricht das 20. Jahrhundert behandelt wird. Die meisten Gruppen sind Schulklassen der sechsten bis neunten Jahrgangsstufe. Insgesamt machen Schulgruppen etwa 80 Prozent der Gesamtbesucherzahl aus. Sie werden in Gruppen bis zu 30 Personen von jeweils zwei ‚Begleitern‘11 zweieinhalb bis drei Stunden durch die Ausstellung begleitet. Das pädagogische Programm verfolgt den Anspruch, an das (häufig diffuse) Vorwissen und die Fragen der Lerngruppen anzuknüpfen und dabei im Sinne des migrationspädagogisch konzipierten Geschichtslernens die Heterogenität von Erfahrung mit Flucht und Migration, von historischem Wissen und familienbiografischen Perspektiven zu berücksichtigen. Neben der Vermittlung historischer Inhalte steht die aktive und kritische Aneignung im Mittelpunkt: Lernen durch gemeinsamen Austausch in Kleingruppen, aktives Nachfragen und Diskutieren. Am Ausgangspunkt unserer Überlegung stand die Frage, ob sich die Geschichte von Anne Frank als ‚Lehrstück‘ eignet, um gegen aktuelle Formen von Diskriminierung und Ausgrenzung zu sensibilisieren. Die Ausstellung stellt an mehreren Stellen einen Gegenwartsbezug her, sie lässt Jugendliche zu Wort kommen die zuvor um ihre Meinung gefragt worden sind: Kann es einen gerechten Krieg geben? Zur Frage Wer bin ich? äußern sich jüdische und andere Jugendliche zum Thema Zugehörigkeit in der heutigen deutschen Gesellschaft. Zum Thema Holocaust wurde nach den ersten Erfahrungen ein Film eingefügt, in dem Juden, die heute in Frankfurt leben, Auskunft über ihre Sicht auf das Leben als Juden in Deutschland geben. Für viele Jugendliche sind das die ersten ‚lebendigen‘ Juden, denen sie begegnen. So vielfältig die Möglichkeiten in der Ausstellung sind, einen aktuellen Bezug herzustellen, so sehr stellt sich auch die Frage, wie solche aktuellen Themen im Rahmen einer historischen Ausstellung von Jugendlichen rezipiert werden. In diesem Zusammenhang kommt dem Begleitungskonzept eine wichtige Rolle zu. Die größte Herausforderung in jeder Begleitung ist es, eine Balance zu schaffen: zwischen der Orientierung an den Teilnehmenden und ihrer Situation einerseits und den komplexen Themen und Inhalten andererseits. Als interaktiver Lernort erlaubt die Ausstellung den Begleitern, unterschiedliche Schwerpunkte zu setzten, die sich am Interesse und an den Wünschen der Schüler orientieren.
11 | Der Ausstellungsbesuch wird durch freie Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in Form einer ‚Begleitung‘ gestaltet. Diese Mitarbeiter werden in einer 48-stündigen Fortbildung für die Arbeit in der Ausstellung ausgebildet. Neben dem historischen Kontext und ausstellungsspezifischen Themen wie der Biographie von Anne Frank, dem Tagebuch als Quelle und seiner Rezeptionsgeschichte, befassen sie sich intensiv mit der Reflexion ihres pädagogischen Selbstverständnisses und der Wirksamkeit von pädagogischen Prozessen und deren Methoden.
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Gottfried Kößler und Meron Mendel
Aber mit welchen Interessen und Wünschen kommen die Schüler in die Ausstellung? Zu Beginn jeder Begleitung werden die Jugendlichen ermuntert, ihre Fragen zu stellen. Folgende Fragen kommen sehr häufig vor: • • • •
zu Anne Frank: Was ist mit Anne Frank passiert? War sie wirklich mit Peter zusammen? zum Untertauchen: Wie sah das Hinterhaus aus? Wer hat die Familie verraten? zum Tagebuch: Wo ist das Original? Warum ist das Tagebuch so berühmt? zum Holocaust: Warum wurden ausgerechnet die Juden verfolgt?
Es ist ersichtlich, dass diese Fragen stark an der Geschichte Anne Franks, ihrem Tagebuch und am historischen Kontext orientiert sind. Interessant dabei ist, dass der Bezug zur Gegenwart in der Erwartungshaltung von Jugendlichen gar nicht artikuliert wird. Vor diesem Hintergrund scheint die pädagogische Herausforderung der Ausstellung darin zu bestehen, das vorhandene Interesse für die Geschichte zu nutzen, um für Diskriminierung und Rassismus in der Gegenwart zu sensibilisieren. Diese Logik ist nur dann wirkungsvoll, wenn es um ein präventives Angebot geht. Sie stößt dann an ihre Grenzen, wenn in der adressierten Gruppe bereits aktuelle Konflikte bestehen. Die Erfahrung der Arbeit mit Jugendlichen, die für Straftaten mit rechtsextremen Motiven vom Jugendgericht oder vom Jugendamt mit der Auflage verpflichtet werden, die Ausstellung zu besuchen, macht deutlich, dass der pädagogische Ertrag der Ausstellungsbesuche bei Jugendlichen mit gefestigten menschenfeindlichen Ideologien sehr gering ist. Solche Jugendliche weigern sich in der Regel, die verschiedenen Angebote in der Ausstellung zu nutzen oder sie versuchen dort Belege für ihre Ideologie zu finden (beispielsweise in den originalen Radiobeiträgen von Adolf Hitler). Gleichwohl ist festzustellen, dass politische Bildung zu aktuellen Themen auch ohne historischen Zugang möglich ist. Die Behandlung von rassistischen und antisemitischen Weltbildern allein aus der historischen Perspektive kann die Auseinandersetzung mit alltäglichen Rassismusphänomenen und aktuellen Formen von Antisemitismus nicht ersetzen.12 Unsere Erfahrung zeigt, dass in vielen Fällen eine Auseinandersetzung mit aktuellen Problemen und Konflikten im Rahmen von Work12 | Astrid Messerschmidt stellt fest, dass in der Bundesrepublik der Rassismus-Begriff auf die nationalsozialistische Judenverfolgung fixiert wird und dadurch als ‚vergangenes Problem‘ erscheint. Diese Fixierung behindert eine Aufarbeitung der zeitgeschichtlichen Bedeutung von kolonialem Rassismus einerseits und völkischer Gesellschaftsbilder aus der nationalsozialistischen Ideologie andererseits, vgl. Astrid Messerschmidt: Distanzierungsmuster. Vier Praktiken im Umgang mit Rassismus, in: Anne Broden und Paul Mecheril (Hg.): Rassismus bildet. Bildungswissenschaftliche Beiträge zu Normalisierung und Subjektivierung in der Migrationsgesellschaft, Bielefeld 2010, S. 41-58.
Historische und aktuelle Bezüge in der politischen Bildungsarbeit
shops pädagogisch sinnvoll aufgegriffen werden kann, die Themen wie Diskriminierung, Rassismus, Menschenrechte, Migration, Rechtsextremismus und Antisemitismus behandeln.13 Der aktuelle und der historische Ansatz in der politischen Bildung schließen sich nicht gegenseitig aus. Vielmehr muss je nach den Bedürfnissen und Interessen der Adressaten der geeignete Zugang gewählt werden. Diese Verbindung kann zum Beispiel auch durch die Auseinandersetzung mit der Idee der Menschenrechte in ihren historischen und aktuellen Aspekten erreicht werden.
13 | Die Workshops sind interaktiv und bieten Raum für Diskussion. Ziel ist es, Anstöße zu geben, um eigene Standpunkte und Handlungsmöglichkeiten zu entwickeln. Die vierstündigen Workshops werden in der Regel von Schulen oder Jugendeinrichtungen bei der Bildungsstätte gebucht.
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Der zunehmende zeitliche Abstand zur Verfolgungsgeschichte der NS-Zeit Folgen für die historische Bildung an authentischen Orten Thomas Lutz
Mittlerweile sind sieben Jahrzehnte seit der Befreiung vom NS-Regime vergangen. Mit dem zunehmenden zeitlichen Abstand wandelt sich diese Geschichtsperiode von der Zeitgeschichte zur Geschichte. Viele Faktoren ihrer Bearbeitung haben sich im Laufe der Zeit entwickelt und verändert: Die Forschungslage, die öffentliche und politische Aufmerksamkeit, die Besucher in Gedenkstätten und deren Verständnis von Geschichte im Zusammenhang mit ihren aktuellen Lebensumständen. Im Einladungsschreiben1 zu der Tagung im November 2013 am Italien-Zentrum der Technischen Universität Dresden, die Grundlage für diesen Band ist, wurden folgende Themen besonders hervorgehoben: I.
Es gibt einen Versuch von europäischen Institutionen, die Geschichte topdown zu verordnen. Hingewiesen wird auf die Stockholmer Erklärung aus dem Jahr 2000, an der Staats- und Regierungschefs aus über 40 Ländern eine Erklärung verabschiedet haben, die die Erinnerung an den Holocaust als globale Form der Geschichtsvermittlung fest etablieren soll.2 Vonseiten der Veranstalter wird vor allem moniert, dass der Bezug auf die Shoah
1 | Karl-Siegbert Rehberg und Sonia Gentili: Den Holocaust Erinnern – Von erfahrener Geschichte zur Europäisierung des Gedenkens. Interdisziplinäres und internationales Symposium, Email vom 7.5.2013. 2 | Informationen zur Stockholmer Erklärung und zum weiteren Wirken der International Holocaust Remembrance Alliance, die in diesem Zusammenhang entstanden ist, finden sich im Internet: http://www.holocaustremembrance.com [16.6.2014].
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„äußerst diskutabel“ sei, da die „west- und osteuropäischen Erinnerungskulturen diesbezüglich zu disparat sind.“3 II. Mit Hinweis auf den Konstanzer Soziologen Bernhard Giesen wird darauf verwiesen, dass „nationale kulturelle Codes nur in einer geschlossenen nationalen Kommunikationsgesellschaft, nicht mehr in einer vernetzten globalisierten Zivilgesellschaft, relevant sind.“4 Für den Holocaust bedeute dies, so Rehberg und Gentili, zum einen, dass die Erzählung nicht mehr die reine Opferperspektive einnimmt, sondern stärker die Verantwortung in den Blick nimmt. Zum anderen wird die Frage gestellt, ob „das Gedenken an den Genozid europäisch identitätsstiftend ist oder nicht vielmehr zur Plattform der Renationalisierung kultureller Gedächtnisse wird.“5 III. „Ein tragender Aspekt für den Wandel der Holocaust-Erinnerung ist darüber hinaus der Wandel in der Geschichtserzählung durch Zeitzeugen.“6 Die Zukunft der Holocaust-Erinnerung wird demnach durch eine vollkommen andere Assoziationswelt der Nachkommenden geprägt sein. Als unstrittig wird konstatiert, dass die Zeitzeugen durch die Akteure der pädagogischen Vermittlung ersetzt werden müssen. Als ein damit verbundener inhaltlicher Trend wird die Hinwendung zur „kosmopolitischen Menschenrechtserziehung“ beschrieben, die allerdings Gefahr laufe, historische Kontexte zu vernachlässigen. Auf diese drei Themenkomplexe werde ich in meinem folgenden Text eingehen und zugleich darlegen, welche Auswirkungen die Erinnerungskultur konkret auf die Entwicklung und Tätigkeit der Gedenkstätten für die Opfer des Nationalsozialismus in Deutschland hat.
I. Um die gesellschaftliche Bedeutung einer top-down-Geschichtsschreibung einschätzen zu können, ist ein kurzer Rückblick auf die Entwicklung der Erinnerung an die NS-Verbrechen sinnvoll. Nach 1945 hat es eine kurze Phase der Erinnerung an die NS-Opfer gegeben, in der alle Opfer geehrt wurden. Als Beispiele können die Veranstaltung im Berliner Lustgarten im September 1945 vor über 100.000 Teilnehmenden oder die Denkmalsetzungen von Befreiten aus den verschiedenen Lagern, die ihren getöteten Kameraden eine Erinnerungsstätte schaffen wollten, ange3 | Rehberg/Gentili: Den Holocaust Erinnern, o. S. 4 | Ebd. 5 | Ebd. 6 | Ebd.
Der zunehmende zeitliche Abstand zur Ver folgungsgeschichte der NS-Zeit
führt werden.7 Diese Gedenkzeichen waren nach der Rückkehr in die Heimatländer oder Auswanderung aus den Displaced Persons-Camps verlassen, sind von selbst verfallen oder in den fünfziger Jahren, ohne Spuren zu hinterlassen, beseitigt worden. In den 50er und 60er Jahren gab es zwar in Westdeutschland immer wieder Anlässe, sich mit den NS-Verbrechen zu beschäftigen, etwa Prozesse gegen Täter oder antisemitisch motivierte Sachbeschädigungen. Die Auseinandersetzung hat jedoch nur wenige interessiert und in dieser Zeit nicht zu einem nachhaltigen Diskurs in der Gesellschaft geführt.8 Es war die Studentenbewegung in den 60er Jahren, die der Auseinandersetzung mit den NS-Verbrechen zu einer breiteren kulturpolitischen Ausstrahlung verhalf. Die Inhalte dieser Debatte bestanden in einer Mischung aus persönlicher Auseinandersetzung mit der Vätergeneration und ideologischen Debatten um die richtige theoretische Einordnung des Faschismus. Zudem hat es in dieser Zeit auch in den Geisteswissenschaften eine Öffnung zu neuen Themen gegeben. Zu nennen sind die Umorientierungen in der Geschichtswissenschaft, die nun auch Wirtschafts- und Sozialgeschichte als eigenes Teilgebiet etablierte. Die Öffnung von Museen zur Alltagsgeschichte – hier hatte vor allem das Ruhrlandmuseum in Essen eine Vorreiterrolle inne – ist ebenso von Bedeutung wie die ersten Geschichtswettbewerbe um den Preis des Bundespräsidenten, die in sehr großer Zahl die NS-Geschichte in lokalen Zusammenhängen erforscht haben. Ein weiteres wichtiges Movens bestand in der Geschichtswerkstattbewegung. Die ‚Barfußhistoriker‘ haben sich mit der konkreten Geschichte vor Ort beschäftigt. Sie wurde aus der Perspektive der normalen Menschen dargestellt, die an diesen Orten gelebt hatten. In ähnlicher Weise haben auch die Gedenkstätten die konkreten Formen von Unterdrückung, Verfolgung und Massenmord erforscht. Die Motivation für diese Aufklärungstätigkeit speiste sich aus der moralischen Empörung darüber, dass die damals begangenen Verbrechen über Jahrzehnte verdrängt worden waren und damit vor allem die noch lebenden Überlebenden häufig weiter diskriminiert, gar drangsaliert wurden. Ihnen wurde in den ersten Jahrzehnten seit der Befreiung vom NS-Regime weder gesellschaftliche Anerkennung noch finanzielle Entschädigung zuteil.9 Festzuhalten bleibt, dass die Erinnerung an die NS-Verbrechen in der Bundesrepublik Deutschland in den
7 | Vgl. Hans Coppi und Nicole Warmbold: Der zweite Sonntag im September. Zur Geschichte des ersten Gedenktages für die Opfer des Faschismus, in: GedenkstättenRundbrief 131, Berlin 2006, S. 12–19. 8 | Vgl. Werner Bergmann: Antisemitismus als politisches Ereignis. Die antisemitische Welle im Winter 1959/1960, in: Ders. und Rainer Erb (Hg.): Antisemitismus in der politischen Kultur nach 1945, Opladen 1997, S. 253-275. 9 | Vgl. Thomas Lutz und Alwin Meyer (Hg.): Alle NS-Opfer anerkennen und entschädigen, Berlin 1987.
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70er und 80er Jahren gegen große gesellschaftliche Wiederstände langsam in das öffentliche Bewusstsein geholt werden musste. Es ist undenkbar, dass zu dieser Zeit eine top-down-Interpretation der NS-Geschichte möglich gewesen wäre. Weder hatten die politisch Verantwortlichen auf den jeweiligen Ebenen, vom Bund bis zu den Kommunen, ein Interesse daran, noch hätten die Akteure der Aufarbeitung, selbst wenn sie in öffentlichen Einrichtungen angestellt waren, sich das bieten lassen. Die Situation veränderte sich allmählich, als öffentliche Würdenträger in den 80er Jahren die Verantwortung für die NS-Verbrechen anerkannten. Da Museen, Gedenkstätten oder Bildungseinrichtungen in Deutschland nur mit öffentlichen Finanzmitteln auf Dauer zu betreiben sind, war es notwendig, hierfür parlamentarische Akzeptanz und die Unterstützung der Verwaltung zu gewinnen – und sich damit anzupassen. Im internationalen Vergleich hat die seither praktizierte besondere Form der Aufarbeitung der NS-Verbrechen zu großer Anerkennung für die deutsche Erinnerungskultur geführt. In vielen Ländern wird die Art und Weise, wie in Deutschland im Prinzip alle Opfergruppen gewürdigt werden und wie auch selbstkritisch nachgefragt wird, wer die Täter und Profiteure der Menschheitsverbrechen in der NS-Zeit waren, als vorbildlich gepriesen. Gerade nach der deutschen Einheit nahm die internationale Reputation Deutschlands nochmals dadurch zu, dass Gedenkstätten für die NS-Opfer verstärkt gefördert wurden. Sowohl staatlich als auch individuell wurde das ernsthafte Bemühen, vor allem den Überlebenden Anerkennung zuteil werden zu lassen, und sie z.B. 1995 in großer Zahl zu den Feierlichkeiten der 50. Jahrestage der Befreiung vieler Lager einzuladen, sehr geschätzt.10 Wenn es auch über den Umweg der Enquete-Kommission zur Aufarbeitung der Geschichte der SED-Diktatur im Rahmen der deutschen Einheit11 geschehen ist, so wurde doch ein Konzept erstellt, nach dem die Bundesregierung Gedenkstätten, die sowohl die Geschichte der sowjetischen Besatzung und DDR-Diktatur als auch der NS-Diktatur darstellen, erstmals institutionell und nicht nur projektbezogen fördert. Hinzu kamen die Forderungen, ein Denkmal für die ermordeten Juden Europas in Berlin zu errichten. Mit der Zusage des damaligen Bundesinnenministers Rudolf Seiters im Jahr 1992 dieser Initiative ein zentrales Gelände zur Verfügung zu stellen, war der Sprung von der gesellschaftskritischen Initiative zur nationalstaatlichen Form der Denk-
10 | Vgl. Jürgen Dittberner und Antje van Meer (Hg.): Gedenkstätten im vereinten Deutschland: 50 Jahre nach der Befreiung der Konzentrationslager, Oranienburg 1995.
11 | Vgl. Deutscher Bundestag: Schlussbericht der Enquete-Kommission „Überwindung der Folgen der SED-Diktatur im Prozeß der deutschen Einheit“, Drucksache 13/11000, Berlin 1998.
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malsetzung endgültig vollzogen.12 Trotz oder eher gerade wegen dieses Erfolges gibt es immer wieder heftige Debatten, wie der „Zivilisationsbruch“ (Dan Diner), der im Nationalsozialismus mit den Menschheitsverbrechen begangen wurde, politisch zu bewerten sei, im Vergleich vor allem zu den Staatsverbrechen nach 1945.13 Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass die Aufklärung über die NSZeit nach Jahrzehnten der Verdrängung von unten erstritten werden musste. Dies war möglich, weil es insgesamt eine demokratische Öffnung in der westdeutschen Gesellschaft und eine große kulturpolitische Unterstützung für die Auseinandersetzung mit der Verbrechensgeschichte gab. Die Grundstimmung dieser Aufarbeitung war die Empathie mit den Verfolgten und den Überlebenden. Die Gedenkstätten wurden von dem sich wandelnden politisch-kulturellen Umfeld in ihren Tätigkeiten vor Ort zunehmend unterstützt. Mit der allmählichen Anerkennung und Einbindung in finanzielle Förderungen und bürokratische Strukturen wurden die gesellschaftskritischen Ansätze abgeschliffen und die Auseinandersetzung mit den NS-Verbrechen zu einem weithin anerkannten Teil der Staatsräson und gesellschaftlichen Normen. Die Gedenkstätten befinden sich aktuell in der ambivalenten Situation, dass sie auf der einen Seite als staatstragend angesehen werden, ihre Tätigkeit als Erfolgsmodell verkauft wird. Auf der anderen Seite merken die Gedenkstätten auf allen Ebenen, dass das Bekenntnis zur Auseinandersetzung mit der NS-Geschichte zunehmend zum Ritual und Lippenbekenntnis verfällt. Neben der Symbolpolitik und der Betonung, wie wichtig die Geschichte für die demokratische Entwicklung sei, geschieht wenig, um die Gedenkstätten angesichts ihrer zunehmenden Aufgaben und steigenden Kosten in die Lage zu versetzen, diesen in vernünftiger Weise nachkommen zu können. Bisher ist die Entwicklung in der Bundesrepublik – und dies auch noch sehr kursorisch – beschrieben worden. In anderen Ländern hat die Aufarbeitung andere Wege beschritten und unterschiedliche Formen angenommen. Schon im Vergleich mit der DDR wird dies offensichtlich. Cum grano salis war hier das Geschichtsbild, in das auch die Darstellung der NS-Zeit eingebettet war, staatsparteilich gelenkt. Die nationalen Mahn- und Gedenkstätten in Buchenwald, Ravensbrück und Sachsenhausen waren, von ihrer Eröffnung etwa 15 Jahre nach Kriegsende an, Ausdruck einer verordneten Geschichtsinterpretation. Kurz gesagt, wurde die Auseinandersetzung mit den NS-Verbrechen 12 | Vgl. Ute Heimrod, Günter Schlusche und Horst Seferens (Hg.): Der Denkmalstreit – das Denkmal? Die Debatte um das „Denkmal für die ermordeten Juden Europas“. Eine Dokumentation, Berlin 1999. 13 | Eines von sehr vielen Beispielen ist die Kritik an der Ausstellung zum Speziallager in Sachsenhausen; vgl. Jan Thomsen: Speziallager-Ausstellung zeige „differenziertes Bild“. Stiftungschef Morsch weist Kritik zurück, in: Berliner Zeitung, 8.12.2001.
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auf die Würdigung des antifaschistischen Widerstandskampfes reduziert, auf dessen politischer Ausrichtung sich das Kulturerbe des neuen Staates ideologisch begründete. Eine Auseinandersetzung mit den Strukturen des NS-Systems und der Täterschaft war nicht nötig, da die DDR nach ihrem eigenen Verständnis staatlich, gesellschaftlich und wirtschaftlich mit dem Aufbau des realexistierenden Sozialismus die Möglichkeiten eines sich erneut etablierenden faschistischen Staates als unmöglich betrachtete. Die hier für die DDR skizzierte Erinnerungspolitik war durchaus typisch für viele andere Länder. Häufig wurde die Erinnerung an die Besatzungszeit und die von den Deutschen verübten Verbrechen staatlich unterstützt. Damit verbunden war die unkritische Darstellung des eigenen Landes als wiederständig und unterdrückt. Opfergruppen, die den jeweils ausschlaggebenden gesellschaftspolitischen Vorstellungen nahe kamen, wurden besonders hofiert. Fragen der Kollaboration wurden, wenn überhaupt, erst in den letzten Jahren öffentlich angesprochen. Die Initiative 1997 zur Gründung der International Task Force for Holocaust Education Remembrance and Research (ITF, heute IHRA) und zu der Stockholmer Konferenz im Jahr 2000 gingen von dem schwedischen Ministerpräsidenten Göran Persson aus. Nach den Erfahrungen, die er mit dem Vertrieb eines Geschichtsbuchs über den Holocaust im eigenen Land gemacht hatte, war er der Auffassung, diese Form der Aufarbeitung könne weltweit übertragen werden. Auf der Grundlage von ‚guidelines‘ sollte in ‚field missions‘ die Holocaust Education verbreitet werden. Im Blick waren dabei vor allem die postkommunistischen Staaten in ihren Umwälzungsprozessen. Deren Bemühungen, ein jeweils eigenes Geschichtsbild im Rahmen der jungen Nationen auszuhandeln, wurde hinsichtlich der Aufklärung über den Holocaust misstraut.14 Die Arbeitsgruppen der Experten innerhalb der ITF stellten schnell fest, dass eine oktroyierte Form der Aufarbeitung des Holocaust nicht funktioniert. Zum Ersten ist das Verständnis des Holocaust selbst innerhalb der ITF/IHRA-Mitgliedsstaaten so verschieden, dass es bisher keine festgeschriebene, allgemein akzeptierte Begriffsfestlegung gibt. Zum Zweiten kann eine einheitliche Form der Vermittlung, die nicht auf die verschiedenen nationalen und gesellschaftlichen Formen des Umgangs mit der NS-Zeit Rücksicht nimmt, in den unterschiedlichen Ländern keine breite Wirkung entfalten. Trotz dieser Erfahrungen mit der Unmöglichkeit, ein einheitliches Geschichtsbild international durchzusetzen, hat es seit 2007 ähnliche Bemühungen erneut – unter anderen politischen Vorzeichen – im Zusammenhang mit der Osterweiterung Europas gegeben. Diesmal soll der ‚Totalitarismus‘ die inhaltliche Ausrichtung für ein einheitliches Geschichtsbild schaffen – zumin14 | Vgl. Jens Kroh: Transnationale Erinnerung. Der Holocaust im Fokus geschichtspolitischer Initiativen, Frankfurt a.M. 2008.
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dest wenn es nach der Mehrheit des europäischen Parlaments geht. Bei vielen der im Europaparlament geführten Debatten ist jedoch unklar, was mit dem politisierten Totalitarismusbegriff eigentlich gemeint ist. So hob der estnische Christdemokrat Tunne Kelam in der Parlamentsdebatte als politisches Ziel, einen Gedenktag am 23. August einzuführen – dem Tag der Unterzeichnung des Hitler-Stalin-Vertrags 1939 –, hervor: „[…] its main task is to bring about an honest and thorough debate on all totalitarian crimes in the past century with the aim to providing the ‚never again‘ guarantee, also for the tens of millions of victims of totalitarian Communist regimes. This will be our contribution to the overcoming of the still existing mental and historic inequalities.“15
Kelams Rede ließ nicht nur die nötige Differenzierung vermissen. Er weitete den Totalitarismusbegriff sogar auf das heutige Russland aus, in dem letztendlich das schlimmste Regime herrsche: „The oligarchy in Russia is a Frankenstein dictatorship worse than any others, Hitler included.“16 In der gleichen Debatte sprach der litauische Abgeordnete Vytautas Landsbergis von einem „Stalin-Hitler’s homologue“.17 Diese Deutungen, die vor allem in Mittelosteuropa viele Förderer finden, schlagen auch auf die Debatte in Deutschland zurück. Zumindest in den neuen Bundesländern gibt es immer wieder Forderungen, den 23. August zum europäischen Gedenktag für die Opfer aller Diktaturen zu machen. Von deutschen Befürwortern eines Schlussstrichs unter die Aufarbeitung der NS-Verbrechen wird das Argument, dass man sich hier im Land nicht so kritisch mit seiner Geschichte auseinandersetzen sollte, da ja auch andere Nationen große Staatsverbrechen zu verantworten haben, gerne aufgegriffen.
II. Ich glaube – im Unterschied zu den Verantwortlichen der Dresdner Tagung – nicht, dass die Ablösung „nationaler kultureller Codes“ aktuell tatsächlich so umfassend ist. Die Individualisierung der sozialen Beziehungen und die Ausdifferenzierung von nationalen Erinnerungskulturen werden seit einigen Jahren anhand der Frage, auf welche Art und Weise sich in Deutschland leben15 | Tunne Kelam: Statement vom 23.4.2009; www.irl.ee/Media/News/65/tunne-kelam-mepepp-ed-group-committed-to-moral-and-political-assessment-of-all-totalitarian-regimes [nicht mehr verfügbar].
16 | Ebd. 17 | Vytautas Landsbergis in der Plenardebatte zu: Europas Gewissen und der Totalitarismus (Aussprache), 25.3.2009: www.europarl.europa.eu/sides/getDoc.do?pubRef=-//EP//TEXT+CRE +20090325+ITEM-010+DOC+XML+V0//EN [16.6.2014].
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de Migranten mit der NS-Zeit auseinandersetzen, diskutiert. In vielen (west-) deutschen Städten lebt heute, besonders in der Schülergeneration, ein hoher Anteil von Einwohnern mit Migrationshintergrund. Dabei haben Schüler mit Migrationshintergrund im Vergleich zu Schülern mit ‚deutschem‘ Familienhintergrund zumeist deutlich schlechtere Chancen auf gute Schulabschlüsse.18 Daher ist die Art und Weise, wie sich Deutschland zu seinen Einwanderern verhält, wichtig für das gesellschaftliche Zusammenleben und geht weit über die Befassung mit deutscher Geschichte hinaus. Für die zukünftige Auseinandersetzung mit der NS-Geschichte ist die Entwicklung Deutschlands zum Einwanderungsland eine große Herausforderung. Die Notwendigkeit, auch ‚Nicht-Deutschen‘ die NS-Geschichte nahezubringen, macht eine Ausdifferenzierung der Bildungsangebote erforderlich. Doch bereits die Definition, wer eigentlich Migrant ist, zeigt, wie kompliziert und vielschichtig diese Diskussion ist. Bereits ‚deutsche‘ Jugendliche – so schwierig diese auch zu definieren sind – haben äußerst verschiedene Bezüge zur NS-Vergangenheit. Diese sind abhängig von der Schulbildung, aktuellen gesellschaftspolitischen Debatten, Diskussionen in der Familie oder dem Freundeskreis. Deutsche Schüler der dritten oder vierten Nachkriegsgeneration haben zudem keinen unmittelbaren Bezug mehr zur NS-Geschichte. Erfragt man aber Gegenwartsbezüge zu dem Thema aus ihrer Sicht und bemüht sich ernsthaft, diese zu behandeln, kann man sie für das Thema interessieren. Viele gute Projekte, die von Schülern in intensiver Zusammenarbeit mit den Gedenkstätten erarbeitet wurden, belegen das fortwährende Interesse an der Geschichte der NS-Zeit. Nicht nur in Gesprächen mit den Pädagogen vor Ort, sondern auch in thematischen Broschüren oder Berichten von Gedenkstätten und Stiftungen, ebenso wie in Publikationen von Landtagen zur Gestaltung von Gedenktagen wird das immer wieder offenkundig. Da die NS-Zeit in sehr vielen gesellschaftlichen Zusammenhängen und auch im privaten Umfeld immer wieder emporkommt, hat das Wissen über diese Vergangenheit für die gegenwärtige politische Meinungsbildung eine hohe Bedeutung. Will man an der deutschen Gesellschaft teilhaben, ist Kenntnis über die Geschichte des Nationalsozialismus und den Umgang damit im Nachkriegsdeutschland unabdingbar. Gerade Migranten sollten ein Recht haben, sich damit auseinanderzusetzen. Leider werden noch viel zu wenige Programme angeboten, die diese Gruppe ernst nehmen und ihren Kenntnissen und Interessen angepassten Angebote machen.19
18 | Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Hg.): Schulische Bildung von Migranten in Deutschland, Working Paper 13 der Forschungsgruppe des Bundesamtes, Nürnberg 2008, S. 54ff.
19 | Auf Ansätze, diesen Missstand zu beseitigen, verweist Elke Gryglewski: Anerkennung und Erinnerung. Zugänge palästinensisch-arabischer und türkischer Berliner Jugendlicher zum Holocaust, Berlin 2013.
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Die Soziologin Viola Georgi hat in ihrer Untersuchung über die Bedeutung der Auseinandersetzung mit der NS-Geschichte für junge Migranten festgestellt, dass sie sich deshalb mit der deutschen Geschichte beschäftigen, weil sie wissen, dass diese auch die Gegenwart mitbestimmt. „Die Perspektive [der jungen Migranten] ist dabei eine doppelte: Gegenüber Repräsentanten der ‚Herkunftsländer‘ muss Deutschland wegen der menschenverachtenden NS-Vergangenheit nicht selten als Wahlheimat verteidigt werden. Gegenüber den Repräsentanten der deutschen Aufnahme- und Mehrheitsgesellschaft scheint die Übernahme des ‚negativen historischen Erbes‘ (Jean Améry 1977) einem Zusammengehörigkeitsbekenntnis gleichzukommen. In beiden Fällen wird die NS-Geschichte als gesellschaftliches Orientierungswissen identitätsstiftend.“20
Eine Herausforderung für die Bildungsarbeit besteht darin, ‚Nation‘ nicht mehr in Kategorien wie Ethnizität zu begreifen. Das überkommene Verständnis von Nation, das starr von einer unabänderlichen Herkunft und dem sich daraus ergebenden, verpflichtenden Erbe ausgeht, müsse von einem neuen Verständnis nationaler Kultur abgelöst werden, das von einer sich freiwillig zusammenschließenden, auf eine demokratische Zukunft ausgerichteten Gemeinschaft ausgeht – so der Frankfurter Pädagoge Micha Brumlik. Nationale Bildung findet nach diesem Verständnis in einem Staat als Rechtssystem mit Raum- und Sprachgrenzen statt. Dessen Ausdruck sei die „Aufnahme bedeutsamer Teile der Kultur der Migranten in die eine, in sich gebrochene, spannungsreiche und widersprüchliche nationale Kultur“.21 Die Herausforderung bleibt, diesen Anspruch mit historischer Bildung über die NS-Zeit didaktisch sinnvoll zusammenzuführen. Im Hinblick auf Migranten wie auch auf ‚Bio-Deutsche‘ wird in der aktuellen Debatte häufig eine Homogenität vorausgesetzt, die zwar unter Umständen formal gegeben ist – etwa bei der Staatsangehörigkeit. Dem entgegen jedoch steht eine Heterogenität im Hinblick auf Bildungsgrad, politische Einstellungen, soziale Herkunft etc., die sowohl bei ‚Bio-Deutschen‘ als auch bei ‚Migranten‘ vorhanden sind. Auf diese Heterogenität müssen die Bildungsangebote – nicht nur – der Gedenkstätten achten. Dabei ist das Wissen z.B. um Sozialisation und Herkunft der Besucher eine Voraussetzung, besucherorientierte Bildungsarbeit zu konzipieren. Aber auch die Notwendigkeit, fle20 | Viola Georgi: Entliehene Erinnerung. Geschichtsbilder junger Migranten in Deutschland, Hamburg 2003, S. 162.
21 | Micha Brumlik: Erziehung nach „Auschwitz“ und Pädagogik der Menschenrechte. Eine Problemanzeige, in: Bernd Fechler, Gottfried Kößler und Till Liebertz-Groß (Hg.): „Erziehung nach Auschwitz“ in der multikulturellen Gesellschaft. Pädagogische und soziologische Annäherungen, Weinheim 2000, S. 47-58, hier: S. 51.
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xibel auf Unterschiede innerhalb von – äußerlich homogenen – Gruppen reagieren zu müssen, ist eine Anforderung an zeitgemäße Gedenkstättenpädagogik. In Zukunft sollten sich neben den weiter bestehenden nationalen Erinnerungskulturen zunehmend individuelle Lehr- und Lernprozesse in Bezug auf die Auseinandersetzung mit der NS-Geschichte herausbilden, die von subjektorientierten Erfahrungen ausgehen. In Zukunft werden demnach zwei erinnerungspolitische Rahmenbedingungen nebeneinander stehen, die aber zugleich auch miteinander verschränkt sind: •
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Die nationalen Grenzen und die dadurch bedingte unterschiedliche Aufarbeitung der NS-Geschichte werden weiterhin Bestand und gesellschaftspolitische Bedeutung haben. Der Zugang zur Auseinandersetzung mit der NS-Geschichte in den jeweiligen Nationen wird sich weiter ausdifferenzieren. In der Bildungsarbeit wird es immer wichtiger, diese unterschiedlichen Ansätze ernst zu nehmen und sinnvoll zu integrieren.
Als Fazit ist festzuhalten: Für die Erinnerungskultur in Deutschland ist es entscheidend, ihre inhaltliche Ausrichtung als Form von Verantwortung für den Umgang mit den NS-Verbrechen heute und als Ehrung der Opfer zu verstehen und entsprechend zu überdenken. Dies gilt aber nicht nur im Hinblick auf die zehn Prozent der Bevölkerung, die mit Migrationshintergrund in Deutschland leben. Die vierte Nachkriegsgeneration ist insgesamt wesentlich heterogener in ihren Einstellungen und Erwartungen gegenüber der Aufarbeitung der NS-Zeit. Die gerade dargelegten Überlegungen zum zunehmend heterogenen Umgang mit der Geschichte in einer globalisierten Welt und die Bemühungen des Europaparlaments, ein Geschichtsbild politisch zu implementieren, hängen nicht unmittelbar zusammen. Die Frage, ob sich – gerade im europäischen Diskurs – die Opferperspektive in der Geschichtsdarstellung zur Frage nach der Verantwortung gewandelt hat und ob in diesem Sinne das Gedenken für Europa – politisch ist die Debatte zentriert auf die Mitgliedsländer der Europäischen Union – identitätsstiftend sein kann, wird in Parlamentarierkreisen aufgeworfen. Nach dem Ende des real existierenden Sozialismus konnten vor allem in den Satellitenstaaten der Sowjetunion erstmals die zwischen 1917 und 1989 begangenen Staatsverbrechen der kommunistischen Regime aufgearbeitet werden. Es ist nachvollziehbar, dass man sich bei dem Streben nach Anerkennung das weltweite Symbol für das Böse, den Holocaust, als Referenzebene sucht, um die Bedeutung des eigenen erfahrenen Unrechts aufzuwerten. Gerade bei NS-Opfern hat das jedoch immer wieder zu berechtigter Empörung geführt. Die gesellschaftspolitischen Voraussetzungen und die konkreten begangenen Staatsverbrechen sind zu unterschiedlich. Schließlich befinden sich vielfach Täter und Kollaborateure der NS-Verfolgung unter den Opfern
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der kommunistischen Verbrechen in Gefängnissen und Lagern unmittelbar nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs. Ihre NS-Täterschaft wird durch die Hervorhebung ihres folgenden Opferstatus übergangen.22 Die aktuelle Auseinandersetzung darüber, welche Opfer im ehemaligen Sowjetischen Gefängnis in der Potsdamer Leistikowstraße dargestellt werden sollen, verweist auf einen weiteren kritikwürdigen Umstand: Es bildet sich im Zusammenhang mit der Aufarbeitung der kommunistischen Verfolgung wieder stärker eine Darstellung heraus, die lediglich an der Anerkennung der Opfer aus der eigenen Gruppe interessiert ist. Einige Betroffenenorganisationen der Potsdamer Leistikowstraße haben dahingehend agiert. Nach ihrer Auffassung sollen in der Ausstellung des ehemaligen sowjetischen Gefängnisses keine Biographien von Personen, die als Spione dort inhaftiert waren, beschrieben werden. Spionage ist auch in anderen Ländern als Straftat angesehen und wird entsprechend sanktioniert. Mit der Darstellung von Inhaftierten, die unter rechtsstaatlichen Bedingungen ebenso polizeilich und juristisch verfolgt worden wären, gerät das einseitige historische Geschichtsbild dieser Organisationen, nach der die Sowjetunion nur Unschuldige eingesperrt hat, ins Wanken.23 Diese Debatten um die konkrete Ausgestaltung von Gedenkstätten in den neuen Bundesländern haben ihre Entsprechungen in den nationalen Geschichtsschreibungen der Länder des ehemaligen Ostblocks: So differenziert die Diskussion in den jungen Staaten insgesamt auch sind, so haben sie im Großen und Ganzen doch zwei Gemeinsamkeiten: Zum einen den Hass auf Russland und die Sowjetunion, der die meisten Geschichtsdebatten dominiert. Zum anderen schlägt das ideologische Pendel nach Jahrzehnten der Unselbständigkeit nun in eine andere Richtung aus und hat starke nationalistische Züge. In den mittel- und osteuropäischen Staaten findet diese Form der Geschichtsschreibung vor allem auch darin ihren Ausdruck, dass sich die Gesellschaften ausschließlich als Opfer darstellen, unterschiedslos der braunen und der roten Diktatur. Gerade die sich in Deutschland spät entwickelte, aktuell aber verbreitete Auseinandersetzung mit der Täterschaft in ihren sehr verschiedenen Schattierungen, findet in diesen Ländern zumindest auf offizieller Ebene fast nicht statt.
22 | Gerade die Diskussionen zu den Opfern der Speziallager in Buchenwald und Sachsenhausen bieten hierfür viele Belege. So fordern Betroffenenorganisationen immer wieder die Ehrung der vielen in der ersten Lagerzeit mit dem Befehl des automatical arrest eingelieferten NS-Schergen mit niedrigen Posten wie z.B. Blockwart, HJ- oder NSDAP-Ortsgruppenführer, vor allem wenn sie im Lager gestorben sind. Vor 1950 wurden zahlreiche NS-Täter ebenfalls in den Spezaillagern inhaftiert. Häufig war zu dem frühen Zeitpunkt ihre Tätergeschichte im Nationalsozialismus nicht bekannt und sie waren daher unter den Kategorien des ‚automatischen Arrestes‘ eingesperrt.
23 | Vgl. Wolfgang Benz (Hg.): Ein Kampf um Deutungshoheit: Politik, Opferinteressen und historische Forschung. Die Auseinandersetzung um die Gedenk- und Begegnungsstätte Leistikowstraße Potsdam, Berlin 2013.
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Die Befassung mit Kollaboration, eigener Täterschaft und Profiteuren würde die Grundlage des Selbstbildes der Staaten hinterfragen, die zumeist gerade ihr zwanzigjähriges Bestehen feiern. Beispielhaft soll darauf hingewiesen werden, dass in Ungarn im April 2014 von der Regierung Orbán auf dem Freiheitsplatz ein Denkmal errichtet wird, dass das Land als unschuldigen Engel stilisiert und damit die Mitverantwortung am Mord von etwa 500.000 Juden Ende des Zweiten Weltkriegs leugnet.24 Auch in den westeuropäischen Staaten ist es immer noch einfacher, sich der eigenen Opfer anzunehmen, als sich mit der Frage nach der Verantwortung für die Verbrechen zu befassen. Italien hatte unter erinnerungspolitischer Betrachtung das Glück, dass das Land vom September 1943 an von Deutschland besetzt war. Wegen der Beschäftigung mit den von Deutschen seit September 1943 begangenen Verbrechen können leicht die vorher über zwei Jahrzehnte vom italienischen Faschismus begangenen Staatsverbrechen ausgeblendet werden. In Frankreich vollzog erstmals Jacques Chirac 1995 die Wende zur Anerkennung der Täterschaft der eigenen Nation. Aus Anlass der Gedenkfeiern für die rafle du Vel’ d’Hiv, die – von den Deutschen gewollte – Verhaftung von 13.152 Juden in Paris am 16. Juli 1942 sagte er: „Frankreich tat damals das Nicht-wieder-gut-zu-Machende“.25 Im Jahr 2012 wurde endlich eine Gedenkstätte in Drancy, dem wichtigsten Deportationssammelort in Paris, als Außenstelle des Memorial de la Shoa, errichtet. Diese beiden Beispiele können mit ähnlichen Fällen aus anderen nationalen Erinnerungskulturen in Europa problemlos ergänzt werden. Vor allem in den Ländern, die von Deutschland aus gesehen in östlicher Richtung liegen, nationalisieren sich die Geschichtsbilder zunehmend. Eine gemeinsame Geschichtsauffassung in der Europäischen Union – zumal dieses Ziel nur von oben oktroyiert werden kann – scheitert aber nicht nur daran. Die Geschichte des Zweiten Weltkriegs zwischen Irland und Bulgarien oder Finnland und Portugal ist ebenso verschieden wie das individuelle Erleben der Zeitgenossen und die jeweiligen nationalen Nachkriegsnarrative, so dass eine europäische Identitätsstiftung nicht funktionieren kann. Vielmehr sollte es darum gehen, zunächst die Unterschiede anzuerkennen. Als erster Schritt ist dazu die Aneignung von Wissen über die historischen und erinnerungspolitisch sehr unterschiedlichen Entwicklungen notwendig. Ein internationaler Diskurs über dieses bunte Mosaik von Geschichtsbildern kann dazu beitragen, in einem zweiten Schritt, auf der Grundlage des Vergleiches 24 | Vgl. Spiegel Online: Umstrittenes Projekt: Ungarn beginnt Bau von Nazi-Besatzungsdenkmal, ht tp://www.spiegel.de/politik/ausland/ungarn-in-budapest-beginnt-bau-von-orbans-nazibesatzungsdenkmal-a-963333.html [8.4.2014].
25 | Johannes Wetzel: Frankreich hat seine Vichy-Rechnung beglichen. Lange sah man sich nur als Opfer deutscher Besatzung. Nun ist das größte Internierungslager eine Gedenkstätte, in: Die Welt, 24.9.2012.
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über Ländergrenzen hinweg, auch Mythen und Verdrängungen zu hinterfragen. Im besten Fall führt dies zu einem selbstkritischen Durcharbeiten des eigenen Geschichtsbildes und zu einer demokratischen Selbstvergewisserung.
