Risikogesellschaften: Literatur- und geschichtswissenschaftliche Perspektiven 9783839443231

Who talks about risk - and when, why and how? In this book, history and literary studies, along with their methods and s

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German Pages 272 Year 2018

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Table of contents :
Inhalt
Risikogesellschaften: Eine Einführung: Reden über Risiko jenseits der Disziplinengrenzen
Risikowahrnehmung im Mittelalter: Ein Versuch in kognitiver Geschichtswissenschaft
Un/Reinheit und Aussatz: Perspektiven auf ein mehrdimensionales Risikoformat der Vormoderne
„Besser wenig als nichts“: Risiko in der Vormoderne am Beispiel der Landwirtschaft
Sichere Muße: Theaterarchitektur und Risiko im frühen 19. Jahrhundert
Die Lloyd’s List: Information und Risiko in der frühneuzeitlichen Marineversicherung
Epidemien, Erdbeben, Deichbrüche, GAUs und andere Katastrophen: Skizze einer Literaturgeschichte des Risikos
Zwischen Vorsorge und Prävention: Praktiken jüdischer Wohltätigkeit um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert
Monströse Verantwortung: Frankenstein und seine Kreatur als Personifizierungen von Risikosystemen
Von der Risikoberechnung zur Vertrauensfrage: Die deutsche Kernenergiedebatte am Beispiel des Kernkraftwerks Stade
Von ‚Betriebsanleitungen‘, ‚Crashkursen‘ und ‚Erfolgsmethoden‘: Zeitgenössische Elternratgeber als Medium der Risikokommunikation und -konstruktion
Riskante Körper: Der zeitgenössische amerikanische Medizinthriller als Gattung der Risikokommunikation über Biopolitik
Autorinnen und Autoren
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Risikogesellschaften: Literatur- und geschichtswissenschaftliche Perspektiven
 9783839443231

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Eva von Contzen, Tobias Huff, Peter Itzen (Hg.) Risikogesellschaften

Histoire  | Band 134

Eva von Contzen, Tobias Huff, Peter Itzen (Hg.)

Risikogesellschaften Literatur- und geschichtswissenschaftliche Perspektiven

Tagung und Publikation wurden gefördert von der Johannes Gutenberg-Universität Mainz, dem Freiburg Institute for Advanced Studies (FRIAS) und der Fritz Thyssen Stiftung.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2018 transcript Verlag, Bielefeld Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Maria Arndt, Bielefeld Umschlagabbildung: emanoo / photocase.de (bearbeitet) Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar Print-ISBN 978-3-8376-4323-7 PDF-ISBN 978-3-8394-4323-1 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: https://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

Inhalt

Risikogesellschaften: Eine Einführung Reden über Risiko jenseits der Disziplinengrenzen

Eva von Contzen, Tobias Huff, Peter Itzen | 7 Risikowahrnehmung im Mittelalter Ein Versuch in kognitiver Geschichtswissenschaft

Max Lieberman | 33 Un/Reinheit und Aussatz Perspektiven auf ein mehrdimensionales Risikoformat der Vormoderne

Fritz Dross | 49 „Besser wenig als nichts“ Risiko in der Vormoderne am Beispiel der Landwirtschaft

Tobias Huff | 69 Sichere Muße Theaterarchitektur und Risiko im frühen 19. Jahrhundert

Kerstin Fest | 95 Die Lloyd’s List Information und Risiko in der frühneuzeitlichen Marineversicherung

Stefan Geißler | 115 Epidemien, Erdbeben, Deichbrüche, GAUs und andere Katastrophen Skizze einer Literaturgeschichte des Risikos

Michaela Holdenried | 135 Zwischen Vorsorge und Prävention Praktiken jüdischer Wohltätigkeit um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert

Anna Michaelis | 149 Monströse Verantwortung Frankenstein und seine Kreatur als Personifizierungen von Risikosystemen

Martin Sablotny | 175

Von der Risikoberechnung zur Vertrauensfrage Die deutsche Kernenergiedebatte am Beispiel des Kernkraftwerks Stade

Christian Götter | 199 Von ‚Betriebsanleitungen‘, ‚Crashkursen‘ und ‚Erfolgsmethoden‘ Zeitgenössische Elternratgeber als Medium der Risikokommunikation und -konstruktion

Maike Nikolai-Fröhlich | 223 Riskante Körper Der zeitgenössische amerikanische Medizinthriller als Gattung der Risikokommunikation über Biopolitik

Stella Butter | 245 Autorinnen und Autoren | 267

Risikogesellschaften: Eine Einführung Reden über Risiko jenseits der Disziplinengrenzen Eva v. Contzen, Tobias Huff, Peter Itzen

GESCHICHTE UND GESCHICHTEN Kutschfahrten waren seit jeher nicht nur überaus beschwerlich, sondern auch gefährlich. Wegelagerer drohten ebenso wie zerborstene Achsen und erschöpfte Pferde. Zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts gehörten zwar viele dieser Gefahren der Vergangenheit an, wurden dafür aber durch neue Probleme ersetzt, welche die Moderne mit sich brachte: So wurde es immer mehr zum Problem, dass sich an den zahlreichen unbeschrankten Bahnübergängen tödliche Unfälle mit Kutschen ereigneten, deren Fahrer eine herannahende Eisenbahn nicht bemerkt hatten. Im Januar 1901 schlug der preußische Innenminister eine Lösung vor, die vor allem eine Verhaltensänderung der Kutscher vorsah: „[Ich] erachte es für allgemein geboten, durch wiederholte Bekanntmachungen den Wagenführern die größte Vorsicht dem Passieren von Bahnübergängen zur Pflicht zu machen und sie darauf hinzuweisen, daß sie bei unachtsamen Passieren der Bahn sowohl ihr eigenes Leben gefährden als auch sich einer erheblichen Bestrafung auf Grund des § 316 des Strafgesetzbuchs aussetzen.“ In seinem Vermerk kritisierte er zugleich das bisherige Verhalten der Kutscher, die „oft schlafend, angetrunken oder sonst unaufmerksam die Bahnübergänge“ überquerten.1 Die Aktennotiz aus dem preußischen Innenministerium ist gleich aus mehreren Gründen interessant: Sie zeigt die große Bedeutung, die Technik bei der Entstehung von Risiken hat – ohne Eisenbahn und Eisenbahnübergänge hätte es die Unfälle an den Bahnübergängen nicht gegeben. Sie zeigt jedoch zugleich, wie 1

Vermerk vom Minister des Innern, II a 6999, Berlin, den 9. Januar 1901: Preußisches Staatsarchiv, I. HA Rep. 77 Ministerium des Innern Tit. 1328 Nr. 3 Bd. 3 Minister des Innern, II a 6999, Berlin, den 9. Januar 1901.

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diese Unfälle wahrgenommen, diskutiert und reguliert wurden: Die Behebung des Risikos bestand für den Minister nicht in zusätzlichen technischen Vorrichtungen wie etwa Bahnschranken, sondern darin, dass das Verhalten sich ändern müsse – zur Not rechtlich sanktioniert. Mit anderen Worten: Die Risikokonstellation wurde in einen moralisch konnotierten Verantwortungszusammenhang gestellt, der keinesfalls zwingend war. Damit ist das Thema dieses Bandes benannt, nämlich die Frage, wie sich Materialität und Diskursivität zu einer Konstruktion von Risiken in der Geschichte verbinden. Dies zu untersuchen war eines der beiden Hauptziele, als die Herausgeber Vertreterinnen und Vertreter der Geschichts- und Literaturwissenschaft baten, Risikodebatten aus der Perspektive ihrer jeweiligen Disziplin zu analysieren. Wir definieren den Begriff „Risiko“ als eine Gefahr, die zwar von Menschen durch in die Zukunft gerichtete Entscheidungen eingegangen und damit als solche erst geschaffen wird. Ihr Charakter ist aber zugleich grundlegend davon abhängig, welche materiellen Bedingungen in der selbstgeschaffenen Gefahrensituation herrschen.2 Risiken haben damit zum einen eine materielle Komponente. Daraus ergibt sich ein spezifischer Akteurcharakter, der sich aus den Eigengesetzlichkeiten des Materiellen und seinem Zusammenwirken mit menschlichem Handeln ergibt. Die Gegenstände oder Verfahren, die Menschen in risikobehafteten Situationen nutzen, bringen bestimmte eigene Eigenschaften in diese Situationen ein, die den Charakter des Risikos beeinflussen oder sogar überhaupt erst ausmachen. Es ist ein Unterschied, ob eine Regierung sich entschließt, ein Windkraftwerk oder ein Kernkraftwerk zur Energieversorgung zu nutzen, ebenso wie es ein Unterschied ist, ob jemand sich entschließt, eine längere Reise mit einem Auto zu unternehmen oder im Zug zu verbringen. Risiken sind zum zweiten abhängig von ihrer Wahrnehmung: Menschen beschreiben Phänomene und Verhaltensweisen als Risiken und ziehen daraus bestimmte Konsequenzen für ihr Handeln oder Denken, wohingegen andere, oft durchaus verbreitete und gefährliche Praktiken in Risikodebatten kaum eine Rolle spielen. Diese Mehrschichtigkeit des Begriffs zeichnet die Komplexität des Redens über Risiken aus – sie ist zugleich der zentrale Grund, warum das Gespräch zwischen Geschichts- und Literaturwissenschaft erkenntnisbringend sein kann. Denn beide Disziplinen nehmen die genannten Aspekte von Risikodebatten in den Blick, setzen sich mit Diskursen, menschlichen

2

Vgl. zu den verschiedenen Definitionen des Risikobegriffs T. Jung: Der Risikobegriff in Wissenschaft und Gesellschaft, in: Bundesgesundheitsblatt – Gesundheitsforschung – Gesundheitsschutz 46 (2003), S. 542–548; Peter Itzen/Simone M. Müller: Risk as a Category of Analysis for a Social History of the Twentieth Century. An Introduction, in: Historical Social Research 41 (2016) 1, S. 7–29.

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Verhaltensweisen und materiellen Phänomen auseinander, sind aber von unterschiedlichen Traditionen und Arbeitsweisen geprägt und können sich daher fruchtbar ergänzen. Mit dieser Definition von „Risiko“ wird deutlich, dass die Herausgeber Risiken nicht als typisch oder exklusiv für bestimmte Epochen ansehen. Immer dort, wo Ansätze von Planungen bestehen, spielen auch Wahrnehmungen von Risiken eine Rolle. Risiken sind daher Teil des menschlichen Daseins – spätestens seit dem Beginn der Landwirtschaft 10.000 v. Chr., die planerisches menschliches Handeln unabdingbar machte. Hieran knüpft sich das zweite Hauptziel des Bandes an – nämlich Risikodebatten sowohl in der Vormoderne als auch in der Moderne zu analysieren sowie dabei mögliche Kontinuitäten und Brüche deutlich zu machen. Quer über die Epochen hinweg haben Individuen und Gesellschaften versucht, die möglichen Folgen ihres Handels abzuschätzen und dabei die eintretenden Konsequenzen auf eine einmal getroffene Entscheidung zurückgeführt, haben wissenschaftliche und kalkulatorische Strategien zur Risikovermeidung oder -prävention angewandt oder Risikoszenarien entworfen – mit dem Ziel, die Wahrscheinlichkeit eines Schadeneintritts zu verringern. Als Ulrich Beck 1986 sein Buch Risikogesellschaft. Auf dem Weg in eine andere Moderne veröffentlichte,3 ging er von anderen Überlegungen aus. Noch immer ist seine Vorstellung einflussreich, dass der Modernisierungsprozess der westlichen Gesellschaften in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts höchst bedrohliche Risiken zuvor unbekannten Ausmaßes produzierte und zu einem neuen Selbstverständnis einer ‚reflexiven Moderne‘ führte, die über Mechanismen gegen die selbstgeschaffenen Risiken reflektiert. Wenn auch Becks Konzept vielfach Kritik erfahren hat,4 so ist seine Grundannahme, dass nur moderne Gesellschaften Risikodebatten führen, nicht jedoch Gesellschaften der Vor- und Frühmoderne, in der Wissenschaft immer noch weit verbreitet. Es ist ein wesentliches Ziel des vorliegenden Bandes, sich kritisch mit dieser These auseinanderzusetzen. Dies kann durch eine Kooperation der Geschichts- und Literaturwissenschaften in besonders

3

Ulrich Beck: Risikogesellschaft. Auf dem Weg in eine andere Moderne. Frankfurt a. M. 1986.

4

Franz-Josef Brüggemeier: Schranken der Natur. Umwelt, Gesellschaft, Experimente 1750 bis heute. Essen 2014, S. 349f.; Arwen P. Mohun: Risk. Negotiating Safety in American Society. Baltimore 2013; Cornel Zwierlein: Der gezähmte Prometheus. Feuer und Sicherheit zwischen Früher Neuzeit und Moderne. Göttingen 2011, S. 21–24; Cornel Zwierlein/Rüdiger Graf: The Production of Human Security in Premodern and Contemporary History, in: Historical Social Research 35 (2010) 4, S. 7–21, hier S. 14f., URL: .

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produktiver Weise geschehen. Risikoforschung muss sich zwar mit den sozialwissenschaftlichen und technischen Verständnissen von Risiko auseinandersetzen. Die hier versammelten Ergebnisse erlauben aber auch den Schluss, dass eine mit geschichts- und literaturwissenschaftlichen Methoden betriebene Risikoforschung den Blick dafür weiten kann, welche Praktiken, technischen Artefakte oder natürlichen Prozesse eine Gesellschaft zu einem bestimmten Zeitpunkt aus welchen Gründen für riskant erachtete. Ein solches Vorhaben geht über eine Historisierung des Risikobegriffs weit hinaus. Es soll nicht nur eine historische Genese der bis heute wirkungsmächtigsten Risikobegriffe und deren historische Einbettung – hier greifbar gemacht anhand zeitgenössischer Literatur – dargestellt werden, sondern zudem der Nachweis geführt werden, dass Diskurse über Risiken und der Umgang mit risikobehafteten Szenarien und Ereignissen keineswegs nur ein Symptom der (Post-)Moderne, sondern wesentlich früher in Quellen und Literatur festzustellen sind. 5 Die Art und Weise, in der sich Risikodebatten manifestierten und wie über Risiken und Gefahren geredet wurde, hat sich im Laufe der Zeit verändert und erlaubt Rückschlüsse auf grundlegende gesellschaftliche Transformationsprozesse. Dabei werden nicht nur diejenigen gesellschaftlichen Debatten in den Blick genommen, die expressis verbis von Risiken sprechen, sondern auch konkludente Prozesse oder entsprechende Aushandlungsprozesse avant la lettre. Eine solche Analyse von Risiko- und Sicherheitsdebatten wäre schon an sich ein überaus lohnenswertes Erkenntnisinteresse. Sie kann darüber hinaus aber auch helfen, ein breiteres Verständnis für wichtige Themen der Geistes- und Sozialwissenschaften zu entwickeln. Risiken, die Reflexion über Risiken und das Management von Risiken stellen zentrale Phänomene in der Entwicklung von Gesellschaften dar. Sie sind nicht nur als eine der Ursachen für die Herausbildung von staatlichen Institutionen, rechtlichen Verfahren und wissenschaftlichen Techniken anzusehen, sondern der Umgang mit Risiken hat auch dazu beigetragen, bestimmte zeittypische Alltagspraxen zu entwickeln und einzuüben. Sie waren zudem ein bedeutsamer Gegenstand kultureller Selbstvergewisserung – gerade in der Literatur, in der die Erfahrung von Risikoerlebnissen und -entscheidungen reflektiert und interpretiert wurde.

5

Benjamin Scheller: Die Geburt des Risikos. Kontingenz und kaufmännische Praxis im mediterranen Seehandel des Hoch- und Spätmittelalters, in: Historische Zeitschrift 304 (2017), S. 305–331.

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EPOCHENGRENZEN Die etymologische Herkunft des Begriffs ‚Risiko‘ ist nicht abschließend geklärt, seine Verwendung in einem modernen – also in dem in aktuell vorliegenden Handbüchern kodierten – Sinne beginnt jedoch relativ gesichert in den norditalienischen Handelsstädten am Übergang vom Hoch- zum Spätmittelalter.6 In dieser frühen Zeit war der Risikobegriff noch eng mit der Warenversicherung verknüpft und unterscheidet sich deutlich von dem umfassenden Verständnis, das Beck in seinem Buch Risikogesellschaft im Blick hatte. Schon die Etymologie scheint daher darauf zu verweisen, dass es nicht sinnvoll ist, das Risiko für die Moderne zu reservieren oder es ausschließlich für ein „konstitutive[s] Elemente der neuzeitlichen Gesellschaft“ zu halten.7 Zwar setzt Risikodenken im vorliegenden Sinne voraus, dass der Mensch als Akteur für sich Möglichkeiten sieht, Geschehnisse und Entwicklungen durch eigenes Handeln zu beeinflussen. Doch selbst wer auf die für die Vormoderne unterstellte Gnadenwirksamkeit Gottes, auf die noch nicht stattgefundene wissenschaftliche Revolution und auf das zyklische Weltbild verweist, wird vormodernen Gesellschaften nicht jegliche Versuche zur Planung absprechen können. Eine solche Vorstellung lässt im Gegenteil sogar jede Plausibilität vermissen. Planung mit Rücksicht auf Erfahrungswissen und unterstellte kommende Entwicklungen hat es auch in der Vormoderne fortwährend gegeben und war sogar notwendiger Bestandteil menschlicher Selbstorganisation. In diesem Sinne gab es auch eine offene, von menschlichem Handeln beeinflussbare Zukunft, ein wesentliches Element von Risikoüberlegungen geprägten menschlichen Verhaltens.8 Die Einbeziehung vormoderner Epochen kann die Fixierung der Risikoforschung auf die Zeit seit dem späten 19. Jahrhundert aufweichen. Sie erlaubt zudem

6

Jung: Risikobegriff (wie Anm. 2).

7

Torsten Meyer: Natur, Technik und Wirtschaftswachstum im 18. Jahrhundert. Risikoperzeptionen und Sicherheitsversprechen. Münster 1999, S. 10.

8

Vgl. dazu etwa aus universalgeschichtlicher Perspektive Yuval Noaḥ Harari: Eine kurze Geschichte der Menschheit. 23. Aufl., München 2015, S. 128–134. Harari setzt die „Entdeckung der Zukunft“ (ebd., S. 128) nicht mit dem Anbruch der Moderne an, wie dies oft in der Soziologie und der Geschichtswissenschaft geschehen ist, sondern mit der landwirtschaftlichen Revolution 10.000 v. Chr. Vgl. den Klassiker zu den unterschiedlichen Zukunftskonzeptionen zwischen Frühneuzeit und Moderne: Reinhart Koselleck: ‚Erfahrungsraum‘ und ‚Erwartungshorizont‘ – zwei historische Kategorien, in: Reinhart Koselleck (Hg.): Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten. Frankfurt a. M. 1989, S. 349–375.

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eine Modifikation allzu starrer Vorstellungen über die Zukunftskonzeptionen und individuellen Handlungsspielräume in mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Gesellschaften. Damit soll nicht abgestritten werden, dass es zwischen Vormoderne und dem 19. und 20. Jahrhundert wesentliche Unterschiede in Alltag, Sozialordnung und Politik gibt. Sie scheinen für ein Verständnis des Umgangs mit Risiken sogar zentral zu sein, denn sie hatten Auswirkungen darauf, wie künftige Entwicklungen eingeschätzt wurden, was als riskant angesehen wurde, welche Handlungsmöglichkeiten bestanden, welche Institutionen mit dem Management von Risiken beauftragt waren und schließlich inwiefern Risiken und ihre Wahrnehmung ihrerseits gesellschaftliche Lernprozesse fördern oder auslösen konnten. Zentrale Unterschiede zwischen Vormoderne und Moderne sehen wir vor allem in der Weise, wie die Lebensgrundlage einer Gesellschaft erwirtschaftet wird und welche Folgen sich daraus für Ordnungsvorstellungen und Regularien ergeben. 9 Vorindustrielle (und damit vormoderne) Gesellschaften sind als „organic economies“ (Edward A. Wrigley) gekennzeichnet durch Knappheit. Diese Knappheit verlangt einen anderen Umgang mit wirtschaftlichen Gütern, als er in Wachstums- und vor allem in Konsumgesellschaften möglich ist. Knappheitsgesellschaften sind daher in der Regel geprägt durch ein enges Korsett an sozialen Normen. Diese sind darauf ausgerichtet, das Verhalten der Bevölkerung dergestalt zu regulieren, dass die Produktion von landwirtschaftlichen Erzeugnissen und die Versorgung der Bevölkerung weitgehend aufrechterhalten werden kann – wenn möglich, auch in Krisenzeiten. Daher sind vormoderne Gesellschaften oft durch robuste Werte- und Glaubenssysteme bestimmt, die soziale Normen auch in sozialen, wirtschaftlichen oder kulturellen Stresssituationen der Gesellschaft schützen und ihre Wirksamkeit erhalten. Diese Normen haben dabei häufig einen anti-emanzipatorischen, illiberalen Effekt – Knappheitsgesellschaften können sich eine Offenheit sozialer Normen oft nicht leisten. Ein bekanntes Beispiel für diese Regularien in den europäischen Knappheitsgesellschaften stellen die Heiratskonventionen der Vormoderne dar. 10 Sie knüpften nicht nur die Gründung einer Familie an das Ehebündnis, sondern machten dieses wiederum von der Voraussetzung einer eigenen wirtschaftlichen Stellung 9

Vgl. stellvertretend für die umfangreiche Literatur zu wirtschafts- und sozialgeschichtlichen Unterschieden zwischen Frühneuzeit und Moderne Eric John Hobsbawm: The age of revolution. Europe 1789–1848, London 1995, S. 19–32; Brüggemeier: Schranken (wie Anm. 4), S. 17–18 und S. 23–33; Edward Anthony Wrigley: Poverty, Progress, and Population. Cambridge 2004, S. 212–228.

10 Vgl. Jan de Vries: Population, in: Thomas A. Brady/Heiko Augustinus Oberman/James D. Tracy (Hg.): Handbook of European History, 1400–600. Late Middle Ages, Renaissance, and Reformation. Grand Rapids, Mich 1996, S. 1–50, hier S. 27–37.

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abhängig, um auf diese Weise Subsistenzkrisen zu unterbinden oder zumindest einzugrenzen. Die Knappheitsverhältnisse hatten jedoch zugleich einen sich selbst verstärkenden Effekt. Denn das Korsett sozialer Normen schränkte die soziale und kulturelle Dynamik ein, die für Lernprozesse erforderlich sind. Zudem erschweren die Knappheitsverhältnisse das Bereitstellen von Ressourcen für Wissenschaft und die Ausbildung von Institutionen, die einen effizienteren Umgang mit Knappheit hätten ermöglichen können. Um dafür ein konkretes Beispiel zu geben: In den Niederlanden existierte schon im 17. Jahrhundert eine in mancher Hinsicht moderne Form der Volkswirtschaft, die Wachstum generierte.11 Sie baute auf im europäischen Vergleich ‚modernen‘ Institutionen auf (etwa einem neuzeitlichen System der Staatsschuld, einem relativ strengen Schutz von Eigentum, relativer Transparenz von Entscheidungsprozessen und weitgehender religiöser Toleranz), ermöglichte aber zugleich die (proto-)wissenschaftliche Beschäftigung mit dem effizienten Umgang mit Gefahren und Risiken (etwa in Form eines wirkungsvolleren Sturmflutschutzes). In stärker von Knappheit geprägten Teilen Europas waren dagegen eher traditionelle Ordnungssysteme vorherrschend, die stärker normativ geprägt waren. Dazu gehörte beispielsweise die christliche Religion, deren Regeln und Traditionen zum einen das Leben in einer Knappheitsgesellschaft regulierten und damit zum Teil sicherten, zum anderen Umgang, Interpretation und Verarbeitung von Subsistenzkrisen ermöglichten. Die Frühe Neuzeit war davon gekennzeichnet, dass diese Regeln zunehmend durch Institutionen kontrolliert wurden, die im Zuge der Konfessionalisierung entstanden. Aber auch ohne eine solche Absicherung der Regeln war ihre Einhaltung in der typischen „Anwesenheitsgesellschaft“ (Rudolf Schlögl) der Vormoderne durch das große Ausmaß an sozialer Kontrolle gesichert.12 Als zentrale Ordnungsinstrumente von Risiken und Gefahren hatten mit dem Beginn der Moderne seit dem späten 18. Jahrhundert der Staat und das Recht die bisherigen Regularien ergänzt oder ersetzt – und die Anfragen an ihn zum Handeln stiegen im 19. und 20. Jahrhundert vermutlich ebenso wie sein eigener Anspruch zum Handeln.13 Der Übergang zur Wachstumsgesellschaft verlieh dem Staat als Regelungsinstitution neue Handlungskapazitäten. Selbst wenn er nicht einen umfassenden Ordnungsanspruch hatte oder haben sollte, so verfügte der Staat doch 11 Jan de Vries/A. M. van der Woude: The First Modern Economy. Success, Failure, and Perseverance of the Dutch Economy, 1500–1815. Cambridge 2007. 12 Rudolf Schlögl: Anwesende und Abwesende. Grundriss für eine Gesellschaftsgeschichte der Frühen Neuzeit. Konstanz 2014. 13 Wolfgang Reinhard: Geschichte der Staatsgewalt. Eine vergleichende Verfassungsgeschichte Europas von den Anfängen bis zur Gegenwart. München 1999.

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über beträchtliche Mittel, diesen weitgehend umzusetzen. Er war dazu in der Lage, weil er erstens über eine im historischen Vergleich sehr gut funktionierende Verwaltung verfügte. Zweitens entwickelten zunehmend Experten in seinem Namen Antworten für komplexe Probleme. Drittens verfügte seine Herrschaft in der Regel über ausreichende Akzeptanz, so dass seine Entscheidungen nicht blockiert wurden und er durch Steuererhebungssysteme ausreichend materielle Ressourcen aufbringen konnte. Damit schuf er zugleich die Voraussetzungen dafür, den zeitgenössischen Gerechtigkeitsvorstellungen entsprechen zu können 14 – was allerdings nicht ausschloss, dass im Zuge gesellschaftlicher Krisen zwischen Erwartungshaltungen in der Bevölkerung und Handlungskapazitäten des Staates und seines Regimes Diskrepanzen auftraten, welche die politische Stabilität gefährdeten. Der Abschied von der Knappheitsgesellschaft ließ also neue Handlungskapazitäten entstehen und konnte dazu beitragen, viele einst bedrohliche Gefahrensituationen zu entschärfen. Zugleich jedoch veränderte sich die Wahrnehmung von Risiken, so dass es sogar scheinbar mehr Risiken als in vormodernen Gesellschaften gab – aus so mancher Gefahr, der Menschen ausgesetzt waren und gegen die sich in einer Knappheitsgesellschaft im Kern wenig unternehmen ließ, konnte so ein Alltagsrisiko werden, gegen das Vorkehrungen getroffen oder dessen Folgen zumindest eingegrenzt werden konnten. Beide Entwicklungen – die gesteigerten Handlungskapazitäten und -erwartungen sowie die wahrgenommene Vermehrung der Risikosituationen15 – hatten jenen Anstieg rechtlicher Regulierung und technischer Entwicklung zur Folge, wie er sich mit dem Aufkommen des modernen Verwaltungsstaates in der industriellen Moderne beobachten lässt. 16 Insofern ist nachvollziehbar, weshalb sich gerade gegenwartsorientierte Wissenschaften wie die Soziologie oder die Politikwissenschaft auf die Moderne als Epoche der Risiken konzentriert haben. Umso mehr ist es die Aufgabe historisch arbeitender Wissenschaften, Wahrnehmung und Umgang mit Risiken auch der Vormoderne zu analysieren und auf Kontinuitäten und Brüche zu überprüfen. Dies ist auch deshalb angezeigt, da nicht davon auszugehen ist, dass es einen einzelnen, entscheidenden Schritt in die Moderne gegeben hätte. Gerade bei den

14 Wolfgang Reinhard: Staatsmacht und Staatskredit. Heidelberg 2017. Im Umgang mit Risiken durch den Staat wird daher zum Teil der Keim für den späteren Wohlfahrtsstaat gesehen. Vgl. Julia Moses: The First Modern Risk. Workplace Accidents and the Origins of European Social States [im Druck]. 15 Ähnlich Luhmann, der auf ein mit steigendem Wissen anwachsendes Risikobewusstsein hinweist: Niklas Luhmann: Soziologie des Risikos. Berlin 2003, S. 37. 16 Vgl. zum Entstehen des Verwaltungsstaats stellvertretend Lutz Raphael: Recht und Ordnung. Herrschaft durch Verwaltung im 19. Jahrhundert. Frankfurt a. M. 2000.

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dargestellten idealtypischen Unterschieden zwischen Knappheits- und Wachstumsgesellschaften sind Nuancierungen im Hinblick auf Wandlungs- und Übergangsprozesse vonnöten. So geht die Wirtschaftsgeschichte mittlerweile von einem langsamen Prozess bei der Herausbildung von Markt- und Wachstumsgesellschaften aus,17 so dass sich die Bedeutung und Wahrnehmung von Risiken für eine Gesellschaft graduell und dynamisch wandelte (und weiterhin wandelt). Zudem haben wir es mit säkularen Veränderungen zu tun, die sich in Europa zu unterschiedlichen Zeiten vollzogen, während gleichzeitig allerdings in der Vormoderne schon transnationale Übertragungsprozesse und Debatten zu beobachten sind. Die Pioniergesellschaft Großbritanniens im 18. Jahrhundert konnte früher als etwa das Alte Reich marktintegrative Strukturen und Wachstum entwickeln und dabei ein anderes Risikoverständnis herausbilden.18 Insofern haben wir es in dem vorliegenden Band tatsächlich wie im Titel beschrieben nicht mit der Analyse einer spezifischen Risikogesellschaft zu tun, sondern mit Risikogesellschaften und vielen unterschiedlichen Geschichten, die über und um sie herum erzählt werden.

DISZIPLINENGRENZEN Materialität und ihre Wahrnehmung – diese beiden Elemente bilden also die Grundlage für Risikodiskurse. Materialität hat einen signifikanten Einfluss auf die Qualität von Risiken, denn es macht einen Unterschied, ob jemand zu Fuß zum nächstgelegenen Haus geht oder ob er mit einem Auto mit hoher Geschwindigkeit auf einer kurvenreichen Landstraße fährt. Die hohe Fahrgeschwindigkeit, die Automobile im Gegensatz zu Pferdekutschen erreichen konnten und die damals nur von unzureichender Technik gebändigt wurden, war beispielsweise einer der wichtigsten Gründe für die emotional geführten Risikodebatten um den Autoverkehr in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts. Zugleich ist jedoch die Wahrnehmung dieser Risiken prägend für den Umgang mit ihnen. Dies gilt auch für die weiteren Konsequenzen solcher Risikodiskurse für die rechtliche Ordnung, die medizinische Forschung, die Investitionen in Sicherheitsforschung usw. Und

17 Vgl. zu den Wachstumszahlen beispielsweise: Stephen Broadberry/Kevin H. O’Rourke: The Cambridge Economic History of Modern Europe. Bd. 1: 1700–1850. Cambrige 2010, S. 2f. 18 Vgl. aus der Masse an Literatur dazu Joel Mokyr: The Enlightened Economy. An Economic History of Britain 1700–1850. The New Economic History of Britain. New Haven 2009 mit einer besonderen Betonung einer pragmatischen Ingenieurs- und Wissenskultur als Voraussetzung zur Bildung marktintegrierend wirkender Strukturen.

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schließlich findet auch die Wahrnehmung von Risiken nicht in einem luftleeren Raum statt, sondern ist in einem Kontext kultureller und sozialer Praktiken und Strukturen eingebunden. Materialität und Wahrnehmung stehen also bei der Ausformung von Risikodiskursen in einem überaus komplexen Abhängigkeitsverhältnis und entscheiden darüber, ab wann etwas als Gefahr, als Risiko oder nur als ein hinzunehmendes Problem wahrgenommen wird. Aus diesen Gründen verspicht ein interdisziplinärer Zugang durch Literaturund Geschichtswissenschaft vertiefte Erkenntnisse über Wahrnehmungsinstanzen und Verarbeitungsprozesse von Gesellschaften in Bezug auf die verschiedenen Facetten, die Risiken annehmen können – sei es in der Form von als potentiell gefährlich eingestuften natürlichen Phänomenen, Veränderungen in sozialen Alltagsvollzügen, in der Wirtschaft und Kultur oder im Hinblick auf technische Innovationen. Der Literatur kommt hier die Rolle einer reflektorischen, visionären und warnenden Instanz zu. Über die Beschreibung, die Analyse und die Interpretation von Gefahren gewinnen diese für eine Gesellschaft an Bedeutung und transformieren sich mit der diskutierten Einflussnahme mittels menschlichen Handelns langsam zu einem Risiko. Literatur ist der gesellschaftliche Ort, an dem relativ frei, fiktional und – teilweise mit seismographischem Gespür für Entwicklungen – früh Risikodiskurse geführt werden können. Allerdings stellt sich schnell die Frage nach der Rückkopplung an die Welt „da draußen“, nach der Relevanz und dem Einfluss fiktionaler Texte auf gesamtgesellschaftliche Aushandlungsprozesse. Die literaturwissenschaftlich – bisweilen tendenziell werkimmanente – philologische und kulturwissenschaftliche Interpretation von ‚Text‘ ist allein nicht ausreichend, um die Frage nach der diskursiven Konstruktion von Risiko zu beantworten. Die notwendige Kontextualisierung mit historischen Ereignissen, Vorgängen und Debatten gelingt mit den Methoden der Geschichtswissenschaft. Gemeinsam kann so das Maß ausgemacht werden, in welchem Umfang Risikodiskurse historisch, ästhetisch, kulturell oder sozial geprägt war und ist. Die Kooperation und gegenseitige Rezeption von Literatur- und Geschichtswissenschaft verspricht auch, über die bisher überwiegend expertendominierte und begriffsgeleitete Risikoanalyse hinauszugehen. Nicht nur Ingenieurinnen und Ingenieure, eine verwaltungstechnische Elite oder Soziologinnen und Soziologen führen Risikodiskurse, sondern auch die übrigen Akteure des historischen Risikogeschehens, Unternehmerinnen und Unternehmer, Angestellte, Arbeiterinnen und Arbeiter, Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, Studierende, Soldatinnen und Soldaten und Offiziere sowie nicht zuletzt Literaturschaffende und ihre Leserinnen und Leser. Dieser Komplexität der Risikodiskurse lässt sich aus geschichtswissenschaftlicher

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Sicht mit Hilfe der Alltagsgeschichte annähern – und mit Hilfe der Literaturwissenschaft, die Risikodiskurse jenseits des Expertentums ebenfalls zu ihrem Gegenstand machen kann. In der Literaturgeschichte waren es nicht selten Risiken, die eine Erzählung, vielleicht sogar das Erzählen überhaupt, motiviert haben (siehe den Beitrag von Holdenried in diesem Band). Literarische Texte können als Seismographen für gesellschaftliche Debatten und Ängste und den Umgang mit Risiken gelesen werden, tragen aber zugleich selbst zur Auseinandersetzung mit Risiken bei: Literatur ist immer auch Teil des Risikodiskurses und kommentiert diesen durch ihre Inhalte.

FORSCHUNGSKONTEXT Eine solche vielseitige Betrachtungsweise der verschiedenen Risikogeschichten stellte in der gesellschaftswissenschaftlichen Risikoforschung lange Zeit nicht den Mainstream dar. Dies lag nicht zuletzt daran, dass gesellschaftswissenschaftliche Risikoforschung traditionell in Wissenschaftszweigen beheimatet war, deren Aufgabe gerade nicht Nuancierung, sondern Modellbildung und Komplexitätsreduktion war. Zugleich hat die Eindeutigkeit und Klarheit der Analyseangebote beispielsweise aus der Soziologie auch zu deren Verbreitung und Erfolg beigetragen. Ebenso wichtig mag gewesen sein, dass insbesondere Ulrich Beck 1986 mit seiner „Risikogesellschaft“ das richtige Buch zur richtigen Zeit geschrieben zu haben schien.19 Das Buch kam nicht nur unmittelbar nach der Reaktorkatastrophe von Tschernobyl 1986 auf den Markt, deren Verlauf Becks These der nicht-begrenzbaren Risiken in drastischer Weise zu belegen schien. Es konnte auch anknüpfen an zahlreiche zeitgenössische Risikodebatten, welche die 1980er Jahre geradezu zu einem Jahrzehnt der Angst machten: Waldsterben, Volkszählung, Aids und die atomare Bedrohung waren nur einige der Phänomene, die Ulrich Becks Lesart der Gesellschaft des späten 20. Jahrhunderts ungemein plausibel erscheinen ließen. 20 In dieser Sichtweise hatte die Industriegesellschaft in den späten 1980er Jahren ein Stadium erreicht, in dem die Modernisierung negative Effekte auslöste, die nicht mehr auf einzelne gesellschaftliche Schichten begrenzt waren, sondern die Gesellschaft als Ganzes bedrohte, so dass diese zu einer Risikogesellschaft gewor-

19 Beck: Risikogesellschaft (wie Anm. 3). 20 Vgl. zum historischen Kontext der 1980er Jahre Ulrich Herbert: Geschichte Deutschlands im 20. Jahrhundert. München 2014, S. 996–1009; Brüggemeier: Schranken (wie Anm. 4), S. 349f.

