Gewerkschaftsdämmerung: Geschichte und Perspektiven deutscher Gewerkschaften [1. Aufl.] 9783839422861

Gewerkschaften sind einflussreiche Akteure, die das Leben einer Vielzahl von Menschen mitbestimmen. Dennoch befinden sie

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German Pages 308 [309] Year 2014

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Gewerkschaftsdämmerung: Geschichte und Perspektiven deutscher Gewerkschaften [1. Aufl.]
 9783839422861

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Robert Lorenz Gewerkschaftsdämmerung

Studien des Göttinger Instituts für Demokratieforschung zur Geschichte politischer und gesellschaftlicher Kontroversen Herausgegeben von Franz Walter | Band 6

Robert Lorenz (Dr. disc. pol.) ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Demokratieforschung an der Universität Göttingen. Bei transcript erschien von ihm zuletzt »Protest der Physiker. Die ›Göttinger Erklärung‹ von 1957« (2011).

Robert Lorenz

Gewerkschaftsdämmerung Geschichte und Perspektiven deutscher Gewerkschaften

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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2013 transcript Verlag, Bielefeld

Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlagkonzept: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Lektorat: Katharina Rahlf, Göttingen Satz: Robert Lorenz, Göttingen Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar ISBN 978-3-8376-2286-7 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

Inhalt Zur Einführung | 7  Ein Rückblick auf die Geschichte der deutschen Gewerkschaften Historischer Prolog | 11 

Die Strukturgewinner des Industriezeitalters: deutsche Gewerkschaften vor dem Ersten Weltkrieg | 11 Kriegsgewinner und Demokratieverlierer: deutsche Gewerkschaften in der Weimarer Republik | 23 Wiedergründung als Arbeiterorganisation: Gewerkschaften in den 1950er Jahren | 50 Auf dem Weg in die Wagenburg: Gewerkschaften in den 1960er Jahren | 54 Entfremdung vom Arbeitsmarkt: Gewerkschaften in den 1970er Jahren | 57 Die Modernisierungsverlierer Deutsche Gewerkschaften 1980-2010 | 67 

Das Kreuz mit den Reformen | 67 Der Segen völliger Krise | 126 Riskante Reformfreuden | 131 Wie sich die Gewerkschaften in die Isolation spezialisierten | 140 Die Nutzlosigkeit der nachindustriellen Schwächlinge | 172 Kein Blick mehr für die Sorgenkinder der Gesellschaft | 198 Vor der Renaissance? | 202 Was den Gewerkschaften fehlt: Wo sind die Mythen und Legenden? | 233 Resümee: Anmerkungen zu wiederkehrenden Phänomenen | 241 Vom Umbruch zum Aufbruch? Epilog | 253 

Aufstieg aus der Talsohle? Ein Fazit | 253 Abkürzungen | 269  Literatur | 271 

Monografien, Sammelbände und Aufsätze | 271 Presseartikel | 298 Dank | 305 

Zur Einführung

Bismarck bekämpfte sie, Hitler zerschlug sie, Merkel feiert mit ihren Vertretern Geburtstage im Kanzleramt – turbulent ist ihre Vergangenheit allemal. Um wen es geht? Die Gewerkschaften! Ihre Geschichte reicht bis tief in die vordemokratische Zeit zurück. Heute sprechen wir von einem postindustriellen Zeitalter – Gewerkschaften sind insofern präindustrielle Geschöpfe und ja auch in jüngster Zeit oft als „Dinosaurier“, gleichsam vom Aussterben bedrohte Existenzen bezeichnet worden. Denn sowohl im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts wie auch zu Beginn des 21. Jahrhunderts gehörten Gewerkschaften zu den wichtigen Darstellern im politischen Schauspiel. Sie formulieren politische Forderungen, die sie an Parteien und Regierungen herantragen, und verweisen dabei auf Form und Größe ihrer Mitgliedschaft, die zumeist ohnehin aus einer sechs- bis siebenstelligen Anzahl von Menschen besteht und überdies einen mehr oder minder repräsentativen Ausschnitt aus der Bevölkerung darstellt. Daraus haben sie schon immer das Recht abgeleitet, sich in das politische Geschehen einzumischen, die Festlegung von Rahmenbedingungen des täglichen Lebens nicht allein Ministern1 und Parteien zu überlassen. Und in der Tat sind sie auch deshalb von eben jenen Ministern und Parteien in wechselndem Ausmaß berücksichtigt worden. Schließlich konnten selbst die leidenschaftlichsten Gegner der Arbeiterbewegung nicht leugnen, dass Gewerkschaften für einen nicht unerheblichen Teil der Bevölkerung das Wort führten. Diese Eigenschaft machte sie zu Vermittlern zwischen Bürger und Staat. Freilich unterlag der politische Einfluss der Gewerkschaften im Verlauf der deutschen Geschichte starken, mithin extremen Schwankungen. Mal wurden sie staatlich unterdrückt und ihre Angehörigen ins Gefängnis gesteckt, mal kamen Reichs- oder Bundesminister aus ihren eigenen Reihen. Auch die Mitgliederzah-

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Mit Nennung der männlichen Funktionsbezeichnung ist in diesem Buch, sofern nicht anders gekennzeichnet, immer auch die weibliche Form mitgemeint.

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len stiegen und fielen, die Spiegelung des sozialen Profils des Arbeitsmarkts war mal stärker, mal schwächer. Doch stets waren Gewerkschaften Großorganisationen, imposante Gebilde mit hunderttausenden oder gar Millionen von Mitgliedern, die einen eigenen, behördenähnlichen Verwaltungsapparat benötigten, um zu funktionieren. Seit einiger Zeit befinden sich Gewerkschaften jedoch in der Krise. Unzählige Zeitungsartikel und Forschungstexte haben das zumindest behauptet. Auch viele Gewerkschafter selbst räumen das ein. Ihre Mitgliederzahlen sinken – seit den frühen 1980er Jahren ist ihre Mitgliedschaft mit wenigen Ausnahmen fast jedes Jahr im einstelligen Prozentbereich geschrumpft. Außerdem entsprachen ihre Mitglieder immer weniger der Gesamtheit der Arbeitnehmer, spiegelte die Mitgliedschaft der DGB-Organisationen hinsichtlich übergreifender Merkmale wie Geschlecht, Beruf und Bildung den Arbeitsmarkt der 1960er Jahre wider. Wer nach 1982 geboren wurde, kennt im Grunde gar nichts anderes als den gewerkschaftlichen Krisenzustand. Und doch gibt es die Gewerkschaften weiterhin, sind 7,7 Prozent (6,2 Mio.) aller deutschen Bürger Mitglied einer DGBGewerkschaft – bei im Bundestag vertretenen Parteien sind es hingegen nur 1,7 Prozent. Zunächst erklärt sich die anhaltende Krisen-Zuschreibung also aus dem Vergleich mit einer offenbar ruhmreichen Vergangenheit – als wie in den 1950er und 1960er Jahren noch um die vierzig Prozent sämtlicher Arbeitnehmer in einer Gewerkschaft organisiert waren. Und aus dem jährlichen Rückgang von Mitgliedern, der sich in den vergangenen dreißig Jahren regelmäßig auf fünfstellige Zahlen belief. Die Gewerkschaften hörten zu Beginn der 1980er Jahre auf, zu wachsen, und schrumpften seither. Das machte sie ganz automatisch zu Verlierern, zu Organisationen, zu denen sich die Menschen offenbar nicht mehr hingezogen fühlten. Und doch sind Gewerkschaften beliebt – als Forschungsgegenstand. Denn die Literatur, die sich mit den Gewerkschaften – ihrem Innenleben, ihrer Geschichte, ihren Problemen – beschäftigt, füllt etliche Seiten von Bibliothekskatalogen und dürfte mittlerweile ein unüberschaubares Ausmaß erreicht haben. Und doch ist das Schicksal der deutschen Gewerkschaften nicht enträtselt worden. Was war für ihren Niedergang ursächlich? Weshalb glückten ihnen unzählige Erneuerungsversuche nicht? Worin besteht eigentlich ihre Schwäche? Weshalb – einmal andersherum gefragt – sind sie eigentlich noch so groß? Und welche Zukunftsaussichten bieten sich deutschen Gewerkschaften gegenwärtig? Darum also soll es im Folgenden gehen. Gewerkschaften, so beklagt selbst die Wissenschaft, seien zwar „ein viel beforschter Untersuchungsgegenstand“, doch fehlten Arbeiten, die „zu einem

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grundlegenden Verständnis der komplexen gewerkschaftlichen Gesamtgestalt“ beitragen.2 Ob eine solche Synthese angesichts des Dickichts einzelner Studien überhaupt durchführbar ist, sei dahingestellt, und sie soll an dieser Stelle auch gar nicht erst versucht werden. Genauso wenig soll gewagt werden, die Fülle an Material und Literatur in der Niederschrift eines gewerkschaftsgeschichtlichen Monumentalepos aufgehen zu lassen. Vielmehr soll es im Folgenden speziell um die Wandlungsfähigkeit deutscher Gewerkschaften gehen: Wie entwickelten sich Mitgliedschaft und Organisation unter wiederholt veränderten Bedingungen – unterschwellig verknüpft mit der übergeordneten Frage, wie große Organisationen auf Herausforderungen reagieren und welche Lernfähigkeit sie dabei zeigen? Das grundlegende Wesen der Gewerkschaften ist seit dem Ende des 19. Jahrhunderts nahezu unverändert, prägte sich schon vor dem Ersten Weltkrieg aus: die persönliche Mitgliedschaft von Bürgern in einer Einzelgewerkschaft, die Mitgliedschaft der Gewerkschaft in einem Bund, das demokratische Delegationsprinzip von örtlicher über regionaler zu zentraler Ebene, das Nebeneinander von Wahlämtern, freiwilligem und hauptamtlichem Apparat mitsamt einer umfangreichen Öffentlichkeitsarbeit.3 Dennoch durchliefen Gewerkschaften einen langen Entwicklungsprozess, in dem sie Tiefs und Hochs erlebten. Über all das ist bereits viel geforscht und geschrieben worden. Was indessen fehlt, ist eine Skizze der gewerkschaftlichen Reformfähigkeit in ihrer Rolle als mitgliederbasierter Großorganisation. Geht man davon aus, dass Gewerkschaften aufgrund ihres Wirkungsradius’ und ihres Integrationspotenzials – politologisch gesprochen – systemrelevante Akteure sind, viele Anzeichen überdies dafür sprechen, dass sie derzeit an einem Wendepunkt ihrer jüngeren Geschichte stehen, stellt sich umso mehr die Frage, wie es um ihre Fähigkeit bestellt ist, organisatorische und politische Probleme in den Griff zu bekommen. Wie reagierten Gewerkschaften seit der ökonomischen Zäsur in den frühen 1970er Jahren auf Umbrüche, Krisen, Chancen – auf Wandlungen ihres gesellschaftlichen, politischen und wirtschaftlichen Umfelds also? Wodurch erklärt sich ihre schwankende, jedoch zugleich stets starke Stellung in der Wirtschaftswelt? Und: Worin bestanden, worin bestehen noch ihre Leistungen für den Zusammenhalt der Gesellschaft und die Stabilität des politischen Systems? All das

2

So Bromberg, Kirstin: Mitgliederrekrutierung und gewerkschaftliche Organisationskultur, in: Greef, Samuel/Kalass, Viktoria/Schroeder, Wolfgang (Hg.): Gewerkschaften und die Politik der Erneuerung – Und sie bewegen sich doch, Düsseldorf 2010, S. 171-186, hier S. 174.

3

Vgl. Schneider, Michael: Kleine Geschichte der Gewerkschaften. Ihre Entwicklung in Deutschland von den Anfängen bis heute, Bonn 1989, S. 79 f.

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bietet bereits genügend Anlass für eine Rückschau, die das Wechselspiel der Gewerkschaften mit der Bevölkerung bzw. den unterschiedlichen Gruppen auf dem Arbeitsmarkt untersucht: In welchem Ausmaß und mit welcher Wirkung aktualisierten die Gewerkschaften ihre Politik? Wie verhielten sich die Soziologien ihrer Mitgliedschaft und ihres Führungspersonals zu jener der Gesellschaft? Inwieweit genügten sie ihrem Selbstanspruch, sämtliche abhängigen Arbeitnehmer zu repräsentieren? Nochmals: Ziel ist dabei keine erschöpfende Studie zur Organisationswirklichkeit der Gewerkschaften in Vergangenheit und Gegenwart, auch keine ausführliche und nahezu vollständige Geschichte ihrer Reformbemühungen. Vielmehr besteht der Anspruch der nachfolgenden Passagen in einer Annäherung an all diese Fragen und Aspekte. Um sich währenddessen nicht in einem Sammelsurium kleinteiliger Aspekte zu verlieren, sollen anhand gezielter Beispiele charakteristische Entwicklungslinien herausgearbeitet und betrachtet werden. Vieles gründet sich dabei auf Beobachtungen, manches mag arg zugespitzt formuliert sein. Doch soll damit der Kern der Probleme freigelegt werden, die den Gewerkschaften offenbar in den letzten dreißig bis vierzig Jahren zu schaffen gemacht haben. Und es soll ein Ausblick auf die Zukunft gewagt werden – stets verbunden mit der Frage, inwieweit die Gewerkschaften noch zum Funktionieren der Demokratie beitragen, die Mängel und Lücken sozialstaatlicher Sorge und wirtschaftlicher Verteilungslogik ausgleichen. Letztlich die Frage: Worin könnte die gegenwärtige „Gewerkschaftsdämmerung“ enden?

Ein Rückblick auf die Geschichte der deutschen Gewerkschaften Historischer Prolog

D IE S TRUKTURGEWINNER DES I NDUSTRIEZEITALTERS : DEUTSCHE G EWERKSCHAFTEN VOR DEM E RSTEN W ELTKRIEG Die Geburtsstunde der deutschen Gewerkschaften ist eng mit dem Beginn industrieller Produktion verbunden. Die Industrialisierung bedeutete einen heftigen Bruch mit Vorherigem, sie war eine epochale Zäsur in der deutschen Geschichte. Zwischen 1800 und 1875 entstand die Lohnarbeiterschaft als neuer Typus in der Gesellschaft.1 Die Überbleibsel der feudalen Verhältnisse verschwanden allmählich, die Betriebe wurden größer und ersetzten menschliche durch mechanische Arbeitskraft. Unternehmer kauften nun menschliches Arbeitsvermögen – eine fiktive Ware, da vorab nie mit völliger Gewissheit voraussehbar war, in welchem Ausmaß der Arbeiter seine Arbeitskraft tatsächlich zur Verfügung stellen und inwieweit menschliches Versagen deren Güte mindern würde.2 Unzählige Handwerksmeister konnten unter diesen Bedingungen ihre Selbstständigkeit nicht mehr aufrechterhalten und verarmten, die Gesellen zogen in die Städte und such-

1

Vgl. dazu Kocka, Jürgen: Arbeitsverhältnisse und Arbeiterexistenzen. Grundlagen der Klassenbildung im 19. Jahrhundert, Bonn 1990, S. 508-525.

2

Zur Warenfiktion vgl. Berger, Johannes/Offe, Claus: Die Zukunft des Arbeitsmarktes, in: Offe, Claus (Hg.): „Arbeitsgesellschaft“. Strukturprobleme und Zukunftsperspektiven, Frankfurt am Main/New York 1984, S. 87-117, hier S. 91 f.

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ten sich in Fabriken neue Jobs.3 Allgemein fanden die Menschen nicht mehr überwiegend in der Landwirtschaft Arbeit, sondern in Fabriken und Bergwerken. Die Arbeits- und Lebensbedingungen der Menschen in Deutschland zum Ende des 19. Jahrhunderts sind mit denen des angebrochenen 21. Jahrhunderts kaum zu vergleichen. Die Unterschiede zwischen den damaligen Bevölkerungsgruppen waren um etliches größer, als dies heute – selbst unter Berücksichtigung der kontroversen Hartz-Gesetzgebung – der Fall ist. „Innerhalb einer historisch extrem kurzen Zeit, während der Lebensspanne einer Generation“, so der Historiker Andreas Wirsching, „entstand eine Vielzahl neuer, vormals unbekannter kultureller und sozialer Antagonismen“.4 Es war eine Übergangsphase, in der sich die deutsche Wirtschaft wie auch das Leben der Menschen grundlegend veränderten. In ihr vollzog sich die Metamorphose von einer Agrar- in die Industriegesellschaft. Die landwirtschaftlich genutzten Flächen verteilten sich nunmehr auf wenige Großgrundbesitzer, die mit ihren Produkten die deutsche Bevölkerung ernährten und auch ins Ausland exportierten.5 Golo Mann spricht von der „großen Veränderung, die aus einem Volk von Bauern ein Volk von Arbeitern und Angestellten machte“6; lebten um 1830 in Deutschland vier Fünftel der Menschen auf dem Land, so war es 1895 gerade noch ein Fünftel.7 Besaßen die Menschen ganz oft noch eigenen Boden nebst kleinem Stall, auf dem sie Grundnahrungsmittel anbauten und in dem sie eine kleine Zahl von Nutztieren hielten, und waren sie außerdem in die Solidargemeinschaft eines Dorfes und einer Großfamilie eingebettet, so hatten sie in der Stadt keinen solchen Besitz und keine soziale Sicherheit mehr, überwiegend auch keinerlei Aussicht auf selbstständige Arbeit – ganz im Unterschied zur Landbevölkerung, der sie häufig selbst einmal angehört hatten.8 Im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts nahm die Zahl der Menschen, die noch

3

Vgl. Tennstedt, Florian: Sozialgeschichte der Sozialpolitik in Deutschland, Göttingen

4

Wirsching, Andreas: Die Weimarer Republik. Politik und Gesellschaft, München

1981, S. 13-77, hier S. 33-39. 2010, S. 24. 5

Vgl. dazu Wehler, Hans-Ulrich: Das Deutsche Kaiserreich. 1871-1918, Göttingen 1994, S. 21 f.

6

Mann, Golo: Deutsche Geschichte des 19. und 21. Jahrhunderts, Frankfurt am Main 2009 [1958], S. 398.

7

Vgl. ebd., S. 401.

8

Vgl. Ritter, Gerhard A./Tenfelde, Klaus: Arbeiter im Deutschen Kaiserreich 1871 bis 1914, Bonn 1992, S. 816; Ritter, Gerhard A.: Sozialversicherung in Deutschland und England. Entstehung und Grundzüge im Vergleich, München 1983, S. 10.

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standhaft versuchten, sich mit subsistenzwirtschaftlichem Besitz der Abhängigkeit von Lohnarbeit zu entziehen, drastisch ab.9 Die industrialisierte Bevölkerung baute kein Gemüse mehr an und ernährte sich auch nicht mehr von selbstgehaltenen Schweinen, Hühnern oder Ziegen. Bei ihnen handelte es sich um eine Zwischengeneration, die in die alten Verhältnisse hineingeboren worden war und in den neuen verstarb. Erst in den 1890er Jahren gelangten die ersten Arbeiterkohorten auf den Arbeitsmarkt, die gar nichts anderes mehr kannten als die mechanisierte Industrieproduktion, die nicht mehr wie noch viele ihrer Väter und Mütter selbst auf dem Acker gestanden hatten. Und die Zahl der Zeitgenossen der Industrialisierung erhöhte sich rasant: Im 19. Jahrhundert wuchs die deutsche Bevölkerung außerordentlich stark, jedes Jahr zumeist um ein Prozent.10 Es begann ein Zug in die Städte, ein rasantes Wachstum urbaner Räume – wenngleich dieser Vorgang mehrere Jahrzehnte andauerte.11 Die deutsche Wirtschaft boomte: Der Maschinenbau und die Eisenproduktion vergrößerten sich explosionsartig, das Liniennetz der Eisenbahn – ein „entscheidend wichtiger Leitsektor der Industrialisierung“12 – dehnte sich allein zwischen 1850 und 1860 von 6000 auf 11.500 Kilometer aus. In den Städten aber fehlten die Solidarität einer mehrere Generationen umfassenden Großfamilie und der einträchtige Zusammenhalt des Dorfs. Krankheit, Invalidität oder Alter stellten für einen Menschen in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts bedrohliche Probleme dar. Sie bedeuteten Verdienstausfall und konnten einen Haushalt vollständig verarmen lassen – eine Sozialversicherung gab es noch nicht. Diese schuf erst Otto v. Bismarck – dabei stark von sozialkatholischen Prinzipien beeinflusst –, der mit seiner sozialpolitischen Initiative im Verlauf der 1870er und 1880er Jahre ein System sozialer Sicherung aufbaute, das in anderen Ländern Aufsehen erregte und dort lange Zeit als Vorbild diente. Erst mit dem Triplett aus Kranken-, Unfall- und Rentenversicherung war der Arbeiter des wilhelminischen Deutschlands vor den Risiken des Erwerbslebens einigermaßen geschützt. Die Reichsregierung bekämpfte den Zusammenschluss der Arbeiterklasse in Gewerkschaften und Parteien, aber sie betrieb daneben eine

9

Vgl. ebd., S. 604-607.

10 Vgl. Tenfelde, Klaus: Die Entstehung der deutschen Gewerkschaftsbewegung. Vom Vormärz bis zum Ende des Sozialistengesetzes, in: ders. et al. (Hg.): Geschichte der deutschen Gewerkschaften. Von den Anfängen bis 1945, Köln 1987, S. 15-165, hier S. 61 f. 11 Vgl. Sachße, Christoph/Tennstedt, Florian: Fürsorge und Wohlfahrtspflege. 18711929, Stuttgart u.a. 1988, S. 15. 12 Wehler 1994, S. 26.

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bemerkenswert fortschrittliche Sozialpolitik, um die Bürger an den jungen Staat und sein Oberhaupt zu binden. Allerdings gewährte dies den Arbeitern noch lange keine gesicherte und komfortable Existenz. Die Bismarck’sche Sozialgesetzgebung mochte die sozialen Gegensätze zwar entschärft haben, doch blieb die Ungleichheit innerhalb der Bevölkerung nach wie vor groß. Mit einem Wort: Die Entstehung von Metropolen und Industriefabriken, die großflächige Ausbreitung von abhängiger Beschäftigung im Industrieboom, der Lohnarbeit also – das waren die Bedingungen, unter denen Gewerkschaften entstanden und gediehen. Organisation der Bedrängten und Entwurzelten: Politik, Leistungen und Mitgliedschaft Im deutschen Kaiserreich waren die meisten Mitglieder der Gewerkschaften gelernte Arbeiter. Sie bildeten gewissermaßen die proletarische Elite: Sie hatten eine Lehre abgeschlossen, waren sich eines nicht allzu niedrigen Status bewusst und schöpften aus ihrem Beruf erbaulichen Selbstwert.13 Sie hatten zwar nicht viel Geld und Besitz, gehörten aber auch nicht zu den Armen. Die Mitgliedschaft einer Gewerkschaft dieser Zeit war in sich weitgehend gleichförmig. Vor allem lag das an dem Berufsprinzip, nach dem sich die meisten Gewerkschaften organisierten. So gab es zu einigen Berufen eine eigene Interessenvertretung, wohingegen in der Bundesrepublik einzelne Gewerkschaften eine ganze Branche mit unterschiedlichen Berufen erfassten. In der Gründungszeit der Gewerkschaften war diese Rekrutierungslogik jedoch von Vorteil. Denn die Arbeiter waren stolz auf ihren Beruf und schlossen sich daher bevorzugt mit Ihresgleichen zusammen. Neben der berufsständischen Identität machten die gelernten Arbeiter ähnliche Erfahrungen mit der industriellen Modernisierung. Sie erlebten das Aufblühen großer Industriekomplexe und betrauerten den Niedergang kleiner Manufakturen und Handwerksbetriebe. Darüber hinaus trieben Streiks eine wachsende Zahl von Arbeitern in die Gewerkschaften. Während Arbeitskämpfen erkannten sie Sinn und Wert des solidarischen Zusammenschlusses und der stellvertretenden Aushandlung von Löhnen und Arbeitszeiten. In der Gemeinschaft waren sie stark; im organisierten Zusammenschluss konnten sie ein ansonsten unerreichbares Drohpotenzial entfalten und mit eigenständigen Kassen ihre kostspielige Konfrontation mit den Arbeitgebern finanzieren. Von dort bezogen sie ihr

13 Vgl. hier und im Folgenden Schönhoven, Klaus: Geschichte der deutschen Gewerkschaften: Phasen und Probleme, in: Schroeder, Wolfgang/Weßels, Bernhard (Hg.): Die Gewerkschaften in Politik und Gesellschaft der Bundesrepublik Deutschland. Ein Handbuch, Wiesbaden 2003, S. 40-64, hier S. 45 ff.

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Selbstbewusstsein, „nicht nur ein Haufen von einzelnen zu sein, sondern mit Gleichgesinnten in einer Gemeinschaft zu stehen, die angetreten ist, um diese Welt besser werden zu lassen“14. Auch das stärkte die Solidaritätsbereitschaft und das Klassenbewusstsein. Und durch den rüden Umgang, den Staat und Arbeitgeber mit den Arbeitern und Gewerkschaftern pflegten, verstärkte sich dieses Zusammengehörigkeitsgefühl im Verlauf der folgenden Jahre nochmals, sodass die Grenzen zwischen den Berufsgruppen langsam verwischten. Streiks unzufriedener Handwerker erzeugten eine „Urkraft der Bewegung“ und waren „im einzelnen Falle häufig der unmittelbare Ursprung einer dauernden Vereinigung“.15 Aus ihnen gingen die ersten gewerkschaftsähnlichen Zusammenschlüsse hervor.16 Die Behörden versuchten freilich, Arbeitskämpfe mit der Staatsgewalt zu unterbinden. Das verstärkte jedoch bloß den Organisationsdrang der gut ausgebildeten Arbeiter. Der Kampf um politische Rechte, um das Recht auf Streik und Organisation, elektrisierte und bestärkte sie in ihrem Ansinnen, beförderte letztlich die Gründung von Gewerkschaften. Diese verdankte sich folglich der Unfähigkeit des Staats, die Interessen eines gut ausgebildeten Teils der erwerbstätigen Bevölkerung zu integrieren. Die Bemühungen der Behörden erreichten somit das genaue Gegenteil ihres Zwecks: 1869 räumte der Staat den Arbeitnehmern schließlich das Koalitionsrecht ein. Doch schon vorher hatten die Arbeiter Organisationen gebildet, aus denen dann Gewerkschaften hervorgingen: Zigarrenarbeiter (1865), Buchdrucker (1866) und Schneider (1867) waren die Pioniere der Arbeiterbewegung. Heute kennt man die Gewerkschaften als Verlierer des postindustriellen Zeitalters, der Rationalisierung und Dienstleistungsgesellschaft. Doch in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts waren sie die Strukturgewinner schlechthin. Die landwirtschaftliche Beschäftigung ging proportional zum Wachstum der arbeitenden Bevölkerung beständig zurück, die industrielle hingegen stieg. Dort, wo die Gewerkschaften Mitglieder gewannen, wuchs die Beschäftigung. Diese Wachstumsbereiche waren die Elektro-, Metall- und Chemieindustrie, der Bergbau und die Baubranche; das Textilgewerbe war bereits schon zuvor groß gewesen – „Deutschland wurde zum Land der Maschinenbauer“.17 Es entstanden Produktionszentren und mit ihnen städtische Ballungsgebiete: in Sachsen, Schlesien, im Saarland und Ruhrgebiet für Erz und Kohle, Werften in den norddeutschen Küstenregionen. Kleinbetriebe, insbesondere Handwerksfirmen mit wenig Be-

14 Schmid, Carlo: Erinnerungen, Bern/München/Wien 1979, S. 56. 15 Richard Seidel zitiert nach Tenfelde 1987, S. 94. 16 Vgl. im Folgenden ebd., S. 93-112. 17 Für diesen Absatz vgl. ebd., S. 64-142 (Zitat S. 65).

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schäftigten, schwanden: In den ersten Jahrzehnten der Reichsgründung stieg der Anteil von Großbetrieben, in denen mehr als fünfzig Personen arbeiteten, von 22,8 auf 33,5 Prozent, von Riesenbetrieben mit über 1000 Beschäftigten gar von 1,9 auf 3,3 Prozent. In dieser Zeit organisierten Gewerkschaften vor allem Handwerker in kleinen Betrieben – Schuhmacher, Zimmerleute und Buchdrucker machten um 1880 die meisten Gewerkschaftsmitglieder aus. Hochburgen waren daneben der Metallsektor und das Baugewerbe; hingegen gelang es ihnen nicht, in die Eisenhütten einzudringen; in den großen Betrieben dieser Branche empfanden die Beschäftigten kaum Berufsstolz und waren vom Arbeitgeber leicht auszuwechseln, insofern zum Gewerkschaftsbeitritt viel zu furchtsam; in den 1880er Jahren strömten zudem viele Polen in die preußischen Industriereviere, die den Gewerkschaften zunächst fernstanden. Etwa in den 1880er Jahren war der Übergang von der Agrar- in die Industriegesellschaft abgeschlossen; nun erst begann der lange Weg in die Dienstleistungsgesellschaft. Der Handel, die Banken und der öffentliche Dienst als hauptsächliche Arbeitgeber von Angestellten waren für das Beschäftigungswachstum bis zum Ende des 19. Jahrhunderts noch nahezu bedeutungslos. Unter diesen günstigen Umständen war der Organisationserfolg deutscher Gewerkschaften um die Jahrhundertwende schier grandios:18 Bis 1890 war die Zahl der Gewerkschaftsmitglieder auf etwa 300.000 Menschen angestiegen, nachdem sie 1885 noch bei ungefähr 256.000 gelegen hatte. Bis 1913 hatte sich die Mitgliederzahl nochmals sprunghaft erhöht, die Millionengrenze deutlich überschritten und lag bei den Freien Gewerkschaften bei 2,5 Mio., bei den Hirsch-Dunckerschen bei 1,1 Mio. und bei den Christlichen bei 340.000; die größte Einzelgewerkschaft war dabei der Deutsche Metallarbeiterverband mit einer halben Million Mitgliedern. Damit verachtfachte sich die Mitgliederzahl sozialdemokratischer Gewerkschaftsverbände zwischen 1890 und 1914 von 300.000 auf rund 2,5 Mio. Zwischen 1900 und 1914 wuchs die Kraft der Gewerkschaften, verwandelten sie sich von sozialbewegten Kampfverbänden in professionelle Interessenorganisationen; ihr Verwaltungsapparat vergrößerte sich fortlaufend, allerorten entstanden neue Büros und wurden Gewerkschaftshäuser gebaut.19 Dass sich die Menschen in großer und zunehmender Zahl Gewerkschaften anschlossen, lag nicht zuletzt an drückenden Arbeits- und Lebensbedingungen,

18 Vgl. Schönhoven 2003, S. 45 f.; ders.: Die Gewerkschaften als Massenbewegung im Wilhelminischen Kaiserreich 1890 bis 1918, in: Tenfelde et al. (Hg.) 1987, S. 167278, hier S. 225 f. u. S. 228; Tenfelde 1987, S. 159 ff. 19 Vgl. Schönhoven 1987: Gewerkschaften als Massenbewegung, S. 212 f.

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denen sie in dieser Zeit ausgesetzt, ja ausgeliefert waren. Von Gewerkschaften erhofften sie sich Hilfe bei existenziellen Problemen. Im Kaiserreich bewältigten die Arbeiter ihr Dasein mehr, als dass sie es genossen. Arbeit war lebensnotwendige Last und hatte kaum etwas mit Selbstverwirklichung und persönlicher Fortentwicklung zu tun.20 Ende des 19. Jahrhunderts war eine Familie bereits wohl situiert, wenn sie über mehr als ein beheiztes Zimmer verfügte; nur in seltenen Fällen schlief jeder Haushaltsangehörige in einem eigenen Bett; in den Mietskasernen lebte man in Bretterverhauen und im schwachen Licht des Hinterhofs; Kochen, Essen, Wohnen spielten sich in ein und demselben Raum ab: der Küche. Enge, Lichtmangel und Feuchtigkeit verschlimmerten sich noch für jene, die den Keller oder die Mansarde als Wohnung nutzten.21 Das Eigentum war gering, das Mobiliar infolgedessen so spärlich, dass für Umzüge ein zweirädriger Handkarren genügte. Solch fürchterliche Wohnverhältnisse stehen beispielhaft für die Not großer Teile der Arbeiterschaft jener Zeit und erklären z.T. auch, weshalb die Menschen so früh starben – die durchschnittliche Lebenserwartung lag um 1870 für Männer bei 35 und für Frauen bei 38 Jahren.22 Die Berufszugehörigkeit besaß einen enormen Stellenwert im Leben der Menschen, denn sie bedingte soziale Ungleichheit, war sogar dermaßen wirkmächtig, dass sie in vielen Fällen über Leben und Tod, das Ausmaß des Elends, entschied.23 In dieser Lage konnten die Gewerkschaften bereits mit geringen Erfolgen das Leben der Menschen verbessern und als nützliche Organisationen in Erscheinung treten. Denn für in Not geratene Mitglieder unterhielten sie eigene Unterstützungskassen. Ferner waren die Gewerkschaften Organisationen, die den Menschen emotionalen Rückhalt, ja Geborgenheit vermittelten. Viele Menschen waren von der Dampfmaschine aus ihren gewohnten Lebensverhältnissen gerissen worden, weil sich für sie auf dem Acker und in der Viehzucht zunehmend weniger Arbeit fand. Obendrein waren sie hochmobil. Mobilität mag als eine Fähigkeit und Bürde des globalisierten Arbeitsmarkts des 21. Jahrhunderts erscheinen, doch bereits die Menschen im 19. Jahrhundert waren extrem anpassungsfähig – ein Drittel der Bevölkerung wechselte häufig den Wohn- und Arbeitsort.24 Ein beträchtlicher Teil der Bevölkerung war im Übergang vom Agrar- ins Industriezeitalter entwurzelt und rastlos. Daraus, wie auch aus den z.T. schrecklichen Le-

20 Vgl. Ritter/Tenfelde 1992, S. 804-810. 21 Vgl. ebd., S. 585-602. 22 Vgl. Tenfelde 1987, S. 62. 23 Vgl. Ritter/Tenfelde 1992, S. 569. 24 Vgl. ebd., S. 613 f.

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bens- und Arbeitsverhältnissen entstand bei vielen von ihnen ein großer Bedarf an Heilsversprechen. Und die Gewerkschaften hatten mit der Idealvorstellung einer sozialistischen Gesellschaft eine solche anzubieten. Sie sprachen ihnen Mut zu, waren eine tröstliche Medizin, um die hervorstechende Ungerechtigkeit der Gegenwart bis zur prophezeiten Erlösung durch die sozialistische Gesellschaft auszuhalten.25 Überdies rechtfertigte der Glaube an eine bessere Zukunft die große Wut auf die Vorgesetzten und Arbeitgeber. Kurzum: Gewerkschaften hatten mit politischer Interessenvertretung, solidarischen Unterstützungskassen und Erlösungsutopien einiges anzubieten, was die bedrängten Arbeiter jener Zeit bereitwillig entgegennahmen. Außerdem waren die gesellschaftlichen Verhältnisse jener Zeit statisch: „Schichtgrenzen wurden undurchlässiger und Klassengrenzen schier unüberwindlich. Wenn es Aufstieg gab, dann vollzog er sich jedenfalls eher zwischen den Generationen als in den Generationen.“26 In der Gegenwart des 21. Jahrhunderts mag ein gesellschaftliches Problem darin bestehen, dass Bildungserfolge stark von der Herkunft, von der Finanzkraft des Elternhauses, abhängig sind. Doch im 19. Jahrhundert bestimmte die Bildung bei Weitem noch stärker den Lebensverlauf eines Menschen als heute – kaum ein Arbeiterkind machte Abitur. Aufstieg war ganz offensichtlich durch das politische System und die Eliten der Gesellschaft bestimmt, die sich nach unten abschirmten und Zugänge in bessere Positionen verriegelten: „Niemals zuvor, und kaum je nach dem Sozialistengesetz mochte der Staat so sehr als Klassenstaat empfunden werden wie in den 1870er und 1880er Jahren […].“27 Daher waren die Erwartungen an die Gewerkschaften auch nicht sonderlich hoch – waren diese doch selbst eine Zeitlang Verfolgte des stark aristokratischen Deutschlands von Bismarck und dem Hohenzollern’schen Königs- und Kaiserhaus. Die Gewerkschaften befanden sich in keiner starken Machtposition, die bei ihrer Klientel überschwängliche Erwartungen an die Interessenvertretung geschürt hätte. Und der Entbehrungsreichtum der Arbeiterschaft war so groß, dass bereits geringfügige Verbesserungen als große Entlastung empfunden werden konnten. Das beförderte bei den Gewerkschaftsmitgliedern die Zufriedenheit mit Wenigem, daher genügten bereits kleine Fortschritte. Außerdem bewirkte die Verfolgung durch die Obrigkeit innerhalb der Arbeiterschaft einen solidarischen Zusammenschluss und eine gemeinsame Identität, wie sie in anderen Industrienationen nicht vorkamen. Sie ließ den Glauben

25 Vgl. dazu Winkler, Heinrich August: Der Schein der Normalität. Arbeiter und Arbeiterbewegung in der Weimarer Republik 1924 bis 1930, Berlin/Bonn 1988, S. 162 f. 26 Tenfelde 1987, S. 77; vgl. im Folgenden ebd., S. 77 ff., S. 137 ff. u. S. 152. 27 Ebd., S. 137.

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aufkommen, es mit einem übermächtigen und gefährlichen Klassenfeind zu tun zu haben. Daraus zogen die Gewerkschaften Organisationsmacht. Entgegen seiner ursprünglichen Absicht machte sie Bismarck dadurch stark. Insofern war die gewerkschaftliche Rolle des politischen Underdogs eine vorteilhafte. Erst gegen Ende des Kaiserreichs deutete sich an, dass sich den Gewerkschaften aufgrund ihrer Mitgliederstärke der Anspruch auf die Vertretungsbefugnis für einen großen Teil der Bevölkerung sowie den Status eines politischen Machtfaktors nicht mehr lange verweigern lassen würde. Die Gewerkschaften waren zwar noch längst nicht etabliert, doch hatten sie bis zum Kriegsbeginn große Fortschritte gemacht. Die Zahl der Menschen, deren Arbeitsbedingungen gewerkschaftlich ausgehandelte Tarifverträge bestimmten, betrug im Sommer 1914 bereits ungefähr ein Achtel aller Industriebeschäftigten und ein Drittel aller Gewerkschaftsmitglieder.28 Einzig die an Rhein und Ruhr ansässige Schwerindustrie hielt sich als letzte antigewerkschaftliche Bastion und zeigte sich erst infolge der außergewöhnlichen Umstände des Weltkriegs verhandlungsbereit.29 Ferner hatten sich die sozialdemokratischen Gewerkschaften aus ihrer Unterordnung unter die SPD, das Primat der Partei, befreit. Auf dem Mannheimer Parteitag 1906 setzten sie ihre Gleichrangigkeit mit der Parteileitung durch. Das Mannheimer Abkommen ist insoweit der geschichtliche Ursprungsort von Meinungsverschiedenheiten zwischen SPD und Gewerkschaften, das Gründungsdokument der gewerkschaftlichen Eigenständigkeit. Mit ihm vergrößerten sich die politischen Spielräume der Gewerkschaftszentralen. Insoweit zeichnete sich in der Spätphase des wilhelminischen Reichs bereits der spätere Bedeutungsgewinn der Gewerkschaften im politischen System ab – ein Gewinn, den sie später, nach dem Ende des Kriegs, vorerst einstrichen. Fusionssucht und Bonzen: Organisationsreformen Doch die Zeitspanne zwischen den 1860er und 1920er Jahren war alles andere als kurz und verlangte den Gewerkschaften bereits die Fähigkeit zur Erneuerung ab. Vor diese Herausforderung gestellt, zeigten sich die Gewerkschaften im ausgehenden 19. Jahrhundert erstaunlich reformfreudig und reaktionsschnell. Sie überwanden ihre Vereinzelung, indem sich örtliche Berufsgewerkschaften zu reichsweiten Zentralverbänden zusammenschlossen.30 Die modernste Gewerkschaft war dabei sicherlich der Deutsche Metallarbeiter-Verband, der sich 1891

28 Vgl. Schönhoven 2003, S. 46. 29 Vgl. ders. 1987: Gewerkschaften als Massenbewegung, S. 221 f. 30 Vgl. auch im Folgenden ders. 2003, S. 46 f.

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gründete und – ein Jahr nach dem Ende von Bismarcks Reichskanzlerschaft – ein neues Zeitalter der Gewerkschaften einläutete: Erstmals vereinigte der Verband nicht eine spezielle Berufsgruppe, sondern eine ganze Branche mit unterschiedlichen Tätigkeitsprofilen und Qualifikationen, überdies geschlechtsübergreifend Männer und Frauen. Dieses Modell war insofern wegweisend, als dass die deutschen Gewerkschaften größtenteils auch heute noch darauf beruhen. Daneben kam es zu etlichen Zusammenschlüssen, zu einer Konzentration, durch die sich die Vielzahl kleiner Gewerkschaften verringerte, die Organisationskraft jedoch erhöhte. Fusionen sind daher keineswegs ein modernes Phänomen, sondern ein uraltes Reforminstrument aus den Anfängen der Gewerkschaftsentwicklung. Typische Begleiterscheinungen waren damals wie heute Konflikte zwischen den beteiligten Organisationen. So seien starke Organisationen wie der Metallarbeiterverband einer „Sucht“ erlegen gewesen, die „Verbände zu vergrößern und alles in sie hineinzuzwängen […] einem gewerkschaftlichen Imperialismus“ gleich.31 Waren die Gewerkschaften auf dem Feld der Organisationsstruktur also in der Lage, Probleme zu beheben, so zeichnete sich ein anderer Missstand ab, dem sie im Grunde bis heute nicht Herr geworden sind: die Kritik an den „Bonzen“, die aufgrund ihrer Karriere den Blick für die Verhältnisse an der Basis verloren hätten. Denn die Mitgliederzuströme machten schon bald einen Verwaltungsapparat notwendig, der dem des Staats ähnelte. Zum Beginn des 19. Jahrhunderts waren SPD und Gewerkschaften zu großen Apparaten angewachsen, die eigene „Beamte“ beschäftigten, wie man die hauptberuflichen Funktionäre damals nannte. Die Organisationen der Arbeiterbewegung waren damit selbst zu Arbeitgebern geworden, beschäftigten Personal in dreistelliger Höhe. Die Partei- und Gewerkschaftsfunktionäre kamen aus den eigenen Reihen, waren zuvor in Arbeiterberufen tätig gewesen, hatten sich als Funktionäre bewährt und waren irgendwann vollständig in den Dienst der Organisation getreten. Und das war auch nötig, denn die wachsende Mitgliedschaft verlangte nach Betreuung und Administration, die sich auf Basis von freiwilliger und nebenberuflicher Tätigkeit nicht mehr bewerkstelligen ließen. Dadurch ging freilich der romantische Bewegungscharakter immer stärker verloren, professionalisierten sich SPD und Gewerkschaften zunehmend. Um die beständig wachsenden Organisationen am Laufen zu halten, wurden immer mehr Funktionäre benötigt; zeitweilig stieg die

31 Dissinger, Arthur: Das freigewerkschaftliche Organisationsproblem. Eine soziologische Studie, Jena 1929, S. 138.

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Zahl der Verbandsbeschäftigten stärker als die der Mitglieder.32 In den 1920er Jahren gab es ungefähr 15.000 Basisbüros mit ca. 6650 Funktionären (Stand 1930); diese Verwaltungsstellen hielten die Organisationen am Leben, verrichteten Verwaltungsaufgaben, berieten die Mitglieder, führten Buch und Kasse; zwei Drittel aller hauptamtlichen Funktionäre arbeiteten dort. Getragen wurde die Verbandsarbeit allerdings von einer Armee ehrenamtlicher Funktionäre, die 1927 etwa 200.000 Menschen umfasste. Die Verwaltungskosten machten ungefähr ein Drittel des ADGB-Etats aus. In den Gewerkschaften wie auch in der Partei boten sich Arbeitern ungewöhnliche Aufstiegschancen, die ihnen in der Fabrik oder im Kleinbetrieb zumeist verwehrt waren. Auf Partei- und Gewerkschaftsschulen erhielten sie kostenlose Bildung und in der Organisationshierarchie ließ sich ungeachtet der bescheidenen Herkunft Karriere machen, es konnten Verantwortung für hunderttausende Menschen übernommen, Ämter auf Reichsebene bekleidet werden, wohingegen sie außerhalb der Organisation allenfalls als Meister einige Gesellen und Lehrlinge herumkommandiert hätten, niemals aber über die Fabrikhalle oder die Werkstatt hinausgekommen wären. Doch die Tätigkeit im Verwaltungswesen der Gewerkschaften konnte sie leicht von ihren vormaligen Kollegen entfremden. Dort habe sich, so eine zeitgenössische Wahrnehmung, ein „Beamtenkörper“ gebildet, der sich allerdings „im Laufe der Zeit nicht nur organisationstechnisch selbständig gemacht“ habe, sondern auch „psychologisch und intellektuell autonom“ geworden sei.33 In dieser Professionalisierung wurde die Gefahr einer Entfremdung von Organisation und Gesellschaft gesehen. Vollzeitfunktionäre, so die Befürchtung, würden den Kontakt zur Betriebswelt, zum Alltag der Organisationsklientel, verlieren. Denn sie teilten ja schließlich nicht mehr die tagtägliche Erfahrung der Arbeit an der Maschine und fuhren auch nicht mehr in die Stollen ein. Wie könnten sie also noch ehrliches Verständnis für aktuelle Sorgen und Nöte der Arbeiter aufbringen, wie könnten sie von deren wirklichen Problemen noch wissen? Dass die Gewerkschaften mit zunehmender politischer Macht immer mehr Personal in unterschiedliche Positionen und Gremien des Staats entsandten, ver-

32 Vgl. hier und folgend Potthoff, Heinrich: Freie Gewerkschaften 1918-1933. Der Allgemeine Deutsche Gewerkschaftsbund in der Weimarer Republik, Düsseldorf 1987, S. 37 u. S. 65 ff.; Varain, Heinz Josef: Freie Gewerkschaften, Sozialdemokratie und Staat. Die Politik der Generalkommission unter der Führung Carl Legiens (18901920), Düsseldorf 1956, S. 58 f. 33 Enderle, August et al.: Das rote Gewerkschaftsbuch, Berlin 1932, S. 88; siehe auch Cassau 1925, S. 125 ff. u. S. 166.

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stärkte diese Kritik bloß noch. Damals wie später kritisierten Stimmen die „‚Verwachsung‘ der Gewerkschaftsführer mit dem Staatsapparat, die schiedlichfriedliche Vertretung in allen möglichen Staatsbehörden“34. Dabei hatten die Funktionäre keineswegs einen leichten und entspannten Job: Neben die Missgunst, die sie zu ertragen hatten, trat obendrein ein beträchtliches Arbeitspensum. Funktionäre waren ständige Anlaufstellen für allerarten Probleme der Klientel, mussten sich kümmern und sorgen, Probleme lösen und stets ein offenes Ohr haben. Sie mussten Papierkram erledigen, Mitgliedsbeiträge eintreiben, insgesamt: die Organisation aufrechterhalten. Zur Leistungsfähigkeit des Gewerkschaftsapparats hatte auch das Bismarck’sche Sozialistengesetz maßgeblich beigetragen. Denn in der Absicht, mit getarnten Arbeiterorganisationen die Verbote zu umgehen, mussten die Funktionäre angesichts der gesetzlich verfügten Unterdrückung raffinierte Schritte machen, um die Behörden zu täuschen. Diese Zeit brachte eine enorm organisationserfahrene und schlagkräftige Generation von Funktionären hervor.35 Sie wurden zu versierten Organisatoren und Administratoren und kamen damit dem Staatsbeamten sehr nahe. Disziplin und Ordnung – nicht Revolution: Das waren die Fähigkeiten der Gewerkschafts- und Parteibeamten im späten Kaiserreich und während der Weimarer Republik. Die Verwaltungsstellen an der Basis erwiesen sich als ungemein wichtig für die Mitgliederbindung; daher war die Bürokratisierung der Organisation, der Ausbau des Apparats in der Zeit vor 1914, unumgänglich.36 Im vorkriegszeitlichen Kaiserreich waren die Gewerkschaften also weit gekommen. Sie hatten eine starke Organisation errichtet und eine Stammmitgliedschaft gewonnen. Dennoch zeichneten sich damals schon zukünftige Schwachstellen ab. Erstens erreichten die Gewerkschaften partout bestimmte Gruppen nicht und zweitens war die Mitgliederbindung an vielen Punkten schwach. In den letzten beiden Friedensjahrzehnten waren die Gewerkschaften unterschiedlich weit in die verschiedenen Wirtschaftsbereiche vorgedrungen: Vor allem lag ihre Schwäche nach wie vor dort, wo viele Frauen, Angestellte und Ungelernte arbeiteten und der Austausch von Arbeitsplatzinhabern besonders häufig und schnell geschah.37 Die Mitglieder waren nicht allesamt fest gebunden; ganz oft war ihre Verbundenheit mit der Organisation sogar nur schwach und flüchtig. Zumeist schwollen die Mitgliederbestände im Vorfeld von Streiks an, um anschließend wieder merklich zurückzugehen. Auch in den Jahren vor dem

34 Ebd., S. 95. 35 Vgl. Tenfelde 1987, S. 162 f. 36 Vgl. Schönhoven 1987: Gewerkschaften als Massenbewegung, S. 231 f. 37 Vgl. hier und folgend ebd., S. 204 ff. u. S. 226-230.

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Ersten Weltkrieg gingen von Streiks wie schon in den 1860er und 1880er Jahren starke Mitgliederzuströme aus. Viele Gewerkschaften reagierten darauf, indem sie die Höhe ihrer Unterstützungszahlungen während Arbeitskämpfen an die Dauer der Mitgliedschaft knüpften. Man darf somit nicht vergessen, dass auch in dieser Zeit der statistischen Blütephase der deutschen Gewerkschaften die Mitgliedschaft extrem instabil war. Und es zeigte sich, dass die Erwartungen an materiellen Sofortgewinnen unter einem beträchtlichen Teil der Arbeiter hoch waren – viele von ihnen verbanden mit einer Mitgliedschaft ungeduldig das Versprechen auf ein besseres Leben innerhalb kürzester Zeit.

K RIEGSGEWINNER UND D EMOKRATIEVERLIERER : DEUTSCHE G EWERKSCHAFTEN IN DER W EIMARER R EPUBLIK Der Glaube an den Gewerkschaftsstaat: institutionelle Akzeptanz und Mitgliederboom nach dem Krieg In gewisser Weise waren die Gewerkschaften Kriegsgewinner. Zwar waren unzählige ihrer Mitglieder nicht mehr heimgekehrt, als Gefallene auf den Schlachtfeldern der Champagne, Picardie oder von Wolhynien zurückgeblieben. Doch durch die Kriegssituation und die damit verbundene Bedeutung der Rüstungsindustrie erreichten sie, dass die Arbeitgeber sie als Verhandlungspartner akzeptierten. Das hatte sich bereits im Sommer 1914 abgezeichnet, als die sozialdemokratische Reichstagsfraktion, die etwa zu einem Drittel aus Gewerkschaftern bestand, für die Bewilligung der Kriegskredite stimmte und mit den Unternehmern Frieden schloss.38 Damit widerlegten sie nicht nur den Vorwurf, „vaterlandslose Gesellen“ zu sein, sondern empfahlen sich überdies als besonnene Partner von Staat und Unternehmern, mit denen sich sachlich verhandeln ließ; außerdem war der Ausgang der deutschen Novemberrevolution offen, boten sich die Gewerkschaften aus der Sicht vieler Unternehmer als eine Adresse an, über die man sich mit dem neuen System arrangieren konnte. Erst durch die gewaltige Veränderungsmacht des Kriegs erkannten die Konzernchefs der Schwerindustrie, die sich bis dahin am hartnäckigsten den Gewerkschaften widersetzt und ihnen den Status eines regelmäßigen Verhandlungspartners verweigert hatten, die

38 Vgl. Schönhoven 2003, S. 47; Walter, Franz: Die SPD. Biographie einer Partei, Reinbek bei Hamburg 2009, S. 41 ff.

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Interessenvertretung der Arbeitnehmer an.39 Dieses neue Verhältnis personifizierten die Anführer beider Seiten, der Industriemagnat Hugo Stinnes und der Vorsitzende des Allgemeinen Deutschen Gewerkschaftsbundes (ADGB) Carl Legien, die ihren Pakt im November 1918 im „Stinnes-Legien-Abkommen“ besiegelten. Freilich bedeutete dies noch keine romantische Hingabe der Arbeitgeber an ihren einstigen Rivalen; die Arbeitgeber verstanden den Vertrag als „ein Zweckbündnis auf Zeit“40, das ihnen über die ungewisse Revolutionszeit hinweghelfen sollte, in der vorübergehend ja die Sozialdemokraten politisch tonangebend waren. Die Gewerkschaften hatten den Kriegsbeginn also genutzt, um ihre Position im Staats- und Gesellschaftsgefüge zu verbessern, und sie hatten auf Mitgliedergewinne aufgrund neuer Arbeitsplätze infolge einer bald boomenden Waffenproduktion und möglicher Eroberungen spekuliert. Als entschiedene Kriegsgegner waren sie 1914 jedenfalls überwiegend nicht in Erscheinung getreten, sie verbanden mit dem Krieg vielmehr größtenteils die Hoffnung auf wachsende Macht und Anerkennung in Politik und Gesellschaft. Mit ihrer Absage an eine pazifistische Grundhaltung begründeten die Gewerkschaften unter „dem Donner der todspeienden Kanonen“41 während des Ersten Weltkriegs die sozialpartnerschaftlichen Beziehungen zwischen Vertretern der Arbeitnehmer- und der Arbeitgeberseite. Außerdem zog die gewerkschaftliche Verbandsspitze gegenüber den angeschlossenen Einzelgewerkschaften daraus einen Macht- und Bedeutungszuwachs.42 Erstens hatten sich also die Gewerkschafter über den Ausnahmezustand des Kriegs den langgehegten Traum erfüllt, von den Unternehmern als gleichberechtigte Verhandlungspartner anerkannt und politisch nicht mehr wie früher als Vaterlandsverräter gebrandmarkt zu werden. Zweitens schlossen sich den Gewerkschaftern während der Revolutionszeit 1918/19 viele Arbeitnehmer an, die in einem politischen Nachfolgesystem der konstitutionellen Monarchie einen deutlichen Bedeutungs- und Machtgewinn der Gewerkschaften erwarteten (im Herbst 1919 organisierten die Freien Gewerkschaften rund 7,3 Mio. Menschen).43 Aus dem Krieg gingen die Gewerkschaften daher zunächst gestärkt hervor: Sie hatten

39 Vgl. Abendroth, Wolfgang: Die deutschen Gewerkschaften. Weg demokratischer Integration, Heidelberg 1954, S. 15. 40 Schönhoven 2003, S. 48. 41 Enderle et al. 1932, S. 14. 42 Vgl. Cassau, Theodor: Die Gewerkschaftsbewegung. Ihre Soziologie und ihr Kampf, Halberstadt 1925, S. 110. 43 Vgl. Varain 1956, S. 132 f.

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ihren Stellenwert innerhalb der industriellen Beziehungen als Verhandlungs- und Vertragspartner der Arbeitgeber gesteigert und sie verzeichneten ein beträchtliches Mitgliederwachstum. Doch die Erwartung eines sozialdemokratischen „Gewerkschaftsstaats“ erfüllte sich nicht. Die Machteliten des verfallenen Kaiserreichs behaupteten sich weitgehend im neuen System, die gesellschaftlichen Verhältnisse veränderten sich keineswegs revolutionär oder fundamental und auch das Personal in der staatlichen Verwaltung und der Ministerialbürokratie wurde kaum ausgewechselt.44 Zwar bildeten die Sozialdemokraten im Reichstag lange Zeit die größte Fraktion, waren jedoch vergleichsweise selten über eine Koalition in die Regierung eingebunden. Die SPD als die Partei, die den Freien Gewerkschaften personell und politisch am nächsten stand, regierte lediglich von Mai 1921 bis November 1922, August bis November 1923 und zuletzt mit Hermann Müller als Reichskanzler in einer großen Koalition von Juni 1928 bis März 1930. Im Verlauf der Weimarer Jahre verloren die Gewerkschaften sogar an politischer Macht. Im Herbst 1923 hob ein Gesetz faktisch die Tarifautonomie auf, indem der Staat in Tarifstreitigkeiten zwischen Gewerkschaftern und Vertretern der Arbeitgeberseite als Zwangsschlichter eingreifen und die Löhne festlegen konnte.45 In der wirtschaftlichen Krisenphase gegen Ende der 1920er Jahre galten die Gewerkschaften daher schon bald als Spielball der Unternehmer, die im Verbund mit der Regierung die Arbeitsmarktpolitik bestimmten.46 Trotz alledem hatten die Gewerkschaften einen riesigen Schritt gemacht, hatten sich insgesamt im politischen System festgesetzt, einen Großteil ihres Außenseiter-Images abgestreift. Im Verlauf von Weimars republikanischen Jahren entsandten sie immer mehr Personal in Institutionen, die das gesellschaftliche Zusammenleben beeinflussten: Gewerkschafter saßen in den Gremien der Sozialversicherung (1931 ca. 50.000), in Arbeitsgerichten (10.000), Arbeitsämtern (2000) oder auch Handels-, Industrie und Handwerkskammern (10.000) sowie in Ausschüssen der Berufsschulen (5000).47 Doch noch etwas änderte sich für sie. Mit dem Betriebsrätegesetz von 1920 trat ein neuer Akteur, der Betriebsrat, in das Gefüge der Interessenvertretung. Von den Belegschaftsangehörigen gewählt, sollte er deren Belange gegenüber dem Management vertreten. Damit begann ein bis heute andauerndes Spannungsverhältnis zwischen Gewerkschaften, die über-

44 Vgl. Winkler, Heinrich August: Der lange Weg nach Westen. Deutsche Geschichte 1806-1933, Bonn 2002, S. 382-385. 45 Vgl. ebd., S. 440 f. 46 Vgl. Schönhoven 2003, S. 50. 47 Vgl. Potthoff 1987, S. 67.

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greifende Interessen zu vereinbaren hatten, und Betriebsräten, die überwiegend Interessen eines einzelnen Betriebs verfolgten.48 Betriebsräte waren für die Gewerkschaften Chance und Problem zugleich: Einerseits konnten die Organisationen über sie in den Betrieb hineinwirken, sie zur Mitgliederrekrutierung einsetzen und von ihnen die Einhaltung von Tarifvereinbarungen überwachen lassen. Andererseits konnten Betriebsräte auch eigenwillig sein, sich nicht der gewerkschaftlichen Autorität beugen und sich mit den Arbeitgebern verbünden. Die Unabhängigkeit und Befugnisse, die Gesetze im weiteren Zeitverlauf den Betriebsräten einräumten, konnten theoretisch auch dazu führen, dass die betriebliche Mitbestimmung durch Betriebsräte die überbetriebliche Interessenvertretung der Gewerkschaften untergrub. Die Einrichtung von Betriebsräten bedeutete für Gewerkschaften jedenfalls keineswegs einen automatischen Gewinn von Einfluss und Mitgliedern. Mit ihnen erhöhte sich vor allem die Komplexität der Wirtschaftswelt. Ja, sie waren unberechenbar: In einem Moment konnten sie sich als zuverlässige Agenten der Gewerkschaften erweisen, in einem anderen unvermittelt als Gegenspieler in Erscheinung treten. Die Bürde hochfahrender Hoffnungen: Enttäuschungen der Revolutionszeit Das war ein bemerkenswerter Widerspruch in der deutschen Gewerkschaftsgeschichte: Politischer Bedeutungsgewinn und Machtzuwachs erwiesen sich als Quelle unzufriedener Mitglieder. Im Kaiserreich hatten die Gewerkschaften eine deutlich schwächere Stellung im politischen System eingenommen, da sie noch keine etablierten Tarifpartner der Arbeitgeber waren. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts hatten die Arbeiter alle Hände voll damit zu tun, sich überhaupt erst das Koalitionsrecht, das Recht auf eine eigene Interessenvertretung, zu erkämpfen. Entsprechend niedriger fielen die Erwartungen der Gewerkschaftsmitglieder an die Organisation aus, in der sie sich wie in einer Wagenburg gegen die Benachteiligungen der übrigen Gesellschaft abschotten konnten. Es waren die prägenden Erfahrungen von „materieller Not und sozialer Benachteiligung, von gesellschaftlicher Ungleichheit und politischer Unterdrückung“49, die ein Bewusstsein schufen, welches die Arbeitermassen, die noch dazu Zukunftshoffnungen anhingen, in großer Zahl in die Gewerkschaftsorganisationen strömen ließ. Die Unterdrückung durch das Bismarck’sche Sozialistengesetz von 1878

48 Vgl. Esser, Josef: Funktion und Funktionswandel der Gewerkschaften in Deutschland, in: Schroeder/Weßels (Hg.) 2003, S. 65-85, hier S. 74. 49 Schönhoven 2003, S. 44; vgl. folgend ebd., S. 45.

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aktivierte überdies eine massenhaft empfundene Identität als benachteiligte Proletarier. Die offenbare Stellung im System und die politischen Resultate stimmten also überein: Beide waren nicht allzu machtvoll. Anders sah es hingegen nach dem Krieg, nach dem Sturz des Kaisers und dem Bedeutungsgewinn des Parlaments aus. Nun warteten viele Arbeitnehmer ungeduldig auf die Verheißungen des Sozialismus, von denen die sozialdemokratischen Partei- und Gewerkschaftsführer ja stets gesprochen hatten. Und war ihnen nicht jahrzehntelang im Milieu die Notwendigkeit einer sozialen Revolution indoktriniert worden? Nun endlich, so glaubten sie, habe ihre Stunde geschlagen, würden sie in eine gerechtere Gesellschaft aufbrechen und die Segnungen sozialistischer Politik empfangen. Vormals unerreichbare Leistungen schienen nun erstmals möglich zu sein, nachdem sie zuvor in einem aristokratischen System für niemanden bezweifelbar an politischer Unterdrückung noch gescheitert waren; jetzt aber richteten sich Erwartungen an die Gewerkschaften, inzwischen realistisch scheinende Ansprüche zu befriedigen. Daher mussten die politischen Ereignisse zwischen 1918 und 1920 die Arbeiter zwangsläufig enttäuschen. Denn die Verheißung eines sozialistischen Umsturzes erfüllte sich wider Erwarten nicht, SPD und Gewerkschaften arrangierten sich stattdessen mit den vorherrschenden Eliten und Strukturen. Zwar wurde der Kaiser von seinem Thron gestürzt, verloren die Fürstenhäuser ihre Staatsgewalt, doch ein radikaler Bruch mit dem alten System fand dennoch nicht statt – schließlich hatte es ja auch schon im Kaiserreich Gewaltenteilung, Wahlrecht und Parlamente gegeben. Diese relative Kontinuität war erklärungsbedürftig und sorgte für Unmut und Misstrauen. „Eine Illusion ist geplatzt. Das, woran Menschen jahrzehntelang geglaubt haben, wenigstens in den Massen, indem man meinte, an dem Tage, an dem wir die politische Macht erringen würden, werde es ein Kinderspiel sein, die letzten Ziele unserer Bewegung zu verwirklichen, ist nicht in Erfüllung gegangen.“50 Stattdessen verschlechterte sich sogar für viele Menschen die Lage. Fast nirgendwo gab es einen Arbeitsplatz, der nicht gefährdet war. Allerorten spukte „das Gespenst der Massenentlassung“51. Und auch weiterhin atmeten die Arbeiter giftige Dämpfe ein und hörten den ohrenbetäubenden Lärm von Maschinen und Geräten. Noch immer wohnten sie in beengten Quartieren, auf einem überfüllten Arbeitsmarkt ohne Aussicht auf Aufstieg aus den bedrückenden Verhältnissen.

50 Der Gewerkschafter Tarnow 1925 auf einem Gewerkschaftskongress in Breslau zitiert nach Enderle et al. 1932, S. 22. 51 Heimann, Eduard: Der Klassenkampf als seelische Reaktion, in: Die Arbeit, Jg. 2 (1926) H. 5, S. 290-298, hier S. 291.

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Während der Weimarer Republik überstiegen die Probleme der Gesellschaft schlichtweg die Fähigkeit von Staat und Volkswirtschaft, sie zu lösen.52 Der Arbeitsmarkt war überfüllt, ein beträchtlicher Teil der Jugend musste sich als überflüssige Generation fühlen.53 Und daran vermochten auch die Gewerkschaften nicht viel zu ändern. Wer sich, ob jung oder alt, in dem Glauben an eine baldige Verbesserung der Lage und einen wirksamen Schutz vor den Wechselfällen des Arbeitsmarkts zum Eintritt in eine Gewerkschaft entschloss, wurde daher schnell enttäuscht. Gegen die ökonomischen Debakel der Weimarer Zeit – Hyperinflation in den frühen, Massenarbeitslosigkeit in den späten 1920er Jahren – konnten die Gewerkschaften nicht viel ausrichten. Ihre Mitgliederzahlen dürften daher aus ähnlichen Gründen geschwankt haben wie die Wählerstimmen für die Republik-bejahenden Parteien. Ein beträchtlicher Teil der Wähler entzog SPD, DDP oder DVP das Vertrauen und gab radikalen Parteien die Stimme – der KPD, vor allem aber der NSDAP.54 1930 hatten sich schätzungsweise zehn Prozent früherer SPD-Wähler und 25 Prozent der DDP- und DVP-Wähler auf den Stimmzetteln den Nationalsozialisten zugewandt. Ohne feste Parteibindung gingen viele Wähler schlichtweg dorthin, wo sie sich Vorteile versprachen. Ähnlich wie an der Wahlurne geschah dieser Vorgang vermutlich auch im Falle der Gewerkschaften, aus denen man nach einer erwartungsvollen Phase enttäuscht wieder austrat. Daher korrelierten deren Mitgliederzahlen zu manchen Zeitpunkten stark mit der politischen oder wirtschaftlichen Situation.55 So ereignete sich bspw. in der Nachkriegszeit ein Mitgliederboom: Waren vor Kriegsbeginn rund 2,5 Mio. Menschen Mitglied in einer der Freien Gewerkschaften gewesen, so hatten sich diesen bis Ende 1919 – im Umbruch des politischen Systems und womöglich in Erwartung einer sozialdemokratisch-gewerkschaftlich bestimmten Politik – etwa 7,3 Mio. Bürger angeschlossen: „[N]un drängte sich alles Volk zu ihnen“56. Im Sommer 1920 erreichten die Freien Gewerkschaften mit ca. 8,5 Mio. Mitgliedern ihren Höchststand (wovon neunzig Prozent auf den

52 Vgl. Wirsching 2010, S. 69-83 u. S. 110 ff. 53 Vgl. Peukert, Detlev J. K.: Jugend zwischen Krieg und Krise. Lebenswelten von Arbeiterjungen in der Weimarer Republik, Köln 1987, S. 33-38. 54 Vgl. Winkler 2002, S. 490-493. 55 Vgl. Flemming, Jens/Krohn, Claus-Dieter/Witt, Peter-Christian: Sozialverhalten und politische Reaktionen von Gruppen und Institutionen im Inflationsprozess. Anmerkungen zum Forschungsstand, in: Büsch, Otto/Feldman, Gerald D. (Hg.): Historische Prozesse der deutschen Inflation 1914 bis 1924. Ein Tagungsbericht, Berlin 1978, S. 239-263, hier S. 243. 56 Brauer, Th.: Krisis der Gewerkschaften, Jena 1924, S. 13.

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ADGB entfielen).57 „Nun wurde plötzlich jedermann Gewerkschaftler – vom simpelsten Handlanger bis in die höheren Kreise der Techniker, Angestellten und Beamten hinein. Als wenn es nie etwas Selbstverständlicheres gegeben hätte!“58 Als das erhoffte Szenario eines sozialistischen, gewerkschaftlich dominierten Staats jedoch ausblieb, die Gewerkschaften doch nicht zur „Phalanx der neuen Ordnung“59 geworden waren, verminderte sich auch der ungewöhnlich große Mitgliederbestand. Jene Gruppen, die schon immer schwer zu organisieren gewesen waren, in den Revolutionswochen und -monaten jedoch eine neue Gesellschaft und ein neues politisches System heraufziehen sahen und deshalb den Gewerkschaften beigetreten waren – Angestellte, Frauen und Landarbeiter –, konnten „nicht in vollem Maße gehalten werden“, so der Politikwissenschaftler Wolfgang Abendroth, „wenn der unmittelbare Nutzen gewerkschaftlicher Arbeit nicht täglich deutlich wurde“.60 Diese Gruppen waren den Gewerkschaften vor allem aus opportunistischen Gründen beigetreten und nicht in das Organisationsnetz des sozialdemokratischen Milieus eingewoben, aus denen die Gewerkschaften ihre Bindekraft bezogen. So schnell wie diese Bevölkerungsteile in die Organisation gelangten, so schnell konnten sie auch wieder aus ihr verschwinden. Im Zusammenhang mit der Hyperinflation – der rasenden Entwertung des Geldes als Spätfolge des Kriegs – kam es in den Gewerkschaften zu einem regelrechten Mitglieder-Exodus:61 Im Herbst 1922 setzte der Niedergang ein, bis Ende 1924 kam es zu einem Rückgang auf vier Millionen Mitglieder – der Organisationsgrad62 verringerte sich von 55 Prozent 1920 auf 28 Prozent 1925. Viele hatten kein Geld mehr für die Mitgliedsbeiträge, etliche Unternehmen fuhren eine harte Linie gegen die Gewerkschaften, die ihrerseits kaum Schutz

57 Vgl. Potthoff 1987, S. 42. 58 Brauer 1924, S. 14. 59 Ebd., S. 15. 60 Abendroth 1954, S. 26. 61 Vgl. dazu Potthoff 1987, S. 43 f., S. 44 u. S. 57 f. 62 Dabei handelt es sich um einen „Indikator für den Grad der Mobilisierung der Arbeitnehmer durch die Gewerkschaften, für die dauerhafte Bindung von Arbeitnehmern an eine Gewerkschaft, für deren politisches Gewicht auf dem Wählermarkt, für die potentielle Macht bei Arbeitskonflikten sowie für die Ausstattung der Gewerkschaften mit Ressourcen in Form von Mitgliedsbeiträgen“; Ebbinghaus, Bernhard/Visser, Jelle: Der Wandel der Arbeitsbeziehungen im westeuropäischen Vergleich, in: Hradil, Stefan/Immerfall, Stefan (Hg.): Die westeuropäischen Gesellschaften im Vergleich, Opladen 1997, S. 333-376, hier S. 356.

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vor der Krise boten – diese Mängel verringerten ihre Attraktivität auf die erwerbstätige Bevölkerung. Insgesamt ließ sich eine starke Abhängigkeit der Mitgliederentwicklung von der politischen und wirtschaftlichen Lage beobachten. Ein neuerliches Wachstum der Mitgliedschaft begleitete das zeitliche Vorfeld der Arbeitsmarktkrise, die zeitweise sieben Millionen Erwerbslose hervorbringen sollte: Die Mitgliederzahlen stiegen von 3,4 Mio. im Jahr 1924 auf 4,1 Mio. im Jahr 1928 – um dann bis zum Vorabend der nationalsozialistischen Machtergreifung wieder auf 3,3 Mio. zu fallen – von denen allerdings nur noch etwa 1,8 Mio. – 17 Prozent aller Arbeiter – einen Job besaßen.63 Zwischen 1920 und 1929 sank die Zahl männlicher Mitglieder um 35 Prozent, die weiblicher gar um siebzig Prozent.64 Hier zeigte sich, dass die Gewerkschaften ohne größeres Zutun durch die Umstände ihrer Zeit schlagartig attraktiv oder abstoßend sein konnten. Darin offenbarte sich ihre geringe Bindungskraft gegenüber jenen Bürgern, die nicht eingebettet waren in eine sozialistische Lebenswelt, in der die Menschen im ständigen Kontakt mit Gewerkschafts- und SPD-Funktionären standen und über die Gewerkschaften auch unabhängig von politischen Leistungsschwankungen ihre Mitglieder behielten. Die Gewerkschaften lösten das Schutzversprechen, das sie in den Augen vieler Arbeitnehmer gegeben hatten, auf Dauer nicht ein, enttäuschten die hochgesteckten Erwartungen ihrer Klientel. Im Verlauf der Weimarer Republik zeigte sich, dass sie die herkunftsbedingt blockierten Aufstiegswege für ehrgeizige und fleißige Arbeiter nicht freimachten, die Kaufkraft der Löhne nicht verbesserten und auch keinen Schutz vor Arbeitslosigkeit boten. Was also, so konnten sich viele Arbeiter fragen, sollte sie eigentlich zu einer Gewerkschaftsmitgliedschaft bewegen? Anstatt zuzunehmen, ließ die politische Überzeugungskraft der Gewerkschaften zwischen 1919 und 1933 jedenfalls stark nach. Darin lag vermutlich eine wesentliche Ursache des Mitgliederschwunds. Denn offenbar hatten sich die Arbeitnehmer an die Gewerkschaften gewandt, weil sie auf der Suche nach einer verlässlichen Schutzmacht waren. Doch bereits zur Jahreswende 1923/24 waren zwischen 26 und 28 Prozent aller Gewerkschaftsmitglieder arbeitslos, fast ein Viertel von ihnen stand in Kurzarbeit.65 Viele Arbeitnehmer sahen in den Gewerkschaften offenbar einen „Versicherungs-

63 Vgl. Winkler 1988, S. 29; Potthoff 1987, S. 44 f. 64 Weber, Petra: Gescheiterte Sozialpartnerschaft – Gefährdete Republik? Industrielle Beziehungen, Arbeitskämpfe und der Sozialstaat. Deutschland und Frankreich im Vergleich (1918-1933/39), München 2010, S. 758. 65 Winkler 1988, S. 28 f.

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verein“, der Arbeitslose und Streikende mit Geld versorgen sollte.66 In den 1920er Jahren machten die Unterstützungen für Arbeitslose und Streiks rund 45 Prozent des Etats aus, beanspruchten in den vornationalsozialistischen 1930er Jahren gar 55 Prozent. Das überforderte die Gewerkschaften finanziell und machte sie für viele Erwerbspersonen unattraktiv. Weil sie sich zu 95 Prozent aus den Einnahmen ihrer zunehmend zahlungsschwachen Mitglieder finanzierten, überstiegen ab 1930 die Ausgaben die Einnahmen – und das im Kaiserreich geschaffene Vermögen war zuvor gleichsam als späte Rache an den vermeintlich „vaterlandslosen Gesellen“ von der kriegsbedingten Inflation aufgezehrt worden. Insbesondere die Jugend, die nach dem Ersten Weltkrieg einen großen Anteil an der Gesamtzahl der Arbeitnehmer hielt, war Opfer der wirtschaftlichen Situation, blockiert, gar eine überflüssige Generation.67 „Unübersichtlichkeit und Perspektivlosigkeit“ waren in den 1920er Jahren das „Signum der Jugend zwischen Krieg und Krise“.68 Viele Jugendliche wuchsen in Perspektivlosigkeit, Trübsal und mit ständigen Verlust- oder Mangelerfahrungen auf: In ihrer unmittelbaren Nähe wurden Eltern, Geschwister und Freunde arbeitslos, ihre Lehrstellensuche konnte vergeblich sein, und wenn sie nicht gänzlich erwerbslos waren, schlugen sie sich oftmals mit Hilfs- oder Gelegenheitsarbeiten durch – ihr Weg in die Dauerarbeitslosigkeit schien oftmals vorgezeichnet. Diejenigen Arbeiter-Jugendlichen, die unter Zukunftsängsten litten, für sich keinerlei Aufstiegsoption sahen und nicht über die Familie und Organisationen fest in das katholische oder sozialistische Milieu eingebunden waren, erlagen zumeist der Anziehungskraft militarisierter Bünde, radikaler Ansichten, schließlich der NSDAP. Die Gewerkschaften hatten ihnen indessen augenscheinlich nichts zu bieten. Dabei waren Sicherheit und Aufstieg für die Gewerkschaftsklientel ungemein wichtig. Die Facharbeiter orientierten sich überwiegend am Lebensstil von Angestellten, worin sich ihr Ziel ausdrückte, ihrer minderwertigen Herkunft zu entfliehen und hinsichtlich Bildungsniveau und Einkommen in die nächsthöhere Sozialschicht vorzustoßen. Im Kaiserreich schien das angesichts einer offensichtlich festgefügten sozialen Schichtung – dem marxistischen Vernehmen nach gar einem Antagonismus der Klassen –, noch schwerlich möglich. Doch mit der Demokratie und der Republik verband sich nach 1918 auch das Versprechen auf soziale Mobilität, auf mehr Bildung, Geld und Ansehen. Und die Gewerkschaften sollten, so meinten vermutlich die meisten aus ihrer Klientel, mithelfen, diese Wünsche zu verwirklichen. Aufgrund des politischen Systemwechsels waren die

66 Vgl. hierzu Potthoff 1987, S. 69 (Zitat ebd.). 67 Vgl. Peukert 1987, S. 38. 68 Ebd., S. 309; vgl. folgend ebd., S. 175 u. S. 302.

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Erwartungen an sie im Vergleich zur Vorkriegszeit daher deutlich gestiegen. Doch wie gesagt: Die Realität der Weimarer Jahre sah ganz anders aus. Aufstiegsorientierte Arbeiterfamilien versuchten weiterhin, ihren erreichten Status zu demonstrieren, sich nach unten abzugrenzen und ein Bewusstsein für Hochkultur zu dokumentieren, das ihnen höhere Schichten in Abrede stellten.69 Dadurch gestalteten sie ihre Lebenswelt entgegen der auf proletarischen Avantgardismus gerichteten Hoffnungen ihrer politischen Anführer oftmals kleinbürgerlich: Sie hängten sich gerne Fotografien und Ölbilder an die Wand, sammelten Nippes aus Glas und Porzellan und erteilten Jazzmusik eine Abfuhr.70 Das Heiligtum einer jeden Arbeiterfamilie war die „gute Stube“ – das bestausgestattete und gepflegteste Zimmer der Wohnung, zu dem die Eltern den Zutritt an ungefähr 363 Tagen im Jahr untersagten, um sie unter keinen Umständen auch nur geringfügig zu lädieren. Dort standen Regale und Kommoden, vollgestellt mit Porzellan; viel Erspartes floss in diese – aus heutiger Sicht kuriose – WohnVitrine, wofür die Familie in den übrigen Zimmern der Wohnung auf vieles verzichten musste. Denn aus der Perspektive einer sozialen Hierarchie betrachtet, symbolisierte der Raum den sorgsam gewahrten Abstand zum Unten und die Nähe zum erstrebten Oben. Für die Finanzierung dieser bescheidenen Lebenswelt benötigten die Arbeiter allerdings sichere Jobs und ein nicht allzu niedriges Einkommen. Dennoch: Während das politische System seiner Verfassung nach deutlich demokratischer, liberaler und sozialer geworden war, blieb der Alltag der Arbeiterschaft hinter diesem formalen Fortschritt zurück. Einkommen und soziale Mobilität veränderten sich kaum, zumindest nicht zum Besseren. Im Kaiserreich wie auch in der Weimarer Republik waren Arbeiter in der Regel in ihren Existenzbedingungen gefangen, der Zugang zu hoher Bildung blieb den Arbeitersöhnen und -töchtern ungeachtet von Fleiß und Begabung zumeist verwehrt.71 Mancherorts war die Lage der Menschen derart schlecht, dass sich die Frustration in Gewalthandlungen entlud, wie die Kriminalitätsstatistik nachweist. Gewaltausbrüche erreichten ihren Höhepunkt vor allem samstags und sonntags, da an diesen Tagen viel getrunken wurde. Trotz fleißiger Arbeit und bescheidener Le-

69 Vgl. Rosenbaum, Heidi: Proletarische Familien. Arbeiterfamilien und Arbeiterväter im frühen 20. Jahrhundert zwischen traditioneller, sozialdemokratischer und kleinbürgerlicher Orientierung, Frankfurt am Main 1992, S. 174-179. 70 Vgl. Winkler 1988, S. 146-149. 71 Vgl. zu diesem Absatz ebd., S. 88 f., S. 111 u. S. 116-119; Dehn, Günther: Proletarische Jugend. Lebensgestaltung und Gedankenwelt der großstädtischen Proletarierjugend, Berlin 1929, S. 55.

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bensführung blieb der finanzielle Abstand der Arbeiterhaushalte zu denen der Angestellten und Beamten bestehen, wurde allenfalls durch Finanzdebakel wie die Inflation verringert. Arbeiterfamilien hatten im Durchschnitt mehr als 1000 Reichsmark weniger jährliches Einkommen als Angestellte und Beamte; obendrein lebten in ihren Wohnungen mehr Menschen – bei Angestellten waren es durchschnittlich 3,3 Personen, bei Arbeitern hingegen 4,6. Dabei: Absolut gesehen mochte sich sogar einiges verbessert haben. Massenkonsum und Massenkommunikation öffneten sich den Arbeitern, die hier und da ein Radio besaßen, ins Kino gingen oder eine Theateraufführung besuchten und deren Wohnungsnot sich mit dem allmählichen Übergang zur Kleinfamilie aus Eltern und zwei Kindern im Vergleich zu den vorangegangenen Jahrzehnten deutlich minderte.72 Relativ besehen hatte sich jedoch vieles zum Schlechten entwickelt, war die Kaufkraft des Geldes zurückgegangen, hatten vermeintliche Chancen nicht genutzt werden können und war die soziale Ungleichheit noch immer beträchtlich und frustrierend. Insofern war Weimar eine eigentümliche Transformationszeit, in der sich vieles wandelte, jedoch nur eben nicht schnell genug und manches im subjektiven Befinden letztlich sogar verschlechterte. Wie ist angesichts dieser Bilanz nun aber die Integrationskraft der Gewerkschaften zwischen 1919 und 1933 zu bewerten? Dort, wo die Menschen sozialdemokratischen Arbeitervereinen angehörten, in denen sie ihre Freizeit verbrachten, von deren Solidarität sie Gebrauch machten und mit denen sie schöne Erinnerungen verbanden, waren auch die Gewerkschaften stark und konnten dazu beitragen, diesen Bürgern unübliche Möglichkeiten der Bildung und Kultur zu verschaffen und sie an die Republik zu binden. Doch über die Grenzen dieses Milieus hinaus und jenseits der Facharbeiter mit einigermaßen sicheren und auskömmlichen Jobs – sofern es diese überhaupt gab –, vermochten sie keine Anziehungskraft auszuüben. Die Bürger schlossen sich lieber rechts-, aber auch linksextremen Verbänden an, die häufig bewaffnet, uniformiert und aggressiv waren. Für viele bot sich in der radikalen Umwälzung des politischen und z.T. auch wirtschaftlichen Systems die einzige Option auf ein besseres Leben, eine optimistische Zukunftserwartung. Die gemäßigten Gewerkschaften kamen in einer als völlig instabil und ungewiss empfundenen Zeit schlechterdings nicht gegen die links- und rechtspolitischen Extreme an, an deren Heilsversprechen viele Reichsbewohner nun ihre Hoffnungen richteten, da nicht wenige von den Gewerkschaften enttäuscht waren. Kurzum: Hatten sich zu Beginn der Republik noch viele Arbeitnehmer zukunftsgläubig den Gewerkschaften angeschlossen, begannen die Beschäftigten

72 Vgl. Peukert 1987, S. 306.

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nun, zur Mitte der 1920er Jahre, mangels zufriedenstellender Ergebnisse an der womöglich überschätzten Durchsetzungsstärke der Gewerkschaften zu zweifeln.73 Ihre Unzufriedenheit mit dem materiellen Gewinn ihrer Gewerkschaftsmitgliedschaft nahm zu. Die Arbeitnehmervertreter gerieten in den Verdacht, mit ständigen Streiks und Streikdrohungen die Produktionskraft der deutschen Wirtschaft zu hemmen und damit Arbeitsplätze zu gefährden. In dieser Sichtweise galten sie nicht mehr als Löser, sondern Verursacher volkswirtschaftlicher Probleme. Die damit verbundene Enttäuschung über die tarifpolitischen Resultate fiel umso größer aus, je höher die daran geknüpften Erwartungen gewesen waren. Viele Beschäftigte jener Zeit brachten nur wenig Verständnis für politische Winkelzüge und Kompromisse der Gewerkschaftsfunktionäre auf und fühlten sich um mutmaßliche Lohnerhöhungen gebracht.74 Wer während der Revolutionszeit, 1919/20, den Gewerkschaften beigetreten war, um von deren politischer Macht zu profitieren, gehörte zehn Jahre später zumeist dieser vermutlich nicht unerheblich großen Gruppe Enttäuschter an und verließ die Organisation schon bald wieder. Allenfalls in abgelegenen Regionen, in denen die Nachrichten aus der Reichshauptstadt verspätet ankamen, war die Fähigkeit zur Kritik und Beschwerde bei den Mitgliedern schwach und konnten die örtlichen Funktionäre den Unmut mit ihrem Informationsvorsprung dämpfen und den Bindungsverlust hinauszögern.75 Aber der große Trend ließ sich dadurch nicht umkehren: Viele Arbeiter und Angestellte verließen die Organisationen wieder, in die sie gerade erst eingetreten waren und die sie mittlerweile als Blockierer, Krisenverstärker und Maulhelden empfanden. Fabrik statt Kontor: Anmerkungen zur Integrationskraft Schienen die Gewerkschaften am Ende des Kaiserreichs noch die politischen Stars einer neuen Gesellschaft zu werden, gehörten sie in den folgenden Jahren zu den Abgehängten, den Verlierern der Weimarer Republik. Das hatte seine Ursache vor allem in bedeutsamen Verschiebungen auf dem Arbeitsmarkt: Waren unter Kaiser Wilhelm I. und seinen beiden Nachfolgern neue Arbeitsplätze noch überwiegend in den Bereichen entstanden, in denen die Gewerkschaften über einen funktionierenden Zugriff auf die Beschäftigten verfügten, vermehrten sich nach dem Krieg ausgerechnet solche Gruppen, die keinen Bezug zu den Ge-

73 Siehe Brauer 1924, S. 6. 74 Siehe Cassau 1925, S. 164; Koller, Philipp Alexander: Das Massen- und FührerProblem in den Freien Gewerkschaften, Tübingen 1920, S. 68. 75 So Cassau 1925, S. 111.

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werkschaften besaßen: u.a. Angestellte, Frauen und Heimarbeiter. Es gab Branchen, Berufe, Bildungsgrade, ein Geschlecht und selbst ganze Regionen, die den Gewerkschaften fernstanden. Was aber waren die Ursachen hierfür? In den ersten dreißig Jahren des 20. Jahrhunderts erfolgte der Aufbruch in die Dienstleistungsgesellschaft – eine Verschiebung der Wirtschaftsstruktur, die den auf Facharbeitern ausgerichteten Gewerkschaften nicht gut bekam. Angestelltenjobs eroberten während der Weimarer Republik zunehmend größere Anteile an der Gesamtbeschäftigung; so stammten z.B. 1925 rund dreißig Prozent aller Erwerbspersonen aus dem Agrarsektor, etwa 45 Prozent waren Arbeiter, während die Beschäftigungsentwicklung im Dienstleistungsbereich bereits an der Dreißigprozentmarke kratzte.76 Obwohl die Angestellten erst in den 1980er Jahren zur dominanten Arbeitsmarktgruppe anwuchsen,77 gab es einen klaren Trend des Beschäftigungszuwachses außerhalb der Orte, an denen Gewerkschaften bis dahin stark gewesen waren. Doch hielt die Gewerkschaftsmitgliedschaft mit dieser Entwicklung nicht Schritt. Bereits damals war sie aufgrund ihrer überlieferten Organisationskultur dazu nicht in der Lage: Aus den frühesten Tagen des Industriezeitalters rührt die innere Trennung der Arbeitnehmerschaft in Arbeiter und Angestellte.78 „Die Differenz zwischen Hand- und Maschinenarbeit einerseits, Kopf-, Schreib- und Aufsichtsarbeit andererseits spaltete auch in den frühen Fabriken, Bergwerken und Manufakturen die Arbeitnehmerschaft in zwei Teile, in eine Welt der Arbeiter und eine der Angestellten. Die eine war eher schmutzig, laut, abnützend und produktiv, die andere sauber, leise, stilisierbar, mit Informationen und Papier, statt mit Sachen und Werkzeugen befasst, physisch nicht fordernd, oft sitzend, statt stehend.“79 Dabei verdienten Angestellte nicht unbedingt viel besser als (gelernte) Arbeiter und waren gleichfalls abhängig beschäftigt. Obwohl sie sich also formal nicht stark voneinander unterschieden, schien es doch eine große kulturelle und mentale Kluft zwischen diesen beiden Arbeitnehmerkategorien zu geben. Die Tätigkeit der Angestellten glich jener der Arbeitgeber, war jedenfalls weit entfernt von den Arbeiterkollegen. Zumeist waren sie, die hämisch „Steh-

76 Vgl. Winkler 1988, S. 13 f. 77 Vgl. Hemmer, Hans-Otto/Milert, Werner/Schmitz, Kurt Thomas: Gewerkschaftliche Politik unter der konservativ-liberalen Regierung seit 1982, in: Hemmer, Hans-Otto/ Schmitz, Kurt Thomas (Hg.): Geschichte der Gewerkschaften in der Bundesrepublik Deutschland. Von den Anfängen bis heute, Köln 1990, S. 413-458, hier S. 418. 78 Vgl. dazu Kocka 1990, S. 504 ff. 79 Ebd., S. 505.

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kragenproletarier“80 Genannten, zudem räumlich getrennt – die einen im Büro, die anderen in der Werkstatt, Fabrik oder im Stollen. Aus der Richtung der Angestellten, der Administration des Betriebs, kamen ja auch schließlich die schlechten Nachrichten: Entlassungen, Lohnkürzungen, verlängerte Arbeitszeiten. Außerdem bezogen Angestellte ein festes Gehalt, statt wie die Arbeiter am Zahltag für schwankenden Lohn anzustehen, speisten in einem Casino, statt in der Kantine zu essen, saßen am Schreibtisch, statt am Hochofen oder der Maschine zu schwitzen. Und waren es nicht die Arbeiter, die im Gegensatz zu den Angestellten echte, materiell greifbare Werte in Gestalt von Häusern, Automobilen oder Werkzeugen schufen? Insbesondere Gewerkschaften, die nicht einen bestimmten Beruf, sondern eine ganze Branche mit zahlreichen Berufen organisierten, litten unter dieser Spannung zwischen den beiden Berufsständen. Zusätzlich spielte der Berufsstolz eine erhebliche Rolle – aus ihm bezogen Gewerkschaften eine große Rekrutierungs-, aber auch eine eingeschränkte Integrationskraft.81 Die Maschinenbauer waren stolz, eine vielseitige und vergleichsweise saubere Arbeit zu verrichten. Die Maurer wiederum waren in ihrer häufig eintönigen Arbeit schmutzig und verschwitzt – doch das verband sie untereinander und motivierte sie, dieser Identität im Rahmen einer eigenen Organisation Ausdruck zu verleihen. Aufgrund all dessen dürfte die Mehrheit der Arbeiter auch gar nicht daran interessiert gewesen sein, dass Angestellte in großem Ausmaß Mitglied in den Gewerkschaften würden, die sich ja stets als proletarische Kampfverbände verstanden hatten. Umgekehrt wollte sich vermutlich die Mehrzahl der Angestellten nach unten abgrenzen, von jenen vermeintlich bemitleidenswerten Existenzen, die in den lärmenden Fabrikhallen schufteten oder in die dunklen Stollen hinab fuhren. Sie waren ja zumeist Aufsteiger, die als Kinder von Facharbeitern den Weg aus der Arbeiterschaft heraus geschafft hatten, die nun gediegener gekleidet waren und sich häufig im Umgang mit Menschen aus der bürgerlichen Lebenswelt übten. Keiner Branchengewerkschaft anzugehören, die auch – und meist vornehmlich – für Arbeiter Politik machte, gehörte wiederum zu ihrer Identitätsbildung. Mit dem beruflichen Aufstieg in die Angestelltenschicht entfernten sie sich – bereits in den Jahren der Weimarer Republik – langsam, aber sicher aus dem Arbeitermilieu.82 In der Stadtbahn lösten sie ein Ticket für die zweite, nicht mehr die dritte Klasse, gingen statt in die Kneipe ins Café. Schon das Elternhaus eines frischgebackenen Angestellten gehörte in der Regel zur oberen Schicht der Arbeiter-

80 Bspw. nach Dehn 1929, S. 69. 81 Siehe hierzu auch Brauer 1924, S. 18; Dehn 1929, S. 64 f.; Dissinger 1929. 82 Dazu siehe Dehn 1929, S. 70-77.

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schaft, da die Ausbildung bspw. auf einer Handelsschule die Versorgung der betreffenden Tochter oder des Sohnes vorausgesetzt hatte, die in dieser Zeit nichts verdienten und dabei stets akkurat gekleidet sein mussten. Eine Gewerkschaftsmitgliedschaft passte ganz einfach oft nicht zu ihrem bürgerlichen Umfeld und ihrer Aufstiegsorientierung. Im Gegenteil gehörte die Abkehr von proletarischen Organisationen sogar zu ihrem Lebensentwurf. Auch hatten sie andere Interessen und Bedürfnisse. So plagten sie kaum mehr Existenznöte; denn solange sie eine Anstellung besaßen, garantierte ihnen ihr Gehalt genügend Geld für den genügsamen Lebensunterhalt, was die Bedeutung der Gewerkschaft als Spender von Schutz und Geborgenheit verminderte. Hinzu kamen ein geringes Politikinteresse und eine schwache Loyalität gegenüber der abgestreiften Herkunft. In den Jahren der Weimarer Republik waren die Metall- und Bauarbeiter die politisch interessiertesten Arbeitnehmer, wohingegen bspw. Verkäuferinnen und Verkäufer als unpolitisch galten.83 Angestellte blieben dem linken Lager häufig fern, da sie sich an der politischen Haltung ihres Chefs, manchmal auch der Kundschaft des Gewerbes orientierten, bisweilen die Töne und Umgangsformen der Arbeiter als grob und derbe empfanden. Hinzu kam eine bedeutsame Veränderung der Gesetzeslage: Im Unterschied zum Kaiserreich war es Angestellten und Beamten in der Republik nämlich gestattet, sich in eigenen Verbänden zusammenzuschließen – dies erleichterte und förderte den Abstand zu den Arbeitern.84 Kurzum: Als Organisationen, die augenfällig den Arbeiterschichten zuneigten und in denen berufsstolze Arbeiter versuchten, sich von Angestellten mit eigener Kultur und Identität abzugrenzen, waren Gewerkschaften schwerlich in der Lage, die Kluft zwischen diesen beiden Arbeitnehmerkategorien zu überbrücken und für beide zugleich attraktiv zu sein. Dafür waren in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts die sozialen Unterschiede und Vorurteile dieser Gruppen noch zu groß. Und so erging es während der 1920er Jahre den Gewerkschaften nicht viel anders als der SPD: Die Gesellschaft veränderte sich zu ihren Ungunsten, ihre Kernklientel, die Arbeiter, war eine schrumpfende Gruppe, deren Anteil an der Bevölkerung bereits auf unter fünfzig Prozent zurückgegangen war, während gleichzeitig die Anteile von Angestellten und Beamten beständig zunahmen.85

83 Vgl. ebd., S. 49.53. 84 Vgl. Schönhoven 2003, S. 48 f. 85 Vgl. dazu auch Lösche, Peter/Walter, Franz: Die SPD. Klassenpartei – Volkspartei – Quotenpartei. Zur Entwicklung der Sozialdemokratie von Weimar bis zur deutschen Vereinigung, Darmstadt 1992, S. 11-14.

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Neben der Statusgruppe der Angestellten erwies sich auch das Geschlecht als Bestimmungsfaktor der Mitgliederentwicklung. Gewerkschaften waren ihrer Mitgliedschaft nach ausgesprochen männlich. Frauen waren während des Kaiserreichs und der Weimarer Republik in den Karteien der Gewerkschaftszentralen viel seltener aufzufinden, als man sie in der realen Erwerbswelt, in Fabriken, Warenhäusern und Kontoren, antreffen konnte. Denn in den 1920er Jahren wurde die Erwerbswelt deutlich femininer als vor dem Krieg. Überall entstanden nun Büros mit Verwaltungskräften, wodurch die Zahl der weiblichen Angestellten und Beamten zehnmal so stark wie bei den Arbeitern stieg (von zwei auf zwanzig Prozent gegenüber 18 auf zwanzig Prozent).86 Daran trugen die Gewerkschaften zum großen Teil selbst schuld.87 In den Gewerkschaften gewährten die Männer den Frauen nicht den Grad an Emanzipation, den sich Frauen erhofften und den sie auf dem Arbeitsmarkt z.T. erreichten. Und sie beriefen überdies ungern Frauen in leitende Positionen. Die Verhältnisse im Berufsleben mochten feministischen Idealen kaum entsprochen haben, doch in den Gewerkschaften taten sie es vielleicht sogar noch weniger. Darin waren die Gewerkschaften Kinder der damaligen Zeit: Denn in der Weimarer Gesellschaft der 1920er und frühen 1930er Jahre „schwankte die Stellung der Frauen zwischen Privilegierung und Diskriminierung, zwischen Emanzipation und neuer Unterordnung“88. Sodann gab es Berufe und Branchenstrukturen, die sich für die Gewerkschaftsorganisation schlecht eigneten. An die Heimarbeiterinnen kamen die Gewerkschaften z.B. partout nicht heran.89 Denn die Produkte, die sie herstellten – vorwiegend Spielzeuge und Kleidung –, fertigten sie nicht im vergleichsweise öffentlichen Raum einer Fabrik, sondern in der privaten Abgeschiedenheit der häuslichen Werkstatt. Das Heimarbeiterwesen war in Gegenden verbreitet, in denen die Böden unfruchtbar und die Verkehrslage unwegsam waren, z.B. in der Rhön, dem Erzgebirge und Thüringer Wald. 1925 umfasste diese Gruppe etwa 405.000 Menschen. Sie waren die Geringverdiener der Weimarer Republik schlechthin. Als Korbflechter im Barackenheim, Pseudo-Selbstständige in der heimischen Werkstatt fristeten sie ein vereinzeltes Dasein, empfanden sie weder Klassenidentität noch Solidarität. Rechtsverstöße der Arbeitgeber blieben meist ungeahndet, da angesichts der stillschweigenden Machtverhältnisse niemand gegen sie aufzubegehren wagte. Gerade in dieser Schicht des Arbeitsmarkts, in der gewerkschaftlicher Schutz am nötigsten war, war er am geringsten vorhanden.

86 Vgl. Winkler 1988, S. 18. 87 Vgl. dazu Cassau 1925, S. 98. 88 Wirsching 2010, S. 95. 89 Vgl. Winkler 1988, S. 104-108.

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Ihre Rekrutierungsstrategie und Organisationskultur ermöglichte den Gewerkschaften den sicheren Zugriff auf bestimmte Arbeitertypen. Gleichwohl beinhaltete dies auch den Nachteil der Beschränkung. Von der Kernklientel abweichende Typen erreichten sie durchaus weniger gut. Und deshalb organisierten die Gewerkschaften auch keineswegs die gesamte Arbeiterschaft. Mochten sich innerhalb dieser Kategorie auch größtenteils die Aufstiegschancen und Lebensverhältnisse erheblich gleichen, so gab es dennoch beträchtliche Unterschiede. Entgegen der Vorstellung von einer einheitlichen Gruppe, die der Begriff „Arbeiterschaft“ hervorruft, unterschieden sich Arbeiterfamilien nach Herkunft, Qualifikation, Arbeits- und Lebensbedingungen z.T. stark – das Spektrum reichte vom analphabetischen Fabrikarbeiter bis zum auskömmlich entlohnten Handwerker; aber sie alle einte „die Empörung gegen ihre untergeordnete Position, der Kampf gegen Ausbeutung und soziale Ungerechtigkeit sowie der Gedanke an eine bessere und gerechtere Zukunft“90. Dass sie sich trotzdem nicht unberechtigt zur „Arbeiterschaft“ zusammenfassen lassen, liegt daran, dass sie immer noch genügend ähnliche Eigenschaften besaßen – u.a. die geringe Möglichkeit des gesellschaftlichen Aufstiegs –, um sie sinnvoll gegen andere Gruppen wie z.B. das Großbürgertum oder den Adel abzugrenzen. Dennoch bestand ein wesentlicher Unterschied zwischen gelernten und ungelernten Arbeitern. Arbeiter, die mangels Lehre oder Ausbildung keine formale Qualifikation vorzuweisen hatten, sondern unmittelbar nach der Volksschule in das Erwerbsleben gestartet waren oder eine Lehre nach kurzer Zeit abgebrochen hatten, bildeten eine weitere Gruppe, die Gewerkschaften in der Regel fernblieb. Ungelernte Arbeiter übten keinen bestimmten Beruf aus, sondern arbeiteten als regelrechte Vagabunden des Industriezeitalters in unterschiedlichen Stellungen, wechselten häufig den Arbeitsplatz und waren aufgrund ihrer niedrigen Qualifikation in der Regel leicht zu ersetzen.91 Ihr Leben war unbeständig, denn sie gehörten zu den ersten, die entlassen wurden, verdingten sich überhaupt häufig in befristeten Gelegenheitsjobs. Diese flüchtige Erwerbstätigkeit und ihre im Unterschied zu gelernten Arbeitern deutlich geringere Identifikation mit einem Beruf entzogen sie der Ansprache durch Gewerkschafter. Und sie ließen sich ungern in Disziplinen einbinden: „Ist er [der ungelernte Arbeiter] in seinem Ehrgefühl gekränkt, so wird ihn nichts abhalten aufzutrumpfen und durch eigene Kündigung zu zeigen, dass er auch etwas frei und sich nichts bieten zu lassen brauche.“92 Mit diesem Trotz begegneten Ungelernte ihrer leichten Ersetzbarkeit

90 Vgl. Rosenbaum 1992, S. 289-292 (Zitat auf S. 289); Peukert 1987, S. 304-307. 91 Zu diesem Typus vgl. Peukert 1987, S. 157-167; Dehn 1929, S. 78-91. 92 Dehn 1929, S. 81 f.