III. Mit dem zeitlichen Abstand zur NS-Zeit verändern sich viele Faktoren, die grundlegend für die Gegenwartsbedeutung dieser historischen Periode sind. Diese Veränderungen allein mit dem ‚Aussterben der Zeitzeugen‘ in Verbindung zu bringen, greift zu kurz. Noch ist gelegentlich eine persönliche Begegnung mit Überlebenden der NS-Verfolgung möglich. Sie hinterlässt bei den Gesprächsteilnehmenden einen tiefen Eindruck, wie alle Evaluationen zeigen. Auf der anderen Seite hatte die Aufarbeitung der NS-Mordpolitik alleine über Einzelschicksale schon immer Grenzen. In den zentralen Verbrechenskomplexen war das Überleben die Ausnahme. Z.B. überlebte keine einzige Person 1940/41 das ‚T4‘-Programm zur Tötung in Gaskammern. Primo Levi reflektierte schon in seinem ersten literarischen Werk die Entmenschlichung durch die Mordpolitik und wies darauf hin, dass er sich selbst nur als Ersatzzeitzeuge ansieht. Die eigentlichen Zeitzeugen waren in seinen Augen die in den Gaskammern von Auschwitz Getöteten.26 Die Überlieferungen der Zeitzeugen haben eine nicht zu unterschätzende emotionale, moralische Wirkung. Die Überlebenden können Geschichte beispielhaft nahebringen. Die Generierung historischen Wissens durch die Begegnung mit Zeitzeugen ist jedoch gerade hinsichtlich der Kenntnisvermittlung von historischen Entwicklungen und Strukturen sehr begrenzt. In der Bildungsarbeit der Gedenkstätten sind die Begegnung mit Überlebenden, für die sich vor etwas über 30 Jahren der Begriff ‚Zeitzeuge‘ etabliert hat, und die Bedeutung ihrer Berichte als Quellen, mit denen Geschichte dargestellt werden kann, voneinander zu unterscheiden. Zeitzeugen erzählen die Geschichte aus ihrer Sicht als Verfolgte und Überlebende. Neben den relativ wenigen zeitgenössischen Tagebüchern und Briefsammlungen sind diese Berichte die einzigen Quellen, aus denen authentisch die subjektive Erfahrung der Opfer spricht. Auch gibt es Bereiche, etwa das Alltagsleben, für die kaum andere Quellen vorliegen. Für eine differenzierte Darstellung der Verfolgungsmaßnahmen und ihrer subjektiven Wahrnehmung sind inzwischen sehr viele Materialien erschlossen worden und öffentlich zugänglich. Durch die Öffnung vieler Archive nach der Wende in Mittelosteuropa sind Untersuchungsberichte zugänglich geworden, die auf der Befragung von Überlebenden kurz nach der Befreiung beruhen. Mehrere Institutionen haben weltweit umfangreiche 26 | Vgl. Primo Levi: Ist das ein Mensch?, München 1987 [1961, im ital. Original 1947 erschienen].
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Sammlungen von Videodokumentationen mit Zeitzeugen angelegt, von denen viele zu ihrer gesamten Lebensgeschichte befragt worden sind.27 Angesichts ihres nahenden Lebensendes haben Überlebende der NS-Verfolgung persönliche Gegenstände aus der Zeit der Verfolgung, der Haft, der Deportation oder der Befreiung an die Gedenkstätten übergeben. Bereits in den letzten Jahrzehnten hat sich die Zeitzeugenschaft zudem in zweierlei Hinsicht verändert: Zum einen haben wir heute auf Grund des Lebensalters Menschen als Gesprächspartner, die als Jugendliche und Kinder gegen Kriegsende in die Verfolgungsmaschinerie hineingezogen wurden – sehr häufig auf der Grundlage der rassistischen NS-Ideologie. Zu Beginn der Gründung von Initiativen und Gedenkstätten waren noch Überlebende zugegen, die den Aufstieg des NS-Regimes miterlebt hatten. Oft waren sie als junge Menschen Gegner des Nationalsozialismus. Von daher hatten sie einen anderen lebensgeschichtlichen Bezug zu dieser Zeit als die wesentlich Jüngeren. Darüber hinaus verändern auch Zeitzeugen ihre Erzählungen. Bedingt durch das eigene Lebensalter und die Erwartungen des gesellschaftlichen Umfeldes formen sich persönliche Geschichten mit zunehmendem zeitlichen Abstand um. Nicht nur die Erinnerungskultur allgemein, auch die einzelnen Zeitzeugen verändern sich. Die zunehmende zeitliche Distanz hat für die Entwicklung der Erinnerungskultur nicht zwangsläufig nur problematische Seiten. Sie kann durchaus positive Veränderungen mit sich bringen. Die historische Forschung hat im Laufe der Zeit viele neue Kenntnisse erbracht, die in der pädagogischen Arbeit genutzt werden können. So können allmählich Aspekte der Lagergeschichte angesprochen werden, die bisher tabuisiert waren.28 Die Veränderung der Erinnerungskultur selbst ist in den neuen Ausstellungen und Bildungsprogrammen der Gedenkstätten schon ein eigenständiges Thema, an dem sich historisch und aktuell bedeutsame Einsichten, vor allem zur Entwicklung der Nachkriegsgesellschaften, gewinnen lassen. Im Vergleich zu den ersten Dokumentationen in den Gedenkstätten mit den im letzten Jahrzehnt neu eingerichteten Ausstellungen – die als Grundlage der umfassenden Bildungsarbeit dienen –, wird offenkundig, dass die Gedenkstätten heute mit viel umfangreicheren historischen Kenntnissen, einer großen 27 | In jedem Gedenkstättenarchiv finden sich heute eigene Sammlungen von Interviews mit Überlebenden. Darüber hinaus wurden in großen, übergreifenden Projekten Gespräche mit Zeitzeugen geführt. Das bekannteste ist sicherlich das Visual Holocaust Archiv, in Deutschland durch die Freie Universität Berlin unterstützt, www.vha.fu-berlin.de [16.6.2014]. 28 | Ein Beispiel ist, dass bis heute Häftlinge, die als Kriminelle eingestuft wurden und grüne Winkel trugen, bei den politischen Häftlingen, die den roten Winkel im Lager trugen, schlecht angesehen sind. Daher können in Gedenkstättenausstellungen die Häftlinge aus dieser Haftgruppe nicht individuell hervorgehoben werden, selbst wenn sie sich im Einzelfall sehr für die übrigen Häftlinge eingesetzt hatten.
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Anzahl an Objekten, Berichten und Aufzeichnungen von Überlebenden selbst, tiefergehender professioneller Sensibilität und zu guter Letzt mit mehr finanziellen Mitteln arbeiten. Sie sind damit in der Lage, die nationalsozialistische Verfolgungsgeschichte erstmals umfassend und differenziert aus der Sichtweise der Überlebenden und mit Materialien, die von ihnen selbst produziert wurden, darzustellen. Die Bedeutung der authentischen Orte als Sachzeugen des Geschehens wird zukünftig noch größer. Sicherlich verändern sich diese Orte, durch unaufhaltsamen Verfall, durch Gestaltung und Überformungen, ja selbst durch Erhaltungsmaßnahmen. Aber sie bleiben doch die Orte des Geschehens und werden als solche wahrgenommen. Aufgabe der Gedenkstätten ist es, die historischen Spuren zu erhalten, sie für Interessierte sichtbar zu machen und zu deuten. Diese Aufgaben werden mit der wachsenden Distanz zu den historischen Vorgängen, um derentwillen sie gegründet wurden, nicht leichter. Die historischen Überreste können selbst in den bestehenden Gedenkstätten nur zu einem Bruchteil erhalten und restauriert werden. Alles das, was bereits zerstört wurde oder im Moment weiter verfällt, kann in Zukunft nicht mehr für die Bildungsarbeit genutzt werden. Daraus den Schluss zu ziehen, die Bildungsarbeit in Gedenkstätten gänzlich auf andere Themen zu verlagern, wäre jedoch der falsche Weg. Die bereits im Jahr 2000 von Micha Brumlik vorgeschlagene Lösung, sich der allgemeinen Menschenrechtsbildung zuzuwenden29, greift zu kurz. An dieser Form von Aktualisierung hat Wulff E. Brebeck schon früh Kritik geäußert: „Hilflos erscheinen nach meiner Erfahrung Unterfangen, aktuelle Konflikte oder Problemlagen dazu zu nutzen, um Prozesse und Ereignisse im Nationalsozialismus ‚interessanter’ vermitteln zu können, abgesehen davon, dass es dann häufig zu falschen Parallelisierungen (‚Juden damals‘ – ‚Ausländer heute‘) kommt.“ 30
Im öffentlichen Bereich wird in Zukunft die Tatsache ein großes Problem darstellen, dass die Lobbyarbeit der Überlebenden des NS-Terrors – gerade aus dem Ausland – für die finanzielle Förderung und Anerkennung der Gedenkstätten fehlen wird. Auch wenn in den letzten Jahrzehnten zu beobachten war, dass das Interesse an der NS-Geschichte kontinuierlich zugenommen hat, während immer weniger Menschen mit einem biographischen Bezug dazu leben, kann man vermuten, dass die Epoche in der gesellschaftlichen Wahrnehmung in Konkurrenz mit vielen anderen wichtigen Themen zurücktreten
29 | Vgl. Brumlik : Erziehung nach „Auschwitz“. 30 | Wulff E. Brebeck: Zeitgeschichtliches Museum oder …, (Gedenkstätten im Wandel. Beilage zu Heft 49, 1992), S. 26.
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wird, wenn keine Überlebenden mehr selbst dafür eintreten können, ihre Verfolgungsgeschichte zu thematisieren. Das abschließende Plädoyer lautet, sich auf die Stärken der historischen Darstellung zu stützen und diese weiter zu stärken. Zentral für die Wirkung von – nicht nur dieser historischen – Bildungsarbeit ist es, ihre Gegenwartsbedeutung bewusst zu machen. Gerade die Gedenkstätten haben vielfältige Programme und Projekte entwickelt, die an den Interessen und Kenntnissen verschiedener Besuchergruppen anknüpfen können. Die Geschichte des Nationalsozialismus hat umfassende und – gerade wegen der Dynamik und des Umfangs der historischen Geschehnisse – offenkundige Auswirkungen auf die gesamte gesellschaftliche, politische, soziale und wirtschaftliche Entwicklung im heutigen Deutschland. Nicht zuletzt im Zusammenhang mit der Ausgrenzung, Verfolgung und Ermordung der Menschengruppen, die in der NS-Ideologie als nicht erwünscht galten und auch heute noch um ihre Anerkennung ringen müssen. Es gibt in der Zwischenzeit sehr viele Materialien, mit denen man diese Geschichte und ihre Gegenwartsbedeutung den spezifischen Kenntnissen und Fragen der Besuchenden entsprechend darstellen kann. Wenn die bildungspolitischen Möglichkeiten und finanziellen Mittel vorhanden sind, um den historischen Kontext auch in Zukunft zu vermitteln, wird ein Interesse an Auseinandersetzung mit dem NS-Regime weiterbestehen – gerade weil es sich nicht um eine abgeschlossene Geschichte handelt. Mit dem zeitlichen Abstand werden die Interessierten mit anderen Fragestellungen als zu früheren Zeiten an das Thema herangehen. Wegen der vielen anderen Themen, die in der Zwischenzeit gesellschaftlich relevant geworden sind, wird die Beschäftigung mit der NS-Zeit nicht mehr die große Bedeutung haben, wie für die Generation, die in den 70er und 80er Jahren in Westdeutschland begonnen hat, das Thema aufzuarbeiten. Gerade die immer noch stetig wachsenden Besucherströme in die Gedenkstätten und das zunehmende weltweite Interesse an der NS-Geschichte zeigt jedoch, welche nachhaltige Bedeutung die Beschäftigung mit dieser kurzen Geschichtsperiode in ihrer historischen und gesellschaftspolitischen Kontextualisierung noch immer aufweist.
Orte des Erinnerns und des Vergessens? Die Kriegsgräberstätten im Emsland als Beispiele regionaler Erinnerungskultur Ann Katrin Düben
Im Emsland gab es zur Zeit der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft einen Lagerverbund mit 15 Lagern. Kristallisationspunkte der dortigen regionalen Erinnerungskultur sind die neun Friedhöfe, auf denen die in Folge der Lagerhaft Verstorbenen beerdigt wurden. Die sogenannten Kriegsgräberstätten waren bis zur Eröffnung der zentralen Gedenkstätte Esterwegen im Jahre 2011 eine der wenigen gestalteten Erinnerungsorte im Emsland. In der Gestaltung der heutigen Kriegsgräberstätten sind verschiedene Erinnerungsschichten bzw. Deutungsmuster zu erkennen: So war beispielsweise der Status der Opfer der multifunktionalen Lager bis in die 1980er Jahre nicht geklärt und viele der ehemaligen Häftlinge galten nicht als Opfer der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft. Des Weiteren spielten im konservativen Emsland politische Ideenkonflikte eine große Rolle, sodass der Häftlinge mit kommunistischem und sozialdemokratischem Hintergrund nur widerwillig gedacht wurde. Die Spuren der diffusen Einteilung zwischen politisch Verfolgten und rechtsstaatlich verurteilten Kriminellen sowie der geschichtspolitischen Auseinandersetzungen sind daher auch heute noch sichtbar.1 Am Beispiel der Kriegsgräberstätte Herbrum/Aschendorfermoor, auf der die Opfer eines Kriegsendverbrechens bestattet wurden, wird der Frage nachgegangen, inwiefern es sich hierbei um einen erkalteten Erinnerungsort handelt. Bevor die Kriegsgräberstätte Aschendorf in den Kontext der Erinnerung 1 | Werner Boldt et al.: Emslandlager – Zur „Kriegsgräberstätte“, zum Bundeswehrdepot, zur Justizvollzugsanstalt, zum Kartoffelacker... , in: Detlef Garbe (Hg.): Die vergessenen KZs? Gedenkstätten für die Opfer des NS-Terrors in der Bundesrepublik, Bornheim-Merten 1983, S. 69-92, hier: S. 76.
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an die Emslandlager eingeordnet wird, soll zunächst die Geschichte der Lager selbst skizziert werden.
D IE E NTWICKLUNG DER E MSLANDLAGER Die Konzentrationslager Börgermoor, Esterwegen und Neusustrum wurden im Frühjahr 1933 als erste staatliche Konzentrationslager in Preußen zur Internierung sogenannter Schutzhäftlinge errichtet. Entlang der Ems wurden bis 1938 zwölf weitere Lager aufgebaut, die als Konzentrations-, Strafgefangenen-, Kriegsgefangenenlager und Außenlager des KZs Neuengamme fungierten.2 Neben den KZ-Häftlingen und den deutschen Strafgefangenen waren zwischen 1939 und 1945 mehr als 100.000 Kriegsgefangene vor allem französischer, sowjetischer und italienischer Nationalität in den Lagern interniert. Hintergrund des Auf baus der ersten drei Lager im Emsland waren die Massenverhaftungen von politischen Gegnern, die in Folge der am 28. Februar 1933 erlassenen Notverordnung Zum Schutz von Volk und Staat einsetzten.3 Tausende Menschen wurden in den bald stark überbelegten Haftanstalten interniert.4 Die zeitgleich beginnende Planung des preußischen Innenministeriums zum Aufbau eines eigenen staatlichen KZ-Systems sollte u.a. der Entlastung der staatlichen Gefängnisse dienen.5 Am 17. März 1933 erhielt der Regierungspräsident in Osnabrück eine Anfrage des preußischen Innenministeriums nach einem geeigneten Gelände zur Konzentration von bis zu 300 kommunistischen Funktionären. Dies war der Auftakt zur Errichtung des Lagerverbunds im Emsland.6 Bei der Entscheidung für den Standort Emsland spielte neben der Exklusion politischer Gegner 7 ein weiterer Aspekt eine wichtige Rolle: die Moorkultivierung. Denn zentrales Element der Haft war der Gefangeneneinsatz im Moor, der einerseits die Haftkosten decken und andererseits das strukturschwache Emsland urbar machen sollte.8 Der Bau der Lager wurde daher an das Kulturbauamt Meppen delegiert, das umgehend einen Arbeitsplan entwarf. Da 2 | Erich Kosthorst und Bernd Walter: Konzentrations- und Strafgefangenenlager im Emsland 1933-1945: zum Verhältnis von NS-Regime und Justiz, Düsseldorf 1985, S. 19. 3 | Ebd., S. 27. 4 | Kurt Buck: Die frühen Konzentrationslager im Emsland: Börgermoor, Esterwegen und Neusustrum, in: Hanna Eggerath (Hg.): „Deine Kraft musst du behalten...“ Briefe eines jungen Paares zwischen Gefängnis und Konzentrationslager 1933, Düsseldorf 2010, S. 25-35, hier: S. 25.
5 | Kosthorst/Walter: Konzentrations- und Strafgefangenenlager, S. 29. 6 | Ebd., S. 32. 7 | Hierzu zählten auch Juden, Bibelforscher (u.a. die Zeugen Jehovas) und Homosexuelle. 8 | Buck: Die frühen Konzentrationslager, S. 26.
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sowohl lokale Handwerksbetriebe an dem Auf bau der Lager beteiligt waren als auch mit dem Gefangeneneinsatz das Moorland kultiviert werden sollte, stießen die Pläne bei den lokalen Behörden und der Bevölkerung auf positive Resonanz. Sie partizipierten daher aus ökonomischen Motiven bereitwillig am Auf bau des Lagerverbunds.9
D AS L AGER II A SCHENDORFERMOOR UND DER F ALL H EROLD Das Justizgefangenlager II Aschendorfermoor wurde im April 1935 errichtet. Zwischen 1937 und 1940 diente das Lager der Umerziehung politischer Häftlinge, die aus anderen Emslandlagern in Aschendorfermoor zusammengelegt wurden. Die Haftbedingungen für diese Gruppe waren besonders schlecht, da die Menschen bei permanent unzureichender Verpflegung bis zu zehn Stunden im Moor arbeiten mussten. Ab 1940 wurden im Lager II wehrmachtsgerichtlich Verurteilte interniert. Die insgesamt 237 Gefangenen, die aufgrund der schlechten Versorgung im Lager starben, wurden auf dem Friedhof Bockhorst/Esterwegen beerdigt – einen Friedhof Aschendorfermoor gab es zu Lagerzeiten nicht.10 Der Friedhof, dessen Gestaltungsgeschichte im Folgenden dargelegt wird, wurde erst nach Kriegsende angelegt. Seine Entstehung steht im direkten Zusammenhang mit den Ereignissen, die sich im April 1945 zutrugen. Angesichts der Anfang April vorrückenden alliierten Truppen wurden die Lager Brual-Rhede (III), Walchum (IV), Neusustrum (V), Esterwegen (VII) sowie am 10. April das Lager Börgermoor (I) ‚evakuiert‘ und die Gefangenen, in der Mehrzahl wehrmachtgerichtlich verurteilte Deutsche, aber auch zwangsrekrutierte Luxemburger, Richtung Ostfriesland geschickt.11 Die Kriegshandlungen verhinderten ein weiteres Fortkommen kurz vor Leer, sodass die Gefangenen in das Lager Aschendorfermoor getrieben wurden. Wegen starken Nebels und der ungeordneten Verhältnisse während der Märsche gelang etwa 300 bis 400 Gefangenen auf diesem Weg die Flucht. Kurz darauf gingen Anzeigen wegen Plünderungen ein, denn die von der Haft und dem Marsch völlig erschöpften und ausgehungerten Menschen hatten Lebensmittel und Kleidung von der Zivilbevölkerung gestohlen. Viele der Entflohenen wurden jedoch wieder aufgegriffen und in die Arrestbaracke des Lagers Aschendorfermoor gesperrt. Sowohl das Präsidium der Emslandlager als auch die Kreisleitung 9 | Ebd., S. 29. 10 | Habbo Knoch: Die Emslandlager 1933-1945, in: Wolfgang Benz und Barbara Distel (Hg.): Der Ort des Terrors. Geschichte der nationalsozialistischen Konzentrationslager. Bd. II, München 2005, S. 532-570, hier: S. 535.
11 | Knoch: Die Emslandlager, S. 562.
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waren sich einig, dass den Plünderern keine Gnade gewährt werden sollte. Sie ersuchten die Generalstaatsanwaltschaft in Oldenburg um Genehmigung zur Einrichtung eines Standgerichts. Das Gesuch wurde jedoch abgelehnt, da die Staatsanwaltschaft für ein ordentliches Verfahren eintrat.12 In dieser Situation traf am 10. April 1945 der vermeintliche Hauptmann, Willi Herold, und vier Männer seiner ‚Truppe‘ im Lager ein.13 Der neunzehnjährige Gefreite Willi Herold war zuvor von seiner Truppe versprengt worden und hatte auf dem Weg Richtung Emsland eine Hauptmannsuniform gefunden. In dieser verkleidet, scharte er weitere versprengte Soldaten um sich.14 Herold trat selbstbewusst im Lager II auf und behauptete, mit direktem Führerbefehl ausgestattet zu sein, der ihm das Kommando über die Exekution der Entflohenen übertrage.15 Den Verantwortlichen der Kreisleitung sowie der zentralen Lagerverwaltung kam Herolds Erscheinen gelegen und keiner fragte nach entsprechenden schriftlichen Vollmachten.16 Am Abend des 12. April fanden die Massenerschießungen ohne vorhergehendes Verfahren statt. Herold wies Gefangene an, einen Graben auszuheben, vor dem ein Flakgeschütz aufgestellt wurde. Ca. 100 Lagerinsassen wurden zur Exekutionsstätte getrieben. Unter ihnen waren sowohl Häftlinge, die zuvor geflohen waren, als auch solche mit ‚schlechter Führung‘. Sie mussten in Gruppen nacheinander vor den Graben treten, woraufhin das Feuer aus der Flak auf sie eröffnet wurde.17 Die stark verletzten Überlebenden wurden im Anschluss durch Handgranaten und Maschinengewehrsalven getötet.18 Weitere Hinrichtungen von Gefangenen fanden bis zum 17. April statt, sodass insgesamt 162 Menschen ermordet wurden. An den Erschießungen beteiligten sich sowohl Angehörige der Herold-Truppe als auch Wach- und Justizbeamte des Lagers II.19 Am 23. Mai 1945 wurde Willi Herold in Wilhelmshaven von britischen Marineangehörigen verhaftet und als Kriegsverbrecher im Lager
12 | T.X.H. Pantcheff: Der Henker vom Emsland. Dokumentation einer Barbarei am Ende des Krieges 1945, Leer 1952, S. 20-23. 13 | Kosthorst/Walter: Konzentrations- und Strafgefangenenlager, S. 483. 14 | Archiv des Dokumentations- und Informationszentrums Emslandlager (DIZ-Archiv): Unglaubhaft grausam – schrecklich und grotesk. Der Greuelprozeß um die blutige Köpenickiade des Gefreiten Herold, in: Nordwest-Zeitung, 16.8.1946.
15 | Pantcheff: Der Henker vom Emsland, S. 29. 16 | Staatsarchiv Oldenburg, Erw 89, Akz. 198 Nr. 8, Bl. 296-298, Vernehmungsprotokoll Karl Schütte vom 5.2.1946.
17 | Staatsarchiv Oldenburg (StAOld), Erw 89, Akz 198 Nr. 8, Bl. 312, Aussage eines ehemaligen Häftlings vom 1.1.1946.
18 | DIZ-Archiv: Unglaubhaft grausam – schrecklich und grotesk. 19 | StAOld, Erw 89 Akz. 198 Nr. 8, Bl. 186, Vernehmungsprotokoll Willi Herold vom 7.2.1946.
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Nr. 9 Esterwegen interniert.20 Willi Herold und fünf weitere an dem Massaker Beteiligte wurden am 14. November 1946 hingerichtet.21 Im Verfahren, das Ende 1945 von britischen Militärbehörden eingeleitet wurde, gab Herold an, kein überzeugter Nazi gewesen zu sein. Er sei vielmehr kriegsmüde gewesen und habe in der Rolle des Offiziers und Leiters des Exekutionskommandos die Chance ergriffen, nicht zurück an die Front versetzt zu werden.22 Diese Rolle hätte er nie spielen können, wäre ihm nicht der lokale Parteiapparat entgegengekommen, und hätte sich nicht das Justiz- und Wachpersonal der Lager an den Massentötungen beteiligt. Voraussetzung dieses Verbrechens in der Endphase des Kriegs war also die noch nahezu intakte lokale Partei- und Verwaltungsstruktur, die vor dem Hintergrund des nahenden Endes des Dritten Reichs autonom über die Ausschaltung politischer Gegner, Deserteure und Wehrkraftzersetzer entschied.23
D IE K RIEGSGRÄBERSTÄTTE HEUTE Auf dem nach Kriegsende angelegten Friedhof Herbrum/Aschendorfermoor wurden die Opfer des Herold-Massakers beerdigt, wie auch einige im Lager verbliebene Häftlinge, die am 18. und 19. April durch alliierte Bombardements getötet wurden. Insgesamt handelt es sich um 195 Tote, die auf dem Friedhof in Sammelgräbern bestattet wurden.24 Der Friedhof ist über die Bundesstraße 401 und dann abbiegend Richtung Aschendorfer Obermoor zu erreichen. Auf der Landstraße, die von Äckern und wenigen Siedlungen gesäumt ist, weist am Straßenrand ein Schild auf die Kriegsgräberstätte hin. Der Friedhof selbst ist über einen Feldweg zu erreichen und liegt nur einige Fußminuten vom ehemaligen Lagergelände Aschendorfermoor entfernt. Von Bäumen befriedet, ist der von Agrarflächen umgebene Ort optisch abgegrenzt. Der Friedhof ist von einem brüchigen Jägerzaun umschlossen. Man betritt die Gesamtanlage über ein schlichtes, 50 cm niedriges Eingangstor, links hinter der Pforte ist eine kleine Bronzetafel aufgestellt, die über die hier bestatteten Toten informiert. Der Text lautet:
20 | Ebd. Bl. 189. 21 | Pantcheff: Der Henker vom Emsland, S. 230. 22 | StAOld, Erw 89 Akz. 198 Nr. 8, Bl. 183, Vernehmungsprotokoll Willi Herold vom 7.2.1946. 23 | Erich Kosthorst und Bernd Walter: Konzentrations- und Strafgefangenenlager im Dritten Reich. Beispiel Emsland. Dokumentation und Analyse zum Verhältnis von NS-Regime und Justiz, Bd. 3, Düsseldorf 1983, S. 3091.
24 | StAOld, Erw 89 Akz. 198 Nr. 8, Bl. 45-44, Record of proceedings of exhumation at Penal Camp II Aschendorfermoor on 1. Feb 1946.
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„Hier ruhen 195 unbekannte Tote aus den Strafgefangenenlagern Börgermoor, Aschendorfermoor, Brual-Rhede, Walchum, Neusustrum und Esterwegen. Sie wurden in Aschendorfermoor nach einem gescheiterten Evakuierungsmarsch im April 1945 zum grössten Teil das Opfer von Massenerschiessungen durch den angeblichen „Hauptmann“ Herold. Fast ein Viertel kam durch Bombardierungen und Artilleriebeschuss vonseiten der vorrückenden englischen Truppen ums Leben. Nähere Auskünfte erteilt die Stadt Papenburg.“
Ein kleiner Weg führt vom Eingang zum zentralen Mahnmal, einer ca. 1,60 m hohen Stele. Auf dem Weg dahin steht ein quaderförmiges Grabmal sowie ein Findling, der die Staatsgrenze Luxemburgs konturiert. Die drei Erinnerungszeichen – das Grabmal, der Findling und die Stele bilden formal kein stimmiges Bild. Woher rührt diese Pluralität?
D IE G ESTALTUNGSGESCHICHTE DES F RIEDHOFS Die Gestaltungsgeschichte des Friedhofs ist eng mit den Auseinandersetzungen um die ‚richtige‘ Erinnerung an die Emslandlager verflochten. Dabei stehen Verbände ehemaliger Häftlinge und ihnen politisch Nahestehende den lokalen und überregionalen Behörden gegenüber. Nach den von Herold angeordneten Massentötungen der Häftlinge wurden deren Leichen von den Wachmannschaften des Lagers II verscharrt. 1946 ordnete die britische Militärregierung die Exhumierung der Leichen an. Die menschlichen Überreste wurden in drei Sammelgräbern nahe dem ehemaligen Lagergelände beerdigt.25 Über die Gestaltung dieses 1946 angelegten Friedhofs liegen bislang keine Informationen vor.26 Erst mit dem 1952 ergangenen und rückwirkend für das Jahr 1951 in Kraft getretenen „Gesetz über die Sorge für die Kriegsgräber“27 lassen sich in den Beständen des Staatsarchivs Osnabrück Akten über den Friedhof Herbrum/Aschendorfermoor nachweisen. Das Gesetz gab vor, dass die Gräber von Zivilpersonen und Militärangehörigen, die durch direkten Kriegseinfluss verstorben waren, als Kriegsgräber galten.
25 | Kurt Buck: Auf der Suche nach den Moorsoldaten. Emslandlager 1933-1945 und die historischen Orte heute, Papenburg 6 2008, S. 20.
26 | Nach Kriegsende existierte keine einheitliche Regelung zur Pflege der Gräber von Opfern der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft. Die für die Entwicklung des Friedhofs gesichteten vier Bestände im Staatsarchiv Osnabrück dokumentieren diese erst, nachdem das Kriegsgräbergesetz 1952 eingeführt wurde und die Verwaltung damit organisiert war. Vgl. die Bestände im StAOsn: Rep 430 Dez 207 Akz. 48/90 Nr. 76 Teil 1-2; Rep 430 Dez 207 Akz. 48/90 Teil 2; Rep 430 Dez 207 Akz. 48/90 Nr. 93; Rep 675 Mep Nr. 98; Rep 430 Dez 207 Akz. 48/90 Nr. 100.
27 | BGBl I 1952/23.
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Dieser Einordnung zufolge wurde das ewige Ruherecht begründet. Über das Ruherecht hinaus wurde im Kriegsgräbergesetz festgelegt, dass der Bund von nun an die Pflegekosten übernahm, die Länder jedoch für die Grabpflege zuständig waren, das heißt die Friedhöfe entsprechend ihres zugewiesenen Etats gestalteten und instand setzten. Während die Gräber der Opfer der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft in einem separaten Paragraph erwähnt wurden und damit auch auf Kosten des Bundes gepflegt werden sollten, zählten sie jedoch ausdrücklich nicht zum Personenkreis, für den das ewige Ruherecht galt. Diese Gräber sollten also nach Ablauf der Ruhezeiten eingeebnet werden.28 Als Vorgriff auf dieses Gesetz fungierte der Schnellbrief vom 16. April 1951 des niedersächsischen Innenministers, Richard Borowski (SPD). Darin wurde die Verantwortung für die Pflege der KZ-Grabstätten im Landkreis Aschendorf-Hümmling dem Regierungspräsidium Osnabrück übertragen sowie eine Besichtigung der Grabstätten durch Referenten des Innenministeriums angekündigt.29 Wenige Tage später ging der Befund der Referenten ein, der den „trostlosen“30 Zustand des Friedhofs bilanzierte, dessen Instandsetzung erhebliche Mittel erfordere.31 Im Juni wurde der Landschaftsarchitekt Oswald Langerhans mit der Neuplanung der Anlage beauftragt. Die Gestaltungsarbeiten delegierte Langerhans an den Gartenbaubetrieb Stöhr, da dieser bereits die Gestaltung „ähnlicher Anlagen“32 für den Volksbund deutsche Kriegsgräberfürsorge durchgeführt hatte. Der Entwurf für das Grabmal sah einen Kubus mit flachem Pyramidendach (1,70 m hoch, 1,30 m breit) vor, der mit einem Relief in Form eines Lorbeerkranzes sowie der Inschrift „Dem Andenken der hier ruhenden Toten versehen war“.33 Dieses Denkmal, das noch heute existiert, wurde am Rande der drei Gräberfelder aufgestellt, die jedoch nicht als solche gekennzeichnet wurden. Die Gestaltung des Denkmals und der Gräberfelder griff die Gestaltungsprinzipien der Anonymisierung und Monumentalisierung auf – Formeln des Gefallenengedenkens, die vom ‚Chefarchitekten’ des Volksbundes Deutsche Kriegsgräberfürsorge, Robert Tischler, begründet worden waren.34
28 | BGBl I 1952/23. 29 | Staatsarchiv Osnabrück (StAOsn), Rep 430 Dez 207 Akz. 48/90 Nr. 93, Erlass des Niedersächsischen Ministerium für Inneres vom 16.4.1951.
30 | StAOsn, Rep 430 Dez 207 Akz. 48/90 Nr. 93, Bericht vom 2.5.1951. 31 | Ebd. 32 | StAOsn, Rep 430 Dez 207 Akz. 48/90 Nr. 93, Auftragsbestätigung Langerhans an Regierungspräsidenten Osnabrück vom 23.6.1951.
33 | StAOsn, Rep 430 Dez 207 Akz. 48/90 Nr. 93. 34 | Meinhold Lurz: Kriegerdenkmäler in Deutschland, Bd. 5, Heidelberg 1985, S. 123.
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Die allgemein gehaltene Inschrift des Denkmals enthält daher keinen Hinweis auf die Hintergründe der Toten oder die Umstände ihres Todes.35 Auf diesen Missstand wies 1956 die Emsland-Lagergemeinschaft Moorsoldaten, eine Organisation ehemaliger politischer Häftlinge der Emslandlager, in ihrem Bekanntmachungsblatt hin. Mit Blick auf die Inschrift des Denkmals stellten sie die bedeutende Frage: „Welcher Toten soll hier gedacht werden? Soll der Besucher des Friedhofs nicht erfahren, wer hier liegt und warum?“36 Weiterer Protest vonseiten der Moorsoldaten wurde hinsichtlich der drohenden Einebnung des Friedhofs laut. Im Januar 1957 forderte die Emsland-Lagergemeinschaft daher in einem offenen Brief an die Bundesregierung, die Aufsicht über die Pflege und Erhaltung der Friedhöfe zu übernehmen. Darüber hinaus traten sie nachdrücklich für die Errichtung eines zentralen Mahnmals auf Kosten der Bundesregierung ein, das die Formel tragen sollte: „Den Ermordeten zum Gedächtnis – den Lebenden zur Mahnung!“37 Diese Petition aus dem Jahre 1957 repräsentiert den ersten öffentlich ausgehandelten Konflikt um die Erinnerung an die Emslandlager. Brisanz gewann dieser Konflikt, da die Organisation der Moorsoldaten, die vielfach personelle Überschneidungen mit der Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes (VVN) hatte, unter Beobachtung des Verfassungsschutzes stand. In der Korrespondenz zwischen dem damaligen niedersächsischen Innenminister, August Wegmann (CDU), und dem Bundesinnenminister, Gerhard Schröder (CDU), wurde daher betont, dass es sich bei der Emslandlagergemeinschaft um eine „unter kommunistischem Einfluß stehende Organisation“ handele.38 Vor dem Hintergrund des Kalten Krieges verwundert es nicht, dass die Forderungen keine weitere Berücksichtigung fanden. Zwischen 1951 und 1964 sind anhand der Behördenakten keine weiteren Erinnerungsaktivitäten nachweisbar. Erst 1964 beantragte die Regierung Osnabrück beim niedersächsischen Innenministerium Gelder für die Ausgestaltung des Friedhofs. Hierbei sollte es sich um Grabmarkierungen in Form von unregelmäßig aufgestellten Steinkreuzen handeln. Das Innenministerium lehnte diesen Vorschlag mit der Begründung ab, dass „die für das Aufstellen von Grabkreuzen veranschlagten Kosten unangemessen hoch“ seien.39 Als Alternative wurden Stelen genannt, deren Anfertigung die Kosten von 80 DM
35 | Helmut Schoenfeld: Grabzeichen für Soldaten, in: Arbeitsgemeinschaft Friedhof und Denkmal/Museum für Sepulkralkultur Kassel (Hg.): Grabkultur in Deutschland. Geschichte der Grabmäler, Berlin 2009, 263-285.
36 | DIZ-Archiv: Der Moorsoldat 1. Jg. Nr. 1, 8./9.9.1956. 37 | DIZ-Archiv: Der Moorsoldat 2. Jg. Nr. 1, 15.1.1957. 38 | StAOsn Rep 430 Dez 207Akz 48/90 Nr. 93, Stellungnahme des niedersächsischen Innenministers vom 13.5.1957.
39 | StAOsn Rep 430 Dez 207 Akz. 48/90 Nr. 100.
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je Grabzeichen nicht übersteigen würden.40 Das Aufstellen von Stelen oder Grabkreuzen wurde jedoch nie veranlasst, sodass auch heute keine Zeichen explizit die Sammelgräber lokalisieren oder implizit die Gräber erst als solche ausweisen. An diesem Missstand änderte zunächst auch das reformierte Gräbergesetz aus dem Jahre 1965 nichts. Das Gesetz war um den wichtigen Satz ergänzt worden, welche Funktion der Erhalt der Gräber erfüllt, nämlich „die Erinnerung daran wach zu halten, welche schrecklichen Folgen Krieg und Gewaltherrschaft haben“.41 Damit galt nun auch das ewige Ruherecht für die Gräber der Opfer der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft.42 Dies war bereits acht Jahre zuvor von der Emslandlagergemeinschaft gefordert worden, ohne auf Gehör zu stoßen. Doch das niedersächsische Innenministerium sah auch nun keinen Handlungsbedarf hinsichtlich der Instandsetzung und Gestaltung des Friedhofs und stellte erst 1974 knapp 3.000 DM zur „Wiederherstellung“ bereit.43 Laut Bertold Kruse, einem ehemaligen Häftling des Lagers Aschendorfermoor und ab 1955 Vorsitzender der Lagergemeinschaft Moorsoldaten, wurde die zentrale Stele in den 1960er Jahren von einer Gewerkschaftsgruppe aus dem Ruhrgebiet gestiftet.44 Sie trägt die Aufschrift: „Zu Ehren der hier ruhenden Opfer der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft“. Damit gehörte die Gewerkschaftsgruppe zu den ersten Akteuren, die neben den behördlichen Initiativen die Erinnerung an diesen Ort aktiv gestalteten. Das dritte Denkmal, der Findling mit der Inschrift „Zum Gedenken der Luxemburger, die hier litten und starben. Dir sid net vergiess!“, wurde 1985 von der Féderation de victimes de Nazisme. Enrólées de Force Luxembourg gestiftet. Das Denkmal erinnert an die zwangsrekrutierten Luxemburger, von denen viele desertierten und daraufhin in die Kriegsgefangenenlager im Emsland verschleppt wurden. Unter den wehrmachtsgerichtlich Verurteilten, die Opfer des Massakers wurden, waren daher auch Luxemburger.45 Die oben erwähnte
40 | Ebd. 41 | BGBl I 1965/589, §1 Anwendungsbereich (1), Gesetz über die Erhaltung der Opfer von Krieg und Gewaltherrschaft vom 1.7.1965.
42 | BGBl I 1965/589, §1 Anwendungsbereich (4), Gesetz über die Erhaltung der Opfer von Krieg und Gewaltherrschaft vom 1.7.1965: Gräber von Personen, die als Opfer nationalsozialistischer Gewaltmaßnahmen seit dem 30. Januar 1933 ums Leben gekommen sind oder an deren Folgen bis 31. März 1952 gestorben sind.
43 | StAOsn, Rep 430 Dez 207 Akz. 4890 Nr. 76 Teil 1-2. 44 | DIZ-Archiv: DGB Kreis Oldenburg, AStA der Carl von Ossietzky Universität, Arbeiterfotografie Oldenburg, Moorkomitee (Hg.): „Wir sind die Moorsoldaten. Emslandlager. Eine Dokumentation“, o.J., S. 9.
45 | Knoch: Die Emslandlager, S. 559.
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Bronzetafel am Eingang des Friedhofs wurde in den 1990er Jahren auf Initiative des Landkreises aufgestellt. Die Entwicklung der Kriegsgräberstätte Herbrum/Aschendorf zeigt, dass bis in die jüngste Vergangenheit Initiativen zur Gestaltung der Erinnerung an die Opfer des Herold-Massakers von außen induziert wurden – sowohl durch gesetzliche Neuerungen als auch durch überregionale Akteure. Der Luxemburger Gedenkstein und das von der Gewerkschaftsgruppe gestiftete Mahnmal repräsentieren den Einfluss überregionaler Akteure auf die Memorialgestaltung. Diese Erinnerungszeichen sind symptomatisch für die emsländische Erinnerungslandschaft, denn nicht nur auf dem Herold-Friedhof, sondern auch auf den anderen acht Friedhöfen spiegelt die Vielzahl disparater Denkmäler, dass überregionale, nicht-staatliche Akteure maßgeblich die Erinnerungskultur gestalteten. Die lokalen Behörden erinnerten nur widerwillig an die Emslandlager als Teil der Regionalgeschichte. Erst in den 1990er Jahren wurde der Landkreis aktiv und ließ Hinweisschilder und Informationstafeln aufstellen. Stellten die Kriegsgräberstätten bis in die jüngste Vergangenheit die einzigen gestalteten Erinnerungsorte im Emsland dar, so änderte sich dies mit der Eröffnung der zentralen Gedenkstätte auf dem ehemaligen Lagergelände Esterwegen im Jahre 2011. In der Gedenkstätte, die vornehmlich vom Landkreis Emsland finanziert wird, wird die Geschichte des Emslandlagerverbunds sowie die Nachgeschichte der Lager präsentiert. Auch das Verbrechen der Kriegsendphase im Lager Aschendorfermoor sowie der Prozess gegen Willi Herold und 13 andere Angeklagte sind Teil der Dauerausstellung. Die Gedenkstätte ist ein Zeichen für die Institutionalisierung und Zentralisierung der Erinnerung an die Emslandlager. Die Frage ist jedoch, ob hiermit die kommemorative Funktion der Kriegsgräberstätten obsolet wird. „Diese Friedhöfe sind so versteckt angelegt, daß ein Fremder, der einmal zufällig in der Nähe vorübergehen würde, nicht mal auf den Gedanken käme, daß hier ein Massenfriedhof liegen könnte.“46
Dieses Zitat stammt von einem Mitglied der Emsland-Lagergemeinschaft Moorsoldaten aus dem Jahre 1956. Der ehemalige Häftling deutete den schlechten Pflegezustand der Friedhöfe sowie die fehlende Beschilderung und Zuwegung als Teil der apologetischen Haltung der regionalen Behörden und Bevölkerung. Wenngleich die neun Begräbnisstätten mittlerweile markiert sind, werden sie heute in ihrer Funktion als Erinnerungsorte kaum beachtet. Schauplatz von Gedenkritualen ist gegenwärtig allein die Begräbnisstätte Esterwegen/Bock-
46 | DIZ-Archiv: Der Moorsoldat. Mitteilungsblatt der Emsland-Lagergemeinschaft Moorsoldaten (2), 1/1957.
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horst – hier findet einmal jährlich eine Gedenkveranstaltung der deutsch-niederländischen Initiative 8. Mai statt.47 Auf der Kriegsgräberstätte Herbrum/Aschendorf lassen Leergut und Müll darauf schließen, dass die Gräberfelder als Trinklokalität gebraucht werden.48 Gegen diese Tendenz der Aneignung des Erinnerungsortes richtet sich die Initiatorin des Geocaching (‚elektronische Schnitzeljagd‘) am Friedhof Herbrum sowie an anderen Kriegsgräberstätten. Beim Geocaching werden Caches (Behälter) an verschiedenen Orten versteckt und diese dann von anderen Personen gesucht. Auf Internet-Plattformen wie geocaching.com werden die geografischen Koordinaten der Caches sowie knappe Hintergrundinformationen zu den Orten veröffentlicht. Mit Hilfe eines GPS-Empfängers können diese dann gesucht werden.49 Der Initiatorin des Geocaching am Herold-Friedhof geht es nicht allein um die spielerische Erkundung, sondern auch darum, auf den historischen Ort hinzuweisen. Sie selbst ist in der Region ansässig und hat es sich zum Ziel gemacht, auf die Pflege des Ortes zu achten und zum verantwortungsvollen Verhalten auf dem Friedhof aufzurufen.50 Die historische Entwicklung der Kriegsgräberstätte Herbrum/Aschendorfermoor repräsentiert beispielhaft die Erinnerungskultur im Emsland, die von Verdrängung und Tabuisierung geprägt ist – gespiegelt in den fehlenden Hinweisen und Informationen vor Ort. Erst durch überregionale Impulsgeber entstand die heutige Memorialgestaltung. Gegenwärtig spricht jedoch die Vernachlässigung des Friedhofs Herbrum/Aschendorfermoor für den Bedeutungsverlust dieses Ortes. Wenngleich das von Herold initiierte Blutbad überregionale Strahlkraft ausübt, handelt es sich hierbei um einen erkalteten Erinnerungsort. Die Konflikte der Vergangenheit um die Erinnerungsgestaltung sprechen dagegen, dass es sich um einen gänzlich vergessenen Ort handelt, jedoch ist die Erinnerung an das historische Ereignis vor Ort verblasst. Über die Gründe hierfür kann bislang nur spekuliert werden, möglicherweise trugen die fehlende Benennung der Opfer und die mangelhaften Kontextinformationen dazu bei. Das Geocaching bietet einen Ansatz, die Orte wiederzuentdecken. Jedoch ist die Funktion dabei allein indexikalisch, da keine tieferen kontextualisierenden Informationen geboten werden. Eine Herausforderung
47 | Die Initiative organisiert seit 1985 jährlich eine Kundgebung auf der Begräbnisstätte Esterwegen/Bockhorst. Mitwirkende sind dabei u.a. der VVN-BdA Oldenburg, die Linke und die Grünen, vgl. Gedenkstättenrundbrief 100, http://www.gedenkstaettenforum.de/nc/ gedenkst aet ten-rundbrief-/rundbrief/news/die_bedeutung _des _authentischen_in_der_ bildungsarbeit_des_diz_emslandlager/ [5.5.2014].
48 | Eine Erhebung der Besucher/innenzahlen steht bislang aus. 49 | Holger Vornholt: Geocaching. Schatzsuche mit GPS, Köln 2013, S. 7. 50 | E-Mail-Korrespondenz mit cacher10000 vom 23.02.2014. Weitere Informationen über den biographischen Hintergrund dieser Akteurin sind bisher nicht verfügbar.
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für regionale Akteure wird es zukünftig sein, die sich in die Landschaft eingeschriebenen Erinnerungsspuren sichtbar zu machen. Hierzu zählt nicht allein die Memorialgestaltung, sondern auch die kultivierte Landschaft, die ein Verweis auf den historischen Gefangeneneinsatz ist. Die Sichtbarmachung und Vernetzung der Erinnerungsschichten ist dabei Aufgabe der Erinnerungsarbeit und kann in Zukunft nicht auf materialisierte Erinnerungsformen begrenzt sein.