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den war. Becks Analyse wirkte inspirierend auf Literatur- und Geschichtswissenschaft, auch wenn gerade unter Historikerinnen und Historikern die Zweifel an seinen klaren Unterscheidungen, Befunden und chronologischen Zuordnungen beträchtlich waren. Mit den etwas späteren Arbeiten Anthony Giddens’ und Niklas Luhmanns verbindet ihn die Überlegung, dass Risiken ein spezielles Phänomen moderner Gesellschaften seien.21 Beck sah in den 1970er und 1980er Jahren sogar einen neuen Typus einer Gesellschaft entstehen, die von den durch die industrielle Moderne produzierten Risiken so fundamental geprägt war, dass in ihr alte Trennlinien (wie die Unterscheidungen entlang sozialer Ungleichheiten) ihre Relevanz eingebüßt hatten: So grenzenlos, überwältigend und in negativer Weise sozial gleichförmig schienen die Risiken der 1980er Jahre, dass Klassenunterschiede demgegenüber an Bedeutung verloren. Giddens zeichnete ein etwas weniger betrübliches Bild und machte die Modernität von Risikodenken vor allem an seiner Zukunftsorientierung fest, als deren Ergebnis Experten planerisch tätig wurden und spätere gesellschaftliche und politische Entwicklungen kolonisierten,22 also Pfadabhängigkeiten schufen, indem sie weitreichende, oft riskante Einschätzungen vornahmen und Entscheidungen beeinflussten, welche die Zukunft unwiderruflich prägen sollten. Besonders einflussreich auf die Begriffsbildung in den Sozialwissenschaften wirkten die systemtheoretischen Überlegungen Niklas Luhmanns (wohingegen in der Rechtswissenschaft und den Naturwissenschaften weiterhin auch andere Risikodefinitionen gelten).23 Der Bielefelder Soziologe sah Risiken als ein Ergebnis menschlicher Entscheidungen an, welche die Zukunft beeinflussen und als solche auch wahrgenommen werden. Ein später entstehender Schaden muss nach Luhmann daher auf eine zuvor getroffene Entscheidung zugerechnet werden, um als Ergebnis eines Risikos angesehen zu werden. Luhmann trennt auf diese Weise Risiken von anderen von außen kommenden Gefahren, die

21 In diese Richtung geht auch, wenn auch differenziert und abgeschwächt, Wolfgang Bonß: Vom Risiko. Unsicherheit und Ungewissheit in der Moderne. Hamburg 1995. 22 Anthony Giddens: Runaway World. Lecture 2: Risk. 1999, URL: ; Anthony Giddens: Konsequenzen der Moderne. Frankfurt a. M. 1995; Ulrich Beck u.a. (Hg.): Reflexive Modernisierung. Eine Kontroverse. Frankfurt a. M. 1996. 23 Zum Folgenden: Luhmann: Soziologie (wie Anm. 15); Niklas Luhmann: Die Moral des Risikos und das Risiko der Moral, in: Niklas Luhmann/Detlef Horster (Hg.): Die Moral der Gesellschaft. 4. Aufl., Frankfurt am Main 2016, S. 362–374; Niklas Luhmann: Verständigung über Risiken und Gefahren, in: Luhmann/Horster: Moral (wie Anm. 23), S. 348–361.

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natürlichen oder auch menschlichen Ursprungs sein können. Im letzteren Fall gehen Menschen durch ihre Entscheidungen Risiken ein, die andere Menschen betreffen. Letztere bleiben damit ohne Einfluss auf diese von anderen Menschen verursachten Gefahren – für Luhmann eines der zentralen Gerechtigkeitsprobleme gerade in technisierten Gesellschaften. In der Geschichtswissenschaft wurden die Überlegungen in den Sozialwissenschaften zunächst eher indirekt aufgegriffen, indem seit Mitte der 1980er Jahre zahlreiche Forschungen zu Themen erschienen, die sich im weitesten Sinn mit Risiken beschäftigten und damit die spätere geschichtswissenschaftliche Auseinandersetzung mit diesem Themenfeld vorbereiteten.24 Dies gilt insbesondere für die Umweltgeschichte, die Technikgeschichte sowie die Sozialgeschichte. Besonders einflussreich waren dabei in Deutschland die Arbeiten von Wolfgang Schivelbusch, 25 Joachim Radkau, 26 Franz-Josef Brüggemeier, 27 Kurt Möser28 und Frank Uekötter29, um nur einige Vertreter zu nennen. In den angelsächsischen Ländern widmeten sich insbesondere Verkehrs- und Mobilitätshistoriker in zunehmendem Maße den durch neue Technologien und Alltagsroutinen hervor-

24 Die umfangreiche sozial- und umweltgeschichtliche Literatur lässt sich hier nicht im Einzelnen aufführen. Vgl. für ausführlichere Nachweise Itzen/Müller: Risk (wie Anm. 2), S. 10–14; Arwen P. Mohun: Constructing the History of Risk. Foundations, Tools, and Reasons Why, in: Historical Social Research 41 (2016), S. 30–47, hier S. 34–39; sowie allgemein Melanie Arndt: Umweltgeschichte. Version: 3.0, URL: < https://docupedia.de/zg/Arndt_umweltgeschichte_v3_de_2015> mit weiteren Nachweisen. 25 Wolfgang Schivelbusch: Geschichte der Eisenbahnreise. Zur Industrialisierung von Raum und Zeit im 19. Jahrhundert. Frankfurt am Main 2000. 26 Joachim Radkau: Aufstieg und Krise der deutschen Atomwirtschaft. 1945–1975: Verdrängte Alternativen in der Kerntechnik und der Ursprung der nuklearen Kontroverse. Reinbek bei Hamburg 1983. 27 Franz-Josef Brüggemeier: Das unendliche Meer der Lüfte. Luftverschmutzung, Industrialisierung und Risikodebatten im 19. Jahrhundert. Essen 1996. 28 Kurt Möser: Fahren und Fliegen in Frieden und Krieg. Kulturen individueller Mobilitätsmaschinen 1880–1930. Heidelberg 2009. 29 Frank Uekötter: Von der Rauchplage zur ökologischen Revolution. Eine Geschichte der Luftverschmutzung in Deutschland und den USA 1880–1970. Essen 2003.

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gerufenen Risiken. Dabei bildeten die Pionierarbeiten Bill Luckins einen Ausgangspunkt für eine intensive Beschäftigung mit dem Phänomen des Unfalls in der Moderne. 30 Wesentlicher Fixpunkt dieser Untersuchungen war der gesellschaftliche Umbruch durch die Industrielle Revolution, der neue und risikobehaftete Alltags- und Berufsroutinen sowie Umweltveränderungen hervorbrachte, für die noch kein erprobtes Regelungssystem existierte und in denen sich die durch die wirtschaftliche Dynamik geschaffenen neuen sozialen Ungleichheiten widerspiegelten. Kennzeichen dieser frühen Arbeiten war, dass sie Themen einer Risikogeschichte bearbeiteten, ohne sich explizit mit Theoremen der soziologischen Risikoforschung auseinanderzusetzen. Zugleich schufen sie in der Vielzahl der bearbeiteten Aspekte eine kritische Masse für ein allgemeines Interesse an der Risikogeschichte. Ein Erkenntnisinteresse vieler dieser frühen Untersuchungen zu Phänomenen der Risikobearbeitung in der industriellen Moderne war bereits die Frage, wie Zeitgenossen als riskant empfundene Veränderungen wahrnahmen, diskutierten und in ihre Alltagswelt integrierten. Seit Mitte der 1990er Jahre erhielten solche Fragestellungen unter dem Einfluss des cultural turn einen neuen Schub. Dies galt

30 Roger Cooter/Bill Luckin (Hg.): Accidents in History. Injuries, Fatalities, and Social Relations. Amsterdam 1997; Bill Luckin: Accidents, Disasters and Cities, in: Urban History 20 (1993), S. 177–190; Bill Luckin: War on the Roads. Traffic Accidents and Social Tension in Britain, 1939–1945, in: Cooter/Luckin: Accidents in History (wie Anm. 30), S. 234–254; Bill Luckin: A Kind of Consensus on the Roads? Drink Driving Policy in Britain 1945–1970, in: Twentieth Century British History (2010), S. 1–26; Bill Luckin/David Sheen: Defining Early Modern Automobility. The Road Traffic Accident Crisis in Manchester, 1939–45, in: Cultural and Social History 6 (2009), S. 211– 230. Vgl. als frühen und sehr einflussreichen konzeptionellen Aufriss: Karl Figlio: What is an Accident?, in: Paul Weindling (Hg.): The Social History of Occupational Health. London 1985, S. 180–205. Jüngst noch zu Arbeitsunfällen: Julia Moses: Contesting Risk: Specialist Knowledge and Workplace Accidents in Britain, Germany, and Italy, 1870–1920, in: Kerstin Brückweh u.a. (Hg.): Engineering Society. The Role of the Human and Social Sciences in Modern Societies, 1880–1980. Basingstoke 2012, S. 59–78. Aus der amerikanischen Forschung als Beispiele: Mark Aldrich: Safety first. Technology, Labor, and Business in the Building of American Work Safety, 1870– 1939. Baltimore 1997; Mark Aldrich: Death Rode the Rails. American Railroad Accidents and Safety, 1828–1965. Baltimore 2006; Christopher C. Sellers/Joseph Melling (Hg.): Dangerous Trade. Histories of Industrial Hazard Across a Globalizing World. Philadelphia 2012.

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etwa für das Interesse daran, wie Risiken durch Wahrnehmung und gesellschaftliche Reaktionen ihrerseits zu einem wichtigen gesellschaftsgestaltenden Phänomen wurden. Dies lenkte den Blick auf Vorsorge- und Präventionsversuche sowie Prozesse der Versicherheitlichung,31 ein Forschungsgebiet, das sich mit Forschungen zum Social Engineering im 20. Jahrhundert verknüpfte. Dementsprechend war und ist ein wichtiger Gegenstand dieser Untersuchungen die Rolle technischer und akademischer Eliten, die nach Lösungen von Risikokonstellationen suchten und bei dieser Suche neue Alltagsroutinen erfanden und damit die Lebenswelt der Industriemoderne tiefgreifend veränderten. Das Expertentum war als Forschungsgegenstand geboren,32 und dieser prägt die Beschäftigung mit Risiken noch heute in der Geschichtswissenschaft ganz fundamental – nicht zuletzt, da Experten eine Vielzahl leicht zugänglicher Quellen produziert haben. Dieses Interesse ließ sich zudem verbinden mit Konzepten von Resilienz und Vulnerabilität, die ursprünglich aus der Psychologie und Ökosystemforschung stammten. 33 Diese erfreuten sich in den vergangenen Jahren eines großen Interesses vor allem in der Umwelt-

31 Vgl. stellvertetend als größere Untersuchung Martin Lengwiler: Risikopolitik im Sozialstaat. Die schweizerische Unfallversicherung 1870–1970. Köln 2006 sowie zuletzt als systematischer Forschungsüberblick Eckart Conze: Geschichte der Sicherheit. Entwicklung – Themen – Perspektiven. Göttingen 2018 mit weiteren ausführlichen Nachweisen zur jüngsten Forschungsliteratur zu Risiko- und Sicherheitsdebatten. 32 Lutz Raphael: Die Verwissenschaftlichung des Sozialen als methodische und konzeptionelle Herausforderung für eine Sozialgeschichte des 20. Jahrhunderts, in: Geschichte und Gesellschaft 22 (1996) 2, S. 165–193; Thomas Etzemüller (Hg.): Die Ordnung der Moderne. Social engineering im 20. Jahrhundert. Bielefeld 2009. Kerstin Brückweh u.a. (Hg.): Engineering Society. The Role of the Human and Social Sciences in Modern Societies, 1880–1980. Basingstoke 2012. 33 Jack Block: An Experimental Investigation of the Construct of WGO-control. Unpublished doctoral dissertation, Stanford University, Stanford 1950; W. R. Beardslee: The Role of Self-understanding in Resilient Individuals. The Development of a Perspective, in: American Journal of Orthopsychiatry 59 (1989), S. 266–278; Lance Gunderson u.a.: Resilience, in: R. E. Munn/Michael C. MacCracken/John S. Perry (Hg.): The Earth System. Physical and Chemical Dimensions of Global Environmental Change. Encyclopedia of Global Environmental Change, Bd. 1. Chichester 2002; Sabine Blum/Stefan Kaufmann: Governing (In)Security. The Rise of Resilience, in: HansHelmuth Gander u.a. (Hg.): Resilienz in der offenen Gesellschaft. Symposium des Centre for Security and Society. Sicherheit und Gesellschaft, Bd. 1. Baden-Baden 2012, S. 235–257.

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geschichte. Letztlich ging es dabei oft um die Frage, wie lern- und anpassungsfähig Gesellschaften sind34 – mithin also auch darum, wie gut sie mit Risiken umgehen können, eine Frage, die gerade im Hinblick auf eine in diesem Band angestrebte epochenübergreifende Perspektive relevant ist. Bei der Auseinandersetzung mit der Rolle der Experten kristallisierten sich zwei große Forschungsgebiete heraus: das Feld der Gesundheit, als eines der Themen, das gerade am Ende des 19. und in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts Risikodebatten hervorbrachte dadurch, dass medizinnahen Experten im Zeitalter des Biologismus hohe Aufmerksamkeit sicher war; sowie die wachsende Rolle des Staates, der über die Bearbeitung von risikobehafteten Feldern und damit mit der Herstellung von Sicherheit nicht nur Zugang zu Legitimationsquellen für Verwaltungshandeln erhielt, sondern sich zudem einer sich verschärfenden Materialität der Probleme sowie wachsenden gesellschaftlichen Erwartungshaltungen ausgesetzt sah.35 Mit anderen Worten: Der Staat musste auf Forderungen aus der Bevölkerung reagieren. Dementsprechend hat sich zuletzt das Interesse der Geschichtswissenschaft wieder stärker dem Alltag und der Wahrnehmung von Risiken zugewandt – sie hat damit begonnen, wieder eine Geschichte jenseits der Rolle von Experten zu schreiben.36 Beide Entwicklungen – sowohl die Konzentration auf die Folgen der Industrialisierung als auch die zunehmende Beschäftigung mit Experten als neuen regulierenden Eliten – konnten anknüpfen an die oben erwähnten Überlegungen aus der Soziologie, verstärkten dabei aber zugleich die Konzentration auf die Moderne als der Epoche, die von Risiken in besonderer Weise geprägt war. Dies gilt auch

34 Vgl. stellvertretend Gerrit Jasper Schenk: Learning from history? Chances, Problems and Limits of Learning from Historical Natural Disasters, in: Fred Krüger (Hg.): Cultures and Disasters. Understanding Cultural Framings in Disaster Risk Reduction. London 2015, S. 72–87. 35 Vgl. zum Beispiel für Forschungen aus dem angelsächsischen Kontext Tom Crook/Mike Esbester (Hg.): Governing Risks in Modern Britain. Danger, Safety and Accidents, c. 1800–2000. London 2016; William G. Rothstein: Public Health and the Risk Factor: A History of an Uneven Medical Revolution. Rochester 2003; Dan Bouk, How our Days Became Numbered. Risk and the Rise of the Statistical Individual. Chicago 2015; Beispiele für Forschungen aus Deutschland: Sylvelyn Hähner-Rombach (Hg.): Geschichte der Prävention. Akteure, Praktiken, Instrumente. Stuttgart 2015; Malte Thießen: Immunisierte Gesellschaft. Impfen in Deutschland im 19. und 20. Jahrhundert. Göttingen 2017. 36 Malte Thießen/Nicolai Hannig: Vorsorgen in der Moderne. Akteure, Räume und Praktiken. Berlin 2017; Hähner-Rombach: Prävention (wie Anm. 35).

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für die meisten der jüngeren Versuche in der Geschichtswissenschaft, den Idealtypus des Risikos als analytisches Konzept zu verwenden. Selbst in der umfassend angelegten Risikogeschichte aus der Feder von Arwen Mohun, dem ersten Versuch einer historischen Synthese, liegt der Schwerpunkt der Untersuchung eindeutig auf der Moderne.37 In Deutschland konzentrieren sich die Arbeiten zu Risiken bisher ebenfalls überwiegend auf das 19. und 20. Jahrhundert. Dabei machten die entsprechenden Untersuchungen jedoch zugleich deutlich, dass sie das dichotomische Beck’sche Modell ablehnten und Risikodebatten nicht als ein Phänomen betrachteten, das nur in bestimmten Epochen zu beobachten sei. Dementsprechend zeigten in den vergangenen Jahren Untersuchungen im Rahmen der Frühneuzeitforschung und zuletzt auch der Mediävistik, dass die Vormoderne nicht als risikolos im Sinne Luhmanns betrachtet werden kann. Untersuchungen von Umwelthistorikern wie Cornel Zwierlein wiesen darauf hin, dass Risikokonzepte auch in der Frühen Neuzeit schon wirksam waren.38 Ebenso machen die Ergebnisse eines kürzlich von Tom Crook und Mike Esbester herausgegebenen Sammelbandes zu Governing Risks in der Moderne deutlich, dass Risikowahrnehmungen und -debatten oft deutlich früher als erst im 20. Jahrhundert zu entdecken sind.39 Aus der geringeren Rolle von Wissenschaft und Expertentum in vormodernen Risikodebatten sollte nicht gefolgert werden, dass es schlechterdings kein Risikoverständnis gab, sondern lediglich, dass die Wahrnehmung und Regulierung von Risiken nach anderen Mustern vonstattenging. Es ist daher nicht anachronistisch anzunehmen, dass schon vormoderne Gesellschaften über Risiken nachdachten. Im Gegensatz zu der Geschichtswissenschaft hat die Literaturwissenschaft sich weit weniger systematisch mit der Thematik des Risikos auseinandergesetzt. Jedoch ist innerhalb des vergangenen Jahrzehnts ein gesteigertes Interesse an Fragen festzustellen, die im weitesten Sinne Risikodiskurse und -narrative betreffen. Dies ist nicht zuletzt auch dem Einfluss von Becks Studie zuzuschreiben (mit einer nicht unüblichen disziplinschwellenüberschreitenden Verspätung) und muss vor allem als Reaktion auf die Anforderungen der globalisierten Welt gesehen werden, die ihre Spuren in der zeitgenössischen Literatur hinterlässt. In unserer Verwendung des generischen Singulars „Literaturwissenschaft“ sind ausdrücklich literatur- wie kulturwissenschaftlich ausgerichtete Studien eingeschlossen, wobei die

37 Mohun: Risk (wie Anm. 4). 38 Zwierlein: Prometheus (Anm. 4). 39 Crook/Esbester: Governing Risks (Anm. 35) und die sich darin befindlichen Beiträge mit weiteren Nachweisen.

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Trennlinie oftmals sehr unscharf ist. Dass der Risikobegriff gern in metaphorischer Bedeutung Verwendung findet – das Risiko des Lesens o.ä. – sei hier nur erwähnt, da es sich dabei in der Regel nicht um eine Auseinandersetzung mit Risiko oder Risiken als thematischem Fokus handelt.40 Eine Wegmarke in der literaturwissenschaftlichen Risikoforschung – wenn man denn diese als solche tentativ identifizieren möchte – setzte das von der Deutschen Forschungsgemeinschaft beauftragte internationale Villa Vigoni-Symposium 2011 mit dem programmatischen Titel „Literatur als Wagnis“ (engl. „Literature as Risk“).41 Der in doppelter Hinsicht gewichtige Sammelband, der die Ergebnisse des Symposiums zusammenfasst, setzt mit ‚Wagnis‘ dem Risiko einen positiv besetzten Begriff entgegen. Die Beiträge stecken das Feld zwischen Risiko als Metapher und als Gegenstand der Analyse ab, wobei die Grenzen fließend sein können: Indem sich die Literatur mit risikoaffinen Themen beschäftigt – beispielsweise mit ökologischen Fragen oder globaler Sicherheit –, wird sie selbst zum Medium des Risikodiskurses und damit zum Träger von Risiken, was ihre Wirkungsmacht und mögliche politische Implikationen betrifft. Die begriffliche Unschärfe oder aber Offenheit, die von Seiten der Literaturwissenschaft an Risikodiskurse und ihre Analyse herangetragen wird, kann ein Hindernis für den interdisziplinären Austausch darstellen. So finden sich in dem 1998 erschienenen Sammelband Interdisziplinäre Risikoforschung zwar die Kulturanthropologie, Philosophie und Theologie, nicht aber die Philologien.42 Inzwischen gibt es aber eine rege Diskussion darüber, welche Rolle Literatur im Kontext von Risikokommunikation spielt beziehungsweise spielen kann. ‚Krise‘ fungiert bisweilen als Obergriff für ein Spektrum von Erzählkontexten, die von Naturkatastrophen bis zu Nuklearrisiken reichen.43 Die in literarischen Texten stattfindende Verschränkung von historischer Kontingenz mit individueller Erfahrung

40 Siehe exemplarisch Robert P. Waxler: The Risk of Reading. How Literature Helps Us to Understand Ourselves and the World. London/New York 2014; Renate Schlesier/Ulrike Zellmann (Hg.): Ritual als provoziertes Risiko. Würzburg 2009. 41 Monika Schmitz-Emans (Hg.): Literatur als Wagnis/Literature as a Risk. Berlin/Boston 2013. 42 Gerhard Banse/Gotthard Bechtmann: Interdisziplinäre Risikoforschung. Eine Bibliographie. Opladen 1998. 43 Siehe Uta Fenske/Walburga Hülk/Gregor Schuhen (Hg.): Die Krise als Erzählung. Transdisziplinäre Perspektiven auf ein Narrativ der Moderne. Bielefeld 2013; darin zum Beispiel Maren Lickhardt/Niels Werber: Pest, Atomkrieg, Klimawandel: ApokalypseVisionen und Krisen-Stimmungen, S. 345–357.

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bietet hier reichhaltiges Material, insbesondere in apokalyptischen und dystopischen Erzählkontexten, da in ihnen Risikoszenarien und ihre Folgen gleichsam ausgemalt werden. Dabei ist vor allem die narrative Dimension in der Konstruktion wie der Kommunikation von Risiken signifikant. Diese kann sich in ihrer Projizierung von negativen Szenarien Strategien der Fiktionalisierung bedienen, die wiederum in faktualen Kontexten entscheidend sein können. Die Literaturwissenschaft liefert hier einen Interpretationsrahmen, um diese Schnittstelle der Narrativierung von Risiken und ihren Folgen in den Blick zu nehmen. 44 In unmittelbarem Rückgriff auf Becks These der ‚Risikogesellschaft‘ hat vor allem Ursula K. Heise die Verantwortung der Literatur- und Kulturwissenschaft in ihrer Beschäftigung mit Risiken in der modernen Gesellschaft stark gemacht. 45 Heise sieht in Becks Betonung der symbolischen Verortung von Risiken, die über Visualisierungen und Massenmedien verbreitet werden, einen direkten Aufruf, sich gerade in den kultur- und literaturwissenschaftlichen Fächern mit der Untersuchung von Risiken und den Prozessen zu befassen, die ihre Kommunikation erst ermöglichen.46 Der Fokus liegt dabei auf den Herausforderungen der Moderne beziehungsweise der Postmoderne: 9/11, Finanzkrise, Posthumanismus, technischer Fortschritt, globale Überproduktion von Gütern und zugleich Armut und Hunger, Klimawandel, die nukleare Bedrohung.47 Im Zuge der intensiven Beschäftigung mit den Risiken der modernen Gesellschaft haben sich eine Reihe von neueren Theorien herausgebildet, in deren Mittelpunkt letztlich die kritische Analyse von Risiken und ihren Folgen in einem bestimmten Bereich steht. Zu nennen sind hier vor allem der Ecocriticism, der sich

44 Siehe dazu Stephanie Catani: Risikonarrative. Von der Cultural Theory (of Risk) zur Relevanz literaturwissenschaftlicher und literarischer Risikodiskurse, in: SchmitzEmans: Literatur als Wagnis (wie Anm. 41), S. 159–189. 45 Siehe aber mit vormodernem Fokus Susanne Reichlin: Risiko und aventiure. Die Faszination für das ungesicherte Wagnis im historischen Wandel, in: Benjamin Scheller (Hg.): Kulturen des Risikos im Europa des Mittelalters und der Frühen Neuzeit. München, Schriften des Historischen Kollegs [im Druck]. 46 Ursula K. Heise: Sense of Place and Sense of Planet. The Environmental Imagination of the Global. Oxford 2008, S. 12. 47 Siehe zum Beispiel Paul Crosthwaite (Hg.): Criticism, Crisis, and Contemporary Narrative. Textual Horizons in an Age of Global Risks. New York 2011 (auch hier in expliziter Auseinandersetzung mit Beck) sowie Evi Zemanek: Unkalkulierbare Risiken und ihre Nebenwirkungen. Zu literarischen Reaktionen auf ökologische Transformationen und den Chancen des Ecocriticism, in: Monika Schmitz-Emans: Literatur als Wagnis (wie Anm. 41), S. 279–302.

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mit Umweltrisiken und den Herausforderungen des Anthropozän beschäftigt, aber auch Cybercriticism, Posthumanismus und New Economic Criticism.48 Bezogen auf die Rezeption literarischer Texte führt dies zu einer neuen Verantwortlichkeit des Publikums, das im Rezeptionsprozess sowohl den gesellschaftlichen Status quo reflektieren als auch möglicherweise zu politischem Handeln angeregt werden kann.49 Insgesamt zeigen die Debatten, dass ‚Risiko‘, weil es primär narrativ kommuniziert wird, an der Schnittstelle zwischen Analysekategorie und Untersuchungsgegenstand von dem interdisziplinären Austausch zwischen Geschichtsund Literaturwissenschaft nur profitieren kann.

DIE BEITRÄGE Max Lieberman legt in seinem Beitrag „Risikowahrnehmung im Mittelalter. Ein Versuch in kognitiver Geschichtswissenschaft“ das Instrumentarium der kognitiven Verhaltenspsychologie an die hochmittelalterlichen Gesta regum Anglorum an, um die Handlungsoptionen König Æthelreds II. von England während der dänischen Invasion von 1013 zu analysieren. Er kommt zu dem Schluss, dass Æthelreds trotz seiner sehr aussichtslosen Lage ausgesprochen risiko- und verlustavers agierte, da er den als sicher wahrgenommenen Ansehensverlust durch eine Flucht unbedingt vermeiden wollte. Auch wenn er mit dem Verbleib in England Leib und Leben in Gefahr brachte, bestimmten die für eine Wiedererlangung der Königsherrschaft unabdingbaren Aspekte Ehre und Würde seine Risikoabwägung. Fritz Dross fragt medizinhistorisch nach Krankheiten als Risiko für Gesundheit und Leben („Un/Reinheit und Aussatz. Perspektiven auf ein mehrdimensionales Risikoformat der Vormoderne“). Er arbeitet dabei die Unterschiede zwischen vormodernem und modernem Verständnis – etwa von Ansteckung – heraus

48 Siehe zum Beispiel Lawrence Buell: The Future of Environmental Criticism: Environmental Crisis and Literary Imagination. Oxford 2005; Martha Woodmansee/Mark Osteen (Hg.): The New Economic Criticism. Studies at the Intersection of Literature and Economics. London 1999. 49 Molly Wallace: Risk Criticism. Precautionary Reading in an Age of Environmental Uncertainty. Ann Arbor 2016. In narratologischen Arbeiten firmieren solche Fragen oftmals unter dem Label „ethics of narrative“; siehe zum Beispiel Hanna Meretoja: The Ethics of Storytelling. Narrative Hermeneutics, History, and the Possible. New York/Oxford 2018.

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und zeigt, wie verschieden Risiken für die Gesundheit im Zeitablauf bewertet wurden. Während die Moderne um die Ursache-Wirkung-Zusammenhänge von Epidemien weiß und entsprechend klinisch reagieren kann, spielten in der Vormoderne metaphysische Überlegungen in den Umgang mit Kranken und Krankeit mit hinein. Am Beispiel der „purtzel“-Seuche, die sich um 1400 in Nürnberg ereignete, zeigt Dross, dass unter Beachtung des Seelenheils das Meiden von Aussätzigen als risikoreicher betrachtet wurde als ein ritualisierter Umgang mit ihnen. Mit dem Spannungsfeld aus Profitmaximierung und Risikominimierung in der Landwirtschaft am Übergang von Vormoderne zu Moderne setzt sich Tobias Huff auseinander („‚Besser wenig als nichts.‘ Risiko in der Vormoderne am Beispiel der Landwirtschaft“). Anhand der Anbauempfehlungen in der Hausväterund ökonomischer Spezialliteratur weist er eine zunehmende Offenheit gegenüber als riskant erachteten Anbauversuchen auf. Eine unabdingbare Voraussetzung dafür war eine als zunehmend unvorherbestimmt wahrgenommene, von eigenen Entscheidungen im Heute determinierte Zukunft. Der von bäuerlicher Seite teilweise formulierte Widerspruch gegen eine als Monetarisierung empfundene Veränderung in Richtung einer stärker auf den Markt bezogenen Produktionsweise folgt dabei nicht einfach traditionellen Reflexen, sondern differenzierten Reflexionen über Chancen und Risiken einer stärker auf Gewinn ausgerichteten Landwirtschaft. Die Beiträger der Debatte, die dem bäuerlichen Lebensweisen nahestanden oder diesem entstammten, beschrieben die Gefahren einer Marktabhängigkeit oder bei zu starker Spezialisierung das Risiko eines Bankrotts. Ästhetische und pragmatische Fragestellungen in Hinblick auf Risiken liegen oftmals nah beieinander, ja bedingen sich sogar, wie Kerstin Fest am Beispiel der Debatten über die Architektur von Theatern im frühen 19. Jahrhundert in England zeigt („Sichere Muße. Theaterarchitektur und Risiko im frühen 19. Jahrhundert“). Die Ästhetik des Raumes ist dabei untrennbar verschränkt mit Aspekten der Sicherheit: Wenn die Theaterarchitektur Risiken birgt, beispielsweise durch Einsturz oder Feuer (in London ein häufigeres Problem), tritt das Erleben der Kunst hinter den pragmatisch-materiellen Fragen zurück. Fest zeigt anhand dreier Fallbeispiele, wie Kritiker zwar die Ästhetik des Raumes für die Erfahrung des auf der Bühne Dargestellten als zentral erachten, jedoch nicht zu jedem Preis: Als öffentlichem Raum komme dem Theater eine moralische Verantwortung zu, die zu einer erhöhten Sicherheit in der Bauweise von Theatern führen sollte, so zeitgenössische Forderungen. Sicherheitsaspekte werden problematisiert und verschränkt mit der ‚riskanten‘ Kunstform des Dramas. Letztlich verleihen die Diskurse über Theaterbauten und ihre Risiken auch der Angst vor Veränderung Ausdruck und stellen sich der Frage, was eigentlich ein kulturelles Risiko ausmacht. Diese Debatten lassen sich bis ins 20. und 21. Jahrhundert nachverfolgen.

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Einen als klassisch zu bezeichnenden Zugang über die Versicherungsgeschichte wählte Stefan Geißler („Die Lloyd’s List. Information und Risiko in der frühneuzeitlichen Marineversicherung“). Die kaufmännische Gewinnorientierung sowie ein ausgeprägtes Sicherheitsbedürfnis wirkten als Katalysatoren für die Etablierung des Seeversicherungsmarktes. Als geradezu paradigmatisch für die kalkulatorische Spielart des Risikos ist das weltweite Informationsnetzwerk von Lloyd’s of London zu werten, das es dem einzelnen Kaufmann erlaubte, die Erfolgsaussichten seiner Unternehmung präziser abzuschätzen. In diesem Prozess nimmt dabei die Information selbst immer mehr Warencharakter an und treibt die Professionalisierung des Versicherungsmarktes voran. Der Beitrag betont die Bedeutung einer differenzierten Risikoforschung für die Wirtschaftsgeschichte im Allgemeinen. Die versicherungstechnische Absicherung großer Unternehmnungen bildete nämlich einen institutionellen Rahmen für das handelsmäßige Ausgreifen der Europäer nach Übersee. Inwiefern sich Risiken für eine literaturgeschichtliche Annäherung eignen, zeigt Michaela Holdenried in ihrem Beitrag „Epidemien, Erdbeben, Deichbrüche, GAUs und andere Katastrophen. Skizze einer Literaturgeschichte des Risikos“. Ausgehend von der Etymologie des Risiko-Begriffs konstatiert sie, dass dem Erzählen das Risiko gleichsam eingeschrieben ist: Literarische Texte thematisieren und verhandeln inhärent Risiken und Risikoszenarien, indem sie ihre Handlung nicht selten auf Krisen und Konflikten basieren. Literaturgeschichte kann somit als Erzählen von und über Risiken neu fokussiert werden. Im Zentrum steht dabei die Repräsentation von Risikoszenarien, die wiederum einen wichtigen Teil beiträgt zum allgemeinen Diskurs von und über Risiken. Literarischen Texten kommt also eine nicht unerhebliche Rolle in der Risikokommunikation zu. Einige literarische Genres, so Holdenried, seien besonders risikoaffin, beispielsweise die dystopische Literatur, Endzeitromane, Science Fiction, aber auch die Novelle, die mit ihrem Ausgangspunkt eines ‚unerhörte Ereignisses‘ ein besonders krisenhaftes Potenzial inne hat. In der vormodernen Literatur sind neben Kriegen Abenteuer- und Reise-Narrative typische Kontexte, später rücken zunehmend technikund fortschrittskritische sowie ökologische Aspekte in den Mittelpunkt. Der Naturalismus beispielsweise habe sich besonders mit sozialen Risiken und Risikofolgeabschätzungen auseinandergesetzt, während der Expressionismus die Urbanisierung als Risiko-Themenfeld explizierte. Obwohl Technikphänomene eine lange Tradition in der literarischen Darstellung haben, rücken sie als Technikrisiken schließlich zunehmend in der Literatur nach 1945 in den Blick, so in Christa Wolfs Störfall.