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im Produktionsablauf. Viele von den ungelernten, insbesondere jungen Arbeitern lebten für den Augenblick, besaßen keine langfristige Perspektive, keine Karriereaussicht. Vieles ergab sich zufällig und war stets unbeständig. Die Ungelernten brauchten ihr Geld schnell für Vergnügungen aller Art auf. Schon die Aussicht auf frühzeitiges Geldverdienen hatte die meisten von ihnen ja von der Schulbank weg in das Erwerbsleben gelockt, in das „Heer der Handlanger, das innerhalb und außerhalb der Fabrik im Heranschaffen und Fortbringen von Gegenständen, im Putzen, Scheuern, Reinigen, im Zureichen und Verpacken, kurzum im Leisten jedes erforderlichen Hilfsdienstes Verwendung findet“93. Und in der Tat verdienten sie zunächst mit Blick auf gleichaltrige Lehrlinge und Auszubildende auch besser und konnten eine eigenständige Existenz, außerhalb des elterlichen Haushalts, bestreiten. Jedenfalls machte sie all das – der häufige Arbeitsplatzwechsel, die geringe Identifikation mit einem Beruf oder einer Branche, Abneigung gegen Disziplin, frühe Emanzipation von elterlicher Autorität – für Gewerkschaften zu einer vergleichsweise schwer rekrutierbaren Gruppe. Ihre kurze Anwesenheit in einem Betrieb erschwerte den Kontakt mit Gewerkschaftern, sie begehrten keinen organisatorischen Ausdruck von Berufsstolz, mochten keine Autorität und auch kein mahnendes Wort des Vaters gebot ihnen, einer Gewerkschaft beizutreten. Mit den Ungelernten war es im Grunde nicht viel anders als mit den Angestellten: Die Facharbeiter als typische Gewerkschaftsmitglieder grenzten sich von ihnen in ihrem Berufsstolz ab, bezogen aus ihrer höheren Qualifikation und oftmals bedeutsameren Stellung im Produktionsablauf ein Überlegenheitsgefühl. Auch in den Wohnverhältnissen und der Lebensweise drückte sich dieses Unterschiedsbedürfnis der gelernten Arbeiter gegenüber den ungelernten aus. Mit einer abgeschlossenen Lehre entstieg man zwar nicht der Arbeiterklasse. Jedoch ließ sich über Ordnung und Disziplin ein Unterschied ausdrücken: Arbeiterfamilien konnten sich nach unten abgrenzen, indem sie durch häufiges Putzen und Waschen auf Reinlichkeit achteten, eine „gute Stube“ unterhielten und das spärliche Mobiliar pflegten – mit dieser demonstrativen Sorgfalt erschlossen sie sich eine eigene, weitgehend unabhängige Quelle von Respekt und Selbstwert; in den Unterschichten herrschten ganz oft andere Wohnverhältnisse und Hygieneachtsamkeit, dort waren häufig die Betten nicht gemacht, Wäsche und Kleider schmutzig, Schränke wie Stühle heruntergekommen und in den Zimmern lag eine drückende Luft.94 Insofern dürfte ihnen nicht gerade viel daran gelegen gewe-

93 Ebd., S. 87 f. 94 Vgl. ebd., S. 92 f.

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sen sein, dass ungelernte Arbeiter massenhaft Mitglieder ihrer Organisation würden. Jedenfalls: Die Arbeiterschaft war in sich vielfältig, lediglich geeint im Leiden an versperrten Wegen in höhere Gesellschaftsschichten. Während die eine Familie penibel auf Reinlichkeit der Wohnung und Kleidung achtete – so bescheiden diese auch sein mochten – und sich mit dem Besuch einer Volksbühne oder der Bibliothek kulturell interessiert und bildungsbeflissen gab, scherten sich andere Familien nicht um Ordnung und Anstand, vertrieben sich die freie Zeit viel lieber mit Müßiggang. Bei den Kindern dieser Familien zeigte sich der Abstand vielleicht am deutlichsten: Die einen lasen, tanzten und sangen, achteten auf adrette Kleidung, verzichteten auf Alkohol und Zigaretten, halfen im Haushalt der Eltern und verhielten sich sexuell züchtig; die anderen tranken und rauchten, vertrieben sich ihre Zeit in „wilden Cliquen“ auf der Straße, handelten sich aufgrund mangelnder Hygiene während sexueller Abenteuer immer wieder Geschlechtskrankheiten ein. Aufgrund der in sich fragmentierten Arbeiterschaft fiel es den Gewerkschaften auch schon in der Weimarer Republik nicht leicht, bereits geringfügig unterschiedliche Gruppen anzusprechen und zu organisieren. Ihr Integrationspotenzial war folglich schon damals, lange vor den krisenhaften 1980er Jahren, beschränkt. Auch mit dem Nachwuchs des Arbeitsmarkts, mit Jugendlichen, haben die Gewerkschaften seit ewigen Zeiten ihre Probleme. Lehrlinge gerieten erst relativ spät in das Visier gewerkschaftlicher Rekrutierung, nachdem sie aus dem Schatten des Meisters hervorgetreten waren und ihre Berufsqualifikation erworben hatten. Zudem suchten die älteren Gewerkschafter zumeist die Blüte einer eigenständigen Jugendkultur in ihrer Organisation zu unterbinden, wohingegen sich viele Jugendliche allein von den politischen Inhalten der Gewerkschaften nicht sonderlich begeistern ließen und ohne sonstige Anreize fernblieben. Für die Gewerkschaften war das problematisch: Denn in den 1920er Jahren war der Arbeitsmarkt aufgrund der geburtenstarken Jahrgänge der Vorkriegszeit besonders jugendlich – in den Gewerkschaften bildete sich dieser Zustand jedoch nicht ab. Und schließlich waren es mancherorts nicht einzelne Berufe, Branchen oder Altersgruppen, an denen die gewerkschaftlichen Rekrutierungsstrategien versagten, sondern ganze Regionen. Während des Kaiserreichs und der Weimarer Republik lagen solch unzugängliche Gebiete vor allem in Ostdeutschland, wo auf den Rittergütern noch vorsintflutliche Sozialhierarchien herrschten, die an frühneuzeitliche Verhältnisse erinnerten und im Vergleich zu anderen Landesteilen mehr als unzeitgemäß waren – namentlich Pommern, Ostpreußen und Schlesien, wo überhaupt nur sieben bis acht Prozent der Landarbeiter einer Gewerkschaft

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angehörten.95 In den ostelbischen Katen waren kaum Gewerkschaftsmitglieder zu finden. Die Junker, auf deren Gütern die Landarbeiter schufteten, betrieben union busting, den rigorosen Kampf gegen Gewerkschaften. Aber auch das Saarland nannte man „Saarabien“, eine aus Sicht der Gewerkschaften besonders ferne und unzugängliche Region.96 Die Ankunft des Fordismus: „Nichts als Sausen und Arbeit“ Allerdings waren die Gesellschafts- und Wirtschaftstruktur des Deutschen Reichs nach dem Ersten Weltkrieg für Gewerkschaften keineswegs eindeutig positiv oder negativ, sondern sowohl nachteilig als auch vorteilhaft. Zunächst zu den förderlichen Bedingungen: Erstens gab es eine zweifache Konzentration der Beschäftigung. Zum einen tummelten sich die Arbeitnehmer so stark wie nie in einzelnen Branchen – Metallbau, Bergbau und Chemie; und zum anderen vor allem in Großbetrieben.97 Diese beiden Bereiche waren zugleich die Mitgliederhochburgen der Gewerkschaften. Zu ihnen hatten sie mit ihren Rekrutierungsstrategien Zugang gewonnen und profitierten infolgedessen von deren Wachstum. Jedoch wohnte zunächst nur ein Viertel aller Arbeiter in Großstädten, arbeitete nur ein Sechstel von ihnen in einem Großbetrieb. Zweitens gab es einen technologischen Wandel, genauer: erhöhte sich der Grad der Mechanisierung. Zwischen 1925 und 1928 führten viele deutsche Betriebe das Fließband ein, an dem fortan Karosserien, Radios und Motoren montiert wurden. Diese fordistischen Produktionsmethoden aus den Vereinigten Staaten läuteten in Deutschland eine Zeit der technischen Rationalisierung ein. Die Fließbandmontage gefiel den meisten Arbeitern sogar, weil sie oftmals entlastete; weniger hingegen behagte der damit häufig verbundene Akkordlohn, das anstrengende Mithalten mit der Maschine. „Nichts als Sausen und Arbeit“98, wie es seinerzeit hieß. Auch sonst ersetzten mechanische Geräte die Handarbeit und erleichterten und beschleunigten damit die Produktion: So waren vor dem Ersten Weltkrieg lediglich fünf Prozent der Kohle mit Bohrhämmern und Schrämmmaschinen gefördert worden, 1926 dagegen bereits zwei Drittel. Daneben kam Anfang der 1920er Jahre der Taylorismus auf, bei dem Firmen unter Zuhilfenahme wissenschaftlicher Erkenntnisse mit der geschickten Platzierung von Arbeitspausen experimentierten, um bei ermüdenden Arbeitsvorgängen die menschliche

95 Vgl. Winkler 1988, S. 99 ff. 96 Vgl. Schönhoven 1987: Gewerkschaften als Massenbewegung, S. 211. 97 Vgl. hier und folgend Winkler 1988, S. 22 ff., S. 33, S. 64-67 u. S. 73. 98 Zitiert nach ebd., S. 67.

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Leistungskraft hoch zu halten. Der Produktivitätsanstieg war gewaltig: In den Weimarer Jahren erhöhte sich die Effektivität der deutschen Wirtschaft gegenüber der Vorkriegszeit beträchtlich: Ein Hochofen leistete 1927 doppelt so viel und Grubenarbeiter förderten 10.000 Tonnen mehr Kohle am Tag als noch 1913. Und drittens benötigten die Maschinenparks zur Wartung und Bedienung immer mehr Facharbeiter – das damals bereits typische Gewerkschaftsmitglied also. Aufgrund von langen Einarbeitungszeiten und ihrer ständig wachsenden Vertrautheit mit dem Produktionsprozess innerhalb eines Unternehmens waren sie weitaus weniger leicht zu ersetzen als ihre un- oder angelernten Kollegen. Diese geringere Austauschbarkeit führte zu einer niedrigeren Häufigkeit des Arbeitsplatzwechsels,99 damit jedoch zugleich zu einer festeren Gewerkschaftsbindung. So kapitalistisch die Unternehmen dieser Branchen auch geführt sein mochten, so wichtig waren sie doch für die gewerkschaftliche Stärke. Die Gewerkschaften waren gefragt: Abhilfe in entbehrungsreichen Zeiten Vieles mochte sich also durch Maschinen und elektrische Werkzeuge vereinfacht haben. Aber trotz aller Modernisierung waren die Arbeitsbedingungen für Arbeiter nach wie vor drückend, das Bedürfnis nach einem Einschreiten einer mächtigen Interessenvertretung daher weiterhin groß. Die Arbeitszeiten waren lang und der Urlaub kurz. In den 1920er Jahren kamen deutsche Arbeitnehmer im Vergleich zu Kollegen anderer Länder auf die längste Wochenarbeitszeit.100 Große Teile der Industriebeschäftigten hatten keinen Achtstundentag, sondern malochten 48 oder 54 Stunden pro Woche – die 35-Stunden-Woche war noch Zukunftsmusik. Urlaub war äußerst schwer zu bekommen und lag überhaupt anfangs nur bei drei Tagen im Jahr; im Baugewerbe war er darüber hinaus an eine ununterbrochene Betriebszugehörigkeit von vierzig Wochen gekoppelt, die viele Arbeiter aufgrund häufiger Stellenwechsel gar nicht erreichten. In dieser Zeit kämpften Gewerkschaften daher vor allem um Arbeitszeitverkürzung. Daneben waren die Arbeiter in den Betriebsstätten einer hohen Lärmbelästigung und vielerlei Gefahren ausgesetzt. Ein typisches Arbeitsumfeld der Weimarer Republik würde heutigen Arbeitsschutzexperten vermutlich die Haare zu Berge stehen lassen: Dazu gehörten eine lärmende Kakophonie aus den allgegenwärtigen Geräuschen von Dampfhämmern, Schmelzöfen und Sägen, dazu stechende Gerüche sowie Ruß und Rauch, ein militärisches Rangverständnis

99

Vgl. Peukert 1987, S. 153-156 u. S. 161 ff.

100 Vgl. hier und folgend Winkler 1988, S. 58-62.

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durchsetzungsstarker Vorgesetzter, nicht zuletzt die ständige Angst vor der prompten Entlassung.101 Insbesondere Beschäftigte in Ziegel- und Porzellanfabriken, Bergleute und Metallschleifer arbeiteten unter großem Tuberkuloserisiko. Erst nach und nach wurden in den 1920er und frühen 1930er Jahren gefährliche Sulfate verboten. Die gesundheitszehrende Mühsal eines deutschen Arbeiters drückte sich im beklemmenden Ambiente der Industriegesellschaft des frühen 20. Jahrhunderts aus: triste Halden, verpestende Schlote, fahle Gesichter dürrer Gestalten. Und als wäre all das nicht genug, führte die andauernde Instabilität der deutschen Wirtschaft auch noch zu einem enormen seelischen Druck. Insbesondere die Kohle- und Stahlproduktion war während der 1920er Jahre stark krisenanfällig. Die Angst vor Entlassung machte viele Arbeiter gefügig, sich widerstandlos schlecht bezahlte Mehrarbeit aufbürden zu lassen. Neben den Arbeits- waren auch die Lebensbedingungen der Arbeiterschaft geeignet, um ein großes Bedürfnis nach einer Schutzmacht zu wecken, die für Verbesserungen sorgte. Im Gegensatz zur zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts herrschten damals noch fundamentale Sorgen und Nöte, strebten die Menschen nach materieller Befreiung statt wie in den 1970er und folgenden Jahren nach postmaterieller Sinngebung. Die gegenwärtige Sozialgesetzeslage der Bundesrepublik mag zwar aus Gründen des relativen Wohlstands den Betroffenen Sozialgeld- oder Hartz-IV-Empfängern Kopfzerbrechen bereiten, doch dürfte ihr materielles Niveau den Lebensstandard einer der besseren Arbeiterfamilien der 1920er Jahre bei Weitem übertreffen. Frauen durchlebten, zumindest in den frühen 1920er Jahren, besonders schwere Zeiten: Denn „der beste Teil ihres Lebens ist von Schwangerschaften, Wochenbetten- und Stillzeiten ausgefüllt, unterbrochen durch Fehlgeburten, eigene Krankheiten und solchen der Kinder, von denen sie viele vor der Reife wieder hinsterben sehen müssen“102. Außerdem mussten sie sich aufgrund der nahezu ständigen Abwesenheit des Mannes, der den ganzen Tag über arbeitete, und der traditionellen Rollenverteilung um den Haushalt und die Kinder kümmern. Arbeiterfamilien zogen zudem häufig um,103 denn Arbeitsplatzwechsel, mehr oder weniger Geld für die Miete sowie der Zuwachs durch Kinder konnten schnell die Aufgabe der Wohnung erforderlich machen. Das Haushaltseinkommen reichte in der Regel nur für die Aufrechterhaltung des täglichen Lebens; im Sparstrumpf wuchsen daher keine großen Summen heran, Eigentumswohnungen oder die Miete in einer Neubauwohnung waren meist unerfüllbare Träume. Die Räume waren spärlich eingerichtet, pro Zimmer,

101 Für diesen Absatz vgl. ebd., S. 36, S. 67 f., S. 94 f. u. S. 160 ff. 102 Zitiert nach ebd., S. 97. 103 Rosenbaum 1992, S. 165 ff.

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oft auch pro Bett schliefen stets mehrere Kinder, auch unterschiedlichen Geschlechts. Kinder und Eltern wuschen sich in der Küche, weil es kein Badezimmer gab. Die Räume waren meistens nicht lichtdurchflutet, sondern düster. Die Wohnungsnot und das Quartierselend waren im Großen und Ganzen zwar rückläufig, doch noch ziemlich weit von den Wohnverhältnissen in der wirtschaftsverwunderten Bundesrepublik entfernt. Das Zentrum der Arbeiterwohnung war die Küche; dort befanden sich Heizung und Wasseranschluss; die Mutter kochte und wusch, die Kinder machten Schularbeiten, die Familie aß dort.104 In diesen engen Wohnverhältnissen kam die Autorität der Eltern ganz besonders zur Geltung – erst Recht, solange die Kinder nichts zum Haushaltseinkommen beisteuerten. Für Arbeiter war aufgrund dieser erzwungenen Intimität und räumlichen Konzentration die Familie die politisch prägende Instanz. So konnte sich z.B. die sozialdemokratische Organisationsbindung des Vaters leicht auf den Sohn übertragen. Anschließend prägte nochmals der Betrieb, in den man als Proletarierkind nach dem Besuch der Volksschule bereits im Alter von vierzehn Jahren gelangte.105 Während sich im Verlauf der Bundesrepublik die Ausbildungszeiten zunehmend verlängerten, lernten die Jugendlichen der Weimarer Republik bereits sehr früh die raue Arbeitswelt kennen. Dort machten die Arbeitnehmer sogleich die Erfahrung, einem gemeinsamen Schicksal ausgeliefert zu sein, was zusammen mit Plaudern, Scherzen und Schimpfen eine Gruppenidentität beförderte.106 Dieses Bewusstsein, einer bestimmten Schicht der Gesellschaft anzugehören, festigte auch das Leben im Arbeiterquartier, in dem die zwischenmenschlichen Kontakte zwar nicht allzu emotional gewesen waren, jedoch die Nachbarn untereinander ganz oft dasselbe Schicksal teilten, mit denselben Problemen zu kämpfen hatten. Außerdem begegneten sich die Bewohner eines großstädtischen Arbeiterquartiers täglich im Treppengang, auf dem Hinterhof oder in der Kneipe, arbeiteten ganz oft im selben Betrieb. Aus der Erfahrung ihres eigenen Lebens wussten sie dann die Lebens- und Arbeitsbedingungen ihrer Nachbarn und Kollegen sehr gut einzuschätzen. So war es möglich, dass sich die Menschen auch trotz der weitgehenden Anonymität flüchtiger Nachbarschaftskontakte und des andauernden Austauschs der Quartiersbewohner „kannten“, einander nicht fremd waren und füreinander Verständnis aufbrachten. Auch das wirkte sich förderlich auf die Bindung an die Gewerkschaften aus, die sich ja den Kampf für soziale Rechte auf ihr Panier geschrieben hatten. Es war das Leben im sozialdemokra-

104 Vgl. hier und folgend Rosenbaum 1992, S. 173 f.; Winkler 1988, S. 151-155 105 Vgl. Winkler 1988, S. 160; Dehn 1929, S. 50 f. 106 Im Folgenden vgl. Ritter/Tenfelde 1992, S. 810-817.

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tisch durchwirkten Arbeiterquartier, das die – positive – Einstellung zu den Gewerkschaften über mehrere Generationen fortschrieb, von Eltern zu Kindern regelmäßig reproduzierte, quasi vererbte. Ferner profitierten die Gewerkschaften von der Bildungs- und Geldarmut ihrer Klientel. Denn auf dieser Grundlage schufen sie Angebote für bedeutsame Bedürfnisse der Arbeiter, gaben ihnen, was Staat und Gesellschaft ihnen vorenthielten. Dazu gehörte Bildung. Bildung war unter den damaligen Gesellschaftsverhältnissen ein Privileg des Bürgertums. Das Bürgertum nutzte Bildungszertifikate, um sich von proletarischen Schichten abzugrenzen und sich dadurch aufzuwerten. Gewerkschaften versuchten, diesen Mechanismus des gesellschaftlichen Unterschieds zu unterbrechen, indem sie die Arbeiter mit Kursen, Büchern und Theater bildeten. Damit glichen sie den kurzen Schulbesuch der meisten Arbeiter aus. Sie gaben ihnen Schulungen, stellten ihnen Bibliotheken zur Verfügung und ermunterten sie zur Lektüre wissenschaftlicher wie belletristischer Literatur.107 Sie machten sich den Aufbau eines eigenständigen, gewissermaßen parallelgesellschaftlichen Kultur- und Bildungswesens mit Volkshochschulen, Volksbibliotheken und Volksbühnen zur Aufgabe, sodass auch die sozial benachteiligten Arbeiter wenigstens theoretisch bei genügender Anstrengung und Ambition mit anderen Schichten konkurrieren, gesellschaftlich und kulturell mithalten konnten. Die gravierend verschiedenen Besitzstände und Statuschancen, die in hohem Grad gesellschaftlich vorherbestimmt waren, halfen letztlich den Gewerkschaften, denn sie brachten ihnen Mitglieder. Ganz ähnlich verhielt es sich im Bereich der Freizeitgestaltung. Heutzutage brauchen die Bürger keine Gewerkschaften mehr, um ihre Freizeit zu genießen, Spaß zu haben, sich zu erholen. Vor den 1960er Jahren, vor allem aber in der Weimarer Republik, war das jedoch völlig anders. Für besinnliche, abenteuerliche oder beschwingende Freizeiterlebnisse waren die Wohnungen zu klein, das Budget zu knapp. Für außergewöhnliche Freizeitaktivität brauchten die Menschen Organisationen wie die Gewerkschaften, weil sie zumeist privat nicht zu finanzieren und auch anderweitig nicht umzusetzen waren. Tanzen, Singen, Fußballspielen, Wandern, Zelten, Radfahren, Lesen oder Debattieren – all das machten zahllose Arbeiter in eigens geschaffenen Organisationen, die häufig von Partei- und Gewerkschaftsfunktionären organisiert und geleitet waren. Der Aufenthalt im örtlichen Gewerkschaftshaus war nichts Seltenes. Die Arbeiter strömten in die Freizeitorganisationen des sozialistischen Milieus nicht etwa aus politischem Interesse, sondern aus einem deutlich hedonistischen Anliegen: Spaß.

107 Vgl. Cassau 1925, S. 140-152; Winkler 1988, S. 131-134.

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Im Vergleich zu vorangegangenen Jahrzehnten war in den 1920er und 1930er Jahren die Zahl von Arbeitern erheblich größer geworden, die sich in ihrer Freizeit im Sport- oder Taubenzüchterverein erholten, mit Politik jedoch kaum in Berührung kommen wollten, sich andere Aktivitäten oder gar Reisen aber nicht leisten konnten.108 Je härter ihr Arbeitsalltag war, umso stärker waren sie in ihrer wenigen Freizeit an kurzweiliger Unterhaltung, an Spaß und Freundschaften, interessiert – sie wollten eben Fußball spielen und nicht Politik machen. In Vereinen suchten Arbeiter Geselligkeit und die Verstetigung der flüchtigen Kontakte aus dem Betrieb und Quartier.109 Segeln, Kegeln, Rauchen, Abstinenz, Singen, Radfahren, Feuerbestattung – für einfach alles und jeden fand sich eine passende Organisation. Und wenn die Anwesenden dort von Funktionären angesprochen wurden, traten sie auch schnell in die Gewerkschaft ein und wählten die SPD. Insofern mochten die Gewerkschaften Vorfeldorganisationen der Partei gewesen sein; doch benötigten sie in Gestalt unterschiedlichster Vereine und Zusammenschlüsse ihrerseits ebenfalls Vorfeldorganisationen. Obwohl dies eine Hochzeit des sozialistischen Organisationsmilieus war,110 deuteten sich bereits damals die Bruchlinien an, die zum Niedergang dieser Eigenwelt führten, aus deren Existenz die Gewerkschaften einen bedeutsamen Teil ihrer Mitglieder schöpften. Denn viele der Freizeitangebote hatten unter der – damals freilich nicht voraussehbaren – Bedingung eines über mehrere Jahrzehnte insgesamt steigenden Lebensstandards und Bildungsniveaus keine Zukunft: Schon damals wuchs die Zahl der Jugendlichen, die lieber ins Kino gingen, um zu Kriegs- und Kriminalfilmen für einen Moment die Sorgen des Alltags zu vergessen,111 anstatt sich mit marxistischer Literatur abzumühen und an Partei- und Gewerkschaftsabenden teilzunehmen. Außerdem mochten junge Arbeiter Vereinen und Verbänden des sozialistischen Milieus angehören, doch sobald sie das nötige Geld dafür aufbringen konnten, nahmen sie auch gerne kommerzielle Freizeitangebote in Anspruch: „Freundesclique, Freizeitkommerz und Verbandsleben zusammen erst strukturierten jene freie Zeit, die den arbeitenden Jugendlichen in den zwanziger Jahren für unsere Maßstäbe noch recht knapp zur Verfügung stand.“112

108 Vgl. Winkler 1988, S. 127 u. S. 143 f. 109 Vgl. Ritter/Tenfelde 1992, S. 824-829. 110 Vgl. u.a. Walter, Franz/Denecke, Viola/Regin, Cornelia: Sozialistische Gesundheitsund Lebensreformverbände, Bonn 1991; Klenke, Dietmar/Lilje, Peter/Walter, Franz: Arbeitersänger und Volksbühnen in der Weimarer Republik, Bonn 1992. 111 Vgl. Winkler 1988, S. 137 ff. 112 Peukert 1987, S. 307 f.

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Vor allem war den Arbeitern die weltanschauliche Position der Organisationsleitungen nicht heilig genug, um sie bei Bedarf dem persönlichen Freizeitinteresse unterzuordnen. Das zeigte sich am stärksten im Arbeitersport. Während es den Arbeitern darum ging, in der Freizeit Erfolge zu feiern, Triumphgefühle auszukosten, die im sonstigen Leben, insbesondere im Job, ausblieben, suchten die sozialistischen Theoretiker den Aspekt von Konkurrenz und Wettkampf innerhalb der Arbeiterklasse einzudämmen – ihrem Ideal nach sollten die Angehörigen derselben Gesellschaftsklasse nicht untereinander wetteifern, sondern Solidarität praktizieren.113 Aber bei vielen jungen Arbeitern spiegelte sich der „Geist des ganz auf den Kampf der Konkurrenz gestellten Zeitalters wider“114. Im Sport konnten sie mit körperlicher Leistung für die Dauer eines Augenblicks ausnahmsweise an der Spitze stehen, auch die Angehörigen höherer Sozialschichten überragen. Von der Unduldsamkeit der Arbeiterorganisationen ließen sich die Arbeiter jedoch nicht beeindrucken und wandten sich dem ideologischen Gegner zu, den bürgerlichen Verbänden. Hier offenbarten sich bereits die Grenzen der Bindungskraft des Milieus, kündigten sich zukünftige Probleme an. Ohnehin ließen sich damals schon nicht alle jungen Arbeiter von den Freizeitangeboten der Arbeiterorganisationen sonderlich begeistern: Viele Arbeiter suchten für ihre Freizeit nicht den Kontakt zu Organisationen, sondern vergnügten sich auf eigene Faust. So ging etwa der junge Maurer am Wochenende „nach Saasa zum Dielenbetrieb“, machte „manchen Huschler“, um anschließend seine „Mausi“ nach Hause zu schaffen und „ihr noch ein Andenken vom Sonntag“ zu geben.115 Einstweilen kam den Arbeitervereinen und -verbänden überdies der vergängliche Umstand einer noch am Anfang ihrer Expansion stehenden Medienvielfalt gegenüber: Erschwingliche und erfüllende Freizeitangebote waren erst allmählich einer wachsenden Zahl von Menschen, vor allem eben den unteren Einkommensschichten, zugänglich. Gegen Ende der 1920er Jahre hatten sich Rundfunk und Film dagegen bereits weiträumig verbreitet und sorgten erstmals für die andauernde Verfügbarkeit von Kultur, auch für minderbemittelte Schichten, die bis dahin wohlhabenderen und gebildeteren Sozialgruppen vorbehalten war.116 Dieser Umstand dürfte den Niedergang der Gewerkschaften in den frühen 1930er Jahren zumindest nicht aufgehalten haben. Aber der Zusammenhang war unverkennbar: Je mehr Gesell-

113 Vgl. Geiges, Lars: Fußball in der Arbeiter-, Turn- und Sportbewegung. Ein zum Scheitern verurteiltes Spiel?, Stuttgart 2011. 114 Dehn 1929, S. 42. 115 Zitiert nach Peukert 1987, S. 298. 116 Vgl. Winkler 1988, S. 138 f.

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schaft und Staat den Arbeitern boten, desto weniger waren diese auf ausgleichende Organisationen angewiesen. * Die 1920er Jahre waren für die Gewerkschaften ein Jahrzehnt der Extreme – gekennzeichnet durch den abrupten Zuwachs von Organisations- und Politikmacht und dem Exitus 1933. Zu Beginn erhielten sie infolge des politischen Systembruchs, zugespitzt: dem Wechsel von der Monarchie in die Demokratie, enormen Zulauf von Arbeitnehmern, die einen politischen Machtgewinn der Gewerkschaften erwarteten und als deren Mitglieder davon profitieren wollten. Außerdem war ihr Status als anerkannter Verhandlungspartner der Arbeitgeberseite noch nie so einflussreich gewesen wie nach 1918. Doch der große Gewinn von Mitgliedern und politischer Macht verflüchtigte sich bis zum Ende der Weimarer Republik. Viele Arbeitnehmer wandten sich enttäuscht ab, da ihnen die Gewerkschaften keine Lohnerhöhungen und Jobs gebracht hatten, sie stattdessen dem „wilden Spiel der Konjunkturen“117 ausgeliefert waren. Die Jahre der Weimarer Republik waren für viele Bürger offenbar dermaßen entbehrungsreich und enttäuschend gewesen, dass sie sicheren Arbeitsplätzen den Vorzug gegenüber persönlichen Freiheiten gaben und im „Dritten Reich“ hierfür sogar staatliche Unterdrückung erduldeten.118 Zunehmend hatte überdies der Staat im Verlauf der Weimarer Jahre die Löhne im Verfahren der Zwangsschlichtung festgelegt – die Arbeitgeber, nicht die Gewerkschaften schienen über politische Durchsetzungskraft zu verfügen, die anfängliche Sozialpartnerschaft hatte sich in eine Sozialkonfrontation umgekehrt, in der die Arbeitgeber- die Arbeitnehmerseite als Verursacher untragbarer Löhne und Lohnnebenkosten darstellte.119 Und am Ende gingen die Gewerkschaften mit der Demokratie unter, wurden aufgelöst und in die nationalsozialistische Deutsche Arbeitsfront über-

117 Heimann 1926, S. 292. 118 Vgl. dazu Dunk, Hermann W. von der: Kulturgeschichte des 20. Jahrhunderts, Bd. II, Frankfurt am Main u.a. 2004, S. 150; Broszat, Martin: Der Staat Hitlers. Grundlegung und Entwicklung seiner inneren Verfassung, München 1978, S. 206 f.; Frei, Norbert: Der Führerstaat. Nationalsozialistische Herrschaft 1933 bis 1945, München 1987, S. 93 ff. 119 Vgl. Potthoff 1987, S. 87-93; Ritter, Gerhard A.: Arbeiter, Arbeiterbewegung und soziale Ideen in Deutschland. Beiträge zur Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts, München 1996, S. 88; Weber 2010, S. 766-819.

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führt; viele ihrer Funktionäre mussten in die Emigration fliehen, wurden verfolgt, gemartert, ermordet.

W IEDERGRÜNDUNG G EWERKSCHAFTEN

ALS ARBEITERORGANISATION : IN DEN 1950 ER J AHREN

Rhetorische Sozialisten: Institutions- und Politikmacht Wie schon 1918/19 konnten die Gewerkschaften in der neuerlichen Umbruchzeit nach dem Zweiten Weltkrieg und dem Kollaps des NS-Regimes ihren politischen Einfluss ausdehnen. Dabei halfen ihnen Schwung und Feierlichkeit des Neubeginns, die lagerübergreifende Suche nach einer gemeinschaftlichen Grundlage und die Bereitschaft, nach der Erfahrung der nationalsozialistischen Machtergreifung und dem Erlebnis der NS-Diktatur weltanschauliche Gegensätze zu überbrücken, einer Zusammenarbeit gegenüber aufgeschlossen zu sein. Das war die „selbstverständliche Lehre aus den zwölf Jahren der Nacht und des Terrors“120. Ihrem politischen Programm gemäß strebten sie nach einem Sozialismus und schienen insofern der marktwirtschaftlichen Ordnung der Bundesrepublik eher ablehnend gegenüberzustehen. Doch ganz im Gegensatz dazu verhielten sie sich kooperativ und stabilisierten dieses System, das schon bald als „Wirtschaftswunder“ charakterisiert wurde. Die extremistisch anmutende Sozialismus-Forderung war zeitgenössischen, vorübergehenden Umständen geschuldet.121 Denn nach dem Zweiten Weltkrieg und dem Nationalsozialismus, die das Sozial- und Wirtschaftssystem Deutschlands zerrüttet hatten, bedurfte der Sozialismus als Gesellschaftsalternative keiner Rechtfertigung und Erklärung, sondern war eine selbstverständlich legitime Alternative. In der gewerkschaftspolitischen Praxis spielte er freilich kaum eine Rolle. Dies hatte jedoch den Nachteil, dass die westdeutschen Gewerkschaften ein ständiger Widerspruch aus rhetorischem Antikapitalismus und praktischem Beitrag zur Systemstabilität innerhalb kapita-

120 Abendroth 1954, S. 37. 121 Vgl. Lademacher, Horst: Neuer Wein und neue Schläuche? Bemerkungen zum Gleichklang europäischer Gewerkschaftsproblematik, in: Langeveld, Herman J. et al. (Hg.): Zwischen Wunsch und Wirklichkeit. Die belgischen, niederländischen und westzonalen deutschen Gewerkschaften in der Phase des Wiederaufbaus 1945-1951, Münster 1994, S. 11-56, hier S. 22.

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listischer Strukturen kennzeichnete.122 Doch beeinträchtigte dieser Aspekt kaum ihren schnell wachsenden Einfluss im politischen System der Bundesrepublik. Organisation der Arbeiterschaft: Politik, Leistungen und Mitgliedschaft Statt für eine sozialistische Gesellschaft zu kämpfen, bauten die Gewerkschaften rasch eine schlagkräftige Organisation auf; statt auf utopische Fernziele konzentrierten sie sich auf handfeste Verbesserungen der Arbeitsbedingungen für eine möglichst große Zahl von Bürgern (z.B. den Achtstundentag und die Fünftagewoche) und darauf, die Beschäftigten am Wirtschaftswachstum teilhaben zu lassen.123 Damit knüpften sie an ihre Politik vor 1933 an, die bis ins wilhelminische Kaiserreich zurückreicht. Sie griffen eine Tradition auf und bewegten sich innerhalb herkömmlicher Pfade eines pragmatischen Arrangements mit einem politischen und wirtschaftlichen System, das ihren Idealen eigentlich nicht entsprach und das sie der weltanschaulichen Treue wegen hätten ablehnen müssen. Doch weshalb hätten sie letzteres tun sollen? Der Bundeskanzler mochte zwar kein Sozialist sein, doch war er bei Weitem kein Gewaltherrscher oder eine Marionette der Wirtschaft, die alsbald einen radikalen Kapitalismus entfesseln würde. Nein, Adenauer suchte den Kontakt zu den Gewerkschaften, versuchte, ihre Interessen zu berücksichtigen und nutzte am Ende die Einnahmen des Wirtschaftswachstums, um auch der Gewerkschaftsklientel, die zugleich einen beträchtlichen Teil seiner Wählerschaft ausmachte, zufriedenzustellen. Davon wiederum profitierten auch die Gewerkschaften, die aus der Sicht ihrer Zielgruppe ganz offenbar politischen Einfluss ausübten und für ständige Verbesserungen der Lebens- und Arbeitsbedingungen sorgten. Sozialer Wohnungsbau, stabile Kaufkraft des Geldes und der Ausbau der sozialen Sicherung ließen die Erinnerung an sozialistische Alternativwelten verblassen und erleichterten es den Gewerkschaftern, sich auf die Lohnpolitik zu konzentrieren. Zunächst profitierten die Gewerkschaften von der postnationalsozialistischen Parteimüdigkeit der Westdeutschen. Viele Arbeitnehmer, so die Vermutung

122 Vgl. Wiesenthal, Helmut/Clasen, Ralf: Gewerkschaften in Politik und Gesellschaft: Von der Gestaltungsmacht zum Traditionswächter?, in: Schroeder/Weßels (Hg.) 2003, S. 296-322, hier S. 301 f. 123 Vgl. Lademacher 1994, S. 16-19; Müller, Werner: Die Gründung des DGB, der Kampf um die Mitbestimmung, programmatisches Scheitern und der Übergang zum gewerkschaftlichen Pragmatismus, in: Hemmer/Schmitz (Hg.) 1990, S. 85-147, hier S. 142-147; Schönhoven 2003, S. 53.

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Wolfgang Abendroths, schlossen sich einer Gewerkschaft an, weil sie politischen Parteien misstrauten und sie infolge der Einparteienherrschaft der NSDAP für diskreditiert hielten.124 Danach hätte das Mitgliederwachstum folglich zu einem Teil auf einer weitverbreiteten Parteienskepsis der Bevölkerung beruht. Ein weiterer Faktor, so erneut Abendroth, habe in dem Gefühl der Beschäftigten bestanden, durch Streiks am Geschehen besonders beteiligt zu sein sowie durch Kampfabstimmungen einer besonders demokratischen Organisationswelt anzugehören. Dieser Deutung zufolge wären Gewerkschaften ein politiknaher Ersatz für die beargwöhnten Parteien gewesen. Auch die strengen Hierarchien und Verhältnisse am Arbeitsplatz spielten den Gewerkschaften zu. In den 1950er und 1960er Jahren, hier ebenfalls ähnlich wie im Kaiserreich und der Weimarer Republik, konnten die Gewerkschaften noch gegen ganz eklatante Missstände einschreiten. In diesen offenkundig rauen Zeiten bot die Gewerkschaft Schutz vor grobem Unrecht und fahrlässiger Gefährdung, konnte man mit ihrer Hilfe eine drastische Verbesserung der Arbeitssituation im Betrieb erfahren, kümmerten sich die Funktionäre um die Einhaltung von Standards, die aus heutiger Sicht banal, damals aber keineswegs selbstverständlich waren. Beispielsweise ging es um das Verbot von Kinderarbeit und die Abschaffung eines üblichen Arbeitstags in zweistelliger Stundenhöhe oder der Sonntagsarbeit. Bereits die Arbeiterführer August Bebel und Carl Legien hatten Ende des 19., Anfang des 20. Jahrhunderts um die große Bedeutung solch fundamentaler, jedoch profaner Ziele, der „Arbeit für oft nur sehr geringe augenblickliche Verbesserungen“, gewusst.125 Mit anderen Worten: Die Gewerkschaften waren stark in Zeiten, als Lehrlinge noch Hiebe des Meisters einstecken mussten, kaum etwas zu essen bekamen und über ihre reguläre Arbeitszeit hinaus den Boden zu fegen hatten. Hier konnten die Gewerkschaftsfunktionäre zu ihren Klienten noch eine fürsorgliche Beziehung aufbauen, als Spender von Mitgefühl und Hilfe auftreten. Ihre Arbeit erbrachte spürbare Resultate, die den Nutzen einer Gewerkschaftsmitgliedschaft deutlich sichtbar machten. Der Kampf gegen dringliche Probleme des Berufsalltags verlor jedoch mit den politischen Erfolgen der Gewerkschaften an Substanz und Ausstrahlungskraft. Je stärker das Benachteiligungsgefühl der Arbeiter in der Bundesrepublik zurückging und die Ansprüche aus einer größer werdenden Zufriedenheit heraus und von einem immer höheren Niveau wuchsen, desto schwächer wurde die Bindung an die Gewerkschaften.

124 Vgl. Abendroth 1954, S. 50 ff. 125 Vgl. Varain 1956, S. 13 ff. (Zitat auf S. 24).

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Was die Mitgliederentwicklung anbelangte, so knüpften die Gewerkschaften an die Zeit der Weimarer Republik an. Auch nach dem Krieg spezialisierten sie sich wieder auf Facharbeiter, die insoweit zu einer Traditionsklientel wurden. Im Jahr 1950 waren von rund 5,5 Mio. Mitgliedern 4,5 Mio. Arbeiter, hingegen nur ca. 625.000 Angestellte und 360.000 Beamte, was einem Arbeiteranteil an der Mitgliedschaft von 81 Prozent entsprach. Im Verlauf der 1950er Jahre änderte sich an der Zusammensetzung der DGB-Mitgliedschaft nicht viel: 1955 lag der Arbeiter-Anteil bei 82 Prozent (fünf von 6,1 Mio.), 1959 bei achtzig Prozent (5,1 von 6,3 Mio.).126 Das hatte seinen Grund vor allem in der Prägekraft der Gründungsgruppe. Nach 1945 erfolgte der Wiederaufbau der Gewerkschaften nicht durch gemeine Arbeiter ohne jegliche Organisationserfahrung. Vielmehr führten ihn einstmalige Funktionäre durch, die bereits in der Weimarer Republik die Geschicke der Organisation gelenkt hatten. Zwar schafften sie die Richtungsgewerkschaften zugunsten von parteiübergreifenden Einheitsgewerkschaften ab und entschieden den langjährigen Widerstreit der beiden konkurrierenden Organisationsprinzipien, dem Berufs- und dem Branchenverband, zugunsten letzterem. Doch insgesamt rekonstruierten sie die Organisationen, in denen sie groß geworden waren, die sie kannten und die ihnen die Nationalsozialisten geraubt hatten. Die bedeutsamsten Weichenstellungen und Organisationsprinzipien waren Elitenbeschlüsse, von wenigen Vorständen getroffen.127 Mit ihrer Organisationserfahrung setzten sie binnen kurzer Zeit ihre persönlichen Organisationsvorstellungen durch und trafen Entscheidungen, die das Schicksal der Gewerkschaften auf Jahrzehnte hinaus bestimmten. Vor allem aber waren Gewerkschaften für viele Arbeitnehmer Organisationen, die zur persönlichen Wohlstandssteigerung beitrugen. In den Augen der „Zusammenbruchsgesellschaft“128, die nach Jahren extremer Erfahrungen nun Ordnung und Normalität begehrte, wirkten sie am Wiederaufbau und der Rückkehr zu wirtschaftlicher Blüte mit. Das war wichtig. Denn die westdeutsche Bevölkerung war im ersten Nachkriegsjahrzehnt beseelt von einem Leistungsdrang, einem „ambitiöse[n] Zeitgeist der Tüchtigkeit“129, der sie antrieb, sich aus eige-

126 Siehe Hemmer/Schmitz (Hg.) 1990, Tabelle 1/S. 463. 127 Mielke, Siegfried: Die Neugründung der Gewerkschaften in den westlichen Besatzungszonen 1945 bis 1949, in: Hemmer/Schmitz (Hg.) 1990, S. 19-83, hier S. 35 ff. u. S. 48 ff. 128 Schwaabe, Christian: Die deutsche Modernitätskrise. Politische Kultur und Mentalität von der Reichsgründung bis zur Wiedervereinigung, München 2005, S. 409. 129 Zahn, Ernest: Soziologie der Prosperität. Wirtschaft und Gesellschaft im Zeichen des Wohlstandes, München 1964, S. 20; vgl. auch Braun, Hans: Das Streben nach

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ner Kraft Sicherheit und Wohlstand zu schaffen. In mehreren Konsumwellen – der „Fress-“, „Bekleidungs-“, „Wohn-“, „Reise-“ und „Motorisierungswelle“ –,130 die allesamt in einem starken Bedürfnis nach steigenden Löhnen und Gehältern mündeten, äußerte sich eine stark materialistische Orientierung. Bis in die 1970er Jahre nutzten die Gewerkschaften die florierende Wirtschaft, um die Menschen an diesen Gewinnen teilhaben zu lassen, und empfahlen sich den Arbeitnehmern damit als Organisationen, die scheinbar verlässlich den Aufstieg der Unternehmen mit denen der Erwerbstätigen verknüpften.

AUF DEM W EG IN DIE W AGENBURG : G EWERKSCHAFTEN IN DEN 1960 ER J AHREN Auch in den 1960er Jahren verkoppelten die Gewerkschaften einen Großteil der Arbeitnehmer mit dem Aufstieg der deutschen Wirtschaft. Ihre Tarifpolitik gründete auf der „Meinhold-Formel“ (benannt nach einem Frankfurter Volkswirtschaftswissenschaftler), die für eine „angemessene Beteiligung der Arbeitnehmer am Produktivitätszuwachs“131 sorgen sollte, somit eine faire Teilhabe der Beschäftigten am Produktionserfolg bezweckte. Gründe, furchtbar unzufrieden mit der Leistungskraft der Gewerkschaften zu sein, hatten die meisten Beschäftigten damals jedenfalls nicht. Erst am Ende des Jahrzehnts regte sich Unmut, der sich sporadisch in nicht genehmigten, „wilden“ Streiks äußerte. Als damals den Gewerkschaften stellenweise die Kontrolle über ihre Klientel entglitt, zeigte sich, wie anfällig das Loyalitätsverhältnis in Wirklichkeit war. Im Herbst 1969 streikten etliche Belegschaften von Unternehmen im Ruhrgebiet für eine angemessene Beteiligung an den offenkundig großen Gewinnen ihrer Arbeitgeber – sie taten dies ohne die Legitimation der Gewerkschaften, je-

„Sicherheit“ in den 50er Jahren. Soziale und politische Ursachen und Erscheinungsweisen, in: Archiv für Sozialgeschichte, Jg. 18/1978, S. 281-306; Tenbruck, Friedrich H.: Alltagsnormen und Lebensgefühle in der Bundesrepublik, in: Löwenthal, Richard/Schwarz, Hans-Peter (Hg.): Die zweite Republik. 25 Jahre Bundesrepublik Deutschland – eine Bilanz, Stuttgart 1974, S. 289-310, hier S. 296. 130 Sontheimer, Kurt: Die Adenauer-Ära. Grundlegung der Bundesrepublik, München 1991, S. 88. 131 Kädtler, Jürgen: Tarifpolitik und tarifpolitisches System in der Bundesrepublik, in: Schroeder/Weßels (Hg.) 2003, S. 344-375, hier S. 353.

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doch unter Anleitung von Gewerkschaftsfunktionären.132 Diese „wilden“ Streiks boten einen Vorgeschmack auf die 1970er Jahre, in denen sich die Unzufriedenheit der Gewerkschaftsmitgliedschaften noch vermehrte. Erstmals ergab sich hier für die Gewerkschaften das Dilemma, widersprüchlichen Erwartungen – denen der Arbeitgeber auf Ruhe und Ordnung sowie denen der Arbeitnehmer auf angemessene Lohnsteigerungen – genügen zu müssen. Streiken letztere zu oft, sieht die Arbeitgeberseite keinen Sinn mehr, mit ihnen zu verhandeln; sind sie allzu zurückhaltend, kehren ihnen die unzufriedenen Arbeitnehmer den Rücken zu. Daher kam es immer wieder in der deutschen Geschichte zu diversen Konjunkturphasen gewerkschaftlicher Organisationsstärke, in Abhängigkeit ihres Konfliktverhaltens, ihrer Lust zu streiken. Zumeist war es so: Die Beschäftigten schlossen sich der Gewerkschaft an, um von den Leistungen ihres Apparats zu profitieren, Streikgelder und Rechtsbeistand in Anspruch zu nehmen. Die Gewerkschaft hingegen versuchte, so wenig wie nötig für Streiks zu mobilisieren, um ihre Tariffähigkeit zu verbessern, die Anerkennung der Arbeitgeberseite zu erwirken. Im Verlauf der Zeit war der konkrete Nutzen einer Gewerkschaftsmitgliedschaft für viele Mitglieder jedoch nicht mehr sichtbar, die persönliche Betroffenheit nahm infolge der Streikvermeidung ab. Und so wuchs ihre Unzufriedenheit mit den gewerkschaftlichen Verhandlungsergebnissen, ohne dass sie irgendeinen anderen Vorzug in der Mitgliedschaft sahen – und sich folglich wieder von der Organisation abwandten. Missglückte der Balanceakt der Gewerkschaftszentralen, drohten somit sowohl die Arbeitgeber wie auch die Arbeitnehmer das Interesse an starken Gewerkschaften zu verlieren. Was die Mitgliedschaft insgesamt betraf, so deutete sich eine Abkopplung der Gewerkschaften vom Arbeitsmarkt an. Denn die meisten Gewerkschaften besaßen eine proletarische Ausstrahlungskraft und waren dadurch gleichermaßen für Akademiker wie Angestellte wenig anziehend. Schon allein der Vorstand der IG Metall z.B. war in den 1950er, 1960er und 1970er Jahren von seinen sozialen Merkmalen her weit von der bundesdeutschen Gesellschaft entfernt. Fast alle Angehörigen waren Arbeiterkinder, über die Volksschule nicht hinausgekommen, geprägt durch ein sozialdemokratisches Elternhaus und eigene frühe Kontakte mit Partei und Gewerkschaft; die meisten von ihnen hatten einen typischen Arbeiterberuf erlernt, waren Schlosser und Werkzeugmacher oder hatten eine andere Ausbildung im Industriebereich absolviert; anschließend waren sie Ju-

132 Vgl. Klönne, Arno/Reese, Hartmut: Zeiten des Umbruchs – Die Gewerkschaften unter der Großen Koalition, in: Hemmer/Schmitz (Hg.) 1990, S. 249-279, hier S. 273278.

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gendfunktionäre und Betriebsräte geworden, nach 1933 in Haft geraten oder arbeitslos geworden, einige hatten in Konzentrationslagern gelitten; nach 1945 bauten sie die Gewerkschaften wieder auf, wurden Betriebsratsvorsitzende, 1. Bevollmächtigte und rückten dann in den geschäftsführenden Vorstand auf.133 Dort führten folglich Charaktere die Organisation, die im Kaiserreich geboren waren, die Propagandaschlachten und Ideologiekämpfe der Weimarer Republik erlebt und geschlagen hatten, die anschließend im Nationalsozialismus verfolgt worden waren. Diese Vorstandsmitglieder – selbiges galt für die meisten Bezirksleiter – waren anachronistisch, entsprachen nicht den Arbeitnehmern, die in den 1940er Jahren überhaupt erst zur Welt gekommen waren und nun auf den Arbeitsmarkt nachrückten. Sie kannten den Arbeitsmarkt der 1920er Jahre, hatten extreme Erfahrungen gemacht – Hungerwinter, Hyperinflation, NS-Martyrium, Krieg. Für sie war z.B. Organisationsloyalität eine Angelegenheit, die nötigenfalls mit dem Tod bezahlt wurde. Kaum jemand aus den jüngeren Kohorten brachte dagegen eine solche, schicksalsgestählte, Organisationsbindung auf. Sowohl 1960 (5,1 Mio. Arbeiter von 6,4 Mio. Mitgliedern) als auch 1965 (5,2 von 6,6 Mio.) waren die Anteile der Arbeiter an der gesamten Gewerkschaftsmitgliedschaft mit rund achtzig und 79 Prozent im Vergleich zum vorangegangenen Jahrzehnt nahezu unverändert hoch.134 Auch 1969 lag der Arbeiteranteil noch bei 75 Prozent. Doch Gesellschaft und Arbeitsmarkt veränderten sich. Frauen im Alter von zwanzig bis vierzig Jahren drängten in die Erwerbstätigkeit; aufgrund der rasanten Mechanisierung in Form von Traktoren und Melkmaschinen suchten viele Landwirtschaftsbeschäftigte ihr Heil in der Industrie; Jobs entstanden hingegen im Dienstleistungsbereich, z.B. bei Banken und Versicherungen – prozentual wuchs die Beschäftigung nicht mehr auf dem Acker, in der Werkstatt oder im Stollen, sondern auf den Bürofluren.135 Die Gewerkschaften hielten mit diesen Entwicklungen nicht Schritt, rekrutierten nicht in ähnlichem Maße Frauen, Angestellte, Dienstleistungsbeschäftigte. Gleichwohl gehörten ihnen kontinuierlich mehr Menschen an; von 1950 bis 1970 war die Mitgliederzahl absolut von 5,5 Mio. auf 6,7 Mio. um etwa 1.263.000 Menschen gestiegen. Sicherlich lag dies an den

133 Vgl. hierzu Merkel, Felicitas (Bearb.): Die Industriegewerkschaft Metall in den Jahren 1956 bis 1963, Frankfurt am Main 1999, S. XXVI-XXXII. 134 Siehe Hemmer, Hans-Otto/Schmitz, Kurt Thomas (Hg.): Geschichte der Gewerkschaften in der Bundesrepublik Deutschland. Von den Anfängen bis heute, Köln 1990, Tabelle 1/S. 463. 135 Vgl. hierzu Schildt, Axel: Die Sozialgeschichte der Bundesrepublik Deutschland bis 1989/90, München 2007, S. 18 ff. u. S. 30-38.

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allgemein günstigen Wirtschaftsverhältnissen, dem zeitweisen Mangel an Arbeitskräften, der den Arbeitnehmervertretungen eine große strukturelle Macht verlieh, wie sie sich seit dem darauffolgenden Jahrzehnt nicht mehr einstellte. Die 1960er Jahre über herrschte Vollbeschäftigung, selbst die höchste Arbeitslosenquote dieses Jahrzehnts betrug (1967) nur etwas mehr als zwei Prozent.

E NTFREMDUNG VOM ARBEITSMARKT : G EWERKSCHAFTEN IN DEN 1970 ER J AHREN Mit Schmidt an der Hausbar: Politik- und Institutionsmacht Spätestens in den 1970er Jahren, noch vor dem historischen Höchststand der Mitgliederzahl und nicht hingegen erst in den 1980er oder 1990er Jahren, begann die Krise der Gewerkschaften – eng angelehnt an das Ende einer fortwährend prosperierenden Wirtschaft. Dies zeigte sich auf mehreren Feldern. Zunächst in der Politik: Unter der Kanzlerschaft Helmut Schmidts entfremdeten sich Gewerkschaften und SPD einander politisch.136 Die IG Metall rief zum „Widerstand gegen Sozialabbau“ auf, viele sagten sich: „Das Maß ist voll.“ Hatte Eugen Loderer den Bundeskanzler in Briefen gewöhnlich in der Abrede „Dein Dir sehr ergebener Eugen“ gegrüßt, so schrieb der IG-Metall-Chef (1972-1983) später im Zorn über die sozialdemokratische Regierungspolitik ein vielsagendes „Hochachtungsvoll, Eugen Loderer, Vorsitzender der IG Metall“.137 In der Regierungsverantwortung mussten die Sozialdemokraten lernen, mit chronisch unzufriedenen Gewerkschaftern zu leben. Bereits während der Großen Koalition waren die Gewerkschaften höchst enttäuscht von der SPD-Politik.138 Ein wenig erinnert diese wechselhafte Beziehung an den Bruch von SPD und Gewerkschaften im Zuge der Agenda 2010 während Gerhard Schröders Kanzlerschaft. Doch im Unterschied zu den 2000er Jahren waren die Gewerkschaften in den 1970er Jahren noch personell eng mit der SPD verflochten. In der damaligen sozialdemokratischen Bundestagsfraktion gab es eine verhältnismäßig große Zahl von einflussreichen Abgeordneten wie Adolf Schmidt oder Hermann Rappe, bei denen die Zugehörigkeit zur Gewerkschaft nicht eine bloß formale war, sondern jene zur Partei mithin überlagerte. Als Köpfe von Kommissionen und

136 Vgl. Schneider 1989, S. 360-365. 137 Zitiert nach Scheytt, Stefan: Geschichte geschrieben, in: Mitbestimmung, H. 12/2010, S. 43-45. 138 Vgl. Klönne/Reese 1990, S. 267-270.

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Mitglieder von Parlamentsnetzwerken konnten bedeutende Gewerkschaftsrepräsentanten die Gesetzgebung unmittelbar beeinflussen und erhielten Informationen über politische Vorgänge aus erster Hand.139 Heute hingegen würden sich hochrangige SPDler nicht mehr wie einst Bundeskanzler Schmidt und Arbeitsminister Walter Arendt an der Hausbar eines Gewerkschaftsvorsitzenden, damals Adolf Schmidt, treffen, um Gesetze zu besprechen und ein gemeinsames Vorgehen zu verabreden. In der sozialdemokratischen Regierungszeit von 1966 bis 1982 gab es zwar reichlich Spannungen zwischen SPD und Gewerkschaften, jedoch keinen offenen Bruch, keine meilenweit auseinanderliegenden Politikentwürfe wie in den 2000er Jahren, allenfalls vorübergehenden Missmut. Dennoch offenbarte sich auch damals schon die Zerbrechlichkeit der Partnerschaft beider historischen Stützpfeiler der Arbeiterbewegung. Hingegen veränderte sich in den Betrieben die gewerkschaftliche Machtgrundlage schon deutlicher. Die Ergebenheit der Betriebsräte gegenüber den Gewerkschaften ließ nach, schlug mancherorts sogar in eine offene Konfrontation um.140 Das war auch eigentlich kein Wunder, denn zentralistisch ausgerichtete Gewerkschaften wie die IG Metall, in der sich die Macht in der Zentrale konzentrierte und die Gewerkschaftsfunktionäre in politischen Belangen stets Vorrang gegenüber den Belegschaftsvertretern beanspruchten, hatten all jenen Betriebsräten kein Konzept anzubieten, deren Produktionsstätten in der hereinbrechenden Wirtschaftskrise schlagartig mit Rationalisierungs- und Entlassungswellen befasst waren.141 Auf diesen endgültigen Bruch mit einer Wirtschaftsepoche, in der Wirtschaftswachstum stets mit Beschäftigungswachstum einherging – wenn nicht sogar unabänderlich untereinander verknüpft schien –, waren die Gewerkschaften nicht vorbereitet. Vielmehr hatten sie begonnen, ihr politisches

139 Siehe Meiners, Kay/Hasel, Margarete: Der Bergmann im Bundestag, in: Mitbestimmung, H. 3/2006, S. 50-53. 140 Vgl. dazu Kotthoff, Hermann: Zum Verhältnis von Betriebsrat und Gewerkschaft. Ergebnisse einer empirischen Untersuchung, in: Bergmann, Joachim (Hg.): Beiträge zur Soziologie der Gewerkschaften, Frankfurt am Main 1979, S. 298-325; siehe Protokoll der Vorstandssitzung der IG Metall am 12.01.1960 (Dok. 32), abgedruckt in: Merkel 1999 (Bearb.), S. 447 f.; o.V.: Aufstand am Band, in: Der Spiegel, 17.07.1972. 141 Vgl. Esser, Josef: Gewerkschaften in der Krise. Die Anpassung der deutschen Gewerkschaften an neue Weltmarktbedingungen, Frankfurt am Main 1982, S. 133 f.; Müller-Jentsch, Walther: Gewerkschaftliche Politik in der Wirtschaftskrise II. 1978/ 79 bis 1982/83, in: Hemmer/Schmitz (Hg.) 1990, S. 375-412, hier S. 395 f.

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Spektrum zu erweitern, widmeten sich schon gar nicht mehr so recht den notwendigsten Angelegenheiten wie der schieren Bewahrung von Arbeitsplätzen. Seit den späten 1960er Jahren beschäftigten sie sich weniger mit der Sicherung von Arbeitsplätzen in wirtschaftlichen Krisenzeiten als mit der Frage, wie mit problematischen Arbeitsbedingungen („Humanisierung der Arbeitswelt“) und dem Einzug neuer Technologien umzugehen sei – dies geschah allerdings weitgehend ohne Konsultation der Organisationsbasis, die lediglich den Bestand verwaltete, administrierte, eigene Vorstellungen hingegen kaum einbringen konnte. Gewerkschaften adressierten damals den Staat und die Öffentlichkeit, wollten gemeinsam mit der regierenden SPD den Sozialstaat ausbauen.142 Im Gegenzug störte sich eine wachsende Zahl von Betriebsräten mit zunehmendem Ausmaß in den 1960er und 1970er Jahren an der Gewerkschaftspräsenz in ihrer jeweiligen Firma. Denn berufsmäßige Gewerkschaftsfunktionäre erachteten sie mittlerweile allzu oft als einen Faktor, der ihre Gestaltungsspielräume verengte und das Verhältnis zum Management störte. Auch glaubten sie, die Gewerkschaften nicht mehr zu benötigen, weil sie eigenständige Erfolge erzielen wollten. Und nicht zuletzt galt ihre Loyalität zuallererst dem Betrieb und nicht der Gewerkschaft, die im Zweifelsfall ihre eigenen Interessen auf Kosten der Belegschaft eines einzelnen Unternehmens verteidigte. Denn eine Gewerkschaft umfasste ja schließlich auch die Belegschaften von unmittelbaren Konkurrenzunternehmen und verkündete eine Solidarität, die im Ernstfall gar nicht vorhanden bzw. abrufbar war. Zumal die Arbeitgeber nicht minder gerne mit Betriebsräten als mit Gewerkschaftern verhandelten. Die rechtlichen Befugnisse des Betriebsrats waren schließlich inzwischen so stark angewachsen, dass die Unternehmer in ihm als gesetzlich legitimierten Vertreter der Belegschaft einen Verhandlungspartner hatten,143 der als gewählte Institution im Grunde mit weitaus größerer demokratischer Berechtigung als jede Gewerkschaft die Arbeitsbedingungen aushandeln und ebenso gut für sozialen Frieden sorgen konnte. Für kurze Zeit konnten die Funktionäre an der Organisationsbasis und die Betriebsräte daher ihre Gestaltungsspielräume gegenüber der Gewerkschaftszentrale vergrößern. Zwischen 1970 und 1975 wurden zahlreiche Tarifverhandlungen dezentral geführt; doch blieb dies eine tarifgeschichtliche Episode. Anschließend kehrte das System wieder überwiegend zum Zentralismus zurück,

142 Vgl. Lompe, Klaus: Politik in der Phase gesellschaftlicher Reformen und der außenpolitischen Neuorientierung der Bundesrepublik 1969 bis 1974, in: Hemmer/ Schmitz (Hg.) 1990, S. 281-338, hier S. 303-320 u. S. 330-334. 143 Vgl. Streeck, Wolfgang: Gewerkschaften als Mitgliederverbände. Probleme gewerkschaftlicher Mitgliederrekrutierung, in: Bergmann (Hg.) 1979, S. 72-110, hier S. 81.

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gemäß dem IG-Metall-Motto: „Zentral koordinieren – dezentral mobilisieren“.144 Im Großen und Ganzen blieb es – zumal im subjektiven Empfinden – bei einer Vernachlässigung der Betriebsebene durch das Gewerkschaftshauptquartier. In den Betrieben wuchs derweil die Unzufriedenheit mit den Gewerkschaften. Am liebsten hätten viele Beschäftigte ihre Sache selbst in die Hand genommen, Gespräche mit den Arbeitgebern geführt, womöglich öfter gestreikt. Auch aus diesen Gründen häuften sich bei Betriebsratswahlen gegen Ende der 1970er Jahre DGB-externe Konkurrenzkandidaturen auf alternativen Listen. Mit beträchtlichem Erfolg traten in manchen Großbetrieben wie z.B. Opel oder Daimler-Benz unzufriedene Gewerkschaftsfunktionäre mit eigenen Listen gegen ihre Gewerkschaftskollegen an, wodurch sich schon bald die Zahl von unabhängigen Betriebsräten vergrößerte, die keiner Gewerkschaft angehörten oder unabhängig von dieser handelten.145 In immer mehr Fertigungshallen des industriellen Sektors kam es nun zum Zusammenprall von aufmüpfigen IG Metallern, die sich im Angesicht eines offenbar demokratiefernen Kartells von Vertrauensleuten sahen, und alteingesessenen Funktionären, die über „Spalterlisten“ schimpften und sich dem demokratischen Impuls empört widersetzten. Was sich wie eine Meldung aus der scheinheiligen Sowjetdiktatur anhörte, trug sich in Wirklichkeit tief im Westen der Bundesrepublik zu: Die IG Metall versuchte, den Kandidaten auf Alternativlisten gewerkschaftsschädigendes Verhalten nachzuweisen und ihren schiedsgerichtlichen Ausschluss aus der Organisation zu erwirken. Wie auch immer die Sachlage war: Nach einer gleichberechtigten Willensbildung innerhalb des Verbandes und der Belegschaft klang diese Praktik jedenfalls nicht. Eigentlich bestand in dieser Situation Handlungsbedarf, denn die Betriebsräte waren aus Sicht der Gewerkschaften äußerst wichtig – manchmal sogar ausschlaggebend: für den Gewinn neuer Mitglieder, für die Reproduktion der Mitgliedschaft und deren Loyalität gegenüber der Organisation. Doch zunächst ließen die Gewerkschaften deren Abkehr einfach geschehen. Durch die in den folgenden Jahren wachsende Distanz zu den Funktionären im Betrieb, die den Berufsalltag ja eigentlich am besten kannten, verloren viele Gewerkschaftszentralen bedenkliche Entwicklungen und Verhältnisse aus dem Blickfeld, hatten schon bald kein Gespür mehr für die Belange ihrer Klientel.

144 Vgl. Beyme, Klaus v.: Gewerkschaftliche Politik in der Wirtschaftskrise I. 1973 bis 1978, in: Hemmer/Schmitz (Hg.) 1990, S. 339-374, hier S. 363 f. 145 Vgl. Müller-Jentsch 1990, S. 397 f.; im Folgenden o.V.: Aufstand am Band, in: Der Spiegel, 17.07.1972.

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Kapitulation im korporatistischen Block: Politik, Leistungen und Mitgliedschaft In den 1970er Jahren ereigneten sich sehr viele Streiks, die das Jahrzehnt zu einem konfliktreichen und aggressiven Kapitel in der Geschichte industrieller Beziehungen machen. Die Belegschaften großer Unternehmen wie Bosch oder Daimler-Benz gingen in den Ausstand,146 weil sie sich um die Früchte ihrer Arbeit betrogen fühlten und ganz offenbar die Tarife, die ihre Gewerkschaften ausgehandelt hatten, für unbefriedigend hielten. Diese Konfliktlastigkeit galt allerdings zuvorderst für die frühen 1970er Jahre, in denen noch die Erwartung vorherrschte, nach kurzer Durststrecke wieder an die Wohlstandszuwächse der vorangegangenen Jahre anzuknüpfen, die Wirtschaftswunder-Zeit wiederaufleben zu lassen. Doch 1973 markierte mit dem Öl-Schock und der darauffolgenden Rezession das Ende vom unablässigen Wirtschaftswachstum und von vollbeschäftigungsähnlicher Arbeitsmarktlage.147 Bis dahin hatten die Westdeutschen kontinuierlichen Aufschwung, Fortschritt und Wohlstand gekannt, hatten sich an der Gewohnheit unentwegter Verbesserungen und ökonomischer Sicherheit erfreut.148 Nun aber brach eine Arbeitswelt über sie herein, die sich im Verlauf der folgenden drei bis vier Jahrzehnte deutlich von jener Zeit vor 1973 unterschied.149 Die ökonomische Wachstumsschwäche wie aber auch der umfangreiche Austausch menschlicher Arbeitskraft durch Maschinen und Computer bedeuteten einen tiefen Einschnitt: Unzählige Arbeitsplätze und z.T. ganze Berufe wurden überflüssig und infolgedessen abgebaut. 1973 begann eine neue volkswirtschaftliche Phase, in der die Arbeitnehmer nicht mehr vorwiegend um höhere Löhne und geringere Arbeitszeiten, sondern den bloßen Erhalt ihres Arbeitsplat-

146 Vgl. Lompe 1990, S. 326-329. 147 Vgl. Schneider 1989, S. 354 f.; Görtemaker, Manfred: Kleine Geschichte der Bundesrepublik Deutschland, München 2002, S. 308 f. 148 Vgl. Pierenkemper, Toni: Kurze Geschichte der „Vollbeschäftigung“ in Deutschland nach 1945, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, H. 14-15/2012, S. 38-45, hier S. 41 f.; Wehler, Hans-Ulrich: Deutsche Gesellschaftsgeschichte. Fünfter Band. Bundesrepublik Deutschland und DDR 1949-1990, München 2008, S. 154-157. 149 Vgl. Doering-Manteuffel, Anselm/Raphael, Lutz: Der Epochenbruch in den 1970er Jahren: Thesen zur Phänomenologie und den Wirkungen des Strukturwandels „nach dem Boom“, in: Andresen, Knut/Bitzegeio, Ursula/Mittag, Jürgen (Hg.): „Nach dem Strukturbruch“? Kontinuität und Wandel von Arbeitsbeziehungen und Arbeitswelt(en) seit den 1970er Jahren, Bonn 2011, S. 25-40.

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zes, ihre finanzielle Existenzgrundlage, kämpften. Denn welcher Facharbeiter hatte sich nicht am neuen Wohlstandskonsum beteiligt, sich nicht im Vergleich zum Elternhaus einen höheren Lebensstandard in Form eines Eigenheims und Privat-Pkws zugelegt? Neue oder bessere Konsumartikel verschlangen inzwischen viel Geld: Die Ansprüche an Qualität und Design des Mobiliars waren gestiegen; Waschmaschinen waren selbstverständlich geworden, Geschirrspülautomaten traten ihren Siegeszug an; und auf der Mattscheibe flimmerten die TVSendungen nicht mehr schwarz-weiß, sondern in Farbe.150 Und auch die zumeist kreditfinanzierten Einfamilienhäuser, Einbauküchen und VW-Golfs wollten noch viele Jahre abbezahlt werden – Zeiträume, für die stabile, eigentlich sogar wachsende Gehälter fest eingeplant gewesen waren. Erstaunlicherweise kam diese Krise, die für viele Arbeitnehmer ein Schicksalsschlag war, den Gewerkschaften womöglich gar nicht ungelegen. In den Monaten vor 1973 hatte sich ja – in einer wirtschaftlich deutlich gelasseneren Situation – mit „wilden“ Streiks und Alternativlisten das Potenzial an Unzufriedenheit mit der gewerkschaftlichen Interessenvertretung, das in ihrer Klientel vorherrschte, bereits angedeutet. Nun aber war nicht mehr die möglichst ausgiebige Anteilnahme an Produktionsgewinnen das Ziel, sondern die blanke Existenzsicherung. Denn eine Welle von Massenentlassungen setzte ein:151 In der Fahrzeugindustrie entließen die VW-Werke zwischen 1975 und 1980 mit rund 40.000 Beschäftigten ein ganzes Viertel ihrer gesamten Belegschaft; der Konzern verlagerte seine Produktion zu mehr als einem Drittel ins Ausland; die gesamte Automobilindustrie baute zwischen 1973 und 1975 fast 60.000 Arbeitsplätze ab – rund zwölf Prozent der Gesamtbeschäftigung in diesem bedeutsamen Produktionssektor; diese Massenentlassungen kaschierten die Unternehmen z.T. durch Aufhebungsverträge und Frühverrentungen; nachdem die Elektroindustrie ihren Anteil an der westdeutschen Gesamtbeschäftigung noch zwischen 1950 und 1970 vervierfacht hatte, reduzierte sie zwischen 1970 und 1980 diesen wieder um ein ganzes Viertel (ca. 40.000 Arbeitsplätze); auch mit der westdeutschen Uhrenindustrie ging es bergab, zwischen 1970 und 1977 verloren dort 45 Prozent der Beschäftigten in den großen Standorten – Villingen-Schwenningen, Rottweil-Schramberg oder Pforzheim – ihre Jobs (darunter mehrheitlich Ausländer und Frauen). Durch die missliche Wirtschaftslage befanden sich die Unternehmer im Vorteil, besaßen die größere Marktmacht: Nach 1973 verzeichnete die Streikstatistik daher nicht zufällig einen Rückgang der Streiklaune; denn nun stand unverkenn-

150 Vgl. Schildt 2007, S. 61 f. 151 Vgl. dazu Esser 1982, S. 128-159.

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bar die Sicherung von Arbeitsplätzen im Vordergrund.152 Die Arbeitnehmer zeigten unterdessen große Anpassungsbereitschaft, machten alles mit, was scheinbar ihren Arbeitsplatz retten konnte und den Lebensstand einigermaßen sichern half – kaum jemand wollte seine Chance auf einen beständigen Arbeitsplatz zugunsten gewerkschaftlicher Solidarität aufs Spiel setzen. Erst gegen Ende des Jahrzehnts und nach den Entlassungsschüben lebten wieder heftige Streiks auf, so in der Stahlindustrie im Winter 1978/79, als die IG Metall die wöchentliche Arbeitszeit auf 35 Stunden senken und die Löhne um fünf Prozent erhöhen wollte.153 Es kam zu Aussperrungen, radikalen Worten, Unzufriedenheit – für den Kompromiss der Tarifpartner votierten in der Urabstimmung nur 54,5 Prozent der teilnehmenden IG Metaller. Die Gemütslage war gereizt. Erstaunlich ist dabei die Reaktion der Gewerkschaften. Ihr damaliger Umgang mit der Krise bestimmte über Jahre, wenn nicht noch Jahrzehnte hinaus ihr Verhältnis zu Arbeitsmarktgruppen, die zwar beständig wuchsen, an die sie aber nicht herankamen. Das hatte vor allem eine, selbstverschuldete, Ursache: die vehemente Verteidigung ganz bestimmter Arbeitsmarktgruppen zulasten anderer. Denn in der Wirtschaftskrise opferten die Gewerkschaftsstrategen in ihrer Tarifpolitik vorzugsweise solche Gruppen, die ihnen ohnehin fernstanden und die für die Aufrechterhaltung der finanziellen und politischen Organisationskraft scheinbar auch in der Zukunft entbehrlich waren. Die meisten Gewerkschaften – insbesondere die IG Metall – beschlossen, ihre Kernklientel zu schützen und sie die Krise schnell und so weit wie möglich unbeschadet überstehen zu lassen; hierzu wälzten sie die Kosten dieser Strategie ganz einfach auf machtlose Randgruppen ab: Ältere, Ausländer und Frauen.154 Denn z.B. Gastarbeiter machten nur um die zehn Prozent der IG-Metall-Mitgliedschaft aus. Die vergleichsweise geringen Mitglieder-Anteile machten diese Gruppen politisch verwundbar und erleichterten einigen Gewerkschaften offenbar die Entscheidung, zugunsten ihrer Stellung in Aufsichtsräten und an Verhandlungstischen auf die solidarische Mobilisierung betroffener Belegschaften zu verzichten, obwohl sie über die Aufsichtsräte von den Entlassungsplänen frühzeitig informiert gewesen waren. Der IG-Metall-Vorstand widersetzte sich bspw. nicht dem Sachzwang-Argument der Konzernführungen, die Krise ausschließlich mit

152 Vgl. Esser 1982, S. 223; v. Beyme 1990, S. 364 f. 153 Vgl. dazu Jäger, Wolfgang/Link, Werner: Republik im Wandel. 1974-1982. Die Ära Schmidt, Stuttgart/Mannheim 1987, S. 177-180. 154 Vgl. hierzu insgesamt Esser 1982; auch Helmer, Wolfgang: „Mer lasse uns net verschaukle“, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 07.04.1975; o.V.: Dicke Luft, in: Der Spiegel, 28.04.1975; o.V.: Je weniger, desto besser, in: Der Spiegel, 08.12.1975.

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massiven Entlassungen durchstehen zu können. Vielmehr verlautbarten ranghohe Gewerkschafter, dass man bei „allem, was wir aus Solidarität unseren ausländischen Kollegen gegenüber an Verpflichtungen haben“, doch „die Interessen der deutschen Kollegen vorrangig sehen“.155 Der Ausweg, tarif- und arbeitspolitisch schwache Gruppen als erste zu entlassen, war auch für einen Großteil der industriellen Gewerkschaftsmitglieder nicht der schlechteste. Denn die Solidarität zwischen heimischen und zugereisten Arbeitern war schwach. Manche der deutschen Arbeitnehmer sahen es eben als die einleuchtende und gebotene Logik an, Gastarbeiter im Krisenfall wieder in deren Herkunftsland zurückzuschicken; für andere dürfte es schlichtweg die angenehmere Alternative zur eigenen Kündigung gewesen sein. Trotz des harten Kurses gegenüber Arbeitsmarktminderheiten verloren zehntausende Stahlarbeiter, Metaller und Werftarbeiter in den 1970er Jahren ihre Jobs, waren mit einem Mal die Überflüssigen und Entbehrlichen des Postindustrialismus. Diskriminierender Druck auf ausländische Arbeitnehmer, denen mancherorts unterschwellig mit Ausweisung gedroht wurde, das sozialpolitische Instrument der Frührente sowie das überwiegende Stillhalten der Gewerkschaften gegenüber den Arbeitgebern begünstigten diesen bis dahin in der Bundesrepublik beispiellosen Beschäftigungsabbau. Die Gewerkschaftsvorstände akzeptierten in der Regel die Rationalisierungen als vollumfänglich geeignete Maßnahmen zur Wiederherstellung der Wettbewerbsfähigkeit westdeutscher Firmen auf einem zunehmend weltumspannenden Absatzmarkt. Die Gewerkschafter vor Ort hatten unterdessen weder Argumentationen noch Reaktionsstrategien parat, um gegen die Entscheidungen der Arbeitgeber wortmächtig und faktenreich protestieren zu können. Ihnen dürfte es ungemein schwer gefallen sein, in dieser Situation den angefochtenen Sinn einer Gewerkschaftsmitgliedschaft plausibel klarzumachen. Außerdem verfielen einzelne Standorte desselben Unternehmens statt in Solidarität in Konkurrenz um die verknappten Jobs – so etwa innerhalb des VW-Konzerns, in dem sich geografisch getrennte Werke wohl unter größter nervlicher Anspannung die Schließung eines jeweils anderen zugunsten der eigenen Existenzbewahrung wünschten.156 Die Menschen waren ob der plötzlichen Absatzkrise zutiefst verunsichert – und in diesem Zustand zu allerlei Einbußen bereit. Die große Folgebereitschaft

155 Der IG-Bau-Steine-Erden-Vorsitzende Rudolf Sperner zitiert nach o.V.: Arbeitslose: So knüppeldick war’s noch nie, in: Der Spiegel, 17.12.1973. 156 Siehe z.B. Michaels, Heinz: Stadt auf dem Pulverfaß, in: Die Zeit, 24.01.1975; o.V.: Neckarsulm und Hannover neue Schwerpunkte?, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 14.04.1975.

E IN R ÜCKBLICK

AUF DIE

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der irritierten Gewerkschaftsmitglieder, die sich daraus ergab, ermöglichte einen weitgehend konfliktfreien, widerstandslosen, sogar z.T. von Seiten der Gewerkschaften einvernehmlich mit den Managern für unumgänglich erachteten Beschäftigungsabbau. Kampfmaßnahmen gingen allenfalls von vorneherein lediglich um das Wie, nicht hingegen um das Ob (z.B. um das Tempo einer Entlassungswelle, nicht aber um deren Eintreten). Nur dort, wo die Unternehmen längere Zeit zu keiner Entscheidung gelangten und das Schicksal des jeweiligen Produktionsstandorts in einem Schwebezustand hielten und die betroffenen Arbeitnehmer sowie deren Familien im Unklaren ließen – so z.B. im Neckarsulmer Audi-Werk157 –, entlud sich der Unmut in kämpferischen Aktionen wie dem „Marsch nach Heilbronn“, einer großen Protestaktion der bedrohten Belegschaft. Jedenfalls: Mit dieser arbeitspolitischen Praxis, so Josef Esser, hätten sich die Gewerkschaften damals mit Staat und Kapital in einen „korporatistischen Block“ gefügt. Damit auch, so Esser weiter, hätten sie vor den vermeintlichen Machtverhältnissen des Arbeitsmarkts kapituliert, der aufgrund zwei Millionen Arbeitsloser die Arbeitgeberseite begünstigte, und freiwillig auf selbstbewusste Forderungen und kampfeslustige Gegenmaßnahmen verzichtet.158 Gegen Ende der 1970er Jahre erfolgten nur noch Tarifabschlüsse, die im Vergleich zur Vergangenheit schwach ausfielen, gerade so noch die Kaufkraft des Geldes erhielten – ohne dass sich die Gewerkschaften unter Rückgriff auf ihre nominal noch immer imposante Mitgliedschaft auf Kraftproben in Form von großflächigen Streiks eingelassen hätten. Diese Zeit markierte das Ende der expansiven Lohnpolitik, der ständigen Forderungen nach mehr Lohn und Gehalt bei sinkender Arbeitszeit. Statt wie von vielen Funktionären und Mitgliedern erhofft, kündigten die Gewerkschaften nicht den Konsens mit Staat und Arbeitgebern auf, sondern verschrieben sich ihm sogar stärker als je zuvor. In dieser Zeit war daher auch der Widerspruch von kämpferischen Worten, die mancherorts als „Verbalradikalismus“ bezeichnet wurden, und der faktisch widerstandslosen Akzeptanz massiven Stellenabbaus besonders groß.159 Für die Gewerkschaften erwies sich diese Entscheidung letztlich als eine zwiespältige Angelegenheit. Einerseits sicherte sie ihnen einen Kernbestand an industriellen Facharbeitern, der durch ihre Ausgrenzungsstrategie die Krise vergleichsweise wohlbehalten überstand. Das waren im Durchschnitt männliche Arbeiter deutscher Nationalität, die älter als vierzig Jahre und bereits seit etli-

157 Siehe z.B. Helmer, Wolfgang: Sie kaufen nur das Notwendigste und sparen viel, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 18.03.1975. 158 Vgl. Esser 1982, S. 117-128. 159 Vgl. ebd., S. 162 (Zitat i.O. herv.).

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chen Jahren im jeweiligen Betrieb beschäftigt sowie in einer bereits höheren Lohngruppe eingestuft waren.160 Andererseits verengten sich betreffende Gewerkschaften auf eben diese Gruppe, die auch in den folgenden dreißig Jahren eine ihrer bedeutendsten Mitgliederfraktionen darstellte. In den 1970er Jahren zeigten die deutschen Gewerkschaften somit, dass sie weder in der Lage noch gewillt waren, die Interessen anderer Arbeitnehmertypen ähnlich stark zu vertreten wie die ihrer historisch angestammten Klientel. Statistisch gelang es ihnen zwar, durch die weitere Ausschöpfung des Arbeiterpotenzials den Abstand zum Arbeitsmarkt zu verringern. Nichtsdestotrotz hatte sich die Zahl der Angestellten von 1,1 Mio. im Jahr 1971 auf 1,6 Mio. 1979 um eine halbe Million Menschen erhöht; und der Arbeiteranteil an der Gesamtbeschäftigung sank von 76 Prozent im Jahr 1970 (5,1 von 6,7 Mio.) über 72 Prozent im Jahr 1975 (5,3 von 7,4 Mio.) auf 69 Prozent im Jahr 1979 (5,4 von 7,8 Mio.).161 Doch hatte das letztlich auch mit dem Umstand zu tun, dass zahlreiche Arbeiter durch neue Tätigkeiten in den Angestelltenstatus aufrückten. Durch den Zugewinn von Angestellten stieg auch der Frauenanteil von 15,3 Prozent 1970 auf 20,3 Prozent 1980 – wenngleich dies innergewerkschaftlich kaum etwas an dem, gemessen an ihrer Bedeutung auf dem Arbeitsmarkt, geringfügigen Status der Frauen änderte. Kurzum: Die 1970er Jahre lieferten einen Vorgeschmack auf die darauffolgenden Jahrzehnte, in denen sich die Beziehung zwischen Arbeitnehmern und Gewerkschaften lockerte, die milieuvermittele Loyalität einer interessengeleiteten Bindung wich, sich die Distanz zwischen dem Arbeitsmarkt und den Arbeitnehmerverbänden vergrößerte, die gewerkschaftliche Politik- und Institutionsmacht schrumpfte, sich also gleich auf mehreren Feldern – politische Macht, Finanzen und Mitglieder – eine multiple Krise zuspitzte, die einen mannigfachen Wandel der traditionsreichen Organisationen der Arbeiterbewegung nötig machte. Was aber taten die Gewerkschaften? Wie reagierten sie als industrie- und männerlastige Organisationen auf die postindustriellen Herausforderungen eines heraufziehenden Dienstleistungs- und Wissenszeitalters?

160 Vgl. Dombois nach ebd., S. 130. 161 Hemmer/Schmitz (Hg.) 1990, Tabelle 1/S. 463.

Die Modernisierungsverlierer Deutsche Gewerkschaften 1980-2010

D AS K REUZ

MIT DEN

R EFORMEN

Wie bergmännische Solidarität und Rentner die Gewerkschaften blind machten 110.000 – um so viele Menschen schrumpften die DGB-Gewerkschaften statistisch zwischen 1980 und 2000. Auf den ersten Blick mag das nicht viel sein, ja wirkt es angesichts einer seither stark veränderten Welt geradezu lächerlich gering. Schließlich ereigneten sich innerhalb dieser Zeitspanne etliche politische Umwälzungen und technologische Revolutionen: Der Computer setzte sich als weitverbreitetes Arbeits- und Entertainment-Gerät durch; die Atomkatastrophe von Tschernobyl offenbarte die Grenzen der menschlichen Beherrschbarkeit komplizierter Technologien; der Eiserne Vorhang fiel, die Sowjetunion löste sich auf und der Kalte Krieg kam an sein Ende; der Fall der Berliner Mauer läutete den Zusammenbruch der DDR und die deutsche Wiedervereinigung ein; das Internetzeitalter begann. Diese Aufzählung ist bei Weitem nicht vollständig, doch verdeutlicht sie bereits das große Spektrum an Veränderungen, die die Rahmenbedingungen des menschlichen Daseins in den letzten dreißig Jahren verändert haben. Wie gesagt, rein zahlenmäßig scheinen sich die Gewerkschaften mit einer niedrigen sechsstelligen Verlustziffer gegenüber einer hohen siebenstelligen Ausgangszahl trotz dieser großen Ereignismenge auf den ersten Blick kaum verändert zu haben. Doch eben darin liegt ihr Problem: Im selben Zeitraum (19802000) vergrößerte sich die Zahl der Erwerbspersonen – der Bürger im erwerbsfähigen Alter von 16 bis 65 Jahren – von 27,6 Mio. auf 40,3 Mio., sank das Verhältnis der Gesamtzahl von Gewerkschaftsmitgliedern zu allen Erwerbspersonen

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von annähernd vierzig auf knapp 25 Prozent. Außerdem waren große Merkmalsgruppen wie z.B. Arbeiter und Beamte anteilsmäßig innerhalb der Gewerkschaftsmitgliedschaft deutlich stärker als im Vergleich zur Gesellschaft vertreten. So waren im DGB bspw. 1980 rund 68 Prozent aller Mitglieder Arbeiter und elf Prozent Beamte,1 wohingegen nur 48,1 Prozent aller Jobs von Arbeitern und 9,6 Prozent von Beamten ausgeübt wurden;2 im Jahr 2000 lagen die Anteile von Arbeitern und Beamten an der Gewerkschaftsmitgliedschaft dann bei rund sechzig und sieben Prozent, in der Gesellschaft hingegen bei 36,3 und 7,7 Prozent.3 Arbeiter waren chronisch über- und Angestellte unterrepräsentiert. Folglich schien in Sachen Repräsentation einiges im Argen zu liegen. Schließlich war es schon immer der Anspruch von Gewerkschaften gewesen, das Gesicht des Arbeitsmarkts in ihrer Mitgliedschaft möglichst genau, eben repräsentativ abzubilden. Denn daraus ergab sich ja die Grundlage für ihre Behauptung, politische Vertretungsinstanz für die Interessen großer Teile der Bevölkerung zu sein. Waren bspw. 55 Prozent aller erwerbstätigen Bürger Angestellte, so hatte im Idealfall auch der Anteil von Angestellten an der Gewerkschaftsmitgliedschaft 55 Prozent zu betragen – freilich gelang es so gut wie nie, diese Gleichwertigkeit herzustellen. Zu keinem Zeitpunkt in der Geschichte waren die Gewerkschaften sozialstrukturell mit dem Arbeitsmarkt synchronisiert. Doch die Chance hierfür war ja auch angesichts unterschiedlichster Interessen der Menschen denkbar gering; und daher galt es stets, wenigstens einen annähernden Wert zu erzielen. Und daher auch nahm sich die Mitgliederentwicklung deutscher Gewerkschaften in den letzten drei Jahrzehnten – nicht nur in absoluten Zahlen, sondern auch hinsichtlich sozialer Merkmale wie Alter, Geschlecht und Beruf – so problematisch aus. Denn anstatt sich langsam anzunähern oder zumindest das einmal erreichte Niveau zu halten, entsprach die Gewerkschaftsmitgliedschaft im Verlauf dieser Jahre zunehmend weniger der Bevölkerungsstruktur. In den Gewerkschaften waren z.B. deutlich mehr Männer mit Jobs in der Industrie, viel weniger junge Arbeitnehmer, Studierte und Teilzeitbeschäftigte als in der deutschen Bevölkerung anzutreffen. Und wie gesagt verringerte sich auch insgesamt die Zahl von Gewerkschaftsmitgliedern gemes-

1

Vgl. Schroeder, Wolfgang/Weßels, Bernhard (Hg.): Die Gewerkschaften in Politik und Gesellschaft der Bundesrepublik Deutschland. Ein Handbuch, Wiesbaden 2003, S. 637.

2

Vgl. Statistisches Bundesamt: Statistisches Jahrbuch 1981 für die Bundesrepublik Deutschland, Stuttgart/Mainz 1981, S. 95.

3

Vgl. Statistisches Bundesamt: Statistisches Jahrbuch 2001 für die Bundesrepublik Deutschland, Wiesbaden 2001, S. 106.

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sen an dem wachsenden Aufkommen von Erwerbspersonen. Zwangsläufig erwuchs daraus eine Mitgliederkrise, die mit der Zeit in eine finanzielle und politische Krise mündete – neben der Anbindung an die Gesellschaftsentwicklung verloren die Gewerkschaften obendrein Geld und Einfluss. Nun hätte man erwarten dürfen, dass sich die angeschlagenen Arbeitnehmerverbände mit aller Macht gegen ihren Niedergang stemmten. Denn die rückläufigen Mitgliederzahlen und die sinkende Repräsentativität der Mitgliedschaft verrieten die Statistiken. Weshalb schritt die Erosion dann aber nahezu unvermindert fort? Eine Erklärung für diesen Widerspruch liegt ausgerechnet in der Lebenskraft dieser Großorganisationen. Offenbar reichte die Härte, mit der die Gewerkschaften diese dreifache Krise traf, zunächst nicht aus, um ein grundlegendes Umdenken zu bewirken. Sicher, bestimmte Gruppen unterschiedlicher Merkmale wie Geschlecht oder Beruf fanden nach wie vor nicht den Weg in die Gewerkschaften – z.B. Frauen, Ingenieure, Büroangestellte. Aber konnten die westdeutschen Gewerkschafter nicht trotzdem vollauf zufrieden mit sich sein, erfreuten sich ihre Organisationen nicht trotz allem eines blendenden Zustands? Schließlich gehörten die bundesrepublikanischen Gewerkschaften weltweit zu den stabilsten und überdies institutionell am stärksten eingebundenen Organisationen ihrer Zunft. In den USA waren Gewerkschaften traditionell schwach und eher Feinde als Gegner der Arbeitgeber; in Großbritannien war ihre Macht von der Regierung gebrochen worden. Außerdem hatten in den 1980er Jahren so gut wie alle Gewerkschaften westlicher Industrieländer mit stockenden und sinkenden Mitgliederzahlen zu kämpfen; und auch im Vergleich zu anderen Organisationen mit ehrenamtlichem Engagement bildeten die deutschen Gewerkschaften ebenso wenig eine Ausnahme: Überall schien es seit den 1980er Jahren plötzlich einen „Mangel an Bürgergeist bzw. an Bürgerengagement“4 zu geben, schienen insofern auch die Gewerkschaften Opfer einer bürgerschaftlichen Unvollkommenheit, eines universellen Problems zu sein. Jedenfalls gab es für viele Gewerkschaftsfunktionäre anscheinend keinen zwingenden Anlass, die psychologische Hürde der Selbstkritik zu überspringen, sich ein Scheitern einzugestehen und geeignete Maßnahmen zu ergreifen. Ihre verbliebenen Kraftreserven verleiteten die Gewerkschaften also trotz aller Probleme im Wesentlichen zum Verdrängen und Aufschieben, nicht hingegen zum Renovieren.

4

Gensicke, Thomas: Das bürgerschaftliche Engagement der Deutschen – Image, Intensität und Bereiche, in: Heinze, Rolf G./Olk, Thomas (Hg.): Bürgerengagement in Deutschland. Bestandsaufnahme und Perspektiven, Opladen 2001, S. 283-304, hier S. 283 f.

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Aus ihrer Sicht sah es eben weitaus weniger düster aus, als es Journalisten und Wissenschaftler immer wieder beschrieben und es ferner auch selbstkritische Analysen ergeben hätten. Der bisherige Erfolg hatte eben seine Kehrseite: In den 1950er Jahren war der Mitgliedschaftszuwachs dermaßen beeindruckend gewesen, dass seinerzeit die Rede vom „Wunder der Organisation“5 war – obwohl auch damals schon der Anschluss an die heraufziehende Dienstleistungsgesellschaft in zunehmende Ferne rückte. Und in absoluten Zahlen gewannen die DGB-Organisationen sogar noch während der Öl- und Automobilkrise in den 1970er Jahren hinzu, als es bereits zu einem volkswirtschaftlich beängstigenden Anstieg der Arbeitslosigkeit kam. Aus Sicht der Gewerkschaftszentralen ließ sich die beklemmende Situation also auch optimistisch auslegen: Statt analog zur Wirtschaftsentwicklung zurückzugehen, vergrößerte sich die Mitgliedschaft aller DGB-Gewerkschaften zwischen 1973 und 1981 von rund 7,17 Mio. auf rund 7,96 Mio. Menschen. Was wollte man also mehr? Konnten die gewählten Strategien so falsch also gar nicht sein? 1981 standen die westdeutschen Gewerkschaften sogar im Zenit ihres Erfolgs: Nie zuvor in der deutschen Geschichte hatten ihnen mehr Menschen angehört. Allerdings ging dieser Mitgliederboom unmittelbar darauf in einen Mitgliederschwund über, der sich das gesamte Jahrzehnt hinweg kontinuierlich fortsetzte und allein durch den unerwarteten Zustrom der Wiedervereinigung kurzzeitig unterbrochen wurde. Doch freilich rief selbst dieser anhaltende Niedergang keine Existenzängste hervor, sank die Mitgliedschaft doch vergleichsweise moderat von 1981 bis zum Jahr 1990 von 7,96 Mio. auf 7,94 Mio., nominell um gerade einmal rund 20.000 Personen,6 nicht mehr als 0,25 Prozent – und das bei einer offenbaren Wirtschaftsflaute, einem stetig anwachsenden Sockel der Arbeitslosigkeit, insgesamt also widrigen Umweltbedingungen. Ließ sich nicht auch hier wieder die historische Bestandskraft der Gewerkschaften als die naturgegebene Interessenvertretung der erwerbstätigen Bevölkerung beschwören, war das Krisengerede also nicht am Ende übertrieben?

5

Zitiert nach Schönhoven 2003, S. 52; vgl. Ebbinghaus, Bernhard: Die Mitgliederentwicklung deutscher Gewerkschaften im historischen und internationalen Vergleich, in: Schroeder/Weßels (Hg.) 2003, S. 174-203, hier S. 199; Hassel, Anke: Organisation: Struktur und Entwicklung, in: Schroeder/Weßels (Hg.) 2003, S. 102-121, hier S. 102; Visser, Jelle: Westeuropäische Gewerkschaften im Umbruch, in: Gewerkschaftliche Monatshefte, H. 1/1989, S. 28-41, hier S. 31.

6

Vgl. Schroeder/Weßels (Hg.) 2003, S. 637.

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Man musste schon genauer hinsehen, um zu erkennen, dass die Mitgliedschaftskrise längst vor 1982,7 auf dem statistischen Höhepunkt der Mitgliederentwicklung, begonnen hatte. Blickte man damals auf den Organisationsgrad, so ließ sich erkennen, dass die Gewerkschaften bereits seit spätestens 1978 dabei waren, den Kontakt zum Arbeitsmarkt zu verlieren.8 Während dort die meisten Menschen in Angestelltenjobs ihr Geld verdienten, tummelten sich in den Gewerkschaften noch immer mehrheitlich Arbeiter. Hingegen waren Beamte weit überrepräsentiert, machten in den Gewerkschaftsmitgliedschaften einen viel größeren Anteil als auf dem Arbeitsmarkt aus. Diesbezüglich nahm sich die Entwicklung in den 1980er Jahren soziologisch somit weit problematischer als hinsichtlich der reinen Mitgliederzahlen aus. Die unterschiedlichen Anteile verschiedener Berufe, Geschlechter, Branchenzugehörigkeiten, Altersstufen oder Bildungsgrade zwischen Gewerkschaften und Arbeitsmarkt waren viel schwerwiegender als der (leichte) Rückgang der schieren Mitgliederzahl. Denn durch diese wachsende soziologisch-mentale Kluft konnten die Gewerkschaften zunehmend weniger für sich beanspruchen, die werktätige Bevölkerung politisch zu repräsentieren, ja überhaupt vorgeben, deren Interessen zu kennen. Dennoch genügte diese Entwicklung nicht, um die Gewerkschafter aufzurütteln und sie mutige wie entschlossene Maßnahmen ergreifen zu lassen; denn magische Grenzen wurden nicht unterschritten: Die Mitgliederzahl belief sich in den Krisenjahren durchgängig auf mehr als 7,7 Mio., der Organisationsgrad verharrte oberhalb der Dreißig-Prozent-Marke – und überhaupt neigten die Gewerkschaftsstrategen in den Organisationszentralen dazu, bei der Lagebeurteilung stets jene Werte, Kategorien und Kriterien in den Blick zu nehmen, die ihnen gerade für eine zuversichtliche Lagebeurteilung zupass kamen. Die eigentlich kritische Situation ließ sich also dank selektiver Wahrnehmung stets schönreden. Überdies erwiesen sich die institutionellen und rechtlichen Privilegien der deutschen Gewerkschaften als wirksamer Schutz: Gewerkschafter gehörten Kabinetten an oder saßen in Fernsehräten und wirkten an der Selbstverwaltung der Sozialversicherung mit.9 Die Tarifbindung von Unternehmen war fest – von Gewerkschaftern ausgehandelte Arbeitsbedingungen betrafen vor der „Wende“ rund zwei Drittel der kleinen und neun Zehntel der großen

7

Zur Krisenwahrnehmung durch die öffentliche Meinung siehe beispielhaft o.V.: Die alte Heimat wärmt nicht mehr, in: Die Zeit, 19.11.1982.

8

Vgl. Schroeder, Wolfgang: Gewerkschaften als soziale Bewegung – soziale Bewegung in den Gewerkschaften in den Siebzigerjahren, in: Archiv für Sozialgeschichte, Jg. 44 (2004), S. 243-265, hier S. 249.

9

Vgl. Wiesenthal/Clasen 2003, S. 299 f.

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Betriebe, für mehr als siebzig Prozent aller abhängig Beschäftigten der Republik legten sie Lohn, Gehalt, Arbeitszeit, Urlaub und Zulagen fest.10 Dies führte insgesamt dazu, dass sich die Gewerkschaften verbandsoffiziell erst in den 1990er Jahren in einer „Anpassungskrise“11 befanden – obwohl sich ihr Zustand schon lange zuvor verschlechtert hatte. Außerdem blieben sie auch hernach längere Zeit stark genug, um in Zukunft kaum etwas tiefgreifend verändern zu müssen, sodass sie im Grunde genommen den schleichenden Zerfall ihrer Machtgrundlage ignorierten. Und dieser Zerfallsprozess dauerte lange: Der Organisationsgrad benötigte sogar noch bis 2004, um auf knapp zwanzig Prozent herabzufallen; als politisch und institutionell entmachtet galten deutsche Gewerkschaften erst im Zusammenhang mit der Schröder’schen „Agenda 2010“ und den „Hartz“-Gesetzen, als sie in der Besetzung bedeutsamer Gremien und bei der Formulierung von politischen Maßnahmen ganz offensichtlich kaum mehr berücksichtigt wurden. Ihre politische Macht hatte öffentlich weithin erkennbar nicht bloß abgenommen, sondern war womöglich seit Bismarck nicht mehr so schwach gewesen. Hier ließ sich nun erstmals von einem deutlich sichtbaren Kraftverlust sprechen, der sich nicht mehr ohne Weiteres durch Zahlen und Worte kaschieren ließ. Dass sich die in den 1980er Jahren sichtbare Krise bis in die 1990er und 2000er Jahre hinauszögerte, obwohl sie unterschwellig schon in den 1970er Jahren begonnen hatte, lag im Übrigen auch an einer sporadisch fortbestehenden Stärke des gewerkschaftlichen Umfelds, vor allem den stellenweise noch intakten Milieus. In Gewerkschaftshochburgen wie dem Ruhrgebiet, wo vielzähliger noch als in anderen Regionen Arbeiter an den Hochöfen schwitzten und rußige Bergleute in die Stollen einfuhren, waren die emotionale Bindung an die Organisation und die Bedeutung von Gewerkschaften für Freundschaften und die Freizeit groß genug, um den Mitgliederschwund zu verzögern. Die Zahl der Bürger, für die Gewerkschaften selbstverständliche Bestandteile der Lebenswelt waren und die sie als Quelle sozialer Kontakte und solidarischer Geborgenheit wie auch als Ort der Freizeitgestaltung wertschätzten, war noch enorm und verdeckte die latente Mitgliederkrise außerhalb solcher Hochburgen. Außerdem verhinderten staatliche Subventionen nicht nur das Ende des geschichtsträchtigen Ruhrberg-

10 Vgl. Schönhoven 2003, S. 56. 11 Martens, Helmut: Schlußfolgernde Überlegungen, in: ders./Steinke, Jutta (Hg.): Gewerkschaftliche Arbeit „vor Ort“. Lokale Arbeitspolitik als Zukunftschance, Köln 1993, S. 286-313, hier S. 288; vgl. Biebeler, Hendrik/Lesch, Hagen: Zwischen Mitgliedererosion und Ansehensverlust: Die deutschen Gewerkschaften im Umbruch, in: Industrielle Beziehungen, Jg. 14 (2007) H. 2, S. 133-153, hier S. 138.

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baus, sondern zugleich den Zerfall der bergmännischen Arbeitermilieus, in denen Gewerkschaften ein wichtiges Element waren.12 Die ungewöhnliche Stärke der Gewerkschaften im Ruhrgebiet resultierte also nicht aus besonderen Anpassungsleistungen der Organisation, sondern war Folge eines verspäteten Einzugs von postindustrieller Modernität. Mit dem Blick auf das Ruhrgebiet, in dem sie sich ein kleines gewerkschaftsaffines Biotop geschaffen hatten, konnten sich die Gewerkschaften also noch stark fühlen – allerdings nur, solange sie nicht gen Osten schauten und überdies vergaßen, dass in den nordrhein-westfälischen Industrie- und Bergbauzentren ungewöhnliche, wenn nicht gar künstliche Verhältnisse herrschten, die andernorts nicht (mehr) anzutreffen waren. Ähnlich verhielt es sich mit Großbetrieben, in denen Gewerkschaften einen beträchtlichen Teil der Belegschaften organisierten. Auch sie verdeckten den Blick auf Probleme, erweckten den irrtümlichen Eindruck von Stärke, wo doch längst Schwäche eingetreten war. Industriebetriebe mit mehr als 500 (vor allem 4000) Beschäftigten waren die gewerkschaftlichen Hochburgen.13 Noch Mitte der 2000er Jahre gehörten z.B. neunzig Prozent der Opel-Arbeiter der IG Metall an. Während von den Angestellten des Autobauers weniger als ein Drittel gewerkschaftlich organisiert war, beherrschte die Gewerkschaft die Fabrikhallen. Sie waren dort stark, wo die Astras, Corsas und Vectras zusammengeschraubt wurden, nicht hingegen wo man deren Design erdachte, Vermarktung plante oder Verkaufszahlen überwachte. Überdies war fast jeder deutsche Betriebsrat Gewerkschaftsmitglied, war der Organisationsgrad unter den Belegschaftsvertretern mit zwei Dritteln bis drei Vierteln „über den Zeitraum der siebziger und achtziger Jahre bemerkenswert stabil und hoch“14. Im Hintergrund solch beeindruckender Zahlen blieb das Wachstum der nichtgewerkschaftlichen Betriebsräte zunächst verborgen – zwischen 1972 und 1990 erhöhte sich deren Anteil jedoch von 18 auf etwa 25 Prozent. Was statistisch von einem abnehmenden Rückhalt der Gewerkschaften bei den gesetzlich und demokratisch legitimierten Repräsentanten der Belegschaften zeugte, konnte aber je nach Blickwinkel genauso gut als ein mit bis zu 75 Prozent nach wie vor großer Rückhalt interpretiert werden. Zu ihrem eigenen Nachteil erwiesen sich offenbar viele Funktionäre in den Ge-

12 Vgl. Martens, Helmut: Das traditionsgebundene lokale Organisationsprinzip der IG Bergbau und Energie, in: ders./Steinke (Hg.) 1993, S. S. 104-163, hier S. 134 f. 13 Vgl. Biebeler/Lesch 2007, S. 141; Klikauer, Thomas: Trade union shopfloor representation in Germany, in: Industrial Relations Journal, Jg. 35 (2004) H. 1, S. 2-18, hier S. 9. 14 Hassel, Anke: Gewerkschaften und sozialer Wandel. Mitgliederrekrutierung und Arbeitsbeziehungen in Deutschland und Großbritannien, Baden-Baden 1999, S. 145.