Das Lernen über den Holocaust via Internet Möglichkeiten und Fallstricke 1 Juliane Wetzel
Die Ausstrahlung der vierteiligen amerikanischen Fernsehserie Holocaust Ende der 1970er Jahre hat trotz ihrer fiktiven Geschichte, die manche als Seifenoper bezeichneten, nicht nur in Deutschland zur Einführung eines neuen Begriffs für die nationalsozialistische Vernichtung der Juden geführt, sondern auch eine breite öffentliche Auseinandersetzung mit der NS-Rassenpolitik angestoßen.2 In den 1980er Jahren wurde in vielen Ländern darüber diskutiert, wie das Thema Holocaust nachhaltiger in die Erziehungsarbeit eingebunden werden könnte.3 International hat sich für die pädagogische Auseinandersetzung mit dem Holocaust in Forschung und Praxis der Begriff ‚Holocaust-Education‘ durchgesetzt. Die Gründung der Task Force for International 1 | Der hier präsentierte Beitrag basiert z.T. auf Ausführungen der Autorin zur „HolocaustEducation“ (August 2008) für die Bundeszentrale für politische Bildung für die Rubrik Geschichte und Erinnerung auf deren Webseite, http://www.bpb.de/geschichte/zeitgeschichte/geschichteund-erinnerung/39843/holocaust-erziehung [21.1.2014]. 2 | Christoph Classen (Hg.): Die Fernsehserie „Holocaust“. Rückblicke auf eine „betroffene Nation“. Beiträge und Materialien, in: Zeitgeschichte-online, 2004, http://www.zeitgeschichteonline.de/themen/die-fernsehserie-holocaust [20.1.2014]. 3 | Dazu Reinhold Boschki und Wilhelm Schwendemann: „I can’t hear it any more!“ – Education after and about Auschwitz in Germany. Contribution for: Prospects – UNESCO Quarterly Review of Comparative Education Special Issue on ‚Policies and Practices of Holocaust Education: International Perspectives‘, 2010, http://www.eh-freiburg.de/inc/template/ehfreiburg/de/Pdf/ hochschule/FIM/UNESCO-journal-Holocaust%20Education-Germany-deutsch-D-30-05-2009. pdf [21.1.2014]; Matthias Heyl: Erziehung nach Auschwitz. Eine Bestandsaufnahme: Deutschland, Niederlande, Israel, USA, Hamburg 1997; Ders.: Der Holocaust im Unterricht – Entwicklungen der letzten 20 Jahre, in: Duitsland Instituut Amsterdam bij de Universiteit van Amsterdam (Hg.): Forschungsberichte 2010 – Global Regional, Macht, Ohnmacht, Gegenmacht. Themenschwerpunkt: Gelernte Erinnerung, http://www.uni-muenster.de/imperia/md/content/ germanistik/lehrende/birkmeyer_ j/forsch_6-1.pdf [21.1.2014], S. 58-76.
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Cooperation on Holocaust Education, Remembrance and Research (ITF) im Jahr 1998 reflektiert diese Entwicklungen und ist Ausdruck und Ergebnis dessen, was heute als Globalisierung der ‚Holocaust-Erziehung‘ zu bezeichnen ist. Inzwischen gehören der Organisation, die 2013 in International Holocaust Remembrance Alliance (IHRA) umbenannt wurde, 31 Länder an. Unter ‚Holocaust-Erziehung‘ wird heute nicht so sehr eine Vermittlung kognitiven Wissens über den Holocaust verstanden, sondern vielmehr eine Moral- und Werteerziehung, die gegen Rassismus, Rechtsextremismus, Antisemitismus, Fremdenfeindlichkeit und vieles mehr immunisieren soll und das eigentliche Geschehen immer weiter in den Hintergrund treten lässt. Die Vermittlung historischen Wissens steht dabei nicht mehr im Mittelpunkt. Die Auseinandersetzung mit Erinnerungsabwehr und Schuldprojektionen auf die Opfer des Holocaust, die zu einem sekundären Antisemitismus, also einem Antisemitismus wegen Auschwitz führen können, bleibt außen vor. Es ist ein Trugschluss zu glauben, dass sich der Holocaust in der schulischen Vermittlung an Kinder und Jugendliche von heute zum bloßen historischen Ereignis reduzieren lässt. Öffentliche Auseinandersetzungen um das Gedicht von Günter Grass Was gesagt werden muss oder die Beschneidungsdebatte im Jahr 2012, NS-Vergleiche wie zuletzt in der Ukraine-Krise und Debatten um Erinnerungsnarrative, die etwa in eine Gleichsetzung von nationalsozialistischem und stalinistischem Terror münden, haben immer wieder gezeigt, dass der Holocaust Teil der politischen Kultur der Bundesrepublik ist und als solcher durchaus aktuelle Bezüge aufweist und aktuelle Diskurse bestimmt. Dies wird auch den nachwachsenden Generationen nicht erspart bleiben. Allerdings müssen die Inhalte der Holocaust-Erziehung den veränderten Lebenssituationen jeder neuen Generation angepasst werden. Pädagogische Konzepte, die vor Jahren noch wirkungsvoll waren, müssen dies nicht auch heute noch sein. Zumal mit den neuen Medien eine Fülle von ungefilterten Informationen auf Kinder und Jugendliche einstürmen, die ihre Urteils- und Aufnahmefähigkeit bei weitem übersteigen. Der Holocaust mag als Schablone für viele aktuelle Probleme wie Asyl, Flucht, Genozid, Verhältnis von Mehrheit und Minderheit oder Fremdheitsgefühle im eigenen Land dienen, also auch als Teil einer Toleranzerziehung verstanden werden, es besteht allerdings die Gefahr einer Gleichsetzung, die letztlich zu einer Verharmlosung des Holocaust führen kann. Der Unterricht über den Holocaust darf nicht als Vehikel für eine Erziehung zu Toleranz, zu demokratischem Bewusstsein und zu Menschenrechten missbraucht werden. Schüler gewinnen Toleranz und Einsicht in demokratische Werte und Menschenrechte nicht erst durch das negative Beispiel des Holocaust. Anleitungen für Verhalten und Haltung suchen und finden Kinder und Jugendliche heute eher durch aktuelle Erfahrungen, nicht in einer Replik auf historische Ereig-
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nisse.4 Zum aktuellen Erfahrungshorizont von Kindern und Jugendlichen gehört aber auch die Informationsflut, die sie via Internet erreicht und die – ohne führendes Eingreifen von Eltern und Lehrern – Verhalten und Haltung in die falsche Richtung lenken kann, weil es an der Fähigkeit mangelt, die Informationen einzuordnen und zu reflektieren.
D IE MEDIALE W ELT UND DAS I NTERNET Jugendliche, aber auch Kinder nutzen das World Wide Web ebenso als Spielwiese wie als Hilfsmittel für schulische Belange oder als Plattform, über die sie in Chaträumen oder in den sozialen Netzwerken kommunizieren können. Die jugendlichen Nutzer, die einen kritischen Umgang mit der Datenflut nicht gelernt haben, sind dabei allerdings auch der Gefahr ausgesetzt, unvorbereitet auf unseriöse und propagandistische Seiten zu gelangen, deren Inhalte sie nicht hinterfragen. Deshalb gilt es, diesem Medium eine größere Aufmerksamkeit im Bildungsbereich beizumessen. Schüler und Lehrer müssen gemeinsam Strategien erarbeiten, wie sie das Internet als Informationsquelle nutzen können und dabei gleichzeitig lernen, die transportierten Daten zu filtern. Bei der Vermittlung einer solchen Medienkompetenz muss auch thematisiert werden, dass Präsenz und Umfang einer Internetplattform nichts über Größe oder Einfluss der jeweiligen politischen Gruppierung aussagen. So kann eine kleine unbedeutende Splittergruppe mit Hilfe einer visuell und technisch hervorragend gestalteten Homepage den Eindruck erwecken, sie sei von beträchtlicher politischer Bedeutung. Gerade im Bezug auf die Geschichte des Nationalsozialismus und des Holocaust sind Kinder und Jugendliche durch den weltweiten elektronischen Datenaustausch politisch unterschiedlicher Gruppierungen, die den Antisemitismus als einigendes Thema entdeckt haben und das Internet als Agitations- und Kommunikationsmedium nutzen, den Gefahren antisemitischer Indoktrination ausgesetzt. Hier findet in den letzten Jahren auch der fundamentalistische Islam, der sich etwa seit Mitte der 1990er Jahre mehr und mehr der ‚Auschwitzlüge‘ als eines politischen Instrumentes bedient, Anknüpfungspunkte. Als Transportmittel dieser sich im Wesentlichen gegen Israel, aber auch gegen die Juden in der Welt insgesamt richtenden Vorurteile dienen Weltverschwörungsphantasien und die Verharmlosung, wenn nicht gar Negation des nationalsozialistischen Genozids an den Juden. Das World Wide Web als leicht zugängliches, anonymes Kommunikations- und Propagandamedium 4 | Vgl. Falk Pingel: Unterricht über den Holocaust. Eine kritische Bewertung der aktuellen pädagogischen Diskussion, in: Eduard Fuchs, Falk Pingel und Verena Radkau (Hg.): Holocaust und Nationalsozialismus, Innsbruck et al. 2002, S. 11-23, hier: S.13.
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wird nicht nur von radikalen Islamisten genutzt, um solche Inhalte zu verbreiten. Auch die Rechtsextremen vernetzen sich untereinander weltweit über diese Themen. In den letzten Jahren wurde deutlich, dass Gruppierungen aus beiden Lagern über Internet und Newsgroups beziehungsweise Chatforen und Blogs in Verbindung stehen und, trotz unterschiedlicher politischer Ziele, mit der Verbreitung der ‚Auschwitzlüge‘ ein gemeinsames Interesse verfolgen, das der Delegitimierung Israels dient.5 Eine solche Delegitimierung hat ihre Wurzeln in den Vorstellungen einer imaginierten Macht ‚der Juden‘, die auf der über ein Jahrhundert alten antisemitischen Fälschung der Protokolle der Weisen von Zion aus dem zaristischen Russland basiert. ‚Den Juden‘ oder ‚den Israelis‘ wird in verschwörungstheoretischem Sinne zugeschrieben, sie würden als Kollektiv der Opfer des Holocaust handeln und heutige Regierungen unter Druck setzen, nach ihren Vorstellungen zu handeln. Die Protokolle gehören seit ihrem Entstehen Anfang des 20. Jahrhunderts zum Handwerkszeug aller rechtsextremen Ideologen.6 Die Protokolle haben – obgleich sie bereits seit den 50er/60er Jahren in der islamischen Welt kursieren – inzwischen auch vehement Einzug in die antizionistische Propaganda radikaler Islamisten gehalten. Solche verschwörungstheoretischen Legenden werden in aktuelle Zusammenhänge gestellt und zur politischen Waffe missbraucht, um zu unterstellen, die amerikanische Politik, aber auch die europäischen Staaten würden auf Druck einer vermeintlich jüdischen Weltmacht im Nahost-Konflikt auf Seiten Israels stehen.7 Folgt man dem in Schweden lebenden ehemaligem marokkanischen Staatsbürger Ahmed Rami, der im Internet Islamisten und Holocaustleugner vernetzt, so wird
5 | Vgl. Juliane Wetzel: Antisemitismus und Holocaustleugnung als Denkmuster radikaler islamistischer Gruppierungen, in: Bundesministerium des Innern (Hg.): Extremismus in Deutschland. Erscheinungsformen und aktuelle Bestandsaufnahme, Berlin 2004, S. 53-272. 6 | Solche Angebote finden sich etwa auch bei Radio Islam oder bei den italienischen rechtsextremen bzw. pro-arabischen/pro-palästinensischen Internetseiten Associazione ItaliaIraq (accii.it), Oltre la Verità Ufficiale (disinformazione.it), aber auch bei spanischen Homepages wie die der Nuevo Orden (nuevorden.net), einer Gruppe, die mit der gesamten rechtsextremen Szene verlinkt ist und Ähnlichkeiten mit der militant rechtsextremen amerikanischen Stormfront. org aufweist. 7 | Vgl. etwa Seiten aus dem Umfeld der Hisbollah, die die Protokolle der Weisen von Zion anbieten und damit beweisen wollen, dass dieses Pamphlet „die Basis für das Verhalten der Juden“ sei und „ihre Seele nichts außer Korruption enthalte“. Die Leser sollten diese Protokolle studieren, um „darüber Bescheid zu wissen, wie rassistisch und destruktiv das Denken der Juden“ sei. AntiDefamation League, 2002: Jihad Online: Islamic Terrorists and the Internet, http://archive.adl. org/internet/jihad_online.pdf [2.6.2014], S. 27.
Das Lernen über den Holocaust via Internet
„Antisemitismus und Antijudaismus [...] auch weiterhin das stärkste Mittel der Regierungen in der muslimischen Welt sein“.8 Holocaust-Leugnung, antisemitische Verschwörungstheorien und eine judenfeindliche Stereotypisierungen rezipierende Israelkritik scheinen geradezu Konjunktur zu haben und bilden durch ihre weltweite Verbreitung via Internet einen leicht zugänglichen Bodensatz, den Jugendliche und junge Leute unreflektiert übernehmen. Die Erkenntnis der Brisanz dieses Mediums scheint mir bis heute noch zu wenig verbreitet. Lehrer empfehlen ihren Schülern das Internet als potentielles Nachschlagewerk oder als Informationsquelle für Referatsthemen, ohne sie im kritischen Umgang damit zu unterweisen, sodass sie Gefahr laufen, sich Halbwissen anzueignen, dem jegliche Kontextualisierung fehlt. Bildungsserver und Nichtregierungsorganisationen (NGOs) haben erst in jüngster Zeit damit begonnen, das Internet zu nutzen, um neue Formen der Auseinandersetzung zu entwickeln, die der Flut von Legenden, Lügen und Verharmlosungen, die über das World Wide Web Verbreitung findet, Wissen entgegensetzen und einer dichotomen Weltsicht entgegenwirken, die nur Schwarz und Weiß bzw. Gut und Böse kennt. Die Informationen im Internet sind häufig stark fragmentiert und ihre Zuverlässigkeit lässt sich nicht ohne weiteres entschlüsseln. Es bedarf eines fundierten Hintergrundwissens, um diese Fülle von Daten einordnen zu können. Zweifellos ist das Internet eine Informationsplattform, die viele nützliche Inhalte bietet, die es aber von den ebenso zahlreichen Halbwahrheiten und Legenden zu trennen gilt. Die Aufforderung von Lehrern – ‚Schau doch mal im Internet nach‘ – ist naiv. Gewinnbringend kann dies nur sein, wenn der Nutzer über ein fundiertes Wissen und eine ausgereifte Medienkompetenz verfügt. Jugendlichen fehlt diese Voraussetzung, weshalb sie leicht überfordert sein können. Deshalb müssen Schüler bei der Arbeit mit dem Internet begleitet werden. Es kann durchaus ein Lernresultat sein, wenn Lehrer gemeinsam mit den Schülern erforschen, welche Gefahren das Thema Holocaust bei einer Recherche im Internet birgt. Dies erfordert allerdings eine Kompetenz der Pädagogen, die sie sich bisher nur durch Eigeninitiative aneignen konnten. Auch Unterrichtsmaterial, das im Netz bereitgestellt wird, muss von Lehrern und Pädagogen entsprechend aufgearbeitet werden, bevor die Schüler aufgefordert werden, damit zu arbeiten. Kleinere Rechercheaufgaben im Internet können die Attraktivität des Themas steigern, müssen aber entsprechend vorbereitet werden.
8 | Rami reproduziert diese und ähnliche Statements in vermeintlich intellektuell anmutenden, langatmigen Texten bis heute auf seiner Homepage, vgl. Radio Islam, http://radioislam.org/ islam/deutsch/deutsch.htm [21.3.2014].
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D IE B ILDSPRACHE Sowohl in Lehrbüchern als auch im Unterricht und in Materialien, die über das Internet frei erhältlich sind, werden häufig Propagandabilder von Juden aus der Zeit des Nationalsozialismus gezeigt und eingesetzt. Obwohl dies in der Absicht geschieht, Jugendliche gegen die Wirkung des Propagandamaterials zu wappnen, besteht das Risiko, das Gegenteil zu erreichen und Jugendlichen überhaupt erst antisemitische Klischees über das vermeintliche Aussehen von Juden und die angeblich damit verbundenen Charaktereigenschaften zu vermitteln. Viele Lehrkräfte verfügen nicht über die notwendigen Kenntnisse, um die Bilder dekonstruieren zu können, deren Wirkung vielfach erst nach einer eingehenden Analyse zu verstehen ist. Zudem wird eher selten thematisiert, was die propagandistisch eingesetzte Bildsprache für die verfolgten Juden bedeutete. Werden solche stereotypen Illustrationen nicht gebrochen, ist kaum eine Sensibilisierung für die transportierten Inhalte zu erzeugen und der Bildbetrachter wird sich nur schwerlich davon distanzieren können. Wird antisemitisches Propagandamaterial unsachgemäß im Unterricht eingesetzt, besteht die Gefahr, dass Schüler dieses in anderen Kontexten verwenden oder lächerlich machen, um sich nicht damit auseinandersetzen zu müssen. Das Internet lebt von Visualisierungen und macht es deshalb so attraktiv für junge Menschen. Diesem Bedürfnis wollen Webdesigner entsprechen. Fehlt die Reflexion der beteiligten Pädagogen an solchen Webprojekten, erheben sie keinen Einspruch, dann setzt sich die Bildsprache in den Köpfen der Rezipienten fest oder es besteht zumindest die Gefahr einer Trivialisierung der Ereignisse.9 Gut auf bereitete, seriöse Webseiten hingegen gehen mit Bildern sorgfältig um und vermeiden mediale Spielereien. Es stellt sich aber bisweilen auch hier das Problem, dass Juden immer nur als Opfer visualisiert und damit stigmatisiert werden.10 Dies gilt auch für Texte, allerdings bleiben Bilder und visuelle Eindrücke im Gedächtnis eher haften.
9 | Vgl. dazu ausführlich: Antisemitismus in Deutschland. Erscheinungsformen, Bedingungen, Präventionsansätze. Bericht des unabhängigen Expertenkreises Antisemitismus, Berlin 2011. 10 | Das inzwischen auf Schulhöfen verbreitete Schimpfwort ‚Du Jude‘ kann durchaus die Konnotation von ‚Du Opfer‘ haben – eine ebenso virulente Verbalinjurie, vgl. Juliane Wetzel: „Ist Jude ein Schimpfwort?“: Zum Verhältnis von Antisemitismus, Rassismus und Fremdenfeindlichkeit in der Pädagogik, in: Zentralwohlfahrtsstelle der Juden in Deutschland e.V. (Hg.): Das Dilemma der Differenz. Zum pädagogischen Umgang mit Unterschieden und Ausgrenzung, Frankfurt a.M. 2010, http://www.zwst-perspektivwechsel.de/pdf/pw-broschuere-tagung-2010-email.pdf [20.1.2014].
Das Lernen über den Holocaust via Internet
D EBATTEN UND D ISKURSE IM ÖFFENTLICHEN R AUM Debatten über wichtige gesellschaftspolitische Fragen finden heute – neben den klassischen Medien – auch im Internet statt, das in den letzten Jahren mehr und mehr zum Ort der politischen Kommunikation geworden ist. Vor allem die Kommentarleisten der online-Ausgaben der Tageszeitungen spiegeln die Haltungen der sogenannten Mitte der Gesellschaft – die Beschneidungsdebatte und die Diskussion um das Gedicht von Günter Grass Was gesagt werden muss11 haben dies nur allzu deutlich werden lassen.12 Jugendliche hingegen tauschen sich in sozialen Netzwerken – insbesondere über Facebook und Twitter – aus. Auf Facebook gründen sie Diskussions- und Debattenforen. Dabei kann nicht ausbleiben, dass auch Extremisten diese Möglichkeiten nutzen, Anhänger zu rekrutieren. Die Organisation jugendschutz.net hat 2012 so viele rechtsextreme Webangebote registriert wie nie zuvor: „Im Social Web waren es etwa 50 % mehr Beiträge als im Vorjahr (5.500; 2011: 3.700). Vor allem Facebook, YouTube und Twitter wurden dazu benutzt, um User anzusprechen. Demgegenüber ging die Zahl rechtsextremer Websites erneut zurück (1.519; 2011: 1.671). Die Tendenz, Angebote jugendaffin zu gestalten, als unverdächtig zu tarnen und aktuelle Themen für rassistische Kampagnen zu instrumentalisieren, bleibt wichtiges Charakteristikum. Vermehrt werden QR-Codes im öffentlichen Raum platziert, um Smartphonenutzer auf Webangebote der Szene zu locken. Dass diese Strategie aufgeht, zeigen die hohen Klickraten zentraler Videos und Profile.“13
Auch der Microblogging-Dienst Twitter spielt für Neonazis eine immer wichtigere Rolle, vor allem zur Mobilisierung und Verbreitung neuer Materialien: Insgesamt 196 rechtsextreme Kanäle dokumentierte das Team von jugendschutz.net und damit 35 % mehr als im Jahr zuvor (2011: 141).14
11 | Günther Grass: Was gesagt werden muss, in: Süddeutsche Zeitung, 10.4.2012, http://www. sueddeutsche.de/kultur/gedicht-zum-konflikt-zwischen-israel-und-iran-was-gesagt-werdenmuss-1.1325809 [16.6.2014]
12 | Juliane Wetzel: Judenfeindliche Stereotypisierungen: Das Beschneidungsurteil im öffentlichen Diskurs, in: Johannes Heil und Stephan J. Kramer (Hg.): Beschneidung: Das Zeichen des Bundes in der Kritik. Zur Debatte um das Kölner Urteil, Berlin 2012, S. 264-275; Dies.: Die Täter-Opfer-Umkehr, in: Der Freitag, 22.4.2012, http://www.freitag.de/autoren/der-freitag/dietater-opfer-umkehr [20.1.2014]. 13 | Jugendschutz im Internet. Ergebnisse der Recherchen und Kontrollen, Bericht 2012, http:// jugendschutz.net/pdf/bericht2012.pdf [20.1.2014], S. 11.
14 | Jugendschutz.net (Hg.): Rechtsextremismus online – beobachten und effektiv bekämpfen. Bericht 2012 über Recherchen und Maßnahmen, Mainz 2013, http://hass-im-netz.info/ fileadmin/dateien/pk2013/bericht2012.pdf [20.1.2014], S. 3.
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Internetauftritte, die sich als seriöse Informationsplattformen präsentieren, können ein solches Wechselspiel zwischen rechtsextremem Ideologietransfer und diffusen antisemitisch konnotierten Meinungen fördern. Das rechtsextreme Nachrichtenportal Altermedia („World Wide News For People of European Descent“, Altermedia-Deutschland.info), das seit etwa 2002 online ist und sich inzwischen als vermeintlich seriöse Webseite präsentiert, die den Anschein einer Nachrichtenagentur vermitteln möchte. Für die englischsprachige, internationale Version scheint der US-amerikanische Neonazi David Duke verantwortlich zu sein. Der deutschsprachige Ableger Altermedia Deutschland (vormals auch Störtebeker-Netz) stellte bis zu seiner vorübergehenden Sperrung 2011 täglich Presseartikel ins Netz, die z.T. aus seriösen Medien übernommen und entsprechend umformuliert oder kommentiert wurden. Mit Beifall bedacht wurden auch Beiträge aus dem NPD-Organ Deutsche Stimme oder der sich katholisch gerierenden rechtsextrem-antisemitischen – inzwischen abgeschalteten – Plattform kreuz.net, die zum Umfeld der Bruderschaft Papst Pius X. zu rechnen ist, zu der der Holocaustleugner Bischof Richard Williamson gehört und die etwa die Abtreibung mit dem Holocaust gleichsetzt. Mit ca. fünf Millionen Zugriffen jährlich gehörte Altermedia wohl zu den populärsten Webseiten der rechtsextremen Szene. Auch die Werbebanner verrieten die Nähe zum rechtsextremen Spektrum, so warben etwa online-Plattformen mit einschlägigen Namen für patriotisches Outfit. Polemisiert wurde gegen ‚Medienhetze‘ und ‚Umerziehung‘, die zu einem falschen Geschichtsbild geführt hätten. Im Oktober 2012 ging Altermedia wieder online, allerdings müssen nun eine Reihe von Links angeklickt werden, bis entsprechende Inhalte aufgerufen werden können. Über Altermedia-DE engagieren sich die Betreiber nun auch vermehrt auf Twitter und verbreiten einschlägige Aufrufe, wie etwa jenen zur rechtsextremen Demonstration in Magdeburg im Januar 2014 anlässlich des Jahrestages der Bombardierungen der Stadt 1945 kurz vor Kriegsende. Als Vernetzungsmedium der Szene stellte Altermedia auch die auf YouTube zugänglichen Kopp-Nachrichten („Nachrichten, die Ihnen die Augen öffnen“) des gleichnamigen Verlages bereit, der u.a. esoterische und verschwörungstheoretische Bücher verlegt und solche, die sich gegen den vermeintlichen Gründungsmythos Israels wenden. Erwähnenswert ist vor allem die vom Kopp-Verlag unterstütze Videoproduktion Goldschmied Fabian oder auch Gib mir die Welt plus 5 Prozent. Die Geschichte vom Goldschmied Fabian. Nach der Vorlage eines Textes des Australiers Larry Hannigan aus dem Jahr 1971 transportiert das von dem der Scientology-Sekte nahestehenden Michael Kent (Hinz) und seinem Neue Impulse e.V. produzierte Zeichentrick-Movie auf subtile Weise antisemitische Klischees über ‚Machtjunkies der Finanzdynastien‘, die ‚Macht über die Massen‘ erlangen und die Welt beherrschen. Offensichtlich fallen auch Lehrer auf diesen Unsinn herein, wenn sie den Trickfilm als sinnvolles Unterrichtsmaterial an-
Das Lernen über den Holocaust via Internet
sehen, das vermeintlich das Finanz-, Geld und Zinssystem erklärt. So jedenfalls kann man es Postings auf Youtube entnehmen: „also wir hams in der Schule bis Teil 2 angeschaut … Rest war Hausaufgabe“ oder „Kann man gut als Schulvideo benutzen … Unser Lehrer hat dafür ne ganze Stunde gebraucht!!!“. Ein anderer User allerdings schreibt: „Erzähl mal deinem Direktor, dass ‚Goldschmied Fabian‘ das Werk eines rechtsextremistischen, esoterischen Spinners ist.“15 Auch wenn im gesamten Film nicht ein einziges Mal das Wort ‚Jude‘ oder ähnliche Zuschreibungen auftauchen, ist dem Posting von ‚Commanderblutwurst‘ zu entnehmen, dass der Inhalt in der Szene durchaus entsprechend verstanden wird: „du hast wohl nicht verstanden, das [sic] fabian mayer amschel bauer (rothschild) symbolisiert“.16 Den sechsteiligen Film haben von 2010 bis heute mehr als 199.000 Nutzer auf Youtube gesehen, auf Google-Videos ist der insgesamt fast 50-minütige Film, für den in der esoterischen Szene und auf rechtsextremen Netzwerken geworben wird,17 als Ganzes einzusehen. Ähnlich wie vermeintliche Nachrichtenagenturen, die sich nur den Anstrich eines seriösen Informationsportals verleihen, stellt etwa die Webseite Metapedia.org eine nicht zu unterschätzende Gefahr für Jugendliche und Kinder dar, weil sie Wikipedia zum Verwechseln ähnelt. Metapedia, das 2006 in Schweden gegründet wurde, gibt sich von Design und oberflächlichem Erscheinungsbild den Anschein, als habe es etwas mit dem Online-Lexikon Wikipedia zu tun, tatsächlich aber handelt es sich um eine rechtsextreme „alternative Enzyklopädie“, die bereits mehr als 40.000 Einträge umfasst. Die ersten deutschsprachigen Einträge wurden 2007 online gestellt. Im Gegensatz zu anderen Ländern bietet die deutschsprachige Suchmaschine Google Metapedia nicht als Link an. Dies ist das Ergebnis des Vorgehens der Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Medien, die Metapedia indiziert hat. Große Suchmaschinen haben sich die Beschränkung auferlegt, dass sie Internetinhalte, die von der Bundesprüfstelle gelistet sind, nicht anzeigen, d.h. User – insbesondere Jugendliche – können nicht zufällig auf solche Seiten stoßen.
15 | Goldschmied Fabian Teil 3 von 6, http://www.youtube.com/watch?v=XdlsQ02G25Y&fea ture=related [20.1.2014].
16 | Goldschmied Fabian Teil 4 von 6, http://www.youtube.com/watch?v=69D1K7Q8Y9s&fea ture=related [20.1.2014].
17 | Gegenrede. Informationsportal gegen Rechtsextremismus für Demokratie: Wer Hinz & Kunz nicht Ken(n)t, 13.11.2008, http://www.gegenrede.info/news/2008/lesen.php?datei =081113_01 [20.1.2014].
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G EGENSTRATEGIEN IM N ETZ Im August 2000 entstand auf Initiative der Zeitung Die Woche das Internetportal Netz-gegen-rechts.de. 21 namhafte deutschsprachige Print- und Bildmedien hatten sich zusammengeschlossen, um Beiträge zum Thema Rechtsextremismus zu bündeln. Nachdem Die Woche ihr Erscheinen im März 2002 eingestellt hatte, fand sich kein Nachfolger, um das Projekt weiter zu betreiben. Im März 2003 ging mit Unterstützung der Wochenzeitschrift Die Zeit und anderen die Nachfolgewebpräsentation www.NetzGegenRechtsextremismus. de online und präsentierte sich als Informationsplattform, die allerdings keine interaktiven Möglichkeiten mehr bot. Seit 2008 firmiert die Seite – unterstützt u.a. von Die Zeit, dem ZDF, der Amadeu Antonio Stiftung sowie der Bundesliga – unter dem Namen Netz-gegen-Nazis.de. Sie bietet ein Lexikon, eine Presseschau sowie ein Forum, in dem Fragen gestellt werden können. Links eröffnen den Zugang zum Blog no-nazi.net für Jugendliche zwischen 13 und 18 Jahren, die sich für „Demokratie & Menschenrechte & gegen Nazis“ engagieren möchten sowie zu den Webportalen Mut-gegen-rechte-Gewalt.de und Fussball-gegen-Nazis.de.
N UTZUNGSMÖGLICHKEITEN Trotz aller Gefahren bietet das Internet unzählige Angebote, sich mit dem Holocaust auseinanderzusetzen. Auch kleinere Initiativen erhalten die Möglichkeit sich zu präsentieren und die Ergebnisse ihrer Arbeit öffentlich darzustellen. Online-Ausstellungen, die mit den neuesten technischen Errungenschaften virtuelle Rundgänge anbieten, können besucht oder auf den verschiedensten Plattformen Zeitzeugeninterviews gehört werden. Offen bleibt sicherlich die Frage, ob jenen Recht gegeben werden kann, die sagen, dass der Zugang zu den Berichten der Überlebenden via Internetvideos einen virtuellen Gedenkort darstellt, der nach dem Aussterben der Überlebenden die persönliche Annäherung gewährleistet. Visuelle Archive sind ein wichtiger Quellenbestand und ein Teil der Erinnerungsnarrative, der allerdings einer kritischen Würdigung bedarf. So sind etwa die Interviews des Visual History Archives der Spielberg Foundation von unterschiedlicher Qualität in Bezug auf die tatsächlichen Ereignisse, je nach der Kompetenz der Interviewer, die eingesetzt waren.18 18 | Michele Barricelli, Juliane Brauer und Dorothee Wein: Zeugen der Shoah: Historisches Lernen mit lebensgeschichtlichen Videointerviews. Das Visual History Archive des Shoah Foundation Institute in der schulischen Bildung, in: medaon.de, Magazin für jüdisches Leben in Forschung und Bildung 5, 2009, http://www.gedenkstaettenforum.de/nc/gedenkstaetten-rundbrief/rundbrief/
Das Lernen über den Holocaust via Internet
Für Lehrerinnen und Lehrer bietet das Internet eine Reihe von hilfreichen Möglichkeiten: Es werden interaktive Webinare und Online-Kurse angeboten, darunter etwa „Die Shoah im Unterricht. Lernen über Entscheidungen und Handlungsoptionen“. Das Tool setzt sich mit der altersgerechten Vermittlung des Holocaust in der schulischen und außerschulischen Bildung auseinander. Die Agentur für Bildung, Geschichte, Politik und Medien e.V. etwa führt Ende November 2013 in Zusammenarbeit mit dem Pädagogischen Zentrum des Fritz Bauer Instituts, erinnern.at usw. ein Webinar mit dem Thema „Leichte Sprache in der Gedenkstättenpädagogik – neue Zielgruppen erschließen“ durch. Dörte Hein hat sich in ihrer Publikation Erinnerungskulturen online: Angebote, Kommunikatoren und Nutzer von Websites zu Nationalsozialismus und Holocaust die 2009 erschienen ist, mit der Frage beschäftigt, ob sich das Internet als „Medium der Erinnerung“ eignet oder ob es im Gegenteil zu einer „Zerstörung von historischem Gedächtnis“ führt.19 Sie kommt zu dem Ergebnis, dass die Erinnerung an den Holocaust mit dem Medium Internet keine wesentliche Veränderung erfährt; es sei auch keine neue Qualität zu konstatieren. Allerdings merkt Hein kritisch an: „Auf den Websites wird von den multimedialen Möglichkeiten des Internets kaum Gebrauch gemacht. Die Vermittlung von historischen Hintergrundinformationen in Form von Bildern und vor allem von Texten dominiert. Die Möglichkeiten zur Partizipation sind für die Nutzer – mit wenigen Ausnahmen – sehr gering und werden, so vorhanden, kaum genutzt.“20
Die bisher neben den zahlreichen Zeitzeugeninterviews bereitgestellten online-Materialien zum Holocaust wie shoah.de, lernen-aus-der-geschichte.de, lehrer-online.de oder der Yad Vashem-online-Kurs für Lehrer sind tatsächlich vor allem Wissens- und Informationsplattformen. Interaktive Möglichkeiten bieten sie kaum, allenfalls lassen Fotos einen individuelleren Zugang zu den Opfern und ihrer Geschichte zu. Die Webseite centropa.org, die vor allem den Holocaust in Ost- und Mitteleuropa beleuchtet, durchbricht unter dem Titel „Jüdische Erinnerung bewahren – Geschichte zum Leben erwecken“ die starre Wissensvermittlung vor allem in ihrer Rubrik ‚Border Jumping‘, in der der Austausch von Schulprojekten einer Klasse mit einer Schulklasse in anderen Ländern angeregt wird. Ebenso attraktiv für Jugendliche scheint der Zugang zum ‚Versteck in 3D‘ des Anne-Frank-House in Amsterdam oder – in Bezug auf news/historisches_lernen_mit_lebensgeschichtlichen_videointerviews_beobachtungen_aus_ der_schulischen_pr/ [21.1.2014].
19 | Dörte Hein: Erinnerungskulturen online: Angebote, Kommunikatoren und Nutzer von Websites zu Nationalsozialismus und Holocaust, Konstanz 2009, S. 19.
20 | Ebd.
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jüdische Geschichte – die 3D-Rundgänge durch die aufwändige Computeranimation einiger in der NS-Zeit zerstörter Synagogen in Deutschland, die auch über YouTube zugänglich sind. Virtuelle Touren durch Gedenkstätten sind sicherlich eine Möglichkeit, Interesse zu erzeugen, sie müssen aber exzellent begleitet werden. Die Informationsvielfalt des Internets kann als reicher Quellenfundus für viele Themen, also auch für Nationalsozialismus und Holocaust genutzt werden, allerdings ist die Zahl der Fallstricke keineswegs gering und muss viel stärker hinterfragt werden als das bisher im pädagogischen Rahmen der Fall ist. Das Wissen und die Kompetenz von Schülern reichen nicht aus, um problematische Inhalte zu erkennen. Leider sind auch Lehrer davon nicht ausgenommen. Deshalb muss die Lehrerausbildung an den Universitäten Kompetenz im Umgang mit dem Internet und seinen verschiedenen Möglichkeiten in Bezug auf die Informationsflut vermitteln. Dies gilt ebenso für entsprechende Fortund Weiterbildungen. Erst die eigene Medienkompetenz und die Selbstreflexion versetzt die Pädagogen in die Lage, Schüler entsprechend mit den Vorteilen und Nachteilen des Internets vertraut zu machen.
Perspektiven ästhetischer Vermittlung
Felix Nussbaum: Die Verdammten (1943/44), Bild: Felix-Nussbaum-Haus 2014
Felix Nussbaum und der ‚gemalte Holocaust‘ Biografie – Sammlung – museale Vermittllung Thorsten Heese
1904 wurde in Osnabrück der Maler Felix Nussbaum geboren. Als er 1932 das unter Künstlern begehrte Stipendium an der Deutschen Akademie Villa Massimo in Rom erhielt, hatte es der junge aufstrebende Künstler fast geschafft. Doch mit der Machtübergabe 1933 an die Nationalsozialisten wendete sich die Karriere des Malers mit jüdischen Wurzeln. Nussbaum lebte im Exil, musste sich viele Jahre verstecken, wurde schließlich denunziert und 1944 in Auschwitz ermordet. Er malte bis kurz vor seiner Deportation. Abbildung 1
Felix Nussbaum: Selbstbildnis mit Judenpass (um 1943), Bild: Felix-Nussbaum-Haus 2014
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In seinem künstlerischen Werk hielt er den Weg der Ausgrenzung der jüdischen Bevölkerung bis hin zum Genozid fest und legte so Zeugnis ab vom schlimmsten Verbrechen der europäischen Geschichte. Meir Ronnen, Kunstkritiker der Jerusalem Post, bezeichnete ihn einmal als den „Shoah-Künstler“ schlechthin, dessen einzigartiges Œuvre „jungen Deutschen ein höchst personalisiertes Bild vom Holocaust“1 vermittle. Dass Nussbaum mit seinen Arbeiten bewusst eine Botschaft für die Nachwelt hinterlassen wollte, belegt sein 1942 geäußerter Wunsch an einen Vertrauten: „Auch wenn ich untergehe, lasst meine Bilder nicht sterben, stellt sie aus.“2 Durch glückliche Umstände wurden seine Gemälde vor ihrer Zerstörung bewahrt. Der größte Teil befindet sich heute im Felix-Nussbaum-Haus in Osnabrück.
F ELIX N USSBAUM (O SNABRÜCK 1904 – 1944 A USCHWITZ ) Felix Nussbaum3, am 11. Dezember 1904 in Osnabrück geboren, stammte aus einer assimilierten jüdischen Kaufmannsfamilie. Nach dem Besuch des Königlichen Realgymnasiums in Osnabrück begann Nussbaum 1922 Nussbaum seine künstlerische Ausbildung an der Kunstgewerbeschule in Hamburg und wechselte 1923 nach Berlin, wo er sich Anfang der 1930er Jahre innerhalb der jüngeren Künstlergeneration etablierte.4 Seine Kunst war zunächst geprägt von der künstlerischen Auseinandersetzung mit bekannten Künstlern wie van Gogh und de Chirico, er fand jedoch relativ schnell zu einem eigenen Stil und darüber hinaus zu einer Aussagekraft, die zeitkritisch Position bezog. 1931 wurde Nussbaum von der Berliner Kunstakademie für sein großformatiges Gemälde Der tolle Platz ausgezeichnet, in dem er eine eigene Bildsprache gefunden hatte. Das Bild thematisierte die Konfrontation der jungen Berliner Maler mit der traditionellen akademischen Kunstrichtung. Nussbaum beteiligte sich zudem im Oktober 1931 an der Ausstellung Frauen in Not, die von der
1 | Meir Ronnen: Artist of the Apocalypse. The Paintings of Auschwitz victim Felix Nussbaum, now at the Israel Museum, in: The Jerusalem Post Magazine, 14.2.1997; zit. nach: Ludwig Zerull: Felix Nussbaum, Hannover 1998, S. 81. 2 | Inge Jaehner: „Wenn ich untergehe, laßt meine Bilder nicht sterben“. Felix Nussbaum – Leben und Werk, in: Vernissage. Die Zeitschrift zur Ausstellung 16, 1999, S. 14-55. 3 | Zu Leben und Wirken Felix Nussbaums, zu seinen Arbeiten sowie zur Entstehung der Osnabrücker Nussbaum-Sammlung siehe, soweit nicht anders vermerkt, im Folgenden Eva Berger et al.: Felix Nussbaum. Verfemte Kunst – Exilkunst – Widerstandskunst (Osnabrücker Kulturdenkmäler. Beiträge zur Kunst- und Kulturgeschichte der Stadt Osnabrück, 3), Bramsche 4 2007 sowie Peter Junk und Wendelin Zimmer: Felix Nussbaum 1904–1944. Die Biografie, Bramsche 2009. 4 | Vgl. Jaehner: Nussbaum – Leben und Werk, S. 22.
Felix Nussbaum und der ‚gemalte Holocaust‘
kommunistischen Internationalen Arbeiterhilfe im Zuge der Debatte um den § 218 organisiert wurde.5 Zu derselben Zeit traten in seiner Heimatstadt Osnabrück, ausgehend von der rechtsgerichteten Presse, erste Angriffe gegen den jüdischen Maler auf. Der von Heinrich Schierbaum herausgegebene antijüdische Stadtwächter reagierte auf die Berliner Preisverleihung polemisch: „Nußbaums Kunst sind Leistungen, die sich auf der Kegelbahn oder im Futterraum eines Pferdestalles allenfalls noch sehen lassen können, das Gepinsel des Herrn N. hat mit echter Kunst nichts mehr zu tun.“6
In der Kunst Nussbaums selbst spielte sein Judentum nur eine untergeordnete Rolle. Zwar gibt es in seinem Frühwerk Arbeiten, in denen sich der Künstler bereits damit beschäftigt hat. Diese sind aber eher von der eigenen Positionierung des jungen Mannes innerhalb der jüdischen Gemeinde bestimmt und reagierten nicht auf Attacken von außen. Im Oktober 1932 kam Nussbaum als Stipendiat der Deutschen Akademie an die Villa ‚Massimo‘ in Rom. Kurz darauf im Dezember wurde bei einem Brand in seinem Berliner Atelier unter bislang nicht genau geklärten Umständen mit 150 Arbeiten ein Großteil seines bisherigen Schaffens vernichtet. Nussbaum erlebte in Italien auch die Machtübergabe an die Nationalsozialisten. Sein Stipendium wurde zwar noch bis Ende Juni 1933 verlängert. Er musste Rom jedoch bereits vorzeitig verlassen, da die Akademie im Mai geschlossen wurde. Gemeinsam mit seiner Lebensgefährtin und späteren Ehefrau Felka Platek, der im Folgenden ein eigener Abschnitt gewidmet ist, zog Nussbaum zunächst nach Alassio und Rapallo an der italienischen Riviera. Die folgenden Jahre waren von großer Unsicherheit geprägt, die Nachrichten aus Deutschland über die sich verändernden politischen Verhältnisse wirkten bedrohlich, so dass sich die beiden entschlossen, nicht nach Deutschland zurückzukehren. Über die Schweiz reisten sie zunächst nach Paris und beantragten dort am 22. Januar 1935 ein Touristenvisum für Belgien. Nach dessen Erteilung ging es im Februar zunächst nach Ostende. Im Oktober zogen sie weiter nach Molenbeek und stellten dort einen Antrag auf Eintragung
5 | Gisela Schirmer: Felix Nussbaum und die Stadt Osnabrück. Eine Rezeptionsgeschichte, in: Jutta Held (Hg.): Symbole des Friedens und des Krieges im öffentlichen Raum. Osnabrück, die „Stadt des Westfälischen Friedens“ (Schriften der Guernica-Gesellschaft, 6), Weimar 1998, S. 355-382, hier: S. 358. 6 | Zit. nach: Hanns-Gerd Rabe: Osnabrücker Kunst und Künstler 1900–1970, in: Osnabrücker Mitteilungen 81, 1974, S. 1-127, hier: S. 43; zum Stadtwächter vgl. Peter Junk und Martina Sellmeyer: Stationen auf dem Weg nach Auschwitz. Entrechtung, Vertreibung, Vernichtung. Juden in Osnabrück 1900–1945, Bramsche 21989, S. 39-45.
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in das belgische Fremdenregister. Den Ausschlag für die Erteilung der Aufenthaltsgenehmigung gab ein Gutachten des anerkannten belgischen Malers James Ensor (1860-1949), der Nussbaum künstlerisches Talent bescheinigte. Mit ihrem belgischen Fremdenpass, der ihnen am 16. November erteilt und mehrfach verlängert wurde, zogen Nussbaum und Platek mehrfach um und lebten in Molenbeek, Ostende, Brüssel und ab Mai 1936 erneut in Ostende. Das belgische Seebad galt auch anderen Exilierten als Anlaufpunkt. Im Sommer 1936 hielten sich dort zum Beispiel viele jüdisch-deutschen Exilliteraten auf, darunter Stefan Zweig, Joseph Roth und Egon Erwin Kisch.7 1937 zogen Felix und Felka schließlich nach Brüssel, wo sie am 6. Oktober heirateten und in der Rue Archimède 22 lebten. Mit der standesamtlichen Heirat und dem festen Wohnsitz war die Hoffnung verbunden, die zeitliche Befristung ihres Aufenthaltrechts aufzuheben. Diese Hoffnung sollte sich jedoch nicht erfüllen. Mit dem Einmarsch deutscher Truppen in Belgien am 10. Mai 1940 wurde Felix Nussbaum wie alle jungen männlichen Deutschen als ‚feindlicher Ausländer‘ verhaftet und im Lager St. Cyprien in den Pyrenäen interniert, während Felka Platek in Brüssel blieb. Nussbaum gelang jedoch, nachdem er die Rückführung ins ‚Deutsche Reich‘ vorgeblich beantragt hatte, in Bordeaux die Flucht nach Brüssel, wo er sich am 24. Dezember 1940 ins ‚Judenregister‘ eintrug. Der Druck auf die jüdische Bevölkerung verschärfte sich, nachdem am 28. Oktober 1940 die Verordnung über Maßnahmen gegen Juden (‚Judenverordnung‘) erlassen wurde. Mit dem Beginn der Deportationen am 4. August 1942 von Belgien nach Auschwitz wurden auch Felix Nussbaum und Felka Platek von der Gestapo gesucht. In dieser Zeit scheinen sie überlegt zu haben, aus Belgien zu flüchten, doch unterblieb die Flucht wohl aufgrund von Felkas Entscheidung; so jedenfalls lässt sich Nussbaums Doppelporträt Soir von 1942 interpretieren, bei dem Felkas rechter auf Felix’ linkem Fuß steht. Ab August/ September 1942 konnten sich Felix und Felka zunächst bei dem befreundeten Ehepaar Ledel verstecken. Als der belgische Bildhauer Ende März 1943 in den Untergrund ging, tauchten beide in ihrer Wohnung in der Rue Archimède unter. Dort richtete ihnen der Hausbesitzer in einer Mansarde ein Versteck ein, das bei Razzien Schutz bot. Da der Terpentingeruch der Ölfarben den Maler leicht verraten hätte, konnte Felix nicht mehr richtig malen. Als Ausweichquartier diente ihm daher ab Sommer 1943 ein auswärtiges Atelier bei der Familie Billestraet im Souterrain der Rue General Gratry 23. In dieser Zeit entstanden Nussbaums letzte Bilder, mit denen er trotzig Widerstand gegen das sich abzeichnende Schicksal leistete und sich als Maler seine Selbständigkeit und Würde zu bewahren suchte. Gleichwohl berichtete sein Vermieter Willy Billestraet später, Nussbaum
7 | Vgl. Volker Weidermann: Ostende 1936, Sommer der Freundschaft, Köln 2014.