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Die enge Verknüpfung des Risikobegriffs mit der zeitlichen Dimension betrachtet Anna Michaelis („Zwischen Vorsorge und Prävention. Praktiken jüdischer Wohltätigkeit um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert“), indem sie nach den Praktiken der Zukunftsabsicherung jüdischer Bevölkerungsgruppen fragt. Diese Absicherung hatte nicht durch finanziell-materielle Aspekte, sondern angesichts eines zunehmend politisch organisierten Antisemitismus basale materielle Facetten: Es galt die Zukunft der Juden in Deutschland zu sichern. Einen Schwerpunkt legt Michaelis auf die Ausgestaltung jüdischer Wohlfahrtspraktiken. Gerade im Bereich der Waisen- und Lehrlingshäuser dominierten Überlegungen, jüdische Kinder in als volkswirtschaftlich wertvoll erachtete Berufge hineinzusozialisieren, um antisemitische Parolen von „unproduktiven“ Judenberufen zu unterlaufen. Martin Sablotny diskutiert am Beispiel von Mary Shelleys Roman Frankenstein, wie literarische Texte zeitgenössische Risikodiskurse, genauer: die Möglichkeiten und Grenzen der Wissenschaft aufgreifen können („Monströse Verantwortung. Frankenstein und seine Kreatur als Personifizierung von Risikosystemen“). Dies geschieht bei Shelley anhand des Figurenpaars Viktor Frankenstein, dem ‚mad scientist‘ in seiner Besessenheit, das Monster zu erschaffen, und dem Forscher und Autoren Robert Walton, die verschiedene Herangehensweisen an risikobehaftete Systeme personifizieren. Einmal mehr steht die moralisch-ethische Dimension menschlichen Handelns im Zentrum: Welche Verantwortung trägt ein Wissenschaftler beziehungsweise die Wissenschaft? Wem wird im Namen einer wissenschaftlichen Innovation potenziell geschadet – dem Forscher und seinem Ruf, dem Geschöpf oder der Gesellschaft? Der Roman thematisiert diese Fragen der Risikokalkulation auf einer affektiven Ebene. Der Kontrollverlust des Forschers Frankenstein über seine Kreatur – ein typisches Merkmal von Risiken – wird als ein Changieren zwischen Empathie und Schrecken erzählt. Die differenzierte und nuancierte Darstellung des Romans geht im Medium Film verloren, wie Sablotny abschließend deutlich macht: Im 20. Jahrhundert wird das Monster als wahnsinnig-gefährlich zum eigentlichen Protagonisten und lässt die Debatte um Risikosysteme und Verantwortungsfiguren in den Hintergrund treten. Der Frage nach dem Kontrollverlust geht auch Christian Götter in seinem Beitrag „Von der Risikoberechnung zur Vertrauensfrage. Die deutsche Kernenergiedebatte am Beispiel des Kernkraftwerks Stade“ nach. Das Narrativ der Beherrschbarkeit dominierte die friedliche Nutzung der Kernernergie bis in die 1970er Jahre hinein. Das Restrisiko schien überschaubar. Ende der 1970er Jahre setzte jedoch eine Änderung der Wahrnehmung ein, die Götter sehr dicht nachzeichnet. Ohne dass sich die Risiken wesentlich geändert hätten, verlor die Bevölkerung zunehmend das Vertrauen in die Verlautbarungen der Experten und der Betreiber des Kraftwerkes. Im Gleichschritt mit dem Vertrauenverlust erodierte

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auch die Akzeptanz des Restrisikos. Hier tritt die Bedeutung der gesellschaftlichen Rahmung vermeintlich ‚objektiver‘ Risiken sowie die damit verbundenen Kommunikationsprobleme zwischen Experten und Bevölkerung hervor. In ihrem Beitrag „Von ‚Betriebsanleitungen‘, ‚Crashkursen‘ und ‚Erfolgsmethoden‘. Zeitgenössische Elternratgeber als Medium der Risikokommunikation und -konstruktion“ wendet sich Maike Nikolai-Fröhlich einem nicht-fiktionalen Genre zu: Elternratgebern. Diese äußerst populären Werke haben einen unmittelbaren Einfluss auf den Umgang mit Risiken, versprechen sie doch alle letztlich eine Verbesserung des risikobehafteten Zustandes von Elternschaft. Nikolai-Fröhlich zeigt, inwiefern die Ratgeber Bedürfnislagen konstruieren und produzieren; sie betätigen sich gleichsam im Aufschließen eines Risikodiskurses: Zunächst wird ein Risiko konstatiert, für das der Ratgeber dann Hilfestellung bietet. Geburt und Elternschaft führen zu einer Reihe von „problematischen“, riskanten Situationen, die besonderen Handelns bedürfen. Dabei ist besonders frappierend, wie die verschiedenen Geschlechter unterschiedlich adressiert und in ihrem Verhalten wie in ihrem Umgang mit Risiken markiert und definiert werden. Dies manifestiert sich in den verwendeten Metaphern und Bildern sowie adressatenabhängigen narrativen Strategien – beispielweise einer solchen, in der das Kind zum technischen Objekt mutiert, das man „instand halten“ muss. Elternratgeber konstruieren also eine kulturelle Praxis, die insofern problematisch ist, als sie nicht nur Risikohilfe bieten, sondern erzählerisch Risiken erst kreieren. Ein Subgenre des zeitgenössischen Thrillers, der Medizinthriller, steht im Mittelpunkt von Stella Butters Beitrag „Riskante Körper. Der zeitgenössische amerikanische Medizinthriller als Gattung der Risikokommunikation über Biopolitik“. Solche Thriller erfreuen sich großer Beliebtheit, bergen aber ein problematisches Potential: Wie Butter am Beispiel des Romans Cell (2014) von Robin Cook aufzeigt, stützen die Romane in ihrer Kritik an biopolitischen Innovationen paradoxerweise genau den neoliberalen Fokus auf die Verantwortung des Einzelnen und fordern die Leser implizit auf, Risikomanagement des eigenen Körpers zu betreiben. Medizinthriller subjektivieren den biopolitischen Diskurs, indem sie auf die handelnden Figuren anwenden, was zunächst gesamtgesellschaftlich verstanden sein will. Zentral sind dabei Machtprozesse zwischen lebenswertem und -unwertem Leben sowie das Vorschreiben von guten und schlechten Praktiken und Verhaltensweisen. Zwar kritisieren die Thriller in der Regel solche Praktiken (sie werden als Bedrohung dargestellt, gegen die sich der Held zur Wehr setzt), aber zugleich werden sie gefördert, da sie im Detail beschrieben und dadurch expliziert gemacht werden. So spielt Cell mit den Ängsten der Leser vor Krankhei-

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ten: Der Umgang mit dem eigenen Körper zwischen Fremd- und Selbstbestimmung wird zu einem Risiko, das nur bedingt kalkuliert werden kann und letztlich wieder den Einzelnen in die Pflicht nimmt. Insgesamt eröffnen die hier versammelten Beiträge einen differenzierten und exemplarischen Blick auf die materiellen wie diskursiven Bedingheiten von Risiken, ihrer Wahrnehmung und Kommunikation vom Mittelalter bis in die Gegenwart. Es wird deutlich, dass Risiken oftmals nur so schwer oder leicht wiegen wie die Geschichten, die über sie erzählt werden und die sie begleiten. Im Spannungsfeld dieser ‚riskanten‘ Geschichten und ihres Einflusses auf die öffentliche Beurteilung und die Debatten, die über Risiken geführt werden, lässt sich Risikogeschichte einmal mehr neu konfiguieren und anders nachvollziehen – und damit auch ein verändertes Verständnis historischer Epochen, Kontinuitäten und Brüche gewinnen. Dies betrifft beispielsweise die eingangs angesprochene Frage, wie der Umgang mit Risiken spezifische Alltagspraxen entstehen ließ, zur kulturellen Selbstverortung beitrug und gesellschaftliche Lernprozesse beeinflusste. Das Gespräch darüber, wie und warum sich die Materialität und Wahrnehmung von Risiken änderte und wie diese Faktoren (Vor-)Modernität prägten, wird daher weitergehen. Wir hoffen, der vorliegende Band kann dazu einen konstruktiven Beitrag leisten. *** Dieser Band ist aus einer Tagung hervorgegangen, die 2015 in Freiburg stattgefunden hat und bei der es unseres Erachtens einen äußerst konstruktiven Austausch zwischen der Geschichts- und Literaturwissenschaft über ihre jeweiligen konzeptionellen und methodischen Ansätze zur Risikoforschung gegeben hat. Wir danken den Teilnehmerinnen und Teilnehmern herzlich für die Bereitschaft, ihre Überlegungen zu einem Aufsatzband zusammenzutragen, der, so hoffen wir, nicht nur das Potential interdisziplinärer Debatte zeigt, sondern auch einer disziplinund epochenüberschreitenden Risikoforschung. Ein solches Vorhaben zu finanzieren, ist heutzutage nicht mehr so einfach. Wir danken daher der Johannes Gutenberg-Universität Mainz, der Fritz Thyssen Stiftung, dem Freiburg Institute for Advanced Studies sowie der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg i.Br. für die gewährte großzügige Unterstützung zur Finanzierung von Tagung und Buch. Zu danken haben wir zudem Michaela Holdenried, Martin Knoll und Marina Münkler für ihre vielfältigen Ideen im Rahmen der Konferenz sowie insbesondere FranzJosef Brüggemeier für zahlreiche Anregungen und Hinweise sowohl im Zusammenhang mit der Tagung als auch bei unserer Beschäftigung mit dem Thema Risiko, das er schon seit einigen Jahren begleitet und fördert. Last, not least möchten

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wir uns bei Agathe Hamerlik, Felix Göttler, Sebastian Haus und Marco Tomaszewski bedanken – für ihre kritischen, aber immer konstruktiven, überaus hilfreichen und wohlwollenden Anmerkungen zu unseren Überlegungen.

Risikowahrnehmung im Mittelalter Ein Versuch in kognitiver Geschichtswissenschaft Max Lieberman

EINLEITUNG Dieser Aufsatz ist in doppelter Hinsicht unkonventionell, methodisch wie thematisch. Im ersten Teil steht die Sicht des menschlichen Wahrnehmungsapparates im Mittelpunkt, die der Psychologe und Nobelpreisträger Daniel Kahneman zusammen mit Amos Tversky in den vergangenen Jahrzehnten entwickelt hat. Daran schließen sich methodische Überlegungen an, wie Historikerinnen und Historiker Begriffe und Theorien der kognitiven Experimentalpsychologie nutzen können beziehungsweise sogar sollten, insbesondere dann, wenn sie zu verstehen versuchen, wie historische Akteure Risiken wahrnahmen und wieso sie solche eingingen. Im zweiten Teil dieses Beitrags wird erstmals darauf hingewiesen, dass Begriffe der Experimentalpsychologie relevant sind, wenn die Risikowahrnehmung in einem bedeutenden historiographischen Text des Hochmittelalters untersucht wird: in den um ca. 1126 verfassten (und ca. 1135–1143 revidierten) Gesta regum Anglorum, oder Taten der Könige Englands, des englischen Benediktinermönchs Wilhelm von Malmesbury. 1

1

William of Malmesbury: Gesta regum Anglorum. The History of the English Kings, hg. und übers. von R. A. B. Mynors, Rodney M. Thomson und Michael Winterbottom, Oxford 1998 (Gesta regum, i). Zur Datierung s. ebd., S. xxii–xxiv und den 1999 gleichenorts erschienenen Kommentarband von Thomson in Zusammenarbeit mit Winterbottom, S. xvii–xxxv (Gesta regum, ii).

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RISIKOWAHRNEHMUNG UND EXPERIMENTALPSYCHOLOGIE: DIE ARBEITEN KAHNEMANS UND TVERSKYS Kahneman hat unlängst in einem populärwissenschaftlichen Buch einen Überblick über sein Lebenswerk geboten. Dessen Titel, in deutscher Übersetzung Schnelles Denken, langsames Denken, zielt auf eine Sicht menschlicher Wahrnehmung, die er mit seinen experimentalpsychologischen Arbeiten maßgeblich mitgeprägt hat.2 Diese Sicht hat er mit der Metapher zweier Systeme wiedergegeben: ein System 1, welches fortwährend und mühelos arbeitet und dabei schnell und unwillkürlich Urteile über Wahrgenommenes fällt; und ein System 2, welches dafür zuständig ist, diese Urteile zu prüfen, welches aber eine gewisse Anstrengung kostet und nicht fortlaufend aktiv ist. Um ein arithmetisches Beispiel zu geben: zwei mal vier beansprucht das System 1, 17 mal 21 das System 2. Das schnelle, mühelose Denken stützt sich oft auf Heuristiken (Daumenregeln). So ersetzt es oft die Antwort auf eine schwierige Frage unwillkürlich mit jener auf eine einfachere (zum Beispiel beantwortet es die Frage: „Welcher Kandidat wird diesen Wahlgang gewinnen?“ mit der Antwort auf: „Sieht dieser Kandidat so aus, wie ich mir einen Präsidenten vorstelle?“). Die Schlüsse, welche sich uns unmittelbar aufdrängen, sind durch die Grenzen unseres Arbeitsgedächtnisses und unserer Aufmerksamkeit limitiert, ein Effekt, den Kahneman mit der Abkürzung WYSIATI (What You See Is All There Is) bezeichnet. Indem wir unsere Aufmerksamkeit steuern, können wir natürlich unsere ersten Eindrücke, Gefühle und Neigungen reflektieren und prüfen. Das tun wir aber laut Kahneman selten (besonders dann nicht, wenn wir hungrig, müde oder gut gelaunt sind). In der Regel verlassen wir uns auf unsere Intuitionen, und unsere Eindrücke, Gefühle und Neigungen erhärten sich zu Überzeugungen, Einstellungen und Absichten.3 Dies ermöglicht es uns, auf ökonomische Art und Weise die unzähligen Eindrücke aus unserer Umwelt zu verarbeiten. Es führt aber nicht immer zu jenen Wahrnehmungen und Entscheidungen, welche wir nach reiflicherer Reflektion

2

Daniel Kahneman: Thinking, Fast and Slow. New York 2011; aus dem amerikanischen Englisch übersetzt von Thorsten Schmidt: Schnelles Denken, langsames Denken. München 2012 (Pantheon-Ausgabe 2014). Ein grundlegender Artikel erschien vor mehr als vierzig Jahren: Daniel Kahneman/Amos Tversky: Judgment under Uncertainty: Heuristics and Biases, in: Science 185 (1974), S. 1124–1131.

3

Kahneman: Thinking, Fast and Slow (wie Anm. 2), Teile I und II.

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selbst als optimal oder „rational“ bezeichnen würden. So wie die visuelle Wahrnehmung darauf ausgerichtet ist, einen Eindruck der Tiefe zu vermitteln, aber eben dadurch auch optischen Illusionen ausgesetzt ist, so ergeben sich auch aus dem Zusammenspiel der Systeme 1 und 2 Verzerrungen – sogenannte kognitive Verzerrungen (cognitive biases).4 Nach Kahneman u.a. können uns nicht nur die eigenen Augen, sondern auch unsere Intuitionen in die Irre führen. Einige der psychologischen Experimente, welche diesem Befund zugrunde liegen – und dies macht Kahnemans Buch zu einem Erlebnis – können Leserinnen und Leser gleich bei der Lektüre an sich selbst vollziehen. Hier seien nur einige Beispiele gegeben, welche für den Umgang mit Risiken und daher für den zweiten Teil dieses Beitrags relevant sind. Es geht bei diesen Beispielen um Wetten. Um eine sogenannte kognitive Verzerrung an sich selbst nachvollziehen zu können, ist es bei der Beantwortung der folgenden Fragen wichtig, auf die eigenen spontanen Reaktionen zu achten.5 Wette 1 Was wählen Sie? 900 Euro sicher erhalten oder eine 90-prozentige Chance, 1000 Euro zu gewinnen. Wette 2 Was wählen Sie? Einen sicheren Verlust von 900 Euro oder eine 90-prozentige Chance, 1000 Euro zu verlieren. Die allermeisten Menschen wählen bei der ersten Option risikoavers, bei der zweiten aber „verlustavers“ (loss averse). Winkt ein sicherer Gewinn, so geben wir im Allgemeinen lieber die Chance auf einen höheren Gewinn auf, als das Risiko in Kauf zu nehmen, leer auszugehen. Das Risiko an sich bietet hier also keinen Reiz, im Gegenteil. Droht aber ein sicherer Verlust, bietet die unsichere, „riskante“ Option die Chance, diesen sicheren Verlust zu vermeiden. Interessanterweise kehrt sich nun im Allgemeinen die Risikoaversion um in eine sogenannte „Verlustaversion“, die Neigung, einen höheren Verlust zu riskieren, um einen tieferen, aber sicheren Verlust abzuwenden. Das Risiko wird somit attraktiv. Diese Verlustaversion lässt sich mit „gemischten“ Wetten wie den folgenden sogar noch quantifizieren.

4

Oft auch unterteilt in emotionale und kognitive Verzerrungen (cognitive and emotional biases), nicht aber ebenda.

5

Vgl. ebd., Teil IV.

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Wette 3 Würden Sie folgende Wette eingehen: 50% Chance, 100 Euro zu gewinnen, und 50% Chance, 100 Euro zu verlieren? Wette 4 Würden Sie folgende Wette eingehen: 50% Chance, 200 Euro zu gewinnen, und 50% Chance, 100 Euro zu verlieren? Die allermeisten Menschen nehmen gemischte Wetten mit gleich wahrscheinlichem Gewinn und Verlust nur dann an, wenn ein ungefähr doppelt so hoher möglicher Gewinn winkt (also nur Wette 4). Das heißt, wir gewinnen ungefähr halb so gerne, wie wir ungern verlieren. Daraus folgt auch, dass wir bereit sind, viel höhere Risiken einzugehen, um einen Verlust abzuwenden oder rückgängig zu machen, als wir eingehen würden, wenn wir uns einen gleich hohen Gewinn erhoffen. Der empirische Befund, dass Menschen verlustavers sind, lieferte eine der Kernaussagen der neuen Erwartungstheorie (prospect theory), die Kahneman zusammen mit Amos Tversky entwickelte. Für diese Erweiterung der im 18. Jahrhundert formulierten Erwartungsnutzentheorie (expected utility theory), die unter anderem die Risikoaversion bei Gewinnen voraussagte, nicht aber die Verlustaversion, erhielt Kahneman 2002, sechs Jahre nach Tverskys Tod, den Wirtschaftsnobelpreis. Zudem spielt die Verlustaversion nachweislich nicht nur bei finanziellen Wetten mit. Mit ihr verwandt ist der sogenannte „Besitztumseffekt“, die Neigung, Güter im eigenen Besitz höher zu bewerten als fremde, aber gleichwertige Güter. Damit hängt gemäß Kahneman auch zusammen, dass in Verhandlungen aller Art eher der Status quo beibehalten wird; dies ist dann der Fall, wenn die potenziellen Verlierer sich heftiger gegen Veränderungen zur Wehr setzen, als die potenziellen Gewinner für diese kämpfen. Verlustaversion scheint sogar ethische Überzeugungen mitzubestimmen: So sind in groß angelegten Umfragen Kompensationen für Verluste eher gutgeheißen worden als Kompensationen für entgangene Gewinne.6 Die evolutionstheoretische Überlegung, dass Organismen, welche Bedrohungen höhere Aufmerksamkeit schenken als Chancen, eher überleben, stützt solche Befunde. Weiteren Rückhalt hat die neue Erwartungstheorie sowohl

6

Besitztumseffekt (endowment effect): ebd., Kap. 27; Verhandlungen (Status quo), ebd., S. 303–304; ethische Normen: Daniel Kahneman/Jack Knetsch/Richard Thaler: Fairness as a Constraint on Profit Seeking: Entitlements in the Market, in: American Economic Review 76 (1986), S. 728–741.

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von den Neurowissenschaften als auch von Untersuchungen außerhalb des Labors erhalten. So haben bildgebende Methoden ermittelt, dass mit Abscheu und Schmerz assoziierte Gehirnzentren bei Menschen aktiviert werden, von denen verlangt wird, Güter zu verkaufen, die sie selbst hätten verwenden wollen.7 Und gemäß einer anderen Studie strengen sich professionelle Golfer beim Putten mehr an, um einen Verlust (Resultat über Par) zu vermeiden, als sie sich anstrengen, einen Gewinn (Resultat unter Par) zu erzielen.8 Die neue Erwartungstheorie – und besonders die Verlustaversion – hat bereits tiefgreifenden Einfluss auf die Wirtschaftswissenschaften ausgeübt (behavioural economics). Auch die jüngere Entwicklung der Politik- und der Rechtswissenschaften ist durch sie mitgeprägt worden.9 Zwischen diesen Disziplinen und der Geschichtswissenschaft besteht ein reger Austausch an Begriffen und Theorien. Schon deswegen scheint es angebracht, zu erörtern, ob die kognitive Experimentalpsychologie auch Historikerinnen und Historikern neue Erkenntnischancen bietet. Aber auch abgesehen davon, wie sich andere Disziplinen jüngst weiterentwickelt haben: Geht man davon aus, dass es kognitive Verzerrungen gibt und gab, so betrifft dies die Geschichtswissenschaft gleich auf zwei Ebenen, der methodischen wie der inhaltlichen. Einerseits gilt es nämlich dann, bei der Arbeit mit den Quellen eigene kognitive Verzerrungen zu vermeiden: Neben der Verlustaversion (loss aversion) haben Kahneman und andere Autoren zum Beispiel auch eine „Bestätigungstendenz“ und eine „Repräsentativitätsheuristik“ nachgewiesen sowie auch einen „Rückschaufehler“. Diese bezeichnen folgende Neigungen: erstens jene, Daten, welche die eigenen vorgefassten Überzeugungen bestätigen, höher zu

7

Brian Knutson u. a: Neural Antecedents of the Endowment Effect, in: Neuron 58 (2008), S. 814–822.

8

Devin Pope/Maurice Schweitzer: Is Tiger Woods Loss-Averse? Persistent Bias in the Face of Experience, Competition, and High Stakes, in: American Economic Review 101 (2011), S. 129–157.

9

Politikwissenschaften: Robert Jervis: Perception and Misperception in International Politics. Princeton 1976; ders., War and Misperception, in: The Journal of Interdisciplinary History 18 (1988), S. 675–700; ders., The Implications of Prospect Theory for Human Nature and Values, in: Political Psychology 25 (2004), S. 163–176 und die anderen Beiträge in jener Ausgabe; Leonie Huddy/David Sears/Jack Levy (Hg.): The Oxford Handbook of Political Psychology. 2. Aufl., Oxford 2013; Jack Levy: Applications of Prospect Theory to Political Science, in: Synthese 135 (2003), S. 215–241. Rechtswissenschaften: Christine Jolls/Cass Sunstein/Richard Thaler: A Behavioral Approach to Law and Economics, in: Stanford Law Review 50 (1998), S. 1471–1550; Eyal Zamir: Loss Aversion and the Law, in: Vanderbilt Law Review 65 (2012), S. 829–894.

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gewichten als solche, welche gegen diese sprechen; zweitens jene, Urteile aufgrund von Stereotypen zu fällen, unter Vernachlässigung der statistischen Wahrscheinlichkeit alternativer Erklärungen; und drittens jene, die eigene Einschätzung der Wahrscheinlichkeit eines Ereignisses im Nachhinein zu überschätzen.10 Die Herausforderung, Urteile über komplexe Vorgänge auf der Grundlage von lückenhaften, statistisch nicht auswertbaren Informationen zu fällen, teilt die Geschichtswissenschaft mit den Nachrichtendiensten. Die Methoden, welche in solchen Diensten verwendet werden, um die Auswirkungen kognitiver Verzerrungen zu mildern, sind also auch für die geschichtswissenschaftliche Arbeit interessant.11 Eine vertiefte Auseinandersetzung mit kognitiven Verzerrungen lohnt sich für Historikerinnen und Historiker aber auch auf einer zweiten Ebene. Es stellt sich nämlich die Frage, inwiefern die Entscheidungen, Handlungen und sogar die normativen Wertvorstellungen historischer Akteure von kognitiven Verzerrungen mitgeprägt worden sind.12 Natürlich birgt eine solche Offenheit gegenüber anderen Disziplinen neben Chancen auch ihrerseits Risiken. So ist unter Psychologinnen und Psychologen das Thema der kognitiven Verzerrungen seit Langem und recht heftig umstritten. Gerd Gigerenzer, der prominenteste Kritiker der Arbeiten von Kahneman und Tversky, möchte den Begriff der Heuristik für mentale Vorgänge verwendet sehen, welche seines Erachtens Merkmale eines aus evolutionärer Perspektive optimal funktionierenden Wahrnehmungsapparates darstellen. Auch moniert er, dass „Verzerrung“ (bias) zu stark eine Abweichung von einer arbiträren Norm impliziert; und dass die von Kahneman u.a. vorgeschlagene Theorie, oder Metapher, der zwei mentalen Systeme nicht falsifizierbar sei.13 Zwar wird gerade die Exis-

10 Bestätigungstendenz (confirmation bias), ebd., Kap. 7; Repräsentativitätsheuristik (representativeness bias), ebd., Kap. 14; Rückschaufehler (hindsight bias), ebd., Kap. 19 und Baruch Fischhoff: For Those Condemned to Study the Past: Reflections on Historical Judgment, in: New Directions for Methodology of Social and Behavioral Science 4 (1980), S. 79–93. 11 Vgl. insbesondere die „Analysis of Competing Hypotheses“, etwa nach Richards Heuer: Psychology of Intelligence Analysis. Washington 1999, Kap. 8; oder genereller: Ders./Randolph H. Pherson: Structured Analytic Techniques for Intelligence Analysis. Washington 2010. 12 Es geht in diesem Aufsatz vor allem um diese inhaltliche Ebene. 13 Vgl. etwa Gerd Gigerenzer: Reasoning the Fast and Frugal Way, in: Psychological Review 103 (1996), S. 650–669; ders., Personal Reflections on Theory and Psychology, in: Theory & Psychology 20 (2010), S. 83–115.

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tenz der Verlustaversion derzeit auch von Gigerenzer u.a. nicht mehr angezweifelt, aber auf andere geistige Vorgänge zurückgeführt.14 Andererseits ist jedoch festzuhalten: Auch wenn bislang kognitive Verzerrungen in der Geschichtswissenschaft, jedenfalls in der Mediävistik, noch kaum diskutiert worden sind, 15 auch nicht in mediävistischen Arbeiten zur Geschichte des Risikos, 16 so haben doch

14 Eduard Brandstätter/Gerd Gigerenzer/Ralph Hertwig: The Priority Heuristic: Making Choices Without Trade-Offs, in: Psychological Review 113 (2006), S. 409–432. Vgl. auch Jonathan St.B.T. Evans/Keith E. Stanovich: Dual-Process Theories of Higher Cognition: Advancing the Debate, in: Perspectives on Psychological Science 8, S. 223– 241 und Reply to Comments, ebd., S. 263–271. Vgl. auch Mark Kelman: The Heuristics Debate. Oxford 2011. 15 Die Arbeiten von Kahneman und Tversky werden zm Beispiel zitiert bei John Arquilla and María Moyano Rasmussen: The Origins of the South Atlantic War, in: Journal of Latin American Studies 33 (2001), S. 739–755; aber meines Wissens in keiner Publikation zur Emotionengeschichte oder zur Geschichte des Mittelalters. Vgl. etwa William Reddy: The Navigation of Feeling: A Framework for the History of Emotions. Cambridge 2001; Barbara Rosenwein/Marie-Hélène Debiès/Catalina Dejois: Histoire de l’Émotion: Méthodes et Approches, in: Cahiers de Civilisation Médiévale 49 (2006), S. 33–48. Vgl. auch die neu lancierte Zeitschrift Journal of Cognitive Historiography. Historische Quellen sind zwar auch schon extensiv unter Berücksichtigung der neuen Erwartungstheorie untersucht worden, aber die Ergebnisse solcher Forschungen wurden in wirtschafts- und finanzwissenschaftlichen Zeitschriften publiziert: vgl. etwa Moshe Levy: Loss Aversion and the Price of Risk, in: Quantitative Finance 10 (2010), S. 1009– 1022, wo Verlustaversion in Börsendaten aus 16 Ländern über einen Zeitraum von etwa einem Jahrhundert nachgewiesen wird. 16 Etwa Monica Juneja/Franz Mauelshagen: Disasters and Pre-industrial Societies: Historiographic Trends and Comparative Perspectives, in: The Medieval History Journal 10 (2006), S. 1–31; Jürg Helbling: Coping with ,Natural‘ Disasters in Pre-Industrial Societies: Some Comments, ebd., S. 429–466 sowie die anderen Beiträge in dieser Ausgabe. Norbert Meusnier/Sylvain Piron: Medieval Probabilities: A Reappraisal, in: Journal Électronique de l’Histoire des Probabilités et de la Statistique/Electronic Journal for the History of Probability and Statistics 3 (2007); Sylvain Piron: Le Traitement de l’Incertitude Commerciale dans la Scolastique Médiévale, ebd.; ders., L’Apparition du resicum en Méditerranée Occidentale, XIIe–XIIIe siècles, in: Emmanuelle CollasHeddeland u.a. (Hg.): Pour une Histoire Culturelle du Risque. Genèse, Évolution, Actualité du Concept dans les Sociétés Occidentales. Strassburg 2004, S. 59–76; Christopher M. Gerrard/David N. Petley: A Risk Society? Environmental Hazards, Risk and Resilience in the Later Middle Ages in Europe, in: Natural Hazards 69 (2013), S. 1051–

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Versuche von Historikerinnen und Historikern, andere psychologische Begriffe und Theorien anzuwenden, bereits zu Meinungsverschiedenheiten innerhalb der Disziplin geführt. Im Kern geht es hier um die Frage, welchen Nutzen universelle Aussagen über die Beschaffenheit menschlicher Wahrnehmung für eine Wissenschaft haben, welche zuvorderst Unterschiede, besonders kulturelle Unterschiede, zwischen historischen Akteuren und historischen Gesellschaften im Blick hat. Anschaulich und aktuell ist hier die Debatte über die Voraussetzungen mittelalterlicher Fehden und Racheakte. 17 Hat die Fehdeforschung von einem universellen menschlichen Verlangen nach Ausgleich empfundenen Unrechts auszugehen? Oder davon, dass solche universellen Veranlagungen bei komplexen Phänomenen wie der Fehde von kulturellen Voraussetzungen überlagert werden? Gibt es Mittelwege zwischen diesen Positionen? Oder ist von Fall zu Fall zu entscheiden, wie wesentlich diese Grundsatzfragen überhaupt sind? Entsprechende Überlegungen sind auch beim Versuch, die eingangs umrissenen Befunde der kognitiven Psychologie bei der Beurteilung unserer historischen Quellen zu berücksichtigen, unausweichlich. Im Folgenden soll anhand eines Beispiels verdeutlicht werden, dass Annahmen über die Kognition historischer Akteure Quelleninterpretationen beeinflussen können – gerade bei kulturgeschichtlichen Fragestellungen.

1079; Will Hasty: The Medieval Risk-Reward Society: Courts, Adventure, and Love in the European Middle Ages. Columbus 2016. Aus der neuen Reihe Kontingenzgeschichten sind hier hervorzuheben: Benjamin Scheller: Risiko – Kontingenz, Semantik und Fernhandel im Mittelmeerraum des Hoch- und Spätmittelalters, in: Frank Becker/Benjamin Scheller/Ute Schneider (Hg.): Die Ungewissheit des Zukünftigen. Kontingenz in der Geschichte. Frankfurt a. M. 2016, S. 185–210; Frank Rexroth: Fehltritte – Otto von Freising, der Prozess gegen Gilbert von Poitiers und die Kontigenz der sozialen Kommunikation, in: Markus Bernhardt/Stefan Brakensiek/Benjamin Scheller (Hg.): Ermöglichen und Verhindern. Vom Umgang mit Kontingenz. Frankfurt a. M. 2016, S. 83– 115; Gabriela Signori: Kontingenzbewältigung durch Zukunftshandeln: der spätmittelalterliche Leibrentenvertrag, ebd., S. 117–142. 17 Vgl. etwa Stephen D. White: The Feelings in the Feud: The Emotional Turn in the Study of Medieval Vengeance, in: Kim Esmark u.a. (Hg.): Disputing Strategies in Medieval Scandinavia. Leiden 2013, S. 281–311; Jeppe Büchert Netterstrøm: Introduction: The Study of Feud in Medieval and Early Modern History, in: Ders./Bjørn Poulsen (Hg.): Feud in Medieval and Early Modern Europe. Aarhus 2007, S. 9–67. Vgl. auch das verschiedentlich rezensierte Buch von Daniel Lord Smail: On Deep History and the Brain. Berkeley u.a. 2008.

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VERLUSTAVERSION IN DER GESCHICHTSWISSENSCHAFT: EIN ANWENDUNGSBEISPIEL Wilhelm von Malmesbury (ca. 1093–ca. 1143) ist unlängst als „Englands grösster Historiker seit Beda“ bezeichnet worden.18 Der Benediktinermönch war im Mittelalter, wie heute, vornehmlich wegen seiner beiden wichtigsten Geschichtswerke bekannt, den Gesta pontificum (Taten der Bischöfe) und den Gesta regum Anglorum (Taten der Könige Englands); er war aber auch als Bibelkommentator und Hagiograph tätig und verrät in seinen Schriften zudem eine Vertrautheit mit Texten des klassischen Altertums (zum Beispiel Suetonius) sowie auch mit weltlichen und kirchlichen Rechtstexten.19 In seinen Gesta regum schildert Wilhelm nun eine dramatische Begebenheit aus der Regierungszeit König Æthelreds II. von England (genannt „Unræd“, der Unberatene, ca. 966x968–1016): die von König Sven „Gabelbart“ von Dänemark (gest. 1014) angeführten bewaffneten Einfälle in England im Jahre 1013, welche darin gipfelten, dass sich auch die Stadt London ergab. Daraufhin musste König Æthelred auf die Isle of Wight vor der Südküste seines Reichs flüchten: Dort richtete er folgende Rede an jene Äbte und Bischöfe, welche nicht einmal in einer solchen Not ihren Herrn im Stich gelassen hatten. Sie sollten in Betracht ziehen, wie eng die Lage für ihn und für sie geworden war. Er seinerseits war durch den Verrat seiner Edlen seines ererbten Throns verlustig gegangen und nun auf fremde Hilfe angewiesen, er, der es gewohnt gewesen war, das Wohl anderer in seiner Hand zu halten; einst ein Monarch und mächtig, war er nun bloß elend und verbannt; und an dieser Verwandlung litt er, denn du wirst es leichter ertragen, nie Mittel besessen zu haben, als einmal besessene verloren zu haben. Für die Engländer war dies umso beschämender, als nun die Nachricht in die Welt hinausgehen würde, dass ein Fürst verlassen worden war. Was sie, seine Zuhörer, betraf, so hatten sie aus Liebe zu ihm ohne ihre Habe die freiwillige Flucht ergriffen und so ihre Häuser und ihre Vermögen Räubern ausgesetzt; in ihrer misslichen Lage mangelte es allen an Essen, manchen an Kleidung. Er anerkannte ihre Treue, konnte ihnen aber ihr Heil nicht versichern; das Land sei bereits so gänzlich unterworfen und die Küsten so gut bewacht, dass niemand ohne Gefahr davonkommen könne. Daher sollten sie zusammen beraten, was sie zu tun gedachten. Wenn sie dort blieben, wo sie waren, hätten sie sich mehr vor den

18 Vgl. Rodney M. Thomson: William of Malmesbury. 2. Aufl., Woodbridge 2003. Erst seit Kurzem liegen alle überlieferten Werke Wilhelms in modernen Editionen vor. 19 Vgl. Antonia Gransden: Historical Writing in England, c. 550–c. 1307. London 1974, Kap. 9.