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werkschaftszentralen als Meister des optimistischen Denkens, die stets die positiven Seiten einer Entwicklung fixierten und die negativen ausblendeten oder wenigstens in ihrer Bedeutung herunterspielten. Und im Gegensatz zu Textilgewerkschaften – um einen weiteren Faktor zu nennen, der die Krise verdeckte – operierte die IG Metall prinzipiell in einem Bereich, der ökonomisch nie vor dem Abgrund stand, im Gegenteil sogar die Speerspitze des deutschen Exports war und in dem überdies der klassische Typus des Gewerkschaftsmitglieds, der männliche Industriefacharbeiter, dominierte. Organisationen wie ver.di mussten hingegen auf ganz erheblich unwegsamerem Terrain auf Mitgliederjagd gehen – in Banken, Supermärkten oder Call-Centern. Jedenfalls erleichterte die außerordentliche Stärke in bestimmten Arbeitsmarktregionen – vor allem Bergbau, Metallindustrien und öffentlicher Dienst – den Verzicht auf einen grundlegenden Wandel, eine völlig neue Orientierung auf die eigentlichen Wachstumsgruppen des Arbeitsmarkts: Frauen und Teilzeit- oder geringfügig Beschäftigte sowie Arbeitnehmer in Dienstleistungsbranchen.15 Zahlenmäßig starke Gewerkschaften wie die IG Metall konnten den sektoralen Wandel, die Verschiebung des Beschäftigungswachstums vom Industrie- zum Dienstleistungsbereich, getrost verschlafen – sie hatten ja dank der Schlosser, Mechaniker und Stahlkocher auch so genügend zahlende Mitglieder, um nicht Konkurs anmelden zu müssen. Solange es die Fertigungskomplexe der großen Autobauer und die Walzwerke der weltweit exportierenden Stahlhütten gab, konnten die IG Metaller offenbar die wachsende Zahl von kleinen HightechManufakturen getrost vernachlässigen. Und so konnten sie auch zunächst darüber hinwegsehen, dass „der wesentliche Träger der Mitgliederstabilität“16 allein die Industriearbeiter – eine, wenngleich bedeutsame, Minderheit des Arbeitsmarkts – waren. Daneben eroberten Rentner immer größere Anteile an der Mitgliedschaft. Denn viele in den 1950er und 1960er Jahren rekrutierte Mitglieder alterten im Verlauf der Jahrzehnte und gingen in den Ruhestand, ohne dass im selben Ausmaß neue, junge Mitglieder hinzukamen. In den 1980er Jahren sanken die Mitgliederzahlen nicht durch Austritte, sondern aufgrund unzureichender Eintritte, die natürliche Abgänge durch Tod der organisationsstarken Jahrgänge

15 Vgl. Visser, Jelle: Trade Union Decline and What Next. Is Germany a Special Case?, in: Industrielle Beziehungen, Jg. 14 (2007) H. 2, S. 97-117, hier S. 107 f. 16 Ebd., S. 45; vgl. im Folgenden Schroeder, Wolfgang: Flucht nach vorn? Gewerkschaften unter dem Druck des sozialen Wandels, in: Blätter für deutsche und internationale Politik, Jg. 47 (2002) H. 5, S. 611-620, hier S. 614.

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nicht ausgleichen konnten.17 Die Gewerkschaften vergreisten zwar infolgedessen,18 konnten aber in der Statistik mit augenscheinlich hohen Mitgliederzahlen aufwarten. Neben all diesen Faktoren wirkten noch andere reformhemmend. Dazu gehörte auch die Neigung und Möglichkeit, Ursachen für Probleme außerhalb der Gewerkschaften zu suchen – und zu finden. Mit Vorliebe blickten Gewerkschafter auf ihr Umfeld, sahen sich als Opfer der Inkompetenz Anderer oder den üblen Machenschaften anonymer Mächte.19 Wahlweise hatte das betriebswirtschaftliche Unvermögen westdeutscher Kapitalbesitzer die ostdeutsche Industrie ruiniert und, in der Logik der Gewerkschafter, folglich den Mitgliederrückgang zu verantworten; oder kapitalistische Eskapaden der Marktwirtschaft sowie unternehmernahe Wirtschaftsphilosophien hätten es den Gewerkschaften allzu schwer gemacht. Und hatten sich mit einer hohen Arbeitslosenquote, einem verschuldeten Staatshaushalt sowie einem schwerwiegenden Wandel der Beschäftigungsbedingungen nicht beinahe alle denkbaren Faktoren binnen kürzester Zeit gegen die Gewerkschaften gewendet? Waren es nicht die wohlstandsverwöhnten, misstrauischen und aufgestiegenen Arbeitnehmer, die einfach keinen Sinn mehr für die politischen Ideale der Gewerkschaften besaßen? Wie es auch kam, die Gewerkschaftsfunktionäre betrachteten sich als deutlich unschuldiger an ihren Organisationsproblemen, als sie es in Wirklichkeit gewesen sein dürften. Und so sahen sie auch kaum einen Anlass zu tiefgreifenden Maßnahmen, harten Einschnitten, rabiaten Kurswechseln.

17 Vgl. Armingeon, Klaus: Die Entwicklung der westdeutschen Gewerkschaften 19501985, Frankfurt am Main/New York 1988, S. 89 f. 18 Waren 1972 mit um die 99 Prozent nahezu sämtliche IG-Metaller erwerbstätig, machten 1985 Rentner, Arbeitslose und Schüler/Studenten/Wehr- und Zivildienstleistende schon rund zwanzig Prozent aus; vgl. ebd., S. Tabelle 4.1/S. 160 f.; vgl. auch Mückenberger, Ulrich: Reform an Haupt und Gliedern!, in: Gewerkschaftliche Monatshefte, H. 10-11/2003, S. 649-654, hier S. 651. 19 Vgl. dazu Meise, Stephan: Habitustheoretische Analyse innergewerkschaftlicher Machtverhältnisse, in: Greef/Kalass/Schroeder (Hg.) 2010, S. 187-205, hier S. 198 f.; Negt, Oskar: Wozu noch Gewerkschaften? Eine Streitschrift, Göttingen 2004, S. 9; Scherer, Peter: Schwindsüchtige Riesen? Die Mitgliederverluste der Gewerkschaften, in: Sozialismus, H.3/1994, S. 48-50, hier S. 48 ff.; Scheytt, Stefan: Gesetz der Schwerkraft, in: brand eins, H. 10/2008, S. 26-38, hier S. 32; Schroeder, Wolfgang: Das Band der Solidarität neu knüpfen, in: Mitbestimmung, H.5/2007, S. 52-57.

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Trügerisches Reformbewusstsein Dabei waren die Gewerkschaften gar nicht einmal so reformmüde und untätig, wie man dies nun angesichts ihres Hangs zum Aufschub von Problemen vermuten könnte. Nominell mögen sie sogar zu den reformfreudigsten Akteuren in der Geschichte der Bundesrepublik gehören. Allein in den letzten dreißig Jahren ergriffen sie eine ganze Reihe von Maßnahmen: Sie schrieben ihr Programm um, veränderten ihre Strukturen, erneuerten ihr Personal und führten unzählige Werbeaktionen durch. Welcher Vorwurf ließe sich ihnen also angesichts einer solchen Bandbreite von Reaktionen – hinsichtlich Programmatik, Struktur, Personal und Image – eigentlich noch machen? Allein, allzu oft gaben sie sich einem trügerischen Reformbewusstsein hin. Sie überschätzten ganz einfach die Substanz und Reichweite ihrer Reparaturen und Innovationen. Zugespitzt gesagt, werteten sie jedwede Maßnahme unabhängig von deren Wirkung als Erfolg. Häufig formulierten die Gewerkschaftsfunktionäre derart hohe Ansprüche an die jeweilige Reform, dass diese zwangsläufig als Nachweis umfassender, dem Ausmaß der Krise mehr als angemessene Modernisierung erscheinen musste. Ein Beispiel: Zu Beginn des Jahres 1992 verordnete sich der DGB kurzerhand eine Generalreform, bei der zentrale Elemente auf den Prüfstand gestellt werden sollten: die Organisationsstrukturen ebenso wie die Programmatik und die Kommunikationswege, schlichtweg einfach alles.20 1996 wurde sodann zum „Jahr der Reform des Deutschen Gewerkschaftsbundes“21 ausgerufen. Der DGB durfte sich anschließend rühmen lassen, den „tiefsten programmatischen Einschnitt der deutschen Gewerkschaften […] in ihrer hundertjährigen Tradition“22 vorgenommen zu haben – doch genossen dieses erfüllende Erlebnis offenbar nur eingefleischte Gewerkschafter, wohingegen die erwerbstätigen Bürger damit kaum etwas anzufangen wussten, sich davon ofenkundig nicht beeindrucken und zu einer Mitgliedschaft bewegen ließen. Und weshalb auch? Das neue Programm unterschied sich kaum von älteren Versionen und war schwerlich in der Lage, unter den Arbeitnehmern Begeisterung zu entfachen und sie scharenweise in die Gewerkschaften strömen zu lassen. Ohnehin dürfte nur eine äußerst geringe Zahl von Menschen jemals ein Ge-

20 Siehe Kaiser, Sabine: Wandel zur Diskursgewerkschaft? Zur Diskussion um die DGBStrukturreform, in: Sozialismus, H. 1/1993, S. 48-51. 21 Schulte, Dieter: Reformjahr 1996 – ein Ausblick, in: Gewerkschaftliche Monatshefte, H. 1/1996, S. 2-16, hier S. 2. 22 Hank, Rainer: Der Zauberer. „Bündnis für Arbeit“ statt Programmdebatte, in: Gewerkschaftliche Monatshefte, H. 1/1996, S. 32-40, hier S. 37.

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werkschaftsprogramm gelesen haben. Doch war die Programmnovelle auch nicht in der Lage, länger anhaltenden Enthusiasmus wenigstens unter den Funktionären zu verbreiten und ihnen neuen Elan für die Rekrutierung von Mitgliedern zu vermitteln. Ein weiteres Beispiel einer überschätzten Reform: 2001 schlossen sich fünf Einzelgewerkschaften zu einer neuen Superorganisation zusammen. Auch die hieraus hervorgegangene ver.di versuchte zu Beginn des neuen Jahrtausends nichts geringeres, als mit einem „modernen Erscheinungsbild und attraktiven Betreuungsangeboten“ „neue Antworten“ auf den „raschen Wandel der Arbeits- und Betriebsstrukturen, auf die zunehmende Erwerbstätigkeit von Frauen, auf den Verfall der Normalarbeitsverhältnisse und den in Deutschland starken Anstieg von prekären Beschäftigungsverhältnissen“ zu geben.23 Stattdessen geriet sie in den ersten zehn Jahren ihres Bestehens von der mitgliederstärksten zur wohl erfolglosesten Gewerkschaft der Welt – zwischen 2001 und 2010 verlor sie 712.000 Mitglieder, was einem Viertel ihres anfänglichen Bestands entsprach. Das Projekt hatte somit sein ursprüngliches Ziel verfehlt, neue Arbeitsnehmergruppen als Mitglieder zu gewinnen, und war lediglich aus der Sicht von Medienmachern ein Erfolg, da es aufgrund seiner sensationellen Größe und seiner Misserfolge zu Schlagzeilen und Kommentaren taugte. Das Gründungsereignis – eine der größten Organisationen in der Geschichte der Menschheit, die zeitgenössisch weltgrößte Gewerkschaft geschaffen zu haben – überstrahlte in den folgenden Jahren den Niedergang. In vermeintlichen Reformen, die das Bewusstsein für den tatsächlichen Reformbedarf schwächten, lag ein schwerwiegender Widerspruch. Ebenso paradox waren Reformdebatten. Dabei handelte es sich um Absichtsbekundungen und Gespräche darüber, mit Reformen auf Missstände zu reagieren. Von solchen Debatten gab es seit ungefähr 1985 eine ganze Menge.24 In der zweiten Hälfte der

23 Falbisoner, Josef: Eine neue Gewerkschaft – ein neuer Weg?, in: Kaiser, Erwin et al. (Hg.): Auf zu neuen Ufern. Gewerkschaftliche Organisierungsmodelle in Österreich und Europa, Wien 1999, S. 161-169, hier S. 163. 24 Hierzu vgl. Schabedoth, Hans-Joachim/Tiemann, Heinrich: Zukunftsdiskussion der IG Metall und Wandel der Organisationspolitik. Eine Bilanz, in: Forschungsjournal NSB, Jg. 4 (1991) H. 3, S. 77-88, hier S. 81; Schmid, Josef/Tiemann, Heinrich: Die Zukunftsdiskussionen und -programme der Parteien und Verbände. Nur Rauch ohne Feuer?, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, H. 44/1991, S. 38-46, hier S. 39 f.; Schroeder, Wolfgang: Zukunftsdebatten in der IG Metall: Der Ritt über den Bodensee, in: Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte, Jg. 48 (2001) H. 6, S. 347-351, hier S. 347 f.; Silvia, Stephen J./Markovits, Andrei S.: Plädoyer für eine Konzentration auf das We-

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1980er Jahre veranstaltete bspw. die IG Metall eine Reihe von Zukunftsdebatten; und die HBV stellte 1991 aus rund dreißig Funktionären sogenannte Strategiekreise zusammen. Derlei Aktionen verfolgten das Ziel, zeitgemäße Diskurse nachzuvollziehen und den basisdemokratischen Beteiligungsbedürfnissen einfacher Mitglieder und niedrigrangiger Funktionäre nachzukommen. Diese Hoffnungen erfüllten sich jedoch nicht. Im Falle der IG Metall gerieten die Zukunftsdebatten zu elitären Veranstaltungen mit Intellektuellen, Wissenschaftlern und Politikern, die über konsequenzlose Selbstverpflichtungen und die schiere Diskussion mutmaßlich bedeutsamer Themen nicht hinauskamen und dadurch über das reine Debattenereignis hinaus keinerlei Wirkung entfalteten. Hier wurde zumeist – und in Anbetracht der nun schon länger währenden Krise vergleichsweise oberflächlich – festgestellt, dass sich die Organisation solchen Gruppen öffnen sollte, die bislang in geringem Ausmaß Gewerkschaften angehört hatten; ein häufiger Ansatz bestand daneben in dem pauschalen Vorschlag, Entscheidungen demokratischer, unter häufigerer und umfassenderer Einbeziehung unterer Ebenen zu treffen. Meist blieben die – ohnehin vagen – Ergebnisse dieser Debatten jedoch bloß unverbindliche Empfehlungen. Ebenfalls misslang der vermeintlich radikale und originelle Schritt, formalen Mitgliedern wie auch Nichtmitgliedern im Rahmen einer neuerlichen Zukunftsdebatte Mitsprache in der politischen Agenda einzuräumen – Probleme und deren Lösungen sollten aus der Kommunikation mit der Basis und Klientel entdeckt und entwickelt werden. Diesen ambitionierten Anspruch unterlief die Gewerkschaft allerdings, da sie lediglich 400.000 Personen befragte, ohne dass deren Antworten anschließend den Kurs der Organisation merklich beeinflusst hätten. Die IG Metall galt jedenfalls hernach nicht als eindrucksvoller Avantgardist des postindustriellen Zeitalters oder vorbildlich demokratische Organisation und schaffte es allen Zukunftskongressen zum Trotz nicht, ihrem zunehmendem Mitgliederschwund beizukommen. Und auch die HBV war mit den strategischen Gesprächen nicht Herr ihrer misslichen Lage geworden. Vielmehr verleiteten die Strategiekreise den Vorstand zu dem Fehlschluss, mustergültig eine demokratische und ausgiebige Debatte durchgeführt, das Soll erfüllt zu haben. Im Folgejahr zeigten sich die Delegierten jedoch mehrheitlich mit dem Debattenergebnis unzufrieden, fühlten sich wider das Ansinnen der Reform ausgegrenzt und übergangen, da ja lediglich ein kleiner Ausschnitt des Funktionärskörpers beteiligt worden war, der das Gros der Gewerkschaftsangestellten nicht widerzuspiegeln schien. Die vermeintliche Reform hatte damit das Gegenteil ihres Zwecks be-

sentliche, in: Meyer, Heinz-Werner (Hg.): Aufbrüche – Anstöße, Köln 1994, S. 117131.

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wirkt: Sie hatte den Reformdruck reduziert, ohne den Reformanlass behoben zu haben. Denn fataler Weise glaubten die Vorstände und ihre Stäbe der großen Gewerkschaftszentralen in Stuttgart (ÖTV), Frankfurt am Main (IG Metall und GEW) oder Hannover (IG Chemie), durch derlei Maßnahmen die Effizienz ihrer Apparate, die Gerechtigkeit der Verfahren und die Attraktivität ihrer Serviceangebote solchermaßen gesteigert zu haben, dass sie gewissermaßen nur noch den Zustrom begeisterter und zufriedener Bürger abzuwarten brauchten. Doch freilich kam es auch dazu nicht. Zumeist überschätzten sie nämlich die Tragweite und Qualität ihrer Modifikationen. Neben Zukunftskongressen und Ähnlichem geschah dies auch an anderen Stellen: In den 1960er Jahren tauschten bspw. viele Gewerkschaften in großem Ausmaß die ehrenamtlichen mit hauptberuflichen Funktionären aus und stellten die zwischenmenschlich abgewickelte Beitragskassierung auf elektronische Verfahren um.25 Zudem boten sie Zusatzversicherungen wie z.B. gegen Freizeitunfälle an. Durften sie diese Schritte zu weiterer Professionalisierung nicht berechtigterweise als eine Steigerung ihrer Leistungsfähigkeit betrachten? Schließlich nutzten sie damit ja die Möglichkeiten aus, die ihnen der technische Fortschritt anbot. War das etwa nicht effizient und professionell? Dass sie die damit die Verbindung zu ihrer Klientel kappten, die ohnedies wachsende Distanz zu den Vorgängen im Erwerbsalltag vergrößerten und zudem übersahen, dass sich die Bürger nicht mehr wegen einer Sozialversicherung der Gewerkschaft anschlossen, dürfte ihnen dabei offenbar nicht ganz klar gewesen sein. Das musste es vielleicht auch gar nicht – nicht jedes ungewünschte Resultat einer Reform lässt sich so einfach voraussehen. Aber dies ändert nichts an den kontraproduktiven Folgen dieser Reformen. Ein anderer Hoffnungsträger des gewerkschaftlichen Reformfundus waren öffentliche Kampagnen. Das Wort „Kampagne“ ist dem militärischen Kontext entlehnt, bezeichnet den längeren Aufenthalt einer Armee im Feld, einen kriegerischen Heerzug gegen den Feind. Auch im Zusammenhang von politischen Akteuren besaßen Kampagnen einen kämpferischen Charakter; denn sie waren ein Instrument im Kampf um die Aufmerksamkeit eines von allen Seiten mit Informationen überschütteten Publikums.26 Sie gehorchten den Gesetzen der Massenmedien, sollten das Interesse der Menschen auf ein bestimmtes politisches Anliegen lenken und für die Position des Kampagne-Urhebers – im vorliegenden

25 Vgl. Streeck 1979, S. 86-91. 26 Zum Wesen von Kampagnen vgl. Speth, Rudolf: Über die Inszenierung von Öffentlichkeit durch Kampagnen, in: Forschungsjournal Neue Soziale Bewegungen, H. 3/2007, S. 18-25.

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Fall also die Gewerkschaften – Zustimmung erreichen und Vertrauen herstellen. Kampagnen sollten die Handlungsfähigkeit der Gewerkschaften unterstreichen und zeigen, dass diese im Zustand der Krise nicht erstarren; und sie sollten nicht zuletzt die politische Nähe der Gewerkschaften zu den Problemen der Bürger demonstrieren. Auf den ersten Blick empfahlen sie sich daher als eine Möglichkeit, im Zeitalter massenmedialer Information die gelockerten Beziehungen zur politischen Zielgruppe wieder zu festigen, zwischen beiden Seiten Kommunikation zu ermöglichen. Kampagnen enthielten somit ein Heilsversprechen, das sie jedoch nicht einlösten. Im Gegenteil: Größtenteils verschlangen sie viel Geld und verleiteten die Gewerkschafter obendrein zu der Fehlannahme, die Macht ihrer Argumente und die Anziehungskraft ihres Images entscheidend vergrößert zu haben. Schließlich lagen sie offenbar ja voll im marketing-technischen Trend. In Wirklichkeit aber lebten Kampagnen von einem unreflektierten Hype und wurden in der Regel überbewertet – vor allem von den Gewerkschaftszentralen. Kampagnen waren seit den späten 1980er Jahren die wohl beliebteste Krisenreaktion der Gewerkschaften, zugleich Symptom für die Unfähigkeit, Menschen auf anderen Wegen zu erreichen. Zum Beispiel betraute 2003 der DGB für fünf Millionen Euro eine Berliner Agentur mit einer Kampagne „Gegen eine neoliberale Wirtschaftspolitik“.27 Manche Gewerkschaften setzten sie derart inflationär ein, dass sie sich selbst Aufmerksamkeitskonkurrenz machten – so wie z.B. die IG BCE, die 2007 sechs parallele Kampagnen abhielt.28 Grundlage dieses scheinbaren Allheilmittels aus der Marketing- und Kommunikationswelt war die Annahme, man brauche bloß den Nutzen und die Vorteile von Gewerkschaften öffentlich sichtbar zu machen und man könne mit Anzeigen in der Bild am Sonntag und Großplakaten zum Preis einer zweistelligen Millionensumme eine fest errechnete Zahl von potenziellen Rezipienten erreichen und diese in die Gewerkschaften locken. Die Wirklichkeit gehorchte freilich nicht dieser lediglich theoretischen Logik. Die Geldausgaben dürften angesichts der anhaltenden Organisationskrise jedenfalls keinen entsprechenden Gegenwert in gesteigerten Mitgliederzahlen oder erhöhter Beliebtheit gefunden haben.

27 Vgl. Sirleschtov, Antje: Die Hebel der Macht, in: Der Tagesspiegel, 25.02.2003; Schöneberger, Markus: Die Wut wächst, in: Rheinischer Merkur, 13.03.2003. 28 „Modell Deutschland“, „Mehr Gesundheit! Danke“, „Bildung braucht Offensive“, „Du bist der Tarif“, „Familienbewusste Personalpolitik“ und „Wir steh’n auf…Toleranz“; vgl. Arlt 2007, S. 63; siehe auch Camen, Gabriele v.: „.und was ist, wenn es eines Tages keine Gewerkschaften mehr gibt?“. Zur Image-Kampagne des DGB, in: Gewerkschaftliche Monatshefte, H. 5/2000, S. 268-271.

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Kampagnen richteten deshalb vermutlich mehr Schaden an, als sie Abhilfe schufen. Die Gewerkschaften wurden Opfer wesentlicher Schattenseiten dieser vielversprechenden Kommunikationstechnik: Erstens galten Kampagnen als unumstößlicher Ausweis von Professionalität – dadurch verkamen sie aber allzu oft zu einem reinen Selbstzweck, bei dem sich am Ende Zufriedenheit allein aus dem Grund einstellte, eine Kampagne durchgeführt zu haben.29 Zweitens bedeuten sie einseitige Kommunikation – ohne Austausch, ohne Gegenrede. Sie fragen nicht nach den Meinungen und Befindlichkeiten ihrer Adressaten, sondern sind reine Mitteilungen, konfrontieren die Empfänger mit vermeintlichen Wahrheiten.30 Als professionelle Produkte von Experten, die Kampagnen berufsmäßig konzipieren und als fertige Pakete verkaufen, sind sie schwer mit dem Anspruch von Demokratie und Beteiligung, dem Kern einer Mitgliederorganisation, zu vereinbaren.31 Im Fall der Gewerkschaften verstärkten Kampagnen überdies das Problem, demnach die Organisation nach außen hin Einigkeit vorgab und damit die tatsächlich bestehende Uneinigkeit bzw. Vielfalt innerhalb ihrer Klientel überspielte – Kampagnen ignorierten, dass der Konsens unter den Gewerkschaftsfunktionären nicht ebenso Konsens der Kampagne-Adressaten war.32 Sie operierten mit Annahmen und Auffassungen, die nicht immer denen der Zielgruppe entsprachen, wodurch sie ihre erstrebte Wirkung oftmals verfehlten. Und drittens wussten die Funktionäre in den Gewerkschaftsbüros an der Basis kaum etwas mit dem Kampagnenmaterial anzufangen – vermutlich schmissen sie eine riesige Menge an Plakaten und Flugblättern einfach in den Müll.33 Kurzum: Gewerkschaften ließen sich vom Mythos der Kampagne als zeitgemäßer Kommunikationsform betören und übersahen dabei, dass eine demokratisch verfasste Mitgliederorganisation dieses Instrument nicht in gleicher Weise wie ein Unternehmen der freien Wirtschaft einsetzen kann. Nicht minder erfolglos im Reformreigen der deutschen Gewerkschaften waren Personalreformen und Politcoups, die oftmals weit hinter dem Optimismus ihrer Urheber zurückblieben. So präsentierte z.B, die IG Metall 1986 die promo-

29 Vgl. Leggewie, Claus: Kampagnenpolitik – eine nicht ganz neue Form politischer Mobilisierung, in: Röttker, Ulrike (Hg.): PR-Kampagnen. Über die Inszenierung von Öffentlichkeit, Opladen 1997, S. 151-171, hier S. 158 f.; Speth 2007, S. 21. 30 Vgl. Speth 2007, S. 24. 31 Vgl. Röttger, Ulrike: Campaigns (f)or a better world?, in: dies. (Hg.) 1997, S. 13-33, hier S. 21. 32 Vgl. Arlt, Hans-Jürgen/Jarren, Otfried: Abwehrkünstler am Werk. Über die Kampagnenfähigkeit des Deutschen Gewerkschaftsbundes, in: Röttger (Hg.) 1997, S. 173-194. 33 Vgl. ebd., S. 187 f.

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vierte Sozialwissenschaftlerin Karin Benz-Overhage als neues Vorstandsmitglied – ihrem Profil nach war sie jung, akademisch, angestellt, weiblich und repräsentierte damit all das, was der IG-Metall-Mitgliedschaft fehlte.34 Doch außer dem Irrtum, die Organisation nun eben für jene unterrepräsentierte Gruppen attraktiv gemacht zu haben, brachte dieser Schritt nicht viel. Denn die IG Metall blieb in besagten Bereichen auch weiterhin schwach. Ein anderes Beispiel: Mitte der 1990er Jahre, als die Arbeitslosenzahlen historische Rekordziffern schrieben und eine beklemmende Erinnerung an die vornationalsozialistische Wirtschaftsmalaise der Weimarer Republik wachriefen, nutzte der damalige IG-MetallVorsitzende Klaus Zwickel die gesellschaftliche Alarmstimmung, um der Unternehmerseite im Austausch für Arbeitsplätze tarifliche Lohnzurückhaltung anzubieten. Treffsicher hatte er damit jenes Thema gewählt, mit dem sich voraussichtlich am meisten Debattenaufmerksamkeit erzielen ließ. Mit Zwickels Bündnisangebot, so überschlugen sich nun in der Tat euphorisch die Pressekommentare, hätten sich die Gewerkschafter endlich aus ihrer jahrelangen Lethargie befreit und Politik wie Arbeitgeber unter Zugzwang gesetzt. Selbst gewerkschaftskritische Kommentatoren konzedierten den Gewerkschaften die Leistung, erstmals nach langer Zeit „wieder als Innovations-Agenturen“35 dazustehen. Ihrem Selbstverständnis nach formulierten die Gewerkschaften damit „ein Angebot an Politik und Arbeitgeber, Wege aus der Massenarbeitslosigkeit und zur Sicherung des Sozialstaats im Konsens zu finden“36. Doch das „Bündnis für Arbeit“ zerfiel alsbald. Ein Erfolgskapitel in der Gewerkschaftsgeschichte musste darüber niemand verfassen. Gleichfalls war auch die 35-Stunden-Woche kein wirklicher Befreiungsschlag der Gewerkschaften. Viele Funktionäre waren zwar ungemein stolz auf diese ideologisch bedeutende Errungenschaft der Arbeiterbewegung. Doch es handelte sich dabei überwiegend um einen lediglich formellen Triumph – unterliefen doch die Arbeitgeber in der Praxis ganz oft diese Tarifregelung und feierten auch die Beschäftigten diese nicht annähernd so euphorisch, als dass sie derentwegen sogleich einen Mitgliedschaftsantrag für die IG Metall ausgefüllt hätten. Kurzum: Struktur- und Programmreformen entwickelten ganz oft zu fixen Ideen der Gewerkschaftszentralen, mit denen sich übertriebene Hoffnungen ver-

34 Vgl. o.V.: Eine Frau – als Überraschung, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 15.11.1986. 35 Hank 1996, S. 33; vgl. dazu auch Wiesenthal/Clasen 2003, S. 305 f. 36 Lang, Klaus/Kuhlmann, Reinhard: „Bündnis für Arbeit“ – Reformperspektive für Vollbeschäftigung und Sozialstaat, in: Gewerkschaftliche Monatshefte, H. 3/1996, S. 189-200, hier S. 200.

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banden und auf die sich folglich sämtliche Anstrengungen konzentrierten. Im fälschlichen Bewusstsein, sich ausreichend um Modernisierung zu bemühen, vegetierten die Gewerkschaften auf Kosten ihrer verbliebenen Kraftreserven mehrere Jahre dahin, verbrauchten sich, ohne dass die Reformversuche die grundlegenden Probleme beseitigt hätten. Die Funktionäre in den Gewerkschaftszentralen täuschten sich indessen jedes Mal aufs Neue über die unvermindert schwelende Krise mit dem Gefühl hinweg, angemessen und völlig ausreichend reagiert zu haben. Auf diese Weise brachten Reformen sogar doppeltes Leid: Die Strategen der Organisation glaubten an den Erfolg ihres Handelns – dachten, veraltete Mechanismen hinterfragt und abgestellt, ein Maximum an Reformbereitschaft gezeigt zu haben – und drosselten daraufhin ihren Reformelan. Und viele Mitglieder wie auch nicht wenige im Verwaltungsapparat tätige Funktionäre waren umso enttäuschter von den Reformen, je euphorischer sie anfänglich inszeniert und je unrealistischer sie formuliert worden waren. Denn die Beteiligungsversprechen erwiesen sich zumeist als illusionäre Vorhaben, denen eine Organisationswirklichkeit entgegenstand, die zum einen enttäuschende Verfahren praktizierte und zum anderen die ohnehin geringen Resultate des demokratischen Impulses wenig ernstnahm. Wie der Gewerkschaftskörper gegen Kritik immun wurde Gewiss gab es in den meisten Gewerkschaften keinen Mangel an kritischem Gedankengut und alternativen Ideen. Jedenfalls nicht, wenn man die unzähligen Beiträge in einschlägigen Periodika wie dem Sozialismus oder den Gewerkschaftlichen Monatsheften berücksichtigt. In diesen Schriften ließen sich in den 1980er und 1990er Jahren so gut wie jeden Monat mehr oder minder heftige und konkrete Kritiken am Zustand der deutschen Gewerkschaften lesen – von Funktionären der mittleren Verwaltungsebene genauso wie von universitären Gewerkschaftsforschern. Doch Vehemenz und Regelmäßigkeit dieser Kritiken offenbaren beim nachträglichen Durchblättern Kurioses. Denn Monat für Monat, Jahr um Jahr bemängelten sie im Grunde dieselben Probleme: Die Gewerkschaften müssten neue und zukunftsweisende Antworten auf die Fragen der Gegenwart finden, müssten ihr öffentliches Erscheinungsbild auffrischen, ihre Strukturen straffen und internen Verfahren mehr demokratische Elemente einverleiben, überhaupt bessere Bedingungen für die Partizipation engagierter Bürger schaf-

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fen.37 Zum Beispiel müssten die ritualisierte Scheindemokratie von akklamierenden Gewerkschaftskongressen durchbrochen, kritische Köpfe im fortgeschrittenen Stadium der Diskussion berücksichtigt und konsultiert, Kritik allgemein wertgeschätzt werden; dringend seien überdies Jugendliche, Frauen und Angestellte zu werben und schleunigst müssten die Beschäftigten in Klein- und Mittelbetrieben als Mitglieder gewonnen werden. Verzweifelt beschworen wissenschaftliche Ratgeber die „lernende Organisation“38, die sich in zentralen Bereichen wie Demokratiekultur, Organisationsaufbau und Öffentlichkeitsauftritt modernisiert und an eine veränderte Gesellschaft anpasst. Die Gewerkschaften sollten sich für Interessen von außen öffnen, da die Funktionäre nicht in der Lage seien, die Stimmungslage eines stark segmentierten Ensembles von Lebenswelten zu erfassen. Und all das stimmte wohl auch zu einem großen Teil. Aber die unablässige Kritik bewirkte nicht viel. Zu Beginn des neuen Jahrtausends wiederholten sich nämlich die Krisenatteste der vorangegangenen Jahrzehnte. Auch in den 2000er Jahren hieß es, die deutschen Gewerkschaften stünden schlecht dar, ihre Mitgliedschaft sei überaltert, repräsentiere den industriell dominierten Arbeitsmarkt der 1960er Jahre, das Sozialprofil der Ehrenamtlichen im Hinblick auf die Repräsentativität sei noch defizitreicher als die Mitgliedschaft, das öffentliche Erscheinungsbild sei das einer anachronistisch denkenden und handelnden Organisation, in der Tat sei die Gewerkschaftspolitik wirklichkeitsfern, gäben Programmatik, Organisationskultur – die Attraktivität im Allgemeinen – Jungen, Gebildeten und Frauen keinen sonderlich großen Anlass zum Beitritt, weshalb sich die Großorganisationen endlich und schleunigst eine Bereitschaft zum Wandel aneignen, sich allumfassend reformieren müssten.39

37 Siehe z.B. Bierbaum, Heinz: Auftakt zur Debatte, in: Sozialismus, H. 4/1993, S. 38; Döding, Günter: Gewerkschaften – weder Parteiersatz noch Überregierung, in: Gewerkschaftliche Monatshefte, H. 2/1985, S. 92-101, S. 95; Epskamp, Heinrich: Beteiligung und Diskurs statt Professionalität und Effizienz?, in: Oetjen, Hinrich/Zoll, Rainer (Hg.): Gewerkschaften und Beteiligung. Eine Zwischenbilanz, Münster 1994, S. 142-153; Frech, Günter: Quadratur des Kreises. Eine Nachbetrachtung des DGBKongreß, in: Sozialismus, H. 7/1994, S. 53-54; Hoffmann, Jürgen et al. (Hg.): Jenseits der Beschlußlage, Köln 1990; Schütte, Helmuth: Politisch unkorrekte Notizen zum Stand der Dinge zwischen Sozialdemokratie und Gewerkschaften, in: Gewerkschaftliche Monatshefte, H. 1/2000, S. 22-26, hier S. 26. 38 Mückenberger 2003, S. 653. 39 Siehe beispielhaft Dettling, Warnfried: Vor einer kopernikanischen Wende?, in: Gewerkschaftliche Monatshefte, H. 10-11/2003, S. 642-645; Mückenberger 2003.

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Statistisch betrachtet, ließ sich also fraglos ein großes Ausmaß an konträrem Denken und konstruktiven Vorschlägen messen – auch die Artikel und Bücher, die darüber geschrieben wurden, erreichen inzwischen eine unüberschaubare Menge. Doch gerade darin lag ein entscheidendes Manko: Die Kritik vollzog sich in einer derart inflationären Abfolge von Wortmeldungen und Problemdiagnosen, dass sie bald keine Wirkung mehr zeitigte. Auf sie folgten zumeist floskelhafte Parolen und eine Rhetorik der folgenlosen Ankündigung. Die Gewerkschaftsspitzen erwiesen sich insofern als lernende Instanzen, als dass sie lernten, Kritik zu entschärfen. In der andauernden Konfrontation mit von vielen Seiten schriftlich artikulierter Kritik – von Funktionären, Wissenschaftlern und Journalisten – entwickelten die verantwortlichen Gewerkschaftsfunktionäre eine Reihe von Abwehrstrategien, mit denen sie sich aus der Bredouille brachten. Ganz oft begegneten sie der Flut von Forderungen und Urteilen mit vollmundigen Gelöbnissen, baldmöglichst die Lage durch fundamentale Veränderungen zu verbessern. Doch in aller Regel verblieben diese Versprechen rhetorische Schwüre. Zu einer „Neustrukturierung der Gewerkschaften“40, wie sie etwa der DGB-Vorsitzende Dieter Schulte 1999 in Aussicht stellte, kam es z.B. nicht in einem Ausmaß, das eine derartige Bekanntmachung eigentlich verhieß. Und die feierlich anberaumten Zukunftsdebatten der IG Metall galten schnell als „von der Zukunft überholt“41. Auch half das einmütige Kriseneingeständnis nicht weiter – es gab faktisch kaum einen Gewerkschafter, der am Ende der 1980er Jahre nicht in die Reformrufe mit einstimmte oder den Konsens hinterfragte, sich einem fundamental gewandelten Umfeld anpassen zu müssen. Ebenso einsichtig wie einhellig bekundeten Gewerkschaftsfunktionäre, den Kontakt zu den wachsenden Gruppen des Arbeitsmarkts – dabei vor allem die weitläufig unter die Kategorie „Angestellte“ gefassten Beschäftigten – sowie die Konfliktfähigkeit in Tarifverhandlungen wiederherstellen oder mit NGOs und sozialen Bewegungen zusammenarbeiten zu wollen. Diese – ohnehin leidenschaftslos geführten Debatten – versandeten jedoch folgenlos in den Grundsatz-

40 Dieter Schulte zitiert nach Fickinger, Nico (Interview mit Dieter Schulte): „Wir müssen die Arbeitsteilung untereinander neu überdenken“, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 17.11.1999. 41 Sander, Bernhard: Des Königs neue Kleider. Die Organisationsreform des DGB, in: Sozialismus, H. 12/1994, S. 41-46, hier S. 43; vgl. Fichter, Michael et al.: Programm der Beliebigkeit, in: Gewerkschaftliche Monatshefte, H. 4/1996, S. 254-264, hier S. 263; Schroeder 2001: Zukunftsdebatten, S. 350.

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referaten der Vorsitzenden oder verdichteten sich zu einem undurchdringlichen Programmkonvolut, das kaum jemand zu lesen bereit war. Eine beliebte Methode des gewerkschaftlichen Führungspersonals bestand überdies im Jonglieren mit inhaltsleeren Floskeln, die den Fortgang der Reform dokumentieren sollten, in Wahrheit jedoch mehr über die Orientierungs- und Ideenlosigkeit ihrer Urheber aussagten. So seien bspw. „Solidarität, Freiheit, Gleichheit und Gerechtigkeit“ die „Maßstäbe gewerkschaftlicher Politik“.42 Was der DGB-Vorsitzende Schulte jedoch eigentlich mit diesen Begriffen meinte, blieb unklar. Die Forderung nach einer vehementeren Orientierung auf neue Mitglieder beantwortete Schulte, indem er sie kurzerhand zum „Schlüssel für unsere Handlungsfähigkeit in der Zukunft“43 erklärte. Seither galt der Gewinn von Mitgliedern in der IG Metall als Angelegenheit von „höchste[r] politische[r] Priorität“44. Trotzdem verlor die Großgewerkschaft bis 2010 mehr als eine halbe Million Mitglieder. Sicherlich experimentierten einige Organisationsbereiche mit neuen Konzepten und führten erfinderische Projekte durch – doch einige Zeitlang sprach daraus nicht jene Entschiedenheit, die führende Funktionäre vorgegeben hatten. So war es oft: Pauschalen Mängelangaben folgten zumeist ebenso phrasenhafte Lösungsvorschläge. Papiere und Kongressreden schwiegen sich meistens über präzise Vorgehensweisen aus, erteilten den Funktionären keine expliziten Handlungsvorgaben – niemand wusste im Organisationsalltag so recht, was genau zu tun war, und keiner übte genug Druck aus, an diesem Umstand etwas zu ändern. Und so ergossen sich über die Gewerkschaftstage und Pressekonferenzen der 1980er, 1990er und z.T. auch noch der 2000er Jahre hauptsächlich vage Absichten und unspezifische Beschlüsse, mit denen vornehmlich die Gemüter beruhigt werden sollten und mit denen man sich auch selbst ein wenig über eigene Unzulänglichkeiten hinwegtäuschte. Formal war die Kritik da – faktisch richtete sie nichts aus. So kam es zu einem weiteren Paradoxon in der jüngeren Reformgeschichte deutscher Gewerkschaften: Gerade weil die Kritik derart zahlreich und gründlich ausfiel und unablässig auf die Gewerkschaften einprasselte, zeigten sich viele Funktionäre davon unberührt, wurde die Krise zum Alltag, zur Normalität. Daher bewirkte sie allenfalls eine Serie symbolischer Maßnahmen und guter Vorsätze, die sämtlich kaum etwas am fortschreitenden Niedergang änderten. Denn

42 Schulte 1996, S. 9. 43 Ebd., S. 5. 44 Eichler, Bertin: Mitgliederbindung und -werbung. Braucht die IG Metall eine neue Leistungspolitik?, in: Gewerkschaftliche Monatshefte, H. 3/2000, S. 150-159, hier S. 158.

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trotz des Reformwillens verkleinerte und verengte sich die Mitgliedschaft der Gewerkschaften unvermindert. In den kritiklastigen frühen 1990er Jahren schrumpfte sie von 11,8 Mio. im Jahr 1991 auf 9,3 Mio. im Jahr 1995 – bis sie 2000 bereits bei 7,8 Mio. angelangt war.45 Außerdem war die Kritik dermaßen allgegenwärtig und universell, dass sie die Gewerkschaftsspitzen schlichtweg überforderte. Zum einen umfasste sie viel zu viele Baustellen, als dass diese gleichzeitig abgeschlossen werden konnten. Und zum anderen verleitete sie die betreffenden Funktionäre zu unrealistischen Plänen, die ganz oft über das frühe Stadium von Papieren und Reden nicht hinauskamen, und machte sie taub für weitere Einagben. Hinzu kam, dass der wissenschaftliche Expertenrat z.T. widersprüchliche Aussagen machte. So mahnte die eine Seite die Ausdehnung der Gewerkschaftspolitik auf weitere Bereiche an, eine andere hingegen empfahl die Beschränkung auf klassische Kerntätigkeiten. Dadurch verschwanden substanzhaltige Diskussionsbeiträge leicht in einer unübersichtlichen Menge von Eingaben, hatten die strategischen Denker und Planer in den Gewerkschaftshauptquartieren irgendwann keine Lust mehr, sich die immer gleichen Kritiken anzuhören. Dies stärkte das Immunsystem der Führungsapparate, die unterdessen fortwährend resistenter gegenüber kritischen Einwürfen wurden und diese irgendwann kaum mehr beachteten. Hinter dem offiziellen Reformbekenntnis stand daher häufig eine tatsächliche Reformmüdigkeit. Und widersprachen am Ende nicht Ausmaß und Tiefe der Kritik dem Zustand der meisten Gewerkschaften, die schließlich immer noch erstaunlich viele Mitglieder und in manchen Bereichen des Arbeitsmarkts stattliche Organisationsgrade vorweisen konnten? Waren mehr als sieben, annähernd acht Millionen Mitglieder am Anfang des 21. Jahrhunderts nicht Ausweis der Überlebensfähigkeit und gesellschaftlichen Berechtigung von Gewerkschaften? So jedenfalls mochten auch einige Gewerkschafter gedacht haben. Modernisierungsskeptische Strukturen unterbanden den Wandel In nicht geringem Ausmaß waren es die inneren Strukturen des Gewerkschaftskosmos, die den Wandel durch Reformen behinderten. Dies begann schon beim Dachverband, dem DGB selbst: Der Gewerkschaftsbund ist wie die Bundesrepublik eine Föderation, wie diese aus Bundesländern so besteht er aus unterschiedlichen, relativ eigenständigen Einzelgewerkschaften, die dort Mitglied

45 Vgl. Schroeder/Weßels (Hg.) 2003, S. 637.

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sind. Dieses Organisationsprinzip stellte der DGB stets als Ausweis seiner Stärke heraus, doch ergab sich aus diesem Aufbau auch ein Spannungsfeld, das beträchtliche Konflikte verursachte. So gab es z.B. einen ständigen Kampf zwischen den einzelnen Gewerkschaften und der Verbandsspitze um Spielräume und Aufgabenfelder, vor allem auch um knappe Ressourcen. Jede Seite für sich rang um Autonomie und hinterfragte den Kompetenzanspruch der jeweils anderen Seite. Die Zentralgewalt des DGBVorstandes war in keiner Weise bspw. mit jener des Österreichischen Gewerkschaftsbundes (ÖGB) vergleichbar, in dem die Teilgewerkschaften zumindest dem Papier nach unselbstständig waren. Die Schwäche des DGB war schon im Beginn der Verbandsgeschichte nach dem Zweiten Weltkrieg angelegt und in den Gründerjahren der Bundesrepublik lediglich durch patriarchalische Figuren wie den ersten DGB-Vorsitzenden Hans Böckler überspielt worden. Die meisten Funktionäre der Einzelgewerkschaften sahen den DGB wohl als eine bloße Dachorganisation, in der man ohne weitere Konsequenzen eben Mitglied sei und die folglich vernachlässigt werden, deren Beschlüsse und Aktivitäten man geflissentlich ignorieren könne. In Konfliktfällen ließen sich die Vorstände der Fachgewerkschaften jedenfalls nichts von der DGB-Spitze sagen, sondern lancierten in den großen Zeitungen boshafte Kommentare, die die tatsächlichen Machtverhältnisse unterstreichen sollten: So höhnte etwa der ÖTV-Vorsitzende Heinz Kluncker, der DGB habe als Verband nicht „7,5 Millionen, sondern 16 Mitglieder“46 (was der damaligen Zahl der dem DGB angeschlossenen Gewerkschaften entsprach). Dadurch aber stand das Gros der Gewerkschaftsfunktionäre dem Dachverband relativ gleichgültig gegenüber oder wollte sich von ihm nicht in die Arbeit hineinreden lassen.47 Außerdem versuchten die ohnedies in den Verbandsgremien dominanten Gewerkschaften, allen voran die IG Metall und ÖTV, sich zwecks weiteren Machtzuwachses kleinere, finanzschwache Gewerkschaften einzuverleiben, die ihrerseits wiederum ihre Eigenständigkeit verteidigten.48 Jahrzehntelang debattierten die Gewerkschafter über den Stellenwert des DGB als Dachorganisation – die Meinungen reichten dabei von einer Erweiterung seiner Befugnisse und Zuständigkeiten bis hin zu seiner Abschaffung. Daraus ergab

46 Heinz Kluncker zitiert nach o.V.: Kühles Klima, in: Der Spiegel, 10.01.1977. 47 Vgl. Steinke, Jutta: Lokale Arbeitspolitik – Das Beispiel des DGB-Kreises Dortmund, in: Martens/dies. (Hg.) 1993, S. 36-103, hier S. 67-70. 48 Vgl. Müller, Hans-Peter/Wilke, Manfred: Gewerkschaftsfusionen: Der Weg zu modernen Multibranchengewerkschaften, in: Schroeder/Weßels (Hg.) 2003, S. 122-143, hier S. 137.

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sich ein unproduktives Hin und Her, kam es zu kraft- und zeitraubenden, nie endgültig geklärten und daher immer wiederkehrenden Konflikten.49 Am Ende blieb der DGB zu schwach, um als seinerseits permanent in Zweifel gezogene Instanz die Mitgliedsgewerkschaften zu großen Reformschritten anzuspornen und hinter gemeinsamen Strategien zu vereinen.50 Wie auch, war er doch die meiste Zeit damit beschäftigt, seine Existenz zu rechtfertigen sowie mit Kampagnen und Dienstleistungen verzweifelt seine Bedeutung nachzuweisen. Endgültig büßte er seine Macht ein, als die Gemeinwirtschaft, die gewerkschaftseigenen Konzerne, infolge des Neue-Heimat-Skandals in den 1980er Jahren verkauft werden mussten. Der DGB verlor dabei den Großteil seines Vermögens und seiner Glaubwürdigkeit. Der Geld- bedeutete auch einen Machtverlust. Denn dadurch war der Dachverband vollends in die finanzielle Abhängigkeit der Einzelgewerkschaften geraten – nach diesem betriebswirtschaftlichen wie moralischen Debakel konnten Großgewerkschaften wie die IG Metall, zumal unter selbstbewussten und ambitionierten Vorsitzenden wie Franz Steinkühler und Klaus Zwickel, erst Recht ihren Autoritätsanspruch gegenüber dem Dachverband geltend machen. Denn der DGB finanzierte sich ja aus den Abgaben seiner Mitgliedsorganisationen. Einzelne Gewerkschaften begannen schon bald, sich nicht mehr an die vom DGB vorgenommene Verteilung von Zuständigkeitsbereichen zu halten und missachteten Schiedsverfahren. So gut wie kein Gewerkschaftsführer begriff daher den DGB-Vorsitz als Fortschritt der persönlichen Karriere. Ein zweites Spannungsfeld betraf neben dem Streit zwischen dem Verband und den Mitgliedsorganisationen den häufigen Konflikt zwischen Zentrale und Peripherie, d.h. zwischen den Organisationsspitzen und den unteren Ebenen. Die Basisfunktionäre, die Hauptamtlichen in den Gewerkschaftssekretariaten, aber auch die 1. Bevollmächtigten und Bezirksleiter fühlten sich häufig vernachläs-

49 Vgl. Hyman, Richard: Understanding European Trade Unionism. Between market, class and society, London u.a. 2001, S. 135; Lauschke, Karl: Der DGB und seine Gewerkschaften in Vergangenheit und Gegenwart, in: Gewerkschaftliche Monatshefte, H. 3/2004, S. 130-135, hier S. 131 f.; o.V. (Interview mit Hubertus Schmoldt): „Der DGB muss stärker werden“, in: einblick, H. 17/2009, S. 5; Steinke, Jutta: Neuansätze in einer teilweise ländlichen und einer nicht montangeprägten, großstädtischen Region, in: Martens/dies. (Hg.) 1993, S. S. 246-285; Tenbrock, Christian: Die Verlierer, in: Die Zeit, 17.12.2003. 50 Vgl. dazu Hassel 1999, S. 117-120; Lauschke 2004: Weder Kämpfer noch Bürokrat; Müller/Wilke 2003, S. 136 f.

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sigt und unangemessen in Reformprozesse einbezogen.51 Aus ihrer Sicht fassten die Strategen in den unterschiedlichen Abteilungen der fernen Organisationszentrale reihenweise Beschlüsse, ohne die Erfahrungen und Wünsche der übrigen Organisationsbereiche zu berücksichtigen, womöglich überhaupt zu kennen. Jede neue Anweisung aus dem Hauptquartier wird vermutlich bei nicht wenigen Basisfunktionären Zorn hervorgerufen haben – waren denn nicht sie die eigentlichen Praktiker mit überlegenem Wissen von den Geschehnissen und Verhältnissen in den Betrieben, besaßen nicht sie als Experten der alltäglichen Probleme sowohl in den Gewerkschaftssekretariaten wie auch in den Betrieben genaue Kenntnis von den Organisationsproblemen ihrer Gewerkschaft? Die Bundesebene wiederum scherte sich in Anbetracht ihres politischen Wirkungs- und Aufgabenfeldes kaum um die Mitgliedergewinnung. Das verletzte den Stolz der Basisfunktionäre, die schließlich in ihrer Selbstwahrnehmung mit Hingabe Mitglieder rekrutierten und betreuten, Tag für Tag durch ihren Bezirk tingelten, sich die Sorgen und Nöte der Betriebsräte anhörten oder zu krisengebeutelten Belegschaften sprachen. Die Zentrale beschäftigte sich eben mit der Politik und die Basis betreute die Mitglieder – dennoch hätten sich beide Bereiche stärker miteinander verzahnen müssen, gerade dort, wo die Mittelzuteilung und der Strukturzuschnitt über die Organisationszentrale erfolgten. Das war ein großes Problem: Die Funktionäre in der Zentrale ignorierten die Eingaben der Basis, währenddessen die Funktionäre in den unzähligen Gewerkschaftsbüros einzelner Städte wiederum die Konzept- und Positionspapiere aus der Zentrale geflissentlich ohne weitere Beachtung in ihren Schubladen oder Aktenschränken archivierten – hatten sie doch angesichts ihres stressreichen Alltags ohnedies auch gar keine Zeit, diese zu lesen. Eine Ursache hierfür lag in der Neigung, sich wechselseitig den Sachverstand abzusprechen. Zentrale und Bezirke reklamierten für sich jeweils eine Stärkung ihrer Kompetenz und Mittel, wodurch unvereinbare Autoritätsansprüche mit reichlich Konfliktpotenzial entstanden. Beide Ebenen suchten stets den unerlässlichen Stellenwert ihrer Leistung für die Gesamtorganisation hervorzuheben. Das sorgte insbesondere immer dann für Streit, wenn es um die Verteilung knapper Mittel – um Geld – ging. Welcher Organisationsbereich sollte Vorrang haben? Aus ihrer Perspektive sa-

51 Siehe Bender, Sieghard: ‚Wir müssen uns zu Wort melden!‘. Anmerkungen zur Organisationsreform aus Sicht eines Wossis, in: Sozialismus, H. 12/1993, S. 17-19, hier S. 18; Riexinger, Bernd: Neuorientierung tut Not. Reform statt Modernisierung der hbv, in: Sozialismus, H. 7/1994, S. 57-59; Röder, Wolf Jürgen: Die Kraft der Veränderung. Plädoyer für eine offene Debatte über die Organisationsreform, in: Sozialismus, H. 4/1994, S. 43.

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hen sich die unteren Ebenen zumeist in der undankbaren Rolle von gleichzeitigen Geldeintreibern und Sparopfern. Während die einfachen Gewerkschaftssekretäre die Mitgliedsbeiträge organisierten, verfügte die Zentrale scheinbar selbstherrlich über deren Verwendung. Auch zwischen Ost und West verlief nach der Wiedervereinigung eine problematische Grenzlinie. Denn etliche ostdeutsche Gewerkschafter fühlten sich nach der „Wende“ einige Jahre lang von ihren westdeutschen Kollegen ignoriert, so als ob sie als ehemalige Angehörige eines unterlegenen Systems, des „real existierenden Sozialismus“, offenkundig versagt hätten und aufgrund dessen keine Mitsprache beanspruchen dürften.52 Daneben zeigten sich die Westgewerkschafter manchmal gegenüber Unterstützungsgesuchen der Ostgewerkschafter verschlossen, solange es ihnen selbst wirtschaftlich gut ging. Erst als aus den neuen Bundesländern auch für sie folgenreiche Entwicklungen hervorgingen – bspw. indem die dortige Praxis den Standard des Flächentarifvertrags untergrub – und sie selbst zu Betroffenen wurden, solidarisierten sie sich mit ihren ostdeutschen Kollegen.53 Allein innerhalb einer einzelnen Fachgewerkschaft gab es also verschiedene Sektoren. Und diese gründeten ihr Denken und Handeln überdies auf einen ungleichen Erfahrungsschatz. Das dürfte ebenfalls das Unverständnis für manch andere Abteilungen oder die Sekretariate an der Basis verstärkt haben. Zum Beispiel machten die westdeutschen Funktionäre viel später als ihre ostdeutschen Pendants die Erfahrung mit Standortdebatten und schlagartigen Massenentlassungen. Auf diese Weise existierten innerhalb einer Gewerkschaft oftmals unterschiedliche Welten, die voneinander wenig wussten und irgendwie nebeneinander her, dabei wohl nicht selten auch aneinander vorbei arbeiteten.54

52 Siehe Krause, Rudi: Agieren statt Reagieren. Plädoyer für mehr Mitgliederbeteiligung, in: Sozialismus, H. 2/1994, S. 47-48. 53 Siehe Karch, Heribert/Meine, Hartmut/Schulz, Hartmut: Der Kampf um die soziale Einheit. Zur Tarifauseinandersetzung in der ostdeutschen Metallindustrie, in: Sozialismus, H. 10/1993, S. 42-50, hier S. 49. 54 Vgl. dazu Bromberg, Kirstin: Rekrutierung – Bindung – Zugehörigkeit. Eine biografieanalytische Studie zur sozialen Welt der Gewerkschaften, Wiesbaden 2009, S. 275 f.; Bundesmann-Jansen, Jörg/Frerichs, Joke: Gewerkschaften im Umbruch. Aspekte des politischen, kulturellen und organisatorischen Wandels, in: Gewerkschaftliche Monatshefte, H. 6/1996, S. 345-356; Duddek, Hans-Jürgen/Hindrichs, Wolfgang/ Wassermann, Wolfram: Handlungsfeld Betrieb. Zwei Studien über Verhältnisse und Perspektiven gewerkschaftlicher Betriebspolitik am Beispiel der Gewerkschaft NGG, Kassel 1995, S. 170; Roth, Eva: Geschwächtes Doppel, in: Frankfurter Rundschau,

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Diese wechselseitige Unkenntnis führte zu redundantem Lernen, Reibungen und Misstrauen. So gab es kaum einen Erfahrungsaustausch zwischen den Gewerkschaftsbüros unterschiedlicher Bezirke, obwohl diese es doch mit ganz ähnlichen Phänomenen und Problemen zu tun hatten. Häufig blieben dadurch Projekte und Modelle – bspw. Mitglieder zu gewinnen oder Betriebsschließungen abzuwenden – des einen Bezirks den anderen verborgen. Infolgedessen fanden Diskussionen zum selben Gegenstand auf Kreis-, Bezirks- und Bundesebene, zudem innerhalb der einzelnen Stufen in unterschiedlichen Regionen, gleich mehrfach statt – z.T. herrschte eine „chaotische Vielfalt von Organisationsstrukturen und Diskussionsprozessen“55. Holten manche Gewerkschaftsbüros ausgetretene Mitglieder bereits durch persönliche Briefe und Telefonate wieder zurück in die Organisation, sinnierten andere Organisationsteile noch ratlos über wirkungsvolle Methoden der Mitgliederbindung. Erfolgreiche Ansätze und Wege verbreiteten sich nicht ohne Weiteres, Erkenntnisbestände lagen brach, die Gewerkschaften lernten ganz oft nicht so schnell, wie sie es durch verknüpftes Wissen eigentlich gekonnt hätten. Diese ungenügende Verbreitung von Erfahrungen mit funktionstüchtigen wie auch gescheiterten Vorgehensweisen entwertete originelle Ideen und Ansätze, beschränkte Erfolge auf einzelne Regionen und Betriebe. Ein weiteres Strukturproblem lag in dem mancherorts ungenügenden Organisationszuschnitt. Oft deckten sich einzelne Verwaltungsregionen nicht mit den ökonomischen Krisengebieten. Das erschwerte die Spezialisierung der zuständigen Gewerkschaftsstellen – zumal die verschiedenen Gewerkschaftseinheiten sich kaum austauschten und wenig zusammenarbeiteten.56 Die innere Komplexität einer Gewerkschaft, vor allem einer solch vielfältigen wie ver.di, schwächte

01.09.2003; Schiermeyer, Matthias: „Raus aus der Wagenburg“, in: Stuttgarter Zeitung, 04.10.2003; siehe z.B. Bösche, Burchard et al.: DGB-Organisationsreform: Verändern ohne Konzept?, in: Gewerkschaftliche Monatshefte, H. 1/1996, S. 17-24. 55 Wendl, Michael: Management by Chaos. Die Organisations- und Finanzreform der ÖTV, in: Sozialismus, H. 7/1994, S. 55-56, hier S. 55; vgl. Dribbusch, Heiner: Gewerkschaftliche Mitgliedergewinnung im Dienstleistungssektor. Ein Drei-Länder-Vergleich im Einzelhandel, Berlin 2003, S. 141 u. S. 158; Prott, Jürgen/Keller, Axel: Hauptamtliche. Zerreißproben örtlicher Gewerkschaftsarbeit, Münster 2002, S. 313317. 56 Vgl. Europäische Kommission: In den Regionen für die Regionen Europas. Über die Aneignung eines neuen gewerkschaftlichen Arbeitsfeldes, Luxemburg 1995, S. 85 ff., S. 132 f. u. S. 142.

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außerdem die interne Geschlossenheit wie auch die Kompromissfähigkeit gegenüber der Regierung und den Arbeitgebern.57 Überhaupt der Gewerkschaftsapparat: Er bewies im Angesicht der Organisationskrise ein ungeheuerliches Beharrungsvermögen, das bestehende Probleme verschlimmerte und den Verfall beschleunigte. Dazu trugen allein schon die Karrieren der Funktionäre bei, die weitgehend in vorgezeichneten Pfaden verliefen: Eine typische Funktionärskarriere begann mit ehrenamtlichem Engagement für die Gewerkschaft und mündete nach einiger Zeit in den Wechsel aus dem erlernten Beruf als Sekretär in die Gewerkschaftsverwaltung; anschließend war der Aufstieg über Wahlämter in die Bezirksleitung, dann in die Zentrale möglich – ganz wenige schafften es dann im Alter von Ende fünfzig, Anfang sechzig in den Bundesvorstand. Diese „Ochsentour“ durch die einzelnen Stufen des Apparats schuf Orientierung und Gewissheit – aber auch Trägheit. Die Organisation belohnte Anpassung und Unterordnung, durch die man in den vorgezeichneten Karrierepfaden allmählich voranschritt. War man nach langjähriger Funktionärstätigkeit erst einmal in ein hohes Führungsgremium gewählt, konnte man sich fast sicher sein, dort bis zur Verrentung zu bleiben, allerhöchstens noch weiter aufzusteigen, dies aber häufig unabhängig von der persönlichen Leistung. Rücktritte setzten schon einen Skandal voraus – Insidergeschäfte an der Börse z.B., die 1993 den IG-Metall-Vorsitzenden Franz Steinkühler zu Fall brachten. So ließ sich für äußere Betrachter vermutlich leicht der Eindruck gewinnen, für einen Platz in der Führungsetage einer Gewerkschaft bestünde das Leistungsvermögen allein in der Stärke des Sitzfleisches. Ganz besonders galt dieses ungeschriebene Gesetz fester Erbfolgen und aristokratischer Positionssicherheit in der IG Metall. Eine vorzeitige Abwahl kam, bei aller formalen Demokratie, einem Affront gleich.58 Kampfkandidaturen waren dort eine aufsehenerregende Seltenheit. Doch die automatischen Karrieren und der damit verbundene Umstand, kaum Konkurrenten fürchten zu müssen, erhöhten die Krisenanfälligkeit der Gewerkschaften, wirkten reformhemmend und verhinderten die Vergabe hochrangiger Positionen an junge Funktionäre im Alter von 35 oder 45 Jahren. Und wie gesagt, Leistungsfähigkeit war zumindest kein offensichtliches Kriterium für den Rückhalt bei Vorstandswahlen. Michael Sommer z.B. erzielte trotz einer äußerst umstrittenen Schaffensbilanz als DGBVorsitzender phänomenale Wahlergebnisse (94 Prozent 2010) – obwohl in seine

57 Vgl. Hassel, Anke: Sozialpakte. Die deutschen Gewerkschaften im Bündnis für Arbeit, in: Forschungsjournal Neue Soziale Bewegungen, Jg. 15 (2002) H. 2, S. 58-67, hier S. 63 ff. 58 Vgl. Merkel 1999 (Bearb.), S. XXIV.

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Amtszeit hohe Mitgliederverluste sowie ein Tiefpunkt des öffentlichen Ansehens von Gewerkschaften fielen. Ebenso der ver.di-Chef Frank Bsirske – seinen größten Erfolg hatte er bereits vor seiner ersten Amtszeit erreicht: Im März 2001 triumphierte er mit hochgereckter Faust, gefeiert als der „Shooting-Star“ des Gewerkschaftslagers, nachdem er die ÖTV gegen anfangs heftige Widerstände vom Übertritt in die neugegründete Dienstleistungsgewerkschaft ver.di überzeugt hatte. Doch dieser historische Sieg, wider alle Erwartungen des Scheiterns die mit fast drei Millionen Mitgliedern vorübergehend größte Einzelgewerkschaft der Menschheitsgeschichte gegründet, das „größte, ehrgeizigste und anspruchsvollste Fusionsprojekt in der Geschichte der freien Gewerkschaften“59 realisiert zu haben, beraubte ihn offenbar jeglichen Ehrgeizes und Reformgeists. In den Jahren danach, als die Gewerkschaft einen beträchtlichen Teil ihres immensen Mitgliederbestands verlor, fehlten ihm Druck und Ansporn. Der Versuch, mit der neuen Mammutorganisation und deren vereinigten Kräften mehrerer vormals selbstständiger Gewerkschaften unter einem gemeinsamen Dach in neue Gefilde des Arbeitsmarkts vorzustoßen und vor allem jene bis dato so schwer zugänglichen Gruppen (Frauen, Angestellte, atypisch Beschäftigte) zu organisieren, scheiterte gewaltig. Denn die Genugtuung einer geschichtsträchtigen Leistung und sein Elite-Status waren Bsirske auch so gewiss. Und nicht zuletzt wählten ihn die Delegierten ungeachtet des Organisationsdebakels mit überwältigenden Mehrheiten (2011 neunzig Prozent). Zugespitzt: In beiden Fällen, Sommer und Bsirske, hätten Kritiker ohne Weiteres mit schlagkräftigen Argumenten den beiden Führungsfiguren vorwerfen können, ihre Organisationen zugrundegerichtet zu haben. Apropos Funktionäre: Viele von ihnen waren ängstlich. Damit ist nicht etwa eine Furcht vor den Unterhändlern der Arbeitgeberseite oder vor Politikern gemeint; erst Recht soll nicht ihre Tapferkeit in Tarifkonflikten und im Kampf um gefährdete Produktionsstätten, um Arbeitsplätze, in Frage gestellt oder gar eine Charakterschwäche behauptet werden. Nein, Funktionäre fürchteten den Wandel. Damit erwiesen sie sich allerdings als eine der höchsten Hürden für Reformen in den Gewerkschaften selbst. Jeglichen Veränderungen begegneten sie mit Skepsis. Darin sahen sie zumeist nicht die Chance, einen notwendigen Umbau vornehmen zu können; sondern sie erkannten in ihnen die Gefahr plötzlichen Status- und Machtverlusts. Ganz besonders gut ließ sich das bei Fusionen be-

59 Frank Bsirske zitiert nach Fickinger, Nico: Mit Bsirskes Hilfe das Unglaubliche glauben und das Unwahrscheinliche tun, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 19.03.2001.

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obachten.60 Denn die Verschmelzung zweier oder mehrerer vormals eigenständiger Organisationen bringt es für gewöhnlich mit sich, dass ein gehöriger Teil des Personals überflüssig wird und Befugnisse verringert werden. Hiergegen wehrten sich, verständlicherweise, die Funktionäre – und folglich waren Fusionen stets langwierige Verfahren, die nicht immer nach Kriterien der Effizienz abgewickelt wurden und insofern diverse Probleme der alten in die neue Organisation übertrugen. So kam es, dass selbst neue Gebilde wie ver.di überkommene Organisationsprinzipien beibehielten, keinen Bruch vollzogen, stattdessen nach kurzer Zeit der Begeisterung und des Optimismus in alte Muster zurückfielen, entschlossene Investments in frische Ideen nicht wagten, aufgrund von Altlasten blockiert waren.61 Funktionäre waren oftmals konflikterprobt und organisationserfahren – diese Vorzüge ihrer beruflichen Vita machten sie stark für die Interessenvertretung der Mitglieder; doch innerhalb der Organisation nutzten sie sie, um liebgewonnene Privilegien und Besitzstände verbissen zu verteidigen. Und dies ging auf Kosten der Reformfähigkeit. Das taten viele Funktionäre im Übrigen auch in den Ortsvereinen, auf der lokalen Ebene. Auf Gewerkschaftstagen und in Strategiepapieren konnten die führenden Funktionäre noch so sehr auf den Wert bürgerschaftlicher Partizipation und ehrenamtlichen Engagements pochen. Tatsächlich waren es aber die Gewerkschafter selbst, die sich gegenüber Beteiligungsgesuchen der Bürger abschotteten, besagte bürgerschaftliche Partizipation mit aller Kraft erstickten und die Gewerkschaften damit abschotteten. Denn die meisten Funktionäre waren überwiegend Gewohnheitstiere und versuchten zäh, die ihnen vertraute Organisationswelt zu bewahren, ihr gewohntes Umfeld in seinem angestammten Zustand zu belassen. In dieser Hinsicht waren Gewerkschafter in höchstem Maße konservativ. Jenen Bürgern, die schöpferische Freiräume suchten und auch selbstbewusst verlangten, die nicht erst viele Jahre der Bewährung in unteren Ebenen absolvieren wollten, ehe sie auch einmal den Kurs bestimmen konnten, die vielleicht auch nur sporadisch und befristet mitmachen wollten – ihnen allen verboten die Funktionäre geradezu den Bruch mit Hierarchien und Konventionen; Veränderungswillen blockierten sie regelrecht. Faktisch sabotierten sie die

60 Vgl. Martens 1993: Organisationsprinzip, S.147 ff.; Frech, Günter: Kooperation – Fusion – Konfusion. Zwischenbilanz der Organisationsreform der Gewerkschaften, in: Gewerkschaftliche Monatshefte, H. 10/1996, S. 615-625; o.V.: „Die Mitglieder nicht wie Aktienpakete verschieben“, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 24.10.1998; Prott/Keller 2002, S. 354-363. 61 Vgl. Annesley, Claire: Ver.di and trade union revitalisation in Germany, in: Industrial Relations Journal, Jg. 37 (2006) H. 2, S. 164-179.

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Arbeit neuer Gremien, verweigerten forschen, jedoch frischen Initiativen nötige Befugnisse und Mittel, unterbanden diskussionsfreudige Gespräche und versuchten mit aller Kraft, sämtliche Aktivisten in die bestehenden Muster und Routinen hineinzupressen. Das konnte in einer weitreichend und zunehmend individualisierten, emanzipierten und akademisierten Wissens- und Dienstleistungsgesellschaft einfach nicht gutgehen. Und es dürften auch nicht wenige Junggewerkschafter gewesen sein, die am zögerlichen, wenn nicht argwöhnischen Verhalten ihrer älteren Kollegen verzweifelten. Offenbar befürchtete das Gros der Gewerkschaftsfunktionäre, die Organisation in einen anarchisch-chaotischen Zustand zu stürzen, sobald sie sich auf moderne, andersgeartete Umgangsformen, Rangordnungen, kurz: auf Experimente einließen. Oft verhielten sie sich nach der bürokratischen Maxime, dass in einer statutarisch verfassten Organisation ja nicht jeder machen könne, was er will. Und es gab genug Funktionäre, die nicht als Traditionsbrecher gelten wollten, indem sie in die von ihren z.T. als heldenhaft verklärten Vorgängern überlieferten Strukturen eingriffen oder mit den überkommenen Normen und Ansichten brächen – vor allzu mutigem Wandel schreckten viele Funktionäre zurück, weil sie die Reaktionen alter Gewerkschaftsrecken fürchteten.62 Unter Gewerkschaftsforschern bestand daher die beinahe einhellige Meinung, die Gewerkschaften seien selbstreferentiell mit der Reproduktion ihrer angestammten Strukturen beschäftigt und würden trotz aller Bekenntnisse Anpassung durch Wandel tunlichst vermeiden.63 Die Risikobereitschaft war gering, die Angst vor einem Bruch mit Gewohnheiten groß, das Klima für Reformen infolgedessen ungünstig. Die in Texten und Reden gebetsmühlenartig wiederholten Bekenntnisse, unkonventionelle Methoden ausprobieren und alte Verhaltens- und Denkweisen ablegen zu wollen, änderte letztlich nichts daran, dass die Gewerkschafter in der Praxis Meister darin waren, ihre offenkundig unzeitgemäßen Strukturen und Strategien zu reproduzieren.

62 Vgl. Steinke, Jutta: Das gebrochene lokale Organisationsprinzip der IG Metall Dortmund, in: Martens/dies. (Hg.) 1993, S. 164-245. 63 Siehe exemplarisch Zech, Rainer: Strukturkonservatismus der gewerkschaftlichen Organisation und unbefriedigte Beteiligungsbedürfnisse der Mitgliedschaft. Das Beispiel GEW, in: Oetjen/Zoll (Hg.) 1994, S. 195-212, hier S. 197.

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Im Schneckentempo durch die Krise: von der Langsamkeit des Organisationslernens Schockierend ist das schon. In einem Umfeld lebhafter Zivilgesellschaft, in dem in vergleichsweise rascher Abfolge neue Teilhabe- und Protestformen entstanden, die Menschen wohlhabender und gebildeter wurden, sich aus dem Korsett von strengen Wertevorgaben befreiten und die Grenzen ihrer Herkunftsmilieus überwanden, nach Mobilität, Flexibilität und nicht zuletzt Spaß und Selbstverwirklichung strebten, in den unterschiedlichsten Lebensbereichen mannigfaltige Wahlfreiheiten genossen – in dieser Welt mussten Gewerkschaften erstarrt, anachronistisch, ja irgendwie autistisch wirken. Doch sind damit noch längst nicht alle Probleme dieser traditionsreichen Akteure benannt. Denn verblüffender Weise war es nicht einmal so, dass sie gänzlich verbohrt und blind für fundamentale Verschiebungen in der Gesellschaft und der Wirtschaft waren. Viele Wandlungen erkannten sie, von vielen ihrer eigenen Defizite nahmen sie sogar genauestens Notiz. Jedenfalls waren zwischen 1980 und 2010 wesentliche Probleme der Gewerkschaften in unzähligen Reden, Artikeln und Interviews von deren Funktionären nahezu akribisch benannt worden:64 Man müsse das angestaubte Image aufpolieren, neben den Großfabriken auch die kleinen und mittleren Betriebe aufsuchen, Frauen und Angestellte vom Sinn einer Mitgliedschaft überzeugen, sich der Jahr für Jahr gewerkschaftsferneren Jugend zuwenden, das Personal verjüngen und modernisieren, hilfreichen Service anbieten, die Strukturen kostengünstiger und effizienter gestalten – und, und, und. Aber seltsamerweise geschah fast nichts dergleichen. Provokant ausgedrückt: Die meisten Gewerkschaften waren sozialstrukturell 1985 fast genauso wie 1995 oder 2005. Unterschiede waren selbst mit einer Lupe kaum auszumachen. Wie war das möglich? Der Grund dafür liegt in dem Tempo oder besser: in der Langsamkeit gewerkschaftlichen Wandels. Die Auswechselung von Routinen, der Austausch gewisser Muster des Denkens und Handelns – all das benötigte eine ellenlange Zeitspanne, die in Anbetracht des allgegenwärtigen Krisenlamentos ungeheuerlich anmutet. So gab es z.B. in der IG Metall ein Beteiligungsprojekt, dessen An-

64 Siehe etwa Berkessel, Peter: Der Strategieprozeß der Gewerkschaft Handel, Banken und Versicherungen (HBV), in: Forschungsjournal NSB, H. 3/1992, S. 47-55; Bierbaum 1993; Kletzin, Jochen/Merbitz, Sieglinde: Kompetenz vor Ort. Gewerkschaftspolitische Handlungsfelder in Zeiten der Krise – auch der Organisation, in: Sozialismus, H. 1/1994, S. 52-55; Reinken, Dieter: Was heißt Gegenmacht?, in: Sozialismus, H. 3/1994, S. 43-44.

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lauf zehn Jahre brauchte, bis es das Stadium der anfänglichen Diskussion verlassen hatte.65 Dass die Gewerkschaften schleunigst eine neue Form des Ehrenamts ermöglichen sollten, war einhellige Meinung der Forschung seit allerspätestens 1994. Angekommen war diese Haltung in den Gewerkschaftsgremien aber erst einige Jahre später. So bekannten sich führende IG-Metall-Funktionäre erst nach der Jahrtausendwende einigermaßen selbstverständlich zu der Auffassung, wonach Engagement diverse Erfordernisse habe, z.B. die jederzeitige Rückzugsoption, die Möglichkeit für lediglich sporadische und spontane Mitarbeit an überschaubaren Projekten und die Selbstverantwortung bzw. Autonomie gegenüber den Hauptamtlichen.66 Ein anderes Beispiel: In der GEW waren die Mitgliederzahlen mehrere Jahre nacheinander rückläufig gewesen, hatten Befragungen zum Image der Organisation innerhalb ihrer Klientel den Gewerkschaftsspitzen und dem Apparat eine sterile Anonymität sowie die enorme Bedeutung unterer Ebenen für den Organisationserfolg bescheinigt. Das war zu Beginn der 1980er Jahre. Die Suche nach einer neuen Organisationsform dauerte allerdings bis in die 1990er Jahre an. Bis dann auch noch die entscheidenden Führungsgremien den Stellenwert der Organisationsbasis anerkannten, brauchte es also ungefähr zehn Jahre. Erst danach bemühten sich die GEWler um entsprechende Maßnahmen. Auch in der IG Metall waren nicht selten ganze Jahrzehnte nötig, um von der Problemanalyse zur Problembehebung zu schreiten. In dieser Zeit setzte sich der Schwund der Mitgliedschaft freilich unvermindert fort und verringerte sich die Fähigkeit, aus einem Zustand der Stärke zu reagieren. Angesichts dessen konnte allein schon das Eingeständnis von Schwäche und dem Bedürfnis nach Reformen als Erfolg für sich gelten.

65 Vgl. hier und im Folgenden Hein, Mathias: Mehr Vertrauen in die Vertrauensleute! Probleme und Perspektiven der Vertrauensleute-Arbeit der GEW, in: Zech, Rainer (Hg.): Probleme gewerkschaftlicher Politik, Bd. 2: Kultureller Wandel, verändertes Mitgliederverhalten, gewerkschaftliche Perspektiven, Hannover 1992, S. 59-102, hier S. 60 ff.; Richter, Götz/Wittenberg, Hannelore: Beteiligung in der Praxis: Erste Hinweise aus dem Wohnbereichsprojekt des IG Metall-Bezirks Küste, in: Oetjen/Zoll (Hg.) 1994, S. 125-140, hier S. 126-132; siehe Wiedemuth, Jörg: Der HBV-Gewerkschaftstag. Die neuen Kleider der Dienstleistungsgewerkschaft, in: Sozialismus, H. 1/1993, S. 46-48. 66 Siehe Schallmeyer, Manfred/Holzwarth, Werner: „Neue Ehrenamtlichkeit“ – Zur Diskussion auch in der IG Metall, in: WSI-Mitteilungen, H. 3/2001, S. 212-213. Der traditionelle Ablauf von „bestimmen, delegieren, beteiligen, umsetzen, erledigen“ sei zu aktuellen Erwartungen an Ehrenämter unverträglich; ebd., S. 213.

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Eines der schwerwiegendsten Versäumnisse dürfte indes der Umgang mit all jenen Beschäftigten gewesen sein, die ihr Geld mit sogenannten atypischen Jobs verdienten: u.a. zählen zu diesem soziologischen Fachbegriff für eine spezielle Klassifikation von Arbeitnehmern die Teilzeit- und geringfügig Beschäftigten sowie Leih- und Zeitarbeiter.67 Deren Arbeitsplatzprofil weicht stark von der Kernklientel der Gewerkschaften ab, dem industriellen Facharbeiter, der ein Leben lang für dieselbe Firma arbeitet, die bestmöglichen Konditionen aus der Sozialversicherung herausholt und dessen Gehalt sich im Zeitverlauf allenfalls nach oben verändert. Hier dominieren Kontinuität und Sicherheit, während die Supermarktkassierer, Dienstboten und Call-Center-Telefonisten häufig unter prekären Arbeitsbedingungen zu leiden haben. Diese sind im Gegensatz zu Arbeitnehmern eines Normalarbeitsverhältnisses befristet beschäftigt, können also schnell entlassen werden, verdienen vergleichsweise wenig und besitzen an ihrem Arbeitsplatz deutlich geringere Aufstiegschancen. Aber in den 1990er und 2000er Jahren waren sie ein boomender Typus des deutschen Arbeitsmarkts – Beschäftigungswachstum fand in diesem Zeitraum zumeist im Rahmen atypischer Arbeitsverhältnisse statt.68 In den Automobilfabriken tummelten sich immer mehr Leiharbeiter, in einigen Branchen wurden Halbtagsjobs üblich, viele Arbeitgeber vergaben lieber befristete als unbefristete Arbeitsverträge. Und die Gewerkschaften? Sie bemerkten das zwar, ignorierten jedoch diese Entwicklung.69 Denn diese Form der Beschäftigung erachteten sie als gefährliche Bedrohung für ihre Prinzipien und Muster, mit denen sie seit 1949 Tarifpolitik betrieben und Mitglieder rekrutierten – darin hatten ungewisse Job- und Karriereaussichten oder flexible Arbeitszeiten keinen rechten Platz. Eine ganze Zeitlang glaubten sie, mit dieser Strategie des Ignorierens die Verbreitung atypischer Beschäftigung unterbinden zu können. Natürlich misslang dieses aussichtslose Unterfangen und die Gewerkschaften verloren durch diese Strategie den Kontakt zu einer bedeutsamen Gruppe des Arbeitsmarkts. Denn ihre wirtschaftliche Macht war nicht groß genug, um Arbeitgeber daran zu hindern, Arbeitsplätze zu schaffen, für die es zwar keine Tarifreglements, jedoch genügend Nachfrage jobsuchender Menschen gab. Es brauchte Jahre, bis sich die Gewerkschaften zu ei-

67 Zu diesem Typus vgl. allgemein Keller, Berndt/Seifert, Hartmut (Hg.): Atypische Beschäftigung – Flexibilisierung und soziale Risiken, Berlin 2009. 68 Vgl. Dietz, Martin/Walwei, Ulrich: Beschäftigungswirkungen des Wandels der Erwerbsformen, in: Keller/Seifert (Hg.) 2009, S. 165-184, hier S. 168. 69 Vgl. dazu umfassend Pernicka, Susanne/Aust, Andreas (Hg.): Die Unorganisierten gewinnen. Gewerkschaftliche Rekrutierung und Interessenvertretung atypisch Beschäftigter – ein deutsch-österreichischer Vergleich, Berlin 2007.

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nem Kurswechsel durchrangen und über Wege nachzudenken begannen, wie man diese in sich völlig uneinheitliche Gruppe der atypisch Beschäftigten – die vom Hochschullehrer über die Teilzeitkraft im Supermarkt bis hin zum Facharbeiter in einer Fabrik reichte – in die Gewerkschaften bringen könnte. Beil all diesem Stillstand verwundert es nicht, dass die Gewerkschaften – nachdem man bereits in den 1980er Jahren ihre Krise festgestellt hatte – auch noch im Jahr 2000 „mit dem Rücken zur Wand“70 standen, sich „wenig bewegt“71 hatten und noch immer um ihre Rückkehr in den Kreis aufstrebender Organisationen kämpften. Wie zuvor quälte sie weiterhin die Frage, wie es ihnen gelingen könnte, die „Abschottung der Angestellten gegen all unserer Annäherungsversuche zu durchbrechen“, die unentwegt fortbestehende „Gewerkschaftsabstinenz von Angestellten“ endlich zu überwinden.72 Es ist müßig zu erwähnen, dass die Gewerkschaften abermals zur Suche nach einem tauglichen Umgang mit der wachsenden Zahl von Beschäftigten in kleinen und mittelgroßen Unternehmen angehalten wurden, obwohl sie sich doch mit diesem Manko bereits seit den 1980er Jahren beschäftigten. An dieser Stelle lohnt noch einmal die Erinnerung an die Äußerung des DGB-Vorsitzenden Dieter Schulte und von einem seiner Nachfolger, die 1996 die Werbung neuer Mitglieder als „Schlüssel für unsere Handlungsfähigkeit in der Zukunft“73 bezeichneten, ihr 1999 „höchste politische Priorität“74 einräumten, um erneut 2011 zu betonen, dass es „nichts ‚neben‘ der Mitgliederfrage“75 gebe. Und selbst weitere zehn Jahre später, 2010, mussten sich die Gewerkschaftsführer ins Gewissen reden lassen, eine „organisationspolitische Wende, die mit neuen Konzepten das Schwinden gewerkschaftlicher Macht stoppen könnte“, sei „bislang nicht absehbar“.76 Nicht minder langsam waren die Programmnovellen. Die Versuche, sich über Ansichten und Ziele zu verständigen und die Erkenntnisse wie auch Ideal-

70 Martens, Helmut: Die Netzwerkgewerkschaft – eine Zukunftsoption?, in: Gewerkschaftliche Monatshefte, H. 5/2000, S. 306-315, hier S. 307. 71 Schroeder 2007. 72 Kern, Peter: Abgang wie alte Indianer? Zur Zukunftsdebatte der IG Metall, in: Gewerkschaftliche Monatshefte, H. 10/2000, S. 579-587, hier S. 579. 73 Schulte 1996, S. 5. 74 Eichler 2000, S. 158. 75 Huber zitiert nach o.V. (Interview mit Berthold Huber): „Es gibt nichts neben der Mitgliederfrage“, in: einblick, H. 17/2011, S. 6. 76 Nachtwey, Oliver: Die Gewerkschaften im Epochenwandel der Arbeitsgesellschaft, in: Vorgänge, H. 3/2010, S. 71-79, hier S. 77.

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vorstellungen in einem Papier festzuhalten, nahmen viel Zeit in Anspruch, da in Großorganisationen vom Schlage der Gewerkschaften unterschiedliche Meinungen integriert und miteinander ausgesöhnt, politische Ansätze, die eigentlich miteinander konkurrierten, in Einklang gebracht werden mussten. Diese langwierige Arbeit band zwar unterschiedliche Meinungen und Gruppen ein; doch auf diese Weise konnten Programme nie mit der gesellschaftlichen Entwicklung Schritt halten, waren so gut wie immer noch vor ihrem Abschluss veraltet und lediglich ein Zeugnis der Vergangenheit.77 Das machte nichts, denn dadurch konnten sich intellektuell ambitionierte Gewerkschafter in eigens geschaffenen Gremien austoben, konnten sich die Funktionäre und Mitglieder, Elite und Basis, gemeinsamer Werteauffassungen versichern, zentrale Standpunkte dokumentieren und Grundsätze verinnerlichen. Das war gewiss nicht wenig und alles andere als unnütz. Doch es machte den DGB oder die IG Metall noch lange nicht zu einem visionären Vorreiter einer strahlenden Zukunft, der man sich begeistert zuwandte. Die Bedeutung von Programmen wurde in den Gewerkschaften zumeist überschätzt – und insofern vermochten auch Programmreformen keine Zeitenwende einzuläuten. Die Krise ging weiter, mit oder ohne neuem Programm. Wie Erfolge die Therapie durch Reformen beendeten Ferner – eine weitere Paradoxie – konnte den Gewerkschaften kaum etwas Schlimmeres passieren als Reformerfolge. Denn sobald sich erste erfreuliche Resultate einstellten, nahmen die Gewerkschafter dieses Ereignis in der Regel zum Anlass, um vorzeitig unverrichteter Dinge beruhigt wieder zum Alltag zurückzukehren, woraufhin sich der kurz zuvor noch so stürmische Reformdrang kurzerhand verflüchtigte. In der GEW sank bspw. Ende der 1980er Jahre die Mitgliederzahl unter die besorgniserregende Schwelle von 200.000 (auf 188.000). Prompt gab es Versuche, sie schleunigst wieder anzuheben – denn mit diesem Wert war aus Sicht der Organisation eine existenzbedrohliche Grenze unterschritten worden, drohten mangels Einnahmen schmerzliche Entlassungen des Gewerkschaftspersonals. Als dann kurze Zeit später die „Wende“ unverhofft viele Mitglieder in die Organisation spülte, galt das Problem als behoben – obwohl es sich eigentlich bloß um einen vorübergehenden Erfolg auf außergewöhnlicher Grundlage handelte.78

77 Vgl. Grebing, Helga: Zur Kontinuität programmatischer Debatten in den Gewerkschaften, in: Meyer (Hg.) 1994, S. 71-87; Wiesenthal/Clasen 2003, S. 307 f. 78 Vgl. Faulstich, Lothar: Die GEW – Eine Spitze ohne Eisberg. Anmerkungen zur gewerkschaftlichen Bildungsarbeit, in: Zech (Hg.) 1992, S. 196-200, hier S. 196: „Mit

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Für fast alle DGB-Gewerkschaften brachten der Zusammenbruch der DDR und die anschließende Wiedervereinigung ein Mitglieder-Füllhorn. 1991 rekrutierten sie auf einen Schlag von den 9,6 Mio. FDGB-Mitgliedern über vier Millionen. Doch war dieser fraglos beträchtliche Zuwachs nicht ihrer tatsächlichen Stärke geschuldet und entsprach ihm auch nicht die eigentliche Bindungskraft der bis dahin westdeutschen Gewerkschaften. Die meisten Bewohner der neuen Bundesländer traten den Gewerkschaften bei, weil sie in der Ungewissheit des Umbruchs deren Schutz suchten und in ihnen politisch mächtige Akteure vermuteten – ähnlich wie bei den Übergängen vom Kaiserreich auf die Weimarer Republik und dem NS-Regime auf die Bundesrepublik. Umso größer fiel wenig später die Enttäuschung aus, als die großen Industriekombinate Ostdeutschlands im marktwirtschaftlichen Wettbewerb zerfielen, ganze Standorte verschwanden und sich ein Heer von Modernisierungsverlieren bildete. Die Gewerkschaften verloren daher innerhalb kurzer Zeit ihren großen Wende-Gewinn. Mehr noch: Sie hatten sich als wirkungslose Schutzmacht diskreditiert. Jedenfalls: Die Angehörigen des einstigen „Arbeiter- und Bauernstaats“ stabilisierten die DGB-Gewerkschaften vorübergehend. Sie, nicht anders herum, vermittelten Zuversicht und Stärke. In den Zentralen von IG Metall & Co. fühlte man sich angesichts des Mitgliederbooms eine Weile bestätigt, zeigte sich selbstbewusst, wertete die Geschehnisse als grandiosen Ausweis eigener Kraft und Attraktivität. Erst als die inzwischen erwerbslosen und verdrossenen Ostdeutschen in großer Zahl den Organisationen, die sie hoffnungsvoll aufgesucht hatten, wieder den Rücken kehrten, merkten diese, dass ihre Krise noch lange nicht ausgestanden war. Ein ähnlicher Irrtum war den Gewerkschaften auch schon früher unterlaufen, als sie den absoluten Anstieg ihrer Mitgliederzahlen als Ausweis ihrer Überlegenheit gegenüber den Neuen Sozialen Bewegungen auffassten – darüber aber den relativen Rückgang übersahen.79 Andere Erfolge verleiteten die Gewerkschaften zu dem Trugschluss, besonders repräsentativ zu sein, d.h. die Gesellschaftsstruktur und das Profil des Arbeitsmarkts in ihrer Mitgliedschaft abzubilden. Nur zu gerne glaubte bspw. die IG Metall einer Befragung von 450.000 Menschen, der zufolge ihre Themen ganz nah bei den Bedürfnissen der Menschen lägen, sie insofern alles andere als bürgerfern sei. Die Gewerkschafter ig-

dem Hinzukommen vieler neuer Mitglieder aus der ehemaligen DDR war die Angst vor weiteren drohenden Einnahmeverlusten verflogen. Und so brauchte man sich dann auch nicht mit dem ungeliebten Kind ‚Werbung‘ […] mit der Entwicklung in den westlichen Landesverbänden oder gar deren Ursachen auseinanderzusetzen.“ 79 Vgl. Schroeder 2004, S. 264.

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norierten dabei die Möglichkeit, dass die Befragten womöglich nicht repräsentativ waren und die Antworten oberflächlich und mehrdeutig sein konnten. Und sobald auffällige Missstände in Sachen Repräsentativität, bspw. die niedrige Frauenquote in Gremien und unter Mitgliedern, einigermaßen beseitigt worden waren, ließen sich die Gewerkschaften zu dem Irrglauben verleiten, dort vorbildliche Verhältnisse hergestellt zu haben. So gewann der DGB z.B. durch die hohe Frauenerwerbstätigkeit im Osten viele Arbeitnehmerinnen – deren Anteil an der ostdeutschen Mitgliedschaft (34,3 Prozent) lag Anfang 1992 zehn Prozent über dem weiblichen in der westlichen (25,5 Prozent).80 Dennoch klafften bei Gewerkschaften bald nirgendwo sonst die Organisationsgrade von Männern und Frauen so stark auseinander wie in Deutschland: 28 Prozent unter Männern zu vierzehn Prozent unter Frauen. Seit 1975 verdreifachte sich der Frauenanteil unter Gewerkschaftsvorständen (von sieben auf 24 Prozent) – und war dennoch nicht repräsentativ für den unterproportionalen Anteil der Frauen an der Mitgliedschaft. Kaum jemand konnte damit wirksam dem Vorwurf entgegentreten, dass Gewerkschaften überwiegend Männerorganisationen waren. Außerdem interpretierten die Gewerkschaften vielfach Leistungen, die ihnen wissenschaftliche Beobachter zuschrieben, als Indiz ihrer Funktionstüchtigkeit, als Anlass, das Reformtempo zu drosseln. Indem sie die Wirkung bestimmter Maßnahmen überschätzten, wähnten sie sich im Bewusstsein, sich ausreichend modernisiert zu haben. Das war bspw. bei den rund 1300 Ortskartellen der Fall, die in der Tat von einem Fortschritt im Lernprozess zeugten und sich als überaus wirkungsvolles Mittel erwiesen, ehrenamtliches Engagement zu fördern, Anknüpfungspunkt für die Zusammenarbeit mit Bürgerinitiativen und für die Kommunalpolitik sowie eine Anlaufstelle für temporäres, projektorientiertes Engagement zu sein, überdies nah am Problem zu arbeiten.81 Aber natürlich waren damit noch längst nicht alle Probleme gelöst, galt es, die Anstrengungen nun erst Recht zu verstärken. Desgleichen schuf der Gründungsakt von ver.di unter den Beteiligten eine unangemessene, reformhemmende Zufriedenheit – hatte er doch offenbar mit der sensationellen „Rückkehr der Deutschen Angestellten

80 Vgl. Hassel, Anke: The Curse of Institutional Security: The Erosion of German Trade Unionism, in: Industrielle Beziehungen, Jg. 14 (2007) H. 2, S. 176-191, hier S. 182; Tiemann, Heinrich/Schmid, Josef/Löbler, Frank: Gewerkschaften und Sozialdemokratie in den neuen Bundesländern. Bestandsaufnahme und Perspektiven, in: Deutschland Archiv, H. 1/1993, S. 40-51, hier S. 46. 81 Siehe Negt, Oskar/Morgenroth, Christine/Niemeyer, Edzard: Organisationsphantasie, Vernetzung, Projekte – Neue Elemente der Einheitsgewerkschaft, in: Gewerkschaftliche Monatshefte, H. 7/1990, S. 446-455.

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Gewerkschaft in den DGB“ den „Geburtsmakel des DGB von 1949“ behoben.82 Insgesamt gab es etliche solcher Fälle, in denen erste und kleinere Erfolge die Gewerkschaften dazu verführten, unverrichteter Dinge vorzeitig zum Alltagsgeschäft zurückzukehren. Viel zu schnell waren sie von sich selbst beeindruckt, lasen erfreuliche Zwischenmeldungen als positive Abschlussbilanz. Bestärkt wurden die Gewerkschafter in dieser Haltung durch ihre Geschichte. Darauf waren sie stolz. Und das nicht auch zu Recht? Schließlich konnten sie auf eine mehr als hundertjährige Tradition zurückblicken, darauf, in der Geburtsstunde der Arbeiterbewegung dabei gewesen zu sein, Kämpfe gegen das Bismarck’sche Kaiserreich und die nationalsozialistische Diktatur ausgetragen und – wenigstens moralisch – auch bestanden zu haben, zwei Weltkriege und den Untergang der Weimarer Republik, die Gründung der Bundesrepublik, die Wiedervereinigung des geteilten Deutschlands miterlebt zu haben – mit all den damit verbundenen Riten, Erzählungen und Legenden. Wie viele Organisationen konnten das schon von sich behaupten? Wer hatte eine solch geschichtsmächtige Kontinuität vorzuweisen? Und war nicht überall mit dem vernehmbaren Unterton der Bewunderung zu lesen, wie konstant Gewerkschaften unzähligen Herausforderungen aus Politik und Wirtschaft jedes Mal aufs Neue getrotzt hatten?83 Das stimmte natürlich. Doch gleichzeitig verleitete diese imposante Biografie, ihr historischer Stellenwert, die Gewerkschaften zu gefährlichen Fehlschlüssen und unangebrachter Selbstsicherheit. Denn gerade weil sie so viele historische Zäsuren bewältigt und sich jedes Mal wieder unter schwierigen Bedingungen aufgerappelt hatten, entwickelten sie einen optimistischen Schicksalsglauben und fanden genügend Argumente, um Untergangsprophezeiungen und Krisendiagnosen als übertriebenes Gerede abzutun. Stets handelten sie in der Erwartung, am Ende als lächelnder Sieger dazustehen. Im tiefsten Innern herrschte in den Gewerkschaften der selbstbewusste, mitunter hochmütige Glaube an den historisch erwiesenermaßen unabwendbaren Fortbestand ihrer selbst. Was es auch war – ob Gelassenheit, Arroganz oder Unachtsamkeit: Dadurch herrschte im DGB ungeachtet des Rückgangs seines politischen und gesellschaftlichen Stellenwerts mindestens unterschwellig die Auffassung vor, unverzichtbarer Bestandteil einer funktionstüchtigen Demokratie, notwendiges Korrektiv zu Politik und Wirtschaft, Bewahrer gemeinschaftlicher

82 Müller/Wilke 2003, S. 139. 83 Siehe bspw. Abendroth 1954, S. 6 ff.; Behrens, Martin/Hamann, Kerstin: Gewerkschaftskrise ohne Ende? – Ansätze und Dimensionen der Revitalisierung, in: WSIMitteilungen, H. 9/2003, S. 518-521, hier S. 519; Hank, Rainer: Die defensive Macht, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 27.02.1993.

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Werte, Geschöpf lebendiger Zivilgesellschaft zu sein. Mitgliederverluste nahmen sich vor diesem Hintergrund weitaus weniger schwerwiegend aus, als sie tatsächlich waren – Schwankungen in der Gewerkschaftsmitgliedschaft hatte es schließlich schon immer gegeben, sie ließen sich insofern als ein völlig normales Phänomen beurteilen. Dieses Selbstbild widersprach allerdings der Wirklichkeit. Deshalb auch hielten die Gewerkschaften so unbeirrt an ihren Grundsätzen und Methoden fest, beließen ihre Anstrengungen ganz oft bei rhetorischen Reformversprechen. So beharrten sie bspw. auf dem Modell der Branchengewerkschaft – demnach für einen ganzen Wirtschaftszweig eine einzige Organisation zuständig ist –, obwohl sich zwischenzeitlich bedeutsame Gruppen wie Ärzte, Piloten oder Lokführer in eigenen Berufsgewerkschaften verselbstständigten, da sie ihre Interessen nicht mehr ausreichend im DGB vertreten sahen. Und deshalb ließen die DGBGewerkschaften auch lange Zeit generell keine Abweichungen von Tarifverträgen zu, obwohl in Einzelfällen geringe Zugeständnisse an die Unternehmer wohl manchen Vorteil auch für die Arbeitnehmer gebracht hätten. Denn sie betrachteten dieses arbeitspolitische Ordnungsinstrument als ein gewerkschaftsgeschichtliches Heiligtum wie auch Grundlage ihres Erfolgs und ihrer Stellung im politischen System der Bundesrepublik. Das machte es ihnen gewiss nicht leicht, ihre Tarifkultur an gewandelte Zeiten anzupassen. Schwäche aus Stärke – zu einer Paradoxie deutscher Gewerkschaften Das war womöglich die entscheidende Paradoxie deutscher Gewerkschaften: Ihre – tatsächliche wie auch eingebildete – Stärke machte sie schwach. Das begann, wie gesagt, mit ihrem fortlaufenden Alter, das sie als Beweis für ihre schicksalsgegebene Überlebensfähigkeit deuteten und daraus einen untergründigen Unverwundbarkeitsglauben ableiteten. Und es setzte sich fort in zahlreichen Fehlinterpretationen. Vieles überschätzten sie: ihre Mobilisierungskraft in Tarifkonflikten, die Originalität und Attraktion ihrer politischen Meinungen und Konzepte, nicht zuletzt die Beständigkeit vorteilhafter Bedingungen ihres wirtschaftlichen, sozialen und politischen Umfelds. Sicherlich war die Streikbereitschaft der deutschen Arbeiter im Ernstfall stets groß und zuverlässig. In den frühen 1980er Jahren brachten Gewerkschaften noch beeindruckende Mengen von Arbeitnehmern zum Streiken; in Urabstimmungen plädierten überwältigende Mehrheiten für die Aufnahme von Arbeitskämpfen. Die Kampfmoral war offenbar groß, die Arbeitnehmer ließen sich bereitwillig auf das gewerkschaftliche Angebot ein, sich den Arbeitgebern zu wi-

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dersetzen.84 Selbst als die Gewerkschaftswelt noch weniger als damals, zur Zeit der schwarz-gelben Kohl-Regierung, intakt war, bspw. im Herbst 2006, konnten sie mit begründetem Stolz darauf verweisen, rund 220.000 Menschen aus Anlass eines regierungskritischen Aktionstags auf die Straßen deutscher Großstädte gebracht zu haben.85 Mit solchen Zahlen vergewisserten sie sich ihrer noch immer beträchtlichen Stärke – und sahen die Organisationsprobleme nicht mehr ganz so alarmierend wie noch kurz zuvor. Sodann gab es politische Positionen, die sie zu regelrechten Heilslehren erhoben, dadurch jedoch verklärten und noch dazu vergaßen, damit prinzipiell allenfalls einen kleinen Teil ihrer Probleme bekämpfen zu können. Dazu gehörte die Ansicht, das knapper werdende Arbeitspensum der postindustriellen Wirtschaft auf mehr Köpfe zu verteilen. Diese Arbeitszeitverkürzung sollte jedoch bei Lohnausgleich geschehen, was die Arbeitskosten in die Höhe treiben würde – weniger arbeiten bei unverändertem Lohn. Jedenfalls machten die Gewerkschaften dieses Konzept zu einem ihrer vorrangigsten Ziele. Und während die Jahre des politischen Kampfes verstrichen, entdeckten die Gewerkschaften nicht viel Neues, verblieben größtenteils bei dieser Idee, ohne sich Alternativen auszudenken. Und die Beschäftigten verstanden irgendwann nicht mehr den Sinn dieses politischen Vorhabens, ließen sich davon schwerlich mitreißen und wussten mit der Gewerkschaftspolitik nicht viel anzufangen. Ihre Sichtweise unterschied sich von der gewerkschaftlichen: Viele Funktionäre wähnten sich indessen nämlich in einer großen Nähe zu den politischen Wünschen der Beschäftigten, unterschätzten dadurch aber die eigentliche Distanz zu deren Vorstellungen und Werten. Sie waren nicht in der Lage, zutreffend ihre Nähe oder Distanz zu den Auffassungen der Mehrheit der Arbeitnehmer einzuschätzen. Dadurch handelten sie häufig auf Basis falscher Annahmen. Auch von den Mitgliederzahlen ließen sich die Gewerkschafter nur allzu gerne täuschen. Zunächst: Bis in die 1960er Jahre hinein bezogen Gewerkschaften ebenso wie die SPD ihre Kraft aus dem sozialdemokratischen Milieu.86 Dieses befand sich geografisch vor allem in den Arbeitersiedlungen großer Industriegebiete und Stadtteilen mit erschwinglichen Mietpreisen. Dort organisierten qualifizierte Facharbeiter ihr Lebens- und Arbeitsumfeld, holten ihre Nachbarn

84 Siehe Riester, Walter: Der Kampf um die 35-Stunden-Woche in Nordwürttemberg/ Nordbaden. Bedingungen, Erfahrungen, Schlußfolgerungen, in: WSI-Mitteilungen, Jg. 37 (1984) H. 9, S. 526-533. 85 Vgl. Knuf, Thorsten: Auf der roten Fanmeile, in: Berliner Zeitung, 23.10.2006. 86 Vgl. Lösche/Walter 1992, S. 77-92.