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hätten zeitweise vor Angst so die Hände gezittert, dass er nicht in der Lage gewesen sei zu malen. Die Bilder, die Nussbaum in den letzten Monaten malte, datierte er nach Tagen, so dass sie ein gemaltes Tagebuch darstellen. Sie spiegeln die Suche nach Identität wider, wobei seine jüdische Herkunft erst jetzt wirklich hervortrat. Die Bilder zeigen die Zerrissenheit in der aufgezwungenen Lebenslage, den Willen zur Selbstbehauptung, die verzweifelte Suche nach dem Weg aus der Aussichtslosigkeit, aus der es aber kein Entrinnen gab; schließlich die Ahnung des Todes, die aber nicht nur individuell empfunden ist. Vielmehr fand Nussbaum in der persönlichen Bedrohung noch einen künstlerischen Ausdruck für den kulturellen und zivilisatorischen Untergang seiner Epoche. Dafür steht sein letztes fertiggestelltes Gemälde, Triumph des Todes (Die Gerippe spielen zum Tanz) (Abb.2), datiert auf den 8. April 1944. Wenige Wochen später wurden Nussbaum und seine Frau nach einer gezielten Denunziation am 20. Juni 1944 verhaftet und am 31. Juli unter den Nummern XXVI/284 und XXVI/285 vom Sammellager Malines (Mechelen) nach Auschwitz deportiert, wo sie am 2. August eintrafen; es war der 26. und letzte Deportationstransport, der Mechelen verließ.8 Das genaue Todesdatum von Felix Nussbaum und Felka Platek ist nach wie vor unbekannt. Ein Todeserklärungsbeschluss des Amtsgerichts Osnabrück vom 24. August 1955 legte für Felix zunächst den 9. August 1944 fest. Es wurde jedoch bislang eher davon ausgegangen, dass er und Felka Platek bereits unmittelbar nach der Ankunft im KZ ermordet worden sind. Von beiden Annahmen muss nun allerdings Abstand genommen werden, denn im Staatsarchiv der Russischen Föderation in Moskau wurde jüngst eine Krankenakte aus dem Auschwitzer Hauptlager entdeckt9, die belegt, dass Felix am 20. September 1944 noch gelebt hat.10 Somit gehörte er zu den 223 Männern und 138 Frauen des letzten Transportes aus Mechelen, die bei ihrer Ankunft als arbeitsfähig selektiert und nicht, wie die übrigen 202, unmittelbar in die Gaskammern geschickt wurden. Unter der Lagernummer B-3594 wurde er sieben Wochen
8 | Nussbaums Eltern waren bereits am 8. Februar 1944 von Amsterdam nach Auschwitz deportiert und dort am 11. Februar ermordet worden. Sein älterer Bruder Justus wurde im Dezember 1944 im KZ Stutthof umgebracht. 9 | Die Bestände des Sonderarchivs des Staatlichen Russischen Militärarchivs, aus denen das bislang unbekannte Aktenmaterial stammt, sind erst seit 2011 zugänglich; eine Kopie der Krankenakte befindet sich im Staatlichen Museum Auschwitz-Birkenau; Lü[ddemann, Stefan]: „Kunst bedeutete für Felix Nussbaum das Leben“. Museumsdirektorin Jaehner: Nussbaum könnte noch gezeichnet haben – Historiker Döscher: Hatte Nussbaum Unterstützer? In: NOZ, 5.8.2014, S. 26. 10 | Thomas Limberg: Nussbaum starb später als vermutet. Neue Erkenntnisse aus KZ-Akte, in: NOZ, 2.8.2014, S. 1
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später am 20. September in Block 21 des Stammlagers eingeliefert. Dort befand sich die chirurgische Abteilung des Lagerhospitals.11 Abbildung 2
Felix Nussbaum: Triumph des Todes (1944), Bild: Felix-Nussbaum-Haus 2014
Die Diagnose einer Blase am linken Zeigefinger könnte darauf verweisen, dass er in einem der Unternehmen, die dem Lager angegliedert waren, Zwangsarbeit leisten musste. Die vermeintlich unscheinbare Verletzung könnte allerdings auch ein Hinweis darauf sein, dass Nussbaum evtl. in das Hospital kam, weil er – wie andere Künstler in Auschwitz – Unterstützer hatte.12 Es ist jedoch kaum davon auszugehen, dass Nussbaum Auschwitz am Ende sogar überlebt haben könnte. Er gehörte weder zu den 25 nachweisbaren Überlebenden seines Transportes, die bei der Befreiung durch die Rote Armee am 27. Januar 1945 noch im Lager waren, noch ist sein Name in den relativ vollständigen Akten der Lager dokumentiert, in die einige der Häftlinge aus dem Transport von Auschwitz aus überstellt wurden, nämlich in Buchenwald, Groß-Rosen und Dachau.13 In jedem Fall werden aufgrund der neuen Quellenfunde weitere Forschungen angestellt werden, um ausgehend von den neuen Kenntnissen wei11 | Thomas Limberg: Nussbaum war Auschwitz-Häftling B-3594. Osnabrücker lebte sieben Wochen länger als angenommen – Todesumstände nach wie vor unklar; in: NOZ, 2.8.2014, S. 3.
12 | Stefan Lüddemann: Hatte Felix Nussbaum in Auschwitz-Unterstützer? in: NOZ, 4.8.2014, S. 28. 13 | Limberg, B-3594 2014, S. 3.
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tere Details über das Ende Nussbaums zu erfahren. Nicht auszuschließen ist nun beispielsweise, dass er in Auschwitz noch künstlerisch tätig gewesen ist.
F ELKA P LATEK (W ARSCHAU 1899 – 1944 A USCHWITZ ) Felka Platek ist nicht nur Felix Nussbaums Ehefrau gewesen, sondern sie war selbst Malerin.14 Das Felix-Nussbaum-Haus besitzt insgesamt 27 ihrer Arbeiten, zwei Ölgemälde und 25 Grafiken, davon in der Mehrzahl Gouachen. Die polnische Jüdin wurde am 3. Januar 1899 als Tochter des Schneiders Leon Platek und seiner Ehefrau Salome (geb. Strumfeld) im Warschauer Ghetto geboren. 1923 oder 1924 reiste sie wie viele jüdische Polen nach Berlin, um dort mit der Malerei ihren Lebensunterhalt zu verdienen. 1924 schrieb sie sich an der Lewin-Funcke-Schule in Charlottenburg ein und begann eine Ausbildung zur Porträtmalerin. Im Wintersemester 1924/25 lernte sie in der Malerklasse des expressionistischen Malers Ludwig Meidner (1884-1966) ihren späteren Ehemann Felix Nussbaum kennen. 1929 bezogen sie in Berlin eine gemeinsame Wohnung. Auch wenn Felka Platek von Nussbaums Familie nicht anerkannt wurde, so stand die Beziehung der beiden der Aussage von Nussbaums väterlichem Freund Fritz Steinfeld zufolge doch nie in Frage. Felka war Felix’ „Beruhigung und ganz unbezweifelte und unbekrittelte Liebe. Sie hat seinen Aufstieg, seine Erfolge, seine Rückschläge, seine Empfindlichkeiten, seine Schmerzen, seine Verrücktheiten, seine Gradheiten mitgemacht, sie hat zu allem gelacht und es schön gefunden.“15
Als Felix sein Rom-Stipendium erhielt, folgte ihm Felka von Berlin nach Rom. Von da an war ihr Schicksal auf das engste miteinander verbunden – bis zur gemeinsamen Ermordung in Auschwitz. Auch künstlerisch ergeben sich durch die intensive Zweisamkeit an den unterschiedlichen Orten des nun folgenden gemeinsamen Lebensweges anhand zahlreicher gleicher Motive und deren gemeinsamer Bearbeitung immer wieder Möglichkeiten des Vergleichs der beiden Kunstschaffenden. Selbst wenn sie unterschiedliche Auffassungen der Malweise vertraten und Nussbaum sicher der bessere Maler war, so blieb die Kunst doch bei aller Unterschiedlichkeit ein zentrales verbindendes Element; selbst über die Zeit hinaus, als Felka von der Rolle der Künstlerin stärker in die Position der Versorgerin geriet.
14 | Vgl. Christel Schulte: Felka Platek. Malerin und Lebensgefährtin, Osnabrück 2003. 15 | Fritz Steinfeld: Vergast, nicht vergessen. Erinnerungen an den Malerfreund Felix Nussbaum, Bramsche 1984; zit. nach: Schulte: Platek, S. 9.
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Offensichtlich spielte Felka eine ausschlaggebende Rolle, als Felix längere Zeit überlegte, mit seinen Eltern Philipp und Rachel (geb. van Dyck; 1873-1944) im Ausland zusammenzuziehen. Diese schafften es aber zunächst aus Heimweh nicht, Deutschland zu verlassen. Bereits im Februar 1934 waren sie zwischenzeitlich in die Schweiz emigriert, 1935 aber wieder nach Deutschland zurückgekehrt. Dort lebten sie bis zur Pogromnacht 1938 in Köln, bevor sie nach Amsterdam emigrierten.16 1939 verhinderte Felka eine geplante Übersiedlung ihrer Schwiegereltern nach Brüssel, wohl angesichts der Ablehnung, die sie durch diese erfahren hatte, sowie aus Angst, in diesem Falle in der Beziehung zu Felix ihre Rolle als mütterliche Fürsorgerin zu verlieren. Zu den wenigen engeren Kontakten Felka Plateks im Exil gehörte die Familie Etienne, Nachbarn in der Rue Archimède. Während Felix Nussbaum nach dem Einmarsch der deutschen Truppen in St. Cyprien interniert war, porträtierte Felka Frau Etienne. Nach seiner Rückkehr aus dem Internierungslager persiflierte Nussbaum ihr Gemälde im bürgerlichen Stil und traf damit zugleich Felkas Idealbild der glücklichen Ehefrau; Zeichen für eine deutliche Entfremdung, die allerdings wohl nicht allein der Zweierbeziehung anzulasten ist, sondern sicher im Gesamtkontext der bedrohten und sich weiter verschärfenden Lebensverhältnisse zu sehen ist. Felka Platek trug mit eigenen Auftragsarbeiten zum Lebensunterhalt der beiden bei. Als sie sich schließlich verstecken mussten, wurde die Malerei der sie umgebenden Alltagsgegenstände zu einem Ventil, um die Isolation zu ertragen und die damit verbundenen Ängste zu kontrollieren. Mit der wachsenden Bedrohung scheint sie jedoch ihr Selbstvertrauen als Künstlerin endgültig verloren zu haben. In dem Ausweichatelier in der Rue General Gratry scheint sie kaum noch gearbeitet zu haben. Ihre letzten datierten Bilder stammen von 1943.
D IE S AMMLUNG F ELIX N USSBAUM IN O SNABRÜCK Die Kunst Nussbaums gehört zweifellos zu den herausragenden Entdeckungen der Kunstgeschichte des 20. Jahrhunderts.17 Es brauchte jedoch mehrere Jahrzehnte, bis die Bedeutung seines Werkes erkannt wurde. Während Nussbaum vor dem Krieg einen gewissen Bekanntheitsgrad erlangt hatte, war er danach zunächst so gut wie vergessen. In Osnabrück brauchte es 10 Jahre, bis 16 | Junk/Sellmeyer: Auschwitz, S. 298 17 | Vgl. Ellen Spickernagel: Der Verkauf der Osnabrücker Nußbaum-Sammlung. Eine kulturpolitische Entscheidung ohne Folgen, in: Kunstchronik 4, 1995, S. 142-145, hier: S. 142; Held bezeichnet Nussbaum als einen „der wichtigsten Künstler des Widerstands“, Held: Symbole, S. 356.
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er erstmals nach einigen frühen Ausstellungen im Kunsthandel der 1920er Jahre wieder gezeigt wurde. Im Sommer 1955 veranstaltete das Städtische Museum die Gruppenausstellung 5 Osnabrücker Maler, in der einige wenige seiner Werke ausgestellt wurden.18 Diese Ausstellung blieb jedoch ohne nachhaltige Wirkung und konnte kaum über sein Schicksal informieren, zumal sich in der Stadt nur einige wenige Bilder in Privatbesitz erhalten hatten, die hier präsentiert wurden. Nachdem Nussbaum zunächst erneut in Vergessenheit geriet, weckte die im Februar 1971 aus dem wieder aufgetauchten Nachlass Nussbaums organisierte Einzelausstellung in Osnabrück ein Bewusstsein für das besondere Erbe seines Gesamtwerks.19 Den Ausschlag dazu gab seine Cousine Auguste Moses-Nussbaum, die mit ihrem Engagement die Ausstellung ermöglichte und damit den Grundstein für die künftige Felix-Nussbaum-Sammlung legte. Auguste Moses-Nussbaum hatte sich mit weiteren Verwandten dafür eingesetzt, dass zunächst der Verbleib der Nussbaum-Bilder ermittelt und danach die Rückgabe an die rechtmäßigen Eigentümer juristisch durchgesetzt wurde. Dabei handelte es sich um Bilder, die Felix Nussbaum 1942 dem befreundeten Zahnarzt Dr. Grosfils und seinem Freund Dr. Lefèvre unter dem sich verschärfenden Druck der deutschen Militärregierung in Belgien anvertraut hatte. Um die Bilder wurde ein jahrelanger Rechtsstreit zwischen den Nussbaum-Erben und Grosfils geführt, der zugunsten der Nussbaums entschieden wurde. 1969 bekamen sie ein Konvolut von 100 Gemälden ausgehändigt. Diese erste und umfassendste Werkgruppe brachten die Erben 1970 nach Osnabrück. Die Osnabrücker Ausstellung von 1971 erzielte eine große öffentliche Wirkung und führte einerseits dazu, dass intensive Nachforschungen über Nussbaums Leben und Werk eingeleitet wurden20, die bald weit über Osnabrück hinausführten. Bis in die 1990er Jahre sollten weitere vier Werkgruppen auftauchen. Darunter befanden sich wichtige Arbeiten aus dem Spätwerk, die der belgische Antiquitätenhändler Willy Billestraet anbot und offensichtlich nach der Deportation von Felix Nussbaum und Felka Platek aus der verlassenen Wohnung geborgen hatte; ferner Werke, die Nussbaums Eltern besessen und bei ihrer Emigration nach Amsterdam mitgenommen hatten. Andererseits
18 | Behördenhaus Der Regierung, Hakenstraße, 17.7. bis 14.8.1955. Die anderen vier gezeigten Osnabrücker Künstler waren Franz Kortejohann (1864-1936), Wilhelm Renfordt (1889-1950), Gustav Redeker (1890-1915) und Heinrich Assmann (1890-1915).
19 | Die Ausstellung war zunächst noch unter der Direktion von Walter Borchers für Mai 1970 geplant worden, kam dann aber erst unter dem neuen Direktor Manfred Meinz zustande; vgl. Berger: Nussbaum, S. 21; Held: Symbole, S. 360.
20 | Die Neue Osnabrücker Zeitung (NOZ) startete noch im Februar 1971 die Umfrage ‚Wer erinnert sich an Felix Nussbaum?‘ 1982 erschien die erste Nussbaum-Biografie: Peter Junk und Wendelin Zimmer: Felix Nussbaum. Leben und Werk, Köln/Bramsche 1982.
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stieg das Bewusstsein für die besondere Hinterlassenschaft. Als die Erben 1975 eine Münchner Galerie mit dem Verkauf der nach Ausstellungen in Berlin und Hamm wieder magazinierten Sammlung beauftragten, organisierten das Osnabrücker Kulturamt und das Kulturgeschichtliche Museum spontan eine weitere Ausstellung, mit der für Spenden aus der Bürgerschaft geworben wurde. So konnte die Sammlung zusammen mit öffentlichen Geldern erworben werden. Die große Resonanz auf die Ausstellung Widerstand statt Anpassung. Deutsche Kunst im Widerstand gegen den Faschismus 1933–1945, die 1980 in Karlsruhe gezeigt wurde und deren Katalogtitel Nussbaums Selbstbildnis mit Judenpass (Abb. 1) weithin bekannt machte, führte zu einer weiteren Osnabrücker Spendenaktion, durch die erneut wichtige Werke angekauft werden konnten.21 Die Bürgerschaft bewies mit ihren Spenden, dass sie das Nussbaum-Erbe ernst nahm und es zu ihrer eigenen Aufgabe machte, dessen Werk für die Zukunft zu bewahren.
V ON DER ‚S AMMLUNG F ELIX N USSBAUM ‘ ZUM ‚F ELIX -N USSBAUM -H AUS ‘ Die in ihrer Art einmalige Felix-Nussbaum-Sammlung, die bis heute durch weitere Zukäufe der Stadt sowie Stiftungen und Leihgaben auf über 200 Kunstwerke22 erweitert wurde, repräsentierte schon damals den umfassendsten Bestand an Werken Felix Nussbaums und dokumentierte im Wesentlichen dessen künstlerische Hinterlassenschaft. Seit 1983 präsentierte das Kulturgeschichtliche Museum, basierend auf den damaligen Forschungsergebnissen, die Bilder in einer biografisch-zeitgeschichtlichen Dauerausstellung. Diese Konzeption verfolgte das Ziel, anhand der Haupt- und der Nebenwerke die Entwicklung eines Malers vor dem Hintergrund der ebenfalls dokumentierten Biografie aufzuzeigen und zugleich in den zeitgeschichtlichen Kontext einzubinden; ein in der Bundesrepublik bis dahin einmaliges Projekt. Das Konzept wurde nicht nur in Osnabrück gezeigt, sondern auch als Ausstellung ausgeliehen, etwa 1984 zum Bundesparteitag der SPD nach Essen, nach Bonn oder 1985 ins Jüdische Museum nach New
21 | Vgl. Felix-Nussbaum-Haus. Die Sammlung, in: http://www.osnabrueck.de/fnh/16350.asp [18.3.2014]; vgl. Inge Jaehner: Zur Geschichte der Sammlung, in: Vernissage. Die Zeitschrift zur Ausstellung 16, 1999, S. 56-59. 22 | Die Grundlage für weitere Ankäufe schuf die Felix Nussbaum Foundation, die 2001 auf Initiative des Kunstsammlers Hubert Schlenke gegründet wurde; Berger: Nussbaum, S. 32. Ein Werkverzeichnis zu Felix Nussbaum ist online abrufbar unter: http://www.felix-nussbaum.de/ werkverzeichnis.
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York, was die Überprüfung des Konzeptes durch ein wechselndes Publikum erlaubte.23 Mit dem kontinuierlich steigenden Bekanntheitsgrad Felix Nussbaums wurde schnell sichtbar, dass die außergewöhnliche Sammlung seiner Gemälde einen eigenen musealen Standort benötigte, der zudem möglichst internationalen Ansprüchen genügen sollte. Schon ab 1984/85 wurde dabei das ehemalige Wohnhaus der Nussbaums in der Schlossstraße 11 ins Gespräch gebracht. Zu den Hauptbefürwortern eines Erwerbs der Nussbaumvilla gehörte die Felix-Nussbaum-Gesellschaft e.V., die im März 1987 mit dem Ziel gegründet worden war, das künstlerische, historische und gegenwärtige Erbe Nussbaums lebendig zu halten. Tatsächlich hätte das Elternhaus durchaus einen passenden Rahmen für die dauerhafte Präsentation der Nussbaum-Sammlung abgeben können. Während sich unterschiedliche Interessengruppen24 dafür aussprachen, verweigerte sich die Stadt jedoch nach langen Debatten unter Verweis auf zu hohe Kosten, zumal der Preis des mittlerweile oberflächlich sanierten Hauses bis zu neuen Verhandlungen Anfang 1988 weiter gestiegen war. Darüber hinaus hatte sich in dieser Zeit auch die Sammlung soweit vergrößert, dass die geeignete Unterbringung in der Villa bereits wieder in Zweifel stand.25 Unbestritten blieb die Tatsache, dass angesichts des nationalen und internationalen Renommées die räumlich begrenzte Unterbringung in zwei Räumen des Kulturgeschichtlichen Museums als Beeinträchtigung des Wertes der Sammlung erscheinen musste.26 Hatten in der Nussbaum-Debatte – etwa bei der Gründung der Nussbaum-Gesellschaft – mit der Verpflichtung, die Erinnerung an Felix Nussbaum zu bewahren und auch die während des Nationalsozialismus begangene Schuld zu begleichen, noch moralische Gründe im Vordergrund gestanden, so kristallisierte sich jetzt bereits deutlich heraus, dass die Stadt Nussbaums Bekanntheit für das Stadtmarketing nutzen wollte. 1989 suchte die SPD deshalb für die Sammlung alternativ zur Nussbaum-Villa einen repräsentativen Standort in unmittelbarer Nähe des Rathauses.27 Stattdessen setzte sich jedoch 1990 der Vor23 | Vgl. Wendelin Zi[mmer]: „Ein Künstler, der Beachtung verdient“. Nussbaum-Ausstellung beim SPD-Parteitag in Essen, in: NOZ, 18.5.1984; zu den Nussbaum-Ausstellungen bis 1994 siehe die Übersicht in Berger: Nussbaum, S. 459-464.
24 | Gemeint sind der Museums- und Kunstverein Osnabrück e.V., die jüdische Gemeinde, die Nussbaum-Gesellschaft sowie eine Bürgerstiftung unter Leitung des Osnabrücker Kunstsammlers Hartwig Piepenbrock.
25 | Vgl. Berger: Nussbaum, S. 25f. 26 | Vgl. Stadt Osnabrück (Hg.): Kulturentwicklungsplan 2. Ein Ausblick auf die Stadt- und Regionalentwicklung. Analysen, Handlungsfelder und Zielprojektionen für die Kulturpolitik der 90er Jahre in Osnabrück, Osnabrück 1991, S. 34.
27 | Vgl. etwa Aussage des SPD-Fraktionsvorsitzenden Hans-Jürgen Fip, in: kh: Remarque und Nussbaum als Glanzlichter ins Zentrum. SPD denkt über Verlegung in Nähe des Rathauses nach, in: NOZ, 2.9.1989.
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schlag des neuen Kulturdezernenten Reinhard Sliwka durch, mittelfristig am Kulturgeschichtlichen Museum einen Anbau zu realisieren.28 Im Oktober 1994 kam die für die Öffentlichkeit überraschende Nachricht, dass die Stadt die Nussbaum-Sammlung für 6 Millionen DM an die Niedersächsische Sparkassenstiftung verkaufen wolle. Die Stiftung verpflichtete sich im Gegenzug, sich bei der Finanzierung des geplanten neuen Ausstellungsgebäudes zu beteiligen und die Sammlung dort als Dauerleihgabe zu präsentieren. Der Finanzierungsbedarf für den Neubau wurde mit 12 Mio. DM veranschlagt.29 Die Öffentlichkeit erfuhr von der Transaktion erst nachträglich, als die Verhandlungen bereits als nahezu abgeschlossen gelten konnten. Um „über das auch in juristischer Hinsicht fragwürdige, nicht öffentlich einsehbare Vertragswerk zu informieren“30, veranstaltete die Guernica-Gesellschaft in Verbindung mit der Volkshochschule Osnabrück am 27. Januar 1995 eine Podiumsdiskussion unter dem Titel ‚Der Verkauf der Nußbaum-Sammlung – eine kulturpolitische Entscheidung ohne Folgen?‘ Auf der Veranstaltung wurde der Verkauf an die Sparkassenstiftung von namhaften Fachleuten als Tabuverletzung kritisiert. Dazu wurde argumentiert: „[Die] Wahrung des materiellen Besitzes war bisher selbstverständliche Vorbedingung für die Museumstätigkeit.“31 Man befürchtete unvorsehbare Folgen. Museumsdirektor Thorsten Rodiek bestätigte in der Veranstaltung, dass die Entscheidung auf politischer Ebene gefallen sei. Er unterstütze das Konzept aber nach anfänglichen Bedenken, da damit insgesamt eine Verbesserung der Museumssituation im Allgemeinen und für die Nussbaum-Sammlung im Besonderen bewirkt
28 | Vgl. Stadt Osnabrück, Kulturentwicklungsplan 2, 1991, S. 34f. – Die Nussbaum-Gesellschaft unterstützte diesen Vorschlag, versuchte aber trotzdem weiter, die Stadt zum Erwerb der Villa zu bewegen, da diese das einzige Zeugnis jüdischer Kultur darstellte, das nicht von den Nationalsozialisten zerstört worden war. Die ersten öffentlichen Bauvorschläge für das FelixNussbaum-Haus waren eine Anfang 1992 von der Felix-Nussbaum-Gesellschaft beim Offenburger Architektenbüro Novotny und Mähner in Auftrag gegebene Studie sowie zwei Entwürfe des städtischen Hochbauamtes; Berger: Nussbaum, S. 26.
29 | Neben den 6 Mio. DM aus dem Verkauf der Gemälde stellte die Niedersächsische Lottostifung weitere 5 Mio. DM zur Verfügung, nachdem das Projekt unter dem damaligen Ministerpräsidenten Gerhard Schröder, der dem Osnabrücker Oberbürgermeister Hans-Jürgen Fip bereits im August 1993 seine Unterstützung zugesagt hatte, hohe landespolitische Priorität erzielt hatte. Der Rest sollte mit öffentlichen Mitteln bestritten werden. Vgl. rw: Fünf Millionen Mark für das NussbaumMuseum. Niedersächsische Lottostiftung löst Schröders Versprechen ein, in: NOZ, 2.6.1995.
30 | Spickernagel: Verkauf, S. 142; s.a. Held: Symbole, S. 371. Schirmer wertet den Verkauf im Kontext der gesamten Nussbaumrezeption in Osnabrück seit Kriegsende folgendermaßen: „Mit dieser ohne erkennbare Skrupel vollzogenen Vermarktung gewinnt die oben erwähnte pragmatisch-utilitaristische Strategie die Oberhand.“
31 | Spickernagel: Verkauf, S. 143.
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würde.32 Auch in überregionalen Medien wurde der Verkauf kritisiert, da das Werk Nussbaums dadurch als beliebige Ware behandelt würde. Die Stadt rechtfertigte sich dagegen, nur durch den Vertrag mit der Sparkassenstiftung sei es ermöglicht worden, „auch unter veränderten finanziellen Rahmenbedingungen die gesteckten kulturpolitischen Ziele zu erreichen und die unverzichtbaren kulturellen Aufgaben durch neue Wege der Kulturpolitik zu erfüllen.“33 Gegen eben diese kommunalpolitische Vereinnahmung des Werkes richtete sich jedoch ein Teil der Kritik: „Die Verkaufsbegründung mit dem Ziel einer angemessenen Präsentation der Werke lenkt den Blick auf den kommunalpolitischen Rahmen, ein umfassendes Programm zur Imageverbesserung. Gegen diese Vermarktungsstrategie hat Nussbaums Werk kaum eine Chance. Indem die Politiker sein künstlerisches Potential in ihr System einbinden, stehlen sie seinen Sinn“. 34
Der im November 1994 ausgeschriebene internationale Architektenwettbewerb für den Museumsanbau war mit 296 Teilnehmern eindrucksvoll besetzt. Die Konkurrenz entschied der bekannte und von der Stadt extra zu dem Wettbewerb eingeladene amerikanische Architekt Daniel Libeskind 1995 für sich. Das Felix-Nussbaum-Haus wurde zwischen 1996 und 1998 errichtet.35 Seit 1999 wird dort die Nussbaum-Sammlung wieder als ständige Ausstel-
32 | Vgl. Held: Symbole, S. 371f. 33 | Geleitwort von Oberbürgermeister Hans-Jürgen Fip und Oberstadtdirektor Dr. Jörn Haverkämper, in: Berger: Nussbaum, S. 9; vgl. entsprechend Rodiek: Libeskind, S. 15.
34 | Spickernagel: Verkauf, S. 143. Während der Podiumsdiskussion im Januar 1995 war unter anderem empfohlen worden, dass die Bürgerschaft durch eine Spendenaktion den Rückkauf der Sammlung erwirken sollte, um die Kulturförderung wieder zu ihrer eigenen Sache zu machen. Der Vorschlag wurde vom Publikum auch begrüßt. Die Idee erscheint zwar logisch, zeigt aber auch, dass das bis dahin in Sachen Nussbaum bewiesene bürgerschaftliche Engagement dadurch missachtet wurde, dass das Finanzierungsmodell zwischen der Stadt und der Sparkassenstiftung als solches nie öffentlich zur Diskussion gestellt worden ist, sondern dass die Bürgerschaft mehr oder weniger vor vollendete Tatsachen gestellt wurde. Schließlich hatte sich diese durch ihre mehrfach bewiesene spontane Spendenbereitschaft beim Ankauf der Sammlung längst zu dem besonderen erhaltens- und pflegenswerten Erbe bekannt und hätte nun erneut für die Bestandsicherung sorgen sollen; denn es ging bei dem Vorschlag darum, einem auch durch das Vertragswerk nicht vollständig auszuschließenden Verkauf der Sammlung vorzubeugen; ebd., S. 143ff.
35 | Vgl. dazu Thorsten Heese: „... ein eigenes Local für Kunst und Alterthum“. Die Institutionalisierung des Sammelns am Beispiel der Osnabrücker Museumsgeschichte (Osnabrücker Kulturdenkmäler. Beiträge zur Kunst- und Kulturgeschichte der Stadt Osnabrück, 12), Bramsche 2004, S. 370-378.
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lung präsentiert.36 Im Zuge der Wiederentdeckung der Bilder, die in die Zeit des beschriebenen Paradigmenwechsels fällt, hatte sich das erste kurzfristige gemeinschaftlich städtisch-bürgerschaftliche Engagement in eine von der Stadt aufgegriffene kulturpolitische Aufgabe gewandelt. Neben der Dauerausstellung sorgen Wechselausstellungen im Felix-Nussbaum-Haus selbst sowie Leihgaben an andere Museen dafür, dass der Bekanntheitsgrad Felix Nussbaums und seiner Kunst weiter steigt. Durch die zahlreichen Ausstellungen wurde Nussbaum mittlerweile so bekannt, dass seine Bilder heute in keiner thematisch ähnlich gelagerten Ausstellung mehr fehlen.37
D IE B EDEUTUNG VON N USSBAUMS E RBE FÜR DIE H OLOCAUST E DUCATION Für die Holocaust Education bietet das Erbe Felix Nussbaums in seiner Doppelung als individuellem wie künstlerischem Nachlass ein herausgehobenes Potenzial, das in der Geschichtsdidaktik wahrscheinlich bislang kaum in Gänze erkannt ist, auch wenn das Selbstporträt mit Judenpass mittlerweile die Titel zahlreicher Geschichtslehrbücher ziert.38 Hervorzuheben ist, dass das Erbe in der musealen Repräsentation wie der museumspädagogischen Auseinandersetzung mit dem Holocaust über den gängigen „Einsatz des Darstellungs36 | Vgl. Felix-Nussbaum-Haus. Die Sammlung, in: http://www.osnabrueck.de/fnh/16350.asp [18.3.2014].
37 | Zu den wichtigsten Präsentationen der 90er Jahre zählen eine Ausstellung im Jüdischen Historischen Museum in Amsterdam (1994/95), die Präsentation Menschenbilder im Berliner Martin-Gropius-Bau (1997) sowie eine Ausstellung im Israel-Museum in Jerusalem im Frühjahr 1997. Die Ausstellung in Jerusalem erfolgte in enger Zusammenarbeit mit dem Kulturgeschichtlichen Museum und hatte über 60.000 Besucher; vgl. Stadt Osnabrück (Hg.): Leitbild für das Amt für Kultur und Museen. Kulturpolitische Leitlinien. Bericht 1997, Jahresplanung 1998, Osnabrück 1998, S. 29; Thorsten Rodiek: Daniel Libeskind – Museum ohne Ausgang. Das FelixNussbaum-Haus des Kulturgeschichtlichen Museums Osnabrück, Tübingen 1998, S. 5. Nach der Jahrtausendwende organisierte das Felix-Nussbaum-Haus anlässlich des 100. Geburtstag des Osnabrücker Malers im Jahre 2004 die Ausstellung Zeit im Blick. Felix Nussbaum und die Moderne, die dem Maler seinen Platz in der Malerei des 20. Jahrhunderts endgültig zuwies; vgl. Rosamunde Neugebauer (Hg.): Zeit im Blick. Felix Nussbaum und die Moderne. Ausstellungskatalog, Osnabrück/Bramsche 2004. 2010/11 bot sich zudem durch einen Umbau des Museums die Gelegenheit, im Musée d’art et d’histoire du Judaïsme in Paris die erste große Werkschau des Malers in Frankreich zu zeigen.
38 | Vgl. exemplarisch: NS-Herrschaft: „Volksgemeinschaft“ und Verbrechen, erarb. v. Wolfgang Jäger (Cornelsen Kurshefte Geschichte), Berlin 2012 (hier nur Titelbild, aber keine inhaltliche Bearbeitung des Themas); Horizonte. Geschichte Niedersachsen Qualifikationsphase II, hg. v. Ulrich Baumgärnter, Braunschweig 2012 (Titel und S. 96f.: „Ein Opfer des Massenmordes – Felix Nussbaum“).
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prinzips der Individualisierung und Personalisierung“39 hinausweist, mit der die Gedenkstätten- und Museumsarbeit auf die Zeitenwende des Ablebens der letzten Erfahrensgeneration des Holocaust reagiert und die Primärerzählungen durch sekundäre Präsentationen von Narrationen ersetzt. Denn Felix Nussbaums Werk stellt bereits in sich eine reflexive Präsentation dar. Seine darstellende Reflexion des Geschehens changiert zwischen Selbstsuche, Verstehenwollen und aufklärerischem Impetus. Darüber hinaus bietet der künstlerische Ansatz die Möglichkeit, sich dem Unvorstellbaren trotz seiner niederschmetternden Gewalt anzunähern. Nussbaum hat den Tod in den Gaskammern nicht direkt gemalt, da er bereits vor seiner Deportation mit dem Malen aufhörte. Aber in seinen Gemälden ist er dennoch präsent, weil Nussbaum wusste, wovon er in seinen Bildern sprach bzw. berichten musste. Und das ist das Außergewöhnliche seiner Hinterlassenschaft. Die Osnabrücker Sammlung erlaubt es mithin, sich dem Holocaust anhand eines individuellen Schicksals über ein besonderes Medium zu nähern: über Kunstwerke, reflektiert vor historischem Kontext. Das Museum bietet dazu besondere Führungs- und Werkstattprogramme an. Mit einigen Schulen vor Ort bestehen enge Kooperationen. Es erleichtert die Herangehensweise, dass Nussbaums Arbeiten in ihrer Aussage klar und direkt sind. Die Art des Gesamtwerkes gestattet es, einen Menschen in der Situation von Ausgrenzung, Unterdrückung und Verfolgung zu erfahren. Seine vielen Selbstporträts verleihen den Gefühlen des ‚Menschen Nussbaum‘ Ausdruck; seinen Ängsten und Nöten, der Ratlosigkeit, aber auch der Wut und dem Willen zu widerstehen und sich zu behaupten. Dafür wählte Nussbaum sein persönliches Ausdrucksmittel: die Malerei. Gerade diese Perspektive, die den Opfern des Holocaust exemplarisch ihre Würde zurückgibt, macht die besondere didaktische Qualität der Felix-Nussbaum-Sammlung für die Vermittlung des Holocaust aus. Einige der museumspädagogischen Angebote sollen im Folgenden näher vorgestellt werden. Seit 2012 wird mit Schüler führen Schüler (SfS) ein Vermittlungskonzept auf die Sammlung des Felix-Nussbaum-Hauses angewandt, mit dem aktuell in der Museumspädagogik verstärkt experimentiert wird. Die beteiligten Schulklassen werden ein gesamtes Schuljahr lang im Kunstunterricht begleitet, bzw. ihr Kunstunterricht findet unter Anleitung einer Museumspädagogin sowie der Lehrkräfte der beteiligten Schulen im Museum statt. In dem jeweils auf ca. 60 Unterrichtstunden angelegten Projekt werden sukzessive eigene Führungskonzepte erarbeitet. Die Vermittlungsfähigkeit der Schülerinnen und Schüler wird durch Sprach- und Körpertraining geschult und in Testführungen wird das erlangte Ergebnis schließlich angewandt. Das Konzept soll Jugendliche in die Rolle von Museumsexperten versetzen, um sie 39 | Katja Köhr: Die vielen Gesichter des Holocaust. Museale Repräsentationen zwischen Individualisierung, Universalisierung und Nationalisierung, Göttingen 2012, S. 245.
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an das Phänomen Museum heranzuführen. Sie lernen dabei, Ausstellungskonzepte zu erfassen und zu vermitteln. Dafür ist einerseits die inhaltliche Auseinandersetzung mit der Thematik notwendig, andererseits die Analyse der musealen Präsentation, durch die diese Thematik vermittelt werden soll. Auf diesem Wege erwerben die Teilnehmerinnen und Teilnehmer Vermittlungskompetenz. Sie werden selbst zu Museumsexperten.40 Die Beschäftigung mit den Gemälden Felix Nussbaums bedingt unumgänglich eine intensive Auseinandersetzung der beteiligten Schülerinnen und Schüler mit dem Holocaust. Das Konzept konfrontiert sie allerdings nicht nur allgemein, also auf rein inhaltlicher Ebene, mit dem Thema. Vielmehr müssen die Jugendlichen eine Form finden, wie sie ihren Mitschülerinnen und -schülern anhand der Gemälde das Leben des in Auschwitz ermordeten Malers vermitteln. Das stellt hohe Ansprüche an die Beteiligten. Gleichwohl zahlt sich diese nicht geringe Anforderung offenbar aus, wie die Reaktion einer beteiligten Schülerin zeigt: „Es habe wirklich etwas gebracht, als Museumsführerin zu arbeiten, sagte Maike Deckert. Beim Besuch der Documenta kürzlich sei sie anders an die Betrachtung der Kunst herangegangen.“41 Zur Einordnung der Geschichte Felix Nussbaums in den regionalgeschichtlichen Kontext bietet das Museum zudem einen Workshop an, der im Felix-Nussbaum-Haus und im stadtgeschichtlichen Ausstellungsbereich des Kulturgeschichtlichen Museums stattfindet. Dieser macht Felix Nussbaum in seiner Geburtsstadt Osnabrück als eines der jüdischen Opfer des Nationalsozialismus sichtbar, die bis zu Wegzug, Flucht oder Deportation Nachbarn, Schulfreunde und Spielkameraden gewesen waren – Menschen von nebenan. Der Workshop vermittelt Nussbaums Geschichte über einzelne Gemälde, in denen er sich insbesondere mit seiner jüdischen Identität befasst; über Fotos, Erinnerungsstücke und erhaltene Möbel seiner Familie; schließlich über kultische Gegenstände der jüdischen Gemeinde. Aufgrund der unmittelbaren geografischen Nähe wird zudem das Mahnmahl Alte Synagoge am ehemaligen Standort der 1938 zerstörten Osnabrücker Synagoge mit in den Workshop einbezogen. Der Ort erinnert mit seinen 161 Gitterstäben und einem gebrochenen Davidstern aus Stahl an die ermordeten jüdischen Mitbewohner der Stadt.42
40 | Vgl. Christel Schulte et al.: Schüler führen Schüler. Ein Vermittlungsformat der Kunsthalle Dominikanerkirche Osnabrück im Bereich Kommunikation und Bildung. Osnabrück 2011, S. 8-12; Marie-Luise Braun: Kunst auf Augenhöhe vermittelt. „Schüler führen Schüler“ an das Werk Felix Nussbaums heran, in: Neue Osnabrücker Zeitung, 27.7.2012.
41 | Braun: Kunst auf Augenhöhe. 42 | Der Workshop ist nachvollziehbar dokumentiert in: Thorsten Heese und Ralf Langer: „Mein Herz ist schwer und aller Hoffnung bar.“ Sachquellen als Erinnerungsträger im Museum, in: Geschichte lernen 104, 2005, S. 52-57.
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Daneben spielt auch das museal-architektonische Umfeld bei der Vermittlungsarbeit des Museums eine eigene Rolle. Die Aussagekraft der Gemälde und der verbliebenen Sachzeugnisse seiner Familie wird durch die besondere Museumsarchitektur in Form einer assoziativen Raumerfahrung besonders hervorgehoben. Das von Daniel Libeskind entworfene Gebäude – sein erster eröffneter Museumsbau – besticht durch seine topografischen Bezüge zur Osnabrücker NS-Geschichte. Libeskind bot die außergewöhnliche Topografie am Kulturgeschichtlichen Museum die Chance, seinem architektonischen Entwurf für den Anbau des Felix-Nussbaum-Hauses einen besonderen Akzent zu verleihen. Mit dem aus Beton geformten ‚Gang‘, der das totalitäre NS-Regime symbolisiert, weist die wichtigste line of thought seiner ‚sprechenden Architektur‘ auf die unmittelbar nebenan liegende Villa ‚Schlikker‘, zwischen 1932 bis 1945 Zentrale der örtlichen NSDAP. Und beim Gang durch das untere Geschoss der quer zum ‚Gang‘ angeordneten, mit Zink verblendeten ‚Brücke‘ fällt der Blick durch einen schmalen Fensterschlitz auf das ehemalige ‚Hitlerhaus‘, vor dessen Kulisse Felix Nussbaums Werk zu reflektieren ist: Wie ein Riss geht der Nationalsozialismus durch Leben und Werk des Osnabrücker Malers, der exemplarisch für die Opfer des Holocaust steht. Abbildung 3.1 und 3.2
3.1 Felix-Nussbaum-Haus/Kulturgeschichtliches Museum Osnabrück (Luftaufnahme), Foto: Bitter + Bredt/FelixNussbaum-Haus 2013 3.2 Villa ‚Schlikker‘ als Parteizentrale der NSDAP, sog. ‚Braunes Haus‘ (Farbfotografie, Osnabrück, nach 1933), Kulturgeschichtlichen Museum Osnabrück, E 2810
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Die Villa ‚Schlikker‘ ist heute als ‚Haus der Erinnerung‘ Teil des gesamten Museumsareals und bietet dem Publikum die Möglichkeit, die Existenz Felix Nussbaums vor dem regionalgeschichtlichen Hintergrund zu vertiefen. 1900/01 entstanden, ist sie nicht nur topografisches Zeugnis des 20. Jahrhunderts. Ihre eigene Geschichte markiert auch wesentliche Etappen der Geschichte des ‚Jahrhunderts der Massenmorde‘. Die Gründungsgeschichte als Industriellenvilla repräsentiert die Entwicklung Osnabrücks zur Industrieund Großstadt. Seine ‚braune Karriere‘ steht für das Scheitern der Weimarer Republik und die Geschichte des ‚Dritten Reiches‘. Ihre Nutzung durch die britische Militärregierung ab 1945 symbolisiert den Übergang von der NS-Diktatur zum demokratischen System der Bundesrepublik. Schon der Ort selbst hat damit ein besonderes Potenzial für die Beschäftigung mit dem 20. Jahrhundert. Seine Geschichte erlaubt es auf ideale Weise, nach den Ursachen, Merkmalen und Folgen des Nationalsozialismus zu fragen. Das Felix-Nussbaum-Haus als Lernort mit kunsthistorischem Ansatz wird so in der Museumskonzeption um eine geschichtsdidaktische Perspektive erweitert. Im ‚Haus der Erinnerung‘ zeigt die stadtgeschichtliche Dauerausstellung multiperspektivisch den Alltag der Menschen im 20. Jahrhundert vor dem Hintergrund der gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und politischen Entwicklungen seit dem Kaiserreich auf. Das Museum bleibt dabei nicht statisch, sondern hebt durch Vorträge und Wechselausstellungen regelmäßig Einzelaspekte der Dauerausstellung besonders hervor. Die Vortragsreihe Topografien des Terrors 43 fokussiert dabei die NS-Geschichte vor Ort mit ihren Ursachen und Spuren. Das ‚Haus der Erinnerung‘ ist zudem ein gesellschaftlicher Treffpunkt im Sinne des ‚partizipativen Museums‘. Dort begegnen sich Menschen in unterschiedlichen Foren. Im ‚Arbeitskreis Zeitgeschichte‘ diskutieren Zeitzeuginnen und Zeitzeugen unter wissenschaftlicher Betreuung über die Geschichte von Nationalsozialismus, Zweitem Weltkrieg und Nachkriegszeit. Die Arbeitsergebnisse werden in Form von Interviews gesichert und anschließend für die Präsentation in der Dauerausstellung ausgewertet. Dadurch wird das museale Narrativ regelmäßig ergänzt. Das ‚Forum Kriegskinder und Kriegsenkel‘ dient als Diskussionsplattform über die Auswirkungen der NS- und Kriegsgeschichte auf die Nachkriegsgenerationen bis in die jüngste Gegenwart. Im Rahmen dieses Forums wurde eine Publikation erarbeitet, die sich mit der Generation der „Kriegsenkel“ und ihrer Auseinandersetzung mit Geschichte von Nationalsozialismus und Zweitem Weltkrieg aus familiengeschichtlicher Perspek-
43 | Vgl. hierfür wie auch für die im Folgenden genannten Foren und Arbeitskreise die Webseite der Stadt Osnabrück, hier: http://www.osnabrueck.de/ns-geschichte [25.8.2014].