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Einheimischen als vor den Feinden zu fürchten; vielleicht nämlich würde ihre Marter dazu dienen, die Gunst eines neuen Herrn zu erlangen, und jedenfalls galt es als Schicksalsschlag, durch einen Feind getötet, aber als Schmach, durch einen Mitbürger verraten zu werden. Flohen sie zu fremden Leuten, bedeutete dies einen Rufschaden; flohen sie zu Bekannten, mussten sie fürchten, dass jene ihre Gesinnung dem Schicksal anpassten, denn viele tüchtige und berühmte Männer waren auf diese Weise umgekommen. Nichtsdestotrotz mussten sie das Glück auf die Probe stellen und das Gemüt Richards, des Herzogs der Normannen, prüfen, denn wenn dieser seine Schwester und seine Neffen nicht mit schlechtem Willen empfinge, so würde er auch ihn nicht zu schützen verachten. „Denn“, so sagte er, „das Wohlergehen meiner Gattin und meiner Kinder wird mir seine Gunst reichlich bezeugen. Sollte er sich aber gegen sie wenden, so wird es mir nicht am Willen mangeln – weit davon entfernt – hier eines ruhmvollen Todes zu sterben, eher als bei ihm ein unrühmliches Dasein zu fristen. Demzufolge soll Emma in diesem Monat August, während ein milderer Wind die See besänftigt, zu ihrem Bruder segeln, um das gemeinsame Pfand bei ihm zu hinterlegen; ihre Gefährten sollen der Bischof von Durham und der Abt von Peterborough sein. Ich werde bis Weihnachten hier bleiben und ihnen, falls sie Gutes melden, nachfolgen.“20

20 Gesta regum (wie Anm. 1), i, S. 302–304 (ii, 177): Ibi abbates et episcopos, qui nec in tali necessitate dominum suum deserendum putarent, in hanc conuenit sententiam. Viderent quam in angusto res essent suae et suorum. Se perfidia ducum auito extorrem solio et opis egentem alienae, in cuius manu aliorum solebat salus pendere, quondam monarcham et potentem, modo miserum et exulem; dolendam sibi hanc commutationem, quia facilius toleres opes non habuisse quam habitas amisisse, pudendam Anglis eo magis, quod deserti ducis exemplum processurum sit in orbem terrarum. Illos amore sui sine sumptibus uoluntariam subeuntes fugam, domos et facultates suas predonibus exposuisse; in arto esse uictum omnibus, uestitum deesse pluribus; probare se quidem fidem illorum, sed non reperire salutem; adeo iam subiugata terra obseruari litora ut nusquam sine periculo sit exitus. Quapropter consulerent in medium quid censerent faciendum. Si maneant, cauendum plus a ciuibus quam ab hostibus; forsan enim crucibus suis noui domini gratiam mercarentur, et certe occidi ab hoste titulatur fortunae, prodi a ciue addicitur ignauiae. Si ad exteras gentes fugiant, gloriae fore dispendium; si ad notas, metuendum ne cum fortuna colorent animum; plerosque enim probos et illustres uiros hac occasione cesos. Experiendam tamen sortem et temptandum pectus Ricardi Normannorum ducis, qui si sororem et nepotes non ingrato animo susceperit, se quoque non aspernanter protecturum. ,Vadabitur enim‘ inquit ,michi meam salutem coniugi et liberis impensus fauor. Quod si ille aduersum pedem contulerit, non deerit michi animus plane, non deerit, quin malim hic gloriose occumbere quam illic

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Der Einschub dieser Rede ist typisch für Wilhelm von Malmesbury, der seine Leserschaft offenkundig nicht nur mit historischen exempla belehren, sondern auch unterhalten wollte. Unter Berücksichtigung der im ersten Teil dieses Beitrags vorgestellten psychologischen Befunde zu riskanten Entscheidungen ist diese Passage aber überaus bemerkenswert. Erstens bekundete Wilhelm hier ein intuitives Verständnis der Verlustaversion. So bot König Æthelred eingangs eine schonungslose Bestandsaufnahme – erst was ihn selbst, dann was sein geistliches Publikum betraf – und leitete diese ein mit einer Beobachtung: „[D]u wirst es leichter ertragen, nie Mittel besessen zu haben, als einmal besessene verloren zu haben“: Aus diesem Satz folgt, dass Gewinne einen geringeren emotionalen „Nutzen“ haben als gleich hohe Verluste – also genau jene zentrale Korrektur, welche die neue Erwartungstheorie an der klassischen Erwartungsnutzentheorie anbrachte. Damit nicht genug: Æthelred erwägte anschließend, zweitens, drei durchwegs unattraktive – man könnte sagen, aversive – Handlungsoptionen, von denen eine einen sicheren Rufschaden bedeutete, zwei aber, das Leben zu riskieren. 1. In England bleiben und riskieren, die Schmach zu erleiden, von Einheimischen getötet zu werden 2. Zu Fremden flüchten und einen sicheren Rufschaden in Kauf nehmen 3. Zu Bekannten flüchten und wiederum riskieren, von diesen getötet zu werden Aus diesen wählt Æthelred Optionen eins und drei: Er selbst bleibt zunächst in England und entsendet Frau und Kinder zu ihren Verwandten in die Normandie (Königin Emma war die Schwester Richards II., des Herzogs der Normandie). Er wählt lieber das Risiko, schmachvoll getötet zu werden, als einen sicheren Rufschaden – und damit trifft er die Entscheidung, die man als verlustavers bezeichnen könnte. Wie es scheint, kann also der Begriff der Verlustaversion auch bei der Interpretation einer Quelle aus dem 12. Jahrhundert eine Rolle spielen. Dies ist deswegen bedeutsam, weil von der Interpretation dieser und ähnlicher Quellenstellen viel mehr abhängt als die Erinnerung an einen einzelnen angelsächsischen König. Erzählende Quellen wie die Gesta regum erlauben es, anhand ihrer zahlreichen Beschreibungen historischer Könige allgemeine Schlüsse über das Bild des gerechten Herrschers zu ziehen. Welche königlichen Entscheidungen galten im 12.

ignominiose uiuere. Quocirca hoc interim mense Augusto, dum clementior aura componit pelagus, Emma ad fratrem nauiget, communia pignora apud eum depositura; sint comites eorum episcopus de Dunelmo et abbas de Burgo. Ego hic usque ad Natale Domini manebo, si bona nuntiauerint subsecuturus continuo.‘

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Jahrhundert als angemessen? War es Wilhelms Absicht, Æthelred als unzulänglichen, weil feigen, König darzustellen? Welche Normen, welche Erwartungen, welches Wissen setzte er bei seinem Zielpublikum voraus? Solche – im weiteren Sinne kulturgeschichtlichen – Fragen sind bereits seit Langem mit großem Erkenntnisgewinn an die uns aus dem Mittelalter überkommenen narrativen Quellen gestellt worden.21 Die Beantwortung solcher Fragen ist aber – zumindest im vorliegenden Fall – davon abhängig, ob von Verlust- oder Risikoaversion der beschriebenen historischen Akteure und des Zielpublikums unserer Quelle ausgegangen wird. So wäre zu erwägen, dass eine verlustaverse Leserschaft sich vielleicht weniger an Æthelreds Entscheidung stoßen würde, unter den geschilderten Umständen in England zu verbleiben und Frau und Kinder zu ihren Verwandten zu entsenden (weil damit der sichere Rufverlust abgewendet werden konnte); umso mehr aber musste es einer solchen Leserschaft negativ auffallen, dass der König gar nicht in Erwägung zog, das verlorene Königreich unter Missachtung aller Gefahren und sogar der Aussichtslosigkeit eines solchen Vorgehens von den Dänen zurückzuerobern.22 Unter risikoaverser Perspektive hingegen erscheint der sichere Rufverlust eher die attraktivere Option, und Æthelred eher als wagemutig (weil er eben Risiken in Kauf nahm). Zudem ist die angenommene Risikowahrnehmung Æthelreds dann von Belang, wenn ermittelt werden soll, welcher relative Stellenwert dem Ruf eines hochmittelalterlichen Königs beigemessen wurde. War dem Æthelred der Gesta regum sein Ruf mehr wert als sein Leben? Dies wird eher bejahen, wer bei ihm

21 S. insbesondere Björn K. U. Weiler: William of Malmesbury on Kingship, in: History: The Journal of the Historical Association 90 (2005), S. 3–22; ders: Stupor mundi: Matthäus Paris und die zeitgenössische Wahrnehmung Friedrichs II. in England, in: Knut Görich/Jan Keupp/Theo Broekmann (Hg.): Herrschaftsräume, Herrschaftspraxis und Kommunikation zur Zeit Kaiser Friedrichs II. München 2008, S. 63–95; ders: William of Malmesbury, King Henry I, and the Gesta regum Anglorum, in: Anglo-Norman Studies 31 (2009), S. 157–176; ders: The King as Judge: Henry II and Frederick Barbarossa as seen by their Contemporaries, in Patricia Skinner (Hg.): Challenging the Boundaries of Medieval History: The Legacy of Timothy Reuter. Turnhout 2009, S. 115–140. Andere Akzente setzt das wichtige Werk von Sigbjørn Olsen Sønnesyn: William of Malmesbury and the Ethics of History. Woodbridge 2012. 22 Die Tötung durch Einheimische bezeichnet Æthelred zuerst als schändlich, dann aber anscheinend als ruhmreich (hic gloriose occumbere...). Dieser Widerspruch lässt sich vielleicht so auflösen, dass Æthelred als glorreicher Tod der aussichtslose Kampf gegen die Dänen vorschwebt. Dies ist aber jedenfalls nicht explizit der Fall.

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Risikoaversion voraussetzt. Denn ein verlustaverser Æthelred würde eben den sicheren Verlust bei Option zwei in Rechnung stellen – und somit würde er auch dann dazu neigen, sein Leben zu riskieren, wenn ihm sein Ruf relativ gesehen weniger wert wäre (vielleicht sogar weniger als sein Leben). Damit aber ein risikoaverser König doch das Risiko wählt, muss ihm sein Ruf entsprechend mehr wert sein (vielleicht sogar mehr als sein Leben).23 Hier also hängt unsere Quelleninterpretation – und unser kulturgeschichtliches Verständnis des hochmittelalterlichen Königsideals – davon ab, ob und wie wir Begriffe der kognitiven Psychologie berücksichtigen. Eine Schwalbe macht noch keinen Sommer. Die zitierte Passage bietet auch deswegen so viel Raum für verschiedene Lesarten, weil Æthelreds Entscheidung im Text weder ausdrücklich erklärt noch beurteilt wird.24 Aber die untersuchte Stelle steht nicht im luftleeren Raum. Was die Quellen Wilhelms von Malmesbury betrifft, so findet sich Æthelreds Flucht natürlich auch in der in verschiedenen Versionen überlieferten angelsächsischen Chronik. In diesen knappen Annalen fehlt aber die Rede Æthelreds25 (ebenso wie übrigens auch in den anderen lateinischen und altfranzösischen Überarbeitungen der angelsächsischen Chronik aus der ersten Hälfte des 12. Jahrhunderts: der Historia Anglorum des Heinrich von Huntingdon und der Estoire des Engleis des Geffrei Gaimar; wie auch in der Historia Ecclesiastica des Ordericus Vitalis).26 Die Herausgeber der Gesta regum des Wilhelm von Malmesbury haben in jahrzehntelanger Arbeit in diesem Text Zitate aus einer ganzen Bibliothek von Quellen erkannt, nicht aber für den Satz Æthelreds zu dem mit Verlust verbundenen „Schmerz“. Meine eigene Suche in verschiedenen Datenbanken hat bisher auch noch kein Resultat ergeben – die Möglichkeit, dass Wilhelm sich von einer heute verlorenen Quelle inspirieren ließ, besteht auch.

23 Option eins (Tötung durch Einheimische riskieren) könnte auch so verstanden werden, dass Ruf und Leben gleichzeitig auf dem Spiel stehen. Unter diesen Vorzeichen wäre Æthelreds Entscheidung einem risikoaversen Publikum kaum verständlich (weil er lieber Ruf und Leben riskierte, als nur einen sicheren Rufschaden zu erdulden); ein extrem verlustaverses Publikum hätte aber die Wahl vielleicht schon nachvollziehen können. 24 Vielleicht ist es aber als wertend zu verstehen, dass Æthelred „der Unberatene“ auf niemandes Rat hörte, bevor er entschied. 25 Zum Jahr 1013. Verschiedene Editionen, s. zum Beispiel Charles Plummer (Hg.), Earle’s Two Saxon Chronicles Parallel. Oxford 1892, i, 144. 26 Henry of Huntingdon: Historia Anglorum, hg. und übers. von Diana Greenway. Oxford 1996, S. 352; Geffrei Gaimar, Estoire des Engleis/History of the English, hg. und übers. von Ian Short. Oxford 2009, Verse 4151–4156; The Ecclesiastical History of Orderic Vitalis, hg. und übers. von Marjorie Chibnall, 6 Bde. Oxford 1969–1980, ii, 244.

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Ob er also Æthelred implizit mit jemandem verglichen hat, scheint nach derzeitigem Wissensstand unwahrscheinlich; es ist aber möglich. Jedenfalls ist anzumerken, dass die hier untersuchte Textstelle natürlich geprägt ist von der Tradition des unbeständigen Glücks. Die römische Göttin Fortuna, welche durch ihr drehendes Rad Gewinne und Verluste irdischer Güter eindringlich verbildlicht, blieb dem Mittelalter bekanntlich erhalten durch die De consolatione Philosophiae (Die Tröstung der Philosophie) des Boethius (475x480–524).27 Dass Wilhelm von Malmesbury, einer der meistbelesenen Menschen des Mittelalters, mit diesem sehr weit verbreiteten und rezipierten Werk vertraut war, hätte man auch ohne Beweis annehmen dürfen. Dadurch, dass er die Consolatio in den Gesta regum in einem anderen Zusammenhang wörtlich erwähnt, steht es außer Zweifel.28 Und Æthelreds Aussage zum Schmerz, den der Verlust irdischer Güter nach sich zieht, ist eng verwandt etwa mit folgendem Ausruf bei Boethius: [I]ch kann den äußerst schnellen Aufstieg meines Erfolgs nicht leugnen. Aber eben die Erinnerung an diesen quält mich ärger: Denn in jeder Widrigkeit des Schicksals ist es die unglücklichste Art des Leids, glücklich gewesen zu sein.29

In Æthelreds Rede findet sich zwar keine wörtliche Anlehnung an die Tröstung der Philosophie. Und Wilhelm scheint die Consolatio in den Gesta regum nur einmal als Quelle genutzt zu haben.30 Es wäre aber weiter zu untersuchen, inwieweit der Topos des unbeständigen Glücks in seinem Werk und in anderen Quellen mit „riskanten“ Entscheidungen, besonders Wahlen zwischen aversiven sicheren und unsicheren Optionen, verknüpft ist – und wie solche Entscheidungen kommentiert wurden. Dies verspricht Erkenntnisse zum Beispiel zum mittelalterlichen Königs- und Adelsideal, zur Geschichte der Ehre oder der Entscheidungsfindung, 27 Vgl. etwa Adriaan Miltenburg: Fortuna, in: Lexikon des Mittelalters, 10 Bde. München und Zürich 1980–1999, iv, 665–666. 28 Gesta regum (wie Anm. 1), i, 282 (ii, 167). Vgl. Boethius: De consolatione philosophiae, Opuscula theologica, hg. von Claudio Moreschini. 2. Aufl., München/Leipzig 2005‚ i, 4, 39 und 41. 29 Ebd.‚ ii, 4, 1–2: „[N]ec infitiari possum prosperitatis meae velocissimum cursum. Sed hoc est quod recolentem vehementius coquit: nam in omni adversitate fortunae infelicissimum est genus infortunii fuisse felicem.“ Vgl. auch folgenden ironischen Spruch der personifizierten Philosophie, ebd.‚ ii, 5, 35: „O praeclara opum mortalium beatitudo quam cum adeptus fueris securus esse desistis!“‚ „Oh vorzügliches Glück sterblicher Güter, durch welches Du Deine eigene Sicherheit verlierst.“ 30 Gesta regum (wie Anm. 1), ii, 458.

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welche auch den aktuellen Wissensstand zur menschlichen Risikowahrnehmung berücksichtigen.

FAZIT Empirische Psychologie und Geschichtswissenschaft behandeln manche der gleichen Themen unter Anwendung grundverschiedener Methoden und auch mit grundverschiedenen Zielen. Bei beiden geht es darum, menschliche Wahrnehmungen, Entscheidungen und Normen besser zu verstehen; aber ebenso wenig, wie es Historikerinnen und Historikern möglich ist, die Menschen, mit denen sie sich beschäftigen, direkt zu befragen, zielen sie darauf ab, universelle, kultur- und zeitenübergreifende Erkenntnisse zum menschlichen Wesen zu erlangen. Es ist aber abzusehen, dass die Experimentalpsychologie eben solche Erkenntnisse in zunehmender Zahl zur Verfügung stellen wird. In diesem Beitrag habe ich versucht, auf dieses Angebot zu reagieren, auf noch provisorische Art und Weise, dafür anhand eines konkreten Beispiels. Alle unsere Annahmen können wir niemals prüfen – anders gesagt, die Anzahl alternativer Quelleninterpretationen, die wir berücksichtigen können, ist immer begrenzt. Es ist aber heute nicht mehr adäquat, ohne Weiteres davon auszugehen, dass historische Akteure nur dann Risiken eingingen, wenn sie sich einen entsprechenden Gewinn erhofften, oder dass sie im Durchschnitt gleich gern gewonnen haben, wie sie ungern verloren haben. Gerade Quellenstellen und historische Fragestellungen, welche die Risikowahrnehmung historischer Akteure betreffen, bieten also Anlass für einen Austausch zwischen methodisch sehr unterschiedlichen Disziplinen.

Un/Reinheit und Aussatz Perspektiven auf ein mehrdimensionales Risikoformat der Vormoderne Fritz Dross

KRANKHEIT ALS RISIKO – GESUNDHEITSRISIKEN UND RISIKOMEDIZIN Nichts ist so gefährdet wie unsere Gesundheit. Was immer wir tun oder lassen, kann (und wird) auch unter dem Aspekt bewertet werden, inwiefern dadurch unsere Gesundheitschancen oder unser Erkrankungsrisiko vergrößert werden. Gesundheit nämlich ist Voraussetzung einer jeden naturgemäß ungewissen Zukunft, die als Möglichkeitsraum unter der Bedingung existiert, dass wir als Gesunde in der Lage sein werden, die sich bietenden Chancen wahrzunehmen. Risiko als Paradoxon der Kontingenz und die Frage der Verfügbarkeit einer zwangsläufig unbekannten Zukunft finden vor dem Hintergrund der Sorge um die Gesundheit statt. Dies begegnet uns täglich in der Produktwerbung und ihren Empfehlungen, Kaufentscheidungen zugunsten unserer Gesundheit zu treffen – von der Bekleidung über die Ernährung, von der Wohnungseinrichtung über den „Wellness“Urlaub, vom Freizeitsport bis zur Kosmetik. Insofern ist Gesundheit nicht eine Ware, sondern jede Ware: Gesundheitsversprechen können beliebige Waren und Dienstleistungen verkaufen. Auf dieser Ebene funktioniert „Gesundheit“ – absurder Weise – wie das Antonym zu Risiko, nämlich „Sicherheit“, inzwischen „denaturiert […] zum bloßen Verkaufsargument, zur Strategie jenseits eines Wissens, das noch autonom mit Gefahr und Risiko umzugehen weiß“.1 Dies gilt interessanterweise nicht zuletzt für die Akzeptanz unter Umständen ihrerseits hochriskanter 1

Wolf Dombrowsky: Risiko als Ideologem der Moderne, in: Ökologisches Wirtschaften 20 (2005), S. 27–29.

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Technologien wie der Gentechnologie; Elisabeth Beck-Gernsheim brachte es auf den Punkt: As I see it, ‚health‘ is the magic word for gaining agreement. Health, or more precisely the promise of health, opens doors, elbows aside resistance, brings public support and money.2

Angesichts des Risikobegriffs, wie er nach Ulrich Beck zuletzt auch in der Geschichtswissenschaft verhandelt wird, fällt ins Auge, dass Gefährdungen der Gesundheit zumindest mittelbar sämtliche Facetten des Diskurses betreffen. So werden am Beispiel des Umgangs mit den natürlichen Ressourcen („Umweltverschmutzung“), hinsichtlich besonderer Gefahren durch chemische Industrie und Atomkraft sowie die Agrarindustrie (Lebensmittel aus genetisch veränderten Pflanzen) die gesundheitlichen Risiken für eine unüberschaubare Vielzahl von Betroffenen deutlich. An dieser Stelle zeigen sich nicht zuletzt die Unschärfen einer Differenz von „natürlichen“ und „menschengemachten“ Gefahren: Sind etwa HIV (AIDS) oder die verschiedenen „Tier“-Grippen des vergangenen Jahrzehnts als „natürliche“ oder als „menschengemachte“ Gefährdungen einzuschätzen? Demgegenüber steht die medizinische und medizinrechtliche Debatte über Risiko, die üblicherweise umgekehrt argumentiert. Hier geht es in der Regel um Behandlungsrisiken – die moderne Medizin präsentiert sich in diesen Debatten als „Risikomedizin“, als ein Eingreifen, das neben den erhofften heilsamen Wirkungen auch erhebliche Gefahren für die Behandelten mit sich bringt. An dieser Stelle, begrifflich als Gegenüberstellung von „Risiko“ und „Gefahr“, scheinen sich soziologischer und medizinischer Risikobegriff konzeptuell zu treffen. Die von Ulrich Beck entworfene „Risikogesellschaft“ kann in mancherlei Hinsicht als eine „Nebenwirkung“ der fortschreitenden Entwicklung der industriellen Moderne gelten,3 – ebenso kann eine neuere „Risikomedizin“ als „Nebenwirkung“

2

Elisabeth Beck-Gernsheim: Health and Responsibility: From Social Change to Technological Change and Vice Versa, in: Barbara Adam, Ulrich Beck, Joost van Loon (Hg.): The Risk Society and Beyond. Critical Issues for Social Theory. London 2007, S. 122– 135, hier S. 125. Mit explizitem Bezug auf soziologische Risikokonzepte in diesem Zusammenhang bereits 1990: Wolfgang Bonß/Rainer Hohlfeld/Regine Kollek: Risiko und Kontext. Zum Umgang mit den Risiken der Gentechnologie. Hamburg 1990.

3

Ulrich Beck: Die Erfindung des Politischen. Zu einer Theorie reflexiver Modernisierung. Frankfurt a. M. Frankfurt a. M. 1993, zitiert nach Ute Volkmann: Das schwierige Leben in der „Zweiten Moderne“ – Ulrich Becks „Risikogesellschaft“, in: Uwe Schimank/Ute Volkmann (Hg.): Soziologische Gegenwartsdiagnosen. Eine Bestandsauf-

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der in den letzten Generationen ganz erheblich erweiterten Eingriffsmöglichkeiten in die Verlaufswege menschlicher Gesundheit aufgefasst werden. Sowohl für die (spät-/post-/nach-)moderne, riskante Gesellschaft als auch für die dazu gehörende Medizin treffen wir also auf eine erste und populäre Wahrnehmung, die erwünschte und lange erhoffte „Fortschritte“ mit eher ausnahmsweise (oder auch nicht) auftretenden, aber gegebenenfalls gefährlichen „Begleiterscheinungen“ verrechnet; in der Politik ist in den vergangenen beiden Jahrzehnten von „Kollateralschäden“ die Rede. Ins Zentrum gerät mit der Unterscheidung von erwünschten und unerwünschten Folgen und/oder Wirkungen eine Intentionalität, die allerdings weder dem arzneilichen Wirkstoff noch der Moderne sinnvoll unterstellt werden können. In der Medizin ist daher zuletzt treffend von „UAW“ – unerwünschte Arzneimittelwirkungen – anstelle von „Nebenwirkungen“ (die „Hauptwirkungen“ unterstellen) die Rede. Wäre die „Risikogesellschaft“ dann eine „unerwünschte Wirkung der Moderne“? Um nicht von schwer zurechenbaren Wünschen und ihrer Erfüllung oder Nicht-Erfüllung sprechen zu müssen, hat Niklas Luhmann sein Risikokonzept auf das Moment der – präzise zuordnenbaren – Entscheidung zugeschnitten.4 Voraussetzung eines Risikos wird dabei eine bewusste und hinsichtlich der kalkulier- und erwartbaren Folgen begründete Entscheidung, ansonsten wäre nicht von Risiko, sondern von Gefahr zu sprechen. 5 Luhmann gibt in seinem Risikokonzept die Intentionalität bewussten Akteuren zurück: Risiken kann (muss?) eine Person unter gegebenen Bedingungen der Kalkulierbarkeit eingehen, Gefahren ist man ausgesetzt. Entscheidung und Entscheidungsfähigkeit sind aber im medizinischen Zusammenhang auf zwei verschiedene Akteure verteilt: Ärztinnen und Ärzte sowie ihre Patientinnen und Patienten; nicht ganz selten so, dass erstere Entscheidungen tref-

nahme. 2. Aufl., Wiesbaden 2007, S. 23–40, hier S. 24: „Der Übergang von der Industrie- zur Risikoepoche der Moderne vollzieht sich ungewollt, ungesehen, zwanghaft im Zuge der verselbständigten Modernisierungsdynamik nach dem Muster der latenten Nebenfolgen.“ 4

Niklas Luhmann: Risiko auf alle Fälle. Schwierigkeiten bei der Beschreibung der Zukunft, in: Ders.: Short Cuts. Frankfurt a. M. 2000, S. 91–98, hier S. 98: „Entscheidungen sind die einzigen uns noch verbliebenen Zukunftsbeschreibungen.“

5

„Wenn negative Folgen, die nicht als notwendige Kosten einkalkuliert waren, auf eine Entscheidung zugerechnet werden, handelt es sich um ein Risiko. Wenn sie auf externe Ursachen zugerechnet werden, die nicht davon abhängen, wie man sich entschieden hatte, handelt es sich um eine Gefahr.“ Niklas Luhmann: Das Risiko der Versicherung gegen Gefahren, in: Soziale Welt 47 (1996), S. 273–283, hier S. 274.

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fen, deren Risiko letztere zu tragen haben. Der Risikodiskurs wird daher nicht zuletzt als die Debatte von Aufklärungspflichten und Haftungsrecht geführt.6 Nicht immer wird dabei auf die Grenzen des Wissens und die Grenzen des Sagbaren bei den ärztlichen Experten hingewiesen; komplexe Wissensformationen werden zuweilen unterschlagen. Alexander von Schwerin hat etwa am Beispiel des Radiums und seiner medizinischen Anwendung während des Nationalsozialismus auf die Doppelstruktur aufmerksam gemacht, „dass die soziale Ordnung [nicht nur] verschiedene Vorstellungen vom Material hervorbringt, sondern dass auch umgekehrt die Stoffe die Reproduktion und Transformation der sozialen Ordnung antreiben“.7 Auf erneut etwas anderen Bahnen verläuft die Debatte in der Medizinsoziologie, den Gesundheitswissenschaften und der public-health-Forschung,8 wo Risikokonzepte seit geraumer Zeit eine erhebliche Rolle spielen. In Großbritannien wurde im Zusammenhang mit dem „UK Economic and Social Research Council's Research Programme on Risk and Human Behaviour“ bereits 1999 eine wissenschaftliche Zeitschrift unter dem Titel „Health, Risk & Society“ etabliert.9 Regel-

6

Vgl. Danielle Bromwich/Anette Rid: Can Informed Consent to Research be Adapted to Risk?, in: Journal of Medical Ethics 41 (2015), S. 521–528; Julian Savulescu: Risk and Regulation in Research, in: Journal of Medical Ethics 41 (2015), S. 503; Johannes Till Höcker: Neue Impulse zur Gestaltung der Risikoaufklärung. Halle (Saale) 2013; Dieter Hart: Haftungsrecht und Standardbildung in der modernen Medizin. e:med und Probleme der Definition des Standards, in: Medizinrecht 34 (2016), S. 669–675.

7

Alexander von Schwerin: Prekäre Stoffe. Radiumökonomie, Risikoepisteme und die Etablierung der Radioindikatortechnik in der Zeit des Nationalsozialismus, in: NTM Zeitschrift für Geschichte der Wissenschaften, Technik und Medizin 17 (2009), S. 5– 33; Vgl. Heiko Stoff: Hexa-Sabbat. Fremdstoffe und Vitalstoffe, Experten und der kritische Verbraucher in der BRD der 1950er und 1960er Jahre, in: NTM Zeitschrift für Geschichte der Wissenschaften, Technik und Medizin 17 (2009), S. 55–83; Heiko Stoff: Wirkstoffe. Eine Wissenschaftsgeschichte der Hormone, Vitamine und Enzyme, 1920– 1970. Stuttgart 2012.

8

Vgl. bspw. Bettina Paul, Henning Schmidt-Semisch (Hg.): Risiko Gesundheit. Über Risiken und Nebenwirkungen der Gesundheitsgesellschaft. Wiesbaden 2010.

9

Vgl. die Editorials der Erstausgabe: Andy Alaszewski/Jill Manthorpe: Health, Risk and Society. A Stimulus and Catalyst, in: Health, Risk & Society 1 (1999), S. 5f.; Graham Hart: Risk and Health: Challenges and Opportunity, in: Health, Risk & Society 1 (1999), S. 7–10; Mildred Blaxter: Risk, Health and Social Research: Lessons from the

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mäßig werden dort auch über das engere Themengebiet hinaus methodisch relevante Beiträge publiziert.10 Zusammenfassend sind aus dieser Richtung zweierlei Risikokonzeptionen maßgeblich, die übrigens in mancherlei Hinsicht auf den sozialhygienischen Diskurs des ausgehenden 19. und frühen 20. Jahrhunderts verweisen. Unterschieden werden Bevölkerungsgruppen als besonders gefährdete „Risikogruppen“ nach gesundheitsgefährdenden Lebens- und Arbeitsbedingungen auf der kollektiven Ebene11 von gesundheitsgefährdenden und damit „riskanten“ Verhaltensweisen auf der individuellen. Daneben existieren selbstverständlich Überschneidungen beider Konzeptionen sowie übergeordnete Fragen der staatlichen, halbstaatlichen und weiteren Agenturen, die einerseits Zugang zu medizinischen Dienstleistungen vermitteln, andererseits auf „Aufklärung“ im Sinne von konkreter Verhaltensänderung abzielen. Als gegen Ende des Jahrhunderts eigenständige und übergreifende Disziplin entwickelte sich eine Hygiene,12 die erst die Lebens- und Arbeitsverhältnisse als Umgebungsbedingungen, dann das Verhalten der (gesunden, aber als gefährdet geltenden) Menschen zu beeinflussen suchte, bis im frühen 20. Jahrhundert auch deren Fortpflanzung als Sozial- und Rassenhygiene in den Fokus geriet. Die idealiter flächendeckende Untersuchung und Behandlung von gesunden Personen, die dann als Noch-nicht-Erkrankte in den Blick geraten, erweiterte das Aufgabengebiet von „Medizin“ ins annähernd Unendliche. Gleichzeitig beruhen einschlägige Praktiken auf einer Risikoabschätzung, die Schadenswahrscheinlichkeit und Schadenshöhe auf individueller und kollektiver Ebene miteinander verrechnet – seit der Einführung umlagefinanzierter Krankenversicherungen auf allen Ebenen

ESRC Programme on Risk and Human Behaviour, in: Health, Risk & Society 1 (1999), S. 11–24. 10 Zuletzt bspw. Andy Alaszewski: Anthropology and Risk. Insights into Uncertainty, Danger and Blame from other Cultures – A Review Essay, in: Health, Risk & Society 17 (2015), S. 205–225. 11 Vgl. bspw. das Handbuch: Max Mosse, Gustav Tugendreich (Hg.): Krankheit und soziale Lage. München 1913. 12 Alfons Labisch: „Hygiene ist Moral – Moral ist Hygiene.“ Soziale Disziplinierung durch Ärzte und Medizin, in: Christoph Sachße, Florian Tennstedt (Hg.): Soziale Sicherheit und soziale Disziplinierung. Beiträge zu einer historischen Theorie der Sozialpolitik, Frankfurt a. M. 1986. S. 265–285.

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auch in Geldwerten.13 Welches gesellschaftliche Risiko entsteht durch die Erkrankungen Einzelner, Weniger oder Vieler? Daraus resultieren „Präventionssemantiken“, innerhalb derer „Gesundheit“ nicht mehr kontrovers und offen diskutabel ist.14 Zu den besonders dramatischen Risikonarrativen der (bakteriologischen) Moderne gehört „Ansteckung“. Zuletzt haben etwa die Ebola-Epidemie in Westafrika aber auch die Grippe-Epidemie des Winters 2014/15 mit einer gut fünfstelligen Zahl an Todesopfern allein in Deutschland darauf aufmerksam gemacht, dass für einen nicht ganz unerheblichen Teil von Infektionskrankheiten keine therapeutischen Optionen bestehen. Noch vor der Impfung bilden individuelle Verhaltensvorschriften die wirksamste Prävention: Dies beginnt mit dem regelmäßigen Händewaschen und führt über den Verzicht auf kulturprägende Rituale wie das gegenseitige Händeschütteln oder die Einnahme des Abendmahls aus dem Gemeinschaftskelch bis zur Schließung von Kindergärten und Schulen oder aber – wo möglich – dem Ausschluss infizierter Personen und häufiger noch der Infektion verdächtiger.

13 Martin Lengwiler: Risikopolitik im Sozialstaat. Die schweizerische Unfallversicherung, 1870–1970. Köln 2006; Martin Lengwiler: Risikowahrnehmung und Zivilisationskritik. Kulturgeschichtliche Perspektiven auf das Gesundheitswesen der USA, in: Zeithistorische Forschungen/Studies in Contemporary History, Online-Ausgabe 10 (2013), S. 479–490. 14 „Die Gesundheitswissenschaften erweisen sich in dieser Perspektive als ein wichtiger Entstehungs- und Artikulationskontext der gegenwärtigen Form einer präventiven Gesundheitssorge. Sie produzieren ein Wissensfeld, das durch spezifische Schemata und Aussagen intern Struktur gewinnt und zugleich an Praktiken der Krankheitsprävention und Gesundheitsförderung gekoppelt ist oder zumindest zu deren Realisation motiviert. Der gesundheitswissenschaftliche Präventionsdiskurs führt eine Reihe von Themen und Gegenständen ins Feld, die mit einer auf jene abgestimmten Begrifflichkeit belegt werden, etabliert Wahrheiten, deren Evidenz unbestreitbar scheint, und skizziert nicht zuletzt praktische Implikationen, die ihrer Umsetzung harren.“ Matthias Leanza: Die Gegenwart zukünftiger Erkrankungen. Prävention und die Person, in: Bettina Paul, Henning Schmidt-Semisch (Hg.): Risiko Gesundheit. Über Risiken und Nebenwirkungen der Gesundheitsgesellschaft. Wiesbaden 2010, S. 241–262, hier S. 249. Vgl. aus medizinhistorischer Perspektive: Martin Lengwiler/Jeanette Madarász (Hg.): Das präventive Selbst. Eine Kulturgeschichte moderner Gesundheitspolitik. Bielefeld 2010.

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VORMODERNE RISIKEN? Wir leben bereits in der „Gegenwart zukünftiger Erkrankungen“: 15 Unsere Gesundheit ist immer gefährdet, und sie wird es bis zu unserem Tod – der allerdings nicht als unsicher bezeichnet werden kann! – bleiben. Die Frage hier ist allerdings, ob (und falls ja, wie) sich dies im historischen Verlauf darstellt. Dazu soll der Blick in die Vormoderne helfen. Dies schließt allerdings ein enges Festhalten an der von Ulrich Beck vorgelegten und – zumindest im deutschen Sprachraum – derzeit prominentesten Konzeption von „Risiko“ aus. Beck hat „Risiko“ unzweideutig als Epochenbegriff einer zweiten, nämlich „anderen“ 16 und „reflexiven Moderne“ 17 konzipiert, der sich in dieser Fassung nicht in die Vergangenheit transponieren lässt, ohne seine chronologische Implikation vom „Weg in eine andere Moderne“ zu verlieren. 18 Auch Niklas Luhmann, der Gefahr (statt: Sicherheit) als Gegenbegriff zu Risiko postuliert, macht Risiko zur modernen, weil kalkulierten Variante des Umgangs mit Gefährdungen; am Beispiel des Versicherungsmarktes zeigt er, dass eine Gesellschaft, in der Versicherungen gegen Gefahren gehandelt werden, sich damit nicht etwa größere Sicherheit schafft, sondern sich auf „eine explosive Vermehrung von Risiken“ einlässt.19 Für die Geschichtswissenschaft, speziell diejenige der Vormoderne, ist danach zu fragen, wie die dort untersuchten Gesellschaften „die Verknüpfung von Vergangenheit und Zukunft“ herstellten, und damit gerade in Frage zu stellen, dies sei kaum „von Entscheidungen abhängig“ gemacht worden.20

15 Leanza: Gegenwart zukünftiger Erkrankungen (wie Anm. 14). 16 Ulrich Beck: Risikogesellschaft. Auf dem Weg in eine andere Moderne. Frankfurt a. M. 1986. 17 Ulrich Beck: Die Erfindung des Politischen. Zu einer Theorie reflexiver Modernisierung. Frankfurt a. M. 1993. 18 Zusammenfassend: Volkmann: Das schwierige Leben (wie Anm. 3). 19 Luhmann: Risiko der Versicherung (wie Anm. 5). Die Argumentation läuft analog zum legendären „Regenschirm-Beispiel“. Sobald es Versicherungen gibt, werden Schadensfälle in Geldwerten kalkulier- und handelbar. Die Entscheidung, eine Versicherungspolice zu bezahlen (oder auch nicht), hat das Risiko des nicht-Eintretens des versicherten Schadenfalls zur Folge (und umgekehrt). 20 Luhmann: Risiko der Versicherung (wie Anm. 5), S. 275: „Die Frage ist deshalb: was ist der Grund dafür, daß die Gesellschaft die Verknüpfung von Vergangenheit und Zukunft mehr und mehr von Entscheidungen abhängig macht? […] Aber die Ausgangsfrage wäre in beiden Fällen, weshalb man sich die Zukunft nicht in erster Linie durch

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Anknüpfungspunkte bieten die Arbeiten der Anthropologin Mary Douglas, die in ihrer 1966 publizierten, klassischen Arbeit Purity and Danger symbolische Klassifikationssysteme als soziale Ordnungsstifter ersten Ranges analysiert,21 und später Perzeptionen von Risiko zum analytischen Dreh- und Angelpunkt ihrer „cultural theory“ machte.22 An dieser Stelle entscheidend ist die Wendung, „Risiko“ als kulturanalytisches Werkzeug zu gebrauchen, das Spezifika von in Raum und Zeit unterschiedlichen Gesellschaften und Gemeinschaften zu untersuchen vermag.23 Douglas hat frühzeitig die Speisegesetze, also Reinheits- und Ordnungskonzepte nach dem Buch Leviticus untersucht24 und darauf hingewiesen, dass eine vorschnelle Gleichsetzung von modernen Hygienebegriffen und vormodernen rituellen Anweisungen an beiden Enden das Verständnis eher behindert als befördert: Es ist richtig, daß das Meiden ansteckender Krankheiten und rituelle Vermeidungen oft ganz erstaunlich korrespondieren. … Aber es ist eine Sache, auf die nützlichen Nebenwirkungen [sic!] ritueller Handlungen hinzuweisen, und eine ganz andere, sich für eine zureichende Erklärung mit den beiläufigen Resultaten zu begnügen. Selbst wenn einige der mosaischen Speisegesetzte günstige Auswirkungen auf die hygienischen Gewohnheiten hatten, wäre es doch ein Jammer, Moses nicht in erster Linie als geistigen Führer, sondern als aufgeklärten Beamten des öffentlichen Gesundheitswesens zu betrachten.25

die Vergangenheit garantieren läßt und allenfalls für einen Restposten von Koinzidenzen, Unglücken, Gefahren Vorsorge trifft.“ 21 Mary Douglas: Purity and Danger. An Analysis of Concept of Pollution and Taboo. London, New York 2001 (Reprint d. 1. Aufl. 1966), deutsch: Mary Douglas: Reinheit und Gefährdung. Eine Studie zu Vorstellungen von Verunreinigung und Tabu. Berlin 1985. 22 Mary Douglas/Aaron B. Wildavsky: Risk and Culture. An Essay on the Selection of Technical and Environmental Dangers. Berkeley 1983; Mary Douglas: Risk and Blame. Essays in Cultural Theory. London 1996; Mary Douglas: Cultures and Crises. Understanding Risk and Resolution, hg. v. Richard Fardon. London 2013. 23 Mary Douglas: Risk as a Forensic Resource, in: Daedalus 119 (1990) 4, S. 1–16. 24 Douglas: Reinheit und Gefährdung (wie Anm. 21), S. 60–78. 25 Douglas: Reinheit und Gefährdung (wie Anm. 21), S. 45f.