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und Kollegen in die Organisation hinein. Dort herrschte das ungeschriebene Gesetz, in eine oder mehrere Organisationen des reichhaltigen Spektrums der Arbeiterbewegung einzutreten – neben Gewerkschaft und Partei konnten das z.B. der Arbeiter-Angler-Bund oder der Arbeiter-Mandolisten-Bund sein. Der soziale Druck zur Mitgliedschaft war durch Eltern, Freunde und Kollegen enorm, doch zugleich kamen die Menschen dadurch in den Genuss solidarischen Zusammenhalts, einer festen Struktur, wurden beschützt und mitgenommen. Der „stumm[e] Druck diskriminierender Blicke“ und die „Moral der proletarischen Familienwirtschaft“ geboten denn auch den Beitritt in die passende Gewerkschaft.87 Auf diese Weise verfügten Gewerkschaften über ein regelrechtes MitgliederAbonnement. Eltern, Freunde und Kollegen schrieben die Mitgliedschaft vor. Sie trichterten den jungen Arbeitern ein, Gewerkschafter zu werden und die SPD zu wählen. Und dieser Mechanismus funktionierte über einige Generationen hinweg äußerst zuverlässig. Bis irgendwann sich jener Wertewandel und Mentalitätswechsel der Gemüter der Arbeiterschichten bemächtigte, den Soziologen „Individualisierung“ getauft haben. Denn indem die Arbeitersöhne und -töchter in der wirtschaftswunderlichen Bundesrepublik aufstiegen, die Segnungen des Adenauer’schen Sozialstaats empfingen und die Früchte von Erhards Sozialer Marktwirtschaft pflückten, erstmals in ihrer Familie eine höhere Schule besuchten oder gar studierten,88 kletterten sie die Leiter der gesellschaftlichen Hierarchie hinauf – waren Angestellte oder Ärzte und Rechtsanwälte statt wie ihre Eltern und Großeltern Arbeiter – und ließen sich auch nicht mehr ihren Lebensweg und ihre Alltagsgestaltung durch die einschränkenden Werte und Normen des Milieus vorschreiben, nutzten überdies BAFöG, Sozialversicherung, Fernsehen, Rundfunk, Zeitungen und Autos für ihre Emanzipation von ihrem sozialen Herkunftsraum.89 Sie erfuhren die umfassende Liberalisierung und Modernisierung der westdeutschen Gesellschaft in den 1960er und 1970er Jahren – mit dem Ergebnis einer Abnahme der rigiden elterlichen Autorität wie auch einschränkender Normen bspw. in Bezug auf Sexualität und Ehe, hierzu analog die Zunahme von Toleranz gegenüber abweichendem Verhalten und Alternativen zu mehrheitlichen Praktiken oder

87 Mooser, Josef: Arbeiterleben in Deutschland 1900-1970. Klassenlagen, Kultur und Politik, Frankfurt am Main 1984, S. 142. 88 Ende der 1970er Jahre verließen z.B. bereits über sechzig Prozent als Beamte und Angestellte die Arbeiterschaft; vgl. dazu Wehler 2008, S. 161 f. 89 Vgl. Schildt 2007, S. 20-28, S. 37-53 u. S. 62-65.

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auch eine gegenüber politischen Akteuren kritischere öffentliche Meinung.90 Sie lösten sich aus dem Korsett enger Zusammenhänge heraus, zogen in andere Stadtviertel oder aufs Land, entfernten sich – räumlich und geistig – aus dem Milieu.91 Dieses zerfiel infolgedessen, verlor stetig an Prägekraft und konnte den Gewerkschaften in immer geringeren Mengen neue Mitglieder zuführen, um den durch natürliche Sterblichkeit dezimierten Mitgliederbestand zu erneuern. Damit hatte das Milieu nicht gerechnet: Schließlich waren vom Kaiserreich über die Weimarer Republik bis in die ersten Jahrzehnte der Bundesrepublik hinein Arbeiterkinder nur selten sozial aufgestiegen und hatten den Status und Verdienst ihrer Eltern kaum übertroffen.92 Die Zeiten hatten sich zulasten der Milieukultur gewandelt: Denn nun wollten viele Bürger von dem Sinn einer Gewerkschaftsmitgliedschaft ausführlich überzeugt werden, fühlten sich dort nicht mehr wohl oder glaubten auch ohne den gewerkschaftlichen Schutz und den Zusammenhalt des Milieus mitsamt seiner unzähligen, jedoch aus der Zeit gefallenen Organisationen auszukommen und sahen den Austritt aus der Organisation folgerichtig keineswegs mehr als Sakrileg an – ähnlich erging es ja auch den Kirchen. Schließlich gab es nun Alternativen, gab es bspw. die Sozialversicherung, BAföG, Fernsehen. Außerdem ließ die Autorität der Eltern nach – pädagogische Ansichten und Stile veränderten sich, auch versammelte sich nicht mehr wie noch in den 1950er Jahren die gesamte Familie in der kleinen Wohnung um den einzigen Rundfunk- oder Fernsehapparat,93 sodass allein schon die räumliche Nähe einen größeren Einfluss der Eltern auf die Ansichten ihrer Kinder genommen haben dürfte. Die Kultur expandierte und schuf vielerlei organisationsunabhängige Unterhaltungsangebote, die letztlich auch zum Geltungsverlust der Gewerkschaften beitrugen: Musik, Fernsehen, Kino, Theater.94 Dadurch brauchten sie die Gewerkschaften nicht mehr. Nicht in den 1970er und 1980er Jahren. Jugendliche Freizeit ließ sich finanziell mit Taschengeld und Erspartem bestreiten und auch die Eltern konnten dank eines festen Jobs, Bau-

90 Vgl. Herbert, Ulrich (Hg.): Wandlungsprozesse in Westdeutschland. Belastung, Integration, Liberalisierung 1945-1980, Göttingen 2002. 91 Vgl. dazu Martens 1993: Organisationsprinzip, S. 134; Walter, Franz: Vorwärts oder abwärts? Zur Transformation der Sozialdemokratie, Berlin 2010, S. 18-30. 92 Vgl. Mooser 1984, S. 117 f. 93 Vgl. Schildt, Axel: Hegemon der häuslichen Freizeit: Rundfunk in den 50er Jahren, in: ders./Sywottek, Arnold (Hg.): Modernisierung im Wiederaufbau. Die westdeutsche Gesellschaft der 50er Jahre, Bonn 1993, S. 458-476, hier S. 464 f. 94 Vgl. Faulstich, Werner (Hg.): Die Kultur der sechziger Jahre, München 2003.

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sparverträgen oder Krediten ohne das Milieu auskommen. Gesellschaftlicher Aufstieg war für Arbeiterkinder längst außerhalb der Gewerkschaft oder Partei möglich geworden. Dazu hatten ausgerechnet eben jene Gewerkschaften und Partei im Übrigen mit ihrer erfolgreichen Politik in den 1960er und 1970er Jahren selbst beigetragen. Jedenfalls: Der historisch langlebige Mechanismus, die Loyalität zur Organisation gewissermaßen zu vererben, war unterbrochen, ohne Aussicht auf Reparatur defekt. Allerdings wuchsen die Gewerkschaftsmitgliedschaften ungeachtet des lautlosen Zerfalls ihres Milieus – im DGB zwischen 1960 und 1980 um 1,5 Mio. Menschen. Denn noch gab es genügend Fabriken, Werften und Gruben, in denen die Milieumentalität den gesellschaftlichen Bedeutungsverlust der Milieukultur überdauerte; Orte also, in denen die Erosion langsamer verlief. Dort auch glaubten die Arbeiter am stärksten, von einer Gewerkschaftsmitgliedschaft zu profitieren – in Form hoher Löhne und vergünstigter Zusatzversicherungen. Außerdem gab es noch die „Feldwebel“95 der Fabriken: Die Meister, Poliere und Vorarbeiter waren gleichsam die Zenturionen der Arbeiterklasse; sie traten als bisweilen cholerische, in jedem Fall aber unduldsame Autoritäten auf. Wie die Familie und Kollegen stellten auch sie sicher, dass der Lehrling oder der gelernte Arbeiter in die Gewerkschaft eintrat. Denn häufig waren sie zugleich Gewerkschaftsfunktionäre und konnten mit der Menge organisierter Beschäftigter in ihrem Betrieb innerhalb der Organisation, auch innerhalb der Belegschaft ihren Machtstatus vergrößern – besaßen also ein persönliches Interesse an Mitgliedern. Aber auch ihre Zeit neigte sich dem Ende entgegen, als sich die Milieus endgültig auflösten und postmaterielle Werte in die Gesellschaft strömten. Als sich die älteren Kohorten in den sozialstaatlich geregelten Ruhestand begaben, gelangten neue Jahrgänge in ihre Positionen, die im gesellschaftlich liberalen Klima der prosperierenden Bundesrepublik aufgewachsen waren, die Not und Entbehrung der Nachkriegszeit und der Wiederaufbauphase nicht mehr kannten, denen folglich etliche Erfahrungen und Werte fremd waren. Sie gerieten stattdessen in Kontakt mit neuen Modellen der Arbeitsorganisation, die häufig aus Japan importiert worden waren. Die „Maloche“ fand nun immer häufiger in „teilautonomen Arbeitsgruppen“ statt, die im Gegensatz zu früher Eigeninitiative und Selbstverantwortung verlangten und begünstigten; oder die Beschäftigten erfreuten sich an „Job-Rotation“ und konnten arbeitsrechtliche Schritte gegen „Mobbing“ ergreifen. Das war insgesamt schon eine ganz andere Arbeitswelt als die ihrer Eltern und Großeltern. Trotzdem waren die Bedingungen in manchen Branchen und Produktionsstätten auch weiterhin äu-

95 Zu diesem Typus vgl. Mooser 1984, S. 120.

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ßerst gewerkschaftsfreundlich. Überall dort, wo große Industriebetriebe waren, konnten die Gewerkschafter stattliche Mitgliedersummen vorweisen, erreichten sie beachtliche Organisationsgrade. Die Betriebsgröße, die Wirtschaftskonjunktur und das Interesse vieler Arbeitgeber am Betriebsfrieden begünstigten die Werbung neuer Mitglieder.96 Auch als sich viele Erwerbstätige in den 1970er Jahren urplötzlich von Arbeitslosigkeit infolge von Absatzkrisen und Rationalisierungswellen bedroht fühlten, profitierten davon zunächst die Gewerkschaften, denen sich die Betroffenen schutzsuchend zuwandten. In den Gewerkschaftsbüros verfestigte sich unterdessen der Glaube an einen selbstverständlichen und dauerhaften Zustrom neuer Mitglieder und ehrenamtlicher Aktivisten. Statt auf die mindestens gemischten Motive für einen Gewerkschaftsbeitritt zu schauen, die sowohl aus Zufriedenheit mit der Gewerkschaftsarbeit, einem Solidaritätsbewusstsein als auch der schieren Furcht vor Entlassung bestehen konnten, führten sie die steigenden Mitgliederziffern allzu sehr auf ihre natürliche Attraktivität und organisatorische Anziehungskraft zurück. Wie gesagt, nochmals bestätigte die Gewerkschaften in diesem Irrglauben der Massenansturm der ostdeutschen Arbeitnehmer anfangs der 1990er Jahre, als 4,1 Mio. Menschen den Mitgliederbestand explosionsartig in die Höhe trieben. Sie übersahen, dass die hierfür ausschlaggebenden Bedingungen brüchig waren, jeder Zeit wieder verschwinden konnten. Und so geschah es auch. Betriebe wurden immer kleiner und verteilten sich geografisch innerhalb des Zuständigkeitsbereichs eines einzelnen Gewerkschaftsbüros, sodass die hauptberuflichen Sekretäre immer mehr Zeit im Auto verbrachten, um die betreuungsbedürftigen Firmen anzusteuern. Die Manager länderübergreifend operierender Konzerne hatten anders als früher internationale Geldflüsse im Auge und besaßen nicht mehr die fürsorgliche Haltung und das patriarchalische Verantwortungsgefühl der großen westdeutschen Selfmademen, die den „rheinischen Kapitalismus“ begründet hatten. Die neue Managerriege zeigte eine deutlich schwächere Loyalität gegenüber den Belegschaften, die nun ganz unsentimental in die Arbeitslosigkeit entlassen wurden – irgendeine soziale Sicherungsinstanz würde sich für deren Obhut schon finden. Der Typus eines Hermann Josef Abs, der – aus welchen Gründen auch immer – seine Entscheidungen an einer systemweiten Orientierung ausrichtete und nicht den Profit seines Arbeitgebers als ausschließliche Maxime vor Augen hatte, der sich zur Bestandssicherung von Arbeitsplätzen auch mal gegen die freien Kräfte des Mark-

96 Vgl. Treu, Eckbert: Probleme der gewerkschaftlichen Mitgliederrekrutierung in ausgewählten Industriezweigen, in: Soziale Welt, Jg. 29 (1978) H. 4, S. 418-439, hier S. 430 f.

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tes stemmte,97 fand sich seit 1970er Jahren in der Wirtschafts- und Finanzwelt offenbar immer seltener. Das Diktat des shareholder value konnte mit einem Mal ganze Produktionsstandorte hinwegfegen, da der Betriebsfriede keine Rolle mehr spielte, solange sich die Produktion notfalls und ganz oft sogar kostengünstiger in andere Regionen oder Staaten verlagern ließ. Dieser Wandel der Wirtschaftskultur in Richtung eines „flexiblen Kapitalismus“98 war für die Gewerkschaften ein großes Problem. Denn auf die Globalisierung und Europäisierung, aberwitzige Finanzmarkttransfers und eine rücksichtslose Betriebswirtschaft waren die deutschen Gewerkschaften nicht vorbereitet, sie registrierten derlei Entwicklungen verunsichert.99 All das zerstörte ihre vermeintlichen Gewissheiten und versetzte ihnen einen Schlag, von dem sie sich so leicht nicht mehr erholen sollten. Sie hatten schlichtweg kein Rezept parat, wie sie in einer solch veränderten Umwelt ihre Kräfte bewahren konnten. Und schließlich ist da noch die Sache mit der politischen und institutionellen Macht. Im Verlauf der bundesrepublikanischen Geschichte eigneten sich die Gewerkschaften eine beträchtliche Präsenz in Gremien, Parlamenten und Ministerien an, geboten über viel Einfluss auf die Gesellschaft. Als Köpfe von Kommissionen und Mitglieder von Parlamentsnetzwerken und Regierungskabinetten konnten bedeutende Gewerkschaftsrepräsentanten die Gesetzgebung unmittelbar beeinflussen und erhielten Informationen über politische Vorgänge aus erster Hand. Jahrzehntelang waren sie z.B. über Ämter und Positionen eng mit der SPD personell verflochten. In ihrer Hochburg Nordrhein-Westfalen schien es kaum eine öffentliche Einrichtung zu geben, in der die Gewerkschaften nicht vertreten waren – aber nicht nur dort saßen sie in Arbeitsamtsvorständen, Regierungsgremien, den Trägern der Sozialversicherung, der Mitgliederversammlung der

97 Vgl. dazu Gall, Lothar: Der Bankier: Hermann Josef Abs. Eine Biographie, München 2005, S. 228-251 u. S. 383-391. 98 Dörre, Klaus: Kampf um Beteiligung. Arbeit, partizipatives Management und die Gewerkschaften, in: Kurswechsel, H. 2/2002, S. 64-76, hier S. 74. 99 Siehe z.B. Heimlich, Stefan/Plehwe, Dieter: Schlank durch Vernetzung. Neue Logistikkonzepte – Herausforderung für die gewerkschaftliche Organisationsreform, in: Sozialismus, H. 10/1994, S. 38-40; König, Otto: Dezentrale Strukturen stärken. Organisationsentwicklung der IG Metall – Anforderungen, Kontroversen und Perspektiven, in: Sozialismus, H. 10/1994, S. 41-46, hier S. 42 f.

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Handwerkskammern, Verwaltungsräten öffentlich-rechtlicher Rundfunk- und Fernsehanstalten oder an Arbeitsgerichten.100 Doch genau das war ein Problem. Denn die Gewerkschaftsfunktionäre ließen sich von diesem Besitzstand verwöhnen, vernachlässigten darüber die Bewahrung und den Ausbau ihrer Organisationsmacht, ihre Verankerung in den Betriebsstätten, Mitglieder, Ehrenamtliche.101 Weshalb brauchten sie bei all dieser Machtvollkommenheit eine besonders große Zahl von Mitgliedern, warum sollten sie sich darum scheren, inwieweit ihre Mitgliedschaft den Arbeitsmarkt widerspiegelte? Und entschied sich in diesem als korporatistisch und sozialpartnerschaftlich bezeichneten System, in dem Gewerkschafter Abgeordnete und Minister waren und in dem die Arbeitsbedingungen in Spitzengesprächen mit Verbandsvertretern der Arbeitgeberseite unter hoher Kompromiss- und Verpflichtungsbereitschaft ausgehandelt wurden, nicht alles auf politischer, überbetrieblicher Ebene? In der Tat mag das eine Zeitlang so gewesen sein, als bspw. in den 1970er Jahren mit Georg Leber, Hans Matthöfer und Walter Arendt gleich drei ehemalige Spitzengewerkschafter als Bundesminister am Kabinettstisch saßen. Und selbst unter den nicht gerade gewerkschaftsfreundlichen Kohl-Regierungen in den 1980er und 1990er Jahren brauchten sich die Gewerkschaften – gemessen an dem konservativ-marktliberalen Kurs – keine großen Sorgen zu machen. Ihre politischen und institutionellen Privilegien hatten sich vom Zustand der Mitgliedschaft in nicht geringem Ausmaß emanzipiert – was ihnen die Vernachlässigung von Mitgliedern und der Organisationsbasis gestattete.102 Bis in die 1990er Jahre hinein waren Macht und Einfluss der Gewerkschaften vom Ausmaß und Profil der Mitgliedschaft entkoppelt. Sie konnten sich soziolo-

100 Vgl. Europäische Kommission 1995, S. 207; insgesamt auch Brusis, Ilse: Annäherungen an die Zukunft. Zum Entwurf eines neuen Grundsatzprogramms der SPD, in: Gewerkschaftliche Monatshefte, H. 4/1989, S. 193-202; Dörre, Klaus: Funktionswandel der Gewerkschaften. Von der intermediären zur fraktalen Organisation, in: Haipeter, Thomas/ders. (Hg.): Gewerkschaftliche Modernisierung, Wiesbaden 2011, S. 267-301, hier S. 268-275; Hassel 2003, S. 109; Treu 1978, S. 422 f.; Wiesenthal/ Clasen 2003, S. 299 f. 101 Vgl. dazu Hassel 2007; Müller, Hans-Peter/Wilke, Manfred: Verdrängte Beruflichkeit – Renaissance des Berufsprinzips?, in: Industrielle Beziehungen, Jg. 15 (2008) H. 4, S. 376-401. 102 Vgl. dazu Hassel, Anke: Organisationsreform und Organisationsformen, in: Gewerkschaftliche Monatshefte, H. 3/2000, S. 129-139, hier S. 131 ff.; Frege, Carola M./Kelly, John: Union Revitalization Strategies in Comparative Perspective, in: European Journal of Industrial Relations, Jg. 9 (2003) H. 1, S. 7-24, hier S. 16-21.

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gisch noch so weit von der Gesellschaft entfernt haben – die einmal eingenommenen Positionen behielten sie trotzdem. Immerhin vermochte der DGB mit der Repräsentation von gerade einmal um etwa zwanzig Prozent aller Erwerbstätigen Regelungen zu treffen, die für zwei Drittel aller Beschäftigten gültig waren.103 Ausgerechnet die Unternehmen trugen durch ihre Mitgliedschaft in Arbeitgeberverbänden dazu bei, können doch Gewerkschaften für solche Unternehmen Tarifverträge aushandeln, auch wenn sie die Belegschaft überhaupt nicht organisieren. Deutsche Gewerkschaften waren viel zu lange komfortabel in das System industrieller Beziehungen eingebettet, als dass sie gezwungen worden wären, aus existenzieller Notwendigkeit heraus die Mitgliedergewinnung zu forcieren.104 Man fühlte sich eben wohl in Betriebsräten, Selbstverwaltungsgremien und Bündnissen für Arbeit. Dieser politische und gesellschaftliche Besitzstand der Gewerkschaften verzögerte deren Einsicht in die Notwendigkeit verstärkter Bemühungen, die Mitgliedschaft zu vergrößern, wieder in den Betrieben die Menschen aufzusuchen und zu bekehren. Viel zu lange waren sie vom Zwang zur entschlossenen Orientierung auf neue Mitgliedergruppen entbunden und erteilten der überbetrieblichen gegenüber der betrieblichen Ebene Vorrang. Die politischen Aufgaben, die den Gewerkschaftszentralen vorbehalten waren, genossen einen größeren Stellenwert als die Mitgliederrekrutierung, die den Sekretariaten und Bezirksverwaltungen oblag.105 Infolgedessen verkümmerten ihre Fähigkeiten, engagierte Bürger in ihre Organisation zu locken und die Beschäftigten vom Sinngehalt einer Gewerkschaftsmitgliedschaft zu überzeugen, ebenso wie sie nicht vor dem plötzlichen Verlust ihrer Politik- und Gremienmacht in den 2000er Jahren gefeit waren.106 Unter Gerhard Schröder erwischte sie dann die Ausklammerung aus dem politischen Entscheidungsprozess kalt und ließ sie mit dem Reflex harscher Kritik an der Regierung reagieren, die sich ihrerseits in der Öffentlichkeit als vor-

103 Vgl. Behrens, Martin: Die Rolle der Betriebsräte bei der Werbung von Gewerkschaftsmitgliedern, in: WSI-Mitteilungen, H. 6/2005, S. 329-338, hier S. 330. 104 Vgl. Frege/Kelly 2003, S. 16-21; Heery, Edmund: Gewerkschaftliche Strategien gegen den Mitgliederschwund, in: WSI-Mitteilungen, H. 9/2003, S. 522-527, hier S. 525 f.; Treu 1978, S. 422 f. 105 Vgl. Dribbusch 2003, S. 297; Schmid, Josef/Tiemann, Heinrich: Die Reform des DGB: Exekution finanzieller Zwänge oder innovative Reorganisation. Eine politische Organisationsanalyse, in: perspektiven ds, Jg. 7 (1990) H. 1, S. 31-44, hier S. 35. 106 Vgl. Dörre 2011, S. 279 f.; Schroeder 2007.

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wärtsgewandte Reformkraft gegenüber den rückwärtsgewandten Blockierern aus den Gewerkschaften inszenieren konnte. Es ist schon zynisch: Die gesetzlich geschützte Rangstellung der Gewerkschaften im politischen System, die sich die Arbeitnehmerorganisationen im Grunde über mehr als einhundert Jahre mühsam, zum Teil unter schlimmen menschlichen Entbehrungen erkämpft haben, hat sich zuletzt als schwere Hypothek für die gewerkschaftliche Zukunftsfähigkeit erwiesen. Gebettet auf dem samtenen Kissen der betrieblichen Mitbestimmung und des sozialstaatlichen Korporatismus fühlten sich die Gewerkschaften jahrzehntelang viel zu wohl, als dass sie sich zu neuerlichem Aktionselan aufraffen konnten – stattdessen ignorierten sie die Krisenfanale im Bewusstsein einmal errungener Stärke geflissentlich. Erst als diese Krise sich gleichzeitig auf die Zusammensetzung der Mitgliedschaft, die Finanzen und die Stellung im politischen System erstreckte und ein allumfassendes, nicht mehr zu übersehendes Ausmaß angenommen hatte, begannen die Gewerkschaften, sich ihrer einstigen Fähigkeit zum gesellschaftsbewegenden Aktionismus zu besinnen.107 Erst dieser Zustand veranlasste sie zum Handeln. Daher auch waren vorher zumeist jene Gewerkschaftsregionen innovative Laboratorien neuer Methoden gewesen, in denen die Gewerkschaften wie z.B. im christdemokratisch dominierten, mittelständisch geprägten BadenWürttemberg keine so große Institutionsmacht und Mitgliedschaft besaßen. Im Grunde benötigte ihre Reformfähigkeit also so etwas wie die Bismarck’sche Unterdrückung der 1870er und 1880er Jahre oder die „Brutalisierung der Wirtschaftsbeziehungen“108 der 1990er Jahre. Ein weiterer Ursprung organisatorischer Schwäche war neben der absoluten Mitgliederzahl und dem privilegierten Platz im politischen Gefüge die finanzielle Stärke vieler Gewerkschaften. Sie ermöglichte ihnen nämlich den mehrfachen Aufschub drängender Probleme, entband sie vom Zwang zur Rücksichtnahme auf die Erfahrungen und Wünsche der Organisationsbasis und machte dadurch für Schwächungen anfällig. Erstens verführte das Geld von mehr als sieben Millionen Beitragszahlern zu unternehmerischer Waghalsigkeit. Die Gemeinwirtschaft, die das Ziel verfolgte, innerhalb des kapitalistischen Systems eine sozia-

107 Vgl. Brinkmann, Ulrich et al.: Strategic Unionism. Aus der Krise zur Erneuerung? Umrisse eines Forschungsprogramms, Wiesbaden 2008, S. 86 f.; Detje, Richard: IG Metall-Offensive zur Erneuerung der Gewerkschaftsarbeit, in: Organizing. Neue Wege Gewerkschaftlicher Organisation. Supplement der Zeitschrift Sozialismus, H. 9/2008, S. 7-13, hier S. 11. 108 Detlef Hensche zitiert nach König, Otto: Kleinkonflikt, in: Sozialismus, H. 3/1994, S. 41-42, hier S. 42.

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listische Alternative zu etablieren, verwandelte sich durch erkleckliche Mitgliedsbeiträge von einer sozialistisch inspirierten Selbsthilfeorganisation in einen Konzern, der seinerseits kapitalistische Formen annahm. Aus hunderten Genossenschaften entstand bspw. die Co-op-Gruppe und mit über 400.000 Wohnungen avancierte die Neue Heimat zum europaweit größten Wohnungsbauunternehmen. Das machte die Gewerkschaften spätestens in den 1970er Jahren zu einem wahrhaftigen Immobilienmogul. Und für all diese Unternehmungen stellte die gewerkschaftseigene Bank für Gemeinwirtschaft (BfG) riesige Beträge zur Verfügung. Ihrem Selbstverständnis nach begriffen die Gewerkschaften dieses kapitalistische Treiben freilich weiterhin als ideologisch konformen Beitrag auf dem Weg zu einer gerechteren Gesellschaft. Der finanzielle Wohlstand machte die Gewerkschaftsmanager jedoch risikobereiter und verminderte den Willen zu umsichtigem Verhalten. Das Wagnis endete schließlich mit einem Fiasko, das die zuvor prall gefüllten Gewerkschaftskassen schlagartig entleerte und die Gewerkschaften fluchtartig von derlei Unternehmertum Abstand nehmen ließ. Ähnliches widerfuhr übrigens dem Österreichischen Gewerkschaftsbund 2006, der durch den Kollaps der gewerkschaftseigenen BAWAG an den Rand des Zusammenbruchs getrieben wurde.109 Anfang der 1980er Jahre gingen die deutschen Gewerkschaftsunternehmen unter, die Anteile an der Bank mussten zum großen Teil veräußert werden, den DGB und seine Mitgliedsorganisationen kostete dieses Fiasko schätzungsweise fünf Milliarden Mark. Damit zerschlug sich der klassenkämpferische „Traum, dem Kapitalismus ökonomisch mit eigenen Waffen Paroli zu bieten und ihn so gleichsam von innen zu reformieren“110. Doch das war noch längst nicht alles. Zweitens stiftete der Reichtum die Gewerkschaftselite dazu an, sich von ihrer Basis, den Mitgliedern und ehrenamtlichen Funktionären, zu entfremden. Was viele Gewerkschaftsstrategen als Professionalisierung verstanden, als Maßnahme auf dem Weg zu einer rundum modernisierten Organisation, führte zu einem äußerst nachlässigen Umgang mit ihrem Unterbau, tilgte eher die Organisationskraft, statt sie zu erhöhen. Denn die Kombination aus finanzieller Stärke und politischer Macht, über die die Gewerkschaften zwischen ungefähr 1960 und 2000 verfügten, ließ sie insgeheim das Interesse an Mitgliedern verlieren.111 Schon in den frühen 1980er Jahren warnten

109 Vgl. dazu Lorenz, Robert: Der ÖGB. Zur Geschichte und Zukunft österreichischer Gewerkschaften, Baden-Baden 2012, S. 341-345. 110 Hemmer/Milert/Schmitz 1990, S. 428. 111 Vgl. Heery 2003, S. 524; Wassermann, Wolfram: Gewerkschaftliche Betriebspolitik, in: Schroeder/Weßels (Hg.) 2003, S. 405-428, hier S. 407.

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Experten die Gewerkschaften vor dem Verlust dieser flüchtigen Faktoren und empfahlen, sich wieder verstärkt auf die Betriebsebene zu konzentrieren und sich mit Mitgliedern und Aktivisten für rauere Zeiten zu wappnen.112 Doch IG Metall, ÖTV und Co. verließen sich dessen ungeachtet auf den Fortbestand von Geld und Macht, entwickelten keinerlei Alternativstrategie, um einem etwaigen Wandel der wirtschaftlichen und politischen Verhältnisse vorzubeugen. Und sie verloren dadurch den Kontakt zu ihren Mitgliedern, das Wissen über ihre Klientel – wie auch diese ihrerseits bald keine Kenntnis mehr über Sinn, Vorzug und Funktion gewerkschaftlicher Organisation besaß. Was war bloß geschehen? Die monatlichen Mitgliedsbeiträge, welche die Gewerkschaften von ihren rund sieben Millionen Mitgliedern erhielten, boten einen bequemen Ausweg aus der Ehrenamts- und Mitgliederkrise. Sie ermöglichten es der Gewerkschaftsführung, personalaufwändige Arbeiten an externe Anbieter auszulagern und auf diese Weise den Mangel an ehrenamtlichen Aktivisten auszugleichen.113 Die dringenden Mahnungen seitens der Basis, schleunigst „Wohngebietsarbeit“ und „Betreuung der Mitglieder in Beschäftigungs- und Qualifizierungsarbeiten“ zu intensivieren – wozu man gewiss auch ehrenamtliches Personal benötigte,114 verhallten. Agenturen übernahmen die Kampagnenarbeit, Befragungen und Lastschriftverfahren ersetzten den regelmäßigen Kontakt zum einzelnen Mitglied,115 kurz: Die Kommunikation mit der gewerkschaftlichen Klientel verlor an Persönlichkeit und Emotionalität, wurde immer häufiger von eigens dafür angeheuerten Unternehmen oder elektronisch-automatisierten Verfahren durchgeführt. Was das betraf, wandelten sich die Gewerkschaften in der Tat zu hochprofessionellen Apparaten, die nicht mehr mündlich und gesellig, sondern distanziert und steril über Werbeplakate, Anzeigen in der BamS oder spröde Texte in vermutlich selten gelesenen Mitgliederzeitschriften kommunizierten. Dabei vertrauten sie auf den vermeintlichen Zusammenhang von der Auflagenstärke einer Werbung und dem Erfolg der Annonce in Form neuer Mitglieder. Dieses rechnerische Kalkül verdrängte die gefühlsmäßige Bindung an die Menschen. Die Ge-

112 Siehe bspw. Lecher, Wolfgang: Arbeitsbedingungen bei HOECHST und ICI im Vier-Länder-Vergleich, in: WSI-Mitteilungen, Jg. 37 (1984) H. 6, S. 364-371, hier S. 371 113 Ähnliches geschah während der 1980er Jahre in der SPD; vgl. Ebbighausen, Rolf et al.: Die Kosten der Parteiendemokratie. Studien und Materialien zu einer Bilanz staatlicher Parteienfinanzierung in der Bundesrepublik Deutschland, Opladen 1996, S. 317 ff. 114 Bender 1993, S. 19. 115 Vgl. dazu v. Beyme 1990, S. 360.

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werkschafter überschätzten dabei die Wirkungskraft von Kampagnen maßlos. Eine Zeitlang betrachteten sie die Kampagne als ein Allheilmittel gegen die abnehmende Präsenz in den Lebenswelten der Arbeitnehmer und das Verschwinden des vormals dichten sozialdemokratischen Pressewesens. Mit ihnen glaubten sie, in der Mediendemokratie und deren Aufmerksamkeitsökonomie bestehen zu können.116 Daher auch investierten sie viele Millionen Mark und Euro.117 Ähnlich dachten sie, in Zeiten der New Economy würde es genügen, für die Mitgliederbetreuung einige Call-Center zu betreiben und Mailing-Listen anzulegen. Aber natürlich waren diese Kontaktwege lediglich eine sinnvolle Ergänzung, keineswegs aber ein vollwertiger Ersatz des eindringlichen und fürsorglichen Gesprächs am Arbeitsplatz, an der Haustür oder gar im Wohnzimmer. Das traurige Ableben der Treppenterrier Und weiter: In den 1960er Jahren unterzogen sich die Gewerkschaften, zumindest ihrem Selbsteindruck nach, auf unterschiedlichen Feldern einer sehr ausgiebigen Reform: Sie modernisierten ihren Verwaltungsapparat und stellten die vormals von einzelnen Funktionären an der Haustür durchgeführte Beitragskassierung auf elektronische Verfahren um; sie ersetzten großflächig ehren- durch hauptamtliche Funktionäre und schnitten die Zuständigkeitsbereiche der Verwaltungsstellen neu zu; sie bauten entleerte, vermeintlich funktionslos gewordene Ortsverbände ab und verlagerten ihre Aktivität in die Betriebe.118 Vor allem aber endete im sozialdemokratischen Organisationsgefüge das Zeitalter der Hauskassierer. Als „Treppenterrier“119 hatten diese energischen und leidenschaftlichen Funktionäre lange Zeit in den Arbeitervierteln die Beiträge eingetrieben, dabei allerdings auch das persönliche Gespräch mit den Mitgliedern gesucht, sich für deren Befindlichkeiten interessiert und Hilfe angeboten. Dadurch kannten sie sich in der Lebenswelt der Gewerkschaftsklientel bestens aus, wussten sie ge-

116 Siehe bspw. v. Camen 2000; vgl. Arlt, Hans-Jürgen: Kampagne 2000. Gewerkschaften und Kommunikation, in: Forschungsjournal NSB, Jg. 13 (2000) H. 3, S. 62-68. 117 Vgl. Behrens, Martin/Fichter, Michael/Frege, Carola M.: Unions in Germany: Regaining the Initiative?, in: European Journal of Industrial Relations, Jg. 25 (2003) H. 9, S. 25-42, hier S. 28 f. 118 Vgl. dazu Streeck 1979, S. 86-91. 119 Liebevoll-spöttisch nach Nau, Alfred: Gestalt und Bedeutung des Funktionärs, in: Die Neue Gesellschaft, Jg. 8 (1961) H. 3, S. 189-197, hier S. 196; vgl. auch Walter, Franz/Dürr, Tobias: Die Heimatlosigkeit der Macht. Wie die Politik in Deutschland ihren Boden verlor, Berlin 2000, S. 87 f.

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nauestens über deren Probleme Bescheid und vor allem sorgten sie bei ihnen für Rückhalt, vermittelten und übersetzten das manchmal schwer nachvollziehbare Treiben der Gewerkschaftselite und stellten so die Gefolgschaft sicher. Sie erklärten die Gewerkschaftspolitik, erläuterten den Sinn von Beschlüssen, sorgten damit für Verständnis bei den Betroffenen und hielten den Unmut unterhalb einer kritischen Grenze. Denn auch früher schon zeigten sich viele Arbeitnehmer mit den Leistungen der Gewerkschaften unzufrieden – doch die Hauskassierer besänftigten jedes Mal deren Groll. Kurz gesagt: Die Treppenterrier verhinderten Austritte und sorgten für neue Mitglieder. Doch die Gewerkschaften schafften sie ab. Zwischen 1960 und 1975 führten sie großflächig die Beitragskassierung durch den Bankeinzug ein, schlossen zahlreiche Verwaltungsstellen. Die IG Metall Otto Brenners – seinerzeit die wohl leistungsfähigste und selbstbewussteste, überdies nominell mitgliederstärkste Gewerkschaft des Planeten – war darin Vorreiter. Zum einen hoffte sie auf eine größere Beitragsehrlichkeit; zum anderen suchte sie die Zufriedenheit der Mitglieder zu steigern, da häufig Neumitglieder erst nach einiger Zeit mit Zahlungsforderungen behelligt wurden, infolgedessen gleich mehrere Monatsbeiträge zu entrichten hatten und darüber verständlicherweise sehr ungehalten sein konnten.120 Doch wo Brenner die „intakte Organisation“ schaffen wollte, erreichte er mit dem automatischen, insoweit unpersönlichen Verfahren lediglich Anonymität und richtete konträr zu seinem ursprünglichen Anliegen viel Schaden an. Denn mit der Zeit nahmen viele Arbeitnehmer von ihrer Gewerkschaft lediglich noch Notiz, wenn sie ihren Kontoauszug betrachteten, die Mitgliedszeitschrift aus dem Briefkasten holten oder zum Streik aufgerufen wurden. Auch in der SPD war die Existenz von Hochburgen offenbar stark an das Ausmaß geknüpft, in dem – wie in den frühen 1980er Jahren in Nordrhein-Westfalen – die Beiträge noch überwiegend persönlich kassiert wurden.121 Sicher, das traditionsreiche Hauskassiererwesen befand sich zum Zeitpunkt seiner Abschaffung be-

120 Siehe Protokoll der Vorstandssitzung der IG Metall am 12.01.1960 (Dok. 32), abgedruckt in: Merkel 1999 (Bearb.), S. 457 f.; vgl. auch Schelsky, Helmut: Funktionäre. Gefährden sie das Gemeinwohl?, Stuttgart-Degerloch 1982, S. 36; Streeck 1979, S. 87 f. 121 Vgl. Becker, Horst/Hombach, Bodo: Bestandsaufnahmen an der sozialdemokratischen Basis in Nordrhein-Westfalen 1982, in: dies. et al.: Die SPD von innen. Bestandsaufnahme an der Basis der Partei. Auswertung und Interpretation empirischer Untersuchungen in der SPD Nordrhein-Westfalen, Bonn 1983, S. 43-129, hier S. 94 ff.

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reits in einer Krise. Aufgrund der gestiegenen Renten benötigten viele ältere Funktionäre den Nebenverdienst nicht mehr, den dieses Amt mit sich gebracht hatte, und Jüngere wollten lieber von den neuen Chancen des Bildungssystems profitieren und verließen mit der Zeit das Milieu.122 Dennoch unternahmen die Gewerkschaften kaum Anstrengungen, ihre Ehrenämter in einer vielfach veränderten Gesellschaft wieder attraktiv zu machen und für Nachwuchs zu sorgen. Stattdessen befreiten sie sich unter Rückgriff auf Geld und Technik aus der Abhängigkeit ehrenamtlicher Arbeit – deren Verlust galt es fortan in öffentlichen Stellungnahmen und auf Gewerkschaftstagen aufrichtig zu bedauern, doch die Funktionstüchtigkeit der Zentralen von IG Metall oder IG Chemie beeinträchtigte das bis zu einem gewissen Grad erst einmal nicht. Das sollte noch unheilvolle Folgen nach sich ziehen. Denn mit der vermeintlichen Modernität untergruben die Gewerkschaften in Wirklichkeit eine ihrer wichtigsten Bestandsgrundlagen: den persönlichen Kontakt zur berufstätigen Bevölkerung.123 Mit dem vielen Geld, das sie in unzählige Kampagnen steckten und mit denen sie den Verlust des Ehrenamts ausglichen, finanzierten sie letztlich die Beschleunigung ihres eigenen Niedergangs. In der hochprofessionellen, computerisierten und auf Medienkommunikation ausgerichteten Gewerkschaft waren ehrenamtliche Funktionäre in nicht geringem Ausmaß entbehrlich, wenn nicht sogar belastend.124 Wichtige Zuständigkeiten und Befugnisse sammelten sich in den Zentralen, bei hauptamtlichen Funktionären, denen die Anliegen und Kompetenzbegehren von ehrenamtlichen Funktionären auch lästig werden konnten, weil sie dies Zeit kostete und sie nötigte, ihren eigenen Status zu verteidigen. Ehrenamtlich betriebene Verwaltungsstellen wurden indessen abgeschafft oder politisch entmachtet.125 Die Bundesebene einer Gewerkschaft war nun nicht mehr auf die Weitergabe eines Anteils der einbehaltenen Mitgliedsbeiträge durch die örtlichen Büros abhängig, sondern zog sie selbst zentral ein und verteilte sie anschließend nach unten. Die Verhältnisse kehrten sich um.

122 Siehe Protokoll der Vorstandssitzung der IG Metall am 12.01.1960 (Dok. 32), abgedruckt in: Merkel 1999 (Bearb.), S. 455 ff.; vgl. auch Oldenburg, Christel: Tradition und Modernität – Die Hamburger SPD von 1950-1966, Berlin 2009, S. 388 f. 123 Vgl. Bergmann, Joachim: Organisationsstruktur und innergewerkschaftliche Demokratie, in: ders. (Hg.): Beiträge zur Soziologie der Gewerkschaften, Frankfurt am Main 1979, S. 210-239, hier S. 234. 124 Vgl. dazu Duddek/Hindrichs/Wassermann 1995, S. 167 f.; Hein 1992, S. 91. 125 Vgl. Müller/Wilke 2003, S. 127 f.

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Der folgenschwere Niedergang des Ehrenamts Welche Konsequenzen hatte die Professionalisierung in Form eines gesteigerten Anteils von hauptamtlichen Funktionären nun für die Gewerkschaften? Erstens verdrängten hauptberufliche Funktionäre ehrenamtliches Engagement. Das ließ sich am Zerfall des Systems gewerkschaftlicher Vertrauensleute126 beobachten. Bei diesem Typus von Aktivisten handelte es sich keineswegs um eine geheimdienstliche Organisation, wie das der Name vermuten lässt. Nein, es waren Freiwillige aus der Belegschaft, die innerhalb eines Betriebs als Vertreter der Gewerkschaft wirkten. Selbst Arbeitnehmer, besaßen sie im Vergleich zum besoldeten Funktionär aus dem örtlichen Gewerkschaftssekretariat den Vorteil genauerer Kenntnis der Umgebung. Sie waren Insider, kannten die Probleme der Arbeitnehmer aus eigener Anschauung – schließlich waren sie ja selbst dort beschäftigt. Innerhalb eines Betriebs oblag ihnen die Aufgabe, Solidarität unter den Beschäftigten herzustellen, Streiks zu organisieren und neue Mitglieder zu werben. Die Vertrauensleute sollten die Gewerkschaften in die Betriebe tragen, dort erfahrbar machen – insbesondere nachdem manche Gewerkschaften ihre Ortsvereine aufgelöst und das Basisgeschehen nahezu vollständig in die Betriebe verlagert hatten. Es handelte sich also um keine leichte und unwichtige Arbeit. Doch in den 1980er Jahren zerbrach das System der Vertrauensleute an der Realität der gewerkschaftlichen Hierarchie. Denn die Hauptamtlichen aus dem gewerkschaftlichen Verwaltungsapparat betrachteten sie oftmals geringschätzig als Handlanger, die unbeliebte Hilfstätigkeiten verrichten sollten und auf die man allenfalls gönnerhaft herabblickte.127 Schon gar nicht sollten ihnen Befugnisse und Mittel zugestanden werden. Statt eigenständig handeln zu dürfen und wertgeschätzt zu werden, gaben in der Gewerkschaft die professionellen Strukturen den Ton an, maßen den Vertrauensleuten in der Praxis keine gebührende Bedeutung bei. Viele unter den Vertrauensleuten gewannen infolgedessen den Eindruck, die Gewerkschaftsspitze in der fernen Zentrale habe über ihre Intervention in alle möglichen Politikfelder die alltäglichen Belange der Mitglieder vernachlässigt, kümmere sich um Nicaragua, statt um Gehälter; und die Politik speise sich nicht mehr aus den Gedanken der Mitglieder und einfachen Funktionäre.128 Viele einfache Gewerkschaftsmitglieder und ehrenamtliche Funktionäre wünschten sich offenkundig mehr Einfluss auf Gewerkschaftsaktionen, wohingegen ihnen die Gewerkschaftspolitik auf

126 Zu gewerkschaftlichen Vertrauensleuten vgl. Hein 1992. 127 Vgl. ebd., S. 82 ff.; Wassermann 2003, S. 413-418. 128 Vgl. Hein 1992.

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Bundesebene weniger wichtig war.129 Sie bemängelten ihren Stellenwert in der innerorganisatorischen Rangordnung, sahen überdies ihre Arbeit durch den Führungsanspruch der Hauptamtlichen beeinträchtigt. Ihr Platz in der Hierarchie und der Spielraum für ihre Gestaltungskraft entsprachen nicht ihren Wünschen und Bedürfnissen. Offenbar fühlten sich viele Ehrenamtliche nicht verstanden, in ihrer Arbeit behindert, vergeblich und unglücklich engagiert, sodass sie sich von den Gewerkschaften abkehrten und ihr Schicksal zum Image der Gewerkschaften als erstarrte Funktionärsapparate erheblich beitrug. Dabei befinden sich die Gewerkschaften eigentlich in starker Abhängigkeit von Ehrenamtlichen, die vorwiegend Mitglieder werben, während die Hauptamtlichen sich um wiederkehrende Organisationsabläufe kümmern und Unterstützung in Form von Geld und Sachverstand bieten – und angesichts dieser Aufgabenfülle für die Mitgliederrekrutierung auch kaum Zeit haben.130 Allein die Betreuung vorhandener Mitglieder und gewerkschaftlich hochgradig organisierter Betriebe überschreitet ganz oft ihr Zeitbudget; zumal die Zerklüftung der Betriebslandschaft in viele kleine und mittelgroße Firmen die Erreichbarkeit in Form von längeren Fahrtwegen und der gesteigerten Häufigkeit von Sitzungen zusätzlich erschwert. Aber: Der hauptamtliche Gewerkschaftsapparat trug viel dazu bei, ehrenamtliche Strukturen zu zerstören, das gewerkschaftliche Ehrenamt trotz seiner enormen Bedeutung aussterben zu lassen. Das erscheint merkwürdig und ist doch nachvollziehbar, wenn man die beiden Gruppen – Hauptund Ehrenamtliche – unter dem Aspekt zweier miteinander konkurrierender Kategorien betrachtet; sie widmeten ihre Kraft zwar derselben Organisation, standen sich jedoch oftmals als Rivalen oder mit Unverständnis gegenüber. Zweitens ergab sich aus der hingenommenen, z.T. sogar beschleunigten Erosion des gewerkschaftlichen Ehrenamts ein folgenschwerer, beidseitiger Wissensverlust. Denn durch das Vertrocknen des ehrenamtlichen Unterbaus der Gewerkschaften konnten die Vertrauensleute nicht länger im benötigten Ausmaß die „Seismographen an der Basis“131 sein, die Interessen und Meinungen der Klientel sammeln und an die Organisation vermitteln, umgekehrt Vertrauen und Verständnis für das Organisationshandeln bei den Arbeitnehmern herstellen. Das bewirkte – ganz ähnlich wie bei den Hauskassierern – eine wachsende Unkennt-

129 Vgl. dazu Frerichs, Petra/Pohl, Wolfgang: Zukunft der Gewerkschaften. Teil I: Mitgliederentwicklung – Organisationsstrukturen – Werte und Orientierungen, Düsseldorf 2004, S. 25-30. 130 Vgl. Dribbusch 2003, S. 150-154; Prott/Keller 2002, S. 229 f.; Steinke 1993: Organisationsprinzip, S. 177. 131 Hein 1992, S. 95.

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nis von den Belangen und den Lebenswelten der Gewerkschaftsklientel. Mit anderen Worten wusste die Organisation mit der Zeit nicht mehr, wie ihre Zielgruppe tickte, welche Politik ihr gefiel, welche Probleme sie umtrieben oder was sie von dieser Entwicklung und jenem Ereignis hielten. Aus Sicht der Gewerkschafter, die in den Fachreferaten und Abteilungen der Gewerkschaftszentralen saßen, waren die Mitglieder häufig kaum mehr als veränderliche Ziffern in Statistiken, über deren Mentalität man sich vermittels von Büchern, Zeitschriften und Umfragen erkundigte. Seit den 1970er Jahren litten die Gewerkschaften unter dem Rückgang des persönlichen Kontakts, der zu Milieuzeiten noch intensiv und regelmäßig gewesen war. In diesen Zeiten des Milieus wurden all die Arbeiter, die sich einem Organisationsbeitritt verweigerten, regelrecht geächtet, im kollegialen Umgang gemieden und zu Außenseitern gemacht.132 Der soziale Druck war groß. Außerdem drangen Gewerkschaftsfunktionäre bis in die Wohnstuben der Arbeiter vor, kassierten dort den Beitrag und übergaben die Mitgliederzeitschrift. Auch in den Feierabendgruppen waren sie zugegen, wenn man gesellig vor dem Fabriktor auf den Bus wartete. Bereits in der Weimarer Republik lag die Stärke der im Milieu verhafteten Funktionäre in dem Umstand, dass sie „fast restlos in Arbeiterquartieren wohnen, so dass sie und ihre Frauen schon bei der örtlichen Parteiarbeit (Zahlabend, Bezirk) mit der Massenstimmung genügend in Fühlung bleiben“133. Und schon damals waren es die Basisfunktionäre, auf deren Vermittlungskünste es im Anschluss an Streiks und Tarifverhandlungen ankam, um die zumeist kompromissbeladenen Beschlüsse gegenüber den Beschäftigten zu verteidigen und zu rechtfertigen.134 Daher waren Giro-Konten, Versand per Post sowie Mopeds und Pkws große Zerstörer der Gewerkschaften. Insbesondere als der Zwang des Milieus seit den 1960er Jahren nachließ, gewann die inhaltliche Überzeugungskraft der ehrenamtlichen Funktionäre an Bedeutung. Wie viele Mitglieder sie warben, hing davon ab, wie glaubwürdig sie den Segen gewerkschaftlicher Politik priesen, wie flammend sie die sozialdemokratischen Ideale beschrieben, wie nachdrücklich und verlässlich sie sich kümmerten.135 Grundsätzlich war die direkte Ansprache, die Initiative von Seiten der Gewerkschaft, ausschlaggebend für die Unterschrift auf dem Beitrittsformular oder für die Anwerbung eines neuen Aktivisten. Von sich aus kamen die Beschäftigten jedenfalls nicht in die Gewerkschaften ge-

132 Vgl. Pletter, Roman: Wo ist dein Platz, Kollege?, in: brand eins, H. 10/2007, S. 2436, hier S. 27 f. 133 Cassau 1925, S. 60. 134 Vgl. ebd., S. 182. 135 Vgl. allgemein Dribbusch 2003; Wassermann 2003, S. 407.

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strömt, von sich aus wandelten sich die meisten nicht von einem passiven in ein aktives Mitglied. Vielmehr wollten sie überredet, überzeugt, umworben werden. Vor allem: Viele Nichtmitglieder lehnen gewerkschaftliche Interessenvertretung gar nicht ab – vielmehr wissen sie einfach nicht, was diese eigentlich bedeutet, können sich darunter nichts Konkretes vorstellen.136 Deshalb haben Funktionäre im Betrieb gegenwärtig zu sein, als dauerhaft verfügbare Ansprechpartner und vorbildliche Repräsentanten der Organisation. Deshalb müssen Betriebsräte in Einzelgesprächen den Wert ihrer Arbeit für die alltäglichen Beschäftigungsbedingungen der Belegschaft verdeutlichen, dabei jedoch explizit auch als Gewerkschafter auftreten.137 Und deshalb haben es Gewerkschaften auch so schwer, in Call-Centern, Discount-Märkten oder in ITUnternehmen neue Mitglieder zu gewinnen. Denn dort ist ihre Präsenz traditionell gering, Betriebsräte und Aktivisten sind dort äußerst selten anzutreffen. Gerade in diesen Geschäftszweigen, in denen Erwerbstätigkeit mit besonders harten Arbeitsbedingungen verbunden ist, kommt der Kombination von Tarifpolitik auf Spitzenebene und der Präsenz im Arbeitsalltag auf Mikroebene große Bedeutung zu.138 Überhaupt besteht offenbar bei den Arbeitnehmern ein großes Bedürfnis, dass „gerade Gewerkschafter sich für die kleinen Dinge zuständig fühlen“139. Zeitschriften und Briefe – jenes simple Instrumentarium also, mit dem die Gewerkschaften seit den 1980er Jahren vorwiegend zu ihren Mitgliedern Kontakt aufnahmen – waren jedoch kein Ersatz für den Verlust ehrenamtlicher Gewerkschaftskörper. Obgleich die Mitgliedsorgane in hohen Auflagen erschienen, wurden sie aller Vermutung nach eher selten durchgeblättert, reihten sich in das durch Reklame ohnehin hohe Papieraufkommen deutscher Haushalte ein.140 Auch auf die Betriebsräte war kein Verlass, zumindest in puncto Mitgliederrek-

136 Vgl. dazu Wilkesmann, Uwe/Wilkesmann, Maximiliane/Virgillito, Alfredo/Bröcker, Tobias: Erwartungen an Interessenvertretungen. Analysen anhand repräsentativer Umfragedaten, Berlin 2011. 137 Vgl. Pyhel, Jörn: Gewerkschaftliche Mitgliedschaftsloyalität. Eine empirische Analyse der IG Metall-Mitgliederbindung in der Fahrzeugindustrie und im Maschinenbau, Kassel 2008, insbesondere S. 282 f. 138 Vgl. Aust, Andreas et al.: Gesamtinterpretation und Schlussfolgerungen, in: Pernicka/Aust (Hg.) 2007, S. 313-337, hier S. 333 f. 139 Zitiert nach o.V.: „Ich fühle mich nicht angesprochen“, in: Gewerkschaftliche Monatshefte, H. 2/1986, S. 94-108, hier S. 100. 140 Vgl. Kröter, Thomas: Sperrmüll oder Gegenmacht? Subjektive Anmerkungen zu Zustand und Perspektiven der Gewerkschaftspresse, in: Gewerkschaftliche Monatshefte, H. 3/1986, S. 172-180.

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rutierung. Denn zum einen verschlechterte sich zwischenzeitlich deren Verhältnis zur Gewerkschaft, von der sie sich zuweilen im Clinch mit betriebswirtschaftlich rigoros vorgehenden Managern alleingelassen fühlten. Und zum anderen gab es sie in vielen Branchen nicht einmal. Erst spät, in den 1990er und 2000er Jahren, begannen die größtenteils industriell und am öffentlichen Dienst orientierten Gewerkschaften mit dem Aufbau von Betriebsräten in Drogerien, Banken oder Call-Centern.141 Das Resultat all dessen war für die Bindungskraft der Gewerkschaften fürchterlich: Nicht nur erhielten sie kaum mehr Einblick in die Lebens- und Gedankenwelt ihrer Zielgruppen, registrierten sie Verstimmungen nur noch selten oder verspätet.142 Obendrein wussten auch die Bürger nichts mehr mit den Gewerkschaften anzufangen. Wozu diese gut sein sollten, welchen Sinn sie stiften konnten, worin ihre Stärken bestanden und weshalb sie bestimmte Beschlüsse fassten und Maßnahmen ergriffen – all das blieb unklar, sorgte für Missverständnisse und Unmut. Im Unterschied zu früheren Zeiten, als noch die partei- und gewerkschaftseigene Arbeiterpresse auf Hochtouren lief und sich die basisnahen Funktionäre an der Haustür am Gartenzaun oder auf Vereinsversammlungen den Mund fusselig redeten, bezogen die Bürger ihr Wissen über Gewerkschaften nunmehr fast vollständig aus den Medien, weitaus weniger jedenfalls von den Gewerkschaften selbst.143 Aber in den Presse- und Fernsehberichten schnitten die Gewerkschaften häufig genug schlecht ab. Im Grunde waren sie die Leidtragenden des medialen Wandels, Opfer der sogenannten „Mediengesellschaft“, in der ein harter Kampf um öffentliche Aufmerksamkeit stattfindet, Publizität nach brisanten Informationen verlangt und sich das journalistische Interesse mithin wirklichkeitsverzerrend auf Gegensätze, Streitereien, Scheitern, Triumphe, kurz: das Spektakel konzentriert.144 Zeitungsredaktionen und Programmabteilungen von TV-Sendern

141 Vgl. allgemein Dribbusch 2003; Pernicka/Aust (Hg.) 2007. 142 Vgl. Hein 1992, S. 71; Landfried, Christine: Parteifinanzen und politische Macht. Eine vergleichende Studie zur Bundesrepublik Deutschland, zu Italien und den USA, Baden-Baden 1990, S. 140 f.; Martens, Helmut: Gesellschaftlicher Umbruch und gewerkschaftliche Reform, in: Gewerkschaftliche Monatshefte, H. 2/1994, S. 78-92, hier S. 87. 143 Vgl. Weßels, Bernhard: Gewerkschaften in der Mediengesellschaft, in: Schroeder/ ders. (Hg.) 2003, S. 323-341. 144 Vgl. hierzu z.B. Roegele, Otto B.: Massenmedien und Regierbarkeit, in: Hennis, Wilhelm/Kielmansegg, Peter Graf/Matz, Ulrich (Hg.): Regierbarkeit. Studien zu ihrer Problematisierung, Bd. II, Stuttgart 1977, S. 177-210, hier S. 185 ff.

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seien, so die damit verbundene These, aufgrund wachsender Konkurrenz gezwungen, Auswahl und Stil ihrer Informationen den Regeln eines kommerziellen Wettbewerbs um Leser und Werbekunden zu unterwerfen, sprich: eine vermarktbare Auswahl zu treffen. In der sensationsdurstigen Medienwelt stand daher vor allem das Versagen von Gewerkschaften im Vordergrund: Skandale, Pannen und Rückschläge, die für reizvolle Schlagzeilen und zu bissigen Kommentaren taugten. Gewerkschaften waren out, es sei denn sie fielen durch extreme Zustände und Ereignisse auf. Diesen Aspekt verstärkte die Verbreitung privater Fernseh- und Rundfunkanbieter, die im Unterschied zu den öffentlichrechtlichen Anstalten kaum mehr von Vertretern der Parteien und Gewerkschaften beeinflusst werden konnten.145 Die durch Bildungsrevolution und Milieuzerfall gewachsene Urteilsfähigkeit des Individuums tat ihr Übriges. Vorbehaltlose Loyalität und emotional begründete Sympathie wichen Skepsis, Enttäuschung und Vorurteilen. Seit spätestens den 1970er Jahren wird Politik in erster Linie über die Massenmedien vermittelt.146 Den Gewerkschaften gelang es unter diesen veränderten Kommunikationsbedingungen nicht mehr so gut wie zuvor, ihre Politik zu rechtfertigen und sich über die Befindlichkeiten ihrer Klientel zu informieren. So kam es, dass seitdem die Meinungen und Präferenzen von Funktionären stark von denen der Beschäftigten abwichen.147 Gewerkschaftliche Leistungen blieben zudem häufig unsichtbar, wurden für selbstverständlich erachtet und nicht einer besonders erfolgreichen Tarifpolitik zugeschrieben. Und als wäre all das noch nicht genug, konnten sich die Beschäftigten schnell auf übertriebene, unrealistische Erwartungen von ihrer Interessenvertretung versteigen, denen die mahnenden und erklärenden Worte eines Gewerkschafters keinen Einhalt geboten. So aber entkoppelten sich die Gewerkschaften langsam aber sicher von ihrer Basis, verloren ihre Klientel aus den Augen, ließen den Apparat zum Selbstzweck verkommen und gerieten auf Abstand zu den Bürgern. Die 1980er und 1990er Jahre waren daher aus Sicht der im Geschichtsverlauf leidgeprüften Arbeitnehmervertreter traurige Jahre.

145 Vgl. Jarren, Otfried: „Mediengesellschaft“ – Risiken für die politische Kommunikation, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, H. 41-42/2001, S. 10-19, hier S. 11 u. S. 14. 146 Zusammenfassend vgl. Sarcinelli, Ulrich: Politische Kommunikation in Deutschland. Zur Politikvermittlung im demokratischen System, Wiesbaden 2005, S. 107113. 147 Vgl. v. Beyme 1990, S. 360.

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D ER S EGEN VÖLLIGER K RISE Schwäche aus Stärke – so lautet die Diagnose für den Niedergang der deutschen Gewerkschaften seit den 1970er Jahren. Sie fühlten sich einfach zu stark, empfanden sich als nahezu unverwundbare Kraftprotze, weil sie sich an Macht und Einfluss gewöhnt hatten und aus geschichtlich überlieferter Gewohnheit nicht damit rechneten, dass sich ihre Besitzstände irgendwann aufzehren könnten. Viele Jahre lang ignorierten oder verkürzten sie schwerwiegende Probleme und beschleunigten damit ihren Kraftverlust. Aufgrund einer beeindruckenden Zahl von Mitgliedern, einer großen Tragweite ihrer tariflichen Verhandlungsresultate und wegen viel Geld in den Kassen reichte der Druck zur Erneuerung nicht aus, begünstigte den schleichenden Verfall. Viele Funktionäre mochten zwar den jährlichen Verlust von Mitgliedern bedauern, doch den Fortbestand ihrer Arbeitsplätze bedrohte das zumeist nicht. Darin lag jedoch der neuralgische Punkt, der Reformen stimulieren, den Anstoß zu wahrhaftigem Willen zum Wandel geben konnte. Vorher hatten sich die Gewerkschaften in ihrer Geschichte oft erneuert – weil sie in der Vergangenheit mehrmals von äußeren Umständen dazu gezwungen worden waren: von den verheerenden Folgen des Ersten und Zweiten Weltkriegs, von der nationalsozialistischen Diktatur.148 Solche radikalen Konstellationen blieben aber in der Bundesrepublik aus, die keine solch tiefen Zäsuren erlebte. Unter Adenauer, Brandt und Kohl wurden die Gewerkschaften nicht mit ähnlicher Härte zum Handeln gezwungen wie unter dem aristokratischen Regiment des Kaiserreichs oder den Nöten der Nachkriegszeit. In der politisch und wirtschaftlich vergleichsweise stabilen und besonnenen Bundesrepublik fehlten also die Zwänge und Nöte, standen die Gewerkschaften unter einem vergleichsweise geringen Druck. Sie konnten weitermachen, wenn die Mitgliedschaft schrumpfte; sie konnten weitermachen, wenn sich ihr politischer Einfluss minderte. Denn irgendwo waren sie immer stark genug, um das Manko im einen Bereich durch die Substanz eines anderen wegzustecken. Dieser vermeintliche Vorteil war zugleich ein Nachteil. Denn er ermöglichte den Gewerkschaften, die schleichende, über mehrere Jahrzehnte fortbestehende Krise auszusitzen. Doch irgendwann erreichte diese Erosion einen Punkt, an dem kritische Grenzwerte unterschritten wurden. Am wirkungsvollsten geschah das im Bereich der Organisationsfinanzen. Die Zahl der Beitragszahler und damit die Einnah-

148 Vgl. Beier, Gerhard: Historische Aspekte von Gewerkschaftsreform, in: Gewerkschaftliche Monatshefte, H. 1/1996, S. 25-32, hier S. 29.

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men sanken unaufhörlich; die Ausgaben nahmen indessen zu, da der Beratungsund Betreuungsbedarf aufgrund von Arbeitslosigkeit und betriebswirtschaftlich aggressiveren Unternehmensmanagements immer kostspieliger wurde. Allein zwischen 1993 und 1995 verringerten sich die Einnahmen der IG Metall um mehr als 100 Millionen Mark.149 1993 beschloss der DGB einen Einstellungsstopp und versuchte, möglichst viele seiner Mitarbeiter in den Vorruhestand zu schicken. Nicht jahrelanger Schwund, sondern erst der existenzbedrohliche Geldmangel rüttelte auf und machte klar: Es musste etwas getan werden. Nun waren die Jobs und Gehälter der Funktionäre selbst bedroht, nun gewannen sie ein Bewusstsein für den Ernst der Lage, nun hatten sie ein persönliches Interesse am Genesungsprozess des Dauerpatienten Gewerkschaft. Daher auch war die Sensibilität für Reformen dort am größten, wo die stärkste Betroffenheit herrschte: auf der mittleren Funktionärsebene, in den Verwaltungsstellen.150 Denn sie waren es, die im Ernstfall aus Kostengründen mit anderen zusammengelegt oder geschlossen wurden. Der Sturzflug der Pleitegeier Der Mitgliedereinbruch in den 1990er Jahren, den die schlagartigen Mitgliedergewinne der „Wende“ kurzzeitig überbrückten, riss in viele Gewerkschaften schlimme Finanzierungslecks. Es waren nicht nur Investitionen, die sich wie bspw. viele der Kampagnen als kostspielige Flops erwiesen, die die Budgets strapazierten. Vor allem waren es die Apparate, die für die Verwaltung größerer, zahlungskräftiger Mitgliederbestände ausgelegt waren. Denn zwischen 1950 und 1980 waren die Personalkosten in den Gewerkschaften enorm angestiegen – z.B. bei der IG Metall von unter zehn Prozent des Beitragsaufkommens (um 1950) über 16 Prozent (1960) auf ein Drittel 1980; auch die übrigen DGB-Gewerkschaften offenbarten ähnliche Werte, bei der ÖTV beanspruchten die Mitarbeiter sogar seit 1970 über vierzig Prozent der Beitragseinnahmen.151 Infolge der Mit-

149 Vgl. Kubitza, Werner/Ludewig, Horst/Räschke, Wolfgang: Lean Metal. Scheitert die Organisationsreform an der Lopezianisierung der IG Metall?, in: Sozialismus, H. 4/1994, S. 39-42, hier S. 40; Hasibether, Wolfgang: Ohne Reform der Gewerkschaften keine Reform des DGB. Ergebnisse einer Befragung von DGB-Funktionären, in: Gewerkschaftliche Monatshefte, H. 1/1995, S. 12-21, hier S. 16. 150 Siehe König, Otto: Organisationsreform. Acht Thesen zur Debatte in der IG Metall, in: Sozialismus, H. 9/1993, S. 31-34, hier S. 33 f. 151 Vgl. Armingeon: Die Entwicklung 1988, S. Tabelle 3.8/S. 158.

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gliedschaftseinbrüche in den 1980er Jahren erwiesen sich die teuren Verwaltungen daher schnell als Ballast. Die beiden Großgewerkschaften IG Metall und ÖTV plagten sich bald mit astronomischen Defiziten.152 2003 fehlten der Mammutgewerkschaft ver.di rund sechzig Millionen Euro; die Personalkosten ihrer 5000 Beschäftigten vertilgten nahezu die Hälfte ihrer Gesamtausgaben.153 Bald schon ließ sich der Organisationsbetrieb nicht mehr aufrechterhalten, nun ging es an die Substanz. Und gerade das war für die Reformfreude nicht schlecht: Jetzt erst gewann z.B. die lange vernachlässigte Ehrenamtsarbeit wieder an Bedeutung, sollten doch Tätigkeiten auf ehrenamtliche Funktionäre verlagert werden, die bis dahin Hauptamtliche als regulär bezahlte Angestellte der Gewerkschaft verrichtet hatten. Und 2010 verabschiedete der DGB nach jahrelangem Stillstand eine neue Satzung – weil ihn die Einzelgewerkschaften als Finanziers seiner Strukturen zu mehr Sparsamkeit und Effizienz gedrängt hatten (bspw. bezahlte die IG Metall rund fünfzig Millionen Euro des jährlichen DGB-Budgets in Höhe von 130 Millionen Euro).154 Kurzum: Erst klamme Kassen brachten Bewegung in das lange Zeit stillstehende Reformkarussell der Gewerkschaften. Wie bereits geschildert, kam hinzu, dass sich neben der Mitglieder- bzw. Finanzkrise auch eine Krise der politischen und institutionellen Macht anbahnte. Immer mehr Arbeitgeber entzogen sich der Tarifdisziplin; in immer weniger Unternehmen gab es Betriebsräte und Gewerkschafter; ebenso gab es kaum mehr Abgeordnete oder Minister in Bund und Ländern, die sich vorrangig als Gewerkschafter betrachteten und danach ihr politisches Handeln ausrichteten; in der zur „Arbeitsagentur“ umgewandelten Behörde waren die Gewerkschaften keine mit Staat und Arbeitgebern gleichberechtigten Vertreter mehr und in bedeutsamen Kommissionen wie der unter Peter Hartz stellten sie von insgesamt 21 Mitgliedern nur zwei – pro forma waren sie noch dabei, allerdings nur noch in marginalisierter Position. Auch ihre Mobilisierungskraft, die Autorität ihres politischen Appells, hatte stark nachgelassen; statt wie ehedem hunderttausende Menschen folgten ihren Aufrufen häufig nur noch zehntausende.

152 Vgl. Hassel 2003, S. 113 ff.; Müller/Wilke 2003, S. 133 f. 153 Vgl. Keller, Berndt: Ver.di – quo vadis?, in: WSI-Mitteilungen, H. 9/2007, S. 467474, hier S. 469 f. 154 Vgl. o.V.: Die Kompromisse des DGB, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 19.05.2010; Pfundt, Kai (Interview mit Oliver Burkhard): „Wir müssen aus knapperen Mitteln das Beste machen“, in: General-Anzeiger, 18.05.2010.

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Der Anspruch auf politische und betriebliche Mitbestimmung gehörte jedoch zum Identitätskern der deutschen Gewerkschaften.155 Darin wurden sie in den 2000er Jahren empfindlich verletzt. Hinzu kam eine denkwürdige Streikniederlage: 2003 verlor die IG Metall – ihrem Selbstverständnis nach die schlagfertigste und hartnäckigste Gewerkschaft der Welt – zum ersten Mal seit fünfzig Jahren einen Tarifkonflikt mit den Arbeitgebern. Doch ungeachtet des schmerzlichen Augenblicks war das auf mittlere Sicht gut. Denn ähnlich wie im finanziellen Bereich der nahende Bankrott, brauchte es im politischen Sektor erst eine Niederlage in ihrer Paradedisziplin von solch großem und erschütterndem Ausmaß, um in der IG Metall einen „Paradigmenwechsel in der Tarifpolitik“ einzuläuten.156 Erst dieser Rückschlag machte vielen Funktionären klar, dass die Prinzipien und Lehren, die sie in ihrer einige Jahrzehnte zurückliegenden Anfangszeit in der Gewerkschaft – der Zeit von unablässigem Wachstum und kollektivem Wohlstand – verinnerlicht hatten, in einer globalisierten und computerisierten Ökonomie nicht mehr tragfähig, von der Realität überholt waren. Und erst nach dieser Erfahrung waren sie bewusst an ihre Grenzen gestoßen, infolgedessen erstmals halbwegs in der Lage, auf eine inzwischen grundlegend veränderte Arbeits- und Wirtschaftswelt nicht mehr die schablonenhafte Denkweise der 1960er und 1970er Jahre anzuwenden, sondern schleunigst nach Alternativen zu suchen. Insofern war das Streikdebakel in Ostdeutschland ein Segen für die IG Metall. Es hatte ihr vergegenwärtigt, dass radikale Rhetorik und hartnäckige Verteidigung tarifpolitischer Errungenschaften in der damaligen Situation unangebracht waren und die Gewerkschaft nicht mehr voranbrachten. Kurzum: Zu Beginn des 21. Jahrhunderts waren viele Gewerkschaften an einem Tiefpunkt angelangt, waren beinahe pleite, hatten in der Öffentlichkeit einen furchtbaren Ruf und galten überdies als machtlos. Doch all das hatte auch Vorzüge. Unterteilt man die Macht, über die Gewerkschaften gebieten können, grob in Organisations- und Institutionsmacht – also die Stärke ihrer Mitgliedschaft und Basis auf der einen und ihr Einfluss in Gremien, Institutionen, Parlamenten und Regierungen auf der anderen Seite –, so gerieten die Gewerkschaftsführungen jenseits ihrer obligatorischen Reformgelöbnisse erst in Aufruhr, sobald in beiden Bereichen gleichzeitig eine Krise eingetreten war, sich Krisen al-

155 Vgl. Dörre, Klaus: Gewerkschaftseliten nach 1945 – Kontinuität und Wandel der Führungsgruppen deutscher Gewerkschaften: Das wiederbelebte Interesse an den gewerkschaftlichen Führungsgruppen, in: Mitteilungsblatt des Instituts für soziale Bewegungen, H. 35 (2006), S. 7-27, hier S. 21. 156 Vgl. insgesamt Müller, Hans-Peter/Wilke, Manfred: Quo vadis, IG Metall?, Köln 2004 (Zitat S. 6).

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so kumuliert hatten. Überlagernde und sich gegenseitig verstärkende Krisen besaßen eine reinigende Wirkung, nötigten zur Katharsis. Das hatte sich auch schon vereinzelt in untergeordneten Organisationsbereichen angedeutet. So war der jetzige Vorzeigebezirk der nordrhein-westfälischen IG Metall Siegen-Wittgenstein, der unlängst imponierende Organisationserfolge feierte,157 aus einem beklagenswerten Zustand der Fundamentalkrise hervorgegangen. Die Erneuerung benötigte also offenkundig den desolaten Zustand, den Druck mehrfacher Probleme: Die Schulden hatten dort eine fünfstellige Höhe erreicht, die Mitgliederzahl war um ein ganzes Viertel rapide gesunken.158 Das war die Situation, in der die verantwortlichen Gewerkschafter aus ihrer stoischen Ruhe erwachten oder unkonventionellen Funktionären Freiräume gewährten und schleunigst Maßnahmen ergriffen, mit alten Routinen brachen, energisch nach neuen Ideen fahndeten und wagemutig mit originellen Methoden experimentierten. Ähnlich war es ja auch den US-Gewerkschaften ergangen, die den deutschen Gewerkschaften zuletzt als Reform-Vorbilder dienten; auch sie erneuerten sich aus der Erfahrung einer fundamentalen Schwäche. Erst als ihre Mitgliederzahl einen furchtbaren Tiefstand erreicht hatte, waren grundlegende Brüche mit der Vergangenheit möglich, stellte sich der Apparat vollends in den Dienst der Mitgliedergewinnung.159 Die Notlage aktivierte die Überlebensinstinkte und spornte zu Leistungen an, von denen zuvor niemand zu träumen gewagt hätte. Freilich kreierte das einen Mythos, der sich nicht ohne Weiteres auf der anderen Seite des Atlantiks, in der Bundesrepublik, nachahmen lässt.160 Doch das leuchtende Vorbild stiftete Euphorie, Ehrgeiz und Zuversicht. Nachdem die deutschen Gewerkschaften in den 1980er und 1990er Jahren ihre Organisationsbasis hatten verdorren lassen, bemühten sie sich unter dem Druck finanzieller Bedrängnis und politischer Schwäche in den 2000er Jahren, ihre einstige Organisationsmacht wiederzuerlangen. Der Stellenwert von Mitgliedern war schon lange nicht

157 Vgl. hierzu Mulitze, Christoph: „Nur das Zuckerl obendrauf“, in: Mitbestimmung, H. 1-2/2005, S. 26-29. 158 Siehe Girndt, Cornelia/Mulitze, Christoph (Interview mit Detlef Wetzel): „Unsere Strategie ist konfliktorientiert“, in: Mitbestimmung, H. 12/2007, S. 30-34. 159 Vgl. Behrens, Martin: Mitgliederrekrutierung und institutionelle Grundlagen der Gewerkschaften. Deutschland im internationalen Vergleich, in: Berliner Debatte Initial, Jg. 16 (2005) H. 5, S. 30-37, hier S. 35; Heery 2003, S. 523 f. 160 Vgl. Frege, Carola M.: Das „Organisierungsmodell“ in den USA und seine Bedeutung für deutsche Gewerkschaften, in: Gewerkschaftliche Monatshefte, H. 3/2000, S. 140-149; Rehder, Britta: Kampagnenpolitik zwischen Siegen und Los Angeles, in: Mitbestimmung, H. 12/2007, S. 10-15.

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mehr so groß gewesen wie in den späten 2000er und folgenden Jahren – eine starke Mitgliedschaft sollte die Gewerkschaften finanziell sanieren und ihren Anspruch auf politischen Einfluss und institutionelle Positionen zementieren.

R ISKANTE R EFORMFREUDEN Kaputtgespart und wegrationalisiert? Das Eingeständnis, etwas verändern zu müssen und nicht unverdrossen fortfahren zu können, setzte also bereits einen langwierigen Prozess voraus. Doch das war längst nicht alles. Vieles wandte sich durch vermeintlich hilfreiche Reformen sogar noch zum Schlechteren, war gleichsam statt des Befreiungsschlags ein Eigentor. Denn entgegen ihrem eigentlichen Sinn konnten Reformen wider Erwarten auch schädlich sein, konnten neue Probleme bringen, anstatt alte zu lösen. So kamen z.B. einige Gewerkschaften zu dem naheliegenden Schluss, angesichts sinkender Einnahmen kurzerhand die Ausgaben durch eine Verschlankung der Organisationsstruktur zu senken – durch den Abbau von Dependancen und Personal. Auch eine DGB-Reform zu Beginn des neuen Jahrtausends bestand darin, die Zahl von Verwaltungsbüros zu verringern und durch die Fusion von Landesverbänden (bspw. Rheinland-Pfalz und Saarland zum Bezirk West) den Zuständigkeitsbereich einer Administrationseinheit zu vergrößern.161 Doch solche Struktureinschnitte hatten zwei Nachteile: Erstens befremdete diese Vorgehensweise die traditionelle Gewerkschaftsklientel, verhielt sich die Gewerkschaftselite doch in diesem Fall nicht anders als jene Arbeitgeber, die sie sonst so lautstark in aller Öffentlichkeit kritisierte – denn auch sie reduzierte die Belegschaft und schloss Standorte. Und vieles dabei zeugte überdies von einem betriebswirtschaftlich-kaufmännischem Denken, mithin neoliberaler Mentalität, wenn Tarifverträge plötzlich „Produkte“, Mitglieder „Kunden“ waren und Stellen abgebaut, Büros geschlossen werden sollten. Erst kürzlich, 2008, betraute der DGB eine dänische Agentur, um Effektivität und Effizienz der Arbeitsabläufe zu überprüfen und „bislang fest gebundene Strukturkosten frei zu machen“162. Auch die IG Metall griff auf das Instrumentarium von Unternehmen der freien Wirtschaft zurück, engagierte „Prozessberater,

161 Vgl. o.V.: DGB: Mit neuer Struktur Kosten sparen, in: General-Anzeiger, 18.02. 2002. 162 Siehe Sommer, Michael: Eine gute Zukunft für DGB und Gewerkschaften, in: einblick, H. 20/2008.

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Moderatoren und Projektmanager“163. 2001 durchkämmte eine Unternehmensberatung die Frankfurter IG-Metall-Zentrale nach Einsparmöglichkeiten; von 2717 Mitarbeitern im Jahr 2003 verringerte sich ihr Personalbestand um 168 Personen auf 2549 im Jahr 2006.164 Bei ver.di nahm die Zahl der Vollzeitbeschäftigten drastisch von 4100 auf 2900 ab, bei der HBV gar um ein Viertel ihrer Belegschaft.165 Auch der DGB betrieb in großem Umfang Personalabbau, reduzierte die Zahl seiner Angestellten zwischen 1993 und 1998 um etwa 16 Prozent (von 15.334 auf 12.888). Statt wagemutig in unkonventionelle Projekte zu investieren, wählten einige Gewerkschaftsvorstände also den simplen Weg der zügigen Kostenersparnis. Natürlich war nicht viel Falsches daran, überflüssige Arbeiten einzustellen und sich auf notwendige zu konzentrieren. Doch Standortschließungen, Teilzeitstellen, Frühverrentung und Arbeitszeitverkürzung ohne Lohnausgleich? Einige dieser Maßnahmen widersprachen zutiefst den offiziellen Ansichten der Gewerkschaften. Ein unvermindert großes Arbeitsaufkommen musste fortan mit einer sinkenden Zahl von Arbeitskräften bewältigt werden – für viele hauptberufliche Funktionäre bedeutete das Stress, unbezahlte Überstunden und Arbeit an Wochenenden und Feiertagen,166 somit einen Verstoß gegen die gewerkschaftlichen Vorstellungen von guter Arbeit, deren immense Bedeutsamkeit gerade in den letzten Jahren in zahlreichen Gewerkschaftskampagnen proklamiert wurde. Unabdingbare Aufgaben sollten nunmehr von Freiwilligen erledigt werden, wurden mit anderen Worten also kostenmindernd auf unbezahlte Arbeitskraft abgewälzt. Das Handeln der Gewerkschaften in der Manier rationalisierender Arbeitgeber war das eine. Zweitens beraubten sich die betroffenen Gewerkschaften darüber hinaus mit ihren Sparmaßnahmen oftmals der Fähigkeit, sich aus eigener Kraft heraus wieder aufzurichten.167 Das Gebot der Sparsamkeit und die betriebswirtschaftlichen Effizienzkriterien entzogen schließlich insbesondere dort Mittel, wo sie besonders dringend benötigt wurden: im Bereich der Mitgliederbetreuung und -bindung. Zwischen 2003 und 2006 baute bspw. die IG Metall fast zehn Prozent ihres Personals in den Verwaltungsstellen an der Organisati-

163 Müller/Wilke 2003, S. 135; siehe auch Pischke, Theo: Millionen vom Metaller, in: Die Woche, 31.08.2001. 164 Vgl. IG Metall Vorstand (Hg.): Geschäftsbericht 2003-2006, Frankfurt am Main 2007, Tabelle 4.3/S. 165. 165 Vgl. hier und folgend Müller/Wilke 2003, S. 134; Scheytt 2008, S. 29; Schroeder 2002, S. 618. 166 Vgl. Bromberg 2009, S. 116, S. 129 u. S. 133 f. 167 Vgl. Dribbusch 2003, S. 160.

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onsbasis, den Büros für die Mitgliederbetreuung, ab.168 Das ohnehin überfordernde Arbeitspensum der Funktionäre vergrößerte sich infolgedessen nochmals, machte die Gewerkschaften zu einem entbehrungsreichen Arbeitsplatz, der anfällig für Burnouts und Scheidungen machte.169 Die tägliche Flut von Problemen – Mitgliederanfragen, drohende Arbeitslosigkeit in gewerkschaftlich organisierten Belegschaften, Rechtsberatungen – ließ schlichtweg keine Zeit mehr, um bürgergesellschaftliche Partizipation zu fördern oder sich mit den politischen Eingaben der Gewerkschaftszentrale zu beschäftigen. Diese sah man als Zusatzbelastung, jene ignorierte man. Denn der Alltag der Gewerkschaftsangestellten in den Basisbüros ist alles andere als eine geruhsame Tätigkeit.170 Hauptberufliche Gewerkschaftsfunktionäre verbringen täglich hunderte Kilometer im Auto, eilen von einer Jubilarveranstaltung eines betagten Mitglieds zu einer besorgten Betriebsversammlung, müssen unablässig Reden vor großen Gruppen halten und sehen mitunter ihre Partner und Kinder nur noch ausnahmsweise. Kurzum: An vielen Orten reichte das Gewerkschaftspersonal nicht einmal aus, um den bestehenden Mitgliederbestand zu dessen Zufriedenheit zu betreuen, geschweige denn in großem Ausmaß neue Mitglieder hinzuzugewinnen. Aus der Beobachterperspektive ergab sich eine tragikomische Situation: Ausgerechnet in dem Moment, in dem unzählige Gewerkschaftsstellen an der Organisationsbasis mehr Geld und Personal anforderten, ja geradewegs um Hilfe riefen, beschnitten die Zentralen die finanziellen Handlungsspielräume nur noch weiter. Das allerdings war reichlich fatal: Denn die kurzfristige Ersparnis resultierte in einer langfristigen Strukturschwäche. Indem sich die Betreuungsbereiche einzelner Gewerkschaftssekretariate durch Strukturreformen vergrößerten, nahm die Rekrutierungs- und Bindungsfähigkeit ab, statt zu.171 Und so schwächte ein zentraler Reformansatz der späten 1980er Jahre die ohnehin schwachen Großorganisationen – eine weitere Paradoxie der gewerkschaftlichen Reformhistorie. Der alles andere als weitsichtige Sparkurs bewirkte noch etwas anderes: Er verminderte die Kritik- und Reflexionskraft der Gewerkschaften. Am deutlichsten zeigte sich dies an den Gewerkschaftlichen Monatsheften, die der DGB Ende 2004 nach 55 Jahrgängen einstellte. Jahrzehntelang war die monatlich erscheinende Zeitschrift das zentrale Debattenorgan von Gewerkschaftsforschern gewesen, in denen sie ihre Bedenken und Beobachtungen mitteilten, problematische

168 Vgl. IG Metall Vorstand (Hg.) 2007, Tabelle 4.3/S. 165. 169 Vgl. Prott/Keller 2002, S. 154-163. 170 Vgl. Dribbusch 2003, S. 271; Prott/Keller 2002, S. 154-163; Zech 1994, S. 201 ff. 171 Vgl. Hasibether 1995, S. 14 f.

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Zustände durchleuchteten, Gegenwartsanalysen lieferten und Lösungsvorschläge unterbreiteten. Gerade aus ihrer Sicht war das Ende dieses traditionsreichen Periodikums verständlicherweise nicht nachvollziehbar, die Bestürzung darüber dort wohl mit am größten.172 In der Tat kappten die Gewerkschaften mit diesem Schritt einen ergiebigen Kanal intellektueller Inspiration, beraubten sich selbst eines lebhaften Forums für angebrachte Warnungen und hilfreiche Einfälle. Und sie gaben damit ihre offenbar geringe Wertschätzung von Kritik und Analyse zu erkennen – denn musste eine solche Schriftenreihe nicht gerade in der Zeit zunehmend besorgniserregender Krise an Wert gewinnen? Freilich bemühte sich der DGB um Ersatz, richtete 2010 die Gegenblende als „Das gewerkschaftliche Debattenmagazin“ ein. Doch unterschied sich der Nachfolger vom Vorgänger in zwei wichtigen Punkten: Zum einen handelte es sich um ein reines Onlinemedium, wohingegen die Monatshefte als Printpublikation erschienen waren – hier ließ sich immerhin mit einer zeitgemäßen Anpassung an die moderne Kommunikationskultur argumentieren. Doch zum anderen gab es, mit allenfalls ein bis zwei annähernden Ausnahmen, keine Artikel mehr, die wie in den 1980er, 1990er und frühen 2000er Jahren mit deutlichen Worten die Missstände benannten, die in Gewerkschaften herrschten, skeptische Zwischenstände von Reformprozessen bilanzierten und anschauliche Alternativen beschrieben – die also reflektierten und inspirierten. Die Gegenblende mag in einer zeitgemäßen Optik auf dem Monitor ihrer Leser aufscheinen, auch dient sie hochrangigen Gewerkschaftern als Plattform, um politische Kurse anzukündigen und zu verdeutlichen. Doch sie ist kein gleichwertiger Ersatz für die Monatshefte. Vom Fusionsfieber gepackt Eine Art Megatrend der Gewerkschaftswelt der 1990er Jahre waren Zusammenschlüsse vormals eigenständiger Organisationen. Dies geschah in so großer Zahl, als ob die Gewerkschaften ein „Fusionsfieber“173 gepackt hätte: 1989 fusionierten IG Druck und Papier mit der Gewerkschaft Kunst zur IG Medien; 1996 die

172 Siehe stellvertretend Narr, Wolf-Dieter: Hier gilt kein „Ruhe in Frieden“!, in: Gewerkschaftliche Monatshefte, H. 11-12/2004, S. 676-678; Negt, Oskar: Eine große Tradition wissenschaftlich-gewerkschaftlicher Argumentationskunst, in: ebd., S. 678. 173 Hank, Rainer: Gewerkschaften im Sog der Fusionen, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 11.10.1997; vgl. auch Schroeder, Wolfgang: Die deutschen Gewerkschaften und der Wandel der Erwerbsarbeit, in: Sozialwissenschaftliche Informationen, H. 4/2001, S. 82-93, hier S. 87 f.

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IG Bau-Steine-Erden mit der Gewerkschaft Gartenbau, Land- und Forstwirtschaft zur IG Bauen-Agrar-Umwelt; 1997 die IG Bergbau und Energie mit der IG Chemie-Papier-Keramik und der Gewerkschaft Leder zur IG Bergbau, Chemie, Energie; 1998 und 2000 einverleibte sich die IG Metall die Gewerkschaft Textil-Bekleidung sowie die Gewerkschaft Holz und Kunststoff; und 2001 schließlich verschmolzen die IG Medien, Deutsche Postgewerkschaft, Gewerkschaft Öffentliche Dienste, Transport und Verkehr, die Gewerkschaft Handel, Banken und Versicherungen sowie die Deutsche Angestellten-Gewerkschaft zur Vereinten Dienstleistungsgesellschaft mit dem anmutigen Kürzel „ver.di“. Das Ergebnis waren große und zumeist komplexe Konglomerate, die das überkommene Prinzip der Branchengewerkschaft sehr großzügig auslegten. Von diesen Allianzen versprachen sich die Gewerkschaftslenker viel. Überflüssige Strukturen sollten abgebaut, die organisatorischen Kräfte unter einem Dach gebündelt, die Schlagkraft insgesamt erhöht werden. Schließlich benötigte man ja, so die Überlegung, für dieselben Aufgaben nicht mehrfache Infrastrukturen, genügten ein Verwaltungsgebäude, ein Vorstand, eine Kartei, eine Mitgliederzeitschrift. Und das mochte prinzipiell ja auch stimmen. Zunächst schienen in der Tat Kosten eingespart zu werden. Auch konnten die Gewerkschaftsverantwortlichen gegenüber ihren Mitgliedern und einer kritischen, manchmal auch hämischen Öffentlichkeit wieder Tatkraft und Handlungsfähigkeit demonstrieren.174 Doch entstanden mit Fusionen häufig neue Probleme, ohne dass die bestehenden behoben wurden. Erstens schienen sie vor allem dem Zweck zu dienen, Geld einzusparen. Für Organisationen, die viel auf ihre Geschichte und damit verbundene Emotionen hielten, aus dem Gedanken einer langen Tradition von Selbstbewusstsein, Stolz und Identität schöpften, war das ein ziemlich ernüchterndes Motiv. Zweitens zerstörten Fusionen historisch gewachsene Strukturen, beendeten z.T. uralte Traditionen und Erzählungen. Die Preisgabe der Organisationsidentität mochte zwar nicht die zukünftige Mitgliederrekrutierung beeinträchtigen, konnte aber durchaus die Bindung bestehender Mitgliedschaften erschweren. Drittens erforderten Fusionen viel Zeit und Energie, lähmten die Gewerkschaften jeweils eine ganze Weile vor und nach dem Zusammenschluss. Im Vorhinein bedurfte es schier endloser Absprachen, vieler Zugeständnisse, ständiger Rückkopplungen und Vertrauensbeweise, ehe es zur Vereinigung unter einem neuen Label kam. Und im Nachhinein war es nicht viel anders, musste nun der An-

174 Siehe bspw. o.V.: IG BCE sieht sich als wichtige Reformkraft in der Gesellschaft, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 09.10.1997.

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schein von Fairness und Einheit bewahrt, musste peinlichst genau die Einhaltung der Beschlüsse bewiesen werden. Außerdem mussten schon bald neue Missstände beseitigt werden, die infolge einer zumeist überhasteten Fusion aufgetreten waren, galt es, mit der zunehmenden Bewährung an den Herausforderungen des neuen Organisationsalltags allerorten immer wieder Korrekturen vorzunehmen. Und nicht zuletzt verzögerte sich der Ersparniseffekt; denn es konnte ja schließlich nicht ohne Weiteres ein Großteil der alten Mitarbeiter entlassen werden, wodurch die überschüssigen Strukturen, die durch den Zusammenschluss vermeintlich abgebaut worden waren, in doppelten Strukturen von erweiterten Vorständen und einer Vielzahl von Fachbereichen und Abteilungen fortlebten. Viertens bildeten sich innerhalb des DGB übermäßig starke Machtblöcke, die die ohnehin kleinen Gewerkschaften noch stärker an den Rand drängten und die Konflikte zwischen Einzelgewerkschaften und Verbandsspitze verstärkten. Und zu guter Letzt erwies sich – fünftens – die Massenintegration der neuen Supergewerkschaften als schwerwiegende Last. Überall mussten Proporze und Quoten gefunden werden, um die vielfältige Mitgliedschaft einzubinden.175 Doch in Organisationen, die wie ver.di für rund 1000 Berufe zuständig waren, konnte das kaum gelingen. Die Vernachlässigung etlicher Gruppen war eine kaum vermeidliche Begleiterscheinung des riesenhaften Apparats. Das allerdings sorgte für Unzufriedenheit und ließ den Wunsch nach einer eigenständigen Organisation aufkommen, führte damit aber zu einem Weg zurück in die Vergangenheit. Daraus erklärt sich auch der Erfolg von Berufsgewerkschaften wie Cockpit oder dem Marburger Bund. In ihnen schlossen sich hochqualifizierte Fachkräfte (hier z.B. Piloten und Ärzte) zusammen, um nicht im Einerlei einer Multibranchengewerkschaft unterzugehen, sondern in einer Spezialorganisation die besondere Stellung im Betriebsablauf bestmöglich für höhere Gehälter und komfortablere Arbeitsbedingungen zu nutzen.176 Zusammengefasst: Mit Fusionen verbanden sich große Hoffnungen. Doch oft waren sie nur der letzte Ausweg für Organisationen, die andernfalls dem Untergang geweiht waren. Oder sie erzielten nicht die gewünschte Wirkung. So bei ver.di:177 Eine größere Fusion als diese ließ sich mit insgesamt rund 2,9 Mio. Menschen kaum vorstellen – und doch verlor die neue Großgewerkschaft allein in den ersten fünf Jahren ihres Bestehens zwanzig Prozent ihres anfänglichen Mitgliederbestands, nach zehn Jahren betrug der Verlust bereits ein Viertel bzw.

175 Vgl. Keller 2007. 176 Vgl. Müller/Wilke 2003, S. 141. 177 Vgl. Keller 2007.

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mehr als 700.000 Personen. Vor allem aber war der Versuch gründlich gescheitert, in bislang entlegene Bereiche des Arbeitsmarkts vorzudringen, Berufsgruppen zu rekrutieren, die Gewerkschaften bis dahin noch fernstanden. Organizer als Wunderwaffe? Fusionen waren im Gewerkschaftslager zwar einer der schlechterdings vielversprechendsten und auch populärsten Reformansätze der 1990er Jahre. Doch überwiegend enttäuschten sie die in sie gesetzten Erwartungen. In den 2000er Jahren ließen sich viele Gewerkschaften daher von etwas anderem beeindrucken: Organizing. Allein mit dem semantischen Flair seiner angloamerikanischen Herkunft weckte dieser Begriff neuerliche Hoffnungen. Und in der Tat verbindet sich damit eine faszinierende Geschichte: Organizing hatte seinen Ursprung in den Vereinigten Staaten.178 Ende der 1980er Jahre begannen US-Gewerkschaften, ihren Apparat auf ein Minimum an bezahltem Personal zu reduzieren, um so viel Geld wie irgend möglich in die Rekrutierung von Mitgliedern zu stecken. Die Methode war vergleichsweise simpel und erinnerte an die Frühzeiten der Gewerkschaftsgeschichte, an den Beginn der Arbeiterbewegung. Organizing versprach, durch den Aufbau von Organisationsmacht in Form von Mitgliedern den Verlust von Institutions- und Arbeitsmarktmacht wettzumachen.179 Geschulte Gewerkschaftsfunktionäre, sogenannte Organizer, suchen dabei Betriebe auf, in denen es so gut wie kein Gewerkschaftsmitglied, geschweige denn einen Betriebsrat gibt, überdies miserable Bezahlung, die Angst vor jederzeitiger Entlassung sowie bedrückende Arbeitszeiten vorherrschen, die betroffenen Beschäftigten also äußerst unzufrieden und bekümmert sind. Dort wecken sie bei den Beschäftigten ein Bewusstsein für deren schlimme Lage, schüren Protest für ein Ende der ausbeuterischen Bedingungen und mobilisieren am Ende einen nennenswerten Teil der Belegschaft gegen den Arbeitgeber – so lautet zumindest die Theorie. Zugleich lassen sie den Betroffenen viel Spielraum, stehen als Berater zur Seite, ohne Anweisungen zu erteilen und sich an die Spitze der Hierarchie zu stellen – die Gewerkschaft verbleibt im Hintergrund und stellt lediglich Material und Informationen zur Verfügung. Die Opfer der schlechten Arbeitsbedingungen helfen sich folglich selbst, organisieren ihren eigenen Widerstand, setzen ihre eigene Interpretation von Ba-

178 Vgl. dazu insgesamt Brinkmann et al. 2008; Frege 2000; Rehder 2007. 179 Vgl. Dörre, Klaus: Einführung. Gewerkschaften und die kapitalistische Landnahme: Niedergang oder strategische Wahl?, in: Geiselberger, Heinrich (Hg.): Und jetzt? Politik. Protest und Propaganda, Frankfurt am Main 2007, S. 53-78, hier S. 70 f.

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sisarbeit um. Nicht bevormundende Funktionäre, sondern sie selbst treffen die wegweisenden Entscheidungen, sie selbst entwerfen kraft ihrer eigenen Kreativität die Utensilien des Arbeitskampfs – Flyer, Buttons und Transparente – und verfassen Resolutionen. Ein willkommener Nebeneffekt besteht aus Sicht der Gewerkschaften freilich in einem steigenden Organisationsgrad. Denn viele der Beteiligten treten für gewöhnlich der Gewerkschaft bei, nachdem sie deren Nutzen und Bedeutung erkannt und schätzen gelernt haben. So sieht jedenfalls das Idealmuster von Organizing aus. Und so überlieferten es Berichte aus den USA. Auf der anderen Seite des Atlantiks griffen die verzweifelten Funktionäre zunehmend schrumpfender Gewerkschaften dieses Modell begierig auf. Freilich brauchte es trotz der angespannten Lage einige Jahre, bis es tatsächlich angewendet wurde. Doch führten die geradezu fantastischen Geschichten, von denen zu lesen und zu hören war, zu dem Glauben an eine wahrhaftige Wunderwaffe, mit der die krisengebeutelten Gewerkschaften selbst im Postindustrialismus bald wieder zu einstiger Größe zurückfinden würden. Und war das nicht auch die langersehnte Antwort auf die chronisch offene Frage, wie man den selbstbewussten Beteiligungswünschen jüngerer Arbeitnehmerjahrgänge gerecht werden könnte? Mancherorts, vor allem in der ver.di und IG Metall, erlagen einige Funktionäre einer regelrechten Organizing-Euphorie. Auch Wissenschaftler betörte dieses Konzept, kam ihnen doch eine Schlüsselfunktion zu: Sie sollten Bereiche des Arbeitsmarkts aufspüren, in die Organizer geschickt werden könnten, in denen sich unerschlossene Mitgliederpotenziale ausschöpfen, große Erfolge feiern ließen. Sie sollten die dortige Lage gründlich erkunden und die Organizer darin einweisen. Und tatsächlich: Viele Pilotprojekte hatten auch Erfolg und sorgten für Erfolgsstorys.180 Knallharte Arbeitgeber wie Lidl oder Schlecker mussten klein beigeben und die Wahl von Betriebsräten gestatten. In den entsprechenden Betrieben, in denen Gewerkschafter noch kurz zuvor Exoten gewesen waren, stiegen die Mitgliederzahlen plötzlich rasant an. Aber natürlich blieb den Gewerkschaften ein märchenhafter Ausgang dieser Geschichte versagt. Vielmehr stieß das Organizing-Konzept in Deutschland schnell an seine Grenzen.181 Denn Organizing bedeutete in der Praxis viel Konflikt, aggressives, ja militantes Vor-

180 Vgl. hierfür Candeias, Mario/Röttger, Bernd: Sozialtarifverträge und lokale Arbeiterbewegungen, in: Geiselberger (Hg.) 2008, S. 120-126. 181 Vgl. Rehder, Britta: Revitalisierung der Gewerkschaften? Die Grundlagen amerikanischer Organisierungserfolge und ihre Übertragbarkeit auf deutsche Verhältnisse, in: Berliner Journal für Soziologie, Jg. 18 (2008) H. 3, S. 432-456; Frege 2000, S. 143.

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gehen gegen den Arbeitgeber, heftige Demonstrationen. Dieser konfrontative Wesenskern passte jedoch nicht recht zu der kompromissbasierten Tarifkultur, die die Gewerkschaften im Verlauf der bundesdeutschen Geschichte liebgewonnen hatten und gerade die sie ja gegen die bedrohlichen Einflüsse einer globalisierten Wirtschaft verteidigen wollten. Deutsche Gewerkschaften sitzen nun einmal lieber am Konferenztisch den Arbeitgebern gegenüber, als ihnen in besetzten Werkshallen oder Verkaufsräumen gegenüberzustehen. Zudem erforderten die solchermaßen organisierten Betriebe eine hingebungsvolle Betreuung, die aufgrund ihrer Vielzahl und Streuung schwerlich möglich war. Zogen die Organizer ab, hinterließen sie zumeist eine von intensiver Pflege verwöhnte Belegschaft, die sich schnell wieder von der Gewerkschaft entfremden konnte. Außerdem gilt Organizing ja ausgerechnet jenen prekären Berufsfeldern, in denen die dortigen Arbeitnehmer von allen Beschäftigten wohl am wenigsten Zeit und Energie besitzen, um sich noch neben ihrem Job als ehrenamtliche Funktionäre in der Mitgliederbetreuung und -rekrutierung zu betätigen, und die ihres häufig niedrigen Einkommens wegen keine zahlungskräftigen Mitglieder darstellen.182 Und schließlich waren viele Funktionäre hierzulande auch gar nicht bereit, in den Hintergrund zu treten und Befugnisse abzugeben, den Aktivisten die nötigen Freiheiten zu gewähren. Außerdem bedeutete Organizing eine Absage an einen personell überfrachteten Verwaltungsapparat, wie ihn die meisten Gewerkschaften besaßen. Unzählige Funktionäre hätten dazu entlassen werden müssen, um Gelder für die Basisarbeit freizumachen. Das überstieg die Reformbereitschaft dann doch. Und so verblieb Organizing zuletzt lediglich eine hier und da angewandte Methode aus dem Reformarsenal der Gewerkschaften, mit der diese sich vorübergehend als modern und innovativ zeigen und spektakuläre Einzelerfolgserlebnisse feiern konnten. Insoweit sorgten sie für sporadische Motivationsschübe, ohne allerdings den Durchbruch zu bringen. Kurzum: Organizing ließ sich nicht so einfach auf die Verhältnisse in der Bundesrepublik übertragen.183 Es scheint sich zwar in der Tat für einzelne Betriebe zu eignen, in denen Gewerkschaften sonst keine Rolle spielen. Und daher ist es auch eine sinnvolle Ergänzung des Repertoires gewerkschaftlicher Rekrutierungsweisen. Doch es übersteigt die finanziellen Mittel der deutschen Gewerkschaften und widerspricht ihren kulturellen Vorlieben. Die Gewerkschaften müssten dafür hohe Geldsummen freimachen können, sich wirklich von Grund auf wandeln, ihre bisherige Organisationsstruktur völlig umschmeißen und einen

182 Vgl. Schroth, Heidi: Klinken putzen?! Strategien gewerkschaftlicher Mitgliederaktivierung in Deutschland und den USA, Hamburg 2009, S. 181 ff. 183 Vgl. Brinkmann et al. 2008, S. 112 f. u. S. 133 f.; Frege 2000; Rehder 2007.

