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German Pages 207 [208] Year 2021
Orientalismus heute
Orientalismus heute Perspektiven arabisch-deutscher Literaturund Kulturwissenschaft Herausgegeben von Stephanie Bremerich, Dieter Burdorf und Abdalla Eldimagh
Gedruckt mit freundlicher Unterstützung des Deutschen Akademischen Austauschdienstes (DAAD)
ISBN 978-3-11-065269-7 e-ISBN (PDF) 978-3-11-066942-8 e-ISBN (EPUB) 978-3-11-066815-5 Library of Congress Control Number: 2020946276 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2021 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Einbandabbildung: Griechenland, Türkei und Persien, Landkarte 1855. THEPALMER / DigitalVision Vectors / Getty Images Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck www.degruyter.com
Inhalt Stephanie Bremerich, Dieter Burdorf und Abdalla Eldimagh Orientalismus heute Perspektiven arabisch-deutscher Literatur- und Kulturwissenschaft. Zur Einleitung 1
I Orientalismus gestern Walid Abdelgawad Ein anderer Blick auf den Orient Deutsch-jüdische Perspektiven in der Islamwissenschaft 21 des 19. und 20. Jahrhunderts Dominique Lévy-Jahanbakht Die Konstruktion des Orientbildes in Reiseberichten von Annemarie Nathusius, Lotte Stratil-Sauer und Agnes Gabriel-Kummer Eine exemplarische Analyse des Persiendiskurses in den 1920er und 1930er Jahren 37
II Orientalismus heute Markus Schmitz „Sei ein Mann, Suleika!“ Orientalistische Objektbesetzungen in der symbolischen Imagination von Geflohenen 49 Emad Alali Literatur – Engagement – Agitation Eine Literatur- und Kulturkritik am Beispiel von Michel Houellebecqs Unterwerfung 67
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Inhalt
Christoph Schmitt-Maaß Ursprünglichkeit, Offenheit, Leere? Zur romantischen Genealogie einer (neo‐)orientalistischen Metapher in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur (Raoul Schrott, Wolfgang Herrndorf, Michael Roes) 83 Marit Heuß Geh schön Orient als Erzählstil in Peter Handkes Geschichte meiner Freundin 109 und im Journal Gestern unterwegs Yasmin Aly Filmische Repräsentationen arabischer Migranten in Rainer Werner Fassbinders Angst essen Seele auf und Benjamin Heisenbergs 127 Schläfer Wolfgang Trimmel Selbstübersetzung als diskursive Intervention im Kontext literarischer Darstellungen der arabischen Welt 147
III Orient Osteuropa? Anna Artwińska Doing Orient? (Selbst‐)Orientalisierung und Ostmitteleuropa – am Beispiel von Jáchym Topols Supermarket sovětských hrdinů 165 Michele Vangi ‚Reisen nach Jerusalem‘ Postkoloniale Identitätskonstruktion bei zeitgenössischen deutsch-jüdischen Autorinnen und Autoren osteuropäischer Herkunft 181 Autorinnen und Autoren des Bandes
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Stephanie Bremerich, Dieter Burdorf und Abdalla Eldimagh
Orientalismus heute
Perspektiven arabisch-deutscher Literatur- und Kulturwissenschaft. Zur Einleitung
1 In der Germanistik und weit darüber hinaus ist es immer gut, mit Goethe zu beginnen. Sein für das Bild östlicher Kulturen in der deutschsprachigen Welt gar nicht hoch genug zu schätzender West-östlicher Divan von 1819 setzt mit den gewaltigen Worten ein: Nord und West und Süd zersplittern, Throne bersten, Reiche zittern […].¹
Und es schließt sich der Ratschlag an den Adressaten an: Flüchte du, im reinen Osten, Patriarchenluft zu kosten, Unter Lieben, Trinken, Singen, Soll dich Chisers Quell verjüngen.²
Denn Chiser ist der Hüter des Quells des Lebens. Der Osten wird hier also als der Bereich des Heilen, Unzerstörten, ja Versöhnenden und Verjüngenden in einer aus den Fugen geratenen Welt eingeführt – ein sicher heilsames Gegenbild zu dem heute im Westen verbreiteten Bild, dass alle Unruhe und nahezu alles Unglück der gegenwärtigen Welt aus Ländern des Nahen und Mittleren Ostens zu uns kommen. Ein weiteres Zeugnis aus der deutschsprachigen Literatur ist etwa hundert Jahre jünger als Goethes Divan: Der österreichische Autor Hugo von Hofmannsthal veröffentlicht 1922 als Einleitung zu einem monumentalen Band mit Schwarzweißfotografien einen Essay über Griechenland, der auf seine 1908 von ihm zusammen mit Harry Graf Kessler und Aristide Maillol unternommene Reise in das südosteuropäische Land zurückgeht. Auf der Athener Akropolis, also gleichsam [Johann Wolfgang] Goethe: West-oestlicher Divan. Stuttgart 1819, S. 3, V. 1 f. Ebd., V. 3 – 6. https://doi.org/10.1515/9783110669428-001
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im Epizentrum der abendländischen Kultur, bewundert er die Korai, also die Statuen junger Priesterinnen, und er hält fest: Es ist etwas Unerreichbareres in ihnen, etwas Unfaßlicheres als an den schönsten gotischen Figuren, aber auch etwas Kompletteres: wir begreifen sie kaum – aber nie zuvor wurde durch einen leiblichen Anblick das Geistige und Leibliche in uns in der tiefsten Wurzel, dort wo sie eins sind, so erschüttert. Diese Komplettheit ist das letzte Wort der Kultur, in der wir wurzeln: hier ist weder Okzident allein, noch Orient allein; und wir gehören beiden Welten an.³
Das Griechische, das Abendländische, so Hofmannsthal, ist ohne das Morgenländische, das Orientalische, nicht zu haben: denn „wir gehören beiden Welten an“. Dieses Nachdenken über das Verhältnis ‚beider Welten‘ begleitet den okzidentalen Diskurs über Kultur seit dem Mittelalter. Eine Intensivierung dieses westlichen Interesses am ‚Orient‘ ist in der Zeit um 1800 zu beobachten; und Goethes Divan ist ein wichtiges Dokument dafür. Allzu wenig, so scheint es, haben sich jedoch die Literatur- und Kulturwissenschaften lange Zeit dieser zentralen Frage des Verhältnisses der westlichen zu den östlichen Kulturen gewidmet (wie übrigens auch der komplementären Frage nach dem Verhältnis der nördlichen zur südlichen Hemisphäre und ihrer jeweiligen kulturellen Selbstverständigung). Eine Ausnahme bilden die ‚Orientwissenschaften‘, die sich im Zuge der institutionellen Ausdifferenzierung der Geisteswissenschaften im Verlauf des 19. Jahrhunderts herausbildeten, aber – zumindest im deutschen Sprachraum – bis heute meist als kleine, randständige Fächer gelten.
2 Das Buch Orientalism des palästinensischen, in Jerusalem geborenen und in den USA lehrenden Literaturwissenschaftlers Edward W. Said (1935 – 2003), das 1978 zuerst erschien, hat diese Situation schlagartig geändert. Mit dem Begriff ‚Orientalismus‘ hat Said einen Terminus in den akademischen Diskurs eingeführt, der seitdem zum Schlüsselbegriff imperialismus- und kolonialismuskritischer Debatten geworden ist und insbesondere den Postcolonial Studies sowie einer kulturwissenschaftlich orientierten Literaturwissenschaft neue Perspektiven eröffnet hat. Die Fachbezeichnung ‚Orientalistik‘ wird dabei von ihm polemisch Hugo von Hofmannsthal: Einleitung. In: Hanns Holdt; Hugo von Hofmannsthal: Griechenland. Baukunst. Landschaft.Volksleben [1922]. In erweiterter Form hrsg. v. Helmuth Th. Bossert. Berlin; Zürich 1928, S. V–X, hier S. VIII. Vgl. dazu genauer Dieter Burdorf: Zerbrechlichkeit. Über Fragmente in der Literatur. Göttingen 2020, S. 39 – 44.
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gewendet. Ein ‚Orientalist‘ (und das ist meistens ein Mann, wenigstens im 19. und frühen 20. Jahrhundert) ist für Said nicht mehr primär ein Wissenschaftler, dessen Spezialgebiet eine nordafrikanische oder südwestasiatische Kultur ist, sondern er ist vor allem jemand, der diese Regionen mit westlichen Maßstäben und häufig auch mit kolonialistischer Gewalt zu unterdrücken sucht. Laut Said gibt es nämlich ‚den Orient‘ nicht als ein vorgefundenes Faktum. Vielmehr muss dieser als ein Konstrukt des Westens verstanden werden, das sich in Bildern und Texten seit dem 18. Jahrhundert verfestigt hat. Beeinflusst von Michel Foucaults Diskursanalyse und Antonio Gramscis Hegemonietheorie fasst Said den Begriff ‚Orientalismus‘ als Bezeichnung für einen Diskurs, den zuerst die Europäer seit der Antike, später auch die Nordamerikaner über Regionen und Kulturen Nordafrikas und großer Teile Asiens führen und der den ‚Orient‘ überhaupt erst konstruiert, also diskursiv erzeugt. Das heißt, wer über den ‚Orient‘ spricht, bewegt sich in einer Tradition von Texten, die definieren, was und wie der Orient war und wie er sein sollte. Die Vorstellung des Orients trifft also die Realität nicht, sondern ist nur eine westliche Imagination: Everyone who writes about the Orient must locate himself vis-à-vis the Orient, translated into his text, this location includes the kind of narrative voice he adopts, the type of structure he builds, the kinds of images, themes, motifs that circulate in his text – all of which add up to deliberate ways of addressing the reader, containing the Orient, and finally, representing it or speaking in its behalf. None of this takes place in the abstract, however.⁴
Vier Dogmen liegen Said zufolge dem Orientalismus-Diskurs zugrunde: Erstens basiert er auf einer absoluten und systematischen Differenzierung zwischen dem Orient (konnotiert als feminin, irrational, rückwärtsgewandt, mysteriös, unterlegen) und dem Westen (konnotiert als maskulin, rational, entwickelt, überlegen). An zweiter Stelle steht die Schaffung eines fiktiven monolithischen Orients durch Abstraktion von sozialen, ökonomischen und religiösen Differenzen innerhalb der Kulturen des ‚Orients‘ sowie auch durch eine generalisierende Sprache in der westlichen Beschreibung und Wahrnehmung dieser Kulturen. Diese Sprache führt zu einer Dichotomisierung, zur Reduktion einer kulturellen Vielfalt auf die binäre Opposition von Orient versus Okzident.⁵ Das dritte Dogma des Orientalismus ist die Verdinglichung, Objektivierung, Institutionalisierung und Verwissenschaftlichung des Orients. Als viertes Dogma hebt Said die westliche Wahrnehmung des Orients als bedrohlicher Macht hervor, die man unter Kontrolle bringen muss.⁶
Edward W. Said: Orientalism [1978]. New York 1979, S. 20. Vgl. ebd., S. 331. Vgl. ebd., S. 40.
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Said unterscheidet dabei zwei Ausprägungen des Orientalismus: einen latenten Orientalismus der Dichter und Denker und einen manifesten Orientalismus der Ideologisierten und Kolonialbeamten. Der erste sei zunehmend durch den zweiten beeinflusst worden: The distinction I am making is really between an almost unconscious (and certainly an untouchable) positivity, which I shall call latent Orientalism, and the various stated views about Oriental society, languages, literatures, history, sociology, and so forth, which I shall call manifest Orientalism. Whatever change occurs in knowledge of the Orient is found almost exclusively in manifest Orientalism; the unanimity, stability, and durability of latent Orientalism are more or less constant. In the nineteenth-century writers […], the differences in their ideas about the Orient can be characterized as exclusively manifest differences, differences in form and personal style, rarely in basic content. Every one of them kept intact the separateness of the Orient, its eccentricity, its backwardness, its silent indifference, its feminine penetrability, its supine malleability; this is why every writer on the Orient, from Renan to Marx (ideologically speaking), or from the most rigorous scholars (Lane and Sacy) to the most powerful imaginations (Flaubert and Nerval), saw the Orient as a locale requiring Western attention, reconstruction, even redemption.⁷
Für Said ist die westliche Vorstellung des Orients von mehreren Faktoren wie Identität, Alterität, Imagination und Hegemonie beeinflusst, die an der Konstitution des Orients mitwirken. Aufgrund des Machtgefälles zwischen dem ‚Osten‘ und dem ‚Westen‘⁸, konkret etwa der machtpolitischen und ökonomischen Unterlegenheit der betreffenden asiatischen und afrikanischen Regionen, wird der Orient zur imaginären Projektionsfläche der Europäer und zum ‚Anderen‘ des Westens, dessen Identität er stabilisiert und dessen kulturelle, politische und wirtschaftliche Überlegenheit er legitimiert. Saids Theorie lässt sich so zusammenfassen, dass der ‚Orient‘ durch die Macht des Wissens der akademischen und politischen Institutionen ein Konstrukt ist, in dem der Unterschied zwischen Subjekt und Objekt sowie Realität und Imagination verschwimmt und das in seiner ontologischen und epistemologischen Essenz im westlichen Bewusstsein eine Alterität zum Westen darstellt, dessen Hegemonieansprüche es rechtfertigt. Die anhaltende Wirkung von Saids Studie liegt auch in der Reichweite ihres Gegenstandes begründet. Ob manifest oder latent: Der Orientalismus durchdringt nachgerade alle Bereiche des kulturellen, politischen und gesellschaftlichen Lebens.
Ebd., S. 206. Vgl. zu diesem Konstrukt auch Heinrich August Winkler: Geschichte des Westens. 4 Bde. [2009 – 2016]. München 2016.
Einleitung
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Das überlieferte Orientbild kann in Kultur und Theorie nachvollzogen werden: in Märchen, Abenteuerromanen, Reiseberichten, Prosa, Lyrik, Musik und Malerei, in philosophischen, religiösen, politischen und wissenschaftlichen Texten. Als Kulturgüter und Wissensbestände wirken sie auch dann, wenn sie im Einzelnen nicht (mehr) erinnert werden oder tatsächlich nicht gelesen, gesehen, gehört wurden. Die tradierten Bilder finden sich auch in neueren kulturellen, medialen und theoretischen Zeugnissen wieder, in Reise- und Sachbüchern bzw. -reportagen, literarischen Verarbeitungen und wissenschaftlichen Analysen, Darstellungen in Filmen, Computerspielen, Schulbüchern usw. Dort finden sich vereinzelt auch Gegendiskurse, die die überlieferten Klischees und Essenzialisierungen aufzubrechen oder umzucodieren versuchen, sie sind jedoch marginal. Im Unterschied dazu profitieren orientalisierende und antimuslimische Diskurse weiterhin von ihrer eigenen Essenzialisierung und Hegemonie: Ihre Verbreitung verdanken sie ihrer Macht, der Position, aus der heraus sie produziert, verbreitet und konsumiert werden.⁹
Saids Kernthese, dass orientalistische Diskurse den Orient überhaupt erst produziert und dabei als das ‚Andere‘ Europas im öffentlichen Bewusstsein verankert haben, ist heute aktueller und diskussionswürdiger denn je. Die Aufmerksamkeit, die Saids Orientalism erfuhr, ging jedoch zugleich mit einer breiten Kontroverse einher. Von verschiedenen Seiten wurden grundlegende Kritikpunkte geltend gemacht. So wurde Said vorgeworfen, er unterziehe den Westen einem pauschalen Ideologieverdacht und entwerfe damit ein essenzialistisches Bild Europas, sein Ansatz tendiere zur Enthistorisierung und Vereindeutigung des Konzepts ‚Orientalismus‘, sein Blick auf die Orientwissenschaften sei undifferenziert, ferner vernachlässige er die westlichen Einflüsse auf kulturelle (Reform‐)Strömungen im arabischen Raum und stelle diesen vor allem als Opfer dar.¹⁰ Drei Jahre nach der Veröffentlichung von Orientalism kritisierte der syrische Philosoph Sadik Al-Azim den Ansatz von Said und vertrat in Orientalism and Orientalism in Reverse (1981) die Ansicht, dass der Orientalismus auch umgekehrt gelesen werden könne, da etwa in den arabischen Ländern durch die dortige Darstellung des Westens als des Anderen eine eigene kulturelle Identität konstruiert werde. Außerdem bedienten sich islamische Gruppierungen eines Orientdiskurses mit imaginären Sinngehalten, den man als ,Orientalism in Reverse‘ bezeichnen könne.¹¹ Auch der – später aufgrund seiner Tätigkeit für die Administration von George W. Bush und seiner Befürwortung des zweiten Irak-Krieges sehr umstrittene – US-
Iman Attia: Die „westliche Kultur“ und ihr Anderes. Zur Dekonstruktion von Orientalismus und antimuslimischem Rassismus. Bielefeld 2016, S. 57. Einen Überblick über die Kritikpunkte bietet Jürgen Osterhammel: Edward W. Said und die „Orientalismus“-Debatte. Ein Rückblick. In: Asien. Afrika. Lateinamerika 25 (1997), S. 597– 607, bes. S. 601– 603. Vgl. Sadik Al-Azim: Orientalism and Orientalism in Reverse. In: Alexander Lyon Macfie (Hrsg.): Orientalism. A Reader. New York 2000, S. 217– 238.
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amerikanische Historiker und Islamwissenschaftler Bernard Lewis verteidigte in diesem Zusammenhang sein Fach als Orientalist und warf Said unwissenschaftliches Arbeiten vor, indem er dessen Konzentration auf eine imperialistische Sichtweise des Westens kritisierte und sie als Reaktion auf die muslimische Bedrohung bzw. den arabischen Imperialismus bezeichnete.¹² Der britische Historiker Robert Irwin sieht Saids Forschung als dangerous knowledge und wirft ihm die Fokussierung auf bestimmte Personen vor, die nicht als repräsentativ für die Orientalistik gelten könnten. Said vermische Autorsubjekt und Diskurs und stelle dabei seine Texte in einer bruchlosen Genealogie dar, was unzulässig sei, da das breite Spektrum der westlichen Sichtweisen (von der Antike bis ins späte 20. Jahrhundert) nicht in einem einzigen Diskurs zusammengefasst werden könne.¹³ In späteren Schriften geht Said auf einige dieser Kritiken an seinem Ansatz ein.¹⁴ Doch auch nach Saids Tod 2003 setzte sich die Kontroverse über sein Orientalismus-Konzept fort. Die Germanistin Andrea Polaschegg hat 2005 in kritischer Ergänzung zu Said das Konzept eines ‚anderen Orientalismus‘ entwickelt.¹⁵ Obwohl Saids Konzeption mit universalistischem Anspruch auftritt, konzentrieren sich seine Analysen fast ausschließlich auf die englisch- und französischsprachige Literatur des kolonialen Zeitalters, das in der deutschen Geschichte des 18. und 19. Jahrhunderts keine direkte Entsprechung findet. In der ‚deutsch-morgenländischen Imagination‘ von Autoren wie Wieland, Herder, Voss, Hammer-Purgstall, Goethe, Platen und Rückert werden dagegen nicht-imperialistische Modelle der Übersetzung und produktiven Adaption nicht-europäischer Texte und der verstehenden Auseinandersetzung mit einem in seiner Andersheit anerkannten Orient entwickelt. Orientreisende wie Fürst Pückler oder Isabelle Eberhardt bereisen im 19. Jahrhundert monate- oder sogar jahrelang afrikanische und arabische Ländern und sind dabei mit den realen Erfahrungen eines Lebens in diesen Regionen konfrontiert. Zugleich werden die Orient-Imaginationen in der fiktionalen Literatur immer weiter gesponnen. Die in der Monographie von Polaschegg gebündelten Impulse wurden zwischenzeitlich in einer Reihe von Sammelbänden zu den
Vgl. Bernard Lewis: The Muslim Discovery of Europe. London 2000. Vgl. Robert Irwin: Dangerous Knowledge. Orientalism and its Discontents. New York 2006, S. 166. Vgl. Edward W. Said: Culture and Imperialism. New York 1994. Vgl. Andrea Polaschegg: Der andere Orientalismus. Regeln deutsch-morgenländischer Imagination im 19. Jahrhundert. Berlin; New York 2005, S. 287; dies.: Die Regeln der Imagination. Faszinationsgeschichte des deutschen Orientalismus zwischen 1770 und 1850. In: Charis Goer; Michael Hofmann (Hrsg.): Der Deutschen Morgenland. Bilder des Orients in der deutschen Literatur und Kultur von 1770 bis 1850. Paderborn; München 2008, S. 13 – 36.
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deutschsprachigen Orient-Imaginationen vorwiegend des 18. und 19. Jahrhunderts aufgenommen.¹⁶ 2004, also nur kurz vor Polascheggs Studie (und daher in dieser noch nicht rezipiert), erschien das Buch German Orientalisms des US-amerikanischen Literaturwissenschaftlers Todd Kontje. Es liest sich wie eine Polemik avant la lettre gegen Polascheggs Buch, ja wie ein zweiter Band von Saids Orientalism, in dem Kontje versucht zu zeigen, dass Saids Thesen, die der ältere Kollege an französischen und englischen Beispielen entwickelt hat, problemlos auch auf deutschsprachige Autoren angewandt werden können, selbst auf solche weltweit (und auch von Said) verehrten Autoren wie Goethe.¹⁷ Ein höchst differenziertes Bild der deutschsprachigen Fachwissenschaft Orientalistik im 19. und frühen 20. Jahrhundert zeichnet demgegenüber die USamerikanische Ideenhistorikerin Suzanne L. Marchand.¹⁸ In neueren Sammelwerken wird diese Perspektive vertieft.¹⁹ Dabei wurde insbesondere auch der immense Anteil jüdischer Gelehrter an der deutschsprachigen ‚Orientalistik‘ in einer Vielzahl von Facetten herausgearbeitet.²⁰
3 Die Beschäftigung Saids mit Fragen der Repräsentation, der Darstellung des ‚Anderen‘ und der ,Ordnung der Dinge‘ bietet Anknüpfungspunkte für die Gender und Queer Studies ebenso wie für die Postcolonial Studies. Zusammen mit Homi K. Bhabha und Gayatri Chakravorty Spivak ist Said ein wichtiger Vertreter der postkolonialen Diskurstheorie. Saids Theorie spaltete sogar die Middle East Studies und wurde zu einem Stichwortgeber für andere Area Studies. In der Latein-
Vgl. außer dem in Anm. 15 genannten Band (Goer/Hofmann 2008): Klaus-Michael Bogdal (Hrsg.): Orientdiskurse in der deutschen Literatur. Bielefeld 2007. Vgl. Todd Kontje: German Orientalisms. Ann Arbor 2004; zu Goethe ebd., S. 118 – 132. Vgl. Suzanne L. Marchand: German Orientalism in the Age of Empire. Religion, Race, and Scholarship. New York u. a. 2009. Vgl. etwa Lena Salaymeh u. a. (Hrsg.): Der Orient. Imaginationen in deutscher Sprache. Tel Aviver Jahrbuch für deutsche Geschichte 45. Göttingen 2017. Darin insbesondere: Ofri Ilany: „Alle unsere Wanderungen im Orient“. Die deutsche Sehnsucht nach dem Orient – Theologie, Wissenschaft und Rasse. Ebd., S. 41– 68. Ilany arbeitet heraus, dass es den deutschen Autoren seit Herder vor allem darum ging, die vorderasiatischen Kulturräume als Ursprungsland der monotheistischen Religionen zu erschließen, wodurch der Gegensatz zwischen ‚Orient‘ und ‚Okzident‘ deutlich relativiert wird. Vgl. Chiara Adorisio; Carmela Lorella Bosco (Hrsg.): Zwischen Orient und Europa. Orientalismus in der deutsch-jüdischen Kultur im 19. und 20. Jahrhundert. Tübingen 2019.
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amerikanistik, der Judaistik, der Indologie und der Japanologie spielt seine Theorie eine einflussreiche Rolle.²¹ In Deutschland konzentriert sich die durch ihn angeregte Forschung zum Orientalismus in den literatur- und kulturwissenschaftlichen Fächern, aber auch in der Politologie und anderen Sozialwissenschaften sowie in der Islamwissenschaft hat sie eine große Bedeutung.²² Ebenso wie in der internationalen Orientalismus-Debatte lassen sich auch hierzulande in der Forschung zwei grundsätzliche Annahmen identifizieren²³: Zum einen wird der Orient als westliche Erfindung²⁴, als Konstruktion und Imagination²⁵, als Projektionsfläche oder auch als Konstrukt des westlichen Rassismus²⁶ begriffen. Zum anderen werden als Prämissen dieser Orient-Konstruktion die westliche Hegemonie und die Kausalitätsbeziehungen zwischen politischen, ökonomischen und militärischen Machtverhältnissen hervorgehoben.²⁷ Dabei beschränken sich neuere Untersuchungen der Wahrnehmung des Orients nicht mehr auf literaturwissenschaftliche Perspektiven und textorientierte Zugriffe, sondern betrachten beispielsweise auch Orientalismen in visuellen Darstellungen²⁸ oder das Islambild in den modernen Medien²⁹. An diese Felder der Orien-
Vgl. Birgit Schäbler: Riding the Turns: Edward Saids Buch ‚Orientalism‘ als Erfolgsgeschichte. In: Burkhard Schnepel u. a. (Hrsg.): Orient – Orientalistik – Orientalismus. Geschichte und Aktualität einer Debatte. Bielefeld 2011, S. 279 – 302. Einen Einblick in aktuelle Forschungstendenzen in Deutschland bietet Attia 2016 (wie Anm. 9), S. 39 – 42. Isolde Kurz bietet in ihrer Dissertation einen allgemeinen Überblick über OrientalismusForschungen sowohl im westlichen als auch im arabischen Raum. Vgl. Isolde Kurz: Vom Umgang mit dem anderen. Die Orientalismus-Debatte zwischen Alteritätsdiskurs und interkultureller Kommunikation. Würzburg 2000. Vgl. Karl Ulrich Syndram: Der erfundene Orient in der europäischen Literatur vom 18. bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts. In: Gereon Sievernich; Hendrik Budde (Hrsg.): Europa und der Orient: 800–1900. Gütersloh; München 1989, S. 324–341, hier S. 324. Vgl. Andreas Pflitsch: Mythos Orient. Eine Entdeckungsreise. Freiburg/Br. 2004, S. 170. Vgl. Ulrike Stamm: Die hässliche Orientalin. Zu einem Stereotyp in Reiseberichten des 19. Jahrhunderts. In: Bogdal 2007 (wie Anm. 16), S. 141– 162. Vgl. Susanne M. Zantop: Kolonialphantasien im vorkolonialen Deutschland (1770–1870). Berlin 1999, S. 16. Vgl. Ali Behdad; Luke Gartlan (Hrsg.): Photography’s Orientalism. New Essays on Colonial Representation. Los Angeles 2013; Gabriele Dietze: Okzidentalistische Bilderpolitik. Neo-Orientalismus und Migration in der visuellen Kultur. In: Margreth Lünenborg (Hrsg.): Politik auf dem Boulevard? Die Neuordnung der Geschlechter in der Politik der Mediengesellschaft. Bielefeld 2009, S. 175 – 195. Vgl. Nazli Hodaie: Von der Orientalismus- zur Patriarchatskritik. Selbst- und Orientwahrnehmungen in der deutschen Presse. In: Claudia Brunner u. a. (Hrsg.): Kritik des Okzidentalismus. Transdisziplinäre Beiträge zu (Neo‐)Orientalismus und Geschlecht. Bielefeld 22010, S. 127– 136.
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talismuskritik im 21. Jahrhundert schließen sich kritische (Selbst‐)Befragungen des westlichen Wissenschaftssystems und Reflexionen der akademischen Produktion von orientalistischem Wissen an, etwa im Blick auf die „florierende[] Auftragsforschung zur Radikalisierung, die europaweit eine ganze Forschungsindustrie hervorgebracht hat.“³⁰ Insbesondere scheinbar objektive, quantitative Erhebungen hinterfragen selten die „Voraussetzungen ihrer eigenen Positionalität“, so dass Datenerhebungen „allmählich zu naturalisierten Fakten heranwachsen“ und die „vermeintlich objektiv mess- und abgrenzbare Kategorie des ‚Muslim‘ in dem Moment [produzieren], in dem sie sie zum fassbaren Forschungsgegenstand erklären.“³¹ Die kritische akademische Selbstbefragung schließt die Forschungsdebatte an neuere Ansätze in der Rassismuskritik an, etwa die Critical Whiteness Studies, in deren Rahmen der Fokus verschoben wird vom rassistisch markierten ‚Anderen‘ hin zur kritischen Reflexion der Position des ‚weißen‘ Subjekts und seiner meist unmarkierten Normsetzungen. Eine „korrektive Methodologie“³² und Neuperspektivierung der Orientalismusforschung ist mit der Einführung des Begriffs ‚kritischer Okzidentalismus‘ bzw. ‚Okzidentalismuskritik‘ vorgeschlagen worden³³: „Okzidentalismuskritik ist mit dem Eigenen,
Schirin Amir-Moazami: Epistemologien der „muslimischen Frage“ in Europa. In: dies. (Hrsg.): Der inspizierte Muslim. Zur Politisierung der Islamforschung in Europa. Bielefeld 2018, S. 91– 124, hier S. 94. Ebd., S. 92. Zusatz von uns. Amir-Moazami weist dabei insbesondere auf die Rolle hin, die der Religion als modernem Klassifikationssystem zukommt, etwa im Hinblick auf die Frage, „auf welche Weise das Säkulare in seiner christlichen Genealogie religiöse Minderheiten erzeugt und Religion produzierend wirkt.“ Schirin Amir-Moazami: Dämonisierung und Einverleibung. Die ‚muslimische Frage‘ in Europa. In: María do Mar Castro Varela; Paul Mecheril (Hrsg.): Die Dämonisierung der Anderen. Rassismuskritik der Gegenwart. Bielefeld 2016, S. 21– 39, hier S. 29. Gabriele Dietze: Okzidentalismuskritik. Möglichkeiten und Grenzen einer Forschungsperspektivierung. In: Claudia Brunner u. a. (Hrsg.): Kritik des Okzidentalismus. Transdisziplinäre Beiträge zu (Neo‐)Orientalismus und Geschlecht. Bielefeld 22010, S. 23 – 54, hier S. 45. „Analog zu den ebenfalls auf Hegemonieproduktion gerichteten Ansätzen einer Critical Whiteness Theory ist es unter gegenwärtigen europäisch-deutschen Umständen sinnvoll, von einem ‚kritischen Okzidentalismus‘ zu sprechen, wenn man eine Untersuchungsperspektive zu Neo-Orientalismen und Islamophobien sucht.“ Dietze 2009 (wie Anm. 28), S. 183 (Hervorh. im Orig.). Vgl. außerdem Gabriele Dietze: Critical Whiteness Theory und kritischer Okzidentalismus. Zwei Figurationen hegemonialer Selbstreflexion. In: Martina Tißberger u. a. (Hrsg.): Weiß – Weißsein – Whiteness. Studien zu Rassismus und Geschlecht, New York 2006, S. 219 – 249. In späteren Publikationen favorisiert Dietze anstelle des Begriffs des ‚kritischen Okzidentalismus‘ den „eher selbsterklärenden Begriff ‚Okzidentalismuskritik‘“. Dietze 2010 (wie Anm. 32), S. 25. Zum ‚Okzidentalismus‘ vgl. auch Fernando Coronil: Jenseits des Okzidentalismus. Unterwegs zu nichtimperialen geohistorischen Kategorien. In: Sebastian Conrad; Shalini Randeria (Hrsg.): Jenseits des Eurozentrismus. Postkoloniale Perspektiven in den Geschichts- und Kulturwissenschaften. Frankfurt/M.; New York 22013, S. 466 – 505.
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dem okzidentalen Selbst, beschäftigt und untersucht, wann und warum es zu welchen rassisierenden und orientalisierenden Othering-Prozeduren kommt, was sie herstellen und welche Funktion sie im Konzert dominanter Diskurse haben. D. h. Okzidentalismuskritik zielt auf die Analyse der Konstruktion des Eigenen am Anderen.“³⁴ Eng verbunden mit theoretisch-methodologischen Neuausrichtungen ist eine Fokusverlagerung in Bezug auf die Forschungsgegenstände. In den vergangenen Jahren hat sich die Diskussion auch auf Ausprägungen so genannter neo-orientalistischer Diskurse konzentriert. Mit dem Begriff ‚Neo-Orientalismus‘ wird einerseits auf die Persistenz orientalistischer Vorstellungen, andererseits auf deren Wandelbarkeit hingewiesen. Mit Ali Behdad und Juliet Williams kann man ‚NeoOrientalismus‘ definieren als […] a mode of representation that, while indebted to a classical Orientalism, engenders new tropes of othering. Although predominantly a North American phenomenon, neo-Orientalism is not limited to the United States; nor is it merely produced by Western subjects. […] Second, unlike its classical counterpart, neo-Orientalism entails a popular mode of representing, a kind of doxa about the Middle East and Muslims that is disseminated, thanks to new technologies of communication, throughout the world. Finally, we designate this mode of representation as neo rather than new to signal the continuity between contemporary and traditional forms of Orientalism. Although the term “neo-Orientalism” designates a shift in the discourse of Orientalism that represents a distinct, and in ways novel formation, it nonetheless entails certain discursive repetitions of and conceptual continuities with its precursor. Like its classical counterpart, for example, neo-Orientalism is monolithic, totalizing, reliant on a binary logic, and based on an assumption of moral and cultural superiority over the Oriental other. To put the point more aphoristically, neo-Orientalism should be understood not as sui generis but rather as a supplement to enduring modes of Orientalist representation.³⁵
Der Neo-Orientalismus löst den ‚klassischen‘ Orientalismus nicht einfach ab, sondern führt ihn unter den veränderten Vorzeichen einer globalisierten Welt weiter. Auch neo-orientalistischen Diskursen liegen Vorstellungen westlicher Hegemonie und essenzialistische Kulturkonzepte zugrunde, die gemäß einer binären Logik Eigenes und Fremdes, Okzident und Orient einander gegenüber-
Dietze 2010 (wie Anm. 32), S. 48 (Hervorh. im Orig.). Ali Behdad; Juliet Williams: Neo-Orientalism. In: Brian T. Edwards; Dilip Parameshwar Gaonkar (Hrsg.): Globalizing American Studies. Chicago 2010, S. 283 – 299, hier S. 284 (Hervorh. im Orig.). Behdad und Williams untersuchen in diesem Aufsatz, auf welche Weise Autorinnen und Autoren aus dem Nahen Osten selbst an neo-orientalistischen Diskursen partizipieren. Sie gehen dabei insbesondere auf die Bedeutung ein, die autobiographische Schriften iranischer Autorinnen für den US-Buchmarkt spielen.
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stellen. Im Vergleich zu dem zunächst vor allem durch europäische Reiseschriftstellerinnen und Reiseschriftsteller sowie Philologen geprägten Orientalismus ist der Neo-Orientalismus deutlich politischer und ideologischer gefärbt.³⁶ Mit ihm gehen ein antimuslimischer Rassismus und islamophobe Tendenzen einher, die verschärft seit 9/11 akut geworden sind und auf einer pauschalen Gleichsetzung von Islam und Gewaltbereitschaft, Terrorismus, Frauenfeindlichkeit und Rückständigkeit basieren: Die „multifunktional gewordene und immer wieder von neuem aufgeladene ‚Projektionsfläche Orient‘“ tritt infolgedessen „in Wissenschaften, Politik, Kunst, Literatur, Film etc. wort- und bildreich als diffuses Konglomerat von unberechenbaren Schurkenstaaten, omnipräsenten TerroristInnen und anpassungsverweigernden muslimischen MigrantInnen in Erscheinung.“³⁷ Eng damit verbunden ist die Vorstellung einer ‚verpassten‘ Aufklärung der arabischen Welt und eines damit einhergehenden fehlenden Anschlusses an die Moderne, wobei diese Moderne als säkular und fortschrittlich, vor allem aber als westlich gedacht wird. Diskutiert wird in dieser Hinsicht auch, welche Bedeutung aktuell dem Bedürfnis nach ‚rebellischen‘ Narrativen und ‚dissidenten‘ Formen aus dem arabischen Raum im Westen zukommt³⁸ oder welchen Anteil arabische Autorinnen und Autoren selbst an der Fortschreibung neo-orientalistischer Diskurse haben, etwa, wenn sie den westlichen Buchmarkt und eine gestiegene Nachfrage nach ‚authentischer‘ autobiographischer Literatur bedienen³⁹. Will man aktuelle orientalistische Repräsentationsformen und ihre medialen, ökonomischen und soziologischen Bedingtheiten untersuchen, sieht man sich also mit komplexen Herausforderungen konfrontiert. Im heutigen ‚visuellen Zeitalter‘ kommt dem Bild eine zentrale Bedeutung zu, wobei zwischen verschiedenen Bildpraktiken und den damit einhergehenden Bildsprachen zu unterscheiden ist, etwa zwischen einer gezielten und offiziell gesteuerten Bildpolitik (wie sie etwa im so genannten war on terror eingesetzt wurde) und einer kaum kontrollierbaren Bildpropaganda, die ebenso der Ikonisierung und Heroisierung wie der Inferiorisierung und Herabwürdigung dienen kann. In diesem Zuge muss außerdem geklärt werden, welche Rolle neben Printmedien und Fernsehen den Neuen Medien bei der Konstitution und Distribution neuer orientalistischer Ste-
Vgl. ebd., S. 285. Claudia Brunner u. a.: Okzidentalismus konkretisieren, kritisieren, theoretisieren. In: dies. u. a. (Hrsg.): Kritik des Okzidentalismus. Transdisziplinäre Beiträge zu (Neo‐)Orientalismus und Geschlecht. Bielefeld 22010, S. 11– 21, hier S. 11 f. Vgl. Ilka Eickhoff: All that is Banned is Desired. ‚Rebel Documentaries‘ and the Representation of Egyptian Revolutionaries. In: META. Middle East – Topics and Arguments 6 (2016), S. 13 – 22. https://meta-journal.net/issue/view/157/10 (26.08. 2020). Vgl. Behdad/Williams 2010 (wie Anm. 35).
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reotype zukommt. Ferner stellt sich die Frage nach deren kulturellen, sozialen und geographischen Verortungen. Sowohl die aggressive islamistische Terrorpropaganda des IS als auch das Erstarken rechtspopulistischer Bewegungen in ganz Europa haben zu neuen rassistischen Stigmatisierungen beigetragen. Ängste vor ‚Parallelgesellschaften‘ und vor ‚Überfremdung‘ haben zu einer neuen Vorstellung vom Feind im Inneren des eigenen Landes geführt, die nicht mehr mit der Exotisierung und Romantisierung eines als weit entfernt imaginierten arabischen Raums vereinbart werden kann, durch welche sich der europäischen Orientalismus in Literatur und Bildender Kunst des 18. und 19. Jahrhunderts auszeichnete. Trotz dieser intensiven Debatten finden sich Elemente verklärender OrientImaginationen heute immer noch, etwa in der Reisewerbung von Ländern wie Marokko oder Jordanien, zum Teil auch den Golf-Staaten, also von nicht von Krieg und Bürgerkrieg heimgesuchten, meist monarchisch regierten Ländern. Dem stehen die grauenvollen Bilder und Erfahrungen der vom Bürgerkrieg heimgesuchten und zum großen Teil zerstörten Regionen gegenüber. Ist damit ein ‚anderer Orientalismus‘ zum nur noch ideologischen Trugbild geworden, oder kann er ästhetisch produktiv gemacht werden? Kann es so etwas wie einen ‚positiven‘ Orientalismus überhaupt geben, oder ist das eine contradictio in adjecto? Welche Möglichkeiten der künstlerischen Intervention in (neo‐)orientalistische Praxen gibt es – speziell in der heutigen Zeit? Welche Rolle spielen sowohl europäische als auch arabische Kulturschaffende bei der Reformulierung alter und neuer Orientalismen? Das sind wichtige, hoch aktuelle Fragen, die im vorliegenden Sammelband zur Diskussion gestellt werden.
4 Der Band gliedert sich in drei Abteilungen, wobei der Schwerpunkt im Mittelteil (Orientalismus heute) von einem Rückblick auf Positionen jüdischer Gelehrter sowie schreibender Frauen im deutschsprachigen Orientdiskurs zum Ende des 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts (Orientalismus gestern) sowie einem Ausblick auf Formen der Selbstorientalisierung in der Gegenwartsliteratur über und aus Osteuropa (Orient Osteuropa?) gerahmt wird. Wenngleich der Fokus auf aktuellen orientalistischen Formen in Literatur und Medien liegt, soll damit gezeigt werden, dass eine historische Perspektivierung des Begriffs ebenso unerlässlich ist wie die Befragung seiner imaginären topographischen Reichweite. Gerade der Rückblick auf von Said wenig berücksichtigte Positionen im frühen deutschsprachigen Orientdiskurs sowie der Blick auf Osteuropa, das sich nur schwer innerhalb der Dichotomie Orient – Okzident verorten lässt, sondern aus heutiger Perspektive
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eher einen schwer fassbaren ‚dritten Raum‘ bildet, trägt zu einer differenzierteren Sicht auf Saids Thesen und zu einer Auffächerung des Orientalismus-Begriffs bei.
Orientalismus gestern Walid Abdelgawad (Berlin) geht auf die Bedeutung ein, die deutschsprachige jüdische Wissenschaftler zum Ende des 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts für die Ausbildung der deutschen Islamwissenschaft hatten. In seinem Beitrag Ein anderer Blick auf den Orient. Deutsch-jüdische Perspektiven in der Islamwissenschaft des 19. und 20. Jahrhunderts setzt er sich kritisch mit Said auseinander, der in Orientalism die deutschsprachige Orientalistik und damit auch den herausgehobenen Stellenwert jüdischer Wissenschaftler in diesem Bereich nur wenig berücksichtigt. Anhand der Forschungsleistungen von Abraham Geiger (1810 – 1874), Gustav Weil (1808 – 1889) und Ignaz Goldziher (1850 – 1921) legt Abdelgawad dar, wie eng die jüdische Beschäftigung mit dem Islam mit der Wiederentdeckung der jüdischen Geschichte und Tradition verbunden war. Der ‚andere Blick‘, den die jüdischen Gelehrten auf den Orient werfen, geht nicht nur mit einem positiven Bild des Islam, sondern auch mit einer anerkennenden, mitunter sogar identifikatorischen Rezeption arabischer Schriften einher. Dominique Lévy-Jahanbakht (Straßburg) widmet sich in ihrem Beitrag einer für den Orientalismus paradigmatischen Gattung. Sie untersucht die Konstruktion des Orientbildes in Reiseberichten von Annemarie Nathusius, Lotte Stratil-Sauer und Agnes Gabriel-Kummer. Ihre Analyse von Reiseberichten über Persien, das in den 1920er und 1930er Jahren von Reza Schah Pahlavi regiert wurde und sich ebenso durch an europäischen Maßgaben ausgerichtete Modernisierungsmaßnahmen wie durch den Fortbestand tradierter sozialer Strukturen auszeichnete, rückt weibliche Blicke und Begegnungen mit den iranischen Frauen in den Mittelpunkt. Die Befunde sind dabei durchaus ambivalent. In den Reiseberichten verschränkt sich eine orientalisierende Optik mit Selbstinszenierungen der Autorinnen als Heldinnen und Abenteurerinnen. Lévy-Jahanbakht zeigt die Interferenzen von Selbst- und Fremdbildern der Frauen auf, die sie auch vor dem Hintergrund der Frauenbewegung in Deutschland interpretiert. So werden Aspekte wie die weibliche Verschleierung einerseits als Zeichen mangelnder Freiheit (Nathusius), andererseits als subversives Element (Stratil-Sauer) beschrieben; Aufrufen zur Emanzipation steht unverhohlene Bewunderung von Reichtum und Luxus der persischen Paläste gegenüber.
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Orientalismus heute In seinem Beitrag „Sei ein Mann, Suleika!“ Orientalistische Objektbesetzungen in der symbolischen Imagination von Geflohenen betont Markus Schmitz (Münster) die Wirkungsmächtigkeit von Orientalismen im aktuellen deutschen Mediendiskurs, die er anhand anti-muslimischer, rassistischer Stereotypisierungen aufzeigt. Er wendet sich gegen einen positiven Begriff von ‚Orientalismus‘ und die damit einhergehende Vorstellung einer anderen, besseren, spezifisch deutschen Tradition der Orientrepräsentation, als deren herausgehobenes Beispiel in der Forschung Goethes West-östlicher Divan gilt. Seine Kritik aktueller orientalistischer Diskurse verbindet Schmitz mit einer kritischen Reflexion der deutschen Forschungsdebatte sowie mit einer provokanten Relektüre von Goethes Text. Der Schwerpunkt seines Beitrags liegt auf der Berichterstattung im Zuge der so genannten ‚Flüchtlingskrise‘ 2015, die er unter psychoanalytisch informierter Perspektive untersucht. Das diskursive Konstrukt des Orients rückt als politische Kategorie in den Fokus, das von erheblicher Bedeutung für das gesellschaftliche Zusammenleben und die Konsolidierung von Machtverhältnissen ist. Schmitz stellt die Mitleidsbilder einer vermeintlich selbstlosen Willkommenskultur sowie die negativen islamophoben Fremdbilder als Projektionen phobischer Abwehr und rassistischen Assimilationsbegehrens vor. Emad Alali (Berlin) untersucht in seinem Beitrag Literatur – Engagement – Agitation. Eine Literatur- und Kulturkritik am Beispiel von Michel Houellebecqs ‚Unterwerfung‘ einen besonders umstrittenen Roman der Gegenwartsliteratur. Houellebecqs 2015 veröffentlichte dystopische Vision eines islamisierten Frankreich unterzieht er einer ideologiekritischen Lektüre, die er mit einem Plädoyer für die geistige Verantwortung des Schriftstellers verbindet. Zentral für seine Analyse ist der Begriff des politischen Engagements, bei dem er eine produktive (kritisch engagierte) und eine unproduktive (tendenziös agitatorische) Form unterscheidet. Obschon Houellebecqs Roman durchaus eine produktive Kritik an der französischen Gegenwartsgesellschaft, insbesondere an politischer Apathie und Opportunismus, artikuliere, bewertet Alali ihn unter politischen Gesichtspunkten als unproduktiv, mithin ideologisch. Indem Houellebecq den politischen Islam als stark und geopolitisch überlegen und den Westen als schwach und lethargisch darstelle, werte er die Dichotomie Orient – Okzident um, ohne sie jedoch außer Kraft zu setzen. Vielmehr schreibt sich der Roman in den aktuellen islamfeindlichen Diskurs ein, dessen stereotype Feindbilder er bestätigt. Christoph Schmitt-Maaß (München) widmet sich einem Topos der orientalistischen Imagination, dem zugleich eine poetologische Schlüsselfunktion zukommt: der Wüste. In seinem Beitrag Ursprünglichkeit, Offenheit, Leere? Zur romantischen Genealogie einer (neo‐)orientalistischen Metapher in der deutsch-
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sprachigen Gegenwartsliteratur (Raoul Schrott, Wolfgang Herrndorf, Michael Roes) untersucht er verschiedene Erzähltexte, welche die semantische Offenheit der Wüste auf ganz unterschiedliche Weise literarisch fruchtbar machen: sei es im postmodernen Spiel mit Genrekonventionen wie in Herrndorfs Spionage-/Abenteuer-/Liebesroman Sand, sei es in der Kompilation von Forschungsreiseberichten des 19. und 21. Jahrhunderts und im Vexierspiel historischer und aktueller Wüstenimaginationen wie in Roes’ Leeres Viertel oder sei es in der literarischen Wendung der Wüste als Reflexionsraum für moderne Paarbeziehungen und nomadische Lebens- und Erzählweisen wie in verschiedenen Texten Schrotts. Schmitt-Maaß arbeitet die Bedeutung romantischer Wüstenimaginationen für postmoderne Reformulierungen heraus. Die Metapher der ‚leeren Wüste‘ wird in den Texten der drei Autoren für anti-orientalistische Darstellungen genutzt, die weder in Ironie umschlagen noch den Anspruch erheben, tradierte Orientalismen überwinden zu können. Marit Heuß (Leipzig) setzt sich mit der Funktion orientalistischer Bezüge im späteren Werk Peter Handkes auseinander. Ihre Analyse einer Geschichte aus Mein Jahr in der Niemandsbuch (1994) verbindet sie mit einem Blick auf die Journale Handkes, die sie komplementär zum Erzählwerk liest. In ihrem Beitrag ‚Geh schön‘. Orient als Erzählstil in Peter Handkes ‚Geschichte meiner Freundin‘ und im Journal ‚Gestern unterwegs‘ ordnet sie Handke der Traditionslinie eines ‚anderen Orientalismus‘ (Polaschegg) zu, wie er bei Goethe und Herder zu finden ist. Der Orientalismus Handkes ist weniger durch konkrete Auseinandersetzungen mit dem Islam als vielmehr durch Bezüge auf das Altertum, insbesondere die griechische Kultur, gekennzeichnet. Ein besonderer Stellenwert kommt dem Ornament zu. Über motivische Funktionen hinaus weist Heuß das Ornament als ‚Bauform‘ des Erzählens aus, wobei Handkes ornamentale Poetik eine selbstreflexive und dezidiert visuell orientierte ist: Sie geht mit dem Versuch einer Erneuerung der Sprache durch das Sehen einher, wodurch sich Schnittstellen zur Sprachkritik der Moderne ergeben. Yasmin Aly (Toronto) behandelt Filmische Repräsentationen arabischer Migranten in Rainer Werner Fassbinders ‚Angst essen Seele auf‘ und Benjamin Heisenbergs ‚Schläfer‘. Damit rücken zwei Filme in den Blick, die zu paradigmatischen Zeitpunkten der deutschen Migrationspolitik entstanden sind, nämlich der Zeit des Anwerbestopps und der sogenannten Konsolidierung in der Migrationspolitik Anfang 1973 und der Verabschiedung des Zuwanderungsgesetzes von 2005. Im Vergleich der Filme arbeitet Aly heraus, wie filmische Mittel – etwa die beobachtende Kamera – Alterität inszenieren und welche Bedeutung orientalistischen Stereotypisierungen dabei zukommt. Besonders anschaulich werden Transformationen rassistischer Zuschreibungen in der Gegenüberstellung der beiden arabischen Protagonisten, des Gastarbeiters Ali (Angst essen Seele auf),
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der ebenso körperlich fetischisiert wie sprachlich marginalisiert wird, und des Wissenschaftlers Farid (Schläfer), der aufgrund seiner Religion als potenzieller Terrorist wahrgenommen wird. Diesen Wandel in der filmischen Orientalisierung – von äußerlich erkennbaren zu versteckten Zuschreibungen – verbindet Aly mit Prozessen des othering und damit einhergehenden Essenzialisierungsdynamiken, die (insbesondere männliche) Araber pauschal als gefährliche Fremde und nicht-deutsche Anhänger des Islam festschreiben. Bei der Vermittlung von Wissen, aber auch der Prägung von Bildern über ‚andere‘ Kulturen kommt der Übersetzung eine besondere Funktion zu. Mit einem Spezialfall der literarischen Übersetzung setzt sich Wolfgang Trimmel (Wien) auseinander. Er untersucht die Selbstübersetzung als diskursive Intervention im Kontext literarischer Darstellungen der arabischen Welt. Dabei unterzieht er ausgewählte Passagen von Sinan Antoons Romans Waḥdahā šaǧarat ar-rummān (‚Nur der Granatapfelbaum‘, 2010), der von dem irakisch-amerikanischen Autor unter dem Titel The Corpse Washer (2013) selbst ins Englische übersetzt wurde, einem close reading. Trimmel betont die politische Dimension des Übersetzens. Zum einen können sich auch Selbstübersetzungen der orientalistischen Tradition nicht entziehen, zum anderen haben sie das Potenzial zur Selbstermächtigung, indem sie in den Diskurs einer anderen Sprache, etwa des Englischen, intervenieren. Im Blick auf die spezifischen Übersetzungsstrategien unterscheidet er mit Lawrence Venuti Techniken des domesticating von Techniken des foreignizing. Diese liest Trimmel auch vor dem Hintergrund des literarischen Feldes (Pierre Bourdieu), hier insbesondere der unterschiedlichen Rahmenbedingungen der arabischen und englischsprachigen Buchindustrie.
Orient Osteuropa? Anna Artwińska (Leipzig) widmet sich in ihrem Beitrag Doing Orient? (Selbst‐) Orientalisierung und Ostmitteleuropa einer besonderen Form von Orientalismus. Mit Jáchym Topols Supermarket sovětských hrdinů (‚Supermarkt sowjetischer Helden‘, 2004) nimmt sie einen literarischen Reisebericht der tschechischen Gegenwartsliteratur in den Blick, in dem ein Ausflug von fünf tschechischen Schriftstellern, der von Prag ins Karpatenvorland führt, beschrieben wird. Der hybride, metapoetische Text versperrt sich klaren Gattungszuordnungen und verschränkt autobiographische Momente mit grotesken Erzählstrategien. Die Reise in den Osten geht ebenso mit einer überzeichneten Inszenierung von Männlichkeit einher, wie sie zur Darstellung einer vergessenen Topographie und einer von den Spuren des Zweiten Weltkrieges sowie des Kommunismus gezeichneten Erinnerungslandschaft Europas genutzt wird. Auf subversive Weise
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bindet Topol in seine Gegenüberstellung von ‚Osten‘ und ‚Westen‘ orientalistische Fremdbilder ein – eine groteske Anverwandlung von (Hetero‐)Stereotypen zu Autostereotypen, die Artwińska als Selbstorientalisierung in den Blick nimmt und vor dem Hintergrund postkolonialer Machtverhältnisse diskutiert. Zur Verhandlung steht dabei auch, wie eine Übertragung postkolonialer Theoreme auf postsozialistische Verhältnisse zu leisten ist. Um literarische Formen der Selbstorientalisierung geht es auch im Beitrag von Michele Vangi (Kiew). In ‚Reisen nach Jerusalem‘. Postkoloniale Identitätskonstruktion bei zeitgenössischen deutsch-jüdischen Autoren osteuropäischer Herkunft untersucht er literarische Texte von Olga Grjasnowa und Dimitrij Kapitelman. Die Autorin und der Autor sind in den 1980er Jahren geboren und gehören damit der zweiten Generation der so genannten ‚Kontingentflüchlinge‘ an, die als Jüdinnen und Juden aus der Sowjetunion nach Deutschland auswanderten.Vangi hebt die Bedeutung hervor, welche die postkoloniale Theoriebildung für die Texte spielt – nicht nur auf theoretisch-methodologischer Ebene, sondern auch innerhalb der diskursiven Organisation der Texte selbst. Grjasnowas Der Russe ist einer, der Birken liebt (2012) und Kapitelmans Das Lächeln meines unsichtbaren Vaters (2016) reflektieren Fragen nach der kulturellen Identität aus der Perspektive von in Deutschland sozialisierten Menschen, wobei dem Rückbezug auf die jüdische Zugehörigkeit eine Schlüsselfunktion zukommt. Aspekte der Selbstorientalisierung werden literarisch zur Disposition gestellt und mit kritischen Auseinandersetzungen sowohl mit der Elterngeneration als auch mit dem deutschen Integrationsdiskurs verbunden. Dabei kommt Aufenthalten im jüdischen Staat Israel eine wichtige katalysatorische Funktion zu, ohne dass irgendeine der Hauptfiguren hier eine neue ‚Heimat‘ finden würde, wie sie sich vorangehenden Generationen eröffnet hatte.
5 Der Band geht auf die zweite vom Deutschen Akademischen Austauschdienst geförderte deutsch-arabische Konferenz zu aktuellen Problemen der Kultur- und Literaturwissenschaften zurück, die vom 25. bis zum 27. Oktober 2018 unter der Leitung der Herausgeberin und der Herausgeber dieses Bandes an der Universität Leipzig stattfand. Nachdem die erste dieser Tagungen 2016 vor allem syrische und deutsche Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler zum Thema Flucht, Exil und Migration in der Literatur zusammengeführt hatte, wurde der Fokus nun grundsätzlicher auf das Thema Orientalismus heute. Perspektiven arabisch-deutscher Literatur- und Kulturwissenschaft gelenkt – ein Thema, das in einer zunehmend von Islamophobie und Überfremdungsängsten geprägten westlichen Gesell-
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schaft, in welcher der Rechtspopulismus wieder politik- und salonfähig geworden ist, dringlicher denn je erscheint. Eingeladen wurden Forscherinnen und Forscher aus Deutschland, Österreich, der Schweiz, Frankreich, Polen, Ägypten, Marokko, Syrien und Kanada. Ein besonders wichtiges Ziel war es, auf dieser Tagung vor allem jüngere Forscherinnen und Forscher aus verschiedenen Weltteilen miteinander und mit ausgewiesenen Expertinnen und Experten ins Gespräch zu bringen und ihnen die Möglichkeit zu geben, ihre Projekte zu Aspekten des Orientalismus in Workshops zur Diskussion zu stellen. Das vorliegende Buch gibt jedoch nicht einfach die Erträge dieser Tagung wieder, sondern ist neu konzipiert im Hinblick darauf, besonders anregende Beiträge zu aktuellen Debatten über Probleme des Orientalismus nun auch einer breiteren Öffentlichkeit zu präsentieren. Konnten wir auch nicht alle Vorträge der Tagung hier als schriftliche Beiträge aufnehmen, so ist es uns doch gelungen, die aspektreichen Aufsätze von Anna Artwińska, Marit Heuß, Christoph SchmittMaaß und Michele Vangi zusätzlich für diesen Band einzuwerben. Besonders wichtig ist uns, dass auch in diesem Buch die Texte jüngerer Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler in der Mehrzahl sind. Auch der transnationale Aspekt kommt bei den Beiträgerinnen und Beiträgern des Bandes deutlich zum Tragen, auch wenn die Mehrzahl von ihnen gegenwärtig im deutschsprachigen Wissenschaftsraum tätig ist. Ebenso wie für die Förderung der Tagung danken wir dem Deutschen Akademischen Austauschdienst herzlich für den überaus großzügigen Druckkostenzuschuss für diesen Band. Ganz besonders danken wir Dr. Christian Hülshörster vom DAAD für sein anhaltendes großes Engagement für die Leipziger deutscharabischen Initiativen. Ohne die große Unterstützung von Judith Antal, Clara Brusis, Philipp Hartmann, Hanna Komischke, Bettina Merian-Sieblist, Franziska Röder und Anna Vetter hätten wir die Tagung nicht erfolgreich durchführen und diesen Band nicht in die Form bringen können, in der er jetzt ist. Im De Gruyter Verlag hat sich besonders Dr. Marcus Böhm für das Projekt eingesetzt und es nachhaltig begleitet. Ihnen allen danken wir sehr herzlich.
I Orientalismus gestern
Walid Abdelgawad
Ein anderer Blick auf den Orient Deutsch-jüdische Perspektiven in der Islamwissenschaft des 19. und 20. Jahrhunderts
1 Einleitung Mit seiner Studie Orientalism legte Edward Said 1978 eine Streitschrift vor, die weit über einzelne Fachwissenschaften hinauswirkte und damit eine einzigartige „Erfolgsgeschichte“¹ entfaltete. Im wahrsten Sinne des Wortes erschütterte Saids Buch die Wahrnehmung der Orientforschung und des von diesem breit angelegten Fachgebiet produzierten Wissens über den Orient wie ein Erdbeben, dessen Nachwirkung noch heute nach über vier Jahrzehnten zu spüren ist. Doch bei aller Berechtigung der Forderung Saids nach einer kritischen Revision des kolonialen Blicks des Westens, vor allem Frankreichs und Großbritanniens: Said erzählte seinerzeit nicht die ganze Geschichte. Seine Schrift ließ nämlich eine gebührende Behandlung der deutschsprachigen Orientalistik vermissen, die in der Übergangszeit vom 19. zum 20. Jahrhundert weltweit als führend galt.² Dies gestand er selbst ein.³ Zu den bedeutendsten Vertretern der deutschen Orientforschung dieser Zeit zählten gerade jüdische Orientalisten, die mit einer ganzen Reihe von richtungsweisenden Studien zu den Begründern der modernen Islamwissenschaft gehören. Exemplarisch zu nennen sind hier die Namen von Abraham Geiger (1810 – 1874), Gustav Weil (1808 – 1889), Ignaz Goldziher (1850 – 1921), Josef Horovitz (1874– 1931) und Shlomo Dov Goitein (1900 – 1985). Der vorliegende Beitrag geht daher der Frage nach, ob unter den deutschsprachigen jüdischen Orientalisten Ansätze zu finden sind, die mit ihren Motiven, Methoden und Ergebnissen ein Gegenbeispiel zu dem von Said zu Recht kritisierten ‚Orientalismus‘ darstellen. War der Umgang jüdischer Orientalisten mit
Birgit Schäbler: Riding the Turns: Edward Saids Buch Orientalism als Erfolgsgeschichte. In: Burkhard Schnepel u. a. (Hrsg.): Orient, Orientalistik, Orientalismus. Geschichte und Aktualität einer Debatte. Bielefeld 2011, S. 279 – 306, hier S. 280. Vgl. Ismar Schorsch: Converging Cognates. The Intersection of Jewish and Islamic Studies in Nineteenth Century Germany. In: Leo Baeck Institute Year Book 55 (2010), S. 3 – 36, hier S. 8 f. Vgl. Edward Said: Orientalismus. Übers. v. Hans Günter Holl [2009]. Frankfurt/M. 52017, S. 11. Die englische Originalausgabe erschien zum ersten Mal bei Pantheon Books, New York 1978. https://doi.org/10.1515/9783110669428-002
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dem Islam ebenfalls durch die westlich geprägte Abwertung gegenüber dem Orient, durch hegemoniale Überlegungen, verfälschende Imaginationen und Abgrenzungen gekennzeichnet? Kann man bei den deutschsprachigen jüdischen Orientalisten von einer eigenen europäischen Tradition der Orientforschung sprechen? Kann die Beschäftigung mit den Schriften jüdischer Orientalisten gerade für die gegenwärtigen akademischen und gesellschaftlichen Debatten über den Islam hilfreiche Anregungen geben? Auf Saids Thesen reagierten zahlreiche Studien zum Teil direkt, indem sie die Beiträge deutscher und/oder jüdischer Orientalisten einer genauen Untersuchung unterzogen.⁴ Insbesondere ist in diesem Zusammenhang die Arbeit der Historikerin und Islamwissenschaftlerin Sabine Mangold hervorzuheben, die ein heterogenes und deswegen kaum von Saids Orientalismus-Schema zu erfassendes Bild des Fachs zeichnete. Ferner wies Mangold auf die bisher fehlende ausführliche Untersuchung zu „Bedeutung und Anteil jüdischer Gelehrter in und an der deutschen Orientalistik“⁵ hin. Ähnlich betonte die Historikerin Suzanne Marchand die Vielstimmigkeit der europäischen und vor allem der deutschen Orientalistik, die mit den sehr allgemein gehaltenen Vorwürfen Saids nicht zu erfassen sei.⁶ Marchand ging noch einen Schritt weiter und widmete den Beiträgen jüdischer Orientalisten und Gelehrter aus der Wissenschaft des Judentums eigene Ausführungen, in denen sie zeigte, dass diese Gelehrten wichtige Stimmen innerhalb des Faches bildeten.⁷ Dennoch blieb selbst in der neueren Forschung die Frage nach einer adäquateren Einschätzung der Beiträge jüdischer Orientalisten hoch umstritten. So vertrat die Islamwissenschaftlerin und Rechtshistorikerin Lena Salaymeh nach ihrer Analyse des Werks des jüdischen Orientalisten Ignaz Goldziher unter anderem die These, dass auch die Beiträge deutsch-jüdischer Orientalisten deutliche kolonialistische Züge im Sinne Saids aufweisen und sich diesbezüglich kaum von
Vgl. zum Beispiel Martin Kramer (Hrsg.): The Jewish Discovery of Islam: Studies in Honor of Bernard Lewis. Tel Aviv 1999; John M. Efron: From Mitteleuropa to the Middle East. Orientalism through a Jewish Lens. In: The Jewish Quarterly Review 94 (2004), S. 490 – 520; Achim Rhode: Der Innere Orient. Orientalismus, Antisemitismus und Geschlecht im Deutschland des 18. bis 20. Jahrhunderts. In: Die Welt des Islam 45 (2005), S. 370 – 411; Susannah Heschel: German Jewish Scholarship on Islam as a Tool for De-Orientalizing Judaism. In: New German Critique 117 (2012), S. 91– 107; Ottfried Fraisse: Ignác Goldzihers monotheistische Wissenschaft. Zur Historisierung des Islam. Göttingen 2014; Susannah Heschel: Jüdischer Islam. Berlin 2018. Sabine Mangold: Eine „weltbürgerliche Wissenschaft“. Die deutsche Orientalistik im 19. Jahrhundert. Stuttgart 2004, S. 104. Vgl. Suzanne Marchand: German Orientalism in the Age of Empire. Cambridge u. a. 2009, S. xxi f. Vgl. ebd., S. 113 – 118 sowie S. 323 – 332.
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den wissenschaftlichen Erzeugnissen ihrer christlichen Kollegen unterscheiden.⁸ Demgegenüber ging der Islamwissenschaftler und Ideenhistoriker David Moshfegh an Hand desselben Fallbeispiels von einem grundlegenden Unterschied zwischen den deutsch-christlichen und deutsch-jüdischen Orientalisten im Hinblick auf Saids Thesen aus.⁹ Der hier kurz skizzierte Disput zwischen Lena Salaymeh und David Moshfegh zeigt deutlich die Komplexität der Frage nach einer angemessenen Einschätzung der wissenschaftlichen Erzeugnisse deutschsprachiger jüdischer Orientalisten. Der von Suzanne Marchand und Sabine Mangold betonte heterogene Charakter der fachlichen Landschaft der deutschen Orientalistik und die dadurch bedingte Unmöglichkeit, dieses Fach der Polemik Saids zu unterwerfen, mögen tatsächlich die Auslassung der deutschen Orientalistik in Saids Studie erklären. Der vorliegende Beitrag schließt sich den Thesen der beiden Wissenschaftlerinnen hinsichtlich der Vielstimmigkeit der deutschsprachigen Orientalistik und der Betrachtung jüdischer Orientalisten als einer Stimme innerhalb dieses akademischen Felds an. Davon ausgehend soll hier Saids Schrift als Anlass genommen werden, die Beiträge jüdischer und nicht-jüdischer Orientalisten einer sachlichen, kritischen Untersuchung zu unterziehen, statt sie pauschal entweder zu verurteilen oder freizusprechen. Der Fokus des vorliegenden Beitrags wird ausschließlich auf die Wirkung dreier deutschsprachiger jüdischer Orientalisten gelegt. Dabei kann nicht der Anspruch erhoben werden, eine umfassende Behandlung der Thesen Saids oder eine eingehende Untersuchung der Beiträge jüdischer Orientalisten anzubieten. Vielmehr werden zunächst einige relevante Thesen von Saids Orientalism aufgegriffen. Darauf folgt eine kurze allgemeine Darstellung der Geschichte der deutschen Orientalistik in der Übergangszeit vom 19. zum 20. Jahrhundert und der Stellung jüdischer Orientalisten in diesem akademischen Feld. Abschließend werden einige paradigmatische Werke repräsentativer deutschsprachiger jüdischer Orientalisten kurz vorgestellt und mit Blick auf die Fragestellung des vorliegenden Beitrags analysiert.
Vgl. Lena Salaymeh: Deutscher Orientalismus und Identitätspolitik. Das Beispiel Ignaz Goldziher. In: dies. u. a. (Hrsg.): Der Orient. Imaginationen in deutscher Sprache. Göttingen 2017, S. 140 – 157. Vgl. David Moshfegh: Race, Religion and the Question of the Orient in Islamwissenschaft. In: ebd., S. 95 – 139.
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2 Von der Orientalistik zum ‚Orientalismus‘ Im Jahre 1978 publizierte Edward Said zum ersten Mal seine Studie Orientalism, die das Feld der Islam- und Orientwissenschaften erschütterte. In seinem Buch geht Said von der Unmöglichkeit aus, unter anderem im Falle der Orientforschung Kultur und Wissenschaft von Politik zu trennen. Seiner Ansicht nach beherrschte und steuerte der westliche Imperialismus in unterschiedlichen Formen und Intensitätsgraden das Feld der Orientalistik. Said analysiert daher die historischen, theologischen, geistigen, rassistischen, wirtschaftlichen und nicht zuletzt politischen und kolonialen Strukturen, welche seiner Überzeugung nach die Entstehung und Gestaltung des Wissens über den Orient bestimmten.¹⁰ Laut Said ist der Tradition des breit angelegten akademischen Fachs Orientalistik das von ihm beschriebene Phänomen des ‚Orientalismus‘ immanent. Diesen definiert Said „als jene Denkweise, die sich auf eine ontologische und epistemologische Unterscheidung zwischen ‚dem Orient‘ und (in den meisten Fällen zumindest) ‚dem Okzident‘ stützt“¹¹. Diese Denkweise sei durch Eurozentrismus und eine Dichotomie geprägt gewesen. Said geht nämlich davon aus, dass dieser Wissensbereich vor allem der Begründung einer Unterscheidung und Grenzziehung zwischen Orient und Okzident diente: der überlegene Westen gegenüber dem Anderen, dem unterlegenen Orient.¹² So werde der Orient als das Objekt dargestellt und als exotisch, irrational und gestört markiert. In dieser Konstellation erscheine der Orient als gefährlich und unterlegen oder müsse unterworfen werden. Dagegen stelle sich der Westen als das alleinige Handlungssubjekt dar. Er verkörpere die Sphären des Wissenschaftlichen und Rationalen als die Instanz, die stets die Wahrheit besitze und demzufolge überlegen sei.¹³ Said schlägt vor, den Orientalismus mit Michel Foucault als einen Diskurs aufzufassen, und beschreibt ihn ausgehend vom Ende des 18. Jahrhunderts als den institutionellen Rahmen, in dem das oben beschriebene imaginäre Bild des Orients konstruiert wurde, aufgrund dessen der Westen „den Orient zu beherrschen, zu gestalten und zu unterdrücken“¹⁴ suchte. Das auf diesem Gebiet produzierte Wissen stellte, so Said, ein Instrument zur Herstellung und Aufrechterhaltung der Hegemonie über den Orient dar. In dieser Konstellation sei der Orient
Vgl. Said 2009 (wie Anm. 3), S. 18 – 25. Ebd., S. 11. Vgl. ebd., S. 16 f. Vgl. ebd., S. 38 f. Ebd., S. 11.
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unfähig, sich selbst darzustellen. Daher müsse der europäische Orientalist ihn beschreiben, darstellen und in seinem Namen sprechen. Diese Darstellungsform trägt nach Saids Analyse und seiner eigenen Erfahrung bis heute zur Stereotypisierung der im Westen lebenden Menschen aus dem mehrheitlich islamisch geprägten Raum bei.¹⁵ Said stellt einige Strategien heraus, von denen der akademische Umgang mit dem Orient durchdrungen sei. So dürfe sich der Orientalist keineswegs mit seinem Forschungsobjekt identifizieren. Er müsse, wie Said es ausdrückt, das Verfahren der „strategische[n] Ortung“ anwenden, also sich vom Orient konsequent distanzieren, und sich dabei der Frage stellen: „Wie bekommt man den Orient zu packen, wie nähert man sich ihm, ohne von seinem Reichtum, seiner Vielfalt und seinen unglaublichen Dimensionen erschlagen und überwältigt zu werden.“¹⁶ In seiner Studie geht Said auf die Orientalismusdiskurse in Frankreich, England und später Amerika näher ein, wobei er Deutschland trotz der weltweit führenden Rolle seiner Orientalisten in der Übergangszeit vom 19. zum 20. Jahrhundert nahezu ausklammert.¹⁷ Immerhin gesteht Said die methodologische Schwäche seiner Schrift folgendermaßen ein: Gleichwohl könnte meiner Studie insofern etwas Irreführendes anhaften, als ich (abgesehen von gelegentlichen Hinweisen) nicht ausführlich auf die deutschen Entwicklungen nach der von Sacy dominierten Anfangsphase eingehe. Wer sich mit der akademischen Orientalistik befasst, ohne Gelehrte wie Steinthal, Müller, Becker, Goldziher, Brockelmann und Nöldeke – um nur einige zu nennen – gebührend zu würdigen, ist zu tadeln, und das gilt auch für mich. Insbesondere bedaure ich es sehr, den angesehenen deutschen Forschern aus der Mitte des 19. Jahrhunderts nicht mehr Aufmerksamkeit schenken zu können […].¹⁸
Das eben angeführte Zitat zeigt deutlich, dass Said wohl um die herausragende Bedeutung der deutschen Orientforschung in der von ihm behandelten Zeit wusste. Zudem waren zwei der von ihm genannten fünf Orientalisten jüdischer Herkunft, nämlich Chajim Steinthal (1823 – 1899) und der schon erwähnte Ignaz Goldziher. Darüber hinaus bauten zwei der von Said genannten deutschen Orientalisten, nämlich Carl Heinrich Becker (1876 – 1933) und Theodor Nöldeke (1837– 1930), ihre Forschung auf den Arbeiten ihrer jüdischen Kollegen auf. Auf die Bedeutung der deutschen Orientforschung und den Anteil jüdischer Orientalisten an dieser wird in den nächsten Abschnitten genauer eingegangen.
Vgl. ebd., S. 14 f., S. 32. Ebd., S. 30 f. Vgl. ebd., insbes. S. 27 f. Ebd., S. 29.