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Dies kann gut auf das ebenfalls im Buch Leviticus (3. Mos 13,45–46) geführte Aussatzgebot gegenüber den Aussätzigen beziehungsweise Leprosen26 übertragen werden, das in der Sozial- und Medizingeschichte zuweilen als Frühform des Infektionsschutzes geführt wird: Wer nun aussätzig ist, soll zerrissene Kleider tragen und das Haar lose und den Bart verhüllt und soll rufen: Unrein, unrein! Und solange die Stelle an ihm ist, soll er unrein sein, allein wohnen, und seine Wohnung soll außerhalb des Lagers sein.27

„DAS DIE LEWT STURBEN VND ETLICHE DIE LAGEN JN IREN HAUPTEN SAM SIE SYN LAß WEREN VND HETEN NIT VERNUFT“ Um das Jahr 1400 ereignete sich eine merkwürdige Seuche in der Reichsstadt Nürnberg, die in den Chroniken „purtzel“ genannt wird.28 Wie irre benahmen sich die Betroffenen, heißt es in den Quellen, torkelten, stürzten und blieben tot liegen. So rätselhaft die Erkrankung sein mag, wenn sie nach Maßgabe moderner medizinischer Begrifflichkeiten beurteilt werden würde, so klar werden die Gründe für ihr Kommen und ihr baldiges Verschwinden geklärt, folgt man der Darstellung der Quelle. Nur wenige Jahre zuvor hatten drei wohlhabende Nürnberger Witwen eine Stiftung etabliert, die in der Karwoche fremde Aussätzige inmitten der Stadt geistlich und leiblich versorgte, die sich bald als „Sondersiechenalmosen“ einen Namen machte und so bis heute in der Nürnberger Stadtgeschichte geführt wird.29 Nachdem der Zulauf merklich zugenommen hatte, entschied der Rat der Stadt, die fremden Leprosen künftig nicht mehr in die Stadt zu lassen. Daraufhin brach der „purtzel“ aus, der sofort wieder aufhörte, als die Ratsherren ihr Einsehen bewiesen und die wartenden Aussätzigen in die Stadt ließen.

26 Vgl. Mary Douglas: Witchraft and Leprosy. Two Strategies for Rejection, in: Dies.: Risk and Blame (wie Anm. 22), S. 83–101. 27 Lutherbibel 2017: . 28 Fritz Dross: Stigma – Gnade – Skandal: der Nürnberger „portzel“, in: Jörg Vögele/Stefanie Knöll/Thorsten Noack (Hg.): Epidemien und Pandemien in historischer Perspektive. Epidemics and Pandemics in Historical Perspective. Wiesbaden 2016, S. 51–58. 29 Michael Diefenbacher: „Sondersiechenalmosen“, in: Ders./Rudolf Endres (Hg.): Stadtlexikon Nürnberg. Nürnberg 2000. Online .

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Das im hier verfolgten Zusammenhang besonders Interessante am Nürnberger „purtzel“ ist der Umstand, dass hier gleich mehrere Gefahren miteinander verrechnet werden. Zum einen ist dies der Ausbruch eines „purtzel“, der auf die Entscheidung folgt, die Aussätzigen nicht einzulassen, und der mit der einfachen Rücknahme dieser Entscheidung zwangsläufig wieder gebannt wird. Dies scheint auf den ersten Blick so kalkulierbar wie geradezu mechanisch, stellt allerdings den spätmittelalterlichen Aussatz-Diskurs auf den Kopf. Denn wenn die Leprosen nach der mittelalterlichen Lesart des Alten Testaments ausgesetzt gehören, muss es diskursimmanent hochriskant sein, bereits Ausgesetzte – zudem Fremde – wieder einzulassen. Die zu Grunde liegenden „Risikofaktoren“ sind offenbar auf mehreren Ebenen zu betrachten: das Einlassen der Aussätzigen im Sondersiechenalmosen und das Aussetzen der Aussätzigen durch dessen zeitweilige Aufhebung. Der „purtzel“ bezieht seine Legitimation aus der Konstruktion des Nürnberger Sondersiechenalmosens. 30 Das Einlassen der Aussätzigen stellt einen rigiden Bruch mit den im Alten Testament angewiesenen Aussatzgeboten dar. Die Frage war allerdings insofern komplizierter, als Ärzte – und nicht Priester – inzwischen mit der Feststellung des Aussatzes beauftragt waren; der Nürnberger Stadtarzt Joachim Camerarius brachte im Hinblick auf das Sondersiechenalmosen die religiöse und die medizinische Argumentation als „Ansteckungsrisiko“ auf einen gemeinsamen, zumindest halbwegs widerspruchslosen Nenner: Dieweil von wegen des bößen und sündlichen leben der menschen fürnemlich der aussatz ein große straf gottes ist, dadurch dann alzeit diejenigen, welche mit dieser abscheulichen und er schrecklichen seuche behaft sein gewesen, auf das die andern, wie balt gescheen kan, auch nicht durch sie verunrainigt würden, von andern leuten abgesundert sein worden.

Die Argumentation verläuft dabei in Gegenrichtung des biblischen Textes, das Aussatzgebot bezieht sich auf eine Erkrankung, die daher unzweideutig als Strafe Gottes identifiziert wird. Die „Verunreinigung“ ist aber nicht der Kern der Erkrankung, sondern deren Effekt als „ansteckende“ Krankheit. Die deshalb notwendige Separation der Kranken dürfe allerdings nicht leichtfertig (und insbesondere nicht durch Laien!) erfolgen, „auf das die armen leut nicht also vergebens abgesondert und von einander geschaidet würden.“31

30 Fritz Dross: Vom zuverlässigen Urteilen. Ärztliche Autorität, reichsstädtische Ordnung und der Verlust „armer Glieder Christi“ in der Nürnberger Sondersiechenschau, in: Medizin, Gesellschaft und Geschichte 29 (2010), S. 9–46. 31 Stadtbibliothek Nürnberg (StadtBib N), Ms. Cent V 42, S. 132r–138r (Joachim Camerarius: Kurtzes und ordentliches bedencken …, Caput quartum: Von besichtigung der

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Darüber hinaus wird im Sondersiechenalmosen mit der – in Nürnberg geradezu paradigmatisch etablierten – Praxis der Bettelpolizei gebrochen, fremden Bettlern keinen Einlass in die Stadt zu gewähren. Die städtische Obrigkeit war mithin gefordert, die Gefahren des Verstoßes sowohl ihrer Verordnung, keine Bettler in die Stadt zu lassen, als obendrein des Verstoßes gegen das alttestamentarische Aussatzgebot, mit der Seuchengefahr („purtzel“) in irgendeiner Weise zu verrechnen. Im Folgenden soll der Versuch unternommen werden, Begriffe einer vormodernen Risikovorsorge aufzuspüren, um die Absage des Almosens einzuordnen und das damit verbundene naheliegende Aussetzen der Aussätzigen zu legitimieren – was offenbar seinerseits die Gefahr heraufbeschwor, die Stadt dem „purtzel“ auszusetzen. Auf einen offenbar eindringlichen Appell des Predigers im Heilig-Geist-Spital, Meister Niclas, haben 1394 Anna Grundherrin, Anna Neydungin und die Uslingerin eine Stiftung errichtet, die jährlich von Kardienstagnachmittag bis Karfreitagmittag fremden Aussätzigen geistliche und leibliche Versorgung in der Stadt zukommen lassen sollte. Die Stiftungsidee ist eine grandiose Verkörperung des doppelgesichtigen Bildes vom Aussatz und den Aussätzigen im (späten) Mittelalter. Diejenigen, die nach alttestamentarischer Lesart von jeglicher Gemeinschaft ausgeschlossen gehörten und die genau deshalb nach neutestamentarischer Lesart die ganz besonders erbarmungswürdigen Kreaturen dieser Erde waren, in der Karwoche gleichsam zur Verkörperung des gemarterten Christus in die Stadt zu bitten und öffentlich auf dem Sebalder Kirchhof zu versorgen, hat offenbar besonderen Reiz auf die Stifterinnen ausgeübt. Geschuldet ist dies der herausragenden Bedeutung der Karwoche für die spätmittelalterliche christliche Frömmigkeit, in der das österliche Erlösungsversprechen durch die öffentliche und drastische Zurschaustellung und den dramatischen Nachvollzug des Martyriums Christi zelebriert wurde. Dies zu unterbrechen wurde daher unmittelbar durch Gott bestraft. Unzweideutig formuliert die Beschreibung des „purtzels“ in dem Ordnungsbuch der Sondersiechenstiftung „Da verhenget vnser lieber herre Jhus xpus das die lewt sturben“.32

aussetzigen oder siechen leuten.) Edition in Karl Gröschel: Des Camerarius Entwurf einer Nürnberger Medizinalordnung „Kurtzes und ordentliches Bedencken“ 1571. München 1977. 32 Stadtarchiv Nürnberg (Stadt A N), A 21 Codices manuscripti 31 (Sondersiechen-Stiftung), f. 1v.

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Zu bedenken ist in diesem Zusammenhang, dass keine unmittelbare Überlieferung für das Sondersiechenalmosen bis in die Mitte des 15. Jahrhunderts existiert. Sie beginnt mit dem 1462 angelegten Ordnungsbuch der Stiftung, 33 als dieselbe in städtische Regie unter dem Pfleger Hans Ulstatt d.Ä. überging. Über eine gedruckt verbreitete Spruchdichtung des Nürnbergers Hans Rosenplüt aus dem Jahr 1490,34 einen Einblattdruck des Jahres 1493 sowie durch die Lobrede durch Conrad Celtis35 und Johannes Cochlaeus36 erlangte das Sondersiechenalmosen um 1500 einige Bekanntheit in größeren und weiteren Kreisen und zog jährlich 600 bis 700 Besucher an. Das im Auftrag der Stadtobrigkeit erstellte Ordnungsbuch aus der Mitte des 15. Jahrhunderts beginnt mit der Geschichte des Almosens und kommt bereits nach wenigen Sätzen auf den „purtzel“ – alles deutet darauf hin, dass dies seinerseits die Vorlage für etwa gleichzeitige und spätere chronikalische Erwähnungen der „purtzel“-Epidemie um 1500 darstellt.37 Der Verweis auf den „purtzel“ gerät somit von einer Randnotiz der frühen Überlieferung des Nürnberger Sondersiechenalmosens zu dessen initialer Begründung; mit der Warnung vor den fürchterlichen Folgen des Aussetzens des Almosens und damit der Aussätzigen gerät die zentrale Begründung für deren Einlassen zu einer vormodernen Variante des Risikomanagements. Diese hat offenbar gefruchtet: Lediglich in den Pestjahren 1497 und 1528 wurden die anreisenden Leprosen nicht durch die Stadttore geleitet, sondern am Lepra-Spital St. Johannis gehalten.

33 StadtA N, A 21 Codices manuscripti 31 (Sondersiechen-Stiftung). 34 Hans Rosenplüt: Hi in disem puchlein findet ir gar ein loblichen spruch von der erentreichen stat nurmberg gar von mancherlei irer fursehung der stat und irer gemein. Nürnberg 1490. 35 Conrad Celtis: „Norimberga“. Ein Büchlein über Ursprung, Lage, Einrichtungen und Gesittung Nürnbergs, vollendet um das Jahr 1500, gedruckt vorgelegt 1502. Nürnberg 2000 (aus dem Lat. erstmals in modernes Dt. übers. und erl. von Gerhard Fink), S. 60– 63. 36 Johannes Cochlaeus: Brevis Germanie descriptio (1512) mit der Deutschlandkarte des Erhard Etzlaub von 1512, hg. v. Karl Langosch. Darmstadt 1960, S. 86–89. 37 Die Chroniken der fränkischen Städte, Nürnberg 4 (1872), S. 135–137.

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„ALL IAR DA IN DER MARTERWOCHEN“ – DAS NÜRNBERGER SONDERSIECHENALMOSEN Das Sondersiechenalmosen wurde eine beliebte Veranstaltung, die in der Mitte des 15. Jahrhunderts bereits „pei 600 oder mer“, 38 im 16. Jahrhundert zuweilen 3.000 fremde Aussätzige nach Nürnberg zog. Da die Übernachtung dieser Menge unter freiem Himmel auf dem Sebalder Kirchhof und notfalls wohl auch in der Kirche nicht mehr handzuhaben war, wurde in den 1440er Jahren ein eigenes großes – und damit notwendig teures – Haus auf dem Neuen Bau errichtet,39 das nach der Sondersiechenordnung ausschließlich in der Karwoche geöffnet werden sollte; erst 1562/3 wurden Speisung, Predigt und wohl auch Beichte, die weiterhin auf dem Kirchhof beziehungsweise in der Sebalduskirche stattgefunden hatten, dorthin verlegt.40 Der Andrang scheint aber insgesamt noch erheblich höher gewesen zu sein, glaubt man den Angaben des außerhalb der Stadtmauer gelegenen Pilgerhospitals Heilig-Kreuz, in den Jahren 1562 und 1563 etwa 13.000, 1572 mehr als 24.000 Personen verköstigt zu haben.41 Auf engem Raum mehrere hundert, zudem fremde und damit unbekannte Personen zu versorgen, war ein aufwendiges Unterfangen. Hinsichtlich der öffentlichen Ordnung und der städtischen Sicherheit musste die Veranstaltung als erhebliches Sicherheitsrisiko gelten – und dies wohl weniger einer „Krankheit“ als der Fremdheit der eingelassenen Personenmenge wegen.42 Es galten strenge Separationsvorschriften. Der offenbar zur Bewerbung der Veranstaltung und zum Lobpreis der wohltätigen Stadtgemeinschaft in Auftrag gegebene Einblattdruck warnte nicht-leprose Bettler, dass sie abgewiesen würden:

38 Die Chroniken der fränkischen Städte, Nürnberg 4 (1872), S. 135. 39 Georg Wolfgang Karl Lochner: Die Sondersiechen in Nürnberg, ihr Almosen und ihre Schau, in: Deutsche Zeitschrift für die Staatsarzneikunde NF 17 (1861), Nr. IV, S. 177– 252, hier S. 178f. 40 Johann Ferdinand Roth: Fragmente zur Geschichte der Bader, Barbierer, Hebammen, Erbarn Frauen und Geschwornen Weiber in der freyen Reichsstadt Nürnberg. Bey der Feyer des zweihundertjährigen Jubiläums des Nürnbergischen Medizinischen Collegiums bekannt gemacht. Nürnberg 1792, S. 14. 41 Helmut Haller von Hallerstein, Ernst Eichhorn: Das Pilgrimspital zum Heiligen Kreuz vor Nürnberg. Geschichte und Kunstdenkmäler. Nürnberg 1969, S. 48f. 42 Fritz Dross, Annemarie Kinzelbach: „nit mehr alls sein burger, sonder alls ein frembder“. Fremdheit und Aussatz in frühneuzeitlichen Reichsstädten, in: Medizinhistorisches Journal 46 (2011), S. 1–23.

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Freunt du pist nicht sundersiech/ du hast wol sunst verwarlast dich/ Bist erfrorn in dem kallten winter/ Last ander herzu drit du hinhinter.43

Selbst erhebliche Erfrierungen nach einem obdachlos verbrachten Winter sollten den Genuss des Almosens keineswegs legitimieren. Ebenso wie die fremden Nicht-Leprosen waren auch die eigenen Leprosen von der Teilnahme am Sondersiechenalmosen ausgeschlossen, die in den vier städtischen Leprosorien lebten. Nach dem Einlass der Sondersiechen am Kardienstag oblag es nach dem Text des Ordnungsbuches den „Siechenmüttern“, mit ihren „Töchtern“ danach zu fragen, ob die fremden Leprosen an ihren Herkunftsorten gebeichtet und das Sakrament empfangen hätten. Am Karmittwoch nach dem Essen sollte die ärztliche Schau stattfinden.44 Dabei stellten Schreiber den „schön“ Geschauten einschlägige Zeugnisse mit den Siegeln der Ärzte aus, während die „vnsawber“ Geschauten zur Beichte geschickt werden sollten. Priester teilten nach der Beichte schließlich „Nötterlein“45 als Berechtigungszeichen aus. Gründonnerstag erfolgte während des Mahls wiederum eine strenge Musterung durch die Siechenmütter. Im Zweifelsfall nahmen sie verdächtigen Personen das „Nötterlein“ ab und schickten sie erneut zur ärztlichen Schau.46 Es beeindruckt die schiere Zahl der täglichen Kontrollen durch Priester und Heilkundige, die Dokumentation der Ergebnisse durch Urkunden und „Nötterlein“ sowie die strengen Vor- und Gegenkontrollen durch die „Siechenmütter“, die in allen Phasen die Herrinnen des Verfahrens bleiben sollten. Der besonderen Kontrolle unterlagen die geistliche und die leibliche Befähigung der Almosenempfänger, die von den professionell dazu berufenen Priestern und Ärzten im Auftrag der Stiftung unter Aufsicht der „Siechenmütter“ geprüft wurde. Gleichzeitig sind in

43 Sondersiechenschau Nürnberg, Einblattdruck, 1493. Stiftung Schloss Friedenstein Gotha. Im Druck zuletzt bei Kay Peter Jankrift: Mit Gott und schwarzer Magie: Medizin im Mittelalter. Darmstadt 2005, S. 137, und Fritz Dross/Marion Maria Ruisinger: Krisenzeiten: Pest, Lepra und ihre Patrone, in: Marion Maria Ruisinger (Hg.): Heilige und Heilkunst. Ingolstadt 2009, S. 23–37, hier S. 34. 44 StadtA N, A 21–31 Sondersiechen-Stiftung St. Sebald auf dem Kirchhof, fol. 15r. 45 Evtl. zu „notteln, nötteln, nütteln, iterativ zu mhd. notten, sich hin und her bewegen, schütteln, rütteln“ als symbolische Lepraklapper zu deuten. Jacob Grimm, Wilhelm Grimm: Deutsches Wörterbuch. München 1999 (Fotomechanischer Nachdruck der Erstausgabe 1854–1971), Bd. 13, Sp. 965. . 46 StadtA N, A 21–31 Sondersiechen-Stiftung St. Sebald auf dem Kirchhof, fol. 25r–25v.

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der Ordnung bereits die praktischen Probleme angelegt, denn die „schön“ Geschauten sollten nicht etwa der Stadt verwiesen, sondern an getrennten Tischen gespiesen, ihnen aber die Tuchgabe zum Ausgang am Karfreitag verwehrt bleiben. Für das Jahr 1527 liegt aus der Nördlinger Chronik des Sixt Stoll ein gründlicher Bericht vor, der belegt, dass das Nürnberger Sondersiechenalmosen weit über den engeren Einzugskreis der Reichsstadt hinaus Bekanntheit erlangt hatte. Tatsächlich berichtet der Nördlinger Chronist von stark schwankenden Zahlen, die andererseits aber auch auf das Zählen und die streng gehandhabte Kontrolle während des Almosens verweisen. 47 Zwischen 1.200 (Mittwochmorgen) und 2.400 (Donnerstagmittag) Menschen seien in der Karwoche 1527 bei St. Sebald versorgt worden; insgesamt seien 666 „Sieche“ und 2.205 „arme Menschen“ gezählt worden. Vergleichbare Angaben – in allerdings umgekehrter Proportion von „Leprosen“ und „Bettlern“ – ergibt die Nürnberger Überlieferung für das Jahr 1574, als 2.540 Sondersieche und 700 Bettler gezählt wurden.48 Es stellt sich jedoch die Frage, was die offenbar mehrfach täglich durchgeführte Zählung und Unterscheidung der fremden Sondersiechen bezweckte. Da sich in dem herrschenden Chaos der Kontakt zwischen den „Siechen“ und den „Bettlern“ nicht vermeiden ließ und eine konsequente und vollständige Trennung beider Gruppen nicht angestrebt wurde, scheidet jedenfalls aus, darin eine Vermeidungsstrategie eines „Ansteckungsrisikos“ im modernen Sinne zu sehen. Auf den Einlass selbst einer großen Menge von Fremden in der Karwoche ganz zu verzichten, verbot das Lehrstück des „purtzel“. Umfang und Strenge der Prüfung waren der Furcht vor Missbrauch geschuldet – hier finden sich Worte, die entsprechend dem zeitgenössischen Diskurs vom „unwürdigen“, „starken“ und „faulen“ (fremden) Bettler gewählt sind. Diesen Almosen zu geben, delegitimierte nicht zuletzt die Almosengeber. So wird das Sondersiechenalmosen letztlich zu einer Einrichtung, die weniger den „unreinen“ Leprosen gewidmet war als der durch ihre Wohltätigkeit gekennzeichneten „Reinheit“ der Siedlung, in diesem Falle der Reichsstadt Nürnberg. Dies ist die vormoderne Nürnberger Variante davon, wie „das Unreine ein notwendiger Bestandteil heiliger Orte und heiliger Zeiten ist“. 49

47 Stadtarchiv Nördlingen (StadtA Nö), Bestand Chro. 24: Chronik Sixt Stoll, fol. 26–28; für den Hinweis danke ich Annemarie Kinzelbach ganz herzlich. 48 Johannes Müllner: Die Annalen der Reichsstadt Nürnberg von 1623. Band II: 1351 bis 1469, hg. v. Gerhard Hirschmann. Nürnberg 1984, 135–137. 49 Douglas: Reinheit und Gefährdung (wie Anm. 21), S. 231.

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„DIESER AUSSATZ HEISSET REIN …“ Die plausible Risikoabschätzung des Einlassens oder Nicht-Einlassens der Aussätzigen war indes davon abhängig, dass sich die „unreinen“ Leprosen im Sinne des Buches Leviticus tatsächlich von den „reinen“ Nicht-Leprosen zuverlässig unterscheiden ließen, und sei es im Wege mehrfacher Nachprüfungen. Der Optimismus, dies auf der Grundlage des „examen leprosorum“ durch die Experten-Begutachtung,50 im Zweifel durch Ärzte, entscheiden zu können, erfuhr allerdings im Laufe des 16. Jahrhunderts eine schwere Beeinträchtigung. Die entscheidende Frage richtet sich mithin vorerst an das Aussatz-Konzept, an den spätmittelalterlichen und frühneuzeitlichen Begriff der „lepra“. 51 Eine offenbar körperlich manifeste Befindlichkeit, die zu derart rigiden Separationspraktiken führt wie die „lepra“, scheint ein erhebliches Gefährdungspotential bedeutet zu haben. Es gilt allerdings, Kurzschlüsse zu vermeiden – zu unterscheiden ist in kurzen Schritten der biblische Aussatz-Begriff vom medizinischen in Spätmittelalter und Früher Neuzeit. Welche Risiken werden jeweils impliziert? Dies ist hinsichtlich der „lepra“ besonders unübersichtlich, denn es handelt sich dabei um eine Bezeichnung, die in den griechischen und lateinischen Varianten des Alten und Neuen Testaments geläufig ist, hier jeweils in unterschiedlichen Kontexten. Medizinische Fachtexte noch der Frühen Neuzeit rekurrieren insbesondere auf die Stelle aus Leviticus 13 (Luther-Übersetzung): Wer nu aussetzig ist / des Kleider sollen zurissen sein / vnd das Heubt blos / vnd die Lippen verhüllet / vnd sol aller ding vnrein genennet werden. Vnd so lange das mal an jm ist / sol er vnrein sein / alleine wonen / vnd seine Wonung sol ausser dem Lager sein.

50 Annemarie Kinzelbach: „an jetzt grasierender kranckheit sehr schwer darnider“. „Schau“ und Kontext in süddeutschen Reichsstädten der frühen Neuzeit, in: Carl Christian Wahrmann/Martin Buchsteiner/Antje Strahl (Hg.): Seuche und Mensch. Herausforderung in den Jahrhunderten. Berlin 2012, S. 269–282; Fritz Dross: Seuchenpolizei und ärztliche Expertise: Das Nürnberger „Sondersiechenalmosen“ als Beispiel heilkundlichen Gutachtens, in: Wahrmann/Buchsteiner/Strahl, Seuche und Mensch, S. 283–301. 51 Vgl. Carole Rawcliffe: Leprosy in Medieval England. Woodbridge 2006; Martin Uhrmacher: Lepra und Leprosorien im rheinischen Raum vom 12. bis zum 18. Jahrhundert. Trier 2011; Christian Müller: Lepra in der Schweiz. Zürich 2007; Luke E. Demaitre: Leprosy in Premodern Medicine. A Malady of the Whole Body. Baltimore 2007.

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Das maßgebliche Aussatz-Paradigma wird also keinesfalls medizinisch etabliert (von „Krankheit“ ist durchgängig nicht die Rede), sondern im Sinne einer kultisch-rituellen „Reinheit“. Im Neuen Testament wird diese Deutung geradezu in ihr Gegenteil verkehrt, denn hier sind es nicht die „Unreinen“, sondern, ganz im Gegenteil, die von ihrer Umwelt verstoßenen, denen die besondere Aufmerksamkeit des Erlösers gilt. Der Aussätzige bittet nicht um „Gesundheit“, sondern um „Reinheit“; die Aussätzigen werden gerade nicht „geheilt “, sondern „gereinigt“: „Die Blinden sehen / vnd die Lamen gehen / die Aussetzigen werden rein / vnd die Tauben hören / die Todten stehen auff.“ (Matth. 11) Die Probleme zeigen sich nicht zuletzt an der Bibelübersetzung Martin Luthers, welche die deutsche Bezeichnung „Aussatz“ als Quasi-Synonym zum griechischen und lateinischen „lepra“ auch in der Medizin gängig machte. Aussatz bezeichnet dort gleichwertig den mosaischen, gleichsam „ursprünglichen“ Aussatz, wie er im Buch Leviticus des Alten Testaments geschildert wird. Sodann handelt es sich um die um 1500 feiner differenzierte medizinische Krankheitsbezeichnung, die allenfalls noch einen Teil des ursprünglichen Aussatzes abdeckt, sowie schließlich um die als Blattern auf die Haut der Aussätzigen ausgesetzte Krankheitsmaterie im Sinne eines humoralpathologischen Körperverständnisses.52 Zu Lev 13,11 („Wenn aber der Aussatz blühet in der haut“) bemerkte Luther in diesem Sinne: Dieser Aussatz heisset rein / Denn es ist ein gesunder Leib der sich also selbs reiniget / als mit bocken / masern / vnd kretze geschicht / da durch den gantzen Leib / das böse her aus schlegt / Wie wir Deudschen sagen / Es sey gesund etc.

Ausgesetzt wird hier im Sinne der Reinigung des Leibs durch den Leib unreine Materie aus dem Körperinneren an das Körperäußere – was in der Tat eine grundlegende Denkfigur der Humoralpathologie darstellt, die in den zahllosen evakuierenden Verfahren der klassischen Medizin vom Arzt evoziert wird. Nur vor diesem Hintergrund wird der Lepra-Begriff der medizinischen Fachliteratur des 16. sowie der Folgejahrhunderte etwas klarer. Ein einheitliches und nachvollziehbares medizinisches Lepra-Konzept, das überdies mit der biblischen Überlieferung in Einklang stand, war spätestens in der Mitte des 16. Jahrhunderts abhandengekommen. Philipp Schopff stellte 1572 (zitiert wird im Folgenden die zweite Auflage von 1582) erhebliche Diskrepanzen zwischen dem alttestamentarischen Bericht und den von Ärzten des 16. Jahrhunderts beobachteten Formen 52 Fritz Dross: Aussetzen und Einsperren. Zur Integration und Desintegration von Leprosen in Spätmittelalter und Früher Neuzeit, in: Arno Görgen, Thorsten Halling (Hg.), „Verortungen“ des Krankenhauses. Stuttgart 2014, S. 175–190.

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des Aussatzes fest. Da „der Aussatz im Alten Testament mehr eyn Geystliche dann weltliche oder natürliche deutung vnd außlegung gehabt“, wolle er alle Spekulation darüber gerne den Theologen und denjenigen überlassen, „welchen wol ist auff hohe vnd seltzame Fragen fleiß zulegen“. Zu unterscheiden sei der jüdische, der griechische sowie der heutige Aussatz, den Schopff als „Elephantiasis“ bezeichnete. Dabei fungierte der „jüdische“ Aussatz als derjenige, der im Alten Testament beschrieben, aber in Schopffs Gegenwart nur Gegenstand von theologischer Spitzfindigkeit sein sollte, der „griechische“ Aussatz als derjenige, den die antiken medizinischen Autoritäten so bezeichneten,53 was aber ebenfalls mit der beobachtbaren „Lepra“ des 16. Jahrhunderts offenbar keinerlei Übereinstimmung mehr zeigte. Zu ähnlichen Ergebnissen kamen die Nürnberger Stadtärzte, denen zum Jahresende 1571 vorgehalten wurde, dass nach ihren Untersuchungen eher zufällig „ietztt einer rhein, baldtt unrhein unnd also widerrumb dagegen erkhandt würde“.54 Dass „das Examen, welches die Altten Medici in erkhandtnus des Aussatz gebraucht, von unns allerley ursach halben ordentlich nitt khan vollzogen werden“,55 räumen die Ärzte durchweg ein. Tatsächlich hatten sie die vorliegende Literatur ganz außerordentlich gründlich studiert56 – allerdings mit dem niederschmetternden Ergebnis, dass die Autoritäten „selber was zwiespeldig“57 in der Sache wären. Besonders schwer wog überdies, dass Aussatz-Simulanten, „die mitt kleiben vnnd pflastern vnnd andern büberey sich wissen anzustreichen, als ob sie

53 Karl-Heinz Leven: „Lepra“, in: Ders. (Hg.): Antike Medizin. Ein Lexikon. München 2005, S. 565–567; Anna Maria Ieraci Bio: „Elephantiasis“, in: Leven: Antike Medizin, S. 249; Anna Maria Ieraci Bio: „Leontiasis“, in: Leven: Antike Medizin, S. 565. 54 StadtBib N Ms. Cent V, 42, fol. 140v (Palma). 55 StadtBib N, Ms. Cent V 42, fol. 140v–142r (Palma). 56 StadtBib N, Ms. Cent V 42, fol. 75r–85r. Vgl. Müller: Lepra (wie Anm. 49), S. 157– 174; Ortrun Riha: Aussatz. Geschichte und Gegenwart einer sozialen Krankheit. Leipzig 2004 (Sitzungsberichte der Sächsischen Akademie der Wissenschaften zu Leipzig: Mathematisch-naturwissenschaftliche Klasse 129, 5), S. 7–11; Renate Wittern: Die Lepra aus der Sicht des Arztes am Beginn der Neuzeit, in: Christa Habrich (Hg.): Aussatz – Lepra – Hansen-Krankheit: ein Menschheitsproblem im Wandel, Band I [Ausstellung im Dt. Museum München, 5. November 1982–9. Januar 1983]. Ingolstadt 1982, S. 41–50. Vgl. Mitchell Lewis Hammond: Leprosy and the Defeat of Diagnosis in Sixteenth-Century Germany, in: Marjorie Elizabeth Plummer/Robin B. Barnes/Erik H. C. Midelfort (Hg.): Ideas and Cultural Margins in Early Modern Germany. Essays in Honor of H. C. Erik Midelfort. Farnham, Surrey 2009, S. 271–287, hier S. 285. 57 StadtBib N, Ms. Cent V 42, fol. 151r–151v (Schenck).

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recht siech weren,“58 nicht mehr von den wahren und rechtschaffenen Leprosen zu unterscheiden wären. Die Nürnberger Ärzte empfahlen daher, das gesamte Sondersiechenalmosen so weit eben möglich auf die Prüfung von jeweils durch die fremden Leprosen mitzubringenden ordentlichen Zeugnissen und Attesten zu beschränken. In einer anschließend durchgeführten „Schnellschau“ sollten die zweifelhaften von den eindeutigen Fällen unterschieden und nur noch in ausgesuchten Sonder- und Zweifelsfällen eine reguläre Schau durchgeführt werden. Dies aber könne unmöglich inmitten der Stadt stattfinden. 1575 schließlich wurde das Sondersiechenalmosen in seiner hergebrachten Form beendet. Es blieb die Schau, die außerhalb der Stadtmauern am Siechkobel St. Johannis abgehalten wurde; die öffentliche Massenspeisung und die Austeilung der Kleidung wurde durch die Gabe eines Zehrpfennigs abgelöst, von Predigt, Beichte und Sakrament ist keine Rede mehr. 59 Wie um klarzustellen, dass er es sich für dieses Mal nicht – wie im Gründungsmythos überliefert – anders überlegen würde, ließ der Rat das entsprechende Mandat in gleichem Wortlaut jeweils einige Wochen vor Ostern am 27. Januar 1575, am 10. März 1576 und am 28. Februar 1577 veröffentlichen. Von einer unmittelbar ausbrechenden Seuche blieben die Nürnberger anschließend verschont. Der letzte Ausbruch des „purtzel“ fast einhundert Jahre davor, 1483, wurde nicht mehr mit dem Sondersiechenalmosen in Verbindung gebracht worden.60

FAZIT Die Pflicht der spätmittelalterlich-frühneuzeitlichen Obrigkeit, Sicherheit und Ordnung zu stiften, schloss die Sorge um die Gesundheit der korporativ verfassten Gemeinschaften durchaus mit ein. Erhebliche Fehlleistungen auch und gerade der Obrigkeit wurden offenbar durch göttliches Eingreifen mit dem Verhängen von Seuchen und Krankheiten gestraft. Das Eingreifen eines strafenden Gottes aber ist nicht abseh-, geschweige denn berechenbar. Insofern ist die „purtzel“-Geschichte

58 StadtBib N, Ms. Cent V 42, fol. 153v–155v (Coiter). 59 Robert Herrlinger: Volcher Coiter 1534–1576, Nürnberg 1952, S. 35; Ernst Mummenhoff: Die öffentliche Gesundheits- und Krankenpflege im alten Nürnberg. Neustadt an d. Aisch 1986 (Unveränd. Nachdr. aus: FS zur Eröffnung des neuen Krankenhauses der Stadt Nürnberg 1898, S. 1–122), S. 97. 60 Johannes Müllner: Die Annalen der Reichsstadt Nürnberg von 1623. Band III: 1470 bis 1544, hg. v. unter Mitw. von Walter Gebhardt und bearb. von Michael Diefenbacher. Nürnberg 2003, S. 64.

68 | Fritz Dross

nicht unmittelbar in Risiko-Begriffen darstellbar. Erst als aufgeschriebene und erinnerte Evidenz von Providenz bekommt sie eine Rolle als Lehrstück: ein zweiter Verstoß würde wohl ähnlich, wenn nicht schwerer bestraft werden. Die Geschichte hat ihren Ort in der Einleitung des Ordnungsbuches des Nürnberger Sondersiechenalmosens. Das ungewöhnliche und hinsichtlich der schieren Zahl der Teilnehmenden außergewöhnliche Ereignis des Einlassens der Aussätzigen wird damit als gottgefälliges Werk legitimiert, wohingegen die plausiblen Überlegungen des Aussetzens der Aussätzigen in der Karwoche gegen den göttlichen Willen verstoßen und bestraft werden. Die eigentlich verhandelte Gefahr ist mithin nicht der „purtzel“, sondern der Aussatz. Spätestens mit der Übernahme der Stiftung in städtische Verantwortung und Pflegschaft in der Mitte des 15. Jahrhunderts war offenbar eine über das seit einem halben Jahrhundert bewährte Herkommen weit hinausreichende Begründung und Legitimation des Einlassens der Aussätzigen notwendig geworden. In diesem Zusammenhang wurde das „Ordnungsbuch“ verfasst, das mit der „purtzel“-Geschichte schließlich den Grundstein für die regelrechte Bewerbung des Sondersiechenalmosens legt, das die Verherrlichung der Barmherzigkeit von Stadt und Stadtobrigkeit zum Gegenstand hat. Diskursiv fungieren die Aussätzigen in der Nürnberger Sondersiechenstiftung dann nicht mehr als die zu isolierenden „Unreinen“ im Sinne der alttestamentarischen Reinheitsvorschriften, sondern als Märtyrer; die Empfänger des Almosens sind nicht die von Gott gestraften, sondern die von Gott geprüften und in diesem Sinne „Auserwählten“. Aus der besonderen Gefahr (des Einlassens der „Unreinen“) wurde die besondere Chance, die Stadt als über alle Maßen, geradezu heiligmäßig barmherzig zu präsentieren. Dies beruhte allerdings auf der zuverlässigen Identifizierung und Unterscheidung der Aussätzigen. In dem Maße, wie die Lepra im medizinischen Diskurs ein kaum zuverlässig diagnostizierbares, kontingentes Krankheitsgeschehen wurde, verlor die Rationalität der „purtzel“-Geschichte ihre Überzeugungskraft. Weder die rituelle Unreinheit nach der Lesart des Buches Leviticus noch die Qualität des im Sinne Hiobs Geschlagenseins als Zeichen der Auserwähltheit ließen sich mit den Mitteln der Medizin des 16. Jahrhunderts zweifelsfrei nachweisen. In der Medizin des 17. Jahrhunderts firmiert die „Lepra“ regelmäßig als wenig aufregende Subspezies der Krätze. Dies trägt noch stets die Aura des „Unreinen“, vermochte aber Veranstaltungen wie das Nürnberger Sondersiechenalmosen nicht mehr zu legitimieren.