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heftigen Kultur- und Traditionsbruch vollziehen. Doch so etwas lässt sich von großen Organisationen kaum erwarten.

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SICH DIE G EWERKSCHAFTEN IN DIE I SOLATION SPEZIALISIERTEN Verteidigung einer unzeitgemäßen Eigenwelt Eigentlich dürfte man annehmen, die Gewerkschaften hätten sich angesichts ihrer tiefen Krise über jedwedes Engagement von Bürgern gefreut. Doch dem war nicht so. Vielmehr kann man eher den gegenteiligen Eindruck gewinnen, als hätten sich die Funktionäre geradezu heftig gegen Beteiligungsversuche gewehrt, zäh und beharrlich ihre liebgewonnene und gewohnte Eigenwelt gegen jegliche Veränderung verteidigt. Und vermutlich hat es auch genau so auf die betroffenen Funktionärsanwärter gewirkt. Die gefestigten und etablierten Funktionäre kultivierten ihre eigene Sprache, Demokratie und Hierarchie,184 mit denen sie all jene Bürger abschreckten, die mit anderen Vorstellungen, Gedanken und Umgangsformen an die Gewerkschaft herantraten bzw. dies beabsichtigten. Was das Gros der Funktionäre unter Ehrenamt und Engagement verstand, wich stellenweise extrem von den Ansprüchen eines stetig größer werdenden Teils der deutschen Bevölkerung ab. Und so verringerte sich beständig das Potenzial neuer Funktionäre, war eine wachsende Distanz der Organisation zu ihrer Klientel eine unausweichliche Folge ihrer enormen Beharrungskraft. Das begann bereits damit, dass Vertrauensleute – die ehrenamtlichen Aktivisten in den Betrieben – nicht einmal in den Statuten auftauchten,185 formal also gar nicht existierten. Die Gewerkschaftsführungen und selbst die regional zuständigen Sekretariate interessierten sich auch kaum für deren Treiben, solange es ihren Autoritätserwartungen nicht zuwiderlief. Für die Hauptamtlichen hatte die Arbeit der Ehrenamtlichen vielerorts bloß randständige Bedeutung, galt ihnen oftmals als Bedrohung ihres Führungsanspruchs, bedeutete mitunter sogar

184 Vgl. Martens 1993: Überlegungen, S. 295 f.; Zech, Rainer: Mitmach-Gewerkschaften gibt es nicht. Zur Kommunikation mit Mitgliedern, in: Gewerkschaftliche Monatshefte, H. 5/1996, S. 309-317; Zoll, Rainer: Gewerkschaften als DiskursOrganisationen, in: Gewerkschaftliche Monatshefte, H. 6/1991, S. 390-399, hier S. 396 f. 185 Vgl. Hein 1992, S. 69 ff.

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eine Belastung, weil sie häufig nach Unterstützung verlangte und zugleich nach Eigenständigkeit strebte. Ihrem Selbstverständnis nach Profis, sahen die Hauptamtlichen in den Ehrenamtlichen bloß unberechenbare Dilettanten und unerbetene Störenfriede, von denen nichts als Chaos und Pfusch zu erwarten seien.186 Neben den besoldeten Funktionären wirkten auch gewerkschaftlich organisierte Betriebsräte daran mit, ehrenamtliches Engagement so ungemütlich wie nur irgend möglich zu machen, bereitwillige Aktivisten regelrecht in die Flucht zu schlagen.187 Denn die Betriebsräte hielten die wichtigen Positionen und Funktionen in den Gewerkschaften besetzt, verdrängten alle anderen Anwärter auf Ehrenämter, die ihnen Befugnisse und Positionen streitig machen konnten. Neben ihnen zu bestehen, war für engagierte Neuankömmlinge daher ungemein schwer. Hinzu kam, dass die ehrenamtlichen Strukturen kaum verbürgte Rechte, jedoch ein großes Aufgabenpensum besaßen. Der Mangel an formalen Zuständigkeiten und Mitsprachewegen minderte die Motivation, sich im Vertrauenskörper zu engagieren – denn das Missverhältnis zwischen Rechten und Pflichten, zwischen dem Einfluss auf die Willensbildung und der investierten Tatkraft, dürfte das erträgliche Maß deutlich überstiegen haben. Viele freiwillige, unentgeltlich tätige Funktionäre ließen es sich schon bald nicht mehr bieten, dass sie innerhalb der gewerkschaftlichen Willensbildung nahezu einflusslos waren, die Organisation lediglich in Streikphasen ihre Tatkraft beanspruchte, ohne diese im Gegenzug mit Rechten und Mitteln angemessen zu vergelten und ihnen auch außerhalb von Streiks und Demonstrationen diverse Partizipationsmöglichkeiten oder Entscheidungsbefugnisse einzuräumen.188 Wer wollte sich schon freiwillig dauerhaft in eine solche Konstellation begeben?

186 Vgl. Frerichs/Pohl 2004, S. 28 ff. 187 Vgl. dazu Kotthoff 1979, S. 299 ff. 188 Vgl. Bergmann, Joachim/Müller-Jentsch, Walther: The Federal Republic of Germany: Cooperative Unionism and Dual Bargaining System Challenged, in: Barkin, Solomon (Hg.): Worker Militancy and Its Consequences, 1965-75. New Directions in Western Industrial Relations, New York/Washington/London 1975, S. 235-276, hier S. 260-264; Lecher, Wolfgang: Gewerkschaften im Europa der Krise. Zur Zentralisierung und Dezentralisierung gewerkschaftlicher Organisation und Politik in sechs Ländern der Europäischen Gemeinschaft, Köln 1981, S. 65; Richter/Wittenberg 1994, S. 126-135.

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Demokratie wie im Kreml und Vatikan? Neben dem – überspitzt gesagt – feindseligen Verhalten fest angestellter Funktionäre und gebieterischer Betriebsräte sowie dem Mangel an statutarisch verbürgten Befugnissen schreckten zudem Verfahren und Hierarchien ab, die in den Gewerkschaften herrschten. Da war zunächst der „gewerkschaftliche Bürokratismus“189: Im Verlauf der Jahrzehnte hatte sich die Gewerkschaft zu einer regelrechten Behörde verwandelt, in der es Rangordnungen, Antragswege und Fristen gab, die genauestens befolgt werden mussten. Dazu gehörten auch Funktionäre, die sich in diesem komplizierten System bestens auskannten, die all diese Prozeduren und Mechanismen vorzüglich beherrschten, Experten der bürokratischen Formalitäten waren. Eine nicht geringe Anzahl von Funktionären pflegte zudem ein autoritäres Gewerkschaftsverständnis und verlangte die Unterordnung des Individuums unter ein vermeintliches Kollektivwohl.190 Davor hatten Beobachter und Analysten des gewerkschaftlichen Geschehens schon früher gewarnt – davor dass „hauptamtlich tätige Funktionäre als Managerschicht die Willensbildung der Gewerkschaft an sich reißen können“191. Das also war das erste Problem der gewerkschaftlichen Organisationskultur: Um die Mehrheit der Bürger für Aktivitäten innerhalb der Gewerkschaften begeistern zu können, hätte es eines anderen Umgangs mit vielen der (potenziellen) Mitglieder bedurft. Viele von diesen wollten sich nicht mehr ohne Weiteres wie ihre Urund Großeltern unter der Bevormundung von Funktionären einer paternalistischen Gemeinschaft einverleiben lassen, in der andere über ihr Wohl entschieden.192 Bildung, Einkommen und die Abwesenheit eines durchorganisierten Milieus hatten sie selbstbewusster, skeptischer und anspruchsvoller gemacht. Ein zweites Problem bestand in den inneren Abläufen und Entscheidungswegen. Ein Gewerkschaftsforscher bringt es auf den Punkt: „Die pflichtgemäße Abarbeitung von abschreckend langen Tagesordnungen, die Überfrachtung der

189 Mückenberger, Ulrich/Stroh, Cornelia/Zoll, Rainer: Einleitung: Die Modernisierung der Gewerkschaften in der Europäischen Union, in: Mückenberger, Ulrich/Schmidt, Eberhard/Zoll, Rainer (Hg.): Die Modernisierung der Gewerkschaften in Europa, Münster 1996, S. 9-28, hier S. 12. 190 Vgl. Prott/Keller 2002, S. 270. 191 Abendroth 1954, S. 44. 192 Vgl. Behr, Michael: Regressive Gemeinschaft oder zivile Vergemeinschaftung? Ein Konzept zum Verständnis posttraditionaler Formen betrieblicher Sozialintegration, in: Zeitschrift für Soziologie, Jg. 24 (1995) H. 5, S. 325-344; Steinke 1993: Organisationsprinzip, S. 241.

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Vorstandsarbeit mit Organisationsinterna und aufwendig betriebenen Verfahrensangelegenheiten versperren Freiräume für gemeinsame konzeptionelle Arbeit, verhindern die Entwicklung kreativer Potenziale, blockieren Aktivität und Engagement.“193 Vieles würde „totdebattiert“194, es fehlten „Gestaltungs- und Selbstverwirklichungsspielräume“195, selbst hochrangige Funktionäre beklagten zuweilen die „oft ermüdenden und starren Rituale von […] mehr oder weniger spannenden Referaten, vorgefertigten Statements und der bekannten Antragsberatungsmaschinerie“196. Für einige Bürger mochten Gewerkschaftsveranstaltungen durchaus angenehme Veranstaltungen sein. Sie konnten dort ihr Bier trinken, gesellige Unterhaltung finden und ihre politischen Meinungen kundtun, kurz: in ihrer freien Zeit an einem Organisationsgeschehen teilhaben. Doch in den Augen anderer war das Zeitverschwendung, verkürzten sich Debatten auf die bloße Aneinanderreihung von mehr oder minder argumentationsreichen Redebeiträgen, statt sich sinnvoll aufeinander zu beziehen und daraus ein Ergebnis abzuleiten, einen Konsens zu erzielen. Es konnte vorkommen, dass der Versammlungsleiter einer Gewerkschaftssitzung einfach die Diskussionsrunde schloss, sobald die übliche Dauer einer Sitzung absolviert war – gleichgütig, welchen Debattenstand man inzwischen erreicht hatte. Offenbar zog dieser Versammlungsstil solche partizipationsgewillte Bürger an, die mehr um der Debatte selbst willen debattieren wollten, weniger hingegen um auf konkrete Ergebnisse hinzuarbeiten. Natürlich muss dazu gesagt werden, dass das apathische Beteiligungsverhalten eines Großteils der Mitglieder diese Kultur begünstigte. Die meisten Mitglieder waren hochgradig passiv, schalteten sich allenfalls zum Streik oder zu Demonstrationen in Gewerkschaftsvorgänge ein.197 Das Interesse an den statutarisch vorgeschriebenen Gremien war verschwindend gering – kaum mehr als durchschnittlich zwei Prozent aller IG-Metall-Mitglieder nutzten z.B. ihr Recht auf einen Besuch in den Versammlungen der Stadtteilgruppen, um sich dort zu informieren, zu engagieren oder Delegierte für Gewerkschaftsversammlungen auf einer höheren Ebene zu wählen. Im Grunde waren sie vermutlich sogar froh

193 Zech 1994, S. 203. 194 Dünnwald, Johannes: Alternative Produktion – eine gewerkschaftliche Perspektive, in: WSI-Mitteilungen, Jg. 37 (1984) H. 5, S. 285-292, hier S. 285. 195 Erhart, Friederike: Wird die GEW eine Graue Einzelge Werkschaft? Ältere und alte Mitglieder in der Organisation, in: Zech (Hg.) 1992, S. 103-171, hier S. 163. 196 Wiedemuth 1993: HBV-Gewerkschaftstag, S. 46. 197 Vgl. Mückenberger/Stroh/Zoll 1996, S. 13 f.; Steinke 1993: Organisationsprinzip, S. 194.

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darüber, nicht in Organisationsprozesse eingebunden zu sein. Sie zahlten ihren Mitgliedsbeitrag, übten sich in Solidarität und hofften im Gegenzug auf lukrative Tarifabschlüsse und zuverlässigen Rechtsschutz. Für viele war dieses Arrangement also unzweifelhaft eine gute Sache. Und das war auch gar nichts Neues. Schon für die deutschen Gewerkschaften der 1920er Jahre stellten zeitgenössische Gewerkschaftsforscher fest, dass die Mitglieder mit ihrem „lässigen Versammlungsbesuch“ oder ihrer „Uninteressiertheit in den Versammlungen“ die autokratische Neigung der Funktionäre stärkten – frei nach dem Grundsatz, „alle Initiative den darin alteingesessenen ehrenamtlichen und besoldeten Funktionären“ zu überlassen.198 Damit mochten die Gewerkschaften zwar einen großen Teil ihrer Mitgliedschaft zumindest nicht in große Unzufriedenheit versetzt haben, dürften aber auch nicht die Angehörigen jener Gruppen angelockt haben, für die sie sich in offiziellen Verlautbarungen so stark interessierten, denen u.a. ihre Kampagnen und Anwerbungsversuche galten: höher bis hochqualifizierte Angestellte, Frauen, Jugendliche, auch Selbstständige. Ein drittes Problem ergab sich aus einem unzeitgemäßen Demokratie- und Partizipationsverständnis. Offenheit, Toleranz und Diskussionsbereitschaft waren von Gewerkschaftern zwar immer wieder als Anspruch verkündet, doch kaum eingehalten worden. Viele Mitglieder sahen sich als Befehls- und Botschaftsempfänger, denen ihre eigenen Möglichkeiten, zur Meinungsvielfalt beizutragen, viel zu gering erschienen. Beteiligung war offiziell erwünscht, ja sogar ersehnt, in der Praxis jedoch schwer vereinbar mit dem Delegationsprinzip, demzufolge nicht die Mitglieder, sondern deren Repräsentanten auf Gewerkschaftszusammenkünften per Abstimmung Beschlüsse fassten. So konnte sich leicht der Eindruck einstellen, als ob eine verhältnismäßig kleine Gruppe von Funktionären die Geschicke der Organisation bestimmte, ständig versuchte, individuelles Denken zu ersticken und die Mitglieder stattdessen in eine vorgefertigte Meinungsschablone zu pressen, oder festlegte, was als Allgemeinwohl zu gelten habe und darüber hinaus auch noch die Umsetzung überwachte.199

198 Enderle et al. 1932, S. 83. 199 Vgl. Bender 1993, S. 18; Ernst, Frank/Wolf, Jürgen: Neue Ehrenamtlichkeit in traditionellen Mitgliederorganisationen: Zusammenfassende Ergebnisse, in: Wolf, Jürgen et al.: Neue Ehrenamtlichkeit in traditionellen Mitgliederorganisationen. Praxisfelder und Handlungspotentiale innovativer Formen des ehrenamtlichen Engagements. Forschungsbericht an die Hans-Böckler-Stiftung, Magdeburg 2003, S. 182-194, hier S. 193; Fichter, Michael/Gerster, Jochen/Zeuner, Bodo: Zukunft der Gewerkschaften Teil II. Externe Herausforderungen – Interne Problemlagen – Zukunftsoptionen: Ei-

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Auch unter hauptamtlichen Funktionären war das Lamento von der „breiten Debatte“ oder der „breiten Diskussion“, die endlich zu führen seien, groß; auch sie fühlten sich von den Entscheidungen in der fernen Gewerkschaftszentrale ausgeschlossen.200 Funktionäre beschwerten sich im kritischen Unterton über die Beschlüsse aus der „Frankfurter Zentrale“, die „ohne Einbeziehung der Kolleginnen und Kollegen vor Ort ausgearbeitet worden“ seien,201 statt „gemeinsam mit den Betroffenen Konzeptionen zu erarbeiten, machte der Vorstand Alleingänge“202 – was alles andere als „einer lebendigen, offenen und demokratischen Organisationskultur“203 nahekomme. Als hochgradig beteiligungsorientiert angekündigte Organisations- und Programmreformen sorgten innerhalb der Gewerkschaften stets für Unzufriedenheit, weil die hohen Ansprüche so gut wie nie eingehalten wurden – jedenfalls empfanden es so etliche Funktionäre.204 Dadurch kam der Eindruck auf, als herrsche in den Gewerkschaften nicht viel mehr Demokratie als im Vatikan oder dem Kreml zu Zeiten der Sowjetunion. Hinzu kam die Angst vieler Bürger vor dauerhaft verpflichtendem Engagement.205 Viele scheuten davor zurück, wollten vermutlich nicht allgegenwärtig am Organisationsleben teilhaben, sondern sich spontan, sporadisch und projektorientiert engagieren.206 Doch die Aufstiegswege in der gewerkschaftlichen Rangfolge und die persönliche Gestaltungsmacht waren zumeist von berechenbarem, regelmäßigem und ganzheitlichem Engagement abhängig. Die Gewerk-

ne internationale Perspektive, in: Frerichs, Petra et al. (Hg.): Zukunft der Gewerkschaften. Zwei Literaturstudien, Düsseldorf 2004, S. 113-186, hier S. 149; König 1993: Organisationsreform. 200 Siehe z.B. Hasibether 1995, S. 17; Karch, Heribert: Weder Dogmen noch neue Beliebigkeit – Anmerkungen zum System „IG Metall-Tarifpolitik“ am Beispiel der Metall-Tarifrunde 2000, in: Gewerkschaftliche Monatshefte, H. 5/2000, S. 257-267, hier S. 261 ff.; Röder 1994. 201 Bender 1993, S. 18. 202 Krause 1994, S. 48. 203 Dinter, Helmut/Schachner, Günther/Vetter, Peter: Wie mobilisierungsfähig sind wir noch?, in: Sozialismus, H. 11/1993, S. 45-47, hier S. 47. 204 Siehe bspw. Riexinger 1994; Wendl 1994. 205 Vgl. Bromberg 2009, S. 240-248 u. S. 262; Dribbusch 2003, S. 106; Steinke 1993: Organisationsprinzip, S. 178. 206 Vgl. dazu Stolle, Dietlind/Hooghe, Marc: Inaccurate, Exceptional, One-Sided or Irrelevant? The Debate about the Alleged Decline of Social Capital and Civic Engagement in Western Societies, in: Belgian Journal of Political Science, Jg. 35 (2004) H. 1, S. 149-167.

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schaft erwartete und belohnte Verlässlichkeit und Kontinuität. Beide Ansprüche, von moderner Bürgergesellschaft und konventioneller Großorganisation, vertrugen sich offenbar nicht. Natürlich war die Gewerkschaft keine Diktatur. Doch etlichen vorgeblich demokratischen und auf Teilhabe ausgerichteten Aktionen fehlte es an Verbindlichkeit, wie etwa bei Unterschriftensammlungen, die kaum etwas auszurichten schienen. Viele Arbeitnehmer dürften wohl folgenden Eindruck gewonnen haben: „Es macht in der Wirkung gar keinen Unterschied, ob ich dabei war oder nicht.“207 Die Qualität der innergewerkschaftlichen Demokratie galt als mangelhaft, als scheindemokratisch. Traditionelle Praktiken verstießen gegen das Gebot demokratischer Kontrolle. So war es z.B. eine unausgesprochene Konvention, die sich zwar in keinem Statut finden ließ, jedoch weitverbreitet war, dass Vorstandsmitglieder auf Vorschlag des bestehenden Vorstands gewählt wurden und der Zweite stets dem Ersten Vorsitzenden nachfolgte. Personalwahlen waren daher in aller Regel reine Formalitäten, die keine Überraschungen bargen und eher einer Bestätigung des Vorstandswillens denn einem Wettbewerb glichen. Gegenkandidaturen waren die Ausnahme, Abwahlen gar undenkbar – als ob Alternativen unerwünscht seien und als Verletzung der inoffiziellen Personalhoheit des amtierenden Vorstands empfunden würden.208 Dieses Demokratieverständnis automatischer und von Eliten bestimmter Karrieren verlor mit der Zeit jedoch an Zuspruch, missfiel einer zunehmend größeren Gruppe von Bürgern. Wo gab es belebende Kampfkandidaturen? Nirgends. Wie sollten dann aber zentralistische und selbstgenügsame, irgendwann verkrustete Strukturen aufgebrochen werden? Niemand wusste das zu sagen. Dadurch erhärtete sich jedoch der Verdacht, bei Gewerkschaften handle es sich um den Ort einer selbstherrlichen Elitenregierung, bei der sämtliche Befehls- und Ordnungsgewalt von höheren Gremien und Instanzen ausging. Viele Funktionäre und Mitglieder waren davon überzeugt, dass in den Gewerkschaftszentralen eine abgehobene Elite regierte und willkürlich wie unkontrolliert die Geschicke der Organisation bestimmte.

207 Dinter/Schachner/Vetter 1993, S. 47. 208 Siehe hierzu Fickinger, Nico: Am Ende eines schwierigen Weges, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 24.05.2006; vgl. Lauschke, Karl: Weder Kämpfer noch Bürokrat oder Dienstleister. Zum Wandel der Gewerkschaftsfunktionäre in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, in: Kössler, Till/Stadtland, Helge (Hg.): Vom Funktionieren der Funktionäre. Politische Interessenvertretung und gesellschaftliche Integration in Deutschland nach 1933, Essen 2004, S. 221-238, hier S. 234.

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Mancherorts konnte das so weit gehen, dass „die IG Metall nach innen herein so eine Art Mafia“209 zu sein schien. Sicherlich: Ganz so drastisch wird es nicht gewesen sein. Doch für die Annahme pseudodemokratischer Verhältnisse ließen sich von Kritikern zahlreiche Beweise anführen. So ließ sich kaum bestreiten, dass für gewöhnlich kleine Zirkel und Workshops die Leitlinien und Strategiekonzepte ausarbeiteten, die anschließend für untere Ebenen verbindlich sein sollten und über das zukünftige Organisationsschicksal befanden. Schwerlich lässt sich auch bestreiten, dass vorgeblich richtungsweisende Debatten kaum Gegenstand der Basisarbeit, sondern einigen Klausuren und Konferenzen der Gewerkschaftsspitze vorbehalten waren und sich abgeschottet in Zeitschriften oder Tagungsbänden abspielten – geführt nicht etwa von Basisrepräsentanten, sondern von akademisch geschulten Wissenschaftlern und hochrangigen Funktionären. Nicht selten erfuhren Mitglieder und Funktionäre der unteren und mittleren Ebene erst aus der Zeitung oder dem Fernsehen, was gerade Gegenstand der organisationsinternen Diskussion war, die dadurch als elitäre Meinungsfindung entlarvt war. Dies wiederum bestärkte die Annahme, die oberen Funktionäre würden aus Bequemlichkeit und Konfliktscheue unangenehme, jedoch an der Basis verbreitete Auffassungen bspw. gegenüber der Bundesregierung zurückhalten, nur um nicht ihre Beziehungen zu den Inhabern politischer Macht aufs Spiel zu setzen. Während die Mitglieder bereit seien, so die kritische Vermutung, die Streikweste überzustreifen, Transparente gen Himmel zu hissen und gegen arbeitnehmerfeindliche Politik loszumarschieren, würden sich die Gewerkschaftsoberen mit Spitzengesprächen begnügen und vor einem wahrhaftigen Konflikt zurückscheuen – vielleicht schlimmer noch: selbstzufrieden die Nähe zur Macht auskosten und die damit verbundenen Privilegien genießen. So aber fühlten sich nicht wenige Aktivisten den offenbar unbeirrten Gewerkschaftsvorständen und deren strategischen Abteilungen ohnmächtig ausgeliefert. Was war gegen die Zentrale und deren Abteilungen, den Führungsapparat, schon auszurichten? Wieder und wieder konnte sie Sparbeschlüsse, Organisations- und Programmreformen vorschreiben. Nur wenige aus der Gewerkschaftselite fragten sich, wie die „Abgeschiedenheit von Vorstandssitzungen“210 eigentlich mit dem selbstbewussten Teilhabeanspruch vieler Bürger zu vereinbaren sei. Denn all die genannten Punkte dürften einem nicht unerheblichen Teil

209 Prott/Keller 2002, S. 103. 210 Hensche, Detlef: Großfusionen sind keine Lösung. Gewerkschaftsreform braucht differenzierte Ansätze, in: Gewerkschaftliche Monatshefte, H. 2/1995, S. 65-74, S. 74.

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der deutschen Bürger widerstrebt haben. Im Unterschied zum Kaiserreich, der Weimarer Republik oder den bundesrepublikanischen Gründungsjahren war die Zahl von Menschen offenbar beträchtlich gestiegen, deren Vorstellungen von Demokratie und Engagement sich deutlich von der Organisations- und Demokratiepraxis der Gewerkschafter abhoben. Sie wollten sich nicht unterordnen, fühlten sich durch langwierige Entscheidungsverläufe blockiert, hatten schlichtweg keine Lust, sich langfristig zu verpflichten und ihre Verhaltens- und Denkweisen dem Anpassungszwang der Organisation zu fügen. Sie waren nicht bereit, sich konformistisch die Werte und soziale Welt der Gewerkschafter anzueignen, sondern wollten auch abweichende Meinungen vertreten dürfen und sich ohne die Aufsicht gestandener Funktionäre beteiligen dürfen, kurzum: Ihnen schwebte ein Engagement vor, das sich von der bisherigen Praxis deutlich unterschied. Vor allem betraf das junge Menschen. Sie mieden Gewerkschaften ungefähr so stark wie der Teufel das Weihwasser. Dadurch vergreisten die Arbeitnehmerorganisationen in den 1980er und 1990er Jahren; Jugendliche waren in ihnen höchst selten anzutreffen. Kein Wunder, denn Gewerkschaften waren für die neuerdings institutionsskeptischere Jugendkultur denkbar ungeeignet.211 Jugendliche Energien flossen in Eventerlebnisse, wurden von massenhaft besuchten Festivals aufgesogen, bisweilen auch von Antikriegs-, Anti-AKW- oder AntiGlobalisierungsdemonstrationen absorbiert, die indessen viele Festspiel-Elemente enthielten und obendrein die Gewissheit des Protests für eine gute Sache boten – das abwechslungsreiche und abenteuerliche Ausklinken aus dem Alltag mit gutem Gewissen. Gewerkschaften schienen sich demgegenüber weder zum Ausdruck einer idealistischen Werthaltung zu eignen, noch Spaß zu bereiten oder als Bestandteil einer besonders kreativen Lebens- und Selbst-Gestaltung jener jungen Bürger zu taugen, die mit den vielfältigen Optionen des täglichen Lebens jonglierten. Auch hatten Gewerkschaften dem Flexibilitätsverlangen von solchen Beschäftigten einer modernen Arbeitswelt nichts zu bieten, die Freiräume, Selbstmanagement und Einfallsreichtum gewohnt waren, weil ihnen das ihre Jobs tagtäglich abverlangten. Der Befehlsempfang, die Starrheit von Organisationsabläufen und das Ohnmachtsgefühl mutmaßlich pseudodemokratischer Strukturen behagten ihnen nicht und widersprachen ihrem Bedürfnis, eigene Gedanken schnell und kompromisslos umzusetzen. Das allerdings war ein enormer Mangel in einer Organisation, die eine behördenähnliche Bürokratie entwickelt hatte und in der

211 Vgl. dazu Großegger, Beate: Jugend zwischen Partizipation und Protest, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, H. 27/2010, S. 8-12.

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die Folgebereitschaft Voraussetzung eines grundlegenden Prinzips, der repräsentativen Demokratie in Gestalt des Delegiertenwesens, war. Lebensweltliche und kulturelle Fremdheit Viele Gewerkschaften artikulierten sich außerdem in einer Sprache, die nur den Wenigsten geläufig war, auch dogmatisch und ideologiegefärbt wirkte. Überwiegend war sie nicht die Sprache der technischen Angestellten, der ITBeschäftigten oder Akademiker und Kreativen, die allesamt in der Gewerkschaftsmitgliedschaft kaum vertreten waren. Insbesondere IG-Metaller argumentierten gerne entlang der orthodoxen Gegensatzlinie von Arbeit und Kapital, als längst andere Spaltungslinien die Gesellschaft durchzogen. Anhand der Ausdrucksweise ließ sich nicht immer erkennen, ob man es mit Worten aus den 1920er oder 1990er Jahren zu tun hatte. Diese Sprache passte sicherlich zu den meisten Delegierten und Funktionären, die sich freuten, sobald einer ihrer Kollegen oder Anführer über die „Herrschaften von der Großindustrie“, das „Kapital“, das alles zunichtemache, was „wir einmal als sozialen Fortschritt erkämpft haben“, oder die „menschenverachtende Privatisierungspolitik“ schimpfte.212 Das waren die Standardsätze, die in kaum einer gewerkschaftlichen Kongressrede fehlen durften. Es waren aber auch die Sätze, mit denen man viele Schichten der deutschen Bevölkerung nicht erreichte, wenn nicht gar verschreckte. Gewerkschaften konnten deshalb noch so viele Zukunftskongresse veranstalten und Kampagnen starten – all das wirkte nicht, solange sie die Sprache bestimmter Zielgruppen nicht beherrschten und ihre Kommunikationsmittel nicht anglichen.213 Das betraf vor allem die ständige Rede von der „Kampfkraft“214 der Organisation, die es zu erhalten gelte. Derlei hörte man in der IG Metall oft. Fast nichts ging den IG-Metall-Funktionären der 1980er und 1990er Jahre über das Kampfkraft-Gebot. Damit war die Konfliktfähigkeit gemeint, die Bereitschaft, tariflichen und politischen Forderungen durch Streiks und Demonstrationen –

212 Zitiert nach Hank, Rainer: Gegen die „Herrschaften von der Großindustrie“, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 13.10.1992. 213 Vgl. Arlt, Hans-Jürgen: Eine läuft immer, mindestens eine sogenannte. Über Kampagnen und Gewerkschaften, in: Forschungsjournal Neue Soziale Bewegungen, H. 2/2007, S. 61-69; Meise, Stephan: Regionale Gewerkschaftspraxis in Ostdeutschland 20 Jahre nach der „Wende“ – eine Fallstudie, in: Industrielle Beziehungen, Jg. 17 (2010) H. 2, S. 214-231, hier S. 227. 214 Zitiert nach o.V.: Klaus Zwickel mahnt zum drastischen Sparen, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 10.12.1993.

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eben Kampfmaßnahmen – Ausdruck zu verschaffen und Nachdruck zu verleihen. Ihre Rhetorik trug jedoch militaristische Züge: So wollten viele Funktionäre endlich aus der „Defensive“ herauskommen, in die sie sich gedrängt sahen, mahnten, ihre „Kampffähigkeit zurückzugewinnen“, und erwähnten die „Illusion vom Endsieg des heutigen Kapitalismus“,215 freuten sich, wenn sie durch mehrwöchige Streiks den „Angriff der Arbeitgeber“ „abgewehrt“ hatten.216 Und folgerichtig hatte die IG Metall auch ein „Kampfverband“217 zu sein. Dieses klassenkämpferische Vokabular war ein rhetorisches Überbleibsel der 1970er Jahre. Damals verbuchte die IG Metall astronomische Mitgliederzuwächse, was ihr den schmeichelhaften Ruf einer extrem mobilisierungsstarken Organisation eintrug und den Nimbus einer streitbaren und konfliktbereiten Gewerkschaft verschaffte. Das berauschende Machterlebnis großer Arbeitskämpfe prägte die Mitglieder und Funktionäre jener Zeit auch noch in den folgenden Jahrzehnten.218 Die Aktivisten der 1970er wurden im Verlauf der Zeit zu den 1. Bevollmächtigten und Bezirksleitern der 1980er und 1990er Jahre. Aus diesen Positionen heraus prägten sie die Organisation – und deren Sprache. Diese aber dürfte etlichen Zielgruppen der Gewerkschaft fremd gewesen, mithin absonderlich vorgekommen sein. So sprach die IG Metall vor allem jene an, die in den Kategorien des Klassenkampfs dachten und „Gegenmacht“ sein wollten. Vielen Bürgern erschienen Gewerkschaften deshalb dogmatisch, verbohrt und wenn nicht sogar schuldig am Niedergang von Unternehmen, denen die nötigen betriebswirtschaftlichen Spielräume aufgrund strikter Tarifregularien zum Schaden der Arbeitnehmer nicht rechtzeitig zugestanden worden waren. In kleinen und mittelgroßen Betrieben wurden sie nicht selten als weltanschaulich radikale Beden-

215 Schneider, Karl-Heinz/Schachner, Günther: Gewerkschaftliche Gestaltungspolitik. Thesen für das 1. Augsburger Forum, in: Sozialismus, H. 4/1993, S. 38-45, hier S. 39, S. 43 u. S. 45; siehe auch König, Otto: Tarifrunden '94/'95, in: Sozialismus, H. 10/1993, S. 41. 216 Siehe König, Otto: Tarif: Perspektiven West, in: Sozialismus, H. 4/1993, S. 16-17; König 1993: Tarifrunden, S. 31; Karch/Meine/Schulz 1993, S. 42 u. S. 47; Bender 1993; Kubitza/Ludewig/Räschke 1994, S. 40 f.; Frech 1994. 217 Kubitza/Ludewig/Räschke 1994, S.40. 218 Vgl. Dribbusch, Heiner: Organisieren am Konflikt: Zum Verhältnis von Streiks und Mitgliederentwicklung, in: ders./Dörre, Klaus (Hg.): Gewerkschaftliche Modernisierung, Wiesbaden 2011, S. 231-263, hier S. 250.

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kenträger gesehen, die bloß das vertrauensvolle Verhältnis zwischen Betriebsleitung und Betriebsrat störten.219 Aber nicht nur die Sprache und Inhalte, auch die Orte des Gewerkschaftsgeschehens und dessen Zeitpunkt dürften etlichen Sozialgruppen missfallen haben. Oftmals entsprachen die Räumlichkeiten, in denen sich die gewerkschaftlichen Zusammenkünfte ereigneten, tatsächlich gängigen Klischees.220 Es waren die holzvertäfelten Hinterzimmer verrauchter Kneipen, in denen eine gesellige Runde zumeist gleichaltriger Männer Schnitzen und Bier verzehrte, nostalgisch Erinnerungen und Anekdoten austauschte. Diskussionsbeiträge ergingen häufig in der Absicht, die eigene Meinung kundzutun, ohne sie mit anderen Wortmeldungen zu verknüpfen. Ganz besonders schwer hatten es Frauen.221 Was sie sagten, wurde oftmals nicht ernstgenommen, stattdessen mussten sie sich nicht selten ‚flotte‘ Sprüche anhören, falls sie einmal in kurzem Rock erschienen, oder liefen Gefahr, als ‚leichtlebige Dame‘ zu gelten, sobald sie sich länger als einige Minuten mit einem Mann unterhielten. Was die Geschlechtergleichstellung, die weibliche Emanzipation, anbelangte, lagen die Gewerkschaften bedauerlicherweise allem Anschein nach weit hinter dem gesellschaftlichen Fortschritt zurück. Vom Geschlecht abgeleitete Diskriminierung bestand dort vermutlich unversehrter und länger fort als in vielen anderen Bereichen der Gesellschaft. Noch weiteren Gruppen standen die Gewerkschaften fern. Für Rentner richteten sie Dia-Abende und Kaffekränzchen aus. Pflichtgemäß gratulierten die Leiter von Gewerkschaftsstellen zu Geburtstagsjubiläen. Den unlängst aufgekommenen Typus des jungen Alten222 – lebensfrohe und gesunde Menschen im Rentenalter, die sinnvolle Aktivitäten suchen, sportlich und ehrenamtlich aktiv sein

219 Vgl. Sperling, Hans Joachim/Hilbert, Josef: Gemeinschaftliche Sozialverfassung und informelle Partizipation: Beteiligung in Klein- und Mittelbetrieben, in: Oetjen/ Zoll (Hg.) 1994, S. 116-124. 220 Vgl. dazu Duddek/Hindrichs/Wassermann 1995, S. 204 f.; Erhart 1992; Silvia/ Markovits 1994, S. 118 f.; Steinke 1993: Organisationsprinzip, S. 188 f. u. S. 204216. 221 Dazu vgl. Steinke 1993: Organisationsprinzip, S. 218-221. 222 Vgl. dazu u.a. Kolland, Franz/Kahri, Silvia: Kultur und Kreativität im späten Leben: Zur Pluralisierung der Alterskulturen, in: Backes, Gertrud M./Clemens, Wolfgang/ Künemund, Harald (Hg.): Lebensformen und Lebensführung im Alter, Wiesbaden 2004, S. 151-172; Aner, Kirsten: Das freiwillige Engagement älterer Menschen – Ambivalenzen einer gesellschaftlichen Debatte, in: Karl, Fred/dies. (Hg.): Die „neuen Alten“ revisited, Kasseler Gerontologische Schriften, Bd. 28, Kassel 2002, S. 39102.

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wollen – zogen solche Veranstaltungen freilich nicht an. Denn die gegenwärtige Rentnerkohorte, das zeigt sich auch in SPD und CDU, meidet exklusiv für sie ausgelegte Organisationskontexte, in denen sie ausschließlich unter Gleichaltrigen sind und die ihnen das Gefühl von Alter, Ruhestand, Gebrechen und Isolation vermitteln.223 Und auch die Versammlungen der gewerkschaftlichen Stadtteilgruppen, die vielerorts Stammtischen glichen, waren für postmaterielle und alternative Lebenswelten, in denen viele Bücher gelesen, Bio-Produkte eingekauft und Fair-Trade-Kaffee getrunken wurden, wenig verheißungsvoll. Zur Zeit des Sozialistengesetzes in den Jahren 1878 bis 1890 besaßen die Hinterzimmer von Kneipen noch eine wichtige Funktion, dienten dazu, sich bei konspirativen Treffen vor der Staatsgewalt zu verbergen.224 Aber in den 1980er Jahren und den darauffolgenden Jahrzehnten machten sie keinen Sinn mehr, führten nunmehr dazu, sich von einem Großteil der Bevölkerung zu isolieren. Das zünftige und rustikale Ambiente der Gewerkschaftstreffen, die von Ritualen und Nostalgie durchsetzte Gewerkschaftskultur sowie die Loyalitätserwartung der Organisation verengten die Funktionäre und Mitgliedschaft auf einen speziellen Typus, riegelten die meisten Gewerkschaften gegenüber der Mehrheit der Bevölkerung nahezu hermetisch ab. Sie waren nicht in der Lage, mit ihren monotonen Angeboten der großen Variationsbreite gesellschaftlicher Segmente zu entsprechen. Sie waren nur noch für einen kleinen Teil der Gesellschaft anziehend. Und es war nicht nur die stilistische wie kulturelle Fremdheit von Sprache und Raum, die lediglich eine eng begrenzte, schrumpfende Zahl von Arbeitnehmern für Mitgliedschaft und Engagement gewann. Daneben übte das Funktionärswesen großen Einfluss darauf aus, wer sich einer Gewerkschaft anschloss und darin engagierte. Zwar gehörte die Funktion des Gewerkschaftssekretärs nicht zu den üblichen Berufsausbildungen. Doch gab es in den Gewerkschaften bislang Standardkarrieren, d.h. vorgezeichnete Karrierepfade und Qualifikationen.225 Der typische Gewerkschafter wurde in eine Arbeiterfamilie hineingeboren, trat zu Beginn seiner Lehre oder Ausbildung der Organisation bei, betätigte

223 Vgl. Munimus, Bettina: Alternde Volksparteien. Neue Macht der Älteren in CDU und SPD?, Bielefeld 2012, S. 252-264. 224 Vgl. Tenfelde 1987, S. 150. 225 Vgl. Hassel, Anke: Zwischen Politik und Arbeitsmarkt. Zum Wandel gewerkschaftlicher Eliten in Deutschland, in: Münkler, Herfried/Straßenberger, Grit/Bohlender, Matthias (Hg.): Deutschlands Eliten im Wandel, Frankfurt am Main/New York 2006, S. 199-220, hier S. 215; Lauschke 2004: Weder Kämpfer noch Bürokrat, S. 224-236.

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sich in seinem Betrieb als Jugendvertreter, Vertrauensmann und später Betriebsrat, übernahm in der Gewerkschaft zunächst einen ehrenamtlichen Posten, um dann nach zehn- bis fünfzehnjähriger Berufstätigkeit und dem Besuch der Gewerkschaftsakademie einen Job als hauptamtlicher Funktionär anzutreten. Für manche ergab sich sogar irgendwann die Möglichkeit, für höhere Ämter zu kandidieren, Bezirksleiter oder Bundesvorstand zu werden. Das war die „Ochsentour“, wie man sie auch in der SPD oder CDU zurücklegte – eben das langwierige und allmähliche Fortkommen in einer Massenorganisation. Außerdem dürften nicht wenige Bürger ihre Vermutungen, die sie über politische Organisationen angestellt hatten, von einer Tätigkeit in einer solchen abgehalten haben. Setzte dortiges Engagement nicht die Fähigkeit zur Intrige voraus? Musste man sich nicht in ständigen Machtrangeleien behaupten? Tummelten sich dort nicht viele Karrieristen, für die Ideale nur als Vorwand ihres selbstsüchtigen Handelns dienten? Freilich fanden sich nicht viele Arbeitnehmer, die sich dafür begeistern ließen, die in diesem System einen Ausweg aus beengten und eintönigen Verhältnissen und einen geeigneten Ort des Engagements zu erkennen glaubten. Im Kaiserreich und während der Weimarer Republik mochte das noch anders gewesen sein. Durch die zumeist monotonen Arbeitsabläufe und die verschwindend geringe Aussicht auf gesellschaftliches Emporkommen waren die Ansprüche an kreative und Selbstentfaltung ermöglichende Tätigkeiten derart gering, dass für viele Arbeiter jedwede Bürotätigkeit per se im Vergleich zur Fabrik oder Werkstatt gesellschaftlichen Aufstieg, Abwechslungsreichtum und komfortablere Arbeitsbedingungen bedeutete – und insofern ein Job in der Gewerkschaft oder sozialdemokratischen Kulturorganisationen in vielerlei Hinsicht eine Verbesserung darstellte.226 Nach dem Zweiten Weltkrieg nahm die Zahl von Bürgern, für die eine solche Karriere eine Bereicherung und Chance darstellte, ihrer Lage zu entfliehen und ihre Anliegen zu verfolgen, jedoch stetig ab. Hier veränderte sich etwas ganz Entscheidendes: Seit dem Kaiserreich schufen Gewerkschaften für benachteiligte Schichten die Möglichkeit des Aufstiegs, der Karriere. Jene Menschen, die niedrige Bildungsabschlüsse besaßen und denen die Gesellschaft diverse Positionen vorenthielt, fanden in Gewerkschaften – wie auch in der SPD – eine Alternative. Doch mit dem allgemeinen Anstieg des Wohlstands- und Bildungsniveaus nahezu aller Bürger hörte das auf. Für das Beispiel der sozialdemokratischen Partei merkte einmal deren einstiger Vordenker Peter Glotz dazu an: „Die Arbeiter im 19. Jahrhundert hatten keine Alterna-

226 Vgl. Cassau 1925, S. 126 ff.

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tive, als sich politisch in der SPD zu organisieren, wenn sie aus dem Elend rauswollten. Dieser Druck ist weg.“227 Denn ähnlich wie in der SPD war es in den Gewerkschaften möglich, als Schlosser, Elektriker oder Fliesenleger bis auf die Bundesebene aufzusteigen, Spitzenfunktionär, Abgeordneter oder Bundesminister zu werden – in einem Ausmaß Geld zu verdienen, Macht zu erlangen und Einfluss auszuüben, wie es die soziale Herkunft und der erlernte Beruf im Normalfall niemals zugelassen hätten. Der Job eines Hauptamtlichen, der in einer der vielen Gewerkschaftsstellen arbeitete oder diese sogar leitete, konnte mitunter einen deutlichen Zuwachs an Zufriedenheit und Erfüllung mit sich bringen – dies freilich nur für manche. Inwiefern es sich tatsächlich um einen Aufstieg, eine Verbesserung handelte, hing stark von der vorherigen Tätigkeit ab. War diese monoton und starr wie die Fließbandarbeit, gefährlich und aufreibend wie die Arbeit im Bergstollen oder am Schmelzofen, so konnte der Arbeitsplatz in der Gewerkschaft durchaus Raum zur Selbstverwirklichung, eigenverantwortlichen Tagesgestaltung und für abwechslungsreiche Aufgaben sein. Man konnte als Leiter ein Team führen, auf großen Versammlungen zu vielen Menschen sprechen, Einblicke in bedeutungsvolle Vorgänge erhalten, im Zusammenspiel mit Betriebsräten gegenüber Managern kleine Erfolgserlebnisse feiern und vielleicht so etwas wie lokale Prominenz erwerben. Indessen war der Job als hauptberuflicher Gewerkschaftssekretär in der Regel alles andere als bequem und nervenschonend. Das schmälerte die Attraktivität beträchtlich. Das Arbeitspensum in einer Verwaltungsstelle war z.T. kraftraubend und verhinderte ganz oft geregelte Arbeitszeiten.228 Anfragen von Mitgliedern – Papierkram und Telefonate – mussten bewältigt, geplante Massenentlassungen gemeinsam mit Betriebsräten abgeschmettert, stellenweise ganze Betriebsschließungen vereitelt werden. Nicht selten verbrachten die Profi-Funktionäre die Tage überwiegend im Auto, um von einer Sitzung zur Jubilarfeier und von dort wiederum zur Betriebsversammlung zu brausen, dabei hunderte Kilometer zurücklegend. Viele beklagten, ihre kleinen Kinder kaum mehr zu Gesicht zu bekommen, weil sie selbst sonntags noch für die Gewerkschaft auf Tour wa-

227 Zitiert nach Laudenbach, Peter: Ich muss mal austreten, in: brand eins, H. 6/2004, S. 124-128, hier S. 128. 228 Vgl. dazu Martens 1993: Organisationsprinzip, S. 151; Bender 1993, S. 17; Dörre 2006; Kuffler, Alfred et al.: Kompetenz und Eigenständigkeit vor Ort. Organisationsentwicklung aus der Sicht einer mittleren Verwaltungsstelle, in: Sozialismus, H. 10/1994, S. 47-48; Prott/Keller 2002, S. 278-289 u. S. 391-400.

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ren.229 Die Scheidungs- und Trennungsquote dürfte unter Gewerkschaftssekretären aufgrund ihres eisernen Arbeitsethos und dem Tagesablauf eines Selbstständigen nicht gerade gering gewesen sein. Insbesondere für Frauen, die schwanger und Mütter wurden, im Haushalt manches Mal noch immer stärker eingespannt waren als ihre männlichen Partner, war das ein Hemmnis.230 Sie begegneten der stillen Erwartung, sich ganztägig und auch an Wochenenden und Feiertagen in den Dienst der Organisation zu stellen. Gewerkschaften waren daher – entgegen ihrem offiziellen Anspruch – ein frauenfeindlicher Arbeitsplatz; Beruf und Familie ließen sich dort nicht selten viel schwieriger vereinbaren als in anderen Berufsfeldern. Und nicht zuletzt dauerte der Aufstieg in den internen Hierarchien lange und setzte ein beträchtliches Durchhaltevermögen voraus. Das alles zusammengenommen verringerte den Kreis jener Personen, die sich für einen solchen Arbeitsplatz begeistern konnten oder als Freiwillige dort ihre Freizeit verbringen wollten. Bis in die 1960er Jahre hinein dürften dies seit den Tagen des wilhelminischen Kaiserreichs zumindest beträchtlich mehr Menschen umfasst haben als in der darauffolgenden Zeit. Und darin lag ein großes Problem. Denn dieser Organisationszuschnitt zog immer wieder denselben Typus an; jedoch waren die Gewerkschaftssekretäre ein ausschlaggebender Faktor in der Mitgliederwerbung. Weniger die Inhalte als die Form der Ansprache bestimmten den Organisationserfolg von Gewerkschaften.231 Als Nachfolger herangebildet und als Mitglieder rekrutiert werden von hauptamtlichen Funktionären in aller Regel vor allem solche Arbeitnehmer, die ihnen stark ähneln – vom Bildungshorizont, über die Kleidung bis hin zu diversen Einstellungen und Werthaltungen.232 Grob gesagt, hatten es Arbeiter aus Fabrikationshallen schwer, mentalen und sprachlichen Zugang zu Büroangestellten zu erhalten.233 Der einstmalige Opel-Monteur schaffte es gemeinhin nicht, den Bürokaufmann oder die Programmiererin zu werben. Speziell in Industriegewerkschaften, in denen der Großteil der Mitgliedschaft einen Arbeiterberuf ausübte, herrschten hartnäckige Vorurteile gegenüber Angestellten. In der Schablone waren das jene privilegierten Arbeitnehmer, die „bei der Demo immer

229 Vgl. Prott/Keller 2002, S. 154-163. 230 Vgl. Steinke 1993: Organisationsprinzip, S. 184 f.; Blaschke, Sabine: Frauen in Gewerkschaften. Zur Situation in Österreich und Deutschland aus organisationssoziologischer Perspektive, München/Mering 2008, S. 248. 231 Vgl. Ernst/Wolf 2003, S. 188 f. 232 Vgl. Bromberg 2009, S. 262 ff. 233 Vgl. Meise 2010: Habitustheoretische Analyse, S. 199 f.

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hinter’m Fenster stehen“234, einen Teppich im Büro haben, Krawatten tragen und denen ein elitärer Standesdünkel nachgesagt wurde. Solche Vorbehalte verhinderten den solidarischen Zusammenschluss von Büro und Werkstatt. Im Grunde genommen genossen es die Arbeiter sogar, sich von den Angestellten abzugrenzen, erachteten gerade dies als Vorzug ihrer Gewerkschaft. Die gleichförmige Mentalität und das eintönige Erscheinungsbild der Mehrheit der Funktionäre führten dazu, dass sich mittelbar die Mitgliedschaft kaum veränderte, immer weiter vom Arbeitsmarkt entfernte und infolgedessen die Gewerkschaften sozial und mental auf eine stets kleinere Zahl von Gruppen und Typen verengte. Mit jenen Arbeitnehmern, die sich für eine Funktionärstätigkeit entschieden und für die dieser Job eine weitere Etappe auf dem Weg zu mehr Einfluss war und die damit aus dem als ungenügend wie einschränkend empfundenen Handlungsfeld ihres bisherigen Berufs ausbrechen konnten, ließen sich in der Regel Frauen, höhere Angestellte, Ingenieure und IT-Beschäftigte nicht für den Organisationsbeitritt erwärmen. Denn erst die Unzufriedenheit mit dem eigenen Arbeitsplatz oder gänzlich fehlende Alternativen machten Funktionärskarrieren attraktiv – was unter Funktionären lange Zeit ein weit überdurchschnittliches Aufkommen von qualifizierten Arbeiterberufen zur Folge hatte. Im Unterschied zu den 1960er oder auch 1970er Jahren bot in den darauffolgenden Jahrzehnten eine weitaus größere Menge von Arbeitsplätzen jedoch bessere Bedingungen als in einer Gewerkschaft. Vieles hatte sich eben geändert. Und dadurch beherrschte der Funktionärskörper der meisten Gewerkschaften nunmehr lediglich die Ansprache eines kleinen Teils des Arbeitsmarkts. IG Metall & Co. waren deswegen in bestimmten Branchen, Berufen und Mentalitäten gefangen. Mit ihrem Personal und ihrer Organisationskultur mochten sie in den 1960er und vielleicht auch noch 1970er Jahren eine beeindruckende Zahl von Menschen zu Gewerkschaftsmitgliedern gemacht haben – nicht mehr jedoch im 21. Jahrhundert. Der Konkurrenz aus der Zivilgesellschaft unterlegen Die Gewerkschaften hatten es in ihrer Geschichte nie leicht. Monarchische und diktatorische Regierungsformen, zwei Weltkriege und mehrere Wirtschaftskatastrophen schüttelten sie im Verlauf der deutschen Historie ordentlich durch. Doch selbst in der vergleichsweise friedlichen und wohlhabenden Phase der Bundesrepublik bereiteten ihnen unterschiedliche Entwicklungen und Akteure zu schaffen. Dazu gehörte auch die sogenannte Zivilgesellschaft, ein seltsam ver-

234 Zitiert nach Steinke 1993: Organisationsprinzip, S. 229.

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schwommener Bereich, der zwischen Markt und Staat angesiedelt ist. Darunter fallen für gewöhnlich alle Organisationen, die keinen kommerziellen Zweck verfolgen und auch nicht vom Staat betrieben werden – z.B. Greenpeace ebenso wie der örtliche Sportverein. Aus Sicht der Gewerkschaften ergab sich daraus eine Wettbewerbssituation. Denn sie konkurrierten mit Sportvereinen, Bürgerinitiativen oder karitativen Einrichtungen wie den „Tafeln“ um die Zeit und Tatkraft von ehrenamtlich Engagierten sowie das Vertrauen der Bürger. Und mit der Zeit unterlagen sie. Bereits in den 1970er und 1980er Jahren schlossen sich die jüngeren Jahrgänge statt den Gewerkschaften lieber sozialen Bewegungen an, demonstrierten gegen Atomkraftwerke und Wettrüsten außerhalb des gewerkschaftlichen Organisationsrahmens. Das machte den Gewerkschaften ihr Fortschrittsimage streitig, ließ sie veraltet und politisch rückständig erscheinen.235 In den 1990er Jahren vergrößerte sich dann die Zahl von Organisationen, in denen die sogenannten ressourcenstarken Bürgergruppen – jene Menschen also, die hohe Bildungsabschlüsse vorzuweisen hatten und viel Geld verdienten – bessere und angenehmere Bedingungen für ihr Engagement vorfanden als in den klassischen Großorganisationen.236 Nicht in den Gewerkschaften, sondern andernorts fanden diese Gruppen eine ihrer Ansicht nach sinnvolle Tätigkeit, in der sie ansonsten brachliegende Talente aktivieren konnten und anderweitig nützliche Fertigkeiten erwarben – kurz: In denen sie sich selbstverwirklichen konnten. Nicht selten handelte es sich dabei um einen Engagement-Ort, den sie als Gründer in eigener Initiative selbst geschaffen und entsprechend ihrer Vorlieben und Interessen modelliert hatten. Mit anderen Worten: Weil die Gewerkschaften von so widerstandsfähigen, starren Strukturen gekennzeichnet waren und einen schier übermächtigen Anpassungszwang ausübten, entwarfen viele Bürger kurzerhand ihre eigenen Strukturen, in denen sie ihre Vorstellungen viel leichter als in schwerfälligen und traditionsbeladenen Organisationen wie den Gewerkschaften verwirklichen konnten. Auf diese Weise hat sich seit geraumer Zeit neben dem alten, vertrauten ein „neues“ Ehrenamt entwickelt, das „als projektorientiertes, themenbezogenes und zumeist zeitlich befristetes Engagement“237 charakterisiert werden kann. Dadurch hat sich inzwischen ein unübersichtliches Nebeneinander von Engage-

235 Vgl. Wiesenthal/Clasen 2003, S. 306 f. 236 Vgl. Beher, Karin/Liebig, Reinhard/Rauschenbach, Thomas: Vom Motivations- zum Strukturwandel – Analysen zum Ehrenamt in einer sich verändernden Umwelt, in: Heinze/Olk (Hg.) 2001, S. 255-281, hier S. 274 f.; Grötker, Ralf: Zur Belohnung unbezahlt, in: brand eins, H. 9/2009, S. 122-127. 237 Ernst/Wolf 2003, S. 183.

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ment-Formen eingestellt, die wahlweise einem traditionellen oder modernen Ehrenamtsverständnis zuneigen. Und als wäre diese Ausdehnung des Angebots nicht genug, haben sich auch die Verhältnisse in den Erwerbsstätten gewandelt. Die Beschäftigten in den Betrieben wollten mit der Zeit immer häufiger mitreden, sich punktuell einmischen, ihren Sachverstand einbringen, als ureigene Experten ihrer Probleme gehört werden. Gerade in dieser Hinsicht machten ihnen die Betriebsleitungen jedoch irgendwann bessere Angebote als die Gewerkschaften. In den 1980er und folgenden Jahren verbreiteten sich betriebswirtschaftliche Modelle, die dem einzelnen Arbeitnehmer mehr Initiative und Verantwortung zugestanden – freilich auch abverlangten –, seine Bedeutung im Produktionsprozess aufwerteten und ihm Freiräume gewährten. Folglich erweiterten sich nicht nur im privaten Alltag, sondern auch am Arbeitsplatz die Gestaltungsspielräume der Beschäftigten. Und das bekräftigte letztlich deren Wunsch, auch in anderen Lebensbereichen ähnlich selbstverantwortlich handeln zu können. Daher wollten sie die Gewerkschaft nicht einfach so wie früher machen lassen, keine zurückhaltenden Informations- und Hilfeempfänger mehr sein.238 Nun waren es im Unterschied zu früheren Zeiten nicht mehr die gesellschaftlichen Verhältnisse und die Disziplingebote der Arbeitgeber, sondern ausgerechnet die Gewerkschaften, die den Arbeitnehmern Bewegungsfreiheit und Entfaltungsmöglichkeiten vorenthielten. Daher auch rechnete sie der Sozialwissenschaftler Jürgen Kocka unlängst nicht einmal mehr zum Bereich der Zivilgesellschaft,239 obwohl sich die Gewerkschafter doch sogar als Kern dieses Bereichs verstanden. Im Grunde war es wohl so: Ein seit den 1970er Jahren beträchtlich gewachsener Teil der Bevölkerung verlangte nach ausgedehnten Gestaltungsspielräumen, einer neuen Engagement- und Partizipationskultur. Aber die bekamen die entsprechenden Bürger nicht – nicht in den Gewerkschaften. Also gingen sie oder kamen erst gar nicht, schufen sich ihre eigenen Strukturen, fernab der traditionellen Arbeitnehmervertretungen. Besessen von der Sozialfigur des männlichen Facharbeiters Man möchte meinen, dass das Bild vom männlichen Facharbeiter in industrieller Tätigkeit als das typische Gewerkschaftsmitglied ein gängiges Klischee ist.

238 Vgl. schon Bundesmann-Jansen, Jörg/Frerichs, Joke: Beteiligung als Element gewerkschaftlicher Betriebspolitik, in: Oetjen/Zoll (Hg.) 1994, S. 34-43. 239 Siehe Kocka, Jürgen: Gewerkschaften und Zivilgesellschaft – Dimensionen eines Konfliktverhältnisses, in: Gewerkschaftliche Monatshefte, H. 10/2003, S. 610-616, S. 614.

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Wenn dieser Typus auch längst nicht mehr auf die Mehrheit der Gewerkschaftsmitglieder zutrifft, so lässt sich dennoch sagen, dass sich Gewerkschaften vor langer Zeit auf bestimmte Profile von Arbeitnehmern festlegten und seither kaum davon abgerückt sind. Sie formten ihre Politik und Organisationskultur in einer Weise, die eine bestimmte Kategorie von Arbeitnehmern ansprach, sich dadurch aber den Zugang zu anderen Kategorien bzw. Arbeitsmarktlagen verbaute. Tatsächlich richteten sich die meisten Gewerkschaften in allen erdenklichen Bereichen – tarifpolitisch, personell und programmatisch – auf bestimmte Arbeitnehmergruppen aus. Das waren Beschäftigte im öffentlichen Dienst, Bergleute, Werftarbeiter, Automobilmonteure oder Stahlgießer – überwiegend in der Tat „Malocher“, aber auch verbeamtete Sachbearbeiter, Briefträger oder Lehrer. Überall dort, wo Kohle an den fahlen Gesichtern klebte oder Schweiß floss, waren die Gewerkschaften nicht weit. Das war bereits im wilhelminischen Kaiserreich so gewesen und setzte sich auch in der Bundesrepublik fort. Der Wiederaufbau und das „Wirtschaftswunder“ ließen jene Branchen wachsen, in denen die Gewerkschaften seit jeher leichtes Spiel hatten. Auf diese Weise vermehrte sich ihre Mitgliedschaft fast wie von selbst, ohne dass sie neue Techniken der Mitgliederwerbung entwickelt oder benötigt, sich irgendwie verändert hätten. Dadurch feierten Großorganisationen wie die IG Metall in den 1960er und 1970er Jahren beeindruckende Erfolge, erfreuten sich hoher Organisationsgrade und steigender Mitgliederzahlen. Das waren gewiss die goldenen Jahrzehnte der deutschen Gewerkschaften. Und sie gingen vorüber, ohne dass die Gewerkschaften für diese Eventualität Vorsorge getroffen hatten. Denn auch weiterhin hatten sie ihre personelle und politische Ausstrahlungskraft nicht an die Wachstumsgruppen des Arbeitsmarkts angepasst, die im Gegensatz zur historischen Stammklientel der Gewerkschaften an Bedeutung gewannen und die zukünftige Mehrheit bildeten. Und so ließ die Mitgliederkrise nicht lange auf sich warten: In den 1970er Jahren begannen die Arbeitsplätze in den Gewerkschaftshochburgen zu schwinden – entweder zerfielen ganze Branchen, weil sich deren Produktion wie im Fall der Textilindustrie oder des Schiffsbaus ins Ausland verlagerte, oder technologische Errungenschaften ersetzten die menschliche Arbeitskraft.240 Zwischen 1965 und 1981 verringerte sich die Zahl der industriell Beschäftigten um nahezu zwei Millionen. Das machte die Gewerkschaften zu waschechten Modernisierungsverlierern. Dass es überhaupt dazu kam, ist ein Lehrstück der gewerkschaftlichen Bewegungslosigkeit, der Lethargie von einstmals erfolgreichen Großorganisationen. Was geschah?

240 Vgl. hierzu Abelshauser, Werner: Deutsche Wirtschaftsgeschichte seit 1945, Bonn 2004, S. 308 f. u. S. 436-441.

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In gewisser Weise gerieten die westdeutschen Gewerkschaften zu Opfern ihres eigenen Erfolgs. Denn sie spezialisierten sich auf jene Gruppe von Arbeitnehmern, der sie ihre Erfolge verdankten, die zahlenmäßig eine Zeitlang auf dem Arbeitsmarkt überwog, die einen großen Teil der Mitglieder ausmachte. Das waren vor allem Angestellte und Arbeiter aus der Metall- und Montanindustrie, die Bergleute, Schlosser und Stahlgießer also. Es waren aber eben auch Busfahrer und Zugführer, Postbeamte und Lehrer. Doch mit der Zeit gewannen andere Gruppen an Bedeutung, entstanden ganz neue Branchen und Beschäftigungsformen: Supermarktpersonal, Reinigungskräfte oder Softwarespezialisten wurden allerdings bei Weitem nicht im gleichen Ausmaß Gewerkschaftsmitglieder wie zuvor die Beschäftigten großer Industriewerke. Und das war eigentlich auch nicht weiter verwunderlich. Denn die Gewerkschaften vernachlässigten sie, schenkten ihnen z.T. keinerlei Beachtung oder fanden einfach nicht die geeignete Ansprache, um sie von einer Mitgliedschaft zu überzeugen. Den Gewerkschaften gelang es nicht, in ausreichender Zahl Frauen, Junge und Beschäftigte des Dienstleistungssektors als Mitglieder zu gewinnen. Stattdessen sammelten sie Mitglieder lediglich dort, wo sie ohnehin schon 1890, 1920 oder 1970 stark gewesen waren – lediglich mit der Einschränkung, dass diese Bereiche inzwischen nicht mehr wuchsen, sondern anteilsmäßig an der Gesamtbeschäftigung in Deutschland stetig verloren. Kurz gesagt: Die Gewerkschaften verengten sich zu Interessenvertretungen schrumpfender Wirtschaftssektoren. Dass sie für die Gesamtheit der abhängig Beschäftigten standen – davon konnte keine Rede mehr sein. Vielmehr neigten sie dazu, die Welt aus den Augen ihrer althergebrachten Mitgliedschaft zu betrachten und daher nur in einer verengten und verzerrten Perspektive wahrzunehmen. Aus dieser rekrutierten sie ja auch überwiegend ihr eigenes Personal. Die Gewerkschaften machten eine Politik, die in den 1980er und folgenden Jahren zunehmend weniger Menschen interessierte bzw. guthießen. Zum Beispiel forderten sie vehement die 35-Stunden-Woche und verteidigten ihre tarifpolitischen Besitzstände, obwohl viele Arbeitnehmer der Sicherheit ihres Arbeitsplatzes einen größeren Wert als komfortablen Arbeitsbedingungen beimaßen. Wer wollte schon mehr Freizeit, Geld und Urlaub, wenn er Angst haben musste, in einigen Monaten oder wenigen Jahren arbeitslos zu sein? Viele sahen in den Gewerkschaften mit ihrer Politik der Arbeitszeitverkürzung oder der Ablehnung von flexiblen Tarifverträgen eine Gefahr für ihren Arbeitsplatz.241

241 Vgl. Richter/Wittenberg 1994, S. 133 f.; Dribbusch 2003, S. 281.

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Ganz besonders galt das in den Jahren nach der „Wende“ in den neuen Bundesländern. Dort, in einer krisenhaften Wirtschaft einer labilen Transformationsgesellschaft, versuchten die Gewerkschaften, die Standards der westdeutschen Industrie zu etablieren. Das ging gründlich schief, vielfach nährte diese Politik den Verdacht, Gewerkschafter trügen Schuld am Niedergang der ostdeutschen Industrie. Denn die ostdeutschen Metallarbeiter kümmerten sich nicht um die Segnungen des Flächentarifvertrags oder der 35-Stunden-Woche, solange die Zerschlagung der großen Maschinenbaukombinate drohte.242 Ihr Nutzen dürfte aus Sicht vieler Neubundesrepublikaner fragwürdig gewesen sein – kaum jemand wusste genau zu sagen, ob ihr Treiben segensreiche oder unheilvolle Konsequenzen nach sich ziehen würde. Hatten die rigorosen Ansprüche der Gewerkschaften womöglich am Ende gar die Katastrophe in Form von gewaltigen Entlassungswellen herbeigeführt? Andere Meinungen hingegen bemängelten, dass Gewerkschafter kein Gespür für das Leistungsprinzip besäßen und die Wirtschaft in ihrer Entfaltungskraft behinderten.243 Irgendwie waren sich jedenfalls eine Menge Arbeitnehmer nicht ganz sicher, ob die Gewerkschaftspolitik ihnen nützt oder nicht doch vielleicht schadet. Für etliche Berufsgruppen waren die Gewerkschaften deshalb nicht attraktiv.244 Die Gewerkschaften orientierten sich allzu sehr an unzeitgemäßen Leitbildern. Dadurch entfernten sie sich zunehmend weiter vom Mainstream des Arbeitsmarkts.245 So waren sie z.B. eiserne Verfechter des sogenannten Normalarbeitsverhältnisses. Wer sich auf einem solchen Arbeitsplatz befand, konnte sämtliche Vorteile des deutschen Sozialstaats genießen – Krankenversicherung, gehaltsabhängige Arbeitslosen- und Rentenversicherung ebenso.246 Das setzte allerdings eine unbefristete Vollzeittätigkeit bei mindestens gleichbleibendem Ge-

242 Vgl. Meise 2010: Gewerkschaftspraxis, S. 222 f. 243 Vgl. Frerichs/Pohl 2004, S. 48 f. 244 Vgl. Hassel 1999, S. 237. 245 Vgl. Aust, Andreas/Holst, Hajo: Von der Ignoranz zur Organisierung? Gewerkschaftliche Strategien im Umgang mit atypisch Beschäftigten am Beispiel von Callcentern und Leiharbeit, in: Industrielle Beziehungen, Jg. 13 (2006) H. 4, S. 291-313, hier S. 298; Schroeder 2001: Wandel der Erwerbsarbeit, S. 85 f.; Willenbrock, Harald: Die Putzerfische, in: brand eins, H. 7/2005, S. 96-100; siehe Stahn-Willig, Brigitte/Bäcker, Gerhard: 35 Stunden sind immer noch zuviel. Arbeitszeitprobleme im Lebenszusammenhang von Frauen, in: WSI-Mitteilungen, Jg. 37 (1984) H. 1, S. 1423, hier S. 16 ff. u. S. 20 f. 246 Vgl. dazu Mückenberger, Ulrich: Die Krise des Normalarbeitsverhältnisses, in: Zeitschrift für Sozialreform, Jg. 31 (1985) H. 7, S. 415-434, hier besonders S. 424.

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halt voraus. Dieser Standard des deutschen Arbeitsmarkts befindet sich jedoch seit spätestens den 1980er Jahren im Verfall. Seitdem verbreiten sich in hoher Geschwindigkeit qualitativ minderwertige Jobs, die zumeist durch niedrige Gehälter und Befristungen von viel Unsicherheit gekennzeichnet sind. Viele, wenngleich nicht alle Teilzeitbeschäftigten und Leiharbeiter zählen hierzu. Deren Anteil am Arbeitsmarkt ist in den vergangenen zwei Jahrzehnten beständig, z.T. explosionsartig gewachsen. Damit aber kamen die Gewerkschaften nicht zurecht. Sie hatten sich auf das Normalarbeitsverhältnis eingespielt und wollten, dass das auch so blieb. Natürlich war das nicht unberechtigt, sagten sie doch schlechten Arbeitsverhältnissen, die den Betroffenen viele Nachteile bringen, damit den Kampf an. Doch mit ihrer pauschalen Ablehnung nahezu sämtlicher Erwerbsformen, die vom Normalarbeitsverhältnis mehr als schwach abwichen, begingen sie einen folgenschweren Fehler. Die dahinterliegende Strategie war simpel: Würden sie derartige Jobs in ihre Tarifpolitik einbeziehen und verhandeln, so erkannten sie sie an. Ignorierten sie sie aber, würden sie mit der Zeit vielleicht wieder verschwinden bzw. nur noch ganz selten auftreten. Freilich kam es ganz anders. Viele Arbeitgeber fanden Gefallen an den Ersparnissen und dem Bewegungsspielraum, die mit sogenannten atypischen Jobs möglich waren. Der betriebswirtschaftliche Nutzen war zu groß, als dass die Ignoranz der Gewerkschaften ausgereicht hätte, den Siegeszug dieser Beschäftigungsform zu stoppen. Und noch etwa kam hinzu: Auch vielen Arbeitnehmern brachten diese gewerkschaftlich verfluchten Beschäftigungsverhältnisse etliche Vorzüge. Für manche waren sie willkommene Passagen, um die Zeit zwischen zwei biografischen Etappen, bspw. Ausbildung und Beruf, zu überbrücken. Anderen hingegen ermöglichten sie einen Nebenverdienst, ohne gleich den gesamten Tag über arbeiten zu müssen. Jedenfalls: Die Gewerkschaften verkannten die Zwiespältigkeit dieser Jobs, übersahen bei ihrem Fokus auf die Nachteile die Vorteile und vergraulten damit viele Erwerbstätige. Damit verpassten sie den Anschluss an eine der bedeutsamsten Arbeitsmarktentwicklungen der vergangenen zwanzig Jahre. Faktisch hatten sie in den 1990er Jahren einem der stärksten Wachstumsbereiche des Arbeitsmarkts keine organisatorischen und politischen Angebote zu machen. Die Zahl des Kassenpersonals in den Supermärkten und Drogerien wuchs ebenso schnell wie die des Büropersonals in Teilzeit, ohne dass sich die Gewerkschaften mit der gebotenen Inbrunst diesen Bereichen zuwandten. Und jahrelang kümmerte sie das auch nicht. So schloss bspw. die IG Metall partout keine Tarifverträge mit Zeitarbeits-

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firmen ab, sondern forderte deren Verbot durch die Politik.247 Im Großen und Ganzen war dies die politische Vorgehensweise des DGB und seiner Gewerkschaften zwischen 1981 und 1998. Innerhalb dieser Zeitspanne expandierten die betroffenen Erwerbsformen ungebremst und waren zur Jahrtausendwende ein bedeutender Bestandteil des Arbeitsmarkts geworden. Infolge der Abwesenheit von Gewerkschaften verfestigten sich in neuen Geschäftszweigen wie z.B. den Call-Centern Praktiken der Arbeitgeber, unter denen die Arbeitnehmer litten und die sich nur schwer wieder rückgängig machen ließen.248 Erst als Billiglohn- und Leiharbeiter die Arbeitsbedingungen der althergebrachten Gewerkschaftsklientel bedrohten, weil sie den Arbeitgebern als kostengünstige Alternativen bereitstanden, reagierten die Gewerkschaften.249 Auch in diesem Fall setzte die Reaktion der Gewerkschaften einen Angriff auf ihre Existenzgrundlagen voraus – sie erfolgte jedoch nicht aus vorausschauenden Gedankengängen. 2003 verhandelten deutsche Gewerkschaften zum ersten Mal mit Arbeitgeberverbänden branchenweite Tarifverträge für Call-Center. Nun erst begannen sie, auch andere „soziale Realitäten“250 in den Blick zu nehmen und sich nach einer neuen Herangehensweise umzuschauen. Das war natürlich reichlich spät – und änderte auch nichts daran, dass die meisten Gewerkschaften noch immer keinen Zugang zu diesen Jobs fanden. Mittlerweile hatte sich für sie die Situation sogar noch deutlich verschlechtert: Nun stießen Gewerkschaften als Nachzügler in eine Region des Arbeitsmarkts, in der sie sich kaum auskannten und die ihnen wenige Anknüpfungspunkte bot. Und daran waren sie selbst schuld: Indem sie zwei Jahrzehnte lang in einer sich stark veränderten Wirtschaftswelt die Verschlechterung von Arbeitsbedingungen im Umkreis der Stammbelegschaften zugelassen hatten, während geringfügig bezahlte Jobs und Leiharbeiter auf dem Arbeitsmarkt immer unkontrollierter wucherten, gaben sie den Arbeitgebern ein Druckmittel in die Hand, mit dem diese verschlechterte Konditionen für die Stammbeschäftigten androhten und den Gewerkschaften Zugeständnisse abtrotzten.251 Mit ihrem starrsinni-

247 Vgl. Aust, Andreas/Pernicka, Susanne/Feigl-Heihs, Monika: „Moderner Sklavenhandel“? Gewerkschaftliche Strategien im Umgang mit Leiharbeit, in: Pernicka/Aust (Hg.) 2007, S. 231-312, hier S. 242 f. 248 Vgl. Falkenberg, Annette: Young Fashion. Organisierung von Call-Centern, in: Kaiser et al. (Hg.) 1999, S. 129-136, hier S. 129. 249 Vgl. Aust/Holst 2006. 250 Schroeder 2002, S. 616. 251 Vgl. Nachtwey, Oliver: Institutionelle Macht und prekäre Beschäftigung, in: Sozialismus, Jg. 37 (2010) H. 11, S. 38-44, hier S. 40 ff.

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gen Verhalten hatten die deutschen Gewerkschaften also vieles versäumt und ihre ohnehin schon schwierige Ausgangslage nur noch verschlechtert. Und so ließ sich auch der vermutlich verbreiteten Sichtweise vieler Arbeitnehmer nicht viel entgegensetzen, der zufolge die Gewerkschaften vornehmlich Interessenvertreter einer privilegierten Arbeitsmarktschicht waren. Das hatten sie bereits in der Beschäftigungskrise der 1970er Jahre gezeigt, als sie die Kosten betriebswirtschaftlicher Modernisierung auf diverse Gruppen – Ausländer, Alte und Geringqualifizierte – abwälzten, um ihre Kernklientel zu schützen.252 „Atypisch“ Beschäftigte sind ein bezeichnendes Beispiel, wie gering die Interessen großer Arbeitsmarktgruppen in den Gewerkschaften auch danach missachtet werden konnten und wie gering deren Wertigkeit gegenüber den Anliegen der traditionellen Mitgliedergruppen ausfiel.253 IG Metall, ver.di u.a. beschützten vorwiegend gut bezahlte und annehmlich sozialversicherte Arbeitsplätze.254 Das hatte Auswirkungen auf ihren Ehrgeiz, ein repräsentatives Abbild des Arbeitsmarkts zu sein – auf dem vielerorts die Jobqualität nachließ. Denn ihre Mitgliedschaft ähnelte dem Arbeitsmarkt der 1960er Jahre, nicht aber dem beachtlich gewandelten der 1990er oder 2000er Jahre. Damit machten sie Politik für schwindende Gruppen, für eine gesellschaftliche und wirtschaftliche Topografie, die es schon lange nicht mehr gab. Der Arbeitsmarkt hatte sich seitdem stark verändert, die Zahl von unterschiedlichen Gruppen und gesellschaftlichen Lebenswelten beträchtlich vergrößert, die Verhältnisse waren dadurch vielfältiger, komplizierter geworden.255 Die Gewerkschaften taten indessen so, als ob die Veränderungen minimal gewesen seien. Dadurch aber unterstellten sie eine Gleichartigkeit der Interessen, die es gar nicht gab und die die tatsächliche Vielfalt nicht berücksichtigte.256 Sicher: Der Spagat, der nötig gewesen wäre, um die unterschiedlichen Bedürfnisse der Arbeitnehmer aufzugreifen, war für eine einzelne Organisation kaum zu schaffen – doch die Gewerkschaften unternahmen nicht einmal den Versuch dazu.

252 Vgl. dazu insgesamt Esser 1982. 253 Vgl. dazu Holst, Hajo/Aust, Andreas/Pernicka, Susanne: Kollektive Interessenvertretung im strategischen Dilemma – Atypisch Beschäftigte und die „dreifache Krise“ der Gewerkschaften, in: Zeitschrift für Soziologie, Jg. 37 (2008) H. 2, S. 158-176. 254 Vgl. Deppe, Frank: Aus der Krise lernen. Anmerkungen zur gewerkschaftlichen Strategiedebatte, in: Sozialismus, Jg. 37 (2010) H. 10, S. 39-47, hier S. 46. 255 Vgl. Walter, Franz: Vom Milieu zum Parteienstaat. Lebenswelten, Leitfiguren und Politik im historischen Wandel, Wiesbaden 2010, S. 187-209. 256 Vgl. Hassel 1999, S. 106 ff.

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Und vielleicht taten sie auch gar nicht schlecht daran. Denn auf diese Weise perfektionierten sie zumindest die Ansprache eines ganz bestimmten Teils des Arbeitsmarkts, der ihnen ungeachtet aller Wandlungen relativ zuverlässig einen ansehnlichen Mitgliederbestand gewährleistet. Denn ein nochmaliger Beschäftigungsabbau wie in den 1970er Jahren ist im Industriebereich wohl nicht zu erwarten. In diesem Verhalten unterscheiden sich einige Gewerkschaften z.B. von der SPD, die unter der Kanzlerschaft Gerhard Schröders viele Wähler aus den Arbeiterschichten verlor und sich von ihrer traditionellen Klientel entfremdete.257 Eine völlig schlechte Wahl war der Kurs der Gewerkschaften also nicht. Bloß passte sie nicht zu dem unverminderten Anspruch, Tarifpolitik im Interesse sämtlicher Arbeitnehmer zu machen, Interessenvertretung aller Beschäftigten zu sein. Und weil sie diesen Anspruch aufrechterhielten, konnten die deutschen Gewerkschaften auch schwerlich aus ihrer Krise herauskommen, waren sie andauernde Verlierer und zu keinem Zeitpunkt modern. Denn immerzu lagen sie hinter ihren Postulaten und Standards weit zurück. Modernität hätte außerdem bedeutet, dass sie auch in großem Ausmaß hoch- und niedrigqualifizierte Erwerbspersonen – Rechtsanwälte und Programmierer auf der einen, Reinigungskräfte und Discountmarkt-Kassierer auf der anderen Seite – organisiert hätten. Insoweit blieben sich die Gewerkschaften treu. Sie organisierten einen nicht unwesentlichen Teil der Mittelschicht – qualifizierte Arbeitskräfte, die im Verlauf ihrer Karrieren ähnliche Erfahrungen gesammelt hatten, ähnliche politische Auffassungen vertraten und auch vom Stil ihrer Lebensführung nicht weit auseinanderlagen.258 Das war schon in der Weimarer Republik so gewesen.259 Wie 1925 waren deutsche Gewerkschaften auch 1975, 1985, 1995 und 2005 in städtischen Großbetrieben zu Hause, rekrutierten dort den Großteil ihrer Mitglieder – und waren gefangen im „proletarischen Turm“260. Wie gesagt, das verlieh den Gewerkschaften nicht gerade ein zeitgemäßes Image, garantierte ihnen aber zumindest den Status von Großorganisationen und lieferte Parteien und Regierungen immer noch genügenden Anlass, sie als politische Interessenvertreter ernst zu nehmen.

257 Vgl. Walter, Franz: Abschied von der Toskana. Die SPD in der Ära Schröder, Wiesbaden 2004, S. 138 ff. 258 Vgl. Mooser 1984, S. 162; Schönhoven 2003, S. 45. 259 Vgl. Markovits, Andrei S.: Gewerkschaften – Garanten der Kontinuität? Anmerkungen zur gewerkschaftlichen Lage in der Bundesrepublik aus amerikanischer Sicht, in: Gewerkschaftliche Monatshefte, H. 8/1985, S. 465-476, hier S. 467 u. S. 470. 260 Schroeder 2004, S. 265.

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Einige Arbeitsmarktgruppen durften sich freilich zu Recht von den Gewerkschaften im Stich gelassen fühlen. Aus Sicht vieler Angestellter waren sie Organisationen der Arbeiter; Frauen sahen in ihnen oftmals einen Männerverein, die „patriarchale Gewerkschaft“, in der sie die „Schlechtergestellten“ waren, deren Bedürfnisse unberücksichtigt blieben;261 und die Randbelegschaften nahmen sie als tarifpolitische Bodyguards der privilegierten Stammbelegschaften wahr. Kurzum: Frauen, Migranten, Geringqualifizierte – das waren Gruppen, die sich von Gewerkschaften und Betriebsräten alleingelassen, ausgeschlossen, ja diskriminiert fühlten.262 Und irgendwie stimmte das ja auch. Ihrem Programm und ihren Postulaten nach machten die Gewerkschaften zwar Politik für jedermann. Doch die Wirklichkeit sah anders aus. Lieber verstießen sie, wie im Fall der Atomindustrie, gegen ihre programmatischen Bekenntnisse, als die Interessen ihrer Kernklientel zu gefährden.263 Die Repräsentanz von Frauen innerhalb der Organisation war im Gegensatz zur Erwerbswelt gering: Neunzig Prozent der Delegierten auf Gewerkschaftstagen sowohl von IG Metall als auch ÖTV waren bis in die 1980er Jahre männlich.264 Gewerkschaftsfunktionäre und Betriebsräte reservierten ihre Zeit und Kraft allein für jene Belegschaftsteile eines Unternehmens, von denen sie sich für ihre eigenen Belange Unterstützung erwarteten, die sie als ihre Mitglieder und Wähler gewinnen wollten. Und das waren eben zumeist die Angehörigen der Stammbelegschaften – jenes Personal also, das weitgehend unabhängig von Konjunkturschwankungen auf die Sicherheit des Arbeitsplatzes vertrauen darf, das im Krisenfall zuletzt entlassen wird. Neue, atypische Beschäftigungsformen waren für Gewerkschaften und Betriebsräte auf den ersten Blick weitaus weniger attraktiv. Leiharbeiter konnten ja schließlich schnell wieder den Betrieb verlassen und bei befristet Beschäftigten wusste man ebenfalls nicht, wie lange diese sich auf ihrem Arbeitsplatz behaupten würden. Bei diesen Typen des modernen, krisenanfälligen Arbeitsmarkts handelte es sich eben überwiegend um unstete Jobs, die ganz besonders den Wechselfällen der Wirtschaftsentwicklung ausgesetzt waren. Für Gewerkschaftsfunktionäre waren sie daher viel zu schwer zu betreuen, wohingegen sie für Betriebsräte keine zuverlässigen Wähler waren.

261 Jansen, Mechthild: Feminisierung der Gewerkschaften und die Wirkung auf Frauen und Männer, in: Gewerkschaftliche Monatshefte, H. 7/1995, S. 414-424, hier S. 417; vgl. auch Blaschke 2008, S. 248-263. 262 Vgl. Hyman 2001, S. 124. 263 Vgl. Mohr, Markus: Die Gewerkschaften im Atomkonflikt, Münster 2001, S. 377. 264 Vgl. Armingeon: Die Entwicklung 1988, S. Tabelle 3.3/S. 154.

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Und davon abgesehen malten sich die Gewerkschaften bei diesen Jobs auch kaum Erfolgschancen aus, neue Mitglieder zu gewinnen, was sie von zeitaufwändigen Rekrutierungsversuchen abhielt.265 Aus der Sicht vieler Funktionäre und Betriebsräte mochten die atypisch Beschäftigten zwar in unangenehmen Zuständen schuften, doch immerhin bildeten sie einen Schutzmantel um die „normal“ Beschäftigten. Gehaltseinbußen gab es zuerst bei ihnen, genauso wie die ersten Kündigungen ihnen galten.266 Ein makabres Beispiel zum Charakter dieser Beschäftigungsformen findet sich in der Atomindustrie. Dort konnte der Unterschied von Stamm- und Randbeschäftigten sogar so weit gehen, dass die gewerkschaftlich organisierten Fachkräfte ihre Arbeit auf sicherem Posten verrichteten, wohingegen die Hilfsarbeiter verstrahlt wurden.267 All das entlarvte die gewerkschaftlichen Solidaritätsschwüre als idealistische Phrasen, die im scharfen Kontrast zur tarifpolitischen Wirklichkeit, zur Privilegierung einer ArbeiterElite, standen. An sich war daran nicht viel neu. Schon immer, von den frühen Tagen der Industrialisierung im 19. Jahrhundert bis zur Gegenwart, nutzten Facharbeiter das dürftige Dasein ungelernter Hilfsarbeiter zur Abgrenzung nach unten.268 Damit stärkten sie ihr Selbstbewusstsein, verschafften sich Überlegenheitsgefühle und konnten ihre eigenen Probleme leichter ertragen. Dennoch waren früher auch die weniger Qualifizierten in die Solidaritätsgemeinschaft des Milieus einbezogen, wurden mitgetragen und organisiert. Ohne das organisierte Milieu, das mit dem wirtschaftlichen Aufstieg der Bundesrepublik allmählich verschwand, waren sie jedoch auf sich allein gestellt, zurückgelassen und mussten sich selbst helfen.269 Die Facharbeiter der Nach-Milieu-Zeit scherten sich nicht mehr um ihr Schicksal, widmeten sich ihrem eigenen Aufstieg, grenzten sich nun nur noch ab, ohne Unterstützung zu gewähren.

265 Vgl. Schroeder 2001: Zukunftsdebatten, S. 348. 266 Vgl. Reister, Hugo: Fragmentierung der Arbeiterklasse: Krisenbewältigungsstrategien und betriebliche/gewerkschaftliche Interessenpolitik, in: Ebbighausen, Rolf/ Tiemann, Friedrich (Hg.): Das Ende der Arbeiterbewegung in Deutschland? Ein Diskussionsbeitrag zum sechzigsten Geburtstag von Theo Pirker, Opladen 1984, S. 443-473, hier S. 444; Rosemann, Martin/Kirchmann, Andrea: Wer sind die Betroffenen der Krise? Parallelen und Unterschiede zur vorangegangenen Krise, in: WSIMitteilungen, H. 11/2010, S. 560-568, hier S. 568. 267 Vgl. Mohr 2001, S. 368. 268 Vgl. Mooser 1984, S. 71 u. S. 110. 269 Vgl. dazu Walter 2010, S. 18-30.

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In vielen Bereichen des Dienstleistungssektors, in dem sich seit geraumer Zeit die meisten Arbeitsplätze befinden, sind Fachkräfte allerdings seltener als im produzierenden Industriebereich. Hier müssen sich die Gewerkschaften den un- und geringqualifizierten Arbeitnehmern zuwenden, sofern sie Mitglieder in großem Umfang rekrutieren wollen. Wie gesagt, mit ihrer zurückweisenden Haltung gegenüber unangenehmen Erwerbsformen, die den Gewohnheiten und Prinzipien ihrer Tarifpolitik widersprachen, konnte ihnen das niemals gelingen. So nimmt es denn auch kein Wunder, dass die Gewerkschaften in besagten Branchen – in Discountmärkten, Call-Centern oder bei Paketdiensten – schwach vertreten sind, über eine verschwindend geringe Organisationsmacht verfügen. Die Geringschätzung und Vernachlässigung der Anliegen wachsender Bevölkerungsteile und Arbeitsmarktbereiche seitens der Gewerkschaften machten sich auch in deren richtungsweisenden Beschlüssen und Stellungnahmen – der Programmatik – bemerkbar. Mit vielen Meinungen und Positionen verfehlten sie die politischen Neigungen immer größer werdender Bevölkerungsteile, distanzierten sich mental vom gesellschaftlichen Geschehen.270 So gehörten sie zu den frühen Befürwortern der friedlichen Kernenergienutzung, von Atomkraftwerken – in den Visionen der 1950er Jahre auch von atomkraftgetriebenen Autos, Flugzeugen und Schiffen. Davon versprachen sie sich die Erlösung des von körperlicher Arbeit zermürbten Fabrikbeschäftigten, universellen Wohlstand für alle Bürger, neue Arbeitsplätze. In den 1970er Jahren wurde diese Haltung jedoch zu einem Problem, richteten sich die Anti-Atomappelle doch nun nicht mehr alleinig gegen Atomwaffen, sondern auch gegen Atommeiler. Brokdorf, Whyl, Kalkar – das waren bald Ortsnamen, die untrennbar mit militanten Protestaktionen verknüpft waren, die für den Zusammenprall von Demonstranten mit der Staatsgewalt standen – aber deren Motiv auch die Sympathien eines gewichtigen Teils der jungen Jahrgänge, dem künftigen Kern der Gesellschaft galten. Der Stellenwert ökologischer Vorsicht, die Sensibilität gegenüber endlichen Ressourcen und einer verwundbaren Umwelt vergrößerten und verallgemeinerten sich dann in den 1980er Jahren, u.a. durch alarmistische Spiegel-Berichte über das Waldsterben, Chemieunternehmen als skrupellose Umweltsünder oder dem wachsenden Ozonloch und der Angst vor dem Treibhauseffekt.271 Kurz: Von den 1970er Jahren ging ein neues Bewusstsein aus, manifestiert im Aufkommen von AntiAKW- und Friedensbewegung sowie in Wachstumskritik und Naturbewahrung,

270 Vgl. im Folgenden insgesamt Mohr 2001, S. 378; Müller-Jentsch 1990. 271 Vgl. Faulstich, Werner: Überblick: Wirtschaftliche, politische und soziale Eckdaten des Jahrzehnts, in: ders. (Hg.): Die Kultur der achtziger Jahre, München 2005, S. 720, hier S. 12 f.

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das viele postmateriell gesinnte Bürger hervorbrachte, die mit alternativen Ernährungs- und Lebensweisen experimentierten, künstlichen Aromen und billigem Plastik entsagten.272 Infolgedessen entsprach die Politik der Gewerkschaften bald bloß noch den Auffassungen eines zunehmend kleiner werdenden Teils der Bevölkerung. Während sich die Massenproteste ereigneten, rief der DGB mit der Parole „Ja zu Kernkraftwerken“ im November 1977 zu einer Pro-AKW-Kundgebung im Dortmunder Westfalenstadion auf. Der Bergbaugewerkschafter Adolf Schmidt verkündete, die „Sicherheit der Arbeitsplätze wie die Versorgungssicherheit haben Priorität vor übertriebenen Umweltschutzansprüchen“273, der Chef der Baugewerkschaft Rudolf Sperner gab zu Protokoll, er werde es „nicht mehr hinnehmen, dass die Arbeitnehmer unseres Gewerbezweiges ihren Arbeitsplatz verlieren sollen, weil bereits im Bau befindliche oder zum Bau genehmigte Kern- oder Kohlekraftwerke durch Proteste von Bürgerinitiativen kurzerhand stillgelegt beziehungsweise verhindert werden“274; und selbst nach der verheerenden Explosion des sowjetischen Atomkraftwerks Tschernobyl im April 1986 verlautbarte der seinerzeitige Vorsitzende der IG Chemie-Papier-Keramik, Hermann Rappe, der Zeitpunkt sei nicht gekommen, „um über einen Ausstieg aus der Kernenergie zu beraten“275. Nichts von diesem materialistischen Gebaren dürfte auf die postmaterialistischen Bürger anziehend gewirkt haben. Vielmehr gaben sich Spitzengewerkschafter wie Sperner als mentale Fossilien aus einem fernen Wirtschaftswunderland zu erkennen. Die Gewerkschaften blieben somit größtenteils auf der Seite der Atomkraftbefürworter, stellten den volkswirtschaftlichen Wert der damit verbundenen Arbeitsplätze über die ökologischen Bedenken. Zu einer entschlossenen Korrektur ihrer bisherigen Politik waren sie nicht bereit. Als postmaterialistische Werte aufkamen und sich verbreiteten, gaben sich die meisten Gewerkschaften zutiefst materialistisch. Auch in der Friedensbewegung mischten sie nicht an vorderster Front mit, sondern waren zurückhaltend, sabotierten sie sogar. Zum Beispiel untersagte 1981 der Bundesvorstand des

272 Vgl. Türschmann, Jörg: Am Strand von TUNIX. Körperdiskurse, Pazifismus und Natursehnsucht in der Ökobewegung, in: Faulstich, Werner (Hg.): Die Kultur der siebziger Jahre, München 2004, S. 37-48, hier S. 39 ff. 273 Der Vorsitzende der IG Bergbau, Adolf Schmidt, zitiert nach o.V. (Interview mit Adolf Schmidt): „Das muss in trockene Tücher“, in: Der Spiegel, 25.10.1976. 274 Rudolf Sperner zitiert nach Michaels, Heinz: Gewerkschaften machen mobil, in: Die Zeit, 25.03.1977. 275 Hermann Rappe zitiert nach o.V.: IG Chemie: Kein Ausstieg, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 12.05.1986.

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Gewerkschaftsbundes der DGB-Jugend die Teilnahme an der großen Friedensdemonstration im Bonner Hofgarten. An der Atom- und Friedensfrage zeigte sich, wie sich die Gewerkschaften von gesellschaftlichen Mentalitätstrends abkoppelten, sich politisch auf eine beschränkte Zahl von Bürgern verengten. In den 1970er Jahren wich die weitläufige Übereinstimmung von Gewerkschaften und Bürgern in vielen Punkten einer zunehmenden Distanz. In dieser Zeit verstiegen sie sich auf den arbeitspolitischen Kampf für die 35-Stunden-Woche, entfernten sich hingegen von bedeutenden Gesellschaftsströmen, darunter die Frauen-, Friedens- und Umweltbewegungen. Damit vertraten sie durchaus die Linie eines Großteils ihrer Mitglieder, die keine leidenschaftlichen Atomkraftgegner und Friedensdemonstranten waren – schon gar nicht jene, die in der Atom- oder Waffenindustrie arbeiteten.276 Aufgrund dessen standen viele Gewerkschaften auch nicht unter dem Druck, ihre Politik abzuändern. Und war es aus ihrer Sicht nicht sogar rational, Politik für die meisten ihrer Mitglieder zu machen, statt deren Unzufriedenheit zu riskieren? Wie auch immer. Jedenfalls führte ihre Orientierung auf die Interessen und Meinungen ihrer überkommenen Kernklientel dazu, dass sie an junge und gebildete Teile der Bevölkerung bald nicht mehr herankamen, keinen Zugang zu den Boombereichen des Arbeitsmarkts erhielten, weil sie entweder kein Gespür für deren Themen und Probleme besaßen oder dazu gegenläufige Positionen vertraten.277 Dieses Manko hat sich bis in die Gegenwart erhalten: Die nachdrückliche Ablehnung der Rente mit 67 mochte Dachdecker und Maurer jubilieren lassen, rief dagegen bei älteren Akademiker-Jahrgängen Unverständnis hervor, weil sie noch tatkräftig waren und ihre Energien nicht im Ruhestand vergeuden wollten, nach Sinn suchten und weiterhin auf den Arbeitsmarkt strebten. In dieser höchst kontroversen Angelegenheit haben sich die Gewerkschaften auf eine von zwei Seiten geschlagen, wo doch das vielfältige Meinungsspektrum der Bürger nach einem differenzierten Urteil verlangt. Auch personell hatten Gewerkschaften für viele Arbeitnehmergruppen nicht viel zu bieten. Zwischen 1970 und 2000 waren Frauen in Spitzenpositionen höchst selten anzutreffen. Mit dem Frauenanteil am Funktionärskörper waren die Gewerkschaften außerstande, dem Eindruck entgegenzuwirken, es handle sich um durch und durch maskuline, wenn nicht gar chauvinistische Organisationen,

276 Vgl. Armingeon, Klaus/Schmitt, Rüdiger: Wie „friedensbewegt“ sind die Gewerkschafter? Einstellungen von Gewerkschaftsmitgliedern zu Sicherheitspolitik und Friedensbewegung, in: Politische Vierteljahresschrift, Jg. 27 (1986) H. 4, S. 423436, hier S. 428; Esser 2003, S. 78. 277 Vgl. Markovits 1985, S. 473.

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eben eine „Männerherrschaft“278, unter der Frauen nicht viel zu melden hätten und mit ihren Anliegen auch nicht in die politischen Abteilungen vordringen könnten. Richteten sich am Ende nicht viele feministische Forderungen gegen die Gewerkschaften selbst – bspw. nach einer angemessenen Vertretung von Frauen in Führungsgremien? Und auch sonst spiegelte das Gewerkschaftspersonal in kaum einer Weise die gesellschaftliche Vielfalt wider. Die Lebensläufe von Gewerkschaftstribunen wie den IG Metallern Franz Steinkühler oder Klaus Zwickel, die durch ihre exponierte Stellung das öffentliche Gewerkschaftsbild prägten, ähnelten sich stark, waren mit Ausnahme des Geburtsjahres nahezu identisch. Die späteren Spitzenfunktionäre der deutschen Gewerkschaften waren bereits mit ungefähr fünfzehn oder sechzehn Jahren – jedenfalls vor der Volljährigkeit – einer DGB-Gewerkschaft beigetreten; schon während sie ihre Lehre oder Ausbildung absolvierten, wurden sie für die Organisation als Jugendvertreter tätig; anschließend wirkten sie als Vertrauensleute oder Beitragskassierer und ließen sich zu Betriebsräten wählen; nach vielen Jahren des ehrenamtlichen Engagements avancierten die einstigen Maschinenschlosser oder Elektrotechniker schließlich zu hauptberuflichen Gewerkschaftsfunktionären, besuchten die Akademie der Arbeit, holten in einigen Fällen ein Studium nach und stiegen zu 1. Bevollmächtigten oder Mitgliedern des Bundesvorstands auf.279 So war es 1960, 1980 und im Großen und Ganzen wohl auch noch im Jahr 2000. Und dadurch auch waren die Gewerkschaftsvorstände in sämtlichen Jahrzehnten der bundesrepublikanischen Geschichte anachronistisch. Sie waren auf Facharbeiter und niedrig qualifizierte Angestelltenberufe zugeschnitten,280 repräsentierten die große Zeit der Arbeiterbewegung, wo doch in der Gesellschaft viele weitere Arbeitsmarkttypen existierten – zumal in einem ganz anderen Verhältnis, als es die gewerkschaftliche Mitglieder- und Personalstruktur vermuten ließ. In den Gewerkschaftszentralen und -büros wimmelte es vor Arbeitern mit

278 Siehe Graw, Edith/Graw, Gerd: „Frau geht vor“. DGB-Bundesfrauenkonferenz, in: Sozialismus, H. 11/1993, S. 23-24; Beil-Borchers, Petra: ‚Zwei Schritte vorwärts.?‘. IG Metall-Frauenpolitik und Organisationsreform, in: Sozialismus, H. 12/1993, S. 15-17; Schmidt-Wefels, Marion: Frauen in patriarchalischen Organisationen, in: Sozialismus, H. 11/1993, S. 50-51; Rademacher, Lilo: Frauen & Jugend, in: Sozialismus, H. 2/1994, S. 49. 279 Vgl. z.B. Delfs, Arne: Hardliner Jürgen Peters soll Chef der IG Metall werden, in: Die Welt, 10.04.2003; Porwolik, Ulrich: Der Wahlkampf des Klaus Zwickel, in: Welt am Sonntag, 03.10.1999. 280 Vgl. Schroeder 2004, S. 253.

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industrieller Berufsqualifikation, während dieser Bereich auf dem Arbeitsmarkt langsam, aber sicher zusammenschrumpfte – und mit ihm die Gewerkschaften.

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DER NACHINDUSTRIELLEN S CHWÄCHLINGE Die Gewerkschaften gehörten zu den Modernisierungsverlierern. In den 1970er Jahren brach ihre Welt zusammen. Mehr als dreißig Jahre lang litten sie unter den Nachwirkungen der Geschehnisse jenes Jahrzehnts, in welchem mit dem Zerfall des sozialmoralischen Milieus ihr Fundament zerbröckelte und sich die Wirtschafts- und Arbeitswelt zulasten ihrer Organisationskultur und Rekrutierungsroutinen wandelte. Vermutlich werden einige Gewerkschafter verstimmt gewesen sein, dass ihnen das Schicksal so übel mitgespielt hatte. Und es war ja auch in der Tat frustrierend: Über einen langen Zeitraum hinweg hatten sich die Gewerkschaften erfolgreich auf einen Kernbereich des Industriezeitalters spezialisiert. In den ersten Jahrzehnten der Bundesrepublik hatte das ja auch ganz gut funktioniert, hatte ihnen sagenhafte Erfolge, politische Macht und öffentliches Ansehen beschert. Doch halbierte sich zwischen 1980 und 1990 in den Stahlhütten und den Bergwerken die Zahl der Arbeitsplätze. Damit schwanden ausgerechnet jene Beschäftigungsstrukturen, auf deren Belange die Gewerkschaftspolitik so zielgenau ausgerichtet war. Der Wirtschaftswandel traf die Gewerkschaften daher äußerst hart und unvorbereitet. Doch die Gewerkschaften trugen keine geringe Mitschuld an ihrem Niedergang. Schließlich hatten sie nachlässig ihren vorübergehenden Erfolg genossen, hatten auf instabile Grundlagen ihrer Existenz vertraut, hatten in Zeiten der Stärke keine alternativen Kraftquellen erschlossen. Und viele Beschäftigte – sofern sie überhaupt noch eine konkrete Einstellung zu Gewerkschaften besaßen – empfanden sie zwischenzeitlich als nutzlos und problematisch; mit ihrem Ruf und ihrem politischen Stellenwert ging es bergab. Der Ruf verschwenderischer Bonzen, inkompetenter Geldvernichter und verkappter Marxisten In der romantischen Erinnerung galten die Gewerkschaften als tapfere Kämpfer für die Entrechteten und Unglückseligen des kapitalistischen Industriezeitalters, als durch und durch tugendhafte Akteure. Viel war von dieser erhabenen Reputation am Ende der 1990er Jahre allerdings nicht mehr übriggeblieben. Einige Er-

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eignisse, die im medialen Schlaglicht gestanden hatten, stellten die Gewerkschaften unter den Verdacht, ihre historischen Wurzeln gekappt, ihre idealistischen Motive vergessen und verraten zu haben. Ausgangspunkt dieses moralischen Fiaskos war der Neue Heimat-Skandal in den 1980er Jahren. Die Neue Heimat war ein Wohnungsunternehmen, das seit Kriegsende dem DGB gehörte. Im Zuge des Wiederaufbaus und von Gewerkschaftskassen, die infolge millionenfacher Mitgliedsbeiträge nur so sprudelten, expandierte diese Firma während der 1950er und 1960er Jahre, machte die beteiligten Gewerkschaften faktisch zu Wirtschaftskonzernen, die als Eigentümer von zeitweise mehr als 300.000 Wohnungen Milliarden-Umsätze erwirtschafteten. Als eine der größten Immobiliengesellschaften Europas hatte sich das gewerkschaftseigene Unternehmen längst von seinem genossenschaftlichen Ursprung entfernt, war seinerseits der kapitalistischen Logik verfallen. Doch die skandalöse Pleite dieses Konzerns, die betriebswirtschaftlicher Inkompetenz und krimineller Selbstbereicherung verantwortlicher Manager geschuldet war, ruinierte den DGB – finanziell wie moralisch.281 Die Folgen für dessen Image in der Bevölkerung dürften verheerend gewesen sein: Was hatten sich die Gewerkschaften dabei nur gedacht? Bestätigte dies nicht die langgehegte Vermutung, in den Vorstandsetagen der Gewerkschaften tummelten sich bloß raffgierige Parvenüs, die statt des Wohles ihrer Klientel lediglich ihr eigenes im Blick hatten? Bewies dieser Vorfall endlich nicht die Dekadenz abgehobener Funktionäre und deren Entfremdung von den einfachen Arbeitnehmern? Peinlichkeiten kamen hinzu. So gipfelte die Angelegenheit in der Verhaftung eines Gewerkschaftsbankmanagers mitten auf einem großen Gewerkschaftskongress vor den Augen der versammelten Delegierten.282 Blitzartig war der DGB, seinem Anspruch nach der politische Vertreter redlicher Arbeitnehmer, in „eines der größten Wirtschaftsstrafverfahren der Nachkriegsgeschichte Deutschlands“283 verwickelt. Zwei Dinge schienen danach festzustehen: Erstens konnte die Causa „Neue Heimat“ als unumstößlicher Beweis für das ökonomische Versagen von Ge-

281 Vgl. dazu insgesamt Kramper, Peter: NEUE HEIMAT. Unternehmenspolitik und Unternehmensentwicklung im gewerkschaftlichen Wohnungs- und Städtebau 19501982, Stuttgart 2008, S. 595-606. 282 Vgl. Hank, Rainer: Auswege aus der Strukturkrise. Die Entwicklung des DGB seit seiner Gründung bis heute, in: Universitas, Jg. 55 (2000) H. 3, S. 241-248, hier S. 244 ff.; o.V.: Der Kongreß explodiert unter dem Druck der Emotionen, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 21.10.1986. 283 Hassel 2003, S. 117; siehe auch o.V.: Nie wieder, in: Der Spiegel, 01.11.1982.