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Hier ist vorerst festzustellen, dass Said nicht nur die deutschsprachige Orientalistik ausklammert. Vielmehr übergeht er die Rolle jüdischer Orientalisten im Allgemeinen, obwohl er in seinem Buch Juden und Muslime gleichermaßen als Zielscheibe europäischer Diskriminierung und Orientalisierung betrachtet und auf die enge Verbindung zwischen dem von ihm beschriebenen Orientalismus und dem europäischen Antisemitismus hinweist.¹⁹ Ob Said dies gezielt tut oder nicht, wird im Rahmen des vorliegenden Beitrags nicht behandelt. Wie eingangs erörtert, dient die eben getroffene Feststellung lediglich als Anlass und Ausgangspunkt, die deutschsprachige Orientforschung und den Beitrag jüdischer Orientalisten in den Blick zu nehmen, um dadurch möglicherweise für heutige Diskussionen über Bilder vom Islam und von jüdisch-islamischen Beziehungen ein sinnvolles Korrektiv zu dem von Said gezeichneten Bild zu entwickeln
3 Die deutsche Orientalistik in der Übergangszeit vom 19. zum 20. Jahrhundert Ab dem ausgehenden 19. Jahrhundert erlebte die deutsche Orientforschung weltweit ihre Blütezeit. Auch an ausländischen akademischen Einrichtungen wie der Universität Kairo konnten deutsche Orientforscher dank ihres hohen internationalen Renommees und der im islamischen Territorium kaum existierenden kolonialen Aktivitäten Deutschlands ihre italienischen, englischen und französischen Kollegen ersetzen.²⁰ Zum damaligen Aufstieg der deutschen Orientforschung trug maßgeblich die Orientalistik an der Universität Leipzig bei, die der Pariser Orientforschung ihre Führungsposition streitig machte. Hinter dieser Entwicklung stand der Leipziger Orientalist Heinrich Leberecht Fleischer (1801– 1888). Fleischer studierte ab 1819 in Leipzig klassische Philologie und evangelische Theologie. 1825 – 1828 absolvierte er in Paris bei dem renommierten Orientalisten Sylvestre De Sacy (1758 – 1838) arabische und persische Studien. Nach Fleischers Rückkehr aus Paris begründete er die damals weltweit führende Schule der Leipziger Orientalistik. Aus allen Ecken der Welt und selbst aus Paris kamen Studierende und Forscher der Orientalistik nach Leipzig, um bei Fleischer zu studieren oder sich fortbilden zu lassen. Anstelle von Paris erhob sich Leipzig, laut dem amerikanischen Professor für Jüdische Geschichte Ismar Schorsch, zum neuen „Mecca for students of the
Vgl. ebd., S. 38 f. Vgl. Donald Malcom Reid: Cairo University and the Orientalists. In: International Journal of Middle East Studies 19 (1987), S. 51– 75, hier S. 55.
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key languages of Islam from all over Europe and the Middle East“²¹. In diesem Zusammenhang ist zu erwähnen, dass Said De Sacy eine zentrale Rolle bei der Begründung und Institutionalisierung der modernen Orientalistik zuschreibt.²² Als Beleg für das hohe Ansehen der deutschen Orientalistik kann die Tatsache dienen, dass Fleischers Schüler, der jüdische Orientalist Ignaz Goldziher, als Mitbegründer und Redaktionsleiter der Enzyklopädie des Islam Anfang des 20. Jahrhunderts beschloss, dass 80 % der Einträge dieses internationalen Standardwerks der Orientalistik auf Deutsch geschrieben werden müssten. Im Briefwechsel mit seinem Freund, dem deutschen Orientalisten Theodor Nöldeke, begründete Goldziher diese Entscheidung mit der Stagnation der französischen Orientalistik.²³ Darüber hinaus stellten deutsche Wissenschaftler das Hauptsegment sowohl der Mitwirkenden als auch der Mitglieder des Exekutivkomitees der Enzyklopädie des Islam: Von insgesamt neun Mitgliedern des Komitees verwendeten vier Mitglieder Deutsch als ihre Wissenschaftssprache. Von diesen vier Gelehrten gehörten wiederum drei zu dem Kreis von Fleischers Schülern. Die hier gezeigte überproportional große Beteiligung deutscher Orientalisten an diesem internationalen Werk ist tatsächlich für die damaligen Verhältnisse repräsentativ, denn in Deutschland saßen damals laut Mangold „die besten und zahlenmäßig meisten Orientalisten“²⁴. Fleischers Schüler kamen nicht nur aus erstaunlich vielen Ländern, sondern auch aus sehr verschiedenen sozialen Schichten. Darüber hinaus war ihre wissenschaftliche Orientierung nicht auf die Orientalistik beschränkt. Laut dem Leipziger Arabisten Holger Preißler bildeten die Orientalisten unter Fleischers Schülern eher die Minderheit, wobei eine Vielzahl von Theologen mit philologischen Interessen dazu gehörte. Auffallend ist der hohe Anteil von Schülern jüdischer Herkunft. So war Fleischer in der Zeit von 1866 bis 1886 als Gutachter und Prüfer an 131 Promotionsverfahren beteiligt. Von den Promovierenden kamen 52, also 40 %, aus jüdischen Familien.²⁵
Schorsch 2010 (wie Anm. 2), S. 8. Vgl. Said 2009 (wie Anm. 3), S. 150. Vgl. Schorsch 2010 (wie Anm. 2), S. 8, 9. Mangold 2004 (wie Anm. 5), S. 288. Vgl. Holger Preissler: Heinrich Leberecht Fleischer. Ein Leipziger Orientalist, seine jüdischen Studenten, Promovenden und Kollegen. In: Stephan Wendehorst (Hrsg.): Bausteine einer jüdischen Geschichte der Universität Leipzig. Leipzig 2006, S. 245 – 268, hier S. 264– 266.
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4 Die jüdische Beschäftigung mit dem Orient und dem Islam in der Moderne To no other field of study in nineteenth-century Germany did Jews, baptised or unbaptised, contribute more significantly than to the study of Islam.²⁶
Mit diesen Worten beschreibt Ismar Schorsch den Beitrag jüdischer Gelehrter zur Islamforschung im 19. Jahrhundert. Die jüdische Beschäftigung mit dem Islam war mit der Wiederentdeckung der eigenen jüdischen Geschichte und Tradition eng verbunden. Die meisten jüdischen Orientalisten kamen aus der deutsch-jüdischen Bewegung der Wissenschaft des Judentums, die von 1818 bis 1942 durch wissenschaftliche Erforschung aller Bereiche der jüdischen Tradition und Geschichte eine Antwort des Judentums auf die Anforderungen der Neuzeit in Europa zu finden suchte. Die Gelehrten der Wissenschaft des Judentums widmeten sich neben dem eingehenden Studium der jüdischen Tradition dem Studium moderner Wissenschaften, vor allem der Philologie, der Historiographie und der Philosophie, und eigneten sich die Methoden der historisch-kritischen Forschung an. Dadurch nahmen sie die Erforschung und Darstellung ihrer Geschichte und Tradition in die Hand und stellten die theologische Deutungshoheit der christlichen Hebraisten über die jüdischen Texte in Frage. Durch die historische Untersuchung der jüdischen Geschichte, Kultur und Tradition suchten jüdische Gelehrte unter anderem, den in ihrem europäischen Kontext verbreiteten Stereotypen und Vorurteilen gegenüber Juden entgegenzuwirken.²⁷ Die im Folgenden zu behandelnden Beiträge jüdischer Orientalisten zeigen deutlich, dass jüdische Gelehrte die Erkundung des Orients, seiner Geschichte, Kultur und Sprachen als unerlässlich für die Erforschung der jüdischen Tradition und Geschichte betrachteten. In diesem Falle war der Orient nicht der Andere, gefährliche Fremde, sondern der Abstammungsort und die geistige Heimat. Der Islam und das Arabische stellten dabei eher verwandte Traditionen und Sprachen dar, deren Erschließung von enormer Bedeutung für das Studium des Judentums selbst war. Daher konvergierte die Wissenschaft des Judentums sehr stark mit der Islam- und Orientforschung in dieser Zeit. Die islamische Geschichte betrachteten jüdische Gelehrte als einen historischen Raum, in dem Juden relativ große Freiheiten genossen und dadurch in die
Schorsch 2010 (wie Anm. 2), S. 3. Vgl. Ismar Schorsch: Das erste Jahrhundert der Wissenschaft des Judentums (1818 – 1919). In: Michael Brenner; Stefan Rohrbacher (Hrsg.): Wissenschaft vom Judentum. Annäherung nach dem Holocaust. Göttingen 2000, S. 11– 24, bes. S. 11– 14.
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glückliche Lage versetzt waren, einen produktiven Beitrag zu ihrer eigenen Wissenschaftsgeschichte und zur islamischen Kultur zu leisten. Vor allem stellte das Mittelalter eine Phase des intensiven Austauschs zwischen den jüdischen und islamischen Wissenschaftstraditionen dar, was das Verständnis der jüdischen Wissenschafts- und Philosophiegeschichte ohne die Erkundung der islamischen und umgekehrt fast unmöglich machte. Jüdische Gelehrte wie der renommierte Historiker Heinrich Graetz (1817– 1891), der Verfasser des zehnbändigen Werkes Geschichte der Juden, stellten ihren europäischen Zeitgenossen den Islam und den Orient als eine Hochkultur dar, in welcher Juden im Vergleich zum christlichen Europa mehr Freiheiten genossen. So wurde der Begriff des ‚Goldenen islamischen Mittelalters‘²⁸ geprägt, der bis heute in den Medien und in zahlreichen Studien verwendet wird. Den Beginn machte der Orientalist und Reformrabbiner Abraham Geiger mit seiner wichtigen Abhandlung Was hat Mohammed aus dem Judenthume aufgenommen? (1833). Darin unterzieht er zum ersten Mal den Koran einer sachlichen, historisch-kritischen Untersuchung und rekonstruiert seine Bezüge zur hebräischen Bibel und zu den rabbinischen Schriften. Geiger war der erste westliche Gelehrte in der Wissenschaft seiner Zeit, der Muhammad nicht etwa als Gewalttätigen, Schwätzer, Scharlatan, Schwindler oder Pseudo-Propheten betrachtete, sondern als einen Poeten mit dichterischem Gemüt und Begründer einer Religion, der von seiner Botschaft und seiner Sendung zutiefst überzeugt war.²⁹ Nur zehn Jahre später, im Jahre 1843, publizierte der jüdische Orientalist Gustav Weil sein Werk Mohammed der Prophet, sein Leben und seine Lehre, in dem er zum ersten Mal die Biographie des Propheten des Islam auf der Basis von islamischen Handschriften und dem Koran rekonstruiert und historisch-kritisch erforscht. In seiner Studie wundert sich Weil über die Vernachlässigung und Verkennung der großen Bedeutung Muhammads für die Weltgeschichte im europäischen akademischen Kontext und kritisiert die politisch oder theologisch motivierten Darstellungen von Muhammads Biographie:³⁰ Es gehört zu den wesentlichen Fortschritten der neueren Zeit, daß die historische Kritik die überkommenen Anschauungen welthistorischer Charaktere aus den Quellen revidiert, berichtigt und so dann in ihrer Totalität von Neuem darstellt. Auffallend ist es, daß Moham-
Shlomo Dov Goitein: Jews and Arabs. A Concise History of Their Social and Cultural Relation [1955]. New York 42005, S. 6 f. Vgl. Friedrich Niewöhner: Von Muhammad zu Jesus. Abraham Geigers Schrift über den Koran. In: Abraham Geiger: Was hat Mohammed aus dem Judenthume aufgenommen? [1833]. Berlin 2005, S. 7– 33, hier S. 17– 19. Vgl. Gustav Weil: Mohammed der Prophet, sein Leben und seine Lehre. Stuttgart 1843, S.VII– IX.
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med, der Sohn Abd Allah’s, dessen politische und religiöse Umwälzung so tief eingriff und so weit um sich griff, bis jetzt hierin sehr vernachläßigt wurde.³¹
Unter Einbeziehung der Prophetenbiographie gelang es Gustav Weil im Jahre 1844 in seiner Studie Historisch-kritische Einleitung in den Koran, die Kapitel und Verse des Koran nach historisch-kritischen, philologischen, thematischen und literarischen Gesichtspunkten neu zu ordnen.³² Diese Schrift Weils übte wiederum einen großen Einfluss auf einen anderen deutschen Orientforscher und profunden Kenner des Korans und der klassischen arabischen Literatur aus, den auch von Said erwähnten Theodor Nöldeke. Weils Einleitung diente Nöldeke als Grundlage für sein Hauptwerk Geschichte des Qorans (1860).³³ Weil betrachtet den Islam nicht als eine fremde oder absurde Lehre, sondern als eine Religion, die historisch aus einer konstruktiven Auseinandersetzung mit dem Christentum und Judentum hervorging. Entschlossen fordert Weil von seinen Zeitgenossen „volle Anerkennung und Bewunderung“ für Muhammad „als Reformer“³⁴ ein: Ein Araber, welcher die Schattenseite des damaligen Juden- und Christenthums aufdeckte, und nicht ohne Lebensgefahr den Polytheismus zu verdrängen und die Lehre von der Unsterblichkeit der Seele seinem Volke einzuprägen suchte, verdient nicht nur den größten Männern der Geschichte an die Seite gesetzt zu werden, sondern auch den Namen eines Propheten.³⁵
In Weils Darstellung erscheint der Koran zum ersten Mal nicht als eine langatmige, fremde Lektüre, sondern als bedeutendes Werk der Weltliteratur. Weil kritisiert das in seinem eigenen europäischen akademischen Kontext dominierende Verständnis des Koran als eines Gesetzbuchs, das zur Gewalt aufruft und jeden Fortschritt blockiert. Die Anwendung von Gewalt durch Muslime zum Zweck der Verbreitung ihrer eigenen Religion führt Weil nicht auf die Religion selbst, sondern in erster Linie auf die historischen Umstände zurück. Dieses Phänomen ist laut Weil allerdings in der Geschichte des Christentums ebenfalls festzustellen. Im Gegensatz zu bis heute verbreiteten stereotypischen Ansichten betrachtet Weil die sozialen Regeln im Koran historisch als Fortschritt, der hauptsächlich zur „Fest-
Ebd., S. VII. Vgl. Gustav Weil: Historisch-kritische Einleitung in den Koran. Bielefeld 1844. Vgl. Dirk Hartwig: Die „Wissenschaft des Judentums“ und die Anfänge der kritischen Koranforschung. Perspektiven einer modernen Koranhermeneutik. In: Zeitschrift für Religions- und Geistesgeschichte 61 (2009), S. 234– 256, hier S. 243; Hartmut Bobzin: Der Koran. Eine Einführung. München 2014, S. 31 f.; Angelika Neuwirth: Der Koran als Text der Spätantike. Berlin 32013, S. 49 f. Weil 1844 (wie Anm. 32), S. 111– 115. Ebd., S. 115 f.
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stellung der Rechte der Frauen und Beschränkung der Willkühr des Mannes“³⁶ beitrug. Weil zufolge soll man weniger dem Gesetzescharakter dieses Buches als vielmehr seinen edlen religiösen und ethischen Werten Aufmerksamkeit schenken. Die Sittenlehre des Koran betrachtet Weil „als das vollkommenste Theil dieses merkwürdigen Buches“³⁷. Diese ethischen und religiösen Werte im Korantext bezeichnet er als ‚Goldfäden‘, welche eine gute gemeinsame Grundlage für die Verständigung zwischen Judentum, Christentum und Islam bieten. Muslime solle man nicht zur Konversion drängen oder angreifen und als unfähig zum wissenschaftlichen und fortschrittlichen Denken stigmatisieren, vielmehr müsse man ihnen den Zugang zur Bildung und zur Erkundung der positiven Aspekte ihrer Tradition ermöglichen, so Weil.³⁸ In den bisher dargestellten Schriften Gustav Weils und Abraham Geigers zeigt sich deutlich eine europäisch-jüdische Tradition der Orientforschung, die ein ebenso sachliches wie positives Bild des Islam produziert und in ihrem europäischen Kontext durchzusetzen sucht. An der Spitze dieser Tradition stand der in der oben zitierten Äußerung Saids über die herausragende Bedeutung der deutschen Orientalistik genannte Gelehrte Ignaz Goldziher. Die Bedeutung Goldzihers geht aus der Würdigung seines Zeitgenossen Carl Heinrich Becker hervor: Der Orientalist Becker, der in den 1920er Jahren als preußischer Kultusminister tätig war und den Said im erwähnten Zusammenhang ebenfalls nennt, bezeichnete Goldziher als denjenigen Gelehrten, der „gemeinsam mit seinem Freunde Snouck Hurgronje die Islamwissenschaft eigentlich erst geschaffen hat“³⁹. Entgegen Saids Vorurteil über den orientalistischen Forscher begegnete Goldziher dem Orient und dem Islam auf seiner Reise nach Istanbul, Beirut, Damaskus, Jerusalem und Kairo in den Jahren 1873 bis 1874 mit dem höchsten Grad an Faszination und Identifikation. In seinem Tagebuch beschreibt er diese Erfahrung als die glücklichste Zeit seines Lebens. Damals lebte sich Goldziher so sehr in die islamische Geisteswelt ein, dass er kurz vor einer Konversion stand. Für ihn war der Islam „die einzige Religion, welche selbst in ihrer doktrinär-offiziellen Gestaltung und Formulierung philosophische Köpfe befriedigen könne. Mein Ideal war es, das Judenthum zu ähnlicher rationeller Stufe zu erheben.“⁴⁰ Goldzihers Werke bewirkten eine Wende in der historisch-kritischen Erforschung des als sakral betrachteten muslimischen Traditionskanons. Exempla-
Ebd., S. 116 – 118. Ebd., S. 119. Ebd., S. 119 – 121. Carl Heinrich Becker: Goldziher zum Gedächtnis. Geleitwort. In: Ignaz Goldziher: Vorlesungen über den Islam [1910]. Heidelberg 21925, S. VI. Ignaz Goldziher: Tagebuch. Hrsg. v. Alexander Schreiber. Leiden 1978, S. 59.
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risch sind hier seine richtungsweisenden Schriften Muhammedanische Studien (in zwei Teilen 1888 und 1890 erschienen) und Die Richtungen der islamischen Koranauslegung (1920) zu nennen. In diesen beiden Schriften nahm Goldziher einen innovativen Perspektivwechsel vor, der das bisher in Europa verbreitete Bild des Islam als einer an feststehende Traditionen gebundenen und dadurch jeder Entwicklung widerstrebenden Religion veränderte. Die ersten Hauptquellen der bis heute in der Forschung, vor allem aber in den Medien äußerst kontrovers diskutierten Scharia (des islamischen Rechts) bilden der Koran und das Hadith (Überlieferungen zu Aussprüchen von Muhammad). Statt die Aussprüche des Propheten als Belege für bestimmte Ansichten über das Wesen des Islam zu nehmen, historisiert Goldziher in seinem Werk Muhammedanische Studien diese Überlieferungen. Aus Goldzihers Perspektive entstammten diese Texte nicht unbedingt dem Munde Muhammads. Vielmehr wurden sie, Goldziher zufolge, im ersten und zweiten Jahrhundert der islamischen Geschichte modifiziert, angepasst oder sogar neu erfunden, um politischen, gesellschaftlichen, theologischen oder kulturellen Zwecken zu dienen. Daher berichten diese Überlieferungen laut Goldziher mehr über die Ereignisse und Verhältnisse ihrer Zeit als über den Islam selbst:⁴¹ Das Hadith wird uns nicht als Document für die Kindheitsgeschichte des Islam, sondern als Abdruck der in der Gemeinde hervortretenden Bestrebungen aus der Zeit seiner reiferen Entwicklungsstadien dienen; es bietet uns ein unschätzbares Material von Zeugnissen für den Entwicklungsgang, den der Islam während jener Zeiten durchmacht, in welchen er aus einander widerstrebenden Kräften, aus mächtigen Gegensätzen sich zu systematischer Abrundung herausformt. Und in dieser Bedeutung des Hadith liegt die Wichtigkeit der gehörigen Würdigung und Kenntnis desselben für die Erfassung des Islam, dessen merkwürdigsten [sic] Entwicklungsphasen von der successiven Entstehung des Hadith begleitet sind.⁴²
In seinem letzten Werk, Die Richtungen der islamischen Koranauslegung, behandelt Goldziher aus ähnlicher Perspektive die Korankommentare und belegt, dass jeder Koranexeget den Koran im Sinne seiner eigenen geistigen, theologischen, philosophischen oder politischen Richtung interpretiert hat. In Goldzihers Wortlaut: Auch vom Koran gilt das auf die Bibel bezügliche Wort des reformierten Theologen Peter Werenfels: Jedermann sucht seine Dogmen in diesem heiligen Buche. Jedermann findet zumal was er gesuchet darin.⁴³
Vgl. Ignaz Goldziher: Muhammedanische Studien. Bd. II. Halle 1890, bes. S. 3 – 274. Ebd., S. 5. Ignaz Goldziher: Die Richtungen der islamischen Koranauslegung. Leiden 1920, S. 1.
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Durch Historisierung der zwei Hauptgrundlagen der Scharia, des Hadith und der Koranauslegung, zeigt Goldziher den äußerst dynamischen Charakter der islamischen Tradition und ihre Fähigkeit, einen Weg in die ‚Moderne‘ einzuschlagen. In diesem Sinne sollte man auch die oben zitierte Äußerung seines Wunsches, „das Judenthum zu ähnlicher rationeller Stufe zu erheben“, verstehen. Goldziher tat tatsächlich für den Islam das, was er für das Judentum gern erreicht hätte. Der von Goldziher vertretene Modernisierungsansatz verhielt sich allerdings der islamischen Wissenstradition gegenüber keineswegs gleichgültig, sondern würdigte sie. Goldziher betrachtete seine Forschung als einen Beitrag zur Reform des Islam. Er kämpfte gegen die Kolonialisierung und oberflächliche Modernisierung muslimischer Gesellschaften. Sein Idealbild eines Weges zur islamischen ‚Moderne‘ bestand in einer Reform, welche die islamische Wissenstradition nicht verleugnet, sondern mit der modernen Forschung vereinbar macht: Ein kritikloses Verleugnen der eigenen Geschichte, ein unvermitteltes Sichlossagen von den Traditionen, deren Ergebnis die aktuelle Gesellschaft ist, können nirgends die sittliche Basis sein, auf welcher fortgeschrittene Zustände sich auf Dauer aufbauen […]. Aber es darf ja nicht immer beim Alten bleiben und das ewige Gesetz der Entwicklung der physischen, sowie der moralischen Welt duldet ja auch keinen Stillstand in der Gesellschaft.⁴⁴
Die Aufgabe einer europäischen Orientforschung sah Goldziher nicht darin, muslimische Gelehrte dazu zu bewegen, „über die Koryphäen der mohamedanischen Vergangenheit wie über alte Schwätzer die Nase zu rümpfen.“⁴⁵Vielmehr sollten Muslime befähigt werden, die großen Gelehrten und Denker ihrer Tradition zu entdecken und gegebenenfalls auf deren Arbeiten aufzubauen. In seinen Werken verwendete Goldziher nicht nur moderne Forschungsmethoden, sondern machte auch Gebrauch von Methoden aus der islamischen Wissenstradition. Die traditionelle Methode der islamischen Hadith-Kritik würdigte er als „das älteste Beispiel für solche kritische Tätigkeit in der ganzen Weltliteratur“⁴⁶. Mit einem im Blick auf seinen europäischen Hintergrund ungewöhnlichen Respekt begegnete Goldziher muslimischen Gelehrten, die er sogar seinen europäischen Kollegen gleichstellte. Exemplarisch dafür ist sein Umgang mit dem Werk des mittelalterlichen muslimischen enzyklopädischen Gelehrten Ğalāladdīn as-Suyūṭī (1445 – 1505). Als der Förderer und Fürsprecher Goldzihers, der ungarische Unterrichts-
Ignaz Goldziher: Vom Stockholmer Orientkongress. In: Abendblatt des Pester Llloyd vom 8. September 1889, S. 1 (einzige Seite). Ebd. Ignaz Goldziher: Die Fortschritte der Islam-Wissenschaft in den letzten drei Jahrzehnten. In: ders.: Gesammelte Schriften. Hrsg. v. Joseph Desomogyi. Bd. IV. Hildesheim 1970, S. 443 – 469, hier S. 450.
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minister Joseph V. Eötvös, im Februar 1871 starb, schrieb Goldziher, dass er in dieser schwierigen Zeit seines Lebens das Werk von as-Suyūṭī kennenlernte. Dieses beschreibt er folgendermaßen: Im wahren Sinne des Wortes war es ein gelehrtes geistvolles Werk, das mich in dieser Zeit aufrichtete und tröstete. Ich lernte gerade um diese Zeit das Muzhir [Titel eines Werkes des as-Suyūṭī] kennen und sass Tag und Nacht darüber. So fesselte es mich. Gott segne den alten Sujūṭī dafür. Darum ist mein Muzhir-exemplar [sic] ein denkwürdiges Stück meiner Bibliothek. Es verkörpert mir den Seelenschmerz unter welchem ich mich im Studium desselben versenkte.⁴⁷
Als ‚trefflich‘ bezeichnet Goldziher as-Suyūṭīs exegetisches Werk alItqān fī ʿulūm alqurʾān (‚Die Vollendung in den Lehren des Koran‘).⁴⁸ In seinem Bericht über die Bücher, die er im Auftrag der Ungarischen Akademie der Wissenschaft auf seiner Orientreise sammelte, beschreibt er dieses Werk folgendermaßen: For those who know the History of the Qur’ān by Nöldeke it is enough if I characterise alSuyūṭī’s work as falling in the same category, but is written by a Muslim – and not for a prize.[…] He raised lexicography and exegesis to the highest level of his ideal of scholarship.⁴⁹
Eine solche Anerkennung der wissenschaftlichen Leistung eines muslimischen Gelehrten durch einen europäischen Orientalisten, welche einen ‚Orientalen‘ auf die gleiche Stufe mit dem seinerzeit unangefochtenen Meister der Koranforschung, Theodor Nöldeke, stellt, ist nicht nur für die Zeit außergewöhnlich. Sie zeigt darüber hinaus, wie Goldziher als europäischer Jude den Reichtum der Kultur des Orients schätzen und sich mit dieser Kultur identifizieren konnte. Der hier beschriebene Umgang Goldzihers mit as-Suyūṭīs Werk stellt keineswegs eine Ausnahme in Goldzihers Behandlung der wissenschaftlichen Erzeugnisse aus dem mehrheitlich islamisch geprägten Raum dar. Vielmehr pflegte Goldziher einen äußerst anerkennenden Umgang sowohl mit zeitgenössischen als auch mit früheren muslimischen Gelehrten. Seine Werke bilden regelrecht eine Brücke zwischen der modernen europäischen Forschung und der islamischen Wissens-
Goldziher 1978 (wie Anm. 40), S. 48. Zusatz W. A. Ignaz Goldziher: Zur Charakteristik Ğelāl ud-dīn us-Sujūṭī’s und seiner literarischen Tätigkeit. Wien 1871, S. 19. Adam Mestyan: Ignaz Goldziher’s Report on the Books Brought from the Orient for the Hungarian Academy of Sciences. In: Journal of Semitic Studies 60 (2015), S. 443 – 480, hier S. 460.
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tradition, was ihnen eine äußerst positive Rezeption bei muslimischen Reformdenkern, beispielsweise im Ägypten des 20. Jahrhunderts, ermöglichte.⁵⁰
5 Schluss Die hier dargestellten drei Orientalisten zeigen ein Bild der Orientforschung, das in einigen Punkten ein Gegenbeispiel zum von Said entworfenen Schema des Orientalismus liefert. Sie stellen gemeinsam eine Tradition der Orientforschung dar, die den Islam nicht als eine fremde und bedrohliche Ideologie diskreditiert und ausgrenzt, sondern als eine für die Weltgeschichte genauso wie für das Christentum und das Judentum bedeutende Religion betrachtet. In Geiger und Weil erkennt man deutlich zwei europäische Orientalisten, die den Islam als die größte Religion des Orients wissenschaftlich ernst nehmen und für seine Gleichberechtigung kämpfen. Hier werden keine Grenzen zwischen dem christlichen Europa und dem Orient bzw. dem Islam gezogen, sondern beide in eine allgemeine, gemeinsame Weltgeschichte integriert. Die von Said beschriebene ‚strategische Ortung‘ bzw. fehlende Identifikation des Orientalisten mit seinem Forschungsobjekt ist bei keinem der drei hier behandelten Orientalisten festzustellen. In besonders hohem Maß ist die Identifikation mit dem Orient und dem Islam bei Goldziher zu beobachten. Darüber hinaus sieht man in Goldzihers Werken einen Ansatz, der die islamische Tradition nicht bevormundet oder, wie Said es beschreibt, in deren Namen spricht, sondern die Stimmen ihrer Gelehrten wahrnimmt, sich mit ihnen verbündet und sie den europäischen Orientalisten gleichstellt. Dieser Ansatz liefert insofern wertvolle Anregungen für heutige Forschungen und Auseinandersetzungen mit dem Islam, als er ein Modell bietet, in dem die Aufklärung des Islam aus der Tradition heraus gefordert wird.
Vgl. Walid Abdelgawad: Islamische Wissenstraditionen angesichts der Moderne. Die Koraninterpretation Amīn al-Ḫūlīs (1895 – 1966). Leipzig: Univ. Diss. 2018, bes. S. 133 – 160.
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Die Konstruktion des Orientbildes in Reiseberichten von Annemarie Nathusius, Lotte Stratil-Sauer und Agnes Gabriel-Kummer Eine exemplarische Analyse des Persiendiskurses in den 1920er und 1930er Jahren
1 Einleitung Die Reiseberichte von Annemarie Nathusius (1874– 1926), Lotte Stratil-Sauer (geboren 1904, Todesdatum unbekannt) und Agnes Gabriel-Kummer (1888 – 1978), die in den 1920er und 1930er Jahren nach Persien reisten, vermitteln ein komplexes Bild des Landes. Die folgende Analyse beschränkt sich auf das Selbstbild der reisenden Frauen sowie auf das Bild der einheimischen Frauen in den Reiseberichten, wobei die Vielfalt der Orientbilder hervorgehoben werden soll. Das Korpus besteht aus vier Reiseberichten, die auf Reisen aus den Jahren 1924 bis 1933 zurückgehen. Diese Reiseberichte haben alle das Persien von Reza Schah Pahlavi als Hintergrund, der 1921 als Kriegsminister die teheranische Regierung stürzte und 1925 die Macht ergriff. Er regierte das Land bis 1941 und versuchte es nach europäischen Maßstäben zu modernisieren, wozu er auch Kleidungsreformen einführte, die eine Uniformierung und Standardisierung nach europäischem Muster zum Ziel hatten. Die erste Reform, die sich auf die Mission des Schahs gründete, das Land zu modernisieren, fand Ende der 1920er Jahre statt. Im Dezember 1928 erließ Reza Schah mit dem Gesetz zur Vereinheitlichung der Kleidung die Vorschrift über das Tragen des Pahlavi-Hutes und des europäischen Anzuges für alle Männer. 1936 wurde ein Tschadorverbot erlassen, das den Frauen untersagte, das schwarze oder weiße Tuch, das sie von Kopf bis Fuß bedeckte, zu tragen. Mit diesem Verbot erwirkte der Schah einen Bruch mit der Geistlichkeit und mit einem Teil der Bevölkerung, für die das Tragen des Tschadors eine Frage der weiblichen Ehre war.
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2 Selbstinszenierung in den Reiseberichten der Frauen. Die reisende Frau als ,Heldin‘ des Alltags Agnes Gabriel-Kummer beschreibt in ihrem Tagebuch die Vorbereitungen, die sie mit ihrem Ehemann Alfons Gabriel vor der Reise nach Persien getroffen hat. Sie betont immer wieder den Versuch, sich den Lebensbedingungen in Persien anzupassen. Nur so könne man lernen, „wie herrlich die Welt und wie trostlos das Leben der Menschen“ sei, die „ihr Glück zwischen vier Mauern umgeben von dem Kram des Alltags“¹ suchten. Weiter erklärt sie, dass sie nicht mit dem Auto, sondern meistens mit Karawanen reisten. Bis Minab bestand ihre Karawane aus fünf Eseln und vier Treibern, dem Koch und einem Pilger, der die Rolle des Reiseleiters übernommen hatte. In ihrem Bericht wird der Orient als Ort der Ruhe bezeichnet, der nur mit einfachen Formen und Mitteln des Reisens entdeckt werden könne. Diese Anpassung scheint dem Paar notwendig und wünschenswert, und der Leser hat an keiner Stelle des Berichts den Eindruck, Agnes Gabriel würde sich nach Europa sehnen. Dagegen berichtet Lotte Stratil-Sauer mit viel Ironie von ihrem lange aufrechterhaltenen Versuch, ihr deutsches Zuhause mit nach Persien zu nehmen. Sie schreibt: „Wir hatten wie die Schnecke unser Haus auf die Wanderschaft mitnehmen wollen und stapelten deshalb darin, was uns unentbehrlich schien.“² Auch erwähnt sie die Tatsache, dass sie in Persien „Sebastian, de[r] furchtlose[] Mann“³ genannt wurde, was beweist, dass eine reisende Frau im Iran eine Ausnahme blieb und dass man sie deshalb lieber als Mann einordnete. Annemarie Nathusius berichtet nur kurz von den materiellen Schwierigkeiten, die sie in Persien hatte. Sie blieb in Städten wie Bushire, Schiraz, Ispahan und Teheran, reiste in einem Mercedes, hatte einen Fahrer und einen Diener und war in Mietshäusern oder bei Gouverneuren und in Gesandtschaften untergebracht.⁴ Aus ihren Briefen und aus dem Reisebericht ihres damaligen Lebensgefährten Max Kirsch geht aber hervor⁵, dass sie Geldschwierigkeiten und gesundheitliche
Agnes Gabriel-Kummer: Aufbruch in den Orient. Unsere Persienreise. Damaskus – Bagdad – Teheran. Hrsg. von von Verena Stagl. Mit einem Vorwort von Peter Thomsen. Wien 2003, S. 55. Lotte Stratil-Sauer: Iranisch-ironisches Fahrtenbuch. Ein Hund war auch dabei.Wien 1952, S. 17. Ebd., Klappentext. Vgl. Annemarie von Nathusius: Im Auto durch Persien. Dresden 1926. Vgl. Max Kirsch: Im Lastkraftwagen von Berlin nach Ispahan. Deutsches Nachkriegserleben im Orient. Berlin 1927.
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Probleme hatte, was sie ihrerseits gänzlich verschweigt, vielleicht um ihrer Aura als privilegierte Abenteurerin und Dichterin nicht zu schaden.
3 Der Empfang der deutschsprachigen Frauen durch die iranischen Frauen Sowohl Agnes Gabriel als auch Lotte Stratil-Sauer berichten von misstrauischen bis feindseligen Reaktionen der Dorfbevölkerung in den Wüsten der Lut oder des Kewirs auf sie. Agnes Gabriel erklärt das Misstrauen der Bewohner in entlegenen Dörfern wie zum Beispiel Madjbund im Biaban damit, dass sie sich nicht eigentlich vor den Europäern fürchteten, sondern vielmehr vor Räubern oder sogar den Angestellten der Regierung, welche die Dörfer plünderten. Weiter betont Agnes Gabriel, dass sie sich oft von den Einwohnern bedroht fühlte (wie in Anguhran, Darpahan oder Kuhbanan), da diese andauernd um Nahrung baten, mitunter sogar die Reisenden überfielen. Auch Lotte Stratil-Sauer unterstreicht die Habgier der Tochter ihres Gastgebers. Zugleich spiegeln etliche Stellen der Reiseberichte den Respekt der Einwohner vor den reisenden Frauen wider. Agnes Gabriel beschreibt die Sitte, die Reisenden bis zu ihrem nächsten Reiseziel zu begleiten, als „eine von den hübschen persischen Sitten“ und bezeichnet dies als „Ehrung“.⁶ Die Gastfreundlichkeit der Iraner wurde von den reisenden Frauen geschätzt, die sich während ihrer Reise wie Prinzessinnen vorkamen. Während Lotte Stratil-Sauer und Agnes Gabriel die Gastfreundlichkeit bewunderten, genoss Annemarie Nathusius den Luxus der Paläste, zum Beispiel in Bushire oder Schiraz. In ihrem Reisebericht vergleicht sie den Reichtum der europäischen Adligen mit dem Reichtum der wohlhabenden Iraner und schließt daraus, dass Persien Europa in vielem überlegen sei. Auch schätzte sie es, von vielen Militärs, Kaufleuten und Prinzen umgeben zu sein, die sie täglich in Ispahan besuchten. Sie liebte also die Ehrfurcht, mit welcher sie als Schriftstellerin von den Iranern behandelt wurde, als sei sie eine Nachfahrin des Hafez oder Saadi, und bedauerte zugleich, dass die Deutschen ihren Dichtern keinen Ehrenplatz mehr gönnen würden: „Ja, die Poeten des Westens sangen für sich allein oder nur für einen kleinen Kreis, und selbst die größten unter ihnen sind vergesen. Aber in Persien haben die Dichter ewiges Gedenken.“⁷ Schließlich scheinen die europäischen Reisenden für die Einheimischen den Fortschritt und das Wissen zu symbolisieren. Der Blick, den die Einheimischen Gabriel-Kummer 2003 (wie Anm. 1), S. 105. Nathusius 1926 (wie Anm. 4), S. 64.
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auf die Reisenden werfen, bildet einen scharfen Kontrast zu der Hilflosigkeit der Europäerinnen angesichts von Krankheiten. So waren Lotte Stratil-Sauer und ihr Mann damals verzweifelt, weil sie nichts außer Chinin besaßen, und sie versuchten damit zahlreiche Krankheiten zu heilen.⁸ Schweres Malariafieber schlage sich in Milzschwellungen nieder, die einen grausamen Tod herbeiführten. Sie stellten fest, dass ihre Apotheke den Einwohnern helfen konnte, aber „vielmehr noch der Wunderglaube der Verzweifelten an sie“⁹. Ein eindeutig positives Selbstbild liefert der Reisebericht von Nathusius. Von ihrem Aufenthalt in Teheran berichtet sie, dass sie der Reporter der größten Zeitung Persiens, Iran, interviewt habe. Außerdem habe sie einen „großen Dank und große Begeisterung“¹⁰ von den Frauen geerntet, vor denen sie im Frauenklub in Teheran gesprochen hatte. Diese Frauen hätten sich zusammengefunden, um dem Tschador den Krieg zu erklären, und Nathusius habe ihnen zugerufen, sie sollten gegen diese Form von Sklaverei kämpfen. Sie sei die „erste[] Europäerin“¹¹ gewesen, die versucht habe, den iranischen Frauen zu helfen. Sie scheint sich als Vorreiterin der Frauenemanzipation in Teheran zu betrachten, wobei sie keinerlei Selbstkritik oder Zweifel an der Notwendigkeit ihrer Aufklärungsarbeit äußert. Hier müssen wir daran erinnern, dass sie wegen ihrer für die 1920er Jahre provokanten Romane¹² heftige Kritik von Seiten ihrer Familie und des preußischen Adels eingesteckt hatte. Sie kämpfte nämlich in ihren Schriften gegen die damaligen gesellschaftlichen Normen, gegen die Gewalt in der Ehe, gegen die Heuchelei und die Erziehung der Mädchen zu tugendhaften Ehefrauen. Doch war sie dabei nicht so erfolgreich wie die politisch engagierten Frauenrechtlerinnen Minna Cauer oder Helene Stöcker.
Vgl. Gustav und Lotte Stratil-Sauer: Kampf um die Wüste. Ein Bericht über unsere Fahrten in die ostpersische Lut. Berlin 1934, S. 138. Ebd. Nathusius 1926 (wie Anm. 4), S. 129. Ebd., S. 115. Vgl. etwa Annemarie von Nathusius: Die Unerlösten. Eine Erzählung für Unmoralische. Berlin 1921.
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4 Bilder der iranischen Frauen in den deutschsprachigen Reiseberichten Christina von Braun und Bettina Mathes¹³ sowie Hilke Jabbarian¹⁴ unterstreichen die Tatsache, dass der Schleier in vielen Religionen dazu dient, die Frau als Verkörperung des Göttlichen vor dem Mann zu schützen. Die in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts veröffentlichten Reiseberichte der männlichen Iran-Reisenden zeigen häufig, dass der Schleier der Frauen entweder als mangelnde Freiheit oder als Symbol der Verführung verstanden wird. So bedauert Wipert Blücher zum Beispiel, dass die Frauen nicht alleine aus dem Haus gehen durften und dass sie im Tschador, „der die ganze Figur einschließlich des größten Teils des Gesichts vor den Blicken der Männerwelt verhüllte“¹⁵, gefangen waren. Während Bernhard Kellermann meint, sich erst davon überzeugen zu müssen, dass „lebende Wesen“ sich hinter den Tschadors versteckten¹⁶, bewundert Hermann Norden die magische Anziehungskraft der schwarzen Augen, die aus den Schleiern schauten¹⁷. Wie bei den männlichen Reisenden finden wir bei Annemarie Nathusius die Deutung des Schleiers als Frauengefängnis. Sie selbst sehnte sich nach Freiheit, als sie nach Persien reiste, und stieß bei ihrer Ankunft in Buschire auf „schwarzverschleierte Frauen, die sie da auch erschreckten“¹⁸. Auch das Gespräch, das sie daraufhin mit einem Lehrer in der Stadt führte, zeigt, dass der Schleier für sie als Zeichen der Demütigung und der Unterwerfung der Frau zu verstehen ist. Dabei überrascht die Emphase, mit der sie sich in ihrem Bericht für diesen Kampf gegen den Tschador einsetzt. So bedauert sie zum Beispiel: „Aber in Persien, wo man sich einer Verschleierten, Verhüllten, seelisch und körperlich Versteckten antrauen lässt, – welche Enttäuschungen, grausam wie mittelalterliche Folterungen, erwarten die beiden Beteiligten […]. Arme Frauen in Tschador und Niedrigkeit […].“¹⁹ Auch bezeichnet Nathusius die Frauen des Frauenclubs in
Vgl. Christina von Braun; Bettina Mathes: Verschleierte Wirklichkeit. Die Frau, der Islam und der Westen. Berlin 2007, S. 61. Vgl. Hilke Jabbarian: Der Schleier in der Religions- und Kulturgeschichte. Berlin 2009, S. 20. Wipert von Blücher: Zeitenwende im Iran. Erlebnisse und Beobachtungen. Biberach an der Riss 1949, S. 151. Bernhard Kellermann: Meine Reisen in Asien. Berlin 1941, S. 63. Hermann Norden: Persien wie es ist und war. Mit Karawane, Auto und Flugzeug durch Risas Königreich. Leipzig 1929, S. 195. Nathusius 1926 (wie Anm. 4), S. 29. Ebd., S. 131.
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Teheran als erste Opfer, die sich von Tausenden von Jahren Sklaverei befreien sollten. In ihrem Epitaph benutzt sie Nietzsches Worte „Euren Feind sollt ihr suchen, euren Krieg sollt ihr führen.“²⁰ Andererseits findet Nathusius den Orient selbst in den stummen Frauen hinter ihren Schleiern wieder. Der Orient sei wie die „schwarzverschleierten Frauen“²¹ hochmütig und den Fremden verschlossen, wobei sie anschließend das Fest Moharam erwähnt, das dem Gedenken an die Ermordung Husseins gewidmet ist. Ihre Befunde sind widersprüchlich, denn sie sieht in diesem Fest und den langen Umzügen die Zeichen des Fanatismus, nuanciert aber ihre Kritik mit folgender Frage: „[W]ie kommt Europa dazu, ihnen sein Wissen aufdrängen zu wollen?“²² Damit bezieht sich Nathusius auf die iranischen Völker, die in den „Ketten des Fanatismus“ lebten, die aber anderseits „ein Recht zu dieser Art des Lebens hätten“.²³ Für Nathusius hat das Verständnis für das Fremde hier seine Grenzen, denn für sie verdeutlichen die Schleier die Gewalt und den Fanatismus, wobei sie den radikalen Unterschied zwischen ihrem Glauben und dem der iranischen Frauen unterstreicht und somit die Schwierigkeit der Verständigung hervorhebt. Sie setzt weiter das Wissen dem Glauben entgegen, scheint aber zuweilen neidisch auf den unerschütterlichen Glauben im Iran zu sein, denn in Europa sei ein solcher Glaube verloren gegangen. Der Kampf gegen den Schleier symbolisiert auch den Kampf, den Nathusius gegen ihre eigenen Ketten führt. Sie bedauert die Abwesenheit iranischer Frauen im Parlament, während in Deutschland auch um das politische Recht der Frauen gekämpft werde und das Frauenwahlrecht erst 1918 errungen wurde. Wenn sich Nathusius mit dem Kampf mancher iranischen Frauen gegen den Schleier identifiziert, scheint sie somit ihren eigenen in Deutschland gescheiterten Versuch weiterführen zu wollen, sich selbst von ihrer konservativen Familie zu distanzieren. Sie wurde auf dem Rittergut Ludom in der Provinz Posen 1874 als Zweitälteste von fünf Geschwistern und zwei Halbgeschwistern geboren. Ihr Vater war Rittergutsbesitzer der Herrschaft Ludom bis 1891 sowie politischer Publizist, unter anderem Chefredakteur der Neuen Preußischen Zeitung (Kreuzzeitung) von 1872 bis 1876. Nathusius verlor sehr früh ihre Mutter. Anna Henriette Petzold (1842– 1883).
Ebd., S. 130. Das Zitat ist dem Abschnitt Vom Krieg und Kriegsvolke im ersten Teil von Nietzsches Also sprach Zarathustra (1883) entnommen. Vgl. Friedrich Nietzsche: Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe. Hrsg. v. Giorgo Colli; Mazzino Montinari. Bd. 4. München 1988, S. 58 – 60, hier S. 58. Nathusius 1926 (wie Anm. 4), S. 29. Ebd., S. 30. Ebd.
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Von 1887 bis 1890 war Nathusius Schülerin im Freiadeligen Magdalenenstift in Altenburg (Thüringen). Ihr Vater, der die Deutschkonservative Partei gegründet hatte, war ein Feind der Zivilehe. Schon früh prangerte Nathusius die heuchlerischen Konventionen der adligen Besitzer und des reich gewordenen bildungsfernen Kleinbürgertums sowie das oft tragische Schicksal der Frau im adligen Milieu an.²⁴ Ihre zum Teil widersprüchliche Darstellung (sie kritisiert einerseits ihr Milieu, bewundert anderseits den Prunk und den Luxus der gehobenen Schicht im Iran) zeugt von der Unmöglichkeit, sich von ihrem Milieu zu lösen. Wenn sie die iranischen Frauen von ihrem Schleier zu befreien versucht, trachtet sie eigentlich danach, sich von dem in Deutschland noch herrschenden Patriarchalismus zu befreien. Außerdem gibt sie zu verstehen, dass im Koran eigentlich nichts von diesem schwarzen Schleier stehe und dass dieses Gesetz in Wirklichkeit der Gesellschaft und den Priestern zuzuschreiben sei.²⁵ Nathusius stellt in Teheran fest, dass die Frau im Jahr 1924 in der Stadt vollkommen unterrepräsentiert sei. Sie sei wie ein Gespenst in ihrem schwarzen Tschador verhüllt, und man finde sie nirgends in Geselligkeit. Doch auch der Harem sei nicht ihr Haus, da sie dort dazu verdammt sei, im Schatten des Mannes zu leben.²⁶ Nathusius ist von ihren Besuchen in den Harems, wo sie von den Frauen um Hilfe gebeten wird, erschüttert. Auch hier benutzt sie das Wortfeld des Krieges und vergleicht das Leben der Frauen mit scheußlichen Kriegen um Macht. Die Frauen würden in den Harems wie schöne Lusttiere gehalten, nicht wie Menschen. Sie benutzt ausdrucksstarke Formulierungen wie „verbannt“ oder „verdammt“, um die Existenz der Frauen in den Harems zu kennzeichnen.²⁷ Lotte Stratil-Sauers Ausführungen über die iranischen Frauen bilden einen starken Kontrast zu denjenigen von Nathusius. Stratil-Sauer erwähnt den Schleier in ihrem Reisebericht nur sehr selten.Während sie ihre Freundin Nargiss zu einem Straßenschreiber führt, der Briefe, Bittschriften und Dokumente verfasst, fällt ihr ein, „wieviel Freiheit die Verschleierung der Orientalin doch eigentlich gibt; denn ahnungslos kann der Ehemann hier vorübergehen, indes seine Frau ihrem Liebsten einen Brief diktiert, oder er kann sie treffen, wenn sie gerade in das Haus ihres Freundes geht, während er der durch ihre Verhüllung namenlos Gewordenen
Vgl. Ruth Stummann-Bowert: „Es leuchtet meine Liebe“. Annemarie von Nathusius (1874– 1926). Eine adlige Rebellin. Würzburg 2011, S. 18 f. Nathusius 1926 (wie Anm. 4), S. 128: „So lautet das Gesetz der Gesellschaft, das Gesetz der Priester, nirgends geschrieben und doch da. Denn im Koran steht nichts vom schwarzen Schleier.“ Vgl. ebd., S. 127. Ebd., S. 126: Die Frau „ist verbannt vom Geschick ihres Vaterlandes, das ohne sie seinen Lauf nimmt“. Ebd., S. 127: Der Harem „ist verdammt, im Schatten zu leben“.
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höflich die Schwelle freigeben wird.“²⁸ An keiner Stelle ihres Berichts kritisiert sie den Schleier als Machtinstrument der Religion. Stratil-Sauer redet die europäischen Frauen an und wirft ihnen mittels rhetorischer Fragen vor, sich in einem Kampf zu engagieren, den sie nicht verstehen. Die Frauen im Harem seien sicher genauso glücklich wie die Frauen in Europa, die kein Recht dazu hätten, die iranischen Frauen „erlösen“²⁹ zu wollen. Sie zeigt den Harem als Ort, in dem der Chan, der ‚Herr‘ des Harems, als Patriarch herrsche, aber die Macht mit seiner Mutter teile. Sie interpretiert zwar den Harem als geschlossenen und langweiligen Raum, zeigt aber die Mühe, die sich der Chan gibt, um Ausflüge zu organisieren. Der Harem wird von Lotte Stratil-Sauer als Ort der Polygynie definiert, aber auch als Ort der Familie und der Begegnung, zum Beispiel zwischen der Autorin und den Frauen. Die Beschreibung der Vorbereitungen zur Verlobungsfeier zeugen von der großen Nähe zwischen der Autorin und den Frauen des Harems. Sie beschreibt sich als Zugehörige der Familie, da sie oft das Pronomen ‚wir‘ verwendet. So berichtet sie folgendermaßen von dem Baden vor der Feier: Welch eine Kur! Wir wurden eingedampft, mit Ruten geschlagen, mit Kaltgüssen ins Leben zurückgerufen, mit Eigelb eingeschrieben und Muskel um Muskel zerknetet, wir fühlten unseren alten Körper in Schmerzen und Müdigkeit dahinschmelzen, aber wir fühlten uns auch mit einem neuen, bis in die Knochen sauberen Körper wiedergeboren […]. Am Morgen führten mich die Mägde in das Zimmer der Weiblichkeit, wo Bibi sich soeben vor dem Spiegel niedersetzte. Auch ich bekam einen Platz auf dem Teppich zugewiesen.³⁰
Dieser letzte Satz scheint die Tatsache zu verdeutlichen, dass sich die Autorin geehrt fühlte, zu diesem Frauenkreis zu gehören. Der Harem erscheint hiermit nicht nur als Gefängnis, sondern auch als Ort, der von den Reisenden als angenehm empfunden wird.³¹
Stratil-Sauer 1952 (wie Anm. 2), S. 135 f. Stratil-Sauer 1934 (wie Anm. 8), S. 85. Stratil-Sauer 1952 (wie Anm. 2), S. 200 f. Ähnlich äußert sich Ulrike Stamm zu einem Reisebericht von Maria Belli aus dem Jahr 1846: Sie ziele „in ihrer Darstellung des Harems einerseits auf die Verwandlung dieses Ortes in den Raum privater Vertrautheit, der dessen ungeachtet aber […] nicht zum Ideal eines gegen die Außenwelt abgeschlossenen Heims stilisiert ist.“ Ulrike Stamm: Versionen der Haremsbeschreibung in Frauenreiseberichten des frühen 19. Jahrhunderts. In: Mirosława Czarnecka u. a. (Hrsg.): Der weibliche Blick auf den Orient. Bern u. a. 2011, S. 61– 82, hier S. 69.
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5 Die Nomaden-Frauen Die Reiseberichte von Agnes Gabriel-Kummer und Lotte Stratil-Sauer berichten auch von Frauen, die durch die Arbeit praktisch gezwungen sind, den Harem zu verlassen. Sie arbeiten mit anderen Frauen auf den Feldern oder in den Gärten. Agnes Gabriel beschreibt die Frauen bei der Webarbeit in Baloutchistan. Die Kleidungsvorschriften sind hier nicht so strikt wie bei den Frauen in den Städten. Zugleich bringt Agnes Gabriel diese Arbeit mit dem Elend derjenigen Frauen in einen Zusammenhang, die oft als Sklavinnen des Dorf-Chans leben. Weiter unterstreicht sie ihre Freundschaft zu Bibi Zainab, dank derer ihr Aufenthalt in Bizhenabad angenehm gewesen sei. Agnes Gabriel und ihr Mann konnten sie sogar fotografieren, und ein Foto von ihr befindet sich im Reisebericht von Alfons Gabriel.³² Lotte Stratil-Sauer erwähnt ihrerseits einige Frauen, die zusammen Wäsche im Bach waschen. Sie habe leicht mit ihnen Kontakte geknüpft, selbst wenn sich die Frauen zuerst vor dieser in ihren Augen ‚unreinen‘ Frau gefürchtet hätten. Sie bemerkt ferner, dass die Frauen in den Dörfern im Süden der Lut-Wüste viel ungezwungener mit ihrem Schleier umgingen: Auch wurde den Frauen in Ra’in die Freiheit nicht so beschränkt wie bei den vornehmen Konservativen in Stadt und Land. Auf der Gasse hielten sie ihren vom Scheitel bis zum Knöchel wallenden Umhang wohl mit der Linken in Augenhöhe vors Gesicht, um eine Verschleierung anzudeuten, aber schon beim ersten Streit mit dem Händler ließen sie ihn achtlos wieder sinken, und innerhalb der Nachbarschaft bewegten sie sich überhaupt unverhüllt. Da sie zumeist in den Gärten lebten, wäre eine Klausur im Frauengemach ohnedies sinnlos gewesen.³³
Der Reisebericht von Lotte Stratil-Sauer zeigt die Autorin in der Rolle einer Abenteurerin, die den Alltag der Nomaden-Frauen teilt. So berichtet sie von dem Dasein der Säfars, einer Familie, die im Süden von Madschon im ostpersischen Grenzgebiet lebte, mit ihren Festen und ihren Leiden. Ihre Erzählung ist ergreifend, wenn sie Säfar Khans Tochter und deren Krankheit erwähnt. Sie hatte nämlich versucht die Tochter zu heilen, aber es war ihr nicht gelungen. Damit hatte sie Maguj, die junge Tochter, enttäuscht, die sich so sehr auf die europäische Medizin gefreut und gebeten hatte: „Bitte, bitte, Hanum, gebt mir eine Medizin, dass auch ich so froh werden kann wie Gulsan, Bibi Sultan und alle hier!“³⁴ Die Autorin berichtet von ihrer eigenen Traurigkeit nach dem Tod des Kindes und
Vgl. Alfons Gabriel: Im weltfernen Orient. München 1929, S. 163. Stratil-Sauer 1952 (wie Anm. 2), S. 111. Ebd., S. 187.
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betont, dass es für sie schwierig sei, Kinder sterben zu sehen. Weiter bemerkt sie, dass der Orientale eigentlich mutiger als der Abendländler sterbe.³⁵ Nach einem Vierzeiler von Khajam, der die Philosophie Säfar Khans veranschaulicht, sieht man Lotte Stratil-Sauer am Tag des Brautversprechens, das heißt der Verlobung, von der sie im nächsten Abschnitt ihres Reiseberichts erzählt. Dieser Vierzeiler ist folgender: Ohne Heimat, ohne Ruh, ach, wohin wend ich mich? Ich wandre immerzu, ach, wohin wend ich mich, und jede Tür ist zu. Dich such ich. Fänd ich dich! Verstießest mich auch du, ach, wohin wend ich mich?³⁶
Diese Verse drücken die Suche nach Gott und Erlösung aus und bilden für die Autorin den Übergang zwischen der Schilderung der Trauer und der des Brautversprechens. Der Reisebericht verdeutlicht hier also die vielfältigen Erfahrungen der deutschsprachigen Frauen im Iran, die „,vom Tod mitten in das quirlende Leben‘“³⁷ fuhren. Sie erlebt die Feier gemeinsam mit den anderen Frauen des Harems und trägt dazu den Schleier, damit sie unentdeckt alles miterleben darf. Doch erklärt sie, dass, als der Schleier aus Versehen gefallen sei, niemand über ihre Anwesenheit erzürnt gewesen sei.
6 Schluss Die Reiseberichte der hier behandelten Autorinnen berichten oft von Begebenheiten des alltäglichen Lebens, zeigen aber eine andere Facette des Orients, die sich von dem Orient der Männer abhebt, da die Analyse der wirtschaftlichen und politischen Umbrüche hinter die menschlichen Überlegungen zurücktritt. Die Berichte sind an manchen Stellen widersprüchlich und spiegeln den harten Kampf der europäischen Frauen um ihre eigene Emanzipation wider. Darüber hinaus zeugen sie einerseits von den Schwierigkeiten der interkulturellen Beziehungen, anderseits aber auch von der Möglichkeit, den Alltag der iranischen Frauen zu teilen.
Ebd., S. 189. Ebd., S. 191. Es handelt sich um einen der berühmten Vierzeiler des persischen Dichters Omar Chayyam (11./12. Jh.). Ebd.
II Orientalismus heute
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„Sei ein Mann, Suleika!“ Orientalistische Objektbesetzungen in der symbolischen Imagination von Geflohenen Die Prozeduren kultureller Fremdrepräsentationen sind, wie andere Alteritätsdiskurse auch, aufs Engste mit den Dynamiken der Selbstvergewisserung verknüpft. Wenn nichts mehr den Konsens über die Realität der Außenwelt und die Identität des denkenden Subjekts mit sich selbst garantiert, kann das Nachdenken und Reden über das Fremde und die vermeintliche Eigenart des Nicht-Identischen allzu leicht zur neurotischen Dauerbeschäftigung geraten.¹ Der Versuch, die eigene Kultur durch die erstaunten Augen fiktiver Fremder zu betrachten, verfügt in Europa bekanntlich über eine lange Tradition. Im gebrochenen Spiegel imaginierter Beobachter*innen erscheint entweder das geliebte, nicht selten melancholisch-kulturpessimistisch verklärte oder aber das verhasste Selbstbild. Dass in dieser Dynamik besonders das sogenannte ,Orientalische‘ gleichzeitig den Nicht-Ort des eigenen ‚Nebenbewusstseins‘ und einen paradigmatischen symbolischen Trennungsstrich darstellt, ist allseits bekannt. Der Orient dient dabei als negative Projektion eigener Selbstkonstruktion und etabliert in seiner Differenz zugleich eine maßgebliche Ordnungsgrenze zur Regulierung westlicher Ein- und Ausschlussprozeduren: „Der Orient ist für das Abendland all das, was es selbst nicht ist.“² Ebenso bekannt ist, dass die westliche Kultur der kolonialen Moderne von besonders expansiven und gewalttätigen Verfahren der selbstkonstituierenden Weltentzauberung geprägt ist. Aber die historische Dynamik des Orientalismus erschöpft sich nicht in der Dialektik von Fremddarstellung und Selbstkonstruktion. Sie umfasst mehr als nur die Herstellung fremdkultureller Zeichensysteme. Die orientalisierten Anderen sind trotz des imaginierten Referenzkorpus keine bloßen Metaphern für das Fremde ohne innerweltliche Existenz. Dies wurde zuletzt im Zuge der sogenannten
Vgl. Peter Weber-Schäfer: Wie europäisch ist die Moderne? Eine zivilisationsvergleichende Reflexion. In: Peter Hampe (Hrsg.): Symbol- und Ordnungsformen im Zivilisationsvergleich. Tutzing 1990, S. 31– 58, hier S. 34. Michel Foucault: Wahnsinn und Gesellschaft: Eine Geschichte des Wahns im Zeitalter der Vernunft [franz. 1961]. Übers. v. Ulrich Köppen. Frankfurt/M. 1969, S. 10. Zum Konzept des ‚Nebenbewusstseins‘ siehe ausführlich Munasu Duala-M’bedy: Xenologie. Die Wissenschaft vom Fremden und die Verdrängung der Humanität in der Anthropologie. Freiburg und München 1977, S. 23 – 29. https://doi.org/10.1515/9783110669428-004
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,Flüchtlingskrise‘ deutlich. Von dieser Beobachtung nimmt meine Argumentation ihren Ausgang. Die postkoloniale Revision des herkömmlichen Geltungsanspruchs europäischer Fremdrepräsentation als Darstellung mit widerspruchs- und zweckfreiem referenziellen Gehalt hat die Idee des Orients inzwischen als antagonistische Projektion und negatives Supplement normativ gesetzten Europäertums entlarvt. Doch obschon die rigorose kulturgeographische Trennung von Orient und Okzident in kritischen Wissenschaftskontexten inzwischen als obsolet gilt, ist die Autorität des orientalistischen Repräsentationssystems keineswegs gebrochen. Das gilt für wissenschaftliche Debatten ebenso wie für die Diskurse der Politik, der Werbung oder der Tourismusindustrie. Die politisch-ideologischen und soziokulturellen Extrapolationen des Orientalismus beeinflussen nach wie vor konkrete Lebensverhältnisse. Dabei trägt nicht nur das Fortschreiben des Topos in den Massenmedien zur Konservierung rassistischer und kulturessentialistischer Typologien bei. Gerade weil es unmöglich erscheint, exakt zu benennen, wie das Gebiet einzugrenzen wäre, zu dem die sogenannten ,Orientalen‘ oder die ‚orientalische‘ Kultur gehören, konnte der ebenso diffuse wie überdeterminierte Diskurs bis heute seine Wirkungsmacht in sehr verschiedenen Lebenszusammenhängen konsolidieren. Es mag also sein, dass der westliche Diskurs über den Orient primär als selbstbezüglicher Identitätsdiskurs zu deuten ist. Dennoch ist die Denunzierung fremder Reden, Gesten und Taten nicht hinreichend analysiert, solange sie nicht im historischen Spannungsfeld von materiellen Machtrelationen und Herrschaftswissen platziert wird. Trotz seiner imaginären Herkunft kann das diskursive Konstrukt des Orients als politische Kategorie, als Ordnungsmuster kultureller Differenzsetzung oder geostrategisches Planungsfeld nach wie vor enormen Anteil an der Konsolidierung und Transformation konkreter Lebensverhältnisse an sehr verschiedenen Orten erhalten. Davon sind derzeit nicht zuletzt jene Menschen betroffen, die aus den Herkunftsregionen des Nahen Ostens oder Afrikas nach Europa zu fliehen versuchen. Insofern gibt es im Kontext der aktuellen deutschen Flüchtlingsdebatte keinen Anlass, von einem anderen oder positiven Orientalismus zu sprechen. Diese Sichtweise erscheint genauso wenig plausibel wie der Versuch, Rassismus in einer positiven Variante zu denken. Der Skandal des fortwährenden orientalistischen Rassismus liegt zuvorderst nicht im Denken eines schlechthin Fremden, das nicht existiert. Das eigentliche Grauen bilden die fortwirkenden diskriminierenden Effekte orientalistischer Objektbesetzungen, obwohl die oder der orientalische Fremde von Natur niemals existiert hat.³
Vgl. hierzu wie zum Vorangegangenen meinen folgenden Beitrag: Archäologien des okzidentalen Fremdwissens und kontrapunktische Komplettierungen − Edward W. Said: „Orientalism“
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Im Folgenden fahnde ich nach den widersprüchlichen Konfliktmustern orientalistischer Objektbesetzungen in der symbolischen Repräsentation von Fluchtmigrant*innen. Meine Argumentation richtet sich zuvorderst auf das psychosoziale Feld des Imaginären und weniger auf die den dominanten Imaginationen vorausgehenden ereignisgeschichtlichen Wahrheiten. Mich interessieren die in den ausgemachten Konfliktstrukturen anzutreffenden Alteritätsmuster primär hinsichtlich ihrer halb- und unbewussten Anteile. Ich gehe davon aus, dass die in unserer eigenen politischen Gegenwart fortwirkenden Effekte des Orientalismus auch und besonders in der aktuellen psychologischen Dialektik von Fremddarstellung und Selbstkonstruktion zu untersuchen sind.⁴ Aber das orientalistische Imaginäre ist keineswegs als unwirklich oder irrelevant abzutun. So wie die imaginierten Geographien des literarisch-künstlerischen Orientalismus entscheidende ideologische Möglichkeitsbedingungen für koloniale Landnahmen darstellten, wirken auch die Imaginationen von Fliehenden und Geflohenen direkt auf politische Formen gesellschaftlichen Austausches sowie die legalistischen Kodifizierungen von (Zugehörigkeits‐)Grenzen und Einwanderungsprozeduren. Für die jüngste deutsche Flüchtlingskrisendebatte lässt sich insgesamt ein äußerst ambivalentes Pendeln zwischen der Behauptung solidarischer Aufnahmeund zweckfreier Assimilationslust einerseits und den Machtäußerungen hierarchischer Aneignung und phobischer Abwehr andererseits beobachten. Um meine Diskussion eben dieses Pendelns in einen größeren historischen Deutungszusammenhang zu stellen, unternehme ich zunächst einen Rekurs zu Johann Wolfgang Goethe und damit zu jenem literarischen Orient-Emigranten, der selbst fast zweihundert Jahre nach seinem Tod wie wohl kein anderer als nationaler Lehrmeister eines gleichermaßen uneigennützigen wie respektvollen Orientalismus größtmöglicher dialogischer Identifikation gilt. Friedrich Nietzsches parodistische Kritik alteuropäischer Orientalismen im tropologischen Possenspiel des Zarathustra soll abschließend als polemisches Korrektiv zum goetheanischen Paradigma zweckfreier Fremdwissenslust sowie als quasi post-moralische Erinnerung an die nicht eingelösten ethischen Ansprüche unserer vorgeblich selbstlosen europäischen Flüchtlingspolitik dienen.
und „Culture and Imperialism“. In: Julia Reuter; Alexandra Karentzos (Hrsg.): Schlüsselwerke der Postcolonial Studies. Wiesbaden 2012, S. 109 – 120. Mich interessiert also jene Dialektik, die in der sogenannten kolonialen Diskursanalyse (verstanden als Analyse des orientalistischen Repräsentationssystems und seiner Macht-/WissenEffekte) aufgrund der ihr eigenen Hervorhebung der Wechselwirkung von darstellender Autorität und materieller Machtausübung allzu oft nur wenig oder keine Berücksichtigung findet. Das trifft auch für Saids Studie von 1978 zu: Edward Said: Orientalism [1978]. New York 2003.
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1 West-östliche Flucht Beharrlich hält sich hierzulande die Behauptung, beim ,deutschen Orientalismus‘ handele es sich um einen vom vorherrschenden (neo‐)kolonialen Umgang mit außereuropäischen Kulturen deutlich abweichenden nationalen Sonderweg. Als Beleg werden regelmäßig die Arbeiten Georg Forsters, Johann Gottfried Herders, Friedrich Rückerts und Johann Wolfgang Goethes herangezogen. Besonders Goethes West-östlicher Divan ⁵ avanciert inzwischen geradezu zu einem kulturpolitischen Programm dialogischen Verstehens und identitärer Grenzüberwindung zwischen den Kulturen.⁶ Schenkt man der verbreiteten These eines von den politisch-strategisch angeleiteten Repräsentationen des französischen oder britischen Kolonialismus signifikant abweichenden deutschen Orientalismus Glauben, dann ist diese zuerst im literarisch-philosophischen Diskurs des frühen 19. Jahrhundert herausgebildete nationale Variante von dem aufrichtigen Bemühen interkultureller Übersetzungen und nicht von eigennützigen Motiven kolonialer Expansion und Landnahme gekennzeichnet.⁷ Leo Kreutzer postuliert für Goethe noch euphemistischer einen „ungleichzeitig präkolonial[en]“ Diskurs von „erstaunlicher postkolonialer Aktualität“. Nicht aus der Außenposition imperialer Ambitionen nähere sich demnach die deutsche Geistesgröße ihrem Gegenstand, sondern im Bemühen um größtmögliche Identifikation „von innen“.⁸ Gemäß dieser Lesart der orientalistischen Werke Goethes, Herders und anderer deutscher Denker geht es darin zuvorderst um die Anerkennung geteilter Humanität in kultureller Vielfalt. Sehr ähnlich argumentieren schon seit langer Zeit die Apologet*innen der deutschen Islamwissenschaft. Obschon die unter kolonialen Bedingungen generierten und zirkulierten Fremdbilder der britischen und französischen Orientalistik auch in der von den Methoden der philologischen Texterschließung und historischen Quellenkritik beherrschten deutschen Orientalistik verfestigt und erweitert wurden, gelang es den Arabist*innen und Islamwissenschafler*innen
Johann Wolfgang von Goethe: West-oestlicher Divan [1819]. Hrsg. v. Joseph Kiermeier-Debre. München 1997. Vgl. Anil Bhatti: „… zwischen zwei Welten schwebend …“ Zu Goethes Fremdheitsexperiment im West-östlichen Divan. In: Hans-Jörg Knobloch; Helmut Koopmann (Hrsg.): Goethe. Neue Ansichten – Neue Einsichten. Würzburg 2007, S. 103 – 122, hier S. 103. Vgl. Andrea Polaschegg: Der andere Orientalismus. Regeln deutsch-morgenländischer Imagination im 19. Jahrhundert. Berlin; New York 2005. Leo Kreutzer: Goethes West-östlicher Divan. Projekt eines anderen Orientalismus. In: Études Germaniques 60 (2005), S. 249 – 264, hier S. 253 f. Vgl. auch ders.: Goethes Moderne. Essays. Hannover 2011, S. 68 – 90.
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sehr lange erfolgreich, die bereits 1981 ins Deutsche übertragene OrientalismusStudie Edward Saids zu ignorieren⁹ oder als unwissenschaftliches „Pamphlet“¹⁰ abzutun. Die Warnung vor einem geistigen Imperialismus halten viele Fachvertreter*innen aufgrund der historischen Spezifität der deutschen Orientalistik für unbegründet.¹¹ Die von Said ausgelöste internationale Debatte fand in der Folge überwiegend ohne deutsche Beteiligung statt. Jene nützliche Wirkung der Orientalismus-Studie, die manche Anfang der 1980er Jahre antizipierten¹², blieb in den deutschen Fachdebatten weitgehend aus, sodass bereits zehn Jahre nach dem Erscheinen von Orientalism der darin entwickelte Orientalismus-Begriff schlicht für obsolet erklärt werden konnte.¹³ Die Behauptung, Saids Kritik sei methodisch und inhaltlich widerlegt, avancierte inzwischen nicht nur bei deutschen OrientForscher*innen zu einem kaum weiter hinterfragten Axiom. Umfassende genealogische Studien zur historischen Genese und fortwirkenden Macht des akademischen und außerakademischen Orientalismus deutscher Provenienz stehen nach wie vor aus. Dabei wird regelmäßig die genuin deutsche Aneignung der islamischen Welt mit dem ebenso weit verbreiteten wie unhaltbaren Verweis auf die weitgehend ausgebliebene deutsche Kolonialerfahrung von dem Orientalismus-Verdikt freigesprochen.¹⁴ Obschon sich also hierzulande die Behauptung, beim deutschen Orientalismus handele es sich um einen nationalen, einen besseren Sonderweg, als äußerst langlebig erwies, finden sich seit geraumer Zeit vermehrt solche Stimmen aus dem Inneren und Äußeren der akademischen Disziplin, die das Unbehagen an den historisch gewachsenen Macht-Wissenskonfigurationen klar zum Ausdruck bringen und gerade mit Blick auf die Entwicklung seit den Terroranschlägen vom 11. September 2001 und dem soge Edward Said: Orientalismus [engl. 1978]. Frankfurt/M. 1981. Der ehemalige Vorsitzende der Deutschen Morgenländischen Gesellschaft (DMG), Hans Robert Roemer, zit. nach: Bassam Tibi: Orient und Okzident. Feindschaft oder interkulturelle Kommunikation? Anmerkungen zur Orientalismus-Debatte. In: Neue Politische Literatur 29 (1984), H. 3, S. 267– 286, hier S. 269. Vgl. Friedemann Büttner: Situation, Structure and Functions of Contemporary Oriental Studies in the Federal Republic of Germany. Spiritual Imperialism or Bridge of Intercultural Communication. In: Dieter Bielenstein (Hrsg.): Europe’s Future in the Arab View. Dimensions of a New Political Cooperation in the Mediterranean Region. Saarbrücken; Fort Lauderdale 1981, S. 71– 88, hier S. 75 – 77. Vgl. Maxime Rodinson: La fascination de l’Islam. Paris 1980. Vgl. Hartmut Fähndrich: Orientalismus und Orientalismus. Überlegungen zu Edward Said, Michel Foucault und westlichen „Islamstudien“. In: Die Welt des Islams 28 (1988), S. 178 – 186, hier S. 179. Vgl. z. B. Baber Johansen: The Development of Islamic Studies in the Federal Republic of Germany. In: Tareq Y. Ismael (Hrsg.): Middle East Studies. International Perspectives on the State of the Art. London; New York 1990, S. 71– 130, hier S. 116.