„Besser wenig als nichts“ Risiko in der Vormoderne am Beispiel der Landwirtschaft Tobias Huff

Ende 2015/Anfang 2016 warb die Privatbank Sal. Oppenheim mit einer Anzeige, die aus zwei Gründen bemerkenswert ist. Erstens pries das 1789 von Salomon Oppenheim gegründete Unternehmen darin ihr Risikomanagement, das sich in der Vergangenheit auch in schwierigsten Marktphasen bewährt habe. Dies ist pikant, da die Bank im Zuge der Finanzkrise 2009 nach massiven Verlusten infolge riskanter Spekulationsgeschäfte nach 220 Jahren ihre Selbständigkeit verloren hatte. Zum andern stach in der Annonce die pointierte Gegenüberstellung von „Risiko“ und „Sicherheit“ ins Auge. Die Zeiten, in denen ohne Risiko hohe Zinserträge zu erwirtschaften waren, seien vorbei. Eine „gewisse Risikobereitschaft“ sei vonnöten, um sich auch in der Zukunft seines Vermögens erfreuen zu können.1 Ein Anleger muss also aktiv werden und seine sichere Position verlassen, möchte er nicht sein Vermögen im Zeitlauf dahinschwinden sehen. Risiko und Sicherheit treten hier als Antagonisten auf, Rollen, die sie auch im allgemeineren Sprachverständnis oft einnehmen. Es ist daher nötig, I. den RisikoBegriff zu schärfen, da er der zentrale Analysebegriff des vorliegenden Beitrags sein wird. Nach diesem ersten Schritt wird der definierte Risikobegriff als heuristischer Schlüssel genutzt, um II. in frühneuzeitlicher Agrarliteratur nach Mentalitätsänderungen zu suchen. Der Schwerpunkt wird dabei auf der Hausväterliteratur liegen und dort bei den Fragen zu Ackerbau, Fruchtfolgen und Anbauversuchen sowie landwirtschaftlichen Experimenten allgemein. Franz-Josef Brüggemeier ist der Überzeugung, dass die Natur dem menschlichen Wirtschaften Schranken setzt. Diese Schranken seien aber nicht fix definiert, sondern könnten durch Versuche

1

Anzeige entnommen aus Unternehmermagazin 63 (2015), 7/8, S. 7.

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und empirisches Beobachten stets weiter hinausgeschoben werden.2 Mit Edward Wrigley müsste man jedoch hinzufügen, dass dieses Hinausschieben nicht ins Unendliche betrieben werden kann. In der von ihm skizzierten organischen Ökonomie wird nahezu jede Arbeit auf die Photosyntheseleistung auf einer gegebenen Anbaufläche zurückgeführt. Damit sei nicht nur Armut unausweichlich, sondern einer allzu dynamischen wirtschaftlichen Entwicklung wird ein Riegel vorgeschoben. 3 Beiden Ansätzen gemeinsam ist jedoch, dass die entscheidende Stellschraube, um überhaupt ein Wachstum zu erreichen, die Produktivität des Bodens ist, die erhöht werden muss. Dazu standen im Kern zwei Möglichkeiten zur Verfügung: Erstens Innovationen im Bereich der Anbaupflanzen und -techniken und zweitens die Ausnutzung komparativer Vorteile, wie sie in der Frühen Neuzeit etwa durch die Plantagewirtschaft in den neu entdeckten Weltteilen praktiziert wurde. Punkt zwei wird in der Folge keine Rolle spielen. Ziel soll es III. vielmehr sein, langfristigen Modernisierungsprozessen vor der einsetzenden Industrialisierung auf die Spur zu kommen. Der Beitrag reiht sich damit in die Ansätze ein, die Grundlagen der Industriellen Revolution in Entwicklungsprozessen der Frühen Neuzeit zu suchen.4 Dabei geht es hier weniger um technische Aspekte oder Preisreihen und Wachstumsschätzungen, sondern um einen grundlegenden geistesgeschichtlichen Wandel, die Erfindung des Risikos. Die leitende Annahme der folgenden Ausführungen ist, dass die frühneuzeitliche Agrargesellschaft von einer grundsätzlichen Risikoaversion geprägt war. Eine möglicherweise innovative Reallokation von Arbeitsinput und Boden konnte bei ausbleibendem Erfolg direkte physiologische Konsequenzen bis hin zur Vernichtung der Existenz nach sich ziehen. Es verwundert daher nicht, dass eine Gesellschaft, deren Mehrheit die Grundbedürfnisse Nahrung, Kleidung, Wohnraum und Brenn-

2

Franz-Josef Brüggemeier: Schranken der Natur. Umwelt, Gesellschaft, Experimente; 1750 bis heute. Essen 2014, S. 9–12.

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Edward Anthony Wrigley: Poverty, Progress, and Population. Cambridge 2004, S. 212– 216.

4

Als Beispiel seien etwa das Konzept der Proto-Industrialisierung genannt, in der Produktions- und Vertriebswege ausprobiert und Arbeitsdisziplin eingeübt wurde, oder die von Jan de Vries postulierte „Industrious revolution“, die eher die Nachfrageseite in den Blick nimmt. Peter Kriedte/Hans Medick/Jürgen Schlumbohm: Industrialisierung vor der Industrialisierung. Gewerbliche Warenproduktion auf dem Land in der Formationsperiode des Kapitalismus. Göttingen 1977 und Jan de Vries: The industrious Revolution. Consumer Behavior and the Household Economy, 1650 to the Present. Cambridge 2008.

„Besser wenig als nichts“ | 71

stoffe nur leidlich zu decken wusste und an der Grenze des wirtschaftlichen Überlebens agierte, ein systemisch sehr stabiles, auf tradierten und beherrschbaren Verfahren beruhendes Bewirtschaftungsregime hervorbrachte. Vorsicht und Voraussicht waren die zentralen ökonomischen Handlungsdeterminanten.5 Dennoch, so die Hypothese, lässt sich in der Hausväterliteratur zunehmend eine prinzipielle Offenheit für risikoreichere Verhaltensweisen finden. Angesichts von Ökonomischer Aufklärung und agrarreformatorischen Bestrebungen mag dies trivial klingen. Es soll jedoch um eine breitere Erfassung von Fortschrittsfähigkeit und Fortschrittswilligkeit der agrarisch geprägten frühneuzeitlichen Gesellschaft gehen. Eine Fokussierung auf das avantgardistische Schrifttum der Agrarreformer würde lediglich das bestehende Narrativ einer Dichotomie zwischen fortschrittlichen Reformen und starrköpfigen Bauern fortschreiben. Die Frage, wie man versuchte, die Schranken der Natur weiter nach hinten zu versetzen, ist so nur bedingt zu beantworten. Die Hausväterliteratur weist nicht nur den Vorteil auf, als Quellengattung die gesamte Frühe Neuzeit abzudecken, sie ist in ihrem Aufbau und Ton auch wesentlich konservativer. Sie ist näher an der landwirtschaftlichen Praxis und steht mit dieser in einer engeren Wechselwirkung. Zudem dürften die einschlägigen Werke in vielen größeren Gütern mit lesekundigen Besitzern vorhanden gewesen sein, ihr Inhalt von dort weiter ausgestrahlt haben. 6 Dieser Beitrag unterliegt dabei nicht der Illusion, dass die in der Literatur diskutierten Modifikationen oder experimentellen Anbaumethoden unmittelbar Eingang in die oder breite Umsetzung in der landwirtschaftlichen Praxis gefunden hätten. 7 Diese Frage ist im hier gewählten Ansatz zweitranging. Wichtiger ist, wann und wie riskante Verhaltensweisen eine Rolle spielen und wie sich dies auf die zentralen und verinnerlichten Sicherungsmechanismen Vorsicht und Voraussicht des traditionellen Agrarzyklus auswirkte. Dabei geht es nicht in erster Linie 5

Vgl. hierzu Rudolf Schlögl: Kommentar zu Clemens Zimmermann. Entwicklungshemmnisse im bäuerlichen Milieu. Die Individualisierung der Allmenden und Gemeinheiten im 1780, in: Toni Pierenkemper (Hg.): Landwirtschaft und industrielle Entwicklung. Zur ökonomischen Bedeutung von Bauernbefreiung, Agrarreform und Agrarrevolution. Stuttgart 1989, S. 113–119, hier S. 118.

6

Siehe dazu die Ausführungen bei Otto Brunner: Adeliges Landleben und Europäischer Geist. Leben und Werk Wolf Helmhards von Hohberg 1612–1688. Salzburg 1949, S. 270–274 und Julius Hoffmann: Die „Hausväterliteratur“ und die „Predigten über den christlichen Hausstand“. Lehre vom Hause und der Bildung für das häusliche Leben im 16., 17. und 18. Jahrhundert. Weinheim a d. B. 1959, S. 65.

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Dieser Aspekt – der Konflikt zwischen volksaufklärerischer Agrarliteratur und bäuerlichem Beharrungstendenzen – ist in der agrarhistorischen Literatur ausführlich behandelt worden.

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um die Verarbeitungsmechanismen der ubiquitären Gefahren Hagel, Hitze, Dürre, Feuchtigkeit, Kälte oder sonstiger klimatischer Rahmenbedingungen sowie periodischen Schädlingsbefalls, sondern um die Spielart des Risikos, die sich aus einer bewussten und reflektierten Verhaltensänderung heraus ergibt. Daher ist es auch nötig, das Verhältnis von Bauern zur natürlichen Umwelt und zur Zeit anzusprechen. Es lässt sich dabei knapp zusammengefasst folgende Entwicklung erkennen. Gott und göttlicher Beistand spielen in der frühen Hausväterliteratur die zentrale Rolle, wenn es um eine erfolgreiche Landwirtschaft geht. Riskante Verhaltensweisen spielen hier noch keine Rolle. Erst als die Zukunft im weiteren Verlauf als ein prinzipiell offener, aber antizipierbarer Zeitraum erschien, nahm die Bedeutung Gottes immer weiter ab und es kommt zu einer Zweiteilung in Bezug auf Risiko. Während einige Autoren es ablehnen, geben andere Hinweise, wie bei Versuchen vorzugehen und wie diese abzusichern seien. Diese Aufteilung wird IV. am Beispiel zweier Autoren illustriert, die nahezu die gleiche Lebensspanne aufweisen, aber grundsätzlich verschiedene Ansichten vertreten. Zunächst ist jedoch eine intensivere Auseinandersetzung mit dem Risiko-Begriff nötig.

WELT OHNE RISIKO In semantischer Nähe zum Risiko-Begriff finden sich Ausdrücke wie Gefahr, Chance, Wahrscheinlichkeit, Unsicherheit oder Wagnis. In bisherigen geschichtswissenschaftlichen Arbeiten wurde denn auch der Risiko-Begriff in unterschiedlichster Weise verwandt, in Teilen auch erheblich unreflektiert.8 Knapp zusammengefasst kann Risiko als das Produkt von Eintrittswahrscheinlichkeit und Schadensschwere gelesen werden. Dieses Verständnis beinhaltet eine starke monetäre Komponente, da ein als schadhaft empfundenes Ereignis in seiner Schwere in Geldeinheiten ausgedrückt wird.9 Es ist eine technisch-versicherungswirtschaftliche Interpretation, die probabilistischen Sicherheitsanalysen und Prämienberechnungen zugrunde liegt. Für das hier angestrebte Vorhaben eignet sich dieses lakonische Risikoverständnis aus zwei Gründen nur bedingt. Erstens setzt die Vorstellung, dass ein eingetretener Schaden nachgelagert über Geldzahlungen reguliert

8

So taucht bei Patrick Masius das titelgebende Risiko erst auf Seite 111 wieder auf, ohne in seinem Verständnis weiter spezifiziert zu werden. Patrick Masius: Risiko und Chance. Das Jahrhunderthochwasser am Rhein 1882. Göttingen 2013.

9

Vgl. hierzu Cornel Zwierlein: Der gezähmte Prometheus. Feuer und Sicherheit zwischen Früher Neuzeit und Moderne. Göttingen 2011, S. 55. Zwierlein leitet die Etablierung der Versicherung hier aus der doppelten Buchführung ab.

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wird, voraus, dass eine Wirtschaft bereits weitgehend auf marktkonformen Geldströmen basiert und ein Vermögensschaden durch eine zeitlich versetzte Kompensationszahlung geheilt werden kann.10 Für die frühneuzeitliche Agrargesellschaft mit ihren erheblichen Transaktions- und Transportkosten und geringer Marktintegration gilt dies in dieser Klarheit nicht. Zweitens kommt der anthropogene Faktor zu kurz, denn im Falle versicherungswirtschaftlicher Wahrscheinlichkeiten verschwindet das Individuum in einer großen Gesamtheit. Es fehlt das, was Ortwin Renn als das „Spannungsverhältnis zwischen unabwendbarem Schicksal und Eigenverantwortung“ beschrieben hat.11 Die stochastisch ermittelte Wahrscheinlichkeit, dass einem Individuum ein Schaden widerfährt, determiniert die Höhe der Versicherungsprämie, hat für den Einzelnen jedoch nur eine bedingte Aussagekraft darüber, ob, wann und wie viele schadhafte Ereignisse über ihn hereinbrechen.12 Es ist also klar zu erkennen, dass das Wissen über Wahrscheinlichkeiten und probabilistische Risikogrößen keine individuelle Sicherheit zu erzeugen vermag.13 Niklas Luhmann hat in seiner Soziologie des Risikos den Gegensatz von Risiko und Sicherheit am deutlichsten dekonstruiert.14 Für ihn kann es in einer modernen Gesellschaft so etwas wie Sicherheit ohnehin nicht geben, da jede Entscheidung – auch eine, die nicht getroffen

10 Principal-agent-Überlegungen sowie moral-hazard-Probleme können auch dann erst voll zum Tragen kommen. 11 Ortwin Renn: Risiko. Über den gesellschaftlichen Umgang mit Unsicherheit. München 2007, S. 20. 12 Dies lässt sich am Beispiel eine „hundertjährigen“ Hochwassers illustrieren. Das Risiko für die Gefahr Hochwasser liegt stochastisch bei 0,01 pro Jahr. Dennoch kann es auch in zwei oder mehr Folgejahren auftreten. 13 Frank Oberholzner verwendet in seiner Dissertation über die Hagelversicherung einen stark versicherungswirtschaftlich geprägten Risikobegriff. Für ihn lässt sich anhand vergangener Beobachtungen die Zukunft in unterschiedliche Unsicherheitsgrade einteilen. Die Risikosituation – im Gegensatz zur Unsicherheits- und Spielsituation – ist dabei diejenige, bei der die meisten „Zukunftsinformationen“ vorliegen. Frank Oberholzner: Institutionalisierte Sicherheit im Agrarsektor. Die Entwicklung der Hagelversicherung in Deutschland seit der Frühen Neuzeit. Berlin, München 2015, hier S. 54. Die statistische Extrapolation der Vergangenheit in die Zukunft ist für eine Analyse der innovativen Organisation „Versicherung“ zielführend, für eine stärker akteursbezogene Herangehensweise hingegen weniger erkenntnisfördernd. 14 Niklas Luhmann: Soziologie des Risikos. Berlin 1991. Vgl. vor allem zum Gegensatz zu den Begriffspaaren Risiko/Sicherheit und Risiko/Gefahr Niklas Luhmann: Risiko und Gefahr (Aulavorträge). St. Gallen 1990.

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wird – mit einem Risiko verbunden ist.15 Am Beispiel der eingangs erwähnten Anzeige heißt dies, investiere ich, riskiere ich den Verlust großer Vermögensteile, investiere ich nicht, entgeht mir möglicherweise ein erheblicher Gewinn. Als Gegenbegriff zum Risiko sieht Luhmann vielmehr die Gefahr. 16 Damit verbunden ist bei Luhmann die Vorstellung einer Entwicklung über die Zeit hinweg. In einem extrem vereinfachten Modell ergibt sich ein linearer Pfad, an dessen Beginn die Gefahr lauert und am Ende das Risiko droht. Die entscheidende Entwicklung entlang dieses Pfades ist für Luhmann die Art und Weise, wie mit der Zukunft umgegangen wird. Risiko wird in diesem Modell zu einem Modernisierungsmarker in der Gestalt, dass die Zukunft immer stärker von in der Gegenwart getroffenen Entscheidungen abhängig begriffen wird.17 Das Unheil, das eine Gesellschaft treffen kann, verliert seinen exogenen Charakter, heißt immer seltener göttlicher Wille, Hexerei oder Zauberei, sondern wird zu einer endogenen Variablen gesellschaftlicher und individueller Entscheidungsprozesse. Gefahr wird dabei als ein Schaden verstanden, der von einer wie auch immer gearteten Umwelt herrührt, Risiko sind die potentiellen Schäden, die ihre Ursache in einer

15 Bei Torsten Meyer tauchen Risiko und Sicherheit zwar im Untertitel gemeinsam auf, jedoch macht er deutlich, dass er im Sinne Luhmanns Sicherheit nicht als Oppositionsbegriff zu Risiko benutzen möchte, sondern als Reflexionsbegriff. Torsten Meyer: Natur, Technik und Wirtschaftswachstum im 18. Jahrhundert. Risikoperzeptionen und Sicherheitsversprechen. Münster 1999, S. 11. Auch wenn Meyer stark auf gesellschaftliche Meta-Risiken abzielt, liegt seiner Arbeit ein sehr ähnliches grundlegendes Risikoverständnis wie diesem Beitrag zugrunde: Die Konsequenzen heutiger Entscheidungen sind unsicher und ein möglicher Schaden lässt sich auf eine individuelle Entscheidung zurückführen. 16 Zur Illustration dient das bekannte Regenschirm-Beispiel. Erst die Erfindung des Regenschirms macht aus der Gefahr „Regennässe“ ein Risiko. Denn ich bin zu der Entscheidung gezwungen, einen Schirm einzupacken oder nicht. Nehme ich ihn mit, trage ich ihn möglicherweise mit mir herum, ohne ihn zu benötigen oder vergesse ihn. Lasse ich ihn zuhause, riskiere ich, nass zu werden. Vgl. Niklas Luhmann: Die Moral des Risikos und das Risiko der Moral, in: Gotthard Bechmann (Hg.): Risiko und Gesellschaft. Grundlagen und Ergebnisse interdisziplinärer Risikoforschung. Opladen 1993, S. 327–338, hier S. 328. 17 Ähnlich bei Zwierlein, der die Versicherungspenetration als Modernisierungsmarker heranzieht. Zwierlein: Prometheus (wie Anm. 9), S. 11. Zur Epochenfrage siehe auch Cornel Zwierlein: Grenzen der Versicherbarkeit als Epochenindikatoren? Von der europäischen Sattelzeit zur Globalisierung des 19. Jahrhunderts, in: Geschichte und Gesellschaft 38 (2012), S. 423–452.

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bewussten Entscheidung in der Gegenwart haben.18 War die gesellschaftliche Antwort auf Gefahr Robustheit und Elastizität, werden Kalkulationen zur Antwort auf Risikolagen.19 Knapp gesagt: Die Natur produziert die Gefahren, für die Risiken ist die Menschheit selbst zuständig. Risiko wird damit zu einem heuristischen Schlüssel, um veränderten Zukunftsvorstellungen und Naturwahrnehmungen nachzuspüren. Damit geht auch einher, dass ein Bedarf für den Begriff Risiko erst virulent wird, wenn die Gestalt der Zukunft als prinzipiell offen angesehen wird. Wie elementar die Offenheit der Zukunft für eine breite Durchsetzung von Risikovorstellungen ist, wurde in der Literatur an mehreren Stellen betont.20 Grundlegend bleiben hierbei immer noch die Ausführungen von Reinhard Koselleck. Die Lockerung der Verschränkung von Vergangenheit und Zukunft in den beiden Kategorien Erfahrungsraum und Erwartungshorizont entlässt das Individuum in einen Zustand erhöhter subjektiver Unsicherheit.21 War über Jahrhunderte die Zukunft etwas, das erst im Jenseits eintrat, und das größte Risiko dasjenige, den Himmel zu verfehlen, kam es in der Frühen Neuzeit zu einem rapiden Telos-Schwund. Die grundlegenden Entwicklungen der Frühen Neuzeit wie die Reformation, das sich wandelnde Weltbild und die Entdeckungen auf dem Gebiet der Naturwissenschaften katalysierten die Transformation des eschatologisch ausgerichteten Christentums in eine säkularisierte Gesellschaft. Mit dem Schwinden einer präfigurierten Zukunft musste der Mensch erst lernen, offen über sie zu sprechen 22 und sie offen zu denken. Das

18 Birger Priddat schrieb in diesem Zusammenhang einmal von „natürlichen Risiken“ wie Blitzschlag oder Unwetter, um sie von ‚modernen‘ Risiken abzugrenzen. Birger P. Priddat: Zufall, Schicksal, Irrtum. Über Unsicherheit und Risiko in der deutschen ökonomischen Theorie vom 18. bis ins frühe 20. Jahrhundert. Marburg 1993, S. 10. 19 Luhmann: Soziologie (wie Anm. 14). S. 33. 20 Siehe etwa Lucian Hölscher: Die Entdeckung der Zukunft. Göttingen 2016, S. 42–43, Renn: Risiko (wie Anm. 11), S. 20, Luhmann: Soziologie (wie Anm. 14), S. 6 oder Clemens Zimmermann: Bäuerlicher Traditionalismus und agrarischer Fortschritt in der frühen Neuzeit, in: Jan Peters (Hg.): Gutsherrschaft als soziales Modell. Vergleichende Betrachtungen zur Funktionsweise frühneuzeitlicher Agrargesellschaften. München 1995, S. 219–238, hier S. 220–221. 21 Reinhart Koselleck: ‚Erfahrungsraum‘ und ‚Erwartungshorizont‘ – zwei historische Kategorien, in: Reinhart Koselleck (Hg.): Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten. Frankfurt a. M. 1979, S. 349–375, hier S. 353. 22 Siehe zur Entwicklung der grammatikalischen Zeitform Futur im Deutschen Hölscher: Zukunft (wie Anm. 20), S. 40–43.

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Zurücktreten kreislaufmäßiger Vorstellungen der Zeit führt dazu, dass die Differenzen zwischen gemachten Erfahrungen und den Erwartungen an die Zukunft immer größer wurde und das Unsicherheitsgefühl zunahm.23 Dieses zunehmende Spannungsverhältnis ist für Koselleck ein Modernisierungsparameter, der schließlich in dem Begriff „Fortschritt“ aufgelöst wird.24 Die neue Gewissheit besteht nun darin, dass die Zukunft anders sein wird – so möglich: besser – als die Gegenwart. Was die Zukunft jedoch bringen mag, ist nun in erheblichem Maße von der individuellen Entscheidung in der Gegenwart abhängig. 25 Die verlorengegangene Sicherheit in Form einer jenseitig orientierten (Heils-)Gewissheit wurde dabei in einem gegenläufigen Prozess sowohl durch den Ordnungsanspruch des frühmodernen Staates als auch durch gesamtgesellschaftliche, stochastische Sicherheit in weltliche Kategorien transformiert.26

23 Für Jan Peters vermittelte die zyklische Zeiterfahrung gerade in der Landwirtschaft ein Gefühl der Sicherheit und Voraussagbarkeit. Jan Peters: „…dahingeflossen ins Meer der Zeiten“. Über frühmodernes Zeitverständnis der Bauern, in: Rudolf Vierhaus (Hg.): Frühe Neuzeit – frühe Moderne? Forschungen zur Vielschichtigkeit von Übergangsprozessen. Göttingen 1992, S. 180–205, hier S. 192. Zyklische Zeitvorstellungen führen dazu, dass der Anwendungskontext einer gesammelten Erfahrung mit Gewissheit wiederkehrt. Jörn Sieglerschmidt: Die virtuelle Landschaft der Hausväterliteratur, in: Helga Breuninger/Rolf Peter Sieferle (Hg.): Natur-Bilder. Wahrnehmungen von Natur und Umwelt in der Geschichte. Frankfurt a. M. 1999, S. 223–254, hier S. 248. 24 Koselleck: Erfahrungsraum (wie Anm. 21), S. 366. 25 Das bedeutet jedoch nicht, dass nicht auch zuvor an ein „Morgen“ gedacht und gedankenlos in den Tag hineingelebt wurde. Vorratshaltung oder Kreditaufnahme sind deutliche Hinweise dafür, dass das Individuum an sein Überleben und seine ökonomische Entwicklung gedacht hat. Nur war das „Morgen“ prinzipiell bekannt und unterschied sich in seinen grundlegenden Strukturen nicht vom Heute. Vgl. dazu Zimmermann: Traditionalismus (wie Anm. 20), S. 224. 26 Vgl. dazu grundlegend Burkhardt Wolf: Das Gefährliche regieren. Die neuzeitliche Universalisierung von Risiko und Versicherung, in: Lorenz Engell u.a. (Hg.): Gefahrensinn. München 2009, S. 23–33. Wolf spricht von der „produktiven Vergemeinschaftung des Risikos“ (S. 31). Dazu bedarf es einer straffen Führung des Staatsschiffes, die hier unter dem Begriff der Gouvernementalität gefasst werden. Diese soll „Sicherheit um der Produktivität willen schaffen“. Wenn Produktivität nun als etwas verstanden wird, dass sich in einem sicheren Umfeld vorteilhaft entwickelt, dann steht dies diametral zum agrarhistorischen Befund. Wie weiter unten noch gezeigt wird, konnte das Denken in Sicherheiten einem Produktivitätszuwachs entgegenstehen. Siehe auch Priddat: Zufall (wie Anm. 18), S. 13 und Eckart Conze: Securization. Gegenwartsdiagnose oder

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Das Aufschneiden des Zeitkreises und seine Streckung zum Zeitstrahl ist ein Prozess, der sich über die gesamte Frühe Neuzeit zog und unterschiedliche sozioökonomische Schichten in unterschiedlicher Intensität und Dynamik erfasste.27 Doch auch in resistentere Gruppen diffundierte das Bewusstsein hinein, dass das, was morgen kommen mag, durch das Heute mitbestimmt wird und der Einzelne die ungewissen Konsequenzen für sein Handeln tragen muss. Risiko sei daher in seiner vollendeten Form in der Art verstanden, dass ein Individuum ständig dazu gezwungen ist, in der Gegenwart (ökonomische) Entscheidungen zu treffen, deren ungewisse Konsequenzen erst in der Zukunft eintreten. Das Individuum ist sich dabei einer prinzipiellen Offenheit der Zukunft bewusst und empfindet den Zeitablauf als linear, sich selbst darauf ‚fortschreitend‘. Damit ist allerdings noch nicht gesagt, dass auch tatsächlich Verhaltensänderungen zu beobachten sind. Angesichts eines offenen Zukunftsraums sind zwei extreme Handlungsoptionen denkbar: Erstens eine offensive Nutzung neuer Möglichkeiten und zweitens das bewusste Zurückziehen auf bekannte Positionen.28 Basis beider Verhaltensweisen ist das bisherige Erfahrungswissen, das modifiziert als alternativer Zukunftsentwurf weiterentwickelt oder als Gewissheitsanker kanonisiert wird. 29 Gefahr bleibt in diesem Zusammenhang etwas, das ohne Zutun des Einzelnen auf sein Handeln schädlich einwirken kann und hat einen stark exogenen Charakter. Sicherheit ist damit etwas, das nur in vollkommener Abwesenheit von Risiko in absoluter Form existieren kann.

historischer Analyseansatz?, in: Geschichte und Gesellschaft 38 (2012), S. 453–467 und Cornel Zwierlein: Sicherheitsgeschichte. Ein neues Feld der Geschichtswissenschaften, in: Geschichte und Gesellschaft 38 (2012), S. 365–386. 27 Auf theologische Fragen, wie dies etwa mit der Allmacht Gottes zu vereinen sei, kann hier nicht eingegangen werden. 28 Dabei wird für die Frühe Neuzeit unterstellt, dass das bewusste Festhalten am Bewährten noch nicht als riskante Entscheidung verstanden wird. Luhmann erkennt in präventiven, kostenverursachenden Gegenwartsverhalten – und als solches kann die alteuropäische Ökonomie gesehen werden – einen „Sorgeschaden“, das mit Kosten verbunden ist. Luhmann: Soziologie (wie Anm. 14), S. 32–33. 29 Gertrud Schröder-Lembke stellte am Beispiel der Hausväterliteratur fest, dass ab etwa 1650 die Vorstellung einer Agrarverfassung in Form der Drei-Felder-Wirtschaft immer stärker zu einem fixen Datum wurde. Vorher sei die Literatur in Bezug auf Fruchtfolgen wesentlich flexibler und offener gewesen. Gertrud Schröder-Lembke: Die Hausväterliteratur als agrarhistorische Quelle, in: Zeitschrift für Agrargeschichte und Agrarsoziologie 1 (1953), S. 109–119, S. 117–118.

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DIE ENTDECKUNG DES RISIKOS Dank des nun definierten Begriffsinstrumentariums kann jetzt der Frage nachgegangen werden, ob und wie sich ein Mentalitätswandel fassen lässt und ob sich ein Bezug zur frühneuzeitlichen Fortschrittswilligkeit und -fähigkeit herstellen lässt. Nach Renn sind Risiken soziale Konstrukte, die erst im Zuge der Kommunikation Eingang in die kognitive Wahrnehmung der Individuen finden. Erst dann ist der Einzelne dazu in der Lage, Situationen als potentiell gefährlich zu erkennen und seine Handlungsoptionen so zu sortieren, dass die „Wahrscheinlichkeit der Schadenserfahrung gemindert wird“.30 Über Risiko muss also gesprochen werden. In den frühneuzeitlichen Quellen soll daher nach Wendungen gesucht werden, die das hier definierte Risikoverständnis widerspiegeln, denn der Terminus selbst ist noch lange sehr eng gefasst. In der vierten Auflage des Realen Staats-, Zeitungsund Conversationslexicon von 1709 bedeutet Risiko die „Gefahr, so einer Sache begegnen kann“.31 Es sei das „Wagen auf Glück und Unglück“. In der Ausgabe von 1752 findet sich nahezu der gleiche Wortlaut und in der Ausgabe von 1789 wird auf das „Nat-Lex.“ verwiesen. In diesem Curieusen und Realen Natur-, Kunst-, Berg-, Gewerck und Handlungs-Lexicon findet sich bereits in der Auflage von 1714 eine umfassendere Definition. Auch hier wird Risiko als das Wagnis der Kaufleute definiert, die eine Gefahr bewusst eingehen, etwa die „See-Gefahr“.32 In ihrem Tun seien sie generell „vielen Gefährlichkeiten unterworfen“. Der Beitrag im Grossen vollständigen Universal-Lexicon aller Wissenschafften und

30 Renn: Risiko (wie Anm. 11), S. 21. Renns Ausführungen sind dabei auf eine hochentwickelte (post)industrielle Gesellschaft ausgerichtet, die über spezialisierte Analyseorganisationen verfügt, die möglichst umfassend alle Folgen, unerwünschten Folgen oder Nebenfolgen der Handlungsoptionen abschätzen können. In der frühneuzeitlichen Formierungsphase von Risikoüberlegungen steht tendenziell eine überschlägige subjektive Nutzenerwartung im Mittelpunkt. Damit ist auch verbunden, dass die negativen Folgen einer Entscheidung fast ausschließlich das die Entscheidung treffende Subjekt betreffen. Es kann also nicht von einer Risikogesellschaft im Sinne Ulrich Becks gesprochen werden. Ulrich Beck: Risikogesellschaft. Auf dem Weg in eine andere Moderne. Frankfurt a. M. 1986. 31 Risico, in: Reales Staats-, Zeitungs- und Conversationslexicon, Leipzig 1709, Sp. 1315; Risico, in: Reales Staats-, Zeitungs- und Conversations-Lexicon, Leipzig 1752, Sp. 1762; Risco, Risico, in: Johann Hübners reales Staats-, Zeitungs- und ConversationsLexicon, Leipzig 1789, Sp. 2082. 32 Risco, Risico, in: Curieuses und Reales Natur-, Kunst-, Berg-, Gewerck- und Handlungs-Lexicon. [Leipzig] 1714, Sp. 1340.

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Künste von Zedler ist eine nahezu wörtliche Kopie des Natur-Lexikons.33 Noch gegen Ende des Untersuchungszeitraums ist das Lemma Risiko oder Risco also eng mit dem See- und Fernhandel verknüpft und weist eine große Nähe zur Spielund Wettsituation auf.34 In der Nützlichen Hauß- und Feldschule des Georg Andreas Böckler aus dem Jahr 1678 begegnet uns dann auch ein solch zeitgenössisches Risiko-Verständnis. Im einleitenden Gedicht Lob des Feldlebens preist er die Vorzüge des Bauernstandes, die über die Rezeption antiker Vorbilder hinausgeht. Denn mehr noch als die Einfachheit und Ehrlichkeit betont er die Sicherheit des Landlebens. Andere Berufe seien von Sorgen, Müh und Angst geprägt, müssten fürchten, dass „Haab und Gut im Meer ertruncken sey“. Der Bauer jedoch schläft „frei von Angst und Sorge“, da ihm „sein Gut [...] von Gott auch wenn er schläft bescheret“ werde. 35 Böckler wird sich trotz der von ihm gezeichneten Idylle darüber im Klaren gewesen sein, dass ein Leben als Bauer im 17. Jahrhundert durchaus hart war, aber eben ‚gewiss‘ und ‚sorgenfrei‘ in einem metaphysischen Sinne. Ein Haushalter durfte in einer so ausgestalteten Welt durchaus seinen eigenen Nutzen suchen. Wenn er bei seinem Streben nur ehrlich, fromm und bescheiden blieb, dann werde ihn die milde Hand Gottes ausreichend beschenken.36 Die Bedeutung göttlichen Willens für ein erfolgreiches Gestalten von Zukunft ist hier noch offensichtlich. 37 Bei Böckler erscheint die Zukunft jedoch bereits teil-offen. Die Einrichtung der Brache ist bei ihm ein Muss, da sonst die Felder „alzusehr ausmergele[n]“. Als Vorschlag entwirft er eine gängige Drei-Felder-Wirtschaft als „Exempel“, welches „jeder verständige Feldbaumann nach seinem Belieben verwahren oder verbessern“ könne.38 Ähnlich schrieb bereits Martin Grosser 1590 in seiner Kurtzen und

33 Risco, Risico, in: Grosses vollständiges Universal-Lexicon aller Wissenschafften und Künste, Halle/Leipzig 1732–1754, Bd. 31 (1742), Sp. 1736. 34 Das römische Recht kannte das Konstrukt der Versicherungen nicht. Die frühen Seeversicherungen bedienten sich daher der juristischen Figur der Wette. Luhmann: Soziologie (wie Anm. 14), S. 18 und Wolf: Universalisierung (wie Anm. 26), S. 28–29. 35 Georg Andreas Böckler: Nützliche Hauß- und Feldschule. Das ist: Wie man ein LandFeld-Guth und Meyerey mit aller Zugehöre; Als da seynd die nothwendigen Gebäu / vollkommene Haußhaltung / allerley Viehzucht / Ackerbau / Wiesen / Gärten / Fischereyen / Waldungen und dergleichen mit Nutzen anordnen solle. Nürnberg 1678. Gedicht „Lob des Feld-Lebens“ in der Vorrede, ohne Paginierung. 36 Ebd., S. 1. 37 Torsten Meyer betonte, dass in der Vormoderne Sicherheit nur mit Hilfe des guten Willen Gottes erlangt werden konnte. Meyer: Natur (wie Anm. 15), S. 21. 38 Böckler: Feldschule (wie Anm. 35), S. 180.