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werkschaftsfunktionären, für deren mangelhaften Sachverstand im Umgang mit großen Kapitalien, gewertet werden. Und zweitens hatten sich hochrangige Gewerkschafter offenbar als Wirtschaftskriminelle versündigt, gesetzeswidrige Geschäfte abgewickelt und sich unter Missbrauch ihrer Stellung auf Kosten gutgläubiger Mitglieder privat bereichert.284 Es folgten weitere Affären von Spitzengewerkschaftern, die diesen problematischen Ruf verfestigten. Dazu gehörte der Rücktritt des IG-Metall-Vorsitzenden Franz Steinkühler im Mai 1993, weil er offenbar seine Aufsichtsratsmitgliedschaft bei der Daimler-Benz AG für Insidergeschäfte genutzt hatte. Auch sein Nachfolger, Klaus Zwickel, trat exakt zehn Jahre später zurück, weil er sich, ebenfalls als Aufsichtsratsmitglied, augenscheinlich völlig übertriebenen Abfindungsprämien für die Manager der Mannesmann AG nicht widersetzt hatte. Damit gaben zwei IG-Metall-Chefs in Folge aufgrund persönlicher Verfehlungen vorzeitig ihr Amt auf. Das Öffentlichkeitsbild aller Gewerkschaften dürfte unter solchen Vorfällen stark gelitten haben: Es waren führende Gewerkschafter, die Vertrauensreserven aufzehrten, das System der Unternehmensmitbestimmung in Misskredit brachten und den Bürgern den Eindruck vermittelten, als seien die Gewerkschaften mit einem korrupten und moralisch verfallenen System rücksichtsloser Wirtschaftsbosse verschmolzen. Solche Skandale, die über die Massenmedien verbreitet werden, führen dazu, Einzelfälle zu verallgemeinern, können also das öffentliche Bild des Gewerkschafters verzerren und Vertrauensreserven aufzehren. Hier rächte sich der Verfall der Organisationsbasis, den Steinkühler und Zwickel selbst betrieben hatten. Denn es gab inzwischen kaum mehr Funktionäre, die mit leidenschaftlichen Gegenargumenten die Meinungsbildung in der Bevölkerung beeinflussten, für Verständnis warben und ihre Organisation gegen die Anwürfe in der öffentlichen Meinung im zwischenmenschlichen Gespräch verteidigten. Die Bürger bezogen ihre Information vorrangig und überwiegend aus den Medien. So verloren die Gewerkschaften an Rückhalt, das ihnen entgegengebrachte Vertrauen schwand zusehends. Freilich begleitete die Gewerkschaften schon immer der Ruch ihres Führungspersonals, ab einem gewissen Stadium der Karriere die Herkunft aus der Arbeiterklasse oder niedrigen Gesellschaftsschichten vergessen zu haben. Nichts daran war neu: Auch schon Ende des 19. Jahrhunderts oder in den 1920er Jahren neigten viele Mitglieder dazu, den besoldeten Gewerkschaftsbeamten als Fremdling zu empfinden, der einst einer von ihnen gewesen war, sich nach dem Wechsel von der Werkstatt oder der Dampfmaschine an den Schreibtisch jedoch einen anderen Lebensstil angeeignet und sich von ihnen distanziert hatte. Der Aufstieg

284 Vgl. z.B. o.V.: Der DGB und die „Katakomben-Firma“, in: Der Spiegel, 26.05.1986.

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im Gewerkschaftsapparat machte sie verdächtig, sich von ihrer Herkunft zu entfremden, die bürgerliche Lebensart zu imitieren, sich womöglich als etwas Besseres aufzuspielen, „Bonzen“ zu sein.285 Insbesondere in Zeiten der ökonomischen Krise kommt, so zeigt es die Geschichte der Arbeiterbewegung, unter der Klientel regelmäßig Misstrauen gegen die Redlichkeit, Integrität und Effizienz des Apparats auf – eine Anti-Bonzen-Stimmung.286 Doch gab es eben damals noch die Bindekraft des Milieus und die regelmäßigen Bemühungen energischer Funktionäre, gegen derlei Unterstellungen anzukämpfen. Als „Bonzen“ konnten auch Steinkühler und Zwickel gesehen werden. Beide waren gelernte Werkzeugmacher, die erst über die Gewerkschaft in neue soziale Gefilde übersiedelten, mit der Zeit statt des einfachen Blaumanns feine Nadelstreifenanzüge trugen, statt eines Kleinwagens in Limousinen umherfuhren und die gerne teure Zigarren zu erlesenem Wein und gutem Essen schmauchten, derweil sie vermutlich in Edelrestaurants logierten, während sich die Angehörigen ihrer Klientel Kippe und Currywurst an der Imbissbude genehmigten. Sie gehörten zu den Toskana-Sozialdemokraten, die im Unterschied zu der asketischen Lebensweise von Kurt Schumacher oder Erich Ollenhauer das Leben in vollen Zügen genießen wollten, die ihr Dasein als Gewerkschaftsführer nutzten, um Geld zu verdienen, Macht auszuüben und im Rampenlicht der Medien zu stehen. Nicht wenige Funktionäre und Arbeitnehmer dürften sich an solchen Extravaganzen gestört haben, wenn z.B. Steinkühler zu Streiks, bei denen es um das Schicksal ganzer Belegschaften ging, im Porsche vorfuhr und seinen Kaschmirmantel überstreifte.287 Rein äußerlich unterschieden sich die Gewerkschaftsbosse nicht mehr von den Arbeitgebern, mit denen sie verhandelten. Die Gewerkschaftselite der 1980er und 1990er Jahre hatte ihren Stallgeruch verloren und augenscheinlich wenig gemein mit legendären Gewerkschaftstribunen wie Otto Brenner, dem „Eisernen“, oder Eugen Loderer, die nicht zuletzt durch ihren vergleichsweise bodenständigen Lebensstil auch noch an der Gewerkschaftsspitze die selbstzugeschriebenen Tugenden wie Zuverlässigkeit, Fleiß und Solidaritätsbewusstsein verkörperten, die geistig noch mehr am Schraubstock schufteten, als dass sie in der Villa residierten. Habitus war der eine Punkt, die Sprache ein anderer, der die soziale Anziehungskraft der IG-Metall-Chefs minderte. Steinkühler (Jahrgang 1937) und Zwickel (Jahrgang 1939), um bei diesen beiden Beispielen zu bleiben, gehörten auch zu jener Gruppe von Gewerkschaftern, die ihrer Organisation zu dem Ruf ver-

285 Siehe dazu bspw. Cassau 1925, S. 125 ff. u. S. 166. 286 Vgl. exemplarisch Klenke/Lilje/Walter 1992, S. 149. 287 Vgl. Hank 2000, S. 246; Hyman 2001, S. 130.

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halfen, vornehmlich aus ideologischen Dogmatikern zu bestehen. Auch Zwickels Nachfolger Jürgen Peters, der von 2003 bis 2007 als Erster Vorsitzender die IG Metall führte, vermittelte den Eindruck, allein politische Hardliner würden die Geschicke der Arbeitnehmervertretungen lenken. Unter ihnen verstand sich die IG Metall durchaus militant als „Gegenmacht“ und „Kampforganisation“,288 die vorgab, gesellschaftlicher „Machtfaktor“289 sein zu müssen. Das war eine reichlich zwiespältige Angelegenheit. Mit solchen Worten traf Steinkühler zwar zumeist präzise die Stimmungslage der Delegierten eines Gewerkschaftstages, konnte auch zuweilen die von Entlassungen bedrohten Arbeitnehmer eines Metallbetriebs kurzzeitig in Rage und Begeisterung versetzen. Doch auf die Sphäre jenseits der Organisation und der Industriefirmen wirkte das alles zweifelhaft und befremdlich. Lebten Gewerkschaften und einige Beschäftigtengruppen vielleicht in einer anderen Welt? Schließlich erweckte Steinkühler bspw. den Eindruck, als ob die juristisch nachvollziehbare Verhaftung eines Funktionärs im Zusammenhang mit dem Neue-Heimat-Skandal ein willkürlicher Akt einer offenbar außer Kontrolle geratenen Staatsgewalt gewesen sei.290 Und erkennbar stolz vermerkten Gewerkschafter bisweilen ihre Leistung, im „härteste[n] Arbeitskampf, der in der Bundesrepublik Deutschland je geführt wurde“291, sich den Unternehmern und deren „Aussperrungsterror“292 gegenüber unbeugsam zur Wehr gesetzt zu haben, während sie anderen Interpretationen zufolge überhöhte Forderungen gestellt oder die Erwartungen der Mitglieder nicht erfüllt hatten.293 Es war nicht schwer, sich auf Gewerkschaftstagen der IG Metall, auf denen unter dem Jubel der Funktionäre in klassenkämpferischem Jargon polemisiert wurde, in ferne Zeiten zurückversetzt zu fühlen, in denen Gewerkschaften noch das gesamte System zugunsten einer sozialistischen Gesellschaftsordnung überwinden wollten. In dieser Organisation konnte jemand wie Steinkühler, der diese Sprache virtuos beherrschte und aus einem passenden Wortschatz schöpfte, zu einer unangefochtenen Auto-

288 Steinkühler zitiert nach o.V.: Die IG Metall will die „Betriebs-Demokratie“ tariflich regeln, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 23.06.1988; Steinkühler, Franz: Gewerkschaften brauchen Macht, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 05.01.1990. 289 Steinkühler zitiert nach o.V.: Die IG Metall will „Machtfaktor“ in der Gesellschaft bleiben, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 06.06.1991. 290 Siehe o.V.: Der Kongreß explodiert unter dem Druck der Emotionen, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 21.10.1986. 291 Riester 1984, S. 526. 292 Ebd., S. 529. 293 Vgl. Jungblut, Michael: Die List der Unvernunft, in: Die Zeit, 06.07.1984.

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rität aufrücken. Auch für Peters war Platz an der Spitze – der in der öffentlichen Meinung als „Betonkopf“294 firmierte und von dem manche behaupteten, er habe in der Gewerkschaftszentrale ein autoritäres Regime errichtet, das dem Nordkoreas ähnele. Obendrein hatte längere Zeit der Verdacht im Raum gestanden, einige Gewerkschaften – insbesondere die IG Metall – seien kommunistisch unterwandert, seien Sammelbecken marxistischer Umtriebe.295 In den 2000er Jahren erreichte das Ansehen der Gewerkschaften in der öffentlichen Meinung schließlich einen Tiefpunkt: Sie galten als notorische Blockierer, die in ihren Forderungen nicht die volkswirtschaftliche Situation berücksichtigen, Trends und Zwänge nicht zur Kenntnis nehmen, überzogene Lohnforderungen stellen und dadurch die ökonomische Gesundheit von Unternehmen gefährden würden; außerdem unterbänden sie die überfällige Konsolidierung des hochverschuldeten Staatshaushalts und würden sich phantasielos gegen jegliche Reform der Sozialversicherung sträuben, seien unfähig, auf ihrem „Kurs der Blockade“296 mit ihren „Blockadeparolen“297 aus ihrer „Blockierer-Ecke“298 herauszukommen.299 Nicht allein Journalisten, auch die Bürger sahen Umfragen zufolge in den Gewerkschaften vorwiegend gestrig denkende Organisationen, die notwendigen Wandel schlichtweg verhinderten.300 Selbst ein hochrangiger Gewerkschafter, der IG-BCE-Vorsitzende Hubertus Schmoldt, sprach von Schwachstellen der Gewerkschaftspolitik, kritisierte eine „gewerkschaftliche Strategie […] die vor allem auf Verweigerung und Blockieren setzt“, davon, dass eine „Reformpolitik zu Beginn des 21. Jahrhunderts […] unter anderen Vorzeichen [steht] als etwa zu

294 Bspw. Bruder, Angelika: Ein Etappensieg für die Modernisierer, in: GeneralAnzeiger (Bonn), 15.07.2003. 295 Siehe z.B. Vetter, Ernst Günter: Auf dem Weg zur Selbstzerstörung, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 08.07.1989. 296 Schiltz, Christoph B.: Die Gewerkschaften müssen endlich aufwachen!, in: Die Welt, 23.05.2003. 297 Leicht, Robert: Berliner Machtprobe, in: Die Zeit, 10.04.2003. 298 Viering, Jonas: Heldenpose ist zu wenig, in: Süddeutsche Zeitung, 03.04.2003. 299 Siehe dazu insgesamt z.B. Gillies, Peter: Klassenkampfrhetorik, in: Die Welt, 28.12.2001; Höning, Antje: Märchenonkel, in: Rheinische Post, 14.05.2002; dies.: Die Bremser, in: Rheinische Post, 10.04.2002; Balschun, P.-M.: DGB-Protest: Der Chor der Neinsager, in: Frankfurter Neue Presse, 01.04.2003; Hammerstein, Konstantin v./Tietz, Janko: Trotzig wie ein Kind, in: Der Spiegel, 29.05.2006. 300 Vgl. Ner Cessian, Marie-Thérèse: Aderlass bei Gewerkschaften, in: Berliner Morgenpost, 25.09.2003.

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Beginn der siebziger Jahre“ – was man „nicht ignorieren“ könne, genauso wenig wie man „der Wirklichkeit nicht entfliehen“ könne; überdies sei die Forderung nach einer Vermögensteuer „im besten Fall schlichter Populismus“, die „Politik mit verbaler Brachialgewalt produziert nur Verlierer“, die „Kraftmeierei im öffentlichen Auftritt“ bleibe „ohne konkrete Ergebnisse“.301 Kurz gesagt stand es um öffentliches Renommee und Prestige der deutschen Gewerkschaften seit den 1970er Jahren nicht gerade gut. Der Ruf von selbstbezogenen Produktionspredigern und nutzloser Schutzmacht Schon mit dem Image korrumpierter Bonzen und vorgestriger Klassenkämpfer hatten es die Gewerkschaften nicht gerade leicht. Doch im nachindustriellen Zeitalter, in dem Dienstleistungen und digitale Arbeit mit der Bedeutung industrieller Produktion gleichzogen und überdies ein fortschrittsskeptisches Umweltbewusstsein aufkam, das ökologische Katastrophen wie die Explosion des sowjetischen Kernkraftwerks bei Tschernobyl bestätigten und verstärkten, präsentierten sich einige Gewerkschaften als unverbesserliche Umweltsünder. Irgendwie schienen sie stets die Entstehung neuer Arbeitsplätze der Bewahrung der Natur vorzuziehen. War ihr Blick also womöglich nicht viel zu sehr auf die Gegenwart gerichtet, statt auch die Zukunft zu berücksichtigen? Organisationen wie die IG Metall und IG Chemie-Papier-Keramik ließen zumindest diesen Eindruck aufkommen. Stets plädierten sie rücksichtslos für solche Technologien, die ihrer Klientel ungeachtet der Risiken für Flora und Fauna neue Beschäftigungsmöglichkeiten verhießen.302 Sie gaben also kurzfristigen Erwägungen den Vorzug gegenüber langfristiger Vorausschau, schienen zugunsten der Gegenwart auf Kosten der Zukunft zu handeln. Und selbst die IG BAU, die noch am frühesten Interesse an einer Ökologiewende bezeigt hatte, setzte sich vermutlich nicht ohne den Blick auf den Nutzen für ihre Mitglieder für den Bau von Solaranlagen und umweltfreundlichen Kraftwerken ein. Es waren Gewerkschaften, welche die „für die öffentliche Meinung wohl nachhaltigste Frontstellung gegenüber der Bürgerinitiativ- und Anti-Atomkraftbewegung be-

301 Schmoldt zitiert nach „Wir müssen uns dem Neuen stellen“, in: Die Welt 06.08.2004. 302 Vgl. Hoffmann, Jürgen: Sozialökologischer Umbau und Gewerkschaften, in: Gewerkschaftliche Monatshefte, H. 2/1996, S. 111-119; Wiesehügel, Klaus: Sozialökologische Wende als Teil gewerkschaftlicher Reformstrategie, in: Gewerkschaftliche Monatshefte, H. 3/1996, S. 150-158, hier S. 152.

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zogen“303. Die Positionen bspw. der ÖTV waren unklar, mehrdeutig und wirkten auf diese Weise scheinheilig, da sie einen unmöglichen Spagat versuchten – auf der einen Seite wollte man keine lebensbedrohliche Technologie unterstützen, auf der anderen aber auch nicht 36.000 Arbeitsplätze gefährden.304 Außerdem unterlief einigen Gewerkschaften der Fehler, in einer pazifistischen Kontroverse materielle Argumente anzuführen: So kritisierten sie zwar zu Beginn der 1980er Jahre die expandierende Rüstungsproduktion der Kalten Krieger – jedoch mit der Begründung, die Teilnahme am Rüstungswettlauf enthalte den sozialstaatlichen Kassen dringend benötigte Gelder vor.305 Damit aber gewannen sie weder die pazifistisch gesinnten Teile der Bevölkerung noch jene, die militärischen Schutz vor dem sowjetischen Ostblock suchten. Während sich die Gewerkschaften als Anlaufstationen für ökologischen und pazifistischen Protest augenscheinlich disqualifizierten, fanden viele Bürger in den Neuen Sozialen Bewegungen eine alternative Adresse. Schädlich auf das öffentliche Ansehen der Gewerkschaften wirkte sich noch eine weitere Sache aus. Häufig erweckten Gewerkschaften den Anschein von Organisationen, die sich statt der Probleme ihrer Klientel anzunehmen, lieber mit sich selbst beschäftigten, indem sie interne Machtkämpfe austrugen. Allerorten, ob im DGB oder der IG Metall, ließen sich persönliche Konflikte beobachten, die ganz offenbar die politische Leistungsfähigkeit beeinträchtigten. Wochenund monatelange Personalquerelen wie etwa bei der Nachfolge Dieter Schultes an der DGB-Spitze zu Beginn der 2000er Jahre oder der Konkurrenzkampf zwischen Berthold Huber und Jürgen Peters um den IG Metall-Vorsitz 2003 gehörten dazu.306 Selbst einige Mitglieder empörten sich über den unzumutbaren Zustand von „egoistischen Machtkämpfen in der Führungsspitze“, welche die „Zukunft unserer Gewerkschaft […] blockiert[en]“307.

303 Brand, Karl-Werner/Büsser, Detlef/Rucht, Dieter: Aufbruch in eine andere Gesellschaft. Neue soziale Bewegungen in der Bundesrepublik, Frankfurt am Main/New York 1984, S. 98. 304 Vgl. Meiners, Kay: Der vertagte Konflikt, in: Mitbestimmung, H. 7/2005, S. 30-33; Mohr 2001, S. 377 f. 305 Siehe Bäcker, Gerhard/Bispinck, Reinhard: Sozialabbau und Aufrüstung, in: WSIMitteilungen, Jg. 37 (1984) H. 5, S. 260-269; Klaus, Horst: Gewerkschaftliche Friedensarbeit, in: WSI-Mitteilungen, Jg. 37 (1984) H. 5, S. 254-260. 306 Siehe o.V.: Die mit dem Kanzler tanzen, in: Berliner Zeitung, 11.12.2001; Schade, Oliver: Machtkampf bei der IG Metall, in: Hamburger Abendblatt, 05.04.2003. 307 Zitiert nach o.V.: Der Kanzler kritisiert Führungskrise der IG Metall, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 12.07.2003.

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Seit den 1980er Jahren schien in der IG Metall ein lähmender Gegensatz von Reformern und Traditionalisten, Gemäßigten und Radikalen zu toben – und kein Ende zu nehmen. Auf solche Vorgänge freuten sich freilich die Journalisten, lieferte ihnen diese innere Zerstrittenheit doch genügend Stoff für Kommentare und Berichte, in denen die sensationsreichen Meinungsverschiedenheiten und Feindseligkeiten führender Funktionäre dargestellt werden konnten. Für die Medien und ihr Publikum mochte das interessant gewesen sein; doch das Image der Gewerkschaften litt unter solchen Streitereien enorm – zumal ihnen kaum tarifoder arbeitspolitische Erfolge entgegengehalten werden konnten. Ihre Funktionäre erweckten den Eindruck von egoistischen Gewerkschaftsbossen, die vorwiegend nach Macht streben, weniger hingegen das gesellschaftliche Allgemeinwohl im Blick haben.308 In wichtigen Fragen gingen ihre Meinungen weit auseinander und mündeten in endlose Uneinigkeit. So beharkten sich z.B. Jürgen Peters und Frank Bsirske auf der einen Seite mit Hubertus Schmoldt auf der anderen in der Frage, wie aggressiv oder wohlgesonnen die Gewerkschaften mit der Regierung umgehen sollten.309 Dieser Streit währte jahrelang, als ob die führenden Gewerkschafter nichts Dringenderes zu klären hätten. Und 2003 galt die IG Metall infolge des Konflikts um die Nachfolge Zwickels als faktisch lahmgelegt, dermaßen schwach, dass sich offenbar bereits der Arbeitgeberverband Sorgen um den Zustand seines Verhandlungspartners machte. Im Vorstand würden sich zwei verfeindete Lager in unversöhnlicher Härte mit Positionspapieren bekämpfen und nur noch mit persönlichen Konflikten statt mit dem Schicksal ihrer Organisation beschäftigen. Journalisten sprachen von „Paranoikern“, denen „nur ein Psychiater helfen“ könne;310 sogar die Rückkehr von Steinkühler, der 1993 wegen eines angeblichen Insiderge-

308 Vgl. Gesterkamp, Thomas: Journalistensport Gewerkschaftsschelte, in: Gewerkschaftliche Monatshefte, H. 1/2004, S. 47-52; Ihle, Holger/Lamprecht, Annette/ Lorenz, Daniel: Kämpfer, Widerborste, Funktionäre, in: Mitbestimmung, H. 12/2005, S. 10-14. 309 Siehe Sievers, Markus: Gewerkschaft contra Gewerkschaft, in: Frankfurter Rundschau, 28.07.2006; Rademaker, Maike: Die große Lähmung, in: Financial Times Deutschland, 29.05.2008; o.V.: Gewerkschaften streiten über Reformen, in: Hamburger Abendblatt, 07.08.2004; o.V.: Streit unter Gewerkschaftern, in: Die Welt, 28.12.1999. 310 Frese, Alfons: Verbissen, verbohrt, verloren, in: Der Tagesspiegel, 10.07.2003; siehe auch Sauga, Michael: Die Selbst-Demontage, in: Der Spiegel, 07.07.2003; Schiermeyer, Matthias: „Man kann hervorragend agitieren“, in: Stuttgarter Zeitung, 16.07.2003.

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schäfts an der Börse zurückgetreten war, schien möglich. Zumindest konnten sich die Arbeitnehmer bei all diesen Einzelfällen inneren Widerstreits fragen – zumal vor dem Hintergrund einer auf Konflikte fokussierten Presseberichterstattung, die das politische Handeln der Gewerkschafter oft genug verzerrt darstellte –, ob sich die Gewerkschaften eigentlich noch zuvorderst um die Lösung ihrer Probleme kümmerten oder nur noch mit sich selbst stritten, sich vor dem Hintergrund steigender Arbeitslosigkeit und sinkender Kaufkraft der Löhne und Gehälter offenkundig lieber Karriere- und Machtkämpfe lieferten. Durch all das – die moralischen Skandale, dem Anschein von politischer Radikalität, umweltschädlicher Politik und endloser Selbstbezogenheit – büßten die Gewerkschaften während der 1970er, 1980er und auch 1990er und 2000er Jahre beträchtlich an Attraktivität ein. Ihre Mitgliederzahlen begannen unweigerlich zu sinken und ihr Bezug zur Sozialstruktur des Arbeitsmarkts wurde schwächer. Als Mitglied konnte man sich nicht sicher sein, ob die Funktionäre in der Zentrale nicht Schindluder mit den Beiträgen trieben und ob sie sich angesichts ihres eigenen Aufstiegs noch in die Lage eines Facharbeiters hineinversetzen konnten. Friedens- und Umweltbewegte mussten die Gewerkschaften mehr als Gegner denn als Verbündete betrachten und fanden woanders neue Orte, an denen sie sich engagieren und politische Zuflucht finden konnten. Zu allem Überdruss kam noch der Umstand hinzu, dass die Gewerkschaften zunehmend die materiellen Erwartungen ihrer Klientel enttäuschten, somit keine Gegenleistung für ihre anderweitigen Verfehlungen und Schwächen boten. Sie brachten immer weniger Gehalts- und Lohnzuwächse, sorgten immer weniger für die Sicherheit und den Komfort von Arbeitsplätzen. Und auch hier machte sich neuerlich die Abwesenheit des alten Funktionärsnetzes an der Basis bemerkbar. Denn als die Leistungen der gewerkschaftlichen Politik unsichtbar geworden waren oder sogar nachgelassen hatten, gab es niemanden mehr, der die dennoch vorhandenen Vorzüge einer Mitgliedschaft erläuterte oder offenkundiges Versagen entschuldigte. Längst galt folgende Formel: „Zustimmung muss bar bezahlt werden, wenn gemeinschaftsorientierte Zustimmungsmotivationen fehlen.“311 Und das vermochten die meisten Gewerkschaften nicht mehr zu leisten. Zur Verschlechterung des Ansehens der Gewerkschaften gehörte ferner, dass sich die Menschen von ihnen keinen Nutzen mehr erhofften. Noch in Hochzeiten der Großorganisationen kündigte sich das an. Der Kernbestandteil ihres ur-

311 Im Kontext von Staat und Regierungspolitik Kielmansegg, Peter Graf: Demokratieprinzip und Regierbarkeit, in: Hennis, Wilhelm/Kielmansegg, Peter Graf/Matz, Ulrich (Hg.): Regierbarkeit. Studien zu ihrer Problematisierung, Bd. I, Stuttgart 1977, S. 118-133, hier S. 125.

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sprünglichen Angebots wurde im Verlauf der Zeit wertlos. Im Kaiserreich und der Weimarer Republik sorgten die Arbeiterorganisationen noch für eine attraktive Freizeitinfrastruktur.312 Das botanische Schaffen im Kleingartenverein bot Ausgleich zur anstrengenden Maschinenarbeit. Kinder minderbemittelter Familien bekamen im Verein zu essen. In Vereinshäusern ließen sich in geselligen Zusammenkünften Halt finden, Spaß haben und Kontakte knüpfen. Auch Gewerkschaften wirkten daran mit, gemeinschaftlichen Zusammenhalt und sinnvolle Freizeit zu organisieren. Dadurch profitierten sie vom sozialdemokratischen Organisationsmilieu. Das Zentrum dieses sozialdemokratischen Milieus waren sogenannte „Volkshäuser“. Sie waren ein bedeutendes Instrument der sozialdemokratisch gesinnten Arbeiterschaft in ihrem Vorhaben, sich von der ihnen ablehnend begegnenden Mehrheitsgesellschaft zu emanzipieren. Technisch gesehen handelte es sich zunächst ganz einfach um ein Gebäude, dessen Eigentümer eine sozialdemokratische Organisation – treuhänderisch durch einige leidenschaftliche Funktionäre vertreten – war. Volkshäuser waren Orte der solidarischen Zusammenkunft und Sammlung, gleichsam die Hauptquartiere des örtlichen Milieus.313 Ein Sammelsurium von Milieuorganisationen war in ihnen untergebracht: der ArbeiterBildungs-Ausschuß, die Freidenker, Arbeiter-Chöre, vom Arbeiter-Samariterüber den Arbeiter-Radio- bis hin zum Arbeiter-Mandolinisten-Bund; nicht zuletzt natürlich auch die örtlichen Zentralen von SPD und Gewerkschaften. Dort saßen Beratungsstellen wie etwa die Auskunft der Volkswohlfahrt oder das Streik-Büro. Das machte Volkshäuser innerhalb des Milieus zu hochfrequentierten Anlaufstellen. Dort suchten und fanden die Menschen Rat, Zuflucht, aber auch Vergnügen und Geselligkeit. Denn in der Regel richteten die vielzähligen Milieuorganisationen ihre Veranstaltungen im Volkshaus aus, in dem man auch die Arbeiterfesttage beging und die überdies oftmals Standort der Volksbibliotheken waren. Es gab dort Tanzabende, Theateraufführungen, Chorkonzerte, Skatturniere, Filmvorführungen oder Diavorträge – das Spektrum war groß. Und gelegentlich zogen Parteitage und Konferenzen in manches Volkshaus für einige Tage auch Sozialdemokraten aus dem gesamten Reichsgebiet.

312 Vgl. Adam, Thomas: Arbeitermilieu und Arbeiterbewegung in Leipzig 1871-1933, Köln/Weimar/Wien 1999, S. 116 ff. u. S. 225 ff. 313 Vgl. dazu im Folgenden insgesamt Brunner, Detlev et al.: Sozialdemokratische Partei und sozialdemokratisches Vereinswesen. SPD – Arbeitersport – Volkshäuser. Gutachten für die Sozialdemokratische Partei Deutschlands, Marburg 1995, S. 4960; Hopfgarten, Heinz: Volkshäuser in der Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung, Leipzig 1965.

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Die Menschen suchten das Volkshaus also als Zufluchtsstätte vor einer feindseligen Gesellschaft, als universelle Beratungsagentur für Probleme des Alltags auf, oder um im Kollektiv lautschallender Kehlen die „Internationale“ zu singen, den „Panzerkreuzer Potemkin“ anzusehen oder die „Dreigroschenoper“ zu hören. Auch waren dort Bier und Wurst günstig zu bekommen. Im Gegenzug konnten dort die politischen Organisationen, die Partei und die Gewerkschaften, ihre Klientel auf politische Positionen einschwören und sie für Streiks und Demonstrationszüge zusammentrommeln. Die Häuser boten Raum für Kundgebungen prominenter Funktionäre und Aktivisten, waren Schauplatz der Arbeiterbildung und Arbeiterkultur. In ihnen planten und berieten zudem die Organisationsleitungen über Aktionen und Strategien, was den Volkshäusern aus der Sicht der übrigen Bürger zumeist eine verschwörerisch-geheimnisvolle Aura verlieh. Viele Volkshäuser entstanden zwischen 1905 und dem Ersten Weltkrieg, ihre Zahl wuchs rasch: 1901 existierten elf, 1913 83, 1920 91 und 1929 184. In ihnen manifestierten sich Expansion und Professionalisierung des sozialdemokratischen Milieus. Denn letztlich wurden sie auch gebaut, um das wachsende Ausmaß von Administrationspersonal und Aktenbeständen der seinerzeit blühenden Mitgliederorganisationen unterzubringen. Aber ganz generell dienten sie der Emanzipation von einem skeptischen bis feindseligen Umfeld. So wollten sich die Organisationen mit autonomen Räumen, über die sie frei verfügen konnten, von der Willkür der Gastwirte befreien. Diesen drohte häufig das „Militärverbot“ – das viele Kneipiers kurzerhand einer lukrativen Einnahmequelle, der Bewirtung von Soldaten, beraubt und den wirtschaftlichen Ruin bedeutet hätte –, wenn sie sozialdemokratische Veranstaltungen ausrichteten. Bisweilen sorgte das für aufsehenerregende Querelen: Zeitweise boykottierten z.B. Leipziger Sozialdemokraten 1903 die ortsansässigen Brauereien, um im sogenannten „Bierkrieg“ die Gastwirte zur Bereitstellung von Versammlungsräumen zu zwingen.314 Mit eigenen Gebäuden konnten die Sozialdemokraten jedoch den behördlichen Schikanen und bürgerlichen Vorbehalten entgehen.315 Volkshäuser waren daher „proletarische Inseln inmitten einer im ganzen politisch und ideologisch feindlichen Umwelt und für die Arbeiter faktisch einziger Ort für eine sinnvolle Freizeitgestaltung umfassender Art“316.

314 Vgl. Hentschel, Max (Bearb.): Trotz alledem! Das Volkshaus Leipzig im Wandel der Zeit, Leipzig 1929, S. 20 ff. 315 Vgl. Brunner et al. 1995, S. 48 f.; Hentschel (Bearb.) 1929, S. 20 f. 316 Hopfgarten 1965, S. 26.

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Eines der imposantesten Volkshäuser (das „Heiligtum der Leipziger Arbeiterschaft“317) dürfte das 1906 fertiggestellte Leipziger gewesen sein. Die Leipziger Arbeiterschaft war stark und brachte für Grundstückskauf und Bau des fünfstöckigen Gebäudes mit Sandsteinfassade und Kolonnade (inklusive Lokal und Herberge) die seinerzeit ungeheuerliche Summe von 120.000 Mark auf; auf der über 5700 Quadratmeter messenden Fläche investierten die Sozialdemokraten dann sogar 560.000 Mark – vierzig Gesellschafter hatten sich herzu in einer eigens gegründeten Volkshaus GmbH zusammengeschlossen, darunter 15 Gewerkschaften mit fast 16.000 Mitgliedern sowie der sozialdemokratische Verlag der Leipziger Volkszeitung.318 Der 1909/10 hinzugefügte riesige „Gesellschaftssaal“ verschlang noch einmal weitere 430.000 Mark. Das Leipziger Volkshaus besaß einen florierenden Hotel- und Gastronomiebetrieb, in dem 1909 über vierzig Fest- und fünfzig Aushilfsbeschäftigte arbeiteten. Um sich in einer kapitalistischen Gesellschaft notgedrungen eigene Kapitalmacht zu verschaffen, gründete es 1924 eine eigene Sparkasse, die bspw. 1928 mehr als 2100 Konten verwaltete.319 In der zweiten Hälfte der 1920er Jahre stand das Leipziger Volkshaus in seinem Zenit: Es beherbergte die Büros zahlreicher sozialdemokratischer Organisationen – darunter die lokalen Gewerkschaftsverwaltungen, die Kinderfreunde, Arbeitersportler, das Arbeiter-Bildungsinstitut, die Freidenker, die Volksfürsorge, das Reichsbanner –, ferner waren in dem Gebäude zu finden: eine Rechtsauskunftstelle, eine Mieterberatung, einige Konferenzzimmer, ein großer Festsaal, ein Restaurant und ein Café, eine Bayrische Bierstube, eine Fleischerei, eine Konditorei, eine Wäscherei, ein Hotel mit sechzig Betten sowie ein ausgedehnter Garten mitsamt Kinderspielplatz.320 Kurzum: Volkshäuser waren nicht nur stolze Trutzburgen, in denen Kraft und Lebendigkeit des Milieus und seiner Organisationen architektonisch zum Ausdruck kamen. Vielmehr boten sie für eine Vielzahl von Angehörigen der Arbeiterschaft eine ungemein attraktive und nützliche Infrastruktur, über die ansonsten unzugängliche Dienstleistungen und Produkte erhältlich waren. Dazu zählten Bildung, Kultur, juristischer Beistand im Dickicht der Bürokratie und vermutlich auch immer ein wenig Seelsorge. Und so ist es auch kein Wunder, dass die Ära der Volkshäuser zu Ende ging, nach dem Zweiten Weltkrieg und der NS-Diktatur, zumindest in Westdeutschland, nicht wieder auflebte. Denn in zunehmendem Ausmaß bekamen die Menschen all diese Vorzüge auch ohne das

317 Hentschel (Bearb.) 1929, S. 47. 318 Siehe hierzu Hentschel (Bearb.) 1929. 319 Vgl. ebd., S. 76. 320 Vgl. ebd., S. 64 f.

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sozialdemokratische Milieu oder benötigten sie angesichts verbesserter Lebensumstände nicht mehr. Sie gingen ins Kino oder unterhielten sich zuhause via TV und Radio, trugen keine Uniform mehr wie einst im Reichsbanner und besaßen schon bald eine eigene Waschmaschine. Andersherum: Sie brauchten das Volkshaus nicht mehr, um günstig zu übernachten, zu speisen, zu waschen, zu lesen, zu feiern oder Geld anzulegen. Auch das war Individualisierung: Spätestens in den 1970er Jahren hatten sich die Bundesbürger so weit entwickelt, dass große Organisationen für ihre Freizeit und ihren Alltag überflüssig geworden waren. Denn bereits in den 1950er und 1960er Jahren überboten die Qualität der öffentlichen Infrastruktur und das Ausmaß privater Konsumkraft den Stellenwert gewerkschaftlicher Freizeitangebote: Freibäder und Partykeller traten an die Stelle von Wanderungen und Heimabenden.321 Zur Zeit der Volkshäuser besaßen Gewerkschaften folglich einen enormen Stellenwert für die Alltagswelt vieler Arbeitnehmer und deren Familien. Heute hingegen brauchen die Menschen die Gewerkschaften für ihre Freizeitgestaltung ungefähr so sehr wie Internet-Cafés für den täglichen E-Mail-Check. Unzählige Dienstleistungen und Funktionen, die Gewerkschaften noch z.T. bis in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts bereitstellten, werden inzwischen nicht mehr benötigt, da sie anderweitig verfügbar sind. Denn entweder wurden sie – wie z.B. Kranken-, Invaliden- oder Arbeitslosenversicherung – verstaatlicht oder wie Theater, Kino und Reisen privatisiert. Distanzüberbrückende Technologien wie z.B. Telekommunikation oder motorisierte Mobilität machten die informelle Milieustruktur – zumindest in den Zeiten des anhaltenden Wohlstandszuwachses – überflüssig.322 Was den Gewerkschaften seither fehlt, ist ein Äquivalent zum Volkshaus, irgendeine Funktion, die sie im Leben der Menschen präsent macht. Es waren daher gar nicht die menschlichen Bedürfnisse, die sich grundlegend veränderten und die Gewerkschaften in vielem überflüssig machten. Das Verlangen nach sinnerfüllender Freizeitgestaltung oder das Interesse an materieller Sicherheit blieben im Prinzip unverändert bestehen. Nur gelingt dies den Menschen heutzutage außergewerkschaftlich – nachdem sie ihren Status als soziale Underdogs überwunden hatten und nicht mehr unter politischer Repression und

321 Vgl. Jaide, Walter: Generationen eines Jahrhunderts. Wechsel der Jugendgenerationen im Jahrhunderttrend. Zur Sozialgeschichte der Jugend in Deutschland 18711985, Opladen 1988, S. 157 f. 322 Vgl. dazu Häußermann, Hartmut/Petrowsky, Werner: Die Bedeutung des Telefons für Arbeitslose, in: Forschungsgruppe Telefonkommunikation (Hg.): Telefon und Gesellschaft. Beiträge zu einer Soziologie der Telefonkommunikation, Berlin 1989, S. 116-134, hier S. 119 ff.

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gesellschaftlicher Diskriminierung litten, brauchten sie die solidaritäts-, sinnund infrastrukturspendenden Verbände, die kollektive Solidarität in einer auch räumlich gelebten Gemeinschaft nicht mehr. Wie gesagt, litten Gewerkschaften etappenweise unter der (z.B. in den 1950er Jahren exponentiell) stark steigenden Fähigkeit eines Großteils der Bürger, sich ihre Interessen anderweitig, über den freien Markt und damit jenseits der mit Selbsthilfecharakter versehenen Arbeitermilieukultur zu befriedigen. Und dabei waren es ausgerechnet die Gewerkschaften selbst, die durch ihre erfolgreiche Arbeits- und Tarifpolitik maßgeblich an dieser Befähigung mitgewirkt hatten – zynisch formuliert, entzogen sich die Gewerkschaften wenigstens teilweise ihre eigene Organisationsgrundlage. Ferner führten Gewerkschaften im 19. Jahrhundert solidarisch finanzierte Versicherungskassen, mit denen sich ihre Mitglieder mangels einer staatlichen Einrichtung vor dem vorübergehenden oder dauerhaften Verlust ihrer Arbeitskraft durch Krankheit oder Invalidität schützen konnten. Gewerkschaften waren es auch, die für einen verbesserten Arbeitsschutz eintraten. Durch ihr Einschreiten wurden die Fabrikhallen mit der Zeit sicherer, sank das Risiko, in einer Maschine den Arm zu verlieren, atmeten die Arbeiter weniger giftige Substanzen ein. All jene Arbeiter, die mit viel Schweiß und Muskelkraft zu schuften hatten, profitierten mit der Zeit von der Gewerkschaftspolitik. Der Nutzen von Gewerkschaften war vermutlich am größten und spürbarsten, als kinderreiche Arbeiterfamilien in materieller Not und beengten Unterkünften hausten, für Angehörige der Arbeiterschichten kaum Chancen bestanden, den herkunftsbedingten Gegebenheiten ihres Lebens zu entfliehen, als es eben noch keine gesetzlich vorgeschriebene Sozialversicherung gab und Wohlstand noch ein Privileg der Wenigen war.323 Im Grunde galt das bis in die 1950er Jahre hinein. Doch Bismarck und Adenauer entzogen den Gewerkschaften auf Dauer deren Fundament. Die Ende des 19. Jahrhunderts eingeführte Sozialversicherung und deren Ausbau in den 1920er und seit den 1950er Jahren sowie das Aufkommen des Konsumzeitalters schadeten den Gewerkschaften. Nun war vieles ohne sie möglich, ihr alltäglicher Gebrauchswert ging drastisch zurück. Die Menschen fanden andernorts Geselligkeit – in ihren Wohnzimmern vor dem Fernseher oder bei Ausflügen mit dem Auto. Reisen war keine exklusive Angelegenheit mehr, sondern gehörte zum Lebensstandard. Unfall-, Kranken-, Renten-, Arbeitslosigkeits- und später auch noch die Pflegeversicherung machten die gewerkschaftlichen Hilfskassen überflüssig. Bei Ärger im Betrieb konnte man

323 Vgl. dazu Briefs, Goetz: Gewerkschaftswesen und Gewerkschaftspolitik, in: Elster, Ludwig/Weber, Adolf/Wieser, Friedrich (Hg.): Handwörterbuch der Staatswissenschaften, Jena 1927, S. 1108-1150, hier S. 1121; Mooser 1984, S. 143.

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sich an den Betriebsrat wenden, der seine Unterstützung nicht von einem Beitritt in die Gewerkschaft abhängig machte. Ein anderer Grund, weswegen Menschen Gewerkschaften beitreten, besteht in deren Schutzversprechen. Immer dann, wenn Gewerkschaften mächtig und einflussreich erschienen, die Menschen ihnen politische Verhandlungsstärke zuschrieben, strömten ihnen die Arbeitnehmer in Massen zu.324 Zu einem gewichtigen Teil hingen die Mitgliederzahlen von dem Grad politischer Macht ab, den die Menschen den Gewerkschaften gerade zuschrieben. Das ließ sich in der Geschichte mehrfach beobachten: Nach dem Ersten Weltkrieg und dem endgültigen Zusammenbruch der monarchischen Herrschaftsform öffneten sich für Gewerkschafter politische Ämter und Positionen, bestand sogar kurzzeitig die Aussicht auf eine sozialistische Gesellschaftsform.325 Selbst solche Arbeiter, Angestellte und Beamte, die den Gewerkschaften bis dahin keineswegs nahegestanden hatten, traten ihnen nun bei. Ähnliches geschah nach dem Zweiten Weltkrieg: Die Angehörigen der zerrütteten deutschen Nachkriegsgesellschaft spekulierten auf zukünftig starke und einflussreiche Gewerkschaften.326 In den 1960er und 1970er Jahren entschlossen sich sodann viele Beschäftigte der Montan- und Metallindustrie zu einem Gewerkschaftsbeitritt, weil sie infolge der sozialdemokratischen Regierungsbeteiligung einen Machtzuwachs des DGB und seiner Mitgliedsorganisationen erwarteten. Und als sie Angst vor Rationalisierungsvorhaben der Manager und leeren Auftragsbüchern hatten, suchten sie abermals bei den Gewerkschaften Zuflucht, von denen sie sich Sicherheit und Zuversicht versprachen.327 Auch im Zuge der deutschen Wiedervereinigung traten Millionen von Ostdeutschen den westdeutschen Gewerkschaften bei. An sie richteten sie – nicht zuletzt im Zusammenhang mit dem Kohl’schen Versprechen auf „blühende Landschaften“ – die Erwartung an eine bessere Zukunft, suchten Orientierung, Rechtsschutz und Beratung.328 Ähnliches galt für die befristet und zu niedrigem

324 Vgl. Armingeon: Die Entwicklung 1988, S. 98-103 u. S. 135 f. 325 Vgl. Wehler, Hans-Ulrich: Deutsche Gesellschaftsgeschichte. Vierter Band. Vom Beginn des Ersten Weltkriegs bis zur Gründung der beiden deutschen Staaten 19141949, München 2003, S. 377. 326 Vgl. Mooser 1984, S. 206. 327 Vgl. ebd., S. 213; Treu 1978, S. 427-431. 328 Vgl. Meise 2010: Gewerkschaftspraxis, S. 222 f.; Schmidt, Dieter: Ostdeutschland: Gewerkschaften ohne Solidaritäts-Kultur, in: Gewerkschaftliche Monatshefte, H. 9/1995, S. 559-565; Weinert, Rainer: Der Zusammenbruch des Freien Deutschen Gewerkschaftsbundes: Zunehmender Entscheidungsdruck, institutionalisierte Handlungsschwächung und Zerfall der hierarchischen Organisationsstruktur, in: Berliner

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Lohn beschäftigten Teilzeit- und Leiharbeiter. Auch sie ließen sich von einer Mitgliedschaft überzeugen, sobald sie einen handfesten Nutzen ausmachten.329 Oft stiegen die Mitgliederzahlen zu Beginn einer von der SPD geführten Regierung und sanken in den Regierungsjahren der bürgerlichen Parteien.330 Entscheidend war die Zuschreibung von Macht durch die Beschäftigten, der Glaube an die Durchsetzungsfähigkeit der Organisation die Vermutung einer starken Einbindung in den politischen Prozess.331 Wie gesagt, am augenfälligsten zeigte sich dieser Zusammenhang anhand des ungewissen Ausgangs gesellschaftlicher Umbruchphasen. Natürlich hatte dieser Effekt auch eine Kehrseite. Denn allzu oft enttäuschten die Gewerkschaften die – freilich teils übertriebenen – Erwartungen, die ihre Neumitglieder in sie gesetzt hatten. Zumeist fielen ihre politische Macht und ihr gesellschaftlicher Einfluss weitaus geringer als vermutet aus, waren sie nicht in der Lage, den Schutzbedürfnissen und dem Aufstiegsverlangen ihrer Klientel zufriedenstellend nachzukommen. Und nicht selten hatten sie selbst zu der völlig übertriebenen Erwartungshaltung beigetragen, eine Bringschuld auf sich genommen, die sie am Ende gar nicht erfüllen konnten.332 Mit Vollbeschäftigung, Arbeitszeitverkürzung bei vollem Lohnausgleich, der blitzartigen Angleichung der Wirtschaftsverhältnisse von Ost und West oder dem Kampf gegen prekäre Beschäftigungsverhältnisse setzten sie sich eine ganze Reihe von unrealistischen Zielen, deren Scheitern angesichts der ökonomischen Entwicklung nahezu vorprogrammiert war. Den Reden und Statements der Gewerkschaftselite ließen sich häufig vollmundige Ankündigungen und Versprechen entnehmen, die nicht eingehalten wurden, die ganz oft im auffälligen Widerspruch zur Realität von Gehaltskürzungen und Betriebsschließungen standen. Das war vor allem im Osten Deutschlands nach der Wiedervereinigung der Fall. Dort folgten die zutraulichen Beschäftigten einige Zeitlang erwartungsfroh den Streikaufrufen und Solidaritätsappellen der Gewerkschaften. Doch nachdem sie die Resultate der gewerkschaftlichen Verhandlungen mit ihrem selbstempfundenen Einsatz und ihren vorheri-

Journal für Soziologie, Jg. 7 (1997) H. 2, S. 227-244; Tiemann/Schmid/Löbler 1993, S. 44 f. 329 Vgl. Falkenberg 1999, S. 135. 330 Vgl. Ebbinghaus 2003, S. 199. 331 Vgl. Armingeon, Klaus: Gewerkschaften heute – krisenresistent und stabil?, in: Gewerkschaftliche Monatshefte, H. 6/1988, S. 330-342, hier S. 341 f. 332 Vgl. Schneider, Michael: Magisches Viereck gewerkschaftlicher Ziele, in: Meyer (Hg.) 1994, S. 103-116, hier S. 116.

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gen Erwartungen abglichen, waren sie ernüchtert, hatte ihnen die Gewerkschaftsmitgliedschaft offenbar wenig genützt. Waren ihre Anstrengungen nicht vergeblich gewesen? Standen sie jetzt etwa nicht vor dem schweren Gang zum Arbeitsamt? Was ließ sich schon noch ausrichten? Hatte die Gewerkschaft gar ihr Vertrauen missbraucht? Ganz besonders galt das 2003, als die IG Metall in den neuen Bundesländern mit einem Arbeitskampf die 35-Stunden-Woche durchsetzen wollte, hierfür sämtliche Kräfte aufbot und am Ende doch bloß eine „historische Niederlage“333 erlitt. Mehrfach in der deutschen Geschichte führten solche Erfahrungen zu einem Exodus der Mitglieder. Verzagt kündigten dann viele Beschäftigte die Mitgliedschaft, weil sie arbeitslos geworden waren oder erhoffte Vorteile ausblieben. Das war nach dem Ersten Weltkrieg so, als viele Ungelernte, Frauen und Landarbeiter den Gewerkschaften nach kurzer Zeit wieder den Rücken zukehrten, weil „der unmittelbare Nutzen gewerkschaftlicher Arbeit nicht täglich deutlich wurde“334. Gegen Ende des Jahres 1923 befanden sich die deutschen Gewerkschaften dann auf ihrem Tiefpunkt. Politisch schien ihnen rein gar nichts zu gelingen, ihre Durchsetzungsstärke gegenüber den Arbeitgebern galt als schwach. Auch hatte sich der Traum von einer sozial gerechten Gesellschaft des Sozialismus nicht erfüllt, wiesen Gewerkschaften keinen Ausweg aus der Trostlosigkeit von Geldentwertung und Arbeitslosigkeit. Auch in den 1980er Jahren richteten Gewerkschaften offenbar nicht viel am Wachstum der explosionsartigen Arbeitslosigkeit aus – trotz ihrer vermeintlichen Politikmacht. Die einen sahen nicht, wie sie durch die Gewerkschaft vor dem möglichen Verlust ihres Jobs beschützt werden konnten; die anderen waren bereits erwerbslos und wollten einen Teil ihres kargen Einkommens nicht auch noch an die Gewerkschaft abtreten.335 Unsäglich groß dürfte indessen das Enttäuschungserlebnis der ehemaligen DDR-Bürger gewesen sein. Für Millionen von Ostdeutschen zerschlugen sich die Hoffnungen, die sie mit dem westlichen Wirtschaftssystem verbunden hatten. Ökonomisch gerieten die neuen Bundesländer in eine tiefgreifende und langanhaltende Krise. Den Gewerkschaften missglückte dort der mehr

333 Schmergal, Cornelia: Duell unter der Sonne, in: Welt am Sonntag, 29.06.2003. 334 Abendroth 1954, S. 26; vgl. auch Adam 1999, S. 237 f.; Hemmer, Hans O.: Zustand: gut – Aussichten: trübe? Anmerkungen zur Lage der Gewerkschaften, in: Gewerkschaftliche Monatshefte, H. 6/1988, S. 321-330, hier S. 325. 335 Vgl. Heinelt, Hubert/Macke, Carl-Wilhelm: „Mehr Engagement würden wir uns schon wünschen!“, in: Gewerkschaftliche Monatshefte, H. 2/1986, S. 116-121, hier S. 118 ff.

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als zehn Jahre lang unternommene Versuch, die Tarif- und Mitbestimmungskultur der alten Bundesrepublik zu kopieren. Zwischen Rostock und Plauen, Wernigerode und Eisenhüttenstadt herrschten im Vergleich zum Westen hohe Arbeitslosigkeit, niedrige Bindung der Unternehmen an Tarifverträge und eine unterentwickelte Mitbestimmung auf Betriebsebene.336 Die Privatisierung der vormals staatlichen Wirtschaft machte schlagartig einen Großteil der Arbeitsplätze überflüssig, entwertete die Berufsqualifikationen vieler Neubundesrepublikaner. Im Einzelhandel fanden junge und flexibel einsetzbare Arbeitskräfte Anstellung, wohingegen die erfahrenen Kassiererinnen entlassen wurden. Unter den Menschen der ostdeutschen Bundesländer gab es deshalb ein ganzes Heer von Wendeverlierern. Die Angst vor Abstieg griff um sich. Und: Viele Arbeitnehmer hatten Angst, gerade wegen ihrer Gewerkschaftsmitgliedschaft gekündigt zu werden. Die ostdeutschen Beschäftigten waren es aus dem FDGB gewohnt, im Austausch für ihre Gefolgschaft materiell versorgt zu werden. Viele wussten mit der neuen Situation daher nicht umzugehen, besaßen eine völlig unzutreffende Vorstellung von dem Leistungsvermögen der westdeutschen Gewerkschaften und vertrauten darauf, dass ihnen eine Mitgliedschaft in der IG Metall, ÖTV oder IG Chemie-Papier-Keramik den Job sichern würde. Dergleichen geschah freilich nicht. Und so ergriff viele Sachsen, Brandenburger, Berliner, Mecklenburger, Sachsen-Anhaltiner und Thüringer ein nachsozialistisches Unbehagen. Für viele von ihnen stieg der erreichbare Lebensstandard, waren kurz zuvor noch unerreichbare Gesellschaftspositionen, Wohlstands- und Konsumerlebnisse möglich geworden; doch gleichfalls mussten sie bis dahin ungekannte Unsicherheiten wie Arbeitslosigkeit, auseinanderdriftende Gesellschaftsverhältnisse oder vorübergehende Armut in Kauf nehmen. Eine neue Ungleichheit zwischen Ost und West entstand, auf deren Grundlage sich viele „Ossis“ gegenüber den „Wessis“ benachteiligt fühlten und die Einheit als Deklassierung empfanden.337 Seit 1990 ist

336 Vgl. insgesamt Meise 2010: Gewerkschaftspraxis; vgl. daneben Dribbusch 2003, S. 212 f. u. S. 281; Duddek/Hindrichs/Wassermann 1995, S. 318 f. 337 Vgl. Behr, Michael: Der unglückliche Erfolgsfaktor – beschleunigt, aktiviert, aber nicht zukunftsfähig, in: WSI-Mitteilungen, H. 10/2009, S. 554-559; Blien, Uwe/den Butter, Frank A.G.: Spielraum zu politischen und institutionellen Reformen für deutsche und niederländische Arbeitsmärkte – einige Konsequenzen aus dem Ländervergleich, in: dies. (Hg.): Institutionelle Rahmenbedingungen für Beschäftigungspolitik in den Niederlanden und in Deutschland, Nürnberg 2002, S. 141-160, hier S. 151; Geißler, Rainer: Die Sozialstruktur Deutschlands. Zur gesellschaftlichen Entwick-

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es nicht gelungen, die Arbeitsbedingungen in den neuen an jene in den alten Bundesländern anzugleichen – noch rund zwanzig Jahre nach dem Mauerfall stagnierte das Lohnniveau des Ostens bei rund 75 Prozent des Westens.338 Der Anteil von Vollzeitstellen sank zwischen 1991 und 2007 von neunzig Prozent auf rund 67 Prozent ab, der Arbeitsmarkt war dadurch stark flexibilisiert, der Niedriglohnsektor vergleichsweise groß. Stets wirkte Ostdeutschland als eine ausgedehnte Region des Rückstands, des Verlusts, des bedenklichen Zustands. Das demütigte dort gewiss eine nicht geringe Zahl stolzer Arbeitnehmer. Facharbeiter bildeten in den 1990er Jahren nicht mehr die Garde der Gesellschaft, wie sie es noch im „Arbeiter- und Bauernstaat“ getan hatten. Der Blaumann war nun keine Quelle von Stolz und Anerkennung mehr, sondern ein Signum der Aussichtslosigkeit. In den Augen der Bürger hatten dabei vor allem die Gewerkschaften versagt. Sie hatten zugelassen, dass die Industriekombinate verschwanden und an ihre Stelle kleine, hochspezialisierte Betriebe traten. Dass viele Standorte, wie etwa im Chemie-Dreieck Bitterfeld-Leuna-Wolfen, mit ihrer verfallenen Bausubstanz und ihren technisch veralteten Produktionsanlagen nicht wettbewerbsfähig waren, ein Überschuss an Fertigungskapazitäten existierte – die Gewerkschaften also gar nicht unbedingt viel gegen ungünstige Umweltfaktoren ausrichten konnten –, spielte aufgrund der schockierenden Prägekraft der Massenentlassungen und des abrupten Niedergangs keine Rolle. Ein großer Teil der ostdeutschen Bevölkerung vergalt die negativen Resultate der Wiedervereinigung – den Statusverlust, die Arbeitslosigkeit, die Zukunftsungewissheit – mit einem bleibenden Vertrauensentzug gegenüber den Organisationen, die sie dafür verantwortlich machten – und dazu gehörten eben nun mal die Gewerkschaften.339 All die großen Organisationen des DGB gerieten binnen weniger Jahre von anfänglichen Wendegewinnern zu letztlichen Verlierern der Einheit, hatten sich gründlich blamiert und waren im Empfinden vieler Ostdeutscher wohl bloß noch ‚Maulhelden‘, die nicht hielten, was sie versprachen.

lung mit einer Bilanz zur Vereinigung, Wiesbaden 2011, S. 367-374; Geyer, Johannes/Steiner, Viktor: Erwerbskarrieren in Ostdeutschland – 20 Jahre nach der Deutschen Einheit und darüber hinaus, in: Zeitschrift für Arbeitsmarktforschung, Jg. 43 (2010) H. 2, S. 169-190. 338 Vgl. Ohl, Kay: Die Ost-West-Tarifangleichung in der Metall- und Elektroindustrie, in: WSI-Mitteilungen, H. 11/2009, S. 627-630, hier S. 628 f. 339 Vgl. Seifert, Matthias/Brinkmann, Ulrich: Verlust einer riskanten Ressource – Vertrauensverfall im Zuge des ostdeutschen Transformationsprozesses, in: Industrielle Beziehungen, Jg. 6 (1999) H. 2, S. 151-188, hier S. 162 f.

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Doch nicht nur im Osten beurteilten die Menschen den Nutzwert der Gewerkschaften als gering. Auch im Westen gaben immer mehr Beschäftigte nicht mehr viel auf die Arbeitnehmerverbände. Im Konflikt mit Arbeitgebern, Parteien und Regierungen seien sie schwach, einflusslos, chronisch unterlegen, so der Eindruck. Stets befanden sie sich ihrerseits in der Krise, kämpften mit sinkenden Mitgliederständen und schwindenden Organisationsgraden. Kaum etwas änderte sich daran zwischen 1982 und 2002. Ihre Geschichte in dieser Zeit war eine trostlose Erzählung des unaufhörlichen Abstiegs. Im Grunde waren sie notorische Verlierer. Ihnen wollte und wollte einfach kein Durchbruch gelingen, um dieses nachteilige Loser-Image wieder loszuwerden. Spitzengewerkschafter steckten Streikniederlagen ein, fochten vergebliche Kämpfe gegen die HartzGesetze und die Agenda 2010, kurzum: Sie verwalteten den wirtschaftlichen Niedergang. Gerade ihr nachdrücklicher, jedoch vergeblicher Widerstand gegen die sozialdemokratische Reformpolitik Gerhard Schröders offenbarte die Schwäche der Gewerkschaftsmacht. Denn statt sie zu unterbinden, mussten IG Metall, ver.di & Co. hilflos die politischen Entscheidungen zur Kenntnis nehmen. Offenkundig waren sie aus den Räumen der Macht verdrängt worden – nahm sie überhaupt noch jemand ernst? Das machte sie nicht nur für gemeine Arbeitnehmer nutzlos. Auch etliche Betriebsräte hatten nicht viel von einer engen Anbindung an die Gewerkschaften. Vielerorts bedienten sie sich daher der Gewerkschaften nur noch nach Bedarf, wenn es das ungebührliche Verhalten des Managements unbedingt erforderte und sie juristischen Beistand benötigten.340 Ansonsten aber waren ihnen Gewerkschaften oftmals ziemlich gleichgültig, sahen sie in deren ständigen Bedenken sogar eine Gefahr für die gütliche Zusammenarbeit mit der Unternehmensleitung. Von einer unverbrüchlichen Partnerschaft zwischen betrieblicher und überbetrieblicher Interessenvertretung, von Betriebsrat und Gewerkschaft, ließ sich jedenfalls nicht sprechen. Der Verlust des materiellen Gegenwerts Wenn die Menschen den Gewerkschaften schon nicht mehr aus sozialem Zwang oder emotionaler Verbundenheit angehörten, so wie zu Milieu-Zeiten, dann zumindest weil sie sich von ihnen materielle Vorteile versprachen – höhere Löhne und Gehälter, bessere Arbeitsbedingungen. Das waren die tarifpolitischen Größen, mit denen Gewerkschaften Anziehungskraft auf die Bürger entfalten konnten. Seit den 1970er Jahren haben sie es jedoch zunehmend weniger vermocht,

340 Vgl. Dribbusch 2003, S. 216.

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diese Leistungen zu erbringen. Sie selbst hatten ja mit ihren Erfolgen in der Vergangenheit hohe Standards gesetzt, an die sie in der Zeit eines festen Arbeitslosensockels und wiederkehrender Wirtschaftsrezessionen nicht mehr heranreichten. Beispielsweise verdreifachte sich der durchschnittliche Reallohn eines Industriearbeiters zwischen 1890 und 1970; am Vorabend einer neuen Phase ökonomischer Entwicklung, in der Produktivitätssteigerungen und Unternehmensgewinne nicht mehr wie gewohnt mit einem gesteigerten Wohlstand aller einhergingen, erzielten ÖTV und IG Metall äußerst hohe Lohnsteigerungen, z.T. im zweistelligen Bereich.341 Das war 1974, als die Arbeiterbewegung noch ein letztes Mal am Verhandlungstisch auftrumpfte, als Forderungen nach zweistelligen Lohnsteigerungen noch als „wirtschaftlich vertretbar“342 angekündigt wurden: Zwischen 12,5 und 17,5 Prozent holte die ÖTV, die IG Metaller schlugen elf Prozent heraus, die IG Chemie 13,4 Prozent. Damals orientierten sich die Tarifpartner an der Produktivität – deren Anstieg sollte auch den beteiligten Arbeitnehmern mehr Geld bringen, sie angemessen am Produktionserfolg beteiligen. In jenen Tagen machten Gewerkschaften Bereiche wie den öffentlichen Dienst zu einem äußerst attraktiven Arbeitsumfeld, sorgten für Sicherheit und kontinuierliche Löhne. Damit setzten sie allerdings einen Maßstab, mit dem die Beschäftigten spätere Tarifabschlüsse in ökonomisch angespannten Abschnitten bewerteten. Ihre früheren Erfolge verschlimmerten dadurch ihr späteres Versagen. Auf diese Weise konnten sogar Lohnzuwächse von 5,3 Prozent (1984) oder 8,2 Prozent (1987), wie im Bereich der IG Metall, aus Sicht der Arbeitnehmer bescheiden ausfallen. Die 1980er Jahre brachten „deutliche Reallohneinbußen“343. Ob Eisengießer, Versicherungsangestellte oder Beschäftigte im öffentlichen Dienst – ihre aller Portemonnaies büßten in den 1980er Jahren an Kaufkraft ein; Beschäftigte der einen Branche verloren viel stärker als die Kollegen anderer Bereiche, wohingegen wenige sogar hinzugewannen.344 Und diese Durststrecke setzte sich fort: 2003 betrugen die gewerkschaftlich ausgehandelten Erhöhungen 3,1 Prozent, ein

341 Vgl. Mooser 1984, S. 74; Jacobi, Otto: Gewerkschaftliche Lohnpolitik unter dem Druck antikeynesianischer Wirtschaftspolitik, in: Bergmann (Hg.) 1979, S. 326-362, hier S. 354; Kädtler 2003, S. 353. 342 Franz Steinkühler zitiert nach o.V.: Mehr als 11 Prozent in Württemberg, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 19.12.1974. 343 Müller-Jentsch 1990, S. 400. 344 Vgl. Welzmüller, Rudolf: Einkommensentwicklung und -verteilung. Aktuelle Daten, in: WSI-Mitteilungen, H. 6/1984, S. 342-352.

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Jahr später nur noch 2,2 Prozent, dann 2005 2,7 Prozent – derart magere Raten hatte es zuletzt bestenfalls in der Nachkriegszeit gegeben.345 Die materiellen Ergebnisse sind jedoch für die Beschäftigten ziemlich wichtige Faktoren, wenn es darum geht, die Nützlichkeit einer Gewerkschaftsmitgliedschaft zu beurteilen: Natürlich sollten Gewerkschaften sozialpolitische Initiativen ergreifen und gegen Atomkraftwerke sein. Doch dürften am Ende handfeste Resultate in Form von Arbeitsplatzsicherheit und fortwährend mehr Geld auf dem Girokonto bei den Betroffenen nicht unerheblich gewesen sein. In der zweiten Hälfte der 1970er Jahre endete jedenfalls der tarifpolitische Siegeszug der Gewerkschaften. Überwiegend verschlechterten sich fortan ihre Verhandlungsresultate – zumindest im Vergleich zur Vergangenheit. Sie mochten zwar von mancher Seite für ihre maßvolle Haltung gelobt werden; freilich gewannen sie damit allenfalls den vorübergehenden Respekt ihrer notorischen Kritiker, jedoch keine neuen Mitglieder. In den 1980er Jahren übten sie sich dann notgedrungen in Bescheidenheit, schlugen hier und da ein paar Prozent für ihre Kernklientel heraus, verbuchten jedoch keine Achtungserfolge mehr, die sie als starke und schutzbietende Organisationen auswiesen. Zwar verhinderten die Gewerkschaften mit Warnstreiks und Demonstrationen Nulllohnrunden, doch sank das Netto, verlor der Reallohn durch die Tarifverträge an Kaufkraft; augenscheinlich flossen die Produktivitätszuwächse allein in die Kassen der Unternehmen, wohingegen die Arbeitnehmer leer ausgingen und auch kaum neue Arbeitsplätze fanden.346 In den 1980er Jahren blieben die Reallöhne hinter dem Produktivitätszuwachs zurück (0,8 zu 1,7) – in den beiden vorangegangenen Jahrzehnten hatten sie sich noch stets besser als die Arbeitsproduktivität entwickelt (zwischen 1961 und 1970 4,6 zu 4,2; zwischen 1971 und 1980 2,9 zu 2,6).347 So entstand mit der Zeit vermutlich folgendes Zerrbild: Die Arbeitgeber kassierten die Gewinne, während die Arbeitnehmer leer ausgingen. Statistische Aggregate bestätigten dieses mulmige Gefühl: Während sich reale Lohnzuwächse und Produktivitätsgewinne in den 1970er Jahren fair die Waage hielten, verloren die Arbeitnehmer in den 1980er Jahren, während die Arbeitgeber hingegen ge-

345 Siehe IG Metall Vorstand (Hg.): IG Metall – Gewerkschaft zwischen Tradition und Moderne, Frankfurt am Main 2004, S. 22. 346 Vgl. Kurz-Scherf, Ingrid/WSI-Tarifarchiv: Tarifrunde 1983: Abwehr einer Lohnpause und Vorbereitung einer politischen Offensive gegen die Massenarbeitslosigkeit, in: WSI-Mitteilungen, Jg. 37 (1984) H. 3, S. 138-153. 347 Vgl. Kromphardt, Jürgen: Arbeitsmarktinstitutionen und Beschäftigung in Deutschland, in: Blien/den Butter (Hg.) 2002, S. 27-41, hier S. 36.

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wannen.348 Und so ging es allerorten weiter, am heftigsten in Ostdeutschland. Im Einzelhandel konnten die Tarifabschlüsse kaum die Inflation ausgleichen, führten zu einem verringerten Brutto der Beschäftigten.349 Gemessen am Aufwand – heftigen Konfliktaktionen – werteten etliche ostdeutsche Beschäftigte die Tarifergebnisse als enttäuschend; in der Abstimmung 1993 votierten in den neuen Bundesländern keine überwältigenden Mehrheiten für die Resultate: 78 Prozent in Sachsen, sechzig Prozent in Thüringen, Sachsen-Anhalt und MecklenburgVorpommern, 46 Prozent in Berlin und Brandenburg.350 Die Gewerkschaften verloren an Boden. Denn Gegenleistungen für all die Kompromisse, die die Gewerkschafter am Verhandlungstisch eingingen, blieben aus – jedenfalls in der Wahrnehmung vieler Funktionäre und Beschäftigter. Und die Leidtragenden hatten kaum Verständnis für eine Politik, die sich selbstlos in den Dienst eines anonymen und schwer nachvollziehbaren Allgemeinwohls stellte. Sie wollten für ihren Verzicht in der Krise mit Arbeitsplatzsicherheit oder höheren Löhnen in wirtschaftlich besseren Zeiten honoriert werden. Doch allzu oft geschah nichts dergleichen. Stattdessen hatten unzählige Arbeitnehmer in Deutschland einige Schockerlebnisse in Form urplötzlicher Arbeitslosigkeit, anhaltendem Kaufkraftverlust und vermehrter Firmenpleiten zu verkraften.351 In den 1980er Jahren musste so manche fortschrittsgewohnte Belegschaft, die bis dahin optimistisch bleibenden Wohlstand erwartet hatte, um ihre Zukunft bangen. Selbst zweifelsfrei profitable Unternehmenszweige waren vor der Schließung nicht gefeit, konnten sie doch verlagert werden, um andernorts zu noch günstigeren Konditionen produzieren zu können.352 Arbeitslosigkeit, abnehmende Kaufkraft – all das widerfuhr den Menschen trotz der Gewerkschaften. Diese moderierten lediglich den Abstieg, statt wie früher Verhandlungserfolge zu verkünden. Wochenlange Streiks führten nun nicht mehr zu Geldsegen, sondern bedeuteten oftmals bloß eine Verringerung betriebsbedingter Kündigungen oder den Aufschub einer Werksschließung. In

348 Vgl. Kurz-Scherf/WSI-Tarifarchiv 1984: Tarifrunde 1983, S. 147 f. 349 Vgl. Wiedemuth, Jörg: hbv: Erfolge in schwierigen Zeiten? Zum Abschluß der Tarifbewegung im Einzelhandel, in: Sozialismus, H. 9/1993, S. 40-43. 350 Siehe Karch/Meine/Schulz 1993, S. 50; vgl. Kröhnert, Steffen: Arm versus Reich, in: Glaab, Manuela/Weidenfeld, Werner/Weigl, Michael (Hg.): Deutsche Kontraste 1990-2010. Politik – Wirtschaft – Gesellschaft – Kultur, Frankfurt am Main/New York 2010, S. 387-420, hier S. 403 ff. 351 Vgl. Görtemaker 2002, S. 320-326. 352 Siehe o.V.: „Es hat sich gelohnt“, in: Arbeiterpolitik, H. 3/1984, S. 22-23.

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der andauernden Wirtschaftskrise, in der ununterbrochenes Wachstum und Vollbeschäftigung aussichtsloses Wunschdenken, tarifpolitische Träumerei waren, hatten die Gewerkschaften alle Hände voll zu tun, Pessimismus unter den Betroffenen zu lindern und den Niedergang erträglich zu machen. Gewerkschaften waren aber zumeist nicht in der Lage – das zeigten zumindest die harten Fakten –, die Schließung von Werften, Kohlegruben und Stahlwerken zu verhindern, sondern allenfalls deren soziale Folgen für das Leben der Menschen zu entschärfen. Aber natürlich war das nicht genug, um die Mitgliederkrise bewältigen zu können. Zu vieles ließen die Gewerkschaften aus Sicht vieler Menschen einfach geschehen, mussten folglich entweder gleichgültig oder machtlos sein. Hinzu kam der Verdacht, die Gewerkschaften trügen eine fahrlässige Mitschuld an den volkswirtschaftlichen Problemen der Bundesrepublik. In der öffentlichen Meinung vollzog sich in den 1990er und 2000er Jahren ein Stimmungswandel zulasten der Gewerkschaften, denen vorgeworfen wurde, mit überzogenen Lohnforderungen den erschütternden Arbeitsplatzschwund in den neuen Bundesländern verursacht zu haben.353 Nicht wenige Kommentatoren bestritten die ökonomische Vernunft deutscher Gewerkschafter. Und in der Tat ließen sich etliche Bemühungen der Gewerkschaften in den 1980er Jahren, darunter z.B. die Arbeitszeitverkürzung, angesichts der in den 1990er Jahren rapide ansteigenden Arbeitslosigkeit aus Sicht der Arbeitnehmer augenscheinlich als Fehlleistungen interpretieren.354 Schließlich stieg die Arbeitslosigkeit von unter fünf Prozent zu Beginn der 1980er auf über zehn Prozent anfangs der 2000er Jahre an.355 In einigen Fällen lieferten sich die DGB-Gewerkschaften sogar mit verbandsexternen Pendants befremdliche Unterbietungswettbewerbe, die in Form schwacher Tarifabschlüsse zulasten der Beschäftigten gingen.356 Leicht ließ sich infolgedessen der Eindruck gewinnen, in den Zentralen der DGBOrganisationen tummelten sich lediglich selbstgefällige Gewerkschaftsbosse, die die Annehmlichkeiten ihres Amts genossen und sich wider jegliche volkswirtschaftliche Vernunft in kämpferischen Parolen ergingen. Freilich waren die Gewerkschaften nicht ausnahmslos schwach. Doch wenn Entlassungen abgewendet, die Arbeitsbedingungen vor Ort verbessert oder die Gehälter angehoben wurden, schrieben die betroffenen Beschäftigten das nicht automatisch dem Leistungsvermögen der Gewerkschaften zu, sondern häufig der

353 Vgl. Dribbusch 2003, S. 215; Ihle/Lamprecht/Lorenz 2005. 354 Vgl. Hyman 2001, S. 133. 355 Vgl. Leibiger, Jürgen: Staatsverschuldung in der Ära des Neoliberalismus, in: Berliner Debatte Initial, Jg. 22 (2011) H. 2, S. 30-47, hier S. 31. 356 Vgl. Aust/Pernicka/Feigl-Heihs 2007, S. 246.

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Durchsetzungsfähigkeit der Betriebsräte.357 Für die Funktionäre war das eine verflixte Situation: Tariferfolge steigerten nicht automatisch das Ansehen der Gewerkschaften, bedeuteten keinen zwangsläufigen Mitgliederzuwachs. Dazu trug auch das Trittbrettfahrerproblem bei. Im Gegensatz zu Belgien oder angloamerikanischen Staaten waren die materiellen Organisationsanreize in Deutschland gering. Bestimmte Leistungen, die ausschließlich an Gewerkschaftsmitglieder ergingen, gab es kaum; dies verhinderten die Arbeitsgerichte mit ihrer auf „negativer Koalitionsfreiheit“ pochenden Rechtsprechung, bei der Beschäftigten aus einer Nichtmitgliedschaft möglichst wenige Nachteile erwachsen sollten.358 Auf diese Weise bedurfte es keiner Gewerkschaftsmitgliedschaft, um die Früchte gewerkschaftlicher Arbeit abzuernten. Außerdem ließ bei vielen Gewerkschaftern das Gespür dafür nach, welche Leistungen eigentlich attraktiv waren. Oftmals überschätzten sie die Tragweite diverser Regelungen, die sie als Triumphe feierten, die den Beschäftigten jedoch weitgehend gleichgültig, wenn nicht sogar unverständlich waren. So waren nicht wenige Gewerkschafter stolz darauf, das „arbeitgeberseitig aufgebaute und auch regierungsamtlich verteidigte Tabu der 40-Stunden-Woche gebrochen“359 und in vielen Branchen Arbeitszeiten von 38,5 Stunden durchgesetzt zu haben. In den frühen 1980er Jahren begann dann schließlich der „Kampf um die 35-StundenWoche“360. Er bestimmte die Gewerkschaftspolitik für viele Jahre. Und mit ihm verbanden etliche Funktionäre die Hoffnung auf eine „Wiedererlangung gewerkschaftspolitischer Handlungsfähigkeit“361. Doch vielen Beschäftigten dürfte der Nutzen für die Wirtschaftsentwicklung, damit für die Bekämpfung der Arbeitslosigkeit unklar oder zweifelhaft gewesen sein. Im Unterschied zu vielen Gewerkschaftsfunktionären sahen sie darin kein Allheilmittel, wollten sich infolgedessen auch nicht diesem Gewerkschaftskampf verschreiben. Vielmehr fürchteten sie sich vor dem Verlust ihres Arbeitsplatzes, vor dem Gang zum Arbeitsamt. Daher auch begannen sie, widerspruchslos die Erhöhung ihrer Arbeitsleistung zu akzeptieren, Lohneinbußen in Kauf zu nehmen und sich auf die Flexibilisie-

357 Vgl. Lecher 1981, S. 65. 358 Vgl. Streeck 1979, S. 82 ff. 359 Kurz-Scherf, Ingrid/WSI-Tarifarchiv: Tarifliche Arbeitszeit in Bewegung. Ergebnisse der Tarifrunde im 1. Halbjahr 1984, in: WSI-Mitteilungen, Jg. 37 (1984) H. 9, S. 513-526, hier S. 514. 360 Kurz-Scherf/WSI-Tarifarchiv 1984: Tarifrunde 1983, S. 150; Riester 1984. 361 Siehe bspw. Wiedemuth, Jörg: Perspektiven der Arbeitszeit-Gestaltung. Für die Rückgewinnung der Initiative, in: Sozialismus, H. 7-8/1993, S. 55-56; König: Kleinkonflikt 1994, S. 42.

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rungswünsche der Arbeitgeber einzulassen.362 Mehr denn je wünschten sie sich Sicherheit in einer unsicheren Welt. Von den Gewerkschaften bekamen sie diese aber nicht.

K EIN B LICK MEHR FÜR DER G ESELLSCHAFT

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Groß waren sie. Und das nicht nur im Hinblick auf ihre zahlenmäßig starke Mitgliedschaft. Gesellschaftsforscher sind relativ einmütig zu der Erkenntnis gelangt, dass Gewerkschaften einen wichtigen Beitrag zur Stabilität der bundesrepublikanischen Demokratie, des politischen Systems, geleistet haben.363 Sie bildeten Personal für Parlamente, Gerichte, Betriebsräte und die Selbstverwaltungsgremien der Sozialversicherung aus; sie bündelten Bedürfnisse und Wünsche einer riesigen Zahl von Arbeitnehmern und vermittelten diese an politische Akteure – an Parteien, Abgeordnete und Regierende; umgekehrt erläuterten sie politische Entscheidungen und Geschehnisse, organisierten für die Politik der Bundesregierung Rückhalt und Verständnis; sie übernahmen die Aufgabe, die Beschäftigten angemessen an den wirtschaftlichen Erfolgen der Unternehmen zu beteiligen und sie vor Gefahren am Arbeitsplatz zu schützen, womit sie sozialen Frieden stifteten. Rekrutierung und Ausbildung von Personal für gesellschaftliche Institutionen, Vermittlungsinstanz zwischen Politik und Gesellschaft, Interessenvertretung gegenüber Arbeitgebern, Staat und Politik, Stiftung gesellschaftlichen Zusammenhalts und politischer Stabilität – das sind nur einige, jedoch die wohl wichtigsten Funktionen, die Gewerkschaften nach dem Zweiten Weltkrieg erfüllten. Schon für den Bestand des demokratischen Systems der Weimarer Republik ist ihnen erhebliche Bedeutung beigemessen worden, nur

362 Vgl. Holst, Hajo/Matuschek, Ingo: Sicher durch die Krise? Leiharbeit, Krise und Interessenvertretung, in: Haipeter/Dörre (Hg.) 2011, S. 167-193, hier S. 188 f.; Jacobi 1979, S. 328 f.; Reister 1984, S. 456. 363 Vgl. dazu u.a. Schönhoven, Klaus: Die deutschen Gewerkschaften, Frankfurt am Main 1987, S. 249; Abendroth 1954, S. 95; Alemann, Ulrich v.: Organisierte Interessen in der Bundesrepublik (unter Mitarbeit von Reiner Fonteyn und Hans-Jürgen Lange), Opladen 1987, S. 192; Sahner, Heinz: Vereine und Verbände in der modernen Gesellschaft, in: Best, Heinrich (Hg.): Vereine in Deutschland. Vom Geheimbund zur freien gesellschaftlichen Organisation; mit einer Literatur- und Forschungsdokumentation von Helmut M. Artus, Bonn 1993, S. 11-118, hier S. 51.

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hätte dort eben ihre Schwäche den „Weg zum Grab der ersten deutschen Republik“364 gewiesen. Eine nicht unerhebliche Anzahl ihrer Funktionäre hatte sich sozialistischen Ideen verschrieben und den Theorien sozialistischer oder marxistischer Theoretiker verpflichtet – und dennoch versöhnten sich die Gewerkschaften mit dem kapitalistischen System, wurden sogar zu Pfeilern der Sozialen Marktwirtschaft. Jedenfalls: Ohne die Gewerkschaften als Mittler zwischen Arbeitnehmern und Arbeitgebern wie auch Politikern und Parteien hätte die Geschichte der Bundesrepublik womöglich einen anderen Verlauf genommen. Aus diesem Grund ist ihre Krise, die bereits in den 1970er Jahren begann, auch für die deutsche Politik und das politische System der Bundesrepublik nicht folgenlos. Aber inwieweit? Wie gesagt, gerieten einige Gruppen aus dem Blickfeld der Gewerkschaften. Doch befanden sich darunter nicht nur Bürger, die wie Ärzte, Rechtsanwälte und Ingenieure hohe Bildungsabschlüsse besaßen, qualifizierten Tätigkeiten nachgingen und deren Berufe gesellschaftlich hoch angesehen, die also vergleichsweise gefestigt und abgesichert waren, daher auch ganz gut ohne die gewerkschaftliche Interessenvertretung auskamen. Unter den Gruppen, die von den Gewerkschaften nicht erreicht und zum großen Teil auch gar nicht kontaktiert wurden, befanden sich allerdings auch Bevölkerungsteile, die aufgrund ihrer Lage auf dem Arbeitsmarkt schutzbedürftig waren, die entweder keinen Job hatten oder deren Erwerb unzureichend und ungewiss war, die zu schlechten Bedingungen arbeiteten und lebten. Diese Gruppe ist in sich äußerst vielfältig und lässt sich daher mit vielen Begriffen veranschaulichen: Alleinerziehende, Gebrechliche, Migranten, Modernisierungsverlierer, Altersarme, Arbeitslose usw.365 Zu ihnen unterhielten die Gewerkschaften fast gar keine Beziehungen. Und auch sonst kümmerte sich fast niemand um sie. Ihnen drohte die Isolation.366 Gerade dort also, wo die Interessenvertretung durch starke Organisationen besonders nötig war, die die Schwäche des Einzelnen mit der Kraft der Gemeinschaft hätten ausgleichen können, fehlten Gewerkschaften. In den Abstiegsquartieren deutscher Städte waren sie abwesend; dort, wo schlechte Arbeitsbedingungen herrschten, fehlten sie ebenso

364 Potthoff 1987, S. 314. 365 Vgl. z.B. auch Bude, Heinz: Die Ausgeschlossenen. Das Ende vom Traum einer gerechten Gesellschaft, München 2008; Schultheis, Franz/Vogel, Berthold/Gemperle, Michael (Hg.): Ein halbes Leben. Biografische Zeugnisse aus einer Arbeitswelt im Umbruch, Konstanz 2010. 366 Vgl. auch Schobin, Janosch/Marquardsen, Kai: Auf solche Freunde kann man verzichten. Arbeitslosigkeit und soziale Hoffnungen, in: Polar, H. 5/2008, S. 117-122.

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oft. Kurzum: Auch Gewerkschaften erreichten nicht jene Gruppen, die von der Öffentlichkeit jüngst als „Neue Unterschicht“, als „Prekariat“, diskutiert worden sind. Zugespitzt: Die Wohlhabenden und Gebildeten mieden die Gewerkschaften und engagierten sich lieber in Umweltorganisationen, Tafeln oder Freiwilligenzentren.367 Und wer wenig Geld und viele Sorgen hatte, engagierte sich gar nicht. Dadurch verloren die Gewerkschaften in zwei Richtungen – nach oben und nach unten – an Reichweite in die Gesellschaft. Mit dem Wachstum dieser Gruppen verringerte sich die Integrationskraft der Gewerkschaften, waren diese in ihrem historischen Auftrag zunehmend weniger erfolgreich. Und dieses Resultat untergrub wiederum den Anspruch der Gewerkschaften auf politischen Einfluss. Gewerkschaften machten in den letzten dreißig Jahren Politik für einen privilegierten Teil der Arbeitnehmerschaft, traten als „Interessenvertreter der ‚haves‘ gegen die ‚have nots‘“368 auf – als Beschützer derjenigen Bürger, die in der Hierarchie sozialer Ungleichheit in der Mitte standen. Damit machten sie sich zur Lobby der Stammbeschäftigten von Volkswagen, ThyssenKrupp oder BASF. Diejenigen, die mit besonders komplexen und anspruchsvollen Aufgaben betraut waren und an neuralgischen Punkten des Arbeitsprozesses eingesetzt waren – Ärzte, Piloten, Lokführer – schlossen sich sogar in eigenen Berufsgewerkschaften zusammen (Marburger Bund, Cockpit, Gewerkschaft Deutscher Lokomotivführer).369 Darin fanden sie noch exklusivere Interessenvertreter, die die Solidarität mit anderen Berufsgruppen aufkündigten, härter auf den essenziellen Wert ihrer Klientel im jeweiligen Betrieb, ob dem Krankenhaus oder dem Flugzeug, zurückgriffen und höhere Gehälter durchsetzten, als dies Gewerkschaften mit ei-

367 Vgl. Dathe, Dietmar/Priller, Eckhard/Thürling, Marleen: Mitgliedschaften und Engagement in Deutschland, in: WZBrief Zivil-Engagement, H. 2/2010, S. 4 f.; Böhnke, Petra: Abwärtsmobilität und ihre Folgen: Die Entwicklung von Wohlbefinden und Partizipation nach Verarmung, WZB discussion paper, SP | 2009-205. 368 Kocka, Jürgen: Interessenvertretung und Gemeinwohlorientierung im gewerkschaftlichen Handeln gestern und heute, in: Gewerkschaftliche Monatshefte, H. 11/2004, S. 577-582, hier S. 580; vgl. Esser, Josef: Auf dem Weg zu einer neuen Partnerschaft? Konservative Regierung und Gewerkschaften in der Bundesrepublik, in: Gewerkschaftliche Monatshefte, H. 11/1985, S. 650-661, hier S. 656 f.; Dörre 2011, S. 287 f. 369 Vgl. Lesch, Hagen: Spartengewerkschaften – Entstehungsmotive und ökonomische Wirkung, in: Industrielle Beziehungen, Jg. 15 (2008) H. 4, S. 303-328; Schroeder, Wolfgang/Greef, Samuel: Industrie- und Spartengewerkschaften im Konflikt. Organisatorische Voraussetzungen und realisierte Gelegenheitsstrukturen, in: Industrielle Beziehungen, Jg. 15 (2008) H. 4, S. 329-355.

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nem breiteren Mitgliederspektrum wie ver.di oder TRANSNET jemals möglich gewesen wäre. In den 2000er Jahren versuchten einige Gewerkschaften zwar, die Ungelernten und Hilfsarbeiter der Dienstleistungsbranchen zu organisieren – jene, „deren Hauptnahrungsmittel Nudeln sind“370. Doch war ihr Wille unverkennbar, sich vorzugsweise mit der modernen Leistungselite zu verbünden. Dieses Ansinnen trug nicht unbedingt dazu bei, die Distanz zu den Verlierern des Arbeitsmarkts und den Sorgenkindern der Gesellschaft zu verringern. Arbeitslose z.B. drohen, den Anschluss an die Gesellschaft zu verlieren, auf Dauer nicht mehr mitzuhalten.371 Aus Scham und der Kapitulation vor sozialen Imperativen ziehen sie sich aus Sozialkontakten zurück oder umgeben sich nur noch mit ähnlich schlecht Situierten. Im Gegenzug scheuen sie Engagement in materiell als überlegen empfundenen Kreisen mit „integrierten“, finanziell bessergestellten Bürgern (häufig aus Angst, nach getanem Engagement das Bier oder den Wein nicht bezahlen zu können oder über Themen reden zu müssen, deren vordergründig harmloser Inhalt, wie bspw. ein Kinofilm oder eine Theatervorführung, außerhalb der finanziellen Reichweite liegen). Mit der Zeit verlieren sie dann das Interesse an der Außenwelt und ihren Ehrgeiz bzw. Glauben daran, aus eigener Kraft eine bessere Lebenssituation herbeiführen zu können. Hierbei handelt es sich also beispielhaft um eine jener Gesellschaftsschichten, die „mitgenommen“ werden müssten. Für die Abgehängten und Überflüssigen der deutschen Gesellschaft, deren Zahl in den letzten Jahrzehnten zugenommen hat, haben auch die Gewerkschaften keine Auffangnetze gespannt. Ein wenig unterscheiden sie sich darin von ihren historischen Vorläufern aus dem Kaiserreich, die zwar ebenfalls vornehmlich die Interessen einer Facharbeiterelite vertraten, dabei jedoch über das sozialmoralische Organisationsmilieu stets auch die Schwachen und Bedürftigen mitnahmen.372 In den letzten Jahrzehnten wuchsen indessen die problematischen, abstiegsgefährdeten oder bereits abgestiegenen Gesellschaftsschichten. Die Sozialpolitik des „Förderns und Forderns“ brachte z.T. harte Einschnitte mit sich und verlangte ausgerechnet solchen Bevölkerungsgruppen ein ausgesprochen hohes Maß an Eigeninitiative und Selbstverantwortung ab, die dazu vermutlich am wenigsten in der Lage waren. Der Zerfall der Milieusolidarität wurde eine Zeitlang durch ein Wirtschaftswachstum und einen Sozialstaat ausgeglichen, die auch den

370 Der DGB-Vorsitzende Michael Sommer zitiert nach Tenbrock, Christian: Die Verlierer, in: Die Zeit, 17.12.2003. 371 Vgl. Lenhart, Karin: Engagement und Erwerbslosigkeit – Einblicke in ein Dunkelfeld, Bonn 2010, S. 19-22. 372 Vgl. Cassau 1925, S. 158; Winkler 1988, S. 170.

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geringqualifizierten Arbeitskräften zugutekamen. Nun aber haben sich auch diese Ersatzpolster aufgelöst, in einer Phase, in der sich Gewerkschaften stark verengt haben. Indem sich die Bereiche ausdehnten, in denen Gewerkschaften fremd und abwesend waren, verringerte sich auch die Integrationskraft der Gewerkschaften, ihr Beitrag zur Stabilität des politischen Systems, ihr Wert für die Gesellschaft.

V OR DER R ENAISSANCE ? Expeditionen in neue Politikfelder: Programmerneuerung Seit nunmehr drei Jahrzehnten befinden sich die deutschen Gewerkschaften in einer Dauerkrise. Der Zeitpunkt naht, an dem es keine Funktionäre mehr gibt, die noch die goldenen Jahre des Organisationswunders in den ersten Nachkriegsjahrzehnten hautnah miterlebt haben. Solange geht es mit diesen geschichtsmächtigen Organisationsungetümen bereits bergab. Ihre Geschichte von 1973 bis 2010 ist eine Erzählung des Abstiegs, des Verlusts, der Niederlagen. Seit den frühen 1980er Jahren sind ihre Mitgliederzahlen unaufhörlich zurückgegangen, lediglich unterbrochen durch die außergewöhnliche Situation der Wiedervereinigung. Und dennoch sind sie nach wie vor wichtig und groß, weit davon entfernt, sang- und klanglos im historischen Äther zu entschwinden, wie etwa einst die Dinosaurier, mit denen sie so gerne verglichen werden.373 Und vielleicht haben die Gewerkschafter der Gegenwart sogar Anlass zum Optimismus. Denn so schwerfällig und unbelehrbar sie in den 1980er und 1990er Jahren ihre Organisationskraft und politische Macht abschmelzen ließen, so haben sie sich doch in den vergangenen Jahren personell, programmatisch und auch strategisch verändert, wohlwollend: erneuert. So haben sie inzwischen in ihren politischen Programmen die postmaterielle Wende der 1970er Jahre nachvollzogen, nachdem sie mit dem Eifer von Hardcore-Materialisten lange Zeit scheinbar unbelehrbare Fürsprecher der zivilen Atomkraft waren. Heute präsentieren sie sich dagegen als eine umweltbewusste Organisation, haben ihre ökonomischen Vorbehalte überwunden und z.B. mit

373 Siehe stellvertretend Jansen, Mechthild: Noch nie so schwach wie heute, in: die tageszeitung, 17.02.1995; Schiltz, Christoph B.: Machtfrage gestellt, in: Die Welt, 25.10.2001.

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dem Deutschen Naturschutzring einschlägige Bündnispartner gewonnen.374 Das macht sie zwar noch nicht zu furiosen Vorkämpfern des ökologischen Fortschrittsdenkens, aber weist sie in vielerlei Hinsicht auch nicht mehr als gestrige Industriedogmatiker aus. Wenngleich es erst einschneidender Erlebnisse wie der Tschernobyl-Katastrophe 1986 bedurft hatte, um – mittelfristig – ein entschlossenes Umdenken auszulösen, haben die Gewerkschaften dennoch gelernt, die Umweltverträglichkeit und Risiken von Technologien wie der Atom-, Bio- und Gentechnik abzuwägen. Umweltschädliche Begleiterscheinungen wie Abfälle, Schadstoffemissionen oder die Endlichkeit von Rohstoffen sind neben dem Faktor zusätzlicher Arbeitsplätze mittlerweile weitere Kriterien gewerkschaftlicher Wirtschaftspolitik. Die Gewerkschaften verteidigen nun nicht mehr die Atomkraft, sondern gehören zu den Initiatoren von Anti-AKW-Aufrufen. Freilich feit sie dieser Einstellungswechsel nicht vor Plattitüden, etwa der Feststellung, dass die „Balance zwischen Ökologie, Ökonomie und sozialen Forderungen“ zwecks nachhaltigen Wirtschaftens das „Ziel einer zeitgemäßen Industriepolitik“ sei.375 Dennoch haben sie damit Haltungen eingenommen und Themen entdeckt, mit denen sie weit über ihre bisherige Mitgliedschaft hinaus Sympathien wecken können, sodass sie zumindest nicht als mittelbare Produzenten von Atommüll und verpesteter Luft abschrecken. Darin liegt eine Voraussetzung, junge und akademische Gruppen zu erreichen. Neben dem Bruch mit ihrer materialistischen Doktrin haben deutsche Gewerkschaften ihre politische Gedankenkraft verstärkt dem Bereich Lebensqualität gewidmet. Stärker als früher denken sie darüber nach, wie sich – insbesondere für Frauen – Familie und Beruf miteinander vereinbaren lassen, wie die Mutterrolle nicht allzu sehr in Widerstreit mit dem Karrierewunsch gerät. Gewerkschaften setzen sich für den Ausbau überbetrieblicher Kinderbetreuung in Form von Kitas und Krippen ein, legen dazu Datenbanken an, schulen Betriebs- und Personalräte in dieser komplexen Problematik und treffen modellhafte Betriebs-

374 Vgl. Jahn, Detlef: Gewerkschaften und die „neue Politik“. Eine quantitative Inhaltsanalyse von Protokollen deutscher und schwedischer Gewerkschaftskongresse, in: Zeitschrift für Soziologie, Jg. 22 (1993) H. 3, S. 192-208; Sander, Reinhard: Die neue Kooperation der Umweltverbände und Gewerkschaften, in: Forschungsjournal Neue Soziale Bewegungen, H. 3/1992, S. 18-22; siehe o.V.: 13. Ordentlicher DGBBundeskongreß in Hamburg, in: Gewerkschaftliche Monatshefte, H. 7/1986, S. 436444, hier S. 440. 375 Siehe Schmoldt, Hubertus: Nachhaltige Industriepolitik und soziale Gerechtigkeit, in: Berliner Republik, H. 1/2010.

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vereinbarungen mit Arbeitgebern.376 Die Balance von Karriere und Familie, Job und Privatem, ist in jedem Fall einer von mehreren Punkten, die nicht mehr bloß als pro forma niedergeschriebene Worte in Programmschriften dokumentiert sind, sondern auch tatsächlich die Politik der Gewerkschaften bestimmen. Ein anderes großes Thema ist die Arbeitsbelastung, die vielen Menschen im Berufsalltag zu schaffen macht. Insbesondere die IG Metall hat den Kampf gegen ein „arbeitspolitisches Roll-back“377 aufgenommen, zuletzt etliche Projekte dazu ins Leben gerufen, Instrumente wie das „Stressbarometer“ oder den „ArbeitszeitTÜV“ entwickelt, sich insgesamt also ausgiebig mit den leidgeprüften Beschäftigten der gegenwärtigen Arbeitswelt befasst.378 Ferner nahmen sich Gewerkschaften dem Umgang vitalen Alterns an, suchten nach Antworten auf den demografischen Wandel, den zunehmenden Anteil älterer, aber auch im Vergleich zu früher agilerer und lebensfroherer Menschen an der Bevölkerung.379 Viele Bürger wollen inzwischen länger arbeiten, sehen sich vom Ruhestand gelangweilt und sind voller Energie. So fragen sich endlich auch die Gewerkschaften, wie man den Übergang vom Erwerbs- ins Rentenstadium weniger abrupt gestalten kann, wie man die vielbeschworenen Potenziale älterer, insoweit erfahrener Arbeitnehmer am besten nutzen, die vermeintliche Vergreisung der Gesellschaft in einen sozialen und wirtschaftlichen Gewinn verwandeln kann. Langsam beginnen sie zu unterscheiden, ob geschundene Bauarbeiter durch die Rente vor dem physischen Verfall bewahrt werden müssen oder Versicherungsexperten auch über die gesetzliche Grenze hinaus arbeiten wollen. In solchen zukunftsträchtigen Fragen können sich Gewerkschaften als originelle Gestalter beweisen, indem sie z.B. Vorschläge unterbreiten, wie man

376 Siehe Bachler, Sigrid: Lokale Bündnisse für Familie. Beitrag des DGB zur Verbesserung der Chancengleichheit, in: Gewerkschaftliche Monatshefte, H. 7/2004, S. 470-473, hier S. 473; siehe auch http://www.familie-1.0.dgb.de [eingesehen am 29.09.2010]; Sehrbrock, Ingrid: Bund muss Rettungsplan entwickeln, in: einblick, H. 2/2010, S. 7. 377 Zitiert nach Girndt, Cornelia/Böhm, Michaela (Interview mit Hans-Jürgen Urban): „Wir haben es mit einer neuen Maßlosigkeit zu tun.“, in: Mitbestimmung, H. 3/2008, S. 20-23. 378 Vgl. Pickshaus, Klaus: Revitalisierung gewerkschaftlicher Arbeitspolitik – Das Projekt „Gute Arbeit“ der IG Metall, in: WSI-Mitteilungen, H. 10/2003, S. 624-626, hier S. 625. 379 Vgl. hierfür Ankenbrand, Hendrik: Nachbessern, wo es geht!, in: Mitbestimmung, H. 1-2/2008, S. 10-15; Helmer, Matthias: Tarifpolitisches Neuland, in: Mitbestimmung, H. 1-2/2008, S. 30-33.

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all jenen Bürgern, die nicht wie früher als Greise mit Staublunge und ramponierten Knochen aus ihrem Erwerbsleben scheiden, sinnerfüllende Engagement- und Jobangebote unterbreitet. Seit Kurzem vertiefen sich einige Gewerkschafter zudem in die Probleme und Lebenswelt von jungen Bürgern in Ausbildung und Studium. Sie haben erkannt, dass junge Menschen nicht mehr ohne Weiteres der Gewerkschaft beitreten, sondern gezielt geworben, überzeugt werden müssen. Daher tun sie auch gut daran, sich wie neuerdings mit Beratungsangeboten und populären Meinungen in die Berufsschulen und auf den Campus zu begeben. So haben sie sich in die Debatte um die Zugangsbarrieren zur Universität eingeklinkt, fordern mehr BAföG und plädieren gegen Studiengebühren, kritisieren überdies die unaufhörlich steigende Arbeitslast für den wissenschaftlichen Nachwuchs. Sie betreiben optisch und technisch ansprechende Internetseiten, übernehmen ihnen angetragene Themen und begleiten Studierende wie Auszubildende und Lehrlinge durch die Fährnisse der Praktikums-, Ausbildungs- und Berufswelt.380 In Hamburg haben junge Gewerkschafter bspw. ein Projekt gestemmt, das für über 600 Auszubildende bezahlbaren Wohnraum in einem überdies energetisch nachhaltigen Gebäude zur Verfügung stellen soll.381 Und zu guter Letzt beschäftigen sich manche Gewerkschaften auch mit Netzpolitik, z.B. dem spannungsreichen Verhältnis von Urheberrecht und Digitalisierung, dem schwierigen Ausgleich vom Interesse an Information und der Verteidigung geistigen Eigentums.382 Kurzum: Mit Atomausstieg, nuklearer Abrüstung, Umweltschutz, einer Finanztransaktionssteuer oder der Gegnerschaft zu Studiengebühren deckt der DGB gegenwärtig ziemlich alle mehrheitsfähigen Meinungen ab, die man sich spontan vorstellen kann. Indem die Gewerkschaften einer verwundbaren Klientel, jungen Bürgern, Schutz versprechen, sich kümmern und auf diese nützlich wirken, gewinnen sie neue Mitglieder. Statistisch schlägt sich das bereits nieder: 2010 wuchs die Zahl der Studierenden um drei Prozent (auf 33.000).