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nannten globalen ,War on Terror‘ sowie angesichts des anti-muslimischen Charakters der aktuellen Flüchtlingsdebatte vor der fortschreitenden Politisierung und einseitig ideologischen Instrumentalisierung der Islamforschung warnen.¹⁵ An dieser Stelle kann die Behauptung einer anderen und besseren, eben spezifisch deutschen Tradition der Orientrepräsentation – die sich unschuldig gebende These eines deutschen orientalistischen Sonderweges – selbstverständlich nicht umfassend widerlegt werden. Aber wie plausibel ist die nach wie vor in deutschen Publikationen und Konferenzen zu dem Thema Dialog mit dem Islam oder Dialog mit der arabischen Welt anzutreffende Indienstnahme Goethes als Beispiel respektvollen interkulturellen Austausches? Im Deutschland des 18. Jahrhunderts, das sich nicht als politische Einheit manifestierte, löste die Spekulation über das ,Natürliche‘ bekanntlich keine Revolution aus, sondern ging in eine literarisch-philologische Bewegung ein. Das sogenannte ,Orientalische‘ hatte bei Johann Georg Hamann, Herder oder Jacob Grimm zuvorderst geholfen, das archäologische Feld der eigenen Vergangenheit zu betreten, um die eigene historische Identität zu spezifizieren. Besonders die Frühromantik war von einer Empfänglichkeit für alles charakteristisch Fremde, fremde Kunstwerke, Religionen und Kulturen geprägt. Erstmals geriet eine Konstellation ins Wanken, die bis dahin von der xenophoben Vorstellung eines aggressiven und inhumanen orientalischen Menschen ausging. Diese Entwicklung fand im Divan einen ersten Höhepunkt. Wie zahlreiche seiner Zeitgenossen hatte sich Goethe seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert intensiv mit einem Werk der arabischen Literatur beschäftigt, das zuerst zwischen 1704 und 1717 von Antoine Galland als Les mille et une nuits veröffentlicht wurde.¹⁶ Als sich die zur Verfügung stehenden arabischen, persischen und türkischen Quellen mehrten, forderte der Proto-Orientalist Herder eine eigene Wissenschaft zur Interpretation eben dieses Materials. Er hatte offenbar Goethe bereits 1770/71 zur Lektüre des Korans ermutigt.¹⁷ Aber der wichtigste Impuls zur künstlerisch-literarischen und philosophischen Selbstorienta-
Kritische Ansätze finden sich etwa bei Roman Loimeier: Edward Said und der Deutschsprachige Orientalismus. Eine Kritische Würdigung. In: Stichproben. Wiener Zeitschrift für kritische Afrikastudien 1 (2001), H. 2, S. 63 – 85; Alexander Hariri: Das Paradigma der „islamischen Zivilisation“ – oder die Begründung der deutschen Islamwissenschaft durch Carl Heinrich Becker (1876 – 1933). Würzburg 2005; Achim Rohde: Der Innere Orient. Orientalismus, Antisemitismus und Geschlecht im Deutschland des 18. bis 20. Jahrhunderts. In: Die Welt des Islams 5 (2005), H. 3, S. 370 – 411; Abbas Poya; Maurus Reinkowski (Hrsg): Das Unbehagen der Islamwissenschaft. Ein klassisches Fach im Scheinwerferlicht der Politik und der Medien. Bielefeld 2008 sowie Schirin Amir-Moazami (Hrsg.): Der inspizierte Muslim. Zur Politisierung der Islamforschung in Europa. Bielefeld 2018. Vgl. Antoine Galland: Les mille et une nuits. Paris 1806. Siehe zu dieser These Katharina Mommsen: Goethe und 1001 Nacht. Berlin 1960, S. 166.
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lisierung ging von dem österreichischen Orientalisten Joseph von HammerPurgstall aus. Dieser hatte 1809 die Zeitschrift Fundgruben des Orients gegründet und Goethe veranlasst, im Orient das höchste Romantische zu suchen. Seine 1812/13 erschienene Hafiz-Übersetzung bildet schließlich die maßgebliche Quelle für die Abfassung des Divan. Zu Anfang des 19. Jahrhunderts, als Deutschland die Resultate der Französischen Revolution vor Augen standen, flüchteten zahlreiche Dichter und Denker des Landes in die Sprachen und Weisheiten fremder Kulturen. Der Divan-Dichter bildet in dieser Hinsicht keine Ausnahme. Bei Goethes universalästhetischer Hegire handelt es sich – wie es in dem gleichnamigen Gedicht heißt, das den ersten Gedichtzyklus des Divan, Moganni Nameh, das Buch des Sängers, eröffnet – um die reaktionäre Flucht vor „bersten[den] Throne[n]“ und „zittern[den] Reiche[n]“ in die „Patriarchenluft“ des „reinen Osten“.¹⁸ Eine ganz andere, nämlich verjüngende Wirkung erhoffte sich der alternde Geheimrat offenbar von der deutlich jüngeren Schauspielerin und Tänzerin Marianne von Willemer, die er 1814 in der alten Mainheimat als verheiratete Frau kennengelernt hatte und die den dialogischen Höhepunkt des Divan, das Suleika Nameh, möglich machte.¹⁹ Darin avanciert die als Suleika orientalisierte Geliebte zum ebenso selbstlosen wie selbstkonstitutiven Gegenüber des in der dichterischen Stimme Hatems auftretenden Goethe: Wie sie sich an mich verschwendet, Bin ich mir ein werthes Ich; Hätte sie sich weggewendet, Augenblicks verlör ich mich.²⁰
Obschon es sich beim Divan augenscheinlich nur um ein erotisch-eskapistisches dichterisches Unterfangen ohne Bezug zur materiellen Wirklichkeit des Nahen Ostens handelt, ist nicht zu übersehen, dass auch Goethes poetischer Orientalismus deutliche Filiationsbeziehungen zu den kolonialen Alteritätsdiskursen der aufstrebenden europäischen Orientalistik unterhält. Es sind Herder, HammerPurgstall und Rückert, die ihn zuerst an das orientalistische Material heranführen. Dem Leiter der kolonialen Pariser École spéciale des langues orientales vi-
Goethe 1997 (wie Anm. 5), S. 9. Vgl. Dagmar von Gersdorff: Marianne von Willemer und Goethe. Geschichte einer Liebe. Frankfurt/M. 2003. 1869 gelang der Nachweis, dass einige Gedichte des Buches von Marianne von Willemer selbst stammen. Siehe hierzu das Nachwort Buch der Lieder von Joseph Kiermeier-Debre zu Goethe 1997 (wie Anm. 5), S. 245 – 258, hier S. 247. Goethe 1997 (wie Anm. 5), S. 139.
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vantes, Silvestre de Sacy, huldigt Goethe in seinen Noten und Abhandlungen zu besserem Verständnis des west-oestlichen Divans als „Unserm Meister“²¹. Den Leiter der Asiatic Society of Bengal im britisch besetzten Kalkutta, Sir William Jones, nennt er den „unvergleichliche[n] Jones“²². Auch wenn der „Westländer“²³ den 1390 verstorbenen persischen Dichter Hafiz als seinen geistigen „,Zwilling‘“²⁴ preist, kennt seine Identifikation mit den Menschen der zeitgenössischen muslimischen Welt klare moralische Grenzen. Wovon Goethe sich deutlich distanziert, „ist die geistige und körperliche Unterwürfigkeit [des Orientalen, M.S.] unter seinen Herren und Oberen, die sich von uralten Zeiten herschreibt“²⁵. Der DivanDichter reproduziert in den Noten und Abhandlungen nicht nur den orientalistischen Despotiediskurs seiner Zeit, sondern verknüpft diesen mit einer biologistisch-rassistischen Festschreibung. Seine poetische Reise will nicht das politisch Gegenwärtige übersetzen. Es handelt sich eher um eine Art Flucht aus der Zeit in ferne Jahrhunderte.²⁶ Goethes Poesie-Orient erhält die Funktion eines in die Vergangenheit projizierten „utopischen Modellfalls“.²⁷ Hinsichtlich dieser exotisierenden Praxis der geistigen Identifikation mit einem (re‐)konstruierten orientalischen Arche-Anderen unterscheidet sich seine romantische Indienstnahme der nicht-okzidentalen Literatur kaum von den selbstregenerativen Translationsübungen seiner Zeitgenossen. In psychoanalytischer Lesart orientalisiert sich das deutsche Dichtersubjekt mittels einer (Lust‐)Objekt-Wahl, in welcher kulturelle Differenz anscheinend zuvorderst ex negativo Anerkennung findet. Goethes Fremdbegehren gilt einem feminisierten und in der Figur Suleikas paradigmatisch repräsentierten Orient. Diese/s jeder machtvollen oder bedrohlichen Differenz beraubte Andere ist funktional durch seine/ihre ersatzidentitätsstiftende Rolle determiniert. Seine/ihre fetischistische Fixierung erlaubt das Abwenden von drohenden politischen Revolutionen wie von dem eigenen Altern. Der geistigen Landschaft des Idealismus und der Romantik entwachsen und den historischen Bedingungsrahmen von Philologie und Hermeneutik erwidernd, antizipiert Goethes kulturelle Kolonialisierung des Orients insofern eine spezi Johann Wolfgang von Goethe: Noten und Abhandlungen zu besserem Verständnis des westoestlichen Divans. In: ders.: West-östlicher Divan. Hrsg. v. Ernst Beutler. Bremen 1956, S. 149 – 308, hier S. 308. Zit. nach: Annemarie Schimmel: West-östliche Annäherungen. Europa in der Begegnung mit der islamischen Welt. Stuttgart 1995, S. 60. Goethe 1956 (wie Anm. 21), S. 199. Schimmel 1995 (wie Anm. 22), S. 66. Goethe 1956 (wie Anm. 21), S. 199. Vgl. Monika Lemmel: Poetologie in Goethes west-östlichem Divan. Heidelberg 1987, S. 14. Georg Stauth: Islam und westlicher Rationalismus. Der Beitrag des Orientalismus zur Entstehung der Soziologie. Frankfurt/M.; New York 1993, S. 115.
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fisch deutsche und bis in die Gegenwart fortwirkende Soziologisierung des Orients in selbstkonstitutiver Absicht. Das kosmopolitische Interesse an der Vielfalt und Eigenart der Weltliteraturen gilt dabei nicht primär dem Fremdverstehen, sondern der Selbsterzeugung. Es dient gewissermaßen gleichzeitig zu weniger und zu mehr als nur der bloßen materiellen Beherrschung.²⁸ Nachfolgende Generationen sollten das von Goethe entwickelte Modell adaptieren und erweitern. Bald trägt man auch auf deutschen Straßen die sogenannte orientalische Mode oder ,Türkenmode‘ und weicht in Architektur und Design der Strenge des antikisierenden Stils aus. Der Poesie-Orient gerät beinahe zur gesamtkulturellen Maskerade. Seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert – also auf dem Höhepunkt der kolonial-militärischen Expansion Europas – sollten immer mehr Deutsche aus den feuchtkalten Wintern ihres Heimatlandes in die wärmende Sonne Ägyptens fliehen. Heute nutzen breite Massen die der post-revolutionären Tourismuskrise geschuldeten Sonderangebote für Reisen an die Strände des Roten Meeres oder des nordafrikanischen Mittelmeeres. Für all dies lässt sich Goethe kaum verantwortlich machen. Dennoch erscheint es unerlässlich, auf die hegemonialen Voraussetzungen seines kulturellen Kolonialismus hinzuweisen. Zum einen findet dieser seine textuellen Grundlagen in den konkreten militärisch-politischen Herrschaftsverhältnissen und den gelehrten Wissensarchiven des Kolonialismus und Imperialismus. Zum anderen handelt es sich hier um ein bis in unsere eigene Gegenwart wirkendes Projekt, das mit großer Selbstverständlichkeit die Tätigkeit der kulturellen Übersetzung zu einer genuin europäischen Aufgabe erklärt. Für Goethe jedenfalls steht 1819 fest, dass die als notwendig erachtete interkulturelle Horizonterweiterung nur eine Bewegungsrichtung haben kann. Sein Appell in den Noten und Abhandlungen muss in orientalismuskritischer Lesart zu einem Hinweis auf die vereinnahmende Autorität der westlichen Alteritätsindustrie umgedeutet werden: „Wollen wir an diesen Produktionen der herrlichsten Geister teilnehmen, so müssen wir uns orientalisieren, der Orient wird nicht zu uns herüberkommen.“²⁹
2 Ost-westliche Flucht Goethes Leser*innen konnten sich sicher sein: Sie würden auf des Meisters dichterischen Wortbrücken in einen Poesie-Orient ferner Jahrhunderte migrieren, ohne den Menschen des zeitgenössischen Nahen Ostens begegnen zu müssen.
Vgl. ebd.; ferner Bhatti 2007 (wie Anm. 6), S. 103 – 122. Goethe 1956 (wie Anm. 21), S. 213.
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Aber entgegen Goethes Prognose ist der Orient längst zu uns herübergekommen – nicht nur als so genannte Arbeitsmigrant*innen, als migrierende Texte postkolonialer Schriftsteller*innen und Theoretiker*innen oder in Form von Flugkörpern, die von terroristischer Hand gesteuert sind, sondern besonders in jüngster Zeit eben auch in Gestalt geflohener Menschen aus den Ländern des Nahen Ostens und Nordafrikas. Spätestens seit dem Sommer 2015 steht in Deutschland wie in zahlreichen anderen Mitgliedsstaaten der Europäischen Union regelmäßig die versuchte und tatsächliche Fluchtzuwanderung von Menschen außereuropäischer Herkunft im Mittelpunkt der massenmedialen und politischen Aufmerksamkeit. Nicht zuletzt vor dem Hintergrund der eskalierenden Gewalt in Syrien und im Irak versuchten mehrheitlich Menschen arabisch-muslimischer Herkunft vor Krieg, Not und Verfolgung nach Deutschland zu fliehen. Der abrupte Anstieg der Asylbewerber*innenzahlen führte nicht nur zu einer als Krise empfundenen besonderen Herausforderung des für die Erstaufnahme zuständigen Verwaltungsapparates und der Infrastruktur. Die eigentliche Krise der deutschen Mehrheitsgesellschaft betraf offenbar die unliebsame Frage nach der eigenen flüchtlingspolitischen Verantwortung. Spätestens mit dem Tod des im September 2015 auf der Flucht nach Europa ertrunkenen syrisch-kurdischen Kleinkindes Aylan Kurdi schien es nicht länger möglich, weiterhin die Augen vor dem Sterben an den europäischen Außengrenzen zu verschließen. Die angesichts der langen Vorgeschichte externalisierter Grenzgewalt und unterlassener Hilfeleistung durch das europäische Grenzregime heuchlerisch anmutende Empörung kann fraglos als Ausdruck einer moralischen und politischen Krise gedeutet werden. Sie war aber vielleicht ebenfalls das Symptom eines psychischen Konfliktes zwischen widerstreitenden Anteilen des deutschen Selbst. Um das als störend verdrängte Flüchtlingsleid und die damit einhergehende Einwanderung der öffentlichen Debatte und damit einer zumindest bedingt selbst-bewussten Reflexion zuzuführen, mussten offenbar beträchtliche Widerstände überwunden werden. Die bis dahin weitgehend unhinterfragte Allianz mit einem Grenzregime systematischer und regelmäßig tödlicher Ausgrenzung konnte vorübergehend in aktive Empathie und Solidarität mit den vom Tod an der Grenze Bedrohten überführt werden, nachdem der tradierten Flüchtlingsfigur des männlichen Proto-Immigranten in der massenmedialen Repräsentation ihre als bedrohlich erachteten Eigenschaften genommen wurden. Da es sich bei der überwiegenden Zahl der Fluchtmigrant*innen um Araber*innen und Muslime handelte, waren und sind diese in besonderer Weise von der fortwirkenden Macht tradierter Fremdstereotype betroffen. Das öffentliche Reden über die allgemein als ,Flüchtlingskrise‘ bezeichnete Situation knüpfte an eine orientalistische Tradition an, in der das Gegensatzpaar Orient/Okzident als cross-kulturelle Entsprechung zur innereuropäischen Dichotomie Unvernunft/Vernunft fungiert. Besonders die negative
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Objektbesetzung islamophober Diskurse hat sich fest in institutionalisierten Ordnungen wie politischen Praktiken des hegemonialen deutschen Immigrations- und Integrationsdiskurses eingeschrieben.³⁰ Wie in anderen westlichen Nationalstaaten wird auch hierzulande regelmäßig die kulturessenzialistische Trennung zwischen islamischer Tradition und westlicher Modernität bemüht, um in den Einwanderungs- und Integrationsprozeduren die Grenzen moralischer wie rechtlicher Zugehörigkeiten zu ziehen.³¹ Dennoch glaubten viele im Herbst 2015, in der nationalen Flüchtlings- und Einwanderungspolitik der Bundesregierung mehr als lediglich einen den unabwendbaren Faktizitäten geschuldeten Pragmatismus zu erkennen. Manche wollten gar eine von Deutschland angeführte nachhaltige humanitäre Wende der europäischen Flüchtlingspolitik erkennen. Aber das international vielbeachtete kurze deutsche Zwischenspiel von vordergründig ebenso selbstloser wie grenzenloser Hilfsbereitschaft und Gastfreundschaft ist längst Geschichte. Angesichts der Kontinuitäten von Protesten, Brandanschlägen und gewaltsamen Übergriffen auf Geflohene war das Spätsommermärchen von Deutschen, die international solidarisch und gleichzeitig in dieser Welt mit sich selbst glücklich sein konnten, anscheinend nie ungebrochen wahr. Spätestens die medialen und politischen Reaktionen auf die Ereignisse der Kölner Silvesternacht 2015 markierten einen nicht nur in geschlechtertheoretischer Hinsicht entscheidenden Wendepunkt. Innerhalb weniger Monate schlug das initial-affektive Mitgefühl erneut offen in die alten Muster xenophober Abwehr- und repressiver Assimilationsforderungen um. Letztere werden heute vielleicht noch stärker als zuvor mit dem Verweis auf die vermeintlich intrinsische kulturelle Fremdheit und besondere Integrationsbedürftigkeit bzw. Integrationsunfähigkeit arabisch-muslimischer Menschen fundiert. Die Rede vom muslimischen Patriarchalismus, männlich-arabischen Sexismus oder über die Rolle von Frauen im Islam erlebt seitdem eine erneute Inflation. Unverändert werden Menschen an den vorgelagerten Außengrenzen Europas festgehalten, in Wüsten ausgesetzt, in tödliche Überquerungen des Mittelmeers gezwungen oder mit Verweis auf ihre Herkunft auf vermeintlich sichere Herkunftsländer in nicht minder lebensbedrohende Umstände abgeschoben. Die EU delegiert ihre asylrechtliche Verantwortung weiter an die Länder am Süd- und Ostufer des Mittelmeers und ist zu diesem Zweck in noch stärkerem Umfang als je zuvor bereit, sich mit autoritären Regimen zu verbünden. Während Vgl. Kien Nghi Ha; Markus Schmitz: Der nationalpädagogische Impetus der deutschen Integrations(dis)kurse im Spiegel post-/kolonialer Kritik. In: Paul Mecheril; Monika Witsch (Hrsg.): Cultural Studies und Pädagogik. Kritische Artikulationen. Bielefeld 2006, S. 225‒266. Vgl. Talal Asad: Formations of the Secular. Christianity, Islam, Modernity. Stanford 2003, S. 161‒172.
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sich Europa immer schärfer gegen Zufluchtsuchende abschottet und auch die innereuropäischen Fluchtwege sukzessiv geschlossen werden, ertrinken weiterhin Fliehende im Mittelmeer. Eine Kritik des Diskurses über muslimische Fluchtmigrant*innen und des Umgangs mit ihnen scheint längst überfällig. Die Analyse der jüngsten Transformation in der Perzeption und Repräsentation von Geflohenen – vom tradierten islamophoben Fremdbild zum instrumentellen Mitleidsbild und schließlich zum negativen Leitbild repressiver Einwanderungspolitik – ist besonders geeignet, um die fortwährenden Effekte orientalistischer Angsthysterien, phobischer Konstruktionen und libidinöser Projektionen offenzulegen. Dabei gilt es, die zwischen Fremdbegehren, sexualisierten Gewaltfantasien und Ablehnung pendelnde mehrheitsdeutsche Flüchtlingsdebatte auch und besonders unter Berücksichtigung der in ihr wirksam werdenden geschlechtlich kodifizierten Fremddiskurse zu betrachten. In freier Übertragung der Konzepte Sigmund Freuds, Jacques Lacans und Julia Kristevas³² auf das Terrain der Kultur- und Ideologiekritik interessieren mich besonders die in der Debatte anzutreffenden fetischistischen Verdrängungs- und Zwangsneurosen, identitären Spaltungsprozesse und narzisstisch libidinösen Megalomanien. Mein Hinterfragen der vorherrschenden moralischen Gegenüberstellung von vermeintlich selbstloser Willkommenskultur und egoistisch-repressiver Ablehnung als entgegengesetzten politischen Modalitäten im Umgang mit Zufluchtsuchenden will für jene Gefahren nationalistischer Selbst-Konstruktionen sensibilisieren, die sich in dem psychischen Feld vollziehen, in welchem sich rassistisches Assimilationsbegehren und phobische Fremdabwehr überlappen. Angesichts der regelmäßig ebenso neurotisch wie ideologisch überdeterminierten Debatte gerät mein Versuch einer Pathologie unseres Flüchtlingsdiskurses zu einem notwendigerweise partiell polemischen Unterfangen. Im Kern geht es um die Identifikation der in der aktuellen politischen Gemengelage wirksamen psychologischen Triebkräfte und Blockaden als soziohistorisch, diskursiv und performativ hergestellte Symptome, die aufs Engste mit der fortwirkenden Macht des orientalistischen Rassismus zusammenhängen. Als die deutsche Bundeskanzlerin im August 2015 verkündete, dass das Grundrecht auf Asyl keine Obergrenze kenne und mit der vorübergehenden Aufhebung des Dublin-Verfahrens für syrische Flüchtlinge aus der Sicht mancher Geflohenen und internationaler Beobachter*innen zur „,mitfühlende[n] Mutter
Siehe besonders Sigmund Freud: Das Unbehagen in der Kultur [1930]. Und andere kulturtheoretische Schriften. Frankfurt/M. 2009; Jacques Lacan: Livre VII: L’éthique de la psychanalyse, 1959 – 1960. Paris 1986; Julia Kristeva: Fremde sind wir uns selbst [franz. 1988]. Übers. v. Xenia Rajewsky. Frankfurt/M. 1990.
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Merkel‘“³³ avancierte, wurde das fortan in ihr personifizierte übermütterliche Deutschlandbild durch das weltweit zirkulierende Medienbild des am 2. September 2015 an einem türkischen Strand angespülten Leichnams des kurdisch-syrischen Kleinkindes Aylan Kurdi komplementiert. Fraglos sensibilisierte der Tod des nicht einmal dreijährigen Jungen viele Menschen für die Unmenschlichkeit und Unhaltbarkeit der europäischen Flüchtlingspolitik. Es ist aber signifikant, dass sich die vermeintliche menschliche Wende im Umgang mit schutzsuchenden Muslim*innen erst in jenem Augenblick vollzog, als ein in psychoanalytischer Hinsicht jeder Penetrationsmacht beraubtes infantiles Opfer zum symbolischen Repräsentanten wurde und erst dadurch etlichen Deutschen die Flüchtlingsimmigration als zumutbar erschien. Der Leichnam des Kindes repräsentiert einen nahezu totalen Gegenentwurf zu dem bis dahin vorherrschenden phallischen Bild hypersexualisierter arabisch-islamischer Maskulinität, deren intrinsische Geschlechter-Unterdrückung als symptomatisch für ein wesentlich nicht-westliches Patriarchat präsentiert wurde. Zwar imaginiert der klassische orientalistische Diskurs, der symbolischen Dialektik von Körper und kolonialisiertem Territorium folgend, das Orientalische generell als passives weibliches Harems-Objekt körperlichen Begehrens, das es zu entschleiern und in Besitz zu nehmen gilt. Dennoch wurden Araber*innen und Muslim*innen im orientalistischen Sexualitätsdispositiv genauso regelmäßig als ein gänzlich von vulgären und unkontrollierten Trieben durchdrungener Volkskörper disqualifiziert. Diese Gleichzeitigkeit von Feminisierung und Infantilisierung sowie der Projektion perverser Hypersexualität erfuhr zu verschiedenen historischen Momenten signifikante Schwerpunktverschiebungen. Obschon seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert eine mit den Kreuzzügen im Mittelalter verfestigte Konstellation ins Wanken gerät, die von der Vorstellung eines aggressiven und inhumanen orientalischen Mannes ausgeht, und in den kulturellen Imaginationen der westlichen Literatur, Musik und bildenden Kunst das alte Feindbild verabscheuungswürdiger Häresie durch heiter-sinnliche und erotisch-anmutige Motive ersetzt wird, sollte das Bild orientalischer Tyrannei auch in der Folgezeit virulent bleiben. Während Vorwürfe sexueller Zügellosigkeit und Dekadenz vor allem im späten 19. Jahrhundert dazu dienten, das koloniale Projekt als zivilisatorischen Akt moralischer Erziehung zu legitimieren, wird der Islam etwa seit dem frühen 20. Jahrhundert fortschreitend mit der männlichen Unterdrückung weiblicher Freiheiten identifiziert.³⁴ Dieses Motiv wirkt unmittelbar bis in die jüngsten Christoph Sydow: Bleiberecht für Flüchtlinge: Syrer preisen „die mitfühlende Mutter Merkel“. In: Spiegel Online vom 28.08. 2015. https://www.spiegel.de/politik/ausland/angela-merkel-syrerpreisen-kanzlerin-fuer-aufnahme-von-fluechtlingen-a-1050243.html (05.08. 2020). Vgl. Joseph A. Massad: Desiring Arabs. Chicago; London 2007, S. 3 – 21.
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Debatten über intrinsisch patriarchale Parallelgesellschaften, Zwangsverschleierungen und Ehrenmorde, über die damit verknüpften Zwangsprogramme zur Befreiung der durch die Burka unsichtbar gewordenen Muslimin von ungleichen Geschlechterverhältnissen und männlicher Gewalt oder über die von wütenden und sexuell übergriffigen jungen muslimischen Männern ausgehenden Gefahren für die Allgemeinheit fort. Es kann kaum überraschen, dass die Diskurse über kulturelle Fremdheit, Sexualität und Geschlechtsidentität auch in der Repräsentation der sogenannten ,Flüchtlingskrise‘ in all ihren Widersprüchlichkeiten wirksam sind. In psycho-symbolischer Hinsicht interessiert also weniger das natürliche Geschlecht (Sexus) als das diskursiv-performativ hergestellte Geschlecht (Gender) des in Merkel symbolisierten nationalen Selbst und seines Anderen. Obschon durch eine Frau repräsentiert, muss das mehrheitsdeutsche Ich offenbar besonders im Verhältnis zu muslimischen Fluchtimmigrant*innen eine relational männliche Subjektposition einnehmen. Nur so scheint vor dem Hintergrund der tradierten hierarchischen Fremdfantasien ein ausreichendes Maß an Lust- und Machtgewinn gesichert. Umgekehrt muss die Figur des Flüchtlings in der patriarchal-heteronormativen Ordnung sexuellen Begehrens platziert werden. Die Grenzziehungen kultureller Identitäten münden daher allzu leicht in die ödipale Imagination des Fluchtziels Deutschland als eines autoritären Ortes mütterlicher Assimilation. Das Deutschland der Hilfsbereitschaft sagt den orientalisierten Flüchtlingen und sich selbst gewissermaßen: ‚Wenn ich der Vater wäre und Du der Sohn, dann würde ich Dich schlecht behandeln, ja vielleicht abweisen. Könnte ich aber Deine phallische Mutter sein, dann würde ich Dich als mein Quasi-Kind vor Deinen noch infantilen, aber polymorphen Perversionen schützen und in mich aufnehmen.‘ Die Entscheidung für jene Variante käme der mehrheitsdeutschen Identifikation mit dem strafenden xenophoben Ideal gleich, die Entscheidung für die mütterliche Variante ist das neurotische Symptom ödipaler Fremd-Assimilationslust. Die infantilisierende Nivellierung migrantischer Geltungsansprüche und Lustforderungen fußt entscheidend auf dem normativen Postulat westlicher Omnipotenz. Gemäß dieser Lesart avancierte der in den Massenmedien viktimisierte und im Bild des toten Kindes symbolisch kastrierte arabisch-muslimische Mann gleichzeitig zum Objekt deutscher Begierden und Identitätskonstruktionen. Platziert innerhalb der Alienationsform Mann/Frau konnte dieser Repräsentant der arabisch-islamischen Welt als Beweis dafür dienen, was der Okzident in seiner normativen Natur zu sein vorgibt. Als imaginierte Gemeinschaft transzendierte sich Deutschland also im Spätsommer 2015 gewissermaßen zu einem universellen Subjekt grenzenloser Hilfsbereitschaft, indem es den muslimischen Fluchtmigrant*innen als infantilisierten und feminisierten Objekten Einlass gewährte. Das
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unbewusste Zweckbündnis zwischen der kolonialen Konstruktion des KulturAnderen und der patriarchalen Konstruktion des Geschlechts-Anderen ist eigentlich unübersehbar. Es findet seine Voraussetzung in der ungebrochenen Hegemonie eines normativen Paradigmas westlicher Männlichkeit, das nach innen und außen der Inszenierung seiner schattenhaften Antithese bedarf. In der Konsequenz erhalten also sowohl männliche als auch weibliche Geflohene im Verhältnis zur Dominanzgesellschaft eine feminine Subjektposition.³⁵ Wollen Fluchtimmigrant*innen nicht als Asylbetrüger*innen oder Proto-Terrorist*innen wahrgenommen und somit als Täter*innen kriminalisiert werden, müssen nach Deutschland geflohene Menschen wie im Asylverfahren, so auch in der Mediengesellschaft als machtlose Opfer mit entsprechend vereinfachten Fluchtgeschichten auftreten. Nur ihre öffentliche Zurschaustellung als passive Leidtragende mit bedingungslosem Integrationswillen erlaubt gemäß diesem melodramatischen Narrativ anscheinend ihre Aufnahme in die sich heldenhaft hilfsbereit gerierende Dominanzgesellschaft.³⁶ Da sich fliehende und geflohene Menschen aber nicht auf die Ersatzfunktion eines schweigsamen kindlichen ‚Nebenbewusstseins‘ des deutschen Flüchtlingsdiskurses reduzieren lassen, sondern qua ihrer politischen Existenz Teilhabe begehren (und in psychoanalytischer Sicht damit gewissermaßen aufbegehren), gerät die Dynamik der infantilisierenden orientalistischen Fantasie allzu leicht zu einer Praxis symbolischer Repräsentationsgewalt. Als komplexe Menschen mit ebenso komplexen Geschichten und Zukunftsansprüchen stören sie mit ihrem politischen Begehren nach Selbstäußerung und gleichberechtigter sozialer Teilhabe die Imagination der hierarchischen Integration und aktivieren die im Unterbewussten lauernden Phobien und Wunschregungen in besonderer Weise. Diese wurden in den Berichten über sexuelle Übergriffe in der Silvesternacht 2015 überdeutlich. In der medialen Multiplizierung wurden alte Bilder hypersexueller muslimischer Maskulinität erneut auf die männliche Flüchtlingsfigur übertragen. Die massenmediale Berichterstattung evozierte mehrheitlich, dass der arabischmuslimische Mann in Köln nun aufs Neue sein fremdkulturell intrinsisch unartiges Spektakel bot. Jene aggressiven Phobien, die man durch die Verdrängung arabisch-muslimischen Begehrens glaubte, sich ersparen zu können, kehrten nun
Vgl. Ann Laura Stoler: Race and the Education of Desire. Foucault’s History of Sexuality and the Colonial Order of Things. Durham 1995. Den Begriff der Dominanzgesellschaft verwende ich im Anschluss an Birgit Rommelspacher (Dominanzkultur: Texte zu Freiheit und Macht. Berlin 1995) zur Kennzeichnung jener Bevölkerungsmehrheit, die von kolonial-rassistischen Macht- und Herrschaftsverhältnissen profitiert. Zur genauen Bedeutung und Relevanz des Konzeptes für die antirassistische Kritik siehe auch Ha/ Schmitz 2006 (wie Anm. 30), S. 253.
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sehr schnell in Form von kollektiv kriminalisierenden Ersatzbildern zurück. Dabei vermischte sich die Empörung über Einwanderer, die sich als ehemals so großzügig ins eigene nationale Haus aufgenommene Gäste nun über die Töchter eben dieses Hauses hermachten, mit der überkommenen rassistischen Warnung vor der sozio-ökonomischen und physischen Vergewaltigung der Nation durch Einwanderer. In den stilisierten Darstellungen der von schwarzen Händen angefassten und befleckten nackten weißen Körper auf den Titelseiten des Wochenmagazins Focus (vom 9. Januar 2016) und der Süddeutschen Zeitung (in der Wochenendausgabe vom 9./10. Januar 2016) wurden offen rassistische Narrative der Vergewaltigung und Rassenvermischung evoziert. Die damit einhergehende (Wieder‐)Belebung der sprachlichen Figur des Nordafrikaners operierte mit einer Täteridentifikation, die über eine augenfällige Kontinuitätsbeziehung zu der rassistischen Hetze gegen marokkanische und algerische Soldaten und ihre deutschen Kinder seit der französischen Besatzung des Rheinlands nach Ende des Ersten Weltkrieges verfügt. Der geschlechtlich determinierte und sexualisierte Körper des orientalisierten Fluchtmigranten wurde nicht länger als Opfer begehrt, sondern umgekehrt als bedrohlich inszeniert. Im Anschluss an Lacans Schema des ,Imaginären‘ ließe sich dieser Wandel von ödipalen Assimilationssymbolisierungen zu repressiven Imaginationen der Außenabwehr und strafenden Domestizierung als veränderte, aber keineswegs unabhängige psychische Modalität der in der Flüchtlingsdebatte wirksamen orientalistischen Alteritätsbilder fassen.³⁷ Es handelte sich dann gewissermaßen um zwei Seiten einer und derselben Medaille narzisstischer Identifikation. Das mehrheitsdeutsche Subjekt erkennt sich mittels zweier Formen der Positionierung gegenüber der äußeren Welt der Fremden: Entweder vollzieht es – in gewisser Weise Goethes Vorbild folgend – eine selbst-affirmierende (Lust‐)Objekt-Wahl, oder es entscheidet sich für die aggressive Ablehnung des Anderen. Wie beim Missbrauch des Fotos des verstorbenen Aylan fungierten auch nach der Kölner Silvesternacht die Körper der geflohenen Migrant*innen zuvorderst als symbolische Austragungsorte mehrheitsdeutscher flüchtlingspolitischer Selbstpositionierungen. Die Inszenierung des hypersexualisierten männlichen Flüchtlings, der als essentieller homo islamicus weder unsere säkularen Ideen demokratischer Vergesellschaftung teilt noch zwischen dem öffentlichen Raum und den Sphären des Privaten – zwischen seiner Ehefrau und unseren Töchtern – zu unterscheiden weiß, ist nicht weniger fetischistisch als seine symbolische Kastration im Bild des toten Kindes am Strand. Beide Symbolisierungsformen fußen auf der gemischten Ökonomie exo-
Vgl. Jacqueline Rose: The Imaginary. In: Colin MacCabe (Hrsg.): The Talking Cure. Essays in Psychoanalysis and Language. New York 1981, S. 123 – 161.
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tistischer Begierde und paranoid-xenophober Fremdpathologisierung. Abhängig von wechselnden Standpunkten und Motiven scheint es demnach möglich, die Orientalisierten an einem fernen Ort grausamer Tyrannei und politischer Unterwürfigkeit zu platzieren oder sie als leicht verfügbare Objekte und Quellen einer erhofften körperlichen oder geistig-moralischen Regeneration zu imaginieren. In beiden Fällen knüpft die Imagination von Fluchtmigration offensichtlich an jene tradierten Diskurse über den Nahen Osten, den Islam oder die Araber*innen an, die darauf abzielen, sich der sozio-kulturellen und politisch-materiellen Überlegenheit der als weiß imaginierten Abendländer*innen zu vergewissern. In beiden orientalisierenden Symbolisierungsformen überlappen sich geschlechtliche und kulturelle Fremdkonstruktionen mit der Verdrängung der eigenen Fantasien lustvoller Assimilation. Beide Bilder suchen also auch die Lust auf die aggressive Überschreitung der behaupteten intrinsischen Grenze zu verbergen.
3 Kulturkritik und Selbstkritik Deutschland wird, wie andere Mitgliedsstaaten der Europäischen Union auch, in den kommenden Jahren eine hohe Fluchtzuwanderung erleben. Mit einem Rückgang der Zahl der Menschen, die weltweit vor Krieg, Not und Verfolgung fliehen, ist schlicht nicht zu rechnen. Vor diesem Hintergrund ist es nicht akzeptabel, weiter aus geostrategischen, legalistischen oder ökonomischen Erwägungen auf die flüchtlingspolitische Externalisierung der Krise und die Abschreckung durch mediterrane Grenztode zu setzen. Aber die im Voranstehenden beschriebenen psychosozialen Dynamiken lassen sich nicht einfach durch eine stärker verinnerlichte Hemmung nationalistischer Aggressions- und Bemächtigungstriebe im Sinne der Herausbildung eines flüchtlingspolitischen Schuldbewusstseins unterbrechen. Meine kulturkritischen Beobachtungen legen vielmehr die selbstkritische Auseinandersetzung weißer Mehrheitsdeutscher mit ihrer eigenen Angst vor und Lust auf notwendige Identitätsveränderung angesichts unausweichlicher Fluchtimmigrationen nahe. Die todbringende Festungspolitik des europäischen Grenzregimes kann nicht nachhaltig überwunden werden, ohne gleichzeitig die innere Festung kollektiver Verdrängung, chauvinistischer Aspirationen und xenophober Projektionen anzugreifen. Friedrich Nietzsches beißend-ironischer Blick auf die romantische OrientRepräsentation des 19. Jahrhunderts kann in diesem Zusammenhang einen wichtigen Impuls liefern. Seine radikale Zurückweisung der Behauptung politisch unschuldiger west-östlicher Intersubjektivität gilt auch Goethes poetologischem Programm der Fremdaneignung. Im vierten und letzten Teil von Also sprach Zarathustra singt Zarathustras Schatten mit der Stimme des orientalisierenden
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Dichters das Lied des Wanderers. Dieser repräsentiert nur eine von unzähligen Ersatzidentitäten, die das in verlogener Schwermut stagnierte Alt-Europa annehmen kann. Das Lied Die Wüste wächst: Weh dem, der Wüsten birgt ³⁸ zitiert die „Mädchen-Katzen, Dudu und Suleika“³⁹ lediglich herbei, um sie zu schweigenden Zuhörerinnen des „moralischen Brüllaffen“⁴⁰ zu machen. Es geht darum „[v]or den [stummen, M.S.] Töchtern der Wüste [zu] brüllen!“⁴¹ und nicht darum, mit ihnen zu kommunizieren.Während sich „Dudu“ als wortspielerische Verdopplung eines hyper-narzisstischen europäischen „Ichich“ lesen lässt, handelt es sich bei Suleika unübersehbar um mehr als nur ein Bildungs-Zitat aus dem Divan des Nationaldichters. Will die Forderung nach einer vom Gefühl des Mitleids angeleiteten humanitären Flüchtlings- und Asylpolitik nicht bloßes „Tugend-Geheul“ und damit die lediglich humanistisch anmutende Maskerade dessen sein, was Nietzsche als den eigentlichen „Europäer-Heißhunger“ verhöhnte, dann gilt es nicht zuletzt, die Psychopathologie eines orientalistischen Rassismus zu überwinden, der Geflohenen die Funktion europäischer Ersatzidentitäten aufzwingt: Weine nicht mehr, Bleiche Dudu! Sei ein Mann, Suleika! Mut! Mut! – Oder sollte vielleicht Etwas Stärkendes, Herz-Stärkendes Hier am Platze sein? Ein gesalbter Spruch? Ein feierlicher Zuspruch? – Ha! Herauf, Würde! Tugend-Würde! Europäer-Würde! Blase, blase wieder, Blasebalg der Tugend! Ha! Noch einmal brüllen, Moralisch brüllen! […] – Denn Tugend-Geheul, Ihr allerliebsten Mädchen, Ist mehr als alles Europäer-Innbrunst, Europäer-Heißhunger!⁴²
Friedrich Nietzsche: Also sprach Zarathustra. Ein Buch für Alle und Keinen [1883 – 1885]. Hrsg. v. Karl Schlechta. Berlin 1996, S. 308 – 312. Ebd., S. 310. Ebd., S. 308. Ebd., S. 312. Ebd.
Emad Alali
Literatur – Engagement – Agitation Eine Literatur- und Kulturkritik am Beispiel von Michel Houellebecqs Unterwerfung
1 Einleitende Überlegungen Die Literatur ist ein künstlerisches Mittel, das den Erfahrungshorizont des Lesers mit neuen Lebenserkenntnissen bereichert, indem es eine fiktive Welt vorstellt, die aber auf die vorhandene reale Welt übertragen werden kann: „Der Dichter läßt eine imaginative Sprachwelt entstehen, die sich von der Welt der Lebenspraxis abhebt und zugleich auf sie verweist.“¹ Von Relevanz bleibt der im literarischen Werk thematisierte Sachverhalt. Unstimmigkeiten in der Rezeption von Literatur können vor allem auftreten, wenn das literarische Werk ein politisches Thema behandelt. Denn diese Sphären, Literatur und Politik, beziehen weitere Aspekte wie Moral, Meinungsfreiheit, Verantwortung und Rationalität ein. Der Frage, wie sich Literatur und Politik zueinander verhalten, kann am besten in einzelnen Werken und unter bestimmten theoretischen Rahmenbedingungen nachgegangen werden. Für Jean Améry gehören politische Schriftsteller zu denjenigen Autoren, „die sich mit ihrem Werk in den Dienst der öffentlichen Sache, die dann immer auch eine Sache der Menschheit ist, stellen.“² Für Améry ist ein literarisches Werk politisch, wenn es sich dem Öffentlichen widmet und sich keiner politischen Ideologie anschließt. Hinsichtlich des Politischen in der Literatur sind zwei Faktoren entscheidend: die in der Regel implizite Stellung des Autors zum jeweiligen politischen Sachverhalt und die ästhetischen Mittel, mit denen der Autor den Sachverhalt artikuliert. Vor diesem Hintergrund lassen sich zwei Formen unterscheiden: 1. eine politische Literatur, die politische und soziale Angelegenheiten diskutiert, um soziopolitische Fragen, anerkannte politische Grundwerte (u. a. Freiheit, Gerechtigkeit, Menschenrechte) vernünftig und undogmatisch hervorzuheben oder kulturelle und gesellschaftspolitische Missstände zu kritisieren; und 2. eine politische Literatur, die darauf abzielt, eine bestimmte soziale
Gerhard Kaiser: Wozu noch Literatur? Über Dichtung und Leben. München 1996, S. 13. Jean Améry: Der Grenzgänger. Gespräch mit Ingo Hermann in der Reihe „Zeugen des Jahrhunderts“. Hrsg. v. Ingo Hermann. Göttingen 1992, S. 65. https://doi.org/10.1515/9783110669428-005
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Klasse zu legitimieren bzw. zu rechtfertigen und ideologische oder eben rassistische und ethnozentrische Einstellungen zu affirmieren. Das literarische Engagement in den beiden Kategorien ist nicht identisch. In der ersten Form ist es kritisch und rational und deshalb produktiv, während es in der zweiten tendenziös und irrational und daher unproduktiv ist. Diese Kategorisierung bedürfte einer terminologischen Präzisierung, die in diesem Beitrag nicht geleistet werden kann. Aber schon in der vorliegenden Form ist sie hilfreich, um sich den kultur- und soziopolitischen Implikationen literarischer Texte zu nähern. Dies soll im vorliegenden Beitrag anhand von Michel Houellebecqs Roman Unterwerfung (2015; die deutsche Übersetzung erschien nahezu gleichzeitig mit der französischen Originalfassung Soumission) gezeigt werden. Der Text thematisiert anhand des Ich-Erzählers François die Verzweiflung und Skepsis des gegenwärtigen französischen Menschen gegenüber der politischen und ökonomischen Situation im Land. In der fiktiven Zukunft des Jahres 2022 wird der Muslim Ben Abbes zum Präsidenten Frankreichs gewählt, der dann „eine weitgreifende Islamisierung des Landes initiiert“³, bevor „sich die kollektive Unterwerfung Frankreichs und die individuelle des Protagonisten vollzieht“⁴. Durch die Verbindung des Schicksals der Hauptfigur und Frankreichs mit dem Islam und Islamismus konstruiert Houellebecq orientalistische Auffassungen, deren Untersuchung zur Abgrenzung der Merkmale des Politischen in diesem Roman beitragen kann. Die literarische Darstellung von Islambildern und politischen Ambitionen islamistischer Gruppen in Frankreich und in ganz Europa verstärkt die Realitätsbezüge des Romans, indem er den Blick des Rezipienten auf aktuelle politische Entwicklungen wie den islamistischen Extremismus in Europa und die Debatte um die europäische Migrationspolitik lenkt. Das West-Ost-Verhältnis in diesem Roman ist nicht von der Beherrschung bzw. Kolonialisierung, also der ‚Orientalisierung des Orients‘⁵ geprägt, sondern von der sogenannten ‚Islamisierung Europas‘. Die gezielte Übertreibung des Erstarkens der muslimischen Gemeinschaft in Frankreich und Europa stellt eine Verbindung zwischen dem fiktiven Gegenstand und der realen Außenwelt her und wirft zugleich die Frage nach den Affekten auf, die der Autor bei seinen Lesern hervorzurufen versucht. Denn Unterwerfung
Agnieszka Komorowska: „Mais c’est d’une ambiguïté étrange.“ Die Rezeption von Michel Houellebecqs Roman Soumission in Frankreich und Deutschland. In: Romanische Studien 3 (2016), S. 137– 169, hier S. 143. Wolfgang Asholt: Vom Terrorismus zum Wandel durch Annäherung. Houellebecqs Soumission. In: Romanische Studien 3 (2016), S. 119 – 136, hier S. 127. Vgl. Edward W. Said: Orientalismus [engl. 1978]. Übers. v. Hans Günter Holl. Frankfurt/M. 22010, S. 65 – 85.
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problematisiert den Islam und die politischen Bestrebungen islamistischer Gruppen in einer Weise, die eine politische Agitation gegen eine bestimmte religiöse und soziale Gruppe (Islam und Muslime) mit sich bringt. Man kann hierin eine Grenzüberschreitung des sozialkritischen Engagements sehen, die schon Julien Benda als „Indiz für einen erschreckenden Niedergang“⁶ des Intellektuellen gewertet hat. Andererseits öffnet der Roman durch seine Betonung der „Andersartigkeit der Orientalen“⁷ in der französischen Gesellschaft Möglichkeiten für kritische Betrachtungen der geistigen Verantwortung des ‚Schriftstellers als Intellektuellen‘⁸ in unserer Zeit, in der die Muslimfeindlichkeit unter der Wirkung des Rechtsextremismus in einigen europäischen Ländern an Resonanz gewinnt.⁹ Um diese Deutungsansätze zu behandeln, werden folgende Aspekte untersucht: Zunächst werden die orientalistischen Implikationen des Romans und deren außerliterarische Bezüge aufgezeigt. In einem nächsten Schritt sollen tendenziöse Implikationen des Romans von Aspekten des politischen Engagements unterschieden werden. Die Behandlung dieser beiden Aspekte soll verdeutlichen, dass eine bloß literaturkritische Auseinandersetzung dem Roman nicht gerecht wird. Vielmehr soll dessen Verortung im komplexen politischen Diskurs der Gegenwart exemplarisch eine kritische Auseinandersetzung mit der Verantwortung des Schriftstellers in unserer krisenhaften Gegenwart ermöglichen.
2 Umgekehrte Kolonialisierung durch die Islamisierung Europas Houellebecqs Unterwerfung macht verschiedene und für den gegenwärtigen Menschen relevante Thematiken zum Gegenstand. Die Handlung verläuft auf zwei parallelen Ebenen: der Ebene des privaten Lebens des Ich-Erzählers und der politischen und sozialen Ebene. Die zwei Ebenen sind jedoch miteinander so vernetzt, dass das Individuelle, vertreten vom Ich-Erzähler, sich von den allgemeinen Entwicklungen in seiner Umgebung nicht trennen lässt. François ist politisch nicht engagiert, er begibt sich aber in dieses Feld, weil es sein Leben und Julien Benda: Der Verrat der Intellektuellen [franz. 1927]. Mit einem Vorwort v. Jean Améry. Übers. v. Arthur Merin. Frankfurt/M. u. a. 1983, S. 130. Said 2010 (wie Anm. 5), S. 236. Vgl. Sven Hanuschek u. a. (Hrsg.): Schriftsteller als Intellektuelle. Politik und Literatur im Kalten Krieg. Tübingen 2000. Ausführlicher zum islamfeindlichen Diskurs siehe z. B. die Beiträge unter ‚Muslimfeindlichkeit‘ im Rahmen des Dossiers ‚Rechtsextremismus‘ der Bundeszentrale für Politische Bildung: http:// www.bpb.de/politik/extremismus/rechtsextremismus/180743/muslimfeindlichkeit (09.08. 2020).
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seine Karriere beeinflusst. Die Konzentration dieses Beitrags auf die orientalistischen Auffassungen des Romans bedeutet nicht, dass die Ebene des privaten Lebens des Protagonisten außer Acht bleibt. Denn eine Vernachlässigung dieser Ebene könnte zu unplausiblen Schlussfolgerungen führen.¹⁰ Der 44-jährige François ist Literaturwissenschaftler an der Sorbonne. Er hat nicht geheiratet, sucht sich aber jedes Semester eine neue Studentin für eine Beziehung aus. Er lebt allein und hat seit zehn Jahren von seinen Eltern nichts gehört; als er vom Tod seines Vaters erfährt, reagiert er emotionslos. Sex tritt im Roman als wesentliches Element auf; mehrere Szenen mit der jüdischen Studentin Myriam sowie mit Prostituierten werden pornographisch beschrieben. Es fällt auf, dass diese sexuellen Szenen von einem Klima der Langweile und Apathie geprägt sind. Seine sexuellen Beziehungen werden als manchmal zwar wild und hemmungslos, aber gleichzeitig als hohl geschildert: „Prostitutes, even when the sex is great, only deepen the hole he [François] is in.“¹¹ Der Roman verweist damit metonymisch auf die Entwertung von Sexualität und Intimität in der westlichen Gesellschaft. Dies umfasst eine Kritik an der gegenwärtigen sozialen Beziehung zwischen Mann und Frau oder möglicherweise sogar einen Aufruf zu einer völligen Revision dieser Beziehung.¹² Die Stimmung der Langeweile und Apathie beschränkt sich aber nicht auf diesen Aspekt; sie beherrscht den Roman von seinem Anfang bis zu seinem Ende. Françoisʼ individuelle Gefühle der Hilflosigkeit und Melancholie sind Ausdruck einer kollektiven gesellschaftlichen Skepsis gegenüber der aktuellen politischen und kulturellen Sachlage. Houellebecqs François macht die französischen politischen Entscheidungsträger und Engagierten für diese Skepsis verantwortlich, da sie sich von den Interessen der Bürger entfernt hätten: Dass Politik in meinem Leben eine Rolle spielen könnte, verwirrte und ekelte mich ein bisschen. Mir war aber bereits klar geworden, dass der sich seit Jahren verbreiternde, in-
Dass die französische Originalausgabe Soumission am 07. Januar 2015, also am Tag des Terroranschlags von zwei in Frankreich geborenen Islamisten auf das Satiremagazin Charlie Hebdo in Paris, erschien, trug zum überwiegenden Fokus der Rezeption auf die Islamvorstellungen im Roman bei. Siehe z. B. Komorowska 2016 (wie Anm. 3), S. 150 f. Mark Lilla: Slouching Toward Mecca. In: The New York Review of Books vom 2. April 2015, S. 41– 43. https://marklilla.com/wp-content/uploads/2017/07/NYRB-Houellebecq-Soumission.pdf (12.08. 2020). „Houellebecqʼs work repeatedly seems to suggest that the situation of gender and sexual relations in the West has become so grotesque […] and the complex of reasons underlying this situation so intractable […], that the only way to envisage a ‚solution‘ is for it to be monstrously disproportionate.“ Douglas Morrey: The Banality of Monstrosity. On Michel Houellebecqʼs Soumission. In: Australian Journal on French Studies 55 (2018), H. 2, S. 202– 217, hier S. 206.
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zwischen bodenlose Graben zwischen dem Volk und jenen, die in seinem Namen sprechen – also Politikern und Journalisten –, notwendigerweise zu etwas Chaotischem, Gewalttätigem und Unvorhersehbarem führen musste. Frankreich bewegte sich, wie die anderen Länder Westeuropas auch, auf einen Bürgerkrieg zu, das lag auf der Hand. Dennoch war ich in diesen letzten Tagen zu der Überzeugung gelangt, dass die riesige Mehrheit der Franzosen mutlos und apathisch verharren würde, wohl, weil ich selbst mutlos und apathisch war. Ich täuschte mich.¹³
Aufgrund der umfassenden Verzweiflung wird also ein fataler Untergang erwartet. So gesehen wird die negative Stimmung der Skepsis, Apathie und Passivität als Schnittstelle zwischen den Sorgen des Einzelnen (Françoisʼ Lebensauffassungen) und den soziopolitischen Konsequenzen, also der Machtübernahme durch eine islamische Partei, dargestellt. Durch den kontinuierlichen Übergang vom Einzelnen zum Soziopolitischen und deren Berührung mit dem Islam und den Muslimen werden orientalistische Vorstellungen vermittelt; deren Abgrenzung von den Angelegenheiten des französischen ‚okzidentalen‘ Menschen wird als zunehmend schwierig dargestellt. Mark Lilla konstatiert: „Soumission is not the story some expected of a coup dʼétat, and no one in it expresses hatred or even contempt of Muslims. It is about a man and a country who through indifference and exhaustion find themselves slouching toward Mecca.“¹⁴ Einer der wichtigsten Aspekte, der die Auseinandersetzung mit den orientalistischen Stereotypen im Roman bekräftigt, ist seine (implizite) Betonung der kulturellen, ethischen und geistigen „Grundunterscheidung […] zwischen Orient und Okzident“.¹⁵ Edward Said stellt fest, dass der Orientalismus „an sich und nicht nur dem äußeren Anschein nach ein gewisser zielstrebiger Wille [ist], eine offenkundig andere […] Welt zu verstehen, mitunter auch zu beherrschen, zu manipulieren und zu vereinnahmen.“¹⁶ Dieser ‚zielstrebige Wille‘ wird in Unterwerfung verdeutlicht durch eine Vorstellung vom Islam als Bedrohung für den gesamten gesellschaftlichen Zusammenhalt in Frankreich. Es fällt auf, dass Unterwerfung explizit nicht den Islam an sich, sondern den politischen Islam und dessen Verhältnis zu den westlichen Gesellschaften in den Fokus rückt. Nach der (in der Romanfiktion noch in der Zukunft liegenden) französischen Wahl 2017 gründet Mohammed Ben Abbes die Partei der Bruderschaft der Muslime. Er treibt eine vernünftige und realistische Politik und stellt
Michel Houellebecq: Unterwerfung [franz. 2015]. Übers. v. Norma Cassau; Bernd Wilczek [2015]. Köln 92018, S. 101 f. Bei den folgenden Zitaten aus dem Roman folgt die einfache Angabe der Seitenzahl dieser Ausgabe in Klammern. Lilla 2015 (wie Anm. 11). Said 2010 (wie Anm. 5), S. 22. Ebd. Hervorh. im Orig.
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sich als ‚gemäßigter‘ Islamist vor. Um die Machtübernahme des Front National, also der extremen Rechten, zu verhindern, schließen sich bei der folgenden Wahl 2022 die anderen Parteien Ben Abbes an und machen ihn zum Staatspräsidenten. Der neue islamische Präsident weiß, wie er sich als für alle Religionen offen darstellen kann: „Im Laufe des letzten Jahres sei er nicht weniger als drei Mal im Vatikan gewesen.“ (S. 132) Er scheint alle drei großen Buchreligionen zu respektieren und der Scharia eine beruhigende und traditionelle, aber keine bahnbrechende oder revolutionäre Bedeutung beizumessen. Er kann außerdem die konservative Wählerschaft beruhigen und die gegenwärtigen Bedürfnisse der Marktwirtschaft verstehen. „Doch was eigentlich die Genialität des muslimischen Führers ausmache, sei, dass er verstanden habe, dass Wahlen nicht auf dem Feld der Wirtschaft, sondern auf dem der Werte entschieden würden.“ (S. 132) Houellebecq bzw. sein Erzähler unterscheidet das politische Handeln Ben Abbesʼ dezidiert von dem der Dschihadisten, die sich auf Gewalt verlassen und die Werte der westlichen Kultur durchweg ablehnen. Trotz dieser Vorstellungen von Ben Abbes und seiner Partei, die auf den ersten Blick positiv klingen, lässt der Autor durch zwei Mittel ein Gefühl der Unsicherheit entstehen: erstens durch Françoisʼ Angst vor dem Islam und sein Zögern, ihn anzunehmen – „Aber er [Ben Abbes] ist und bleibt doch ein Moslem“ (S. 133) –; und zweitens durch das Auswandern der jüdischen Studentin Myriam, Françoisʼ Freundin, und ihrer Eltern, die gemeinsam mit anderen Juden nach Israel gehen, da sie sich davor fürchten, dass eine muslimische Partei an die Macht kommt. Im Roman versucht die Bruderschaft der Muslime, eine neue Außen- und Innenpolitik zu betreiben. Ben Abbes ist bestrebt, zum ersten Präsidenten Europas, eines „erweiterten Europa, dem die Länder des Mittelmeerraums angehören“ (S. 137), zu werden. Dies wird im Roman in einem Gespräch zwischen François und Alain Tanneur, dem Ehemann von Françoisʼ Kollegin Marie-Françoise, dargelegt. Alain hat beim Inlandsgeheimdienst DGSI gearbeitet, bevor er aus politischen Gründen – von der Bruderschaft der Muslime in die Wege geleitet – entlassen wurde. Er erzählt François, dass Ben Abbesʼ wesentliches Ziel der Wiederaufbau des römischen Imperiums sei, indem er das Gravitationszentrum Europas nach Süden verschiebe.¹⁷ Die Türkei, Marokko, Tunesien, Algerien und nicht zuletzt Ägypten würden in die europäische Konstruktion eingegliedert, die möglicherweise auch ein Volksabstimmungsrecht haben würde, was die Isla Diese Idee weist Parallelen zu einem geopolitischen Plan des ehemaligen französischen Präsidenten Nicolas Sarkozy auf, der Frankreichs südliche Nachbarn für eine sogenannte ‚Union für das Mittelmeer‘ gewinnen wollte. Vgl. dazu Wolf Lepenies: Die Macht am Mittelmeer. Französische Träume von einem anderen Europa. München 2016. Allerdings fehlte in Sarkozys Plan natürlich die starke islamistische Komponente.
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misten bei der Wahl eines europäischen Präsidenten unterstützen könne (vgl. S. 136 f.). Im weiteren Verlauf des Romans erkennt François nicht nur, dass „der Wiederaufbau des römischen Imperiums […] bereits im Gange [war]“ (S. 175), sondern er konstatiert auch einen innenpolitischen Erfolg für Ben Abbes: Der massive Ausstieg der Frauen aus dem Arbeitsmarkt, „der wiederum im Zusammenhang mit der beträchtlichen Erhöhung der Familienzulagen stand“ (S. 175 f.), hat in Françoisʼ Augen zur Folge, dass die Arbeitslosenquote zurückgeht. Die Erhöhung der Familienzulagen, die nicht nur durch geringere Sozialausgaben, sondern auch mithilfe einer Senkung der Ausgaben für Bildung finanziert wird, setzt voraus, „dass die Frauen keinerlei berufliche Tätigkeit mehr ausübten“ (S. 176), was viele neue Arbeitsplätze für männliche Arbeitslose schafft. Was der Ich-Erzähler François hier als ‚Erfolg‘ aufführt, hat auf der Ebene der Lektüre einen satirischen Effekt, da solche Regelungen den realen Zusammenhängen der französischen und westlichen Kultur widersprechen. Ebenfalls satirisch wirken seine Ausführungen über Gruppierungen wie den Bund der salafistischen Studenten, die „lautstark den Fortbestand unmoralischer Verhaltensweisen anprangerten und die effektive Anwendung der Scharia forderten“ (S. 177). Durch diese Beispiele aus dem Text erkennt man, dass Houellebecq die Verhältnisse zwischen ‚Orient‘ und ‚Okzident‘ im üblichen Orientalismus-Diskurs ins Gegenteil verkehrt hat. Der Orientale ist stark, vernünftig und selbstbewusst, während der Okzidentale schwach, unvernünftig und lethargisch auftritt. In diesem Sinne verliert Europa seine „Position der Stärke“¹⁸, die das kulturelle und politische Verhältnis zwischen Ost und West prägte. Obwohl Houellebecq dieses Verhältnis auf den Kopf stellt, kann man trotzdem zur Erkenntnis kommen, dass er das Paradigma, das die Unterscheidung zwischen den beiden Kulturkreisen vorsieht¹⁹, weder gelöscht noch aufgearbeitet, sondern lediglich umgekehrt hat, um ethisch-politische und gesellschaftliche Sichtweisen anzusprechen. Die Projektion der inhaltlichen Zusammenhänge auf die reale Wirklichkeit erlaubt es, den Roman teils als Werk des politischen Engagements, teils als Werk der politischen Agitation zu rezipieren. Diese Ambivalenz soll im Folgenden genauer ausdifferenziert und mit einer dezidierten Kritik an den ideologischen Implikationen des Romans verbunden werden.
Said 2010 (wie Anm. 5), S. 53. „Denn letzten Endes war der Orientalismus eine politische Realitätskonstruktion, deren Struktur die Differenz zwischen dem Bekannten (Europa, der Westen, ‚wir‘) und dem Fremden (der Orient, der Osten, ‚die‘) betonte.“ Ebd., S. 57.
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3 Politisches Engagement und politische Agitation Die oben präsentierten Überlegungen sprechen für einen Interpretationsansatz, der behauptet, dass es bei Houellebecqs Unterwerfung um eine (Kultur‐)Kritik der politischen Apathie, der Teilnahmslosigkeit der französischen Bürger sowie des Werteverfalls geht, deren Konsequenz es ist, dass eine islamistische Partei die Macht in Frankreich monopolisiert und die Gesellschaft sowie die Institutionen des Staates systematisch islamisiert. Die Kritik an der politischen Situation in Frankreich ist eine Perspektive des literarischen Engagements, während das Erstarken des Islam und des Islamismus als fatale Konsequenz von Houellebecq instrumentalisiert wird. Man kann in diesem Sinne von der Lesart ausgehen, dass diese Instrumentalisierung sich nicht als sachliche (Islam‐)Kritik verwirklicht, sondern als Methode der politischen Agitation. François erhält seine Kündigung als Professor, die vom mit ihm persönlich befreundeten Robert Rediger, dem neuen Präsidenten der Universität Sorbonne, der schon zum Islam konvertiert ist, unterschrieben ist. Aufgrund der neuen Bestimmungen seien nur Muslime als Hochschullehrer zugelassen. Saudi-Arabien und die anderen Erdöl-Monarchien hätten Fuß in Frankreich gefasst und begonnen, ihre ‚Petrodollars‘ hier zu investieren. Saudi-Arabien besitze nun die Pariser Universität Sorbonne und Katar die englische Universität Oxford. Robert Rediger hat nun zwei Frauen, die jüngere ist Aicha, die gerade 15 Jahre alt ist. Er überzeugt François, zum Islam zu konvertieren, um seinen Lehrstuhl dank einer finanziellen Förderung durch die Saudis bei dreifachem Gehalt zurückzugewinnen. Das solle aber nicht das einzige Privileg sein: Er würde auch drei Frauen haben. Die islamische Polygamie bietet zwar eine Lösung für Françoisʼ Sexsucht; dieser Lösungsansatz sowie das ganze Szenario eines muslimisch geprägten Frankreichs beeinträchtigen aber die Plausibilität des erzählten Geschehens.²⁰ Maßstäbe der Plausibilität und des realistischen Erzählens lagen entsprechend einigen kritischen Rezensionen des Romans zugrunde, in denen vor allem die Unwahrscheinlichkeit des Szenarios moniert wurde.²¹ Die Darstellung eines alternativen Ehemodells, welches an die Wahl einer islamistischen Regierung und den Prozess der Islamisierung des Landes gebunden ist, ist ebenso als Provokation zu verstehen. Denn Houellebecq beschreibt
Angesprochen ist hier der Aspekt der ‚politischen Korrektheit‘ in der Literatur. Siehe genauer dazu z. B. Asholt 2016 (wie Anm. 4), S. 135 f. Siehe dazu Komorowska 2016 (wie Anm. 3), S. 147– 149.
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ein gnadenlos sozialdarwinistisches Sexualregime, in dem das stabile heteronormative Ehemodell einen Schutzwall bot. Indem er ein muslimisches, familienkonservatives Gesellschaftssystem als sanfte Lösung ausgibt, bringt er affektivkollektive Projektionen zum Brodeln, in denen der Islam gerade deswegen verteufelt wird, weil die vermeintliche patriarchale Wertestabilität insgeheim Muslim_innen geneidet wird.²²
Das Szenario des Romans lässt sich durch den politischen und militärischen Aufstieg islamistischer Gruppen nach den Umbrüchen des sogenannten ‚Arabischen Frühlings‘ (2010/11) nachvollziehen. Abgesehen von den dschihadistischen Gruppen wie al-Qaida und der Organisation des Islamischen Staates im Irak und Syrien (ISIS), die sich (militärisch) in mehreren Regionen durchsetzen konnten, erfuhren die Parteien der Muslimbrüder in Ägypten und Tunesien (an-NahdaPartei) einen politischen Aufschwung, indem sie demokratisch an die Macht kamen. Ein solcher politischer Aufstieg einer islamischen Partei ist in einem westlichen Land wie Frankreich aber aus politischen, kulturellen und religiösen Gründen nicht vorstellbar. In Unterwerfung wird der Islam weder diskutiert noch kritisiert. Der Text zeigt auf, wie eine defizitäre Politik zum Erstarken einer islamistischen Partei führt: „If Submission is an attack, it is not an attack on Islam; Houellebecq is more curious than caustic about what an Islamicized France might look like. The attack […] is an attack on individualism, on liberal democracy, on enlightment [sic] and reason, ideas nurtured more than two centuries ago on this same French soil.“²³ Dass der Roman eine Kritik an der modernen Demokratie und dem Individualismus ist, ist tatsächlich klar. Der Behauptung aber, der Roman habe nichts mit dem Islam zu tun oder der Text impliziere keine Aspekte der Islamophobie, lässt sich nicht rückhaltlos zustimmen. Denn die Folgen der politischen Missstände im Land sind monströs und gefährden den Erhalt des westlichen Wertesystems.²⁴ Als Mittel für
Jule Jakob Govrin: Sex, Gott und Kapital. Michel Houellebecqs Unterwerfung zwischen neoreaktionärer Rhetorik und postsäkularen Politiken. Münster 2016, S. 85. Todd Kliman: The Subtle Despair of Michel Houellebecq. In: Washingtonian vom 19. November 2015. https://www.washingtonian.com/2015/11/19/michel-houellebecq-submission-reviewed/ (09.08. 2020). „What is monstrous in Houellebecq’s depiction of French politics is not the Muslim Brotherhood specifically, but the very operation of power. […] Power becomes concentrated in small but dense blocks of influence that grow increasingly further from the supposed power base of the people. In response, and in a short-sighted attempt to protect their own interests, those same people are willing to bring to power a government that will, in the longer term, destroy the very bases of their identity while attacking their fundamental civil liberties.“ Morrey 2018 (wie Anm. 12), S. 204.
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die Veranschaulichung dieser monströsen Folgen dient Houellebecq der Islam. Und das ist eine politische und religiöse Agitation par excellence. In Unterwerfung wird – aus welchen Gründen auch immer – gegen die muslimische Präsenz in Frankreich und Europa gehetzt, indem der Roman die Muslime als mächtig und als den Franzosen und Europäern überlegen zeigt. Spricht man von einer Islamisierung Frankreichs, spricht man von einem Prozess, einem religiös-politischen Programm mit klaren Agenden. Bemerkenswert ist, dass die Islamisten ohne Einsatz von Gewalt an die Macht kommen und dass die islamischen Geldgeber sich in erster Linie auf die Schulen, Hochschulen, Universitäten und Vereine konzentrieren, wodurch sie einen großen kulturellen Einfluss auf die Individuen und die Gesellschaft ausüben können. Das ist eine Form der sogenannten Soft Power (weichen Macht)²⁵, die auf die Machtausübung von Staaten und politischen Akteuren über andere Staaten und Gesellschaften abzielt, und zwar durch die Vermittlung eigener Lebensauffassungen, Normen und Werte und ohne militärische Bedrohungen oder Einmischungen (harte Macht). Der Roman suggeriert in dieser Hinsicht, dass der Islam sich in die westlichen Länder einschleiche. Die Islamisten und Muslime schleusen ihre eigenen Normen und Werte in die europäischen Gesellschaften ein, was die kulturelle Identität dieser Gesellschaften zerstören könnte. Der Roman verstärkt somit islamophobe Einstellungen und affirmiert Stereotype, die Panikmache und Demagogie hervorrufen und die Gesellschaft dazu aufstacheln, gegen den Islam vorzugehen. Es wird darüber hinaus deutlich, dass Houellebecq sich für den Islam und die muslimischen Gemeinschaften in Europa interessiert und nicht für die in der arabischen oder islamischen Welt. Das Geschehen bleibt innerhalb Frankreichs. Es ist jedoch problematisch, dass Houellebecq die Religion des Islam für seine Absichten einsetzt; dieser Angriff auf den Islam ist für viele Muslime inakzeptabel. Man könnte argumentieren, der Autor hätte eher die Partei der Muslimbruderschaft und nicht den Islam instrumentalisiert. Das würde dann zutreffen, wenn man im gesamten französischen und westlichen Islamdiskurs den politischen Islam (Islamismus) vom Islam als Religion klar unterscheiden würde. Islamismus ist im weitesten Sinne des Wortes ein Oberbegriff, der alle islamischen Gruppen und Organisationen umfasst, die politisch und sozial aktiv sind und die islamische Scharia als Basis für ihre Aktivitäten übernehmen. Der Islam und der Islamismus sind demgemäß zwar nicht identisch, die Grenzen zwischen ihnen
Siehe ausführlicher zu diesem Begriff: Joseph S. Nye: Soft Power. The Means to Success in World Politics. New York 2004.
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sind aber tatsächlich fließend.²⁶ Der Islamismus sieht den Islam als die alleinige Kraft in der Gestaltung des politischen und gesellschaftlichen Lebens und erhebt Anspruch auf die Vollkommenheit und Fähigkeit des Islam, eine allumfassende Ordnung der Gesellschaft zu schaffen.²⁷ Diese Vorstellung des Islamismus sowie die schrecklichen Handlungen einiger islamisch-extremistischer Gruppen, die negativ auf das öffentliche westliche Bewusstsein wirkten, hatten zur Folge, dass dem Islamismus im Laufe der Zeit Totalitarismus, Fundamentalismus und Demokratiefeindlichkeit vorgeworfen wurden.²⁸ Einige kultur- und sozialwissenschaftliche Beiträge gehen sogar noch weiter und bezeichnen den Islam und den Islamismus als eine echte Bedrohung für den demokratischen Verfassungs- bzw. Rechtsstaat.²⁹ Aus diesem negativen Islambild ergibt sich die Schlussfolgerung, dass der Islam und das Wertesystem der westlichen Kultur nicht miteinander vereinbar seien. Und das ist genau das, was Houellebecqs Roman veranschaulicht. Der Titel des Romans selbst deutet auf eine Negativität hin: Es geht um die Unterwerfung der französischen Politiker, Wissenschaftler und Bürger unter den Islam. Die Franzosen präsentieren sich als Mitläufer, die sich dem islamischen Diktat ohne Widerstand fügen. Zusammenfassend kann man von drei Aussagen sprechen, die der Roman implizit stark macht und mit denen Unterwerfung eine kulturpolitische Agitation betreibt: Der Islam gefährde erstens die Sicherheit und das friedliche Zusammenleben der westlichen Gesellschaften, verhindere zweitens die Integration von Muslimen, da er auf einem Weltbild fuße, das sich fast in jedem Punkt von der westlichen Welt unterscheide, und unterdrücke drittens die Frau und reduziere sie zu einer Hausfrau, deren wesentliche Aufgabe die Befriedigung des Mannes sei. Drei ethnozentrische und rassistische Punkte, welche die Islamophobie im Ro-
Vgl. Tilman Nagel: Islam oder Islamismus? Probleme einer Grenzziehung In: Hans Zehetmair (Hrsg.): Der Islam. Im Spannungsfeld von Konflikt und Dialog. Wiesbaden 2005, S. 19 – 35. Siehe dazu z. B. Najib al-Ghadban: al-Tahawul al-dimukrati wa al-tahaddi al- islami fi alWatan al-Arabi 1980 – 2000 [Der demokratische Wandel und die islamische Herausforderung in der arabischen Welt 1980 – 2000]. Amman 2002, S. 99. In Houellebecqs Roman begegnet François dieser Idee bei der Lektüre eines Buches über den Islam („Zehn Fragen zum Islam“), das der zum Islam konvertierte Rediger geschrieben hat. Dort heißt es, der Islam sei die einzige Religion, die imstande sei, eine echte Verbindung zwischen den einzelnen Menschen herzustellen (vgl. S. 247). Siehe z. B. Armin Pfahl-Traughber: Islamismus als extremistisches und totalitäres Denken. Strukturmerkmale einer Ideologie der geschlossenen Gesellschaft. In: Aufklärung und Kritik. Sonderheft 13 (2007), S. 79 – 95. Als Beispiel dafür vgl. Floris Biskamp: Islam, Islamismus, Moderne. Zwei Deutungen des Islamismus. In: ders.; Stefan E. Hößl (Hrsg.): Islam und Islamismus. Perspektiven für die politische Bildung. Gießen 2013, S. 103 – 125.