Felix Nussbaum und der ‚gemalte Holocaust‘
tive beschäftigt.44 Zudem widmet sich das ‚Forum Migration‘ – auch vor dem Hintergrund der Exilerfahrung Felix Nussbaums – Fragen der Mobilität und Flexibilität der Osnabrücker Gesellschaft in unterschiedlichen historischen Kontexten. Dieses Forum scheint zwar inhaltlich am weitesten vom Holocaust entfernt zu sein. Dennoch spielt dieser hier indirekt immer auch eine wichtige Rolle, da Fragen wie Asyl oder die Ausgrenzung von Minderheiten, Xenophobie oder andere Aspekte vor diesem Hintergrund jederzeit reflektiert werden können – gerade angesichts der Biografie Felix Nussbaums. Das multiperspektivische Konzept des Museums als Ort der Begegnung und Kommunikation eröffnet die Möglichkeit zu lebenslangem Lernen. Ziel des vielfältigen Museumsangebotes ist es, langfristig eine nachhaltige gesellschaftliche Auseinandersetzung mit der Geschichte des Nationalsozialismus sowie seiner Ursachen und Folgen zu fördern. Osnabrück besitzt mit dem Ensemble von Felix-Nussbaum-Haus und ehemaligem ‚Braunen Haus‘ sowie seiner konzeptionellen Verknüpfung eine einmalige museal-topografische Konstellation. Die Stadt stellt sich damit in zentraler Lage ihrer selbst gesteckten historischen und gesellschaftlichen Verantwortung als Friedensstadt.45 Im Zentrum dieser Arbeit steht das herausragende Erbe des Malers Felix Nussbaum. Der historische Zugang zur Shoah über das Schicksal des Osnabrücker Malers Felix Nussbaum reduziert im Übrigen dessen künstlerische Qualitäten sowie seine Bedeutung für die europäische Kunstgeschichte in keiner Weise. Nussbaums kunsthistorische Relevanz ist völlig eigenständig zu betrachten. Ebenso verhindert die innere Tiefe von Nussbaums Bildern – die aus der direkten Erfahrung erwächst, in der seine Arbeiten entstanden sind –, dass der Holocaust dabei einer beschönigenden Ästhetisierung anheim fallen könnte; im Gegenteil. Die Auseinandersetzung mit Nussbaums gemalter Botschaft für die kommenden Generationen ersetzt nicht nur konstruierte ‚Geschichtsgeschichten‘ wie Schindlers Liste 46, da sein Gesamtwerk über die immanente Narration hinaus authentisch bleibt. Es bildet darüber hinaus eine dauerhafte „Live-Schaltung“47 zu den Verbrechen der NS-Zeit und ihrer gesellschaftlichen Ursachen
44 | Vgl. Anette Winkelmüller, Thorsten Heese und Gabi Heetderks: Als die Jeans noch gebügelt wurden. Spuren des Krieges in einer heilen Welt, Hannover 2014. 45 | Die ‚Friedensstadt Osnabrück‘ bezieht einen wichtigen Teil ihrer kulturpolitischen Identität aus der Tatsache, dass in Osnabrück sowie in der Nachbarstadt Münster der Westfälischen Friede ausgehandelt und 1648 verkündet worden ist.
46 | Vgl. Christian Angerer: Zur Didaktik ästhetischer Darstellungen des Holocaust. Eine theoretische Grundlegung, in: Zeitschrift für Geschichtsdidaktik 5, 2006, S. 152-177, hier: S. 170f.
47 | Thorsten Heese: „Hier reden die Steine“. Können Steine reden? Museum und Erzählen, in: Michele Barricelli, Axel Becker und Christian Heuer (Hg.): Jede Gegenwart hat ihre Gründe. Geschichtsbewusstsein, historische Lebenswelten und Zukunftserwartung im frühen 21. Jahrhundert, Schwalbach/Ts. 2011, S. 140-152, hier: S. 146.
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und Folgen. Dies ist im Übergang zur Holocaust Education ohne Zeitzeugenschaft ein didaktischer Schatz, der kaum überbewertet werden kann.
Bruno Canova Shoah, Rassengesetze und La difesa della razza in den Werkzyklen L’arte della guerra und La strage degli innocenti Lorenzo Canova
I. B RUNO C ANOVA – B IOGRAPHISCHER H INTERGRUND Bruno Canovas Kunstprojekt L’arte della guerra (Die Kunst des Krieges) stellt ein einzigartiges Experiment in der italienischen und außeritalienischen Kunstlandschaft der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts dar – ein Projekt, das auch unter Berücksichtigung der besonderen Biographie des Künstlers und der dramatischen Ereignisse, die er während des Zweiten Weltkriegs und insbesondere nach dem verhängnisvollen 8. September 1943 erfahren hat, kritisch untersucht werden sollte. Daher scheint es angebracht, Bruno Canovas Vita vorzustellen, auch, um sein Werk besser zu verstehen. Hierzu sei die Biographie von Angela Compagnone zitiert, die auf einer sorgfältigen Forschungsarbeit basiert, für die die Autorin unlängst auch bisher nicht veröffentlichte autobiographische Manuskripte des Künstlers untersucht hat und somit neue Erkenntnisse gewinnen konnte: „Bruno Canova wird am 26. März 1925 als Kind eines Maurers und einer Strickerin geboren. Erst im zweiten Lebensjahr wird er seinen Eltern anvertraut, nachdem es ihnen endlich gelungen war, die Ehe zu schließen. Nach Abschluss der Pflichtschule geht der junge Bruno verschiedenen Gelegenheitsarbeiten nach, um die Familie zu unterstützen, doch die Harmonie wird bald durch eine Reihe tragischer Ereignisse erschüttert. Sein Vater erkrankt an Tuberkulose und seiner Mutter gelingt es trotz großer Anstrengungen nicht, für den Unterhalt der gesamten Familie aufzukommen. Daher entscheiden sie sich schweren Herzens, den Jungen in ein Erziehungsheim zu geben, das Canova als „alles andere als erziehend“ beschreibt und in dem die Kinder einen erniedrigenden Freiheitsentzug erleben müssen: Ohne Unterricht oder Bücher zum Lesen sind die Tage öde, die Märsche im ummauerten Hof scheinen endlos, schnell werden harte Strafmaßnahmen
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verhängt, einige Lehrer missbrauchen die Jungen sogar. Die lang erwartete Entlassung in die Freiheit fällt mit dem Kriegsbeginn zusammen: Canova erlebt die Angst und den Schrecken der ersten Bombardierungen und wird sich früh der furchtbaren Auswirkungen eines jeden Krieges bewusst. Kurze Zeit später erlebt er nicht nur den Schmerz über den Verlust des Vaters, sondern auch die Zersplitterung Italiens infolge der Waffenstillstandserklärung von Badoglio. Er wird einberufen, geht zur Marine und wird zum Flottenstützpunkt in La Spezia entsandt. Dort erreichen ihn permanent Nachrichten von Massakern und Razzien der Nazis, teilweise unterstützt von den Schwarzen Brigaden. Nachdem er per Zufall einer Bombardierung entgehen konnte, beschließt er, seine restliche Zeit „auf bestmögliche Weise“ zu nutzen und gründet mit einigen Kameraden eine Partisanengruppe. Doch er wird verraten, verhaftet, einige Tage in einem Gefängnis in Genua festgehalten und schließlich in das Konzentrationslager Brüx im Sudetenland deportiert. Das Leben im Lager ist unbeschreiblich: unmenschliche Zwangsarbeiten bei härtesten klimatischen Bedingungen, im resignierten Bewusstsein einer ständigen Todesgefahr. Dank seiner guten Führung und seiner jugendliche Kraft kann er der monatelangen Tortur physisch standhalten, die ihn im Innern jedoch unausweichlich schwer zusetzt. Kurz vor Kriegsende findet Canova die Kraft, diesem unvorstellbaren Leiden, das auch den stärksten Menschen auszehrt und zerstört, zu entfliehen und endlich wieder zu seiner Mutter heimzukehren. Das Kriegsende markiert für den jungen Canova eine echte Wiedergeburt. 1947 erhält er einen Ausbildungsplatz zum Grafiker am Rinascita-Internat in Rom. Später wird es nach Mailand verlegt und dort kann er sich endlich auf die Kunstgattung spezialisieren, die seine größte Leidenschaft ist: das Zeichnen. In Mailand lernt er bei wichtigen Vertreter der italienischen Avantgarde, unter anderem Luigi Veronesi, Albe Steiner, Mario de Micheli, Max Huber, Mino Maccari, Pietro Consagra und Renato Marino Mazzacurati, die ihn in Kunsttheorie und Kunstpraxis unterrichten; zudem lernt er viele Protagonisten der italienischen Kunstszene kennen, die in der Nachkriegszeit im Internat verkehren, wie de Chirico und Guttuso. Nach dem Studium findet er eine Anstellung als Grafiker bei einer Mailänder Presseagentur und arbeitet nebenbei als Karikaturist für die Tageszeitungen L’Unità und Paese Sera sowie für die Wochenzeitschriften La lotta und Il lavoro. Diese Tätigkeit setzt er auch nach seinem Umzug nach Rom fort, wo er zudem für die Galerie und Druckerei Il Torcoliere arbeitet, für die er die Kontakte zu den Künstlern hält. Während dieser Zeit bekommt Canova Zugang zur römischen Kunstszene und hat Verbindung zu Künstlern wie Mario Mafai, Alberto Ziveri, Salvatore Scarpitta, Renato Guttuso und Renzo Vespignani, die ihn auch stilistisch inspirieren. 1955 erhält er den Auftrag, eine Gemälde- und eine Fotoausstellung für die Weltfestspiele der Jugend und Studenten in Warschau zu organisieren. Dort lernt er auch David Alfaro Siqueiros kennen. Nachdem er seinen Wohnsitz lange Zeit häufig gewechselt hat, lässt er sich nun endgültig in Rom nieder, wo sich zwei wichtige Ereignisse vollziehen: seine Eheschließung mit Teda und die Geburt seines Sohns Lorenzo. Auf Rat von Vespignani richtet er sein Atelier 1962 in einem von Enrico Castelli entworfenen Gebäude
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ein – einem seltenen Beispiel moderner Architektur, die speziell als Raum für Künstler entworfen worden war. Es handelt sich um einen Ort großer kultureller Dichte, in dem die Meister der italienischen Kunst des 20. Jahrhunderts verkehren: Afro, Gentilini, Maccari, Tamburi, Vespignani und Ziveri lassen hier ihre Werke drucken; Burri fertigt hier seine erste Verbrennung an, Rambelli einige seiner Skulpturen. Hier ist es auch, wo Canova seine bedeutendsten Werke entwirft und verwirklicht: das Quaderno romano (Römisches Tagebuch), das auf der IX. Quadriennale ausgestellt wird und die Wertschätzung von Carlo Ludovico Ragghianti und vom Präsidenten der Stiftung, Fortunato Bellonzi, erfährt; die aufwändig geplante und mühevoll erarbeitete Rekonstruktion einer Geschichte der menschlichen Gewalt, die im Zyklus L’arte della guerra und in den Werken zur Strage degli innocenti (Der Mord an den unschuldigen Kindern) Ausdruck findet; Appunti su Roma (Notizen über Rom), das im Catalogo nazionale Bolaffi della grafica von 1980 von Dario Micacchi ausgezeichnet wird; weitere Gemälde und Radierungen aus den letzten zwei Jahrzehnten des Jahrhunderts, die in zahlreichen Einzel- und Kollektivausstellungen präsentiert wurden. Während der letzten Jahre findet Canova im schönen Ravello zu Ruhe und Inspiration. Auch dort hört er nicht auf, zu experimentieren und sich an neuen künstlerischen Techniken zu versuchen. Während dieser Zeit widmet er sich mit Beharrlichkeit und Engagement dem Verfassen seiner Autobiographie, mit der er ein erstaunlich sinnliches Gedächtnis unter Beweis stellt und uns ein wertvolles Zeitzeugnis und wertvolle Lebensgeschichten hinterlässt. Am 31. Juli 2012 stirbt er im Alter von 87 Jahren in Lacco Ameno auf Ischia.“1
Durch seine Gefangenschaft in einem NS-Arbeitslager im Jahr 1944 zum Zeitzeugen geworden, hat Bruno Canova mithilfe der darstellenden Künste einen Beitrag geleistet, den großen gemeinschaftlichen Flickenteppich der Erinnerung zu erweitern und die Erinnerung an das Grauen der Shoah und an die Opfer der nazifaschistischen Verfolgung an die künftigen Generationen weiterzugeben. Mit größtem ethischen, bürgerschaftlichen und politischen Engagement hat Bruno Canova seit Ende der 1960er Jahre bis zu seinem Tod am 1 | Die von Angela Compagnone besorgte Biographie ist erschienen im Ausstellungskatalog: Maurizio Calvesi (Hg.): Bruno Canova. La memoria di chi non dimentica (Roma, Casino dei Principi, Musei di Villa Torlonia, Dezember 2013 - Februar 2014), San Marino 2013, S. 103f. Der Katalog stellt im Moment die vollständigste Informationsquelle über Canovas Werk dar. Die biographische Darstellung von Angela Compagnone basiert auf ihrer hervorragenden Forschungsarbeit: Bruno Canova. Una monografia della memoria, Diplomarbeit im Fach Kunstgeschichte, Philosophische Fakultät der Universität ‚La Sapienza‘ in Rom, Gutachter: Prof. Stefano Colonna, Studienjahr 2012-2013 (die in Kürze als Buch erscheinen wird). Zu Canova vgl. auch den Ausstellungskatalog Lorenzo Canova (Hg.): Bruno Canova, Opere 1982-1993 (Roma, Biblioteca Nazionale centrale Vittorio Emanuele II, Mai - Juni 1993), Roma 1993, mit Texten von Gore Vidal, Guido Giuffrè, Sergio Rossi; Lorenzo Canova.: Visione romana. Percorsi incrociati nell’arte del novecento, Pisa 2008, S. 28-36.
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erwähnten Kunstprojekt L’arte della guerra gearbeitet, das sich der Grausamkeit des Krieges in der gesamten Geschichte widmet. Es ist eine „dramatische Anklage gegen Gewalt, Krieg und Gefangenschaft und wird zudem zu einem wertvollen Zeitdokument, wenn man die eingefügten Collagen, Dokumente und Belege betrachtet, die historische Zeugnisse für Übergriffe, Unterdrückung und Verbrechen gegen die Menschlichkeit sind“, wie Carmine Siniscalco schreibt.2
II. L’ ARTE DELLA GUERRA Im Rahmen dieses Projekts ist zunächst ein Künstlerbuch3 entstanden, das Ende der 1960er Jahre begonnen und 1972 veröffentlicht wurde. Ihm schloss sich eine Wanderausstellung an, die mehr als 15 Jahre lang in zahlreichen italienischen Städten gastierte. In diesem komplexen und differenzierten Opus kommt denjenigen Werken, die der Judenverfolgung, den Rassengesetzen und der Shoah gewidmet sind, besondere Bedeutung zu. Es handelt sich um eine grundlegende Arbeit, der sich der Künstler sein Leben lang gewidmet hat. Er maß ihr nicht nur künstlerische Bedeutung bei, sondern sah sie vor allem als historisches Belegmaterial mit pädagogischem und didaktischem Wert. Zu diesem Zweck wurden die wichtigsten Werke des Zyklus mehrere Jahre lang im Gebäude der ehemaligen Mittelschule Baracca im römischen Stadtteil Casilino 23 ausgestellt. Dort hat Canova in direkter Zusammenarbeit mit den Schülern auch zwei Wandgemälde zum Thema Frieden angefertigt, die dort dauerhaft beherbergt werden. Trotz der schonungslosen Zwangsarbeit im Konzentrationslager Brüx im Sudentenland und des Verlustes dreier Familienangehöriger, die die Nazis beim Massaker von Marzabotto ermordeten, hat Canova diese Werke nicht in Form einer Erzählung oder einer Rekonstruktion seiner persönlichen Erlebnisse als Zeuge der nazifaschistischen Verbrechen konstruiert. (Diese Erlebnisse wurden erst kürzlich durch die in seinen letzten Lebensjahren verfasste und noch unveröffentlichte Autobiographie bekannt.) Stattdessen wollte Canova künstlerisch tätig sein, allerdings mit der historischen Genauigkeit eines Wissenschaftlers. So hat er zu den Themen, die er aufgreifen wollte, eine riesige Literaturauswahl zusammengetragen und untersucht. Zudem hat er Dokumente, Briefe, Originalplakate, Zeitungsausschnitte, Fotos, Tagebücher und Interviews gesammelt und sie mithilfe eines in den Vorjahren entwickelten Montageverfahrens zum Leben erweckt, bei dem gezeichnete Fragmente und Readymade-Elemente simultan montiert werden. Besonders anschaulich 2 | Carmine Siniscalco: Un anno dopo in Bruno Canova, in: Cavalesi (Hg.): Bruno Canova, S. 9. 3 | Bruno Canova: L’arte della guerra, mit einem Text von Aldo Masullo, Roma 1972.
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zeigt sich diese Vorgehensweise beispielsweise in seinem Quaderno romano – Appunti su Roma (Römisches Tagebuch – Notizen über Rom), das 1965 auf der Quadriennale in Rom gezeigt wurde. In seinem Zyklus L’arte della guerra hat Canova somit unterschiedliche Aspekte verbunden: seine avantgardistische Ausbildung (die an die Grafik von Albe Steiner und Max Huber sowie die Fotografie von Luigi Veronesi anknüpft), eine persönliche Neuinterpretation der futuristischen und dadaistischen Collage, seine Begeisterung für George Grosz, Kurt Schwitters und Otto Dix sowie seine Begabung als Zeichner und Maler. In seiner Autobiografie schreibt er: „[I]ch wählte die brauchbaren Zeichnungen aus, modifizierte, zeichnete nach, kolorierte und klebte sie schließlich auf Aluminiumfolie […]. Wenn ich interessante Dokumente finde (oder von anderen erhalte), klebe ich sie noch immer mit der Neugier des Malers und Grafikers auf Tafeln. Für einige entscheide ich mich aufgrund ihrer Einzigartigkeit, für andere aufgrund ihrer ausgeprägt dramatischen Wirkung“. 4
Der Zyklus entstand also Ende der 1960er Jahre aus der simultanen Arbeit an einem Buch und an Bildern, die untereinander in enger Verknüpfung stehen sollten. Teilweise greifen das Buch und die Bilder auf dasselbe dokumentarische Material zurück, zwar unter Anwendung unterschiedlicher Kompositionsprinzipien, aber mit derselben Bereitschaft, die in den Fokus gerückten historischen Ereignisse so objektiv und so genau wie möglich darzustellen. Beispielsweise bedient sich eine Seite im Buch, die die Verabschiedung der Rassengesetze von 1938 und deren Auswirkungen für die italienischen Schulen und Universitäten thematisiert, derselben Zeitungsausschnitte (aus den Tageszeitungen Il Messaggero und Il Corriere della Sera) wie das Werk 1938 von 1973. In 1938 leitet sich das verhängnisvolle und tragische Endergebnis der Rassengesetze, deren Verabschiedung zunächst die jüdische Schüler-, Lehrer-, Studenten- und Professorenschaft traf, nicht nur aus dem hervorstechend großen gelben Stern ab, sondern wird noch deutlicher durch den rechts im Bild mit Bleistift angedeuteten Stacheldraht, einer offensichtlichen Anspielung auf die Vernichtungslager, während die auf den Untergrund geklebten Fragmente mit kindlichen Schreibübungen den Aufschrei gegen den italienischen Rassismus und seine entsetzlichen Folgen noch schmerzhafter erscheinen lassen. Canova hat somit Plakate, Zeitungsausschnitte, Originaldokumente, verbal-visuelle Elemente, fast informelle Grundierungen (die in der Tradition Burris und seinem Interesse für Dubuffet stehen), grafische Partien und gemalte Bereiche in seinen Werken verwendet, erstmals in seinem Buch von 1972. Wie Marco Gallo in seinem Aufsatz von 1998 schreibt, ist Canova 4 | Aus dem Manuskript der unveröffentlichten Autobiographie von Bruno Canova: Quella maledetta ciminiera, S. 170 und 209.
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„folglich kein Anachronist oder Reaktionär; aufgrund einer unbesiegbaren Neigung zum Realismus verwendet er bei der räumlichen Komposition nichtsdestotrotz Verfahren, die vom sogenannten gegenständlichen Realismus absehen und den Raum als Synchronie unterschiedlicher zeitlicher Perspektiven anlegen, indem sie auf die räumlich-zeitliche Dimension des Kubismus zurückgreifen […], und als Durchdringung unterschiedlicher Bereiche und konzeptueller Ebenen, was sich zum Beispiel in der Klebetechnik der zahlreichen Zeichnungsfragmente zeigt (in denen die Objekte auf einen reinen Formimplus oder auf eine reine Bezeichnung reduziert werden), oder in der kritischen Montage dokumentarischer Fundstücke wie Zeitungen, Flugblätter, Plakate und Belege unterschiedlicher Herkunft, die sich in einer kontinuierlichen semantischen Erneuerung überlagern und teilweise überschneiden. So auch im epischen Werk L’arte della guerra, einer Serie von Gemälden und Skulpturen, vor allem aber von dokumentarischen Montagen, das die Objektivität und die Genauigkeit einer wissenschaftlichen Untersuchung aufweist. Hier offenbart Canovas Technik ihren Bildungsaspekt, der in erster Linie sprachlicher Natur ist, denn es ist offensichtlich, dass der Raum als wichtigstes Mittel der Bedeutungserschließung angelegt ist, die auf einer Gegenüberstellung von Formen beruht. Die Bedeutungszuweisung erfolgt dabei durch Annäherung, die nicht als räumliche Nähe, sondern als zeitliche oder rückblickende Vertiefung zu verstehen ist.“5
Daher gehören die Buchillustrationen, die in einer Mischtechnik Grafit, Tusche, Pastell, Tempera, Acryl und Sgraffito vereinen, zu den intensivsten und gelungensten Werken Canovas und belegen eine ausgezeichnete künstlerische Begabung, bei der die Übergänge zwischen den Techniken dazu dienen, die kommunikative und symbolische Dramatik noch zu verstärken. Aus einer halluzinatorischen Perspektive von höchster moralischer Spannung hat Canova seine 1969 in der Kapuzinergruft in Palermo angefertigten Skelett-Studien eingesetzt, um seiner Geschichte des Krieges und der Gewalt von der Urzeit bis zur Atombombe tragische Intensität zu verleihen. In diesem Zyklus treten diejenigen Werke hervor, die die Gewalt und die Verbrechen des italienischen Kolonialismus in Afrika, den Ersten Weltkrieg und das Grauen des Zweiten Weltkriegs fokussieren: Die Bombardierung der Städte (die Canova während seiner Jugend in Bologna, während des Militärdienstes bei der Marine in La Spezia und während der Gefangenschaft selbst erlebt hat) bis hin zu den drei Werken zum Nazifaschismus und der Shoah, die den ersten wichtigen Schritt zum wenig später angefertigten großen Bilderzyklus und zu den Arbeiten der folgenden Jahrzehnte markieren, die sich mit Faschismus, Judenverfolgung und Holocaust beschäftigen. Auf diesen drei Bildern sind Hakenkreuze und die tragische Silhouette eines Krematoriums 5 | Marco Gallo: Una voce del realismo: Bruno Canova, in: Ders. (Hg.): Bruno Canova, catalogo della mostra di Roma (Museo Laboratorio di arte contemporanea, Università di Roma „La Sapienza“, Januar - Februar 1998), Roma 1998, S. 5-16, hier: S. 5.
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zu sehen, die Knochen erhängter Häftlinge und die Baracken der Vernichtungslager6, bis hin zu den makabren und grotesken Skeletten von Hitler und Mussolini (deren Züge fast karikaturistisch sind), die einer Knochenparade beim Stechschritt zusehen (Abb. 1). Abbildung 1
Bruno Canova: L‘arte della guerra, 1972
Dazu schreibt Maurizio Calvesi: „Doch es ist bei Dante […], bei dem man Übereinstimmungen zum aufgelösten Visionarismus Canovas – aufgelöst wie schattierter Rauch – erkennen kann …[d]a hob dieser Sünder den Mund von der grausigen Speise [1. Vers des 33. Gesangs aus Dantes Inferno 7, Anm. der Übersetzerin]…, die an ein umgekehrtes Inferno denken lassen, in dem der Schatten eines Engels der Sühner ist, der versunken in einer religiösen Ergebenheit
6 | Canova besuchte Auschwitz im Jahr 1955, eine dramatische Erfahrung, von der er in seiner noch unveröffentlichten Autobiographie erzählt. Darin berichtet er auch von der Begegnung mit zahlreichen Juden im Konzentrationslager Bozen, das er nach seiner Verhaftung im Jahr 1944 passierte, bevor er nach Brüx deportiert wurde. Die Lagerbaracken sind auch auf seiner dramatischen Radierung Appunti sulla tortura (Notizen über die Folter) von 1980 und seinem Flachrelief Colonna infame (Schandpfahl) von 1998-2002 zu sehen. 7 | Übersetzung aus: Dante Alighieri: La Commedia. Die Göttliche Komödie. I: Inferno / Hölle, in: Prosa übers. u. komm. von Hartmut Köhler, Stuttgart 2010, S. 505.
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lebt […] und in der besorgten Liebe zur Erinnerung desjenigen, der nicht vergisst; und wo nicht die beiden höchsten Dichter [Vergil und Dante im Inferno, Anm. der Übersetzerin] die unwürdigen Besucher sind, sondern die Malebranche-Teufel, die Signifer der Fascis und des Hakenkreuzes“. 8
Bei Angela Compagnone heißt es: „Die Zeichnungen der Gebäude sind bedeutsam: in den langen Bauten mit den Pultdächern erkennt man die Baracken der Vernichtungslager […]. Auch ein rauchender Schornstein ist vorhanden, der mit jenem in Verbindung gebracht werden kann, von dem er in seiner Autobiografie ausführlich berichtet: Die Fabrik, in der er im Lager arbeiten muss, hat anfangs drei Schornsteine, aus denen immerfort Rauch aufsteigt. Mit der Zeit und durch die fortgesetzten Bombardierungen werden zwei der drei Schornsteine zerstört, bis auf den mittleren, der jedem Luftangriff widersteht und bis zum Ende des Krieges stehen bleibt: ‚Sobald aus diesem letzten Schornstein ein wenig Rauch aufstieg, musste man einen weiteren Bombenabwurf befürchten. Das Dilemma war: Wird es tagsüber oder nachts passieren? Der Rauch und das alliierte Aufklärungsflugzeug schienen sich abgesprochen zu haben. Trotz tonnenweise abgeworfener Bomben ist es ihnen nicht gelungen, ihn zu treffen – er war wie verhext, dieser Schornstein.’“9
Anknüpfend an diese Zeichnungen fertigt Bruno Canova zu Beginn der 1970er Jahre einige Arbeiten an, denen ausgiebige historische Recherchen zugrunde liegen und die von großer Ausdruckskraft und schmerzlicher Anteilnahme sind, was zweifellos in Verbindung mit seinen persönlichen Erfahrungen steht. Die Symbole bleiben nicht im Raum stehen wie kühle Anspielungen, sondern werden zu strukturierenden Elementen der dramatischen Ausdruckskraft dieser Werke, die erfüllt sind von der eindringlichen und leidvoll erkämpften Gabe, Dinge und Ereignisse zu bezeugen und in Erinnerung zu rufen, die derart entsetzlich sind, dass sie den Bereich des Unsagbaren erreichen: „mit bleicher und getrübter Farbgebung, zerkratzend, absetzend oder verbindend, bis ein schauerlicher, flottierender Nebel entsteht, in dem sich das Grauen und die Tränen des Krieges verbergen und der dem Menschen alle Zeit und allen Raum entreißt.“10
8 | Maurizio Calvesi: Bruno Canova, l’Inferno ribaltato, in: Ders.: La memoria di chi non dimentica, S. 7. 9 | Angela Compagnone: In ricordo delle stragi, in: Calvesi: La memoria di chi non dimentica, S. 19-27, hier: 21; das Zitat von Canova ist dem unveröffentlichten Manuskript von Canova: Quella maledetta ciminiera, S. 96 entnommen. 10 | Dario Micacchi: La guerra e le profonde radici della memoria. Bruno Canova al „Ferro di cavallo“, in: L’Unità, 8.10.1981.
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Die Werke des Zyklus L’arte della guerra sind überaus vielschichtig und vermitteln ihre Botschaften auf mehreren Ebenen. Häufig wird die Aussage des Werks durch kleine, mit rotem Pastell unterstrichene oder an den Rand des Bildes geschriebene Textausschnitte vervollständigt. Canova wählt in diesen Werken viele Techniken, die sich auf neue, einzigartige Weise und mit großer semiotischer Ausdruckskraft mit der Pop-Art und der Konzeptkunst auseinandersetzen: Lettering, Dokumente und Symbole, die auch von seiner Grafikausbildung herrühren, wie der mit Schablone gemalte Schriftzug, der ein Zitat von Brecht bildet, das vor der konstanten Gefahr eines Wiederauflebens von Nationalsozialismus und antisemitischem Hass warnt (La cosa immonda [Die widerliche Bestie], 1974) – in einem Bild, in dem ein fatales Feuer die Schrift aufflammen lässt und das sich zwischen informellen Strukturen und plastischer, verbal-visueller Energie bewegt. Bei den anderen Werken sind besonders erwähnenswert: die Zeichnung eines Schmetterlings und ein Gedicht, die mit tragischem Lyrismus an das Grauen und die Lüge des Ghettos von Theresienstadt erinnern (Terezín [Theresienstadt], 1972), der vielsagend von einem Reichsadler attackierte Buchstabe „J“, mit dem die Pässe der deutschen Juden bestempelt wurden (Una nazione padrona del mondo [Eine weltbeherrschende Nation], 1973, vgl. Abb. S. 139). Häufig wird die Aussage dieser Werke durch die Angabe von Daten, Slogans oder Zitaten von Mussolini und Hitler auf dem vom Künstler selbst gestalteten Bilderrahmen vervollständigt. Werke wie Il mondo prende atto delle parole di Hitler (Die Welt nimmt Hitlers Worte zur Kenntnis, 1972-73, Umschlagbild) bekommen hierbei eine besondere Bedeutung. In diesem Bild entdeckt man auf der Öffnung eines Verbrennungsofens schockierende technische Dokumente zu dessen Montage und Betrieb sowie einen Davidstern, der aus einer Fotocollage zusammengesetzt ist, die die Gräueltaten der Shoah zeigen, begleitet von der siegesgewissen Rhetorik der damaligen italienischen Presse. Dieses große Bild präsentiert sich als Abschluss dieser dramatischen Auswahl von Werken zum faschistischen Antisemitismus in Italien und zur Shoah, wie dem zuvor erwähnten 1938 oder Molti nemici molto onore (Viele Gegner, viel Ehre, 1973), Operazione notte e nebbia – annientare gli ebrei (Operation Nacht und Nebel – Juden vernichten), ebenfalls von 1973, in denen Canova historische Zeitungsausschnitte, öffentliche Bekanntmachungen und anderes dokumentarisches Material zusammengefügt und durch Zeichnungen und künstlerische Eingriffe ergänzt hat. Mit dramatischer Klarheit stellt er so die historischen Tatsachen und die italienische Verantwortung an der rassistischen Gesetzgebung und der Unterdrückung und Vernichtung der Juden dar. „So stellt er unter Beweis“, schreibt Mario Avagliano, „nicht nur ein innovativer Künstler zu sein, sondern ein Pionier, der die italienische Verantwortung an der Judenverfolgung enthüllt. Ein schwarzes, noch immer vergessenes
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Kapitel unserer Geschichte, das er uns mit der Kraft, den Farben und der Energie der Bilder und der Dokumente ins Gesicht schleudert.“11
Bereits diese Werke, schreibt Paolo Coen, „genügen jedenfalls, die Nähe des Künstlers zur sogenannten ‚Holocaust-Kunst‘ bzw. zur ‚Kunst während der Shoah‘ evident werden zu lassen, also zur Tragödie, die die Juden nach der Definition von Elie Wiesel zur ‚ersten Zielscheibe’ der Nazis machte.“12
Im Laufe der Jahre hat Canova seine Erforschung des italienischen Rassismus und der Judenverfolgung fortgeführt, hauptsächlich durch Collage-Arbeiten, für die er vor allem während des Faschismus erschienene Zeitschriften wie La difesa della razza13 verwendet hat, zusammen mit weiteren Dokumenten, fotografischem Material und eigenen Zeichnungen. Durch der Sprache der bildenden Kunst und mit historischer Strenge und Genauigkeit, was Bilddefinition und Überlieferung der Zeitzeugnisse angeht, kann er so die systematische Ideologie der faschistischen Rassenpolitik herausstellen, die im Namen absurder und unbegründeter wissenschaftlicher Grundlagen und der vermeintlichen Überlegenheit der nicht existierenden italienischen Rasse agierte. Dies zeigt sich beispielsweise im Werk Razzismo italiano (Italienischer Rassismus) von 1996. Der Werkzyklus, der auf der Montage unterschiedlicher Elemente basiert – die Canova in seinen letzten Lebensjahren auch im Internet sammelte, stets mit historischer Genauigkeit und kritischem Urteilsvermögen –, umfasst auch Arbeiten wie Genocidio ([Genozid] 2000), das sich u.a. dem Porajmos widmet, dem Massenmord an Sinti und Roma, aber auch dem Massaker der politischen Gefangenen und der Homosexuellen in den Vernichtungslagern, oder wie Großdeutschland Ja! (1998, Abb. 2), wo der Künstler neben verschiedenen Elementen, die die Geschichte des Nationalsozialismus nachzeichnen (und mit einem historischen Foto vom Eingangstors in Auschwitz enden), einen Artikel aus dem Giornale d’Italia von 1936 integriert hat, der von einem 11 | Mario Avagliano: Canova, quelle urla dal buio trasformate in pittura, in: Il Messaggero, 14.12.2013, S. 67.
12 | Paolo Coen: Bruno Canova a Villa Torlonia: contributo all’arte della Shoah, contributo alla lotta contro il negazionismo, in: Calvesi: La memoria di chi non dimentica, S. 11-13, hier: S. 11.
13 | Die berüchtigte Zeitschrift La difesa della razza wurde von 1938 bis 1943 von Telesio Interlandi herausgegeben. Mit ihrer Erklärung, die arische und die ‚italienische Rasse‘ seien den anderen, als minderwertig abgestempelten Rassen überlegen, insbesondere den Juden und anderen Bevölkerungsgruppen, mit denen Italien auch im Zuge der kolonialen Eroberungen in Kontakt gekommen war, war sie einer der Eckpfeiler des auf vermeintlich wissenschaftlichen Grundlagen basierenden italienischen Rassismus (der 1938 in den Rassengesetzen gipfelte). Siehe hierzu auch den Aufsatz von Mario Avagliano in diesem Tagungsband sowie Ders. und Marco Palmieri: Di pura razza italiana. L’Italia „ariana“ di fronte alle leggi razziali, Milano 2013.
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Vortrag des Reichsministers Hans Frank in Rom über die Gesetzgebung „zum Schutz vor dem physischen und moralischen Niedergang der deutschen Rasse“ und über die Schutzmaßnahmen vor „den physisch Entarteten“ berichtet, die das Rassenhygieneprogramm der Nationalsozialisten und seine tragischen Folgen ankündigen. Abbildung 2
Bruno Canova: GroSSdeutschland Ja!, 1996
Die Gefahr einer propagandistischen Rhetorik schalten diese Werke Canovas somit aus, sie unterstreichen die Wirkkraft der historischen Quellen und sind mit großer Ausdruckskraft und schmerzlicher Anteilnahme aufgeladen. Damit tragen sie dazu bei, die Erinnerung an diese Dinge vor dem Vergessen und vor dem schuldhaften Verhalten derjenigen zu bewahren, die sie leugnen.
III. L A STRAGE DEGLI INNOCENTI Im Anschluss an den Zyklus L’arte della guerra hat sich Bruno Canova Ende der 1970er Jahre Werken zugewandt, die die römische Peripherie, den Müll und die Missstände des Konsumismus thematisieren. Vor allem aber hat er sich einem neuen Werkzyklus mit Zeichnungen, Radierungen, Flachreliefs und Gemälden gewidmet, in dem er eine persönliche und metaphorische Neuinterpretation des Kindermordes von Bethlehem vornimmt: La strage degli innocenti
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(Der Mord an den unschuldigen Kindern). Seit 1980 hat Canova so unter anderem eine große Radierung (La strage degli innocenti – Erode Re [Der Mord an den unschuldigen Kindern – König Herodes], 1982-1998), eine Serie von Gemälden (insbesondere La strage degli innocenti 1, 1982-1984), ein beeindruckendes, zweiseitiges Flachrelief, in dem die metaphorischen Gestalten eines verhüllten König Herodes und zerstörter Puppen zu sehen sind (La strage degli innocenti – Erode Re [Der Mord an den unschuldigen Kindern – König Herodes], 1990, Abb. 3.1) und ein großes Gemälde von 1990, auf dem Fleischstücke dargestellt sind (La strage degli innocenti 2 – Grande natura morta [Der Mord an den unschuldigen Kindern 2 – Großes Stillleben], 1990), angefertigt. La strage degli innocenti spielt symbolisch auf alle unschuldigen Opfer des Krieges an, insbesondere auf die ermordeten Kinder, wobei Canova besonders an die jungen Opfer des Ghettos von Theresienstadt – für das er stets eine besondere Aufmerksamkeit hatte – denkt und die Erinnerung an sie wach hält. Zur ersten Version des Gemäldes, zur Radierung und zum Flachrelief schreibt Angela Compagnone: „rings um den gespenstischen König Herodes verteilt Canova unzählige Einzelteile zerstückelter Puppen: Körper ohne Glieder, im Raum verstreute Arme und Beine, zertrümmertes Spielzeug, Symbol einer verstümmelten, unwiederbringlich zugrunde gerichteten Unschuld, wobei der Mensch abwesend und anwesend zugleich ist. Der Originaltitel lautet König Herodes, der das biblische Massaker an vielen unschuldigen Kindern verschuldet hat – eine emblematische Figur, die den Krieg personifiziert, in diesem Fall die Shoah. Die zerstörten Puppen stehen für die leblosen Körper der Holocaustopfer und bieten sich nur scheinbar als eine sanftere, feinere und weniger aggressive Metapher des Grauens aller Kriege an. Es scheint, als habe Canova einen bildlichen Trick mit gewiss poetischer Wirkung angewandt, um viele der grausamen Eindrücke vom Krieg darzustellen, die sich unauslöschlich in sein Gedächtnis eingebrannt haben.“14
Die Gestalt des König Herodes, die im Flachrelief und in der Radierung erscheint, fehlt dagegen in der endgültigen Fassung des wichtigsten Bildes im Zyklus: La strage degli innocenti von 1984 (Abb. 3.2). Wie Sonia Gentili schreibt, „scheint die zentripetale Anordnung der Szene jene der Apokalypse nachzustellen, bei der alle Toten, ‚Kleine und Große‘, vor dem Angesicht des auf dem Thron sitzenden Richters stehen. Anstelle des Zepters und des Schwerts, die typisch für die eben erwähnte spätantike und christliche Ikonografie sind, hält der verhüllte Herodes Canovas einen Maibaum in der Hand. In dem außergewöhnlichen Bild Strage degli innocenti I ver14 | Compagnone: In ricordo delle stragi, S. 23.
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schwindet die verhüllte Gestalt, nur das Gespenst des Maibaums bleibt zurück. Auf diesen wirkt die zerstörerische Zentripetalkraft, die die Puppenteile umherschleudert, der materiellen Entsprechung der niedergemetzelten Kinder. Der unergründliche Herrscherwille, der dem Massaker zugrunde liegt, ist in diesem Bild paradoxerweise noch stärker spürbar, weil er unwiederbringlich unsichtbar ist – unwiederbringlich vom eigenen Mysterium aufgesogen. […] Sicherlich orientiert Bruno Canova sich an dieser Tradition und diesem teuflischen Baum, der Symbol für die Verwandlung des Lebens in Schlachtfleisch ist, bis der Maibaum, Wappen des Bösen und Zepter seiner Herrschaft, mit dem nunmehr unsichtbaren, im Zentrum dieses Jüngsten Gerichts stehenden Herrscher eins wird. Der Maibaum von Canova ist nichts anderes als das Zentrum eines großen apokalyptischen und zentripetalen Schlachtens, das im Gott-Baum konvergiert, dessen Antlitz sich aus Schlachtfleisch zusammensetzt, wie es sich in Shivitti von Ka-Tzetnik aus dem Rauch der im Krematorium verbrannten Leichen zusammensetzte.“15
Abbildung 3.1 und 3.2
La strage degli innocenti - Erode Re acquaforte, 1982-1998 La strage degli innocenti 1, 1982-1984
15 | Sonia Gentili: L’albero della cuccagna. Da Hieronymus Bosch a Bruno Canova, in: Calvesi (Hg.): Bruno Canova, S. 15-17, hier: S. 15f.
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La strage degli innocenti 2 – Grande natura morta (1990, Abb. 4) stellt eine Variation dieses Themas dar: Das von Canova gemalte große Schlachten erhebt sich vor einem römischen Himmel, der vom Blau und den Farben des Abends erfüllt ist, in dem sich das Fleisch wie eine tragische und spöttische Blume öffnet, um den Tod zu begleiten und auf das große Martyrium des 20. Jahrhunderts anzuspielen, wie bei seinen zerstörten Puppen, metaphorischen Erinnerungen an die Vernichtungslager, deren Tragik sich in der kruden Plastizität eines Bildes verdichtet, in dem die zerfleischten Körper der Kinder durch die anthropomorphen und zerstückelten Formen der zertrümmerten Puppenkinder angedeutet werden. Canova selbst hat erklärt: „nur durch den Rückgriff auf die Ikonografie und die Symbolik dieser Bluttat von vor 2000 Jahren und durch die Verwendung von Symbolen für das Heilige, wie dem Agnus Dei16 oder dem Kreuz, gelingt es mir in meinen Werken, diesem Leiden einen Sinn zu geben, in der Hoffnung, von demselben Leiden zu sprechen, das Millionen Unschuldiger (besonders Kinder) noch heute auf der ganzen Welt aufgrund von Krieg und unendlicher Gewalt erfahren müssen.“17
Die zerrissenen Körper werden schließlich zu Sinnbildern der über die Kinder herfallenden Gewalt und Grausamkeit. Auch das Fleisch der gepeinigten Tiere erscheint auf der großen römischen Wiese wie ein Gespenst, in dem sich Annibale Carraci, Rembrandt, Chaïm Soutine, James Ensor und Scipione, Mario Mafai und Alberto Ziveri vereinen und das mit seiner dramatischen Aufgabe die Tragödie der Vernichtungslager in Erinnerung ruft. Eine Darstellung, die in diesem Fall nicht durch die Unmittelbarkeit der abgebildeten Kadaver sprechen will, sondern durch eine symbolische Übertragung eine noch eindringlichere Dramatik erzielt, die auch in der Tradition der metaphysischen Malerei von Giorgio de Chirico steht. So ist das Werk von Bruno Canova heute, nachdem es lange Zeit in Vergessenheit geraten war, Gegenstand einer weitreichenden internationalen Neubewertung und einer kritischen und historischen Analyse geworden, die über künstlerische Aspekte hinausreicht. Das Werk Bruno Canovas wurde insbesondere im vergangenen Jahr auf Historikertagungen (wie jener in Dresden) zur Shoah oder zur Gefangenenliteratur untersucht und ist in Einzelausstellungen und Forschungsarbeiten zu seinem Werk vorgestellt worden. Für 2015 ist eine große Ausstellung in einem französischen Museum geplant. In der Tat scheint die Zeit heute wirklich reif zu sein, dass Werken wie jenen aus dem Zyklus L’arte della guerra die ihnen gebührende Anerkennung zukommt, auch 16 | Agnus Dei (1993) ist ein Werk aus dem Zyklus Strage degli innocenti. 17 | Vgl. Bruno Canova in: Carlo Chenis: Cento artisti rispondono al papa: commento in opere e parole alla Lettera del papa Giovanni Paolo II, San Gabriele 2001.