380 Siehe Manten, Dirk: Die Hochschule der Zukunft, in: Mitbestimmung, H. 7-8/2009, S. 54-57; o.V.: Campus Offensive, in: einblick, H. 19/2009, S. 5; o.V.: Unterstützung vom DGB, in: einblick, H. 21/2009, S. 2; o.V.: Nullnummer Praktikum, in: einblick, H. 20/2010, S. 5; o.V.: Eine Plattform für die junge Generation, in: einblick, H. 1/2011, S. 3; o.V.: Den Campus entern, in: einblick, H. 7/2011, S. 5; o.V.: Gute Wissenschaft braucht Gute Arbeit, in: einblick, H. 9/2011, S. 5. 381 Vgl. den Beitrag von Olaf Schwede in: einblick, H. 20/2009, S. 4; o.V.: DGB fordert umfassende BAföG-Reform, in: einblick, H. 7/2010, S. 5. 382 Siehe z.B. Bsirske, Frank/Schröder, Lothar/Werneke, Frank (Hg.): Netzpolitik. Gewerkschaftliche Positionen und Kontroversen, Hamburg 2011.

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Die Generation der Feuerwehrleute: Personalerneuerung Nicht nur die politischen Positionen sind modernisiert worden. Auch das Gewerkschaftspersonal hat sich in den vergangenen zehn Jahren verändert. Berthold Huber, seit November 2007 der Erste Vorsitzende der IG Metall, ist leibhaftiges Beispiel für die Öffnung der Gewerkschaftsspitze gegenüber bislang ungewöhnlichen Karrierewegen. Sein Aufstieg in der Gewerkschaft unterschied sich gehörig von dem seiner Vorgänger. Huber, Jahrgang 1950, stammte aus einer frommen Ulmer Familie, deren Gottesfurcht über den sonntäglichen Kirchenbesuch hinausging; gegen diese Strenge rebellierte er, machte 1969 zwar sein Abitur, absolvierte anschließend jedoch eine Werkzeugmacherlehre, statt wie von seinen Eltern gewünscht an einer Universität Jura zu studieren; der IG Metall trat er mit 21 Jahren bei, engagierte sich für die Anliegen seiner Kollegen und wurde mit 28 Jahren Gesamtbetriebsratsvorsitzender bei Kässbohrer, damit verantwortlich für rund 5000 Menschen; zeitweise war er in kommunistischen Gruppen unterwegs; anschließend begann er kurzerhand 1985 ein Studium der Geschichte und Philosophie; erst spät wurde er IG-Metall-Funktionär.383 Doch selbst dann noch begab er sich nicht auf die althergebrachte Ochsentour. Eine Stelle als Bezirksleiter in Sachsen lehnte er ab, weil er sich als alleinerziehender Vater um seine Tochter kümmern wollte – wie viele frühere Berufsfunktionäre hätten sich eine solche Chance auf die umkämpften Führungspositionen entgehen lassen? Dennoch avancierte Huber zu einem der wenigen Abteilungsleiter im Frankfurter IG-Metall-Hauptquartier. Erst später, von 1998 bis 2003, war er Bezirksleiter – in Baden-Württemberg. 2003 wurde er Zweiter Vorsitzender der IG Metall, im November 2007 stand er dann schließlich als Erster Vorsitzender an deren Spitze. Diese verworrene und mehrfach gebrochene Karriere erwies sich für die IG Metall als Segen. Huber hatte auf seinem Lebensweg unterschiedliche Lebenswelten kennengelernt – er stammte aus einer eher bürgerlichen Familie, hatte

383 Vgl. dazu Hagelüken, Alexander/Öchsner, Thomas (Interview mit Berthold Huber): „Ich wollte die Weltrevolution“, in: Süddeutsche Zeitung, 11.02.2011; o.V.: Tarifpolitischer Vorreiter, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 20.06.2001; Borstel, Stefan v./Wisdorff, Flora: IG Vernunft, in: Die Welt, 08.11.2007; Henkel, Peter: Querdenker mit Tatendrang, in: Frankfurter Rundschau, 15.04.2002; Frese, Alfons: „Nicht immer nur mit ‚Nein‘ reagieren“, in: Der Tagesspiegel, 04.09.2007; Wiedemann, Günther M.: Mit dem Ruf des Modernisierers, in: Kölner Stadt-Anzeiger, 05.09.2007; Kahl, Jürgen: Kein Mann der Trillerpfeife, in: Neue Zürcher Zeitung, 28.12.2011.

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sich zum Facharbeiter ausbilden lassen und jahrelang Erfahrungen in einem großen Industriebetrieb gesammelt, war anschließend in das akademische Milieu abgetaucht, um letztlich Berufsfunktionär bei einer Gewerkschaft zu werden, nebenbei sogar als Alleinerziehender mit der problematischen Vereinbarkeit von beruflichen und familiären Verpflichtungen konfrontiert zu werden. Welcher hochrangige Funktionär konnte schon eine solche Zahl von Streifzügen in unterschiedliche Sphären und Milieus vorweisen? Huber war anders. Er sagte Sätze wie: „Laut reicht nicht.“384 Und: Eine Gewerkschaft „braucht auch ein paar intellektuelle Siege, um einen Tarifabschluss durchzusetzen“. Während sein Vorgänger Zwickel einstig über das lächerliche „Mickymaus-Angebot“ der Arbeitgeberseite schimpfte, bezeichnete Huber das Verhalten vieler Unternehmer als „eine intellektuelle Beleidigung“.385 Sein Erscheinungsbild entsprach dem Klischee eines geisteswissenschaftlichen Professors:386 Er redete leise und bedächtig, oft in verschachtelten Sätzen, legte seine Stirn in nachdenkliche Falten, während er einen langen Zug an seiner Zigarette nahm; außerdem ging er schöngeistigen Hobbys nach, verschlang Literatur und interessierte sich für Kunst. Rhetorik und Habitus unterschieden sich von dem seiner Vorgänger und Kollegen. Aber nicht nur das: Daneben war er offenkundig ein Reformgeist, machte keinen Hehl daraus, dass sich die Gewerkschaft an vielen Stellen baldmöglichst zu ändern hatte: So erklärte er die Mitgliedergewinnung zur wichtigsten Frage, wohingegen politische Forderungen wie die Ablehnung der Rente mit 67 oder die Ausbildungsplatzabgabe eher von nachrangiger Bedeutung erschienen.387 Außerdem verdeutlichte er, dass die Loyalität seiner Gewerkschaft zum DGB nicht emotional und heilig war, sondern stattdessen die pragmatische Frage danach, wie viel Geld und Kompetenzen man dem DGB gegen welche Gegenleistung überlassen könne und ob der Dachverband „überhaupt ein Geschäftsmo-

384 Hier und folgend zitiert nach Hagelüken, Alexander/Öchsner, Thomas (Interview mit Berthold Huber): „Ich wollte die Weltrevolution“, in: Süddeutsche Zeitung, 11.02.2011. 385 Zwickel zitiert nach Dettmer, Markus/Jung, Alexander/Niejahr, Elisabeth: Ende der mageren Jahre?, in: Der Spiegel, 08.02.1999; Huber zitiert nach Fickinger, Nico/ Astheimer, Sven (Interview mit Berthold Huber): „Die alte Lohnformel wird aufgekündigt“, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 08.04.2006. 386 Siehe dazu Haas, Sibylle: Reformfreudiger Pragmatiker an der Spitze der IG Metall, in: Süddeutsche Zeitung, 05.11.2007. 387 Siehe Borstel, Stefan v./Wisdorff, Flora: IG Vernunft, in: Die Welt, 08.11.2007; Wisdorff, Flora: Sanfter Arbeiterführer, in: Welt am Sonntag, 19.02.2012.

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dell“388 besitze. Huber gab sich als Realist, Pragmatiker, Jobsicherer:389 Statt partout auf Lohnsteigerungen und der peniblen Einhaltung von tarifvertraglichen Errungenschaften der Vergangenheit zu bestehen, gab Huber der Jobsicherung Priorität, statt dogmatisch an vorhandenen, jedoch überholten Regularien festzuhalten, kam er mit erfrischenden Ideen, hier und da eine Veränderung vorzunehmen; z.B. plädierte er für Kurzarbeit und wollte den Unternehmern die Erlaubnis geben, für den Erhalt von Arbeitsplätzen vom Tarifvertrag abweichen zu dürfen. Aufgeschlossen suchte der Huber das Gespräch nach allen Seiten – mit Ackermann, mit Merkel, mit Aktivisten der Occupy-Bewegung. Das Handelsblatt zählte ihn aufgrund seiner Strategie der Jobsicherung zu den Erneuerern der Republik,390 galt als „einer der herausragenden und klügsten Köpfe“391, die die IG Metall aufzubieten hatte, war deren „Hoffnungsträger“392. Kurzum: Die öffentliche Meinung schätzte ihn als unkonventionell, kreativ, originell, fortschrittlich agierenden Gewerkschafter. Damit schien er in der Tat der geeignete Mann zu sein, um nach einer entbehrungsreichen Zeit des Mitglieder-, Macht- und Geldverlusts die IG Metall wieder in die Erfolgsschiene zurückzuführen und sie von ihrem öffentlichen Image des ewigen Blockierers zu befreien. Freilich profitierte er dabei auch vom Kontrast seines Vorgängers Jürgen Peters, der sich laut, klassenkämpferisch und dogmatisch gegeben hatte, wovon sich Huber rhetorisch, äußerlich und politisch stark abheben konnte – das machte ihn insgesamt zu einer erfrischenden und interessanten Persönlichkeit. Vor allem aber war er – der nicht bloß in der Zentrale eine Abteilung leitete, sondern an der Spitze der gesamten Organisation stand – Ausdruck einer stark veränderten Organisationskultur und einer neuen Generation von führenden Funktionären. Er war der Kopf einer Gruppe junger Reformkräfte, die in den 1950er und 1960er Jahren geboren

388 Huber zitiert nach Strohschneider, Tom: Reform oder Konkurs, in: Freitag, 25.04.2008; vgl. Peters, Klaus: Ein Weckruf wie ein Donnerhall, in: Neue Ruhr Zeitung, 01.05.2008; Wiedemann, Günther M.: Beispiellose Attacke auf den DGB, in: Kölner Stadt-Anzeiger, 04.04.2008. 389 Siehe hierzu o.V.: Kluger Huber, in: Süddeutsche Zeitung, 27.10.2009; Henkel, Peter: Querdenker mit Tatendrang, in: Frankfurter Rundschau, 15.04.2002; Kahl, Jürgen: Kein Mann der Trillerpfeife, in: Neue Zürcher Zeitung, 28.12.2011. 390 Siehe o.V.: Mit Leidenschaft: Deutschland, Deine Erneuerer, in: Handelsblatt, 23.12.2010. 391 O.V.: Tarifpolitischer Vorreiter, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 20.06.2001. 392 Rademaker, Maike: Der Hoffnungsträger, in: Financial Times Deutschland, 07.07.2003.

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waren und nun, in den 2000er Jahren, in bemerkenswert niedrigem Alter in die Spitzenpositionen des IG-Metall-Apparats vorrückten. Die Betrachtung Hubers lenkt den Blick auf einen bedeutungsvollen Punkt in der Organisationsentwicklung: Zwischen 2000 und 2005 vollzog sich in der nicht nur im Mitglieder, sondern auch im Funktionärsbereich ergrauten IG Metall eine Verjüngung des Führungspersonals. Durch das normierte Karrieremuster der mehrere Jahrzehnte umfassenden Ochsentour hatte es in den Spitzenpositionen der Gewerkschaft bis dahin vor allem Personal im Alter von Ende fünfzig, Anfang sechzig gegeben. 2003/04 tauschte die IG Metall jedoch gleich mehrere ihrer Bezirksleiter aus – Sechzigjährige wurden von Vierzig- bis Fünfzigjähren abgelöst (z.B. in Berlin-Brandenburg-Sachsen ging Hasso Düvel für den 47jährigen Olivier Höbel, in Nordrhein-Westfalen kam der 51-jährige Detlef Wetzel an die Spitze, in Baden-Württemberg der studierte Ökonom Jörg Hofmann (47 Jahre), im Bezirk Küste ging der mehr als sechzigjährige Frank Teichmüller, im Bezirk Frankfurt verabschiedete sich der 61-jährige Klaus Mehrens zugunsten des fast zwanzig Jahre jüngeren Armin Schild, in Bayern zog sich wenig später der sechzigjährige Werner Neugebauer für den immerhin 54-jährigen Jürgen Wechsler zurück). Ausgerechnet im größten aller IG-Metall-Bezirke, im nordrhein-westfälischen, gelangte Ende 2007 mit dem damals 35-jährigen Oliver Burkhard der jüngste Bezirksleiter der IG-Metall-Geschichte an die Spitze, im Bezirk Küste Ende 2004 mit Jutta Blankau die erste Frau in dieser Position. Die neuen Führungskräfte ticken anders als ihre Vorgänger: Sie alle wollen Tarifverträge nicht nach starren Grundsätzen abfassen, sondern auf die jeweilige Situation immer wieder neu zuschneiden, außerdem „näher ran an die Mitglieder“ und „rein in die Betriebe“,393 sind jung, z.T. akademisch und sie vergreifen sich nicht klassenkämpferisch im Ton, sondern argumentieren sachlich und nachvollziehbar.394

393 Oliver Burkhard zitiert nach Wiedemann, Günther M.: 35-Jähriger leitet den größten IG-Metall-Bezirk, in: Kölner Stadt-Anzeiger, 11.12.2007. 394 Siehe u.a. Genoux, Jörg: Jutta Blankau soll künftig die IG Metall Küste führen, in: Kieler Nachrichten, 07.10.2004; Linneweber, Silke: Der letzte Klassenkämpfer, in: Rheinischer Merkur, 02.02.2006; Ritzer, Uwe: Kühler Analytiker, in: Süddeutsche Zeitung, 14.12.2005; Haas, Sibylle: Gewerkschafter in Nadelstreifen, in: Süddeutsche Zeitung, 30.06.2008; Schulte, Stefan: Der bewegliche Metaller, in: Westdeutsche Allgemeine Zeitung, 02.03.2007; Knott, Thilo: Der nachtaktive SüdwestMetaller, in: die tageszeitung, 03.05.2007; o.V. (Interview mit Jörg Hofmann): „Der Schlag Sahne obendrauf schmeckt gut“, in: Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, 26.02.2012.

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Auch in die Basisämter, z.B. die 1. Bevollmächtigten, rücken nun zunehmend junge Gewerkschafter im Alter zwischen Ende dreißig und Mitte vierzig vor, die glauben, durch mutige Einschnitte etwas bewirken zu können.395 Über „Traineeprogramme“ holt sich die IG Metall junge Funktionäre, die durch ihre geburtsmäßige Nähe zur Zielgruppe bspw. der „Generation Praktikum“ besser als ältere Kollegen junge Leute als Mitglieder gewinnen können – denn vermutlich können sie sich weitaus zutreffender in deren Lage hineinversetzen und deren Probleme wie Sorgen nachempfinden.396 Nochmal: Sie alle bilden die Avantgarde einer neuen Generation von Gewerkschaftsfunktionären, die mit unkonventionellem Denken und aktuellen Erfahrungswerten aus der Lebenswelt vieler Bundesbürger den Anschluss an die Gesellschaft schaffen könnten – zumindest eher als die vorangegangene Generation. Denn teilweise hatten sie noch nicht einmal das Licht der Welt erblickt, zum Zeitpunkt als die Gewerkschaftslenker der 1990er Jahre bereits einer Gewerkschaft und der SPD beigetreten waren.397 Derzeit vollzieht sich also in den deutschen Gewerkschaften ein Generationswechsel, durch den die in den 1940er und frühen 1950er Jahren geborenen Funktionäre, die in den 1970er Jahren den Gewerkschaftsapparat übernommen und politisch gerne den von klassenkämpferischem Vokabular begleiteten Konflikt gesucht hatten,398 in Rente gehen und Platz für junges Personal machen, das allein schon durch seine spätere Geburt viel näher am Nerv der Zeit sein dürfte. Denn das war eines der großen Probleme der deutschen Gewerkschaften in den 1960er und 1970er Jahren: Die jeweiligen Funktionärskohorten verstanden vielerorts die nachwachsenden Generationen nicht mehr – und umgekehrt. Die Jugendlichen der 1970er Jahre z.B. hatten gänzlich andere Erfahrungen gemacht als ihre Eltern und Großeltern: Denn wer in den 1950er Jahren geboren worden war, hatte vollends die „Wirtschaftswunder“-Zeit miterlebt, jedoch in keinen Bombennächten im Keller oder Bunker gezittert, kannte auch nicht mehr die hungrigen Bäuche der Nachkriegsjahre, sondern stattdessen den Einzug der Kühlschränke, Musiktruhen und Fernsehgeräte in die westdeutschen Haushalte; Drogen und Pille erweiterten zudem den mentalen und sexuellen Horizont.399 Im

395 Siehe etwa Kemp, Alexandra: Marko Röhrig ist neuer Chef der IG Metall, in: Rheinische Post (Düsseldorf), 14.03.2012. 396 Siehe bspw. o.V.: Eine Stimme für die Gewerkschaftsjugend, in: Rheinische Post (Düsseldorf), 23.11.2011. 397 Steinkühler war 1951 der IG Metall und SPD, Zwickel 1954 bzw. 1959 beigetreten. 398 Vgl. dazu Jäger/Link 1987, S. 181 f. 399 Vgl. bspw. Horx, Matthias: Aufstand im Schlaraffenland. Selbsterkenntnisse einer rebellischen Generation, München 1989, S. 15-18.

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Unterschied zu ihren Eltern und Großeltern waren sie eine äußerst redselige, gesprächige und diskussionsfreudige Kohorte, die über alles redete, vieles – z.T. Alltägliche – thematisierte, über das zuvor geschwiegen worden war. Sie waren darauf aus, dass Akteure wie die Gewerkschaften ihr Handeln begründen, mit Argumenten überzeugen. Die Funktionäre, die damals die Gewerkschaften führten, vermochten das allerdings kaum. Und ebenso waren die darauffolgenden Funktionärsjahrgänge nicht in der Lage, in den 1990er Jahren eine neuerlich veränderte Jugend zutreffend zu interpretieren und den richtigen Umgang mit ihr zu finden. Die aktuelle Verjüngung könnte erstmals seit Langem wieder eine Annäherung ermöglichen, da die neuen Funktionäre anders als ihre Vorgänger viel stärker mit den pessimistischen Perspektiven einer in regelmäßigen Krisen befindlichen Wirtschaft aufgewachsen und vertraut sind. Neben diesem biografischen Einschnitt fällt aber auch die Bereitschaft des neuen Führungspersonals auf, Reformen nicht nur verbal anzukündigen, sondern sie auch hemdsärmelig durchzuboxen. Mit Berthold Huber – und auch dem 1964 geborenen Michael Vassiliadis – stehen an der Spitze von IG Metall und IG BCE zwei Funktionäre, die einerseits Elan versprühen, andererseits aber aufgrund der finanziellen Bedrängnis, in die ihre Organisationen mittlerweile geraten sind, auch zu einem inständigen Reformkurs gezwungen sind. Sie verkörpern ein neues Selbstbewusstsein, die Gewerkschaften in naher Zukunft wieder zu finanziell gesunden und politisch angriffslustigen Akteuren zu machen – all das also, was sie in den vergangenen zwei Jahrzehnten nicht mehr gewesen sind. Unter ihnen hat sich zuletzt der Stellenwert von Mitgliedern und der Basis, des porös gewordenen Organisationsunterbaus, erstmals seit langer Zeit wieder deutlich gesteigert. Auch haben sie ihre Lehren aus politischen Niederlagen der jüngeren Vergangenheit gezogen, verzichten stärker als ihre Vorgänger auf Krawallrhetorik und martialische Drohungen. Ihr Gebaren ist anders: sachlich, aber bestimmt, im Auftritt eher akademisch als plebejisch. Auch der Eindruck ihrer Amtsführung hebt sich von dem ihrer Vorgänger ab, insbesondere bei der IG Metall: Sie tragen keine feindschaftlichen Führungskonflikte mit Konkurrenten aus, sondern widmen ihre Zeit anscheinend vollständig der schleunigen Modernisierung ihrer Organisation. Und man traut ihnen wohl eher als früheren Vorsitzenden zu, die Notwendigkeit neuer Methoden und Positionen verinnerlicht zu haben. Für den neuen Typus sind Gewerkschaften „Ordnungsfaktor“ und nicht „Gegenmacht“ – unter Huber hat sich die stets hartgesottene IG Metall an die IG BCE angenähert, die auch schon vor Michael Vassiliadis moderate Töne an-

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schlug.400 Vor allem: Die neue Gewerkschaftsgarde, die gegen Ende der 2010er Jahre die Führung übernommen hat, hat die organisatorische Notlage offenkundig begriffen. Nach unzähligen Jahren des tatenlosen Stillstands ist sie als Feuerwehr herbeigeeilt, um einen schwerwiegenden Substanzverlust abzuwenden. Sie will Mitglieder gewinnen, unerschlossene Potenziale ausschöpfen, Präsenz in den Betrieben herstellen und sie ist bereit, dafür von alten Gewohnheiten Abschied zu nehmen, bislang unübliche Ansätze auszuprobieren, tatkräftig ans Werk zu gehen, nachdem die Vorräte aus der Vergangenheit von ihren Vorgängern aufgezehrt worden sind. Der Kraftverlust ist mittlerweile existenzbedrohlich geworden – wie gesagt, musste der Personalbestand aufgrund unzureichender Einnahmen zuletzt abgebaut werden. Die Hauptkasse der IG Metall schrieb in den 2000er Jahren rote Zahlen, 1999 war sie mit 18 Millionen im Minus, 2002 mit acht, 2004 mit 17 und 2006 mit 13 Millionen.401 Für die Gewerkschaftsspitze war dies allerdings gut, denn die harten Zahlen stärkten ihre Autorität und Legitimation, hart durchzugreifen. Und Huber wie auch einige seiner Kollegen nutzten diesen erweiterten Spielraum politischer Führung. Sie haben gelernt, dass etliche Beschäftigtengruppen nicht mehr mit der bevormundenden Anleitung durch die Gewerkschaft angesprochen werden können, sondern dass man ihnen Mitgestaltungsmöglichkeiten einräumen muss, damit sie ihre Kreativität entfalten können, sich nicht in Schablonen gepresst und in Hierarchien eingesperrt sehen. Auch unterhalb der obersten Gewerkschaftselite hat sich durch den altersbedingten Abgang einiger Funktionärskohorten ein mentaler Generationswechsel vollzogen. All jene Funktionäre, die in den 1970er Jahren ihre politischen Prägungen erhielten und eine politische Sprache erlernten sowie in der Führung der Organisationsgeschäfte unterwiesen worden waren, werden in nicht allzu ferner Zeit in Rente gegangen sein. Viele sind es schon. Und darin liegt eine gewaltige Chance für die deutschen Gewerkschaften. Sie können sich eines enormen Ballasts entledigen, der bislang verhinderte, dass sie sich auf neue Rekrutierungsverfahren einließen, ja dass sie überhaupt ernstlich versuchten, neue Mitglieder zu gewinnen. Die Gewerkschaftssprache ihrer Vorgänger finden die Neuen komplett langweilig, völlig unzeitgemäß: Die Reden glichen „mathematischen Formeln: immer richtig, aber immer auch äußerst steril“, die Sprache leide an einer „Substantivitis“, bei der „ein Hauptwort mit -ung ein anderes mit -heit“ ablö-

400 Vgl. o.V.: Mäßigend, in: Frankfurter Rundschau, 29.08.2003; Hank, Rainer: Die Ära Rappe neigt sich in der IG Chemie dem Ende zu, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 26.08.1994. 401 IG Metall Vorstand (Hg.) 2007, S. 218 f.

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se und in der „nur ein Satz mit den unvermeidlichen Doppelungen als korrektes Gewerkschaftsdeutsch (‚Die Interessen der Mitglieder und Beschäftigten sollen den Konkurrenz- und Profitinteressen der Unternehmer unter- und nachgeordnet werden‘)“ gelte.402 Und stimmte das nicht irgendwie auch? Die neue Funktionärsgeneration hat also offenbar Zustände und Lehren verinnerlicht, die für ihre Vorgänger noch neue Entwicklungen und fragwürdige Ideen gewesen waren, von denen man nicht wusste, wie lange sie anhalten und wie gut sie funktionieren würden: der allmähliche Zerfall des Flächentarifwesens, die Verbreitung von Teilzeit- und Leiharbeit, das unternehmerische Bedürfnis nach flexiblen Verträgen oder das Ende eines schier unaufhörlich fortschreitenden Wachstums von Wirtschaft und Wohlstand. All das haben die Gewerkschaften inzwischen als unumkehrbare Verhältnisse akzeptiert, auf die sie nun nicht mehr mit störrischer Anpassungsverweigerung reagieren, sondern aufgeschlossen nach geeigneten Reaktionen fahnden, zunehmend eine „neue Form der Zukunftsoffenheit“403 zeigen. Jetzt profitieren sie von der „Austrocknung“404 ihrer Organisationsbasis, vom Verlust des Ehrenamts. Denn das ermöglicht ihnen den Neuaufbau von Strukturen in moderner Form. Schon lange war die Experimentierfreude unter Gewerkschaftsfunktionären nicht mehr so groß wie heute. Weil die Blockade gestriger Funktionäre gelöst ist, können sie neue Denkweisen und Verhaltensmuster einführen, mit denen sie in der heutigen Arbeitswelt besser als früher zurechtkommen. Außerdem sind Funktionäre und Gewerkschaften im Vergleich zur Vergangenheit nicht mehr unverbrüchlich und lebenslang verbunden.405 Funktionäre suchen sich neue Alternativen, wenn ihnen ihr Gewerkschaftsjob nicht mehr gefällt. Diese gelockerte Bindung kann sie auch mutiger und machen. Auch hat sich die Organisation für Quereinsteiger geöffnet, die mit frischen Ideen und ungewöhnlichen Sichtweisen den Apparat bereichern können. In der IG BAU wird bspw. die Bundesfachgruppe Gebäudereiniger-Handwerk von einer Frau geleitet, die als Reinigungskraft arbeitet und die prekären Arbeitsbedingungen befristeter Beschäftigungsverhältnisse aus eigener Anschauung kennt: Sie hat die Erfahrung gemacht, dass gute Leistung nicht vor Kündigung schützt, war Leidtragende der üblichen Pra-

402 Kern 2000, S. 586. 403 Schroeder, Wolfgang: Traum oder Albtraum? Die Zukunftsdebatten in der Industriegewerkschaft Metall und ihre Rückwirkungen in die Organisation, in: Frankfurter Rundschau, 09.07.2001. 404 Steinke 1993: Organisationsprinzip, S. 244. 405 Vgl. Mückenberger/Stroh/Zoll 1996, S. 19.

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xis unsicherer Sechsmonatsverträge und weiß daher um den damit verbundenen Stress.406 Kurz gesagt: Noch immer dürften etliche Funktionäre in Hubers und Wetzels Strategie eine eilfertige Preisgabe hart erkämpfter Errungenschaften der Gewerkschaftspolitik gesehen haben. Doch vermutlich handelte es sich dabei um eine überfällige Anpassung an neue Gegebenheiten, die das orthodoxe Festhalten an Altem schlechterdings nicht mehr länger zuließen. Der großräumige Personalwechsel in den Gewerkschaftssekretariaten und -zentralen eröffnet die Chance, dass sich die Gewerkschaften nicht nur physisch verjüngen, sondern auch geistig renovieren. Beteiligung und Imagekosmetik: Organisationserneuerung Zuletzt haben viele deutsche Gewerkschaften jedenfalls keinen Zweifel daran gelassen, neue Mitglieder gewinnen zu wollen. Und das sollte vor allem über Mitsprache erreicht werden. So ging bspw. die IG Metall in die „Mitgliederoffensive“407 und gab die Parole aus: „Beteiligung muss ernst gemeint sein.“408 In der Tat hatten schon seit Jahrzehnten die Mitglieder beteiligt werden sollen, doch verkam dieses Wort in der Praxis jedes Mal zu einer bedeutungslosen Floskel – von Basisbeteiligung war in den starren und hierarchischen Gewerkschaften zumeist keine Spur gewesen. Das änderte sich nun, in der zweiten Hälfte der 2000er Jahre. Jetzt gab es etliche Pilot- und Modellprojekte, mit denen die Beschäftigten für die Gewerkschaft begeistert werden sollten, mit denen sich die behäbigen Großorganisationen endlich an gewandelte Engagement- und Vertretungsbedürfnisse anpassen wollten. So suchte z.B. das gewerkschaftliche „Netzwerk Beteiligung“ eine neue Kultur der Mitsprache und des Mitmachens zu etablieren, indem es konventionelle und unkonventionelle Engagierte, Ehren- und Hauptamtliche zusammenbrachte. Ferner nutzte die IG Metall die brenzlige Lage hochqualifizierter Angestellter, die ihre Verwundbarkeit auf einem dicht gedrängten Arbeitsmarkt eindringlich erfahren hatten. So richtete sie 2007 eigens einen Vorstands- und Funktionsbereich für Angestellte und Ingenieure ein und entwickelte eine neue Streikkultur. Die Gewerkschaft ordnete nun nicht mehr ohne weitere Diskussion den Arbeitskampf an, sondern ließ die Betroffenen selbst den Beschluss zum Wider-

406 Siehe Neumann, Susanne: „Menschen zweiter Klasse“, in: einblick, H. 6/2010, S. 7. 407 Zitiert nach einblick, H. 21/2007. 408 Siehe Friedrich, Daniel: Ran an die Mitglieder, in: einblick, H. 19/2007.

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stand fassen und die Aktionen selbst planen und organisieren.409 Statt als Befehlsgeber trat sie als Unterstützer auf. Beispielsweise bezog TRANSNET unter dem Motto „Gewerkschaft bist Du“ die Mitglieder und Aktivisten in den Fusionsprozess mit der Beamtengewerkschaft GDBA ein, um zu verhindern, dass die Verschmelzung beider Organisationen zu einer Verkehrsgewerkschaft nicht als eine von autoritären Vorständen auferlegte Maßnahme erschien.410 Mit ihren Initiativen und Kampagnen „Gute Arbeit“ und „Besser statt billiger“ versetzte die IG Metall einfache Beschäftigte und Betriebsräte in die Rolle von Experten ihres eigenen Arbeitsplatzes, brachte ihnen große Wertschätzung entgegen und ließ sie nach eigenem Gutdünken die Vorstellungen verbesserter Arbeitsbedingungen ausarbeiten.411 Derlei Projekte machten den Beschäftigten den Nutzen gewerkschaftlicher Tätigkeit oft überhaupt erstmals begreiflich. Insbesondere die nordrhein-westfälische IG Metall schwächte das Delegationsprinzip ab und ließ die Mitglieder über die Inhalte von Tarifverträgen abstimmen. Durch die eigene Mitwirkung an der Gewerkschaftsarbeit gewannen sie eine Vorstellung von den Möglichkeiten, über die gewerkschaftliche Konfliktbereitschaft die Arbeitsbedingungen sichtlich zu verändern, den eigenen Arbeitsplatz zu gestalten, kurz: Was man mit Gewerkschaften im Arbeitsalltag alles verändern und beeinflussen kann. Mit solchen Reformen unterstrich die IG Metall ihren neuen Anspruch, „Mitmach- und Beteiligungsgewerkschaft“412 zu sein. Und die Mitgliederprojekte ließ sie sich auch einiges kosten, investierte zweistellige Millionenbeträge in diese Versuche, ihre Organisationskraft zu stärken. Die Bezahlung von Mitgliederprojekten hat sich zumindest als sinnvoller als der von Werbekampagnen erwiesen. So fand in der Tat eine Annäherung an die seit Längerem gewandelten Ehrenamts- und Beteiligungsvorstellungen vieler Bürger statt, boten einige Gewerkschaften ungebundene, spontane und problembezogene Partizipation an, gewährten den Beschäftigten – somit den Betroffenen – die Möglichkeit, ihr Arbeitsumfeld in eigener Regie mitzugestalten. Viel besser als früher war nun erkennbar, worin genau eigentlich der Vorzug der Gewerkschaftsarbeit liegen konnte. Gewerkschaften nutzten den Menschen plötzlich wieder etwas.

409 Vgl. Tornau, Joachim F.: Die Metall und die Ingenieure, in: Mitbestimmung, H. 11/2009, S. 16-19. 410 Siehe Interview mit Alexander Kirchner in: einblick, H. 20/2009, S. 6. 411 Vgl. Brettschneider, Antonio et al.: Konzepte gegen die Krise? Chancen und Ambivalenzen betrieblicher „Besser“-Strategien für Arbeitspolitik und Interessenvertretung, in: WSI-Mitteilungen, H. 9/2010, S. 451-457, hier S. 453 u. S. 455. 412 Vgl. o.V.: Akteure vernetzen sich, in: einblick, H. 18/2009, S. 5.

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Noch an anderer, ganz entscheidender Stelle hat sich das gewerkschaftliche Beteiligungsverständnis verändert: im Umgang mit Betriebsräten. Diese sind zwar häufig selbst Mitglied in einer Gewerkschaft, doch empfanden die immerhin gesetzlich legitimierten Belegschaftsvertreter die Gewerkschaften nicht selten als Störenfriede, die sich in ungebührlicher Weise in die innerbetrieblichen Beziehungen einmischten. Ebenfalls kam es vor, dass sich Betriebsräte von den Gewerkschaften im Augenblick der Krise – wenn bspw. Geschäftsleitungen mit dem Gedanken von Entlassungen und Gehaltskürzungen spielten – alleingelassen fühlten. Ehemals misstrauische Gewerkschaften wie die IG Metall sind inzwischen bereit, Betriebsräte, die stark am Management der Firma beteiligt sind, nicht mehr unter den Generalverdacht einer Kollaboration mit scheinbar raffgierigen Arbeitgebern zu stellen, sondern in ihnen eine Gestaltungschance, einen Partner, zu sehen, solange die Betriebsräte ihr Vorgehen mit der Belegschaft rückkoppeln und sich ihren unternehmensinternen Einfluss nicht durch Unterwürfigkeit gegenüber dem Arbeitgeber erkaufen.413 Oft war das Verhältnis zwischen Betriebsräten und Gewerkschaftsfunktionären nicht annähernd so harmonisch, wie es das klassische Gebot von der Solidarität der Arbeiterbewegung erwarten ließ. Hauptamtliche Funktionäre beklagten sich mitunter, dass sich Betriebsräte großer Firmen, deren Belegschaft einen bedeutsamen Teil der örtlichen Gewerkschaftsmitgliedschaft ausmachte, wie herrische „Betriebsfürsten“ aufführten und gegenüber den Gewerkschaftern einen Kommandoton anschlügen.414 Umgekehrt empfanden Betriebsräte die Gewerkschaftsvertreter allzu oft als bevormundende Kollegen, die sich stets im Besitz der korrekten Einschätzung und des überlegenen Konzepts wähnten. Jedenfalls: Zwischen diesen beiden Gruppen bestanden mitunter erhebliche Vorbehalte, kam es zu Konflikten aufgrund unterschiedlicher Sichtweisen auf dasselbe Problem und kollidierender Autoritätsansprüche. Die Beziehung zwischen Gewerkschaftsangestellten und Betriebsräten war also schon immer angespannt. Doch als in den 1980er und 1990er Jahren eine wachsende Zahl von Betriebsräten mit zunehmend heftigeren Problemen konfrontiert wurde, ging sie vielerorts endgültig in die Brüche. Gewerkschafter hatten den Betriebsräten nichts mehr zu bieten; letztere wiederum fühlten sich allein gelassen, mussten Entlassungen mittragen, manchmal den Untergang ihres gesamten Betriebs begleiten. Viele von ihnen hatten es daher nicht leicht und litten unter ihrem aufreibenden Alltag, der Abwicklung des Bankrotts, in ständigem Kontakt mit leid-

413 Siehe Gerst, Detlef: Zwischen Wettbewerbspakt und Produzentendemokratie. Betriebsräte im Innovationsprozess, in: Sozialismus, H. 5/2011, S. 46-51. 414 Vgl. Prott/Keller 2002, S. 215-253.

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vollen Schicksalen des Arbeitsmarkts. Wo waren in diesen Momenten die Gewerkschaften, was taten sie eigentlich? Hinzu kam auch noch Konkurrenz. Holten sich Betriebsräte, die sich ja aus der Belegschaft rekrutierten und diese repräsentative Tätigkeit beruflich gar nicht erlernt hatten, ursprünglich ihr nötiges Wissen in Gewerkschaftsseminaren, können sie es inzwischen auf einem freien Markt besorgen, der sich aus einer Reihe nichtgewerkschaftlicher Anbieter entwickelt hat.415 Viele Belegschaftsvertreter haben zuletzt diese Möglichkeit genutzt, um sich nicht von den Gewerkschaften vereinnahmen zu lassen, sich deren unterschwelliger Ideologieschulung zu entziehen. Auf diesem lange Zeit wichtigen Feld sind die Gewerkschaften nicht mehr Exklusivanbieter, sondern eine von mehreren Adressen. Das allerdings war ein erhebliches Problem. Denn Betriebsräte, so zeigen es Statistiken, bringen Mitglieder.416 Für Gewerkschaften sind sie der entscheidende Einlasspunkt, die Pforte in die Betriebe. Dort, wo es keinen Betriebs- oder Personalrat gibt, treffen Gewerkschafter ohnehin auf eine für sie schwierige Umgebung. Außerdem haben Betriebs- und Personalräte in den letzten zwanzig Jahren an Stellenwert hinzugewonnen.417 Durch die weitläufige Abwesenheit von ehrenamtlichen sowie die geringe Sichtbarkeit der hauptamtlichen Funktionäre werden Betriebsräte von den Beschäftigten ganz oft als Gewerkschaftsvertreter identifiziert. Überdies sind sie häufig die einzigen in einer Gewerkschaft, die mit den Lebenslagen der Beschäftigten vertraut sind, die den Gewerkschaften als Experten unterschiedlicher Sozialtypen dienen können. Und da die Arbeitsbedingungen viel häufiger als früher in den Betrieben verhandelt und nicht mehr von zentralen Tarifverträgen bestimmt werden, die Verbandsvertreter geschlossen haben, ist ihre Gestaltungsmacht ebenfalls gestiegen. All das gebietet den Gewerkschaften seit geraumer Zeit, ihr Verhalten gegenüber dieser Gruppe zu überdenken, sie weniger als Konkurrenz denn Verbündeten zu betrachten. Freilich haben Gewerkschaften auch in diesem Punkt einige Zeit und einen generationsbedingten Wechsel benötigt, um das zu begreifen und auch umzusetzen. Doch mittlerweile haben Gewerkschafter zu einem neuen Umgang mit ihren Kollegen im Betrieb gefunden, allen voran die IG Metall. Sie hat ihr vormals als patriarchalisch empfundenes Rollenverständnis an die Gegebenheiten des 21.

415 Vgl. Obermayr, Ulrike/Kulas, Rolf: Betriebsrätebildung – zwischen Marktinteressen und politischem Anspruch, in: Sozialismus, Jg. 37 (2010) H. 10, S. 48-52, hier S. 49 f. 416 Vgl. Behrens 2005: Die Rolle der Betriebsräte, S. 338. 417 Vgl. dazu Hyman 2001, S. 129; Obermayr/Kulas 2010, S. 49 f.; Wassermann 2003, S. 418 f.

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Jahrhunderts angeglichen. Sie unterstützt Betriebsräte nunmehr aus einer kollegialen, unaufdringlichen Rolle heraus, begründet so etwas wie eine gleichberechtigte Partnerschaft. Das Konzept besteht in dem Versuch, die innerbetrieblichen Interessenvertretungen der Beschäftigten in Gestalt der Betriebsräte in die Lage zu versetzen, Arbeitsstandards zu verteidigen und Arbeitsbedingungen zu verbessern, insgesamt aus der frustrierenden und bedrückenden Verteidigungsposition der letzten Jahre herauszukommen und den Managements selbstbewusst und entschieden Paroli zu bieten. Für Gewerkschaften, die wie die IG Metall stets geradlinige Konzepte vertreten und verbissen verteidigt haben, ist deren Bereitschaft zum individuellen Zuschnitt bemerkenswert. So betrachten sie Abweichungen vom überbetrieblichen Flächentarifvertrag einstweilen nicht mehr als hinterlistigen Angriff der Arbeitgeberseite auf die stolzen Errungenschaften der Arbeiterbewegung – folglich als Grundsatzentscheidung –, sondern experimentieren von Fall zu Fall mit verschiedenen Modellen, suchen gemeinsam mit den Unternehmensleitungen nach gangbaren Wegen und fairen Kompromissen.418 Dabei sind sie bereit, mit harten Bandagen zu kämpfen, sich aber dennoch auf unkonventionelle Lösungen einzulassen. Dadurch verpflichten sie Betriebsräte zum einen nicht für einen Kampf mit übertriebener Härte; zum anderen ermöglichen sie ihnen, einen erfreulichen Beitrag zur Beschäftigungssicherung, zur Bewahrung von Arbeitsplätzen, zu leisten. Betriebsräten werden keine fertigen Vorgehensweisen mehr präsentiert, sondern die Gewerkschafter beziehen sie in ihre Aktionen mit ein, halten sich sogar oftmals im Hintergrund, um Unterstützung nach Bedarf zu geben.419 Das macht die Konsultation von Gewerkschaften nicht zu einem unangenehmen Zwang, sondern zu einer hilfreichen Option. Und das ist eine neue Verhaltensweise: Gewerkschaften bieten ihre Unterstützung an und kommen, wenn man sie ruft. Sie assistieren den Betriebsräten in der Rolle von Sachverständigen im Widerstand gegen bedenkliche Eingriffe und verdächtige Vorhaben des Managements.420 So kennen sich die Gewerkschafts-

418 Vgl. Brettschneider et al. 2009; Blankau, Jutta: Wirtschaftsdemokratie aus gewerkschaftlicher Perspektive, in: spw, H. 5/2010, S. 30-32, hier S. 31; Scholz, Dieter: Gewerkschaftsaktionen im Herbst – Eine Bilanz, in: Gegenblende, H. 7/2011; Roth, Eva: Nichts für Doofe, in: Frankfurter Rundschau, 17.10.2008; Leesen, Gesa v.: Wenn Kommunisten einkaufen gehen, in: Mitbestimmung, H. 7/2012, S. 38-42. 419 Vgl. Schroeder 2002, S. 619. 420 Vgl. dazu Nettelstroth, Wolfgang/Schilling, Gabi/Vanselow, Achim: Betriebliche Mitbestimmung und die gewerkschaftlichen Modernisierungskampagnen der IG Metall Nordrhein-Westfalen, in: Haipeter/Dörre (Hg.) 2011, S. 113-135, hier S. 116-

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büros mit dem Paragrafendschungel des Betriebsrechts bestens aus, wissen bspw., wie Einsicht in die Bücher zu verlangen ist. Neuerdings engagieren sie dafür sogar Unternehmensberater von McKinsey, die Datenbanken und Aktenschränke betroffener Firmen durchkämmen, um gegebenenfalls mit betriebswirtschaftlicher Expertenkenntnis die Argumente des Arbeitgebers zu entkräften.421 Damit konnten sie einige Male die vorgebliche Alternativlosigkeit von Gehaltskürzungen und Kündigungen als solche Maßnahmen enttarnen, die nicht die Beschäftigung sichern, sondern lediglich die Kosten senken, den Gewinn vermehren sollten. Und damit widerlegten sie auch diverse Managementbeschlüsse, verhinderten also, dass die Qualität der Arbeitsbedingungen von einem kurzfristig orientierten Profitsinnen untergraben wurde. Außerdem organisierten Gewerkschaften einen Erfahrungsaustausch von Betriebsräten, die ähnlichen Situationen ausgesetzt waren, um damit den Nachteil der Zerstreuung der Arbeitnehmerseite in viele kleine Gruppen wettzumachen.422 Hierdurch sollen wirkungsvolle Strategien und Taktiken nicht in Vergessenheit geraten, sondern weitergetragen und verbreitet werden. Insgesamt trugen Gewerkschaften also dazu bei, im Verein mit Betriebsräten bedrohte Standorte zu sichern und verschlechterte Arbeitsbedingungen abzuschmettern. Und auch anschließend können sie sich noch als hilfreiche Partner erweisen, indem sie z.B. die getroffenen Vereinbarungen überwachen, also kontrollieren, ob die Arbeitgeberseite ihre Zugeständnisse auch befolgt. Denn dass sich einzelne Arbeitgeber nicht an ihre Zusagen halten, kommt nicht gerade selten vor; in manchen Branchen soll sich der Missbrauch der Absprachen mit der Arbeitnehmerseite auf ein Drittel aller Vereinbarungen belaufen.423 Auf diese Weise gelang es den Gewerkschaften zuletzt viel häufiger als in den 1980er und 1990er Jahren, jenen Betriebsräten zu helfen, die durch ihren Zugewinn an Be-

120; Lehmann, Karin: Entwicklungsperspektiven von Tarifverträgen, in: Industrielle Beziehungen, Jg. 9 (2002) H. 3, S. 301-318. 421 Vgl. Dribbusch, Barbara/Schulte, Ulrich: Die McKinseys von der Gewerkschaft, in: die tageszeitung, 03.11.2007. 422 Siehe o.V.: Betriebsräte beraten Betriebsräte, in: einblick, H. 5/2010, S. 3. 423 Vgl. Bogedan, Claudia/Brehmer, Wolfram/Seifert, Hartmut: Wie krisenfest sind betriebliche Bündnisse zur Beschäftigungssicherung?, in: WSI-Mitteilungen, H. 2/ 2011, S. 51-59.

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fugnissen und Informationen sowie durch brenzlige Wirtschaftslagen in manchen Situationen überfordert waren.424 Vor allem aber lassen sich die Gewerkschaften nicht mehr ausnutzen. Ihre Hilfe knüpfen sie inzwischen an bestimmte Voraussetzungen. Im Austausch für ihre Unterstützung und Beratung verlangen sie von den Betriebsräten neue Mitglieder.425 Die IG Metall ist z.B. mittlerweile dazu übergegangen, Betriebe, in denen kaum jemand Anstalten macht, der Organisation beizutreten, sich selbst zu überlassen – frei nach der Devise: „Leistung und Gegenleistung müssen stimmen“426. Das mag nach einem geschäftlichen Handel klingen, der viel von der historisch überlieferten Solidarität der Arbeiterbewegung vermissen lässt. Doch andererseits verdeutlichen die Gewerkschaften damit erst die Bedeutung organisatorischer Stärke, zumal ihre Leistungen eben keine Selbstverständlichkeit darstellen, wie das manche Arbeitnehmer glauben. Denn eben das war ein altbekanntes, seit Jahrzehnten lästiges Problem: Bereits zu Beginn der 1960er Jahre grämten sich die westdeutschen Gewerkschaftsspitzen, dass verhältnismäßig wenige Arbeitnehmer den Weg in ihre Organisationen fanden, da sich schließlich auch ohne formelle Mitgliedschaft in den Genuss der tarifpolitischen Erfolge kommen ließ.427 Der neue Egoismus mancher Gewerkschaften führt jedoch anscheinend in vielen Fällen zu einer Symbiose von Betriebsrat und Gewerkschaft, zu einer beiderseits vorteilhaften Beziehung. Und dies scheint zu funktionieren, wie einige Rekrutierungserfolge zeigen.428 Denn Betriebsräte sind unerlässlich, um Arbeitnehmern den Zweck von Gewerkschaften klarzumachen. Die Konzentration auf eine verstärkte Organisationsmacht durch die Verbreiterung der Mitgliedschaft und die Präsenz in den Betrieben war wichtig und stellt im Hinblick auf die deutschen Gewerkschaften vermutlich die bedeutsamste Begebenheit der 2000er Jahre dar. An der Schwelle zum 21. Jahrhundert begannen die Stammhalter der Arbeiterbewegung, sich wieder demonstrativ um die

424 Vgl. Wannöffel, Manfred: „Entscheidend ist im Betrieb“. Qualifizierte Mitbestimmung als Herausforderung für Gewerkschaften und Politik, Bonn 2008, S. 27 f. u. S. 59 f. 425 Vgl. Behrens, Martin: Wie engagiert werben die Betriebsräte?, in: Mitbestimmung, H. 12/2007, S. 35-37; siehe Girndt, Cornelia (Interview mit Berthold Huber: „Nur unsere eigene Stärke zählt“, in: Mitbestimmung, H. 9/2006, S. 10-15. 426 Der zweite IGM-Vorsitzende Detlef Wetzel zitiert nach einblick, H. 21/2007; vgl. Pletter 2007, S. 36. 427 Siehe Vetter, Ernst Günter: Die „saturierte“ Gewerkschaft, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 24.01.1961. 428 Siehe Mulitze 2005.

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Arbeiter und Angestellten zu kümmern. Bereits in den 1990er Jahren hatten einige IG-Metall-Bezirke telefonische Rückholaktionen gestartet, um ausgetretene Mitglieder im persönlichen Gespräch zur Rückkehr in die Organisation zu überreden.429 Im darauffolgenden Jahrzehnt übernahm auch ver.di diese Idee. Im persönlichen Gespräch konnten die Funktionäre zeigen, dass ihnen der Verbleib des Betroffenen in der Gewerkschaft nicht gleichgültig war, sie auf ihn nicht verzichten wollten und bereit waren, sich dafür auch zu bemühen. Das kam gut an. Mancherorts lag die Erfolgsquote solcher Telefonate zwischen dreißig und vierzig Prozent. Mit eigenen Toolboxes für computergestützte Befragungen sind einige Gewerkschaften überdies dazu übergegangen, noch stärker als früher mit den Instrumenten professioneller Marktanalyse die Anliegen ihrer Klientel zu ergründen.430 Die Arbeit vieler Gewerkschaftsstellen lässt ein deutliches Bemühen erkennen, die krisengeplagten Menschen mit ihren Problemen in einem zunehmend unübersichtlichen und ungewissen Alltag nicht alleine zu lassen. So unterhält der DGB seit Kurzem eine Beratungs- und Unterstützungsstelle für Migranten und illegal Beschäftigte, haben etliche Büros der IG Metall ihre Beratungszeiten ausgeweitet (z.B. dienen die Funktionärshandys als Hotlines) und neues Personal für eine intensivere Betreuung von Belegschaften eingestellt.431 Gewerkschafter leisten Beistand in heiklen Lebenspassagen, geben bspw. Schülern Tipps rund um das Bewerbungsverfahren und klären sie über den Inhalt von Tarifverträgen auf, begleiten sie fürsorglich auf dem Weg in die Erwerbswelt.432 Unter dem Label „students at work“ beraten sie Studierende in allen Fragen rund um Nebenjobs. An einigen Universitäten und Fachhochschulen haben sie dafür „Campus-Offices“ eingerichtet. Im Internet können sich Auszubildende Rat bei „Dr. Azubi“, einem Onlineforum des DGB, holen. Und ver.di stellt für dringende Hilfegesuche ein Call-Center bereit.433 Das Internet erlaubt es den Gewerkschaften, sich von den Zwängen der sensationsorientierten Massenmedien zu emanzipieren und den persönlichen Kontakt am Arbeitsplatz zu ergänzen. Um die Bürger jenseits menschlicher Kontakte im Betrieb zu erreichen, sind sie nun nicht mehr so stark wie früher auf Pressemeldungen und Interviews in großen Zeitungen angewiesen. Allmählich beginnen sie diesen Vorteil auszuspielen.

429 Vgl. Eichler 2000, S. 156; Keller 2007, S. 469. 430 Siehe z.B. einblick, H. 15/2007. 431 Vgl. einblick, H. 2/2010, S. 4. 432 Vgl. Rudolf, Rene: Online mit Dr. Azubi, in: Mitbestimmung, H. 4/2009, S. 24-27. 433 Vgl. Dribbusch 2003, S. 295.

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Ehrenamtliche sind wieder wer, so könnte man mit Blick auf die Gewerkschaften meinen. Nicht nur versuchen diese, den gestiegenen und veränderten Erwartungen an ehrenamtliches Engagement der Bürger gerecht zu werden. Auch bringen sie der freiwilligen Tätigkeit wieder große Wertschätzung entgegen. So sollte das Projekt „Gewerkschaften haben viele Gesichter“ ehrenamtlichen Gewerkschaftern öffentliche Anerkennung vermitteln, indem diese im Internet mit Porträts gewürdigt wurden.434 In der jüngsten DGB-Satzung bilden ehrenamtliche DGB-Kreis- und Stadtverbände neuerdings eine eigene Ebene, sind also statuarisch aufgewertet worden.435 Sodann haben die Gewerkschaften ihr Pensum in der Zielgruppenarbeit erhöht. Die Verzweiflung ob der schwindenden Gelder hat sie augenscheinlich mutig gemacht. Sie erkunden nun jene Bereiche des Arbeitsmarkts, vor denen sie lange Zeit ungeachtet ihres offiziell formulierten Anspruchs zurückscheuten. Inzwischen ist fast in jeder Gewerkschaftszentrale die Erkenntnis gereift, Praktikanten, Leiharbeiter und Teilzeitbeschäftigte dazu zu bringen, Mitgliedsanträge zu unterschreiben. Die IG Metall startete z.B. für Leiharbeiter die Kampagne „Gleiche Arbeit – Gleiches Geld“, mit der sie ihre Aufmerksamkeit an diesem Beschäftigtentypus bekundete – das also, was ihnen Forscher schon seit einiger Zeit vergeblich nahegelegt hatten.436 Hinzu kam die Einrichtung von Beratungsbüros zu prekärer Beschäftigung, die über Rechte und Pflichten aufklären, Tipps geben und Hilfe anbieten.437 „Fair statt prekär“ ist mittlerweile innerhalb des DGB, der anfangs atypische Beschäftigung vollends ablehnte und bekämpfte, ein Leitsatz gewerkschaftlicher Politik. Unterschiedlichen Typen, so lautet eine zentrale Lehre aus den vergangenen Krisenjahrzehnten, müssten auch unterschiedliche Vertretungsangebote unterbreitet werden. Auch wenn dadurch keine Gewerkschaft ihre Mitgliedschaft schlagartig in Höhe zweistelliger Prozentzahlen steigern konnte, so sind doch erste Schritte gemacht, um Beschäftigte auch in solchen Regionen des Arbeitsmarkts anzusprechen, in denen Gewerkschaften noch nie eine Rolle gespielt haben. Begleitet wurde dieser strategische Kurswechsel, in Richtung einer Rückbesinnung auf den Wert von Mitgliedern und Ehrenamtlichen, von einer Generalüberholung des Erscheinungsbildes der angestaubten Großorganisationen. Buchstäblich renovierten sich die Gewerkschaften hier und dort. Einige Geschäftsstel-

434 Siehe einblick, H. 13/2010, S. 4; Brutzki, Ute/Oestreich, Ulrike: Ansprüche von Frauen der Gewerkschaft HBV an ehrenamtliche gewerkschaftliche Tätigkeit, in: WSI-Mitteilungen, H. 3/2011, S. 214; Schallmeyer/Holzwarth 2001. 435 Vgl. Staier, Harald: Die Chancen nutzen, in: einblick, H. 11/2010, S. 7. 436 Siehe Dörre, Klaus: Prekarisierung ist kein Schicksal, in: einblick, H. 6/2007. 437 Vgl. einblick, H. 3/2010, S. 4.

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len bezogen neue Räumlichkeiten, wodurch sie sich des alten Muffs vergangener Gewerkschaftszeiten entledigten, den „eichenvertäfelte Wände, bräunlich-grüner Teppich, abgewetzte Büroschränke“ kennzeichneten, an deren Wänden „die Plakate längst vergangener Schlachten“ hingen.438 Einige gewerkschaftseigene Betonungetüme der 1960er und 1970er Jahre wichen kürzlich modernen Neubauten. Und zuweilen bewegen sich die örtlichen Funktionäre in einem schmucken roten Mini-Cooper durch die Stadt. Auch firmiert die altehrwürdige Akademie der Arbeit in Frankfurt am Main, in der über neunzig Jahre hinweg viele Generationen von Gewerkschaftsfunktionären heranwuchsen, inzwischen als runderneuerte Europäische Akademie der Arbeit. Seit Kurzem trumpfen die meisten Gewerkschaften zudem mit einer zeitgemäßen Internetpräsenz auf. Ihr Webauftritt beinhaltet nahezu sämtliche Komponenten, die gerade State of the Art sind: von Social Media wie facebook oder Delicious bis hin zu Text-, Audio- und Video-Inhalten via Youtube. Daneben haben die Gewerkschaften das Internet als Plattform zur Planung und Durchführung diverser Aktionen wie z.B. Flashmobs entdeckt.439 Ver.di webt an einem „Mitgliedernetz“, begibt sich in OnlineCommunities und betreibt Blogs, in denen Betroffene die Arbeitsbedingungen in bestimmten Großorganisationen öffentlich machen und sich mit anderen Leidtragenden darüber austauschen können. Viele Beschäftigte nutzen die Gewerkschaftsblogs mittlerweile, um ihren Unmut zu artikulieren, beruflichen Sorgen und Nöten Ausdruck zu verleihen und schleunige Hilfe zu suchen. Das belebt die lange Zeit als rückständig und diskussionsarm gescholtenen Debatten, die sich innerhalb der Gewerkschaften vollziehen. Auch die EDV-Infrastruktur wurde in einigen Gewerkschaftszentralen wie bspw. der IG Metall mit Servern, internen Portalen und mobilen Geräten runderneuert.440 All das mögen Einzelbeispiele sein. Doch die Häufigkeit, mit der sie auftreten, legt den Schluss nahe, dass sich in den Gewerkschaften zuletzt einiges getan hat, um deren Anschlussfähigkeit an gesellschaftliche Trends und Zustände zu verbessern. Insgesamt präsentieren sich die Gewerkschaften seit Kurzem in einer neuen Ästhetik, die es zumindest nicht unwahrscheinlicher macht, dass auch Angestellte sich häufiger als bislang habituell mit den Gewerkschaften anfreunden werden, die aus futuristisch anmutenden High-Tech-Betrieben stammen, im Forscherkittel, Sakko oder Designer-T-Shirt gekleidet sind. Ferner steigt der Anteil

438 Meck, Georg: Der Intellektuelle unter den Straßenkämpfern, in: Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, 14.04.2002. 439 Vgl. o.V.: Vernetzt auf allen Kanälen, in: einblick, H. 12/2010, S. 5; Tornau, Joachim F.: Ausweitung der Kampfzone, in: Mitbestimmung, H. 6/2012, S. 46-49. 440 Siehe IG Metall Vorstand (Hg.) 2007, S. 210 f.

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von Frauen in verantwortlichen Funktionen, werden weibliche Karrieren selbstverständlicher und sind nicht mehr so stark wie früher auf den Posten der Schreibsekretärin eines Gewerkschaftsbüros beschränkt – das Antlitz der als Männerbastion bekannten Gewerkschaften wird femininer. Ver.di, in der Frauen ungefähr die Hälfte der Mitgliedschaft ausmachen, schreibt sogar eine Personalquote vor, die proportional dem Anteil an der Mitgliedschaft entspricht. Überdies öffnen sich einige Gewerkschaften für Gender Mainstreaming, z.B. publiziert ver.di eine Zeitschrift namens Ver.queer. Gewerkschaftsmagazin für Lesben und Schwule, Bisexuelle und Transgender. Und die IG Metall strich den Begriff der „Industriegewerkschaft“ aus ihren Briefköpfen, nennt sich stattdessen „IG Metall – die Gewerkschaft in Produktion und Dienstleistung der Bereiche Metall-Elektro, Textil-Bekleidung, Holz-Kunststoff“.441 Wie auch immer: In jedem Fall verdichten sich viele Beobachtungen zu dem Eindruck, dass die deutschen Gewerkschaften zu etlichen Entwicklungssträngen aufgeschlossen haben, zu denen sie noch vor bis vor Kurzem den Kontakt verloren hatten. Auch das Öffentlichkeitsbild hat sich verändert. Standen die Gewerkschaften vor einigen Jahren als unverbesserliche Loser dar, von denen offenbar nichts mehr zu erwarten war, hat sich ihr Image zuletzt gründlich gewandelt: Befanden sie sich vor Kurzem noch in einem „Überlebenskampf im globalen Monopoly“442 und benötigten eine „Rosskur gegen die Schwindsucht“443, gerieten sie ins „Reformstolpern“444, um kurz darauf wieder „kraftvoller Sozialpartner statt Gegenmacht“445 zu sein, hatten anscheinend den Weg zur „IG Vernunft“446 beschritten, statt wie einst einen fantasielosen „Kurs der Blockade“447 zu fahren. Und dass ein großer Publikumsverlag wie Hoffmann & Campe den Werdegang

441 Vgl. Vogelsang, Annette: Moderne Zeiten, in: Die Woche, 19.10.2000; siehe z.B. IG Metall Vorstand (Hg.): Gewerkschaft zwischen Tradition und Moderne, Frankfurt am Main 2009. 442 Ritzer, Uwe: Überlebenskampf im globalen Monopoly, in: Süddeutsche Zeitung, 30.04.2007. 443 Storz, Wolfgang: Rosskur gegen die Schwindsucht, in: Freitag, 04.05.2007. 444 Rademaker, Maike: Reformstolpern bei der IG Metall, in: Financial Times Deutschland, 12.10.2011. 445 Wiedemann, Günther M.: Kraftvoller Sozialpartner statt Gegenmacht, in: Kölner Stadt-Anzeiger, 06.10.2011. 446 Borstel, Stefan v./Wisdorff, Flora: IG Vernunft, in: Die Welt, 08.11.2007. 447 Schiltz, Christoph B.: Die Gewerkschaften müssen endlich aufwachen!, in: Die Welt, 23.05.2003.

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eines Spitzengewerkschafters auflegt,448 wäre noch vor gar nicht mal so langer Zeit eine kuriose Begebenheit gewesen. Zuletzt kam außerdem sogar noch die Strukturreform des Gewerkschaftsbundes voran und vermittelte über die journalistische Berichterstattung das Bild einer von der Krise geläuterten, nunmehr auf dem Weg der Genesung befindlichen Organisation. Die Gewerkschaften standen nun nicht mehr, so der Eindruck, still, sondern bewegten sich wieder vorwärts.449 Wenn auch kaum jemand etwas über die vermutliche Wirkungskraft der Änderungen zu sagen wusste, so gab es doch Einschnitte: Der DGB-Bundesvorstand verkleinerte sich von fünf auf vier Personen; die DGB-Regionen sollten durch Unterbezirke ersetzt werden; in den Landkreisen und kreisfreien Städten sollten ehrenamtlich geführte DGBRepräsentanzen aufgebaut werden; der Beitrag der Einzelgewerkschaften, der an den DGB abzuführen war, wurde mit zwölf Prozent der Mitgliedereinnahmen gedeckelt; jährlich sollte die DGB-Verwaltung 3,6 Mio. Euro einsparen; und in der IG Metall sollten die Gelder stärker für die Rekrutierung neuer Mitglieder als für die Arbeit der Zentrale eingesetzt werden. Auch tarifpolitisch beschreiten die deutschen Gewerkschaften, wie gesagt, neue Wege, erweisen sich als Jobsicherer, rücken dazu gegebenenfalls von ehemals dogmatisch verteidigten Prinzipien ab und passen ihre Politik an die Bedürfnisse bislang vernachlässigter Problemgruppen wie etwa die Leiharbeiter an.450 Und auch das brachte ihnen das Lob durch die medialen Beobachter ein, die moderate Tarifabschlüsse der letzten Zeit in starkem Kontrast zur Vergan-

448 Siehe Wetzel, Detlef: Mehr Gerechtigkeit wagen. Der Weg eines Gewerkschafters, 2012. 449 Siehe hierzu u.a. Rademaker, Maike: Meuterei im Gewerkschaftslager, in: Financial Times Deutschland, 10.04.2008; dies.: DGB muss abspecken, in: Financial Times Deutschland, 08.01.2010; dies.: Reformstolpern bei der IG Metall, in: Financial Times Deutschland, 12.10.2011; Knott, Thilo/Schulte, Ulrich: Das neue Selbstbewusstsein, in: die tageszeitung, 10.11.2007; o.V.: DGB wird schlanker, in: Hannoversche Allgemeine Zeitung, 05.11.2008; Völpel, Eva: Koloss auf tönernen Füßen, in: die tageszeitung, 14.05.2010; Wiedemann, Günther M.: Kraftvoller Sozialpartner statt Gegenmacht, in: Kölner Stadt-Anzeiger, 06.10.2011. 450 Vgl. o.V.: Die IG Metall geht neue Wege, in: Der Tagesspiegel, 05.02.2010; Wiedemann, Günther M.: Leiharbeit soll in Betrieben ein Thema werden, in: Kölner Stadt-Anzeiger, 02.10.2008; o.V.: IG Metall: Alles tun, um Beschäftigung zu halten, in: Neue Ruhr Zeitung, 13.12.2008; Behruzi, Daniel: Alle loben die IG Metall, in: junge welt, 19.02.2010; Rademaker, Maike: Krise macht IG Metall bescheiden, in: Financial Times Deutschland, 02.04.2009.

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genheit sahen. So schienen sich die Gewerkschaften letztlich doch noch an das zwischen 1990 und 2005 durch die schwindende Kraft des Flächentarifvertrags stark veränderte Tarifwesen451 angepasst zu haben. Dabei übten Gewerkschaften wie die IG Metall jedoch keineswegs eine dauerhafte Zurückhaltung aus einer generellen Lage der Schwäche heraus, sondern stellten in wirtschaftlichen Erholungsphasen selbstbewusste Lohnforderungen, mit denen sie den Krisenbeitrag der Arbeitnehmer honoriert sehen wollten.452 Diese auf wechselnde Situationen reagierende Mischung aus gemäßigter und aggressiver Tarifpolitik besitzt große Chancen, von den Beschäftigten als sinnvoll und fair erachtet zu werden – denn auf diese Weise brauchen die Arbeitnehmer nicht mehr befürchten, alleinige Träger der Krisenbelastung zu sein, auf deren Kosten die Arbeitgeber am Ende zusätzliches Geld verdienen. Das Ende der Krise? Die geistige und politische Zeitenwende im Deutschen Gewerkschaftsbund schlägt sich auch in den Mitgliederzahlen nieder. Der Abwärtstrend scheint vorerst gestoppt, das Ende der Talsohle erreicht, die Konsolidierung auf einem mittleren Niveau eingeleitet worden zu sein. 2010 belief sich der Mitgliederrückgang im Vergleich zum Vorjahr nur noch auf 1,1 Prozent. Bei der IG Metall war die Austrittsziffer im Vergleich zum Vorjahr sogar um 7,6 Prozent zurückgegangen, die der Neuaufnahmen um 7,9 Prozent gestiegen. Insgesamt betrug der Mitgliederschwund nicht mehr eine sechs-, sondern „nur“ noch eine fünfstellige Zahl. 2011 schrieb die IG Metall dann schließlich erstmals seit schier endlos langen Jahren in ihrer Mitgliederbilanz sogar wieder schwarze Zahlen.453 Die Mitgliedschaft verringerte sich inzwischen vor allem durch Todesfälle, die den hohen Mitgliederbestand aus den erfolgreichen Rekrutierungszeiten in den 1960er und 1970er Jahren dezimierten. Am Ende der „Nullerjahre“ gewannen die DGBOrganisationen täglich 800 Menschen für eine Mitgliedschaft, verloren jedoch zugleich 1000 Altmitglieder. Der frühere Mitgliederboom war schlichtweg zu

451 Vgl. dazu Bispinck, Reinhard: Tarifpolitischer Trendreport, in: Mitbestimmung, H. 9/2006, S. 34-38; Kädtler 2003, S. 366-370. 452 Siehe Mester, Volker: Das Ende der Bescheidenheit, in: Hamburger Abendblatt, 21.08.2010; Schulte, Stefan: Stahlkocher fordern dickes Lohnplus, in: Westdeutsche Allgemeine Zeitung, 20.08.2010; Sigmund, Thomas: Die Begehrlichkeiten des Aufschwungs, in: Handelsblatt, 30.08.2010. 453 Siehe http://www.igmetall.de/cps/rde/xchg/internet/style.xsl/jahres-pressekonferenzder-ig-metall-6831.htm [eingesehen am 10.09.2012].

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groß, als dass die Gewerkschaften das Ausmaß der verstorbenen Mitglieder jener Zeiten hätten wettmachen können. Man kann die Mitgliederbilanz daher auch anders lesen: 2008 überzeugten die DGB-Gewerkschaften fast 300.000 Bürger von einer Mitgliedschaft – sie verloren rund 400.000. Das lässt sich nicht nur als Defizit, sondern auch als beachtliche Organisationsleistung werten. Zumal ihnen nun deutlich stärker als früher der Vorstoß in Bereiche gelingt, die traditionell nicht viel mit Gewerkschaften zu tun haben. Beispielsweise traten der IG Metall 2009 ca. 13.000 ITBeschäftigte bei, 2011 vergrößerte sie die Mitgliederzahl unter Leiharbeitern mit einem Schlag von rund 21.000 auf 36.000.454 Natürlich reichten solche Mengen nicht aus, um den Organisationsgrad nennenswert zu heben und das soziale Antlitz des Arbeitsmarkts widerzuspiegeln. Doch zeigen solche kleinen, aufmunternden Erfolge, dass der Gewinn neuer Mitglieder in derartigen Berufszweigen kein aussichtsloses Unterfangen ist, sondern sehr wohl gelingen kann, lediglich einiger Anstrengungen sowie der ernstgemeinten Bereitschaft zum Umdenken bedurft hat. Für die Reformkräfte in den Gewerkschaften war das sicherlich wichtig, um den eingeschlagenen Reformkurs beizubehalten. Ob damit nun aber Stabilität in die Gewerkschaften eingekehrt, die Mitgliederkrise endlich ausgestanden ist, muss derzeit noch offen bleiben. Schon jetzt vermelden die Gewerkschaften, ähnlich ihrem Verhalten in der Zeit achtloser Selbsttäuschung, bereits einen rückläufigen Schwund als großen Erfolg – während 2008 noch täglich 1219 Mitglieder verlorengingen, waren dies 2009 „nur“ noch 1087. Insbesondere die IG Metall lebte unter ihrem neuen Gespann Huber/Wetzel in den Medien als eine Großorganisation auf, die die Trendwende geschafft haben könnte: Der Mitgliederschwund schien nahezu gestoppt zu sein, Betriebe kehrten in die Tarifbindung zurück, die Gewerkschaft präsentierte sich als ein kompromissbereiter Verhandlungspartner, der gegenüber neuen und arbeitgeberfreundlichen Lösungen aufgeschlossen war, solange diese faire Gegenleistungen erwarten ließen.455 All das gipfelte in der Sensationsmeldung, dass die IG Metall am Ende des Jahres 2011 erstmals seit den frühen 1990er Jahren wieder einen Mitgliedergewinn (6172 mehr als im Vorjahr) bilanzieren durfte. Auch tarifpolitisch befanden sich Gewerkschaften wie die IG Metall unlängst im Aufwind. Sie erreichten gleichen Lohn für Leiharbeiter, erzwangen durch den Fachkräftemangel die Verhandlungsbereitschaft der gewerkschaftsfeindlichen Arbeitgeber in Ostdeutschland und handelten Lohnerhöhungen aus, die vor dem

454 Vgl. ebd.; Tornau 2009. 455 Siehe Schöneberger, Markus: Das völlig neue Basisgefühl, in: Rheinischer Merkur, 01.11.2007.

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Hintergrund der Wirtschaftskrise beeindruckten und überraschten. So setzte z.B. die IG Metall im Metall- und Elektrosektor mit Erfolg Kurzarbeit zwecks Arbeitsplatzerhalt ein – denn trotzdem glichen die Abschlüsse die Inflationsrate aus; in manchen Branchen, die sich besonders schnell erholten, feierte die IG Metall sogar große Erfolge, etwa in der Stahlindustrie mit einer stolzen Lohnerhöhung von 3,6 Prozent.456 Einige Gewerkschaften wie die IG Metall haben, wie gezeigt, inzwischen einen resoluten Ton gegenüber den Betriebsräten angeschlagen, denen sie juristischen Beistand oder betriebswirtschaftlichen Sachverstand nur noch als Gegenleistung für neue Mitglieder erbringen. Damit haben Funktionäre und Belegschaftsvertreter zu einer neuen Umgangsform gefunden, die partnerschaftlich abläuft und auf wechselseitigem Tausch von Gefälligkeiten gründet. Das mag eine etwas geschäftsmäßigere Beziehung als in früheren Zeiten sein, jedoch auch eine unaufgeregtere, die aufgrund klarer Absprachen weniger Streitpotenzial birgt. Und selbst der Bruch mit der SPD infolge der Agenda 2010 und der HartzGesetze während der Kanzlerschaft Gerhard Schröders ist inzwischen einigermaßen behoben. Die Eliten von Partei und Gewerkschaften stehen sich zumindest nicht mehr in verbittertem Unverständnis und Misstrauen gegenüber, sondern haben sich ausgesöhnt, demonstrieren seit Kurzem grundsätzliche Einigkeit in politischen Fragen und zeigen sich wieder gemeinsam in der Öffentlichkeit, ohne dabei aufeinander rumzuhacken und gegenseitige Spötteleien auszutauschen.457 Die Qualität der früheren Verbundenheit wird wohl allerdings nicht mehr erreicht werden (können). Denn ein hierfür entscheidender Faktor ist inzwischen unwiederbringlich entfallen: Das gemeinsame Schicksal aus Krieg, Diktatur und Wiederaufbau, das zwischen den früheren SPD- und Gewerkschaftseliten einen prinzipiellen Konsens stiftete und sie in besonderer Weise zusammenschweißte, gibt es heute nicht mehr. Das heutige Führungspersonal wird nicht mehr von einem unterschwelligen Zusammengehörigkeitsgefühl, dem ge-

456 Vgl. Bispinck, Reinhard/WSI-Tarifarchiv: Tarifpolitischer Halbjahresbericht: Eine Zwischenbilanz der Lohn- und Gehaltsrunde 2010, in: WSI-Mitteilungen, H. 8/2010, S. 419-427; dies.: Tarifpolitischer Jahresbericht 2010: Beschäftigungssicherung und gedämpfte Lohnentwicklung, in: WSI-Mitteilungen, H. 3/2011, S. 132-130. 457 Siehe o.V.: Seit’ an Seit’, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 02.05.2011; Jung, Alexander/Tietz, Janko (Interview mit Jürgen Peters): „Schröder liegt daneben“, in: Der Spiegel, 06.11.2006; Waleczek, Torben/Zacharakis, Zacharias: Gewerkschaften wollen zurück zur Rente mit 65, in: Spiegel Online, 05.05.2009; Sturm, Daniel Friedrich: Das große Kuscheln, in: Die Welt, 23.03.2010.

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meinsamen Erlebnis von Krieg und Leiden in der Diktatur, durch „die große Scheiße“458, zusammengehalten. Immerhin bedeutet all das – der vorerst gestoppte Mitgliederschwund, die passablen Tariferfolge in wirtschaftlichen Krisenzeiten, das erneuerte Verhältnis zur SPD –, eine Serie von Erfolgen nach einer ebensolchen der Niederlagen. Doch eben hierin lauert die Gefahr neuerlicher Trugschlüsse: Erfolgreiche Gewerkschaften müssen aufpassen, das lehrt die Vergangenheit, fortbestehende Probleme nicht zu übersehen, die Tragweite ihrer Maßnahmen nicht zu überschätzen. Das Bedürfnis nach Sicherheit als historische Chance In gewisser Weise sind Gewerkschaften oftmals Krisengewinner. Die Geschichte hat das mehrfach gezeigt: Wenn die Wirtschaft schlecht läuft und Staat wie Gesellschaft kaum Rückhalt bieten, das Geld an Kaufkraft verliert, die Arbeitsbedingungen schlechter werden und die Gemüter der Bevölkerung Pessimismus befällt – dann suchen die Menschen nach Unterstützung, Beistand, Zuflucht. Doch wo können sie diese finden? Organisationen sind hierbei vermutlich ganz allgemein keine ungeeignete Anlaufstation; und ganz speziell waren Gewerkschaften in der Vergangenheit auch tatsächlich häufig aufgesuchte Adressen. Als die wilhelminischen Kaiser regierten, steigerten Wirtschaftskrisen die Organisationsbereitschaft, vertieften den Kontakt zu Interessenorganisationen.459 Auch die Unwägbarkeiten und Fährnisse in den Jahren nach den beiden Weltkriegen weckten ein dringendes Sicherheits- und Orientierungsbedürfnis. Insbesondere die Bürger der postnationalsozialistischen Nachkriegsgesellschaft begehrten nach den aufreibenden Jahren von Diktatur und Zerstörung Schutz und Stabilität.460 Auch in den 1980er und 1990er Jahren waren Gewerkschaften vorübergehend Organisationen, denen sich – vornehmlich junge – Arbeitnehmer zuwandten, um vor Benachteiligungen beschützt und vor dem Schicksal der Überflüssigen des Arbeitsmarkts bewahrt zu werden.461

458 Helmut Schmidt zitiert nach Kullmann, Kerstin/Kurbjuweit, Dirk/Wiegrefe, Klaus: Eine Aura der Stärke, in: Der Spiegel, 08.12.2008. 459 Vgl. Flemming/Krohn/Witt 1978, S. 243. 460 Vgl. Mooser 1984, S. 79. 461 Vgl. Horn, Hans-Werner: No time for losers. Rechte Orientierungen gewerkschaftlich organisierter Jugendlicher, in: Gewerkschaftliche Monatshefte, H. 8/1995, S. 484-496, hier S. 490 f. u. S. 494.

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Freilich enttäuschten die Gewerkschaften vielfach die in sie gesetzten Hoffnungen und Erwartungen, schützten eben nicht vor Arbeitslosigkeit, boten keine Gewissheiten und stifteten wenig Zuversicht. Die Erwerbslosigkeit stieg, der Wert von Löhnen und Gehältern nahm ab, einzelne Berufe verschwanden und ganze Branchen lösten sich auf. Doch inzwischen liegt all das so weit zurück, das neue Generationen aus jungen Jahrgängen das selbst nicht mehr erlebt haben und sie neuerlich dem Gedanken verfallen könnten, sich in die Obhut der Gewerkschaften zu begeben. Vieles spricht momentan für die Wiederkehr eines kollektiven Schutz- und Orientierungsbedürfnisses in der deutschen Bevölkerung, wie es seit einigen Jahrzehnten nicht mehr ähnlich groß gewesen sein dürfte.462 Dafür gibt es viele Gründe. Sie alle lassen sich vielleicht als generelle Überforderung des Individuums durch die Begleiterscheinungen der postindustriellen Moderne zusammenfassen. Deren Ursache liegt vor allem in der Rollen- und Optionsvielfalt, die sich seit geraumer Zeit stetig vergrößert hat.463 Der einzelne Bürger muss unzählige, oft widersprüchliche Rollen einnehmen und bewältigen; so gilt es z.B. als abhängig Beschäftigter Geld für den Lebensunterhalt zu verdienen, zugleich aber mit der Gewissenhaftigkeit und Sachkenntnis eines selbstständigen Managers Alter, Krankheit und alle übrigen Lebenslagen klug abzusichern. Überdies bietet sich in unterschiedlichsten Alltagssituationen eine wachsende Zahl von Alternativen, die Entscheidungen erschweren und den Zwang zur korrekten, weil vorteilhaften Wahl erhöhen. So lässt sich eine schier „endlose Liste von Selbst-Anforderungen“ zusammenstellen, die in nahezu allen Lebensbereichen in der Fähigkeit überfordert, die eigene Arbeitskraft zu erhalten („Reproduktionskrise“) – vermeintlich ausgedehnte Gestaltungsspielräume erweisen sich für Viele als Zwänge und Quellen persönlichen Scheiterns.464 Für manche mögen ausgiebige Wahlfreiheiten ein Gewinn sein, den sie als willkommene Möglichkeit zur Bereicherung ihres Lebens und als Beitrag zur Selbstverwirklichung begrüßen. Für andere aber, die nicht allzeit kreativ, flexi-

462 Vgl. Walter, Franz: Baustelle Deutschland. Politik ohne Lagerbindung, Frankfurt am Main 2008, S. 30-35 u. S. 212 ff. 463 Vgl. im Folgenden Behr 1995; Dörre, Klaus: Ende der Planbarkeit? Lebensentwürfe in unsicheren Zeiten, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, H. 41/2009, S. 19-24, hier S. 22 ff.; Frerichs/Pohl 2004, S. 52; Schultheis, Franz/Vogel, Berthold/Gemperle, Michael: Rückblicke – Zwischenbilanzen – Ausblicke, in: dies. (Hg.) 2010, S. 731751. 464 Vgl. Jürgens, Kerstin: Deutschland in der Reproduktionskrise, in: Leviathan, Jg. 38 (2010) H. 4, S. 559-587 (Zitat auf S. 581).

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bel und mobil sein wollen bzw. können, sind es bedrückende Optimierungszwänge, Quellen anhaltenden Scheiterns. Letztere suchen nach Orientierung, wollen vorgegebene Wege beschreiten und von einer als ausufernd empfundenen Auswahl entlastet werden. Sie benötigen Hilfe und Aufmerksamkeit, weil sie Vorgaben, die wie das „lebenslange Lernen“ Mechanismen ökonomischer Rationalität gehorchen, aus eigener Kraft nicht genügen können, den Zufälligkeiten des Marktgeschehens sowie unzähligen Erscheinungsformen des alltäglichen Berufs- und Privatlebens im 21. Jahrhundert nicht gewachsen sind und daher drohen, zurückgelassen zu werden. Die Härten des Bachelor-Studiums, der Praktikums- und Volontariatswelt oder die Serien befristeter Jobs wecken einen Bedarf nach Gemeinschafts- und Solidaritätserlebnissen, nach zwischenmenschlichem Zusammenhalt. Neuerdings begeben sich mehr Bürger als in den letzten Jahren auf die Suche nach geselligen Zusammenhängen mit niedrigen Zugangsvoraussetzungen, überschaubaren und beständigen Gemeinschaften, finden diese bspw. an traditionellen Orten wie z.B. Wandervereinen.465 Andere hingegen verlangen nach einer kraftvollen Stimme, die ihren Sorgen und Nöten in der Politik Geltung verschafft. In der Arbeitswelt, dem angestammten Terrain der Gewerkschaften also, haben sich die Verhältnisse in den letzten zwanzig Jahren besonders stark gewandelt. Internet und Mobiltelefonie gewährleisten eine ununterbrochene Erreichbarkeit der Beschäftigten, begünstigen die gedankliche Mitnahme der Büroarbeit nach Hause. Strengere Leistungsvorgaben, Hektik infolge beschleunigter Arbeitsabläufe, unerbittlichere Fehlerbestrafung, rücksichtslosere Konkurrenz mit Kollegen, generelle Verunsicherung infolge undurchschaubarer Prozesse im Betrieb belasten Körper und Geist der Arbeitnehmer, wodurch der gewerkschaftliche Ur-Kampf für einen zuverlässigen Arbeitsschutz wieder an Aktualität und Dringlichkeit gewinnt.466 Viele Arbeitgeber halten sich überdies nicht an Tarifvereinbarungen und müssen daher von Gewerkschaftern kontrolliert und gerügt

465 Vgl. Corsten, Michael/Kauppert, Michael/Rosa, Hartmut: Quellen bürgerschaftlichen Engagements. Die biographische Entwicklung von Wir-Sinn und fokussierten Motiven, Wiesbaden 2008, S. 136 f. u. S. 154-160. 466 Vgl. Böhm, Michaela: Die Werkzeuge der Betriebsräte, in: Mitbestimmung, H. 3/2008, S. 28-31; exemplarisch Müske, Johannes: Arbeitsalltag und technischer Wandel. Arbeiterinnen in einem Hamburger Versandhandelsunternehmen und ihre Arbeitswelt (1969-2005), Berlin 2010, S. 79-136.

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werden.467 Einstellung und Verhalten von Eigentümern haben sich an vielen Orten gewandelt: Die verantwortungsbewusste Nähe zur Belegschaft ist einer Distanz gewichen. Es ist keine Ausnahme, wenn die Wertschätzung des Produktionsprozesses niedrig, das Interesse am Schicksal der Beschäftigten oder am Bestand des traditionsreichen Werks gering sind. Die Arbeitnehmer bezahlen diesen Wandel oftmals mit dem selbstwertmindernden Gefühl des Statusverlusts, einem getrübten Arbeiterstolz.468 Auch die „Work-Life-Balance“ – die Vereinbarkeit von Kindern und Karriere, Haushalt und Job – hat als Aufgabengebiet an Bedeutung gewonnen. Als wäre all das nicht genug, greifen das Bewusstsein, verwundbar den Konsequenzen von Globalisierung und Europäisierung ausgeliefert zu sein, und die Angst vor sozialem und finanziellem Abstieg – vor dem Verlust von Job, Ansehen und Einkommen – auch auf solche Bevölkerungsschichten über, die davon vor fünfzehn Jahren noch nicht betroffen waren.469 Beschäftigungsabbau im großen Stil ist längst eine normale Begleiterscheinung der deutschen Wirtschaft – stets kann ein bislang scheinbar florierender Betrieb überraschend geschlossen werden. Zuletzt häuften sich die Meldungen von spontanen Entlassungswellen, die jederzeit als Schicksalsschlag über noch so qualifizierte und im eigenen Empfinden tatkräftige Belegschaften hereinbrechen konnten. Inzwischen gibt es sogar Unternehmen, die sich darauf spezialisiert haben, arbeitsrechtlich und psychologisch unbedarfte Mittelständler und deren Personalchefs in der Entlassung von Personal zu beraten.470 Die vielzitierte „Mitte“ fühlt sich daher vermutlich nicht grundlos bedroht und von Statusängsten geplagt. Gleichzeitig vertiefen sich soziale Klüfte zwischen Bevölkerungssteilen, streben arm und reich auseinander, beschreiben Gesellschaftsforscher die Bundesrepublik als ein Land der „Kontraste“471, in wel-

467 Vgl. Trappmann, Vera/Draheim, Susanne: Lebenslanges Lernen: Gewerkschaften und Kompetenzentwicklung im aktivierenden Sozialstaat, in: WSI-Mitteilungen, H. 10/2009, S. 533-539, hier S. 537. 468 Vgl. z.B. Keller, Carsten et al.: Ein halbes Leben. Vier Kurzporträts aus einer Arbeitswelt im Umbruch, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, H. 15/2011, S. 6-18, hier S. 11 f. 469 Vgl. Vogel, Berthold: Die zerrissene Mitte. Der Ort des gesellschaftlichen Konfliktausgleichs ist zu einem neuen Konfliktzentrum geworden, in: Vorgänge, Jg. 48 (2009) H. 2, S. 92-96. 470 Vgl. Molitor, Andreas: Raus, aber schnell!, in: brand eins, H. 2/2006, S. 88-95, hier S. 91 f. 471 Glaab, Manuela/Weidenfeld, Werner/Weigl, Michael (Hg.): Deutsche Kontraste. Politik – Wirtschaft – Gesellschaft – Kultur, Frankfurt am Main 2010.

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chem sich reiche Rentner und arme Junge, wohlhabende und armutsgefährdete Familien, Vermögen im Westen und Arbeitslosigkeit im Osten gegenüberstehen. Unsicherheit hat es schon immer gegeben, nur nicht in einem solch dramatischen Ausmaß, das sie von einem Rand- in ein Massenphänomen verwandelt hat. Für viele Menschen in Deutschland ist das sicherlich, in unterschiedlicher Stärke, eine beklemmende Situation. Doch für die Gewerkschaften entsteht dadurch ein günstiges Klima. Denn darin können sie sich einer verunsicherten Klientel als Sicherheit stiftender Patron präsentieren. Sie können sich für Fairness allerorten einsetzen – im Sozialversicherungswesen, in der Schule, am Arbeitsplatz etc. Rekrutierungserfolge im Einzelhandel haben gezeigt, dass solche Arbeitnehmergruppen, die bislang in Gewerkschaften selten waren, durchaus einer Mitgliedschaft nicht abgeneigt sind – vorausgesetzt, dass sie die Gewerkschaften als eine Instanz begreifen, die ihnen zuverlässig hilft und der glaubwürdig an ihrem Wohlbefinden gelegen ist.472 Sind überkommene Einrichtungen wie die Gewerkschaften in den 1960er und 1970er Jahren in weiten Teilen der Bevölkerung als einschränkende und bevormundende Instanzen empfunden wurden, so kann heutzutage die Rückkehr von Vorgaben und Protektion in gewissem Maße, als umgekehrter Prozess, als Befreiung empfunden werden. Dazu müssten sich Gewerkschaften lediglich als hilfreiche Organisation zurückmelden, die Schutz bietet, Zuversicht vermittelt und Orientierung gibt. Darin besteht die Herausforderung für die Gewerkschaften. Und darin liegt auch ihr Zukunftspotenzial.

W AS DEN G EWERKSCHAFTEN FEHLT : W O SIND DIE M YTHEN UND L EGENDEN ? Doch anlässlich der Frage nach der Zukunftsfähigkeit deutscher Gewerkschaften lohnt sich ein abermaliger Blick in die Vergangenheit, auf das Spitzenpersonal früherer Zeiten, das zumindest für das Öffentlichkeitsbild von Gewerkschaften nicht unerheblich gewesen sein dürfte. Kaum jemand in der heutigen Gewerkschaftselite ließe sich glaubwürdig als Haudegen oder Tribun charakterisieren. Markante Köpfe finden sich hingegen in der Vergangenheit, tief in der Geschichte der Bonner Republik verborgen. Weshalb erinnert man sich noch heute ehrfürchtig bspw. an den ÖTV-Vorsitzenden Heinz Kluncker – dem Anführer einer Gewerkschaft, an deren Kürzel man sich heute allenfalls noch schemenhaft entsinnen kann? Und welcher heutige Spitzengewerkschafter kann mit einem martialischen Beinamen wie einstmals der IG Metall-Vorsitzende Otto Brenner –

472 Vgl. Dribbusch 2003, S. 253.

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der „Eiserne“ – aufwarten? Aber waren das, rückblickend, eigentlich wirklich solch besondere Persönlichkeiten und: Weshalb hat die jüngere Gewerkschaftsgeschichte seither offenbar keine weiteren dieses Kalibers mehr hervorgebracht? Der erste Blick gilt der Suche nach einem biografischen Muster: Langjährige Gewerkschaftsführer der Geburtsjahrgänge zwischen 1920 und 1930, die in den 1960er, 70er und auch noch 80er Jahren an der Spitze ihrer jeweiligen Organisation standen, ähnelten sich in ihrer Laufbahn.473 Ihre Väter waren zumeist redliche Facharbeiter, deren Söhne mehr vom Leben wollten und eine – oftmals kaufmännische – Ausbildung begannen; nicht in der freien Wirtschaft, sondern im Arbeitermilieu fanden sie einen Job und begannen ihren Aufstieg somit in sozialdemokratischen Organisationen; im Zweiten Weltkrieg dienten sie als Hitlers Soldaten in Wehrmachts- oder HJ-Uniform, kämpften an der Front oder feuerten an der Flak auf alliierte Bomber; nach dem Krieg begannen sie in der Gewerkschaft als Sekretär, besuchten die Gewerkschaftsakademien in Frankfurt und Hamburg, leiteten anschließend eine örtliche Gewerkschaftsstelle, waren Redakteur des hauseigenen „Organs“, avancierten zu Bezirkssekretären und schließlich Bezirksleitern, ehe sie nach Jahren der Profilbildung und Bewährung in den Bundesvorstand ihrer Gewerkschaft gewählt wurden, in dem sie – aus dem sozialen „Unten“ kommend – fortan die politische Verantwortung für mehrere hunderttausend Mitglieder trugen. So verliefen die Karrierewege etwa von Georg Leber (Vorsitzender IG BauSteine-Erden 1957-1966), Karl Hauenschild (Vorsitzender IG Chemie-PapierKeramik 1969-1982) oder Heinz Kluncker (Vorsitzender ÖTV 1964-1982). Sie bildeten einen neuen Typus von Gewerkschaftsfunktionären. Sie waren soziale Aufsteiger, als Jugendliche bzw. junge Erwachsene nach dem Zweiten Weltkrieg das alte Arbeitermilieu schnell hinter sich ließen. Ihr Verhältnis zur Organisation war deutlich instrumenteller und pragmatischer als das ihrer Vorväter – sie hatten sich nicht nebenher, in ihrer Freizeit für die Gewerkschaft engagiert und waren auch nicht für sie ins Gefängnis oder Konzentrationslager gegangen. Nahezu bruchlos wechselten sie ohne weitere außergewerkschaftliche Berufserfahrung von ihrer Ausbildungsstätte zur Gewerkschaft – in deren Büroräumen sie anschließend zumeist ihr restliches Erwerbsleben verbrachten. Durch ihre geburtsmäßige Herkunft aus dem Arbeitermilieu – das unterschied sie von heutigen Funktionären – hatten sie die alte sozialdemokratische Organisationswelt und -kultur noch kennengelernt, waren ihr allerdings nicht mehr annähernd wie noch

473 Siehe hierzu u.a. Henkels, Walter: Der „Boß“ der Bergarbeiter, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 21.11.1966; ders.: Der Boß der Bauarbeiter, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 25.06.1963; o.V.: Walter Arendt, in: Der Spiegel, 09.12.1964.

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ihre Eltern und Großeltern verhaftet. Mit ihnen zog ein neuer Funktionärstypus in die Gewerkschaften – der pragmatische Karrieregewerkschafter, für den die Organisation zumeist vorgefertigte Aufstiegswege offenhielt. Und auch politisch schlugen sie neue Töne an.474 Sie waren moderate Politiker, die klare Forderungen formulierten, jedoch nie den ordnungspolitischen Rahmen der Sozialen Marktwirtschaft verlassen wollten. Ihr Credo bestand darin, am Verhandlungstisch – wenn nötig mit rauflustiger Härte und eiserner Entschlossenheit – das Maximum an Lohnerhöhungen und Freizeit für ihre Klientel herauszuholen, dabei jedoch auch Rücksicht auf die Belange der Arbeitgeberseite zu nehmen. Von ihren Geburtsjahren her gehörten sie der „skeptischen Generation“ an, die von den ideologischen Schlachten und Affinitäten ihrer politischen Vorväter nach der NS-Erfahrung nichts mehr hielt und stattdessen pragmatisches Denken bevorzugte – von dem Bergarbeitergewerkschafter Walter Arendt ist die generationstypische Aussage überliefert: „Wir machen keine Politik, wir vertreten nur die Interessen der Bergarbeiter.“475 Doch was macht Mythos und Aura ihrer Persönlichkeiten aus, die sich heute aus der Retrospektive mit diesen Namen häufig verbinden? Erstens lag dies an den zumeist äußerst langen Amtszeiten. Innerhalb einer 18-jährigen Amtszeit, die Heinz Kluncker im Sommer 1964 an der Spitze der ÖTV antrat, wuchsen viele Westdeutsche zwangsläufig mit ihm auf, wodurch er für viele dauerhaft den Typus des Gewerkschaftsführers verkörperte. Zweitens profitierte diese Kohorte von Gewerkschaftsführern vom wirtschaftlichen und politischen Umfeld, in dem sie agierten. Inmitten einer scheinbar unaufhörlich prosperierenden Gesellschaft, in der sich das Konsum- und Wohlstandsniveau kontinuierlich erhöhten, ließen sich Gewerkschaftsführer leicht als Urheber einer materiell beglückenden Tarifpolitik – die Eigenheime, Kühlschränke und Italienurlaube ermöglichte – beträchtlich positiver konnotieren als ihre Nachfahren an den Organisationsspitzen von Gewerkschaften, die unter der Bedingung von Sockelarbeitslosigkeit, marktbedingter Verhandlungsschwäche und stagnierendem Wirtschaftswachstum handeln mussten. Persönlichkeiten wie „Schorsch“ Leber, so glaubte man sich in den 1980er Jahren zu erinnern, hätten eben noch alles in vertraulichen Vieraugengesprächen mit den Arbeitgebern zum Wohle der Arbeitnehmer gerichtet.476 Und worauf gründete z.B. Otto Brenners Erfolg in der IG Metall? Vermutlich besetzte er im Gewerkschaftslager überhaupt erstmals die Leerstelle

474 Vgl. bspw. Vetter, Ernst Günter: Lebers neuer Weg, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 01.07.1963. 475 Walter Arendt zitiert nach o.V.: Walter Arendt, in: Der Spiegel, 20.06.1966. 476 Siehe bspw. Michaels, Heinz: Ein Mann ohne Fortune, in: Die Zeit, 25.03.1983.

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eines sagenumwobenen Mannes, der für diverse Werte und Lektionen steht, der seiner Gefolgschaft Respekt abnötigt; er war dort so etwas wie Kurt Schumacher für die SPD. Dieser verkörperte die sozialdemokratische Leidenserfahrung während Krieg und Diktatur, stapfte als Kriegsinvalide und KZ-Häftling mit nur noch einem Bein und einem Arm durch die Trümmer der deutschen Nachkriegsgesellschaft, sein ganzer Körper symbolisierte die Katastrophen der deutschen Geschichte im 20. Jahrhundert. Auch Brenner hatte unter den Nationalsozialisten gelitten – doch strahlte er dies nicht annähernd so sinnbildlich wie der sozialdemokratische Märtyrer Schumacher aus. Er erwies sich als Gewerkschaftsfeldherr in hitzigen Tarifgefechten – in den frühen Jahren der Bonner Republik war eine solche Rolle noch nicht besetzt. Brenner erkämpfte sich im wahrsten Sinne des Wortes den Ruf, kompromisslos und gegen jede ökonomische Vernunft, ungeachtet aller drohenden Kosten, Streiks zu führen und hartgesotten die Interessen seiner Klientel zu vertreten. Bei Brenner, dem „Eisernen“, fühlten sich die Metallarbeiter behütet, ihm nahmen sie ab, alle erdenklichen Maßnahmen zu ergreifen, um ihre Interessen durchzusetzen – ihm, den seine Gegner in einer sonderbaren Mischung ehrfürchtig wie kopfschüttelnd „Vorsitzenden der eisernen Faust“477 nannten. Den Brenner-Mythos begründete ein sechzehnwöchiger Streik um die Jahreswende 1956/57 in Schleswig-Holstein, der die IG Metall fünfzig Millionen Mark kostete und die Republik in Atem hielt.478 Das Öffentlichkeitsbild malte einen Hardcore-Gewerkschafter, der an die Fortexistenz des Klassenkampfes zu glauben schien, die Schlüsselindustrien verstaatlicht bzw. „sozialisiert“ sehen wollte und für den es die „viel zitierte ominöse Sozialpartnerschaft“479 nicht gebe. Für viele Segmente innerhalb der berufstätigen Bevölkerung dürfte er eine durchaus abschreckende Figur abgegeben haben; doch für die wichtigsten Gruppen der IG-Metall-Mitgliedschaft war Brenner ein anderer – ein harter Hund, der sich von feisten Kapitalisten und opportunistischen Politikern nichts sagen ließ, ein in der Wolle gefärbter Arbeiter, der die Umstände seiner Herkunft an der Spitze einer politisch einflussreichen Großorganisation nicht vergessen hatte,

477 Zitiert nach Hartelt, Horst-Werner: Der Mann am Ruder. Ein Tag im Hause Otto Brenners, in: Freie Presse, 01.05.1958. 478 Vgl. u.a. Arnsperger, Klaus: Der Mann mit dem eisernen Arm, in: Süddeutsche Zeitung, 15./16.03.1958. 479 Otto Brenner zitiert nach ebd.; vgl. auch Ihlau, Olaf: Ein Streiter für mehr soziale Demokratie, in: Süddeutsche Zeitung, 17.04.1972; Prante, Otmar: Otto Brenner – ein Kämpfer mit dem rechten Augenmaß, in: Neue Hannoversche Presse, 17.04.1972.

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dem man vertrauen konnte. Neidisch blickten die Mitglieder und Funktionäre anderer Gewerkschaften auf die IG Metall, wo „‚Otto der Große’ von den Bäumen der freien Marktwirtschaft für seine Gewerkschaftsmitglieder immer wieder die süßesten Früchte herunterpflückte“480. Heinz Kluncker hingegen stand – rein zufällig, weil er 1982 auf Anraten seiner Ärzte zurücktrat – für eine glorreiche Epoche, für zweistellige Lohnerhöhungen, dreizehnte Monatsgehälter, sinkende Arbeitszeit – ohne als Spitzenfunktionär mit der kurze Zeit später einsetzenden Organisationskrise konfrontiert zu werden. Ihm, der unter Ausnutzung seiner großen Organisations- und Marktmacht harte Tarifschlachten schlug, schrieb man zu, 1974 Willy Brandt als Kanzler zu Fall gebracht zu haben, weil er in einem heftigen Tarifclinch mit wochenlangem Streik im öffentlichen Dienst elf Prozent durchsetzte.481 Sein Name war sogar so sehr Synonym für Wohlstand, dass der Wirtschaftsweise Peter Bofinger noch im Jahr 2004 eine Aussage mit dem Ausruf verteidigte, er wolle bloß nicht als „neuer Heinz Kluncker des 21. Jahrhunderts missverstanden werden“482. Nach Kluncker schien es endgültig bergab zu gehen, die alte Zeit mit regelmäßigen Lohnerhöhungen im zweistelligen Prozentbereich unwiederbringlich verloren.483 Leber, Kluncker und ihre Altersgenossen aus den 1960er und 1970er Jahren waren daher bereits in den 1980er Jahren die Hauptdarsteller mythischer Narrative, Repräsentanten einer irgendwie besseren Zeit. Anders ausgedrückt: Während Kluncker einigermaßen verlässlich für Gehaltserhöhungen sorgte, schienen Wulf-Mathies oder Frank Bsirske lediglich rat- und hilflos den Niedergang einer einstmals großen Organisationsmacht zu verwalten. Dabei hatten die Gewerkschaftsvorsitzenden seit den 1980er Jahren aufgrund der Wirtschaftslage kaum mehr Gelegenheit, sich mit sensationellen Tarifabschlüssen zu ähnlich legendären Figuren wie ihren Vorgängern aufzuschwingen. Überhaupt wurden diese nicht selten eher unscheinbaren und bürokratisch anmutenden Spitzenfunktionäre vermutlich erst durch die Folie ihrer ebenso blassen Nachfolger retrospektiv zu schillernden Gestalten aufgewertet. Drittens genossen die früheren Gewerkschaftschefs einen Medien-Vorteil. Massenmedien – insbesondere die Macht (bewegter) Bilder – haben politische

480 O.V.: Otto der Gußeiserne, in: Der Spiegel, 04.11.1959. 481 Siehe Vetter, Ernst Günter: Ein harter Kämpfer geht und hinterläßt die Kollegen ratlos, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 03.06.1982. 482 Bofinger zitiert nach Fickiner, Nico (Interview mit Peter Bofinger): „Ich bin nicht der Kluncker des 21. Jahrhunderts“, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 26.11.2004. 483 Siehe bspw. Martens, Erika: Kollege Frust stimmte mit, in: Die Zeit, 10.06.1983.