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man verstärken und die schließlich die geistige Verantwortung von Schriftstellern als Intellektuellen in ihren Gesellschaften zur Diskussion stellen.
4 Ein Plädoyer für die intellektuelle Verantwortung von Schriftstellern Man könnte die Vorwürfe des Antiislamismus und Ethnozentrismus gegen Houellebecqs Text für hart halten, da er sich mit problematischen Sachverhalten des gegenwärtigen französischen Menschen beschäftigt. Denn es gehört zu den Aufgaben des Schriftstellers im Allgemeinen, dass er sich für die Gesellschaft engagiert, gesellschaftsbezogene Angelegenheiten thematisiert und Missstände kritisiert bzw. auf sie aufmerksam macht. Houellebecqs Unterwerfung lässt sich durchaus als gesellschaftskritischer Roman lesen: Er stellt am Beispiel des widerstandslosen, opportunistischen und völlig unpolitischen Hochschullehrers François das Versagen des Intellektuellen in der Gegenwartsgesellschaft dar und zeigt ferner die Persistenz patriarchaler Machtverhältnisse auf. Die Art, in der Houellebecq dies tut und in der er auf stereotype Orientalismen zurückgreift, muss aber kritisch betrachtet werden. Zu Recht betont Douglas Morrey: „Although Soumission depicts the conversion of France to an Islamic state as a largely peaceful and democratic transition, from the point of view of the secular state this vision of a future France is indeed altogether monstrous.“³⁰ Mit der Zunahme terroristischer Bedrohung vonseiten extremistischer Islamisten in Europa setzen sich seit Jahren zahlreiche journalistische, kultur- und sozialwissenschaftliche Beiträge auseinander, und etliche dieser Beiträge haben das Thema entweder übertrieben oder undifferenziert dargestellt. Mit seiner Hervorhebung dieses Themas schließt sich der Roman dem aktuellen islamfeindlichen Diskurs in Europa an, der mit der Entstehung islamfeindlicher Bewegungen wie der rassistischen und rechtspopulistischen Organisation Pegida (Patriotische Europäer gegen die Islamisierung des Abendlandes) und dem europaweiten Counterjihad-Netzwerk eine konkrete Form in der deutschen und europäischen soziopolitischen Landschaft angenommen hat. Die Organisation Pegida, die für großes Aufsehen sorgt, ist nicht die einzige Erscheinung, die die Ängste vor dem Islam schürt. Befördert durch mehrere Terroranschläge von islamisch-extremistischen Gruppen (al-Qaida und ISIS) trugen Publikationen wie Kampf der Kulturen (1996) von Samuel Huntington und Feindliche Übernahme (2018) sowie Deutschland schafft sich ab (2010) von Thilo Sarrazin, die antimus Morrey 2018 (wie Anm. 12), S. 202.
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limische Überlegungen anführen, zur Verstärkung der Islamfeindlichkeit bei. Mit einer Anspielung auf Sarrazins Buch Deutschland schafft sich ab versucht Arno Widmann, Unterwerfung von islamfeindlichen und rechtspopulistischen Lesarten zu befreien: Houellebecqs Roman [Unterwerfung] ist kein Aufruf, lieber den Front National statt die Moslempartei zu unterstützen. Er entwirft auch keinen Plan, wie Islamisten die Macht in Frankreich erringen können. „Unterwerfung“ ist eine Warnung. Wenn wir uns für nichts interessieren, sollen wir uns nicht darüber wundern, dass die siegen werden, die sich für ihre Interessen einsetzen. Unsere Gleichgültigkeit wird unserer Unterwerfung den Weg bereiten. Das von unserer Interesselosigkeit geschaffene Vakuum saugt die an, die uns vertreiben werden. Sei es der Front National, seien es die Muslime. Wir werden nicht abgeschafft. Wir schaffen uns selbst ab. Das führt „Unterwerfung“, [sic] witzig-aberwitzig vor.³¹
Widmanns Lesart des Romans, welche die Abwesenheit des europäischen politisch engagierten Menschen kritisiert, wirft zugleich die Muslime, und nicht nur die islamischen Extremisten, in einen Topf mit den Rechtsextremisten und verweist auf eine Ausgrenzung des ‚Anderen‘, die den Kern des Orientalismus und des europäischen Ethnozentrismus ausmacht.³² Mit der Darstellung einer systematischen ‚Islamisierung des Abendlandes‘, die im Roman vor allem deshalb erfolgen kann, weil das westliche Individuum lethargisch, gleichgültig und interesselos ist, provoziert der Roman nicht nur die Muslime, sondern auch die Europäer, die aufgrund ihrer „Ängste […] vor Überfremdung und Islamisierung Europas“ mit einem Aufruf zu einem „christlichen Abendland“ reagieren könnten, auch wenn es hier um einen „ungefüllt[en] abstrakt[en] Kampfbegriff“ geht.³³ Die Stimme der Islamophobie beeinträchtigt den literarischen und kognitiven Wert des Romans, da er Erkenntnisse vermittelt, die ideologisch und irrational sind³⁴ und „irreführende und falsche Auffassungen
Arno Widmann: Wir schaffen uns selbst ab: Michel Houellebecqs „Unterwerfung“ und der Terror von Paris. In: Kölner Stadt-Anzeiger vom 15. November 2015. https://www.ksta.de/kultur/– sote–michel-houellebecq-wir-schaffen-uns-selbst-ab-23283444 (09.08. 2020). Vgl. z. B. Astrid Czerny u. a.: Das Orientbild des Westens. Die Botschaft hinter den Bildern. In: Der Islam in den Medien. Hrsg. vom Medienprojekt Tübinger Religionswissenschaft. Gütersloh 1994, S. 17– 29, hier S. 17 f. Kai Nonnenmacher: Unterwerfung als Konversion. Als-Ob-Bekehrungen zu Katholizismus und Islam bei Carrère und Houellebecq. In: Romanische Studien 3 (2016), S. 171– 198, hier S. 187. Terry Eagleton zufolge ist ein literarisches Werk ideologisch, wenn es sich für die Interessen sozialer Gruppe einsetzt, was den ästhetischen und kognitiven Wert des Werks vermindere, einen Ausdruck falschen Bewusstseins entstehen lasse und eine wirkliche Erkenntnis der gesellschaftlichen Verhältnisse verhindere. Vgl. Terry Eagleton: Ideologie. Eine Einführung. Stuttgart 1993, S. 39.
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über allgemeinmenschliche Zusammenhänge nahe legen“³⁵. Die im Roman entfalteten Szenarien können dem Miteinanderleben in einer multikulturellen Gesellschaft (wie der Frankreichs oder Deutschlands) viel Schaden zufügen. So betont Jule Jakob Govrin: „Die Warnung vor dem Untergang der Republik und des christlichen Abendlandes sowie die Angst um den Verlust der nationalen Identität, die aus Houellebecqs politischer Dystopie herausgelesen wurden, haben rechten Stimmen, welche die Spaltung der französischen Gesellschaft konstatieren, enormen Aufwind gegeben […].“³⁶ Für Govrin ist der Roman ein ‚politischer Akt‘: „Mit seiner Veröffentlichung hat Houellebecq keine besonnene Reflexion über den gärenden antimuslimischen Rassismus in Frankreich gefördert, sondern kalkuliert Öl ins Feuer geschüttet.“³⁷ Das besonders Problematische an Houellebecqs Roman ist sein Versuch, den Leser in eine islamfeindliche Richtung zu lenken, indem er (direkt oder indirekt) die latente Gefahr und Hinterhältigkeit der Muslime andeutet. So gesehen kann man den Roman als einen ideologischen und rassistischen Text bezeichnen: ideologisch, weil er beabsichtigt, „die Wirklichkeit zu verfälschen, Irrationales zu rationalisieren, gesellschaftliche Verhältnisse zu verschleiern oder zu rechtfertigen“³⁸, und rassistisch, weil er grundsätzliche Gemeinsamkeiten der Menschheit leugnet, Menschen als außer- oder unterhalb der Menschheit stehend klassifiziert und reale Unterschiede in der Menschheit verabsolutiert, dogmatisiert und missbraucht.³⁹ Im Blick auf die eingangs entworfene Kategorisierung lässt sich schlussfolgern, dass Unterwerfung tendenziös, irrational und unproduktiv ist. Houellebecqs François sagt am Anfang des Romans, dass die Literatur die hohe Kunst der westlichen Welt sei und dass allein die Literatur uns das Gefühl der Verbundenheit mit einem anderen menschlichen Geist vermittele, mit allem, was diesen Geist ausmache, was ihn berühre, interessiere, errege und abstoße (vgl. S. 9 f.). Einige der Dimensionen der Literatur, die sie im Laufe der Geschichte bestandsfähig machten, liegen darin, dass die Literatur den Menschen, seine Gedanken und Emotionen anspricht, seine Erkenntnisse und Lebensauffassun-
Tilmann Köppe: Literatur und Erkenntnis. Studien zur kognitiven Signifikanz fiktionaler literarischer Werke. Paderborn 2008, S. 142. Govrin 2016 (wie Anm. 22), S. 60. Ebd., S. 53. Norbert Mecklenburg: Kritisches Interpretieren. Untersuchung zur literarischen Wertung. München 21976, S. 115. Vgl. Imanuel Geiss: Geschichte des Rassismus. Frankfurt/M. 1988, S. 35.
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gen erweitert und ihn zum besseren Verstehen der Welt befähigt.⁴⁰ Diese Dimensionen schließen alle Menschen ein, weil sie sich für das Allgemeinmenschliche einsetzen. Sollte aber ein literarisches Werk eine bestimmte ethischpolitische Ansicht vertreten, sollte es wenigstens im Rahmen des Rationalen bleiben. Damit ist nicht gemeint, den Schriftsteller dazu zu verpflichten, wie oder was er in seinem Werk behandelt. Um diesen Rahmen des Rationalen zu bestimmen, kann man von einem Mindestmaßstab sprechen: Die Literatur sollte nicht rassistisch sein und keineswegs gegen Menschen, Gemeinschaften oder soziale Gruppen hetzen. Der Schriftsteller sollte seine ethisch-politischen Emotionen nicht rationalisieren. Das kann nicht die Funktion der Literatur sein. Julien Benda bindet schon im Jahr 1927 die Aufgabe der Romanciers und Dramatiker als Intellektuelle daran, „die konfliktreichen Regungen der menschlichen Seele mit höchstmöglicher Objektivität darzustellen“.⁴¹ Für Benda ist die Objektivität ein unentbehrliches Kriterium für die Literatur, welches von Schriftstellern verzerrt wird, wenn sie ihre Werke in den Dienst ihrer politischen Ziele stellen, und das „nicht etwa weil sie ihre Erzählungen mit tendenziösen Reflexionen spicken […], sondern weil sie ihren Charakteren statt Gefühlen und Handlungsweisen, die genau beobachteter Wirklichkeit entsprechen, solche verleihen, die von der eigenen politischen Passion diktiert sind.“⁴² Das Verfassen literarischer Texte – besonders, wenn diese soziopolitische Sachverhalte thematisieren – impliziert also, dass der Autor eine Verantwortung übernimmt, weil sein Schreiben ein bestimmtes außerliterarisches Bewusstsein bei den Lesern bilden kann. Verantwortlich ist er, so Améry, sowohl seinem moralischen Gewissen, welches das Produkt seiner Selbsterziehung zum Mitmenschen sei, als auch den Werten der Freiheit, Gerechtigkeit, Wahrheit und Vernunft gegenüber.⁴³
Diese Überlegung verweist auf eine Verbindung zwischen Anthropologie und Literatur. Denn literarische Texte sind in aller Regel auf den Menschen und seine Erfahrungen bezogen. Vgl. Tilmann Köppe; Simone Winko: Neuere Literaturtheorien. Eine Einführung. 2., aktual. u. erw. Aufl. Stuttgart 2013, S. 314. Benda 1983 (wie Anm. 6), S. 129. Ebd. Vgl. Améry 1992 (wie Anm. 2), S. 72 f.
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Ursprünglichkeit, Offenheit, Leere? Zur romantischen Genealogie einer (neo‐)orientalistischen Metapher in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur (Raoul Schrott, Wolfgang Herrndorf, Michael Roes) Im Orient müssen wir das höchste Romantische suchen. Friedrich Schlegel: Rede über die Mythologie (1800)
1 Eine romantische Genealogie postmoderner und postkolonialer Wüstenimagination „Ah, Wüste. Die Leere des so Benannten prädestinirt das Begriffene geradezu zur Metapher. […] Die Selbstwahrnehmung geht ganz in dieser Metapher auf.“ So lautet eine Tagebuchnotiz des fiktiven Protagonisten und Orientreisenden Ferdinand Alois Schnittke in Michael Roes’ Erfolgsroman Leeres Viertel. Rub’ al-Khali von 1996.¹ Vermittelt über eine um 1800 situierte Romanfigur kann Roes versprachlichen, was vielleicht seit jeher – aber in besonderem Maße in der sogenannten Postmoderne – die Attraktivität der Wüsten-Metapher ausmacht: Ihre scheinbare Unbestimmtheit lässt sie zu einer idealen Projektionsfläche für unterschiedlichste Diskursfelder wie Geschlecht oder ‚Rasse‘, aber auch für die Thematisierung von Schriftlichkeit und Mündlichkeit werden. Das hat auch die Literaturwissenschaft der Jahrtausendwende erkannt und in einer Reihe von Einzeluntersuchungen analysiert. Demnach wird ‚Wüste‘ in der Literatur der Postmoderne zur Chiffre für ein auf Offenheit und Entgrenzung zielendes Leben, Lesen und Schreiben. Die Leere der Wüste ermöglicht folglich einen Imaginationsraum und eine postmoderne écriture, reflektiert die Vergänglichkeit der (geschriebenen) Spur, ist offen für das Wort (Gottes), fordert zur Lektüre (der Landschaft, der Zeichen) heraus und ermöglicht ‚nomadisches‘ bzw. grenzenloses Denken.²
Michael Roes: Leeres Viertel. Rub’ al-Khali. Invention über das Spiel. Frankfurt/M. 1996, S. 548. Künftig unter dem Kurztitel Leeres Viertel mit Seitenzahl im Text zitiert. Vgl. Monika Schmitz-Emans: Die Wüste als poetologisches Gleichnis: Beispiele, Aspekte, Ausblicke. In: Uwe Lindemann; Monika Schmitz-Emans (Hrsg.): Was ist eine Wüste? Interdisziplinäre Annäherungen an einen interkulturellen Topos. Würzburg 2000, S. 127−151. https://doi.org/10.1515/9783110669428-006
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1.1 Derridas Wüstenmetapher Solche Wüstenvorstellungen verdanken sich Jacques Derrida. In zahlreichen Einzelschriften erwähnt Derrida immer wieder die Wüste zur Veranschaulichung seiner Auffassungen. Nach Derrida inszeniert die Wüsten-Topographie Räume des Zwischen ³, die durch Bilder und Metaphern Unbestimmtheits- und Leerstellen eröffnen, welche ihrerseits einen Imaginationsraum bereitstellen und gleichzeitig die Selbstrepräsentation von Literatur als Schrift ermöglichen.⁴ Die ‚Wüste‘ – unverfügbar und bedeutungsleer – füllt sich erst in der Textdeixis, also aus der selbstreflexiven Bewegung, die im Text stattfindet und lesend nachvollzogen werden kann. Die Oberflächenspannung der Texte wird reflexiv wie imaginativ ebenso in die Interpretation eingeholt, wie sie diese Einholung ihrerseits zugleich als Konstituens des Schreibaktes reflektiert. Darin liegt letztlich die Erkenntnisleistung der (literarisch-philosophisch imaginierten) Wüste: Sie stellt keinen räumlichen, zeitlichen und semantischen Verstehensrahmen bereit, sondern gewährt vielmehr dem unfasslichen Zwischen als Figur, Figuration und Defiguration gleichermaßen Raum. Dass die Wüste scheinbar ziellos und grundlos ist, dass sie Leere zu sein scheint, dass sich die vielfache lateinische Wortwurzel⁵ Fragen nach der ursprünglichen Wortherkunft entzieht, dass die Wüste schweigt, Antworten verweigert, damit einen logozentrischen Ursprung verneint und nicht zur sinnstiftenden Instanz wird: All das macht ‚die Leere der Wüste‘ in dekonstruktivistischer Perspektive attraktiv und anschlussfähig an die postmodernen (philosophischen und literaturwissenschaftlichen) Vorstellungen.⁶
Vgl. Jacques Derrida: Die Schrift und die Differenz [franz. 1967]. Übers. v. Rodolphe Gasché. Frankfurt/M. 1976, S. 36 – 38. Vgl. dazu Monika Schmitz-Emans: Schrift und Abwesenheit. Historische Paradigmen zu einer Poetik der Entzifferung und des Schreibens. München 1995, S. 448 – 452. Vgl. Derrida 1976 (wie Anm. 3), S. 102– 104. Vgl. auch Jacques Derrida: Die zweifache Séance [franz. 1969]. In: ders.: Dissemination. Übers. v. Hans-Dieter Gondek. Wien 1995, S. 193 – 320, hier S. 276. Vgl. Uwe Lindemann: „Passende Wüste für Fata Morgana gesucht“. Zur Etymologie und Begriffsgeschichte der fünf lateinischen Wörter für Wüste. In: Uwe Lindemann; Monika SchmitzEmans (Hrsg.): Was ist eine Wüste? Interdisziplinäre Annäherungen an einen interkulturellen Topos. Würzburg 2000[a], S, S. 87– 100. Vgl. Schmitz-Emans 2000 (wie Anm. 3), S. 138.
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1.2 Saids Kritik orientalistischer Wüstenimaginationen In seinem Standardwerk Orientalism (1978) nutzt Edward Said Derridas Theorien der différance, um Orientalismus als Praxis des Othering zu beschreiben. Said entlarvt die Wüsten-Darstellungen des französischen Orientreisenden FrançoisRené de Chateaubriand als Musterbeispiel einer Orientprojektion; also einer Anverwandlung tatsächlicher historischer Reiseerfahrungen (mit all ihren Filtern) durch die Literatur, welche die Stereotypen noch einmal filtert. Nach Said lässt sich Orientalismus bestimmen durch die Relevanz, die der Ich-Erzähler gegenüber dem Orient einnimmt: Er kann ganz darauf verzichten, sich in den Text einzubringen, oder aber er bringt seine Person stark in den Text ein, um Wissen zu vermitteln oder Daten auszuwerten.⁷ In literarischen Texten hingegen dominiert ein Erzählmodell, bei dem der Erzähler formal, stilistisch und intentional das Modell einer Pilgerreise imitiert. Daher dominiert im Text ein literarisches Ich, das seine „romantische Sehnsucht nach restaurativer Rekonstruktion“⁸ im Text entfaltet. Chateaubriands Itinéraire de Paris à Jerusalem (1810/11) gilt Said als Musterbeispiel des orientalistischen Pilgerreisenden, „der im Orient genau das fand, was seinen persönlichen Mythen, Besessenheiten und Bedürfnissen entsprach“⁹. Chateaubriand habe auch im Orient nur von sich selbst erzählen wollen; gottgleich bringe er die schweigende Wüste „wieder zum Sprechen“¹⁰. Zwar bilde Chateaubriand sein Ich in der Begegnung mit der Wüste vollständig um, doch gleichzeitig verleibe er sich die Wüste durch seine „egoistischen Orient-Erinnerungen“¹¹ vollständig ein. Laut Said löst sich Chateaubriands Ich „im Nachsinnen über die selbst geschaffenen Wunder auf und wird dann wiedergeboren, stärker als je zuvor und besser in der Lage, die eigene Macht und die eigenen Deutungen zu genießen“¹². Das heißt, vor dem Erzähler-Ich verschwindet die Historizität der Wüste; ihm wird alles gleich und überzeitlich; er tritt in ein direktes Verhältnis zur Wüste (und zur Religion).
Vgl. Edward W. Said: Orientalismus [engl. 1978]. Übers. v. Hans Günter Holl. Frankfurt/M. 2012, S. 196. Ebd., S. 197. Ebd., S. 199. Ebd., S. 203. Ebd., S. 204; vgl. auch ebd., S. 203. Ebd., S. 202.
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1.3 Wüstenimaginationen in der deutschen Romantik Dass Said Chateaubriand als Musterbeispiel für den literarischen Reisebericht gewählt hat, ist nicht ohne Bedeutung, setzt doch um 1800 mit der Romantik in Europa eine Gegenbewegung zur vorausliegenden Epoche der Aufklärung ein¹³, die vieles anders wertet und die Verflüssigung scheinbar festgefügter Kategorien wie Körper, ‚Rasse‘ und Geschlecht thematisiert. Diese – wenn man so will – ‚romantische Imaginationsarbeit‘ vollzieht sich in der europäischen Literatur vor dem Hintergrund der napoleonischen Neuordnung¹⁴; und daher zählt auch die Wüsten-Metapher zum Arsenal der ‚Symphilosophie‘, leistet sie doch die Ablösung des literarischen Mimesis-Konzepts durch eine „Poetik der Imagination“¹⁵. In diesem Sinne nutzen etwa E.T. A. Hoffmann, Achim von Arnim oder Clemens Brentano¹⁶ die Metapher der Wüste, um der Poesie zu ihrem Recht zu verhelfen. Diese Wüsten-Imaginationen können heute von der Forschung als Orientalismus ausgewiesen werden, da sie vorgefundene Topoi biblischer und historischer Wüstendarstellungen literarisch verarbeiten und damit strukturell analog zu Chateaubriand verfahren.¹⁷ Allen gemein ist, dass sie den Topos ‚Wüste‘ nutzen, um einen Gegenentwurf zur ernüchternden Realität der nach-napoleonischen Ära zu entwerfen. Darüber hinaus dient der Rückgang auf eine scheinbar seit Ewigkeiten existierende archaische und unveränderbare Landschaft dazu, Grundfragen der monotheistischen Religion zu diskutieren¹⁸ und prophetisches (oder gar messianisches) Sprechen zu imitieren. Angesichts des horror vacui der Wüste entfalten sich romantische Wüstenprojektionen, die primär als Reflexions- und Für eine anti-orientalistische Lektüre eines der bedeutendsten deutschen Wüstenforscher des Aufklärungszeitalters vgl. Stephan Conermann: Carsten Niebuhr und das orientalistische Potential des Aufklärungsdiskurses – oder: Ist das Sammeln von Daten unverdächtig? In: Josef Wiesehöfer; Stephan Conermann (Hrsg.): Carsten Niebuhr (1733 – 1815) und seine Zeit. Beiträge eines interdisziplinären Symposiums vom 7.–10. Oktober 1999 in Eutin. Stuttgart 2002, S. 403 – 432, hier S. 431. Zu Niebuhrs Wüstenimagination vgl. Uwe Lindemann: Die Wüste. Terra incognita – Erlebnis – Symbol. Eine Genealogie der abendländischen Wüstenvorstellungen in der Literatur von der Antike bis zur Gegenwart. Heidelberg 2000[b], S. 37– 39. Vgl. Chenxi Tang: The Geographic Imagination of Modernity. Geography, Literature and Philosophy in German Romanticism. Stanford 2008. Vgl. Schmitz-Emans 2000 (wie Anm. 2), S. 132. Vgl. Lindemann 2000b (wie Anm. 13), S. 114– 124. Soweit ich sehe, fehlt bislang eine einschlägige Untersuchung zur orientalistischen Wüstenimagination in der deutschen Romantik; grundlegend zum Orientalismus allgemein in der deutschsprachigen Romantik vgl. Susanne Zantop: Colonial Fantasies. Conquest, Family, and Nation in Precolonial Germany, 1770 – 1870. Durham; London 1997. Die Wüstendarstellung Arnims und Brentanos steht zudem im Kontext ihrer Auseinandersetzung mit der als ursprünglich begriffenen katholischen Konfession.
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Selbstverständigungsmedium der Dichter angesichts der unsicher gewordenen literarischen Produktionsverhältnisse dienen.¹⁹ Ihre Vorbilder sind Eremiten und Propheten, ihr Dichten beansprucht Autorität und ihm eignet Sendungsbewusstsein.²⁰
1.4 Die Unentrinnbarkeit romantischer Wüstenimaginationen: Derrida mit Said gelesen Derridas Einlassungen zur Wüstenmetaphorik lassen sich mit Said kritisch lesen. Bei Derridas Interpretationsvorschlag handelt es sich dann – stark verkürzt gesprochen – um eine Fortschreibung romantischer Wüstenimaginationen, und es verwundert kaum, dass sich Derrida angesichts dessen – wenn er denn überhaupt deutsche Dichter und Denker zitiert – hauptsächlich mit den Romantikern auseinandersetzt (das gilt ebenso für seine literaturwissenschaftlichen Kombattanten und Adepten wie etwa Paul de Man oder – nolens volens – Edward Said).²¹ Handelt es sich also bei dem von Derrida angebotenen Wüstenbild nicht auch um einen Orientalismus au second degrée, um eine autoritative Deutungsgeste, die bewusst a-traditionell, nicht-messianisch und nicht-christlich ist, die zudem – wie auch im Falle Saids – durch Ausweis der eigenen Benachteiligung (als in Algerien aufgewachsener französischer Jude bzw. als in den USA lebender und forschender Palästinenser) einen qua Liminalität privilegierten Standpunkt beansprucht? Und schließlich: Sind die Fixierung auf Schriften von ‚alten weißen Männern‘ und deren orientalistische Dekonstruktion nicht selbst wieder orientalistisch?²² Achille Mbembe hat ferner darauf hingewiesen, dass Afrika eine Tatsache und nicht eine Imagination ist²³: In der als leer imaginierten Wüste leben durchaus Menschen, wenn auch nicht unbedingt dauerhaft. Gleichfalls ist für diese Menschen die Wüste kein leerer, unbeschrifteter Raum, sondern sie besitzt
Vgl. Lindemann 2000b (wie Anm. 13), S. 123. Vgl. ebd., S. 115, 121. Vgl. David L. Clark: Lost and Found in Translation: Romanticism and the Legacies of Jacques Derrida. In: Studies in Romanticism 46 (2007), H. 2, S. 161– 182. Vorsichtig hat Gayatri Spivak Widersprüche in Saids Denken erstmals benannt, vgl. Gayatri Spivak: Thinking about Edward Said. Pages from a Memoir. In: Critical Inquiry 31 (2005), H. 2, S. 519 – 525. Wieder aufgegriffen wurde das problematische Verhältnis von Dekonstruktion und Orientalismus durch Engin F. Isin: We, the Non-Europeans: Derrida with Said. In: Bora Isyar; Agnes Czajka (Hrsg.): Europe after Derrida. Edinburgh 2013, S. 108 – 119 (dort auch weitere Forschungsliteratur). Vgl. Achille Mbembe: De la postcolonie. Essai sur l’imagination politique dans l’Afrique contemporaine. Paris 2000, mit einer Priorisierung von Deleuze und Guattari gegenüber Derrida.
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eine (vielleicht nur ihnen) vertraute (und flüchtige) Topographie. Dass ihre Kultur eventuell (nicht zwingend) schriftlos ist, macht sie im ‚weißen, überlegenen (Männer‐)Blick‘ (es kann auch der Blick des Arabers/Palästinensers/Juden auf den Berber sein) jedoch gleichsam inexistent.
2 Wüstenimaginationen bei deutschsprachigen Gegenwartsautoren Wie verhält sich die deutschsprachige Gegenwartsliteratur zum orientalistischen Wüstendiskurs? Zwar ist die deutsche Kultur – im Vergleich etwa zur französischen oder englischen – arm an kolonialen Erfahrungen und noch ärmer an kolonialen Wüstenimaginationen.²⁴ Das bedeutet jedoch weder, dass es keine deutschen Kolonien gegeben hätte – verkürzt: Das deutsche Kolonialreich reicht vom Erwerb von Groß Friedrichsburg 1683 (heute Ghana) bis (wenigstens) zur Annexion von ‚Lebensraum im Osten‘–, noch, dass die deutschsprachigen Schriftstellerinnen und Schriftsteller der Gegenwart nicht teilhätten am anti-kolonialistischen Diskurs. Ich möchte jedoch zeigen, welche Textstrategien deutschsprachige Autoren nutzen, um die doppelte Imagination der Wüste (dekonstruktivistisch und orientalistisch) zu reflektieren und zu gestalten bzw. reflektierend zu gestalten. Dabei werde ich mich auf drei Autoren stützen: einmal auf den eingangs bereits aufgerufenen Michael Roes mit seinem Roman Leeres Viertel (1996), sodann Raoul Schrott mit drei Werken (Die Wüste Lop Nor, 2000; Khamsin, 2002 sowie Die Fünfte Welt, 2007)²⁵ und schließlich Wolfgang Herrndorf mit Sand (2011).²⁶ Kaum ein Forschungsbeitrag zu den genannten Werken verzichtet darauf, Derridas Reflexionen zur Wüste und zur Leere zu zitieren; dabei wird jedoch versäumt, die Thematik dieser Wüstenimagination im Kontext anti-kolonialistischer Lektüren zu vertiefen. Mein Beitrag will diesem Missstand abhelfen. Dazu rekurriere ich im Folgenden auf zwei Texte, die analytische Kategorien zur Klärung der Fragestellung bereitstellen. Es handelt sich einerseits um Kategorien, die Edward Said in Orientalism zur Aufdeckung orientalistischer Darstellungsmodi in
Vgl. Lindemann 2000a (wie Anm. 5). Raoul Schrott: Die Wüste Lop Nor. Novelle. München; Wien 2000; ders.: Khamsin. Frankfurt/M. 2002; ders.: Die Fünfte Welt. Ein Logbuch. Innsbruck 2007. Künftig unter den Kurztiteln Lop Nor, Khamsin und Fünfte Welt mit Seitenzahl im Text zitiert. Wolfgang Herrndorf: Sand. Roman. Berlin 2011. Künftig unter dem Kurztitel Sand mit Seitenzahl im Text zitiert.
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der jüngsten Phase des Orientalismus vorschlägt: volkstümliche Bilder und sozialwissenschaftliche Darstellungen (2.1), Kulturpolitik (2.2), armseliger Islam (2.3) und der ewige Orientale (2.4.).²⁷ Ergänzend nehme ich Topoi der Wüstenimagination hinzu, die Uwe Lindemann in seiner Dissertation zu Wüstenimaginationen erarbeitet hat: Wüste als Zufluchtsstätte für illegitime Liebe (2.5), Wüste als Leere und ennui (2.6), Wüstendasein als nomadisches Leben (2.7), das triviale Wüstenabenteuer (2.8) sowie Wüste als Reflexionsraum (2.9).²⁸ Die von Said und Lindemann erarbeiteten Kategorien ergänzen sich. Mithilfe der genannten Kategorien soll der Umgang der genannten Autoren²⁹ mit offensichtlichen und verdeckten ‚Kolonialismen‘ dargestellt werden, wobei es nicht darum geht, schulmeisterlich Noten für anti-kolonialistische und anti-orientalistische Schreibverfahren zu vergeben, sondern Verfahren aufzuzeigen.
2.1. Volkstümliche Bilder und sozialwissenschaftliche Darstellungen Michael Roes’ Leeres Viertel ist ein Text, der am offensichtlichsten das von Said inkriminierte orientalistische Erzählmodell wiederholt.³⁰ Zu beachten ist allerdings, dass Roes zwei Handlungsstränge parallel führt: Der eine wird vom Forschungstagebuch des Orientreisenden Schnittke gebildet, der um 1800 von Weimar Richtung Jemen aufbricht, um alte Manuskripte zu sammeln; der zweite ist das Forschungstagebuch eines Gegenwartsreisenden, der im Rahmen eines anthropologischen Forschungsprojekts arabische Spiele im Jemen erforscht. Roes Vgl. Said 2012 (wie Anm. 7), S. 368. Vgl. Lindemann 2000b (wie Anm. 13), S. 104, 107, 131, 139 u. 142. Ein weiterer von Lindemann benannter Aspekt (Wüste als Symbol der absoluten Freiheit, ebd., S. 142) spielt in den untersuchten Romanen keine Rolle bzw. geht in den übrigen Aspekten auf. Trotz intensiver Suche habe ich – mit einer Ausnahme (Christa Wolf; Günter Uecker: Wüstenfahrt. Berlin 1999. Vgl. dazu Sabine Eickenrodt: „Wüstenfahrt“. Labyrinthische Bilder der [End‐]Zeit in einer späten Erzählung Christa Wolfs. In: dies. [Hrsg.]: Unwirtliche Landschaften. Imaginationen der Ödnis in Literatur und Medien. Frankfurt/M. u. a. 2016, S. 89 – 113) – keinen Beitrag einer Gegenwartsautorin finden können, die die Wüstenimagination in ähnlicher Weise betreibt wie die hier untersuchten Autoren. Das ist eine Terra incognita, die noch erschlossen werden sollte. Zu denken wäre auch an weitere Autoren und Werke, die die Wüste thematisieren, wie Wolfgang Hildesheimer mit Masante (1988) oder Bodo Kirchhoff mit Der Sandmann (1992). Zur Thematik vgl. Todd Curtis Kontje: Michael Roes’s Postmodern Orientalism. In: ders.: German Orientalisms. Ann Arbor 2004, S. 231– 237; zur aktuellen Forschung vgl. Seiriol Dafydd: Intercultural and Intertextual Encounters in Michael Roes’s Travel Fiction. London 2015; ferner Christoph Schmitt-Maaß: Das gefährdete Subjekt. Selbst- und Fremdforschung in gegenwärtiger Ethnopoesie. Heidelberg 2011, bes. S. 189 – 235.
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kompiliert im historischen Erzählstrang geschickt eine Reihe von Reiseberichten des 18. und 19. Jahrhunderts, um ein buntes (‚orientalisches‘) Bild zu entwerfen; dem entgegengesetzt sind die nüchternen Notate des skeptischen GegenwartsAnthropologen. So schildert Roes’ Protagonist Schnittke einen Gottesdienst in der Jerusalemer Grabeskirche als „Bacchanal“: Von hier habe ich das Vergnügen, die Versammlung unter mir eine Zeitlang ungestört beobachten zu können. Das kleine Grabgebäude hat das Ausmaass eines grossen Zimmers. Es bildet ein längliches Viereck und ist mit Kupfer bedeckt. Die Griechen nehmen den Platz auf der einen Seite des Grabes, desgleichen den Haupttheil der Kirche ein, die Armenier versammeln sich auf der anderen Seite des Grabes. Diese verhalten sich andächtig und besonnen, während sich die Griechen im höchsten Grade unanständig benehmen und ein Lärmen machen, das mir in den Ohren gellt. Die Jüngeren drängen und balgen sich; drey oder vier von ihnen überfallen einen Andern und tragen ihn, mag er wollen oder nicht, um das Grab herum, während ein anderer Haufe ihnen mit wildem Geschrey hinterher rennt. Man feyert keinen Gottesdienst, man begeht ein Bacchanal. (Leeres Viertel, 48)
Bei der Schilderung handelt es sich um ein fast wortwörtliches Zitat des Reisenden Ulrich Caspar Seetzen aus dem Jahr 1802/1803.³¹ Der historisierende Erzählteil dient folglich dazu, historische Orientbilder zu reproduzieren; gleichzeitig ist diesem Zitatsystem eine Chronologie eingeschrieben, da Roes am Beginn seines Werkes tendenziell aus älteren Texten (von der Mitte des 18. Jahrhunderts bis etwa 1813) zitiert, am Ende aus neueren (vom Ende des 19. Jahrhunderts).³² Diese ‚lebendigen‘ Darstellungen des historischen Orients werden mit der ‚tristen‘ Realität des gegenwärtigen Orients konfrontiert:
„Von der Gallerie hatte ich das Vergnügen, die Versammlung unten eine Zeitlang ungestört zu beobachten. Das kleine Grabgebäude hat die Grösse eines grossen Zimmers. Es bildet ein länglichtes Viereck, ist mit Kupfer bedeckt, und hat an einem Ende eine kleine Latern-Kuppel. Die Griechen nehmen den Platz auf der einen Seite dieses Grabgebäudes, imgleichen den Haupttheil der Kirche ein, wo sie ihren Gottesdienst verrichten. Die Armenier hatten sich auf der andern Seite des Grabgebäudes versammelt. Diese hielten sich ruhig, die Griechen hingegen betrugen sich im höchsten Grade unanständig und machten einen Lermen, dass mir die Ohren gellten. […] Die jüngern stiessen und drängten und balgten sich; drey bis vier von ihnen überfielen einen Andern und trugen ihn, er mochte wollen oder nicht, um das Grab herum, während dem ein anderer Haufe ihnen mit wildem Geschrey nachrannte. […] Es war ein Karneval, und man schien nicht ein christliches Fest, sondern Bacchanalien zu feyern.“ Ulrich Jasper Seetzen’s Reisen durch Syrien, Palästina, Phönicien, die Transjordan-Länder, Arabia Petraea und Unter-Aegypten. Hrsg. v. Friedrich Kruse. Bd. 2. Berlin 1854, S. 5. Vgl. Christoph Schmitt-Maaß: „mäandernd, ornamentalisch, ohne progression“? Fußnotenschächte zu Michael Roes’ Freibeutertext „Leeres Viertel“ (1996). In: Revista de Filología Alemana 15 (2007), S. 95 – 109.
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Am morgen ein zweiter spaziergang durch die altstadt. Wir schieben uns zwischen hauswänden und kraftwagen hindurch, stolpern über knöchelhohen müll in den gassen. Spielende kinder suchen wir hier vergeblich. Die bewohner Ibbs scheinen weniger traditionell zu leben als die menschen im norden oder osten des landes. Die bevölkerung ist nicht mehr tribal strukturiert. […] Der autoverkehr vertreibt die kinder von der strasze. Ersatzweise haben spielhallen mit billardtischen und spielautomaten eröffnet, die bereits von vier- und fünfjährigen besucht werden. Auf die frage, welche spiele sie auszer videogames noch kennten, nennen sie uns ausschlieszlich fuszball. Ibb hat ein vergleichsweise mildes klima und liegt privilegiert inmitten grüner, fruchtbarer berge. Je extremer oder lebensfeindlicher die daseinsbedingungen sind, desto strenger wird an der überlieferten ordnung festgehalten. (Leeres Viertel, 240)
Roes nutzt die (lebendigen, orientalistischen) historistischen Erzählpartien, um sie mit dem (nüchternen, postmodernen) ethnographischen Forschungsdiarium zu kontrastieren. Raoul Schrott hat sich um die Jahrtausendwende in verschiedenen Texten der Wüste angenähert. Während Lop Nor die Unfähigkeit der Europäer zur Herausbildung stabiler Paarbeziehungen reflektiert, wobei die Wüste als Reflexions- und Erzählraum fungiert, stellt Fünfte Welt (mit Fotografien von Hans Jakobi) die unerschlossene Wüste des Tschad dar, in Abgrenzung zur Ersten und Dritten Welt, der Schrott noch eine Vierte (nomadische) Welt beiordnet. Organisiert von der Universität zu Köln unter Leitung des Saharaforschers Prof. Stefan Kröpelin und dokumentiert durch das ZDF, zielt die Expedition auf die Erforschung archäologischer Fundstellen in der Wüste, an denen sich „die Auswirkungen des Klimawandels ablesen lassen – und wie dieser wiederum Kulturformen verändert“ (Fünfte Welt, 46 f.). Schrotts Text schildert die Leere einer kaum bekannten Weltgegend, aber auch die vom Erzähler freudig erregt kommentierte Entdeckung prähistorischer Siedlungsspuren. Zugleich ist der Text stark auf die Expedition und ihre Teilnehmer fokussiert. Die Wüstenbewohner bleiben weitgehend unzugänglich, oder genauer: Der Erzähler hat kein soziologisch-ethnologisches Interesse an den Wüstenbewohnern. Wie die Frauen unter dem Hijab, so bleiben auch die Wüstenbewohner ‚gesichtslos‘. Das Scheitern der Wüstenexpedition bzw. die Lebensgefährlichkeit dieses Unternehmens wird in Khamsin reflektiert, einem Buch, das einen erzählerischen Gegen- oder Alternativentwurf zu Fünfte Welt darstellt. Wolfgang Herrndorfs Roman Sand ist ein elaboriertes Gemisch aus Abenteuer-, Spionage- und Liebesroman, das sich wenig für volkstümliche Bilder oder sozialwissenschaftliche Darstellungen interessiert. Bereits in seinem Erfolgsroman Tschick hatte Herrndorf die Walachei als Wüste imaginiert, ein Motiv, das er
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in seinem häufig als dialektisches Gegenstück zu Tschick ³³ gewerteten ‚Wüstenroman‘ Sand weiter ausbaute, wobei er sich, wie die Literaturkritik wiederholt festgestellt hat, der schwarzen Romantik bediente.³⁴ Bereits das fiktive HerodotZitat³⁵, das dem Buch vorangestellt ist und den ersten europäischen Bericht über die Wüste und ihre Bewohner enthält, kennzeichnet beide als das ganz Andere.³⁶ Herrndorf betreibt mit seiner scheinbar postmodernen Montage von Motti eine Geschichte der Wüstenaneignung durch die Europäer³⁷, fächert aber zugleich durch die Figurenkonstellationen ein ganzes Arsenal an Stereotypen auf, die im Laufe der Handlung nicht eindeutiger werden, sondern zunehmend opaker: Der Protagonist Carl ist Frankoarabier (pied noir) und schwankt in seiner Identitätssuche zwischen den Kulturen, hat aber für die Wüste und ihre Bewohner nur Verachtung übrig; die weiße Gegenspielerin entpuppt sich als amerikanische Geheimagentin, die aus ihrem Überlegenheitsgefühl gegenüber der indigenen Einwohnerschaft keinen Hehl macht und in europäischen Exklaven lebt; die Bewohner einer Hippiekommune schließlich werden als Illusionisten gezeichnet, die sich zunächst der einheimischen Bevölkerung öffnen, um sich nach schmerzhaften Negativerfahrungen umso entschiedener zu isolieren.
2.2 Kulturpolitik Roes wurde für seine Arbeit an Leeres Viertel mit einer Fellowship des Institute for Advanced Studies Budapest (Forschungsaufenthalt in der jemenitischen Hauptstadt San’a) sowie mit einem Arbeitsstipendium der 1772 als Seehandlungs-So Wolfgang Herrndorf: Tschick. Roman. Reinbek 2010, S. 103. Es handele sich, so der Autor selbst, bei Sand um einen „Gegenpol“ zur „Freundlichkeit“ von Tschick, eine „nihilistische Wüste“, Wolfgang Herrndorf: Arbeit und Struktur. Berlin 2013, S. 206 (künftig mit dem Kurztitel Arbeit im Text zitiert); vgl. dazu Michaela Holdenried: „Praktisch. Wüste“. Exotismus – AntiExotismus – Pseudo-Exotismus als narrative Momente im Werk von Wolfgang Herrndorf. In: Matthias N. Lorenz (Hrsg.): „Germanistenscheiß“. Beiträge zur Werkpolitik Wolfgang Herrndorfs. Berlin 2019, S. 323 – 339, hier S. 327. Vgl. Sandra Beck: „Das Feuilleton wird es lieben.“ Zur Rezeption von Wolfgang Herrndorfs „Sand“. In: Annina Klappert (Hrsg.): Wolfgang Herrndorf. Weimar 2015, S. 239−254, hier S. 245. Vgl. Holdenried 2019 (wie Anm. 33), S. 332. Vgl. Maximilian Burk; Christof Hamann: „There is no conflict?“ Zur Konstruktion und Irritation binärer Strukturen in Wolfgang Herrndorfs „Sand“. In: Gabriele Dürbeck; Axel Dunker (Hrsg.): Postkoloniale Germanistik. Bestandsaufnahme, theoretische Perspektiven, Lektüren. Bielefeld 2014 S. 329 – 354, hier S. 332 f. Vgl. Sonja Arnold: Der „Aufbewahrungsort des Falschen“. Fehler und Zufälle in Wolfgang Herrndorfs Roman „Sand“ am Beispiel des Homonyms ‚Mine‘. In: Pandaemonium Germanicum 21 (2013), S. 25 – 47, hier S. 26.
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cietät gegründeten Stiftung Preussische Seehandlung gefördert. Deren Vorgängerinstitution, die Brandenburgisch-Afrikanische-Compagnie, war direkt am Sklavenhandel beteiligt, die Seehandlungs-Societät hingegen beschränkte sich offenbar auf den Handel (zunächst nur mit Salz und Wachs, ab 1794 stand ihr das Recht zu, mit allen Waren zu handeln). Ob dies Sklaven mit einschloss, ist derzeit nicht festzustellen.³⁸ Im späten 19. Jahrhundert war die Preussische Seehandlung an der Kolonialisierung Deutsch-Ostafrikas zumindest organisatorisch und finanziell beteiligt. Die heutige Stiftung verschreibt sich dem Ziel „das Zusammenleben und das gegenseitige Verständnis der Bürger in Berlin, in Deutschland und Europa zu fördern“³⁹. Michael Roes, der in jüngerer Zeit auch als kritischer Chronist des preußischen Staates aufgefallen ist⁴⁰, trägt mit seinem postmodernen, anti-kolonialistischen Roman zu einer Selbstaufklärung bei, welche die Stiftungsstatuten widerspiegelt. Schrotts Wüstenexpedition in den Tschad wurde vom ZDF finanziert und stand unter der Leitung des Kölner Sahara-Forschers Kröpelin. Schrott sieht durch die Vorgaben des finanzierenden Fernsehsenders die intendierte Reportage degradiert zur „Kolportage“ (Fünfte Welt, 33), wobei der ZDF-Film eine Aneinanderreihung von „Klischee[s]“ nach einem „vorab“ existierenden „Drehbuch“ liefert (Fünfte Welt, 32), auf dessen Basis die Filmemacher die „einzelnen Szenen zu einer Dramaturgie kollagieren, die mit der Episodik der Reise nichts zu tun hat“ (Fünfte Welt, 33). Die beiden anderen Bücher – Die Wüste Lop Nor sowie Khamsin – weisen keine Förderinstitution aus, sind also mutmaßlich im Rahmen des Mainzer Stadtschreiberstipendiums bzw. als Nebenprodukt von Fünfte Welt entstanden. Herrndorf schrieb seinen letzten Roman Sand, als sich der Vorgängerroman Tschick zum Verkaufsschlager entwickelte und die Diagnose eines inoperablen Hirntumors feststand. Zusammen mit den Autoren Per Leo und Jochen Schmidt flog Herrndorf 2010 nach Marokko, um für Sand zu recherchieren. Die Ergebnisse sind in verfremdeter Form (der Handlungsort ist fiktionalisiert und nicht deckungsgleich mit Marokko) in Sand eingearbeitet.
Vgl. Torsten Maywald: Preussische Seefahrt 1605 – 1772. Intentionen und Hintergründe. Univ. Zürich: Diss. 2011; Heinz Burmester: Weltumseglung unter Preußens Flagge. Die Königlich Preußische Seehandlung und ihre Schiffe. Hamburg 1988. https://www.stiftung-seehandlung.de/foerderungsprogramm/ (Stand: 08.08. 2020). Vgl. Michael Roes: Zeithain. Roman. Frankfurt/M. 2017.
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2.3 Armseliger Islam Während Roes und Schrott jede Herabsetzung des Islam vermeiden, bedient sich Herrndorf der James-Bond-artigen Figur des Spions Lundgren, um die gängigen Klischees zu versprachlichen. Dabei zeichnen sich Parallelen zu den anti-islamischen Denunziationsformeln in Michel Houellebeqcs Roman Plateforme (2001)⁴¹ ab: „Die Kameltreiber kriegten es nicht in den Griff“ (Sand, 63), ‚der Araber‘ zeichne sich durch „Nichtstun, Intrige und Fanatismus“ (Sand, 64) aus, er „hockt[] irgendwo auf seinem Hof [und] penetriert[] seinen Lieblingshammel“ (Sand, 65). Solche Hasstiraden wirken als Kanalisation orientalistischer Klischees, Beleidigungen und Herabsetzungen. Gerade in ihrer Drastik unterscheiden sich die Orientalismen des ‚armseligen Islam‘ deutlich von den ästhetizistischen Reflexionen bei Roes und Schrott; diese Drastik ist aber zugleich einer Figurenzeichnung zu verdanken, die – wie im Falle des Spions Lundgren – als Parodie der Gattungskonventionen gelesen werden muss.
2.4 Der ewige Orientale Die Autoren gehen also mit dem Klischee des ewigen Orientalen – laut Said ein bestimmendes Merkmal orientalistischer Texte – sehr bewusst um. Während die historische Erzählfigur in Roes’ Leeres Viertel sich vom Orient-Träumer zum Aufklärer wandelt, ist die Figur des im Jemen der Gegenwart Forschenden ambivalenter und zugleich abgeklärter. Dient der historische Erzählstrang dazu, Klischees vom ‚ewigen Orientalen‘ erzählerisch zu etablieren und schließlich zu reflektieren, so ist die postmoderne Erzählfigur darauf angewiesen, die Spannung zwischen orientalistischem Klischee und post-orientalistischer Reflexion auszuhalten – im Wissen um die Unentrinnbarkeit einer zeit- und standortgebundenen (und daher immer mit vorgängigen Bildern operierenden) Perspektive. So lässt sich etwa die Bemerkung zum ‚arabischen Stoizismus‘ deuten:
„L’islam ne pouvait naître que dans un désert stupide, au milieu de bédouins crasseux qui n’avaient rien d’autre à faire, pardonnez-moi, que d’enculer leurs chameaux.“ [‚Der Islam konnte nur entstehen in der stumpfsinnigen Wüste, im Umfeld von dreckigen Beduinen, die – verzeihen Sie – nichts anderes zu tun haben als ihre Kamele in den Arsch zu ficken.‘] Michel Houellebecq: Plateforme. Paris 2001, S. 243 f., 251 (Übers. v. CSM). Zu beachten ist allerdings, dass weder Houellebecq selbst noch sein islamophober Romanprotagonist Michel diese Aussage tätigt, sondern ein Ägypter.
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Ein seltsames miszverhältnis zwischen gleichmut und ungeduld herrscht in dieser kultur. Ständig wird, vor allem im straszenverkehr, gerast, gedrängt und genötigt. Andererseits ist das warten auf jemanden oder etwas eine alltägliche erfahrung. Sind jemeniten unterwegs, sind sie voller unrast und eile. Haben sie auszuharren, tun sie es mit stoischer geduld. (Leeres Viertel, 582 f.)
Schrott hingegen geht einen anderen Weg: sein Protagonist passt sich in die orientalische Kultur ein, indem er die westlichen Klischees aufnimmt und auf sich selbst überträgt. So heißt es an einer Stelle über ‚Raoul‘: „Raoul trinkt den Tee, kaut die Minzblätter, dann die Nußkerne, dreht sich eine Zigarette. Ist man allein, sollten solche Dinge lange dauern, damit es aussieht, als wäre man beschäftigt. […] Es ist wichtig, daß man etwas hat, worauf man den Blick richten kann, sonst wandert er zu den Frauen an den Fenstern hinauf.“ (Lop Nor, 23) Da einerseits in Lop Nor (westliche) Paarbeziehungen reflektiert werden und andererseits in der Fünften Welt die Unzugänglichkeit der weiblichen arabischen Kultur für den westlichen (männlichen) Beobachter thematisiert wird, übt sich der Protagonist ‚Raoul‘ in ‚Blickvermeidungsstrategien‘, die er bei den ‚ewigen Orientalen‘ entlehnt zu haben glaubt. Herrndorfs Sand schließlich bemüht eine ganze Reihe von Klischees, die den ‚ewigen Orientalen‘ betreffen, verpackt sie jedoch geschickt in eine Rollenprosa, die zugleich in eine Gattungsreflexion eingebettet ist. Wie bereits oben gezeigt, versprachlicht vor allem die Figur des Spions Lundgren orientalistische Klischees vom ‚armseligen Islam‘. Ähnliches gilt für den ‚ewigen Orientalen‘, etwa einen „zahnlosen Araber“, der am Straßenrand bettelt, „[u]nunterbrochen. Ab und zu kippte der Alte nach vorn, um in irgendeine Richtung zu beten. Danach starrte er wieder ihn [Lundgren] an.“ (Sand, 67) Lundgren wird als Abziehbild eines westlichen (weißen) Spions in die Handlung eingeführt; durch seine Figur lässt sich eine Reihe von Klischees versprachlichen, die in den Spionage- und Kolportageromanen der 1950er und 1960er Jahren vor allem von Ian Fleming in der Gestalt des James Bond etabliert wurden. Eigentlich war Bond als Parodie des typischen Macho-Spions angelegt, doch prägte die Figur eines im Dienste des Commonwealth stehenden Spions orientalistische Klischees für die ‚orientalischen‘ Gebiete des britischen Königreichs bzw. des ‚Protektorats‘ (Pakistan, Palästina, Ägypten, Sudan etc.).⁴² Der Spion Lundgren wiederum ist mit einer Lizenz zum Stereotypisieren ausgestattet, spiegelt diese Orientalismen und verkürzt sie auf teilweise drakonische Klischees, die durch den lakonischen Sprachstil dieser Rollenprosa noch verstärkt werden. Die Klischees beziehen sich auf vier Ebenen Cynthia Baron: Doctor No. Bonding Britishness to Racial Sovereignty. In: Christoph Lindner (Hrsg.): The James Bond Phenomenon. A Critical Reader. Manchester; New York 2003, S. 135– 150.
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des ‚ewigen Orientalen‘. Zunächst konstatiert die Figur Lundgren eine allgemeine hygienische Verwahrlosung: „Alte Sache: Wo es Araber gab, gab es auch Ungeziefer.“ (Sand, 44) Sodann wird der Mangel an Hygiene mit einem Mangel an Zivilisation und einer besonderen (‚unwestlichen‘) Wissenschaftsfeindlichkeit kurzgeschlossen: Neben vielen anderen fanden sie [die Araber] Gehirntätigkeit unmännlich. Das sagte natürlich so keiner. Aber Wissenschaft stand in unscharfer Opposition zu den großen Idealen von Stolz, Ehre und Ramtamtamtam. Wissenschaft war für Weiber. Konntest du einer Frau hundert Dollar geben, und sie stampfte eine Näherei mit acht Angestellten aus dem Boden. Konntest du einem Mann hundert Dollar geben: Bürgerkrieg. (Sand, 64)
Nach Lundgren korrespondiert dem wiederum eine ausgesprochene Promiskuität: Die „zwölfjährige Serviererin“ wirft Lundgren „feurige Blicke“ zu: „So war das in diesen Breiten. Dumm wie Binsenstroh [sic]. Aber gut aussehen, das konnten sie. Wie die Tiere. Quasi Nationalcharakter.“ (Sand, 67) Die Ersetzung von ‚Bohnenstroh‘ durch ‚Binsenstroh‘ ist (intradiegetisch) dem Sonnenstich Lundgrens zuzuschreiben, verweist aber zugleich auf die Brüchigkeit von Lundgrens (sprachlicher) Welterfassung. Die Promiskuität wird wiederum mit einer orientalischen ‚Verweichlichung‘ kurzgeschlossen, die eigentlich die vorigen Einlassungen zur orientalischen ‚Männlichkeit‘ konterkariert, aber letztlich auf die Inkohärenz der Klischees verweist. So stellt Herrndorf die vielmals wiederholte Klagetirade eines alten ‚Fellachen‘ dar, dessen Söhne infolge einer Verwechslung ermordet wurden (Sand, 268 – 273); von Herrndorf wird dessen Litanei im Rahmen des Dialogs verkürzt auf sich wiederholende Stichworte und ein beigefügtes „usw.“ Bei all diesen orientalistischen Klischees handelt es sich um ironisch-lakonische Rollenprosa, die der Autor bewusst einsetzt, um gängige Klischees zu thematisieren und durch die Thematisierung eine Reflexion auf die jeweilige Erzählerinstanz zu initiieren.
2.5 Wüste als Zufluchtsstätte für illegitime Liebe Roes, der selbst bekennend homosexuell ist und dessen Alter Ego im Leeren Viertel eine Reihe von homosexuellen Beziehungen schildert, reflektiert in der Wüste die ‚Geschichte der Homosexualität‘, die als Urkonflikt zwischen einem Älteren (Vater) und einem Jüngeren (Sohn) bereits in der Isaak-Legende versprachlicht werde.⁴³ Da laut der im Jemen partiell geltenden Scharia auf Homo-
Vgl. Schmitt-Maaß 2011 (wie Anm. 30), S. 230 f.
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sexualität die Todesstrafe steht, nutzt der postmoderne Ethnologe die Leere der Wüste, um seine ‚illegitime Liebe‘ zu verwirklichen. Schrott hingegen nutzt die verschiedenen Wüsten der Erde in Lop Nor, um die Beziehungsunfähigkeit seiner Figur ‚Raoul‘ zu Frauen zu veranschaulichen: „Er täuschte sich immer in den Frauen.“ (Lop Nor, 36) Wüste wird damit zur Metapher für die europäische Beziehungsunfähigkeit. In Herrndorfs Sand fordert eine fremde Europäerin den arabischstämmigen Franzosen Carl in der Wüstenoase Tindirma zum Beischlaf auf und lässt sich zwecks Stimulation in arabischer Sprache beschimpfen, will aber später von dieser Begegnung nichts mehr wissen (vgl. Sand, 290 – 292). Umgekehrt entpuppt sich die Hippieenklave als autokratisch beherrschter Harem eines „schottische[n] Industriellenspross[es]“ mit einer „beachtliche[n] Zahl gut aussehender Frauen“ (Sand, 21) – das gängige westliche Klischee des reichen Industriellen, der sich mit schönen Frauen umgibt, wird hier aufgerufen, durch den Kontext der Hippieenklave verfremdet und durch einen Bezug zur orientalistischen Hypersexualisierung bzw. zu orientalischen Harems-Stereotypen auf die europäische wie die orientalische Kultur rückprojiziert. Sexuelle und geschlechtliche Klischees werden also angesichts der Wüste gerade nicht verhandelbar, sondern einerseits verstärkt und andererseits in ihre Segmente zerlegt.
2.6 Wüste als Leere und ennui Die Autoren stellen die Wüste auch als Leere, als ennui dar – als einen langweiligen, erschöpfenden Ort, der keine Konturen hat und in dem sich nichts ereignet. Gekoppelt ist diese Darstellung häufig mit der Diagnose einer ‚Wüstenkrankheit‘, die auf die Bewusstseinsveränderungen rückschließen lässt, welche die Protagonisten angesichts der Leere erfahren. Roes beschreibt für sein Alter Ego einen Prozess der ‚Dezivilisation‘ in der Wüste: „[N]un hause ich im wüstendreck, scheisze direkt auf die erde und nehme meine hand – die linke, ‚schmutzige‘, während die rechte dem essen und grüszen vorbehalten ist – zur reinigung. Ein prozesz der ‚dezivilisation‘?“ (Leeres Viertel, 539) Diese ‚Dezivilisation‘ führt jedoch keineswegs dazu, dass der Fremde von den Bewohnern der Wüste aufgenommen wird: „Ich nehme nicht wirklich an ihrem leben teil. Ich gehöre nicht dazu. Ich probiere verschiedene rollen aus, erwartete, gewählte. Doch zugehörigkeit ist keine rolle, sondern ein dasein an sich.“ (Leeres Viertel, 543) Angesichts der geographischen und temporären Leere ist das Forschersubjekt auf eine abwartende Position limitiert: „Warten. Verschwendete lebenszeit. Wie lebendig begraben sein. Nichts ereignet sich hier.“ (Leeres Viertel, 527) Bei Roes wird die Leere der Wüste zu einem Grenzraum, in dem Zivilisation
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und Dezivilisation, Eigenes und Fremdes ausgehandelt werden und ausgehalten werden müssen. Schrott reflektiert gleichfalls den Zusammenhang von Eigenem und Fremden im Kontext der „konturlosen Weite“ der Wüste (Fünfte Welt, 67), in der „das Fremde und das Eigene ihren Ort“ verlieren (Fünfte Welt, 42). Die Vorstellung von Wüste als „letzte[m] weiße[n] Fleck[]“ der Weltkarte und einer „terra incognita […] mitten im unzugänglichsten Teil der Sahara“ (Fünfte Welt, 11), also als eines von allen „Spuren freien Raumes“ (Fünfte Welt, 49), erweist sich als „Klischee, das einem sonst dabei hilft, Zugang zu finden und eine Identifikation aufzubauen“ (Fünfte Welt, 25). Schrott demonstriert in seiner Bild-Text-Collage, dass jede Vorstellung von Wüste als leerem Raum selbst wieder ein Klischee ist.⁴⁴ Gleichzeitig wird Wüste bei Schrott zu einem Ort der „Unendlichkeit“ (Fünfte Welt, 44), „eine[r] terra ignota der Zeit“ (Fünfte Welt, 51). Der ‚Leere von Zeit‘ korrespondiert bei Schrott eine „Leere des Raums“ (Fünfte Welt, 113). Herrndorf hingegen konstatiert angesichts der „Leere[n] Wüste“ (Sand, 92) lakonisch: „Auch wenn man vorher nie eine Wüste gesehen hatte, wurde es schnell langweilig.“ (Sand, 116) Nicht die Spannung zwischen Eigenem und Fremden, geographischer und temporärer Unendlichkeit bewirken in Herrndorfs Roman den ennui, sondern die Einsamkeit: Weiß einer, wie es ist, die Nacht in der Wüste zu erleben, allein? Wer gewohnt ist, seine Nächte in einem Bett zu verbringen, in einem Haus, umgeben von anderen Häusern und Menschen, macht sich davon nur schwer eine Vorstellung. Und noch schwerer macht man sich eine Vorstellung davon, wie die Schwärze und Finsternis der Metaphysik an einem Geiste zerren kann, der in sich selbst seit Tagen nichts weiter zu erkennen vermag als ein unbeschriebenes Blatt Papier. Als Gegensatzbegriff zur Zivilisation wird oft Barbarei genannt, doch ein passenderes Wort wäre im Grunde Einsamkeit. (Sand, 308)
Damit wird Einsamkeit zur Conditio humana in der Wüste.⁴⁵
Vgl. Achim Küpper: Die Wüstenzone zwischen Klimadiagnostik, Anti-Anthropozentrismus und Autoreferenzialität. Bild- und Zeitordnungen der Wüste in Raoul Schrotts „Die fünfte Welt“. In: Gabriele Dürbeck u. a. (Hrsg.): Ökologischer Wandel in der deutschen Literatur des 20. und 21. Jahrhunderts. Neue Ansätze und Perspektiven. Frankfurt/M. u. a. 2018[a], S. 273 – 288, hier S. 283. Vgl. Holdenried 2019 (wie Anm. 33), S. 334.
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2.7 Wüstendasein als nomadisches Leben Die Erkenntnis, dass in der Wüste eine ganz andere Form von Leben notwendig ist, prägt die Darstellung aller drei Autoren. Sie referieren dafür auf postmoderne Überlegungen zum Nomadismus.⁴⁶ Roes stellt in Leeres Viertel dar, wie die Reflexionsfigur Schnittke am Ende der Handlung in dem Nomadenstamm aufgeht und seine westliche Identität verliert. Damit bringt Roes die Überlegenheit einer auf personalen Geflechten (statt lokaler Verwurzelung) basierenden Lebensform zum Ausdruck, die aber zugleich die Auslöschung des westlich konzipierten Selbst mit sich bringt (vgl. Leeres Viertel, 521).⁴⁷ Schrott macht das Nomadendasein zum Gegenstand von Fünfte Welt, bezeichnet doch die ‚vierte Welt‘ das Leben der Nomaden, die ‚fünfte Welt‘ hingegen das unzugängliche Niemandsland. Die Erzählung von instabilen Beziehungen in Lop Nor, von Wanderschaft und Sinnsuche entspricht einem nomadischen Lebensprinzip der Erzählinstanz, das den Wüstenbewohnern abgeschaut zu sein scheint und zugleich die Probleme westlicher Bindungsunfähigkeit benennt.⁴⁸ Herrndorf hingegen entlarvt in der lakonisch gezeichneten Figur des die Kommune dominierenden Hippies Fowler diese Positivwertung des Nomadendaseins als esoterische Illusion: „Die Wüste verändert dich. Der Nomade. Wenn einer lange hier gelebt hat, wird sein Blick ein anderer. Der Wüstenbewohner ist ruhiger. Er ist das Zentrum. Er geht nicht auf die Dinge zu, die Dinge gehen auf ihn zu.“ (Sand, 121)
2.8 Das triviale Wüstenabenteuer Während Schrott dem trivialen Wüstenabenteuer keine Reverenz erweist, bezieht sich Roes direkt und indirekt auf Karl May; Herrndorf hingegen weitet den Fokus generisch. Roes zieht in Leeres Viertel eine doppelte Reflexionsebene ein. Erstens Vgl. Gilles Deleuze; Félix Guattari: Abhandlung über Nomadologie. Die Kriegsmaschine [franz. 1980]. In: dies.: Tausend Plateaus. Kapitalismus und Schizophrenie II. Übers. v. Gabriele Ricke; Ronald Voullié. Berlin 2003, S. 481– 584; Vilém Flusser: Nomadische Überlegungen [1990]. In: ders.: Medienkultur. Hrsg. v. Stefan Bollmann. Frankfurt/M. 1997, S. 150 – 159. Vgl. Schmitt-Maaß 2011 (wie Anm. 30), S. 288. Vgl. Achim Küpper: Ökologie und Poetologie der Versandung: Raoul Schrotts Novelle „Die Wüste Lop Nor“ als literarische Wüstenfiguration der Gegenwart. In: Jianhua Zhu u. a. (Hrsg.): Akten des XIII. Internationalen Germanistenkongresses Shanghai 2015 – Germanistik zwischen Tradition und Innovation. Bd. 10, Sektion III: Ökologie und Umweltwandel in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur. Betreut v. Gabriele Dürbeck; Ralf Zschachlitz. Frankfurt/M. 2018[b], S. 219−225, hier S. 222, 224.
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in Form einer direkten Ansprache: Beim Jemen handele es sich nicht – wie ein Forscherkollege gegenüber seinem Alter Ego bemerkt – um ein Wüsten-Klischee Karl Mays, sondern um einen „autokratisch regierten dritte-welt-staat“ (Leeres Viertel, 199). Dennoch nutzt Roes die orientalistischen und klischeebeladenen Darstellungen der Wüste und ihrer Bewohner, die sich seit der Mitte des 18. Jahrhunderts in der (deutschen) Literatur herausgebildet haben. So heißt es anlässlich eines Überfalls von Berbern auf die Forschungskarawane am Sinai im Stil Karl Mays: Eigentlich habe ich die Absicht, mich im Olivenhaine zu verbergen […], als ich Schüsse aus der Richtung unseres Lagers vernehme. Kaum habe ich die Gartenmauer übersprungen, werden Rufe im Kloster laut. Lichter flammen auf, dunkle Gestalten erscheinen auf dem Dache. Auch von dort her mischen sich einige Flintenschüsse in das anschwellende Geschrey der Bewohner. Ehe ich meine unbesonnene Flucht zügeln und über die angemessenen Schritte nachzudencken vermag, treten meine Füsse plötzlich ins Leere, und das Lärmen entfernt sich von meinen Ohren so rasch, als trügen mich durchgegangene Rösser von diesem Orthe der grellen Flammen und Töne forth in ein stilleres Land. (Leeres Viertel, 64)
Herrndorf lässt in Sand an nur zwei Stellen den Erzähler der Rahmenhandlung das Wort ergreifen. Dort reflektiert der Erzähler die Traditionen und Klischees des Wüstenromans, etwa indem er sich am Ende einschaltet: Mit einigen harmonischen Akkorden könnte man das Buch also ausklingen lassen. Ein kurzes Landschaftspanorama vielleicht noch, ein Kameraschwenk über den gezackten Schattenriss des Kangeeri-Gebirges vor abendlicher Dämmerung, in rosa und lila Dunst getauchte Felder, Schluchten voller purpurnem Schatten, ein paar Fledermäuse, ein malerisches Maultier. Ry Cooder spielt Gitarre.Von links wandert ein Windrad ins Bild […]. (Sand, 451)
Herrndorf appelliert an die Leseerfahrung der Rezipierenden, deren Wüsten-Bilder und die damit verbundenen Klischees, um durch die erzählerische Explikation diese Vorannahmen und Zuschreibungen bewusst zu machen, weitet aber den Fokus medial aus, indem er nicht auf Wüsten-Bücher rekurriert (etwa Karl Mays Durch die Wüste), sondern auf Wüsten-Filme (etwa Wim Wenders’ Paris Texas, aber auch Italo-Western der 1960er Jahre). Indem Herrndorf den von Vorannahmen geprägten Handlungsort mit einem Trivialgenre kurzschließt⁴⁹, zielt er in doppelter Hinsicht auf die trivialliterarischen Lese- und Filmerfahrungen der
Herrndorf selbst äußert, sein Roman decke „ein weites Feld zwischen Unterhaltungs-, Schund- und Gesellschaftsroman“ (Arbeit, 251 f.) ab, sei gar ein „in der Wüste spielender Krimi mit B-Picture-Plot“ (Arbeit, 105). Ergänzend zu beachten sind Herrndorfs ‚Kameraanweisungen‘ in Sand (ebd., 365, 425).
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Rezipierenden. Dadurch ermöglicht er eine identifikatorische Lektüre (à la Karl May, à la Ian Fleming, à la Westernfilm bzw. Wim Wenders), die durch die Unzuverlässigkeit des Erzählers jedoch zugleich fragwürdig wird. Der Leser wird sich „seines vorgeformten Rezeptionsverhaltens bewusst, was gleichzeitig als metafiktionaler Kommentar zum gesamten Roman und [zu] dessen ständigen Brüchen mit vorgeformten Erzählmustern und Erwartungen fungiert“⁵⁰. Zugleich ist die Wüste bei Herrndorf entzaubert, da sie vermüllt ist und ihre Bodenschätze ausgebeutet sind (vgl. Sand, 132, 173 f.). Die Hippiekommune, die im Umfeld der Pariser Unruhen von 1968 in der Wüste eine gewaltfreie Begegnungsstätte gründet, zieht nach entmutigenden Erfahrungen zudem immer mehr Mauern hoch (vgl. Sand, 29), „die Wüste änderte die Anschauungen rasch“ (Sand, 23). Ein unvoreingenommener Ersteindruck ist also für den Leser unmöglich (er hat Wüstenbilder verinnerlicht). Vielmehr bietet der Roman ein desillusionierendes Lektüreerlebnis (der Autor zerstört jeden Eindruck von Ursprünglichkeit und Reinheit, vgl. Arbeit, 322). Herrndorfs unzuverlässiger Erzähler verweist auf die Hybridität aller Figuren und aller Erzählinstanzen.⁵¹
2.9 Wüste als Reflexionsraum Alle drei Autoren nutzen die Wüste als Reflexionsraum des Schreibens – die scheinbar ‚leere‘ Wüsten-Geographie fordert eine ‚Be-Schreibung‘ geradezu heraus. Dieser Aspekt scheint mir, gegenüber den bisherigen Wüstenprojektionen, von besonderer Relevanz: Roes verbindet die Leere der Wüste mit einer ausführlichen postkolonialen und postorientalistischen Reflexion. Das Alter Ego des postmodernen Ethnographen macht von dieser Möglichkeit exzessiv Gebrauch: Er räumt ein, dass er bislang „nur das wahrgenommen habe, was ich wahrnehmen wollte. Aber auch das existiert.“ (Leeres Viertel, 189) Zugleich ermögliche erst die Aufgabe einer ‚objektiven‘ Beschreibung „eine viel reichere, vielstimmigere und verständnisvollere darstellung unseres jeweiligen daseins“ (Leeres Viertel, 680). Wie emphatisch, introspektiv oder neutral ich mich auch immer verhalte, alle verhaltensweisen bleiben strategisch. Sie zielen darauf ab, die begegnung mit dem fremden zu einem kontrollierten, wiederhol- und überprüfbaren experiment zu machen. […] Selbst diese kritik repräsentiert nur den stand der gegenwärtigen anthropologischen reflexion. Warum wagen wir den schritt von einer empirischen zu einer hermeneutischen wissenschaft nicht? Wir
Arnold 2013 (wie Anm. 37), S. 38. Vgl. Burk/Hamann 2014 (wie Anm. 36), S. 339 – 341, S. 348 f., S. 352.