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gar einfeltigen anleytung zu der Landtwirtschaft. Er beschwerte sich, dass es zwar viel Literatur gebe, diese aber zu wenig ortsspezifisch sei, eben „neque coeli nostri, neque Soli nostri“ betreffe. Daher müsse ein Bauer seine Erfahrung einfließen lassen und „ein jeder Pawr auff des Acker arth vnd gelegenheit sehen“.39 Ganz eindeutig ist jedoch der göttliche Beitrag, nachdem der Mensch mit seinem Tun am Ende ist: „Und dann vertrawet man es dem allmechtigen Gott wunderlichem Schöpffer.“40 Abraham von Thumbshirn brachte es knapp 25 Jahre später auf eine einfache Formel. Der Ackerbau beruhe auf der „vorsichtige[n] und fleissige[n] bestellung eines jeden dinges“. Damit jedoch alle Erfahrenheit, Fleiß und Vorsicht von „Haußhältern“ zum Erfolg führe, braucht es „Göttliche[n] gnaden segen“.41 Böckler und Grosser sind im Punkt Offenheit fortschrittlicher als der Neu-verbesserten Colerus, oder neues Land- und Hauß- Wirthschaftsbuch von 1711, der in seiner Darstellung der Drei-Felder-Wirtschaft ein deutlich zyklisches Zeitverständnis hat, in dem bewusste Entscheidungen keine Rolle spielen und Risiko keinen Raum hat. Greifbar wird dies an sich ständig wiederholenden, einem Mantra gleichen Formulierungen wie „auff solche weise alle jahr“, „die felder immer von neuem“, „immerzu“, „den saamen kein mahl umwechseln“. Vor Veränderungen wird gar explizit gewarnt, denn Abweichungen von der geschilderten Anbaureihenfolge würden „die Äcker in die länge nicht ausdauern“.42 Eine mittlere Position nahm 1645 Johan Coler selbst in seiner Oeconomia ruralis ein. Generell ist Vorsicht eine der wichtigsten Tugenden der Landwirtschaft und ein Bauer sollte immer einen Notpfennig zur Verfügung haben. Diese Vorsicht schließt auch eine distanzierte Haltung zu Experimenten ein. Allzu starre Schemata seien zwar abzulehnen, denn wenn „der Herr die Natur deß Ackers nicht weiß / so wird er vbel

39 Martin Grosser: Kurtze und gar einfeltige anleytung zu der Landtwirtschaft: beydes im Ackerbaw vnd in der Viehezucht. Nach arth und gelgenheit dieser Land und Orth Schlesien: Wie man gemeiniglich die Ecker zu baween: vnd wo man jede Arth des Getreydes hin zu seen/ Auch Wie man gewöhnlich das Viehe zu ziehen/ zu nehren/ vnd zufüttern pfleget. Görlitz 1590. S. 23–24 und S. 84. 40 Ebd., S. 30. 41 Abraham von Thumbshirn: Oeconomia oder Nothwendiger Unterricht vnd anleitung / wie eine gantze Haußhaltung am nützlichsten vnd besten (sofern GOttes Segen vnd gedeyen darbey) kan angestellet. Leipzig 1616. S. 1. 42 Johann Coler: Neu-verbesserter Colerus, oder neues Land- und Hauß-WirthschaftsBuch: worinnen alles, was ein Haußwirth und Landmann in seiner Haußhaltung, bey dem Ackerbau, bey der Vieh- und Bienen-Zucht, bey Fischereyen, in Gärten und Weinbergen, und was dem anhängig, zu wissen von nöthen hat, umständlich und gründlich enthalten ist. Leipzig 1711, S. 380.

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gestrafft“, aber er solle auf das traditionelle Anbauverfahren seiner Nachbarn achten „vnd wie sie mit ihren Eckern vnd Landgütern vmbgehen, denen muß er auch /da ers nit verbessern kan / nachfolge / als die lange im Lande gewohnet /vnd dasselbe eine lange zeit vor ihme gebawet haben“.43 Die Autorität des Vorbilds wird hier stark hervorgehoben und der eigene Handlungsspielraum eng gefasst. Gut zweihundert Jahre nach Grosser und einhundert Jahre später als Böckler lassen sich in der Hausväter- und agrarökonomischen Literatur, die diesem Beitrag zugrunde liegen, Ausführungen finden, die den göttlichen Beistand zur Seite schieben und das oben definierte Verständnis von Risiko und Gefahr widerspiegeln. 44 Christian Friedrich Germershausen etwa befasste sich 1783 in seinem Hausvater in systematischer Ordnung mit landwirtschaftlichen Anbauversuchen. Diesen drohe von zwei Seiten Misserfolg. Zuerst nannte er „mancherley Unglücksfälle“ wie Misswachs oder Hagelschlag. 45 Zu diesen natürlichen Gefahren trete dann aber die menschliche Natur. Man solle aus seinen Experimenten keine „Ehrensache“ machen und rechtzeitig, sobald sich ein Misslingen des Versuchs abzeichne, die „Segel“ einziehen, statt sich zu verrennen.46 Statt mit Gott argumentiert Germershausen hier mit der landwirtschaftlichen Kardinaltugend der Besonnenheit. Experiment und Versuch sind Methoden, die – nun vollständig offene

43 Johann Coler: Oeconomia ruralis et domestica darin das gantz Ampt aller trewer HaussVätter und Hauss-Mütter beständiges und allgemeines Hauss-Buch vom Hausshalten, Wein- Acker- Gärten- Blumen- und Feld-Bau begriffen. 1645, S. 3. 44 Bereits Wolf Helmhardt von Hohberg schrieb dazu, dass Gott die Welt mit „unaufhörlicher Trächtigkeit“ begabet habe. Misswuchs sei daher weder ein Zeichen himmlischer Ungunst noch einer abnehmenden Fruchtbarkeit, sondern eigene Schuld. Wolf Helmhardt von Hohberg: Georgica curiosa oder Adeliches Landleben. Anderter Theil. Nürnberg 1695. S. 8. Vgl dazu auch die Ausführungen zur oeconomia naturae weiter unten. 45 Natürlich ist die freiwillige Exposition gegenüber einer Gefahr auch eine Form des Risikos. Ein Hochwasser ist nur dann zur Gefahr, wenn in Flussnähe Siedlungen oder Ackerflächen vorhanden sind. Die Wahl des Wohnplatzes oder der Anbauflächen ist damit grundsätzlich eine Entscheidung unter Risiko. Allerdings wurden solche Entscheidungen selten bewusst getroffen oder explizit kommuniziert. In Bezug auf die Gefahr des Hagelschlags bestand die Antwort nicht etwa, die Felder aufzugeben, sondern in der Verzettelung. Die Offenlegung diese impliziten Sicherungsmechanismen in der traditionellen Landwirtschaft erfolgte unter dem Schlagwort der „Risikominimierung“ und wird weiter unten diskutiert. 46 Christian Friedrich Germershausen: Der Hausvater in systematischer Ordnung. Bd. I. Leipzig 1783, S. 129–130.

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– Zukunft zu gestalten. Der Erfolg hängt allerdings nicht mehr von höherem Beistand ab, sondern erscheint rationalisiert und die Gelingensbedingungen sind verweltlicht. Ganz ähnlich argumentiert auch Otto von Münchhausen in seinem Hausvater, der der Frage „Wie soll ein Hausvater Versuche anstellen?“ einen ganzen Abschnitt einräumt. Ganz antiken Vorbildern folgend empfiehlt er in Fragen der Versuche einen Mittelweg zwischen den „orthodoxen Haushaltern“, die für „das hergebrachte eingenommen“ sind und glauben, die „in ihrer Gegend gebräuchlichen Handgriffe sind die allerbesten“, und den Neuerlingen mit ihrem „lobenswürdigen Eifer, ihren Acker, ihre Haushaltung zu verbessern“. 47 Vor einem Versuch solle eine sorgfältige Prüfung stehen, ob „der Haushaltung nicht doppelt mehr Schaden zuwächst, als man in dem einen Stücke zu gewinnen Hoffnung hat“.48 Versuche sind daher stets erst „im Kleinen“ zu machen und zwar mit „gehöriger Vorsicht, Ueberlegung und Aufmerksamkeit auf alle Nebenumstände“.49 Gehen Experimente im Großen schief, führt dies zur „Zerrüttung in der Haushaltung“. Der Mensch dürfe dann auf keinen Fall einen Versuch, der „misrathen will, mit Gewalt durchzusetzen“.50 Neben der Betonung der menschlichen Erkenntnisund Steuerungsfähigkeit kommt bei Münchhausen auch das Bewusstsein für einen linearen Zeitverlauf und den damit verbundenen Fortschritt deutlich zum Ausdruck: Glaube jederzeit, daß Verbesserungen möglich sind. Wir gelangen stets zu mehrerer Erkenntnis und Erfahrung; wenn man alte Rechnungen von dem Ertrag der Güter nachsieht, so ist dieser vor hundert Jahren oft nur auf ein Drittel des gegenwärtigen gegangen, und unsere Nachkommen werden nach hundert Jahren sich vielleicht an unsere schlechte Wirthschaft stoßen.51

47 Otto von Münchhausen: Des Hausvaters Ersten Theils Zweytes Stück. Hannover 1771, S. 382. Zum rechten Mittelmaß in der Hausväterliteratur siehe Sieglerschmidt: Landschaft (wie Anm. 23), S. 238. 48 Münchhausen: Hausvaters (wie Anm. 47), S. 385. 49 Ebd., S. 388. 50 Ebd., S. 389. 51 Ebd., S. 386.

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RISIKO ALS MOTOR? Die willkürlich aus der Hausväterliteratur herangezogenen Beispiele stützen zunächst die Vorstellungen Luhmanns eines einfachen Gefahr-Risiko-Entwicklungspfades in Richtung Moderne. Markus Popplow hob in diesem Zusammenhang die Ökonomische Aufklärung hervor, die er als spezifische Innovationskultur des 18. Jahrhunderts bezeichnete. Diese sei in ihren langfristen Auswirkungen auf Denkgewohnheiten noch viel zu wenig beachtet worden – auch und gerade im Hinblick auf die Industrialisierung. 52 Wie Popplow betont, war die Ökonomische Aufklärung auf technische Aspekte fokussiert und strebte eine Intensivierung der Landwirtschaft über Bildung und Popularisierung erfolgreicher Experimente an. Den hier aufgedeckten Veränderungsprozessen in Denkgewohnheiten liegt noch eine längere Dauer zugrunde. Für die Ökonomische Aufklärung war experimentelles Handeln bereits selbstverständlich, es ging im Grunde schon darum, geleistete Innovationen auch in die Praxis zu überführen. Die treibenden Akteure in den Sozietäten oder auf den Mustergütern sind dabei auf einer Ebene mit Germershausen oder von Münchhausen zu sehen: landwirtschaftliche Versuche sind eine gängige Handlungsoption. Die Etablierung der Denkfiguren Innovation und Risiko erscheint weitgehend abgeschlossen und muss noch der breiten Masse vermittelt werden. Ein Hindernis auf diesem Weg war die oft angeführte traditionelle Einstellung der Bauern, welche die Einführung neuer Prozesse verhinderte. 53 Die Hausväterliteratur war bei der schrittweisen Änderung dieser Einstellung sicher nicht der Motor, sondern eher der Transmissionsriemen der frühneuzeitlichen Entwicklungen auf geistesgeschichtlichem Gebiet.54 Bei aller Traditionalität in der

52 Marcus Popplow: Die Ökonomische Aufklärung als Innovationskultur des 18. Jahrhunderts zur optimierten Nutzung natürlicher Ressourcen, in: Marcus Popplow (Hg.): Landschaften agrarisch-ökonomischen Wissens. Strategien innovativer Ressourcennutzung in Zeitschriften und Sozietäten des 18. Jahrhunderts. Münster 2010, S. 2–48, hier S. 3–4. 53 Markus Cerman: Theorien der klassischen Nationalökonomie und Wirtschafts- und Sozialgeschichte des vorindustriellen Europas, in: Markus Cerman (Hg.): Wirtschaft und Gesellschaft. Europa 1000–2000. Innsbruck 2011, S. 31–43, hier S. 37. 54 Diese Veränderungen sind in ihrer Gesamtheit zu umfangreich, um abschließend angeführt zu werden. Herausragende Wegmarke im Zusammenhang dieses Beitrags ist aber sicherlich der Wandel der Vorstellung einer natura lapsa, einer Welt im langsamen, aber ständigem Zerfall, hin zu einer oeconomia naturae, einer von Gott wohlgeordneten Natur, die im Prinzip unzerstörbar ist. Dieser Wandel ist für Rolf Peter Sieferle grundlegend für die Entwicklung der klassischen Ökonomie. Das Null-Summenprinzip als

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Darstellung, Betonung antiker Idealvorstellungen vom rechten Maß, dem Festhalten am Auskommensprinzip diffundierten die Diskurse der Höhenkammliteratur in die Schriften hinein und schlagen sich in einer langsamen, aber zunehmenden Offenheit alternativer Handlungsweisen nieder. Bewusste Verhaltensänderungen werden zunehmend auch als etwas Positives begriffen.55 Gleichzeitig führte der aggressive Impetus der agrarreformatorischen Schriften und der Ökonomischen Aufklärung, mit dem die in der Hausväterliteratur zaghaft angedeutete Öffnung radikal zum neuen Leitbild erhoben wurde, zu einer Verteidigung traditioneller landwirtschaftlicher Vorstellung in Schriftform. Risiko erschien als Bedrohung und Herausforderung der eigenen Lebenswelt, der

eine der zentralen Denkfiguren der Frühen Neuzeit, nach der alles seinen Ausgleich findet und kompensiert werden muss und nach dem Gleichgewicht ein harmonischer Zustand ist, wird im 18. Jahrhundert von einer umfassenden Dynamisierung des Weltbildes abgelöst, für die Adam Smith einer der prominentesten Vertreter ist. Rolf Peter Sieferle: Bevölkerungswachstum und Naturhaushalt. Studien zur Naturtheorie der klassischen Ökonomie. Frankfurt a. M. 1990. Nach Priddat waren die europäischen Wirtschaftsvorstellungen bis zu den Klassikern aufgrund ihrer aristotelischen Prägung ausgesprochen wachstumsfeindlich. Birger P. Priddat: Theoriegeschichte der Wirtschaft. Oeconomia. München 2002, S. 20. Eine Dynamisierung ist aber ohne den enormen Wissenszuwachs in Bezug auf natürliche Prozesse nicht denkbar. Meyer sieht daher in der Naturgeschichte eine „Leitwissenschaft“ des 18. Jahrhunderts. Meyer: Natur (wie Anm. 15), S. 60. Er gründet seine Überlegungen auch auf den Ausführungen Günter Bayerls, nach dem das Wissen über die natürlichen Prozesse zu einer Ökonomisierung der Natur führte, in der diese dann zum Warenhaus verkam. Günter Bayerl: Prolegomenon der „Großen Industrie“. Der technisch-ökonomische Blick auf die Natur im 18. Jahrhundert, in: Werner Abelshauser (Hg.): Umweltgeschichte. Umweltverträgliches Wirtschaften in historischer Perspektive; acht Beiträge. Göttingen 1994, S. 29–56 und Günter Bayerl: Die Natur als Warenhaus. Der technisch-ökonomische Blick auf die Natur in der Frühen Neuzeit, in: Sylvia Hahn/Reinhold Reith (Hg.): Umwelt-Geschichte. Arbeitsfelder, Forschungsansätze, Perspektiven. Wien 2001, S. 33–52. Damit begann die Hierarchisierung des Mensch-Natur-Verhältnisses und die Sphäre des kulturellen und des naturellen traten immer weiter auseinander, wobei die Natur immer stärker als formbar angesehen wurde. Vgl. dazu Peter Reinkemeier: Die moralische Herausforderung des Anthropozäns. Ein umweltgeschichtlicher Problemaufriss, in: Sven Petersen/Dominik Collet/Marian Füssel (Hg.): Umwelten. Ereignisse, Räume und Erfahrungen der Frühen Neuzeit. Göttingen 2015, S. 81–100, hier S. 91–92. 55 Womit mehr gemeint ist als die Topoi, man solle die gegebenen Exempla auf die heimischen Verhältnisse anpassen.

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mit Verteidigungsschriften begegnet wurde, in denen die der alteuropäischen Ökonomik innewohnende Rationalität beschrieben wurde. 56 Ein zentrales Element dieser Rationalität war die Strategie der Risikominimierung.57 Nicht der maximal mögliche Profit stand im Vordergrund, sondern die Sicherung der Existenz über eine Vielfalt in Bezug auf Anbaupflanzen, -zeiten und -orte. Abhängigkeiten von Märkten, Spezialkulturen oder Vertriebswegen sollten so minimiert werden.58 Diese von Generation zu Generation vermittelten Traditionen und Normen, Gewohnheiten und Gebräuche sind von allen wirtschaftlichen Institutionen die stabilsten. 59 Es lohnt sich daher, einen Blick auf den Faktor Mensch zu werfen, und darauf, wie seine Rolle im Zustandekommen der Industriellen Revolution be-

56 Boehler bezeichnete das Verhalten explizit als klug. Jean-Michel Boehler: Routine oder Innovation in der Landwirtschaft. „Kleinbäuerlich“ geprägte Regionen westlich des Rheins im 18. Jahrhundert, in: Reiner Prass (Hg.): Ländliche Gesellschaften in Deutschland und Frankreich, 18.–19. Jahrhundert. Göttingen 2003, S. 101–124, hier S. 119. 57 Vgl. dazu Dieter Groh: Strategien, Zeit und Ressourcen. Risikominimierung, Unterproduktivität und Mußepräferenz – die zentralen Kategorien von Subsistenzökonomien, in: Dieter Groh (Hg.): Anthropologische Dimensionen der Geschichte. Frankfurt a. M. 1992, S. 54–113. Siehe auch Rita Gudermann: Der Take-off der Landwirtschaft im 19. Jahrhundert und seine Konsequenzen für Umwelt und Gesellschaft, in: Karl Ditt/Rita Gudermann/Norwich Rüße (Hg.): Agrarmodernisierung und ökologische Folgen. Westfalen vom 18. bis zum 20. Jahrhundert. Paderborn 2001, S. 47–83 und Rainer Beck: Unterfinning. Ländliche Welt vor Anbruch der Moderne. München 1993, S. 19 und S. 52–57. 58 Dies schloss die Produktion für den Markt keinesfalls aus. Eine stabile, subsistenzorientierte Landwirtschaft kann eine erhebliche Marktquote aufweisen. Nach Zimmermann ist sie die Voraussetzung für eine Herausbildung von Marktwirtschaften. Zimmermann: Traditionalismus (wie Anm. 20), S. 226. 59 Andreas Resch: Neue Institutionenökonomik und Wirtschaftsgeschichte, in: Markus Cerman (Hg.): Wirtschaft und Gesellschaft. Europa 1000–2000. Innsbruck 2011, S. 48– 56, hier S. 48–49. Zimmermann hob in einem Vergleich zwischen landwirtschaftlichen Transformationsprozessen in Entwicklungsländern und der Agrarmodernisierung im 18. Jahrhundert die traditionellen Mentalitäten als Haupthindernisgrund hervor. Clemens Zimmermann: Entwicklungshemmnisse im bäuerlichen Milieu. Die Individualisierung der Allmenden und Gemeinheiten um 1780, in: Toni Pierenkemper (Hg.): Landwirtschaft und industrielle Entwicklung. Zur ökonomischen Bedeutung von Bauernbefreiung, Agrarreform und Agrarrevolution. Stuttgart 1989, S. 99–112, hier S. 99.

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wertet wird. Gleichgültig welcher Faktor betont wird, um das Einsetzen der Revolution zu erklären – Kapitalakkumulation, technischer Fortschritt, effizientere Transportmöglichkeiten, neue Institutionen, effektive Infrastruktur oder gewachsene Bevölkerung – es spielte immer auch der Mensch als Individuum eine Rolle in den Deutungsversuchen. Stephan R. Epstein stellte dabei die grundlegende Frage, wie eine Welt, die als statisch und zyklisch gedacht wurde, so etwas dynamisches wie die Industrielle Revolution hervorbringen kann. 60 Ein Teil seiner Antwort liegt im Umgang mit Innovationen. Es seien nicht unbedingt die großen technischen Erfindungen gewesen, sondern die schleichende Diffusion bereits bekannter Praktiken.61 Dabei war es unerheblich, wo die Neuerungen entstanden. Peter Mathias stellte fest, dass auf technischem Gebiet zahlreiche theoretische Grundlagen in Kontinentaleuropa gelegt, jedoch in England zuerst umgesetzt wurden.62 Walt Rostow war der Überzeugung, dass englische Unternehmer einfach die innovativsten ihrer Zeit gewesen seien und neue Erfindungen sofort in der Produktion ausprobiert hätten.63 Ein ausreichendes Angebot an Unternehmertalenten war für Simon Kuznets eine der vier Vorbedingungen für die Industrialisierung.64 Die für ihn wesentliche Frage zum letzten Punkt war, ob diese Talente genetisch gleichverteilt in der Bevölkerung vorhanden, also als exogene Variable anzusehen sind, deren Potential sich unter bestimmten Strukturbedingungen entfalten kann, oder ob dies tendenziell eher als endogene Größe anzusehen ist, die sich aus einer Vielzahl von gesellschaftlichen Grundbedingungen ergibt. Thomas Ashton sah die Industrielle Revolution als Kombination günstiger Faktoren – worunter er die bereits erwähnten, harten, messbaren Fakten verstand – aber eben auch als eine geistige Revolution. Handel und Wissenschaft hätten bereits zuvor das Weltbild und

60 Stephan R. Epstein: Freedom and Growth. The Rise of States and Markets in Europe, 1300–1750. London 2001, S. 2. 61 Ebd., S. 7 und S. 38. 62 Peter Mathias: Wer entfesselte Prometheus? Naturwissenschaft und technischer Wandel von 1600–1800, in: Rudolf Braun u.a. (Hg.): Industrielle Revolution. Wirtschaftliche Aspekte. Köln 1972, S. 121–138, hier S. 129. 63 Flurin Condrau: Die Industrialisierung in Deutschland. Darmstadt 2005, S. 21, Walt W. Rostow: No Random Walk. A Comment on „Why was England First?“, in: Economic History Review 31 (1978), S. 610–612. 64 Simon Kuznets: Die wirtschaftlichen Vorbedingungen der Industrialisierung, in: Rudolf Braun u.a. (Hg.): Industrielle Revolution. Wirtschaftliche Aspekte. Köln 1972, S. 17–34, hier S. 19–20.

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das Verständnis des Universums verändert und veränderten Denk- und Verhaltensweisen den Weg geebnet.65 Ronald M. Hartwell betonte ebenfalls die Wichtigkeit einer sozialen Revolution, die der industriellen vorangegangen sei. Alle Innovationen seien wertlos, wenn die Fähigkeit, das Potential von Erfindungen zu entdecken, fehlte und damit die Anwendung und Verbreitung gehindert würden.66 Er schrieb konkret, dass zu den in vielerlei Hinsicht verbesserten Produktionsbedingungen eine „Veränderung in den gesamtgesellschaftlichen Wertvorstellungen“ getreten sein müsse. „Das menschliche Denken wurde ganz allgemein von neuen Kategorien bestimmt: An die Stelle traditioneller Auffassungen traten Risikobereitschaft und Gewinnstreben […].“67

RISIKO ALS LEITFADEN Dieses Streben nach Gewinn lag für den Begründer der deutschen Agrarwissenschaft, Albrecht Daniel Thaer, denn auch jeder rationellen Landwirtschaft zugrunde. Gleich zu Beginn des ersten Buches seiner vierbändigen Grundsätze der rationellen Landwirtschaft schrieb er 1809 unmissverständlich, dass es in der Landwirtschaft ums Geldverdienen gehe.68 Zwanzig Jahre zuvor hatte Isaak Maus die Tendenz der Ökonomisierung scharf angegriffen. Maus, Jahrgang 1748, lebte in dem kleinen rheinhessischen Dorf Badenheim und bewirtschaftete dort seit

65 Thomas S. Ashton: The Industrial Revolution (1760–1830). London 1948. 66 Ronald Max Hartwell: Die Ursachen der Industriellen Revolution. Ein Essay zur Methodologie, in: Rudolf Braun u.a. (Hg.): Industrielle Revolution. Wirtschaftliche Aspekte. Köln 1972, S. 35–58, hier S. 46. Gunter Mahlerwein betonte aktuell die Vermittlerleistung lokaler Pioniere bei der Diffusion von Innovationen im agrarischen Bereich. Diese Pioniere müssten dann lokal angesehene Bauern überzeugen, um eine breite Umsetzung der Neuerung zu erreichen. Gunter Mahlerwein: Agrarintensivierung und Wissenszirkulation – vergleichende Beobachtungen an rheinhessischen, nordbadischen und schwäbischen Beispielen, in: Regina Dauser/Lothar Schilling (Hg.), Neue Zugänge zur Wissenszirkulation auf dem Land im 19. Jahrhundert (im Druck). Die Vorbildrolle des Adels sah bereits von Hohberg. Statt sich auf Tanzböden und in Weinschenken herumzutreiben, sollten die adligen Gutsbesitzer dem gemeinen Mann den Landbau vorexerzieren. Hohberg: Georgica curiosa (wie Anm. 44), S. 9. 67 Hartwell: Ursachen (wie Anm. 66), 48. 68 Albrecht Thaer: Grundsätze der rationellen Landwirtschaft. Erster Band. Berlin 1809, S. 3.

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1776 einen 40 Morgen umfassenden Hof. Maus passt nicht in das Bild des ungebildeten, dumpfen Bauern, der sich aus Unwissenheit und Desinteresse den agrarmodernistischen Bestrebungen entzieht, das seit der Aufklärung immer wieder neu gezeichnet worden ist. Er veröffentlichte mehrere Gedichtbände und 1788 die Agrarschrift Etwas über Ackerbau und Landwirthschaft die Beförderung des ländlichen Wohlstands betreffend, in der er sich mit der Brachenfrage auseinandersetzte. Gewinn als „Haupttriebfeder“ lehnt er ab, ebenso eine allzu theoretische Herangehensweise von Stubengelehrten, die dann „in den gemeinsten Dingen irren“.69 Er wehrte sich nicht gegen jede Neuerung. Es gelte, die Vorschläge der Agrarreformer zu überprüfen und das Nützliche zu übernehmen. Es sei nicht die „dumme Anhänglichkeit ans Alte, nicht unvernünftiges Mißtrauen wenn man so ziemlich bey der Art seiner Väter bleibt wie diese ihren Acker baueten“.70 Mit der wichtigsten Forderung der Reformer, die Abschaffung der Brache, ist er jedoch nicht einverstanden. Dieser Punkt ist der Kern seiner Ausführungen, und er reicht weiter als die pflichtmäßige Gegenüberstellung von Stereotypen von verkopften und praxisuntauglichen Reformer und erfahrenen, aber beratungsresistenten Landwirten. Maus bedient sich einer rationalen Argumentationsstruktur, die einen tiefen Einblick in die bäuerliche Lebenswelt und Denkstruktur zulässt. Während für Thaer der Versuch „eine der Natur vorgelegte Frage“ war, der letztlich darauf abzielte, „die Gewalt des Menschen über die materielle Welt […] aus[zu]dehnen“ 71 , hat Maus ein deutlich weniger dichotomisch geprägtes Mensch-NaturVerständnis. In seinen Argumenten treten die von Beck am berühmten Beispiel Unterfinning detailliert vorgetragenen Grundzüge der naturalen Ökonomie klar hervor.72 In der höchsten Not ist der Landwirt auf sich selbst angewiesen, weshalb er zu einer risikoaversen Verhaltensweise tendiert, die ihm vielleicht nicht den höchsten Gewinn, dafür aber das Überleben sichert. Auch Luhmann nimmt eine extrem risikoaverse Handlungsweise für die Fälle an, in denen der möglicherweise eintretende Schaden – so unwahrscheinlich er auch sein möge – eine Katastrophe bedeutete.73 In den Worten Maus’ wird daraus der Bauer, der „lieber sich mit etwas wenigern begnügt und richtig den engen Bezirk seines Wirkungskreises übersieht, als mühsam nach vielem strebt und unruhig sich in Geschäften verwickelt“. 74 Die

69 Isaak Maus: Etwas über Ackerbau und Landwirthschaft die Beförderung des ländlichen Wohlstands betreffend. Frankfurt a. M. 1788, S. 1. 70 Ebd., S. 7. 71 Thaer: Grundsätze (wie Anm. 68), S. 9. 72 Beck: Unterfinning (wie Anm. 57). 73 Luhmann: Soziologie (wie Anm. 14), S. 11. 74 Maus: Ackerbau (wie Anm. 69), S. 7.

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Vorsicht gegenüber Experimenten ist jedoch nicht allein in der Persönlichkeit des Landwirts angelegt, sie ist vielmehr auch das Ergebnis eigener Erfahrungen. Zu oft seien die Versuche der Reformer nur auf kleinen Gebieten durchexerziert worden, denen „die Natur eine vorzügliche Lage und fruchtbaren Boden gegeben“ habe. Daraus allgemeine Schlüsse zu ziehen, sei geradezu böswillig.75 Auch in der 1794 erschienenen Abhandlung über die Brache, die vom Gutsbesitzer Simon Rottmanner verfasst wurde, heißt es: „Ich bin den Verbesserungen nicht abgeneigt, wiewohl ich in etwas zaghaft bin, und einen wahrscheinlichen Nutzen schon zum Voraus, ehe ich Mühe und Arbeit unternehme, zu sehen verlange.“76 Maus stimmt mit den Reformern darin überein, dass durch Experimente der Ertrag einzelner Früchte gesteigert worden sei, jedoch hätten Arbeitskraft und Kapital an anderer Stelle gefehlt und so den Ertrag des Guts insgesamt verringert. Mit dieser Analyse erweist Maus ein grundlegendes Verständnis von Opportunitätskosten. Mit diesen operiert er auch in seinem zentralen Rechenbeispiel. Hier führt er hypothetisch die Fruchtwechselwirtschaft auf seinem Hof ein und vergleicht Investitionen, Lohnkosten, Erträge, Renditen mit seiner traditionellen Bewirtschaftungsweise. Am Ende steht für ihn nach Übernahme der Innovation sogar ein höherer Gewinn. Diese nackten Zahlen versieht Maus sogleich mit Bedenken, denn die erweiterte Wirtschaft sei in mehrfacher Hinsicht bedroht. Seine Einwände sind zunächst ökonomischer Natur. Die Rechnung gehe nur auf, wenn die Preise stabil blieben und es nicht zu Krankheiten oder Seuchen unter den Tieren komme, die den teuer erworbenen Kapitalstock ruinierten. Auch Witterungskapriolen, die Maus als „Neckereien der Natur“ bezeichnet, bedeuten nun eine wesentlich größere Gefahr für das erweiterte Gut, denn alle Arbeiten müssten nun wie bei einer Maschine ineinandergreifen. Nasse Witterung bedrohe die Ernte, später Frost die Aussaat. Diese Probleme beträfen zwar auch die „gewöhnliche Wirtschaft“, allerdings nicht im gleichen Ausmaß, da mit der strikten Marktorientierung die Möglichkeiten der Verschiebungen wegfielen. Alle vierzig Morgen müssten nun bis Mitte Oktober gepflügt sein, komme, was wolle. Sei die Zeit knapp, etwa weil ein trockener Sommer den Boden so hart gemacht hätte, dass erst im September mit der Arbeit begonnen werden könne, müsste er auf teure Tagelöhner ausweichen. Mit jedem dieser Störfeuer schmelze der Gewinnvorsprung der modernen Landwirtschaft dahin.77

75 Ebd., S. 9. 76 Simon Rottmanner: Abhandlung über die Brache, oder der lateinische Wirth in Bayern. Nürnberg 1794, S. 9. 77 Maus: Ackerbau (wie Anm. 69), S. 13–26.

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Es fehlte jedoch auch der nötige Unternehmergeist. Die Ausführungen von Maus lassen erkennen, dass er rechnen konnte, seine Ergebnisse ermuntern ihn jedoch nicht, sein Verhalten zu ändern. Ähnlich äußert sich auch die Rezension in der Allgemeinen Literatur-Zeitung aus Jena 1793, die Maus unterstellt, er sehe „Unmöglichkeiten“, wo es lediglich an „Muth und Fleiß“ fehle. 78 Neben die rein ökonomischen Faktoren treten bei ihm kulturelle Bedenken. Die Abschaffung der Brache zwinge den Bauern in ein enges zeitliches Korsett, so dass „seine ganze Wirthschaft auf äußerste gespannt, und den in die Natur seines Standes verwebten Unglücksfällen so blos gestellt wird, daß nichts von einem Sturz ihn retten kann“. 79 Die Arbeitsverdichtung überfordert ihn, er kann das zusätzlich eingesetzte Kapital und die Arbeit nicht effizient managen. Eine innerfamiliäre Verschiebung von Arbeit bei Krankheit sei nicht mehr möglich, alle Risikopuffer seien aufgebraucht. Der Lohn dafür sei mager. Die zu groß geratene Wirtschaft versalze dem Bauern dann sein Erdenleben, nichts als Arbeit und Sorgen. Eine wachsende Wirtschaft hält er für einen Traum, den „der genügsame Bauer nicht träumt“.80 Maus sah sein landwirtschaftliches Tun stark als eine „embedded economy“, die auf familiäre Leistungsfähigkeit, dörfliche Strukturen und naturale Rhythmen angewiesen war. Innerhalb dieser sozialen Logik, die Groh mit den Schlagworten Unterproduktivität, Mußepräferenz und Risikominimierung skizzierte, wurde das bewusste Unterschreiten der eigenen Leistungsfähigkeit zum entscheidenden Puffer. In der Forschung wurde dies auch als verklausulierter Faulheitsvorwurf diskutiert, doch das Beispiel von Maus zeigt sehr deutlich, dass seine von Vorsicht und Voraussicht durchdrungene Wirtschaftsweise nicht Ausdruck von Generation zu Generation übernommenen, quasi in die bäuerliche DNA übergegangenen Handlungsmustern war, sondern Ergebnis einer reflektierten und bewussten Analyse.81 Auch Rottmanner stellte die Frage ganz konkret mit Bezug zur Brache: „Ist es nicht besser etwas als nichts zu haben?“82 Diese Einstellung bemängelt denn auch eine weitere Rezension aus der Allgemeinen deutschen Bibliothek 1790, die Maus vorwirft, er habe die Ergebnisse der aktuellsten Diskussionen gar nicht verstanden und seine Position gründe sich auf „mangelhafter Kenntniß der Natur“.83 78 Allgemeine Literatur-Zeitung 42 vom 14.02.1793, Sp. 335–336. 79 Maus: Ackerbau (wie Anm. 69), S. 8. 80 Ebd., S. 38–39. 81 Vgl. zur Analyse von Isaak Maus unter dem Gesichtspunt der Risikominimierung ausführlich Gunter Mahlerwein: Die Herren im Dorf. Bäuerliche Oberschicht und ländliche Elitenbildung in Rheinhessen 1700–1850. Mainz 2001, S. 242–243. 82 Rottmanner: Abhandlung (wie Anm. 76), S. 13. 83 Allgemeine deutsche Bibliothek 95 (1790), 1, S. 287–289, hier S. 288.

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Es ist dieser Zugriff auf die Natur, die Maus und Thaer am deutlichsten voneinander scheidet. Die beiden waren Zeitgenossen und teilten nahezu die gleiche Lebensspanne. Für Maus konnte man nicht der Natur jede beliebige Frage vorlegen. Sie blieb für ihn ein nicht einzuhegender, sich der Generalisierung entziehender und vor allem volatiler Faktor, dessen Ausschläge durch Anpassung abzufedern war. Damit geht die Konsequenz einher, dass für ihn nur wohlhabende Personen die nötigen Ressourcen für Versuche aufbringen können. Auch bei Christian Friedrich Germershausen ist die nötige Voraussetzung für riskante Versuche das nötige Kleingeld. Wenn „man nicht zu den Reichen dieser Welt gehörte, so muß man sich nicht zu vielen oder zu solchen Versuchen berufen zu sein glauben, welche ins Große gehen“.84 Zu allererst solle man seinen „Nothpfennig“ beisammenhalten, der einen vor der Gefahr schütze. So vor den Gefahren, die von der Natur ausgehen, gesichert, könne man die selbst produzierten Risiken angehen. Ganz ähnlich ist die bei Hohberg häufiger vorkommende Trias „erst das notwendige, dann das nützliche, dann das angehnehme“ zu verstehen. 85 Der Landwirt vom Schlage Maus bleibt dann allerdings immer dem Notwendigen verhaftet und wird der Nicht-Agent der Modernisierung, der kaum zur unternehmerisch-riskanten Umorganisation seiner Produktionsfaktoren fähig, ja willens war. Die kulturelle Transformation zum Unternehmer hat bei Maus noch nicht eingesetzt, womit nach Kuznets ein grundlegender Faktor für Wachstums- und Industrialisierungsprozesse ausfiel.86

84 Germershausen: Hausvater (wie Anm. 46), 130. 85 Wolf Helmhardt von Hohberg: Georgica curiosa. Das ist: Umständlicher Bericht und klarer Unterricht Von dem Adelichen Land- und Feld-Leben/ Auf alle in Teutschland übliche Land- und Haus-Wirthschafften gerichtet. Nürnberg 1682, S. 28. 86 Für Peer Vries war die innovative Reallokation von Arbeit und Kapital der entscheidende Wachstumsfaktor. Peer Vries: Wirtschaftswachstum, in: Markus Cerman (Hg.): Wirtschaft und Gesellschaft. Europa 1000–2000. Innsbruck 2011, S. 76–103, hier S. 95. Dazu sei eine Kultur nötig, die offen gegenüber Innovationen sei. Peer Vries: Ursprünge des modernen Wirtschaftswachstums. England, China und die Welt in der Frühen Neuzeit. Göttingen 2013, S. 10. Gerade an dieser Risikobereitschaft habe es in Deutschland lange gefehlt. Peter Eigner: Der Weg in die Industriegesellschaft, in: Markus Cerman (Hg.): Wirtschaft und Gesellschaft. Europa 1000–2000. Innsbruck 2011, S. 104–133, hier S. 117–118.