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Führung seither erschwert, indem sie die Bürger höchst selektiv über Vorgänge und Persönlichkeitsmerkmale informieren, dadurch aber ein unvollständiges Bild von Personen und deren Politik vermitteln, das wiederum deren Sympathiewerte reduziert und Handlungsspielräume verengt.484 Als Brenner, Leber oder Kluncker ihre Organisationen führten, gab es allerdings nicht einmal private Rundfunk- und TV-Sender, geschweige denn rasante und nahezu allerorten verfügbare Informationsquellen wie das Internet – es gab den Spiegel, aber kein Spiegel Online. Und viertens sind von ihnen viele kernige Anekdoten überliefert. So parierte etwa der 270 Pfund schwere ÖTV-Chef Heinz Kluncker die Frage, weshalb er angesichts des RAF-Terrors auf Leibwächter verzichte, mit der lakonischen Antwort: „Wenn die mich holen wollen, dann setze ich mich einfach hin.“485 Und zur Wiederkehr von Klunckers Geburts- oder Todestag wird sich eher ein kurzer Presseartikel finden als zu seiner unmittelbaren Nachfolgerin Monika Wulf-Mathies – allein schon, weil Kluncker immer der „Wuchtige“, „Massige“ oder „Bullige“ sein wird, an dessen Durchsetzungsvermögen und Entschlossenheit stets gerne in Abgrenzung zum vermeintlich zahmen und unsicheren Elitepersonal der jeweiligen Gegenwart erinnert werden wird. Andererseits: Die wenigsten von ihnen galten als hervorstechende Charaktere, vielmehr als typische Vertreter eines bürokratischen Habitus. Hierin drückt sich ihre Ambivalenz aus. Ihr damaliger Auftritt in den Medien war nicht sonderlich spektakulär, die meisten von ihnen wurden von der öffentlichen Meinung alles andere als charismatisch empfunden. Der legendäre IG-Metall-Vorsitzende Otto Brenner, der „Eiserne“ oder der „Große“ genannt, dem in der Organisationsfolklore eine nahezu religiöse Verehrung zuteilwird, war zu seinen Lebzeiten bieder und dröge. Journalisten erschien er als „ein ‚normaler’ Mensch ohne Pose, ohne Getue, ohne leeres Pathos“486, immer pünktlich, mit roter Krawatte, weißem Hemd und dun-

484 Vgl. dazu Roegele 1977, S. 185-199. 485 Kluncker zitiert nach Schmid, Thomas: Der Wuchtige, in: Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, 11.07.2004. 486 Wald, Eduard: Das Porträt: Otto Brenner, in: Frankfurter Hefte, Oktober 1956, S. 692 f.; vgl. im Folgenden daneben Arnsperger, Klaus: Der Mann mit dem eisernen Arm, in: Süddeutsche Zeitung, 15./16.03.1958; Hartelt, Horst-Werner: Der Mann am Ruder. Ein Tag im Hause Otto Brenners, in: Freie Presse, 01.05.1958; Meenzen, Hanns: Felsblock oder Bürgerschreck, in: Neue Westfälische, 17.04.1972; MüllerEngstfeld, Anton: Einer der ‚jungen Männer‘, in: NRZ, 08.09.1956; o.V.: Brenner, in: Deutsche Zeitung, 22.09.1954; Vetter, Ernst Günter: Es spricht: Otto Brenner. Porträt eines Gewerkschaftsführers, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 28.09.1956.

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kelgrauem Anzug mit weißem Einstecktuch bekleidet, eine durch und durch dezente Erscheinung von feiner Statur mit graumeliertem Haar, bei der heute lediglich noch die Brille hervorsticht. Jenseits seiner Tätigkeit und seiner schicksalsbeladenen Vergangenheit, in der auch die Verhaftung durch NS-Schergen vorkommt, war er eine eher unauffällige Persönlichkeit – ein Mann, der in seinem Wintergarten ein Blumenbeet bestellte, seiner Frau Martha ein treuer Ehegatte war, in einer Dreizimmerwohnung lebte und dessen exzentrischste Hobbys bereits Wandern und Fotografieren waren. Ähnlich Hermann Rappe (IG ChemieChef 1982-1995): Er war mit derselben Frau verheiratet, gärtnerte gern und liebte das Wandern mit seinem Kurzhaardackel.487 Dennoch erinnert man sich ihrer nicht nur mit dem Respekt vor historischen Figuren, die einige Zeitlang das gesellschaftliche Zusammenleben geprägt haben, sondern nicht selten auch mit einer wehmütigen Portion diffuser Sehnsucht nach großen und markanten Persönlichkeiten. Wenn sie diese zeitgenössisch aber gar nicht so sehr gewesen sind, wie erklärt sich dann diese hartnäckige Nostalgie? Kurz und knapp: Die häufige Legendenbildung dürfte letztlich aus dem Umstand erfolgen, dass sie jahrelang Wohlstand organisierten, verlässlich Gelder für eine ständige Ausweitung des Lebensstandards der Arbeiterschaft aushandelten – was in ihren Amtszeiten noch die allerorten florierenden und expandierenden Wirtschaftszweige erleichterten. Ihren Nachfolgern erlaubten dies die wirtschaftlichen Umstände dann nicht mehr in gleichem Ausmaß. Den Gewerkschaften der Gegenwart fehlen frische Mythen und Erzählungen. Eine der letzten legendären Figuren, war Otto Brenner, der zur Wiederwahl Willy Brandts im Herbst 1972 schon nicht mehr am Leben war. Auch gab es seit Langem keine Organisationsmythen, keine Erfolgsstorys mehr. Doch vielleicht brauchen große Organisationen für ihr Selbstbewusstsein, ihren Optimismus oder als Vorbild die Erinnerung an Ereignisse wie etwa anno 1975, als am 18. April tausende Fabrikarbeiter Klaus Zwickels Aufruf folgten und einen fünfzehn Kilometer langen „Marsch nach Heilbronn“ zurücklegten, um dort bei Audi zu protestieren – damit, so die Erzählung, retteten sie die Schließung des Neckarsulmer Audi-Werks und die Arbeitsplätze der 10.000 dort Beschäftigten.488 Der biografische Stellenwert dieser Aktion ist zumindest bei den Beteiligten enorm. Außer Streitereien und Niederlagen konnten Gewerkschaftschronisten indes in den letzten Jahrzehnten nicht verzeichnen.

487 Vgl. Herles, Helmut: Nie hemdsärmelig, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 08.12.1982. 488 Vgl. Scheytt 2010.

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Und was das Legendenpotenzial des Führungspersonals betrifft: Die in der Bundesrepublik emporgekommenen Gewerkschaftsführer waren schon zu Brenners und Klunckers Zeiten reine Karrierefunktionäre, nahezu ausschließliche Berufsgewerkschafter, die allenfalls nur für kurze Zeit außerhalb eines Gewerkschaftsbüros gearbeitet hatten – beschlagene Experten der Organisation und Verfahren, mangels organisationsexterner Erfahrung wenig vor dem Vorwurf gefeit, die „echte“ Arbeitswelt zu kennen und eisern ursozialdemokratische Ideale zu verfechten. Die älteren unterschied von den jüngeren allerdings die viel größere Chance, materiellen Wohlstand zu erwirken. Äußerlich waren sie von Unternehmern nicht zu unterscheiden, ließen seit den 1980er Jahren mit sich hier und da über Abweichungen von Tarifstandards und Einschnitte in das System sozialer Sicherung reden; als pragmatische Manager, geleitet von betriebswirtschaftlichen Kalkülen, schlossen sie mehrere bis dahin selbstständige Gewerkschaften in neuen Organisationen zusammen – initiierten somit Fusionen, die emotionslos über die stolzen Traditionsbestände geschichtsträchtiger Einrichtungen hinwegfegten. Diesen Typus verkörperte z.B. Hubertus Schmoldt – der der von 1995 bis 2009 die Chemiegewerkschaft leitete. Nichts an Schmoldt erinnert an die helmbewährten Chemiekanten, die seine Organisation vertritt – man könnte ihn sich auch getrost „als einen Mann der Wirtschaft vorstellen“489. Schmoldt, Jahrgang 1945, legte eine lupenreine Funktionärskarriere ihn: Im Alter von achtzehn Jahren trat er während seiner Lehre zum Maschinenschlosser der IG Chemie-PapierKeramik bei; von 1966 bis 1969 studierte er an der Hamburger Hochschule für Wirtschaft und Politik, womit sein Weg zum hauptamtlichen Funktionär vorgezeichnet war. Und so kam es auch: 1969 stellte ihn seine Gewerkschaft als Mitarbeiter ein; als Sekretär in einer Hamburger Verwaltungsstelle begann er seinen Aufstieg, wurde 1977 Bezirkssekretär, dann 1981 Chef der Hamburger Verwaltungsstelle, 1988 rückte er in den Hauptvorstand auf, um schließlich 1995 als dessen Vorsitzender die IG Chemie-Papier-Keramik anzuführen. Schmoldt übte im Gegensatz zu den meisten der Gewerkschaftsmitglieder keinen Beruf aus, für den er sich formell mit einem offiziellen Zertifikat qualifiziert hatte – Schmoldts Beruf war der eines Funktionärs. Das unterschied ihn von vielen seiner Vorgänger in der Ahnengalerie der Gewerkschaftsführer. Schmoldt ist ein mustergültiges Beispiel für einen bundesrepublikanischen Typus des Karrieregewerkschafters, der sein Erwerbsleben ausschließlich in der Organisation zugebracht hat,

489 Noack, Hans-Christoph: Der Mann für das Machbare, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 08.10.2005; für die biografischen Daten siehe http://www.wiwo.de/koepfeder-wirtschaft/hubertus-schmoldt/5287984.html [eingesehen am 04.09.2012].

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das Innenleben der Betriebe allenfalls aus der kurzen Zeit seiner Ausbildung, aus der Perspektive eines Lehrlings kennengelernt hat.

R ESÜMEE : ANMERKUNGEN ZU WIEDERKEHRENDEN P HÄNOMENEN Mehrere Probleme, Diskussionen und Lösungsansätze kehrten im Verlauf der inzwischen weit über 150-jährigen Gewerkschaftsgeschichte immer wieder. Dazu gehören die unwillkürliche Festlegung auf einen dominanten Mitgliedertypus, der organisationsinterne Konflikt zwischen Peripherie und Zentrale, der Vorwurf der Scheindemokratie, die Frage nach dem bestgeeigneten Organisationsprinzip, Fusionen als Antworten auf die organisatorische Krise, die zwiespältige Rolle von Streiks und der Hang zu Schwäche durch Stärke. Arbeiterfokus als gleichzeitige Stärke und Schwäche Dass die Gewerkschaftsmitgliedschaften zu einem großen Teil – und vor allem viel stärker als die Gesellschaft bzw. die Gesamtheit der abhängig Beschäftigten – aus mittelschichtigen Facharbeitern bestehen, ist eigentlich kaum etwas Neues. Bereits zu Zeiten richtungsgewerkschaftlicher Zersplitterung, im Kaiserreich und der Weimarer Republik also, „dominierten gelernte Facharbeiter, die in kleineren oder mittleren Betrieben ihr Brot verdienten“, die über „ein ausgeprägtes Statusbewusstsein“ verfügten und „ähnliche Erfahrungen im industriellen Modernisierungsprozess machten“.490 Bereits die Gründungsgruppe der Gewerkschaften bestand aus qualifizierten Handwerkern, aus denen im Verlauf des 19. Jahrhunderts und der Industrialisierung die Lohnarbeiterschaft hervorging. Buchdrucker und Zigarrenarbeiter schlossen sich erstmals 1848 zusammen. 1865/66 nahm die Gewerkschaftsbewegung ihren Ausgangspunkt in eben diesen Berufen. Als die Organisationen wuchsen und zunehmend die Löhne beeinflussten, kamen auch Un- und Angelernte hinzu. Aber den Kern der Mitgliedschaft bildeten doch immer qualifizierte Arbeiter. Ebenso historisch ist die Fremdheit der Angestellten mit den Gewerkschaften, die für sie vornehmlich die Interessenvertretung einer sozialen Schicht darstellten, von der sie sich mit ihrer oftmals höheren Ausbildung und einem Job im sauberen Büro statt in der schmutzigen Fabrik möglichst stark abheben wollten.

490 Schönhoven 2003, S. 45.

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Das war zu Zeiten Kaiser Wilhelm I. nicht anders als unter dem Reichspräsidenten Friedrich Ebert und sollte sich im Wesentlichen auch nicht nach dem Zweiten Weltkrieg ändern: „Die traditionellen ‚Diaspora-Bereiche‘ der Freien Gewerkschaften hatten sich nach 1945 erhalten […].“491 Offenbar misstrauten etliche Arbeitnehmergruppen den Gewerkschaften, wie im Gegenzug gleichfalls die Arbeiter keine Nähe zu den Angestellten empfanden. In den 1920er wie auch in den 1990er Jahren erachteten akademisch ausgebildete Arbeitnehmer Gewerkschaftszusammenkünfte als „Zeitverschwendung“492 und blieben dieser Organisationspraxis fern. Die besoldeten Gewerkschaftssekretäre in den 1920er Jahren waren zumeist Arbeiter, die durch den Gewerkschaftsjob nicht unbedingt mehr Geld verdienten, jedoch aus der Fabrik in ein Büro kamen und dort viel mehr Gestaltungsmöglichkeiten, Freiheiten und Aufstiegsmöglichkeiten als an ihrem alten Arbeitsplatz vorfanden – Erwerbstätigen, die das bereits außerhalb der Gewerkschaft hatten, boten die Verbände hingegen keinen Anreiz. Das änderte sich auch in der Bundesrepublik kaum. So erhielten die Gewerkschaften jedoch nie hauptamtliches Personal, das in der Lage war, neue Mitgliedergruppen zu erschließen. Denn der gelernte Schlosser mochte das Vertrauen und den Zuspruch der Belegschaft eines Industriebetriebs gewinnen, fand jedoch nicht die richtigen Worte und Gesten, um Banker, IT-Spezialisten oder Supermarktpersonal anzusprechen. Dadurch aber konnten die sprachlich, erscheinungsbildlich und lebensweltlich fast vollständig von Arbeitern geprägten Gewerkschaften zu keinem Zeitpunkt in neue Bereiche vorstoßen, dadurch konnten sie kaum Anknüpfungspunkte finden, mit denen es möglich gewesen wäre, eine anfänglich schwache Stellung im Zeitverlauf allmählich auszubauen und zu festigen. Allenfalls glückte ihnen das in der Weimarer Republik mit dem öffentlichen Dienst, in den die Gewerkschaften eindrangen und woran sie nach der nationalsozialistischen Diktatur anknüpfen konnten. Die Arbeiterprägung verstärkte sich selbst und führte in die Isolation. Offenbar garantiert die Dominanz einer Gruppe im Verhältnis zu ihrer Stärke in der Bevölkerung und auf dem Arbeitsmarkt organisatorische Stärke und politische Macht. Doch zugleich ist sie Ballast, der den Bewegungsspielraum der Organisation einschränkt und ihre soziale wie politische Reichweite beschneidet. Ob im wilhelminischen Kaiserreich, der stürmischen Weimarer Republik oder der „geglückten“ bundesdeutschen Demokratie: Stets gab es in wechselnder Gestalt und schwankendem Ausmaß Gruppen, zwischen denen sowie den Ge-

491 Müller 1990, S. 144; vgl. auch Cassau 1925, S. 156. 492 Cassau 1925, S. 131.

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werkschaften politische und menschliche Berührungspunkte fehlten. Da sich die Gewerkschaften in all diesen politischen Epochen im Großen und Ganzen auf die Rekrutierung weniger Gruppen spezialisierten – Facharbeiter, Angestellte und Beamte im öffentlichen Dienst –, waren es zumeist dieselben Merkmale, die die gewerkschaftsfernen Arbeitsmarktteile kennzeichneten: weibliches Geschlecht, junges Alter, höhere Bildung, dienstleistende Tätigkeit in der freien Wirtschaft. Anders gesagt: Während der Industrieschlosser zu allen Zeiten typisches Gewerkschaftsmitglied war, gehörten den Arbeitnehmervertretungen so gut wie nie Rechtsanwälte, Bürokaufleute, Aushilfen oder Ingenieure an. Schwankungen in der Gewerkschaftsmitgliedschaft erklärten sich entweder aus einer vorübergehend großen Bedeutung der typischen Bereiche, in denen Gewerkschaften Organisationserfolge feierten, oder aus kritischen Phasen, in denen sich aus allen Teilen des Arbeitsmarkts außergewöhnlich große Erwartungen an die Protektionskraft der Gewerkschaften richteten. Gemessen an ihrem Alter, dem Umfang der Gewerkschaftsgeschichte, die in Deutschland bis in die erste Hälfte des 19. Jahrhunderts zurückreicht, haben die Gewerkschaften ihren Integrationsradius also kaum ausgeweitet, sondern sich bemerkenswert konservativ verhalten. Für ein Umdenken war der Zwang zu schwach: Da bislang die für Gewerkschaften gut zu erreichenden Arbeitsmarktgruppen anhaltend eine große Bedeutung für die deutsche Wirtschaft besaßen und auch zahlenmäßig große Anteile an der Bevölkerung hielten, waren die Arbeitnehmervertretungen automatisch politisch wichtige Organisationen, bei denen es sich kein Politiker und Staatsmann leisten konnte, sie nicht als politische Größe zu berücksichtigen. Konflikt zwischen Zentrale und Filialen Schon früh etablierten die Vorstände der meisten Gewerkschaften eine starke Autorität, mit der sie die Büros an der Organisationsbasis auf die Rekrutierung und Betreuung der Mitgliedschaft beschränkten, wohingegen sich die Gewerkschaftsspitze de facto den Entwurf politischer Konzepte, die sie für verbindlich erklärte, Streikbeschlüsse und strategische Entscheidungen vorbehielt.493 Regelmäßig entwickelten die Funktionäre an der Basis ein eigenes Gestaltungs- und Entscheidungsbedürfnis, das mit jenem der Gewerkschaftszentrale kollidierte.494 In der Gewerkschaftsgeschichte lässt sich ein ewiger Widerstreit zwischen Zentralisation und Demokratisierung, permanentem und periodischem Einfluss des

493 Vgl. Mielke 1990, S. 54 f.; Dissinger 1929, S. 228 ff. 494 Siehe dazu Koller 1920, S. 73-78; Potthoff 1987, S. 59; Prott/Keller 2002, S. 345 ff.; Schönhoven 1987: Gewerkschaften als Massenbewegung, S. 233 f.

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einfachen Mitglieds und Funktionärs beobachten. Die Gewerkschaftssekretäre leiteten ihren Autonomieanspruch zumeist von ihrer Nähe zum Objekt der gewerkschaftlichen Interessenvertretung, dem gemeinen Arbeitnehmer, ab. Sie sahen sich als ausführliche Kenner des Alltags im Betrieb wie auch in der örtlichen Gewerkschaftsstelle, glaubten also, viel besser als ihre Kollegen in der fernen Zentrale sowohl um die Schwächen und Stärken der Organisation als auch um die Interessen der Klientel zu wissen. Dieser Konflikt zwischen Peripherie und Zentrale, Spitze und Basis, Theorie und Praxis, konnte auf der einen Seite erfrischende Impulse geben, sinnvolle Neuerungen anstoßen und bei der Organisationselite ein Bewusstsein für die demokratische Berücksichtigung unterer Ebenen schaffen; er konnte aber genauso die Organisationskraft lähmen, indem sich die betroffenen Ebenen in Streitigkeiten verrannten und sich paranoid darauf konzentrierten, Status und Macht vor plötzlichen Übergriffen zu sichern. Insofern war dieser ständige Gegensatz weder eindeutig konstruktiv noch zerstörerisch. Der Vorwurf der Scheindemokratie Fast zu allen Zeiten gab es unterschiedlich laute Stimmen, die die Gewerkschaften als Organisationen kritisierten, die lediglich ihrem Statut nach demokratisch seien, in deren Praxis hingegen eine autoritäre, scheindemokratische Kultur herrsche. Demokratie sei dort mehr Formalität als Realität. In der Weimarer Republik war die Rede davon, dass in den Gewerkschaften – zumeist besoldete – Funktionäre regierten, die mit ihrer „verfeinerten und routinierten Verhandlungstechnik“495 den Mitgliedern ihren Willen aufdrückten und denen die genaue und detaillierte Kenntnis von Verfahrensregeln und Statuten sowie die Beeinflussung der Delegiertenauswahl es erlaube, die Willensbildung in ihrem Sinne zu steuern.496 In den 1990er Jahren beschwerten sich IG-Metall-Funktionäre über die Beschlüsse aus der „Frankfurter Zentrale“, die „ohne Einbeziehung der Kolleginnen und Kollegen vor Ort ausgearbeitet worden“ seien.497 1994/95 fühlte sich eine Reihe von Funktionären als Opfer der DGB-Strukturreform, ohnmächtig den Entscheidungen einer unberechenbaren Elite ausgeliefert.498 Mitglieder, so eine Kritik, fühlten sich „zu Statisten degradiert, als Stimmvieh missbraucht, in-

495 Enderle et al. 1932, S. 79. 496 Siehe ebd., S. 79 f. 497 Bender 1993, S. 18. 498 Vgl. Hasibether 1995, S. 17.

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strumentalisiert“499, die „innergewerkschaftliche Kommunikation“ sei „vielfach nur eine simulierte Kommunikation“.500 Die Kritik an einem offenbar unzulänglichen Demokratieniveau in den formell demokratisch verfassten Gewerkschaften ist ein allgegenwärtiges Phänomen. So berechtigt sie mitunter auch sein mag, vergisst sie doch das weitverbreitete Desinteresse an demokratischer Beteiligung. Dies kann zwar ein Ergebnis mangelhafter Beteiligungsmöglichkeiten sein, doch zumindest lässt sich in unterschiedlichen Perioden der Gewerkschaftsgeschichte eine Partizipationsarmut feststellen. In den Jahren nach dem Krieg bzw. zu Beginn der 1920er Jahre „warf nur eine Minderheit ihre Stimmzettel in die Wahlurnen der Gewerkschaften“ und es beteiligten sich „weniger als 10 % der Mitglieder“.501 Auf den Gewerkschaftskongressen wurde nur selten gegen die Vorstandslinie Opposition ergriffen,502 die im Abstand von drei Jahren tagenden Gewerkschaftskongresse der Vor- und Nachkriegszeit „berührten die Massen fast nie“503. In den 1920er wie auch 1970er Jahren führte der gesellschaftlich erlebte Gewinn von Freiheiten im Alltag zu einem kurzen Aufleben von Partizipationswünschen. In beiden Fällen war dies mit „wilden“ Streiks verbunden.504 Und beide Male versuchten die Gewerkschaften anschließend, die Autorität der Zentrale wiederherzustellen und für die Zukunft zu stärken. Heftige Demokratisierungsimpulse entstanden daher lediglich im Zusammenspiel mit sozialem Wandel, bewirkten jedoch keine langfristige Veränderung der gewerkschaftlichen Beteiligungskultur. Prinzipienfragen Ebenso findet sich in der Gewerkschaftsgeschichte immer wieder die Frage nach dem Organisationsprinzip. Anfänglich aus dem Zusammenschluss einzelner Berufsgruppen – der Zigarrenarbeiter und Buchdrucker – entstanden, gingen die Gewerkschaften mit der Zeit dazu über, mehrere Berufe in derselben Organisation zusammenzufassen. In den 1920er Jahren stritten sich bspw. Gewerkschafter auf Kongressen um die Frage, ob die Gewerkschaften ihre Mitglieder nach

499 Dinter/Schachner/Vetter 1993, S. 47. 500 Zoll 1991, S. 394. 501 Potthoff 1987, S. 61. 502 Vgl. ebd., S. 35; selbiges galt für die 1950er und 1960er Jahre: vgl. Merkel 1999 (Bearb.), S. XXIII. 503 Cassau 1925, S. 113. 504 Vgl. Potthoff 1987, S. 60; Klönne/Reese 1990, S. 273-278; Lompe 1990, S. 326329.

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Branchen oder Berufen rekrutieren sollten; einige Verbände drohten dabei mit ihrem Austritt aus dem ADGB.505 Ähnliches wiederholte sich in der Bundesrepublik. Einzelne Berufsgruppen wie Ärzte, Piloten oder Lokführer nutzten ihre unabdingbare Arbeitsleistung in ihrem Betrieb – dem Krankenhaus, der Fluggesellschaft und dem Bahnunternehmen –, um sich in eigenen Organisationen zusammenzuschließen und für sich bessere Arbeitsbedingungen zu erstreiten. Der Organisationsgrad dieser hochspezialisierten Gewerkschaften war groß, da die Arbeitskämpfe in der Tat in besseren Tarifabschlüssen als in den berufsübergreifenden Organisationen resultierten. Ärzte und Piloten konnten für sich außerhalb der traditionellen DGB-Gewerkschaften mehr Vorteile und Zugeständnisse herausschlagen. Jüngst ergaben sich daher Debatten, ob die Rückkehr zu Berufsgewerkschaften aufgrund deren offenbar größeren Konfliktfähigkeit der neue Königsweg sei, um Mitglieder zu gewinnen. Die Frage um das geeignete Organisationsprinzip für sich genommen stammt indessen aus grauer Vorzeit. Fusionen als Reformvariante Die Reaktionen der Gewerkschaften auf Krisen ähnelten sich im Zeitverlauf. Das muss kein Ausweis eines Mangels an Originalität und Lernfähigkeit sein, doch auffällig ist es dennoch. Insbesondere gilt dies für Organisationsreformen. Wenn das Geld knapp wurde oder bereits große Gewerkschaften ihre Machtposition innerhalb des Verbandes vergrößern wollten, verhielten sich Gewerkschafter oftmals wie profitorientierte Wirtschaftskapitäne. Sie erhoben Effizienz und Sparsamkeit zu obersten Geboten ihres Handelns und gaben sich wahlweise als betriebswirtschaftliche Musterschüler oder Planer mehr oder minder freundlicher Übernahmen. So entließen die Gewerkschaften z.B. in der ersten Hälfte der 1920er Jahre eine große Zahl hauptamtlicher Funktionäre, die entweder in ihren vorherigen Beruf zurückkehrten oder arbeitslos wurden. Denn mangels Einnahmen und infolge der Inflation war der errichtete Apparat nicht mehr zu finanzieren gewesen: „Der Riesenbaum der Gewerkschaften entblättert sich.“506 In den 1990er und 2000er Jahren reagierten die Gewerkschaften auf ihre finanzielle Schwäche ähnlich, bauten den Personalbestand ab, indem sie Funktionäre in Frührente oder Altersteilzeit schickten und die Stellen anschließend nicht mehr besetzten. Auch der organisatorische Zusammenschluss im Rahmen einer Fusion, wie etwa im Fall von ver.di am Ende der 1990er Jahre, gehörte bereits zum Instrumentarium früherer Gewerkschaftslenker. Blickt man erneut zurück in die

505 Vgl. Dissinger 1929, S. 119-173 u. S. 224 ff. 506 Brauer 1924, S. 1.

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Zeit der Weimarer Republik, so lässt sich dort eine ähnliche Konzentrationsbewegung beobachten, wie sie deutsche Gewerkschaften zwischen den späten 1980er und 1990er Jahren vollführten: In den 1920er Jahren verschmolzen etliche Organisationen miteinander, zumeist entlang des neuen Industrieverbandsprinzips – zwischen 1919 und 1930 verringerte sich die Zahl der Gewerkschaftsverbände im ADGB dadurch von 52 auf 31, gingen bspw. die Xylographen mit den Steindruckern zusammen oder die Asphalteure im Baugewerksbund auf und 1930 fusionierte der Verkehrsverbund mit dem Gemeinde- und Staatsarbeiterverband zum Gesamtverband der Arbeitnehmer der öffentlichen Betriebe mit insgesamt rund 700.000 Mitgliedern.507 Starke Einzelorganisationen, deren Mitglieder gut ausgebildete Leistungsträger waren, blieben hingegen für sich. Hier standen sich also organisationsschwache und leistungsfähige Verbände gegenüber; außerdem führten Fusionen zu Machtblöcken, die innerhalb des Gesamtverbands neue Regelungen unterbinden konnten. Diese Schritte – die Reduktion des Personalbestands und der Verwaltungseinheiten – zeigen, dass die Gewerkschaften also auch schon in der Weimarer Republik unter Reformdruck standen, dabei jedoch keineswegs originelle Maßnahmen ergriffen, sondern sich für naheliegende Konzepte entschieden. Ähnliches vollzog sich in den 1990er Jahren. 1997 verschmolz die IG Bergbau und Energie mit der IG Chemie-Papier-Keramik sowie der Gewerkschaft Leder zur IG Bergbau, Chemie und Energie; 1998 und 2000 einverleibte sich die IG Metall die Gewerkschaften Textil-Bekleidung sowie Holz und Kunststoff; die größte aller Fusionen ergab sich 2001 aus dem Zusammenschluss der Deutschen Angestelltengewerkschaft, Deutschen Postgewerkschaft, Gewerkschaft Handel, Banken und Versicherungen, IG Medien und der Gewerkschaft Öffentliche Dienste, Transport und Verkehr zur ver.di. Sicher: Fusionen konnten durch die Zusammenfassung von Kräften und der Tilgung überflüssiger Strukturen durch eine gemeinsame Verwaltung die Schlagkraft einer Gewerkschaft erhöhen. Sie konnten aber auch neue Probleme mit sich bringen. Zum Beispiel konnten Statuskämpfe der vormals eigenständigen Verwaltungen die Lösung drängender Probleme verzögern oder die Größe der Organisationsklientel konnte die politische Integrationsfähigkeit der neuen Supergewerkschaft übersteigen. Auch hier gilt: Offenbar sind Fusionen weder per se gut oder schlecht.

507 Vgl. Dissinger 1929, S. 160-164; im Folgenden vgl. Potthoff 1987, S. 41.

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Zum Segen und Fluch von Streiks Die Einstellung der Gewerkschaften zum Streik als zentralem Mittel des Arbeitskampfes wechselte häufig. Diese Konjunktur lag vermutlich daran, dass Streiks ihnen sowohl Vor- als auch Nachteile bringen konnten. So konnten sie einerseits ihre Verhandlungsmacht stärken und unter den Streikenden das Bewusstsein einer kollektiven Bedrängnis schaffen, wie diesen auch das erfüllende Erlebnis bescheren, durch gemeinsame Anstrengung wieder aus der Notlage herauszufinden. Dabei hatten Arbeitskämpfe etwas Militärisches: Eine zentrale Streikführung musste den Überblick behalten und die streikenden Arbeiter, Divisionen einer Armee gleich, kommandieren; die Arbeiter („Massen, die im Kampfe standen“508) wiederum machten aus persönlicher Betroffenheit mit, gewissermaßen patriotisch – nicht für ihre Nation, jedoch für ihre Klasse. Aus ihrer Sicht galt es, neuralgische Schnittstellen des Betriebs unter Kontrolle zu bekommen, so etwa Arbeitergruppen, ohne die der Produktionsprozess nicht mehr funktioniert, bspw. die Bierkutscher im Brauereiwesen, ohne die nichts mehr ausgeliefert werden konnte. Solche Aktionen, die tatsächlich oft genug Charakterzüge von Kämpfen trugen, schweißten zusammen, stärkten das Bewusstsein für ein gemeinsames Schicksal und beseelten mit dem Gefühl, den Gang der Dinge aus eigener Kraft beeinflussen zu können. Streiks waren außergewöhnliche Phasen des solidarischen Zusammenhalts, von Kreativität, Wagemut und Entschlossenheit, der Versuch, Kontrolle über vermeintlich unkontrollierbare Vorgänge zu gewinnen. In dieser Zeit konnte sich eine Gewerkschaft aus der Sichtweise der Streikenden häufig entweder als hilfreicher Kompagnon, als schlagkräftige Unterstützungsstelle, erweisen oder sich als Komplizin der Unternehmer entlarven, als mutlose Phrasendrescherin, auf die im Ernstfall kein Verlass sein würde. In beiden Fällen konnte sich die Einstellung der Beschäftigten zur organisierten Interessenvertretung jedenfalls erheblich wandeln. Andererseits waren Arbeitskämpfe zumeist sehr teuer. So ruinierten bspw. die zahlreichen Streiks in den frühen 1970er Jahren die Gewerkschaftskassen. Die IG Metall führte damals heftige Arbeitskämpfe, bei denen hunderttausende Gewerkschaftsmitglieder ausgesperrt wurden und die Gewerkschaft daher ihre Streikkasse plündern musste – so kostete ein Arbeitskampf 130 Millionen Mark, ein anderer 120 Millionen.509 Zudem konnten Streiks auch große Enttäuschung

508 Cassau 1925, S. 181; vgl. zu diesem Absatz dort auch S. 177-184. 509 Vgl. Boll, Friedhelm: Streik und Aussperrung, in: Schroeder/Weßels (Hg.) 2003, S. 478-510, hier S. 497.

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hervorrufen, wenn die Verhandlungsergebnisse hinter den hochgesteckten Erwartungen zurückblieben. So enttäuschten die Arbeitskampfresultate in den 1980er Jahren vielfach, mancher Kompromiss „erregte den Zorn der im Streik Engagierten, die in Resolutionen personelle und organisatorische Konsequenzen forderten“510. Zum einen konnten Streiks also den Sinn einer Mitgliedschaft demonstrieren. Zum anderen brachten sie Gewerkschaften jedoch in Bedrängnis, immer wieder im Falle von Unzufriedenheit der Beschäftigten einen Arbeitskampf vom Zaun zu brechen, als unberechenbare Kampforganisation aufzutreten und damit gegenüber der Arbeitgeberseite ihren Nutzen als verlässlicher Verhandlungspartner zu verlieren. Historisch lassen sich mehrere Beispiele finden, bei denen unzufriedene Arbeiter sich nicht im Geringsten um den Führungsanspruch der zuständigen Gewerkschaft scherten, nichts davon hielten, Konflikte im institutionellen Rahmen von Verbandsgesprächen auszutragen.511 Vielmehr schlugen sie mit spontanen Streiks los, übten sich z.T. in halbkrimineller Militanz und rissen auch jene Kollegen mit sich, die Mitglied in einer Gewerkschaft waren. Oft waren es solche Arbeiter, die nichts zu verlieren, jedoch etwas zu gewinnen hatten. Eine Entlassung hätte ihren ohnehin miserablen Status kaum verschlechtert. Insofern konnten ihnen die Risiken, die mit derlei „wilden“ Streiks in den 1920er und 1960er wie auch 1990er Jahren verbunden waren, gleichgültig sein. Das machte sie zu gefährlichen Faktoren des Betriebsalltags. Daher auch waren die Arbeitgeber infolge häufiger Streiks an beständigen Jobs mit berechenbaren Beschäftigten interessiert. Darüber lernten sie die Vermittlungsleistung der Gewerkschaften schätzen, die ihre Klientel disziplinierten und von überraschenden Arbeitskämpfen abhielten. Die Beschäftigten indessen erkannten den Nutzen von Gewerkschaften erst bei längeren Ausständen, als ihnen das Geld ausging und sie infolgedessen gegenüber dem Arbeitgeber kleinbeigeben mussten. In solchen Momenten sahen sie ein, dass die Gewerkschaft mit einer gut gefüllten Streikkasse aufreibende Streikwochen finanzieren konnte, dass sie die Absicherung durch eine solidarische Interessengemeinschaft benötigten. Streiks brachten daher häufig schnelle Mitgliedergewinne. Während der Arbeitskämpfe spürten die Beschäftigten leibhaftigen Zusammenhalt und erfuhren die Gewerkschaft als nützliche Organisation, mit deren Hilfe sie dem Management Respekt abnötigen

510 Müller-Jentsch 1990, S. 407. 511 Siehe z.B. Grüttner, Michael: Basisbewegung und Gewerkschaften im Hamburger Hafen seit 1896/97, in: Mommsen, Wolfgang J./Husung, Hans-Gerhard (Hg.): Auf dem Wege zur Massengewerkschaft. Die Entwicklung der Gewerkschaften in Deutschland und Großbritannien 1880-1914, Stuttgart 1984, S. 152-170.

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konnten; Voraussetzung hierfür war allerdings, dass die Beschäftigten die Streikdrohung der Gewerkschaft nicht als Bluff, sondern als ernstgemeinte Konfliktbereitschaft empfanden.512 Genauso gut konnten Streiks jedoch im Falle einer Niederlage die Arbeitnehmer entmutigen und Zweifel an der Durchsetzungskraft und damit am Sinn von gewerkschaftlicher Organisation aufkommen lassen.513 Streikniederlagen bewirkten z.B. von 1890 bis 1892 einen MitgliederExodus, einen Rückgang von 29.000 auf 215.000 Mitglieder. Die Gewerkschaften befanden sich daher im Zwiespalt. Einerseits mussten sie dem Konfliktbedürfnis ihrer Klientel nachkommen und sämtliche Mittel aufbieten, um der gegnerischen Seite möglichst viele Zugeständnisse abzutrotzen; andererseits durften sie nicht ihre Friedenspflicht verletzen, mussten darauf achtgeben, ihren Ruf als seriöser und verlässlicher Verhandlungspartner nicht zu verlieren, um bei den Arbeitgebern das in der Vergangenheit gewonnene Vertrauen nicht zu dezimieren. Dadurch bedeuteten Streiks für Gewerkschaften seit jeher einen Balanceakt zwischen den Interessen der Klientel und der Rücksichtnahme auf den politischen Gegner. Ob sie dem Konfliktbedürfnis der Basis nachgaben oder das soziale Friedensinteresse von Politik und Wirtschaft berücksichtigten – stets verbanden sich damit gewichtige Vor- und Nachteile. Erfolge unterminierten die Reformfähigkeit Finanzielle, politische und Mitgliederstärke verringerten die Wachsamkeit gegenüber Problemen und Zäsuren; denn sie steigerten die Fähigkeit, jedwede Veränderungen des wirtschaftlichen, politischen und gesellschaftlichen Umfelds solange gelassen zu ignorieren, bis die Reserven aufgebraucht waren. Wenn man so will, schuf multiple Stärke auf mehreren bedeutsamen Sektoren die Veranlagung, Probleme zu vernachlässigen, ihre Lösung zu verschleppen. Dass die Gewerkschaften während des Kaiserreichs keinen Zugang zu den Beschäftigten in der Schwerindustrie fanden, lag nur zu einem Teil an der Feindseligkeit der dortigen Arbeitgeber.514 Zu einem anderen Teil passten sich die von Handwerkern geprägten Gewerkschaften schlichtweg nicht an die dortigen Beschäftigungsbedingungen, Belegschaftsprofile und Arbeitertypen an – jedenfalls nicht, solange sie aus ihren traditionellen Bereichen noch genügend Mitglieder bezogen; so waren bspw. die Zahlstellen an den Wohn-, nicht aber an den Arbeitsorten ausgerichtet, was dazu führte, dass sie die Arbeiter, die unterschiedliche Berufe ausüb-

512 Vgl. Dribbusch 2011. 513 Vgl. Schneider 1989, S. 74. 514 Vgl. dazu Schönhoven 1987: Gewerkschaften als Massenbewegung, S. 235.

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ten, in den großen Fabriken nicht erreichten, sondern nur solche von kleinen und mittleren Betrieben, die jeweils demselben Beruf nachgingen. Und in der Bundesrepublik versuchten die Gewerkschaften nur halbherzig, in den Dienstleistungssektor vorzudringen, Teilzeitbeschäftigte und hochqualifizierte Akademiker zu werben, da sie ja auch ohne diese Gruppen viele Jahrzehnte lang finanziell und politisch stark, natürlicher Gesprächs- und Verhandlungspartner der Mächtigen aus Wirtschaft und Politik waren. Überhaupt verkümmerten ihre organisatorischen Fähigkeiten mit zunehmendem Machtgewinn und Etablierungsgrad. Am schlagkräftigsten waren Gewerkschaften zu Zeiten von politischer Unterdrückung und gesellschaftlicher Diskriminierung. Unter solchen Verhältnissen mussten sich Gewerkschaftsfunktionäre noch viel einfallen lassen, um ihren Organisationsbetrieb am Laufen zu halten. Doch dieser Druck trainierte vorteilhafte Eigenschaften, verlangte ihnen Improvisationskunst, Originalität, Ausdauer und Durchsetzungsvermögen ab. Viele den Arbeitgebern als Funktionäre bekannte Arbeiter fanden keine Anstellung mehr und mussten sich durchschlagen oder sich ihr Geld über das Management von Gewerkschaftsbetrieben und -sekretariaten verdienen. Überhaupt führten die ständigen Rechtsstreitereien mit Behörden und Arbeitgebern sowie die Notwendigkeit, sich innerhalb der Arbeiterbewegung aufgrund der Ächtung durch höhere Sozialschichten eigene Gaststätten, Druckereien und Herbergen aufzubauen, zur Ausbildung gewichtiger Fähigkeiten: So erwarben etliche Funktionäre vorzügliche Kenntnisse auf unterschiedlichsten Gebieten, avancierten zu gerissenen Juristen, gewieften Kaufleuten oder findigen Geschäftsführern. Mit einem Wort: Die Anspannung, die aus der politischen und sozialen Stellung der Arbeiterorganisationen erwuchs, setzte ungeahnte Kräfte frei und steigerte letztlich die Organisationsmächtigkeit. Reformfähigkeit entstand in der Gewerkschaftsgeschichte immer wieder erst aus existenziellen Bedrohungen, drastischen Krisen, die sich nicht mehr ohne Substanzverlust aushalten ließen. Die Bereitschaft, Neues zuzulassen – risikofreudig zu experimentieren, vormals ungekannte Wege einzuschlagen –, stand stets in starker Abhängigkeit von der finanziellen und politischen Stärke. Solange in diesen Bereichen keine desaströsen Zustände vorherrschten, verfielen die Gewerkschaften der fahrlässigen Neigung, ihre Vorräte aus erfolgreichen Zeiten aufzuzehren, in Zeiten der Stärke nicht für Phasen der Schwäche vorzusorgen – um sich dann am Ende unter deutlich schlechteren Voraussetzungen mit viel größeren Anstrengungen erneuern zu müssen, als dies bei rechtzeitiger Reaktion nötig gewesen wäre. Nochmals: Stärke führte zu Schwäche.

Vom Umbruch zum Aufbruch? Epilog

AUFSTIEG

AUS DER

T ALSOHLE ? E IN F AZIT

Ähnlich der SPD können die deutschen Gewerkschaften auf eine lange Geschichte zurückblicken. Diese Geschichte liest sich streckenweise als eine Erzählung unentwegter Erfolge, der ständigen Überwindung heftiger Rückschläge, dem mehrfachen Comeback, bis hin zum „Organisationswunder“ der 1960er und 1970er Jahre. Doch dann endete die Erfolgsstory. In den 1980er Jahren begann ein Niedergang, der rund dreißig Jahre anhielt – mindestens ebenso lang also, wie die Phase des kontinuierlichen Aufstiegs aus den Trümmern des Zweiten Weltkriegs und des „Dritten Reichs“, in der sich die Gewerkschaftsmitgliedschaft von anfangs 5,5 Mio. (1950) auf fast acht Millionen (1982) opulent vermehrt hatte. Mit der hereinbrechenden Dienstleistungs- und Wissensgesellschaft schlitterten die industriell geprägten deutschen Gewerkschaften in eine Krise, die im Verlauf der Jahre zur Normalität wurde. Ein Mitglieder-Exodus setzte ein, ließ ihre Mitgliedschaft in absoluter Höhe ebenso schrumpfen, wie sie proportional zum Wachstum der Bürger im erwerbsfähigen Alter und der Teilnehmer am Arbeitsmarkt zurückging. Wie konnte es dazu kommen? Weshalb nahm die Integrationsfähigkeit der Gewerkschaften derart stark ab? Und wieso waren die DGBOrganisationen eigentlich nicht in der Lage, aus der immensen Kraft ihrer früheren Erfolge eine Umkehr zu bewirken? Sicher, das Schicksal war am Ende der Periode anhaltenden Wohlstands und Wachstums nicht gerade gnädig mit den westdeutschen Gewerkschaften. Ökonomische Prozesse reduzierten Arbeitsplätze vorzugsweise dort, wo die Arbeitnehmer den Gewerkschaften zuneigten, und schufen neue Jobs ausgerechnet in Sektoren, in denen die Gewerkschaften schon immer schwach gewesen waren. Aber dass sich die Gewerkschaften an die neuen Umstände nicht anpassten, die

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immerhin mehr als drei Jahrzehnte Bestand hatten – und noch immer andauern –, ist dennoch erklärungsbedürftig. Wieso gelang es ihnen nicht, sich mit veränderten politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Verhältnissen trotz dieser langen Zeitspanne zu arrangieren? Im Folgenden ein Resümee. Inflationäre Kritik Man könnte angesichts von Dauer und Ausmaß der Krise meinen, es habe den Gewerkschaften an der Kenntnisnahme ihres Abstiegs von Gewinnern der Industrie- zu Verlierern der Dienstleistungsgesellschaft gemangelt. Doch dem war nicht so. Vielmehr wussten sie davon nur allzu gut. Offenbar kamen sie nicht mit dem Widerspruch gleichzeitiger Stärke und Schwäche zurecht. Aufgrund abnehmender Mitgliederzahlen ließ sich ihre Krise zwar seit den frühen 1980er Jahren nicht mehr leugnen; die Verlustziffern waren allerdings nie bedrohlich genug, um zu verhindern, optimistisch oder ignorant von einem lediglich periodischen Phänomen auszugehen. Hinzu kam die Fülle von Kommentaren, Ratschlägen und Ermahnungen aus Medien, Wissenschaft und den eigenen Reihen, die allesamt vermutlich zu einem Abwehrreflex geführt haben, jedenfalls keine Universalreform und Generalsanierung herbeiführten. Kurz gesagt: Die Kombination aus moderatem Kraftschwund und permanenter, dadurch irgendwann enervierender Kritik ergab eine für die Gewerkschaften letztlich fatale Mixtur unangebrachten Selbstbewusstseins aus fälschlich angenommener Stärke. Unablässige und umfassende Kritik verdichtete sich zu einer Inflation alternativen Denkens, das eine Immunität des Gewerkschaftsorganismus gegenüber Ratschlägen von außen bewirkte und eine konsequenzlose Abfolge von Reformgelöbnissen hervorrief, die in den Gewerkschaftszentralen statt Reformeifer in Wirklichkeit Reformmüdigkeit verursachten. Außerdem entsprachen Ausmaß und Tiefe der Kritik nicht dem selbst empfundenen Organisationszustand, der schließlich noch immer genügend Mitglieder und in manchen Bereichen des Arbeitsmarkts stattliche Organisationsgrade vorzuweisen hatte, insofern also vergleichsweise geringen Anlass zu harten Eingriffen bot. Viele Reformforderungen litten zudem unter einer irrtierenden Mehrdeutigkeit, widersprachen sich doch etliche Debattenbeiträge einander und schufen Verwirrung statt Klarheit. Auch der Organisationsaufbau wirkte sich reformhinderlich aus. Die inneren Strukturen der Gewerkschaften beförderten kraft- und zeitraubende Konflikte – zwischen den Einzelgewerkschaften und dem Verband ebenso wie zwischen der Zentrale und der Peripherie. Der DGB-Vorstand hatte gegenüber mächtigen Einzelgewerkschaften wie der IG Metall oder der ÖTV, später ver.di, nicht viel zu sagen, geriet überdies infolge des „Neue Heimat“-Skandals in deren finanzielle

V OM U MBRUCH

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Abhängigkeit und musste sich permanent um die Rechtfertigung seines Fortbestands bemühen. Diese Autoritätsschwäche minderte seine Reformfähigkeit und führte in den Medien zu imageschädigenden Schlagzeilen und Berichten, die das Bild eines hilflosen und schmächtigen Akteurs vermittelten. Aber auch innerhalb einer einzelnen Gewerkschaft existierten unterschiedliche Sphären mit jeweils anderen Vorstellungen, Erlebnissen und Erfahrungsniveaus, die in Unkenntnis voneinander in Streitereien verfielen, sich gegenseitig wenig ernstnahmen, damit aber Lernprozesse überflüssigerweise mehrfach durchliefen, originelle Ansätze nicht verbreiteten, die Kompromissfähigkeit nach außen schwächten und nach innen das Reformtempo verlangsamten oder unkoordiniert nebeneinander her arbeiteten. Dass lange Zeit benachbarte Organisationsbereiche isoliert vor sich hin werkelten und die wertvollen Erfahrungen des jeweils anderen nicht teilten, beraubte einfallsreiche Ansätze und frische Ideen ihrer möglichen Wirkungskraft. Aufgrund von Karrieren, die in streng vorgegebenen Bahnen verliefen, und weitgehend immunen Ämtern, in denen man trotz aller demokratischen Ordnung nur äußerst selten von Konkurrenten herausgefordert und unter Druck gesetzt wurde, konnten Funktionäre tun und – dies vor allem – lassen, was sie wollten. Die gefahrlose Amtsführung und der automatische Aufstieg erwiesen sich als leistungs- und reformhemmende Faktoren. Ein weiterer fand sich in dem Desinteresse der Funktionäre am Wandel durch Reformen. Viele Gewerkschafter verschlossen sich neuen Engagement-Vorlieben und Partizipationskulturen, obwohl sie doch ständig den Niedergang des Ehrenamts beklagten und ihrem Anspruch nach die Angehörigen bislang gewerkschaftsferner Schichten und Berufe gewinnen wollten. Nichts fürchteten viele Gewerkschaftsfunktionäre in den 1980er und 1990er Jahren allerdings so sehr wie Veränderungen. Diesen öffneten sie sich nur im äußersten Notfall, wenn ihre Stellen und Gehälter bedroht waren, sie persönliche von der Organisationskrise betroffen waren. Ansonsten wehrten sie sich vehement gegen Neues, verteidigten vermeintlich Altbewährtes. Nichtsdestotrotz erkannten sie Schwachstellen, lokalisierten sie Probleme und gelobten Besserung. Das war jedoch eine fatale Kombination: Denn nichts dergleichen geschah – und dies über viele Jahre hinweg. Zwischen der Erkenntnis eines Defizits und dem Griff zu geeigneten Maßnahmen vergingen zumeist viele kostbare Jahre, in denen sich der ohnehin schlechte Zustand noch verschlimmerte und die Organisation schließlich nicht aus einer Position der Stärke, sondern der Schwäche reagieren musste. Stärke veränderte somit nicht die Richtung des Prozesses, sondern verlangsamte ihn lediglich. Gewerkschaften waren jedenfalls alles andere als experimentierfreudig und wagemutig, mithin erzkonservativ.

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Der Fluch des Erfolgs Ein weiteres Problem bestand in den Organisationserfolgen. Ausgerechnet anerkennenswerte Leistungen riefen offenbar eine übermütige Gelassenheit hervor, die den Stellenwert von Krisenanzeichen verringerte, Ruhe statt Sorge bewirkte. Häufig veranlassten sie die Gewerkschaften zum verfrühten Übergang in den Alltag. So überschätzten die Gewerkschaftsführungen schnelle Rekrutierungsleistungen und missdeuteten die Beseitigung der gravierendsten Mängel sogleich als ausreichende Lösung des gesamten Problems. Dabei bedeutete z.B. die schlagartige Anhebung der Frauenpräsenz in Elitegremien noch lange nicht, die Anziehungskraft der Gewerkschaften für das weibliche Geschlecht deutlich erhöht zu haben – ging dieser Schritt doch von einem peinlich niedrigen Niveau aus. Und die gewaltige Zunahme der Mitgliedschaft durch die millionenfachen Eintritte der neuen ostdeutschen Mitbürger infolge der Wiedervereinigung in den frühen 1990er Jahren war eben kein Ausweis der Stärke, sondern verdeckte vorübergehend bloß die unvermindert fortbestehende Schwäche. Apropos Schwäche – deren Ursache war in vielen Fällen das Gefühl von Stärke. Die Gewerkschaften überschätzten z.B. ihre Mobilisierungskraft, weil sie offenbar noch immer eine beeindruckende Menschenmenge zu Streiks und Demonstrationen anstiften konnten. Folgten ihren Aufrufen etwa nicht stets einige Zehntausende, mitunter gar Hunderttausende? Dazu überschätzten sie die Strahlkraft und Fürsprache ihrer politischen Positionen und Konzepte. Aus den Mündern von Gewerkschaftern klangen sie wie Heilsversprechen – von denen die Arbeitnehmer sich allerdings nicht erwecken ließen. Hinzu kamen beständige Insignien der Macht: nach wie vor hunderttausende bzw. Millionen von Mitgliedern oder die monumentalen Gewerkschaftsbauten, in denen die Verwaltungen untergebracht waren. So aber – im Glauben, Urheber eines geradewegs erstklassigen Plans zu sein –, kümmerten sich die Gewerkschaften nicht um alternative Ideen, unterließen das darüber hinaus reichende Denken. Stattdessen dachten sie paternalistisch, glaubten, die Bedürfnisse ihrer Klientel genauestens zu kennen, wo sie sich doch in Wahrheit immer weiter von ihnen entfernten. Eine andere Ursache der Schwäche lag im fahrlässigen Vertrauen auf die Beständigkeit unbeständiger Kraftquellen. Dazu gehörte z.B. das sozialdemokratische Milieu, das bis 1970 weitgehend zerfallen war, nachdem es die neuerdings studierten und ausgebildeten Arbeiterkinder verlassen und damit die über viele Generationen vermittelte Fortsetzung der Milieukultur unterbrochen hatten. Sie begannen ein Leben jenseits der Arbeiterviertel, wurden gebildeter und wohlhabender, verloren den Kontakt zu ihren einstigen Schichtgenossen. Daran änderte auch nichts, dass in manchen Regionen wie dem Ruhrgebiet diese Milieukultur

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noch länger als andernorts fortbestand. Auch die Wirtschaftskonjunktur, die Verheißung ewigen Fortschritts und Wachstums, sowie die sozialen Beziehungen zu den Arbeitgebern verschlechterten sich. Infolgedessen entzogen etliche Vorgänge – soziologisch werden sie unter die Begriffe Individualisierung, Modernisierung und Globalisierung gefasst – den Gewerkschaften überdies ihre ursprünglichen Rekrutierungsbedingungen, mit denen diese auch ohne das Milieu ihre Mitgliederzahlen nach oben getrieben hatten. Nun erst beschlich sie der Verdacht, mit dem gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Wandel nicht Schritt gehalten zu haben, vor größeren Problemen als angenommen zu stehen. Zum folgenschweren Vertrauen auf flüchtige Existenzgrundlagen gehörten ferner die Politik- und Institutionsmacht. Jahrzehntelang saßen Gewerkschaftsfunktionäre in allen möglichen Orten politischer Entscheidung und gesellschaftlicher Gestaltung – in Parlamenten, Ministerien oder Gremien. Doch diese starke Einbindung, der Platz am Kabinettstisch und der vermeintlich selbstverständliche Verkehr mit den Mächtigen, verleitete sie zur Vernachlässigung ihrer organisatorischen Fähigkeiten. Sie räumten ihren politischen Abteilungen Vorrang gegenüber den operativen ein – die Zentrale dominierte das Organisationsgeschehen, während die Sekretariate die stetig schwindende Mitgliedschaft verwalteten. Das war solange kein Problem, wie die Ära fordistischer Produktionsweise und sozialpartnerschaftlicher Beschlussfähigkeit im „rheinischen Kapitalismus“ andauerte. Doch als irgendwann die Gewerkschaftsmitgliedschaft bei Abgeordneten kaum mehr Einfluss auf deren Abstimmungsverhalten ausübte und Gewerkschafter am Kabinettstisch von exotischer Seltenheit waren, als im Zuge der Arbeitsreformen der gewerkschaftliche Einfluss in der nunmehrigen Bundesagentur für Arbeit verfloss – da waren die Gewerkschaften jäh entblößt worden und standen vor dem Problem, alternative Wege des Machterwerbs zu beschreiten. Kurzum: Sie mussten sich nun wieder dem Gewinn neuer Mitglieder widmen, mussten in gewerkschaftsferne Arbeitsmarktbereiche vordringen, um ihre politische Macht und ihren gesellschaftlichen Stellenwert zurückzuerlangen. Vor allem aber fielen die Gewerkschaften ihrem Reichtum zum Opfer. Die monatlichen Beiträge von insgesamt ungefähr sieben Millionen Mitgliedern erhöhten ihre Risikobereitschaft und stürzten die sozialistischen Idealen verschriebene Gemeinwirtschaft Anfang der 1980er Jahre in die Katastrophe – Milliarden von Mark gingen verloren. Außerdem förderten sie die Neigung, die Krise des Ehrenamts und der Mitgliedschaft nicht durch eine Wiederbelebung zu überwinden, sondern die Erosion der Organisationsbasis mit dem Ausbau professioneller Strukturen und der Auslagerung aufwändiger Aufgaben an organisationsexterne Anbieter auszugleichen. Dort, wo Aktivisten fehlten, wurden Gewerkschaftsstellen geschlossen, kamen Computer zum Einsatz und vollzog sich die Beitragskas-

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sierung nicht mehr an der Haus- oder Wohnungstür, sondern über das Bankkonto. Millionenschwere Kampagnen und Mitgliederzeitschriften übernahmen nun die Kommunikation mit den Mitgliedern. Das Zeitalter der Hauskassierer endete mit einem Male. Dadurch aber verloren die Gewerkschaften den persönlichen Kontakt zu ihren Mitgliedern, den Plakate, Anzeigen und Hotlines am Ende jedoch nicht ersetzten konnten. Zwischenmenschliche Beziehungen ließen sich nicht durch professionelles Kommunikationsmanagement austauschen. Bald schon kannten Organisation und Klientel aneinander nicht mehr. Die einstmals emotionale Bindung hatte sich aufgelöst, war anonym und steril geworden. Fortan fehlte es der Gewerkschaftspolitik an der Basis an Rückhalt, weil den Arbeitnehmern niemand mehr Verhalten und Strategien der Organisation erklärte. Dadurch verloren die Gewerkschaften mit der Zeit das Wissen über ihre Klientel, kannten deren Anliegen und Lebenswelt nicht mehr, wussten deren Verhalten und Interessen nicht mehr zutreffend einzuschätzen – Apparat und Basis entfremdeten sich aneinander. Denn im Gegenzug wussten auch die Arbeitnehmer nicht mehr viel mit den Gewerkschaften anzufangen, besaßen ihrerseits schon bald keine Kenntnis mehr von deren Vorzügen, Sinn und Eigenarten. Der lange Zeit intakte Wissenstransfer zwischen Organisation und Klientel war plötzlich unterbrochen, der vormals intensive Kontakt abgerissen. Dabei war der persönliche Kontakt doch so ungemein wichtig: Die Arbeitnehmer kamen ja größtenteils nicht (mehr) aus eigener Initiative in die Gewerkschaft. Vielmehr mussten sie angesprochen und überzeugt werden und bedurften anschließend der fürsorglichen Pflege. Das aber erforderte einen Grad von ehrenamtlichem Engagement, das in den Gewerkschaften infolge der Professionalisierung längst ausgetrocknet war. Kein Gewerkschafter klingelte bei den Bürgern an der Tür, um den Beitrag zu kassieren, die Mitgliederzeitschrift zu überreichen und sich über die Befindlichkeiten zu erkundigen. Erstere Punkte übernahmen Bank und Post, letzterer entfiel ersatzlos. Auch traf man keinen Gewerkschafter mehr während des gemeinsamen Wartens auf den Bus vor den Fabrikhallen, da man mit seinem Pkw zeitökonomisch einfach davonbrauste. Kurz: Gewerkschaften waren im Alltag nicht mehr präsent und hatten in der Lebenswelt der Menschen ihren einstigen Gebrauchswert verloren. Auch hier waren die Gewerkschaften Opfer gesellschaftlicher und technischer Moderne geworden – einer Moderne, die sie mit den Erfolgen ihrer Politik z.T. selbst hergestellt hatten.

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Blindmachender Reformeifer Vielfach verursachten Reformen auch neue Probleme, ohne dabei alte beseitigt zu haben. Insbesondere Fusionen galten in den späten 1980er und während der gesamten 1990er Jahre als Wundermittel. Mit ihnen verbanden sich hohe Erwartungen, die sich fast sämtlich nicht erfüllten. Der zugrundeliegende Gedanke klang ja auch vielversprechend: Die Zusammenführung doppelter Strukturen in einer Organisation sollte ausufernde Kosten einsparen. In der Praxis aber beanspruchten Fusionen jedoch in der Vorbereitung und Verarbeitung viel Zeit und Energie. Sie erstreckten sich meist über viele Jahre. Außerdem führten sie in Gestalt von komplizierten Arrangements, die zur Einbindung der vormals eigenständigen Apparate notwendig waren, und anhaltenden Konflikten einander misstrauender Partner zu neuen Knackpunkten. Vor allem förderten sie das Autonomiestreben einzelner starker Gruppen, die sich der Massenintegration in einer Mammutorganisation entziehen wollten, um sich abzugrenzen und elitäre Interessen zu pflegen. Ärzte, Piloten und Lokführer verließen fusionierte Organisationen und verhandelten ihre Tarife in eigenen Interessenverbänden. Dadurch lagen Gewerkschaften bald untereinander im Clinch, befehdeten sich mit juristischen Mitteln, was auf manche Beschäftigten befremdlich gewirkt haben dürfte. Auch der Versuch, durch einen Abbau vermeintlich überflüssiger Strukturen unnötige Kosten einzusparen, erwies sich als kontraproduktiver Fehlschluss. Denn der Unterbau der Gewerkschaften hätte mehr statt weniger Mittel bedurft. Indem Gewerkschaftsbüros schlossen und unentbehrliche Arbeiten von hauptberuflichen auf ehrenamtliche Gewerkschafter abgewälzt wurden, verringerte sich ausgerechnet im Augenblick der Mitgliederkrise die Rekrutierungs- und Bindungsfähigkeit der Gewerkschaften. Zu einem Zeitpunkt also, der ganz besonders stark nach der wagemutigen Investition in erfinderische Projekte verlangte, bevorzugten die meisten Gewerkschaftsführungen den kurzfristigen Segen unverzüglicher Ersparnis, ohne zu berücksichtigen, damit langfristig die Substanz der Organisation zu gefährden. Unbeschadet der Widrigkeiten, die ein stark gewandeltes Umfeld mit sich brachte, verstärkten die Gewerkschaften außerdem ihre Krise, indem sie sich auf einen bestimmten Typus des Arbeitsmarkts spezialisierten und sich dadurch anderen gegenüber abschotteten. Das schlug sich vor allem in der Organisationsund Demokratiekultur nieder. Ungünstige Termine, langwierige und ermüdende, überdies als Blockade empfundene Abläufe schreckten all jene Arbeitnehmer ab, die aus ihrem Berufsleben Eigenständigkeit, Kreativität und Flexibilität gewohnt waren. Sie suchten einen Ort für ihr Engagement, an dem sie Freiräume besaßen, schnell und kompromisslos handeln konnten. Auch gab es viele, die sich nicht

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langfristig binden und regelmäßig mitwirken wollten, sondern Spontaneität und Improvisation bevorzugten, sich projektgebunden engagieren wollten. Doch für diese Gruppen hielten die Gewerkschaften kein reizvolles Beteiligungsangebot bereit. Diese Gruppen waren es auch, die das demokratische Delegationswesen nicht schätzten, die sich nicht damit zufriedengaben, Befehlsempfänger oder Hilfskräfte eines Apparats zu sein, die sie obendrein für gemächlich und erstarrt hielten. Für sie war es mitunter eine grauenvolle Vorstellung, dass eine räumlich ferne, weitgehend anonyme Elite – deren Angehörige sie vermutlich als inkompetent einstuften – entscheidende und richtungsweisende Beschlüsse fasste und über beträchtliche materielle Mittel gebot. Auch sprachlich blieben ihnen die Gewerkschaften fremd, die oftmals in marxistischen Kategorien dachten, aus einem Wortschatz der 1920er Jahre oder 1960/70er Jahre schöpften und mit militaristischen Vokabeln einen eigentlich anachronistischen Klassenkampf auszutragen schienen. Hinzu dürfte eine abschreckende Ästhetik der Gewerkschaftswelt gekommen sein. Es ist zu vermuten, dass viele Bürger in Gewerkschaftern eine bestimmte Sozialfigur sahen, deren Kombination aus Hemden, Hosen, Brillen, Frisuren wie Rasuren ein Komplettbild ergaben, dass mit der übrigen Gewerkschaftsoptik korrespondierte und insgesamt ein wenig attraktives Bild ergab. Unbehaglich waren auch die Orte der Gewerkschaft, vor allem die Hinterzimmer von rauchigen und holzvertäfelten Kneipen, in denen sich Gewerkschafter dem Klischee nach in bierseliger Runde versammelten. Frauen und Jugendliche wurden dort lange Zeit in der Tat nicht ernstgenommen. Kurzum: Es gibt genügend Anhaltspunkte für die These, dass Gewerkschaften nicht gerade der Ort waren, an dem sich bürgergesellschaftliches Engagement bzw. das individuelle Streben nach Selbstentfaltung in den 1980er und folgenden Jahren sonderlich entfalten konnten – und wollten. Denn kaum etwas an ihnen war mondän, juvenil, akademisch oder alternativ. All die in der Mitgliedschaft schwach vertretenen Gruppen fühlten sich in den Gewerkschaften schlichtweg unwohl. Ingenieure, Ärzte, Abteilungsleiter, Rechtsanwälte, mittlere Beamte – was sollten sie in einer Organisation, deren Köpfe ihnen nicht imponierten, deren Verfahrensweisen sie langweilten oder blockierten und deren Strukturen sie für ineffizient, langsam und undemokratisch hielten? Das hauptamtliche Personal sah seinerseits die Ehrenamtlichen als Zusatzbelastung oder Konkurrenz an. Dadurch erzogen sich die Gewerkschaften einen dominanten Funktionärscharakter, wurden eintönig, engstirnig, langweilig. Dadurch aber blieben die Facharbeiter sowie niedrigen Angestellten und Beamten unter sich, war ihnen der Zugang zu anderen Lebenswelten und Berufsgruppen verschlossen. Und dadurch auch waren die Gewerkschaften kaum in der La-

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ge, aus dieser selbstgeschaffenen Isolation auszubrechen – rekrutierten die Funktionäre doch in aller Regel Arbeitnehmer mit ähnlichem Bildungsabschluss, ähnlichem Lebensstil, ähnlicher Sprache, ähnlicher Kleidung usw. Hinzu kam eine wachsende Konkurrenz aus dem zivilgesellschaftlichen Bereich. Schon das pazifistische und ökologische Moment der 1970er und frühen 1980er Jahre lotste die Angehörigen jüngerer Jahrgänge nicht in die Gewerkschaften, sondern in sozial bewegte Bürgerinitiativen, in denen die Menschen für Frieden protestierten und gegen Atomkraftwerke demonstrierten. In den 1990er und 2000er Jahren entstanden dann immer mehr Orte und Räume, die den Vorlieben der bürgergesellschaftlich Engagierten – vor allem jenen mit erlauchter Bildung und stattlichem Verdienst – weitaus besser entsprachen und vorzüglichere Bedingungen gewährten. Die wachsende Zahl von Bürgern, deren Vorstellung von Ablauf, Inhalt und Zweck ehrenamtlicher Tätigkeit von jener der Gewerkschaften abwich, fand oder schuf sich kurzerhand alternative Organisationen. Auch in den Betrieben nahmen die Arbeitsabläufe freizügigere Formen als früher an und minderten den Wert gewerkschaftlicher Organisation. Kurzum: Um ehrenamtlich tätig zu sein, brauchten seit den 1970er Jahren immer weniger Menschen die Gewerkschaften. Arbeiterspezialisten in der Dienstleistungsund Wissensgesellschaft Noch in anderer Hinsicht entfernten sich die Gewerkschaften von der Gesellschaft. Nicht der Arbeitsmarkt, sondern eine ganz bestimmte Schicht dort bildete ihren Bezugspunkt. Tarifpolitisch, programmatisch und personell konzentrierten sie sich auf unbefristet und vollbeschäftigte Facharbeiter und Beschäftigte des öffentlichen Diensts, überwiegend männlich und über dreißig Jahre alt. Andere Gruppen und Bereiche verloren sie aus den Augen, vernachlässigten Angestellte des Dienstleistungssektors, Frauen und atypisch Beschäftigte. Das bewirkte einen folgenschweren Kontaktverlust zur sozialen Entwicklung des Arbeitsmarkts. Dadurch auch bildete die Gewerkschaftsmitgliedschaft – irgendwann völlig anachronistisch – den Arbeitsmarkt der 1960er Jahre ab. Infolgedessen waren die Gewerkschaften seit den 1970er Jahren häufig dort abwesend, wo Arbeitsplätze entstanden. Stattdessen konzentrierten sie sich auf Bereiche, in denen die Beschäftigung zurückging – in denen sie seit dem Kaiserreich stark gewesen waren. Ihnen fehlten Ideen, in wachsende Branchen vorzudringen – und sie unternahmen bis über das Jahr 2000 hinaus auch kaum Versuche, daran etwas zu ändern. So bekämpften sie z.B. Teilzeit- und geringfügig entlohnte Jobs als eine „mo-

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derne Form von ‚Sklavenhandel‘“1, ungeachtet der Tatsache, dass diese Beschäftigungsformen für manche Arbeitnehmer auch gewünscht und vorteilhaft waren. Überhaupt unterstellte ihre Politik eine Gleichförmigkeit des Arbeitsmarkts, eine Interessenidentität der Beschäftigten, die so gar nicht vorhanden war. Damit sicherten sie sich zwar einen Kernbestand an Mitgliedern; doch scheiterten sie in ihrem Anspruch, die vielfältige Gestalt des Arbeitsmarkts nahezu vollständig zu erfassen und eine höchst repräsentative Mitgliedschaft zu organisieren. Sie waren und blieben die Interessenagentur mittelschichtiger Arbeitnehmer, Verteidiger gestriger Verhältnisse. Mit Ökologie, Feminismus und Friedenspolitik konnten sie nicht viel anfangen, schnitten die Organisation auf schwindende Bereiche des Arbeitsmarkts zu. Damit waren sie alles andere als zeitgemäß, erhielten aber zumindest ihren Status als politisch bedeutsame Großorganisationen aufrecht. Gemessen an den gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und politischen Veränderungen der letzten dreißig bis vierzig Jahre war das freilich nicht wenig. Der Mitgliederverlust, den die SPD im selben Zeitraum zu verschmerzen hatte, war um einiges größer. Kurzum: Die Gewerkschaften hatten gelernt, mit diversen Methoden und einer bestimmten Politik in bestimmten Sektoren des Arbeitsmarkts regelmäßig Mitglieder zu gewinnen, sich kontinuierlich zu erneuern. Das verminderte den Druck, andere wachsende Bereiche und an Bedeutung zulegende Gesellschaftsströmungen zu berücksichtigen und zu erreichen. Doch mit dem Instrumentarium, mit dem sie in den 1960er und 1970er Jahren große Organisationserfolge erzielt hatten, konnten sie ihren Bestand in einer hochgradig veränderlichen Welt nicht aufrechterhalten und schrumpften seitdem. In den 1980er und 1990er Jahren spiegelte ihre Mitgliedschaft den Arbeitsmarkt der 1960er Jahre wider – nur das von diesem in der Realität kaum mehr etwas übriggeblieben war. Auch das trug zu dem öffentlichen Image der Gewerkschaften als notorische Verlierer, politische Versager und offenkundige Schwächlinge bei. Dass einzelne Spitzengewerkschafter wegen scheinbar veruntreuter Gelder verhaftet wurden und aufgrund unzulässiger Vorteilsnahme zurücktraten, bestätigte den Verdacht, demzufolge sich die Organisationselite längst von der Basis abgekoppelt hatte und sich in der Manier schamloser Bonzen auf Kosten der Mitglieder selbstbereicherte. Brisante Skandale wie jener um die Neue Heimat und den Bankrott der traditionsreichen und idealistisch begründeten Gemeinwirtschaft zogen den wirtschaftlichen Sachverstand der Gewerkschaften in Frage. Die IG-Metall-Vorsitzenden, die aufgrund ihrer starken Präsenz in den Medien das öffentliche Bild der Gewerkschafter ganz besonders prägten, erschienen häufig als radikale, un-

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Aust/Holst 2006, S. 310.

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gestüme und kompromissunfähige Hardliner. Endloskonflikte um politische Linien und Konkurrenzkämpfe um Spitzenpositionen erweckten den Eindruck, als irrten die Gewerkschaften ziellos und selbstbezogen umher – zur schnellen und durchgreifenden Reform gänzlich unfähig. Ungeachtet steigender Arbeitslosenzahlen und zunehmend ungemütlicheren wie unsicheren Arbeitsverhältnissen schienen sie vornehmlich mit ihren eigenen, hausgemachten Problemen beschäftigt zu sein, anstatt sich mit aller Kraft den Belangen ihrer bedrängten und verunsicherten Klientel zu widmen. Ihre Misserfolge und internen Konflikte waren Futter für die journalistischen Kommentatoren, überlagerten sämtliche andere Aspekte ihres Daseins und ließen die Gewerkschaften in aller Öffentlichkeit als wirklichkeitsferne, reaktionsschwache, zerstrittene, insgesamt unvermögende Organisation erscheinen. Die Berichterstattung auflagenstarker Tages- und Wochenzeitungen schilderte die Gewerkschaften unisono in oftmals despektierlicher Polemik als desolaten Zusammenschluss von Blockierern notwendiger Reformen und Vertretern verkalkter Standpunkte. Das war ein großes Problem, da weder die Gewerkschaftspresse noch ihre Funktionäre aufgrund ihrer schwachen Einflussnahme auf die Beschäftigten das weitläufige Meinungsbild korrigieren konnten. Im Gegensatz zu den Milieuzeiten bezogen die Menschen ihre Informationen über die Gewerkschaften längst überwiegend aus Quellen, deren Aussagen die Gewerkschafter nur wenig vorgeben konnten, die nicht loyal, sondern kritisch argumentierten. Und so konnten die Gewerkschaften auch nicht viel dagegen ausrichten, von einem Großteil der Bevölkerung als nutz- und machtlose Organisationen wahrgenommen zu werden. Arbeitslosigkeit, Betriebsschließungen und Lohnkürzungen gab es ja stets trotz der Gewerkschaften. Wiederholt litten die Gewerkschaften im Verlauf der deutschen Geschichte unter einem zweischneidigen Mechanismus – von Weimar bis Bonn: Viele Arbeitnehmer knüpften ihre Mitgliedschaft an die Erwartung von Schutz und Aufstieg. Blieben diese elementaren Bedürfnisse unerfüllt, traten sie wieder aus und erinnerten sich auch in der Zukunft an die offenbare Machtlosigkeit dieser mutmaßlich unzuverlässigen Organisationen. So war es nach dem Ersten und Zweiten Weltkrieg. Und so war es auch nach der „Wende“ – massenhaft waren sie eingetreten, fast ebenso zahlreich gingen sie wieder. Viele verließen die Gewerkschaften infolge enttäuschter Erwartungen, die zumeist auf unrealistischen Machtvorstellungen gründeten. Oft konnten die Gewerkschafter nichts für die übertriebenen Hoffnungen, die an sie gerichtet waren; manchmal aber waren sie durch großspurige Rhetorik und pathetische Appelle selbst die Urheber. Ihr Scheitern war jedenfalls aufgrund einer übertriebenen Erwartungshaltung nicht selten vorprogrammiert.

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Es steht sogar zu befürchten, dass die Gewerkschaften damit das Vertrauen der Bevölkerung auch in die übrigen Akteure des politischen Systems in Mitleidenschaft zogen, werden sie doch auch als dessen Bestandteil gesehen. Jedenfalls: Die Resultate der Gewerkschaftspolitik wurden von einem Großteil der Beschäftigten als unzureichend empfunden und schwächten die Anziehungs- und Bindekraft von IG Metall & Co. Die tatsächlichen Unzulänglichkeiten der von den Gewerkschaften gebotenen Leistungen verschlimmerten sich im Eindruck der Bürger, da die Gewerkschaften nur noch über einen schwachen Zugriff auf deren Urteilsbildung verfügten. In früheren Zeiten hatten Funktionäre und eine auflagenstarke Arbeiterpresse im sozialdemokratischen Milieu die Einstellung zu den Organisationen beeinflusst, Unzufriedenheit gemildert und Fehler korrigiert. Nach dem Ende der Ära des Milieus und der Entstehung von politisch unabhängigen Massenmedien, deren Informationsfluss sich kaum kontrollieren ließ, prägten nicht mehr die Funktionäre das Bild der Gewerkschaften, sondern Journalisten. Vor allem aber boten die Gewerkschaften in den Augen ihrer Klientel keine handfesten Vorteile mehr, lieferten keinen materiellen Gegenwert für die Mitgliedsbeiträge. Weder konnten sie in den 1980er, 1990er und auch 2000er Jahren Massenentlassungen und Betriebsschließungen verhindern, noch rangen sie den Arbeitgebern eindrucksvolle Lohnerhöhungen ab. Das war ein handfestes Problem, da sich die Anziehungskraft von Gewerkschaften in der Regel nach deren Fähigkeit bestimmt, ihren Mitgliedern zu mehr Geld zu verhelfen.2 Die zweistelligen Prozentzahlen der Tarifabschlüsse in den 1970er Jahren blieben in den darauffolgenden Jahrzehnten unerreicht. Als Kontrastfolie verdeutlichten sie sogar das geringe Ausmaß der späteren Tarifergebnisse, waren ein Maßstab, der die gewerkschaftliche Tarifpolitik schlecht aussehen ließ. Stellenweise kam sogar der Verdacht auf, Gewerkschaften würden mit ihren politischen Forderungen die Krise der Wirtschaft nur noch verstärken, würden als Blockierer notwendige Reformen unterbinden und insofern eine Mitschuld an der Arbeitslosigkeit tragen. Außerdem zahlten sich ihre Tarifkompromisse oftmals nicht aus. Im Namen der Beschäftigten, so lautete die gängige Erklärung, verzichteten Gewerkschafter auf höhere Löhne, um damit Arbeitsplätze zu sichern. Doch oft genug gingen diese Arbeitsplätze anschließend trotzdem verloren und zeigten die Arbeitgeber entgegen der Erwartung auf eine faire Gegenleistung keine Bereitschaft, den Beitrag der Arbeitnehmer während der Krise in konjunkturell besseren Zeiten mit angemessenen Beteiligungen an den Produktionsgewinnen rückwirkend zu belohnen. Auch hier ließen sich die Gewerkschaften leicht als Verursacher eines

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Vgl. Armingeon: Die Entwicklung 1988, S. 95 ff.

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doppelten Nachteils ausmachen: dem Opfer in der Krise und der anschließenden Benachteiligung im Aufschwung. Von der Gewerkschaftsdämmerung zur Gewerkschaftsrenaissance? Dreißig Jahre lang verloren die Gewerkschaften an Mitgliedern, Repräsentativität und Macht. Doch es besteht Grund zur Hoffnung. So haben sie inzwischen wichtige Gesellschaftsentwicklungen nachvollzogen, sind nun keine gläubigen Verfechter der Atomkraft mehr und haben bedeutungsvolle Politikfelder – wie die Gleichzeitigkeit von Karriere und Familie, die gestiegene Arbeitsbelastung, Ausbildung und Karriereplanung in einer hektischen wie ungewissen Welt, nicht zuletzt der Umgang mit körperlich und geistig kraftvollen Alten – entdeckt. Auch personell macht sich durch einen Generationswechsel sowie die Katharsis der mehrfachen Krise seit Kurzem ein Mentalitätswandel bemerkbar. Die Gewerkschaftseliten sind experimentierfreudiger geworden, weil sie aufgrund der klammen Kassen die Notwendigkeit erkannt haben, Mitglieder zu rekrutieren. Es ist die materielle Not, die sie antreibt: Denn sie brauchen das Geld der Beiträge, um die gewaltigen Organisationskosten zu bewältigen. Und sie brauchen eine möglichst große und zur sozialen Struktur des Arbeitsmarkts spiegelbildliche Mitgliedschaft, um politischen Einfluss geltend machen zu können. Schließlich war die Zeit unter der rot-grünen Kanzlerschaft Gerhard Schröders war eine leidvolle, brachte die Gewerkschaften auf einen Tiefpunkt – der Umgang der SPD mit ihrer einstigen Schwester demoralisierte die Gewerkschaften und führte ihnen die politische Machtschwäche deutlich vor Augen. Mitglieder und Repräsentativität hatten sie schon seit Jahrzehnten verloren. Doch als sich die Krise der Mitgliedschaft zu einer der Organisationsfinanzen auswuchs und mit politischem Einflussschwund paarte – in diesem schicksalsträchtigen Augenblick erwachten in der Tat die lange Zeit bloß rhetorisch in Kongressreden und Programmen beschworenen Reformgeister. Das war sicherlich eine notwendige Bedingung für den anschließenden Umschwung, der sich wohl am stärksten in der IG Metall gezeigt hat, die 2011 erstmals seit zwanzig Jahren wieder ein Mitgliederplus verbuchte. Hinzu kam eine hinreichende Bedingung, eine Erneuerung des Organisationspersonals. Die Funktionäre, die in den 1970er und 1980er Jahren eingestellt worden waren, befinden sich gegenwärtig auf dem Weg in den Ruhestand oder sind dort bereits angelangt. Ihr allmählicher Abtritt macht den Weg frei für neues Denken und Handeln. Denn diejenigen Funktionärsjahrgänge, die ihr organisatorisches Handwerk in den 1960er, 70er und 80er Jahren erlernten, ihr politisches Vokabu-

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lar sammelten und die Organisationskultur jener Zeit verinnerlichten, blockierten den notwendigen Wandel der Gewerkschaften. Aufgrund ihrer Prägungen waren sie größtenteils außerstande, Arbeitsmarkt und Gesellschaft der 1990er und 2000er Jahre vorauszusehen und auch zu verstehen. Sie passten sich nicht an neue Verhältnisse an, übersahen oder ignorierten einschneidende Entwicklungen und konnten daher auch nicht die neuen Typen und Arbeitsmarktlagen einer postindustriellen, globalisierten und sonst wie veränderten Erwerbswelt ansprechen und überzeugen. Nun aber vollzieht sich ein Personalaustausch. Sechzigjährige Gewerkschaftsveteranen weichen dreißig- bis vierzigjährigen Jungfunktionären, die deutlich akademischer, femininer, reformfreudiger und gegenüber situationsangepassten Tarifreglements aufgeschlossener als ihre Vorgänger sind. Dadurch werden Ansichten, Methoden und Instrumente konventionell, die in den 1990er Jahren noch als unkonventionell, z.T. blasphemisch gegolten haben. Mittlerweile trauen sich die Gewerkschaften, vermehrt solche Beschäftigungsgruppen anzusprechen und Arbeitsmarktlagen in den Blick zu nehmen, bei denen sie eigentlich noch nie einen guten Stand hatten. Initiativen in diesem Bereich sehen sie nun nicht mehr als Bedrohung ihrer Kernklientel oder als aussichtslose Investition, sondern als unumgängliche Innovation an. Auch die verstärkte Vergabe von Führungspositionen an Frauen, ein zeitgemäßer Webauftritt, die Bereitstellung virtueller Plattformen zum unkomplizierten und schnellen Austausch von Gedanken und Ratschlägen, neue Büroräume und Gebäude tragen in der Summe zu einer modern anmutenden Gewerkschaftsästhetik bei, die das verstaubte Erscheinungsbild der 1970er und 1980er Jahre überwunden hat. Die Arbeitnehmerverbände sind damit zwar bei Weitem keine Vorboten einer neuen Zeit. Sie sind auch keine Instanzen, die sich fürsorglich und integrativ der „Unterschicht“, dem „Prekariat“ oder den Benachteiligten der Bürgergesellschaft annehmen und in diesen von politischen wie wirtschaftlichen Entwicklungen teilweise abgeschnittenen Sektionen der Gesellschaft den Ruf von Demokratie und Parteien verbessern. Zu dieser Integrationsleistung sind sie inzwischen zu schwach. Doch sie erfüllen zumindest diverse Standards in ihrem öffentlichen Auftritt, die sie noch bis vor Kurzem unterschritten. Allmählich gelingt es den Gewerkschaften offenbar, wieder Anschluss an gesellschaftliche Vorgänge zu finden, mit der sozialen Vielfalt etlicher Lebenswelten unterschiedlicher Bevölkerungsteile zurechtzukommen. * Zwischen 1970 und 2000 begingen die deutschen Gewerkschaften unzählige Fehler und versäumten zahllose Umschwünge innerhalb der Gesellschaft und

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Wirtschaft. In umweltbewussten Zeiten setzten sie sich für Atomkraftwerke und Kohleabbau ein, sie ignorierten die auffällige Ausbreitung von Teilzeit- und Leiharbeit und investierten viel Geld in wirkungslose Kampagnen, unternahmen fadenscheinige Reformversuche, ohne die Struktur ihrer Organisation und die Grundzüge ihrer Politik tatsächlich und grundlegend zu verändern. Beharrlichkeit – aus geschichtlicher Perspektive eine ihrer Stärken – wurde ihnen zum Verhängnis. Sie litten unter Prokrastination, einem ständigen Handlungsaufschub. Die Mitgliederzahlen gingen zurück, immer weniger war ihre Mitgliedschaft ein soziografisches Abbild des Arbeitsmarkts, schon gar nicht der Bevölkerung. Gewerkschaften gerieten zu notorischen Verlierern, kraftlosen Organisationen, denen kaum jemand mehr wirkungsvollen Schutz zutraute. Erst in den Jahren nach der Jahrtausendwende ereignete sich ein allmähliches Umdenken in den Gewerkschaftszentralen. Denn nun berührten die Folgen des jahrzehntelangen Niedergangs die Substanz der Organisation, trat die Krise aus dem zwischenzeitlichen Stadium der Normalität heraus und wurde erstmals wirklich bedrohlich. Existenzielle Bedürfnisse waren gefährdet: Die schwindenden Beitragseinnahmen und steigenden Ausgaben verbanden sich zu einer verhängnisvollen Kombination, die letztlich Stellen und Gehälter des Verwaltungs- und Führungsapparats gefährdete – dadurch aber einen kathartischen Akt der Läuterung und Selbstreinigung bewirkte. Außerdem vollzog sich unter den Funktionären ein mentaler und demografischer Generationswandel – denn viele in den 1970er und 1980er Jahren geprägte Gewerkschaftssekretäre, Bevollmächtigte und Bezirksleiter schieden in den 2000er Jahren altersbedingt aus, gingen in Rente. Erst dieser Austausch des Personals und die Erfahrung einer mehrfachen Krise – der Mitgliedschaft, der Finanzen, der politischen Macht – bewirkten inständigen Reformwillen. Jetzt, wo das Geld zur Neige ging und die Einflussnahme auf die politischen Entscheidungsorte drastisch abgenommen hatte, musste etwas getan werden. Nun erwachten die verkümmerten Fähigkeiten zur Erneuerung und Nachdenklichkeit, besannen sich die Gewerkschaftsspitzen auf die Notwendigkeit, den organisatorischen Unterbau zu sanieren. In den zurückliegenden dreißig Jahren haben sich die Gewerkschaften somit größtenteils nicht als vorausschauende Akteure hervorgetan. Vielmehr bedurfte es des Zwangs existenzbedrohlicher Probleme – ein krisenhafter Zustand allein reichte nicht aus. Was aber steht nun zu erwarten? Unter dem Druck gleichzeitiger Defizite im Bereich Mitgliedschaft, Politikmacht und Finanzen haben die meisten Gewerkschafter mittlerweile erkannt, dass die Bedingungen, unter denen sie einst in diesen drei Bereichen stark geworden sind, nicht mehr gegeben sind und sie umdisponieren müssen. Die Suche nach geeigneten Methoden, um Mitglieder zu rek-

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rutieren und sie für ehrenamtliches Engagement zu gewinnen, hat zuletzt gegenüber den Techniken politischer Einflussnahme in den Vorräumen der professionellen Politik den Vorzug erhalten. Was daraus wird und wie lange dies andauert, ist offen. Dagegen scheint festzustehen, dass eine einzelne Gewerkschaft kaum noch in der Lage ist, die vielfältigen Interessen der Beschäftigten allein auch nur einer Branche aufzunehmen und zufriedenstellend zu vertreten. Von diesem Anspruch müssen sich die Gewerkschaften schleunigst verabschieden. Als stolzen Organisationen, die auf eine beachtliche Tradition und ruhmreiche Vergangenheit zurückblicken und die Größe und Erfolg gewohnt waren, bereitet ihnen die Abkehr ihrer früheren Aspiration mit Sicherheit einen schmerzlichen Prozess. Denn ohne die Grundlage eines hochgradig organisierten Milieus, in dem eine strenge und unverbrüchliche Sozialmoral das Leben der Menschen bestimmt und eine zuverlässige Organisationsloyalität herstellt, sowie durch die geschwundene Möglichkeit, exklusive Leistungen anzubieten, können die Gewerkschaften schwerlich ihre Statur früherer Zeiten wiedererlangen. Nochmals: Von diesem Anspruch müssen sie sich also verabschieden, müssen sich mit der nüchternen Realität deutlich verringerter Macht und Stärke abfinden. Erst dann können sie sich auch wieder optimistisch der Gegenwart zuwenden.

Abkürzungen

ADGB BAföG BamS BAWAG BfG CDU DDP DDR DGB DVP FDGB GDBA GEW HBV IG IG BAU IG BCE IG Metall KPD NS NSDAP ÖGB ÖTV SPD ver.di

Allgemeiner Deutscher Gewerkschaftsbund Bundesausbildungsförderungsgesetz Bild am Sonntag Bank für Arbeit und Wirtschaft Aktiengesellschaft Bank für Gemeinwirtschaft Christlich Demokratische Union Deutschlands Deutsche Demokratische Partei Deutsche Demokratische Republik Deutscher Gewerkschaftsbund Deutsche Volkspartei Freier Deutscher Gewerkschaftsbund Gewerkschaft Deutscher Eisenbahnbeamter und Anwärter im Deutschen Beamtenbund Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft Gewerkschaft Handel, Banken und Versicherungen Industriegewerkschaft Industriegewerkschaft Bauen-Agrar-Umwelt Industriegewerkschaft Bergbau, Chemie, Energie Industriegewerkschaft Metall Kommunistische Partei Deutschlands Nationalsozialismus Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei Österreichischer Gewerkschaftsbund Gewerkschaft Öffentliche Dienste, Transport und Verkehr Sozialdemokratische Partei Deutschlands Vereinte Dienstleistungsgewerkschaft

Literatur

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UND

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300 | G EWERKSCHAFTSDÄMMERUNG

Kahl, Jürgen: Kein Mann der Trillerpfeife, in: Neue Zürcher Zeitung, 28.12.2011. Kemp, Alexandra: Marko Röhrig ist neuer Chef der IG Metall, in: Rheinische Post (Düsseldorf), 14.03.2012. Knott, Thilo: Der nachtaktive Südwest-Metaller, in: die tageszeitung, 03.05.2007. —/Schulte, Ulrich: Das neue Selbstbewusstsein, in: die tageszeitung, 10.11. 2007. Knuf, Thorsten: Auf der roten Fanmeile, in: Berliner Zeitung, 23.10.2006. Kullmann, Kerstin/Kurbjuweit, Dirk/Wiegrefe, Klaus: Eine Aura der Stärke, in: Der Spiegel, 08.12.2008. Leicht, Robert: Berliner Machtprobe, in: Die Zeit, 10.04.2003. Linneweber, Silke: Der letzte Klassenkämpfer, in: Rheinischer Merkur, 02.02.2006. Martens, Erika: Kollege Frust stimmte mit, in: Die Zeit, 10.06.1983. Meck, Georg: Der Intellektuelle unter den Straßenkämpfern, in: Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, 14.04.2002. Meenzen, Hanns: Felsblock oder Bürgerschreck, in: Neue Westfälische, 17.04.1972. Mester, Volker: Das Ende der Bescheidenheit, in: Hamburger Abendblatt, 21.08.2010. Michaels, Heinz: Ein Mann ohne Fortune, in: Die Zeit, 25.03.1983. —: Gewerkschaften machen mobil, in: Die Zeit, 25.03.1977. —: Stadt auf dem Pulverfaß, in: Die Zeit, 24.01.1975. Müller-Engstfeld, Anton: Einer der ‚jungen Männer‘, in: NRZ, 08.09.1956. Ner Cessian, Marie-Thérèse: Aderlass bei Gewerkschaften, in: Berliner Morgenpost, 25.09.2003. Neumann, Susanne: „Menschen zweiter Klasse“, in: einblick, H. 6/2010, S. 7. Noack, Hans-Christoph: Der Mann für das Machbare, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 08.10.2005. O.V. (Interview mit Jörg Hofmann): „Der Schlag Sahne obendrauf schmeckt gut“, in: Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, 26.02.2012. O.V. (Interview mit Berthold Huber): „Es gibt nichts neben der Mitgliederfrage“, in: einblick, H. 17/2011, S. 6. O.V.: Gute Wissenschaft braucht Gute Arbeit, in: einblick, H. 9/2011, S. 5. O.V.: Den Campus entern, in: einblick, H. 7/2011, S. 5. O.V.: Seit’ an Seit’, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 02.05.2011. O.V.: Eine Plattform für die junge Generation, in: einblick, H. 1/2011, S. 3.

L ITERATUR

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O.V.: Eine Stimme für die Gewerkschaftsjugend, in: Rheinische Post (Düsseldorf), 23.11.2011. O.V.: Vernetzt auf allen Kanälen, in: einblick, H. 12/2010, S. 5. O.V.: DGB fordert umfassende BAföG-Reform, in: einblick, H. 7/2010, S. 5. O.V.: Betriebsräte beraten Betriebsräte, in: einblick, H. 5/2010, S. 3. O.V.: Mit Leidenschaft: Deutschland, Deine Erneuerer, in: Handelsblatt, 23.12. 2010. O.V.: Die Kompromisse des DGB, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 19.05. 2010. O.V.: Die IG Metall geht neue Wege, in: Der Tagesspiegel, 05.02.2010. O.V.: Nullnummer Praktikum, in: einblick, H. 20/2010, S. 5. O.V.: Akteure vernetzen sich, in: einblick, H. 18/2009, S. 5. O.V.: Kluger Huber, in: Süddeutsche Zeitung, 27.10.2009. O V.: Unterstützung vom DGB, in: einblick, H. 21/2009, S. 2. O.V.: Campus Offensive, in: einblick, H. 19/2009, S. 5. O.V. (Interview mit Hubertus Schmoldt): „Der DGB muss stärker werden“, in: einblick, H. 17/2009, S. 5. O.V.: IG Metall: Alles tun, um Beschäftigung zu halten, in: Neue Ruhr Zeitung, 13.12.2008. O.V.: DGB wird schlanker, in: Hannoversche Allgemeine Zeitung, 05.11.2008. O.V.: Gewerkschaften streiten über Reformen, in: Hamburger Abendblatt, 07.08. 2004. O.V.: „Wir müssen uns dem Neuen stellen“, in: Die Welt 06.08.2004. O.V.: Mäßigend, in: Frankfurter Rundschau, 29.08.2003. O.V.: Der Kanzler kritisiert Führungskrise der IG Metall, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 12.07.2003. O.V.: DGB: Mit neuer Struktur Kosten sparen, in: General-Anzeiger, 18.02. 2002. O.V.: Die mit dem Kanzler tanzen, in: Berliner Zeitung, 11.12.2001. O.V.: Tarifpolitischer Vorreiter, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 20.06.2001. O.V.: Streit unter Gewerkschaftern, in: Die Welt, 28.12.1999. O.V.: „Die Mitglieder nicht wie Aktienpakete verschieben“, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 24.10.1998. O.V.: IG BCE sieht sich als wichtige Reformkraft in der Gesellschaft, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 09.10.1997. O.V.: Klaus Zwickel mahnt zum drastischen Sparen, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 10.12.1993. O.V.: Die IG Metall will „Machtfaktor“ in der Gesellschaft bleiben, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 06.06.1991.

302 | G EWERKSCHAFTSDÄMMERUNG

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L ITERATUR

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—: Die große Lähmung, in: Financial Times Deutschland, 29.05.2008. —: Meuterei im Gewerkschaftslager, in: Financial Times Deutschland, 10.04.2008. —: Der Hoffnungsträger, in: Financial Times Deutschland, 07.07.2003. Ritzer, Uwe: Überlebenskampf im globalen Monopoly, in: Süddeutsche Zeitung, 30.04.2007. —: Kühler Analytiker, in: Süddeutsche Zeitung, 14.12.2005. Roth, Eva: Nichts für Doofe, in: Frankfurter Rundschau, 17.10.2008. —: Geschwächtes Doppel, in: Frankfurter Rundschau, 01.09.2003. Sauga, Michael: Die Selbst-Demontage, in: Der Spiegel, 07.07.2003. Schade, Oliver: Machtkampf bei der IG Metall, in: Hamburger Abendblatt, 05.04.2003. Schiermeyer, Matthias: „Raus aus der Wagenburg“, in: Stuttgarter Zeitung, 04.10.2003. —: „Man kann hervorragend agitieren“, in: Stuttgarter Zeitung, 16.07.2003. Schiltz, Christoph B.: Die Gewerkschaften müssen endlich aufwachen!, in: Die Welt, 23.05.2003. —: Machtfrage gestellt, in: Die Welt, 25.10.2001. Schmergal, Cornelia: Duell unter der Sonne, in: Welt am Sonntag, 29.06.2003. Schmid, Thomas: Der Wuchtige, in: Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, 11.07.2004. Schöneberger, Markus: Das völlig neue Basisgefühl, in: Rheinischer Merkur, 01.11.2007. —: Die Wut wächst, in: Rheinischer Merkur, 13.03.2003. Schroeder, Wolfgang: Traum oder Albtraum? Die Zukunftsdebatten in der Industriegewerkschaft Metall und ihre Rückwirkungen in die Organisation, in: Frankfurter Rundschau, 09.07.2001. Schulte, Stefan: Stahlkocher fordern dickes Lohnplus, in: Westdeutsche Allgemeine Zeitung, 20.08.2010. —: Der bewegliche Metaller, in: Westdeutsche Allgemeine Zeitung, 02.03.2007. Sehrbrock, Ingrid: Bund muss Rettungsplan entwickeln, in: einblick, H. 2/2010, S. 7. Sievers, Markus: Gewerkschaft contra Gewerkschaft, in: Frankfurter Rundschau, 28.07.2006. Sigmund, Thomas: Die Begehrlichkeiten des Aufschwungs, in: Handelsblatt, 30.08.2010. Sirleschtov, Antje: Die Hebel der Macht, in: Der Tagesspiegel, 25.02.2003. Sommer, Michael: Eine gute Zukunft für DGB und Gewerkschaften, in: einblick, H. 20/2008.

304 | G EWERKSCHAFTSDÄMMERUNG

Staier, Harald: Die Chancen nutzen, in: einblick, H. 11/2010, S. 7. Steinkühler, Franz: Gewerkschaften brauchen Macht, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 05.01.1990. Storz, Wolfgang: Rosskur gegen die Schwindsucht, in: Freitag, 04.05.2007. Strohschneider, Tom: Reform oder Konkurs, in: Freitag, 25.04.2008. Sturm, Daniel Friedrich: Das große Kuscheln, in: Die Welt, 23.03.2010. Tenbrock, Christian: Die Verlierer, in: Die Zeit, 17.12.2003. Vetter, Ernst Günter: Auf dem Weg zur Selbstzerstörung, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 08.07.1989. —: Ein harter Kämpfer geht und hinterläßt die Kollegen ratlos, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 03.06.1982. —: Lebers neuer Weg, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 01.07.1963. —: Die „saturierte“ Gewerkschaft, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 24.01.1961. —: Es spricht: Otto Brenner. Porträt eines Gewerkschaftsführers, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 28.09.1956 Viering, Jonas: Heldenpose ist zu wenig, in: Süddeutsche Zeitung, 03.04.2003. Vogelsang, Annette: Moderne Zeiten, in: Die Woche, 19.10.2000. Völpel, Eva: Koloss auf tönernen Füßen, in: die tageszeitung, 14.05.2010. Waleczek, Torben/Zacharakis, Zacharias: Gewerkschaften wollen zurück zur Rente mit 65, in: Spiegel Online, 05.05.2009. Wiedemann, Günther M.: Kraftvoller Sozialpartner statt Gegenmacht, in: Kölner Stadt-Anzeiger, 06.10.2011. —: Leiharbeit soll in Betrieben ein Thema werden, in: Kölner Stadt-Anzeiger, 02.10.2008. —: Beispiellose Attacke auf den DGB, in: Kölner Stadt-Anzeiger, 04.04.2008. —: 35-Jähriger leitet den größten IG-Metall-Bezirk, in: Kölner Stadt-Anzeiger, 11.12.2007. —: Mit dem Ruf des Modernisierers, in: Kölner Stadt-Anzeiger, 05.09.2007. Wisdorff, Flora: Sanfter Arbeiterführer, in: Welt am Sonntag, 19.02.2012.

Dank

An dieser Stelle muss ich ein Geständnis ablegen. Vor gar nicht so langer Zeit habe ich mich noch kaum für Gewerkschaften interessiert. Nicht nur das, es hätte obendrein meine Vorstellungskraft überstiegen, zu diesem Thema gar Material für ein ganzes Buch zusammenzutragen. Deswegen gilt mein Dank vor allem Franz Walter – er war es nämlich, der mich für diesen Forschungsgegenstand begeistern konnte und in mir die nötige Neugierde weckte, ob der Fülle an Literatur nicht zu verzagen, sondern darin einzutauchen. Diese Arbeit, entstanden aus dem vom Niedersächsischen Ministerium für Wissenschaft und Kultur geförderten Projekt „Diesseits von Versäulung, Lagern und sozialmoralischen Milieus. Zur politischen, sozialen und kulturellen Perspektive europäischer Demokratien im Auflösungsprozess kollektiver Großstrukturen“ (2007-2011), verdankt sich nicht zuletzt auch dem Umfeld, in dem sie entstanden ist: Dem Göttinger Institut für Demokratieforschung, dessen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter mir freundschaftlich wie fachlich eine große Unterstützung waren und an dem eine schlichtweg wunderbare Atmosphäre herrscht, die die Tücken des Forschungsalltags erträglich macht. Dort auch habe ich in unzähligen Gesprächen mit Johanna Klatt und Matthias Micus viel Inspiration gewonnen. Zur Publikation der vorliegenden Studie hat nicht zuletzt die VolkswagenStiftung beigetragen, für deren Unterstützung ich mich herzlich bedanken möchte. Dass das Manuskript überdies in einer ästhetischen Optik verpackt worden ist und mir die Veröffentlichung nicht noch zusätzliches Kopfzerbrechen, sondern mitunter sogar Freude bereitet hat, dafür danke ich dem transcript-Verlag, hier insbesondere Johanna Tönsing, Michael Volkmer, Christine Jüchter und Kai Reinhardt. Für Zerstreuung sorgten meine Freunde Felix Bartenstein, Enno Stachnick und Florian Unzicker. Äußerst dankbar bin ich auch meiner Familie: Doris, Michael und Marleen – im Kontext vorliegenden Buches aber vor allem Katharina; denn wieder einmal musste sie nicht nur meine „Konzentrationsphasen“ dulden, sondern obendrein einen langen Text redigieren.

Studien des Göttinger Instituts für Demokratieforschung zur Geschichte politischer und gesellschaftlicher Kontroversen David Bebnowski Generation und Geltung Von den »45ern« zur »Generation Praktikum« – übersehene und etablierte Generationen im Vergleich Februar 2012, 272 Seiten, kart., 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1975-1

Johanna Klatt, Robert Lorenz (Hg.) Manifeste Geschichte und Gegenwart des politischen Appells 2010, 446 Seiten, kart., 32,80 €, ISBN 978-3-8376-1679-8

Robert Lorenz Protest der Physiker Die »Göttinger Erklärung« von 1957 2011, 402 Seiten, kart., 33,80 €, ISBN 978-3-8376-1852-5

Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de

Studien des Göttinger Instituts für Demokratieforschung zur Geschichte politischer und gesellschaftlicher Kontroversen Bettina Munimus Alternde Volksparteien Neue Macht der Älteren in CDU und SPD? Oktober 2012, 378 Seiten, kart., zahlr. Abb., 35,80 €, ISBN 978-3-8376-2211-9

Franz Walter »Republik, das ist nicht viel« Partei und Jugend in der Krise des Weimarer Sozialismus 2011, 454 Seiten, kart., 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1832-7

Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de