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können dem ethnozentrismus nicht entkommen. Selbst die kritische reflexion ist teil der eigenen kulturellen kompetenz. (Leeres Viertel, 225)
Der historische Protagonist durchläuft zudem einen Wandel vom Orientalisten zum Kritiker des Orientalismus; darüber hinaus vollziehen beide Protagonisten (der historische in gesteigertem Maße) eine Anpassung an die Gastkultur, gehen gar in ihr auf: Hingegen war meine Absicht, alle Vorkommnisse nur recht deutlich und ohne schmückenden oder prahlerischen Stil darzustellen. Nun aber scheint mir eine reine, kunstlose Sprache ebenso wenig möglich wie eine reine und vollkommene Ansicht: Immer blicken wir von einem bestimmten Standpunkte; und nie können wir von einem bestimmten Standpunkte alleyn das Ganze überblicken. So ist es auch mit unserer Rede: Jedes Worth ist eine Wahl, da es keinen unmittelbaren und absoluten Zusammenhang zwischen den Vorkommnissen und ihrer Beschreibung giebt. Mit andächtigem Schweigen höre ich mir selber zu. Und je mehr ich die Fragwürdigkeit jeder Objectivität erkennen muss, um so mehr scheint mir gerade der ausschmückende und ironisierende Stil die einzige Möglichkeit, der Lüge zu entgehen […]. (Leeres Viertel, 512)
Der wesentliche Unterschied zwischen ‚Roes‘ (dem alter ego des Schriftstellers) und Schnittke besteht darin, dass Roes schon resigniert hat, Schnittke aber erst im Verlaufe der Reise angesichts der ‚eigenen kulturellen kompetenz‘ (vgl. Leeres Viertel, 225) resigniert. Beide fühlen sich fremd in der Heimat und treten die Flucht in die Fremde an. Während Roes sich reflektierend der jemenitischen Kultur zu nähern versucht, steht bei Schnittke das faszinierte Erleben des Fremden im Vordergrund, ohne dass er allerdings einem Orientalismus verfällt. Man könnte auch sagen: Während Roes die Fremde reflektiert, lebt Schnittke sie aus. Daher erklärt sich der Umstand, dass Schnittke letztlich in der arabischen Kultur aufgeht, während Roes nach erfolgter Aufnahme in diese Kultur einen Rückzug auf eigenes Terrain (die Schrift) antritt. In der je anderen Auffassung der Fremde kommt es zum Aufschub und zur Inszenierung des Bruchs.⁵² Hierbei nutzt Roes geschickt den Schnittke-Erzählstrang zur Darlegung und kritischen Reflexion überlieferter Orientalismen. In seiner essayistischen Form erlaubt das Tagebuch die Öffnung hin auf die Dokumentation anderer Stimmen, aber auch auf die Revision bereits erfolgter Feststellungen und Aussagen. Bei Roes bedeutet Objektivität nicht die Einholung dessen, was als Realität verstanden wird, sondern die Offenlegung des Diskurses und die daraus sich ergebenden Formen der Neubeschreibung und -verhandlung.⁵³ Wenn angesichts des Todes seines Freun Vgl. Schmitt-Maaß 2011 (wie Anm. 30), S. 257. Ebd., S. 263.
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des und Führers und der eigenen Entführung in die jemenitische Wüste die einzige Sorge des Autors dem eigenen Tagebuch gilt (vgl. Leeres Viertel, 499), so manifestiert sich darin eine Schriftfixiertheit, die an der Relevanz westlicher Überlieferungssysteme unverändert festhält, doch auf Öffnung (Dokumentation anderer Stimmen, anderer Perspektiven, kritische Selbstreflexion bis zum Verstummen) hin angelegt ist. Schrotts Alter Ego hingegen begreift die Wüste als „ein vom Wind immer wieder abgeschabtes Palimpsest“ und konstatiert: „Je tiefer die Fahrt in die Wüste an der libyschen Grenze führt, desto zerrissener wird die Seite, desto mehr ist nachzutragen in dieser Buchrolle, die nur noch für Erdkundler zu entziffern ist.“⁵⁴ Wenn wir glaubten, im Erdi Ma auf vollkommen unberührtes Terrain vorzustoßen, haben wir uns geirrt; wir stoßen ein paarmal auf Spuren, alte wie neue. An unserer Enttäuschung darüber merken wir, wie sehr wir am romantischen Mythos eines unentdeckten Landes gehangen haben, als hätten wir dort, wo nur Leere ist, wirklich noch auf ein neues El Dorado stoßen können […]. Stattdessen aber breitet sich vor uns nun ein Territorium aus, dessen reale Leere durch jede erkennbare Spur noch unterstrichen wird […]. (Fünfte Welt, 49)
Wüste wird folglich inszeniert als Auslöschung der Schrift, „eine Fläche sich irgendwo verlierender Trassen“⁵⁵. Dieser Auslöschung korrespondiert eine „Ökologie und Poetologie der Versandung“⁵⁶. So fundiert in Lop Nor Sand die Gestaltung der Schrift, und zwar in dreifacher Hinsicht: erstens eine klimatologische Bedeutungsschicht; zweitens eine relationale Komponente des Wüstenraums als Schauplatz fragmentierter, zerbröckelnder zwischenmenschlicher Gefüge bzw. sozialer Strukturen; und drittens verschiedene auf die werkformale Ebene bezogene schrift- und textreflexive Implikationen des so vielfach geschichteten, in tiefenzeitlichen Sedimentierungen angelagerten Wüstenraums.⁵⁷
Ein auf ‚Ganzheit‘ zielendes Erzählen ist dann nicht mehr möglich; vielmehr sind nur einzelne ‚narrative Körnchen‘ auszumachen; die Erzählung zerfasert oder richtiger: versandet. So besteht etwa Lop Nor aus fragmentarischen Notaten, „zerkörnt wie der Sand der Wüste“⁵⁸, dem korrespondieren die „prismatischen
Raoul Schrott: Die Namen der Wüste. Essay. In: Khamsin, S. 29 – 61, hier S. 47. Khamsin, 55. So der Untertitel von Küpper 2018b (wie Anm. 48). Küpper 2018a (wie Anm. 44), S. 275. Küpper 2018b (wie Anm. 48), S. 222.
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Brechungen“ des Erzählens und Wiedererzählens „wie in zerkörnten Streuungen“.⁵⁹ Diese Feststellung betrifft nicht allein die Darstellung der Wüste innerhalb eines Buches; vielmehr verbinden sich bei Schrott die Wüstendarstellungen über alle drei Bücher hinweg (Lop Nor, Fünfte Welt, Khamsin), weil die Wüsten-Landschaft bei Schrott selbst zur Protagonistin wird.⁶⁰ Darüber hinaus imitieren die beigegebenen Medien (Karten und Bilder) die „multidirektionalen, variablen Bewegungen“⁶¹ in der Wüste. Für Schrott besteht die poetologische Faszination der Wüste darin, dass sie der erste Ort der Dichtung war⁶² (und folglich jede Wüstenerzählung dieses ‚erste Mal‘ wiederholt⁶³), jedoch durch Inventarisierungen oder Analyse nicht fassbarer wird.⁶⁴ Gerade deshalb ist die Wüste nach Schrotts Definition ein Erhabenes, das sich den menschlichen Kategorien entzieht⁶⁵; sie bildet einen Dritten Raum, der begrifflich nicht zu fassen ist.⁶⁶ Die Wüste verweist nicht auf ein außerhalb ihrer selbst Liegendes, sondern darauf, „was ist“⁶⁷. Poetologisch nicht einholbar, zwischen den „parenthesen des sandes“⁶⁸, entzieht sich die Wüste der Bedeutungszuschreibung:
Ebd. Vgl. „unter dem Mikroskop sind die Körner [des Sandes] voller Narben und Krater.“ (Lop Nor, 41) Vgl. Ines Theilen: Der Grenzraum als literarische Landschaft. Eine lesende Durchquerung von Raoul Schrotts „Die Wüste Lop Nor“. In: Gertrud Lehnert (Hrsg.): Raum und Gefühl. Bielefeld 2014, S. 336 – 345, hier S. 343. Küpper 2018a (wie Anm. 44), S. 279. Vgl. Raoul Schrott: Fünfeinhalb Gemeinplätze die Übersetzung betreffend. Zur Rezeption der „Erfindung der Poesie“ [1999]. In: ders.: Handbuch der Wolkenputzerei. Gesammelte Essays. München, Wien 2005, S. 76−95, hier S. 81. In Lop Nor fordert die Geliebte daher vom Protagonisten Raoul, dass er eine Geschichte erzählt von der Entstehung der Wüste Lop Nor: „Und mach, daß sie wahr wird.“ (Lop Nor, 73) Die Erzählung wiederholt sich mit minimalen Abweichungen zwei Mal (vgl. Lop Nor, 26 – 29, 74– 77). Vgl. Wendy Skinner: Zwischen „parenthesen des sandes“. Die Wüste als literarischer Ort in den Gedichten Raoul Schrotts. In: Torsten Hoffmann (Hrsg.): Raoul Schrott. München 2007, S. 17– 26, hier S. 24; Theilen 2014 (wie Anm. 60), S. 340 f. Vgl. Raoul Schrott: Tropen. Über das Erhabene. München; Wien 1998, S. 8, S. 211. Zur Poetik des Erhabenen bei Schrott vgl. Karen Leeder: „Erkenntnistheoretische Maschinen“. Questions about the Sublime in the Works of Raoul Schrott. In: German Life and Letters 55 (2002), S. 149 – 163 sowie Lothar van Laak: Wendungen der Gelehrsamkeit – Raoul Schrotts „Tropen“. In: Dieter Burdorf (Hrsg.): Die eigene und die fremde Kultur. Exotismus und Tradition bei Durs Grünbein und Raoul Schrott. Iserlohn 2004, S. 49 – 62. Vgl. Skinner 2007 (wie Anm. 64), S. 19 – 20. Raoul Schrott: Weißbuch. München; Wien 2004, S. 109; Hervorh. im Orig.; vgl. Skinner 2007 (wie Anm. 64), S. 21 f. Raoul Schrott: Hotels. Innsbruck 1995, S. 39.
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Alles das ist, es ist vor den Augen, es geschieht, ohne daß ein Abstand dazu möglich wäre, von dem aus sich die Dinge in einem anderen als einem hart fallenden Licht zeigen würden, ein Licht, das keine Kontraste mehr zuläßt und die dadurch vertrauten Entfernungen zum Verschwinden bringt. […] Und nichts, das dann ferner wäre als eine Metapher, ein Vergleich oder gar ein Gedicht.⁶⁹
Herrndorfs Sand bedient sich der Mittel der Trivialliteratur, um die Unzuverlässigkeit des Erzählens zu etablieren: Eine Reihe von Spuren und Fährten wird für den Leser gelegt, die dann aber nicht wieder aufgenommen werden oder sich als Fehlschlüsse erweisen. Angesichts der Wüste wird das Erzählen unzuverlässig (auktoriale und personale Erzählperspektive wechseln sich ab), gerade in einem so etablierten Trivialgenre wie dem Spionageroman. Herrndorf hat in seinem Blog Arbeit und Struktur daher seinen Roman als „Aufbewahrungsort des Falschen“ (Arbeit, 254) bezeichnet.⁷⁰ Der ‚Held‘ des Romans, ein Franzose mit arabischen Vorfahren und dem angenommenen Namen Carl (mhd. karl = Mann), leidet unter Amnesie, die als Erzählbrüche in den Text zurückgespiegelt wird in Form „semantischer Ähnlichkeitsspiele mit Homonymen, Homographen und Homophonen“⁷¹. Carl empfindet sich „als ein unbeschriebenes Blatt Papier“ (Sand, 308), muss seine Identität rekonstruieren, die aber durch Pseudonyme und Tarnnamen überlagert ist – die Erinnerungsarbeit ‚versandet‘ dem Protagonisten geradezu, und der Leser, der vor- und zurückblättern kann, ist im Vorteil: „Im Lesen von Sand liegt die Lösung von Carls Identität.“⁷² In den Roman sind immer wieder komische Episoden integriert, welche die auf Sinnauffüllung zielende Lektüre ad absurdum führen.⁷³ Intertextuell wird auf Albert Camus, dessen Interpretation des Sisyphos-Mythos und seinen Wüstenroman Der Fremde verwiesen (vgl. Sand, 197)⁷⁴: „Der Gedanke drängte sich auf, dass unter den Bedingungen dieser Landschaft nicht nur ein Menschenleben unbedeutend war, sondern, philosophisch gesprochen, auch […] das Leben der ganzen Menschheit.“ (Sand, 76) Wenn am Ende das Zielobjekt der Geheimagenten, ein Mikrofilm, bei der Beseitigung eines arabischen Slums gemeinsam mit den Dorfbewohnern begraben wird, dann
Raoul Schrott: Die Kehrseite der poetischen Münze [1999]. In: Schrott 2005 (wie Anm. 62), S. 51– 58, hier S. 57. Hervorh. im Orig. Vgl. dazu Arnold 2013 (wie Anm. 37), S. 27. Ebd. Annina Klappert: Vergessen im Virtuellen. Wolfgang Herrndorfs „Sand“. In: dies. 2015 (wie Anm. 34), S. 111– 116, hier S. 113. Vgl. Michael Maar: „Er hat’s mir gestanden.“ Überlegungen zu Wolfgang Herrndorfs „Sand“. In: Merkur 66 (2012), H. 4, S. 333 – 340, hier S. 339. Vgl. auch die spielerische intertextuelle Verweiskette bei möglichen Alternativtiteln in Arbeit, 185 – 187; dazu Arnold 2013 (wie Anm. 37), S. 30.
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entspricht das der Überzeugung von der Sinnlosigkeit menschlichen Lebens angesichts der Wüste ebenso wie derjenigen von der Sinnlosigkeit einer auf Sinn zielenden Erzählung, die sich nur als „Kette von falschen Schlussfolgerungen“⁷⁵ erweist. Dass die Leser – wie ein Blick auf die Rezensionen erweist – Probleme hatten, die verschiedenen Erzählstimmen sowie die gedoppelten und überblendeten Protagonisten zu identifizieren, hat Herrndorf selbst als Manko – und nicht als Folge der postmodernen Gestaltung – seines Romans aufgefasst.⁷⁶ Die Literaturkritik hingegen hat diese Verständnisprobleme als romanimmanente Poetik gedeutet, die angesichts des universellen Wüstensymbols Sinn ergebe, interpretiere sie doch die Wüste als „Ort des Transitorischen, des Unergründlichen und Unabschließbaren“⁷⁷. Zwar arbeitet Herrndorfs Wüstenroman mit diesen Leitmetaphern der Dekonstruktion, doch bleibt im Text aufbewahrt, was auf der Handlungsebene unzuverlässig erscheint und in wiederholter Lektüre gefunden werden kann.⁷⁸
3 Schluss Roes, Schrott und Herrndorf gehen sehr bewusst mit den klischeebeladenen orientalistischen Darstellungen von der ‚leeren Wüste‘ um, ohne die Deutungshoheit über eine ‚bessere‘ (anti-orientalistische) Darstellung zu beanspruchen. Das erklärt sich unter anderem aus dem hohen Reflexionsniveau der drei Autoren, die ihr Werk immer auch kritisch, theoretisch und historisch reflektieren. Die unterschiedlichen Umgangsweisen der Autoren mit Orientalismen dürfen keinesfalls als ironische Distanzierung verstanden werden, sondern bilden eine Spielart der Postironie: Ironie wird – anders als bei den ironischen Verfahren der postmodernen Dekonstruktion, die sich im ironischen Gestus von jeder (semantischen wie moralischen) Festlegung immunisiert und daher in Zynismus umzuschlagen droht – postironisch ernst genommen, mit Verantwortungsbewusstsein aufgeladen und dadurch wieder für die eigene Gegenwart produktiv (und durchaus auch humorvoll) genutzt.⁷⁹ In den Werken der untersuchten Autoren
Ebd., S. 32. Vgl. ebd., S. 33. Ebd., S. 44; vgl. außerdem Beck 2015 (wie Anm. 34) und Myrto Aspioti: Eine böse Geschichte? Erzählethik in Wolfgang Herrndorfs „Sand“. In: Lorenz 2019 (wie Anm. 33), S. 281– 301, hier S. 287. Vgl. Holdenried 2019 (wie Anm. 33), S. 326. Vgl. Lee Konstantinou: Four Faces of Post-Irony. In: Robin van den Akker u. a. (Hrsg.): Metamodernism. Historicity, Affect, and Depth after Postmodernism. London; New York 2017, S. 87– 102.
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dient daher die Metapher der ‚leeren Wüste‘ als Ausgangspunkt für anti-orientalistische Darstellungen im Gewand des Orientalischen, ohne den schulmeisterlichen Anspruch zu erheben, die (historisch gewachsenen) Orientalismen ‚überwinden‘ zu können. Indem Roes die historische Perspektive eröffnet, Schrott die multimediale Aufgliederung seines Gesamtwerkes betreibt und Herrndorf den Kolportageroman und die Gattungstraditionen im unzuverlässigen Erzähler reflektiert, ermöglichen die Autoren eine kritische Distanzierung von den ‚orientalistischen‘ Inhalten ihrer Darstellungen, ohne dass die Lesenden auf den erzählerischen Genuss verzichten müssen. Mehr noch: Die in ihren Schriften angelegten Identitätskonstruktionen legen nahe, dass jede Konstruktion eines ‚Selbst‘ notwendigerweise über die Interpretation des ‚Anderen‘ erfolgt.⁸⁰ Solcherlei Schreibverfahren rekurrieren auf Homi Bhabhas Konzept des Dritten Raums, jedoch mit einer signifikanten Umkehrung der Verhältnisse: Bhabha konstatiert, dass Kolonisierte eine subalterne Handlungsmacht bzw. -fähigkeit gewinnen im Prozess einer Mimikry, die die Ambivalenz zwischen Abgrenzung und Identifikation innerhalb des kolonialen Diskurses veranschaulicht.⁸¹ Gleichzeitig sind aber die historische Darstellungsperspektive (Roes), die mediale Auffächerung des Werks (Schrott) und die Bezüge zu Trivialgenres (Herrndorf) Möglichkeiten, klug mit den Wüsten-Orientalismen und ihren romantischen Rückbezügen (Reiseberichte, Schauerromantik, ‚Symphilosophie‘ und Universalpoesie) umzugehen. Mit Said könnte Derrida kritisiert werden, weil er in seiner Aneignung der Wüstenmetapher nur eine romantische Figur fortschreibt und letztlich einzig deren katalytische Funktion für die eigene Position, das eigene Schreiben und Denken, nutzt. Denselben Vorwurf könnte man – aus postkolonialer, anti-orientalistischer Perspektive – Roes, Schrott und Herrndorf machen: Sie nutzen den Wüstenraum, um Erzählstoff zu generieren. Bei genauerer Betrachtung jedoch erweist sich, dass die genannten Autoren Positionen übernehmen, die im Rahmen der postkolonialen Kritik erarbeitet worden sind. Die Wüste erweist sich durch die Refiguration der Autoren keinesfalls als ‚leer‘, sondern als vielfach ‚beschrieben‘ (ethnographisch, ikonisch und popkulturell) und historisch kartiert.
Vgl. Said 2012 (wie Anm. 7), S. 380. Vgl. Homi Bhabha: Die Verortung der Kultur [engl. 1993]. Übers. v. Michael Schiffmann; Jürgen Freudl. Tübingen 2000, S. 126. Durch Nachahmung der ‚Kolonialherren‘ und ihrer ‚Kultur‘ ist – laut Bhabha – in Spiegelung mit dem ‚Anderen‘ (dem Kolonialisten) eine Identitätskonstruktion möglich. Mimikry repräsentiert den „ironischen Kompromiß“ kolonialen Begehrens „nach einem reformierten, erkennbaren Anderen als dem Subjekt einer Differenz, das fast, aber doch nicht ganz dasselbe ist.“ (Ebd.)
Marit Heuß
Geh schön Orient als Erzählstil in Peter Handkes Geschichte meiner Freundin und im Journal Gestern unterwegs
1 Zimt und Zymbelklang: Orient-Topoi In der Geschichte meiner Freundin ¹, einer Binnenerzählung innerhalb des ‚Riesenmärchens‘ Mein Jahr in der Niemandsbucht, erzählt Peter Handke von der Reise einer zunächst namenlosen, dann Helena genannten Frau in die Türkei, ins „Morgenland“ (N 549). Je weiter die Abenteurerin auf dem Weg nach Osten ins „Halbmondland“ (N 547) vorrückt, bis ins Taurusgebirge, das an Iran und Irak angrenzt, verdichten sich orientalische Klänge und Bilder. Bereits ihr Transportmittel, das Kamel, führt Helena nicht nur räumlich „orientwärts“ (N 557), sondern trägt sie auch zeitlich in die „morgenländischen Jahrtausende“ (N 569), an die ‚Wiege der Zivilisation‘. Wie zur Goethezeit, als etwa Johann Gottfried Herder in der Abhandlung Auch eine Philosophie der Geschichte zur Bildung der Menschheit (1774) die orientalische Kultur und die „Patriarchenwelt“ als das „goldne Zeitalter der kindlichen Menschheit“ stilisierte², weht in der Freundin-Geschichte wie in Goethes West-Östlichem Divan „Patriarchenluft“³ (N 569), wird wie im persischen Mithras-Kult der Sonne gehuldigt, werden archaische Szenen heraufbeschworen. Helena selbst erscheint zeitweise als die jemenitische „Königin von Saba“ (N 571). In Handkes Orient-Bild gehört dann auch wie für Herder oder Goethe die ganze „ältere[] Geschichte“ (N 562). Helena legt das „Aussehen eines Jerusalempilgers“ (N 563) an den Tag, und neben der ältesten jüdischen Geschichte zeichnen Eindrücke aus „Antiochia, Alexandria, Heliopolis, Leptis Magna“ (N 565) und damit aus der ägyptischen, griechischen sowie römisch-frühchristlichen Hochkultur ein
Peter Handke: Mein Jahr in der Niemandsbucht. Frankfurt/M. 1994, S. 541– 577. Im Folgenden zitiert unter Verwendung der Sigle „N“. Johann Gottfried Herder: Auch eine Philosophie der Geschichte zur Bildung der Menschheit [1774]. In: ders.: Schriften zu Philosophie, Literatur, Kunst und Altertum 1774– 1787. Hrsg. v. Jürgen Brummack; Martin Bollacher (= Werke in 10 Bänden, Bd. 4). Frankfurt/M. 1994, S. 9 – 107, hier S. 14 f. Im Orig. alles hervorgehoben. Vgl. Johann Wolfgang Goethe: Hegire. In: ders.: West-östlicher Divan [1819]. Hrsg. v. Hendrik Birus. Bd. 1 (= Sämtliche Werke. Briefe, Tagebücher und Gespräche, Bd. 3.1). Frankfurt/M. 1994, S. 12 f., hier S. 12, V. 4. https://doi.org/10.1515/9783110669428-007
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panoramatisches Orient-Bild, das aus der Perspektive einer privilegierten griechischen Kultur entworfen wird, wie der Name der Hauptfigur und die wiederholten intertextuellen Verweise auf Heraklit beweisen. Obwohl punktuell die religiöse Aura des heutigen, vom Islam geprägten Orient aufscheint, fällt auf, wie wenig Handkes Orient-Konzept von der mohammedanischen Religion abhängt, die verstärkt seit ‚9/11‘, also nach dem Erscheinen der Niemandsbucht im Jahr 1994, durch die Medien einseitig mit einem den ‚friedlichen Westen‘ bedrohenden fundamentalistisch-politischen Islam verbunden wird. Stattdessen pflegt der Autor das „philhellinistische[] Orient-Bild als eine Spielart des deutschen Orientalismus“⁴ des ausgehenden 18. und vor allem des 19. Jahrhunderts, als der Balkan und Andalusien dem West-, Mittel- und Nordeuropäer bereits ein Stück Orient bedeuteten.⁵ Diesem historischen Orient-Bild ist die Freundin-Geschichte verpflichtet, wenn Handke die „Levante“ (N 569) – die historische Bezeichnung für die Länder östlich von Italien – mit „Orient“, „Zimt und Zymbelklang“ (N 569) assoziiert und der Figur der Helena, gebürtig aus Maribor und katholisch, als ehemaliger „Miß Jugoslavija“ (N 552) bereits gemäß ihrer Herkunft zumindest partiell orientalische Züge verleiht. Was Helena auf ihrer Zeitreise vom Balkan in den noch orientalischeren Orient sucht, haben Handkes literarische Figuren – etwa Filip Kobal in Die Wiederholung (1986) – und der Autor selbst als Bürger Westeuropas bereits auf Reisen im ehemaligen Jugoslawien gefunden: die „reine[] Gegenwart“ (N 569).⁶ Das sind Augenblicke gesteigerter Wirklichkeitserfahrung, kurze Erlösungen von ungerechten oder einengenden Strukturen der Gesellschaft, aufscheinende Utopien. Auch nach dem Zerfall Jugoslawiens siedelt Handke seine Erzählungen mit Spanien in einem Land an, das durch sein maurisches Flair reisenden Deutschen einst das Erlebnis einer ‚Morgenlandfahrt‘ ersetzte.⁷ Im ‚spanischen Orient‘ grenzt er sich von der auf Leistung, Geschwindigkeit und auf äußerlichen Besitz fixierten westlichen Gesellschaft ab. Bereits im Versuch über die Müdigkeit (1989) – geschrieben im andalusischen Linares – befürwortet er Müdigkeit und Langsamkeit
Andrea Polaschegg: Der andere Orientalismus. Regeln deutsch-morgenländischer Imagination im 19. Jahrhundert. Berlin; New York 2005, S. 233. Vgl. ebd., S. 70 – 82. Stellvertretend für die zahlreichen Beiträge zu Handkes Raum-Konzeption und Praxis des Gehens vgl. Alexander Honold: Der Erd-Erzähler. Peter Handkes Prosa der Orte, Räume und Landschaften. Stuttgart 2017; Volker Georg Hummel: Die narrative Performanz des Gehens. Peter Handkes „Mein Jahr in der Niemandsbucht“ und „Der Bildverlust“ als Spaziergängertexte. Bielefeld 2007. Vgl. Polaschegg 2005 (wie Anm. 4), S. 70 f.
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als alternative Werte, die zu jener gesteigerten Wirklichkeitserfahrung leiten.⁸ ‚Patriarchenluft‘, ‚Sonnenkult‘ und die ‚Königin von Saba‘: Der Orient erscheint, insbesondere in der Geschichte meiner Freundin, auf den ersten Blick beinahe klischeehaft, wenn prominente Orient-Topoi florieren und den konkreten geographischen Standort, den Handkes Figur in der Geschichte besitzt, verschwimmen lassen. Wenn die Geschichte jedoch weder eine differenzierte Auseinandersetzung mit dem ‚Orient‘ in seiner heutigen Erscheinung noch eine neuartige Aufarbeitung von dessen Geschichte anbietet, sondern stattdessen epigonale Orient-Topoi tradiert, ist dann nicht das unterbreitete Angebot, mithilfe der Lektüre der literarischen Orientbilder eine weltanschauliche Alternative zu bieten, fragwürdig?
2 Ewige Schrift: Orient und Ornament Die ‚Freundin‘ Gregor Keuschnigs, des Erzählers der Niemandsbucht, begibt sich in der Geschichte meiner Freundin wie in Tausendundeiner Nacht auf Schatzsuche im südlichen Gebiet der Türkei, stimuliert vom fremdartigen „Rufen, noch im Finstern, unter den Sternen, vom fernen Land, des Muezzin“ (N 543). Helenas „heiße[] Begeisterung oder Fiebrigkeit“ (N 542) ist jedoch nicht auf gewöhnlichen Reichtum, sondern auf ästhetische Lust ausgerichtet, die gleichzeitig auch zur Quelle der Selbsterkenntnis werden soll: „Und nun sag mir, Schatzding: Wer bin ich? Was soll ich tun? Wo ist mein Platz? Wie komme ich zu meiner Macht? Wie geht es mit mir weiter? Leuchte mir voraus.“ (N 543) Besondere Farben und Formen sind ihre Auswahlkriterien auf der Suche nach kunstähnlichen ‚Schatzdingen‘. Mit Helena entwirft Handke auch die Figur einer postmodernen Künstlerin, deren Suchbewegungen sich zwischen ‚Land Art‘, ‚Spurensicherung‘, KonzeptKunst sowie Performance-Art bewegen und von Forschergeist geprägt sind. So findet sie bezeichnenderweise ein primitives Fernrohr, nämlich einen ausgehöhlten „eigentümliche[n] Holzprügel[]“ (N 542). Durch dieses „Holzrohr“ schaut sie auf die Welt „wie durch ein besonderes, das Licht wie nichts sonst brechendes Prisma“ (N 543). Handke stellt seine Figur damit auch in die Tradition der naturkundlichen Studien Goethes, die auch ästhetische Wirkungen bedenken. Doch weder sammelt Helena besondere Kulturfundstücke noch stellt sie diese wie Goethe in seinem Wohnhaus aus. Helena erkennt, dass die jeweiligen Objekte nur an ihrem ursprünglichen Ort ihre besondere Wirkung entfalten können. Ein
Vgl. Thorsten Carstensen: Romanisches Erzählen. Peter Handke und die epische Tradition. Göttingen 2013, S. 63 – 79.
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wertvolles kulturelles Fundstück, einen „Meilen- oder Stadienstein bei Ephesos“ (N 541 f.), gräbt sie erst mühsam aus und transportiert ihn weiter. Doch in der „veränderten Umgebung“ (N 542) verhält er sich wie ein „bloßes Theaterrequisit“ (ebd.) und verliert seine ‚Aura‘. Helenas Interesse gilt daher einzig dem ästhetischen Genuss bei der Wahrnehmung ihrer Schätze in der „Gegenwart“ (N 545). Als „Sorglose“ (N 544) gibt es für sie lediglich das „mehr oder weniger friedlich Anwesende“ (ebd.), das augenblickliche Seherlebnis. Die Inschrift auf dem Meilenstein aus dem Stadion von Ephesos aus einem Fragment Heraklits, welche die ‚unsichtbare Harmonie‘ des oberflächlich Verschiedenen bedenkt, bringt Helenas Lebenshaltung mit der Weisheit des Vorsokratikers in Verbindung: „Das Wesen eines jeden Tages ist ein und dasselbe“ (N 542).⁹ Keuschnig als Erzähler von Helenas Geschichte hat die Vielfalt der Erlebnisse der Schatzsucherin in eine literarische Form gefasst, welche die Wirkung der ‚ästhetischen Augenblicke‘ in der Sprache erfahrbar werden lässt. Diese Koppelung von ästhetischem Lebensvollzug vormoderner Prägung und (post‐)moderner Reflexion bei dessen Übertragung in eine Kunstform (hier: die Erzählung), ausgedrückt durch das Spannungsverhältnis zwischen literarischer Figur und Erzähler, stellt die narrative Konstruktion der Freundin-Geschichte dar. Die ästhetische Form für diese doppelte Prägung, mit der Handkes ‚Orientalismus‘ verbunden ist, wird auf Helenas Reise durch eine Erinnerung an ihren Geburtsort Maribor enthüllt, die Beschreibung der Giebel und Dächer der slowenischen Stadt: Jene Ziegeldächer, hintereinandergestaffelt bis in einen weiten Horizont, waren damals, in den Kinder- und Jugendjahren, von ihrem Kammerfenster aus die ganze Stadt Maribor gewesen, mit dem Zusatz des langen Bergrückens im Süden, wozu nur im Moment des begeisterten Heimwehs von ihr sein Name „Pohorje!“ kam. Und das Rot hatte oft von Ziegel zu Ziegel die Tönung gewechselt, so daß sich in ihren Augen über die Dächerlandschaft hin, aus den dunkleren Stellen gefügt, eine nirgends besonders ansetzende oder endende ewige Schrift zog, in Schleifen, Wellen, Schlingen, Kreuzungen, unentzifferbar, an welcher sie sich zugleich nie sattlesen konnte; je länger sie davor mit dem Blick hin- und herging, desto reiner empfand sie sich; und als dann später, in einer anderen slowenischen Stadt, war es Ptuj?, mit einer ähnlichen Dachziegelweltkarte ihr vor Augen, mittendrin, auf dem größten der Dächer, war es das des Doms dort?, eine richtige Schrift, monumental, dunkel- auf hellrot, sie ansprang, „IHS“, sah sie solches Deutlichwerden geradezu als eine Barbarei. (N 548 f., Hervorhebungen M.H.)
Vgl. Heraklit: Fragmente. Griechisch und ins Deutsche übertragen von Georg Burckhardt. Wiesbaden 1951, S. 27.
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Maribors Ziegeldächer erscheinen Helena als Ornament, das aus organischen und geometrischen Formen, nämlich „Schleifen, Wellen, Schlingen, Kreuzungen“, besteht. Diese Ornamente werden ferner mit einer „ewigen Schrift“ verglichen, womit Handke einen Zusammenhang zwischen der Form des Ornaments, das den visuellen Künsten zugehört, und der Sprache herstellt. Die hier aufgezeigte gedankliche Verbindung von ‚Ornament‘ und ‚Sprache‘ deutet bereits an, dass in Handkes Erzählung das Ornament als „ordnende Grundstruktur“¹⁰ verstanden werden kann, mit deren Hilfe der gegenwartsorientierte Wahrnehmungs- und Lebensgenuss Helenas in der literarischen Form der Erzählung dargestellt wird. Das Ornament soll jenes mediale Übertragungsproblem auflösen, das sich aus einem modernen Schreiben ergibt, das die Darstellung subjektiver Wahrnehmung der Entfaltung eines Erzählplots voranstellt und damit die Wirkung visueller Erlebnisse im Medium Sprache evozieren möchte. Bezeichnenderweise geht Helena das ästhetische Modell des Ornaments ausgerechnet in einem erkenntnisstiftenden ‚freudigen Augenblick‘¹¹ auf. Die Betrachtung der Dachziegel ihrer Geburtsstadt wird auch zur Geburtsstunde einer durch das Sehen erneuerten Sprache. Das Ornament wirkt hier wie eine ‚Naturform‘ von Sprache und Erzählstil, und zwar in einem weiteren Sinne. Dem Prinzip der Mimesis dezidiert entgegengesetzt, wird das Ornament in freier Nachfolge der Sprachkritik der Moderne zur ‚zweiten‘ und ‚künstlichen Natur‘ und damit zum ästhetischen Modell, das den Weg für einen neuen künstlerischen Ausdruck jenseits tradierter Bedeutungen oder wissenschaftlichen Bezeichnens weist. Während konventionelle oder definitionsscharfe Sprache stets Gefahr läuft, als Machtinstrument missbraucht zu werden – wie die „richtige Schrift“ des Christusmonogramms „IHS“, die von Helena als „Barbarei“ empfunden wird –, eröffnet eine poetische Sprache im Zeichen des Ornaments weltanschauliche Freiheit und Schönheit, die ästhetische Lust bereitet. Auf die reich verzweigte Geschichte des Ornaments kann hier zwar nicht eingegangen werden, doch hat Danièle Cohn darauf hingewiesen, dass sich der Status des Ornaments mit der ‚Geburt der Ästhetik‘ verschoben hat: Sei dem Ornament bis zum 18. Jahrhundert in Anknüpfung an die antike Rhetorik „nie eine andere Funktion als die eines Zusatzes“¹², eines Schmuckworts (Epitheton, Apposition) zugewiesen worden, etablierte es sich – so Cohn im Zusammenhang einer Schiller-Lektüre – von einer ‚bloß anhängenden‘ Schönheit zur ‚freien
Vera Beyer; Christian Spies: Einleitung. Ornamente und ornamentale Modi des Bildes. In: dies. (Hrsg.): Ornament. Motiv – Modus – Bild. München 2012, S. 13 – 23, hier S. 16. Hugo von Hofmannsthal: Ein Brief [1902]. In: ders.: Erfundene Gespräche und Briefe. Hrsg. v. Ellen Ritter (= Sämtliche Werke. Kritische Ausgabe, Bd. 31). Frankfurt/M. 1991, S. 45 – 55, hier S. 50. Danièle Cohn: Der Gürtel der Aphrodite. Eine kurze Geschichte des Ornaments. In: Beyer/ Spies 2012 (wie Anm. 10), S. 148 – 179, hier S. 150.
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Schönheit‘, „rein und interesselos, die das Glück eines ästhetischen Wohlgefallens bewirk[e].“¹³ Das Ornament steht demnach, verkürzt gesagt, für die Überwindung einer auf Mimesis fixierten Kunstauffassung und tritt über die Schlagwörter ‚Einbildungskraft‘, ‚Freiheit‘ und ‚Form‘ für die konstruktive Fähigkeit des Künstlers ein.¹⁴ Auch nach der Auffassung Markus Brüderlins fungiert das Ornament – er bezieht sich auf die Arabeske, das Rankenornament vornehmlich arabischen und maurischen Stils¹⁵ – als „Schlüssel für den Übergang von der klassischen Mimesis zur modernen Abstraktion“¹⁶ und beeinflusst so die Kunst des 20. Jahrhunderts. Intensiv wurde der Status des Ornaments am Sonderfall der Arabeske in der Goethezeit debattiert.¹⁷ Friedrich Schlegel treibt im Brief über den Roman (1800) die Nobilitierung der Arabeske vonseiten der Romantiker voran, indem er gerade den Status der Arabeske als ‚Parergon‘¹⁸ („keine hohe Dichtung, sondern nur eine – Arabeske“¹⁹) als Chance begreift, künftig die literarische Form des Romans zu erneuern.²⁰ Zu einem historischen Zeitpunkt, an dem, wie Werner Busch betont, die traditionelle Ikonographie endet und die christliche Sinngebung hinterfragt wird, ermöglicht die Arabeske eine Verkehrung der Ordnungen: Das „Niedrigste kann romantisiert zum Höchsten nobilitiert werden“²¹. Damit stehe, so Brüderlin, die Wachstum und Metamorphose widerspiegelnde Arabeske für den „romantischen Versuch“ ein, „das in Fragmente zerfallende Ganze zu retten“.²²
Ebd., S. 170. Vgl. ebd. S. 164, S. 174. Vgl. Franz Sales Meyer (Hrsg.): Handbuch der Ornamentik [1927]. Leipzig 1983, S. 594. Markus Brüderlin: Die abstrakte Kunst des 20. Jahrhunderts oder die Fortsetzung des Ornaments mit anderen Mitteln. Die Arabeske bei Runge – Van de Velde – Kandinsky – Matisse – Kupka – Mondrian – Pollock und Taafe. In: Beyer/Spies 2012 (wie Anm. 10), S. 348 – 373, hier S. 353. Zum „Aufstieg der Arabeske“ ab 1795 vgl. Günter Oesterle: Arabeske und Roman. Eine poetikgeschichtliche Rekonstruktion von Friedrich Schlegels „Brief über den Roman“. In: Dirk Grathoff (Hrsg.): Studien zur Ästhetik und Literaturgeschichte der Kunstperiode. Frankfurt/M. 1985, S. 233 – 292, hier S. 234– 238; Günter Oesterle: Das Faszinosum der Arabeske um 1800. In: Walter Hinderer (Hrsg.): Goethe und das Zeitalter der Romantik. Würzburg 2002, S. 51– 70. Neben den geläufigen Bedeutungen ‚Beiwerk‘, ‚Ergänzung‘, ‚Nebenarbeit‘, ‚Rest‘ beschreibt Derrida das ‚Parergon‘ als konstitutives Werk. Vgl. Jacques Derrida: Die Wahrheit in der Malerei [franz. 1978]. Hrsg. v. Peter Engelmann. Übers. v. Michael Wetzel. Wien 1992, S. 74. Friedrich Schlegel: Brief über den Roman [1800]. In: ders.: Schriften zur Literatur. Hrsg. v. Wolfdietrich Rasch. München 21972, S. 311– 321, hier S. 313. Vgl. Oesterle 1985 (wie Anm. 17), S. 237. Werner Busch: Die notwendige Arabeske. Wirklichkeitsaneignung und Stilisierung in der deutschen Kunst des 19. Jahrhunderts. Berlin 1985, S. 13. Brüderlin 2012 (wie Anm. 16), S. 354.
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Handke nutzt in der Geschichte meiner Freundin das Ornament für seinen selbstreflexiven, sprachkritischen und wahrnehmungsorientierten Erzählstil und verbindet es mit dem Konzept des Orientalismus. Zunächst erinnern die in der Geschichte erwähnten Ornamente entfernt an die spezifisch arabisch-islamische Spielart des Ornaments, an die Arabeske, sei es, wenn in den „Wellen“ oder „Kreuzungen“ der Dächer Maribors deren organische und geometrische Varianten wiedergefunden werden können²³, sei es, wenn in der „Schlange“ (N 574), die sich durch die Landschaft windet, auf die ‚figura serpentinata‘ angespielt wird, welche in der Arabeske fortlebt.²⁴ Doch auch ohne den Bezug zur Arabeske wird deutlich, dass die Ornamentik, die Handke auf das Dächermeer der slowenischen Stadt projiziert, tatsächlich als ‚orientalisch‘ verstanden sein will. ‚Morgenland‘, ‚Orient‘ und ‚Levante‘ werden hier mit der semantischen Offenheit des Ornaments und einer erhöhten Aktivität der Einbildungskraft verbunden: Und noch etwas Eigentümliches, erzählte sie, seien bei jenen Dächern die Firstziegel gewesen, eine lange Haube hinter der anderen, und so in vielen Reihen, oft ein wenig unregelmäßig, wie leicht geknickt, prozessionsartig in die Himmelsrichtungen vorlaufend, welche für sie damals allesamt „Morgenland“, „Orient“, „Levante“ geheißen hätten – keine Namen, sagte sie, sondern Bilder, zum Anrufen. Und wenn schon Namen, dann nur solche, die aus der Sonne kamen, oder aus deren Abglanz, den Farben (wenn eine Kuh „Braune“ hieß), oder aus den Formen der Erde („der Hohe Weg“, der „Tiefe Graben“, und alle die Kaps von „Finisterre“). (N 549 f.)
Der zuvor als besonderes Erlebnis des Sehens und ‚freudiger Augenblick‘ beschriebene Zustand Helenas erweist sich nach dieser Beschreibung dezidiert als ‚orientalisierende‘ Wahrnehmungsart der Wirklichkeit, zudem als kindlicher, vormoderner, „reiner“ (N 549) Blick auf die Welt. Das ‚neue Sehen‘ von „Farben“ und „Formen der Erde“ beeinflusst auch den Sprachgebrauch, in dem anstelle der Begriffe das Benennen der visuellen Eigenschaft der Dinge bevorzugt wird. Im weiteren Verlauf der Geschichte wird einer solchen bildhaften Sprache nicht nur ein höherer Anspruch auf Wahrheit gegenüber begrifflicher Sprache zugebilligt (N 550), sondern die an der Gestalt der Phänomene orientierte Sprache wird gleichzeitig auch mit dem Topos des Sprachursprungs und dem biblischen Mythos der Dingbezeichnung durch Adam semantisch aufgeladen (N 550 f.): Szenen, die – wie eingangs mit dem Hinweis auf Herders Schrift Auch eine Philosophie der Geschichte erwähnt – abermals in die ‚orientalische‘ Vorgeschichte zurückführen.
Zu diesen beiden Ausformungen der Arabeske vgl. ebd., S. 360 – 370. Zur Verbindung zwischen Schlangenlinie und Arabeske vgl. Günter Oesterle: Arabeske, Schrift und Poesie in E.T. A. Hoffmanns Kunstmärchen „Der goldne Topf“. In: Athenäum. Jahrbuch für Romantik 1 (1991), S. 69 – 107, hier S. 72– 78.
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Handke verbindet in der Geschichte meiner Freundin das Ornament als ästhetisches Formprinzip seines Erzählens also konzeptionell mit dem ‚Bild‘ und verleiht seiner Sprache über den Rückbezug auf die biblische Urszene Sakralität: Die Sprache gleicht „Bilder[n], zum Anrufen“ (N 549). Allerdings wird damit kein Anspruch der Sprache auf das Verkünden ‚ewiger‘ Wahrheiten erhoben. Stattdessen liegt ihr Wahrheitsgehalt in der phänomengetreuen Darstellung jener sinnstiftenden Augenblicke, die sich Helena auf ihrer ‚Schatzsuche‘ eröffnen. Dazu gehört neben der angemessenen Wortwahl für die Dinge auch die entsprechende literarische Form, die den ‚wertvollen‘ Wahrnehmungs- und schließlich Wortschätzen gerecht wird. So wie Helenas ästhetische Spurensuche in Handkes Geschichte mit ihrem Lebensweg im Allgemeinen und einem Reiseweg durch die Türkei im Besonderen verglichen wird, an dem sich Station an Station oder Bild an Bild reiht, muss auch die Erzählform diesem Modell gerecht werden. Dabei scheint es Handke nicht um die Folgerichtigkeit der einzelnen Reiseetappen zu gehen, sondern vielmehr um die Vermittlung der Anschaulichkeit und des intensiven Gefühls des Lebensvollzugs, das mit ihnen verbunden ist, bei gleichzeitiger Reflexion der ästhetischen Erfahrung. Handke vergleicht diese ästhetische und selbstbeobachtende Wahrnehmungsweise in der Niemandsbucht einmal mit der Vorstellung des ‚Gefilmt-Werdens‘ (N 391). Auch in der Geschichte meiner Freundin legt die ehemalige ‚Miss Jugoslavija‘ ihre Reise wie ein Starlet in einem Abenteuerfilm zurück, „als würden alle ihre Bewegungen, landauf, landab, festgehalten“ (N 566). Handke führt weitere Vergleiche für Helenas Intensität des Schauens an, die zwischen Kontemplation und Zerstreuung, zwischen vormoderner und moderner Wahrnehmung wechselt und so mit avancierten künstlerischen Experimenten des Sehens beide Weltbetrachtungsweisen zu ihrem Recht kommen lässt. Wenn sich Helena beim Gehen, der ursprünglichen Fortbewegungsart des Menschen, etwa ihre Jacke als Sonnenschutz über den Kopf zieht, erlebt sie die Welt in einer kontemplativen „besänftigenden, die Aufmerksamkeit verschärfenden“ (N 564) Finsternis; schaut sie hingegen durch die „gleich einem Kaleidoskop geschüttelten Scheiben eines Busses“, erscheint ihr im modernen Transportmittel auch „das Land kaleidoskopartig“ (ebd.) zerstreut. Dieser Gegensatz zwischen einer ganzheitlichen Wahrnehmung und der diffusen Zersplitterung der Welt in Einzelteile wird in der Geschichte weiter entfaltet und führt schließlich durch den Rückgriff auf die ästhetische Form des Ornaments bis in die Erzählform hinein. Zunächst erweist sich Helenas ästhetische Wahrnehmung als endlich, noch der ‚höchste Augenblick‘ erscheint zeitlich begrenzt: Doch galt das jetzt, für Stunden, gar Tage, nichts mehr. Wo sie sich durchschlug, ganz Auge für morgenländische Jahrtausende, und mit ihrem schönen Gehen zugleich das Beispiel der reinen Gegenwart gab: Nichts mehr davon erschien in jener Karte, die keinen extra Druck
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brauchte, geortet – eingezeichnet – mitgeschrieben – weitergegeben. Zwischen den tausend guten war das die böse Neuigkeit dieser Reise. Sie empfand sich dann weder in einem Orient mit dessen Patriarchenluft noch in irgendeiner Levante mit Zimt und Zymbelklang. Das Raumschiff Erde, selbst auf das inständigste Zehenscharren und Fersenklopfen, antwortete nicht mehr. (N 569)
Die Fragilität der als orientalisiert attribuierten Wahrnehmungsweise wird an anderer Stelle wiederholt betont, wenn Helena dem Erzähler Gregor Keuschnig von ihrer Reise lediglich „Fragmente“ (N 565) ihrer Erlebnisse zukommen lässt. Das Versenden der Schrift-Fragmente (erneut mit Verweis auf Heraklit) gleicht einer Bitte an den Schriftsteller Keuschnig, er möge doch die ephemere Struktur ihrer Wahrnehmung in der textuellen Form der Erzählung auf Dauer überliefern. Doch wie soll Keuschnig aus Helenas fragmentarisch überlieferten Berichten eine Erzählung bauen? Eine Geschichte, die in ihrer literarischen Form sowohl Helenas vormoderne ‚orientalisierende‘ Weltwahrnehmung als auch ihre moderne fragmentierte Erlebniswelt – die sich übrigens bis in ihre ebenso zersplitterte Biographie (Berufs- und Partnerwechsel, Bestehen auf individuellen Alleingängen) fortsetzt – berücksichtigt? Die Journale Handkes können in ihrer Funktion als poetologischer ‚Paratext‘ zu den Erzählwerken dabei helfen, den Zusammenhang von Orient, Ornament und Erzählstil in der Geschichte meiner Freundin aufzuklären: „Fragmentarisch leben – um nichtfragmentarisch phantasieren-schreiben zu können“²⁵, notiert Handke im März 1988.
3 Umschreibungen: Orient- und Ornament-Studien in Gestern unterwegs Handke begann im Herbst 1975 in Paris in Notizheften seinen Alltag als Schriftsteller zu beschreiben. Auch diese Notationstätigkeit, im Journal Das Gewicht der Welt (1977) in einer Auswahl publiziert, verfolgte das Ziel, der „Sprache des Kommunikationszeitalters“²⁶ eine poetische Sprache entgegenzusetzen, die sich wie in der Geschichte meiner Freundin an der Bildlichkeit der Sprache ‚orientiert‘. Handkes damaliges Bemühen, nahezu alle Wahrnehmungen zu versprachlichen, kann rückblickend als poetologischer Neuanfang gewertet werden: als Handkes
Peter Handke: Gestern unterwegs [2005]. Frankfurt/M. 2007, S. 122. Fortan abgekürzt mit der Sigle „GU“. Peter Handke: Das Gewicht der Welt [1977]. Frankfurt/M. 1979, S. 7.
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Wende zum ‚neuen Sehen‘ auf phänomenologischer Basis²⁷ und als Initialhandlung für eine Bildpoetik.²⁸ Auf das Gewicht der Welt folgten seither weitere Journale, in denen diese literarische Praxis bis heute fortgesetzt wird. Zwischen sämtlichen Journalen Handkes besteht dabei eine strukturelle Gemeinsamkeit, die als ‚ornamentale Bauform‘ bezeichnet werden kann. Wie die vielgestaltigen Teile des Ornaments, die in einer Reihenstruktur geordnet sind und einen motivischen Zusammenhang besitzen²⁹, setzen sich Handkes vielgestaltige Einträge, visuell jeweils durch eine Leerzeile voneinander getrennt, zu einem ornamentalen Textbild zusammen. Die Notizen wirken aufgrund ihrer unterschiedlichen Thematik und Form (Kurzprosa, Sentenzen, Lektürekommentare etc.) zwar disparat und kontingent, erweisen sich aber letztlich als kohärentes Ganzes. Die aus diaristischen Fragmenten zusammengesetzte Ganzheit bildet sich zunächst über die Konstanz der Sprechinstanz, des Schreibers ‚Peter Handke‘.Weiterhin fügt sie sich über die Logik der zeitlichen Abfolge (‚Datierung‘) und schließlich über inhaltliche Motive zusammen, die den Arbeitsprozess eines Erzählprojektes oder einer bestimmten Werkphase widerspiegeln. Diese ornamentale Bauweise der Journale überträgt der Autor auch auf seine Erzählwerke, die seit dem Debütroman Die Hornissen (1966) Alternativen zum ‚Plot-Realismus‘ anbieten möchten. So ähneln bereits in den Hornissen die Episoden des Romans, durch Leerzeilen und Zwischenüberschriften voneinander getrennt, den einzelnen Gliedern eines Ornaments.³⁰ Noch im Bildverlust (2002) zeigen sich die einzelnen Kapitel in kurze Abschnitte zersplittert³¹, und auch Die Geschichte meiner Freundin weist eine solche visuelle Fragmentierung auf. In der Bauform des Ornaments begegnen sich Journal- und Erzählwerk. Vgl. Anna Estermann: „statt ‚Bild‘ sag auch ‚Traum‘, ‚Illusion‘, ‚Ganz-Sein‘, ‚Mit-Sein‘…“. Handkes ganz weltliche Religion der Bilder. In: Jan-Heiner Tück; Andreas Bieringer (Hrsg.): ‚Verwandeln allein durch Erzählen‘. Peter Handke im Spannungsfeld von Theologie und Literaturwissenschaft. Freiburg; Basel 2014, S. 175 – 194, hier S. 181. In meiner Dissertation untersuche ich Handkes ‚Bildpoetik‘ für dessen Gesamtwerk, wobei ich unter anderem Zeichnungen und Kunstwerk-Kommentare in den Notizbüchern des Autors exemplarisch analysiere. Vgl. Marit Heuß: Peter Handkes Bildpoetik. Phil. Diss. Universität Leipzig 2019. Zuvor haben Kepplinger-Prinz und Pektor, die einen Überblick über Handkes Zeichentätigkeit in den Notizbüchern bieten, gemutmaßt, dass Handke an einer „Poetik des Bildes“ arbeite. Vgl. Christoph Kepplinger-Prinz; Katharina Pektor: Zeichnendes Notieren und erzählendes Zeichnen. Skizzen, Zeichnungen und Bilder in Peter Handkes Notizbüchern von 1972 bis 1990. In: Handkeonline vom 08.08. 2012, S. 5. http://handkeonline.onb.ac.at/forschung/pdf/kepplingerpektor-2012.pdf (letzter Zugriff 16.08. 2020). Vgl. Günter Irmscher: Ornament in Europa 1450 – 2000. Eine Einführung. Köln 2005, S. 11. Vgl. Christoph Bartmann: Suche nach Zusammenhang. Handkes Werk als Prozeß. Wien 1984, S. 85. Vgl. Hummel 2007 (wie Anm. 6), S. 181.
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Im Journal Gestern unterwegs wird diese Verquickung von Orient, Ornament und Erzählform besonders evident. Das Journal enthält die Aufzeichnungen von Handkes Weltreise zwischen 1987 und 1990, als der Dichter ohne festen Wohnsitz den Globus umkreiste und Notizen zum neuen Schreibprojekt ‚Der Bildverlust‘ anfertigte. Aus dem erzählerischen Großprojekt ‚Der Bildverlust‘ gingen schließlich zwei Werke hervor – Mein Jahr in der Niemandsbucht und Der Bildverlust (vgl. GU 5). Die Geschichte meiner Freundin steht also nachweislich in Verbindung mit den Journal-Aufzeichnungen der Weltreise, sodass hier wie dort der Orient sowohl in Topoi als auch in der Reflexion der Ornament-Form wiederkehrt. In Gestern unterwegs lassen bereits die Namen der bereisten Länder Handkes Orient-Sehnsucht erkennen: Wie Helena in der Geschichte meiner Freundin reist der Autor durch das damalige Jugoslawien, Griechenland, die Türkei und Ägypten, die Iberische Halbinsel. Auch das in der Freundin-Geschichte dokumentierte Interesse Handkes an der Ornamentik ist auf der Weltreise bereits präfiguriert. Das gilt insbesondere für die Reisen durch Andalusien sowie durch Mazedonien und Griechenland, wo der ornamentale Stil islamischer Bauwerke den Schriftsteller fasziniert. Der ‚Augenmensch‘ Handke konzentriert sich dabei besonders auf die Ornamentik: „die konkaven Muster“ eines „Minarett[s]“ (GU 31), die „rhythmischen, gleichmäßigen Säulen und Bögen“ (GU 357) der Moschee von Córdoba. Ausgehend von der Wahrnehmung der Ornamente scheint der Autor auch Überlegungen über seine Erzählsprache und Erzählform anzustellen – eine gedankliche Übertragung, die nicht neu ist. Die Idee einer Parallelität zwischen Bauform und Sprachstil wurde in der Renaissance nach dem Vorbild der antiken Rhetorik wiederbelebt, als man erkannte, dass „Vitruvs De architectura libri decem (33 – 13 v.Chr.) […] weitgehend der antiken Rhetoriklehre folgt“³². Es ist naheliegend, sich gerade bezüglich ‚Ausdruck‘, ‚Redestil‘ und ‚Sprache‘ von der Ornamentik inspirieren zu lassen, bilden sie doch Bestandteile der elocutio, zu der auch der ornatus, der ‚Schmuck‘ der Rede, gehört.³³ Neben den Formreflexionen zum Ornament ist auch die Nähe zwischen Handkes eigenen ästhetischen Erlebnissen und denen der Geschichte meiner Freundin auffällig, sodass die künstlerische Spurensuche Helenas auch als Selbstporträt des Dichters gelesen werden kann und so an die für Handke typische Verflechtung von Leben und Schreiben erinnert. Als Handke im Februar und März 1989 von Nordspanien nach Andalusien reist, lebt er ähnlich wie Helena in der Freundin-Geschichte im Augenblick, gerät dabei mehrfach in einen ästhetischen Wahrnehmungsmodus, in dem einzelne
Vgl. Irmscher 2005 (wie Anm. 29), S. 24. Ebd. S. 23.
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Ansichten der Welt als Teile eines endlosen Ornaments ganzheitlich empfunden werden: Die so vielgestaltigen kleinen Bäume am großen Platz von Alcázar, namens „syrischer Hibiskus“, mehrgabelige Äste, in der Regel auf Brusthöhe unten am Stamm die Anfangsgabelung, in welche die alten Müßiggeher da auf dem Platz im Dastehen und Palavern, oder einfach bloß Dastehen ihre Ellenbogen hineinstützen, oder sie fassen auch hinauf in eine der nächstmöglichen Gabelungen und halten sich im Gespräch daran fest, wie an (starren) Bushalteringen, schönes Zusammenspiel von Dastehenden, Gestikulierenden und zierlichstark sich in die Höhe schlängelnden Bäumchen, die Männer fast übergroß im Verhältnis zu ihnen, nicht ungleich den bei den Bäumen Verharrenden der romanischen Kapitelle – die so hellen, lichten, gelichteten Bäume davor, daneben, darin die Massivität und Dunkelheit der alten Männer – und jetzt sitze ich bald schon zwei Stunden im jardinillo von Alcázar, ganz hinten, beim letzten Baum, und spüre mich immer reiner werden. (GU 348 f.)
Handke erlebt das ‚Anschauen‘ und ‚Müßiggehen‘ in der Kleinstadt Alcázar de San Juan, gelegen in der Region Kastilien-La Mancha.Vermutlich ist er auf den Spuren von Cervantes unterwegs – gibt es doch in Alcázar nicht nur das Casa del Hidalgo, ein Museum über spanische Edelmänner, wie sie im Don Quijote porträtiert werden, sondern auch die berühmten Windmühlen im nahe gelegenen Criptana, wohin er ebenfalls reist (vgl. GU 346). Die Notiz widmet sich fast ausschließlich der Beschreibung eines Erlebnisses ‚orientalisierender‘ Entschleunigung: Handke schaut einer Gruppe von Männern zu, die über eine lange Zeit auf einem Platz in Alcázar im Schatten von Hibiskus-Bäumen miteinander sprechen. Die rhythmisierten Bewegungen und Gesten der Einheimischen erlebt der Dichter, der anscheinend das Müßiggehen der Andalusier imitiert, im Einklang mit der mediterran-orientalischen Pflanzenwelt (‚syrischer Hibiskus‘) und der mittelalterlichen Architektur. Der Autor hat wohl zuvor die romanische Kirche Santa María la Mayor besichtigt, zieht er doch „romanische Kapitelle“ als Vergleichsbild in der Beschreibung heran.³⁴ Durch die kontemplative Wahrnehmung – Handke hält sich zwei Stunden im Garten von Alcázar auf – schärft sich der Blick auf die Dinge, fügen sich die fragmentierten Einzelphänomene zur ästhetisch zusammenhängenden Welt. Das Erlebnis der ‚orientalisierenden‘ Entschleunigung und die kontemplative Wahrnehmung der Welt werden auch im sprachlichen Gestus des Notizbucheintrags wirkungsvoll inszeniert: Zunächst wird über den hypotaktischen Satzbau und die Einklammerung der Sprachfluss retardiert. Die Anschaulichkeit der Szene wird sprachlich über Figuren der ‚Vergegenwärtigung‘ wie Vergleiche evoziert, Enumerationen von Adjektiven und Nomina mit starkem
Zu Handkes Auseinandersetzung mit der Baukunst der Romanik vgl. Carstensen 2013 (wie Anm. 8), S. 149 – 188.
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Gegenstandsbezug ermöglichen ein quasi-wahrnehmungsnahes Miterleben.³⁵ Wie diese erscheinen auch weitere Wahrnehmungsaufzeichnungen in Handkes Journal Gestern unterwegs als Vorübungen für eine an Bildlichkeit orientierte Erzählsprache, für welche Metaphern und Ornamente (Epitheta, Appositionen) essentiell sind. Danièle Cohn erinnert in ihrem Beitrag zur Geschichte der Ornamentik daran, dass in der Poetik des Aristoteles die Entdeckung von Ähnlichkeiten und deren neuartige Kombination als Voraussetzung für das Bilden von Metaphern und das Finden von Epitheta gilt und als eine nicht erlernbare künstlerische Begabung betrachtet wird.³⁶ Damit kann auch Handkes Sammlung von Epitheta in Gestern unterwegs im Zusammenhang mit seiner orientalisierenden, ornamenthaften Erzählsprache gesehen werden.³⁷ Weiter südlich, bereits im andalusischen Córdoba, verfällt Handke bei der Besichtigung der Moschee La Mezquita – des berühmtesten Bauwerks Andalusiens, in welchem das dort vorherrschende „Wechselspiel von Islam und Christentum“³⁸ erlebbar wird – in einen Hymnus auf die Ornamentik. Die Ryhthmik von Säulenordnung, Wand- und Kuppeldekor wirkt abermals vorbildhaft für das Erzählen: Durch die rhythmischen, gleichmäßigen Säulen und Bögen ein Erstehen, ständig, von vielen Räumen in dem einen großen Raum, so gleichmäßig-fein-mächtig; aber mitten in die Moschee hineingebaute, -gehaute, -gedrängte Christenkirche der Reconquista dagegen ein einziger, zwischenraumloser antirhythmischer Raum. Gerade zu widerwärtig, ja empörend das Übergehen des edlen Nichtssagens und der Zartheit des puren Rhythmus der Moschee und der Ornamentik in die Bildlichkeit des christlichen Altarraums, zu den Gesichtern, den Verrenkungen, den Ballungen, hineingezwängt in die Mitte der schwingenden leeren Räume. Diese Übergänge im Betrachten dann überall, auch im Mauerwerk, von den Säulen zu den Pfeilern und den Wänden. (GU 358)
Handke beschreibt nicht nur die Weiträumigkeit des zur Zeit des Kalifats von Córdoba entstandenen Sakralraums, sondern auch die späteren christlichen „Einbauten“, die nach Ansicht des Kunsthistorikers Henrik Karge „die räumliche Geschlossenheit der Moschee empfindlich stören“³⁹ und die auch Handke als
Die Bezeichnung der Formen literarischer Bildlichkeit folgt hier der Terminologie Frauke Berndts. Vgl. Frauke Berndt: Literarische Bildlichkeit und Rhetorik. In: Claudia Benthien; Brigitte Weingart (Hrsg.): Handbuch Literatur & Visuelle Kultur. Berlin; Boston 2014, S. 48 – 67. Vgl. Cohn 2012 (wie Anm. 12), 158 f. Zum Beispiel finden sich in Gestern unterwegs Sprachreflexionen über die Verwendung folgender Epitheta: die ‚schönen Tage‘ (GU 23), die ‚Beiwörter‘ ‚heilig‘ und ‚häßlich‘ bei Hölderlin (GU 50, 56), ‚hoheitsvolle Apostel‘ (GU 166). Henrik Karge: Andalusien. München 2007, S. 127. Ebd. S. 135.
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unliebsame Unterbrechung des islamischen Baus empfindet.Wie in der FreundinGeschichte lobt der Dichter dagegen die ‚weitere Sprache‘ der von strenger Bedeutung befreiten Ornamentik (das ‚edle Nichtssagen‘, die ‚leeren Räume‘), die er in den durch Säulen und Pfeiler rhythmisierten – und dadurch ornamentierten – Wänden der Moschee entdeckt, die mit ihren „Bauteile[n] aus verschiedenen Epochen einen labyrinthischen Charakter“ entfaltet, wie Karge weiter erläutert, und zudem den „wechselhaften Prozess der geschichtlichen Entwicklung Spaniens vom 8. bis zum 16. Jahrhundert“⁴⁰ offenlegt. Den visuellen Effekt, der so im Innenraum der Mezquita entsteht, bezeichnet Handke als „ein Erstehen […] von vielen Räumen in dem einen großen Raum“ und verbindet mit den als Ornament gesehenen Säulen womöglich bereits eine Ordnungsfigur für polyperspektivisches Erzählen und die narrative Evokation diverser Zeiträume. Zumindest erscheint ihm das Ornament auf der Weiterreise in ein anderes Zentrum Andalusiens, nach Sevilla, zunehmend als Struktur, welche die Vielfalt der Wirklichkeit ästhetisch in einen Zusammenhang zu fassen vermag. In der Beschreibung seiner Eindrücke des durch Don Fadrique Enríquez um 1530 zum prächtigen Ensemble von „Architektur und gärtnerisch gestalteter Natur“⁴¹ entworfenen Palastes widmet er sich wieder der Möglichkeit der Ornament-Form, Phänomene unterschiedlichster Art miteinander zu verknüpfen. So erscheinen ihm in der Casa de Pilatus in Sevilla Natur und Architektur wie miteinander verwoben, Naturphänomene in stilisierter Form in den Ornamenten des Baus fortgesetzt: „im Garten des Ornamenthauses, mit den Durchblicken zu den Kachelmustern der Wände, an denen die Blattumrisse ganz Form geworden sind“ (GU 359). Auch Handkes Geschichte meiner Freundin scheint in der Erzählstruktur von einer ornamentalen Verknüpfungsstruktur geprägt zu sein. Detailschilderungen reihen sich hier wie auf einem Fries nahezu gleichwertig aneinander, ohne dass dabei einzelne Szenen wie in einem realistischen Plot eine Aufwertung erfahren. Durch die Ordnung der erzählten Wirklichkeit im Ornament heben sich Hierarchien und festgelegte Bedeutungen auf ⁴², die kommunikative Sprache scheint durch eine selbstreferentielle ‚schöne Sprache‘ ersetzt, und jede einzelne Erzählsequenz wird in einem neuen Zusammenhang gesehen. Zweifellos erinnert Handkes ornamentaler Erzählstil an moderne Erzählkonzepte wie beispielsweise an die Romane Marcel Prousts, für die Gérard Genette feststellte, dass in ihnen deskriptive Passagen
Ebd. S. 127. Ebd. S. 158. Auch Honold verweist auf den Wegfall des „dünkelhafte[n] Kulturabstand[s]“ bei Handke, wenn dessen Wanderer-Figuren „keine Wahl unter denjenigen Phänomenen“ träfen, die ihnen als „Gegend“ erscheinen würden. Vgl. Honold 2017 (wie Anm. 6), S. 172.
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nicht mehr als ‚Pause‘ in der handlungsorientierten Erzählung fungierten, sondern selbst die dominierende Textfunktion bildeten.⁴³ Trotzdem lohnt es sich, die Eigenart der Handkeʼschen Erzählweise gesondert zu betrachten, nicht zuletzt wegen der Akzentverschiebung, die sich beim Österreicher vom ‚Beschreiben‘ auf das ‚Umschreiben‘ legt und damit erneut mit der Funktion des Ornaments verglichen werden kann, das als Parergon auch im das Werk ergänzenden Rahmen auftreten kann.⁴⁴ Dabei stellt der Rahmen sowohl eine ‚innere Grenze‘ zum Bild als auch eine ‚äußere Grenze‘ zur Umgebung dar, zum Beispiel „der Mauer, an der das Bild angebracht ist“⁴⁵. Derrida beschreibt den Rahmen, das Parergon, als eine Grenzform, „deren traditionelle Bestimmung es ist, sich nicht abzuheben, sondern zu verschwinden, zu versinken, zu verblassen, in dem Augenblick zu zerfließen, wo es seine größte Energie entfaltet.“⁴⁶ Kehrt man von der Bildtheorie zum kunstvollen Gebrauch der Sprache zurück, erinnert ein prominenter Tropus aus der Rhetorik an Rahmen und Parergon, die ‚Periphrase‘⁴⁷, die bei Handke für eine Ästhetik des Übergangs zwischen Sprache und Bild, Sagbarem und Unsagbarem steht. Die Periphrase oder ‚Circumlocutio‘ nutzt der Redner nach Quintilian, weil sie „verhüllt, was häßlich zu sagen ist“, oder „zum Schmuck“.⁴⁸ Übertragen auf Handkes ‚orientalisierenden Erzählstil‘ führt die Periphrase zu einer sprachreflexiven Erzählhaltung, die in der Tradition der ‚Sprachkrise‘ der Moderne steht. Wenn die Sprache schon kein adäquates Mittel darstellt, die Dinge zu beschreiben, dann bleibt es Aufgabe der Literatur, sie zu evozieren und bildhaft zu umschreiben: über den Eigenwert der Sprache, die Sinnlichkeit jedes einzelnen Wortes und Satzes, die Schriftbildlichkeit und Musikalität des Sprachinventars. Hier setzt der ‚späte‘ Handke die poetologische Programmatik des Frühwerks fort, beteuert der Autor doch bereits im Essay Ich bin ein Bewohner des Elfenbeinturms (1970), er wolle die „Dinge nicht beim Namen nennen“, sondern sie „erkennbar werden lassen“ durch „jeden einzelnen Satz“.⁴⁹ In Fortsetzung und Variation dieses frühen Diktums charakterisiert Handke in der Geschichte meiner Freundin auch Helenas besondere Redeweise durch den Tropus der Periphrase:
Vgl. Gérard Genette: Die Erzählung [franz. 1972/1983]. Hrsg. v. Jochen Vogt. Übers. v. Andreas Knop. Paderborn 32010, S. 62– 66. Vgl. Derrida 1992 (wie Anm. 18), S. 84– 86. Ebd. S. 80. Ebd. S. 82. Vgl. Marcus Fabius Quintilianus: Ausbildung des Redners. Zwölf Bücher. Hrsg. v. Helmut Rahn. Darmstadt 1988. Bd. 2, S. 243 (VIII 6, 59 – 61). Ebd. (VIII 6, 59 f.). Peter Handke: Ich bin ein Bewohner des Elfenbeinturms. Frankfurt/M. 1970, S. 24 f.
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Am auffälligsten an ihrem Reden war freilich, daß sie dabei doch Namen verwendete, nur selbsterfundene, in der Form von Umschreibungen oder Bildern. So wie ihr „Gefäß“, „Fluß hinterm Berg“, „Nadelbaum, der im Herbst die Nadeln verliert“ etwas von der Legende eines Kreuzworträtsels hatte, so kam ich auch immer wieder ins Raten darüber, was sie denn meinte mit ihrer „Frucht, nach der man gut schläft“ […]. Maribor, wo sie geboren war, hieß für sie immer nur „Die Stadt mit den roten Ziegeldächern“ […]. (N 547, Hervorhebung M.H.)
Auch in Gestern unterwegs nimmt Handke die einzelnen Phänomene wie Glieder eines Ornaments wahr, die sich nicht hierarchisch aneinanderreihen, ob es sich – wie hier in Córdoba – um „die Ruinen im Fluß, die römische Brücke, die Moschee, die blumentopfgemusterten patios“ oder um „die Viehsteige am Fluß, die Rudel der wilden Hunde, die wehenden Papier-, Plastik- und Fellfetzen im thermischen Steppenwind“ (GU 363) handelt. Damit wird das Ornament sogar zur zweifachen ästhetischen Figur, es zeigt den umschreibenden Erzählstil Handkes und die Bauform der Erzählung, deren als Rahmen verstandene ornamentale Struktur die Grenzen der Sprache auslotet.
4 Spurenziehen: Ornamente aus Geh- und Schreibwegen Handkes orientalisierender Erzählstil ist charakterisiert durch eine Verflechtung von Leben und Literatur, die durch die Poetisierung der Reisewege des Dichters und die Umarbeitung der Journale in literarische Texte hervorgerufen wird. Die Notate der Journale werden vom Autor im literarischen Text zum Ornament gewoben, in welchem die gegangenen Denk- und Schreibwege des Dichters poetisiert werden. Dass Handkes reales und das fiktive Unterwegs-Sein seiner literarischen Figuren als Verfertigen von Ornamenten und damit als performative künstlerische Praxis verstanden werden können, verdeutlicht auch ein „episodisches Sittengesetz“ (N 567) in der Geschichte meiner Freundin: „Handle unterwegs so, daß du nichts, was du tust, als einen Verstoß gegen dein Spurenziehen siehst.“ (N 567) Die ‚goldene Regel‘ des Evangeliums und der Kategorische Imperativ Kants werden in eine ästhetische Lebensweise eingeschlossen und Helenas Reisewege mit der Gestaltung eines Ornaments verglichen, das durch halbbewusste und anmutige Bewegungen entsteht und eine schöne „Zeichenschrift“ (N 567) hinterlässt: Sie zöge, so das Vorstellungsbild, mit ihrer Art des Auf-dem-Weg-Seins, immerzu und inständig bei der Sache, bereit, sich überraschen zu lassen und selber zu überraschen, Spuren nicht nur durch die Gegenden, sondern zugleich auch in eine besondere Weltkarte. Dort erschiene ein jeder ihrer gegenwärtigen Schritte im selben Moment übertragen als ein We-
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gezeichen, ganz wie die Markierungen eines Kundschafters, dazu unauslöschbare, was ihr, neben der Freude, die sie haben konnte so allein mit sich, ein gutes Gewissen machte: Als sei ihr Kreuz- und Querstreifen jetzt ein Arbeiten, ein gemeinnütziges, wenn je eines. (N 566)
„Geh schön!“ (N 568), diesen Zuruf Heraklits vernimmt Helena im Orient „mit dem weltraumblauen türkischen Himmel über sich“ (N 567 f.). So wird die ehemalige Schönheitskönigin Jugoslawiens und schönste Frau des antiken Griechenlands zur Allegorie für Handkes von ästhetischer Lust geprägten Lebens- und Erzählstil, der sich gegen vordergründige ‚Wahrheiten‘ sowie eine funktionale Sprache versperrt und sich stattdessen auf Geh- und Schreibwegen im schönen Ornament vermittelt.⁵⁰ Der orientalisierende Erzählstil des ‚späten‘ Handke versöhnt den sprachkritischen Gestus des Frühwerks mit dem dichterischen Programm, das der Autor während seiner ‚mittleren‘ Werkphase in der Kafka-Preisrede 1979 formuliert hatte: „Das Wort sei gewagt: Ich bin, mich bemühend um die Formen für meine Wahrheit, auf Schönheit aus – auf die erschütternde Schönheit, auf Erschütterung durch Schönheit.“⁵¹ ‚Erschütterung durch Schönheit‘: Einengende gesellschaftliche Strukturen und eine damit verbundene Unterdrückung individueller Freiheit, die sich nach Handke in einer von abstrakter Begrifflichkeit und konventionellen Sprachformeln beherrschten Sprache artikulierten, sollen durch die poetische Sprache der Literatur ‚gesprengt‘ werden.⁵² Die eingangs erwähnte weltanschauliche Freiheit wird so nicht über die epigonal anmutenden und auf der Textoberfläche aufblitzenden Orient-Topoi, sondern über die Sprache selbst vermittelt.⁵³ Charakterisiert durch einen ästhetischen Wahrnehmungsmodus, der zwischen Kontemplation und Zerstreuung schwankt, und durch eine ornamentale Bauform des Textes, die Hierarchisierungen unterläuft, erweitert Handke mit seinem ‚orientalisierenden Erzählstil‘ sein literarisches Schreiben, das eine befreiende Wirkung entfalten und damit auch gesellschaftlich wirksam sein will. Interessant dürfte für die weitere Forschung auf diesem Gebiet sein, wie Handke diesen Orientalismus ethisch auflädt, mit Rückbezug auf die Literatur der Goe-
Zur Ausweitung dieser ästhetischen Lebensform auf Handkes Schreibpraxis vgl. Dominik Srienc: „Aber das Schreiben war Existenz non plus ultra“. Peter Handke, der Bleistift und der „Versuch über die Müdigkeit“. In: Anna Kinder (Hrsg.): Peter Handke. Stationen, Orte, Positionen. Berlin; Boston 2014, S. 153– 171. Peter Handke: Rede zur Verleihung des Franz-Kafka-Preises: In: ders.: Meine Ortstafeln, meine Zeittafeln 1967– 2007. Frankfurt/M. 2007, S. 73 – 75, hier S. 74. Vgl. Peter Handke: Die Geborgenheit unter der Schädeldecke. In: ebd., S. 67– 72, hier S. 70. Zur „Schönheit als ‚res publica‘“ vgl. Hans Höller: Eine ungewöhnliche Klassik nach 1945. Das Werk Peter Handkes. Berlin 2013, S. 37– 39.