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angesichts der neuen und zunehmenden Beachtung, die man Themen wie der Shoah, dem italienischen Rassismus und der Judenverfolgung schenkt, die bekanntermaßen grundlegend für das gesamte Werk sind. Abbildung 4
Bruno Canova: La strage degli innocenti — La grande natura morta, 1990
Ein weiterer Aspekt hat zu einer vollständigeren und zutreffenderen Deutung von Canovas Lebenswerk geführt: Das Ende der vielen fruchtlosen ideologischen Dispute, wie Kunst gesehen werden sollte, die verhindert haben, die Verschmelzung unterschiedlicher Elemente in seinem Stil und in seiner eigenen Sicht auf das Werk anzuerkennen. In seinen Arbeiten können gegenständliche und abstrakte Elemente, Readymades und eine beinahe konzeptuelle Ebene auf geschmeidige und organische Weise koexistieren, in einem vielschichtigen Szenario, in dem die Dokumente und Bilder, gezeichnete und gemalte Partien, Symbole und Metaphern sich durch poetische und zielgerichtete Eingriffe des Künstlers in poetische und wirkungsvolle Werkzeuge verwandeln, die anklagen und die Erinnerung an die künftigen Generationen weitertragen. Übersetzung: Gesine Seymer
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Erinnerung, Eden und Begräbniskunst in Die Gärten der Finzi-Contini von Giorgio Bassani Sonia Gentili
In der seiner Essaysammlung Schwierige Freiheit von 1963 stellte Emmanuel Lévinas, einer der bedeutendsten Philosophen der jüdischen Welt fest, dass „[s]ich als Jude nach den Massakern der Nazis wiederzufinden bedeutete [...], erneut gegenüber dem Christentum Stellung zu beziehen“, nämlich über eine „Rückkehr zu den Quellen“.1 In diesem Sinne wurden biblische Bilder und Motive nach dem Krieg mehr denn je zum Spiegel der Gegenwart. So identifizierte sich das Judentum jenseits des Schreckens der historischen Tragödie beispielsweise mit dem Garten Eden – einem geschlossenen und historischem Wandel nicht unterworfenen Raum: Doch handelte es sich dabei um eine verlorene Vergangenheit oder um eine zu erobernde Zukunft?2 Zogen die Juden aus einer im Vergangenen angesiedelten Identität ihre Kraft oder war sie der
1 | Emmanuel Lévinas: Vorwort, in: Ders.: Schwierige Freiheit. Versuch über das Judentum. Frankfurt a.M. 1996, S. 9: „Kurz nach den Ausrottungsaktionen Hitlers, die in einem seit mehr als fünfzehn Jahrhunderten evangelisierten Europa stattfinden konnten, wandte sich das Judentum diesen Quellen zu [biblische und rabbinische, Anm. d. A.]. Das Christentum hatte das Judentum im Westen bislang daran gewöhnt, diese Quellen für versiegt oder von reißenden Gewässern überflutet zu halten. Sich als Jude nach den Massakern der Nazis wiederzufinden bedeutet also, erneut gegenüber dem Christentum Stellung zu beziehen […] über eine Rückkehr zu den Quellen.“ 2 | Diese doppelte Möglichkeit der Exegese ergibt sich vor allem aus dem Fakt, dass das Bild des von Gott angelegten Gartens, in den der Mensch in Gen. 2, 8 gesetzt wird, in der MidraschAuslegung als dem gelobten Land ähnlicher und es vorwegnehmender Ort angesehen wird, 1. Kön 5, 5; Mi 4, 4; Zc 3, 10. Dort sollte dem Gesetz nach das erwählte Volk direkt nach seiner Ankunft Bäume pflanzen (Lev 19, 23: „Wenn ihr in das Land kommt und einen Fruchtbaum pflanzt“, und der betreffende Midrasch, Lev Rabba XXV, 3: „Es steht geschrieben: Ihr sollt dem Herrn, eurem Gott, nachfolgen (Dtn 13,15). Doch wie kann die Nachfolge Gottes in Fleisch und Blut erfolgen? Ganz einfach: Am Anfang, als Gott die Welt schuf, pflanzte er Bäume. So sollt es auch ihr tun, wenn ihr den Boden Israels betretet, pflanzt einfach Bäume.“
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Grund dafür, dass sie während der Verfolgungen die sie bedrohende Gegenwart nicht erkennen konnten? Lévinas wertete die Thalmud-Exegese von Gen. 2, 8-15 („Und Gott der Herr pflanzte einen Garten in Eden gegen Osten hin und setzte den Menschen hinein, den er gemacht hatte“) auf, um das Konzept Edens von seiner Ausrichtung auf Zurückliegendes zu befreien und es mit einer idealen Zukunft gleichzusetzen.3 In Italien hingegen stellte ein Jahr zuvor, 1962, Giorgio Bassani nicht nur im Roman Die Gärten der Finzi-Contini die jüdische Welt während der Verfolgung wie ein abgeschottetes Eden dar, das dem Vergangenen stark zugewandt ist, was es mit einem Friedhof vergleichbar macht. Eine solche Rückwendung kennzeichnet auch die Protagonistin der Erzählung, verortet inmitten des familieneigenen, edengleichen Gartens wie ihn. Und selbst in der Nachkriegszeit – in dem Moment, in dem sich die Juden nach Lévinas besser Zukünftigem zuwenden sollten – zeichnete er sich durch diesen allein auf Gewesenes ausgerichteten Habitus aus.4 Herkunft und Sinn dieser Eden-Begräbnissymbologie prägen im Text in entscheidender Weise das Thema von Gedächtnis und Erinnerung.
3 | Emmanuel Lévinas: Commenti Talmudici, in: Ders.: Difficile libertà, Milano 2004 [1963], S. 92: „Rabbi Levi sagte: Dass kein Auge Eden je gesehen hat. Und wenn man anmerkt: Was mit Adam sei? Wo hat er gelebt? Dann werden wir antworten, dass er in einem Garten lebte. Und wenn man darauf hinweist, dass Eden und der Garten dieselbe Realität abbilden, lässt sich mit der Zeile aus der Genesis antworten (2, 10): ‚Und ein Fluss ging von Eden aus, um den Garten zu bewässern.‘ Es gibt also einen Unterschied zwischen Eden und dem Garten Adams. Der Sachverhalt ist trügerisch, aber die Version Rabbi Levis zeigt uns, dass die zukünftige Welt nicht einfach einer Rückkehr in ein verlorenes Paradies gleichkommt. Dasselbe Paradies wurde bewässert von etwas ‚nie Gesehenem‘, das sich in Richtung Ende befindet. Es war nicht sein Ursprung. Die Geschichte ist nicht einfach die verkleinerte und korrumpierte Ewigkeit, auch nicht das bewegliche Bild einer unbeweglichen Ewigkeit; die Geschichte und das Kommende haben einen positiven Sinn, eine unvorhersehbare Fruchtbarkeit. Der zukünftige Augenblick ist absolut neu, doch damit er anbricht, sind Geschichte und Zeit nötig. Adam hat ihn auch in der Phase seiner Unschuld nicht kennengelernt. Wir finden hier nochmals die Vorstellung der felix culpa: Der Verstoß aus dem Paradies und das Durchschreiten der Zeit erlauben eine größere Perfektion als das dort gekostete Glück. Die Theorie, welche Rabbi Levi der Meinung Rabbi Yohanans hinzufügt, ist wirklich die der Fruchtbarkeit der Geschichte.“ 4 | Giorgio Bassani: Die Gärten der Finzi-Contini, Berlin 2013, S. 256, „[...] es war unser Laster: vorwärts mit immer zurückgewandten Köpfen zu gehen“: Der nach hinten gewandte Kopf Micòls und des Erzählers ist auch Bassani zu eigen und isoliert ihn von seinen Zeitgenossen, die nunmehr nach vorn schauen möchten. Hier in einem bitteren Selbstporträt der Nachkriegszeit: „Es stirbt eine Zeit / die andere ist schon hier / tatsächlich ist sie neu und / unschuldig / aber auch diese ich weiß / werde ich nicht erleben als rückwärts gewandt / ständig nach hinten um zu schauen / in Richtung dieses Zeugen / zu Ende / völlig gleichgültig außer was / wirklich / mein Leben vorher war / wer ich wohl gewesen / bin“, Giorgio Bassani: Muore un’epoca, in: Ders.: Opere, S. 1477f.).
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Im Mittelpunkt des Romans steht die Gartenanlage der Villa ‚Barchetto del Duca‘, Refugium und Symbol der großen, jüdischen Familie, die dort wohnt. Sie wird mehrmals als ‚Eden‘ bezeichnet und fortwährend als Ort einer stillstehenden Zeit dargestellt, an dem leblose, nicht mehr gebrauchte oder zerbrochene Gegenstände bewahrt werden. Darüber ergibt sich schon zu Beginn die Assoziation mit dem jüdischen Friedhof in Ferrara, wo sich das monumentale Grab der Finzi-Contini befindet. Dem das erste Kapitel einleitenden Bild des Familiengrabs geht ein Prolog voran, der die Erzählweise ex post rechtfertigt: Im ‚Danach‘ entsteht schrittweise die Erinnerung an die geschilderte Begebenheit. Wir befinden uns in den frühen 60er Jahren, in denen der Erzähler mit Freunden die Etruskernekropole in Cerveteri besucht. Die Fundstätten verlangen – genau wie die biblischen Darstellungen – danach, in die Geschichte aufgenommen zu werden, wieder eingefügt in den Zusammenhang von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Damit gehen die Besucher auf zweierlei Weise um: „Wir waren an der Abzweigung nach Cerveteri […]. - Wohin fahren wir?, fragte Giannina. - […] Wir fahren zu Gräbern, die über vier- oder fünftausend Jahre alt sind […]. Etruskische Gräber. - Wie traurig! Sagte Giannina und seufzte […]. - Warum traurig? Hast du in der Schule gelernt, wer die Etrusker waren? - Im Geschichtsbuch stehen die Etrusker am Anfang, zusammen mit den Ägyptern und Juden […]. Papa […], warum sind alte Gräber nicht so traurig wie neue? […] - […] Aber die Etrusker sind doch schon so lange tot, [...] dass es ist, als ob sie nie gelebt hätten, als wären sie schon immer tot gewesen. […] -Aber so, wie du das sagst […], glaube ich jetzt, dass die Etrusker doch gelebt haben, und ich habe sie so lieb wie alle anderen. Der Besuch der Gräberstadt stand nun ganz unter dem Zeichen des ungewöhnlichen Zartgefühls, das aus Gianninas Worten sprach. Kein anderer als sie hatte unser Verständnis geweckt. Sie, die Jüngste, hatte uns gewissermaßen an der Hand genommen. Wir stiegen in das Innere des bedeutendsten Grabes, das der vornehmen Familie Matuta.“5
Die Erwachsenen sind inzwischen nicht mehr fähig, in diesen Gräbern etwas anderes als eine archäologische Ausgrabungsstätte zu sehen: „die Etrusker sind doch schon so lange tot, [...] dass es ist, als ob sie nie gelebt hätten, als wären sie schon immer tot gewesen“. Das einzige, in seiner Emotionalität noch reine Mädchen der Gruppe kann die Vergangenheit nicht auf eine Sammlung an Relikten reduzieren und sagt: „Aber so […] glaube ich jetzt, dass die Etrus5 | Bassani: Die Gärten, S. 11-13.
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ker doch gelebt haben, und ich habe sie so lieb wie alle anderen“. Es lässt auch den Erzähler einen gefühlvollen Zugang zu Früherem finden, der sich deshalb erinnert. Entsprechend ist das Erinnern hier wie bei Ugo Foscolo ein „Gleichklang liebevoller Sinne“ zwischen den Lebenden und den Toten, übertragen vom Kind auf den Erzählenden und von diesem dann auf die letzten Etrusker: „Indessen versuchte ich, bereitwillig jeden Rest philologischer Skrupel unterdrückend, mir konkret vorzustellen, was für die späten Etrusker von Cerveteri, das heißt die Etrusker aus der Zeit der Unterwerfung durch die Römer, der eifrige Besuch ihres Friedhofs vor der Stadt bedeutet haben mochte. […] Die Zeiten ändern sich, das hatten sie sich gewiss gesagt. […] Eine neue Kultur, roher und weniger aristokratisch, aber auch stärker und kriegstüchtiger, behauptete nun das Feld. Hatte man die Schwelle des Friedhofs überschritten, wo jeder sein zweites Haus besaß, in dem er schon das Lager bereitet hatte, auf dem er bald neben den Vätern ruhen würde, konnte die Ewigkeit nicht länger eine Illusion bleiben. Die Zukunft mochte, soviel sie wollte, die Welt auf den Kopf stellen; aber dort, in dem engen Bezirk, der den toten Angehörigen geweiht war […], in diesem geschützten, abgeschirmten Winkel der Welt, wenigstens dort […], würde sich nie etwas ändern. […] Als wir zurückfuhren […] gingen meine Gedanken wieder einmal zurück zu den Jahren meiner Kindheit und Jugend, zurück nach Ferrara […]. Ich sah wieder die weiten Rasenflächen, auf denen hier und da ein Baum stand, die Grabsteine und Stelen, die nur am Rand der Ringmauer und der Scheidewände dichter wurden, und, wie wenn ich sie unmittelbar vor Augen hätte, die monumentale Familiengruft der Finzi-Contini.“6
Mit welchem Gefühl besuchten die verbliebenen Etrusker ihren Friedhof, als die Römer nach und nach ihren Lebensraum eroberten? Zwischen den letzten Ruhestätten der Väter mussten sie sich geschützt vor dem Jetzt fühlen, das Veränderungen und Tod brachte. Dort, in der unverrückbaren Zeit der Gräber suchten sie Zuflucht. Vor dem Hintergrund dieses Paradoxons – die Gegenwart als Tod und das Grab als fortdauerndes Leben – werden die etruskischen Grabmäler in Verbindung mit der Grabstätte der Finzi-Contini gebracht. Schon am Anfang der Erzählung sieht der Leser voraus, dass auch die ihr baldiges Ende ahnenden Finzi-Contini in ihr grabähnliches Haus flüchten werden. Während im Roman die Symbolik der Vergangenheit wie der edengleiche Garten ein wichtiges Thema der jüdischen Nachkriegskultur evoziert, verweist der subjektive Aspekt der Beziehung zum Geschehenen, der insbesondere von der Figur der Micòl verkörpert wird, auf italienische und europäische literarische Muster.
6 | Ebd., S. 13f.
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I. Bassani gestaltet diese Thematik weniger in Anlehnung an Marcel Proust, als vielmehr an Foscolo. Foscolo, der sich nach seinem Geburtsort Zante sehnt, lebt bei Bassani wieder auf, wenn es um die eigenen, durch schmerzliche historische Ereignisse negierten Ursprünge geht.7 Damit führt der Leitgedanke der emotionalen Kommunikation, der durch den Besuch der etruskischen Gräber eingeführt wurde, das neoklassische Motiv des „Gleichklangs liebevoller Sinne“ mit den Begrabenen weiter, das Foscolo in Die Gräber entwickelt.8 Wegen der Gärten wurde Bassani von seinen marxistischen Zeitgenossen eines elegischen Crepuscolarismo bezichtigt, eben weil er, statt von Krieg und Shoah in ‚realistisch‘-marxistischem Stil zu berichten, die Erinnerung auf dichterische Weise ausdrückt. Darauf entgegnete der Autor, sein ‚Realismus‘ bestehe in einem poetischen Zugriff auf das Leben und die Wahrheit.9 In den Gärten erwächst diese poetische Dimension aus angedeuteten Gedicht-Zitaten Micòls, die den Leser wie fallengelassene Perlen auf dem Erzählweg hin zu einer pessimistischen Wendung des foscolianischen Erinnerungsmotivs leiten. In der Einleitung gilt folglich die Lehre Foscolos: Durch den Besuch der Gräber entwickeln die Lebenden eine innige Beziehung zu den Toten und entziehen sie durch die Erinnerung dem Tod. Im vierten Kapitel tritt das Thema erneut in Form einer ‚Überraschung‘ auf, mit der Micòl einen von ihr geschriebenen Brief schließt. Sie weilt in Venedig, um ihre Diplomarbeit über Emily Dickinson zu schreiben und beendet ihren Brief an den Erzähler mit einem von ihr übersetzten Dickinson-Gedicht: „Es war ein geistreicher kleiner Brief, nicht allzu lang und auch nicht allzu kurz, geschrieben auf vier Seiten […]. Der Brief ging noch zwei und eine halbe Seite weiter, er handelte von ihrer Abschlussarbeit, mit der sie nunmehr ‚im Endspurt begriffen war‘, erwähnte Venedig, das im Winter ‚einfach zum Weinen‘ war, und schloss überraschend mit einem Gedicht von Emily Dickinson. Das lautete:
7 | Vgl.: Piero Pieri: Un poeta è sempre in esilio. L‘ebraicità di Bassani alla luce della tradizione letteraria, in: Roberta Antognini und Rodica Diaconescu Blumenfeld (Hg.): Poscritto a Giorgio Bassani. Saggi in memoria del decimo anniversario della morte, Milano 2012, S. 445-456. 8 | Ugo Foscolo: Sepolcri – Odi – Sonetti, Milano 1987, S. 40. 9 | Vgl. dazu Antonello Perli: Bassani critico e la poetica della realtà, in: Massimiliano Tortora (Hg.): Bassani critico, redattore, editore, Roma 2012, S. 13-34, und das, was Bassani im Interview mit Ferdinando Camon darlegt: Ferdinando Camon: Il mestiere di scrittore. Conversazioni critiche, Milano 1973, S. 54-71.
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Ich starb für die Schönheit und kürzlich erst ins Grab gelegt, als einer, der für die Wahrheit starb, in das Grab neben meinem gelegt wurde. Leise fragte er mich: Warum bist du gestorben? Für die Schönheit, erwiderte ich. […] Und so, als Kinder der gleichen Familie, die sich eines Nachts begegneten, unterhielten wir uns von Grab zu Grab, bis das Gras uns den Mund und den Namen bedeckte.“10
Der „Gleichklang liebevoller Sinne“ besteht hier zwischen zwei Verstorbenen im gemeinsamen Zeichen des Todes. Dies ist die erste poetische Perle, welche Micòl auf dem Pfad durch den Roman streut. Passend zu dieser Anziehungskraft des Reichs der Begrabenen auf die Lebenden folgt die Situierung des Glücks in einem ehemaligen Eden – einer weit entfernten, heiteren Kindheit –, zu der man nur erinnernd Zugang findet. Wieder meidet Micòl das Mittel der Argumentation und der Ideologie, das hingegen der Marxist Malnate wählt, der im Text die Funktion hat, die potentielle Gefahr, Leere und Grobheit dieser Perspektive zu zeigen. Nochmals beschreibt sie also die Vergangenheit, nun mit einer poetischen, scheinbar scherzhaften und zufälligen Anspielung, die sich tatsächlich auf den Garten Eden bezieht: „das grüne Paradies der kindlichen Liebe“.11 Der Vers stammt aus Charles Baudelaires Moesta et errabunda, der modernen Elegie schlechthin, in der eine mysteriöse weibliche Figur die Gegenwart flieht, um sich der Erinnerung an 10 | Bassani: Die Gärten, S. 162-163. 11 | Der Auszug stammt aus dem siebenten Kapitel, in dem Micòl den Erzähler zum Anschauen des Gartens und ihrer Pflanzen einlädt, wobei sie an den Garten als Bühne ihrer Freundschaft in Kindertagen erinnert („Eine dritte Wallfahrt galt dem heiligen Ort, dem vert paradis des amoures enfantines“). Aufgegriffen wird er auch im zehnten Kapitel, worin der endgültig von Micòl abgewiesene Erzähler sie an den Orten ihres verlorenen Idylls sucht, also zwischen den ‚heiligen‘ Mauern des Gartens (S. 299f.: „Als ich bis zur Höhe des Barchetto del Duca gekommen war, machte ich halt. Ich stieg vom Rad ab, lehnte es an einen Baum […]. Ich wusste nicht, was tun, nicht, warum ich hergekommen war. Ich war durchdrungen von dem unbestimmten Gefühl der Sinnlosigkeit aller ‚Gedenkfeiern‘. […] Als ich schließlich genau oberhalb der Mauerstelle stand, die Micòl ‚heilig‘ nannte, heilig au vert paradis des amours enfantines, kam mir ein plötzlicher Einfall. Wie, wenn ich heimlich in den Park eindrang, indem ich über die Mauer kletterte? Als Knabe hatte ich es, an einem unendlich weit zurückliegenden Juninachmittag, nicht gewagt. Ich hatte Angst gehabt. Aber jetzt?“).
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ein „grünes Paradies voll Duft“ hinzugeben. Dabei handelt es sich ähnlich wie bei dem Idyll von Micòl und dem Erzähler um einen edenartigen Garten mit ‚Wegen‘ und ‚verstohlenen Vergnügen‘. Baudelaire zweifelt am Ende daran (und genau diese Stelle zitiert Micòl), ob das „grüne Paradies der kindlichen Liebe“ tatsächlich über den Rückblick wieder belebt werden kann: „Das grüne Paradies der jungen Liebesfreuden, Die Spiele, Lieder, Küsse und der Blumenstrauß, Der Geigen hinterm Hang erregendes Vergeuden, Die Krüge Weins vor Nacht im kleinen Gartenhaus, - Das grüne Paradies der jungen Liebesfreuden, Unschuldig Paradies, verstohlenen Glückes Hag, Ist es denn ferner schon als fernstes Land im Osten, Ob es denn wohl ein Wehlaut wiederbringen mag? Erweckt ein Silberklang vielleicht aus Nacht und Frosten Unschuldig Paradies, verstohlenen Glückes Hag?“
Auf die von Micòl unvermeidlich aufgegriffene Frage, ob die Erinnerung Vergangenem Leben zu verleihen vermag, gibt der Roman eine negative, im Gedicht Dickinsons angedeutete Antwort: Die Vergangenheit kann nur wiedererlangt werden, wenn man akzeptiert, bei den Toten zu weilen. Das bedeutet, dass sich die Lebenden an sie annähern und nicht umgekehrt. Diese entscheidende Umkehrung der Idee Foscolos bringt auf inhaltlicher Ebene die obsessive Präsenz dreier konstanter Elemente mit sich: Sehnsucht nach der Vergangenheit, Freude über den Augenblick, Lebensende. Sie ist auch der zentrale Gegenstand der lyrischen Werke Bassanis, die bereits mit den Titeln Pavana und Epitaffio auf das Jenseits verweisen. Für den Autor ist die Dichtung die Erinnerung an das, was man im Reich des Jenseitigen sah, und darin ähnelt sie den Erzählungen der Überlebenden von Auschwitz12: Dies ist m.E. die tiefgreifendste, überzeugendste und am deutlichsten entgegengesetzte Position zu Theodor W. Adornos These der Unmöglichkeit, nach Auschwitz ein Gedicht zu schreiben.13
12 | Giorgio Bassani: Un’intervista inedita (1991), in: Ders.: Opere, S. 1344: „Geo Josz starb, er ging dorthin, von wo man nicht zurückkehrt, er hat eine nur für einen Toten sichtbare Welt gesehen. Wie durch ein Wunder kommt er jedoch hierher zurück. Und die Dichter, was tun sie, wenn nicht sterben, und hierher zurückkehren, um zu sprechen?“ 13 | Vgl. Theodor W. Adorno: Kulturkritik und Gesellschaft, in: Gesammelte Schriften, Band 10.1: Kulturkritik und Gesellschaft I, „Prismen. Ohne Leitbild“, Frankfurt a.M. 1977, S. 30.
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Das dritte poetische Bruchstück Micòls auf dem Weg des Lesers ist eingefasst in den Epilog des Romans. Es widersetzt sich endgültig Malnates Vertrauen in die Geschichte: „Fest steht jedenfalls, dass Micòl wie in einer Vorahnung ihres nahen Todes sowie des Todes all ihrer Angehörigen auch Malnate gegenüber ständig wiederholte, dass ihr die Zukunft an sich eine entsetzliche Vorstellung sei und dass sie ihr bei Weitem ‚das jungfräuliche, lebensvolle und schöne Heute‘ vorziehe und mehr noch als alles andere die Vergangenheit, die sanfte, die barmherzige Vergangenheit.“
Der von Micòl genannte Vers eröffnet ein weithin bekanntes und komplexes Sonett von Stéphane Mallarmé, das in der Musik des 20. Jahrhunderts verschiedentlich aufgegriffen wurde.14 Darin steht einführend die Frage: „Du Heute, jungfräulich, schön, frisch in Energie, des Lebens, wirst du uns mit trunknen Fittichs Schwingen den Gletscherspuk des harten Sees zum Bersten bringen, der, selbst vergessen, Flüge birgt, die folgen … nie?“
Die Lebenskraft der Gegenwart, d.h. das „Heute, jungfräulich, schön, frisch in Energie“, ist wie ein Schwan in einem vereisten See eingesprerrt. Wird sie die Kraft zur Befreiung haben? Der Verlauf des Gedichts führt zu einer hoffnungslosen Enthüllung, denn benannt werden eine ‚nutzlose Verbannung‘ des Lebens ins unbeweglich machende Eis und ‚Verdruss‘ über die Verdammung. Die zur Starrheit gedrängte Lebenslust und Langeweile, welche den von Micòl und dem Erzähler erlebten Winter im Roman prägen, fließen in einer Art finaler Auflösung in dem Vers zusammen, den Micòl unmittelbar vor ihrem Verschwinden zitiert: Er ist der letzte Hinweis, den diese Person einer Initiationsführerin gleich dem Leser überlässt.
II. Erklärtermaßen war Bassani ein Anhänger der Philosophie Benedetto Croces und der durch sie aufgewerteten, geradezu geweihten literarischen Modelle. Komplexer wird der Sachverhalt durch die Ambivalenz, mit der normalerweise
14 | Vgl. dazu Enzo Restagno: Ravel e l’anima delle cose, Milano 2009, S. 337ff.; zum Sonett siehe Jean-Claude Milner: Mallarmé au tombeau, Paris 1999.
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ein jüdischer Intellektueller seine kulturelle Zugehörigkeit definiert. Dieser Punkt kann bei Bassani nur zu Ausprägungen von ‚Psychologismus‘ führen.15 Die einmalige Position, die er im nationalen Kontext einnahm, zeigt sich deutlich in Bezug auf Giuseppe Tomasi di Lampedusa: Bassani zufolge verstanden die Intellektuellen des Landes nicht, dass der Gattopardo16 die durch Giovanni Verga geöffnete Kluft zwischen der Identität einer Minderheit und der nationalen Identität schloss.17 Die Perspektive des Gattopardos ist diejenige der sizilianischen, aristokratischen ‚Minderheit‘ der Bourbonen; zugleich gehört der Autor Tomasi di Lampedusa jenem ‚Stil-Adel‘ an, der sich praktisch von den italienischen und europäischen Klassikern der großen Aristokratie des beginnenden 20. Jahrhunderts ‚nährte‘. Insofern spiegelt die Beobachtung Bassanis die These Croces wider, dass der Stil der Klassiker einer spezifischen Identität Allgemeingültigkeit verleihen könne.18 In Bassanis Roman wird der Gegensatz zwischen einem bestimmten jüdischen Kulturkreis, gezeigt am Professor Finzi-Contini, und der Geisteswelt Croces und Roberto Longhis inszeniert. Denn dieses Werk ist ebenso der Versuch der klassischen Darstellung einer Minderheit über einen Stil, der sie verallgemeinert und dabei die Wahrheit beibehält: ein Zugriff, den Bassani einige Jahre früher im Gattopardo erkannte.
15 | Die Position Bassanis kommt im Interview mit Camon zum Ausdruck: „Camon: Die Lehre Croces birgt offenbar die Möglichkeit einer klaren, intelligenten, definitiven Gestaltung. Bassani: Mehr als das: Der Einfluss geht gewöhnlich soweit, dass er mich in meiner Technik als Romancier berührt, welche in der Tat nie der Anwendung der sogenannten Psychoanalyse erlaubte. […] Der Fakt, dass ich den Idealismus geradezu spürte, zieht für mich die Gewissheit nach sich, dass die Tiefen des Ichs nicht mit Worten zu benennen sind.“, Camon: Il mestiere di scrittore, S. 89.
16 | Giuseppe Tomasi di Lampedusa: Der Gattopardo, München 2008 (Neuübers.) [im ital. Original 1958 erschienen].
17 | Giorgio Bassani: In Risposta (III), in Ders.: Opere, S. 1214-1219, hier: S. 1217: „Ich habe schon andere Male über den unschätzbaren Wert der literarischen Tat Tomasi di Lampedusas gesprochen, einer Tat, die nach sechzig Jahren Trennung die von Verga ausgehobene Kluft zwischen nationaler und meridionaler Literatur schloss. Heute hat der kulturelle Separatismus Süditaliens, und insbesondere der Siziliens, keinerlei Sinn mehr. Daher ist es logisch, dass Der Gattopardo alle Literaten südlich des Garigliano in eine Krise stürzte, die weiterhin glauben, das Manzonis Sprache nicht zu ihnen passe. Sei es die Sprache der bürgerlichen Kultur oder speziell die Vittorinis, der um 1949 mit Gespräch in Sizilien einen ziemlich subtilen Schritt gewagt hatte, denjenigen, den kulturellen und linguistischen Separatismus Vergas in einen anderen überzuleiten, den hermetischen.“
18 | Vgl. dazu Sonia Gentili: Cultura della razza: alcune strutture concettuali, in: Simona Foà und Sonia Gentili (Hg.): Cultura della razza e cultura letteraria nell’Italia del Novecento, Roma 2010, S. 13-39, hier: S. 31-35.
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Die Seminare Longhis besuchte Bassani ab 1935, mit ihm verband ihn eine Freundschaft, die seine gesamte literarische Lauf bahn beeinflusste.19 Genau die geistige Identität Croces und Longhis ist es, die der junge Protagonist der Gärten derjenigen des Professors Ermanno Finzi-Contini entgegensetzt. Um dies darzustellen, greift der Autor auf wesentliche Theorien zur Begräbniskunst zurück, die der sogenannten Bachofen-Renaissance.20 Er bezieht sich dabei auf solche Schriften zur Geschichte der Anthropologie bzw. Symbolik, die antifaschistische jüdische Denker (Walter Benjamin, Aby Warburg) in ihrer Unzufriedenheit über den rationalistischen Historismus hervorbrachten21; von beiden Geschichtskonzeptionen profitiert der reifere Bassani offenkundig.22 Bassani verleiht dem Professor Finzi-Contini einen bachofenhaften Zug – das Interesse für Begräbniskunst 23 – und viele Eigenschaften Warburgs. Möglicherweise übernimmt er diese aus dem Nachruf, den Giorgio Pasquali 1930 19 | Bassani: Opere, S. lXVI: „Vom jungen Literaten, der ich war [überzeugt, Kunstkritiker aus historistischer Perspektive und Anhänger Croces], wandelte ich mich in kurzer Zeit zu einem versteckt politisch Aktiven, wobei ich mich den Ferrareser und Bologneser literarischen Freundschaften entzog […]. Wir begannen, den Vorlesungen Roberto Longhis an der Universität abtrünnig zu werden […]. Die Jahre von ’37 bis ’43, die ich fast ausschließlich der antifaschistischen Aktivität widmete (ich schrieb nicht bis ’42 […]) zählen zu den schönsten und intensivsten meines Lebens. Sie retteten mich vor der Verzweiflung, auf die viele italienische Juden zutrieben, mein Vater eingeschlossen, mit dem Trost ganz auf der Seite des Rechts und der Wahrheit zu sein, und überzeugten mich vor allem, nicht zu emigrieren.“
20 | Vgl. dazu Giampiero Moretti (Hg.): Creuzer, Bachofen, Baeumler. Dal simbolo al mito, Bd. II, Milano 1983, S. 11-83; Lionel Gossman: Basel in the Age of Burckhardt. A Study in Unseasonable Ideas, Chicago/London 2000, S. 111ff.
21 | Der kulturelle Kreis bachofenscher Prägung wurde von Croce verurteilt, auch wegen seines Anklangs bei rechtsgerichteten Esoterikern (Julius Evola, Ludwig Klages). Zum Thema siehe Pietro Conte: Mito e tradizione. Johann Jakob Bachofen tra estetica e filosofia della storia, Milano 2009, S. 106ff. 22 | In einem Interview mit Dominique Fernandez, abgedruckt in Camon: Il mestiere di scrittore, S. 67, führt Bassani aus: „Ich bin ein rationaler Mensch, tätig in einer Welt mit geschichtlichen Beziehungen, und ich zwinge mich dazu, sie zu verstehen. Andererseits habe ich ein Gefühl für das Gegenteil, das, was Logik und Geschichte durcheinanderbringt, und was nicht weniger wichtig ist: die Passion, die Poesie, die Apokalypse.“
23 | Bassani: Die Gärten, S. 105f.: Professor Ermanno Finzi-Contini spricht in erster Person: „‚Ich wohnte in Venedig […] und wenn ich nicht im Staatsarchiv saß, in Campo dei Frari, und in alten Handschriften blätterte, die von den verschiedenen sogenannten Nationen handelten, in die sich im sechzehnten und siebzehnten Jahrhundert die jüdische Gemeinde in Venedig geteilt hatte – die levantische, die ponentinische, die deutsche, die italienische – , dann verbrachte ich meine Zeit dort unten [auf dem Jüdischen Friedhof am Lido – Anm. d. A.], wo ich nacheinander die Grabinschriften entzifferte, von denen viele noch aus dem Anfang des sechzehnten Jahrhunderts stammen und spanische oder portugiesische Schriften zeigen, meine Archivarbeit gewissermaßen unter freiem Himmel fortsetzte. Es waren entzückende Nachmittage. Und dort haben wir uns verlobt, Olga und ich.‘ […].“
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kurz nach dem Tod Warburgs veröffentlichte.24 Finzi-Contini ist ein kleiner Mann, physisch und psychisch eingebettet, fast versteckt in seiner immensen Bibliothek und den Sammlungen antiker Objekte, in die er ein beachtliches Vermögen investiert. Im entscheidenden Dialog zwischen dem alten Professor und dem jungen, gerade mit seiner Abschlussarbeit beschäftigten Erzähler, scheinen die gelehrten professoralen Studien zur geschichtlich-archäologischen und stratigraphischen Rekonstruktion jüdischer Identität in Venedig25 die Oberhand zu behalten. Aber dann werden sie von einer jüngeren kulturellen Strömung ‚überholt‘, die der Erzähler einbringt: den historisch-künstlerischen Studien Longhis, und speziell seiner Officina ferrarese.26 Diese Gegenüberstellung bezieht sich auf einen realen Umstand. Longhis Officina Ferrarese erschien 1934 und behauptete die stilistisch eigenständige Identität der Ferrareser Maler. Sie sah dabei völlig von einem Fakt ab, den Warburg 1912 hervorgehoben hatte, nämlich dass in gewissen Fällen – wie denen der astrologischen Fresken von Piero del Cossa im Palazzo Schifanoia – die Malerei der letzte Ausdruck eines durch die Jahrhunderte ‚wandernden‘ Erbes orientalischer, ägyptisch-hebräischer Bilder ist.27 Historisch betrachtet fand die warburgsche
24 | Giorgio Pasquali: Ricordo di Warburg, in: Pegaso, II/1930, S. 484-495, außerdem in Ders.: Pagine stravaganti di un filologo, Lanciano 1933, S. 67-92.
25 | Bassani: Die Gärten, S.187: „Wir gingen also in sein Arbeitszimmer hinüber [das des Professors – Anm. d. A.] […]. Bücher, um damit anzufangen, gab es auch hier in großer Zahl. […] solche der Geschichtsschreibung, wie über Italien, oder Einzeldarstellungen der Geschichte Ferraras oder Venedigs, dazu alte judaistische Literatur […] und viele andere Dinge […] verliehen dem Raum eine Atmosphäre wie von Faustens Studierzimmer. […] Der Professor machte mir wirklich seine beiden Bändchen über Venedig zum Geschenk. In dem einen, erklärte er mir, hatte er alle Grabinschriften des Israelitischen Friedhofs in Venedig gesammelt und übersetzt. Das zweite Bändchen dagegen handelte von einer jüdischen Dichterin, die in der ersten Hälfte des siebzehnten Jahrhunderts in Venedig gelebt hatte […] und jetzt leider vergessen war.“
26 | Nachdem der Professor sein eigenes Wissen über jüdische Denkmäler, aber auch Episoden der Literaturgeschichte angebracht hat, fährt er an seinen Gesprächspartner gewandt fort: „Aber dann musst du sehen, ihn sobald wie möglich kennenzulernen [den Jüdischen Friedhof am Lido Venedigs – Anm. d. A.]!“, erklärte er mit großer Lebhaftigkeit. „Er ist ein nationales Monument! Übrigens, als ein Mann der Literatur erinnerst du dich gewiss an den Anfang der Edmenegarda von Giovanni Prati.“ Wieder musste ich meine Unwissenheit bekennen. „Nun, Prati lässt seine Edmenegarda ebendort, auf dem Jüdischen Friedhof am Lido, beginnen.‘“ Die Situation schlägt um, als der junge Erzähler den Namen Roberto Longhis nennt und der Professor kommentiert: „‚Haben sie so schnell einen neuen Ordinarius für Kunstgeschichte ernannt? […] Professor für Kunstgeschichte […] war Igino Benvenuto Supino, eine der größten Zierden des italienischen Judentums.‘“ Der Erzähler informiert ihn darüber, dass „1934 aber anstelle Supinos, der wegen Erreichen der Altersgrenze emeritiert worden war, Roberto Longhi berufen worden war. […] Kannte er denn nicht die Officina ferrarese?“ Bassani: Die Gärten, S. 105f.
27 | 1912, auf dem X. Internationalen Kongress für Kunstgeschichte in der Accademia dei Lincei, widmete Warburg seinen Vortrag ‚Italienische Kunst und Internationale Astrologie im Palazzo
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Tendenz, die kulturelle Identität Italiens – und dabei auch die glanzvollsten der italienischen Kulturepochen, wie die Renaissance – zu dezentrieren und auf weit entfernte, inzwischen vergessene Wurzeln zurückzuführen, anfangs den Zuspruch der Komparatistik der 20er Jahre.28 In der folgenden Intellektuellengeneration stieß sie aber auf den Widerstand Croces und Longhis, welche die literarische und figurative Kunst als Ausdruck eines Geistes, einer durch den Stil vermittelten, identitätsstiftenden Essenz deuteten.29 Finzi-Contini ist somit, ganz wie Warburg, der eigensinnige Hüter dezentrierter und verborgener kultureller Wurzeln. In dem Maße, wie er sie wieder ans Licht bringen will, versucht die italienische idealistische Kultur – obwohl sie antifaschistisch und liberal ist – sie zu verdecken. Wie lässt sich dieser Gegensatz auflösen, der zwischen der Position des Professors Finzi-Contini und jener des Idealisten besteht? Zwischen einer vielschichtigen, unwiederbringlich dezentrierten Identität einerseits und einer idealistischen Identität von Geist und Stil andererseits, welche die Fragilität sich überlagernder Schichten und Migrationen nicht beachtet? Die Lösung ist diejenige, die Bassani bei Tomasi di Lampedusa erkennt, und die er selbst anwendet: Minderheiten können die Bruchstelle füllen, indem sie sich mithilfe eines Stils ‚zentrieren‘ und sich nicht über die Geschichte ihrer vielschichtigen Migration ‚dezentrieren‘. Die Auffassung vom Bild als Ergebnis einer künstlerischen Identität und das Desinteresse für alles sie schwächende, wie die Schichten kultureller Überlagerungen, war es, was Longhi zum Schreiben führte. Er zielte dabei darauf ab, „die poetische […] Essenz der visuellen Erfahrung“ auszudrücken30: eine Konzeption, die er an Bassani weitergab.31 Schifanoia zu Ferrara‘ dem Fresko zum astrologischen Zyklus von Del Cossa (1470), das er im Sternbild Widder entdeckt hatte.
28 | Das ist der Fall bei Arturo Farinelli, einem Lehrmeister von Croce, Romanist und Komparatist; siehe dazu Paolo D’Angelo: Aby Warburg e Benedetto Croce, in: Claudia Cieri Via und Micol Forti (Hg.): Aby Warburg e la cultura italiana: fra sopravvivenze e prospettive di ricerca, Milano 2009, S. 15-25.
29 | Andreas Beyer: Aby Warburg e Roberto Longhi, in: Cieri Via/Forti: Aby Warburg e la cultura italiana, S. 41-62.
30 | Luiz Marques: Roberto Longhi e Giulio Carlo Argan. Un confronto intellettuale, in: Figura. Studi sull’immagine nella tradizione classica, 2014, http://figura.art.br/revista/studi-vari/ roberto-longhi-e-giulio-carlo-argan-un-confronto-intellettuale-2/ [15.8.2014]: „Für Longhi waren die Schriften Prousts kaum weniger fundamental, aber nicht weil sie eine strukturelle Analogie zum Impressionismus boten. Sondern weil ihn die Form, in der Proust die Bilder von Elstir beschreibt, dazu stimuliert, angefangen mit dem Schreiben die poetische Essenz der visuellen Erfahrung auszudrücken.“
31 | Vgl. dazu Paola Bassani Pacht: Giorgio Bassani allievo di Roberto Longhi, in: Paragone letteratura 63-65, 2006, S. 36-45.
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III. Eine ausgeprägte Beziehung zur Vergangenheit und der Wille, bei den Verstorbenen zu bleiben, zeigte sich nicht nur bei den Juden während des Krieges, wie bei den Finzi-Contini während der Verfolgungen. Sie fand sich auch bei denjenigen, die von den Massakern verschont wurden, die sich der Zukunft zuwenden sollten, Bassani eingeschlossen. Bei ihm wurde die Haltung des Professors Finzi-Contini zu einer idealistischen, Croce und Longhi folgenden, ‚transzendierenden‘ Behauptung der Identität als Stil: Charakteristisch war für sie der Gang ‚mit rückwärtsgewandtem Kopf‘. Wie treu Bassani nach dem Krieg dem Konzept des jüdischen Ortes Eden als Ausdruck der Vergangenheit blieb, erschließt sich anhand der Ähnlichkeit, die zwischen ihm als historisch-realer Person und seinen literarischen Figuren besteht. Dem Zeitgenossen und Weggefährten Giano Magri zufolge wurde der Autor nach den Rassegesetzen unerklärlicherweise herablassend auch gegenüber denen, die ihn sicher nicht aus ihrem Kreis ausgeschlossen hätten.32 Gleichermaßen halten im Roman die meisten der integrierten Ferrareser Juden die Finzi-Contini für hochmütig, halti.33 Dasselbe stolze Gefühl der eigenen Andersartigkeit, durch das dem man der äußeren Welt mit Haltud gegenübertritt, lässt sich in Primo Levis Nachwort von Ist das ein Mensch? ausmachen.34 Hier berichtet er von sich selbst, dass er sich seines jüdischen Glaubens kaum bewusst gewesen sei und keine Hierarchien zwischen Judentum und Katholizismus gespürt habe bis zum Konzentrationslager, wo er als minderwertiger angesehen wurde: Folglich machte er aus seinem Jude-Sein ein Gefühl der Überlegenheit.
32 | Der folgende Bericht Giano Magris ist zu lesen in Bassani: Opere, S. lXVII: „In Wahrheit stellte sich niemand von uns dagegen, noch viel weniger, weil er Jude war. Er war es, der sich selbst ausschloss, unter anderem durch einen schwierigen, hochmütigen, launischen Charakter. […] Später als die Rassengesetze erlassen wurden, litt sein reines Gewissen an einer starken Andersartigkeit. Uns entging, was er letztenendes nicht zu Unrecht bemerkte.“
33 | Bassani: Die Gärten, S. 77: „Weil ihnen, bigott wie sie immer gewesen waren (Gegner des Faschismus, schon gut, aber vor allem bigott) die Rassengesetze im Grunde Freude machten! Und wenn sie nun wenigstens gute Zionisten wären. Wenn sie wenigstens die Gelegenheit wahrgenommen hätten, endlich nach Erez überzusiedeln! Aber nein. Mehr als hin und wieder ein bisschen Geld für Erez herauszurücken […], mehr hatten sie nie tun wollen. [...] Nein, es war schon so: durch vieles Zusammentragen – von Gegenständen, von Pflanzen, von allem möglichen […] kam man am Ende darauf, nun auch Menschen sammeln zu wollen. Aber bitte, wenn sie, die FinziContini, dem Ghetto nachtrauerten (denn im Ghetto sähen sie doch offenbar am liebsten alle wieder eingesperrt, vielleicht sogar bereit, den Barchetto del Duca zu parzellieren, um daraus eine Art Kibbuz unter ihrem Patronat zu machen.“
34 | Vgl. Primo Levi: Se questo è un uomo, Torino 1958 [1947] (in deutschen Ausgaben ist das Nachwort nicht enthalten).
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In den Gärten sprechen die integrierten oder die Integration sehnlichst wünschenden Juden, als hätten sie die gleiche Abwertung erfahren wie Bassani von seinen Gojim-Freunden, die einen Juden, der seine Identität wahren will, schnell als hochmütig wahrnehmen. Deshalb halten sie die Reise der Finzi-Contini in ihre sephardische Vergangenheit, um aus ihr heilige Gegenstände wie Ehàl und Parrochét35 in die Gegenwart zu holen, für einen snobistischen Akt der Haltud. Wodurch wird diese Haltud provoziert? Handelt es sich wirklich nur um eine Geste der Verteidigung, die nicht durch einen Angriff motiviert ist? Und noch einmal ist es der Fall Bassani, der offenbart, dass es einen derartigen Angriff doch gab. Das geht aus einem Zeugnis von Pietro Citati hervor, der sich zur Reaktion des Schriftstellers auf die Rassengesetze äußert und der Darstellung Magris widerspricht. „Ein strenggläubiger Jude war er nicht. Er war ein Sephardim, dem die große jüdische Tradition ganz Osteuropas völlig fremd war, die bei Kafka so lebendig wirkt. Er sah sich als einen Katholiken wie die anderen. Als er von allen katholischen Freunden zurückgewiesen wurde, öffnete sich eine Wunde, von der ich glaube, dass sie nie wieder heilte.“36
Das Zitat Citatis enthüllt die andere Seite des Gemeinsinns, den Magri beschreibt: Als guter Jude galt der angepasste (‚ein Katholik wie die anderen‘), doch auch diese Juden wurden trotz ihres ‚tugendhaften‘ Verhaltens zur Zeit der Rassenerlasse von den Gojim-Freunden ausgegrenzt. Fügt man beide Berichte zusammen, ergibt sich ein relativ eindeutiges Bild: Alle Juden waren ausgeschlossen, ein Teil reagierte darauf mit Stolz auf die eigene Identität, d.h. auf die eigene Herkunft und Vergangenheit. Diese Reaktion stellt Bassani mit den Finzi-Contini dar: Der Garten als von der Familie bewohntes, gestriges Eden ist die begriffliche und plastische Versinnbildlichung dieser Verhaltensweise. Andere Urteile über die Finzi-Contini, vonseiten der jüdischen Gesellschaft in Ferrara, lassen sich auf verzerrte Darstellungen oder Banalisierungen dessen zurückführen, was Gojim über die Juden dachten. Bassani berichtet, dass er sich in den Jahren, von denen die Gärten handeln, von seiner Familie löste‘, weil er sich ‚einer anderen Rasse zugehörig‘ fühlte. Das heißt, er war sich bewusst, der Gegenwart kämpferisch begegnen zu müssen, während die jüdische Gemeinschaft nur auf den eigenen Erhalt und den ihres Erbes bedacht war. Dieses Verhalten der Ferrareser Juden wurde von den Gojim-Antifaschisten, mit denen Bassani in Kontakt stand, darauf reduziert, dass sie blind für die aktuellen historischen Ereignisse wären. Solche Wertungen, die von der Lite35 | Bei einem Ehàl handelt es sich um einen Schrein für die Thorarollen, ein Parrochét ist ein gestickter Gobelin [Anm. d. Übers.]. Vgl. Bassani: Die Gärten, S. 77.
36 | Bassani: Opere, S. LXVI.