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thezeit legitimiert⁵⁴ sowie unter Einbezug des Islam mystifiziert⁵⁵ – eine Tendenz, die sich im jüngsten Journal des Autors, Vor der Baumschattenwand nachts (2016), abzeichnet.⁵⁶ Dort treten im Übrigen auch Ornamente – und zwar auf besondere Weise – in Erscheinung, nämlich auf Zeichnungen des Schriftstellers, die in das Journal eingelassen worden sind: „Regenschlieren auf der Oise“, „Teerspuren auf der Landstraße“, „Schneeflocken“ oder „Spatzenbadekuhlen im Sand am Quai“.⁵⁷
Vgl. Peter Handke: Vor der Baumschattenwand nachts [2016]. Berlin 2018, S. 422. Zahlreiche Zitate in der Baumschattenwand stammen von islamischen Mystikern des Mittelalters, darunter der in Andalusien geborene Ibn ʼArabi, der persische Mystiker Al Ghazālī sowie Ibn al-Fārid. Vgl. ebd. S. 42 f., S. 85 – 103, S. 302– 332. Vgl. Chiheb Mehtelli: „Ibn ʻArabȋ lebt“. Peter Handke und der Eros der Mystik. In: Thorsten Carstensen (Hrsg.): Die tägliche Schrift. Peter Handke als Leser. Bielefeld 2019, S. 179 – 198. Vgl. Handke 2018 (wie Anm. 54), S. 296, S. 307, S. 55, S. 166.
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Filmische Repräsentationen arabischer Migranten in Rainer Werner Fassbinders Angst essen Seele auf und Benjamin Heisenbergs Schläfer Migration ist nicht erst seit 2015, als zahlreiche syrische Geflüchtete nach Deutschland kamen, ein dominierendes Thema im politischen, gesellschaftlichen und medialen Diskurs, sondern tritt immer wieder in Literatur und anderen Künsten in den Vordergrund. Auch Filmemacher*innen haben sich intensiv mit dem Thema auseinandergesetzt, was in diesem Beitrag anhand der Darstellung arabischer Migrant*innen in zwei Filmen gezeigt wird. Rainer Werner Fassbinders Film Angst essen Seele auf (1974) schafft einen Einblick in die Zeit des Anwerbestopps und der sogenannten Konsolidierung in der Migrationspolitik¹, deren Anfang mit 1973 angesetzt wird und mit der die ersten Diskussionen über die Integration der Gastarbeiter*innen in Deutschland beginnen. Benjamin Heisenbergs Film Schläfer (2005) zeigt ein Deutschland nach den bis dato größten und bedeutendsten Reformen im Bereich Migration, die mit dem neuen Staatsangehörigkeitsgesetz im Jahre 2000 und dem Zuwanderungsgesetz von 2005 eine neue Phase der deutschen Migrationspolitik einleiteten.² Die Filme Fassbinders und
Vgl. Rainer Geißler: Migration und Integration. In: Bundeszentrale für politische Bildung, 16. Dezember 2014, www.bpb.de/izpb/198020/migration-und-integration?p=all (Stand: 01.08. 2020). Von 1913 bis 1999, also bevor zum Beginn des Jahres 2000 das neue Staatsangehörigkeitsrecht in Kraft trat, wurden die deutsche Staatsangehörigkeit und die damit verbundenen Rechte nur nach dem Abstammungsprinzip (ius sanguinis) erteilt. Das Reichs- und Staatsangehörigkeitsgesetz von 1913 (in Kraft getreten zum Beginn des Jahres 1914) bestimmte rechtlich über Jahrzehnte, wer ‚deutsch‘ sein durfte und wer an der politischen und der damit verbundenen gesellschaftlichen Struktur des deutschen Staates Mitspracherecht hatte. Migrant*innen der ersten, zweiten und dritten Generation nach 1945 waren von der Mitwirkung an demokratischen Entscheidungen ausgeschlossen. Die Veränderungen des Jahres 2000, die nun auch das ,Recht des Bodens‘ oder ius soli anerkannten, waren gleichzeitig ein Eingeständnis Deutschlands, sich als ein Einwanderungsland zu betrachten, was bis dahin weder politisch noch gesellschaftlich bejaht wurde.Vgl. Klaus J. Bade: Transnationale Migration, ethno-nationale Diskussion und staatliche Migrationspolitik im Deutschland des 19. und 20. Jahrhunderts. In: ders. (Hrsg.): Migration – Ethnizitä t – Konflikt. Systemfragen und Fallstudien. Osnabrü ck 1996, S. 403 – 430; Kien Nghi Ha: Die kolonialen Muster deutscher Arbeitsmigrationspolitik. In: Encarnación Gutiérrez Rodríguez; Hito Steyerl (Hrsg.): Spricht die Subalterne deutsch? Migration und postkoloniale Kritik. Mü nster 2003, S. 56 – 107; Deniz Gö ktü rk u. a. (Hrsg.): Transit Deutschland. Debatten zu Nation und Migration. Paderborn 2011. https://doi.org/10.1515/9783110669428-008
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Heisenbergs eignen sich für eine Gegenüberstellung, da beide auf die Entwicklungen der Migrant*innensituation in Deutschland reagieren und einen Araber als Protagonisten haben, der in München lebt und versucht, trotz seiner nationalen, religiösen und kulturellen Identität³ ein Leben in Deutschland aufzubauen und sich in die deutsche Gesellschaft zu integrieren. Sowohl Farid in Schläfer als auch Ali in Angst essen Seele auf sind Beispiele für arabische Migranten in Deutschland, die von der deutschen Gesellschaft als Fremde empfunden werden und deren Versuche, sich in die Gesellschaft zu integrieren, aufgrund ihrer Herkunft, ihres Aussehens und ihrer Religion scheitern. Obwohl die Protagonisten unterschiedlichen sozialen Klassen angehören, leiden beide unter dem Rassismus und den Vorurteilen der deutschen Gesellschaft, und beide Männer werden am Ende des Filmes physisch außer Gefecht gesetzt: Ali liegt im Krankenhausbett, nachdem er einen körperlichen Zusammenbruch erlitten hat, und Farid wird von Staatsbeamten zu Boden geworfen, gefesselt, in ein Auto gedrängt und weggefahren. Die Figuren Ali und Farid zeigen eine Auseinandersetzung mit der Idee einer deutschen Identität, die im Kontrast zu den arabischen Protagonisten konstruiert und konstituiert wird. Obwohl, wie Fassbinder zeigt, schon mindestens seit den 1970er Jahren arabische Migrant*innen in Deutschland leben, erscheint die Figur Farids in Heisenbergs Film als ein Fremder, der gefährlich wirkt und daher näher zu beobachten ist. Fatima El-Tayeb führt das wiederholte Auftreten der Begegnung von Migrant*innen mit Mitgliedern der so genannten „Mehrheitsgesellschaft“ auf einen „pathologischen Wiederholungszwang“ zurück: Immer wieder wird die erste Begegnung mit dem unvermittelt aufgetauchten Fremden ausagiert, immer wieder ein Kreislauf von Panik, Optimismus, Aggression und Ablehnung durchlaufen, in dem zunächst die Bereitschaft sich mit dem Fremden auseinanderzusetzen postuliert wird, wenn die Fremden sich denn einigen Mindestanforderungen (nämlich der Anpassung an deutsche Werte) unterwerfen. Kurze Zeit später folgt immer wieder die Enttäuschung darüber, dass diese bescheidenen Anforderungen nicht erfüllt werden, wobei es unklar bleibt, ob die Fremden nicht können oder nicht wollen. Klar ist jedoch, dass sie das von deutscher Seite offene Verhältnis durch ihre Verweigerungshaltung in ein antagonistisches verwandelt haben.⁴
In meiner Verwendung des Begriffes ‚kulturelle Identität‘ folge ich Stuart Hall, der das komplexe Zusammenspiel zwischen Identität, Zugehörigkeit, Ethnie und Nationalkulturen aufzeigt. Hall betont zudem die Problematik von ‚Kultur‘ als identitätsstiftendem Konzept. Stuart Hall: Introduction: Who Needs Identity? In: ders.; Paul du Gay (Hrsg.): Questions of Cultural Identity. London 1996, S. 3 – 17. Fatima El-Tayeb: Undeutsch. Die Konstruktion des Anderen in der postmigrantischen Gesellschaft. Bielefeld 2016, S. 9.
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Das Scheitern der Integration in die deutsche Gesellschaft am Ende der Filme basiert in beiden Fällen auf der Unfähigkeit, diese ,Mindestanforderungen‘ zu erfüllen. Was in den jeweiligen Kontexten der Filme ,die deutschen Werte‘ sind und wie sich die deutsche Identität durch die Abgrenzung von Migrant*innen konstituiert, ist Gegenstand dieses Beitrags. Dabei untersuche ich, wie und ob der arabische Hintergrund der Migranten ihre Alterität bedingt und welche Marker von Alterität ihnen zugeschrieben werden. In den ersten beiden Abschnitten analysiere ich die Filme in ihrer filmischen Gestaltung und den Einsatz von Verfremdungseffekten als Mittel der Gesellschaftskritik. Im dritten Abschnitt zeige ich, wie die Alterität der arabischen Protagonisten im Film konstruiert und kommuniziert wird und inwieweit orientalistische Stereotype in diese Darstellungen einfließen.
1 Heisenbergs Schläfer – Im Auge der Kamera Benjamin Heisenbergs Schläfer spielt mit seinem Titel auf die Angst nach dem 11. September 2001 vor sogenannten Schläferzellen in Deutschland an. Die Protagonist*innen sind die Wissenschaftler Johannes Mehrveldt (Sebastian Trost), Farid Atabay (Mehdi Nebbou) und ihre Bekannte Beate Werner (Loretta Pflaum). Im Fokus der Handlung steht der junge Wissenschaftler Johannes, der vom Staat beauftragt wird, seinen Kollegen Farid zu beobachten und von dessen Leben, seinen beruflichen und privaten Interaktionen zu berichten. Diese Thematik knüpft an die vielen Gesetze an, die nach dem 11. September in Deutschland eingeführt wurden, um potenzielle Schläferzellen ausfindig zu machen. Grund dafür war die bekannte Hamburger Gruppe, deren Mitglieder an den Anschlägen in den USA beteiligt waren. Im Mittelpunkt von Heisenbergs Film steht nicht die Angst vor einem möglichen neuen Anschlag, vielleicht auch in Deutschland, sondern der Missbrauch der Situation seitens des Verfassungsschutzes und anderer staatlicher Organe, also die Möglichkeit des Rückfalls in einen Polizeistaat, in dem die persönlichen Rechte der Bürger*innen und Einwohner*innen Deutschlands zunichte gemacht werden. Der Film konzentriert sich zunächst auf das Persönliche, um auf allgemeingesellschaftliche Strukturen und Missstände aufmerksam zu machen. Farids ‚Undeutschheit‘⁵ ist durch seine Religion, den Islam, bedingt, und dementsprechend gilt er als potenzielle Gefahrenquelle. ‚Undeutsch‘ ist hier nach El-Tayeb definiert und bezieht sich auf rassifizierte Menschen in Deutschland, die weder weiß noch christlich sind und dementsprechend von der so genannten ‚Mehrheitsgesellschaft‘ bzw. den so genannten ‚Mehrheitsdeutschen‘ als ‚undeutsch‘ wahrgenommen werden; vgl. ebd., S. 8. Der Begriff ‚mehrheitsdeutsch‘ soll auf die Komplexität von
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Was sind die Merkmale eines Terroristen? Wie erkennt man ihn? Diese Fragen soll Johannes, der Protagonist des Films, beantworten. Der Vorspann und die erste Szene des Films beginnen mit einer scheinbar harmlosen alltäglichen Szene, in der Menschen im Park liegen, Sport treiben und spazieren gehen. Auch der Doktorand und Virologe Johannes Merveldt geht mit einer Frau durch den Park. Sie ist eine Beamtin des Verfassungsschutzes und beauftragt Johannes, seinen neuen algerischen Kollegen Farid Madani zu beobachten. Die Mehrdeutigkeit in der Kommunikation zwischen Frau Wasser, der Repräsentantin des Staates, und Johannes macht es erforderlich, das Vorwissen und die Vorurteile über ledige arabische Muslime bei Johannes und beim Zuschauer zu überprüfen und kritisch zu hinterfragen.⁶ Im Vorspann und in der ersten Szene des Films werden diese Motive präsentiert und im Dialog zwischen Johannes und der Verfassungsschutzbeamtin offengelegt. Johannes: Warum beobachten Sie ihn? Wasser: Ach, lassen Sie uns darüber jetzt nicht reden. Sonst sind Sie noch voreingenommen. Johannes: Das bin ich doch jetzt schon. Wasser: Nein, Nein, Nein. Die Person kann ja auch ganz harmlos sein. Und wenn Sie ihn für ungefährlich halten, überzeugen Sie uns davon. Wir bitten Sie einfach um Ihre Hilfe. (00:01:14– 00:01:42)⁷
Schon durch den Titel entwirft der Film einen Rahmen von Angst und Zweifel und verstärkt dies durch die erste Szene. In diesem ersten Gespräch zeigt sich auch, dass Araber quasi automatisch als Bedrohung gesehen werden und dass sie das Gegenteil – ihre Unschuld – zuerst beweisen müssen. Die Beamtin bittet Johannes, Farid zu bespitzeln, ohne klare Angaben zu machen, worauf er sich zu konzentrieren hat. Die Kriterien sind Johannes und den Zuschauer*innen überlassen und beruhen vollkommen auf ihren Vorurteilen und ihrer Voreingenommenheit gegenüber arabischen Männern und muslimischen Wissenschaftlern.⁸ Diese Unklarheit stellt die politische Situation und das Muster bei der Wahr-
Macht- und Herrschaftsstrukturen aufmerksam machen und indiziert die Verbindung verschiedener Privilegierungsstrukturen (etwa weiß, deutsch, christlich säkularisiert); vgl. Katrin Meyer: Theorien der Intersektionalität zur Einführung. Hamburg 2017, S. 39 f. Vgl. Henrike Lehnguth: Sleepers, Informants, and the Everyday. Theorizing Terror and Ambiguity in Benjamin Heisenberg’s Schläfer. In: Cara Cilano (Hrsg.): From Solidarity to Schisms: 9/11 and After in Fiction and Film from Outside the US. Amsterdam 2009, S. 115 – 131, hier S. 119. Schläfer. Regie: Benjamin Heisenberg. Deutschland; Österreich. Coop 99; Juicy Film 2005. Hier und im Folgenden werden Szenen mit Angabe des Timecodes im laufenden Text zitiert. Vgl. Lehnguth 2009 (wie Anm. 6), S. 119.
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nehmung von Arabern in der deutschen Gesellschaft in den Vordergrund. Die Existenz von Arabern in der deutschen Gesellschaft wird per se als eine Gefahr dargestellt. Diese Gefahr ist umso größer, als die Marker der Gefahr angeblich versteckt und in der Kultur verankert sind. Farids einwandfreie Beherrschung der deutschen Sprache und sein akademischer und beruflicher Erfolg zeigen ihn als einen erfolgreichen jungen Mann. Gerade diese gelungene Integration macht ihn verdächtig, und den Zuschauer*innen wird schon am Anfang des Films die Aufgabe gestellt, ein Urteil über seine Schuld oder Unschuld zu fällen. Die Kamera, die in dieser Szene versteckt hinter den Büschen positioniert ist und mit fixierter Einstellung filmt, wirkt wie eine Überwachungskamera. Die Zuschauer*innen wissen anfangs nicht, worauf sie sich zu konzentrieren haben, bis Johannes und Frau Wasser ins Bild kommen und das Thema ,Beobachten‘ ansprechen.⁹ Johannes wird von Frau Wasser und von seiner Großmutter als „verantwortungsvoller“ (00:02:52), ja „lieber“ (00:09:45) Mensch bezeichnet. Er soll, so Frau Wasser, seinen Kollegen und Freund beobachten, weil es sonst jemand machen würde, der nicht so gewissenhaft wie Johannes sei. Dieses Argument benutzt Frau Wasser durchgehend im Film und bewegt Johannes in Momenten des Zweifels dazu, Farid doch weiter zu bespitzeln. In Frau Wassers Argumentation werden die Kontrolle und das Beobachten zu der moralischen Aufgabe eines ‚guten Bürgers‘. Damit errichtet sie innerhalb des Films eine binäre Struktur, in welcher der Staat weiße Mehrheitsdeutsche zu Deutschen macht, die den Nationalstaat vor Fremden – hier muslimischen Männern – zu schützen haben. Die deutliche Abgrenzung zwischen den beiden Männern konstruiert Farid als ewigen Fremden und Johannes als Hüter der Nation. The figuring of the good citizen is built on the image of the strong citizen: in this sense, the good citizen is figurable primarily as white, masculine and middle-class, the heroic subject who can protect the vulnerable bodies of ,weaker others‘: ,crime cannot survive in a community that cares – Neighbourhood Watch Works‘ […].¹⁰
Und genau dieses Narrativ, welches Sara Ahmed hier am Beispiel der Nachbarschaftswache beschreibt, wird von der Verfassungsschützerin eingesetzt. Die Konstruktion des Fremden wird durch vermeintlich gute Absichten ‚guter‘ Bürger geschaffen. Diese ‚guten‘ Bürger sind Nachbar*innen oder, wie im Film, Freund*innen und Kolleg*innen. Die zerbrechliche Freundschaft zwischen Johannes und Farid kippt, angetrieben durch Johannes’ Eifersucht auf Farid, in eine Feindschaft. Farid geht eine Liebesbeziehung mit Beate ein, in die auch Johannes Ebd. Sara Ahmed: Strange Encounters. Embodied Others in Post-Coloniality. London 2000, S. 31.
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verliebt ist; auch im beruflichen Leben ist Farid erfolgreicher. Er schafft einen Durchbruch in seiner Forschung und kann gemeinsam mit seinem Professor publizieren, was Johannes’ Neid auf die Spitze treibt, da er sich privat und beruflich benachteiligt fühlt. Nachdem in München ein Bombenanschlag verübt worden ist, verdächtigt Frau Wasser Farid. Sie erkundigt sich bei Johannes, ob Farid ein Alibi hat. Johannes und Farid waren in der Nacht des Anschlages zusammen, aber Johannes verschweigt dies und übergibt Farid dem Verfassungsschutz. Farid wird festgenommen und verschwindet. Johannes kann den Verrat an Farid und seine Beseitigung nur erfolgreich durchführen, weil Farid Araber und Muslim ist. Araber und Muslime – so zeigt der Film – haben eine prekäre Existenz im gegenwärtigen Deutschland und können von einem Tag auf den anderen aufgrund der Ungleichheiten in der Gesellschaft und hier auch vor dem Gesetz buchstäblich und metaphorisch von der Bildfläche verschwinden. Aufgabe der ‚guten‘ Bürger*innen ist das Beobachten. Dies wird im Film auf verschiedenen Ebenen der Diegese und zudem durch den Einbezug der Zuschauer*innen umgesetzt. Im Fokus der Beobachtung steht der algerische Wissenschaftler Farid, der auf der ersten Ebene von Johannes beobachtet wird. Auf der zweiten Ebene werden die beiden jungen Doktoranden in ihrer Forschung von ihrem Professor beobachtet, und auf der dritten Ebene findet die Beobachtung aller durch den Staat statt. Schließlich beobachtet auf der vierten Ebene die Kamera alle Filmfiguren und ermöglicht den Zuschauer*innen den Einblick in dieses verschachtelte Beobachtungssystem. Die Thematik der Überwachung ist zentral für Filme der Berliner Schule.¹¹ Die statische, beobachtende Kamera, die wie eine Überwachungskamera wirkt, verschafft den Zuschauer*innen einen Einblick in die binnenfiktionale Wirklichkeit, also die filmisch erzeugte Realität der Protagonist*innen. Gleichzeitig stellt sie die Realität außerhalb des Filmes in Frage und veranlasst die Zuschauer*innen, kritisch auf ihre Umgebung zu schauen. Und genau dieses Wiederhinschauen und die dadurch entstehenden kognitiven Pro-
Überwachung wird vor allem in Christian Petzolds maßgebendem Film Die Innere Sicherheit (2001) thematisiert, in dem ebenfalls unterschiedliche Dimensionen des Beobachtens miteinander verschachtelt werden. Petzold montiert Filmausschnitte von Überwachungskameras in seinen Film. Sowohl Petzold als auch Heisenberg kommentieren mit ihren Filmen das Filmemachen und die Filmrezeption. Bei Heisenberg und in den anderen Filmen der Berliner Schule sind der Bezug zur Filmgeschichte und das Anknüpfen an Filmstile früherer Filme wichtige Merkmale und selbst gesetztes Ziel. So ist Heisenbergs Film in vieler Hinsicht eine Hommage an Francis Ford Coppolas Film The Conversation aus dem Jahr 1974. Die Charaktere der Filme sind keine traditionellen Helden. Sie sind Außenseiter. Wir erfahren nicht viel über ihr Innenleben, sondern bekommen einen Ausschnitt ihres Lebens zu sehen und können als Beobachter*innen an ihrem Leben teilhaben.Vgl. Marco Abel: The Counter-Cinema of the Berlin School. Rochester; New York 2013.
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zesse des Hinterfragens sind die prägenden Merkmale von Heisenbergs Schläfer. Heisenberg zeigt, wie Denkmuster und manipulierte Wahrnehmungen durch Macht entstehen. Nachdem beispielsweise die Zuschauer*innen und Johannes in Farids Wohnung nach Zeichen der Schuld suchen und nur alltägliche Gegenstände und einen Koran sehen, kommt Johannes zu der Schlussfolgerung, dass Farid unschuldig ist. Diese Beurteilung nimmt Frau Wasser aber nicht an: „Nein, ich bin nicht überzeugt.“ (00:55:55) Sie fügt hinzu: „Wir haben nichts gegen Herrn Madani, wir müssen nur wissen, falls er zur Gefahr wird.“ (00:56:00 – 00:56:07) Johannes wird demnach vom Staat dazu gedrängt, Farid als Terroristen zu sehen. Heisenbergs Film zeigt, auf welche Weise Bilder wie das des arabischen Terroristen konstruiert werden und wie sie durch vorgeschriebene und herrschende Denkmuster entstehen. Er zeigt ferner, dass die so geformten diskriminierenden Sichtweisen stets durch eine machtausübende Institution, hier den deutschen Staat, implementiert werden müssen. Die Aufrechterhaltung von orientalistischen Stereotypen über Araber erfolgt, wie der Film zeigt, durch die ständige Verunsicherung der positiven Wahrnehmungen von Arabern. Filmisch stellt Heisenberg diese Ungewissheit und Ambivalenz durch seine beobachtende Kamera dar. Die Totalen und der Einsatz der Standkamera, in der die Schauspieler*innen ins Bild laufen, visualisieren Beobachtungsverhältnisse und Prozesse der Wahrnehmung. Die Figuren, und besonders Johannes, werden von hinten gefilmt. Wir schauen ihm über die Schulter, beobachten zwar aus seiner Sicht, aber auch gleichzeitig ihn selbst. Der Film erhöht ständig die Spannung und gibt dann Zeichen, die wiederum nicht eindeutig sind. So setzt Heisenberg zum Beispiel spannungserregende Musik ein, die Erwartungen weckt, diese aber dann nicht erfüllt. Ein weiteres Beispiel für den Einsatz von filmischen Gestaltungsmitteln, welche die Denkmuster und Voreingenommenheit der Zuschauer*innen hinterfragen, sind Schnitte zur nächsten Szene, die aber nicht in direkter Beziehung zur vorherigen Szene stehen. So werden Erwartungen und Erzählmuster gestört, und es wird ein desorientierender Effekt hergestellt. Die Zuschauer*innen werden sich ihrer eigenen Wahrnehmungs- und Denkmuster bewusst und versuchen gleichzeitig, die Bilder und Szenen in logische Verbindungen zu bringen. Der Prozess des Reflektierens und Interpretierens ist Bestandteil der Rezeption und wird in Schläfer bewusstgemacht. Das Sehen und Wahrnehmen und die Interpretation der Zeichen im Film veranlassen die Zuschauer*innen, über ihre Sichtweisen der Realität zu reflektieren und ihre eingefahrenen Denkmuster zu hinterfragen. Die Wirkung dieser beobachtenden Kamera ist – wie sich zeigen wird, ähnlich wie bei Fassbinder, wenn auch durch andere Mittel – ein Verfrem-
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dungseffekt: Er schafft eine Distanz zu den Figuren und Handlungen, sodass die Identifikation mit den Charakteren unmöglich gemacht wird.¹²
2 Fassbinders Angst essen Seele auf – Das Melodrama als Form der Gesellschaftskritik Zu Rainer Werner Fassbinders bekanntesten Filmen gehört Angst essen Seele auf (1974). Die Handlung setzt ein, als Emmi Kurowski, gespielt von Brigitte Mira, und Ali (El Hedi ben Salem m’Barek Mohammad Mustafa) sich in einer Gastarbeiterkneipe treffen. Ali ist ein marokkanischer Mechaniker in einer Autowerkstatt, Emmi gehört als Putzfrau ebenfalls der Arbeiterklasse an. Die beiden verlieben sich ineinander und entscheiden sich, zu heiraten. Diese Entscheidung löst eine Welle von Aggressionen und Rassismus von Seiten der deutschen Nachbar*innen, der Familie Emmis und ihrer Arbeitskolleginnen aus. Überwältigt von dem Hass und der Abneigung, die ihnen entgegengebracht werden, beschließen Emmi und Ali in den Urlaub zu fahren, mit der Hoffnung auf eine Änderung nach ihrer Rückkehr. Ihre Hoffnung scheint tatsächlich erfüllt zu werden, und Emmi ist erleichtert über den freundlicheren Umgang mit ihr und Ali. Jedoch ist die Akzeptanz nur eine scheinbare, denn es handelt sich um eine verdeckte Form von Rassismus, was Ali durchschaut, Emmi aber nicht sehen kann oder will. Während Ali und Emmi anfangs beide Opfer von Aggressionen waren, ist Emmi nach dem Urlaub wieder in ihre Kreise aufgenommen, und der Umgang mit Ali nimmt eine neue, scheinbar tolerante Form an. Der aggressive Rassismus schlägt in eine Form des Fetischismus um, an der auch Emmi teilhat, worauf ich später noch genauer eingehe. Der indirekte Rassismus und Fetischismus schaffen zwischen den beiden Hauptfiguren eine Kluft und drohen, sie komplett auseinanderzubringen, bis Emmi am Ende des Filmes Ali erneut in der Gastarbeiterkneipe aufsucht und er zusammenbricht und im Krankenhaus endet – mit Emmi an der Seite seines Bettes. Fassbinder entlehnt die Thematik und die Struktur seines Melodramas Douglas Sirks Film All That Heaven Allows ¹³ aus dem Jahre 1955 und einem Zeitungsartikel, in dem ein Gastarbeiter namens Ali beschuldigt wird, seine 65-jäh-
Mehr zum ästhetischen Gebrauch der Einfühlung in Schläfer in: Claudia Breger: Precarious Identifications. The Aesthetic Management of Empathy in Schläfer (2005) and Paradise Now (2005). In: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte N. F. 82 (2008), S. 494– 516. All That Heaven Allows. Regie: Douglas Sirk. USA. Universal Pictures 1955.
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rige deutsche Ehefrau ermordet zu haben. Bevor El Hedi ben Salem als Araber für die Rolle eingesetzt wurde, wollte Fassbinder Ali als Türken darstellen und den Film Alle Türken heißen Ali nennen: Ich will dem jungen Türken und der alten Deutschen die Möglichkeit geben, zusammenzuleben. Früher hätte ich die Geschichte sicher so erzählt, daß die alte Frau stirbt, weil die Gesellschaft nicht zuläßt, daß eine alte Frau und ein junger Gastarbeiter zusammenleben. Aber jetzt geht’s mir darum zu zeigen, wie man sich wehren kann und es trotzdem irgendwie schafft. Heute glaube ich eher, daß man, wenn man diese deprimierenden Verhältnisse nur reproduziert, sie damit verstärkt. Deshalb sollte man eher die herrschenden Verhältnisse durchschaubar darstellen, damit bewußt wird, daß sie überwunden werden können.¹⁴
Die Situation der Gastarbeiter thematisiert Fassbinder schon in seinem Film Katzelmacher (1969), in dem er selbst den griechischen Gastarbeiter Jorgos spielt, der ebenfalls in München mit der ihm gegenüber feindseligen und ausbeuterischen Gesellschaft in Konflikt tritt. Ali und Jorgos haben viele Gemeinsamkeiten und werden von der Gesellschaft ähnlich sexualisiert. In beiden Fällen wird ihre Sexualität einerseits begehrt und andererseits als Gefahr betrachtet.¹⁵ Der wesentliche Unterschied in der Repräsentation der beiden Gastarbeiter ist die Rassifizierung und Orientalisierung Alis in Angst essen Seele auf. Ali ist als Araber ein Repräsentant der ‚orientalischen‘ Gastarbeiter und identifiziert sich auch selbst als Araber. Dass Fassbinder in seinem Konzept ‚den Türken‘ so leicht durch ‚den Araber‘ ersetzen konnte, zeigt einerseits die gemeinsamen Erfahrungen der Gastarbeiter in Deutschland, andererseits veranschaulicht es den Prozess der Gleichsetzung und die fehlende Differenzierung zwischen Nationen, Regionen, Völkern und Kulturen des Nahen Ostens, einen Prozess, den Said als ,Orientalismus‘¹⁶ bezeichnet. Der Name Ali steht stellvertretend nicht nur für alle Türken, sondern für alle Männer aus dem imaginären ‚Orient‘. Ali bleibt Ali, auch wenn er
Zitiert nach: Herbert Spaich: Rainer Werner Fassbinder. Leben und Werk. Weinheim 1992, S. 266. Katzelmacher. Regie: Rainer Werner Fassbinder. Deutschland. Janus Film 1969. Jorgos wird ähnlich wie Ali von den Frauen im Film begehrt und von den Männern verabscheut. Seine Vermieterin unterstellt ihm fälschlich, sie vergewaltigt zu haben, und er wird brutal von den Männern der Nachbarschaft zu Boden geschlagen. Die Diskussionen von Emmis Kolleginnen über Gastarbeiter spiegeln diese Szenen aus Katzelmacher wider. Ihre Aussagen („Geizige ungewaschene Schweine. Außerdem haben die nichts als Weiber im Kopf. Den ganzen lieben langen Tag lang.“ [00:22:04– 00:22:08]; und „Genau die leben hier auf unsere Kosten. Schau doch mal in die Zeitung. Jeden Tag steht was drin von Vergewaltigung und so.“ [00:22:20 – 00:22:25]) zeigen, wie Diskurse über Hypersexualisierung und die damit verbundene Bedrohung für die deutsche Frau in der Gesellschaft präsent waren und durch Fassbinders Filme thematisiert wurden. Edward W. Said: Orientalism [1978]. New York 2003.
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El Hedi ben Salem m’Barek Mohammad Mustafa heißt und dies explizit im Film anspricht: Emmi: Sie heißen Ali? Ali: Nicht Ali, aber alles sagt Ali. Jetzt ich bin Ali. Emmi: Wie heißen Sie denn wirklich? Ali: El Hedi ben Salem m‘Barek Mohammad Mustafa. Emmi: Oh, der ist aber sehr lang der Name. Ali: Ja, alles in Tisnit hat eine lange Name.¹⁷ (00:07:44– 00:07:56)
Trotzdem nennt auch Emmi El Hedi nicht bei seinem eigentlichen Namen und adressiert ihn mit dem Namen Ali. Der stereotype Name, die Betonung seiner Körperlichkeit sowie die einfache Sprache Alis sind Ausdruck diverser Vorurteile gegenüber Arabern; damit bricht Fassbinders Film nicht mit gängigen Klischees und Vorurteilen gegenüber Arabern, sondern verstärkt und bestätigt diese sogar. Die Charaktere im Film entziehen El Hedi ben Salem somit seine Individualität und seine eigentliche Identität, und Fassbinder thematisiert damit die Konstruktion des ‚ewigen Orientalen‘ im Bewusstsein der deutschen Nation und Kultur. Durch das Mischen des Melodramas mit Techniken der Verfremdung, wie sie aus Brechts epischem Theater bekannt sind, macht Fassbinder diese Orientalisierung des Arabers in seinen unterschiedlichen Schichten und Phasen den Zuschauenden bewusst, zeigt aber gleichzeitig keine Alternative auf. Die Wahl des Melodramas erlaubt und bedingt die Auseinandersetzung des Films mit dem strukturellen Rassismus, aus dem der Orientalismus entspringt.¹⁸ Das Melodrama hat einen klar definierten moralischen Rahmen, in dem die moralischen Gegensätze aufeinanderprallen. Das Soziale und Politische werden durch persönliche Schicksale dargestellt; die Personen, Ereignisse und Beziehungen aus erkennbaren und realitätsnahen Situationen werden in symbolische Projektionen transformiert.¹⁹ Ali und Emmi stehen stellvertretend für die sozialen Kreise, in denen sie sich bewegen und aus denen sie stammen. Ihre Geschichte ist
Angst essen Seele auf. Regie: Rainer Werner Fassbinder. Deutschland. Tango Film 1974. Hier und im Folgenden werden Szenen mit Angabe des Timecodes im laufenden Text zitiert. „The melodrama at its most accomplished seems capable of reproducing more directly than other genres the patterns of domination and exploitation existing in a given society, especially the relation between psychology, morality and class consciousness, by emphasizing so clearly an emotional dynamic whose social correlative is a network of external forces directed oppressingly inward, and with which the characters themselves unwittingly collide to become their agents.“ Thomas Elsaesser, zitiert nach: Rob Burns: Fassbinder’s Angst essen Seele auf. A Mellow Brechtian Drama. In: German Life and Letters 48 (1995), H. 1, S. 56 – 74, hier S. 58. Burns 1995 (wie Anm. 18), S. 58 f.
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persönlich, und sie ist die Geschichte ihrer Liebe, sie ist aber auch die Geschichte der Kriegsgeneration in einem neuen Deutschland und die Geschichte von (arabischen) Migrant*innen als Ausländer*innen und als Manifestation von Alterität in diesem neuen Deutschland. Der moralische Rahmen des Melodramas ist in Angst essen Seele auf visualisiert und bildet ein wesentliches Leitmotiv des Filmes, indem die Protagonist*innen stets in Rahmen, meistens Türrahmen, dargestellt werden. Dieses Gefangensein in einem festen Rahmen spiegelt das Gefangensein der Protagonist*innen in den noch aus der Zeit des Nationalsozialismus stammenden Gesellschaftsstrukturen wider, die Fassbinder in seinen Filmen aufdeckt und dem Publikum aufzeigen will. Charaktere stehen fest, reglos in diesen Rahmen, und die Kamera verweilt für längere Zeit auf den Figuren. Die Szenen erscheinen wie Standbilder, welche Momente, Gedanken und Aussagen festhalten und vermitteln. Der Realismus wird durch die Standbilder und die Durchbrechung der Einfühlung aus der Filmebene in die Realität des Zuschauenden versetzt. „Der Realismus, den ich meine und den ich will, das ist der, der im Kopf der Zuschauer passiert, und nicht der, der da auf der Leinwand ist.“²⁰
3 Konstruktion von Alterität in den Filmen – Marker von Fremdheit Beide untersuchten Filme nutzen den Rahmen als Form der Gesellschaftskritik. Der Rahmen bei Heisenberg als kameratechnischer Effekt ist gekennzeichnet durch die beobachtende Kamera, die meistens die Protagonist*innen von hinten zeigt und ihren Blick einnimmt oder die statisch ist und auf welche die Charaktere zulaufen. Die Perspektive und die Einstellung der Kamera machen bei Heisenberg darauf aufmerksam, was sich außerhalb des Rahmens befindet, bei Fassbinder darauf, was innerhalb des Rahmens ist. Der Einsatz der ‚objektiven‘, beobachtenden Kamera veranschaulicht zugleich die selektive Wahrnehmung und die Einschränkung des Sehens. Dadurch forciert die ‚objektive‘ Kamera zugleich die subjektive Reflexion auf Seiten der Zuschauenden. Der Film veranlasst das aktive Hinterfragen von Seh- und Denkmustern. Verstärkt wird dieser Prozess durch das Wissen der Zuschauer*innen von Farids Unschuld bei seiner Verhaftung. Schläfer appelliert an das kritische Betrachten von Diskursen über Fremdheit und Gefahr und zeigt, wie diese Diskurse durch Macht konstruiert und aufrechterhalten werden. Farid ist hier nicht als Person relevant und soll auch den Zuschau Zitiert nach: Burns 1995 (wie Anm. 18), S. 65.
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er*innen als Person nicht nähergebracht werden. Er dient als symbolische Figur der Alterität, als Gefahr, die momentan durch Muslime repräsentiert wird. Auch Ali ist, wie beschrieben, eine symbolische Figur. Er repräsentiert arabische Gastarbeiter aus Nordafrika und alle ‚Alis‘ aus dem ‚Orient‘. Beide Regisseure veranschaulichen die Prozesse der Fremdheitskonstruktion, scheitern jedoch gleichzeitig an der ‚Vermenschlichung‘ ihrer Subjekte; nicht-deutsche Figuren bleiben bei ihnen eindimensionale ‚Mittel zum Zweck‘. Durch die Verfremdungseffekte beider Filme und die Darstellung der Araber in ihrer symbolischen Funktion machen die Filme auf Essentialisierungs- und Orientalisierungsprozesse aufmerksam. Der Rahmen dient bei Fassbinder als Momentaufnahme der Gesellschaft und zeigt das Gefangensein in den gesellschaftlichen Strukturen. Beide Filmemacher legen den Fokus auf die Bewusstmachung von strukturellem Rassismus und historischen Kontinuitäten, die erkannt werden müssen, um die Gegenwart zu verstehen. Die Einsicht, dass Rassismus immer eine Form von Hegemonie und struktureller Gewalt ist, kommt in beiden Filmen zum Ausdruck. Das Fortbestehen der strukturellen Gewalt als Form von Macht und Dominanz wird in den Filmen durch die Schicksale arabischer Migranten veranschaulicht. Die arabischen Männer in den Filmen haben aufgrund ihrer sozialen Klasse und durch die jeweiligen historischen und gesellschaftlichen Kontexte unterschiedliche Merkmale, die diese Orientalisierungsprozesse auslösen und bewirken. Sie werden als Fremde konstruiert und von ihrer Umgebung als Fremde wahrgenommen. Sara Ahmed beschreibt das Fremde und den Fremden als das, was schon als fremd erkannt wurde. Dementsprechend sind Begegnungen mit Fremden Wiedererkennungsprozesse, die auf unterschiedlichen Ebenen ausgehandelt werden.²¹ Diese Ebenen und die Art, wie diese Prozesse ausgehandelt werden, werden im Folgenden untersucht, und es wird gezeigt, wie Fremdheit kodiert ist, wie sie in den Filmen zum Vorschein kommt und wie die Veränderung
„The figure of the stranger is far from simply being strange; it is a figure that is painfully familiar in that very strange(r)ness. The stranger has already come too close; the stranger is ‚in my face‘. The stranger then is not simply the one whom we have not yet encountered, but the one whom we have already encountered, or already faced. The stranger comes to be faced as a form of recognition: we recognise somebody as a stranger, rather than simply failing to recognise them. […] Strangers are not simply those who are not known in this dwelling, but those who are, in their very proximity, already recognised as not belonging, as being out of place. Such a recognition of those who are out of place allows both the demarcation and enforcement of the boundaries of ,this place‘, as where ,we‘ dwell. The enforcement of boundaries requires that some-body – here locatable in the dirty figure of the stranger – has already crossed the line, has already come too close.“ Ahmed 2000 (wie Anm. 10), S. 21 f.
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von Markern der Fremdheit das Bild von Araber*innen im heutigen Diskurs bestimmt.
3.1 Wahrnehmung Alis als schwarzer Mann Alis Identität wird in Fassbinders Film im Vergleich und Kontrast zu Emmi und der Gesellschaft konstituiert. Er wird von Emmis Nachbarinnen als „ein Schwarzer“ beschrieben, und seine Hautfarbe ist ein äußeres Erkennungsmerkmal, das ihn sofort zum ‚Anderen‘ und Fremden degradiert. Seine eigene Wahrnehmung von Rassismus drückt Ali im Tanz mit Emmi aus, wenn er sagt „Nicht gleich. Deutsche Herr, Arabisch Hund“ (00:06:37– 00:06:43). Ali bringt hier den extremen Rassismus Arabern gegenüber und die Ungleichheit und Unterdrückung von Arabern in der Gesellschaft und am Arbeitsplatz zum Ausdruck. Emmi scheint über diese Verhältnisse nicht informiert und überrascht zu sein. Fassbinder zeigt in dieser ersten Szene schon seine Kritik an dem inhärenten strukturellen Rassismus in der deutschen Gesellschaft, der Araber zum Tier degradiert und ihnen ihre Menschenwürde entzieht. Ali und andere rassifizierte Gastarbeiter erfüllen hauptsächlich eine Funktion als Arbeiter und sexuelle Partner für deutsche Frauen, wobei vor allem Letzeres immer wieder im Film angesprochen wird, und sie haben einen zeitlich begrenzten Gebrauchswert. Der Film veranschaulicht dies im ersten Satz, den wir Ali sprechen hören: „Schwanz kaputt“ (00:03:27). Emmi teilt als Arbeiterin die gleiche Last der harten körperlichen Arbeit, die herablassenden Kommentare über ihre Arbeit und die schlechte Bezahlung; Ali verdient sogar mehr als sie. Was sie aber unterscheidet, ist ihre Hautfarbe und Herkunft und das damit entstehende Machtgefälle. Ali erkennt, wie er selbst zu einem Objekt gemacht wird. Die Figur Ali ist das Objekt des Fetischismus der weißen Frauen, angefangen bei der Frau und der Wirtin der Bar über Emmi, die ihn als sehr schön beschreibt, während sie seinen nackten Körper im Bad bewundert, bis hin zu einer Szene mit Emmis Kolleginnen, in der die weibliche Besessenheit von dem dunkelhäutigen, muskulösen Körper den Höhepunkt erreicht. In der Szene gehen die Frauen, einschließlich Emmi, um Ali herum, der in der Mitte steht, und kommentieren seine Haut und seinen Körper, als ob er ein Ausstellungsobjekt wäre. Emmi zeigt ihn als ihren neuen Besitz und entfremdet ihn durch ihre Handlung noch mehr von sich. Alis Identität wird nur durch sein physisches Dasein definiert. Seine Sprache, Gewohnheiten und Normen sind in seiner Beziehung zu Emmi ebenso unerwünscht wie in der Öffentlichkeit. Er wird von der Gesellschaft hauptsächlich als dunkelhäutiger Araber wahrgenommen. Im Fokus der Wahrnehmung durch andere liegen nicht seine Herkunft aus Marokko oder seine Geschichte, Kultur und Sprache. Stattdessen sind sein Dasein und seine
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Person reduziert auf sein Äußeres und seine Hautfarbe, wie schon Frantz Fanon in Black Skin, White Masks deutlich gemacht hat: „As colour is the most obvious outward manifestation of race it has been made the criterion by which men are judged, irrespective of their social or educational attainments.“²² Die Nachkriegsgesellschaft ist immer noch von dem Gedankengut und den Wahrnehmungsmustern des ‚weißen Europas‘ und der ‚weißen Deutschen‘ geprägt und durch die im Kolonialismus und Nationalsozialismus propagierte ‚Überlegenheit der weißen Rasse‘ beeinflusst. Dass diese Wahrnehmung und die mit ihr einhergehende Reduzierung der Menschen auf ihre Hautfarbe noch in der Gesellschaft bestehen und nicht durch den politischen Entnazifizierungsprozess beseitigt wurden, demonstriert Fassbinders Film und hält so den Zuschauer*innen seiner Zeit (der frühen 1970er Jahre) einen Spiegel vor. Ali spricht von sich als Araber, wir erfahren nicht viel über ihn; seine Herkunft und seine Kultur dürfen keinen Platz einnehmen. Dieses Negieren seiner Wünsche und seiner eigenen Kultur im Privatleben wird in der nachfolgend beschriebenen Szene besonders deutlich zum Ausdruck gebracht. Nach der Rückkehr des Ehepaars aus dem Urlaub scheinen nicht nur die Kolleg*innen, Nachbar*innen und die Familie Emmis verändert, sondern auch Emmi selbst, was im Umgang mit Ali zum Ausdruck kommt. Alis Sehnsucht nach seiner Heimat versteht Emmi nicht. Mehr noch: Sie greift sie sogar an: „Ich kann keinen Couscous machen. Das weißt du doch ganz genau. Langsam solltest du dich an die Verhältnisse in Deutschland gewöhnen. Und in Deutschland isst man nun mal keinen Couscous!“ (1:07:24– 1:7:32). Emmi ist im Vordergrund des Bildes zu sehen, Ali steht erschöpft von der Arbeit im Türrahmen und ist von ihr in der Tiefe des Bildes getrennt und somit auch schon mit einem Schritt aus der Beziehung herausgetreten. Sie bewegt sich noch weiter weg von Ali und schafft einen größeren Raum zwischen ihnen, dreht sich direkt zu ihm und sagt: „ Ich mag auch keinen Couscous“ (1:07:41). Daraufhin verlässt Ali die Wohnung, um mit seinen arabischen Kollegen Couscous zu essen. Emmi bleibt allein, eingerahmt von der Küchentür, zurück. Sie ist in dem Denkmuster der deutschen Gesellschaft gefangen, und dieses Denken wird visuell durch die Kameraperspektive und ihre Einrahmung in der Küchentür symbolisiert. Alis Wunsch nach dem heimischen Essen ist eine Sehnsucht nach einem heimischen Referenzrahmen, der seine Kultur und Bräuche einbezieht. Diese kann und will Emmi Ali nicht geben und begründet dies mit kulturspezifischen Argumenten. Die deutsche Kultur habe ihre eigenen festen Regeln und Normen und könne sich dem Druck einer fremden Kultur nicht beugen. Ali muss sich konsequent anpassen und die Normen und die Kultur des
Frantz Fanon: Black Skin, White Masks [1952]. New York 1991, S. 118.
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Gastlandes annehmen. Sich als Persönlichkeit und Individuum einzubringen, wird ihm von seiner Partnerin verweigert. Seitdem sie selbst von den anderen wieder akzeptiert wird, fällt Emmi in die alten und gewohnten Verhaltensmuster gegenüber ‚Fremden‘ zurück und distanziert sich somit von Ali. Ali bekommt Couscous bei der Wirtin Barbara, aber dieser Couscous ist ein materieller Austausch, für den Ali wieder mit seinem Körper zahlt, was eine weitere Form der Ausbeutung Alis bedeutet.²³ Das Einzige, was das Gastland von ihm als Person sieht und komplett verlangt, bis er schließlich der Nachfrage nicht mehr nachkommen kann und zusammenbricht, ist sein Körper. Die Naturalisierung des Schwarzseins und die damit einhergehende Gleichsetzung der schwarzen Kultur mit einer primitiven Kultur bei Menschen mit dunkler Hautfarbe hat Stuart Hall in seinen Arbeiten zur Repräsentation von Stereotypen beschrieben: For blacks, ,primitivism‘ (Culture) and ,blackness‘ (Nature) became interchangeable. This was their ,true nature‘ and they could not escape it. As has often happened in the representation of women, their biology was their ,destiny‘. Not only were blacks represented in terms of their essential characteristics. They were reduced to their essence. Laziness, simple fidelity, mindless ,cooning‘, trickery, childishness belonged to blacks as a race, as a species. ²⁴
Dieser Reduzierung und Essentialisierung unterliegt auch Ali, sowohl in der Diegese des Films als auch in dem von Fassbinder präsentierten Bild von El Hedi ben Salem als arabischem Schauspieler. Die Kamera Fassbinders exotisiert El Hedis Körper. Fassbinder gelingt es zwar, in der Diegese die Prozesse, die Hall beschreibt, kritisch aufzuzeigen, jedoch verstrickt sich Fassbinder in diesen Prozess, indem er El Hedi in der Trope des ‚exotischen arabischen Mannes‘ festhält und ihn als solchen präsentiert.²⁵ Alis und damit auch El Hedis Fremdheit ist an seinem ‚fremden Körper‘ festgesetzt, den die Zuschauer*innen zusammen mit Emmi und der Kamera voyeuristisch betrachten und bewundern. Die Fremdheit Alis wird ihm im Film nie abgesprochen, und es wird nie versucht, sie zu widerlegen. Die Gesellschaftskritik des Films beruht auf dem Umgang mit dieser
Vgl. Salomé Aguilera Skvirsky: The Price of Heaven. Remaking Politics in All that Heaven Allows, Ali: Fear Eats the Soul, and Far from Heaven. In: Cinema Journal 47 (2008), H. 3, S. 90 – 121. Vgl. dazu: Stuart Hall: The Spectacle of the Other. In: ders. (Hrsg): Representation. Cultural Representation und Signifying Process. London u. a. 1997, 223 – 290, hier S. 245. Hervorh. im Orig. Ali im Paradies (Jannat Ali). Regie: Viola Shafik. Ägypten; Deutschland. Mec film 2011. In ihrem Dokumentarfilm zeigt Shafik die komplizierte und problematische Beziehung zwischen Fassbinder und seinem damaligen Geliebten El Hedi ben Salem. Durch Gespräche mit Fassbinders Freunden und Bekannten und El Hedis Familie zeigt sie, wie El Hedi und seine Kinder von Fassbinder und der Fassbinder-Gruppe orientalisiert und rassistisch behandelt wurden.
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Fremdheit und nicht auf dem Widerlegen der Fremdheit. Ein wesentlicher Aspekt, der zu dieser Fremdheit beiträgt, ist die einfache Sprache Alis. Alis Text wird von Wolfgang Hess gesprochen, wobei die Sprache bewusst einfach und grammatikalisch falsch ist. Alis Unfähigkeit, verbal zu kommunizieren, veranlasst die Zuschauer*innen, die Aufmerksamkeit auf seinen Körper zu lenken und ihn kaum als Persönlichkeit wahrzunehmen. Mit dem Zusammenbruch von Alis Körpers enden somit auch seine Geschichte und der Film. Die Kritik an der deutschen Gesellschaft gelingt Fassbinder zwar, jedoch scheitert er daran, El Hedi ben Salem aus der Trope des arabischen Mannes bzw. des hypersexualisierten ‚Orientalen‘ zu befreien.
3.2 Der arabische Wissenschaftler als Gefahr Farid in Schläfer gehört einer anderen sozialen Klasse an als Ali in Angst essen Seele auf. Er ist erfolgreich und wird in seinen Kreisen scheinbar akzeptiert. Der Film spielt im wissenschaftlichen Milieu; ein Handlungsort ist das Labor. Dort führen wissenschaftliche Experimente zu eindeutigen Ergebnissen. Gleich nach der ersten Szene im Park beginnt eine lange Plansequenz, die den Protagonisten von hinten über die Schultern folgt, während Farid Johannes durch das Forschungsinstitut und die Labore führt. Die Aufnahme versetzt die Zuschauer*innen sofort in den Mittelpunkt der Handlung und zeigt die von Heisenberg detailliert recherchierte und rekonstruierte Laborwelt. Der Film zeigt ein gesellschaftliches Milieu, das zum Fortschritt der Wissenschaft beiträgt. Als arabischer Mann und talentierter Wissenschaftler ist Farid ebenso ein Beispiel für eine gelungene Integration wie eine potenzielle Gefahr. Die Intelligenz des ‚Arabers‘ ist in Stereotypen oft eine bedingte Intelligenz, eine mit zerstörerischen Absichten. Nach dem 11. September hat sich das von Edward Said²⁶ beschriebene Stereotyp des irrational-infantilen Arabers zu einer kalkulierenden, gefährlichen und bedrohlichen Intelligenz und/oder zu einer ,Scheinlogik‘ und Rationalität verschoben, hinter der sich das Irrationale und Fundamentalistische angeblich versteckt. Ein ausgezeichneter arabischer Wissenschaftler ist eine Gefahr, ein möglicher Schläfer, und muss beobachtet werden. Diese Logik des Staates wird von Heisenberg als Paralogismus entlarvt. Für Araber*innen bedeutet dies, dass sie im wissenschaftlichen Bereich sofort der Macht und Gefahr des institutionellen Rassismus ausgesetzt sind. Wissensproduktion, so das dahinterliegende Denkmuster, entspricht der Natur der weißen Deutschen; bei ,Oriental*innen‘ ist sie eine ver-
Said 2003 (wie Anm. 16), S. 40.
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dächtige Abnormalität. Said verdeutlicht dies anhand von Lord Cromer, einem britischen Diplomaten und Generalkonsul in Ägypten von 1883 bis 1907. Dessen Ansicht nach waren ‚Orientalen‘ nicht in der Lage, wie Europäer rational und wissenschaftlich zu denken und zu handeln.²⁷ Den ‚Arabern‘ sind im orientalistischen Denken bestimmte Orte und Räume zugewiesen. Ihre Präsenz an Orten, die für sie ‚unangemessen‘ sind, macht sie zu einer Bedrohung. Arabische Wissenschaftler*innen sind, wie Johannes Farid in der Schlüsselszene des Films mitteilt, ‚durchgeknallte heilige Krieger‘ (1:16:12), welche wissenschaftliche Objektivität und Rationalität für begrenzte Zeiten vortäuschen können, in Wirklichkeit aber irrationale, gewalttätige Menschen sind. Farids vorgebliche Irrationalität wird dabei in einem engen Zusammenhang mit seiner Glaubenszugehörigkeit zum Islam gesehen. Johannes sucht nach Zeichen, die Farid als gläubigen Muslim bloßstellen, und fragt ihn schließlich, während sie in einem Stripclub gemeinsam Bier trinken, ob er bete. Farid ist selbstverständlich überrascht und erkundigt sich nach dem Anlass dieser Frage, worauf Johannes antwortet, dass er glaube, Farid sei ein „durchgeknallter heiliger Krieger“ (1:16:12). Das Gespräch findet in derselben Nacht statt, in der ein Bombenanschlag in München verübt wird. Farid wird der Mitwirkung daran verdächtigt; Johannes verschweigt Frau Wasser ihren gemeinsamen Abend und überliefert somit den unschuldigen Farid der Staatsmacht. Der Staat ‚glaubt‘, dass Farid ein mutmaßlicher Terrorist ist und sich als Schläfer unter anderen versteckt. Indizien, die diesen Glauben rechtfertigen und beweisen, werden nicht gebraucht. Der Glaube, dass Araber und Muslime gewalttätig sind, dient als Rechtfertigung für die Festnahme und die Beseitigung Farids. Orientalisierung und systematischer Rassismus bilden die Basis des Staatsglaubens, der im Film durch die Kontrastierung mit der Wissenschaft als der wirklich gefährliche und bedrohliche Glaube präsentiert wird. Muslim*innen werden als Gefahr präsentiert und wahrgenommen – eine Vorstellung, die auf orientalistischen Ansichten vom irrationalen Muslim beruht. Cromer sieht einen deutlichen Unterschied zwischen dem Intellekt der Europäer und dem der Araber, was er in seinem Buch Modern Egypt zum Ausdruck bringt, aus dem Said in Orientalism zitiert: „The European is a close reasoner; his statements of fact are devoid of any ambiguity; he is a natural logician, albeit he may not have studied logic; he is by nature sceptical and requires proof before he can accept the truth of any proposition; his trained intelligence works like a piece of mechanism. The mind of the Oriental, on the other hand, like his picturesque streets, is eminently wanting in symmetry. His reasoning is of the most slipshod description. Although the ancient Arabs acquired in a somewhat higher degree the science of dialectics, their descendants are singularly deficient in the logical faculty. They are often incapable of drawing the most obvious conclusions form any simple premises of which they may admit the truth. Endeavor to elicit a plain statement of facts from any ordinary Egyptian.“ Zitiert nach Said 2003 (wie Anm. 26), S. 38.
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Talal Asad weist auf die unterschiedliche Betrachtung und Repräsentation von Muslim*innen einerseits und Angehörigen des christlichen und jüdischen Glaubens andererseits hin: Während dem Koran eine Macht über Muslim*innen zugesprochen wird, die ein bestimmtes Verhalten erzeuge, hätten Angehörige des christlichen und jüdischen Glaubens ein anderes Verhältnis zu ihren heiligen Texten, da sie in der Lage seien, die biblischen Texte kritisch zu lesen, wohingegen Muslim*innen passive Leser*innen seien.²⁸ Die orientalistische Auffassung von Muslim*innen, die Asad beschreibt, knüpft an Cromers Beschreibung der Araber*innen an. Der Text im Islam hat in dieser Sichtweise Macht über Anhänger*innen des Islam, während Menschen mit christlichem und jüdischem Glauben Macht über den Text haben und ihn auslegen können. Farid wird als arrivierter Wissenschaftler dargestellt, der auch in seinem Privatleben glücklich und erfolgreich ist. Er entspricht nicht den orientalistischen Vorstellungen, und gerade das macht ihn verdächtig. Orientalistische Zuschreibungen erfolgen im Fall Farids nicht mehr mit Blick auf seine äußerlichen Merkmale, sondern betreffen sein Denken. Die Bewertung und Beurteilung dieses Denkens obliegt Johannes und den Zuschauenden, wobei der Film klar macht, dass diese Aufgaben nicht zu erfüllen sind.
4 Schluss In diesem Beitrag habe ich durch den Vergleich von Fassbinders und Heisenbergs Filmen demonstriert, wie sich die Repräsentation und Darstellung von Arabern verändert hat und welche Folgen diese Änderung bewirkt. Fassbinders Repräsentationen von Arabern beruhen hauptsächlich auf äußerlich erkennbaren Merkmalen wie der Hautfarbe und orientalistischen Stereotypen einer bedrohlichen Maskulinität, Sexualität und Sprachartikulation, welche mit der Unfähigkeit, komplexe Gedanken auszudrücken, verbunden wird. Wie anhand von Hei „The present discourse about the roots of ,Islamic terrorism‘ in Islamic texts trails two intriguing assumptions: (a) that the Qur’anic text will force Muslims to be guided by it; and (b) that Christians and Jews are free to interpret the Bible as they please. For no good reason, these assumptions take up contradictory positions between text and reader: On the one hand, the religious text is held to be determinate, fixed in its sense, and having the power to bring about particular beliefs (that in turn give rise to particular behavior) among those exposed to it – rendering readers passive. On the other hand, the religious reader is taken to be actively engaged in constructing the meaning of texts in accordance with changing social circumstances – so the texts are passive. These contradictory assumptions about agency help to account for the positions taken up by orientalists and others in arguments about religion and politics in Islam.“ Talal Asad: Formations of the Secular. Christianity, Islam, Modernity. Stanford 2003, S. 10 f.
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senbergs Film gezeigt wurde, verlagern Diskurse der Gegenwart die Merkmale dagegen hauptsächlich auf versteckte, nicht erkennbare Identitätsmarker wie Moral, Weltanschauung, Religion und Wertvorstellungen. Der Wandel von äußerlich erkennbaren zu versteckten Merkmalen zeigt auch den Wandel vom Diskurs über Araber*innen als Angehörigen einer Region und Nation zu transnationalen Anhängern des Islam. Mittels der Markierung von Araber*innen durch die ,islamische[] Kultur‘ werden unterschiedliche soziale Gruppen, gesellschaftliche Themen, politische Positionen, kulturelle Ausdrucksformen zusammengefasst und bedeutsame Differenzen in Klassenzugehörigkeiten, politischen Positionierungen, Migrations- und Fluchtgeschichten, Herkunftsgesellschaften außer Kraft gesetzt.²⁹
In diesem Prozess der Essentialisierung wird die ‚gefährliche Fremdheit‘ von Araber*innen konstruiert. Die Verwendung des Verfremdungseffekts in beiden Filmen macht auf die Prozesse des Otherings in der Gesellschaft aufmerksam, dennoch bleiben die arabischen Figuren in Denkmustern ihrer Zeit gefangen. Das Anliegen beider Filmmacher ist es, auf Missstände in der deutschen Gesellschaft aufmerksam zu machen und diese durch die funktionale Einsetzung der Figur des arabischen Migranten zu kommunizieren. Die arabischen Männer sind in beiden Filmen Mittel zum Zweck. Der wesentliche Unterschied zwischen Farid und Ali ist, dass Ali in dem orientalisierten Rahmen des Melodramas gefangen ist, Farid je nach Ausgangspunkt und Positionierung des Betrachtungswinkels als ‚normaler‘ junger Wissenschaftler oder als fundamentalistischer islamischer Schläfer gesehen werden kann.
Iman Attia: Die „westliche Kultur“ und ihr Anderes. Zur Dekonstruktion von Orientalismus und antimuslimischem Rassismus. Bielefeld 2009, S. 16.
Wolfgang Trimmel
Selbstübersetzung als diskursive Intervention im Kontext literarischer Darstellungen der arabischen Welt 1 Literarische Darstellungen der arabischen Welt und ihre Rolle in der Orientalismusdebatte Edward Said machte mit der Publikation seines vielzitierten Werkes Orientalism darauf aufmerksam, wie das Schreiben über andere Kulturen nicht nur als Projektionsfläche eigener Phantasien, Ängste oder Begierden dienen, sondern auch zur Konstruktion eines kolonialen Diskurses beitragen und damit Vorurteile ausbauen sowie politische Unterwerfung legitimieren kann.¹ Said verwies auf die entscheidende Rolle, die Literatur und damit auch Literaturübersetzungen bei der Formung von Bildern und Vorstellungen über bestimmte Kulturen – in diesem Fall die ‚orientalischen‘ – spielen können. Im folgenden Beitrag steht die Frage im Zentrum, wie sich literarische Selbstübersetzungen aus dem Arabischen ins Englische in die Thematik des Schreibens über den ‚Orient‘ einordnen lassen und welche Implikationen sich daraus für aktuelle Diskussionen rund um Orientalismus, kulturelle Übersetzung und literarische Selbstübersetzung ergeben. Diese Themenstellung wird am Beispiel des Romans Waḥdahā šaǧarat ar-rummān (‚Nur der Granatapfelbaum‘), der von dem irakisch-amerikanischen Autor Sinan Antoon im Jahr 2010 auf Arabisch veröffentlicht wurde, besprochen. Im Jahr 2013 erschien die von Antoon selbst angefertigte englische Übersetzung unter dem Titel The Corpse Washer. Der Beitrag untersucht, wie sich ein sich selbst übersetzender Autor innerhalb des kulturellen und diskursiven Feldes positioniert. Anhand zweier Close Readings wird untersucht, welche Übersetzungsstrategien er verwendet. Darüber hinaus ist von Interesse, welche Auswirkungen die Rahmenbedingungen des literarischen Feldes² und insbesondere das asymmetrische Verhältnis zwischen arabisch- und englischsprachiger Buchindustrie für Übersetzungen zwischen den beiden Sprachen mit sich bringen. Schließlich wird vor diesem Hintergrund die spezifi Edward Said: Orientalism [1978]. London 32003. Zum Begriff des literarischen Feldes vgl. Pierre Bourdieu: Die Regeln der Kunst. Genese und Struktur des literarischen Feldes [franz. 1992]. Übers. von Bernd Schwibs und Achim Russer [1999]. Frankfurt/M. 2001. https://doi.org/10.1515/9783110669428-009
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sche Rolle von Selbstübersetzungen im Vergleich zu Übersetzungen von Seiten Dritter analysiert.
2 Die Literaturübersetzung als Aushandlungsprozess mit politischer Dimension In seinem Werk Mouse or Rat? Translation as Negotiation charakterisiert Umberto Eco Übersetzungen in erster Linie als Aushandlungsprozess.³ Einen ähnlichen Ansatz vertritt Wail S. Hassan in der Monographie Immigrant Narratives, in der er ausgewählte Werke arabischer Autor*innen, die auf Englisch schreiben, untersucht. Hassan betont, dass solche Autor*innen bei ihrer literarischen Tätigkeit ihre Position zwischen zwei Sprach- und damit auch Kulturräumen ständig von Neuem aushandeln und dabei eine Vielzahl von Faktoren in Betracht ziehen müssen: „historical circumstances, cultural worldviews[,] ideological projects, political climates, discursive conditions, readersʼ expectations, editorsʼ strictures, and publishersʼ marketing strategies“⁴. Hassan zufolge werden all diese Faktoren vom wirkmächtigen Diskurs des Orientalismus beeinflusst, der nicht nur den Erwartungshorizont der Leser*innen, sondern auch die Vorstellungen der Autor*innen beeinflusst.⁵ Im Hinblick auf das hier untersuchte Beispiel heißt das also, dass sich auch arabische Selbstübersetzer*innen der orientalistischen Tradition nicht entziehen können. In weiterer Folge bedeutet das, dass literarische Übersetzungen nicht nur künstlerische Leistungen auf dem Gebiet der Literatur darstellen, sondern mit politischen und gesellschaftlichen Entwicklungen in Wechselwirkung stehen. In Bezug auf die Translationswissenschaften hat etwa Gayatri C. Spivak die politische Dimension literarischer Übersetzungen unterstrichen. In ihrem Aufsatz The Politics of Translation argumentiert sie, dass Literaturübersetzungen das Potential haben, einen Text gewaltsam umzuformen, und fordert, dass Übersetzer*innen sich in einem respektvollen Zugang auf den jeweiligen Originaltext einlassen.⁶ Der prominente Translatologe Lawrence Venuti geht noch darüber
Umberto Eco: Mouse or Rat? Translation as Negotiation. London 2003. Wail S. Hassan: Immigrant Narratives. Orientalism and Cultural Translation in Arab-American and Arab-British Literature. Oxford 2011, S. 3. Hassan 2011 (wie Anm. 4), S. 3. Vgl. Gayatri Chakravorty Spivak: The Politics of Translation [1992]. In: Lawrence Venuti (Hrsg.): The Translation Studies Reader. London; New York 2000, S. 397– 416, hier S. 398 f., 402.
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hinaus und behauptet, dass jegliche Übersetzungstätigkeit zwangsläufig gewalttätig sein muss, denn „the violence of translation resides in its very purpose and activity.“⁷ In diesem Zusammenhang spricht Venuti auch von „domesticating a text“⁸ und meint damit, dass im Zuge des Übersetzens der ausgangssprachliche Text gemäß den stereotypen Vorstellungen von der Ausgangskultur, die in der Zielkultur bereits existieren, rekonstruiert wird. Durch die Übersetzung wird demnach das Fremde, Unbekannte durch bereits Bekanntes ersetzt.⁹ Insofern kann Übersetzen laut Venuti entscheidend dazu beitragen, Vorurteile gegenüber fremden Kulturen zu verfestigen.¹⁰ Dagegen ermöglicht laut Venuti das ausgangssprachliche Übersetzen (im Original foreignizing) nicht nur, den dominanten Diskurs in Frage zu stellen, sondern es trägt auch zum tatsächlichen Verstehen der jeweiligen Ausgangskultur bei. Foreignizing besteht also darin, beim Übersetzen von vorherrschenden Formulierungen, Stilmitteln oder Diskursen abzuweichen. Darüber hinaus zählt bereits die Entscheidung, einen subversiven oder marginalisierten Text zur Übersetzung auszuwählen, zur Praxis des foreignizing. Während domesticating die Flüssigkeit, Lesbarkeit und Vermarktbarkeit eines Textes priorisiert, zielt foreignizing darauf ab, sprachliche und kulturelle Unterschiede auch in der Übersetzung zu reproduzieren.¹¹ In ähnlicher Form äußern Wissenschaftler wie Sherif Ismail oder Issa J. Boullata in Bezug auf Übersetzungen arabischer Romane den Vorwurf, dass dem arabischen Ausgangstext und damit auch dem kulturellen Raum, aus dem er kommt und den er beschreibt, oftmals Gewalt angetan wird. Sie argumentieren, dass viele Übersetzungen die arabische Welt weiter orientalisieren, anstatt bestehende Stereotype in Frage zu stellen.¹² Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage, ob Selbstübersetzungen eine Möglichkeit darstellen, der Ausgangskultur eher gerecht zu werden und eine verzerrte, orientalisierende Darstellung zu vermeiden.
Lawrence Venuti: Translation as Social Practice. Or, the Violence of Translation. In: Marilyn Gaddis Rose (Hrsg.): Translation Horizons Beyond the Boundaries of Translation Spectrum. Binghamton 1996, S. 195 – 213, hier S. 196. Lawrence Venuti: The Scandals of Translation. London 1998, S. 67. Vgl. Venuti 1996 (wie Anm. 7), S. 196. Vgl. Venuti 1998 (wie Anm. 8), S. 67 f. Vgl. Lawrence Venuti: The Translator’s Invisibility [1995]. London 32018, S. 5 f., S. 15 f. und S. 125. Vgl. Sherif H. Ismail: Arabic Literature into English. The (Im)possibility of Understanding. In: Interventions N. F. 17 (2015), S. 916‒931; Issa J. Boullata: The Case for Resistant Translation from Arabic to English. In: Translation Review 65 (2003), H. 1, S. 29 – 33.
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3 Selbstübersetzer*innen als privilegierte Vermittler*innen zwischen asymmetrischen Kultur- und Sprachräumen Zunächst gilt es festzuhalten, dass Selbstübersetzung nicht als konfliktfreier kultureller Austausch, der stets auf Augenhöhe stattfindet, gedacht werden kann. Rainier Grutman betont, dass Selbstübersetzungen von einem asymmetrischen Verhältnis des jeweiligen Sprachpaares geprägt sind und dass Englisch die häufigste Zielsprache ist.¹³ Grutman bezieht sich dabei auf das von Abram De Swaan entwickelte Konzept des ‚Sprachenweltsystems‘, das die Zentralität des Englischen als Transfersprache für Übersetzungen von peripheren Sprachen in andere periphere Sprachen betont. De Swaan zeigt mit seiner Studie, dass Texte, die ursprünglich in peripheren Sprachen verfasst wurden, oft erst durch die Übersetzung ins Englische internationale Beachtung erfahren und in weitere Sprachen übersetzt werden.¹⁴ Johan Heilbron stuft das Arabische trotz der hohen Sprecher*innenzahl als periphere Sprache ein, da es weniger als ein Prozent Anteil am globalen Übersetzungsmarkt hat.¹⁵ Aus einer derartigen Asymmetrie ‒ hier zwischen Arabisch und Englisch – ergibt sich Grutman zufolge eine Spannung zwischen universalistischen und lokalen Positionen. Durch die Selbstübersetzung ins Englische gewinnen arabische Autor*innen zwar an Bekanntheit und erreichen ein größeres Publikum; gleichzeitig riskieren sie aber, den arabischen Text durch den gleichwertigen englischen Text zu verdrängen und damit die Dominanz von Englisch als Literatursprache noch zu verstärken.¹⁶ Noch schärfer formuliert das Christopher Whyte in seinem Artikel Against Self-Translation, in dem er darauf aufmerksam macht, dass Autor*innen, die ihre Texte selbst in die Hegemonialsprache Englisch übersetzen, Gefahr laufen, den Ausgangstext obsolet zu machen. Für ihn gilt: „The practice of self-translation is never innocent.“¹⁷ Im Unterschied zu herkömmlichen Literaturübersetzer*innen treten arabische Autor*innen, die ihre eigenen Texte ins Englische übertragen, allerdings als
Vgl. Rainier Grutman: A Sociological Glance at Self-Translation and Self-Translators. In: Anthony Cordingley (Hrsg.): Self-Translation. Brokering Originality in Hybrid Culture. London 2013, S. 63 – 80, hier S. 72. Vgl. Abram De Swaan: Words of the World. The Global Language System. Cambridge 2001. Vgl. Johan Heilbron: Towards a Sociology of Translation. Book Translation as a Cultural World System. In: European Journal of Social Theory 2 (1999), H. 4, S. 429‒444, hier S. 434. Vgl. Grutman 2013 (wie Anm. 13), S. 73‒74. Christopher Whyte: Against Self-Translation. In: Translation and Literature 11 (2002) H. 1, S. 64‒71, hier S. 69.