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raturkritik weitergegeben und noch auf einer Bassani-Tagung im Jahr 200237 wiederholt wurden, werden in den Gärten von anderen Juden gegenüber der Familie Finzi-Contini geäußert („Wirklich große Beträge gaben sie lieber für aristokratische Nichtigkeiten aus, so als sie 1933 um einen Ehàl […] und einen Parochèt […] aufzutreiben, würdig, in ihrer Privatsynagoge Verwendung zu finden, […] bis sage und schreibe […] Cherasco fuhren“38). Sie sind Ausdruck eines generellen, auch in der jüdischen Gemeinschaft bestehenden Klimas der Unwissenheit und der Schwierigkeit, zu begreifen, worin der tiefere Sinn dieser introvertierten, unbewussten Haltung liegt. Der Autor spielt im Roman also damit, einerseits die Urteile der nicht jüdischen Welt über die Juden (Juden sind hochnäsig, sie achten nur auf das Bewahren ihres Vermögens) als von der jüdischen Gemeinschaft in Ferrara verinnerlicht darzustellen. Denn die Gemeinschaft hat in jenem Moment völligen Verlorenseins große Mühe, sich selbst zu verstehen. Sie nimmt diese Urteile auf und bezieht sie auf diejenigen eigenen Mitglieder, welche wie die Finzi-Contini besonders an ihrer jüdischen Identität festhalten. Andererseits enthüllt der Text die Haltud der Finzi-Contini in ihrer wahren Bedeutung als Bewusstsein für den eigenen Ursprung. Sie beleben die Verbindung dazu neu, indem sie sich mit geradezu ‚archäologischem‘ Interesse heilige Gegenstände und Grabinschriften wieder aneignen: Der Garten ist der Ort, an dem diese Sammlung gehortet wird. Nach Friedensbeginn schildert Bassani mit ironischem Missfallen, wie ex-faschistischen Gojim in Ferrara ihm nahe legten, im Namen der Agape, der christlichen Nächstenliebe, über das Erlebte zu schweigen. Zumal letztlich auch die Überlebenden ‚halb tot‘ seien und folglich nicht das Recht hätten, die Zukunft der Lebenden zu stören. So haben sie es, erzählt Bassani, auch mit
37 | Piero Pieri: „La passeggiata prima di cena“. Anacronismi e parodie di Giorgio Bassani ebreo antifascista e letterato crociano, in: Anna Dolfi und Gianni Venturi (Hg.): Ritorno al „giardino“. Una giornata di studi per Giorgio Bassani, Firenze, 26 marzo 2002, Roma 2006, S. 53-82, hier: S. 63: „Der Antifaschismus, die Jahre im Untergrund und die Monate im Gefängnis erlauben es, dass Bassani ein Urteil über die ‚Rassegesetz-Befürworter‘ fällt, das in der sozial-anthropologischen Sicht des assimilierten Juden nicht vorkam. In den dreißiger Jahren war die jüdische Schicht gut in das städtische Netz integriert, sie genoss Vergünstigungen und Privilegien aufgrund des Zensus. Doch Bassani wirft dem Bürgertum vor, es habe die faschistische ‚Religion’ auch in den Jahren der Diskriminierung gerechtfertigt. Das ersehnte Fortschreiten der Assimilierung, das die jüdische Schicht zur Identifikation mit dem faschistischen Staat brachte, wurde dann vom Alptraum der Deportierungen beendet. So wird einerseits der Hass des Juden auf seine eigene ethnische Tradition, wie es der Fall bei Geschlecht und Charakter von Weininger war, durch einen anderen historischen Kontext erneuert. Denn angefangen beim Spaziergang vorm Abendessen zeigt er auf versteckten Wegen den Hass des antifaschistischen Juden auf die blind faschistischen Juden auch während der Bekanntmachung der Rassengesetze.“
38 | Wie FN 35.
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Geo gemacht. Geo Josz, der Held der langen Erzählung Eine Gedenktafel in der Via Mazzini (1952) kehrt aus Auschwitz, dem ‚Reich der Toten‘, unwiderruflich ‚halb tot‘ zurück. Er ist anders und nicht assimilierbar, weil er nichts tut, außer an sein Opferdasein zu erinnern. Die Lebenden wollen ihn stattdessen normal, ohne Identität und Gedächtnis, damit er sie nicht unaufhörlich auf ihre Schuld hinweise, ihn nach Auschwitz geschickt zu haben. Bassani reagiert auf diese zweideutige Mahnung, doch in die Zukunft zu schauen, ja zu vergessen, so, wie Geo in der Erzählung: Er bleibt bei den Opfern und wendet sich gänzlich dem jüdischen Eden der Vergangenheit zu. Wie seine literarische Figur Geo Josz will er dem Hinweis auf das Morgen nicht Folge leisten. Wohl wissend, dass sich dahinter die Forderung der Täter und Gleichgültigen verbirgt, die Erinnerung an die Toten auszulöschen. Insofern steht für Bassani das Erinnern für eine Annäherung an etwas, das man wahrhaft besitzt, und nicht an etwas Verlorenes: „...ich würde meinen Roman von Ferrara niemals als eine Suche nach der verlorenen Zeit bezeichnen (im Anklang an Proust) […]. Mein höchstes Bestreben ist zugleich objektiv und subjektiv, zeitgleich kartesianisch beim Wissen, aber wie Proust und wie Joyce weiß ich, dass ich kein Recht auf das Erzählen von Geschichten habe. Wem könnte ich sie erzählen? Ich habe es sofort nach dem Krieg getan, in einem außergewöhnlichen Moment, nachdem wir alle, nicht nur ich aus Buchenwald gekommen waren. Alle kamen wir in irgendeiner Weise von dort, und es gab eine sehr ernste Rechtfertigung: einer Versammlung von irgendwie gleichen, nahen, übereinstimmenden Zuhörern berichten […] Meine Anstrengung war es, über eine proustsche Zeit – eine subjektive, gedachte – das Objektive wiederzuerlangen. Aber keineswegs Suche nach der verlorenen Zeit: Die Zeit ist nicht verloren, es ist meine Zeit; die Suche ist nur ein Versuch in der Zeit zurück zu gehen, um mein Selbst von heute zu erklären, aber ohne zu vergessen.“39
Übersetzung: Katrin Schmeißner/Maike Heber
39 | Anna Dolfi: Tre interviste sul tempo (Bassani, Bilenchi, Bonsanti), in: Contesto, 4-6, 1982, S. 23-50, hier: S. 26.
Erinnerung und Moderne Fremdheit und Gewöhnung im Umgang mit der Vergangenheit Ralph Buchenhorst
„Das Kreosot, mit dem ich vor dem Aufbruch zur Expedition meine Kisten und Kasten zum Schutz vor Termiten und Schimmel eingerieben hatte – noch immer nehme ich seinen Geruch wahr, wenn ich meine Reisenotizen durchblättere. Nach mehr als einem halben Jahrhundert nahezu unmerklich geworden, führt mir diese schwache Duftspur dennoch augenblicklich die Savannen und Wälder Zentralbrasiliens vor Augen […] Die Photographie ruft in mir nichts dergleichen mehr hervor – wahrscheinlich deshalb, weil allzu viele Jahre vergangen sind, wenn auch gleich viele. Die Klischees sind kein physisch und wie durch ein Wunder erhalten gebliebener Bestandteil von Erfahrungen, an denen alle Sinne, die Muskeln und das Gehirn beteiligt waren: Sie sind lediglich deren Indizes.“ C LAUDE L ÉVI -S TRAUSS , B RASILIANISCHES A LBUM (1995)
I. G ESCHICHTSPOLITIK UND E RINNERUNGSKULTUR HEUTE Westliche Geschichtspolitik und öffentliche Erinnerungskultur haben im 20. Jahrhundert einen entscheidenden Wandel erfahren. Das Gedenken an die Shoah hatte an diesem Wandel einen gewichtigen Anteil. Es gibt kein Massenverbrechen, das umfangreicher, vielschichtiger und eindringlicher dokumentiert wurde als die Vernichtung der europäischen Juden, und es gibt keines, dessen Erinnerung konstitutiv zur nationalen Identität zweier Staaten gehört – ich meine Deutschland als dem Land der Täter und Israel als dem Land der
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Opfer. Die Konstanzer Kulturwissenschaftlerin Aleida Assmann spricht von der Shoah als einer normativen Vergangenheit für den europäischen Kontinent insgesamt.1 Diese Vergangenheit, so lautet meine erste These, ist von einem konstitutiven Widerspruch gekennzeichnet. Einerseits wird sie als unfassbar, unvor- und undarstellbar, in höchstem Grade befremdend bezeichnet 2, andererseits ist sie zu einem Medienphänomen ohnegleichen geworden. Um diese Konstellation anders auszudrücken: Einer Bewegung, die die Fremdheit und die Aura der Einzigartigkeit der Shoah, etwa in Zeugnissen der oral history, bewahren will, steht ein medialer Prozess gegenüber, der Darstellung auf Darstellung häuft und uns mit einem massiven Gewöhnungsvorgang hinsichtlich des Shoah-Gedenkens konfrontiert. Die dritte und vierte Generation – also diejenigen geschichtlich Interessierten, die in die heutige Erinnerungskultur hineinwachsen – hat es fast ausschließlich mit dieser zweiten, mediatisierten Form des Gedenkens zu tun.3 Da die Medien ihre Selbstkritik immer gleich mitliefern, wird jedoch auch im gegenwärtigen Erinnerungsdiskurs Unbehagen an der Flut der Bilder geäußert. Damit ist das Shoah-Gedenken auch der erste Erinnerungsdiskurs, der den westlichen Gesellschaften das Bewusstsein geschichts- und medienpolitischer Konsequenzen eines Generationenwechsels vor Augen führt. Bereits seit Jahren spricht man vom langsamen Abschied von den Überlebenden und von einem Übergang zur ausschließlich medialen Vermittlung der Holocaust-Erinnerung. Mit dieser Entwicklung einher geht ein weiterer Wandel: derjenige vom nationalstaatlich geprägten zum globalen Gedenken.4 Migrationsbewegungen, von Multireligiosität geprägte Zivilgesellschaften und ein global entbrannter Wettbewerb um Anerkennung im Kontext einer Vielzahl unterschiedlicher staatlich sanktionierter Massenverbrechen sind die Motoren dieses Wandels. Sie führen dazu, dass sich zu einer Vergangenheit multiple Erinnerungen und Kontextualisierungen einstellen und im Raum öffentlicher Aufmerksamkeit konkurrieren. Sie führen dazu, die Shoah in Deutschland auch aus der Perspektive eines türkischen Einwanderers oder eines sudanesischen Asylbewerbers zu betrachten. Sie führen schließlich dazu, die Frage der Einhaltung 1 | Aleida Assmann: Die transformierende Kraft der Erinnerung: Rede im Landtag von BadenWürttemberg, 27.1.2012, in: http://www.gedenkstaetten-bw.de/fileadmin/gedenkstaetten/pdf/ veranstaltungen/vortrag_assmann_27_1_12.pdf [22.12.2013]. 2 | Vgl. z.B. Saul Friedländer (Hg.): Probing the Limits of Representation: Nazism and the ‚Final Solution‘: Cambridge/Mass. 1992; Giorgio Agamben: Was von Auschwitz bleibt: Das Archiv und der Zeuge (Homo Sacer III), Frankfurt a.M. 2003. 3 | Zu den Konsequenzen der Mediatisierung der Shoah s. Susanne Rohr: ‚Genocide Pop‘: The Holocaust as Media Event, in: Sophia Komor und Susanne Rohr (Hg.): The Holocaust, Art, and Taboo: Transatlantic Exchanges on the Ethics and Aesthetics of Representation, Heidelberg 2010, S. 155-178. 4 | Zur Globalisierung der Shoah-Erinnerung s. Daniel Levy und Nathan Sznaider: Erinnerung im globalen Zeitalter: Der Holocaust, Frankfurt a.M. 2001.
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internationaler Menschenrechtsabkommen zwischen das Recht nationaler Souveränität und die globale Verpflichtung der Einhaltung der Menschenrechte zu setzen.5 In diesem Zusammenhang kann sich die deutsche Gesellschaft z.B. nicht mehr nur ausschließlich als ein homogenes Haftungskollektiv verstehen (das sie natürlich auch noch ist), sondern sie muss nun lernen, die Shoah zudem aus der Perspektive von Minderheitenkollektiven und somit von heterogenen, transnationalen Öffentlichkeiten zu verstehen – so lautet meine zweite These, auf die ich im Abschnitt V näher eingehen werde. Sie hängt mit der ersten insofern zusammen, als dass die Globalisierung des Gedenkens zu einem Darstellungsschub führt, dieser Schub jedoch gleichzeitig die Medienkritiker auf den Plan ruft, die vor einer Übersättigung und schamlosen Popularisierung der Darstellung des Leidens warnen.6 Die Globalisierung hat also zwei Konsequenzen: Gewöhnung und Heterogenisierung der Erinnerung. Sie führt zu einem unausweichlichen Abgleich von Genoziden und ihrer Aufarbeitung, und diese Gegenüberstellung respektiert keine nationalen Grenzen mehr. Man kann deshalb auch von einer unvermeidlichen Rekontextualisierung von Gerechtigkeitsfragen und Anerkennungsforderungen sprechen (die US-amerikanische Philosophin Nancy Fraser nennt diesen Diskurs „a politics of framing“7). Vom Westfälischen Frieden bis zu Woodrow Wilsons Ansicht, die Formulierung und Befolgung nationaler Werte gehörten wesentlich zur menschlichen Natur, herrschte die Vorstellung, kulturelle und ethnische Homogenität und die daraus erwachsene Verbindung von Territorialität, Nation, Recht und Religion seien Grundpfeiler unseres Wertekosmos‘. Heute dagegen sprechen wir von mixing cultures, Diasporisierung oder Ethnisierung von Gesellschaften, wir sprechen von der Notwendigkeit einer Internationalisierung des Rechts.8 Genozide selbst mögen immer lokal 5 | Ein aktuelles Beispiel: Ein argentinischer Anwalt hat im Oktober 2013 Anklage gegen vier mut maßliche Folterer während der Franco-Diktatur in Spanien erhoben. Laut internationaler Men schen rechts abkommen seien sie mehrfacher Verbrechen gegen die Menschlichkeit schuldig. Die spanische Regierung dagegen argumentiert, die nationale Rechtsprechung verbiete durch das 1977 verabschiedete Amnestiegesetz eine solche Anklage, vgl. El Pais: España resiste a juzgar el franquismo, http://politica.elpais.com/politica/2013/10/05/actualidad/ 1380995739_548039.html [15.1.2014]. 6 | Als bekanntes Beispiel: Susan Sontag: Regarding the Pain of Others, New York 2004, ein Essay, der die Forderung nach einer „Ökologie der Bilder“ aus ihrem ersten Buch über Fotografie (On Photography, 1977) wiederholt. 7 | Siehe Kate Nash und Vikki Bell: The Politics of Framing: An Interview with Nancy Fraser, in: Theory Culture & Society 24, 4/2007, S. 73-86; Nancy Fraser: Reframing Justice in a Globalizing World, in: New Left Review 36, 6/2005, S. 69-88. 8 | Vgl. Ruth Mayer: Diaspora: Eine kritische Begriffsbestimmung, Bielefeld 2005; Renata Thiago Pontes und Maria Aparecida Salgueiro: Diasporization and Family Relations: The Construction of Female Identity in Nella Larsen’s Quicksand and Jamaica Kincaid’s Lucy, 2010.
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ethnische oder nationale Beweggründe haben, ihre Aufarbeitung jedoch ist schon lange nicht mehr an Staatsgrenzen gebunden. Diese Prozesse verlangen nach einer Umorientierung in den Bereichen der Geschichtspolitik, des internationalen Rechts und der Anerkennung lokaler Identitäten. Eine solche Umorientierung wird dann eher die internationale Geltung von Ansprüchen und die Rechtmäßigkeit von Stellvertretungen überprüfen als die Angemessenheit der Darstellungsmittel von Genoziden.
II. F REMDHEIT UND P OPULARISIERUNG DES N EUEN IN DER M ODERNE Ich werde mich im Folgenden mit dem bereits erwähnten Problem des Widerspruchs zwischen der Bewahrung des Fremden und der Ubiquität der Bilder und Erzählungen im Kontext der Shoah-Erinnerung näher auseinandersetzen, um abzuklären, ob dieser Widerspruch zum Verständnis der aktuellen Entwicklungen in der Geschichtspolitik etwas beitragen kann. Meine dritte These lautet in diesem Zusammenhang: Dieser Widerspruch ist kein Alleinstellungsmerkmal des Shoah-Gedenkens, sondern kennzeichnet die Moderne insgesamt. Ihre Mutwilligkeit, sich den Risiken schockierender, fremdartiger Begegnungen auszusetzen, war zwar eine „Rebellion gegen alles Normative“9, wurde bald jedoch selbst zur Routine. Ende der 1980er Jahre noch konnte Jürgen Habermas das nachmetaphysische Denken durch den Gedanken kennzeichnen, explosive Erfahrungsgehalte seien aus der Philosophie aus- und in die autonom gewordene Kunst abgewandert.10 Aber auch die Kunst ist mittlerweile ein durchschaubares Unternehmen geworden, das von seiner permanenten Selbstbefragung lebt. Dadurch hat sie allerdings gelernt, mit Differenzen umzugehen: Die Moderne ist der Prozess des Lernens aus Befremdung, ein Prozess, der als Resultat der Dialektik von Schock und Gewöhnung verstanden werden kann. Sie hat die Dialektik von Schockierendem, Fremdem und seiner Übertragung und Reproduktion ins Alltägliche immer wieder auf’s Neue entfaltet. Im Folgenden möchte ich dieser Konstellation von Einmaligkeit und Ikonisierung resp. Gewöhnung in mehreren Beispielen nachgehen. Dabei werde ich meine Auseinandersetzung mit dem erwähnten Widerspruch in die Frage nach unserem Umgang mit den Medien einbetten. Der USamerikanische Literaturtheoretiker und Gründer des Fortunoff Video Archive for 9 | Jürgen Habermas: Die Moderne – ein unvollendetes Projekt, in: Ders.: Die Moderne – ein unvollendetes Projekt: Philosophisch-politische Aufsätze 1977-1990, Leipzig 1990, S. 32-54, hier: S. 35. 10 | Jürgen Habermas: Motive nachmetaphysischen Denkens, in: Ders.: Nachmetaphysisches Denken: Philosophische Aufsätze, Frankfurt a.M. 1992, S. 35-60, hier: S. 60.
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Holocaust Testimonies, Geoffrey Hartman, hat im Zusammenhang zwischen öffentlichem Gedächtnis und Moderne die Forderung aufgestellt, wir sollten unsere Komplizenschaft mit dem Medium untersuchen, eine Komplizenschaft, deren Entlarvung in die Moderne selbst bereits eingebaut sei.11 Diesen Entlarvungsmechanismus identifiziert Hartman mit dem permanenten Abgleich zwischen Zeitzeugenerzählung und ihrer Speicherung, die zumeist durch das Bild erfolgt.12 Mit dem Inhalt einer Erzählung verfolgt man eine Intention, mit ihrer Vermittlung durch ein Medium wird diese Intention technisch aufbereitet, strukturiert und gerahmt, diffundiert und damit eine zweite hinzugefügt. Will man durch Erzählungen den Opfern eine authentische Stimme verleihen, so besteht die Gefahr, durch Vervielfältigung ihres Leids die Authentizität der Opfererzählung sozusagen zu verwässern oder technisch so einzurahmen, dass diese Rahmung auch auf den Inhalt der Erzählung zurückwirkt. Hier sind wir der Dialektik von Fremdheit und Gewöhnung bereits auf der Spur. Die Qualität des Sublimen der Erinnerung und die Bewahrung der Fremdheit im Umgang mit der Shoah werden in den Medien ausgehebelt und unterwandert. Man kann diesen Prozess jedoch auch positiv fassen: Die Qualität des Sublimen und Fremden wird durch die Medien auf ihre Komplexität und Ausdruckskraft hin befragt. Selbst die mit den ernsthaftesten Absichten produzierten Filme von Claude Lanzmann (auf dessen neunstündiges Werk Shoah ich im Folgenden näher eingehen werde) oder Harun Farocki haben dann Anteil an der Erzeugung dieser Janusköpfigkeit.13 Andererseits führen sie dazu, dass wir die Debatten über Genozid und Gedenken mediensensibler, komplexer und auf einem ungleich höheren Niveau der Einbeziehung unterschiedlichster Positionen gestalten können.14
III. S PRACHE UND B ILD Ich beginne die Diskussion um Darstellung und Reproduktion des Undarstellbaren mit der Hervorhebung einiger Aspekte von Claude Lanzmanns Filmepos Shoah. Der Regisseur hat mehrfach betont, dass das Werk auf eine bildliche Darstellung der Vernichtungsmaschinerie bewusst verzichtet.
11 | Geoffrey Hartman: Öffentliches Gedächtnis und moderne Erfahrung, in: Ders. und Aleida Assmann: Die Zukunft der Erinnerung und der Holocaust, Konstanz 2012, S. 111-123, hier: S. 116.
12 | Ebd., 120ff. 13 | Claude Lanzmann: Shoah (Frankreich 1985); Harun Farocki: Bilder der Welt und Inschrift des Krieges (Deutschland 1989); Ders.: Aufschub (Deutschland 2007).
14 | Matthias Dusini und Thomas Edlinger z.B. behaupten, die politische Korrektheit dieser Debatten käme von dem „unvergleichlich höheren Zivilisationsgrad“, auf dem sie bauen, vgl. Matthias Dusini und Thomas Edlinger: In Anführungszeichen: Glanz und Elend der Political Correctness, Berlin 2012, S. 98f.
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Stattdessen dokumentieren die vielen Filmszenen mit ihren Erzählungen und Dialogen eine Kommunikation zwischen Regisseur, Zeuge, Dolmetscher und Ort, die unübersehbar Defekte aufweist. Es handelt sich um Unsicherheiten, die der jeweils eigenen Perspektive und Disposition der Zeugengruppen geschuldet sind. Der Mangel des Regisseurs ist offensichtlich: Weil sein Wissen unvollständig oder zu abstrakt ist, geht er auf die Suche nach Zeugen. Diese jedoch zeigen im Film selbst ihre spezifischen Unzulänglichkeiten: Die Täter blenden eigene Verantwortung aus und können oft nicht die Funktionsweise des Gesamtlagers erklären, die Zuschauer sagen immer wieder, sie hätten von der eigentlichen Funktion von Zügen, Lastwagen (den Gaswagen von Chelmno) und Lagern nichts gewusst und verweigern das Durchspielen von Szenarien, die sich aus ihrem Eingreifen ergeben hätten, und die Opfer müssen sich permanent mit dem Problem der Inszenierung ihrer historischen Erfahrung auseinandersetzen. Es gehört zu den entscheidenden Formproblemen des Films, dass er es unmöglich bei der bloßen Erzählung belassen kann und seine Aussage stattdessen in der Inszenierung von Wahrheit findet (Lanzmann betont ja gerade, dass Shoah kein Dokumentarfilm sei), in einer Fiktion des Wirklichen: „Es [war] auf eine gewisse Art unumgänglich, die Leute zu Schauspielern zu machen. Sie erzählen zwar ihre eigene Geschichte. Aber sie erzählen war nicht genug. Sie mussten sie schon spielen, d.h., sie mussten sie irrealisieren.“15 Damit sagt Lanzmann: Es genügt für einen Zeugen nicht, einfach nur Zeuge zu sein und seine Erzählung aktiv zu leisten, er muss dieses Narrativ vor der Kamera und in einer spurlosen Landschaft in Szene setzen können. Die Gesamtheit der Unwägbarkeiten, mit denen der Film sich auseinandersetzen muss, läuft darauf hinaus, dass Shoah nicht nur eine historische Krise der Zeugenschaft in Szene setzt16, sondern eine historischer Repräsentation insgesamt. Wie Giorgio Agamben in Was von Auschwitz bleibt, so sagt auch Lanzmann, dass es den integralen Zeugen nicht gibt. Und wie bei Agamben, der behauptet, der integrale Zeuge sei jemand, der die Zunge des Philosophen brauche, um als solcher erkennbar zu sein, wird bei Lanzmann deutlich, dass der Zeuge nicht nur in einen Verweisungszusammenhang mit anderen Zeugen und deren Aussagen tritt, sondern die Kamera, den Regisseur und den Zuschauer braucht, um sein konkretes, Erfahrung ausdrückendes, aber defizientes Narrativ zur – fiktiven! – Essenz der Shoah-Erinnerung zu machen.
15 | Claude Lanzmann: Der Ort und das Wort: Über Shoah, in: Ulrich Baer (Hg.): ‚Niemand zeugt für den Zeugen‘. Erinnerungskultur nach der Shoah, Frankfurt a.M. 2000, S. 101-118, hier: S. 113.
16 | So Shoshana Felman in: Im Zeitalter der Zeugenschaft. Claude Lanzmanns Shoah, in: Baer: Niemand zeugt für den Zeugen, S. 175f.
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Lanzmanns Film zeigt also zweierlei: Er zeigt, dass authentisches Erinnern keinesfalls an den Überlebenden allein gebunden ist, und er zeigt, dass die Performanz der Erinnerung Differenzen erzeugt. Die Vielzahl der interviewten Zeugen mit ihren unterschiedlichen Sprachen und die Juxtaposition der Zeugenberichte vermitteln die Idee eines Forums von Stimmen, das nicht eine gültige Rekonstruktion der Shoah intendiert, sondern einen Diskurs fortschreitender Differenzierung, Historisierung und Übersetzung anstößt.17 Und dieser Anstoß kreuzt die Grenzen vieler Staaten, die Erzählung führt nicht nur nach Polen, Deutschland und in die Ukraine, sondern auch in die Schweiz, die USA, nach Israel und Schweden. Der eingangs erwähnte Wandel vom nationalstaatlichen zum globalen Gedenken ist sozusagen bereits in die Ereignisund Erfahrungsstruktur der Shoah selbst eingebaut. Die Provokation, Bilder aus dem Shoah-Gedenken auszuschließen, gehört zur Differenzerzeugung dazu. Sie möchte die Fremdheit des Geschehens bewahren, provoziert jedoch Verfahren der Inszenierung, die Infragestellung von Authentizität, die Produktion von Verfremdungseffekten. Wie in der ästhetischen Moderne, die mit jeder Neuerung das Vorhergehende ausschied und verbannte, soll vom Narrativ der Überlebenden aus ein Anderes ausgeschlossen werden. Aus Provokation und Fremdheitsbewahrung jedoch werden am Ende Differenzierungsmotoren, die die Komplexität des Wissens über ein historisches Ereignis erhöhen. Der gleiche Verfremdungseffekt, der vor Gewöhnung schützen will, motiviert die Produktion von Heterogenität.
IV. S CHRIFT UND O BERFLÄCHE Der deutsch-amerikanische Literaturwissenschaftler Hans-Ulrich Gumbrecht hat in einem kürzlich erschienenen FAZ-Blog ein „Plädoyer für die neue Oberflächlichkeit“ abgegeben.18 In einem Blick zurück kennzeichnet Gumbrecht das 20. Jahrhundert als eine Epoche der Suche nach der metaphysischen Tiefe, die der Oberfläche der Dinge und Körper erst abgewonnen werden musste. Das 21. Jahrhundert dagegen verstehe die Welt als einen Ort absoluter Kontin-
17 | Felman spricht zwar ganz in diesem Sinne von Shoah als einer Entsakralisierung der Zeugenaussage und einer Dekanonisierung des Holocaust (Felman: Zeitalter, S. 191), fällt aber hinsichtlich der realen Realität der Shoah zurück in den hypostasierenden Schluss, jene sei „absolutes historisches Ereignis“, das eine „buchstäblich überwältigende Evidenz“ habe, ebd., S. 181. 18 | Hans-Ulrich Gumbrecht: Plädoyer für die neue Oberflächlichkeit, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 6.9.2013, http://blogs.faz.net/digital/2013/09/06/plaedoyer-fuer-die-neue-oberfla echlichkeit-357/ [15.01.2014].
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genz, einen Ort, an dem Geschichtsphilosophie ihren Platz verloren habe.19 Gumbrecht sieht an diesem Ort eine neue, dynamische Intelligenz wachsen, die Kommunikation und die Intensität von Inszenierungen als Selbstzweck betreibt. Ich möchte im Folgenden diskutieren, ob die Auseinandersetzung mit den Bildern der Erinnerung ein solcher Selbstzweck (geworden) ist. Dazu wende ich mich zwei Beispielen zu. Zuerst möchte ich das bereits intensiv rezipierte und diskutierte Mahnmal gegen den Faschismus von Jochen Gerz und Esther Shalev-Gerz unter dem Aspekt der Oberfläche betrachten.20 Das Denkmal besteht aus einer leeren, zwölf Meter hohen Säule, installiert auf einem öffentlichen Platz (Abb. 1). Die Bleihaut der Säule lädt dazu ein, von Betrachtern beschriftet zu werden, um sich so gegen eine Wiederholung faschistischer Ideologien auszusprechen (Abb. 2). Nach Beschriftung der erreichbaren Teile der Haut wurde die Säule sukzessive abgesenkt und ist heute vollständig und unsichtbar in den Boden des Platzes eingebettet. Die Absenkung ist ein Akt, den die Unterschreibenden also verantwortlich mitinitiiert haben. Sie verweist die Beteiligten und Interessierten auf die Immaterialität des Gedenkens und darauf, dass dieses permanent neu zu leisten ist. Die Bleihaut der versenkbaren Säule ist insofern ein Ort der Kontingenz, als der Autor des Werks nicht bestimmen kann, wer sich auf sie einschreibt. Die Oberfläche der Harburger Säule ist also das Produkt eines vom Künstler unkontrollierbaren, im öffentlichen Raum sich vollziehenden Ein- und Überschreibungsprozesses von Betrachtern. Weil die Betrachter selbst auf die ästhetisch definierte Oberfläche einwirken, erhalten die beiden grundlegenden Relationen der Kunst einen offenen Charakter: diejenige zwischen ästhetisch auf bereitetem Material und Betrachter und diejenige zwischen Geschichte und manifester Spur. Auf diese Weise ist Kunst in der Lage, interaktive Formen zu generieren, Formen, die ihren eigenen Begriff transformieren. Ihre Frage nach der Gegenwart von Geschichte zusammen mit dem bewussten Einbeziehen von Ko-Autoren eröffnet ihr diskursive Möglichkeiten jenseits des autorisierten Meisterwerks oder des bloßen Entertainments.21 Auch hier wird erkennbar, dass die freigegebene Schrift auf der Oberfläche Erinnerung als Differenz produziert – eingeschränkt zwar dadurch, 19 | Ähnlich hatte bereits Mitte der 1990er Jahre Gernot Böhme konstatiert: „Die Ästhetisierung unserer Realität besteht in erster Linie in einer extensiven Präsentation von Materialität.“, Gernot Böhme: Atmosphäre: Essays zur neuen Ästhetik, Frankfurt a.M. 1995, S. 51.
20 | Vgl. James E. Young (Hg.): Mahnmale des Holocaust: Motive, Rituale und Stätten des Gedenkens, München 1994, S. 42-49; Ralph Buchenhorst: Das Element des Nachlebens: Zum Argument der Undarstellbarkeit der Shoah in Philosophie, Kulturtheorie und Kunst, München 2011, S. 214f.
21 | Der Rückzug der Kunst auf letztere Funktion wird von vielen Theoretikern ausgerufen und bildet seit über drei Jahrzehnten eine Front, die das Ende der Moderne in ihrer radikalen Form verkündet, vgl. z.B. Donald Kuspit: The end of art, Cambrigde 2004, S. 14 und 175ff.; Hans Peter
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dass die Bedingungen der Einschreibung durch Material, Raum und Konzept immer noch begrenzend wirken, offen jedoch dadurch, dass die Säule nicht zwischen Autor und Betrachter, Schrift und Bild, Einmaligkeit und Wiederholung trennt. Abbildung 1
Jochen Gerz/Esther Shalev-Gerz, Mahnmal gegen Faschismus, Säule (1986)
Diese Entwicklungen haben weitere Konsequenzen für die Beziehung zwischen Autor und öffentlichem Raum. Die Identität des Autors ist nicht mehr herstellbar über die Frage nach Intuition, technischer Fertigkeit und individuellem Innovationspotential, sondern konstituiert sich im sozialen Zusammenspiel der zufällig oder intendiert, konkret oder potentiell Teilnehmenden. Nur diese Öffnung ermöglicht es dem Betrachter, seine bloß reaktive Funktion aufzugeben und eine aktive Position in der Konstruktion des Werkes zu gewinnen, und dem Künstler, sich aus seinem Rückzug auf sich selbst als der Autorität, deren Vorstellung von Pluralität und Kommunikation alleine gelten soll, zu befreien. Die Fremdheit der Shoah-Erfahrung bleibt unangetastet, die Beschreibung der Oberfläche ist ein Symbol der Solidarität mit den Opfern, und deren Erfahrung wird nicht von einem Künstler in ihrer Tiefe ausgelotet, sondern nur indirekt auf diese Erfahrung verwiesen. Schwerfel: Ground Zero und Stunde Null, in: Ders. (Hg.): Kunst nach Ground Zero, Köln 2002, S. 9-13.
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Abbildung 2
Jochen Gerz/Esther Shalev-Gerz, Mahnmal gegen Faschismus, Passant unterschreibt mit dem Stahlgriffel
In meinem zweiten Beispiel beziehe ich mich auf eine Arbeit, die auf andere Weise das Motiv der Oberfläche thematisiert. Dave Sims jüngere Arbeit Judenhass22 nähert sich durch das Medium des Comic-Strips der Shoah – wenn auch auf grundsätzlich andere Weise, als dies in Art Spiegelmans berühmt gewordenen Comic Maus vorgeführt wird.23 Sie kann und will es nicht mit der narrativen Komplexität der Spiegelmanschen Erzähl- und Darstellungsstrategie aufnehmen. Im Grunde beabsichtigt Judenhass weder auf der bildlichen noch auf der textlichen Ebene eine Darstellung der Shoah. Der bis ins Detail durchorganisierte Prozess der industriellen Vernichtung durch Ghettoisierung, Deportation, Selektion und Vergasung wird nirgendwo im Comic ikonografisch repräsentiert. Stattdessen konzentriert sich Sim auf die ästhetischen Konsequenzen der Übertragung von Fotografien, die nach der Befreiung in den Lagern Mauthausen, Dachau und Buchenwald gemacht wurden, in den Zeichenstil des Comics. Zum rhetorischen Höhepunkt dieser Auseinandersetzung gerät die Nebeneinanderstellung eines bis auf die Knochen abgemagerten KZ-Häfltungs (eines sogenannten ‚Muselmanns‘) und eines Portraits von Martin Luther (Abb. 3)
22 | Dave Sim: Judenhass, Kitchener 2008. 23 | Art Spiegelman: Maus: A Survivor’s Tale, New York 1991.
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Abbildung 3
Dave Sim: Doppelseite aus Judenhass (2008)
In einer gewagten Kombination trifft der antisemitische Erfinder der deutschen Innerlichkeit 24 auf den Träger einer niederschmetternden, absoluten Äußerlichkeit – von den Muselmännern wird gesagt, sie seien von völliger seelischer Abstumpfung und Gleichgültigkeit gegenüber sich selbst und der Umwelt geprägt gewesen.25 Die Zeichnung des Muselmanns basiert auf einer genauen Recherche historischer Fotografien aus den Vernichtungslagern, kombiniert mit der Technik eines regelbrechenden Zoomings. In einem Anhang versorgt der Autor seine Leser mit einer lückenlosen Liste aller von ihm abgezeichneten Fotografien (wie er auch die Quellen der meisten seiner Textzitate offenlegt). Selbstverständlich ist es ihm nicht um die getreue Reproduktion der verfügbaren Fotografien zu tun. Es geht ihm vielmehr um die Führung des Betrachter-
24 | Sim zitiert in der besprochenen Arbeit ausführlich aus Luthers Jenaer Traktat von 1543 „Über die Juden und ihre Lügen“, in dem Luther dazu auffordert, die Synagogen des Landes niederzubrennen. Zu Luthers Antisemitismus s. Eric W. Gritsch: Martin Luther‘s Anti-Semitism: Against His Better Judgment, Cambridge 2012; Thomas Kaufmann: Luthers „Judenschriften“: Ein Beitrag zu ihrer historischen Kontextualisierung, Tübingen 22013.
25 | Vgl. Zdzisław Ryn und Stanisław Kłodzinski: An der Grenze zwischen Leben und Tod: Eine Studie über die Erscheinung des ‚Muselmanns‘ im Konzentrationslager, in: Hamburger Institut für Sozialforschung (Hg.): Die Auschwitz-Hefte, Bd.1, Hamburg 1994, S. 89-154.
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auges hin auf diejenigen Details, die man an einer Fotografie normalerweise übersieht oder an denen man geflissentlich vorbeisieht, um sich der Konfrontation zu entziehen. Verlöschende Blicke von Verhungernden, ein obstinat wiederkehrender Blutfleck auf den Zähnen eines Gestorbenen oder das bizarre Gewirr von Zehen, Wangen, Ellenbogen, offenstehenden Mündern und Fußsohlen in minimal verschobenen Bildausschnitten drängen sich derart dem Blick auf, dass dieser danach verlangt, zur unaufdringlicheren Neutralität und Sanftheit der fotografischen Oberfläche zurückzukehren zu können. Dieses Aufdringliche ist nun nicht alleine der Unruhe dieser verschobenen Oberflächen geschuldet, die kleinste Falten und Unebenheiten zu berücksichtigen in der Lage ist, sondern auch dem komplexen Prozess der ‚Übersetzung‘ der fotografischen Strukturen in das zeichnerische Element. Auf seiner Internetseite www.judenhass.com erklärt Sim, welchen Sinn die Übertragung von dokumentarischen Fotografien der Shoah in die Comic-Strip-Zeichnung für ihn hat: Es sei sein Wunsch gewesen „[...] to come as close as possible to doing portraits of as many Holocaust victims as possible to render good likenesses created by building the image with as many pen strokes as necessary. At least temporarily I was able to individualize the victims for myself, personally, to differentiate each one as much as possible back into the individual he or she had been before the catastrophe of the Shoah had overtaken him or her.“26
Sim unternimmt es so durch den Einsatz einer aufwendigen Schraffurtechnik, die in der Lage ist, kleinste Unebenheiten und Konturen von Gesicht, Körper und Kleidung zu betonen, der Individualität der Opfer so nahe wie möglich zu kommen. Es ist dann der penibel wiedergegebene nervöse Faltenwurf von umgeworfener Decke und Hose, der die Verfasstheit des Muselmanns und die innige Beziehung des Zeichners zu ihm überzeugend repräsentiert, während Kappe und Umhang Luthers in einem zweidimensionalen Tiefschwarz glänzen und die Distanz des Zeichners zum Portraitierten deutlich zum Ausdruck bringen. Auf diese Weise vermag es Sim, seine historische Aufmerksamkeit zusammen mit der moralischen Anforderung, die die Shoah an ihn stellt, in die gezeichneten Oberflächen von Opfern und Tätern hineinzuwirken. In einer jede Naivität überwindenden Einstellung vermittelt er, dass das Problem der Darstellung der Shoah gelöst werden könnte, wenn wir nur in der Lage wären, auch noch das kleinste Detail der Vernichtung im Hauch einer infinitesimalen Schraffur auszubuchstabieren.
26 | Dave Sim, www.judenhass.com/main.html [15.01.2014].
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V. V ON DER IDEOLOGISCHEN ZUR GLOBALEN M ODERNE Meine letzte These lautet deshalb: Die Fremdheit, die provokante und bizarre Ausdrucksformen produziert, ist der Impuls, der uns unbewusste Differenzen offenbart und uns zum reflexiven Erkennen dieser Differenzen führt. Derart wird aus der ideologischen eine kosmopolitische Moderne.27 Diese kann im Ausbuchstabieren oder Beschreiben von Oberflächen genauso bestehen wie in der Inszenierung einer Vielfalt von Zeugenstimmen. Auf diese Differenz kommt es mir an. Sie scheint mir konstitutiv zu sein für die reflexive Moderne überhaupt, die keine Einheit erträgt.28 So, wie die zweite Wiener Schule in der ernsten Musik die Tonalität beendet und damit die Jagd auf neue formale Kompositionsprinzipien eröffnet, so wie aus den Malstilen des 20. Jahrhunderts kein einheitsheischendes Destillat mehr abgekocht werden kann, so kann keine Allgemeingültigkeit beanspruchende Darstellung des Geschehenen mehr erzeugt werden, auch nicht, wenn man das Bild verbietet und nur noch der Stimme horcht. Man kann, wie Claude Lanzmann es getan hat, die Stimmen der Überlebenden ins Zentrum der Erinnerung stellen und dokumentarische Bilder ablehnen, aber man kann nicht verlangen, dass alle, die sich mit dieser Erinnerung auseinandersetzen, das Gleiche tun. Das Antidogmatische der Shoah-Erinnerung besteht darin, dass sie multimedial, kosmopolitisch und unendlich facettenreich ist. Aus demselben Grund hatte die ästhetische Moderne das Zerstören von scheinbar selbstverständlichen Formen zugelassen und die Selbstverständlichkeit der Kunst insgesamt in Frage gestellt.29 „Endlich ist es möglich, die Differenzen des Heute zu denken, das Heute als Differenz der Differenzen zu denken“, so Michel Foucault bereits Mitte der 1970er Jahre.30 Wie die Globalisierung lokaler Kulturformen diese immer neuen Tests hinsichtlich ihrer Aussagekraft und Anschlussfähigkeit unterwirft, so wird jede Shoah-Darstellung vor immer neue Anforderungen hinsichtlich ihrer globalen Verstehbarkeit gestellt und zugleich immer wieder auf ihre Differenz zu anderen Genoziden hin definiert – man spricht deshalb mittlerweile von multidirektionaler, kosmopolitischer und von transnational
27 | Die kosmopolitische Moderne verstehe ich hier als Entwurf in Anlehnung an Ulrich Becks Konzept der reflexiven Moderne, vgl: Michael Heinlein et al. (Hg.): Futures of Modernity: Challenges for Cosmopolitical Thought and Practice, Bielefeld 2012. 28 | Siehe dazu Niklas Luhmann: Beobachtungen der Moderne, Opladen 1992, S. 42. 29 | Vgl. Theodor W. Adorno: Ästhetische Theorie, Frankfurt a.M. 1970. 30 | Michel Foucault: Der Ariadnefaden ist gerissen, in: Karlheinz Barck et al. (Hg.): Aisthesis: Wahrnehmung heute oder Perspektiven einer anderen Ästhetik, Leipzig 1990, S. 406-410, hier: S. 410.
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vernetzter Erinnerung.31 Wenn die Idee der Undarstellbarkeit der Shoah die Abwesenheit aller Differenzen meint, die Tilgung allen Kalküls, die Rettung der absoluten Fremdheit vor den Klauen der Kommensurabilität, dann stellt die Globalisierung der Shoah-Erinnerung andererseits den Versuch dar, das Inkommensurable zu retten, indem man es in die universale Kommunikation über Leiden und dessen Objektivierung mit einschließt.32 Gewöhnung ist dabei ein unvermeidbarer Nebeneffekt dieser Produktion unterschiedlicher Perspektiven. Wir müssen ihn in Kauf nehmen, um zum Rätsel des Fremden vorstoßen zu können, das darin besteht, beim Vergleich zwischen imaginierter Realität und produzierter Repräsentation immer wieder das Gefühl des Scheiterns zu haben.33 Zwei anschauliche Beispiele für diese Form von Reflexivität bieten meines Erachtens das Projekt MetaMaus des bereits erwähnten Art Spiegelman und eine Initiative der Berliner Künstlerin Anna Adam. Spiegelman veröffentlichte 2011 mit MetaMaus eine Kompilation von Materialien, die er beim Konzipieren seines Comics Maus – in dem er das Überleben seines Vaters Vladek in Auschwitz schildert – verwendet hatte. Dokumentarische Fotografien gehörten auch dazu. Auf einer ist ein Orchester in Auschwitz zu sehen. Als Spiegelman seinen Vater nach diesem Orchester fragte, verneint dieser: „An orchestra? No, I remember only marching, not any orchestra.“ Der Sohn verweist darauf, dass die Orchester verlässlich dokumentiert seien. Der Vater beharrt auf seiner Erinnerung. Statt sich für eine der beiden Varianten zu entscheiden, dokumentiert Spiegelman den Konflikt in der Erzählung und zeigt damit, dass es zwei unterschiedliche Arten der Erinnerung gibt: die personale des Überlebenden und die bildlich dokumentierte des Historikers (Abb. 4).34 Diese Episode verdeutlicht zweierlei: Zum einen hat es die Moderne möglich gemacht, vormals marginale Diskurse und Ausdrucksformen wie den Comic in ihren kulturellen Kanon einzugliedern. Zum anderen geht es ihr nicht um eine Letztbegründung der Realität, sondern um die Dokumentation von Auseinandersetzungen. Reflexivität bedeutet die Gegenüberstellung und Abwägung
31 | Vgl. dazu Michael Rothberg: Multidirectional Memory: Remembering the Holocaust in the Age of Decolonization, Stanford 2009; Aleida Assmann und Sebastian Conrad: Memory in a Global Age: Discourses, Practices, and Trajectories, Basinstoke 2010; Ernst Halbmayer und Sylvia Karl (Hg.): Die erinnerte Gewalt: Postkonfliktdynamiken in Lateinamerika, Bielefeld 2012.
32 | Niklas Luhmann und Peter Fuchs sehen ein ähnlich paradoxes Verfahren im Asketismus, im Zen-Buddhismus und in der Mystik am Werk, Niklas Luhmann und Peter Fuchs: Reden und Schweigen, Frankfurt a.M. 1989.
33 | Vgl. dazu Richard Rottenburg: Von der Bewahrung des Rätsels im Fremden, in: Dirk Tänzler et al. (Hg.): Neue Perspektiven der Wissenssoziologie, Konstanz 2006, S. 119-136.
34 | Art Spiegelman: MetaMaus, New York 2011, S. 31.
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von Daten und Behauptungen, und Spiegelman gibt diesem Prozess einen überzeugenden Ausdruck. Abbildung 4
Art Spiegelman: MetaMaus (2011), S. 31.
Diese Lektion scheint mir auch die Berliner Künstlerin Anna Adam erteilen zu wollen. In einem ihrer Projekte machte sie es sich zur Aufgabe, anhand von Zeitzeugen-Angaben ein Portrait der Berliner Journalistin Felice Schragenheim, Mitglied einer jüdischen Untergrundbewegung, 1944 von der Gestapo verhaftet und nach Auschwitz deportiert, anzufertigen. Sie interviewte sieben Personen, die Schragenheim noch persönlich begegnet waren. Aufgrund der Erinnerungen jedes dieser Zeitzeugen fertigte sie sieben Portraits an, von denen sie Folgendes sagt: „[…] in the end, we had seven completely different portraits: one Felice had green eyes, the other one smoked, yet another one abhorred smoking, the next one was a brunette and so on, but it was always the same person.“35 Die sieben Portraits halten also höchst unterschiedliche Facetten einer historischen Person fest. Deshalb erkannten am Abend der Ausstellungseröffnung zwar die Zeitzeugen sofort dasjenige Portrait, zu dem sie selbst die Details geliefert hatten, in den restlichen sechs Bildnissen erkannten sie jedoch die Portraitierte 35 | Susanne Rohr: Interview with Anna Adam: How to Become a German Jewish Artist, in: Komor/ Rohr: The Holocaust, S. 18-23, hier: S. 22.
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nicht wieder. Ähnlich wie Spiegelmans Metastrategie zeigt Adams Malexperiment, dass individuelle Erinnerung differenzerzeugend ist und moderne Malerei in der Lage, diese Differenz integrativ zu reflektieren.
VI. S HOAH UND P ORNOGRAPHIE Befremdung ist auch eine Reaktion, die die Kombination von Pornographie und Shoah auslöst. Der US-Amerikaner und Shoah-Überlebende Boris Lurie setzte sich künstlerisch mit ihr auseinander, die so genannten israelischen Stalags hingegen auf populäre Weise. Bei Lurie, einem bedeutenden Vertreter der NO!-Art-Bewegung, verbinden sich die bekannten Fotografien, die bei der Befreiung der Vernichtungslager gemacht wurden, mit solchen von Pin-UpGirls. Der Leiter der Gedenkstätte Buchenwald, Volkhard Knigge, beschreibt im Kontext einer Ausstellung von Werken Luries in der Gedenkstätte Buchenwald diese Verbindung folgendermaßen: „Pin-ups auf Leichenbergen erscheinen als nachträgliche Versündigung an der Würde der Opfer. Überdenkt man den ersten Affekt der Abwehr aber, wird deutlich, daß Lurie mit diesen Arbeiten ins Zentrum massenkultureller und massenmedialer Erinnerung trifft. Man blättere sich durch eine Nachkriegsillustrierte oder durch ein Magazin der Gegenwart, die Repräsentationen des Leides und der Grausamkeit vertragen sich gut mit denen des Sex, und beide zusammen fördern den Verkauf.“36 Eine weniger reflektierte, dafür umso populärere Verbindung von Shoah, Pornographie und Kommerzialisierung waren die sogenannten Stalag-Hefte, die zu Beginn der 1960er Jahre Israel überschwemmten. Der israelische Journalist und Regisseur Ari Libsker hat diesem Phänomen einen Dokumentarfilm gewidmet: Stalags – Holocaust and Pornography in Israel (2007) (Abb. 5). Die Stalag-Hefte produzierten eine maskierte und gedämpfte Form der S/M-Pornografie vor dem Hintergrund von Naziterror, Stammlagern und SS. In ihnen fanden die Kinder von Shoah-Überlebenden Geschichten von weiblichen SS-Lageraufsehern, die britische und französische Kriegsgefangene, später auch jüdische Lagerinsassen quälten, bis diesen die Befreiung gelang und sie mit gleicher Münze zurückzahlten. Ari Libsker arbeitet in seinem Dokumentarfilm heraus, dass für viele Stalag-Leser die Grenzen zwischen Faktum und Fiktion verschwammen: „Although these are fictional books, members of that generation absorbed the ‚stalagim‘ as part of the collective memory of the
36 | Volkhard Knigge: „...obwohl ich Goethe leider nicht gelesen habe, doch von Hitler viel zu spüren bekam“, in: Boris Lurie: Geschriebigtes – Gedichtigtes, im Auftrag der Gedenkstätte Weimar-Buchenwald, Stuttgart/Bad-Cannstatt 2002, S. XIV.
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Holocaust.“37 Die sadomasochistische Umdeutung des Lageralltags zeigt, dass bereits früh damit begonnen wurde, die Erinnerung der Shoah in immer neuen Anläufen in neue Sprachspiele, expressive Formen und Bedeutungsgehalte einzubauen und ihre Akzeptanz zu testen.38 Abbildung 5
Ari Libsker, Pornografie und Holocaust (Israel 2008)
Ich will mich hier nicht an psychologisierenden Interpretationen beteiligen, die aus den Heften Elemente des Stockholm-Syndroms, also der Identifizierung mit den Unterdrückern, herauslesen. Viel aussagekräftiger finde ich die Tatsache, dass die ersten Stalag-Hefte direkt nach dem Eichmann-Prozess auf 37 | Ari Libsker, zit. in: Ficticious Memory, Ha’aretz, 25.01.2007. Diese Erfahrung beschränkt sich nicht auf die israelische Jugend. Art Spiegelman beschreibt Ähnliches für die US-amerikanische Rezeption: „As a kid, the connection between the pornographic aspect of the death camps – the forbidden, the dangerous and fraught – was all one big stew that I couldn’t separate out […] It was all just part of The Big Taboo.“, Spiegelman: MetaMaus, S. 48f.
38 | Entscheidend in diesem Zusammenhang ist immer auch der Rezeptionskontext: In Deutschland hätte eine solche Publikation einen Skandal ausgelöst, in Israel konnte sie – zumal im Rahmen der Auseinandersetzung mit dem Eichmann-Prozess, der im gleichen Jahr wie die Erstveröffentlichung der Stalag-Hefte stattfand – als Versuch der Selbstbehauptung und des Abschieds vom europäischen Kulturideal verstanden werden, vgl. dazu Dusini/Edlinger: In Anführungszeichen, S. 102f.
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den Markt kamen und einige ihrer Autoren wie Eli Keidar, Nachman Goldberg oder Miryam Uriel die Verhandlungen in Jerusalem als direkte Inspirationsquelle nennen.39 In diesem Zusammenhang ist zu bedenken, dass der Eichmann-Prozess ein einschneidendes Ereignis für den öffentlichen Diskurs über die Shoah in Israel darstellte. Die 1950er Jahre waren dort von einer Marginalisierung oder sogar von einer Verhöhnung der Überlebenden durch die zionistische Bewegung geprägt.40 Erst der Eichmann-Prozess bot die Gelegenheit, die Gewalttätigkeit der Lager und die Leiden der Opfer öffentlich zu diskutieren. Israelische Verleger nutzten diesen geschichtspolitischen Wandel. In Nachrichten- und Unterhaltungsmagazinen wie HaOlam HaZeh (dt. Diese Welt) waren neben Reportagen vom Prozess großflächige Anzeigen für die Stalag-Hefte zu finden. Einzelne Hefte erreichten daraufhin Auflagen von 80.000 Exemplaren, und das zu einer Zeit, in der Israel gerade einmal 2,1 Mio. Einwohner hatte. Damit stellten für viele Israelis zu dieser Zeit die stalagim neben den Berichten zum Eichmann-Prozess die einzige Informationsquelle zur Shoah in einem Land dar, in dem die Erinnerung an die Judenvernichtung jahrzehntelang als defaitistisch gegolten hatte. Libskers Film suggeriert zudem, dass die in israelischen Schulen jahrzehntelang als Pflichtlektüre etablierte Literatur von Yechiel Feiner-Dinur, besser bekannt unter seinem Pseudonym K. Tzetnik als Autor des Bestseller-Romans Das Haus der Puppen, als eine Art Vorbild und Vorform der Stalag-Hefte darstellten und die Grenzen beider Genres in der Rezeption verwischt wurden.41 Das Haus der Puppen beschreibt in drastischen, Pornographie streifenden Bildern den Alltag von weiblichen jüdischen KZ-Gefangenen, die in sogenannten ‚Freudenabteilungen‘ zur Prostitution gezwungen wurden.42 Vielleicht könnte man sagen, dass Autoren wie Primo Levi, Elie Wiesel und Jorge Semprun die Fremdheit der Shoah-Erfahrung durch ein Darüberlegen phänomenologischer und ethischer Reflexionen betonen wollten, während Feiner und die ihm nachfolgenden Stalag-Hefte diese Fremdheit durch ein manchmal schonungsloses, zuweilen reißerisches Beschreiben der wenig spirituellen Mischung aus 39 | Alle folgenden Informationen zum Hintergrund der Stalag-Hefte sind dem erwähnten Dokumentarfilm von Libsker entnommen.
40 | Zu dieser Phase der Shoah-Rezeption siehe Ralph Buchenhorst: ‚They are different people‘: Die Vermittelbarkeit der Shoah und das Selbstverständnis der Moderne, in: Matthias Kaufmann et al. (Hg.): Warum Piero Terracina sein Schweigen brach, Bamberg 2013, S. 67-74.
41 | Diese Ansicht wird unterstützt durch David Mikics: „Ka-Tzetnik’s House of Dolls influenced the Stalag series of schlocky, sex-and-violence pulp novels featuring Nazis and Jews, popular among Israeli teenagers in the postwar era; eventually, it became recommended reading in Israeli high schools.“, David Mikics: Holocaust Pulp Fiction, in: Tablet: A New Read on Jewish Life, 19.04.2012, http://www.tabletmag.com/jewish-arts-and-culture/books/97160/ka-tzetnik? all=1 [15.1.2014]. 42 | K. Tzetnik 135633 (d.i. Yehiel De-Nur bzw. Yehiel Fajner): Das Haus der Puppen, München 1993.
Erinnerung und Moderne
Gewalt, Obszönität und Stumpfsinn erzeugten. Darüber hinaus bleibt es sicherlich eine weiterhin lohnende Frage, inwieweit sich aus der Perspektive der Erzeugung eines Befremdungseffektes die künstlerisch-literarische Auseinandersetzung mit der Shoah grundlegend von der Verbindung Shoah und Pornographie unterscheidet.
VI. S CHLUSSFOLGERUNG Die vorliegende Untersuchung hatte das Ziel, die Dialektik von Fremdheit und Gewöhnung in Erinnerungsdiskursen zu entfalten und ihre Konsequenzen aufzuzeigen. Sie tat dies, indem sie das Shoah-Gedenken in seinen medialen Ausdrucksformen untersuchte: im Film, im Comic, in der Kunst und in der Pornographie. In einigen Beispielen trat die Motivation hervor, die Fremdheit des Geschehenen durch Bilderverbote oder durch eine einschränkende Definition des Darstellbaren zu bewahren. Dies geschah vor allem anhand der Gegenüberstellung von Sprache und Bild und einer innovativen Definition der Oberfläche im Kontext der Erinnerung. In anderen Beispielen, wie in der Verbindung von Shoah und Pornographie, wird der Befremdungseffekt durch die überraschende, bizarr anmutende Kombination von Bildern erzeugt. Alle Beispiele jedoch haben die Gemeinsamkeit, dass das Ziel der Bewahrung oder Befragung des Fremden zu einer Erzeugung von Differenz führt. In einem allgemeineren kulturwissenschaftlichen Rahmen sollte gezeigt werden, dass diese Differenzerzeugung ein Phänomen der Moderne insgesamt war – und noch immer ist. Damit hat die Shoah-Erinnerung Anteil an einer Erhöhung der Komplexität und Reflexivität im Umgang mit Vergangenheit und Geschichte. Sie ist ein unverzichtbares Ferment des Selbsterkenntnisprozesses von Gesellschaften.
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Ein traumatisches Ereignis als Katalysator des Erinnerns Lorenza Mazzetti und die Auslöschung einer Familie 1 Karl-Siegbert Rehberg
I. Die Tagung über ‚Formen der Holocaust-Erinnerung‘ fand in Dresden in Verbindung mit der Ausstellung ‚Album di famiglia‘ – Tagebuch eines Mädchens während des Faschismus2 mit Gemälden von Lorenza Mazzetti statt. Lebenslang hatte Lorenza Mazzetti sich mit den traumatisierenden Ereignissen des Jahres 1944 künstlerisch auseinandergesetzt, zuerst mit einem Buch (das auch verfilmt wurde, s.u.) und seit ihrem 70. Lebensjahr mit Familienbildern, hinter deren scheinbarer ‚Normalität‘, vielleicht Idyllik, der Schrecken politischer Gewaltsamkeit steht. Einzelne Schicksale sind es, die auf die umfassendere Gewaltgeschichte des Völkermordes an den europäischen Juden ebenso wie des von Hitlerdeutschland ausgelösten Krieges verweisen. Aber auch umgekehrt führen die umfassenderen historischen Darstellungen und deren didaktische Übersetzungen immer zurück zu der Unfassbarkeit individuellen Leidens. In der in Deutschland erstmals gezeigten und am 3. November 2013 im Gemeindehaus der Dresdner Jüdischen Gemeinde eröffneten
1 | Dieser Beitrag basiert auf der Rede, die der Verfasser zur Eröffnung der Tagung vom 21.23. November 2013 in der Jüdischen Gemeinde Dresden gehalten hat. 2 | Lorenza Mazzetti, ‚Album di famiglia‘. Tagebuch eines Mädchens während des Faschismus, vom 3. November bis 30. Dezember 2013 im Gemeindesaal der Jüdischen Gemeinde zu Dresden. Vgl. den Katalog zur Ausstellung in Rom: Lorenza Mazzetti: Album di famiglia. Diario di una bambina sotto il fascismo. La tragedia della famiglia Einstein, o.O. [Roma] 2010, einzusehen unter http:// www.pbase.com/ribes/album_di_famiglia_testi_e_quadri_di_lorenza_mazzetti [21.7.2014].
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Ausstellung3 stellte sich die Frage, was dem Betrachter auf diesen harmlos erscheinen könnenden Bildern eigentlich vor Augen geführt wird. Seit ich Lorenza Mazzetti in Rom kennengelernt und ihre erste Ausstellung in der città eterna wahrgenommen hatte, versuchte ich, die Bilder auch in Dresden zu zeigen, unter anderem, weil die schrecklichen Mordtaten der deutschen Wehrmacht auf deren Rückzug in Italien vor den schnell nachdrängenden amerikanischen und englischen Truppen hier nicht sehr bekannt sind. Die Kanzler Konrad Adenauer und Alcide De Gasperi waren sich wohl einig darin, dass ein neues Europa nur erbaut werden könne, wenn man über die grauenvolle Vergangenheit auch der deutschen Verbrechen in Italien schweige, und die deutsche Justiz tat bis zum ersten der Frankfurter Ausschwitzprozesse in den frühen 60er Jahren des vergangenen Jahrhunderts wenig dazu, die Täter ausfindig zu machen und vor Gericht zu stellen. Auf der anderen Seite wurde der Faschismus in Italien – bei aller antifaschistischen Resistenza-Begründung der Repubblica Italiana – sozusagen exterritorialisiert, wenn nicht, wie in der Ära Berlusconi, als „dittatura benigna“ (als sozusagen „gemütliche Diktatur“)4 geradezu verharmlost. Vor allem wirkt bis heute die gängige Formel eines nazi-fascismo entlastend, die vergessen macht, dass der ‚Marsch auf Rom‘ und die Errichtung des faschistischen Systems – auch von des italienischen Königs und der Heiligen Kirche Gnaden – schon 1922 etabliert worden war. Deswegen ist es auch nach so langer Zeit notwendig, Ereignisse wie die in den Bildern von Lorenza Mazzetti sichtbar werdenden im deutsch-italienischen Dialog immer erneut ins Gedächtnis zu rufen.
II. Die heute 85-jährige Lorenza Mazzetti, die in Rom lebt und in London als Filmemacherin ausgebildet eine entscheidende Protagonistin der Free Cinema-Bewegung im England der 1950 und 60er Jahre war5, hat seit Jugendtagen gezeichnet und aquarelliert. So bewarb sie sich in London zuerst um ein Kunststudium an der dortigen Slade School of Fine Arts im University College und reichte dazu Bilder ein, die im Stile ihrem Alterswerk ähneln, damals aber ganz unmittelbar Motive der menschlichen Verlorenheit und Verletzlichkeit zeigten, dargestellt an abstrakt anmutenden Technostrukturen (etwa Elektrizitätsnetzen). Obwohl sie dort berühmte Kunstgelehrte wie Rudolf Wittkower hören und bei Künstlern wie Lucien Freud oder Francis Bacon studieren konn3 | Nach der ersten Präsentation im Jahre 2010 in Rom, wurde die Ausstellung bereits in mehreren italienischen Städten gezeigt. 4 | Äußerung des italienischen Ministerpräsidenten Silvio Berlusconi im September 2003. 5 | Vgl. Lorenza Mazzetti: Diario londinese, Palermo 2014.
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te, wollte sie bald schon Filme machen und bekam – völlig mittellos in England angekommen und von ihrem italienischen Vormund um das ihr und ihrer Zwillingsschwester zustehende Vermögen gebracht – durch die Vermittlung von Sir William M. Coldstream, des Direktors der Kunsthochschule, die Chance, bei Denis Forman, dem Direktor des British Film Institute zu studieren und dort zwei Filme über Motive von Franz Kafka zu drehen, nämlich K im Jahr 1953 und die drei Jahre später in Cannes mit einer Auszeichnung bedachte filmische Bearbeitung von Kafkas Erzählung Die Verwandlung (metamorfosi) unter dem Titel Together.6 Während Lorenza Mazzetti in all den folgenden Lebensjahren (etwa am Lago di Bolsena) Landschaften malte, begann sie vor etwa fünf Jahren im Stil ‚naiver‘ Malerei ihr Album di famiglia zu schaffen. Aber schon der Untertitel des italienischen Katalogbuches zu der erstmals 2010 in Rom gezeigten Ausstellung (die damals durch ein Grußwort des italienischen Staatspräsidenten Giorgio Napolitano geehrt wurde – wie die Dresdner Ausstellung durch einen Brief des italienischen Botschafters in der Bundesrepublik Deutschland, Elio Menzione), lässt ahnen, dass es sich um idyllische Erinnerungen nicht handeln kann, denn er lautet: Tagebuch eines Mädchens unter dem Faschismus und die Tragödie der Familie Einstein. Was dabei vor Augen geführt wird, ist das Grauen hinter der sogar in Krieg und rassistischer Verfolgung als ‚normal‘ erscheinenden Alltagsrealität. Mazzettis späte Arbeiten handeln wie die frühen, in London gedrehten Kurzfilme mit kafkaesken Themen von der Verlorenheit des Menschen in der Gesellschaft und erweisen sich dabei als eine nicht enden wollende ‚Trauerarbeit‘. Alle diese Bilder kreisen um ein das Leben Lorenza Mazzettis und ihrer Zwillingsschwester Paola bestimmendes Schreckens-Ereignis. Die Schwestern lebten nach dem Tod ihrer Eltern bei ihrem Onkel Robert Einstein, einem Cousin des berühmten Physikers Albert, und dessen Frau Agar Cesarina (genannt Nina), welche für sie die Rolle von Pflegeeltern übernommen hatten (Abb. 1). Am 3. August 1944 wurde die südlich von Florenz lebende Familie Einstein von deutschen Soldaten zu Tode gebracht. Robertos Frau Nina wurde mit ihren Töchtern Annamaria (die Cicci gerufen wurde) und Luce erschossen und ihre Villa ‚Focardo‘ in Rignano sull’Arno in Brand gesteckt. Der vor den Deutschen in die Wälder geflüchtete Ehemann und Vater nahm sich im darauffolgenden Jahr verzweifelt das Leben.
6 | Filmographien: K (1953), gedreht mit Michael Andrews; ausgezeichnet mit einer Erwähnung bei den Filmfestspielen in Cannes und Together (1956), produziert im British Film Institute mit Michael Andrews und Eduardo Paolozzi. 1959 arbeitete Lorenza Mazzetti in Rom zusammen mit Cesare Zavattini bei den Filmen Le italiane e l‘amore (1961) und I misteri di Roma (1962).
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Abbildung 1.1 und 1.2
Agar Cesarina ‚Nina‘ und Robert Einstein, Foto: privat Lorenza Mazzetti: La zia Nina e lo zio Robert (Tante Nina und Onkel Robert, 2008)
Möglicherweise handelte es sich um einen Racheakt, der den von den Nazis ins amerikanische Exil getriebenen Nobelpreisträger treffen wollte. Wahrscheinlicher ist jedoch der Verdacht ausschlaggebend gewesen, dass der ingegnere Einstein auf Seiten der Partisanen stünde. Die beiden (nun erneut zu Waisen gewordenen) Mazzetti-Mädchen wie auch weitere Familienmitglieder und Bedienstete überlebten jedenfalls das Massaker.7 Die hier gezeigten Bilder sind verbunden mit Lorenza Mazzettis 1961 veröffentlichten und mit dem Sonderpreis des Premio Viareggio für ein Erstlingswerk ausgezeichneten autobiographischen Roman Il cielo cade (dt. Titel: Der Himmel fällt) – ins Deutsche übersetzt von Viktoria von Schirach, der Enkelin des nationalsozialistischen Reichsjugendführers und ab 1940 Reichsstatthalters in Wien, die auf ihre Weise eine traumatische Familiengeschichte zu be-
7 | Vgl. dazu die Zeitschriften-Sondernummer „Il sangue degli Einstein. Storia di un crimine nazista“, in: Storia memoria XX, 1/2011 [hg. v. Istituto ligure per la storia della Resistenza e dell‘età contemporanea a Genova].
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wältigen sucht; die Geschichte wurde später von Andrea und Antonio Frazzi mit Isabella Rossellini in der Rolle von Nina Mazzetti-Einstein verfilmt.8 Erzählt wird das Geschehen und dessen Vorgeschichte aus der Sicht der damals kleinen Lori (die Schwestern hatten die soldatische Mordaktion mit sechzehn Jahren erlebt, im Buch wird die Kindheit aus der Sicht von achtjährigen Mädchen erzählt). Für viele Motive dienten Lorenza Mazzetti Photos (auch solche aus der Erinnerung), so dass man von einem ganz individuellen ‚magischen Photorealismus‘ sprechen könnte, dessen latente Sinnstruktur sich auch hier erst durch die historischen Zusammenhänge eröffnet. Das Buch vom eingestürzten Himmel der (allerdings vom Erlebnis des Todes der eigenen Eltern überschatteten) Kindheit hat vier Schwerpunkte: Zuerst ist da das Familienleben der Zwillingsschwestern und ihrer kleinen Cousinen im Hause des ingegnere Robert Einstein, wobei besonders die Rolle des Onkels in den Mittelpunkt gestellt wird. Es sind dies Bilder des bürgerlichen Familienlebens mit großer Strenge „aus Liebe und Sorge“, wie es im Buch heißt, aber auch allen Freiräumen der Kinder in jener Zeit (besonders, wenn sie so privilegiert aufwuchsen wie in der Villa ‚Focardo‘). Die Unerbittlichkeit des padrone und geliebten Onkels (und Pflegevaters) Einstein schloss die Verbannung ins Kinderzimmer ein, bis man hundertmal geschrieben hatte, was man gerade nicht hätte tun sollen und zwar im Stil des normativen ‚man tut das und das nicht‘. Das prägt die Erinnerungen an diesen beliebten und geliebten Hausherrn, dessen Tod ein Grundmotiv des ganzen Lebens für Lorenza blieb. Selbstverständlich (wie man bedauerlicherweise sagen muss) war er – als geborener Ausländer und Jude – ein Fremdkörper im ländlich-volkskatholischen Italien, zugleich aber auch eine Respektsperson, welche sowohl der faschistische federale (eine Art Kreisleiter) als auch der zuständige Bischof grüßen ließen und zu besuchen wünschten. Der zweite thematische Zusammenhang zeigt – immer aus einer quasinaiven Kinderperspektive, von der wir als ‚Volksweisheit‘ aber zu wissen glauben, dass sie sehr oft die ‚Wahrheit‘ zum Ausdruck bringt – den Vorurteile produzierenden religiösen Antisemitismus, aber auch ganz allgemein die damals noch ungebrochene Härte katholischer Glaubenszwänge. Ganz lebendig ist noch die mittelalterliche, in der Gegenreformation erneut gesteigerte Angstproduktion vor den Höllenqualen und vor der nur durch die Sakramente der Römischen Kirche zu vergebenden Erbsünde aller Menschen. Im Religionsunterricht schreit der – dabei vor Zorn in seinen Florentiner Dialekt zurückfallende – Pfarrer die Schulkinder an: „Ihr, Ihr seid schuld, dass Jesus gestorben ist“. Und vor solchem Hintergrund hören die Kinder dann auch von ihren Spielgefährten, dass der Onkel böse sei und nicht ins Paradies kommen könne, 8 | Vgl. Lorenza Mazzetti: Il cielo cade, Palermo 1961; Dies.: Der Himmel fällt, übers. v. Viktoria von Schirach, München 2001; Andrea und Antonio Frazzi: Il cielo cade, Italien 2000.
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„weil er nicht getauft ist und weil die Erbsünde nur mit der Heiligen Taufe ausgelöscht wird“. Und als Pennys (Lorenzas/Loris) Zwillingsschwester Baby (Paola) einwendet, dass der „Onkel gut ist und ins Paradies kommt“ entgegnet Pasquetta: Der Pfarrer habe aber gesagt, der padrone sei Ausländer und weil die Juden nicht an Jesus glaubten, sei eine Aufnahme in den Himmel unmöglich – „Gut, aber der Onkel ist doch so gut. Glaubst Du nicht, dass Jesus ihn doch in das Paradies lässt?“ – „Nein und selbst wenn Jesus das wollte, würde Satan kommen und ihn wieder herausholen und auspeitschen.“ Als die Kinder weinen und Penny Pasquetta wegen solcher bösen Nachrichten aus dem Jenseits zu schlagen beginnt, gibt es einen kindlichen Spielkameradinnen-Kompromiss: Wir können ja für seine Seele beten. Und wenn „aber Juden keine Seele“ hätten? Dann muss man es eben versuchen, indem „wir alle Opfer [dar]bringen“. Berührend ist auch ein nächtliches Gespräch Pennys mit dem Onkel, nachdem sie aus Angst vor dessen ewiger Verdammnis nicht einschlafen konnte. Zur Beruhigung seines kleinen Ziehkindes bejaht er schließlich alle ihm litaneihaft rezitierten Glaubensfragen, nur damit sie endlich Schlaf findet. Die dritte Gruppe einander verstärkender Sprachbilder ist dem Leben der Mädchen unter dem Faschismus gewidmet, den Zumutungen des Enthusiasmus für die großen Ordnungen, die etwa Penny zu Gedanken- und Satzkonstruktionen führen wie: „Ich liebe den Duce mehr als meinen Vater, weil der nicht da ist, aber so sehr wie meinen Onkel“ und später, fast verzweifelt schon: „Ich liebe den Onkel mehr als den Duce, mehr als Jesus Christus, mehr als Italien.“ Auch der befremdliche und entsetzen müssende Alltags-‚Pragmatismus‘ in der Diktatur wird deutlich, wenn bei einem Schulfest auf „ein Zeichen des Herrn Direktor“ hin alle das Ave Maria singen, „dann die faschistische Hymne, und dann stehen alle Engel auf und nehmen die Lilie, die sie in der Rechten halten, in die Linke, und heben den Arm zum römischen Gruß“. Oder die beiden Mazzetti-Mädchen singen für den lokalen Parteifunktionär in der Schule das Lied für den ‚Duce‘: „Mussolini, Mussolini, col bastone e col canone, con l’aspetto baldo e fiero, il fascismo e la Nazione sopra tutti trionferà“ („Mussolini, Mussolini, mit Stock und mit Kanone, mit kühner und stolzer Miene, der Faschismus und die Nation werden über alle triumphieren“). Nach dem Sturz Mussolinis durch den Großen Faschistischen Rat im Jahre 1944 ist Penny sogar traurig, „weil der König Mussolini ins Gefängnis gesperrt hat“ bis „sein Freund Hitler“ ihn befreite. Als sie einen Brief an den „lieben Duce“ geschrieben hatte, versprach der Onkel, diesen abzusenden, aber der ‚Duce‘, so sagte er vorsorglich, habe mit dem Krieg so viel Arbeit, dass er sicher nicht gleich antworten könne. Und doch hatte eine der Strafarbeiten der
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Selbstaufforderung gegolten: „Man singt keine faschistischen Lieder, wenn die anderen schlafen wollen“. Aber die Lage ist längst unheimlich geworden. So rät der Chauffeur, der die Mädchen täglich zur Schule fährt (wie das etwa auch in dem in Ferrara angesiedelten Roman Giorgio Bassanis Die Gärten der Finzi-Contini geschieht), als er dort einen Trupp von Faschisten vorbeimarschieren sieht: „Kommen Sie lieber mit, gnädige Fräulein[s]“ und fährt sie zurück in die Villa. Abbildung 2
Lorenza Mazzetti: A scuola (In der Schule, 2008)
Der letzte Kreis der Begebenheiten betrifft das Näherkommen des Krieges, insbesondere durch die Einquartierung deutscher Soldaten bis hin zur Mordtat des 3. August 1944. Zuerst erscheinen die Deutschen klischeehaft als Freunde klassischer Musik; ein Offizier bittet die Dame des Hauses, auf dem Flügel Beethovensonaten spielen zu dürfen, und das Musizieren bleibt (neben den Schachpartien eines deutschen Generals mit dem padrone Einstein) ein Grunderlebnis dieser familialen Koexistenz mit den kriegerischen Hausbesetzern
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(ähnliche Abläufe mit einem ebenso grausamen Ende finden sich auch in anderen Darstellungen, etwa in Christiane Kohls Villa Paradiso 9, die im nahen Casentino, nördlich von Arezzo, angesiedelt ist). Aber bald folgen immer mehr Soldaten und nun auch Munitionskisten, ebenso kommen der Kanonendonner und das Rattern der Maschinengewehre näher, schließlich erlebt man die Verlegung der kaum erbetenen, aber erträglichen Zwangsgäste nach Norden. Inzwischen hatte der Ortspriester Roberto Einstein bereits geraten, sich „in den Wäldern“ zu verstecken, d.h. sich unter den Schutz der Partisanen zu stellen, denn überall hörte man nun von Gewalttaten an der Zivilbevölkerung und der Onkel hatte sich bereits als Unterstützter der Untergrundkämpfer verdächtig gemacht. Dann folgt die Schreckensszene mit einem deutsche Kommando, vielleicht von der SS (oder geführt von einem SS-Mann), vielleicht auch ‚nur‘ ein Wehrmachtstrupp, das in der Villa einen ‚Prozess‘ abhält (vgl. Abb. S.25), die Mazzetti-Kinder davon aber ausschließt: „Die beiden nicht, sie sind keine Jüdinnen“. Im Roman wird dem Onkel eine Pistole verweigert, mit der er sich erschießen will, nachdem seine beide Kinder und seine Frau bereits umgebracht wurden (tatsächlich hat er sich erst ein Jahr später das Leben genommen, in das zurückzukehren ihm nicht mehr gelang).
III. Erst jüngst hat Lorenza Mazzetti ein neues Tagebuch in eine literarische Form gebracht, ein Diario Londinese, über die Jahre der ‚Angry Young Men‘, in denen sie den Heros des „Blick[s] zurück im Zorn“, John Osborne, kennenlernte. Obwohl die Themen und Zeiten an der Oberfläche ganz andere sind, bildet die Gespaltenheit durch die traumatischen Erlebnisse der Kindheit doch den schmerzhaft verbindenden Untergrund vieler Begebenheiten. Immer wieder kehrt Lorenza zurück zu den Ereignissen jenes unvergessbaren Augusttages und seiner Folgen. Jede Erinnerung an Florenz, jeder Kontakt mit ihrer dort gebliebenen Zwillingsschwester erneuert das Denken-Müssen an diese existentielle Katastrophe. Zwar hat sie in London viele Kontakte, auch unerwartete Erfolge und fühlt doch eine Fremdheit, durch welche für sie Albert Camus mit seinem Roman L’étranger ebenso wichtig wird wie Franz Kafka, den sie bald schon über Shakespeare und Dante stellt (bruchlos verbindet sich übrigens die Lektüre von dessen Roman Der Prozess mit dem Verschwinden des Onkels im Wald). Es sind dies Autoren einer existentiellen Verlorenheit und einer „großen Anklage
9 | Vgl. Christiane Kohl: Villa Paradiso. Als der Krieg in die Toskana kam, München 2002.
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gegen ein indifferentes, alltägliches Dahinleben“, aber gerade deshalb auch des Widerstand, sogar der Revolte. Lorenza liebt nun nicht mehr den ‚Duce‘, aber für eine Zeitlang doch – neben konkreten jungen und intellektuell faszinierenden Männern – Napoleon I., weil er Italien und ganz Europa die fundamentalen Werte der Menschenrechte brachte, wie sie die Aufklärer proklamiert hatten, und damit auch die Befreiung der Juden aus den Ghettos. Abbildung 3
Lorenza Mazzetti: I quattro cavalieri del Free Cinema (Die vier Ritter des Free Cinema, 2011)
Aus solchen Lektüren und Empfindungen ergaben sich Impulse für eine neue Kultur der Befreiung – auch des Filmemachens. Das Manifest des Free Cinema Movement wurde unterschrieben von Lorenza Mazzetti, Lindsey Anderson, Karel Reisz und Tony Richardson (vgl. Abb. 3) und fand bald große Aufmerksamkeit, so dass auch viele junge amerikanische und französische Regisseure und Filmemacher nach London kamen. Man besetzte das British Film Theater und gründete eine eigene Produktionsgesellschaft – der spätere ‚Autorenfilm‘ war eine der Fortsetzungen dieser Art von Selbstbefreiung von den übermächtigen Strukturen der ‚Kulturindustrie‘ (wie Theodor W. Adorno das gerade auch mit Blick auf den Film genannt hat). Impulse kamen aus dem Neorealismo des italienischen Nachkriegsfilms, den radikalen Dokumentationsfilmen aus Groß-
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britannien und Formen des populären Theaters. Übrigens entstand parallel dazu ja auch die Popmusik der Beatles. Später hat Lorenza in Italien als Autorin, Dokumentarfilmerin und Leiterin eines Puppentheaters gewirkt. Aber ihr Lebensthema war und blieb eine Verbindung von Selbsttherapie und öffentlicher Aufklärung. Und so will ich am Ende die bewegenden Worte zitieren, die ihr Buch Il cielo cade beschließen: Sie widmete dieses literarische Denkmal der Familie Einstein, zu der sie „in der Zeit der Freude dazugehörte und im Moment des Todes nicht“.
Autorinnen und Autoren
Avagliano, Mario, ist Journalist und Historiker in Rom. Er ist Mitglied des Istituto romano per la storia d‘Italia dal fascismo alla resistenza, Direktor des Centro Studi della Resistenza dell‘Anpi di Roma-Lazio und Vizepräsident der Associazione Nazionale Partigiani d‘Italia di Roma e Lazio. Bartikowski, Kilian, Dr., ist DAAD-Lektor an der Lancaster University. Er promovierte über den italienischen Antisemitismus im Urteil des Nationalsozialismus 1933-1943. Forschungsschwerpunkte: Neuere und Neueste Geschichte, Zeitgeschichte, Italienische Geschichte, Geschichte und Erinnerungsdiskurse im Film. Buchenhorst, Ralph, PD Dr., ist Senior Research Fellow an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg und lehrt an der Universität Potsdam. 2010 habilitierte er sich an der Philosophischen Fakultät der Universität Potsdam zu ‚Das Element des Weiterlebens. Zum Argument der Undarstellbarkeit der Shoah in Philosophie, Kulturtheorie und Kunst.‘ Weitere Schwerpunkte sind u.a. neuere Tendenzen zur Kritischen Theorie und zu globalen Erinnerungsdiskursen. Canova, Lorenzo, Prof., ist Kunsthistoriker an der Università degli Studi del Molise, Campobasso. Er kuratiert zahlreiche auch internationale Ausstellungen und ist Direktor des ARATRO – Archivio delle Arti Elettroniche Laboratorio per l’Arte Contemporanea, Campobasso. Di Castro, Raffaella, Dr., ist Dozentin für Philosophie der Erinnerung am Dipartimento di Filosofia der Università di Roma, ‚La Sapienza‘ und forscht zur Erinnerung der Zeitzeugen der Shoah in erster und dritter Generation. Droit, Emmanuel, Dr., ist Dozent an der Université Rennes 2 und stellvertretender Direktor des Centre Marc Bloch in Berlin. Forschungsschwerpunkte: Geschichte der Erinnerungskulturen in Europa und Historiographie der Zeitgeschichte.
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Autorinnen und Autoren
Düben, Ann Katrin, M.A. promoviert unter der Leitung von Prof. Dr. Alfons Kenkmann an der Universität Leipzig zum Thema: ‚Regionale Erinnerungsräume: Die Erinnerungskultur an die Emslandlager zwischen 1945 und 2011. Gentili, Sonia, Dr., ist Dozentin für italienische Literatur an der Università di Roma ‚La Sapienza‘. Sie promovierte 1999 zur ‚Aristotelischen Ethik in Dantes convivio‘, ihre Forschungsschwerpunkte sind aristotelische Einflüsse auf italienische Literatur, linguistische und philologische Aspekte der Literatur des 13. und 14. Jahrhunderts. Heese, Thorsten, Dr., promovierte an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg zum Thema ‚„... ein eigenes Local für Kunst und Alterthum“ – Die Institutionalisierung des Sammelns am Beispiel der Osnabrücker Museumsgeschichte‘, lehrt an der Universität Osnabrück und ist seit 2001 Kurator für Stadtgeschichte des Kulturgeschichtlichen Museums Osnabrück/Felix-Nussbaum-Haus. Kenkmann, Alfons, Prof. Dr., ist Inhaber der Professur für Geschichtsdidaktik an der Universität Leipzig. Zuvor lehrte er an verschiedenen Universitäten und war Wissenschaftlicher Direktor des Geschichtsortes Villa ten Hompel in Münster. Er forscht zu methodischen Fragen der Geschichtsvermittlung, zur Oral History, Museologie, Geschichte der Jugend sowie zur Geschichte historischen Lernens. Kößler, Gottfried, stellv. Direktor des Fritz Bauer Instituts in Frankfurt am Main mit Schwerpunkt Pädagogik und Lehrbeauftragter am Seminar für die Didaktik der Geschichte der Goethe-Universität Frankfurt am Main. Seine Arbeitsschwerpunkte sind u.a. Prozesse des Lernens von Zeitgeschichte in der Migrationsgesellschaft und Gedenkstätten als Lernorte. Liepach, Martin, Dr., Mitarbeiter am Pädagogischen Zentrum des Fritz Bauer Instituts und Jüdischen Museums Frankfurt, Lehrbeauftragter an der Universität Frankfurt am Main. Forschungsschwerpunkte: Deutsch-jüdische Geschichte im 19. und 20. Jahrhundert, Geschichtsdidaktik, insbesondere Schulbuchanalyse und interkulturelles Lernen, Museumspädagogik. Lutz, Thomas, Dr., ist Leiter des Gedenkstättenreferats der Stiftung Topographie des Terrors und Mitglied der deutschen Delegation des IHRA. Autor zahlreicher Publikationen zur Geschichte des Nationalsozialismus, zu Erinnerungskultur und Gedenkstättenpädagogik.
Autorinnen und Autoren
Mendel, Meron, Dr., ist Direktor der Bildungsstätte Anne Frank in Frankfurt am Main und Lehrbeauftragter am Institut für allgemeine Erziehungswissenschaft der Goethe-Universität Frankfurt am Main. Müller, Claudia, Dipl.-Soz., wissenschaftliche Koordinatorin am Italien-Zentrum der TU Dresden, promoviert zum Thema ,Politische Religion und Katholizismus im faschistischen Romanità-Kult‘. Studium der Soziologie, Italianistik und Geschichte in Dresden und Trient. Forschungsinteressen: Kultur- und Wissenssoziologie, Erinnerungskultur, italienische Zeitgeschichte. Nattermann, Ruth, Dr., ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Historischen Seminar der Ludwig-Maximilians-Universität München; zuvor war sie PostDoc am Deutschen Historischen Institut in Rom. Sie publizierte u.a. ‚Deutsch-jüdische Geschichtsschreibung nach der Shoah. Die Gründungsund Frühgeschichte des Leo Baeck Institute‘ (Essen, 2004). In ihrem Habilitationsprojekt beschäftigt sie sich mit ‚Jüdinnen in der frühen italienischen Frauenbewegung (1861-1922). Biographien, Diskurse und transnationale Vernetzungen. Ostermann, Patrick, PD Dr., habilitierte an der TU Dresden. Forschungsschwerpunkte: Italienische Geschichte, Geschichtsdidaktik, Geschichtsmuseen im europäischen Vergleich, Kultursoziologie. Er ist Mitglied der Schulleitung am Rhein-Wied-Gymnasium und lehrt an der Dresden International University sowie an der TU Dresden. Rehberg, Karl-Siegbert, Prof. Dr., ist Lehrstuhlinhaber für Soziologische Theorien, Theoriegeschichte und Kultursoziologie an der TU Dresden. Forschungsschwerpunkte: Institutionentheorie, Kunstsoziologie des Museums und der Künste in der DDR. Ausgezeichnet mit dem Preis der Aby-Warburg-Stiftung und dem Chevalier de l‘Ordre des Palmes académiques. Sarfatti, Michele, Direktor der Forschungsstätte Centro di Documentazione Ebraica Contemporanea in Mailand, ist Autor zahlreicher Publikationen zur Geschichte der Shoah, insbesondere zur Verfolgung der Juden in Italien. Er ist Mitglied mehrerer wissenschaftlicher Beiräte, darunter der des Museo Nazionale dell’Ebraismo Italiano e della Shoah. Wetzel, Juliane, Dr., ist wiss. Mitarbeiterin des Zentrums für Antisemitismusforschung der TU Berlin. Sie hat mehrere Bücher und zahlreiche Aufsätze zur Zeitgeschichte, zur deutsch-jüdischen Geschichte und zum aktuellen Antisemitismus vorgelegt.
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Histoire Stefan Brakensiek, Claudia Claridge (Hg.) Fiasko – Scheitern in der Frühen Neuzeit Beiträge zur Kulturgeschichte des Misserfolgs April 2015, ca. 230 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 29,99 €, ISBN 978-3-8376-2782-4
Torben Fischer, Matthias N. Lorenz (Hg.) Lexikon der »Vergangenheitsbewältigung« in Deutschland Debatten- und Diskursgeschichte des Nationalsozialismus nach 1945 (3., überarbeitete und erweiterte Auflage) Februar 2015, 398 Seiten, kart., 29,80 €, ISBN 978-3-8376-2366-6
Alexa Geisthövel, Bodo Mrozek (Hg.) Popgeschichte Band 1: Konzepte und Methoden November 2014, 280 Seiten, kart., 29,99 €, ISBN 978-3-8376-2528-8
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2014-10-28 14-26-59 --- Projekt: transcript.anzeigen / Dokument: FAX ID 03d8380913168118|(S.
1-
3) ANZ2794.p 380913168126
Histoire Katharina Gerund, Heike Paul (Hg.) Die amerikanische Reeducation-Politik nach 1945 Interdisziplinäre Perspektiven auf »America’s Germany« Januar 2015, 306 Seiten, kart., zahlr. z.T. farb. Abb., 29,99 €, ISBN 978-3-8376-2632-2
Sebastian Klinge 1989 und wir Geschichtspolitik und Erinnerungskultur nach dem Mauerfall März 2015, ca. 430 Seiten, kart., z.T. farb. Abb., ca. 38,99 €, ISBN 978-3-8376-2741-1
Detlev Mares, Dieter Schott (Hg.) Das Jahr 1913 Aufbrüche und Krisenwahrnehmungen am Vorabend des Ersten Weltkriegs September 2014, 288 Seiten, kart., zahlr. Abb., 27,99 €, ISBN 978-3-8376-2787-9
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3) ANZ2794.p 380913168126
Histoire Sophie Gerber Küche, Kühlschrank, Kilowatt Zur Geschichte des privaten Energiekonsums in Deutschland, 1945-1990 Dezember 2014, 356 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 34,99 €, ISBN 978-3-8376-2867-8
Ulrike Kändler Entdeckung des Urbanen Die Sozialforschungsstelle Dortmund und die soziologische Stadtforschung in Deutschland, 1930 bis 1960 Februar 2015, ca. 420 Seiten, kart., ca. 39,99 €, ISBN 978-3-8376-2676-6
Sibylle Klemm Eine Amerikanerin in Ostberlin Edith Anderson und der andere deutsch-amerikanische Kulturaustausch Februar 2015, ca. 440 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 39,99 €, ISBN 978-3-8376-2677-3
Anne Katherine Kohlrausch Beobachtbare Sprachen Gehörlose in der französischen Spätaufklärung. Eine Wissensgeschichte März 2015, ca. 320 Seiten, kart., ca. 39,99 €, ISBN 978-3-8376-2847-0
Felix Krämer Moral Leaders Medien, Gender und Glaube in den USA der 1970er und 1980er Jahre Januar 2015, ca. 430 Seiten, kart., ca. 35,99 €, ISBN 978-3-8376-2645-2
Nora Kreuzenbeck Hoffnung auf Freiheit Über die Migration von African Americans nach Haiti, 1850-1865 Februar 2014, 322 Seiten, kart., 32,99 €, ISBN 978-3-8376-2435-9
Wolfgang Kruse (Hg.) Andere Modernen Beiträge zu einer Historisierung des Moderne-Begriffs Februar 2015, ca. 350 Seiten, kart., zahlr. z.T. farb. Abb., ca. 38,99 €, ISBN 978-3-8376-2626-1
Nino Kühnis Anarchisten! Von Vorläufern und Erleuchteten, von Ungeziefer und Läusen – zur kollektiven Identität einer radikalen Gemeinschaft in der Schweiz, 1885-1914 März 2015, ca. 620 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 44,99 €, ISBN 978-3-8376-2928-6
Bodo Mrozek, Alexa Geisthövel, Jürgen Danyel (Hg.) Popgeschichte Band 2: Zeithistorische Fallstudien 1958-1988 November 2014, 384 Seiten, kart., zahlr. Abb., 34,99 €, ISBN 978-3-8376-2529-5
Karsten Uhl Humane Rationalisierung? Die Raumordnung der Fabrik im fordistischen Jahrhundert Mai 2014, 404 Seiten, kart., zahlr. z.T. farb. Abb., 39,99 €, ISBN 978-3-8376-2756-5
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