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kulturelle Übersetzer*innen auf, die eine privilegierte Position in der Vermittlung der arabischen Welt gegenüber einem englischsprachigen Publikum beanspruchen können.¹⁸ Aufgrund ihrer Zugehörigkeit zur Ausgangskultur führen sie die Rolle des „native informant“ mit der des „foreign expert“ zusammen.¹⁹ Es stellt sich die Frage, wie sie bei ihrer Übersetzungstätigkeit mit orientalistischen Diskursen, der kolonialen und postkolonialen Geschichte sowie historischen und aktuellen machtpolitischen Konflikten zwischen arabisch- und englischsprachigen Staaten umgehen. Dies gilt vor allem dann, wenn sie aus Regionen kommen, denen auf Grund ihrer Geschichte Englisch als Kolonialsprache aufgezwungen wurde und die in vielen Fällen der imperialen Politik Großbritanniens oder der USA ausgesetzt waren oder immer noch sind.²⁰ Im Falle eines irakischen Autors wie Sinan Antoon erhält diese Frage aufgrund der vielschichtigen Verstrickungen des Irak mit der anglophonen Welt eine besondere Brisanz. Zum einen wurde der Irak als Staatsgebiet erst durch die Grenzziehungen der Alliierten nach dem Ersten Weltkrieg geschaffen. Englisch war dadurch während der Mandatszeit auch als Kolonialsprache im Irak präsent. Zum anderen bestanden und bestehen konkrete strategische und ökonomische Interessen, die internationale Großmächte wie Großbritannien und die USA zu wiederholten Einmischungen in die Politik der Region bewogen und sich im zweiten Golfkrieg 1990/91 sowie der Intervention der von den USA geführten Militärkoalition 2003 niederschlugen.²¹ Über all dem steht noch die Wirkmacht von Englisch als globaler Hegemonialsprache, die in den arabischen Ländern das Arabische in vielen Bereichen – zum Beispiel in den naturwissenschaftlichen Fächern der universitären Bildung – schrittweise verdrängt. Sinan Antoon nimmt in seinem Roman Waḥdahā šaǧarat ar-rummān explizit auf derartige politische Ereignisse Bezug. Der folgende Abschnitt untersucht, wie Antoon als Autor und Selbstübersetzer im arabischen und englischen Romantext mit solchen Fragen umgeht.
Vgl. Hassan 2011 (wie Anm. 4), S. xii. Ebd., S. 29. Vgl. ebd., S. xii. Vgl. Henner Fürtig: Kleine Geschichte des Irak. Von der Gründung 1921 bis zur Gegenwart. München 2004.
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4 Waḥdahā šaǧarat ar-rummān und The Corpse Washer – eine Chronik der irakischen Geschichte? In einer Rezension für die Literaturzeitschrift Banipal lobt der britische Literaturwissenschaftler und Übersetzer Paul Starkey den Roman The Corpse Washer als „picture of the Iraqi tragedy from a unique perspective“²². Die ägyptische Literaturwissenschaftlerin Radwa Ramadan Mahmoud schlägt vor, The Corpse Washer als „trauma novel“ zu lesen, und argumentiert, dass Antoon damit zum „chronicler of the Iraqi nightmare“ geworden ist.²³ Aus diesen Kommentaren spricht die Überzeugung, dass die Lektüre des Romans den Leser*innen einen guten Einblick in die aktuelle Geschichte des Irak bieten kann, und sie schreiben ihm damit eine ethnographische Qualität zu. Tatsächlich thematisiert Sinan Antoon in seinem Roman am Beispiel einer Familie, wie sich die zahlreichen Kriege und politischen Umwälzungen auf das Leben der Bevölkerung im Irak auswirken, und nimmt wiederholt Bezug auf konkrete politische Ereignisse. Kurz zusammengefasst geht es in dem Roman um einen jungen Iraker namens Jawād, der im Bagdad des ausgehenden 20. Jahrhunderts aufwächst. Seine Familie führt seit Generationen ein Waschhaus, in dem die Toten der schiitischen Gemeinde durch rituelle Waschungen auf das Begräbnis vorbereitet werden. Schon in jungen Jahren entdeckt Jawād seine Liebe zur Kunst und entschließt sich, gegen die Erwartungen seines Vaters Bildhauerei an der Akademie der bildenden Künste in Bagdad zu studieren. Doch mehrere Schicksalsschläge treffen die Familie und stehen seinen künstlerischen Ambitionen im Wege: Zunächst fällt der ältere Bruder im ersten Golfkrieg zwischen dem Irak und Iran und lässt damit Jawād als einzigen Sohn zurück. Als der Vater einige Jahre später an einem Herzinfarkt stirbt, vermietet Jawād das Waschhaus vorerst. Doch dann fällt der Pächter einer der Wellen von Gewalt zum Opfer, die den Irak im Chaos, das auf die Intervention von 2003 folgt, heimsuchen, und Jawād sieht sich aus ökonomischer Not gezwungen, selbst als Leichenwäscher zu arbeiten. Die zunehmende Gewalt im Irak
Vgl. Paul Starkey: Iraqi Life and Death Conjoined. A Review of The Corpse Washer by Sinan Antoon. In: Banipal. Magazine of Modern Arabic Literature 49 (2014). http://www.banipal.co.uk/ book_reviews/108/the-corpse-washer/ (14.08. 2020). Vgl. Radwa Ramadan Mahmoud: War and Violence in Sinan Antoon’s The Corpse Washer. In: International Journal of Applied Linguistics and English Literature 5 (2016), H. 2, S. 49 – 55, hier S. 51 u. 54.
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lässt die Anzahl der Leichen, die täglich bei ihm abgeliefert werden, stetig ansteigen und albtraumhafte Dimensionen annehmen. So weit eine kurze Zusammenfassung der Handlung des Romans; im Folgenden werden einige Abschnitte genauer analysiert und etwaige Unterschiede zwischen der arabischen und der englischen Version beleuchtet. Damit sich die Leser*innen selbst ein Bild machen können, wird dem arabischen Text eine wörtliche deutsche Übersetzung beigefügt. Im Hinblick auf eine derartige Textanalyse gilt es zu beachten, dass nicht eindeutig bestimmt werden kann, von wem die jeweiligen Formulierungen tatsächlich gewählt wurden. Es liegt nahe, dass Sinan Antoon, der neben seiner schriftstellerischen Tätigkeit auch als Literaturwissenschaftler und Übersetzer tätig ist, auf reflektierte und professionelle Weise an die Selbstübersetzung seines Romans heranging und für den Großteil der übersetzerischen Entscheidungen verantwortlich ist. Dennoch hatte der Herausgeber der englischen Ausgabe Änderungsvorschläge und -wünsche, die sicherlich zumindest teilweise berücksichtigt wurden. Dieser Prozess kann hier nicht im Detail rekonstruiert werden.²⁴ Interessant ist auch der Umstand, dass sich Sinan Antoon seiner besonderen Position als Autor und Übersetzer sehr wohl bewusst ist. Das geht aus dem Vorwort zur englischen Ausgabe deutlich hervor, in dem er auf den Umstand hinweist, dass literarische Texte nie ganz abgeschlossen sind und immer weiter umgeschrieben oder fortgesetzt werden könnten. Antoon berichtet, dass die Selbstübersetzung seines Romans ein Wiedersehen mit den Charakteren bedeutete: Novels inhabit a liminal space between the real and the imaginary. The experience of translating my own novel has allowed me to return to that space and inhabit it once again, temporarily. This time, however, the characters spoke English. Their lives (and deaths) did not change at all, but they said a few words here and there differently and left a few others unsaid. / All this is to say that when the translator inhabits the body and being of the author, s/he is given unique privileges that are otherwise denied or frowned upon.²⁵
Inwiefern Antoon von den spezifischen Privilegien der Selbstübersetzung Gebrauch machte, soll nun anhand einiger Beispiele untersucht werden. Die fol-
Im April 2016 führte der Verfasser dieses Beitrags mit Sinan Antoon ein persönliches Gespräch über den Übersetzungsprozess seines Buches und hat dadurch einen gewissen Einblick in den Entstehungs- und Bearbeitungsprozess der englischen Version erhalten. Darauf wird weiter unten näher eingegangen. Sinan Antoon: The Corpse Washer. Translated from the Arabic by the Author. New Haven; London 2013[a], S. vii. Die Absätze der englischen Ausgabe werden hier und im Folgenden durch Virgeln wiedergegeben.
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genden Textausschnitte handeln vom zweiten und dritten Golfkrieg, also von Kriegen, die jeweils zwischen dem Irak und einer von den USA geführten internationalen Koalition ausgetragen wurden. In der ersten Textpassage berichtet Jawād, der bereits erwähnte Protagonist des Romans, welcher gerade seinen Militärdienst im Süden des Irak ableistet, über wiederkehrende, aus seiner Sicht willkürliche amerikanische Bombenangriffe. Kānati ṭ-ṭā’irātu l-ʾamrikīyatu taḥūmu fī s-samāʾi wa-bi-l-qurbi min waḥdatinā ṭawāla lwaqti wa-kunnā nasmaʿu ʿan qaṣfi mawāḍiʿi muqāwamāti ṭ-ṭāʾirāti baʿda farḍi minṭaqati lhaẓari l-ǧawwīyi fī ǧanūbi wa-šamāli l-ʿirāqi munḏu ʿāmi 1992 wa-l-latī kāna yuftaraḍu ʾan tamnaʿa n-niẓāma min qamʿi l-muwāṭinīna lākinna ṭ-ṭāʾirāti l-ʾamrikīyata kānat taqtulu lʾabriyā’a wa-ḥattā r-ruʿyāna. Lā ʾadrī hal kāna ḏālika ġabāʾan ʾam ʾanna ṭ-ṭayyārīna kānū yastaḫdimūna l-ʿirāqīyīna ka-ʾahdāfin li-t-tamrīni wa-l-lahwi?²⁶ (Die amerikanischen Flugzeuge kreisten die ganze Zeit in der Nähe unseres Regiments am Himmel, und wir hörten immer wieder davon, dass sie Fliegerabwehranlagen bombardierten, nachdem 1992 im Süden und Norden des Irak eine Flugverbotszone eingerichtet wurde, von der angenommen wurde, dass sie das Regime an der Unterdrückung der Bevölkerung hindern würde, doch die amerikanischen Flugzeuge töteten Unschuldige und manchmal sogar Hirten. Ich weiß nicht, ob es aus Dummheit geschah oder weil die Piloten die Iraker als Zielscheiben zur Übung und zum Spaß verwendeten.)²⁷ American fighter jets hovered over our unit all the time. We heard in the news about antiaircraft batteries being bombed after the no-fly zone was imposed in northern and southern Iraq after 1992. The no-fly zone was supposed to prevent the regime from oppressing citizens, but these fighter jets would kill innocent civilians and even herders. I never knew whether it was out of sheer idiocy, or whether it was a game, using Iraqis for target practice.²⁸
Der Vergleich der arabischen und der englischen Passage zeigt, dass der englische Text nicht nur eine Übersetzung, sondern auch eine Überarbeitung des arabischen Textes darstellt. Während die arabische Version poetischen Charakter hat, wirkt die englische knapper und präziser. Dies liegt einerseits am Satzbau; während der Autor im Arabischen mit einem langen Schachtelsatz, gefolgt von einem vergleichsweise kurzen Fragesatz, auskommt, unterteilt er im englischen Text den langen arabischen Satz in drei englische Sätze. Andererseits lässt er die für das Verständnis nicht relevante Ergänzung fī s-samāʾi (‚am Himmel‘) im Englischen weg und fügt dafür die Präzisierung in the news hinzu. Ebenso spricht er im Englischen von innocent civilians, im Arabischen dagegen nur von ʾabriyāʾ
Sinan Antoon: Waḥdahā šaǧarat ar-rummān [2010]. Beirut; Bagdad 2013[b], S. 87. Diese und alle weiteren Übersetzungen ins Deutsche stammen vom Verfasser des Beitrags. Antoon 2013a (wie Anm. 25), S. 58 f.
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(‚Unschuldigen‘). Auffällig ist auch, dass der letzte Satz im Englischen durch die Beifügung des Attributs sheer an das Substantiv idiocy intensiviert wird, während im Arabischen nur von ġabāʾ (‚Dummheit‘) die Rede ist. Ebenfalls von Interesse ist ein Romanausschnitt, in dem der Protagonist sein erstes direktes Zusammentreffen mit amerikanischen Soldaten im Rahmen des dritten Golfkriegs im Jahr 2003 beschreibt. Das Treffen ereignet sich wenige Tage nach dem Tod des Vaters von Jawād, der trotz der Kriegswirren gemäß der schiitischen Tradition in Naǧaf bestattet werden soll. Deshalb transportiert Jawād mit Hilfe von Ḥammūdī, dem ehemaligen Mitarbeiter des verstorbenen Vaters, und Abū Layṯ, einem Nachbarn, den Leichnam in einem Sarg nach Naǧaf. Auf dem Weg treffen sie auf eine amerikanische Kolonne, die das Auto und seine Insassen durchsucht, bevor sie die Fahrt wiederaufnehmen können. Ḫaraǧa ṯalāṯatu ǧunūdin mina l-hamvī wa-badaʾū bi-r-rakḍi naḥwanā wa-hum yaṣruḫūna wa-yušīrūna bi-ʾaydīhim ʾilā l-ʾasfal: „dāwn, dāwn, ġīt dāwn ʾūn ḏā grāwnd!“ ʾinḥanaynā wa-rakaʿnā ʿalā t-turābi. tawaǧǧaha ṯnāni minhuma naḥwanā muwaǧǧihayni mawāsīra raššāšātihim naḥwa ruʾūsinā wa-waqafnā ʿala buʿdi ḥawalay ḫamsati ʾamtārin. ʾamma ṯṯāliṯu fa-ḏahaba yaḥūmu ḥawla s-sayyārati wa-yatafaḥḥaṣuhā. ṣaraḫa ʾaḥaduhum wa-huwa yušīru ʾilā t-tābūti: „wāts ʾūn ḏā kār?“ fa-ʾaǧābuhu Ḥammūdī: „dīd mān, fūr naǧaf.“ watadāḫala ǧawābī maʿa mā qālahu Ḥammūdī fa-karrartu: „māy fāḏir. dīd. dīd mān.“ ʾazāla lǧundiyu ṯ-ṯāliṯu ġiṭāʾa t-tābūti bi-raššāšatihi wa-ṣaʿida min bābi s-sāʾiqi li-yanẓura ṯumma ṣaraḫa: „ʾits ʾafakin kūfin. klīr. klīr.“ nazala ṯ-ṯāliṯu ṯumma ʾaḫaḏa yadūru ḥawla s-sayyārati wa-yanẓuru taḥtahā ṯumma ǧāʾa naḥwanā min al-ḫalfi. ṣaraḫa ʾaḥadu l-ǧundīyayni: „dūnt mūv!“ fattašanā l-ǧundīyu ṯ-ṯāliṯu wāḥidan baʿda l-ʾāḫari wa-māsūratayyi [sic] l-ǧundīyayni l-ʾāḫarayni muwaǧǧahatun [sic] naḥwanā. baʿda ʾan fattaša l-ǧundīyu ṯ-ṯāliṯu Ḥammūdī hazza l-mafātīḥa ʾamāma waǧhihi fa-ḫarḫaršat wa-ṣaraḫa bihi wa-ʾašāra ʾilā sundūqi ssayyārati: „yū! ūpin ḏa trank!“ qultu li-Ḥammūdī: „yrīdak tiftaḥ iṣ-ṣandūg.“ fa-ṣaraḫa ʾaḥadu l-ǧundīyayni bī: „šat ʾap!“ nahaḍa Ḥammūdī bi-buṭʾin wa-ttaǧaha ʾilā ṣ-ṣundūqi lḫalfīyi wa-fataḥahu wa-raššāšatu l-ǧundīyi ṯ-ṯāliṯi tatbaʿuhu. ʾamarahu l-ǧundīyu ʾan yaʿūda ʾilā mawḍiʿihi: „gū bāk.“ fa-faʿala wa-rakaʿa min ǧadīdin. fattaša l-ǧundīyu ṯ-ṯāliṯu ṣundūqa s-sayyārati wa-qallaba baʿḍa mā fīhi, fa-lam yaǧid šayʾan wa-ṣaraḫa: „ʾāl klīr, lats git ʾāwt ʾūv hīr.“²⁹ (Drei Soldaten stiegen aus dem Humvee und begannen, auf uns zuzulaufen, während sie mit den Händen nach unten zeigten und dabei schrien: „Runter, runter, runter auf den Boden!“ Wir bückten uns und knieten uns hin. Zwei von ihnen kamen auf uns zu, die Mündungen ihrer Maschinengewehre auf unsere Köpfe gerichtet haltend, und sie blieben in einer Entfernung von ungefähr fünf Metern stehen. Der dritte begann das Auto zu umkreisen und zu untersuchen. Einer von ihnen zeigte auf den Sarg und brüllte: „Was ist auf dem Auto?“ Ḥammūdī antwortete: „Toter Mann, für Naǧaf.“ Meine Antwort vermischte sich mit dem, was Ḥammūdī gesagt hatte, und ich wiederholte: „Mein Vater. Tot. Toter Mann.“ Der dritte Soldat entfernte den Deckel des Sarges mit seinem Maschinengewehr, stieg über die Fahrertür
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hinauf, um nachzusehen und brüllte: „Es ist ein verdammter Sarg. Clear. Clear.“ Der Dritte stieg herunter, fing an, um das Auto herumzugehen, schaute darunter, und näherte sich uns von hinten. Einer der zwei Soldaten brüllte: „Keine Bewegung!“ Der dritte Soldat untersuchte uns einen nach dem anderen, während die Mündungen der Gewehre der anderen beiden auf uns gerichtet blieben. Nachdem der dritte Soldat Ḥammūdī durchsucht hatte, ließ er die Schlüssel vor seinem Gesicht baumeln, so dass sie klimperten, und wies auf den Kofferraum: „Du! Öffne den Kofferraum!“ Ich sagte zu Ḥammūdī: „Er will, dass du den Kofferraum aufmachst.“ Da schrie mich einer der beiden Soldaten an: „Halt die Schnauze!“ Ḥammūdī stand langsam auf, ging zum Kofferraum und öffnete ihn, während ihm das Maschinengewehr des Soldaten dabei folgte. Der Soldat befahl ihm, an seinen Platz zurückzukehren: „Geh zurück.“ Also machte er das und kniete sich von Neuem hin. Der dritte Soldat untersuchte den Kofferraum, wühlte ein wenig darin herum, fand nichts und schrie: „Alles in Ordnung! Lasst uns verschwinden!“) Three soldiers got out of the Humvee and ran towards us screaming and pointing downward with their hands. “Down. Down. Get down on the ground.” / We got down on our knees. Two of them headed toward us, pointing their guns at our heads, and stopped about five meters away. The third one circled around the car to check it out. One of them pointed to the coffin and shouted: “What’s on the car?” / Hammoudy answered him, “Dead man, for Najaf.” / My answer overlapped with Hammoudy’s, so I repeated: “My father. Dead. Dead man.” / The third soldier removed the cover of the coffin with the barrel of his machine gun and got up on the driver’s side to take a look and then said, “It’s a fucking coffin. Clear. Clear.” He got down and circled the car, looking under it, and then came behind us. One of the two soldiers standing in front of us screamed “Don’t move!” The third soldier searched us one by one with the two machine guns still pointed at us. After he finished searching Hammoudy, he dangled the car keys in front of him and jangled them, then pointed to the trunk, screaming “You! Open the trunk.” / When I translated for Hammoudy, one of the two soldiers yelled at me, “Shut the fuck up.” / Hammoudy got up slowly and went back to the trunk and opened it while the third soldier followed him with the gun. He ordered him to go back where he had been so he did and got back down on his knees. / The third soldier searched the trunk. He didn’t find anything and screamed “All clear! Let’s get the fuck out of here.”³⁰
In dieser Szene zeigt sich deutlich, wie das Machtgefälle zwischen den amerikanischen Soldaten und den drei Irakern auch auf sprachlicher Ebene schlagend wird. Während die einen auf Englisch Befehle brüllen, sind die anderen darauf angewiesen, zu verstehen, was von ihnen verlangt wird. In dieser Situation wird die Verständnisfrage zu einer Überlebensfrage. Gleichzeitig lässt die Reaktion des einen Soldaten, der Jawād zu schweigen befiehlt, die Furcht erkennen, dass sich die drei Iraker untereinander auf Arabisch absprechen könnten, ohne von den Amerikanern verstanden zu werden.
Antoon 2013a (wie Anm. 25), S. 67 f.
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Auf linguistischer Ebene ist an diesem Beispiel die Vielsprachigkeit des arabischen Textes von Interesse. Die Erzählpassagen werden auf Hocharabisch verfasst, die Soldaten sprechen Englisch und die drei Iraker untereinander einen irakischen Dialekt. Diese sprachliche Vielfalt geht in der englischen Variante verloren. Um mit Lawrence Venuti zu sprechen, domestiziert Sinan Antoon den multilingualen arabischen Text also zu einem monolingualen englischen Text.³¹ Außerdem ist auffällig, dass die amerikanischen Soldaten im englischen Text durch die zweifache Hinzufügung des Wortes „fuck“ noch unhöflicher als im arabischen Text werden: So heißt es statt „Shut up“ dann „Shut the fuck up“ und statt „Let’s get out of here“ „Let’s get the fuck out of here“. Insofern verändert Antoon bei der Übersetzung ins Englische nicht nur die arabischen, sondern auch die englischsprachigen Phrasen der arabischen Version. Durch dieses vulgär markierte Sprachverhalten verstärkt er gleichzeitig die negative Charakterisierung der Amerikaner. Nachdem die amerikanischen Soldaten ihre Fahrt wiederaufgenommen haben, stehen die drei Iraker auf und sprechen über die gerade erlebte, einschneidende Szene. Waqafnā wa-ʾaḫaḏnā nanfuḍu t-turāba ʿan malābisinā. ʾadraktu bi-ʾannanā naǧawnā min mawtin muḥaqqaqin wa-ʾanna ʾaqalla ḥarakatin kānat sa-taʿnī zaḫḫata raṣāṣin tunhī kulla šayʾin. qāla Ḥammūdī: „Aḷḷāh ḫallaṣna. Čān riḥna bihi.“ fa-wāfaqahu Abū Layṯ al-laḏī māzaḥanī qāʾilan: „Hayy šinu ʾinklizītak? māšaḷḷāh bilbil. Lāzim təštəġel mutarǧim wiyyāhim.“ fa-qultu lahu: „hiya killhā čam ǧumle min il-ʾaflām wa-t-tilifizyūn.“ qāla Ḥammūdī wa-naḥnu nataḥarraku min ǧadīd: „haḏōl il-muḥarrirīn rāḥ ybahdilūna.“³² (Wir standen auf und fingen an, den Staub von unseren Kleidern abzuschütteln. Mir wurde klar, dass wir einem sicheren Tod entkommen waren und dass die kleinste Bewegung einen Schauer von Kugeln bedeutet hätte, der alles hätte enden lassen. Ḥammūdī sagte: „Gott hat uns gerettet. Wir wären fast ums Leben gekommen.“ Abu Layṯ stimmte ihm zu und machte sich lustig über mich: „Was ist mit deinem Englisch? Du sprichst wie eine Nachtigall! Du solltest als Dolmetscher für sie arbeiten.“ Ich sagte zu ihm: „Ich kann nur ein paar Phrasen, die ich vom Fernsehen oder von Filmen aufgeschnappt habe.“ Als wir wieder unterwegs waren, sagte Ḥammūdī: „Diese Befreier werden uns erniedrigen.“) We stood up and shook off the dirt from our clothes. I realized that we’d just survived death. A slight move in the wrong direction would have resulted in a shower of bullets. / Hammoudy said, “Man, we could’ve all died. God saved us.” / Abu Layth agreed and teased me, saying, “Wow. Your English is fluent. You should work with them as a translator.” / “Nah, it’s just a few sentences I learned from the films and TV shows,” I said. / As we
Vgl. Venuti 1998 (wie Anm. 8), S. 67. Antoon 2013b (wie Anm. 26), S. 100.
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got our car back on the road, Hammoudy said, “Looks like these liberators want to humiliate us.”³³
Durch die Begegnung kommen bei den drei Irakern Zweifel an den wohlmeinenden Absichten der Amerikaner auf, und das amerikanische Befreiungsnarrativ wird in Frage gestellt. Außerdem wird durch den scherzhaften Vorschlag „You should work with them as a translator“ auf die entscheidende Rolle, die Dolmetscher*innen und Übersetzer*innen bei militärischen Auseinandersetzungen im Allgemeinen und gerade auch im Fall des Irakkriegs gespielt haben, verwiesen.³⁴ Auffällig ist, dass Sinan Antoon die Metapher „sprechen wie eine Nachtigall“ nicht aus dem Arabischen ins Englische übernimmt, sondern sie mit „your English is fluent“ wiedergibt. Diese und andere Romanszenen zeigen, dass Sinan Antoon in Waḥdahā šaǧarat ar-rummān bzw. The Corpse Washer zu verschiedenen politischen Ereignissen in der jüngeren irakischen Geschichte Position bezieht und Kritik am amerikanischen Vorgehen im Irak übt. Sinan Antoon zensiert sich auch in der englischen Version nicht und hält mit seiner Kritik an den USA nicht hinter dem Berg.³⁵ Damit nutzt er das Potential der Selbstübersetzung, seinen Blick auf die aktuellen Ereignisse im Irak darzustellen und einem englischsprachigen Publikum zu präsentieren. Dennoch fühlt er sich dabei nicht der Strategie des ausgangssprachlichen Übersetzens verpflichtet, sondern achtet darauf, einen gut verständlichen und leicht lesbaren englischen Text zu verfassen.
5 Von Waḥdahā šaǧarat ar-rummān zu The Corpse Washer Im vorangehenden Abschnitt stand das Potential von Selbstübersetzungen, im Diskurs einer zweiten Sprache zu intervenieren, im Vordergrund. Obwohl Selbstübersetzer*innen im Gegensatz zu herkömmlichen Übersetzer*innen gerade durch ihre Autor*innenschaft Autorität über den Text haben und mehr Freiheiten bei der Übersetzung genießen, bedeutet die Veröffentlichung der Übersetzung doch einen Aushandlungsprozess mit verschiedenen Akteur*innen, insbesondere den Verleger*innen, der im Kontext der strukturellen Bedingungen
Antoon 2013a (wie Anm. 25), S. 68. Vgl. George Packer: Betrayed. New York 2008. Vgl. Hassan 2011 (wie Anm. 4), S. 41.
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des jeweiligen Buchmarktes ausgetragen wird. Auch im Fall von Waḥdahā šaǧarat ar-rummān kam es zu einigen Kontroversen zwischen Autor und Verleger. Sinan Antoon plante ursprünglich, den arabischen Titel Waḥdahā šaǧarat arrummān wörtlich mit The Pomegranate Tree Alone zu übersetzen.Verlage behalten sich bei Übersetzungen allerdings üblicherweise das Recht vor, den Titel auszusuchen, und der Verlag – in diesem Fall die Yale University Press – entschied sich gegen den Willen des Autors für The Corpse Washer. ³⁶ Einen weiteren Streitpunkt zwischen Autor/Übersetzer und Verlag stellte die Wiedergabe der Sexszenen im Roman dar. Der Verlag beklagte sich über ihre Länge und Detailliertheit im arabischen Text und schlug vor, sie in der englischen Version zu kürzen. Außerdem forderte er, rund die Hälfte der Albträume, die im arabischen Text vorkommen, im Englischen zu streichen. Dagegen konnte sich Sinan Antoon erfolgreich durchsetzen.³⁷ Ebenfalls zu Unstimmigkeiten kam es bezüglich der Wiedergabe des Begriffs Allah im Englischen. Während sich der Verlag dafür aussprach, Allah auch im Englischen als Allah zu belassen, argumentierte Sinan Antoon, dass God die angemessenere Übersetzung sei. Auch hier ließ sich der Verlag schließlich überzeugen. Gerade die Diskussion um die Übersetzung von Allah weist besondere Brisanz auf, da diesbezüglich sehr kontroverse Positionen bestehen. Der marokkanische Literaturwissenschaftler Abdelfattah Kilito suggeriert etwa in seinem Buch Thou Shalt Not Speak My Language, dass Allah als Begriff Muslimen vorbehalten ist und von Außenstehenden nicht verwendet werden soll.³⁸ Emily Apter betont, dass Kilito damit die unwissentliche Verwendung von Sakralsprache kritisiert und deren Unübersetzbarkeit hervorhebt.³⁹ Hinter der Forderung von Kilito, dass Allah nur von Muslim*innen verwendet werden sollte, steht das Bedürfnis, sich Sprache anzueignen und andere von ihr auszugrenzen. Zum einen hat das in diesem Fall wenig Berechtigung, da der Begriff Allah bereits vor dem Islam existierte und auch von arabischen Christ*innen nach wie vor verwendet wird.⁴⁰ Zum anderen impliziert die angebliche Unübersetzbarkeit von Allah die Unmöglichkeit der Verständigung zwischen dem Islam und anderen Religionen oder Weltanschauungen. Darauf hat die amerikanisch-palästinensische Künstlerin Emily Jacir 2003 in einer Kunstinstal-
Gespräch des Verfassers mit Sinan Antoon, 12. April 2017. Gespräch des Verfassers mit Sinan Antoon, 12. April 2017. Vgl. Abdelfattah Kilito: Thou Shalt Not Speak My Language. Syracuse; New York 2008, S. 92. Vgl. Emily Apter: Philosophical Translation and Untranslatability. Translation as Critical Pedagogy. In: Profession N. F. 9 (2010), S. 50 – 63, hier S. 55. Vgl. Louis Gardet: Allāh. In: Peri J. Bearman u. a. (Hrsg.): Encyclopedia of Islam. Second Edition. Bd. I (A–B). Leiden 1960, S. 406 – 417.
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lation in Form eines großen Plakates mit der Aufschrift ‚Translate Allah‘ aufmerksam gemacht. Jacir kritisierte damit unter anderem, dass in amerikanischen Medien im Zusammenhang mit dem Islam meist von Allah und nicht von God die Rede ist. Genau damit wird Jacir zufolge aber das Stereotyp vom unzugänglichen, fremden und nicht nachzuvollziehenden islamischen Glauben weiter verstärkt.⁴¹ Wenn wir die Frage der Übersetzung von Allah mit Venutis Terminologie betrachten, so entspricht God dem zielsprachlichen und Allah dem ausgangssprachlichen Übersetzen. Jacir und Antoon halten God dennoch für die bessere Wahl und plädieren damit nicht nur für die Universalität einer Gottesvorstellung, die über konfessionelle Grenzen hinausgeht, sondern auch für die grundsätzliche Möglichkeit der gegenseitigen Verständigung.
6 Selbstübersetzung als subjektive autorisierte Perspektive Die Analyse von Sinan Antoons Selbstübersetzung des Romans Waḥdahā šaǧarat ar-rummān zeigt, dass zwischen Selbstübersetzungen und Übersetzungen von Seiten Dritter einige Unterschiede bestehen, die sowohl auf translatologischer als auch auf kulturwissenschaftlicher Ebene relevant sind. Zunächst wird deutlich, dass Selbstübersetzer*innen mit ihren Texten anders umgehen können.Wie Sinan Antoon selbst im Vorwort der englischen Ausgabe betont, haben sie die Autorität, Passagen zu verändern, wegzulassen oder hinzuzufügen. Dass Antoon sich dieses Privilegs bewusst bedient, geht aus den oben besprochenen Textbeispielen deutlich hervor: An manchen Stellen kürzt er, an anderen fügt er klärende oder intensivierende Passagen hinzu. Damit stellt der Vorgang der Selbstübersetzung im Grunde genommen einen Überarbeitungsprozess bzw. ein Umschreiben des Werkes dar⁴², bei dem der Text zugleich in eine andere Sprache übertragen wird. Aus dieser gestärkten Position ergibt sich für arabische Selbstübersetzer*innen die Möglichkeit, selbst beeinflussen zu können, welche Bilder des ‚Orients‘ sie beim englischsprachigen Publikum hervorrufen möchten. Sinan Antoon lenkt den Blick der Leser*innnen neben seiner Kritik an der amerikanischen Politik im Irak auch auf die starke säkulare Tradition des modernen Irak und die wichtige Rolle, welche Kultur und Literatur besonders in Bagdad spielen – wenn auch
Zu Jacir vgl. Emily Apter: Against World Literature. On the Politics of Untranslatability. London; New York 2013, S. 99. Vgl. Susan Bassnett: The Self-Translator as Rewriter. In: Anthony Cordingley (Hrsg.): SelfTranslation. Brokering Originality in Hybrid Culture. London 2013, S. 13 – 26.
Selbstübersetzung arabischer Autoren als diskursive Intervention
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unter Einschränkungen, die durch die repressive staatliche Zensur und in den vergangenen Jahren vor allem durch die gravierende politische Instabilität bedingt sind. Darüber hinaus verleiht er mit dem Protagonisten Jawād der irakischen Tragödie, welche den potenziellen Leser*innen in der Zielkultur hauptsächlich durch die distanzierte Berichterstattung der Medien bekannt ist, ein menschliches Gesicht. Die Figur von Jawād vermittelt einen sympathischen Eindruck und lädt die Leser*innen dazu ein, Empathie zu entwickeln und sich über sprachliche, kulturelle und konfessionelle Grenzen hinweg mit der irakischen Bevölkerung zu solidarisieren. Als Selbstübersetzer entscheidet Sinan Antoon dabei weitgehend selbst, wie er seinen Text an die Zielkultur heranträgt und an die damit verbundenen Erwartungshaltungen anpasst. Wie am Beispiel des Begriffs Allah ersichtlich ist, kann die zielsprachliche Strategie für die Zielsetzung des Autors dabei durchaus die geeignetere sein. Die von Venuti formulierte Dichotomie zwischen ausgangsund zielsprachlichem Übersetzen greift also zu kurz, um zu bestimmen, welche Übersetzungsstrategien der Ausgangskultur eher gerecht werden. Je nach Situation können dieselben Strategien zu völlig unterschiedlichen Ergebnissen führen. Aussagekräftiger erscheint es, jeweils im konkreten Fall zu untersuchen, aus welchen Gründen und mit welcher Absicht spezifische translatorische Lösungen anderen vorgezogen werden. Aus ihrer auktorialen Position und der Fähigkeit, auf Englisch zu schreiben, ergibt sich für Selbstübersetzer*innen demnach ein selbstermächtigendes Potential, das allerdings durch den Rahmen des literarischen und kulturellen Feldes, in dem sie sich bewegen, eingeschränkt wird. Auch wenn ihre Position im Aushandlungsprozess des Übersetzens dadurch gestärkt wird, dass sie ihre eigenen Texte erstellen und diese direkt mit den Verlagen besprechen können, ist es zum Zweck einer besseren Vermarktung in ihrem Interesse, auf die Konventionen und Erwartungshaltungen der Zielkulturen Rücksicht zu nehmen. Gleichzeitig kann – wie im Falle von The Corpse Washer – die Selbstübersetzung von Seiten des Verlags bewusst aufgegriffen werden, um den Text als authentischen, unverfälschten Einblick in eine fremde Kultur und Gesellschaft anzupreisen. Diese Qualität des Textes hebt der Schriftzug „Translated from the Arabic by the Author“ auf dem Titelblatt der englischen Ausgabe hervor. Dabei wird impliziert, dass eine von den Autor*innen angefertigte Übersetzung wertvoller als eine Übersetzung von Seiten Dritter ist. Aus wissenschaftlicher Perspektive taugt so eine Wertung wenig; vielmehr birgt sie die Gefahr, Literatur mit Ethnographie und Fiktion mit Realität gleich-
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zusetzen.⁴³ Wie Spivak betont, steht dahinter die Annahme, dass jede Person aus einer bestimmten Kultur – so divers und heterogen sie auch sein mag – nichts anderes als ein umfassendes Beispiel dieser Kultur sein kann.⁴⁴ Denn obwohl Antoons Roman eine aufschlussreiche Perspektive auf die jüngere Geschichte des Irak bietet und er mit seiner Selbstübersetzung ein ‚Fenster in den Orient‘ öffnet, handelt es sich bei beiden Texten letztlich um eine subjektive Darstellung. Schließlich können weder Waḥdahā šaǧarat ar-rummān noch The Corpse Washer den Anspruch erheben, die Gesamtheit der diversen irakischen Erfahrungen zu repräsentieren.
Vgl. Marilyn Booth: On Translation and Madness. In: Translation Review 65 (2003), H. 1, S. 47– 53; Tarek Shamma: The Exotic Dimension of Foreignizing Strategies. In: The Translator N. F. 11 (2005), S. 51– 67. Vgl. Spivak 2000 (wie Anm. 6), S. 405.
III Orient Osteuropa?
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Doing Orient? (Selbst‐)Orientalisierung und Ostmitteleuropa – am Beispiel von Jáchym Topols Supermarket sovětských hrdinů […] what is also characteristic for intellectuals in South East Europe is that they willingly adopt the patterns of self Orientalization. They find it natural to depict their own cultures through the eyes of westerners […].¹
In seinem 2004 erschienenen Buch Supermarket sovětských hrdinů (‚Supermarkt sowjetischer Helden‘) beschreibt der tschechische Autor Jáchym Topol eine Expedition ins Karpatenvorland, die er zu Beginn des 21. Jahrhunderts zusammen mit vier anderen tschechischen Literaten unternahm. Die Route hatte ihren Ausgangspunkt in Prag und führte durch zahlreiche slowakische und polnische Ortschaften bis zum Duklapass: In Dukla hatte im Herbst 1944 eine militärische Angriffsoperation der Roten Armee stattgefunden, bei der ca. 120.000 Menschen ums Leben gekommen waren, darunter auch Slowaken, Ukrainer und Tschechen. Das Ziel der Reise war die Erkundung und Besichtigung dieser Region, die während des Zweiten Weltkriegs zum Schauplatz vieler traumatischer Ereignisse geworden war (der Angriff von Dukla war einer davon) und als solcher mit verschiedenen, manchmal widersprüchlichen Erinnerungen beladen ist. Eine Zwischenstation der Reise markierte der Besuch bei Andrzej Stasiuk in Wołowiec nahe der polnisch-slowakischen Grenze; einem polnischen Autor, der sich in seinen Texten mehrmals mit der Geschichte Ostmitteleuropas beschäftigt hatte und sein daraus Imaginarium entwickelte.² Die Expedition fand teilweise mit der Bahn und mit dem Bus, teilweise zu Fuß statt und bot ihren Teilnehmern Raum für Gespräche über Literatur und Politik, nationale kollektive Identitäten sowie, wie fast jede Reise, für die Konfrontation mit Stereotypen und Vorstellungen über das
Plamen K. Georgiev: Self-Orientalization in South East Europe. Wiesbaden 2012, S. 16. Besonders hervorzuheben ist hier das zusammen mit dem ukrainischen Autor Juri Andruchowytsch geschriebene Essay Mein Europa. Vgl. Juri Andruchowytsch; Andrzej Stasiuk: Mein Europa. Zwei Essays über das sogenannte Mitteleuropa. Aus dem Ukrainischen von Sofia Onufriv und aus dem Polnischen von Martin Polack. Frankfurt/M. 2004. Topols Supermarket sovětských hrdinů erschien zuerst unter dem Titel Jak jsme táhli za Stasiukem (pokus o kroniku) (‚Als wir auszogen zu Stasiuk [Versuch einer Chronik]‘) als Nachwort zu der tschechischen Ausgabe von Stasiuks Jak zostałem pisarzem (próba autobiografii intelektualnej) (‚Wie ich ein Schriftsteller wurde. [Versuch einer intellektuellen Autobiographie]‘). Übersetzungen, wenn nicht anders angegeben, hier und im Folgenden A. A. https://doi.org/10.1515/9783110669428-010
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Eigene und das Fremde. Supermarket sovětských hrdinů erfüllt auf den ersten Blick die Voraussetzungen des ‚autobiographischen Pakts‘ (Philippe Lejeune): Es handelt sich hier um einen autobiographisch-essayistischen Text, in dem der autodiegetische Erzähler über den Ablauf der Reise ins Karpatenvorland berichtet und dabei die Eindrücke und Wahrnehmungen anderer an der Expedition beteiligter Personen in seine Erzählung integriert.³ Gleichzeitig offenbart Topol mehrmals den konstruierten Charakter seines Textes, sodass man ihn nicht nur als ‚authentischen‘ Reisebericht lesen sollte. Hinzu kommen zahlreiche Abschweifungen von der eigentlichen Handlung, Digressionen und metapoetische Einschübe. Die Hybridität ist ein poetologisches Merkmal des Textes: Er entzieht sich jeglicher gattungsspezifischen Zuordnung und verbindet auch auf inhaltlicher Ebene diverse Erzählstränge miteinander, wobei die Reise das zentrale Motiv bildet. Es ist Alfrun Kliems zuzustimmen, dass sich Topol mit Supermarket sovětských hrdinů in eine ostmitteleuropäische, „männlich dominierte Tradition der roadstory“ einschreibt und gleichzeitig deren narrative Muster bestätigt.⁴ Bereits am Anfang seiner Erzählung baut Topol eine Opposition zwischen dem ,Westen‘ und dem ,Osten‘ Europas auf und schreibt sich die Aufgabe zu, von diesem, den Klischees entsprechend ‚unzivilisierten‘, ‚wilden‘ und ‚dreckigen‘ Osten Europas zu erzählen. Das erste Motiv, das diese Dichotomie im Text bekräftigt, ist ein Zug, mit dem die Reise in die Karpaten ihren Anfang nimmt. „Vlak na východ v pátek večer. […] Zapla‘tpanbů, že jsme v našem hnusným poblitým východoevropským vlaku!“⁵ (‚Der Zug nach Osten, Freitagabend. […] Gott sei Dank, dass wir uns in unserem ekligen, vollgekotzten osteuropäischen Zug befinden!‘) – stellt Topol fest, um im Laufe der Handlung mehrmals auf das Bild des osteuropäischen Zuges zurückzukommen. Die Bezeichnung ‚Osten‘ ist an dieser Stelle nicht neutral: Sie dient nicht der Bestimmung einer geographischen Lage, sondern der Erklärung eines bestimmten Habitus, der aus der Zugehörigkeit zu diesem Teil Europas und der daraus resultierenden Sozialisation abgeleitet wird. Diejenigen, die sich wie Topol und seine Kollegen zum Osten bekennen, werden mit Rückgriff auf groteske Erzähltraditionen dargestellt. Mit Attributen wie Trunksucht, Spontaneität, Improvisationstalent versehen, werden sie gleichzeitig durch ihre Ignoranz gegenüber dem ,Westen‘ gekennzeichnet. Das Ziel dieser Selbstinszenierung ist, so meine These, nicht nur eine Abgrenzung der eigenen
Vgl. Philippe Lejeune: Der autobiographische Pakt [franz. 1975]. Übers. v. Dieter Hornig; Wolfram Bayer. Frankfurt/M. 1994. Alfrun Kliems: Der Underground, die Wende und die Stadt. Poetiken des Urbanen in Ostmitteleuropa. Bielefeld 2015, S. 180. Kliems bespricht in ihrem Buch diverse Varianten der Roadstory, die sich in Ostmitteleuropa am Anfang des 21. Jahrhunderts herauskristallisiert haben. Jáchym Topol: Supermarket sovětských hrdinů. Prag 2007, S. 7 f.
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Identität gegenüber der anderer, sondern vielmehr ein Versuch, sich selbst so zu präsentieren, wie man glaubt, aus einer fremden, ,westlichen‘ Perspektive gesehen zu werden. Mit anderen Worten geht es hier um die subversive Verwendung von Fremdbildern und die Verinnerlichung von Stereotypen, die nun als Eigenschaften des Eigenen, im individuellen wie im kollektiven Sinne, wahrgenommen werden. Dieses Verfahren kann als kulturelle Praxis und literarische Technik fungieren – und ist als solche nicht neu. Wie die Forschung zu kulturellen Stereotypen belegt⁶, ist die Übernahme eines fremden Blicks auf die eigene Kultur keine Seltenheit und erfüllt meistens eine Schutzfunktion: Sie hilft, die Vorstellung von der eigenen angeblichen Unterlegenheit zu determinieren bzw. zu verbergen. Die Gründe für diese Unterlegenheit sind historisch: Die westeuropäischen Kulturen wurden meistens als höhere Kulturen imaginiert; die slawischen hingegen als defizitär, d. h. politisch, wirtschaftlich und kulturell unterentwickelt. Die polnische Germanistin Izabela Surynt hat herausgearbeitet, dass die Rezeption der deutschen Literatur im Polen des 19. Jahrhunderts, insbesondere des deutschen Polenbildes, dazu geführt hat, dass in vielen literarischen Texten polnischer Autoren das deutsche Stereotyp von den Polen als den wilden „Indianern Europas“ reproduziert wurde.⁷ Unter dieser Reproduktion sollte weniger eine Deklaration der Zustimmung zu diesem Stereotyp, sondern eher eine ironische Geste und ein Distanzierungsversuch der Autoren verstanden werden. Die Verwandlung von (Hetero‐)Stereotypen zu Autostereotypen wird interessant, wenn man dieses Problem in einen postkolonialen Kontext setzt und es als Resultat der (post‐)kolonialen Machtverhältnisse liest. Wie ich im Folgenden genauer darlegen möchte, kann aus dieser Perspektive das Verfahren der Übernahme und Verinnerlichung von Stereotypen als eine Art ,Selbstorientalisierung‘ gesehen werden. Der europäische ,Osten‘ wird hier nicht nur zu einem neuen ,Orient‘; er wird zu einem ,Orient‘, der sich selbst orientalisiert und am Prozess der Tradierung von negativen Bildern seiner selbst aktiv teilnimmt. Dies geschieht durch eine konsequente Stilisierung des Eigenen als Fremden, welche unter dem Vorzeichen der grotesken Überzeichnung erfolgt.
Vgl. Hans Henning Hahn; Eva Hahn: Nationale Stereotypen. Plädoyer für eine historische Stereotypenforschung. In: Hans Henning Hahn (Hrsg.): Stereotyp, Identität, Geschichte. Die Funktion von Stereotypen in gesellschaftlichen Diskursen. Frankfurt/M. 2002, S. 17– 56. Vgl. Izabela Surynt: Postęp, kultura i kolonializm. Polska a niemiecki projekt europejskiego Wschodu w dyskursach publicznych XIX wieku. Wrocław 2006, S. 90.
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1 Postsozialistischer Orient? Die „Tragödie Zentraleuropas“ revisited Der Transfer der Begriffe und des Instrumentariums der Postcolonial Studies auf die ost- und ostmitteleuropäischen Kulturen nach dem Ende des Kommunismus wurde in der Forschung der vergangenen Jahre mehrmals und ausführlich diskutiert.⁸ Es ging hier zum einen um die Frage nach der Vergleichsmöglichkeit zwischen einer postkolonialen und einer postsozialistischen Situation (mit der notwendigen Unterscheidung zwischen den einzelnen postsozialistischen Ländern und Kulturen), zum anderen um die Beschreibung der literarischen und kulturellen Produktionen aus dem postsozialistischen Ostmitteleuropa⁹, in denen unabhängig von politischen und methodologischen Positionen seit Jahren konsequent Techniken verwendet werden, die in postkolonialen Literaturen sensu stricto zu finden sind. Ein besonderer Fokus wurde dabei auf die Migrationsliteratur gelegt, in der solche Phänomene wie Hybridisierung, Mimikry und Third Space besonders sichtbar werden.¹⁰ Die Befürworter des Transfers argumentieren, dass die Situation nach dem Ende der sowjetischen Herrschaft durchaus als eine postkoloniale Situation interpretiert werden kann. Denn obwohl das Projekt einer vollständigen symbolischen und kulturellen Okkupation des Ostblocks gescheitert ist – sowohl Polen als auch die Tschechoslowakei oder Ungarn haben ihre Unabhängigkeit in Bezug auf die Sprache, Kultur und Tradition meistens behalten können –, hat die Sowjetunion Ostmitteleuropa in politischer Hinsicht unterdrückt oder zumindest dominiert. Die Symptome und die Folgen dieser Unterdrückung manifestieren sich in der literarischen und kulturellen Produktion nach 1989, einerseits in Form von Minderwertigkeitskomplexen, Pessimismus und
Siehe u. a. Klavdia Smola; Dirk Uffelmann: Postcolonial Slavic Literatures After Communism. Frankfurt/M. 2017; Dorota Kołodziejczyk; Cristina Şandru, (Hrsg.): Postcolonial Perspectives on Postcommunism in Central and Eastern Europe. London 2016; Janusz Korek: Central and Eastern Europe from a Postcolonial Perspective. In: ders. (Hrsg.): From Sovietology to Postcoloniality. Poland and Ukraine from a Postcolonial Perspective. Huddinge 2007, S. 5 – 20; Dobrota Pucherová; Róbert Gáfrik (Hrsg.): Postcolonial Europe? Essays on Post-Communist Literatures and Cultures. Leiden; Boston 2015; Mirja Lecke; Alfred Sproede: Der Weg der postcolonial studies nach und in Osteuropa. Polen, Litauen und Russland. In: Dietlind Hüchtker; Alfrun Kliems (Hrsg.): Überbringen – Überformen – Überblenden. Theorietransfer im 20. Jahrhundert. Köln 2010, S. 27– 66. ‚Ostmitteleuropa‘ wird hier als Bezeichnung für den Osten von Mitteleuropa verwendet. Vgl. Alfrun Kliems: Exil, Migration und Transnationalität in den Literaturen Ost- und Mitteleuropas. In: Doerte Bischoff; Susanne Komfort-Hein (Hrsg.): Handbuch Literatur & Transnationalität. Berlin; Boston 2019, 443 – 458.
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Verlustgefühlen, andererseits durch Ignoranz gegenüber dem ,Westen‘ und dem globalisierten Europa.¹¹ Das Konzept eines postkolonialen Ostmitteleuropa gewinnt seine Legitimität nicht in erster Linie aus dem direkten Vergleich zwischen der Lage postsozialistischer und postkolonialer Kulturen, sondern macht eher auf die Probleme aufmerksam, die Ostmitteleuropa aufgrund seiner Vergangenheit mit der Gegenwart hat. Es geht hierbei um die Festlegung von Hierarchien, Differenzen und kollektiven Identitäten. […] it is worth using some concepts in postcolonial studies to the national identities of Central Europe (and their post-communist situation) above all as hypotheses and sources of questions. Their main productivity lies in the opening of the Central European experience to comparison and the counterbalancing of its Western-centric and euro-centric method of research. The aim of this opening up is to find connections, similarities and differences – but without sensitivity to these differences, a useful instrument may become an unhelpful grid.¹²
Die Basis für das Nachdenken über ein (post‐)koloniales Europa wurde früher, bereits vor dem Zerfall des Ostblocks, gelegt. Vielen ostmitteleuropäischen Intellektuellen bereitete die Neukartierung Europas nach dem Zweiten Weltkrieg und die Zuordnung von Ländern wie Polen oder der Tschechoslowakei zum Osten großes Unbehagen. An dieser Stelle sei daran erinnert, dass der im französischen Exil lebende tschechische Autor Milan Kundera bereits 1983 ein Essay über die aus der politischen Situation resultierende „Tragödie Zentraleuropas“ geschrieben hat. Diese Tragödie bestehe darin, dass Länder, die wie Tschechien seit jeher kulturell mit dem Okzident verbunden waren, nach 1945 unfreiwillig zum Teil des östlichen Imperiums mutierten. Kundera zeigte die Gefahr dieser nicht nur geographischen Verschiebung auf und argumentierte, dass es zwischen der mitteleuropäischen und der östlichen (russischen) Kultur keinerlei Ähnlichkeiten gebe: Länder wie Polen, die Tschechoslowakei oder Ungarn seien kulturell in der Mitte Europas zu verorten. Kundera schrieb: Was bedeutet nun tatsächlich Europa für einen Ungarn, einen Tschechen, einen Polen? Von Anbeginn an gehörten diese Nationen zu jenem Teil Europas, dessen Wurzeln im römischkatholischen Christentum liegen. An allen Phasen seiner Geschichte waren sie beteiligt. Das
Gleichzeitig, und dies macht die Situation spannend, empfinden sich die meisten ostmitteleuropäischen Kulturen dem russischen Kulturraum in vielerlei Hinsicht als überlegen und assoziieren mit Russland solche Eigenschaften wie Rückständigkeit, fehlende Zivilisation, Barbarei. Diese Haltung hat eine lange Tradition und resultiert teils aus realen zivilisatorischen und kulturellen Differenzen, teils aus Stereotypen in der Fremd- und Selbstwahrnehmung. Ondrej Slačálek: The Postcolonial Hypothesis. Notes on the Czech „Central European“ Identity. In: Annual of Language & Politics and Politics of Identity 10 (2016), S. 27– 44, hier S. 41.
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Wort „Europa“ bezeichnet für sie kein geographisches Phänomen, sondern einen geistigen Wert, ist ein Synonym für „Okzident“, den „Westen“. In dem Moment, wo Ungarn nicht mehr Europa, das heißt Westen ist, wird es aus seiner Bahn, aus seiner Geschichte geworfen; ja, es verliert die Substanz seiner Identität. […] Was also Zentraleuropa ausmacht und bestimmt, können nicht die politischen Grenzen sein, sondern die großen gemeinsamen Erfahrungen, die die Völker wieder zusammenführen und sie immer wieder neu und anders gruppieren innerhalb nur imaginärer und stets wechselnder Grenzen, wo die gleiche Erinnerung, die gleiche Erfahrung, die Gemeinsamkeit einer gleichen Tradition fortlebt.¹³
Die politischen Umbrüche der Jahre 1989 – 1991 setzten der sowjetischen Herrschaft ein Ende und gaben Ostmitteleuropa eine Chance, über seine kollektive kulturelle Identität neu zu verhandeln. Gleichzeitig mussten sich die früher durch die Sowjetunion kontrollierten Kulturen mit dem langen Schatten der Vergangenheit auseinandersetzen. Es stellte sich heraus, dass sich die mentalen Spuren des vergangenen Systems nicht so einfach und schnell überwinden lassen und dass die von Kundera diagnostizierte „Tragödie Zentraleuropas“ im 21. Jahrhundert fortgesetzt wird, diesmal nicht in der Form einer systematischen Unterdrückung, sondern als deren Nachwirkung. Diese Folgen verschränkten sich mit anderen nicht aufgearbeiteten Problemen der jeweiligen Gesellschaften, wie zum Beispiel der polnischen Mittäterschaft am Holocaust oder der Vertreibung der Sudetendeutschen aus der Tschechoslowakei. Dies erlaubt, die Situation in dieser Region nach der Auflösung des Ostblocks als postkatastrophisch zu bezeichnen: Dieser Begriff subsumiert nicht nur die retroaktive Kraft der Katastrophe der Shoah, sondern auch die Folgen der anderen Katastrophen des 20. Jahrhunderts.¹⁴ Die Literatur zeigt sich dabei als ein prädestinierter Ort, um die Traumata der Vergangenheit zu diskutieren, unter anderem diejenigen, die aus der Zugehörigkeit zum sowjetischen Imperium resultierten. Wie in vielen anderen nationalen Literaturen wird auch in der tschechischen bei dieser Auseinandersetzung nicht selten eine groteske und subversive Schreibweise bevorzugt. In Topols Reiseerzählung kommen die selbstorientalisierenden Bilder ins Spiel: Statt über die geopolitischen Zuordnungen und Zuschreibungen zu lamentieren, setzt der Er-
Milan Kundera: Un occident kidnappé oder die Tragödie Zentraleuropas [franz. 1983]. Gekürzte deutsche Fassung, übers. v. Cornelia Falter, in: Themenportal Europäische Geschichte (2007). www.europa.clio-online.de/quelle/id/q63 -28311 (08.08. 2020). Obwohl das Essay von Kundera mehrmals als einseitig und ideologisch kritisiert wurde, schildert es gut den Unterschied zwischen kultureller Selbst- und Fremdwahrnehmung im Hinblick auf Ost- und Mitteleuropa. Zum Begriff ,Postkatastrophe‘ siehe Anna Artwińska; Anja Tippner: Postkatastrophische Vergegenwärtigung – eine Positionsbestimmung. In: dies. (Hrsg.): Nach dem Holocaust. Medien postkatastrophischer Vergegenwärtigung in Polen und in Deutschland. Frankfurt/M. 2017, S. 15 – 39.
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zähler auf eine programmatische, diskursive Erhöhung und Hervorhebung des Ostens. Dadurch wird es möglich, gleichzeitig das Objekt und das Subjekt des orientalistischen Blickregimes zu sein. In Supermarket sovětských hrdinů wird der Osten in vielerlei Hinsicht thematisiert: als eine vergessene Topographie Europas, als Aushandlungsort für die Inszenierung von Männlichkeit und als ein Raum mit einer tragischen und gleichzeitig faszinierenden Geschichte.¹⁵ Wichtig ist dabei, dass sich diese Elemente im Text permanent miteinander verschränken. So ist es kein Zufall, dass die Expedition in einem „osteuropäischen Zug“ beginnt, in dem Männer Alkohol trinken und sich von Frauen bedienen lassen. Sie führt zu jenem Teil Europas, in dem sich während des Zweiten Weltkriegs dramatische Ereignisse abgespielt haben. Topols Mannschaft bereist diese blutgetränkte Region und projiziert einerseits gelesene Texte, andererseits eigene Vorstellungen über den ,Osten‘ und den ,Westen‘ darauf. Wie in klassischen orientalisierenden Narrativen wird auch in diesem Text der Orient diskursiv hergestellt; mit dem Unterschied, dass die Herstellung bei Topol quasi von innen und nicht von außen initiiert wird. Supermarket sovětských hrdinů ist kein Text, der eine Revision von kolonialistischen Geschichtsdarstellungen unternimmt. Der Autor schreibt keine Gegengeschichten, sondern interpretiert die vorhandenen Narrative neu und sensibilisiert dafür, wie stark Orte und Objekte von der Vergangenheit tangiert werden. Die Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg wird in den Karpaten durch Denkmäler und Erinnerungstafeln wachgehalten; einige von ihnen sind in einem heroischen, für die sozialistische Vergangenheit charakteristischen Stil gebaut. Als solche korrespondieren sie mit anderen sowjetischen Spuren, die man an vielen Orten – sowohl auf slowakischer als auch auf polnischer Seite – finden kann. „Náměstí v Gorlici připomíná Slovensko. Socialistickej ráz všech těch buildings.“¹⁶ (‚Der Marktplatz in Gorlice erinnert an die Slowakei. Der sozialistische Charakter all dieser buildings.‘), hält der Erzähler kurz nach der Überschreitung der Grenze zu Polen fest. In seiner Beschreibung wird das Karpatenvorland zu einem Raum, in dem sich viele Zeitschichten miteinander verbinden: Nach dem Krieg kam der Kommunismus und nach seinem Ende folgte eine demokratische Zeit, in der aber die beiden katastrophischen Vergangenheiten stets präsent blieben und bleiben. Dies führt zu einem teils pessimistischen, teils jedoch auch nostalgischen Blick auf die bereiste Region, die in Topols Darstellung einen Gegensatz zum westlichen Europa darstellt.
Es sei daran erinnert, dass sich Topol auch in anderen Texten dieser Problematik widmet. Siehe dazu: Ivo Říha: Východoevropská tematika v díle Jáchyma Topola. In: Slavia Occidentalis 68 (2011), S. 81– 85. Topol 2007 (wie Anm. 5), S. 33.
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In der slowakischen Stadt Svidník bemerken die Männer plötzlich ein Banner mit der Information, dass sich auf einer nahegelegenen Straße „der sowjetischen Helden“ ein Supermarkt befindet¹⁷. Auf diese Entdeckung spielt der Titel des Buches an, wobei man nicht weiß, um welche sowjetischen Helden es sich nun handeln soll: um die während des Krieges gefallenen oder um die zeitgenössischen, ‚postsowjetischen‘, die eine Reise in die Vergangenheit unternehmen. „Všichni máme podobný historky“ (‚Wir alle haben ähnliche Geschichtchen‘), reflektiert der Erzähler nach dem Treffen mit Števo in der Slowakei. „Se Sovětským svazem na věčné časy a nikdy jinak. Jsme zneužitý děti, co se obsesivně vracej na místa svýho zhanobení […].“¹⁸ (‚Mit der Sowjetunion für immer und ewig und niemals anders. Wir sind vergewaltigte Kinder, die obsessiv zu dem Ort der eigenen Schändung zurückkehren […].‘) Eine Fotografie des Banners wurde in das Buch aufgenommen – neben anderen Bildern, die Panzer und Flugzeuge sowie die trinkende Mannschaft im Zug, in der freien Natur oder auf Panzer und Flugzeuge kletternd darstellen. Die Intermedialität steigert den Authentizitätscharakter des Textes und unterstreicht seine Aussage. Supermarket sovětských hrdinů erzählt von der langwierigen Wirkung der Geschichte und von der Tragödie einer Region, die im letzten Jahrhundert zuerst von den Deutschen und dann von den Russen bedroht wurde. Diese Tragödie lässt sich zwar nicht wie eine Farce auffassen¹⁹, weil sie dafür immer noch zu schmerzhaft ist, man kann sie aber so beschreiben, dass das Tragische nicht mehr im Vordergrund steht. Das östliche Europa wird demnach provokativ als Orient beschrieben, der aber nicht als Projektionsfläche für den Okzident dient, sondern die eigenen ,orientalischen‘ Eigenschaften zu seiner Stärke macht. Dieses Verfahren besteht darin, dass man diese Region als irrational, politisch unkorrekt und, im Vergleich mit dem Westen Europas, als unterentwickelt und rückständig darstellt. Gleichzeitig, das sei hervorgehoben, muss der Osten auch faszinierend und anziehend wirken, so dass man ihn als exotisch, d. h. fremdartig und dabei einen gewissen Zauber ausstrahlend, wahrnehmen kann. All diese Widersprüche verkörpern Topols Protagonisten – sie sind demonstrativ ungewaschen, führen aber dabei kluge Diskussionen über den Sinn des Lebens und die Bedeutung der Literatur.
Ebd., S. 48. Ebd. So wollte es noch Karl Marx. In Anlehnung an Hegel schrieb er, „dass sich alle großen Ereignisse zweimal ereignen: das eine Mal als Tragödie, das andere Mal als Farce.“ Karl Marx: Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte. Hamburg 1869, S. 1.
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Die „Re-Exotisierung, Re-Orientalisierung und Re-Archaisierung“²⁰ Ostmitteleuropas in Topols Text resultiert zum Teil aus seiner antikommunistischen Haltung. Es fällt auf, dass auch die sozialistische Vergangenheit in Supermarket sovětských hrdinů als ein Reservoir von seltsamen Sitten und Ritualen erinnert wird. Sie wird aus einer verfremdeten Perspektive beschrieben: All das, was vor 1989 gewesen war, ist hier seltsam und fremd. In dieser Haltung spiegelt sich die Erfahrung einer Generation wider, die die Stagnation des späten Sozialismus in der Tschechoslowakei als prägende und formierende Erfahrung erlebt hat. Und da der Sozialismus verfremdet, teilweise sogar exotisiert wird, liegt es nahe, dass auch die Zeit danach die Spuren dieser Exotisierung und der Fremdheit trägt, ganz nach dem Motto: „Wo der Kommunismus war, muss der Orient werden.“²¹
2 Selbstorientalisierung: Herkunft als Stigma und Argument Die Tendenz zur Selbstorientalisierung in den zeitgenössischen Literaturen Ostmitteleuropas hat Dirk Uffelmann sehr plausibel anhand der Narrative der polnischen Migranten gezeigt. Autoren, die aus Polen stammen, in den deutschsprachigen Ländern leben und auf Deutsch schreiben, entwerfen laut Uffelmann eine Technik der negativen Selbstdarstellung, die darauf zielt, den ‚deutschen‘ Blick auf die polnische Kultur zu imitieren. Bei dem Begriff der ,Selbstorientalisierung‘ handelt es sich […] um eine Form kultureller Selbstverortung von Migrantinnen und Migranten aus slavischen Ländern […], und zwar um einen spezifischen Aspekt davon: die – ironische, sarkastische, subversive – Stilisierung der eigenen östlichen Herkunftsregion zum barbarischen, unzivilisierten, wilden Raum. Methodische Inspiration für das hier gewählte Beschreibungsvokabular ist jener Zweig der Postcolonial Studies, der über die ,orientalisierende‘ Außenperspektive […] hinausgeht und nach den Übergängen von Heterostereotypen in subalterne Identitätsbildungsstrategien fragt […].²²
Boris Groys: Zurü ck aus der Zukunft: Kunst aus Ost und West. In: Dagmar Gramshammer-Hohl u. a. (Hrsg.): Wieser Enzyklopädie des Europäischen Ostens. Bd. 11: Europa und die Grenzen im Kopf. Klagenfurt 2003, S. 419 – 426, hier S. 423. Ebd. Dirk Uffelmann: Selbstorientalisierung in Narrativen polnischer Migranten. In: Zeitschrift für Slavische Philologie 66 (2009), S. 153 – 180, hier S. 156 f.
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Außerhalb der slawischen Migrationsliteraturen ist die Selbstorientalisierung besonders bei solchen Autoren vertreten, die bewusst auf Provokation setzen und ein Spiel mit essentialistischen Zuschreibungen von Identitäten unternehmen. Anders als bei Mimikry geht es hier nicht um eine scheinbare Anpassung oder Täuschung, die dem Selbstschutz dienen soll.²³ Das Ziel ist vielmehr eine performative Inszenierung der unterstellten Alterität zwecks Kritik der Fremdbilder und Stereotype. Das Eigene wird als wild, barbarisch und unzivilisiert beschrieben, es wird jedoch schnell klar, dass diese Eigenschaften nicht unbedingt negativ zu werten sind. Im Gegenteil: Der ,östliche Orient‘ wird dem ,Westen‘ als kreativer und spontaner Raum gegenübergestellt.²⁴ Der vorher erwähnte osteuropäische Zug in Topols Text steht synekdochisch für die östliche Region. Er ist zwar ekelerregend, dennoch kann man in ihm, wie der Erzähler berichtet, nicht nur en masse Alkohol trinken und rauchen, sondern auch Fenster öffnen und frische Luft einatmen, was in vielen Zügen des westlichen Europa nicht möglich ist. In solchen Beförderungsmitteln reisen Männer unbestimmten Alters zwischen „třicítkou a smrti. Krvavý voči, divoký gesta, přisprostlej smích.“²⁵ (‚dreißig und Tod. Blutunterlaufene Augen, wilde Gestikulation und etwas ordinäres Gelächter.‘) Die Studien über postkoloniale Erzähltheorie machen darauf aufmerksam, dass sich postkoloniale Identitäten in literarischen Texten besonders deutlich durch die narrative Vermittlung von Raum manifestieren. Das Evozieren von Räumen wird dabei als eine Praxis verstanden, die eine subjektive Raumwahrnehmung sowie ihre Neusemantisierung ermöglicht.²⁶ In Topols Text werden Topographien, insbesondere das polnisch-slowakische Grenzgebiet, so konzipiert, um einerseits ihre in der Öffentlichkeit bislang wenig bekannte Geschichte sichtbar zu machen und um sie andererseits als ‚koloniale‘ Orte im klassischen Sinne zu präsentieren. Es geht hier stets um eine gezielte Auswahl von Schauplätzen. Aus diesem Grund werden die polnischen und slowakischen Dörfer in seinem Text gleichzeitig mythologisiert und reduziert dargestellt. Es sind Dörfer, in denen beispielsweise eine beinahe sprichwörtliche Gastfreundlichkeit In seinem bahnbrechenden Buch The Location of Culture bezeichnet Homi Bhabha Mimikry als eine Schutzanpassung, die zwar den unterdrückten Subjekten einen Gestaltungsraum bietet, jedoch gleichzeitig diesen Gestaltungsraum kontrolliert und einschränkt, da das unterdrückte Subjekt so sein sollte wie der Kolonisator selbst. Vgl. Homi Bhabha: The Location of Culture. London 2004, S. 121– 132. Vgl. Anna Artwińska: The (Post‐)Communist Orient. History, Self-Orientalization and Subversion by Vladimir Sorokin and Michał Witkowski. In: Zeitschrift für Slawistik 62 (2017), S. 404– 426. Topol 2007 (wie Anm. 5), S. 10. Hanne Birk; Birgit Neumann: Go-Between. Postkoloniale Erzähltheorie. In: Ansgar Nünning; Vera Nünning (Hrsg.): Neue Ansätze in der Erzähltheorie. Trier 2002, S. 115 – 152, hier S. 137– 139.
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herrscht: Man kann bei fremden Menschen speisen und übernachten und sich außerdem gut mit ihnen unterhalten. Die Orte sind häufig primitiv und ursprünglich, was aber nicht gegen ihre Attraktivität spricht. In Bardejov beispielsweise gibt es ein Lokal, das nach „Fleisch und Blut“²⁷ riecht. Der Erzähler berichtet, wie ihn „das Mädchen“, die Kellnerin also, in den Keller führt. Dort sieht er: „V mrazicích boxech zajíci, ptáci. Černý kuličky ptačích očí v ledový tříšti. Pach zvěřiny.“²⁸ (‚In den Gefriertruhen Hasen und Vögel. Die schwarzen Kügelchen der Vogelaugen zwischen den Eiskristallen. Der Geruch des Wildes.‘) Die Orte passen gut zu der Gruppe von Männern, die nach einer affektiven Beziehung zur Landschaft suchen und häufig durch Körpersignale (exzessives Trinken, Essen und Schwitzen) beschrieben werden. „Man spielt Indianer […]; liebt, schreibt und lebt roadstories; säuft; […] berauscht sich an Beat und Lost-Generation-Imaginationen.“²⁹ Topols Figuren sind selbstverständlich keine Indianer, sie ,spielen‘ lediglich Indianer. In der klassischen kolonialen Literatur über das östliche Europa fungierten Indianer als „narrative Figuren, die als Alteritätskonstruktionen den sprichwörtlichen Hintergrund fü r das aufgewertete Selbstbild (als Kulturpionier, ‑bewahrer und ‑träger) liefern sollten“³⁰; in dem hier besprochenen Text sind es Figuren, die die eigene Alterität spielerisch inszenieren. Topols überspitzte Darstellung der eigenen Reisegruppe und der Topographie weckt dadurch beim Leser eher Interesse als eine Abwehrreaktion. Der mit Plastiktaschen wandernde Jirka, dessen Erscheinungsbild der Erzähler schonungslos mit dem eines Obdachlosen vergleicht³¹, ist nicht wirklich ,unzivilisiert‘, vielmehr soll er durch die Umkehrung des Habitus eines Intellektuellen provokativ wirken. Das östliche Europa wird im Text zu einem Raum stilisiert, dessen Eigenschaften im Ergebnis besser sind als die Eigenschaften des Westens. Der Vergleich eines deutschen Militärfriedhofs mit einem slawischen fällt wie folgt aus: Ve svahu je německej vojenskej hřbitov. Kameny se jménama, datami narození, hodnost, místo a datum smrti. Jak je to všechno jiný! Pak tu má proběhnout nějaká globalizace, rozčiluju se. Mezi tim pompézním, veskrze prolhaným slovanským pohřebištěm a tímhle německým úhledným parčíkem smrti je teda dost charakteristickej rozdíl. Tady je pořádek fakt k pláči. ³²
Topol 2007 (wie Anm. 5), S. 12. Ebd. Kliems 2015 (wie Anm. 4), S. 180. Izabela Surynt: Ordensritter und Indianer. Kulturmissionare und ihre Wilden in deutschen und polnischen Diskursen. In: Heinrich Kirschbaum (Hrsg.): Wiedergänger, Pilger, Indianer. Polen-Metonymien im langen 19. Jahrhundert. Frankfurt/M. 2017, S. 167– 192, hier S. 168. Vgl. Topol 2007 (wie Anm. 5), S. 16. Ebd., S. 54.
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(Am Hang befindet sich ein deutscher Militärfriedhof. Steine mit Namen und Vornamen, Geburtsdatum, Rang sowie Todesort und -tag. Wie unterschiedlich alles ist! Und hier soll es zu irgendeiner Globalisierung kommen? Ich ärgere mich. Zwischen dem vorherigen, bombastischen, verlogenen slawischen Friedhof und diesem gepflegten, kleinen deutschen Park des Todes gibt es einen wesentlichen Unterschied. Hier herrscht so eine Ordnung, dass einem nichts anderes bleibt, als sich hinzusetzen und zu weinen.)
Diese klischeehafte Darstellung der angeblichen deutschen Ordnung dient ihrer Hinterfragung, obwohl Topol keine einfache Opposition aufbaut: Der andere Friedhof ist ‚bombastisch‘ und ideologisch verklärt. Man kann annehmen, dass sich diese Eigenschaften auch auf die Menschen übertragen lassen. Es geht also stets um ein ambivalentes Verhältnis zwischen dem einen und dem anderen Europa, zwei Vorstellungen, die karikierend und in stereotyper Überzeichnung gegenübergestellt werden. Die Anhäufung von Stereotypen erfüllt eine kathartische Funktion: Sie diffamiert das Denken in binären Kategorien und zieht sie ins Lächerliche. In derselben Passage bezeichnet der Erzähler sich selbst und seine Mannschaft als „Vertreter der zweitrangigen Völker“³³. Unter diesen Begriff werden jene slawischen Nationen subsumiert, die durch Nazideutschland verfolgt wurden. Hierzu zählen die Tschechen neben den Polen, den Ukrainern und den Slowaken. An anderen Stellen fokussiert der Erzähler eher die Unterschiede zwischen den einzelnen ‚Zweitrangigen‘ – sie resultieren aus der Frage, wo der Osten beginnt. Es fällt auf, dass Topol sich selbst sehr deklarativ als dem Osten zugehörig einordnet und die östlichen Lebensweisen, Rituale und Perspektiven glorifiziert. Über eine Autorenlesung in Berlin reflektiert er ironisch: „V recenzích po vystoupení o nás psali jako o mudrcích z východu a barbarech před branami a tak.“³⁴ (‚In den Rezensionen nach dem Auftritt schrieben sie über uns [über Topol und Stasiuk, A. A.] als die Weisen des Ostens, die Barbaren, die sich vor den Toren befinden.‘) Gleichzeitig stellt er zur Debatte, ob Tschechien tatsächlich als Teil des östlichen Europa bezeichnet werden kann. Für die Ukrainer und die Slowaken ist Tschechien, so lesen wir bereits zum Beginn der Erzählung, „der tschechische Westen.“ Im Vergleich mit den Slowaken wirken die Tschechen, so der Erzähler, sogar etwas germanisch³⁵; es würden ihnen die sprichwörtliche slawische Phantasie und der Mut zu großen Taten fehlen. Auch im Vergleich mit den Polen fallen die Tschechen nicht ganz ‚östlich‘ aus. Diese Unterscheidung, die Topol zwischen seiner geo Ebd., S. 54. Ebd., S. 8. So stellt zum Beispiel der Erzähler fest, dass eine idyllische Ruhe wie in den slowakischen Bergen in Tschechien nicht denkbar wäre, da einem dort permanent aggressive Radfahrer (in professioneller Sportkleidung) entgegenkommen würden. Topol 2007 (wie Anm. 5), S. 38 – 39.
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graphischen und seiner mentalen Herkunft macht, ist interessant, denn würde man lediglich die geographische Zugehörigkeit als entscheidend ansehen, so dürfte man den orientalisierenden Blick des tschechischen Autors auf das polnisch-slowakische Grenzgebiet nicht mehr als ,selbstorientalisierend‘ bezeichnen. Indem man jedoch den ,postkolonialen‘ Osten als eine diskursive Kategorie und die sowjetische Vergangenheit als sein Hauptmerkmal auffasst, kann man Topols Betrachtungen als Reflexionen über das Eigene verstehen. Der Osten, um den es sich in seinem Buch handelt, ist ein Osten, der durch die Sowjetunion kolonialisiert wurde und sich jetzt in einer nicht nur postsozialistischen, sondern auch postkolonialen Lage befindet. Dieser Osten wäre aus meiner Sicht als ,Orient‘ zu bezeichnen und die Praktiken, die der Erzähler verwendet, um von diesem Orient das Stigma der Unterlegenheit zu entfernen, als Strategien der ,Selbstorientalisierung‘. Die Tatsache, dass man sich selbst orientalisiert, wappnet dabei nicht gegen die Gefahr, einen orientalisierenden bzw. imperialen Blick auf andere Kulturen zu werfen. Die abwertenden Aussagen in Topols Text, zum Beispiel in Bezug auf die Bewohner von Wolhynien in der Ukraine, die klischeeartig als ‚wild‘ dargestellt werden – „Pro nás, Vltavany, jsou tohle divoký jména kmenů z východu.“³⁶ (‚Für uns, von der Moldau, sind dies die wilden Namen der Stämme aus dem Osten.‘) –, müssen jedoch als ein dekonstruierendes Verfahren verstanden werden. An Stellen wie diesen imitiert die wertende Aussage des Erzählers eine klassische imperialistische Perspektive – mit dem Unterschied, dass in ihr auch Ironie enthalten ist. Topol geht es nicht um die Markierung der eigenen Dominanz oder die Vermittlung von stabilen Identitätskonstruktionen, sondern um ein subversives Spiel mit Stereotypen und Vorurteilen. In diesem Fall dekonstruiert er das tschechische Bild des Ostens. Die ‚wilden Stämme‘ werden nur scheinbar als sprachlose Objekte präsentiert: Indem der Erzähler sie als solche darstellt, gibt er mehr Auskunft über sich selbst als über die anderen.
3 Fazit In einem Aufsatz über die Vielfalt der slawischen Orientalismen hat Wolfgang Kissel darauf hingewiesen, dass erst im 18. Jahrhundert die „Nord-Süd-Achse“ durch die „Ost-West-Achse“ ersetzt wurde und infolgedessen „Russland und Polen aus dem nördlich-skandinavischen Block herausgelöst und mit Böhmen, Mähren, Ungarn sowie dem Balkan zu l’Europe orientale bzw. l’Orient européen umgrup-
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piert“ wurden.³⁷ Seither ist diese Zuordnung mehrmals hinterfragt und unterschiedlich bewertet worden, sowohl durch die ‚westlichen‘ als auch durch die ‚östlichen‘ bzw. ‚orientalischen‘ Kulturen selbst. Saids Buch Orientalism von 1978 hat nach Kissel auch Folgen für die slawistische Forschung: Es erinnerte nicht nur an die bekannte Tatsache, dass geographische Räume keine festen und essentialistischen Größen sind und dass der Orient als Resultat der westlichen Wissensproduktion entstanden ist, sondern auch daran, dass neben mächtigen Imperien auch „kleine Kulturen“ Träger von orientalisierenden Diskursen sein können.³⁸ Dabei ist es möglich, dass sie nicht nur orientalisiert werden, sondern sich auch selbst orientalisieren, was besonders aus literatur- und kulturwissenschaftlicher Perspektive interessant erscheint. Topols Buch veranschaulicht meiner Überzeugung nach sehr gut, wie Selbstorientalisierung als literarische Technik funktioniert und dabei häufig eine positive Umwertung des orientalisierten Gegenstands mit sich bringt. Topol und seine Kollegen ,spielen Indianer‘ und provozieren mit ihrer angeblichen Fremdheit; und sie tun das so, dass dieser Verhaltenskodex attraktiv wirkt. Supermarket sovětských hrdinů geht über eine groteske Überzeichnung hinaus. Dem Autor geht es nicht darum, das westliche Europa in seiner Wahrnehmung des Ostens zu bestätigen, sondern darum, zu erklären, warum der ‚östliche Orient‘ so und nicht anders agiert. Wenn er seine Expedition als männliche Eskapade wilder Barbaren darstellt, die durch vergessene Landschaften Europas ziehen und dabei die zivilisatorischen Standards des globalisierten Europa bewusst missachten, dann tut er das, um eine neue „Tragödie Zentraleuropas“ präsent zu machen. Man kann der Tragödie entkommen, indem man die Differenzen stehen lässt: Als Ostmitteleuropäer möchte man nicht so werden wie die globalisierten, ‚reifen‘ Völker: oberflächlich glücklich und kaum voneinander zu unterscheiden.³⁹ Die Folgen einer traumatischen Geschichte wirken lange nach; statt das ,Orientalische‘ pauschal als fremd abzuwerten, wäre es, so folge ich Topol, ratsam, nochmals unvoreingenommen über den ,Westen‘ und den ,Osten‘ nachzudenken. Die Tatsache, dass man in einem ,schlechteren‘ Teil Europas geboren wurde, kann produktive Konsequenzen haben: Diese Region ist nämlich tatsächlich interessant, auch wenn sie nur halb so wild ist, wie man es der Reise der ,sowjetischen Helden‘ entnehmen kann. Die Praxis des ,Doing Orient‘, um abschließend auf den Titel dieses Beitrags zu sprechen zu kommen, ist ähnlich wie Wolfgang Stephan Kissel: Der Osten des Ostens. Zur Vielfalt slavischer Orientalismen. In: ders. (Hrsg.): Der Osten des Ostens. Orientalismen in slavischen Literaturen und Kulturen. Frankfurt/M. 2012, S. 9 – 41, hier S. 10. Vgl. ebd., S. 14. Vgl. Topol 2007 (wie Anm. 5), S. 38.
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die Praxis des ,Doing Gender‘⁴⁰ stets eine performative – es kommt dabei sehr auf den eigenen Anteil bei der Herstellung von Identitäten und Identifizierungen an. Im analysierten Buch verfolgt die Praxis der Herstellung von ,Orient‘ das Ziel, den Blick des Anderen zu imitieren, um ihn dadurch zu entkräften oder umzuwandeln. Indem Heterostereotype in Autostereotype überführt werden, verändert sich ihre Wirkungsmacht. Im Kontext der ostmitteleuropäischen Literaturen bedeutet das, dass es sich lohnt, in Verhandlungen von Identitäten auf das Spielerische und Groteske zu setzen. Edward Saids Orientalism gilt also auch im Hinblick auf die Rezeption in Ostmitteleuropa als „Erfolgsgeschichte“⁴¹, wobei in den Diskussionen um Alterität, Macht und Wissen sowie Repräsentationen anderer (und eigener) Kulturen und Gesellschaften die Selbstorientalisierung als Strategie längst nicht so zur Geltung kommt, wie sie es verdient.
Candace West; Don H. Zimmerman: Doing Gender. In: Gender and Society 1 (1987), H. 2, S. 125 – 151. Birgit Schäbler: Riding the Turns. Edward Saids Buch Orientalism als Erfolgsgeschichte. In: Burkhard Schnepel u. a. (Hrsg.): Orient – Orientalistik – Orientalismus. Geschichte und Aktualität einer Debatte. Bielefeld 2015, S. 279 – 302.
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‚Reisen nach Jerusalem‘ Postkoloniale Identitätskonstruktion bei zeitgenössischen deutsch-jüdischen Autorinnen und Autoren osteuropäischer Herkunft
1 Neue postkoloniale Zwischenräume „Findest du es nicht ein wenig klischeehaft, mich in Jerusalem zu fragen, ob ich mich jüdisch fühle?“ Kurz schauten wir uns an, dann sagte Julian: „Ich meine ja nicht nur das Jüdische. Ich meine, so allgemein. Du bist als Kind aus Rußland nach Deutschland gekommen, und du lebst so lange in Deutschland, und mit deiner Familie sprichst du trotzdem Russisch, und du bist Jüdin …“ Lena Gorelik¹
Bei einer öffentlichen Lesung betonte Zygmunt Bauman schon im Jahr 2000 die Hochkonjunktur, die der Identitätsdiskurs in den Geistes- und Sozialwissenschaften erlebt habe. Identität sei ein ‚prismatischer‘ Begriff geworden, durch den andere zentrale Aspekte des zeitgenössischen Lebens sichtbar, verständlich und analysierbar werden.² Die Ansätze zur Identitätsthematik sind allerdings ebenso vielfältig wie die sozialen (individuellen, gruppenspezifischen, nationalen) und diskursiven (politischen, kulturellen, biologischen) Horizonte, die dieser Begriff anspricht. Bauman versucht, den Identitätsdiskurs in seiner historischen Entwicklung umfassend zu verfolgen. Dabei sieht er die Formung der Identität als treibende Kraft der entstehenden Modernität – vor allem, als Individuen und sozialen Gruppen im ausgehenden 18. Jahrhundert klar wurde, dass Identitäten nicht monolithische Entitäten, sondern dynamische Konstruktionen sein können. In unserer Zeit habe sich dieser Prozess wesentlich verändert:
Lena Gorelik: Hochzeit in Jerusalem [2007]. München 2008, S. 8. Vgl. Zygmunt Bauman: Identity in the Globalising World. Plenary Lecture, 6th EASA Conference, Krakow, July 2000. In: Social Anthropology 9 (2001), H. 2, S. 121−129. Bauman verweist auf die zentrale Stellung des Identitätsbegriffs in den Cultural Studies, besonders bei Stuart Hall: Who Needs „Identity“? In: Stuart Hall; Paul du Gay (Hrsg.): Questions of Cultural Identity. London 1996, S. 1– 17, hier S. 1. https://doi.org/10.1515/9783110669428-011
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In […] times of ‚liquid‘ modernity, when not just the individual placements in society, but the places to which the individuals may gain access and in which they may wish to settle are melting fast and can hardly serve as target for ‚life projects‘. This new restlessness and fragility of goals affects us all, unskilled and skilled, uneducated and educated, work-shy and hardworking alike.³
Die extreme Fluidität von Zielen steigere in den Individuen Gefühle wie Disembeddment und Orientierungslosigkeit, so dass das Dasein in der Gegenwart mit der Existenz eines Landstreichers verglichen werden könne: „[P]eople without fixed addresses and sans papiers, struggle daily: ‚Where could I, or should I, go? And where will this road I’ve taken bring me?‘“⁴ Eine direkte Anspielung auf Migranten und Flüchtlinge findet sich in Baumans Statement nicht. Dennoch wirft die heutige Virulenz der Flüchtlingskrise, die spätestens seit dem Beginn des syrischen Bürgerkriegs in der europäischen Öffentlichkeit als Thema stark präsent ist, ein neues Licht auf seine Worte.⁵ Das Migrantendasein, das aus geopolitischen Krisen entsteht, kann als Paradigma einer allgemeineren Identitätssuche betrachtet werden, die nationen- und gesellschaftsübergreifend ist. Sozialwissenschaftliche Studien machen nicht nur auf die projektartige Dimension von Identität aufmerksam, die nicht als ‚given‘, sondern als ‚task‘ verstanden werden soll; sie warnen auch vor den Folgen einer diffusen sozialen Angst, die aus Identitätskrisen entstehen kann. Diese Angst kann auch in den aufnehmenden Ländern den Aufbau defensiver Identitätsmodelle bewirken, welche die Diversität ausschließen und sogar dämonisieren.⁶ Zeitgenössische literarische Werke, die individuelle Erfahrungen von Flucht, Exil und Migration beschreiben, verweisen auf die angesprochene Krise des Identitätsbegriffs und können aus diesem Grund neue Einblicke in den Themenkomplex ‚Identität‘ vermitteln.
Bauman 2001 (wie Anm. 2), S. 125. Ebd., S. 126. Vgl. Stephanie Bremerich; Dieter Burdorf; Abdalla Eldimagh (Hrsg.): Flucht, Exil und Migration in der Literatur. Syrische und deutsche Perspektiven. Berlin 2018. Dieser Band versammelt Beiträge zur literarischen Darstellung von Flucht und Migration in einer vergleichenden Perspektive. Vgl. Bauman 2001 (wie Anm. 2), S. 129. Bauman benutzt den Ausdruck ,peg communities‘, um das Phänomen zu bezeichnen: „mounting a barricade in the company of others does supply a momentary respite from loneliness“ (ebd.). Der Zusammenhang zwischen dem Kollaps politischer Systeme mit hegemonialem Anspruch im späten 20. Jahrhunderts einerseits und dem Aufflammen neuer Nationalismen andererseits ist von Sozialwissenschaftlern ebenfalls frühzeitig erkannt worden; vgl. Jonathan Friedman: Transnationalisation, Socio-Political Disorder, and Ethnification as Expressions of Declining Global Hegemony. In: International Political Science Review 19 (1998), H. 3, S. 233−250, hier S. 241−244.
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Diese These wird im vorliegenden Aufsatz in der Analyse eines konkreten Falls durchdekliniert: Untersucht werden deutschsprachige Romane, deren Autorinnen und Autoren die Migration im Rahmen der jüdischen Kontingentflüchtlingswelle aus der ehemaligen Sowjetunion erlebt haben.⁷ Insbesondere wird es exemplarisch um eine Autorin und einen Autor gehen – Olga Grjasnowa und Dimitrij Kapitelman –, die einer späteren Generation von ‚Kontingentflüchtlingen‘ entstammen. In den 1980er Jahren geboren, kennen sie den sowjetischen Alltag nur noch aus Kindheitserinnerungen oder aus Erzählungen der nach Deutschland mitausgewanderten Eltern. Sie sind in Deutschland eingeschult worden, fühlen sich in der deutschen Sprache zuhause, sprechen aber im Familienkreis Russisch. Sie reflektieren über ihren Migrationshintergrund aus der Perspektive von in Deutschland sozialisierten Menschen. Ihre Sehnsucht nach einer kulturellen Identität gewinnt durch den Rückbezug auf die jüdische Herkunft an zusätzlicher Komplexität. Wie zu sehen sein wird, kann eine Analyse der Perspektive dieser Autorinnen und Autoren ein neues Licht auf die Begriffe ‚Orientalisierung‘ und ‚Selbstorientalisierung‘ werfen. Im Folgenden wird gezeigt, wie die Texte von Grjasnowa und Kapitelman – besonders die exemplarisch ausgewählten Romane Der Russe ist einer, der Birken liebt (2012)⁸ und Das Lächeln meines unsichtbaren Vaters (2016)⁹ – eine Schnittstelle zwischen dem zeitgenössischen Identitätsdiskurs (Bauman) und den Postcolonial Studies aufzeigen. Insbesondere bietet Homi Bhabha epistemische Schlüsselbegriffe, die uns eine neue Perspektive auf die ‚Identitätsparabeln‘ in den genannten Romanen eröffnen. In The Location of Culture versteht Bhabha Flucht- und Migrationsphänomene als Signifikationsprozesse:
Nach einem Beschluss der Innenministerkonferenz vom 9. Januar 1991 hatten Juden und Menschen mit jüdischen Vorfahren aus den Nachfolgestaaten der Sowjetunion die Möglichkeit, als ‚Kontingentflüchtlinge‘ nach Deutschland einzureisen. Einer auf Symbolpolitik gründenden jüdischen Migration nach Deutschland nach der Shoah wurde ein rechtlicher Rahmen gegeben. Die Einwanderung von jüdischen Kontingentflüchtlingen dauerte bis Ende 2004. Insgesamt betrug die Zahl der Einwanderer ca. 220.000. Im Januar 2005 trat das neue Zuwanderungsgesetz in Kraft, und die jüdische Einwanderung nach Deutschland als ‚Kontingentflüchtlinge‘ endete genauso abrupt, paradox und still, wie sie 25 Jahre zuvor begonnen hatte. Vgl. Dimitrij Belkin: Jüdische Kontingentflüchtlinge und Russlanddeutsche. Bundeszentrale für politische Bildung vom 13.07. 2017. www.bpb.de/gesellschaft/migration/kurzdossiers/252561/juedische-kontingentfluecht linge-und-russlanddeutsche (11.08. 2020). Olga Grjasnowa: Der Russe ist einer, der Birken liebt. München 2012. Dimitrij Kapitelman: Das Lächeln meines unsichtbaren Vaters. Berlin 2016.
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The transnational dimension of cultural transformation – migration, diaspora, displacement, relocation – makes the process of cultural translation a complex form of signification. […] The great, though unsettling, advantage of this position is that it makes you increasingly aware of the construction of culture and the invention of tradition.¹⁰
Die Trennung vom Heimatort, die Umsiedlung in anonyme Räume wie Asylheime und die Schwierigkeiten, sich zurechtzufinden in der neuen Heimat, der tägliche Balanceakt zwischen unterschiedlichen Sprach- und Kulturkreisen: Diese Etappen der Displacement-Erfahrung verweisen nicht nur auf eine intrinsische Prekarität des Migrantendaseins, sondern sie stellen auch tradierte kulturelle Konstruktionen im aufnehmenden Land radikal in Frage. Der innovative Beitrag Bhabhas zur Revision eurozentrischer Kulturtheorien, die durch Edward Saids Orientalismus-Buch begonnen wurde, besteht gerade in der Aufwertung transnationaler Zwischenräume, aus denen heraus die postkolonialen Dynamiken neu gedacht werden können. Said entlarvt zwar imperialistische Kulturpraktiken wie die ‚Orientalisierung‘ des kolonisierten Raums, der zugleich als kulturell nicht gleichwertig und als faszinierend andersartig empfunden wird. Es ist jedoch schon mehrfach festgestellt worden, dass er dabei selbst in einer rigiden binären Logik befangen bleibt – Kolonialmacht vs. Kolonisierter, Hegemonie vs. Subalternität –, die es ihm nicht ermöglicht, die besondere Perspektive des postkolonialen Intellektuellen zu berücksichtigen.¹¹ Durch die neue Verortung dieser postkolonialen intellektuellen Subjekte in einem transnationalen ‚Zwischenraum‘ – sie kommen ursprünglich aus kolonisierten Ländern, sind aber durch westliche Kulturwerte geprägt – gelingt es hingegen Bhabha, dekonstruktive Strategien aufzuzeigen, die angewendet werden können, um die Hypokrisie und die Unsicherheit zu demaskieren, die hinter den hegemonialen Pulsionen der Kolonialmächte stecken. Mimicry, ambivalence, hybridity können sich als subtilere, effektivere und in gewisser Hinsicht radikalere ‚Waffen‘ gegen hegemoniale Ansprüche erweisen als direkte Kritik. Multiple kulturelle Prägungen eröffnen auch deutsch-jüdischen Autorinnen und Autoren post-sowjetischer Herkunft einen ‚dritten‘, erkenntnisreichen Raum des In-between, aus welchem heraus schematische Identitätszuschreibungen dekonstruiert werden. Dieser Revisionsprozess von Identitäten macht sie zugleich
Homi Bhabha: The Location of Culture. London 1994, S. 247 f. Vgl. Sumit Chakrabarti: Moving beyond Edward Said. Homi Bhabha and the Problem of Postcolonial Representation. In: International Studies. Interdisciplinary Political and Cultural Journal 14 (2012), H. 1, S. 5−21. Chakrabarti betont die Rolle des Postmodernismus – vor allem Jacques Lacans Theorie des Imaginären – bei der Herausbildung einer dekonstruktiven Methode in der Theoriebildung Bhabhas.
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auch für die liquide Modernität repräsentativ, die als fluider Raum angesehen werden kann, in welchem einem Individuum unterschiedliche Identitätsmodelle zur Verfügung stehen.¹² Bevor auf die Analyse dekonstruktiver Strategien in den Texten eingegangen wird, soll auf die Komplexität der jüdischen Diaspora von Menschen aus der ehemaligen Sowjetunion nur kurz hingewiesen werden. Ohne dass auf die russischsprachigen Vertreter dieser heterogenen literarischen ‚Galaxie‘ eingegangen werden kann, soll allerdings angemerkt werden, dass Konzepte der Transkulturalität, die der postkolonialen Forschung entlehnt wurden, in der Analyse der Literatur der post-sowjetischen Diaspora in den letzten Jahren bereits erprobt worden sind.¹³ Die paradoxe Lage des sowjetischen Judentums, das trotz des hohen Preises einer Zwangsassimilierung und -säkularisierung der sozialen Marginalisierung nie entgehen konnte, schärfte das Gespür jüdischer Autorinnen und Autoren für koloniale Machtstrukturen. Wie Klavdia Smola beobachtet hat, kollidierte die Rhetorik des Vielvölkerstaates – nach der alle Ethnien anerkannt wurden und eine Chance zur Selbstentfaltung hatten – im russischen Reich und später in der Sowjetunion mit dem Anspruch auf ihre Domestizierung im Sinne einer Russifizierung bzw. Sowjetisierung. „In diesem Spannungsfeld zwischen der halbwegs geduldeten Pluralität und dem Drang nach kultureller Assimilierung vs. Ausgrenzung, einschließlich Orientalisierung des Anderen liegt auch das Spezifikum jüdischer Existenzen in diesem geographischen Raum.“¹⁴ Es ist also nicht verwunderlich, dass das Ende der UdSSR „eine massive literarische Entkolonisierung mit sich brachte und eine Reihe von relevanten künstlerischen Dekonstruktionen vornahm“.¹⁵ Die jüdische Auswanderung aus der Sowjetunion in die Bundesrepublik, die kein spontanes Phänomen war, sondern durch den genannten politischen Beschluss von 1991 ausgelöst wurde, schlägt sich in einer Literatur nieder, die weniger durch eine antikoloniale Haltung als vielmehr durch Überwindung der kolonialen Dichotomie zwischen sowjetischer Hegemonie und diskriminiertem
Vgl. Bauman 2001 (wie Anm. 2), S. 125. Vgl. Anna Lipphardt; Julia Brauch: Gelebte Räume – Neue Perspektiven auf jüdische Topographien. In: Petra Ernst; Gerald Lamprecht (Hrsg.): Jewish Spaces: Die Kategorie „Raum“ im Kontext kultureller Identitäten. Innsbruck u. a. 2010, S. 253−274; Klavdia Smola: Postkolonial, hybrid, transkulturell – moderne Schreibweisen in der zeitgenössischen russisch-jüdischen Literatur. In: Zeitschrift für slavische Philologie 69 (2012/13), H. 1, S. 107−150. Smola 2012/13 (wie Anm. 13), S. 110. Lipphardt/Brauch 2010 (wie Anm. 13), S. 115. Die Verarbeitung der Unterdrückung und die von ihr hinterlassenen posttraumatischen Störungen stehen beispielsweise im Mittelpunkt ‚postdiktatorischer‘ Romane wie derjenigen Alexander Melichows oder Oleg Jurevs; vgl. ebd., S. 120−138.
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Judentum geprägt ist. Diese literarischen Stimmen situieren sich in dem erwähnten ‚dritten‘ Raum des In-between: einem ‚imaginären‘ Raum zwischen der russischen Heimatkultur und dem jüdischen Erbe, das sich durch die Säkularisierung häufig auf eine bloße Identitätsmarke reduziert hat. Dimitrij Belkin – 1971 geboren und deshalb ein Vertreter der ersten Flüchtlingsgeneration – beschreibt in seinem autobiografischen Text, der den emblematischen Titel Germanija. Wie ich in Deutschland jüdisch und erwachsen wurde trägt, die kulturelle und psychologische Ausgangssituation jüdischer Kontingentflüchtlinge bei ihrer Ankunft in Deutschland: [H]äufig atheistisch, arm, belesen und müde. Der staatliche und vor allem der Alltagsantisemitismus hielten uns zusammen und verbaten uns, unser tatsächliches oder imaginiertes jüdisches Naturell zu vergessen. Denn viele von uns – wie auch ich – waren das Produkt einer Ehe zwischen einem Juden und einer Nichtjüdin. Das heißt, jüdisch genug, um nach Germanija einzureisen, aber nicht jüdisch genug, um dem deutschen Stereotyp eines Juden zu entsprechen. […] Wir hatten uns russifiziert: Viele Juden waren die größten Liebhaber der russischen Kultur. Sowjetisiert: Hunderttausende haben sich mit dem System identifiziert, ja dieses bewusst mitaufgebaut. Auch christianisiert: buchstäblich und in jedem Fall intellektuell.¹⁶
Die Ambiguität betrifft nicht nur das Verhältnis dieser Gruppe zum Judentum, sondern auch ihren Flüchtlingsstatus. Im Vergleich zur Verfolgung, die in der Geschichte immer wieder die Diaspora auslöste und zu einem identitätsbildenden Archetyp des Judentums wurde, gestaltet sich diese Migration nach Deutschland nicht als Flucht. Oft beruht sie auf einer individuellen und spontanen Entscheidung. Nicht alle Kontingentflüchtlinge waren durch finanzielle Not bedrängt, wie aus Dimitrij Kapitelmans Kindheitserinnerung an das Asylheim in der sächsischen Kleinstadt Meerane hervorgeht: Meerane war kein elendes Flüchtlingsheim voller Menschen, die sich zu Tode verzweifelt und mit nichts als ihrem Lebenswillen über das Mittelmeer gepeinigt hatten. Meerane war ein umfunktioniertes Schloss mit angeschlossenem Baucontainercamp voller Osteuropäer, die sich, über Kapital verfügend, für Deutschland […] entschieden hatten. Die auf der Busfahrt in die BRD zwei Mel-Gibson-Filme geglotzt hatten und denen man erklären musste, dass es nicht die beste Idee ist, im Hugo-Boss-Anzug beim Sozialamt vorstellig zu werden.¹⁷
Dimitrij Belkin: Germanija. Wie ich in Deutschland jüdisch und erwachsen wurde. Frankfurt/M. 2016, S. 12. Kapitelman 2016 (wie Anm. 9), S. 23.
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Aufgrund dieser Ambiguitäten kann die Mobilität der Kontingentflüchtlinge nicht mit Phänomen von Massenflucht und Migration aus Krisenländern gleichgesetzt werden. Die Identitätsbildungsprozesse, die viele Individuen nach ihrer Ankunft in Deutschland durchlaufen, zeichnen sich durch eine besondere Komplexität aus.Während im öffentlichen Diskurs die Tendenz vorherrscht, grundsätzlich alle Flüchtlinge zu ‚orientalisieren‘, lassen sich die jüdischen Kontingentflüchtlinge durch die Raster des Orientalismus nicht erfassen. Ebenso wenig bewegen sie sich jedoch auf dem traditionellen Pfad der Diaspora ihrer Vorfahren, weil ihnen ein starker Bezug zum Judentum fehlt. Da sie sich einer eindeutigen Zuordnung entziehen, sind sie in der ‚Konstruktion‘ einer Identität in der neuen Heimat – im Sinne einer postkolonialen Widerstandstheorie¹⁸ – relativ frei. Aufgrund dieser Freiheit wird für sie eine Wahl oder eine Kombination unterschiedlicher Zugehörigkeiten (jüdisch, deutsch, russisch) möglich.¹⁹ Die ‚Strategien‘, die diesen Identitätskonstruktionen zugrunde liegen, werden Gegenstand der folgenden vergleichenden Analyse der Romane Grjasnowas und Kapitelmans sein.
2 ‚Mobile Herkünfte‘ Im Allgemeinen wird die jüdische Zugehörigkeit dieser Autorinnen und Autoren im Rahmen einer postnationalen und zunehmend multiethnischen Gesellschaft wie der deutschen relativiert. Im Roman Der Russe ist einer, der Birken liebt, geschrieben von der 1984 in Aserbaidschan geborenen und in den 1990er Jahren als Kontingentflüchtling mit der Familie nach Deutschland übersiedelten Olga Grjasnowa, pflegt die junge Protagonistin Mascha ihr Leben lang einen internationalen Freundeskreis. Zu ihren besten Freunden zählt zum einen Sami, ihr Ex-Freund, dessen Familie aus dem Libanon stammt und der in Deutschland und in den Vereinigten Staaten aufgewachsen ist und trotzdem ein Jahr lang auf ein Studienvisum für die USA warten muss; zum anderen Cem, in Frankfurt als Sohn türkischer Eltern geboren: „der erste aus seiner Familie, der studierte und besseres Türkisch als seine Eltern sprach.“²⁰ Fragen nach der kulturellen Zugehörigkeit werden oft zum Thema der Unterhaltungen unter den Freunden. In diese Gespräche fließen sogar Anspielungen auf die Postcolonial Studies ein, wenn auch in der ungezwungenen Form eines
Vgl Bhabha 1994 (wie Anm. 10). S. 193 f. Vgl. Smola 2012/13 (wie Anm. 13), S. 117– 119. Grjasnowa 2012 (wie Anm. 8), S. 56.
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Strandgesprächs zwischen Cem und Mascha. An einem israelischen Strand spekulieren die beiden über ein adoptiertes Kind, das in der Nähe spielt: Bald wird er einsehen, dass er anders ist als sie. Noch denkt er, dass alle gleich sind. Aber bald wird er bemerken, dass er schwarz ist […]. Cem schaute geradeaus auf das Meer. Dann grinste er und sagte: „Aber der Kleine wird keinen Scheiß machen, er wird alles lesen und alles verstehen: alle Klassiker der Post Colonial Studies, der Critical Whitness [sic] Studies, der Rassismustheorien, Fanon, Said, Terkessidis: Übrigens promoviere ich jetzt.²¹
Die Aneignung des kritischen Instrumentariums der „Post Colonial Studies“ hat aus Cems Perspektive eine emanzipatorische, gleichsam ‚antiorientalisierend‘ wirkende Funktion: Sie kann zur Bewältigung von Stereotypen beitragen, die zum Teil mit dem floskelhaften Sprachgebrauch des heutigen Migrationsdiskurses zusammenhängen. Ähnlich geht es Mascha. Sie spürt eine Abneigung gegen die Worte ‚Migrationshintergrund‘ und ‚postmigrantisch‘, die sie für leere Worthülsen hält: Sowohl in den öffentlichen Diskussionen als auch in den Gesprächen zwischen ihr und ihrem Freund Elias werde nie etwas Neues gesagt, der Ton bleibe aber immer „belehrend und vehement“²². Das ‚postkoloniale‘ Strandgespräch zwischen Cem und Mascha findet in Israel statt, dem Land, das Mascha vorübergehend als Lebensmittelpunkt gewählt hat, um der Depression zu entfliehen, die sie nach dem Tod ihres Freundes Elias ergriffen hat. Im Gespräch geht es allerdings keineswegs um die konfliktgeladene Lage in der Region, sondern um Diversität als individuelles Problem, das Menschen in Deutschland, die verschiedene kulturelle Hintergründe haben, betrifft. Die Spezifizität der israelischen Frage tritt bewusst in den Hintergrund, und die Zugehörigkeitsfrage wird in den allgemeineren diskursiven Rahmen der Orientalisierung des Fremden gestellt. Mascha verhält sich zudem der eigenen Herkunft gegenüber provokativ, indem sie eine Nähe zur arabischen Welt pflegt – sie studiert Arabistik und ist jahrelang mit einem Mann arabischer Abstammung liiert –, sich von jüdischen Sitten entfremdet fühlt und die hebräische Sprache nicht lernt. Selbst ihre Wahl Israels als Zufluchtsort birgt in sich nur ein vages Potential zur Identifikation mit der jüdischen Kultur und entsteht eher aus einer emotionalen und beinahe instinktiven Reaktion auf einen persönlichen Verlust („Ich musste weg.“²³).
Ebd., S. 220 f. Ebd., S. 12. Ebd., S. 223. Die Israelreise als Ziel eines Identitätsfindungsprozesses ist ein gemeinsamer Zug verschiedener Romane, die aus der zweiten Generation von Kontingentflüchtlingen stammen; vgl. auch Gorelik 2008 (wie Anm. 1). Gorelik (geboren 1981 in Sankt Petersburg) erzählt die Geschichte
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Eine ähnliche Skepsis gegenüber einer ‚Vereinnahmung‘ der Identität durch die jüdische Kultur – wenn auch nicht in der provokativen Haltung, welche die Protagonistin aus Grjasnowas Roman einnimmt – charakterisiert die Einstellung Dimitrijs, des Alter Egos des 1986 in Kiew geborenen Autors Kapitelman in Das Lächeln meines unsichtbaren Vaters. Eine Identitätssuche ist der Auslöser einer Reise nach Israel, die Dimitrij mit dem ebenfalls in den 1990er Jahren nach Deutschland ausgewanderten Vater unternimmt. Vor der Reise ist sein Verhältnis zur jüdischen Kultur allerdings nur ein oberflächliches. Beinahe folkloristische Aspekte wie das Stereotyp des Gespürs der Juden für Geschäfte sind Gegenstand humoristischer Schilderungen. So nennt er seine Familie die „Rothschilds“, und das nur aufgrund der von den Kapitelmans geliebten roten Schilder der Sonderangebote im Supermarkt.²⁴ Am Anfang seiner Reise geht das Israel-Wissen Dimitrijs über die Beschreibung im beliebten Reiseführers Lonely Planet kaum hinaus. Ihm geht es jedoch bei dieser Reise nicht um Tourismus, sondern um seine Selbstempfindung als Jude unter Juden. Das Identitätsangebot lässt in der politischen Heimat der Juden nicht sehr lange auf sich warten. Ganz zu Beginn seiner Reise wird er von jungen amerikanischen Orthodoxen zu einer „Quick-Bar-Mitzwa“ auf der Straße überredet, dem traditionellen Übergangsritual, mit dem man im Judentum das Erreichen der Religionsmündigkeit junger Männer zelebriert.²⁵ In einem Dokumentationszentrum in Tel Aviv, wo Vater und Sohn in der Archivdatenbank Stammbaumforschung betreiben, treffen die beiden auf Mr. David Goldstein, der versucht, Dimitrijs Zweifel an seiner Identität (seine Mutter ist nicht jüdisch, er kennt nicht die jüdischen Rituale und ist nicht besonders gläubig) zu beseitigen, indem er ihm versichert, er könne sofort israelischer Staatsbürger werden: Sofort Bürger dieses Landes werden. Ich dachte, solche Sätze existieren nicht. Oder nur für […] Spitzensportler und Gerard [sic] Depardieu. Sofort Bürger dieses Landes werden. So vieles schießt mir schlagartig durch den Kopf. Ausländerbehörde, Residenzpflicht, einkommensabhängige Bewilligung der deutschen Staatsbürgerschaft, Demütigung. Pegida […]. Skepsis. Vor allem ewige, steinerne Skepsis. Weil nichts am Leben des Falschjuden Dimitrij K. selbstverständlich ist.²⁶
Anjas, einer russischen Jüdin, die seit ihrer Kindheit in Deutschland lebt und nach Israel fährt, um dem Freund Julian bei der Suche nach seinen jüdischen Wurzeln zu helfen. Kapitelman 2016 (wie Anm. 9), S. 15. Ebd., S. 138 – 147. Ebd., S. 136. Hervorh. im Orig.
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Bald wird die Skepsis gegenüber diesen Versuchen einer viel zu schnellen religiösen und politischen Vereinnahmung sich als berechtigt erweisen. Dimitrij, der seit seiner Kindheit in Deutschland lebt und dennoch keinen deutschen Pass hat, spielt zwar mit dem Gedanken, israelischer Staatsangehöriger zu werden. Er will aber einen genaueren Einblick in seine mögliche zukünftige Heimat gewinnen, indem er nicht nur Jerusalem, Tel Aviv und die touristischen Hotspots besichtigt, sondern auch Hebron, Ramallah und Nablus, weshalb er sich auf den Weg ins Westjordanland macht. Bei dieser nicht ungefährlichen Bildungsreise erweist sich die Begegnung mit einer Gruppe ungefähr gleichaltriger Palästinenser, die auf Studienfahrt sind, als die entscheidende Erfahrung seiner Reise. In den palästinensischen Gebieten angekommen, legt er sich zum Selbstschutz, falls er nach seiner Herkunft gefragt wird, „eine mobile Herkunftspolitik zurecht“²⁷: Sie gliedert sich in drei Sicherheitszonen. Zone I: Ich lebe in Deutschland, was ja wahr ist. Folgt eine konkretere Nachfrage, werde ich vielleicht Zone II öffnen und verlautbaren, dass ich in der Ukraine geboren wurde. Was als Abstammungsinformation inzwischen absolut irreführend, aber zutreffend ist. Sollte sich jemand mit einer dritten, gezielten Identitätsauskunft an mich richten, ziehe ich in Betracht, preiszugeben, dass ich Jude bin.²⁸
Aus der Sicherheitszone der selbst erdachten „Herkunftspolitik“ tritt er nur allmählich heraus, als er merkt, dass die jungen Palästinenser, mit denen er sich anfreundet und seine Reise fortsetzt, mitten in einem durch Krieg und Gewalt zermarterten Land eigentlich eine ‚normale‘ Existenz führen oder führen wollen und Wünsche und Ansprüche an das Leben haben, die sich von seinen nur unwesentlich unterscheiden. Er gibt am Ende den Freunden seine jüdische Identität preis, obwohl er vermutet, dass sie sein Geheimnis schon längst kennen. Die Begegnung mit der palästinischen Seite erhöht Dimitrijs Skepsis gegenüber dem Erfolg des Projekts eines israelischen Staates und kühlt dementsprechend seinen Enthusiasmus für das Vorhaben ab, die israelische Staatsangehörigkeit zu beantragen. Am Ende dieser Identitätssuche bekennt er sich doch zum deutschen Judentum und gesteht es seinem Vater: Papa, ich werde einen deutschen Pass beantragen. Einen deutschen Pass unter unserem jüdischen Namen. Wenn überhaupt, bin ich ein deutscher Jude. Und nicht kompatibel mit Israels Gesellschaft. Zumindest nicht im Moment. Dieses Land ist furchtbar unfrei und traurig. Und ich würde nur eine Alija machen, um mir zu beweisen, dass ich als vollwertiger
Ebd., S. 198. Ebd.
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Jude zähle. Das wäre falsch und unaufrichtig. Ein großer Selbstbetrug, für den ich mein funktionierendes Leben in Deutschland schlachten müsste. Ich will das nicht.²⁹
Das vorsichtige Bekenntnis zum deutschen Judentum entsteht als Reaktion auf die Ablehnung der politischen Lage in Israel. Es ist jedoch kein Bekenntnis zur durchaus brüchigen Tradition des Judentums in der Bundesrepublik.³⁰ Weder bei Grjasnowa noch bei Kapitelman ist der postkoloniale ‚dritte Raum‘ ein Zugehörigkeitsraum, der religiös oder politisch definiert ist, sondern in erster Linie ist er ein Entfaltungsraum für die eigene Identität, die viel zu engen Zuschreibungen entflieht. Die koloniale Dichotomie zwischen der kulturellen Hegemonie der Sowjetmacht und dem diskriminierten Judentum, die noch ein akutes Problem der Elterngeneration war, liegt hinter ihnen. Vielmehr werden in den Romanen Grjasnowas und Kapitelmans grundsätzlichere Dichotomien dekonstruiert: Diaspora vs. Heimat, Verfolger vs. Verfolgte, Mörder vs. Opfer.³¹ Es sind Dichotomien, die in einem engen Zusammenhang mit Fragen nach der jüdischen Zugehörigkeit stehen und die in literarischen Texten von Autorinnen und Autoren der zweiten Generation der Kontingentflüchtlinge aus einer transkulturellen und postkolonialen Perspektive befragt werden. Die Identität wird dabei – im Sinne Baumans – als etwas historisch Kontingentes und nie als etwas erlebt, das durch Tradition vorgegeben wird.
3 Eltern als Vergleichsinstanz – Ablehnung der Selbstorientalisierung Bei Olga Grjasnowa wird die Persönlichkeit der Protagonistin Mascha als disharmonisch beschrieben: Ihr Leben ist in den verschiedenen Etappen ihrer Biografie durch Ortlosigkeit geprägt, die sich zum Teil als komfortable Situation und auch als Ursache ihrer Talente erweist (zum Beispiel ihrer Sprachbegabung). Sie enttäuscht jedoch jede Erwartung, die an sie gestellt wird: Sie betrügt ihre Partner und trotz glänzend abgeschlossenem Dolmetscherstudium entscheidet sie sich für einen wenig anspruchsvollen Job. Die systematische Enttäuschung der Erwartungen scheint aber für Mascha zu einer Lebensstrategie zu werden, die ihr den kritischen ‚dritten Raum‘ eröffnet, welcher sie einerseits aus der Dialektik zwischen deutscher und jüdischer Kultur entlässt und sie andererseits für die
Kapitelman 2016 (wie Anm. 9), S. 270 f. Vgl. Belkin 2016 (wie Anm. 16), S. 108 – 114 und S. 129 – 139. Vgl. Smola 2012/2013 (wie Anm. 13), hier S. 153.
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besondere Lage ihrer Generation sensibilisiert. Die radikale Kritik Maschas und ihrer Freunde richtet sich sowohl gegen die Integrationsrhetorik der deutschen Gesellschaft als auch gegen die Eltern, denen sie eine einseitige Darstellung der eigenen Kultur vorwirft. Dies geht deutlich aus dem erwähnten Strandgespräch zwischen Cem und Mascha hervor, als Cem das Verhältnis seiner Familie zu ihrer Herkunftskultur beschreibt: Ich dachte an meinen Großvater, der immer zu mir und meinem Bruder gesagt hat: Türkisch ist die Sprache der Ahnen, Arabisch die des Gebetes und Persisch die Sprache der Liebe.Was für ein Quatsch. Ich glaube, da habe ich beschlossen, ihre viel bewunderten Sprachen besser zu sprechen als sie und es ihnen zu zeigen, samt ihrer kulturellen Hegemonie.³²
Als ‚hegemonial‘ wird die Einstellung des Großvaters zur türkischen Kultur beschrieben; diese Überlieferung wird von Cem abgelehnt, woraus sein selbstemanzipatorischer Drang nach einer höheren Bildung entsteht. Diese Kritik an der eigenen Familie wird in eine Romanpassage integriert, in der die Ausgrenzung beschrieben wird, unter der Cem im deutschen Schulsystem stets gelitten hat. Bereits in der Grundschule wird durch seine Lehrer ausgeschlossen, dass er und seine ‚Kanaken-Mitschüler‘ aufs Gymnasium dürfen. Es sind zwei unterschiedliche Formen von ‚Ausgrenzung‘, die in einem ähnlichen ‚hegemonialen‘ Anspruch wurzeln: das Oktroyieren einer einseitigen und leichtfertigen Auslegung von Kulturen, die dem Heranwachsenden wenig Freiraum für die Reflexion über die eigene Identität lässt. Ungeachtet ihrer unterschiedlichen Zugehörigkeiten teilen Cem, Mascha und – in Kapitelmans Roman – auch Dimitrji eine Ablehnung gegenüber der Selbstorientalisierung der Elterngeneration: Weder weinerliches Selbstmitleid noch unberechtigter Stolz können als akzeptable Reaktionen auf unterschwellige Diskriminierung gelten.³³ Einigen postkolonialen Theorien zufolge gleicht diese Kritik an der Selbstorientalisierung einem Gestus der Selbstermächtigung seitens der neuen Generation von Migrantinnen und Migranten.³⁴ Bei Kapitelman bilden
Grjasnowa 2012 (wie Anm. 8), S. 221. Vgl. Adeeb Kahlid: Russian History and the Debate over Orientalism. In: Kritika. Explorations in Russian and the Debate over Orientalism 4 (2000), H. 1, S. 691– 699: „Self-orientalization can affect a range of attitudes, from the lachrymose (,what hope could there be for Orientals like us‘) to the heroic (,we are better than the West‘).“ Ebd., S. 698 f. Phänomene von Selbstorientalisierung sind aus einer leicht unterschiedlichen Perspektive in der fiktionalen Literatur polnischer Migrantinnen und Migranten bereits untersucht worden. Vgl. Dirk Uffelmann: Selbstorientalisierung in Narrativen polnischer Migranten. In: Zeitschrift für
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die Differenzen zwischen Vater und Sohn in Bezug auf das Verständnis der eigenen Identitäten den narrativen Leitfaden des Romans. Für Dimitrij ist sein Vater Leonid vor allem der Musterfall der Entwurzelung eines postsowjetischen Menschen in Deutschland. Er scheint sich in seiner russischsprachigen Mikro-Exklave zu verschanzen: Ich betrachte Papa, wie er hinter der Wursttheke seines Russische-Spezialitäten-Geschäftes in Leipzig steht und etwas ungeschickt in eine Krakauer beißt, so dass sie ihm fast aus dem Kürbiskernbrötchen plumpst. Grau, beim Kauen krümelnd, unkonzentriert, so steht er vor mir, eingetönt in das teilnahmslose Surren der Kühltruhen. Käufer sind gerade keine zugegen, und ohne Kundschaft wirkt Papas „Magazin“ zurückgelassen. So ähnlich wie er selbst in Deutschland.³⁵
Obwohl eine akademische Karriere in der Sowjetunion dem studierten Mathematiker Leonid Kapitelman aufgrund seiner jüdischen Herkunft verwehrt blieb, führte er im Kiew der frühen 1990er Jahre ein „selbstbestimmteres und erfüllteres Leben“³⁶. Ähnlich wie bei der Generation der ersten Kontingentflüchtlinge ist die Bindung zum Judentum auch bei Leonid kaum mehr als eine ,Herkunftsmarke‘ bürokratischer Art, die sich für die Auswanderung seiner Familie nach Deutschland als nützlich erweist. Es mangelt Dimitrij freilich nicht an kontextuellem Verständnis für die Generation seines Vaters, vor der sich ein Dilemma auftat: Nach der Auflösung der Sowjetunion stand ihr nämlich die Wahl zwischen Israel und Deutschland als Emigrationsländern offen. Einige wie Leonid entschieden sich „ausgerechnet für Deutschland“³⁷ und blieben damit für immer heimatlos. Es ist Dimitrij bewusst, dass ‚Heimat‘ für den Vater immer ein inhaltsloser Begriff gewesen ist und bleiben wird.Weder die antisemitisch geprägte Sowjetunion noch das für ihn immer – auch sprachlich – fremdgebliebene Deutschland können dem Vater jemals ein Heimatgefühl vermitteln. In einer hypothetischen Zukunft stellt selbst Israel für ihn keine vertretbare Alternative dar; ein Land, das er kaum kennt und dessen Sprache er nicht beherrscht. Der Vater lässt sich nur nach langem
Slavische Philologie 66 (2009), S. 153 – 180. – Vgl. auch den Beitrag von Anna Artwińska in diesem Band. Kapitelman 2016 (wie Anm. 9), S. 9. Ebd. Ausgerechnet Deutschland! Jüdisch-russische Einwanderung in die Bundesrepublik war der Titel einer Ausstellung, die Dimitrij Belkin 2010 im Jüdischen Museum Frankfurt kuratierte. Sie leistete einen ersten Beitrag zur Kenntnis dieser Migrationswelle der 1990er Jahre aus den Staaten der Sowjetunion. Wladimir Kaminer hat für eine Erzählsammlung einen ähnlichen Titel gewählt; vgl. Wladimir Kaminer: Ausgerechnet Deutschland! Geschichte unserer neuen Nachbarn. München 2018.
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Zögern vom Sohn zur Israelreise überreden. Leonids Hauptmotivation besteht darin, seine alten Kiewer Kameraden zu treffen, die in den 1990er Jahren nach Israel ausgewandert sind. Einem von ihnen, der inzwischen dort gestorben ist, hat Leonid seine Briefmarkensammlung anvertraut, die er jetzt gerne wiederhaben möchte. Anders als bei Dimitrij besteht Leonids Welt aus konkreten Gegenständen, deren Geschäftswert er blitzschnell errechnen kann, und aus wenigen vertrauten Freundschaften aus vergangenen Zeiten. Das Jüdische – solange es nicht religiös ist – ist für ihn ein ,Bündel‘ an Werten, höchstens ein Kompass zur praktischen Orientierung im Leben. Trotz kontextuellem Verständnis wächst Dimitrijs Unbehagen angesichts der dürftigen Kenntnis des Judentums, die sein Vater ihm vermittelt hat. Dies motiviert ihn zu der Entscheidung, die Reise zu unternehmen, von der er lang ersehnte Antworten über seine Zugehörigkeit erhofft, die – wie bereits gesehen – enttäuscht werden. Obwohl er misstrauisch gegenüber einseitigen Zugehörigkeitszuschreibungen ist – „Das Wort zugehörig schreibe ich grundsätzlich lieber so zu gehörig“ –, fürchtet sich Dimitrij davon, ein „halber Unsichtbarer“ zu werden.³⁸ „Weißt du, das Schlimmste daran, Jüdin zu sein, ist, dass es einen von allen anderen Zugehörigkeiten ausgrenzt, ohne einen adäquaten Ersatz zu bieten. Es ist irgendwie substanzlos und vage“. Polinas Feststellung hat mich in eine Grube voller giftig zischenden Fragenschlangen gestürzt. Hat sie nicht recht? Ich denke an meinen unsichtbaren Vater, der sich als Jude sieht, obwohl er mit Religion nichts zu tun haben will und am Sabbat im Magazin Wodkakisten umherschleppt. Und daran, dass die deutschen Behörden, ebenso zuvor die Ukraine, „jüdisch sein“ primär als eine genetisch-nationale Disziplin definiert haben.³⁹
Vom „inneren Gericht“ Dimitrijs wird das Selbstverständnis der Elterngeneration in Bezug auf das Judentum kritisch überprüft.⁴⁰ Diese radikale Skepsis, die Kapitelman mit Grjasnowa sowie mit weiteren Autorinnen und Autoren der zweiten Flüchtlingsgeneration teilt, richtet sich gegen das erwähnte dichotomische Verständnis kulturhegemonialer Dynamiken (Mehrheit vs. Minderheit, Hegemonie vs. Subalternität, nicht-jüdisch vs. jüdisch usw.) und somit auch gegen die Polarität, welche die Eltern besetzen: ihre Selbstwahrnehmung als jüdische subalterne Minderheit, die gegen Selbststereotypisierung nicht immun ist. Es ist dabei auffällig, dass dieselbe Tendenz zur Selbstorientalisierung sowohl bei jüdischen Kontingentflüchtlingen aus Osteuropa als auch bei muslimischen Migranten aus dem Nahen Osten festgestellt und
Vgl. Kapitelman 2016 (wie Anm. 9), S. 13. Hervorh. im Orig. Ebd., S. 32 f. Ebd., 14.
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kritisiert wird: Der ikonischen Szene von Dimitrijs Vater, der sich in seinem Laden von russischen Spezialitäten verschanzt, kommt jedenfalls ein erhebliches Maß an orientalistischem Potential zu.
4 Dekonstruktion des Integrationsparadigmas Eine neue Generation scheint das Recht auf ein nuanciertes Verständnis von Kulturen zu beanspruchen und reagiert auf die Stereotype des öffentlichen Integrationsdiskurses, die Gegenstand einer harschen und zum Teil höhnischen Kritik sind. Zu den Themenfeldern, mit denen sich die Texte auf zum Teil provokante Weise auseinandersetzen, gehört auch das Bewusstsein der historischen Schuld der Deutschen den Juden gegenüber. Dessen Darstellung nimmt in Grjasnowas Roman groteske Züge an: Daniel, einer von Maschas Freunden, bezeichnet sich als „antideutsch, womit er judophil, proamerikanisch und irgendwie linksradikal meinte“⁴¹. In einem surrealen Partygespräch erklärt er Mascha seine philosemitische Haltung und fordert sie zu einer Stellungnahme auf: „Du, ich stehe voll hinter euch“ sagte Daniel. „Hinter wem?“ „Na euch eben“. […] „Welches euch?“ Ich schrie beinahe, ein paar Leute aus der Schlange drehten sich um. „Hinter Israel, natürlich.“ „Hast du gerade noch so die Kurve gekriegt?“ „Du bist gemein. Was hältst du von der Situation? Ich meine du als Jüdin.“ „Daniel, lass mich mit dem Scheiß in Ruhe.Was willst du überhaupt von mir? Ich lebe in Deutschland. Ich habe einen deutschen Pass. Ich bin nicht Israel. Ich lebe nicht dort, und ich habe auch keinen besonderen Draht zur israelischen Regierung.“⁴²
Maschas Reaktion zeigt nicht nur die Unzulässigkeit der Assoziation ‚Juden – Israel‘, die im Übrigen auf Maschas biografischen Hintergrund gar nicht zutrifft; sie entlarvt die Selbstbezüglichkeit eines Gesprächspartners, der seinem Gegenüber seine Fragestellung aufzwingt. Es kann kein Dialog stattfinden, wenn die Gesprächspartitur vorgegeben wird: einerseits der aufgeklärte Deutsche, der sich durch Wiedergutmachungs- und Erinnerungspolitik von der historischen Schuld der Deutschen freisprechen will, andererseits die vergebungsbereite Jüdin, die Nachfahrin von Holocaustüberlebenden ist. Diese kommunikativen Kurzschlüsse ergeben sich auf der Bühne eines „Gedächtnistheaters“⁴³, so lautet die polemi-
Grjasnowa 2012 (wie Anm. 8), S. 62. Ebd., S. 63. Vgl. Max Czollek: Desintegriert euch! München 2018. Czollek entlehnt den bereits in den 1990er Jahren geprägten Begriff ‚Gedächtnistheater‘ dem Werk des jüdischen Soziologen Y. Michal
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sche Formulierung des Lyrikers und Essayisten Max Czollek, der mit seiner Streitschrift Desintegriert Euch! aus jüdischer Perspektive vehement für eine Revision des Integrationsparadigmas plädiert. Im Nachkriegsdeutschland werde den Juden eine Rolle zugewiesen, die der Selbstinszenierung der Deutschen dienlich sei: „Als reine und gute Opfer helfen Juden und Jüdinnen nur dabei, das Bild von den guten, geläuterten, normalen Deutschen zu stabilisieren.“⁴⁴ Abgesehen von Czolleks rebellischem Appell zur Desintegration, der etwas unkonkret bleibt, fällt eine offensichtliche Übereinstimmung zwischen seiner Position und den Haltungen der Protagonistinnen und Protagonisten in den Texten der exemplarisch untersuchten Autorinnen und Autoren auf: Es wird in allen Fällen eine undifferenzierte Wahrnehmung der jüdischen Welt in Deutschland abgelehnt, die das deutsch-jüdische Verhältnis beeinträchtigt. Jüdische Bürgerinnen und Bürger werden ständig mit den Themen Antisemitismus, Shoah, Israel identifiziert und konfrontiert, und „[s]obald eine jüdische Person auf eine Frage nach einem dieser Themen antwortet, befindet sie sich schon mitten auf der Bühne des Gedächtnistheaters“⁴⁵. Dabei gerät weder die Verschiedenartigkeit der Herkünfte der jüdischen Personen ins Blickfeld noch die Pluralität des heutigen jüdischen Lebens in Deutschland, dessen Religiosität sich in einer Vielfalt von Gemeinden entfaltet.⁴⁶ Dagegen scheint die Wahrnehmung der Jüdinnen und Juden im öffentlichen Diskurs – ähnlich wie bei anderen Gruppen mit Migrationsgeschichte – zwischen den Extremen einer verzerrten Darstellung und einer undurchdringlichen Unsichtbarkeit zu schwanken. Sasha Marianna Salzmann, eine der prominentesten Stimmen unter den deutsch-jüdischen Schreibenden osteuropäischer Herkunft, betont die Gefahr einer Instrumentalisierung. Solange die Sichtbarkeit der Juden im öffentlichen Diskurs – dabei zieht Salzmann eine Verbindungslinie zwischen Homosexuellen und ethnischen Minderheiten – zu einer bunten Ausnahme degradiert und instrumentalisiert werde und gar populistische Gesellschaftsentwürfe stärke, werde sie akzeptiert und sogar als Zeichen von Pluralismus gedeutet.⁴⁷ Bodemann, vgl. Y. Michal Bodemann: Die Endzeit der Märtyrer-Gründer. An einer Epochenwende jüdischer Existenz in Deutschland. In: Babylon 8 (1991), S. 7– 14. Czollek 2018 (wie Anm. 43)., S. 25. Ebd., S. 48. In Germanija warnt Dimitrij Belkin vor der Reduzierung des Judentums auf die orthodoxen Gemeinden und zitiert als Alternativbeispiel die ebenfalls in Deutschland aktiven ‚Minjans‘, Gruppierungen jüdischen Glaubens, die sich an den Prinzipien des liberalen amerikanischen Judentums orientieren, vgl. Belkin 2016 (wie Anm. 16), S. 113. Dabei verweist Salzmann auf die Instrumentalisierungsversuche im Rahmen der Debatten um die Migration: Das vermeintlich antisemitische Verhalten arabischer Flüchtlinge liefere der AfD Argumente für eine antimuslimische Kampagne. Dabei wird um jüdische Unterstützung gewor-
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Ähnliche ‚selbstreferenzielle‘ Züge hatte die Aufnahmepolitik der 1990er Jahre: Die jüdische Migration aus der ehemaligen Sowjetunion beruhte auf einer Symbolpolitik der ‚Wiedergutmachung‘, „um die ein halbes Jahrhundert zuvor entstandenen Lücken zu füllen, und gab ihm [dem Juden, M.V.] das Prädikat ,Kontingentflüchtling‘. Gemeint ist ein weißer Mittelschichtler, der säkular lebt oder seinen Davidstern unauffällig unter dem Hemd trägt.“⁴⁸ Dieser verwirrenden und instrumentalisierbaren Sichtbarkeit steht die reale Unsichtbarkeit gegenüber, die das Dasein von Menschen wie Dimitrijs Vater prägt: Seine Vergangenheit ist weniger durch die Shoah als durch den Kollaps der Sowjetunion geprägt; in der Gegenwart bildet er als unsichtbarer Jude ein Beispiel für eine misslungene Integrationspolitik, denn er übt in Deutschland einen Beruf aus, der seiner akademischen Ausbildung nicht entspricht. Das verfehlte Ziel dieser humanitären Politik – „man erwartete Juden, es kamen Sowjetmenschen“⁴⁹ – weckt den Verdacht, dass diese Politik eher auf das Gewissen der Wohltätigen als auf die Not der Hilfsbedürftigen ausgerichtet war. Die untersuchten Texte ermöglichen kritische Blicke auf die deutsche Vergangenheitsaufarbeitung und stellen deren hegemoniale Perspektivierung zur Diskussion. Dieser hegemoniale Diskurs läuft Gefahr, die jüdische Position zu marginalisieren und zu instrumentalisieren – diskursive Strategien, die man mit Said ‚orientalistisch‘ nennen kann. Dagegen versuchen die Vertreterinnen und Vertreter der jüngeren Generation, aus dem ‚dritten Raum‘ ihrer transkulturellen Position heraus das Selbstbild des aufnehmenden Landes zu dekonstruieren.
5 ‚Modell Kontingentflüchtlinge‘ Max Czollek, der zwar derselben Generation wie Grjasnowa und Kapitelman angehört, aber keinen Kontingentflüchtlingshintergrund hat, betont den potenziellen Beitrag der deutsch-jüdischen Autorinnen und Autoren osteuropäischer Herkunft zur Unterminierung des öffentlichen Diskurses über die Juden und das Judentum: Juden und Jüdinnen sind heute zur überwiegenden Mehrheit ein Teil jener Bevölkerung Deutschlands mit Migrationsgeschichte. In einer zunehmend vielfältigen Gesellschaft
ben. Vgl. Sasha Marianna Salzmann: Sichtbar. In: Fatma Ademyr; Hegameh Yaghoobifarah (Hrsg.): Eure Heimat ist unser Albtraum. Berlin 2019, S. 13 – 26, hier S. 15. Ebd., S. 24. Belkin 2016 (wie Anm. 16), S. 12.
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müssen Juden und Jüdinnen nicht auf ihre Rolle für das Gedächtnistheater, Deutsche nicht auf ihr Bedürfnis nach Abgrenzung vom Nationalsozialismus festgelegt bleiben.⁵⁰
Angesichts dieser Betrachtung kommt der bereits erwähnten Relativierung der jüdischen Zugehörigkeit ein strategischer Wert zu. Die Jüdinnen und Juden, wenn man sie ‚nur‘ als Teil der Bevölkerung Deutschlands mit Migrationsgeschichte betrachtet, wären aus dem Korsett der ewig binären Rollendynamik befreit und könnten sich autonom der ,Konstruktion‘ ihrer Zugehörigkeit widmen. In der Tat zeigen die Protagonistinnen und Protagonisten dieser Romane, dass die Strukturierung der eigenen Identität als ein dynamischer Konstruktionsprozess empfunden werden kann, bei dem Identitätsentwürfe ausprobiert, verglichen und in Frage gestellt werden können. Die Erstarrung kultureller Konstruktionen führt dagegen – einer paradoxen Dynamik folgend – nicht zu derselben Konsolidierung, sondern zu ihrer Hinfälligkeit. Die Ablehnung stereotypisierter Dichotomien zeigt schließlich, wie die kulturellen Dynamiken, welche die postkolonialen Theorien analysiert haben, auch im geopolitischen Szenario der heutigen Einwanderungsgesellschaften nicht an Vitalität eingebüßt haben. Sowohl einer Orientalisierung im Sinne einer stereotypisierten Zugehörigkeitszuschreibung im deutschen öffentlichen Diskurs als auch einer Selbstorientalisierung ,aus den eigenen Reihen‘ wird Paroli geboten. Aus einem transkulturellen ‚dritten Raum‘ zwischen Zentrum und Peripherie Europas entlarven diese Schriftsteller und Schriftstellerinnen die Kurzschlüsse des öffentlichen Diskurses: Sie weisen nicht nur auf die Fragwürdigkeit des Integrationsparadigmas, sondern auch auf die ‚Projektartigkeit‘ jeder Identitätskonstruktion hin.⁵¹ Dass die ‚Reise nach Jerusalem‘ keine ‚Sitzgelegenheit‘ im Identitätsspiel bietet, erweist sich für sie nicht unbedingt als Nachteil.⁵²
Czollek 2018 (wie Anm. 43), S. 31. „Jedes Integrationsdenken behauptet ein Zentrum, das schon lange nicht mehr der gesellschaftlichen Realität entspricht, in der ich oder meine Freund*innen leben. Die Realitätsferne der Integrationsforderung zeigt sich besonders deutlich im beständig wiederkehrenden Gewese um die deutsche Leitkultur.“ Ebd., S. 14. Die Metaphern des ‚Betts‘ und des ‚Stuhls‘ sind auch von Bauman bereits verwendet worden, um den Disembeddment-Prozess in der heutigen Gesellschaft zu beschreiben: „,Disembeddment‘ is now an experience which is likely to be repeated an unknown number of times in the course of individual life, since few if any ,beds‘ for ,re-embedding‛ look solid enough to sustain the stability of a new occupation. The ,beds‘ in view look rather like ,musical chairs‘, of various sizes and styles as well as of changing numbers and mobile positions, forcing men and women to be constantly on the run and promising no rest and no satisfaction of ,arriving‘, no comfort of reaching the destination where one can disarm, relax and stop worrying.“ Bauman 2001 (wie Anm. 2), S. 125.
Autorinnen und Autoren des Bandes Walid Abdelgawad, Dr. des., Islamwissenschaftler und Arabist. Studium der Islamwissenschaft, Arabistik und Orientalischen Philologie in Kairo und Leipzig. 2019 Promotion an der Universität Leipzig mit der Arbeit Islamische Wissenstraditionen angesichts der Moderne: Die Koraninterpretation Amīn alḪūlīs (1895 – 1966). Postdoc-Fellow an der W. Michael Blumenthal Akademie des Jüdischen Museums Berlin bis Oktober 2018. Heutige Tätigkeit: Freiberuflicher Dolmetscher und Übersetzer. Forschungsschwerpunkte: Moderne jüdische und islamische Ideengeschichte, Bibel- und Koranforschung. Emad Alali, Dr. phil., Literatur- und Politikwissenschaftler. Studium der Anglistik, Germanistik und Politikwissenschaft in Damaskus und Leipzig. 2008 – 2009 wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Germanistik der Universität Damaskus. 2017 Promotion an der Universität Leipzig mit der Arbeit Der Humanismus-Diskurs im Drama der Nachkriegszeit. Der Beitrag einiger unbekannter Dramatiker zur Neuformung des ‚brüchigen‘ Menschen (Würzburg 2018). Seit 2018 Deutschlehrer und Übersetzer, seit 2019 Referent für Politik, Medien und Kultur im diplomatischen Dienst in Berlin. Forschungsschwerpunkte: Verhältnis von Politik und Literatur im deutschen und arabischen Sprachraum, deutsche Literatur der Nachkriegszeit, politisches Denken und politische Ideengeschichte. Yasmin Aly, Literatur- und Filmwissenschaftlerin. Studium der Germanistik an der Universität Kairo. Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Department of Germanic Languages and Literatures der Universität Toronto. Arbeit an einer Dissertation zum Thema Deutschsprachiger Orientalismus – Repräsentationen von Araber*innen in deutschsprachiger Gegenwartsliteratur und Film an der Universität Toronto. Forschungsschwerpunkte: Postkolonialismus, Migration und Geschlechterverhältnisse. Anna Artwińska, Dr. phil., seit 2016 Juniorprofessorin für slawische Literaturwissenschaft und Kulturstudien (Schwerpunkt: Westslawistik) am Institut für Slavistik der Universität Leipzig. Studium der Polonistik, Slawistik und Journalistik in Posen und Freiburg im Breisgau. 2007 Promotion an der Universität Posen über Adam Mickiewicz in der Volksrepublik Polen und Johann Wolfgang von Goethe in der DDR. 2007 – 2016 Tätigkeiten als Lecturer, Senior Lecturer und wissenschaftliche Mitarbeiterin im Fachbereich Slawistik der Universitäten Salzburg und Hamburg. Forschungsschwerpunkte: Repräsentationen der Shoah und postkatastrophische Narrative, Theorien der (Auto‐)Biographie, Generationskonzepte, Postcolonial Studies. Stephanie Bremerich, Dr. phil., Literaturwissenschaftlerin. Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Germanistik der Universität Leipzig. Studium der Germanistik, Kunstgeschichte und Allgemeinen und Vergleichenden Literaturwissenschaft in Leipzig und Prag. 2016 Promotion an der Universität Leipzig mit der Arbeit Erzähltes Elend – Autofiktionen von Armut und Abweichung (Stuttgart 2018). Forschungsschwerpunkte: Autorschaft/Autofiktion, Narratologie, Literatur der Moderne. Dieter Burdorf, Prof. Dr. phil. habil., Studium der Germanistik, Philosophie und Erziehungswissenschaft in Münster und Hamburg. Erstes und Zweites Staatsexamen für das Lehramt an
200
Autorinnen und Autoren des Bandes
Gymnasien. Promotion 1992. Habilitation 2000. Nach Lehrtätigkeiten an den Universitäten Hamburg, Jena, Flensburg und Hildesheim seit 2006 Professor für Neuere deutsche Literatur und Literaturtheorie an der Universität Leipzig. Jüngste Buchpublikation: Zerbrechlichkeit. Über Fragmente in der Literatur (Göttingen 2020). Forschungsschwerpunkte: Literatur vom 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart, Antikerezeption, deutsch-jüdische Literatur, Gattungs- und Formtheorie, Theorie und Geschichte der Lyrik, des Essays, des Briefs, der Rede und des Fragments, Editionswissenschaft, Literatur und bildende Kunst. Abdalla Eldimagh, Dr. phil., Literatur- und Kulturwissenschaftler. Studium der Germanistik, Mediävistik und Allgemeinen und Vergleichenden Literaturwissenschaft in Damaskus, Bremen, Palermo, Porto und Leipzig. 2019 Promotion an der Universität Leipzig mit der Arbeit Die Verfilmung der Orients. Ein kulturwissenschaftlicher Beitrag zu Formen des Orientalismus im westlichen Kino. Derzeit arbeitet er für die Senatsverwaltung für Integration, Arbeit und Soziales in Berlin. Marit Heuß, Dr. des., Studium der Germanistik und Kunstgeschichte an der Technischen Universität Dresden. Erstes und Zweites Staatsexamen für das Lehramt an Gymnasien. 2019 Promotion an der Universität Leipzig mit der Arbeit Peter Handkes Bildpoetik. Seit Sommersemester 2020 Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Germanistik der Universität Leipzig, Forschungsschwerpunkte: Gegenwartsliteratur (Peter Handke), Literatur und Bild. Dominique Lévy-Jahanbakht, Dr., Fachleiterin für den Abibac-Zweig am Gymnasium in Saverne (Elsass). Studium der Germanistik an der Universität Straßburg. 2018 Promotion an der Universität Straßburg mit der Arbeit Die Entdeckung des Irans zwischen Tradition und Modernität. Iran-Reiseberichte zwischen 1906 und 1941: Wissenssuche und interkultureller Diskurs von deutschsprachigen Reisenden. Forschungsschwerpunkte: Reiseberichte, Iran, Interkulturalität. Christoph Schmitt-Maaß, Dr. phil. habil., Literaturwissenschaftler, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für deutsche Philologie der Ludwig Maximilians-Universität München. Studium der Neueren deutschen Literatur und Medien sowie der allgemeinen und vergleichenden Religionswissenschaft in Marburg, Zürich und Luzern. 2007 Promotion an der Universität Basel mit der Arbeit Das gefährdete Subjekt. Selbst- und Fremdforschung in der deutschsprachigen Ethnopoesie der Gegenwart (Heidelberg 2011). 2017 Habilitation an der Universität Potsdam mit der Arbeit Fénelons „Télémaque“ in der deutschsprachigen Aufklärung (1700 – 1832) (Berlin; Boston 2018). Forschungsschwerpunkte: deutschsprachige Literatur von 1648 bis zur Postmoderne, Wissenschaftsgeschichte, Theorie und Praxis der Literaturkritik, Christentum und Literatur. Markus Schmitz, Dr. phil. habil., Vergleichender Literatur- und Kulturwissenschaftler, Akademischer Oberrat am Englischen Seminar der Universität Münster. Studium der Arabistik, Politikwissenschaft, Kulturwissenschaft und Anglistik in Bochum, Kairo, Potsdam und Münster. 2008 Promotion an der Universität Münster mit der Arbeit Kulturkritik ohne Zentrum: Edward W. Said und die Kontrapunkte kritischer Dekolonisation (Bielefeld 2008). 2016 Habilitation an der Universität Münster mit der Arbeit Transgressive Truths and Flattering Lies: The Poetics and Ethics of Anglophone Arab Representations (Bielefeld 2020). Forschungsschwerpunkte: Relationale Diasporastudien, Epistemologie des cross-kulturellen Vergleichens, Geisteswissenschaftliche Fluchtmigrationsforschung.
Autorinnen und Autoren des Bandes
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Wolfgang Trimmel, MA (Globalgeschichte und Global Studies), MA (Arabistik), Lektor am Institut für Orientalistik der Universität Wien. Studium der Arabistik und Geschichte in Wien, Paris und Rabat. Derzeit arbeitet er an seiner Dissertation zum Thema Selbstübersetzungen in der modernen arabischen Literatur. Forschungsschwerpunkte: literarische Selbstübersetzung, moderne arabische Literatur, Kolonialgeschichte der arabischen Welt. Michele Vangi, Dr. phil., Literaturwissenschaftler, wissenschaftlicher Mitarbeiter und DAADLektor an der Nationalen Linguistischen Universität Kiew. Studium der Literaturwissenschaft und Germanistik in Bari und Saarbücken. 2005 Promotion an der Universität Münster mit der Arbeit Letteratura e Fotografia. Roland Barthes – Rolf Dieter Brinkmann – Julio Cortázar – W. G. Sebald (Udine 2005). Er war wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Universität zu Köln (Petrarca-Institut) und am Deutsch-Italienischen Zentrum Villa Vigoni. Forschungsschwerpunkte: Literatur und Wissenschaftsdiskurs, literarische Intermedialität, deutschsprachige Migrationsliteratur aus dem postsowjetischen Raum.