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FAZIT Riskante Verhaltensweisen fanden im Verlauf der Frühen Neuzeit zunehmend Eingang in die Hausväterliteratur. Die Implementierung von Neuerungen erfolgte, den landwirtschaftlichen Tugenden Vorsicht und Voraussicht folgend, immer mit dem Einzug von Sicherungsmechanismen. Diese konnten finanzieller Natur sein oder auch in der Warnung bestehen, das eigene Können nicht zu überschätzen oder ein rechtzeitiges Scheitern einzugestehen. Diese evolutionäre Entwicklung erfuhr durch Agrarreformer und Ökonomische Aufklärung eine radikale Brechung. Die starke Gegenüberstellung von fortschrittswilligen Reformern und starrköpfigen Bauern hat den Blick dafür verstellt, welche Fortschrittswilligkeit und -fähigkeit sich im agrarischen Bereich entwickelt. Isaak Maus brachte reflexhaft eine traditionelle Einstellung zu Papier, die schon in Auflösung begriffen war und die er selbst biografisch brach.87 Waren es die radikalen Reformer oder die Jahrhunderte dauernde Entwicklung, die Bauern zu Agrarunternehmern werden ließ? Verena Lehmbrock sieht Albrecht Daniel Thaer nicht als Ausgangspunkt für die Entwicklung der neuen deutschen Landwirtschaft, sondern als den Fluchtpunkt der Diskurse des 18. Jahrhunderts. Ihm gelang es, die unterschiedlichen Ansätze, die Theoretiker und Praktiker zu vereinen.88 Dies konnte ihm gelingen, weil er – wie die Hausväterliteratur – die Rationalitäten der Bauern ernst nahm und nicht radikal zu überwinden versuchte. In seinem Begriff von „wissenschaftlicher Landwirtschaft“ fließen das Erfahrungswissen und deduktive Wissen zusammen. 89 Thaer überwand den belehrenden Impetus der Ökonomischen Aufklärung und stellte die Anschlussfähigkeit an breite Kreise der landwirtschaftlich Tätigen her, die in einem dreihundert Jahre währenden evolutionären Prozess riskantere Verhaltensweisen

87 Maus nutzte die Gelegenheiten, welche die Französische Revolution für das linke Rheinufer brachte, vergrößerte seinen Besitz in der Nationalgüterversteigerung erheblich und wurde doch noch zum Unternehmer. Bei einer Voraufteilung seiner Besitztümer unter seinen Kindern 1810 konnte er seinem ältesten Sohn Wilhelm allein 2.100 Gulden vermachen, was etwa 2 Wohnhäusern oder 35 Kühen entsprach. Brief von Isaak Maus an Wilhelm Maus, 18.02.1810, in: Richard Auernheimer/Reinhart Siegert (Hrsg.): Isaak Maus und sein Badenheim. Isaak Maus (1748–1833) als Bauer, Familienvater, Bürgermeister und Dichter in seinem Heimatort Badenheim. Alzey 1998, S. 115. 88 Verena Lehmbrock: Lob des Handwerks. Wissenstheorien heute und bei Albrecht Daniel Thaer (1752–1828), in: Zeitschrift für Agrargeschichte und Agrarsoziologie 62 (2014), S. 30–41, hier S. 32. 89 Vgl. Thaer: Grundsätze (wie Anm. 68), S. 3–6.

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eingeübt hatten. Damit war der Weg geebnet, die bäuerlichen Sicherungsmechanismen Vorsicht und Voraussicht mit Innovationen im Sinne der Produktivitätssteigerung zu versöhnen.

Sichere Muße Theaterarchitektur und Risiko im frühen 19. Jahrhundert Kerstin Fest Wie ist denn wohl ein Theaterbau? Ich weiß es wirklich wirklich sehr genau: Man pfercht das Brennlichste zusammen, da steht’s dann also bald in Flammen. Johann Wolfgang von Goethe, Zahme Xenie In meiner Komödie hat es am Ende vollkommen finster zu sein, auch das Notlicht muß gelöscht sein […]. Thomas Bernhard, Der Theatermacher

I. Die englischen Theater des 18. und frühen 19. Jahrhunderts waren keine sicheren Orte. Das ist zum einen metaphorisch zu verstehen: Erst 1660 kehrte das Theater nach Ende des Commonwealth nach England zurück und brachte grundlegende Neuerungen aus dem kontinentalen Exil mit sich. Anstatt auf elisabethanischen Rundbühnen wurde nun in meist eigens errichteten Gebäuden gespielt, neue Genres, wie zum Beispiel das heroic drama bildeten sich heraus und, vielleicht am augenscheinlichsten, wurden weibliche Rollen nun tatsächlich von Schauspielerinnen und nicht mehr jungen Männern gespielt. 1 Es verwundert also nicht, dass

1

Zum englischen Theater der Restauration vgl. Paul D. Cannan: Restoration Dramatic Theory and Criticism, in: Susan J. Owen (Hg.): A Companion to Restoration Drama.

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das Theater und seine Gepflogenheiten teils heftigen Diskussionen und Kontroversen ausgesetzt waren, welche sich weit in das 18. Jahrhundert hinein zogen. Strittig war vor allem die Frage, ob sich Theaterdirektoren am Geschmack des Publikums, welches hauptsächlich leichtere Kost wie zum Beispiel Farcen oder pantomimische Vorstellungen bevorzugte, richten oder sich auch einem gewissen Bildungsauftrag verpflichten sollten. Andere Streitpunkte waren die Preise der Eintrittskarten, das Benehmen der Zuschauer und die schauspielerischen Fähigkeiten der Akteure und Akteurinnen.2 Theaterdirektoren und Dramatiker waren überdies neben künstlerischen auch oft mit finanziellen und rechtlichen Angelegenheiten und Problemen beschäftigt. Das Theater der Restaurationszeit und des 18. Jahrhunderts kann also als instabiles, sich dauernd änderndes System gesehen werden, welches bei manchem Kommentator auch Unbehagen hervorzurufen vermochte. Zu offen und öffentlich war und ist der Theaterraum. Im Theater sind Zuschauer wie Darsteller ‚ungeschützt‘ einander und den Umständen ausgeliefert. Anders als zum Beispiel die Lektüre von Romanen, einem Genre, das bekanntlich im 18. Jahrhundert seinen Aufstieg beginnt, erlaubt das Theater keinen Rückzug in den Schutz des Privaten und fordert direkte Reaktionen auf das Geschehen ein. Das Theater – stets live, präsent und direkt – ist immer ein Risiko.

Oxford 2008, S. 19–35; Susan J. Owen: Perspectives on Restoration Drama. Manchester 2002; David Roberts: Restoration Plays and Players: An Introduction. Cambridge 2014. 2

Im 18. Jahrhundert rückte zum Beispiel immer wieder die sogenannte „Footmen’s Gallery“ in den Mittelpunkt von Kontroversen. Diese wurde von Dienstboten frequentiert (die zuvor die teureren Plätze für ihre Herrschaft reserviert hatten) und wurde oft zum Schauplatz mehr oder weniger gewalttätiger Auseinandersetzungen. Für das Publikum aus der Mittelklasse wurde sie zum Inbild unkultivierten und unzivilisierten Benehmens, für die Dienstboten zu einem Raum, in dem sie öffentlich und gleichberechtigt als britische Bürger auftreten konnten (vgl. Kristina Straub: Domestic Affairs: Intimacy, Eroticism, and Violence between Servants and Masters in Eighteenth-Century Britain. Baltimore 2009, S. 113ff.). Theateraufstände standen häufig auch im Zusammenhang mit anderen politischen und sozialen Problemen. David Garrick zum Beispiel sah sich 1755 mit dem „Chinese Festival Riot“ konfrontiert als eine erzürnte patriotische Menge lautstark gegen eine französische Ballettruppe protestierte. Vgl. auch Helen M. Burke: Riotous Performances: The Struggle for Hegemony in the Irish Theater, 1712–1784. Notre Dame 2003; Elizabeth Fitzgerald-Hume: Rights and Riots: Footmen’s Riots and Drury Lane 1737, in: Theatre Notebook: A Journal of the History and Technique of the British Theatre 59 (2005), S. 41–52; und Sean McEvoy: Theatrical Unrest: Ten Riots in the History of the Stage, 1601–2004. London 2016.

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Dieses Bild der Unsicherheit und des Ausgeliefertseins kann auch wörtlich und materiell gesehen werden. Die Londoner Theaterhäuser3 wurden wiederholt Opfer von verheerenden Bränden. Drury Lane, erbaut 1663 für die King’s Company, brennt 1672 das erste Mal nieder und wird 1674 wiedereröffnet. 4 1809 kommt es wieder zu einem verheerenden Feuer. Letztere Katastrophe erscheint als besonders schmerzlich, da das sogenannte ‚alte‘ Drury Lane unter der Direktion von Richard Brinsley Sheridan erst 1791 abgetragen und 1794 völlig erneuert spektakulär wieder eröffnet wurde.5 Dabei wurden auch die allerneuesten Sicherheitsvorkehrungen berücksichtigt: Drury Lane konnte sowohl den ersten eisernen Vorhang Europas als auch Tanks für Löschwasser über der Bühne vorweisen. 6 All dies verhinderte allerdings nicht den Brand im Februar 1809. 7 1808 wurde auch

3

Ich beziehe mich hier und auch im Folgenden auf das Drury Lane Theatre und das Theatre Royal, Covent Garden. Diese beiden Häuser waren über Jahrzehnte die einzig lizensierten Spielstätten Londons und stehen auch emblematisch für die Londoner Theaterwelt des 18. Jahrhunderts.

4

Von diesem zweiten Haus existieren keine Bilder, es wird aber oft mit Plänen von Christopher Wren in Verbindung gebracht (Richard Leacroft: The Development of the English Playhouse. London 1973, S. 84).

5

Der Architekt des neuen Hauses, Henry Holland (1745–1806), schrieb, dieses Theater sei „on a larger scale than any other theatre in Europe“ (Iain Mackintosh: Architecture, Actor and Audience. London 2003, S. 34).

6

Holland schrieb dazu in einem Brief an Richard Brinsley Sheridan: „In the roof of the Theatre is contained, besides the barrel loft, ample Room for the Scene painters, and four very large reservoirs of Water, distributed from them all over the House, intended to extinguish fire. At the same time great precaution has been taken to prevent such a misfortune by the most ample use of all the inventions and contrivances which ingenuity could suggest, and an Iron Curtain is contrived which would completely separate the Audience from the Stage, where Accidents by fire usually commence in Theatres“ (zitiert in Greater London Council: The Theatre Royal, Drury Lane, and the Royal Opera House, Covent Garden. Survey of London, v. 35. London 1970, S. 50). Das Wasser aus den Tanks konnte auch für Bühneneffekte benutzt werden, so gab es nach Wiedereröffnung eine Produktion, in der sich ein ‚echter‘ Wasserfall auf der Bühne in einen See ergoss, auf dem ein echtes Boot schwamm.

7

Einer, wahrscheinlich leider nicht wahren, Anekdote zufolge erschien der schon schwer verschuldete Direktor Richard Brinsley Sheridan mit einem Glas Wein, um die Flammen zu betrachten. Auf seine Gelassenheit angesichts seines finanziellen Ruins angesprochen, antwortete er: „A man may surely be allowed to take a glass of wine by his

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Covent Garden zum Raub der Flammen, obwohl auch dieses Haus damit warb, nach seiner Wiedereröffnung 1792 die neuesten Feuersicherheitsvorkehrungen zu haben. 1856 brannte dann die dritte Reinkarnation des Royal Opera House, Covent Garden nieder. Die Theaterbrände an der Wende des 19. Jahrhunderts läuteten auch das Ende der Theaterarchitektur des 18. Jahrhunderts und vor allem der sogenannten „Garrick-Bühne“8 ein.9 Was nachfolgte, war die Guckkastenbühne, welche bis ins 20. Jahrhundert hinein der Standard der westlichen Bühnenkunst blieb. Es ist auch nicht weiter erstaunlich, dass sich im Zuge dieser Entwicklungen ein lebhafter Diskurs zum Thema Sicherheit im Theater entspann. Im Folgenden möchte ich nun anhand von drei Fallbeispielen diesen Diskurs analysieren. Bei den drei diskutierten Autoren handelt es sich um Samuel Ware, B. Cook und Richard Lovell Edgeworth, deren Artikel zur sicheren Theaterarchitektur 1809 in der populärwissenschaftlichen Zeitschrift Nicholson’s Journal veröffentlicht wurden.10 Allen drei Texten ist gemein, dass sie eine neuartige Bauweise für Theaterbauten fordern. Auch argumentieren alle drei Autoren wenig überraschend dafür, andere Baumaterialen als das leicht entzündbare Holz zu verwenden, welches nicht zuletzt auch ein rasches Ausbreiten der Flammen ermöglicht. Ein zeitgenössischer Bericht über den Brand in Drury Lane aus Londina Illustrata von Richard Wilkinson bestätigt dies:

own fireside“ (Thomas Moore: Memoirs of the Life of … Richard Brinsley Sheridan. London 1826, S. 368). 8

Vgl. Allardyce Nicoll/Sybil Marion Rosenfeld: The Garrick Stage: Theatres and Audience in the Eighteenth Century. Manchester 1981.

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Es sind in Großbritannien und in Europa kaum originale Theaterbauten aus dem 18. Jahrhundert erhalten. Der Grund dafür sind die häufigen Brände, aber auch Modernisierungsmaßnahmen im 19. Jahrhundert. Baustrukturen aus dem 18. Jahrhundert finden sich fast nur noch in privaten Spielhäusern adeliger Familien wie zum Beispiel dem Schlosstheater Ludwigsburg oder im Schwarzenberger Schlosstheater in Český Krumlov. Im Bristol Old Vic Theatre wurde in den vergangenen Jahren das Auditorium aus der Georgianischen Epoche rekonstruiert.

10 Nicholson’s Journal: A Journal of Natural Philosophy, Chemistry and the Arts erschien monatlich zwischen April 1797 und Dezember 1813 und richtete sich an ein an Technik und Naturwissenschaften interessiertes Laienpublikum. Für die Rolle populärwissenschaftlicher Magazine im 19. Jahrhundert siehe Samuel Lilley: Nicholson’s Journal, in: Annals of Science 6 (1948). S. 78–101.

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In ten or twelve minutes [the fire] ran up the front boxes and spread like kindled flax. This may be accounted for from the body of air which so large a hollow afforded, and also the circumstances of the whole being a wooden case. For our readers will recollect, that the immense pile was constructed of timber […] Timber was then under 3l per load; and the architect thought that this wooden case would contribute to the propagation of sound: it did not perhaps succeed in this respect, but it certainly contributed to the conflagration.11

Neben einer eindrucksvollen Schilderung des Brandes enthält dieses Zitat noch zwei andere Aspekte, die im Folgenden wichtig werden: Wilkinson wertet das unsichere hölzerne, aber billige Theater als eine Dummheit und, noch wichtiger, er kritisiert, dass die billige unsichere Bauweise auch keinerlei Vorteile für die Akustik hätte. Sicherheit wird also, wie in den folgenden Texten auch, nicht nur als Wert an sich, sondern auch im Kontext des künstlerischen Erlebnisses gesehen, das den modernsten Ansprüchen Genüge tun soll. Holz wird so zum Material des ‚alten‘ Theaters, Stein beziehungsweise Ziegel stehen für das neue fortschrittliche Theater, welches nicht nur materielle Sicherheit garantiert, sondern auch das Risiko minderwertiger Aufführung reduziert. Das Theater wird also zum kontrollierten, risikoarmen Raum, architektonisch, künstlerisch und ideologisch. In meiner Analyse geht es daher weniger um die technischen und architektonischen Ausführungen der Autoren als um ihre Sicht auf das Theater als materiellen und immer auch ideellen Raum. Die Vorschläge der Autoren beschäftigen sich nicht nur mit sicherheitstechnischen Fragen, sondern drehen sich auch um die Funktionalität und Ästhetik des Theaterraumes und nicht zuletzt darum, wie sich die materielle Seite des Theaters auf die Aufführungspraktik und gar auf das gesprochene Wort auf der Bühne auswirkt. Die Ausführungen der Autoren beziehen sich immer wieder implizit oder explizit auf das, was im Theater geschieht: Stein, Ziegel und Holz werden mit so flüchtigen Theateraspekten wie Performanz, Spektakel und dem gesprochenen Wort verquickt. Die Grenze zwischen körperlicher Bedrohung, man könnte in einem Feuer verletzt werden oder gar umkommen, und immaterieller, man ist dem Spektakel auf der Bühne, in welcher Hinsicht auch immer, schutzlos ausgeliefert, verschwimmen. Der Theaterbau muss so in vielerlei Hinsicht zum sicheren Raum werden: Er beschützt im Idealfall nicht nur Leib und Leben, sondern auch das künstlerische Erlebnis des Publikums, wenn nicht gar dessen moralische Verfassung.

11 Londina Illustrata: Graphic and Historic Memorials of Monasteries, Churches, Chapels, Schools, Charitable Foundations, Palaces, Halls, Courts, Processions, Places of Early Amusement and Modern and Present Theaters, in the Cities and Suburbs of London & Westminster. 1825, S. 178.

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II. Samuel Wares Remarks on Theatres; and on the Propriety of Vaulting them with Bricks and Stone (1809) ist ein Text, der wie so viele von der Brandkatastrophe von Drury Lane inspiriert wurde. Als Architekt ist sich Samuel Ware der Komplexität des Theaterbaus bewusst.12 Diese ist seiner Meinung nach in den verschiedenen Bedürfnissen der „Benutzer“ eines Theaters begründet: Die Geldgeber wollen ein Gebäude, das in der Lage ist, bei niedrigsten Baukosten einer größtmöglichen Zuschauerzahl Raum zu bieten, die Zuschauer einen Bau, in dem sie komfortabel sitzen, deutlich hören und, in diesem Kontext am wichtigsten, sich sicher fühlen können. Es liegt dann am vielgeplagten Architekten allen diesen Bedürfnissen gerecht zu werden: The architect must necessarily be in continual contest with himself, on the one side in behalf of the public, from whom he will expect reputation; on the other side in behalf of his employer, with whom his appointment originates, and to whom his gratitude is due. 13

Was das Sicherheitsgefühl der Zuschauer am meisten einschränkt, ist natürlich die Gefahr eines Feuers. Dieses Hauptthema der Ausführungen von Ware ist aber auch mit Fragen der Qualität der Darstellung und allgemeinen theatertheoretischen Themen verbunden. Wie andere Architekten und Kommentatoren auch, argumentiert Ware für die Verwendung von Ziegel und Stein im Theaterbau, besonders wenn es um die Dachkonstruktionen geht. Diese sollten laut Ware von den Dächern mittelalterlicher Kathedralen inspiriert sein und in einem „Gothic“ oder, wie Ware ihn auch nennt, „barbaric style“ konstruiert werden, welcher den Plänen Inigo Jones weit überlegen sei. Ware bringt diesen Baustil in einem weiteren Argumentationsschritt mit den Freimaurern in Verbindung, was möglicherweise schon auf die frühromantische Faszination mit dem Mittelalter hinweist. Ware propagiert aber

12 Samuel Wares wohl bekanntestes Werk sind die von Lord George Cavendish in Auftrag gegebenen Londoner Burlington Arcades, welche parallel zur Bond Street verlaufend Piccadilly Circus und Burlington Gardens verbinden. Die Burlington Arcades gelten als ein Vorläufer der modernen Einkaufspassagen. Vgl. Jane Rendell: Thresholds, Passages and Surfaces: Passing and Seeing in the Burlington Arcade, in: Alex Coles (Hg.): The Optics of Walter Benjamin. London 1999, S. 168–191. 13 Samuel Ware: Remarks on the Theatres; and on the Propriety of Vaulting Them with Brick End Stone [&c.]. By the Author of A Treatise on the Properties of Arches and Their Abutment Piers. 1809, S. xxx–iv.

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keineswegs die Errichtung einer fantastischen ‚gothic folly‘, welche im Zuge des 19. Jahrhunderts so beliebt werden sollte, sondern entwickelt ein Modell eines Theaters, das modernen Sicherheitsvorstellungen entspricht, aber auch in einem breiteren kulturellen Kontext gesehen werden kann. Der „barbaric style“ nämlich vereint laut Ware Schönheit mit Sicherheit, Einfachheit und Effizienz. Dies demonstriert Ware anhand von mittelalterlichen Sakralbauten, die er als Folie für den seiner Ansicht nach minderwertigen „Roman style“ benutzt. Unter diesem Begriff versteht Ware wohl sowohl antiken also auch neo-klassischen Stil, zwischen denen er in seinem Text nicht wirklich differenziert. Seine Begeisterung für die Architektur der „free masons“ ist so groß, dass er der Architektur der Renaissance jedweden ästhetischen Wert abspricht. Der Petersdom zum Beispiel hält nur durch seine angeblichen gotischen Elemente Wares hartem Urteil stand: Although St. Peter’s is of Roman architecture, in respect to decoration; whatever superiority in the construction it may have over the work of the ancient Romans, is manifestly derived from the Free Masons.14

Die Ästhetik des „barbaric style“ ist von Schlichtheit geprägt. Hier gibt es keine überflüssigen Ornamente: In their vaultings the Free Masons depended on the strength of their ribs; in their support, on piers and columns. They considered walls to have no other property, than that of an enclosure, and this is the true, original and only idea, which an architect needs to entertain of a wall.15

Außerdem, und das ist für den Sicherheitsgedanken auschlaggebend, sind laut Ware ‚gotische‘ Gebäude nach rationalen Gesichtspunkten erbaut, während ‚römische‘ Bauten rein nach Zufall und Glück entweder stehen bleiben oder eben nicht: [B]y making their basis large enough, they hoped fortune would permit it to reset somewhere within it. […]

14 Ware: Remarks (wie Anm. 13), S. 14. 15 Ebd., S. 11. Auch an anderer Stelle verweist Ware auf die lobenswerte Einfachheit mittelalterlicher Bauten: „We find an extreme tenuity through every part; where there are masses of stone […], those masses are exposed and open to view; that, which was necessary, they refused to acknowledge a deformity; and, where there was no more material than was required, it became unimportant to screen it by other useless walls“ (S. 20).

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Not so the barbarians of the middle ages; they had adopted a maxim, which rendered it necessary for them to trust a less capricious protectress than fortune, and they fixed on science as their patroness.16

Schon an dieser Stelle wird klar, was Ware bezweckt: Die Erscheinung seines idealen sicheren Theaters ist nicht nur von der Verminderung des Brandrisikos geprägt, sondern hat auch ästhetische und gar moralische Aspekte. Einfachheit wird zum Ideal, alles was verschnörkelt und verspielt erscheint, ist nicht nur überflüssig und vielleicht geschmacklos, sondern unter Umständen auch gefährlich. Auch der nationalistische Unterton ist nicht zu überhören: Die ‚römische‘ Architektur ist auf Risiko erbaut, die ‚gotische‘, also englische, auf Rationalität. Das Fremde ist riskant, das Heimische sicher. Zu den Dichotomien gotisch/römisch und Wissen/Zufall fügt Ware in einem weiteren Schritt noch eine nächste: Schauspiel/Oper. Die Aufführungsorte dieser Genres sind laut Ware grundsätzlich verschieden: In Opernhäusern soll das Baumaterial dem Zuschauer ein möglichst ungetrübtes Hörvermögen ermöglichen, das nicht durch Nebengeräusche gestört wird („sounds not sense are the requisite objects in an opera house“17), im Sprechtheater jedoch soll nicht vorrangig der Klang, sondern der Sinn der Worte hörbar sein: Here the materials, of which the building should be constructed, ought to be of the description best adapted to propagate a sound that the idea of which it is a type, may be communicated to the mind; and it is of little importance, whether the sound itself be soft and pleasing to the sense, so that what it expresses may be understood.18

Ein Bau für Sprechtheater soll eine möglichst ‚naturalistische‘ Leistung der Schauspieler und Schauspielerinnen ermöglichen: [A] man or woman may speak in a tone consistent with the character each may assume, and that there may be nothing uncommon to attract the attention from the sense to the sound. 19

Das Sprechtheater wird also Wares ‚gotischem‘ Ideal von Klarheit und Zurückhaltung mit all seinen Assoziationen zugeordnet.

16 Ebd., S. 20. 17 Ebd., S. 24. 18 Ebd., S. 24. 19 Ebd., S. 25.

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Ware diskutiert auch die seiner Meinung nach ideologischen Unterschiede zwischen Oper und Sprechtheater: Die Oper ist ‚künstlich‘ und ornamental. Ein Opernsänger muss nicht natürlich wirken, er wird nicht wegen seines schauspielerischen Talents und auch nicht wegen seiner ausgefeilten Deklamationsfähigkeit besetzt, sondern nur wegen seiner angeblich angeborenen Singstimme: „If he has this single gift from nature, he requires little assistance from art“.20 Sprechtheater auf der anderen Seite muss intellektuell verstanden werden, sowohl vom Publikum als auch von den DarstellerInnen. Im ‚gotischen‘ Theaterbau ist also klarer Verstand und Aufmerksamkeit gefordert. In seiner schlichten Steinarchitektur ist das Risiko einer emotionalen Überwältigung und des reinen Sinnesgenusses, welche die ‚ausländische‘ Oper unter Umständen in sich trägt, gebannt. Ware verfolgt diesen Gedanken in einem konkreten Zusammenhang mit dem zerstörten Drury Lane Theatre: Die Verwendung von Holz ist nicht nur ein Sicherheitsrisiko sondern auch ein Anzeichen von niedrigem künstlerischen und moralischen Anspruch: „How it has degraded the character of the English stage the admirers of legitimate drama have to lament“.21 Ein großer leicht entflammbarer Theaterraum ist also nicht nur ein Risiko für Leib und Leben, sondern auch für die Kunst und die Moral der Zuschauer. In seiner Ablehnung gegenüber ‚leichter‘ Unterhaltung steht Ware keineswegs allein da, vielsagend ist aber die Verbindung, die er zwischen dem gebauten Theaterbau und dem Theatererlebnis des Publikums zieht. Nur in einem sicheren Theater ist ein wahrer Kunstgenuss möglich.

III. Dass das Theater nicht nur sicher, sondern auch der Moral der BesucherInnen zuträglich sein soll, ist auch die Meinung B. Cooks und Richard Lovell Edgeworths.22 Beide begründen dies damit, dass das Theater ein öffentlicher Raum par

20 Ebd., S. 25. 21 Ebd., S. 25. Wobei der gotische Stil laut Ware eigentlich auch für die Oper von Vorteil wäre: „The author does not pretend to have a musical ear, and acknowledges that he derives pleasure from those sounds which generally captivate the vulgar; but those who are scientific in music and have fine ears, have been delighted, with him, by the sounds issuing from the choirs in our stone cathedral“ (S. 32–33). 22 Wer B. Cook war, ist nicht mehr feststellbar. Richard Lovell Edgeworth (1744–1817) war ein vielseitiger anglo-irischer Landbesitzer, Schriftsteller und Erfinder. Als einer der Gründer der Irish Royal Academy interessierte er sich u.a. für Agrarwirtschaft, Er-

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excellence sei. Eine Gefährdung der Bausubstanz kommt einer Gefährdung der Allgemeinheit gleich. Ein Brand in einem Londoner Theater, so Edgeworth, würde nicht nur ein Gebäude zerstören, sondern Auswirkungen auf ganz London und in die privatesten Bereiche hinein haben: „Every family in London might have mourned the loss of some relatives […] and the whole city might have burned to ashes“23. Folgerichtig argumentiert Edgeworth auch dafür, dass die Öffentlichkeit bei der Gestaltung von Theaterbauten ein Mitspracherecht haben sollte: Covent-garden playhouse is now rebuilding without any previous appeal to the public, that I have heard of, as to the plan or precautions, that are to be followed in its construction. […] Surely it must be infinitely more advantageous to the proprietors and to the nation, that a short delay should take place before a plan is ultimately arranged, than that a new theatre should be opened ten days sooner, or ten days later.24

Das Ziel Edgeworths ist es ein durch und durch rationales Theater zu entwerfen, in dem sich die neuesten technischen, architektonischen und künstlerischen Errungenschaften zusammenfügen und zu einem idealen, organisierten Ganzen führen, welches etwaige Risiken und Gefahren so gut es geht vermeidet. Theater ist für Edgeworth eine hauptsächlich materielle und räumliche Erfahrung. Die Verwendung von leicht entflammbaren Materialien wie Holz beeinflusst auch das Erleben des Publikums, indem ein Raum erschaffen wird, in dem harmlose Unterhaltung zur Todesfalle werden kann: A frame-work of timber […] is opened for the public, who are to run the risk of sudden destruction from a spark of fire, or a snuff of candle, from the fireworks and lightning of comedy and tragedy, of pantomime and farce […].25

Hier wird, wie schon bei Ware, Baumaterial mit dramatischen Darbietungen und Genres verbunden. Edgeworth spricht natürlich von echten Feuerwerken; man ziehungstheorie und moderne technische Errungenschaften. Er versuchte ein telegraphisches Kommunikationssystem zu konstruieren und erfand neben einer Landvermessungsmaschine auch diverse, seiner Ansicht verkehrssicherere, Fuhrwerke. Nicht zuletzt war er der Vater Maria Edgeworths, einer der einflussreichsten irischen Autorinnen des 19. Jahrhunderts. Siehe Marilyn Butler: Maria Edgeworth: A Literary Biography. Oxford 1972. 23 Richard Lovell Edgeworth: On the Construction of Theatres, in: A Journal of Natural Philosophy, Chemistry, and the Arts. S. 129–136, hier 129. 24 Ebd., S. 129. 25 Ebd., S. 130.

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kann jedoch auch die „comedy and tragedy, […] pantomime and farce“ als die metaphorischen Brandherde verstehen, die Tod und Vernichtung mit sich bringen. Dies wirft nun nicht nur die Frage auf, welche Baumaterialien sicher sind, sondern auch welche Arten von Darbietungen einen ‚sicheren‘, nicht leicht entflammbaren Kunstgenuss bieten können. Ein anderer materieller Aspekt, das Ausmaß des Theatergebäudes, ist für Edgeworth ebenso wichtig. Ein Theater soll nicht möglichst groß sein, sondern „moderate“ Ausmaße haben, denn in einem zu großen Bau leidet die akustische Qualität. Nicht jeder Zuschauer könne nahe genug an der Bühne sitzen, um problemlos hören zu können, deshalb müssten sich die Schauspieler mit mehr oder weniger lächerlichen Tricks behelfen: As to the actors, to make any impression, they were obliged to raise their voices above their natural pitch; to substitute pantomimic gesticulation, in the place of inflexion of voice; and to use contortions of features instead of the natural expression of the eyes, and the easy movement of the countenance.26

Der nicht sichere Theaterraum birgt also auch das Risiko minderwertiger Darbietungen, denn solange das Theater nicht einen materiell und architektonisch hochwertigen Zustand erreicht hat, ist es schlichtweg unmöglich, künstlerische Qualität zu liefern: It is in vain, that critics inveigh against the bad taste of those, who prefer show, and pantomime, and processions; and dancing, and all that the French call spectacle: unless we can hear the sentiments and the dialogue, it is useless to write good plays […].27

‚Gutes‘ Theater, das der Erbauung des Publikums dienlich ist, muss also für Edgeworth bestimmte materielle Voraussetzungen erfüllen. Wie auch in Wares Ausführungen, werden nur so körperliche Unversehrtheit und mußevolle Erbauung ermöglicht. Der ideale Theaterraum ist für Edgeworth deshalb rational und gut geplant. Allen Nutzern des Theaters soll größtmögliche Sicherheit und Komfort geboten werden. Das gilt nicht nur für die ZuschauerInnen, sondern auch für diejenigen, die im Theater arbeiten, allen voran die Schauspieler und Schauspielerinnen. Der

26 Ebd., S. 134. 27 Ebd., S. 134.

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Bereich hinter der Bühne soll zum Beispiel durch eine Art Zentralheizung angenehm gestaltet werden: „To heat the green room, dressing room, and the withdrawing rooms, steam might be advantageously employed.“28 Diese materiellen räumlichen Gegebenheiten führen wiederum zu einer moralischen und künstlerischen ‚Verbesserung‘ des Theaterbetriebs:29 [I]t becomes a duty in the management of a theatre to accommodate the performers with every possible convenience as that they may enjoy that English word comfort, which in all situations of life tend to promote independence and morality.30

Anhand dieses Zitats zeigt sich, dass auch Edgworth eine nationale Komponente in seinen Ausführungen mitschwingen lässt. Das sichere, wohlgeordnete Theater

28 Ebd., S. 132. 29 Die angeblich unmoralischen Verhältnisse im Theater sind ein fester Bestandteil der theaterfeindlichen Rhetorik. Dies wird auch oft mit den räumlichen Verhältnissen in Verbindung gebracht. Der Manager des Dubliner Smock Alley Theatres, Thomas Sheridan, forderte beispielsweise, dass Zuschauerinnen lieber in den Logen Platz nehmen sollten als im notorisch unruhigen Parkett. 1747 sah sich Sheridan mit einem Theateraufstand konfrontiert. Der sogenannte Kelly Riot wurde durch einen jungen Studenten, Edward Kelly, ausgelöst, der während einer Vorstellung die Bühne erklomm, um hinter den Kulissen Schauspielerinnen sexuell zu nötigen. Im Zuge dieser Kontroverse forderte Sheridan eine klare Trennung von Bühne und Zuschauerbereich, auch sollten nur noch Berechtigte Zutritt zu den Bereichen hinter der Bühne haben. Diese würde laut Sheridan den Vorteil haben, dass sich dann auch ‚ehrenwerte‘ Frauen für den Beruf der Schauspielerin interessieren würden. In dem unveröffentlichten Manuskript „Manners. Morals. The Drama etc. Notes for a History of the Play Houses and other Places of Public Entertainment“ beschreibt Francis Place ein ähnliches Szenario und beklagt den Mangel an sicheren Räumen für junge Schauspielerinnen: „One of the most prominent inconveniences to reputable women in country play houses is occasioned by the want of convenient dressing rooms. In most of these houses all the women are oblig’d to dress and undress in the same room, some are reputable and honest, some are loose and dishonest, some are decent, some indecent, and some are of the very lewdest description, still all must dress in the same room, which is frequently not half as large as it ought to be, and in some play houses so little attention is paid to the accommodation of the actresses that the place in which they dress is not completely secured from the preying curiosity of the men“ (British Library, Add Ms 27831, f. 61). 30 Ebd., S. 136.

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ist ein englisches. Seine Bauweise ermöglicht „comfort“, einen Zustand der Muße, der aus einem Gefühl der Sicherheit hervorgeht. Auch für Cook ist das Theater ein öffentlicher Ort. Anders als die beiden anderen Autoren ist er aber ein erklärter Gegner des Theaters, denn dies verführt seiner Meinung nach zur Unmoral. Das Theater ist für ihn „the very seat and emporium of vice“31, also das tatsächliche Reich des Bösen. Aber gerade deswegen ist es die Pflicht der öffentlichen Hand, auch dort die öffentliche Sicherheit zu gewährleisten: The nation ought to superintend the erection of its public buildings, especially those buildings set apart for amusement. The lives of his Majesty’s subjects ought to be as carefully provided for by the legislature, in their meetings together for amusements, as it provides for them from their enemies without.32

Der Theaterraum ist also ein feindseliges und gefährliches Territorium, in das sich die Zuschauer unklugerweise begeben haben und aus dem sie nun von der öffentlichen Hand ‚gerettet‘ werden müssen. Nicht wirklich überraschend ist bei Cook die moralische Gefahr direkt mit körperlicher verbunden. Das höllische „emporium of vice and immorality“ ist ständig in Gefahr, sich in ein tatsächliches Inferno zu verwandeln. Käme es zu einem Feuer würde, so Cook, eine apokalyptische Massenpanik ausbrechen: [O]n the first appearance or cry of fire, instantly would the audience rush from their places to the doors, and hundreds of lives would perhaps be lost, […] numbers would be suffocated, crushed, or trodden to death.33

Die Lösung, die Cook dann vorschlägt, ist bei weitem radikaler als die von Edgeworth oder Ware: Sein Ziel ist es, den Theaterraum jeder Flexibilität zu berauben und ihn in einen gleichsam starren und leblosen Raum zu verwandeln, in welchem die Risiken von sowohl Feuer als auch unmoralischen Darbietungen einfach nicht mehr existieren. Es ist bezeichnend, dass sich Cook nie auf die Darbietungen im Theater bezieht. Es scheint, als ob das Theater als Kunstform ohnehin nicht mehr zu retten sei. Der Ausweg für Cook ist eine radikale Wandlung des Theaterraums auf materieller Ebene. Während bauliche Änderungen für Ware und Edgeworth positive Auswirkungen auf die künstlerische Qualität der Vorstellungen haben, 31 B. Cook: On the Construction of Theatres, so as to Render them Secure against Fire, in: A Journal of Natural Philosophy, Chemistry, and the Arts. S. 301–307, hier S. 302. 32 Ebd., S. 302. 33 Ebd., S. 303.

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bringt Cooks Ideal den Theaterbetrieb metaphorisch aber auch wortwörtlich zum Erliegen. Cooks Hauptargument ist es, wie auch von Ware vorgeschlagen, nicht mehr Holz als Baumaterial zu verwenden. Es soll aber nicht durch Stein ersetzt werden, sondern durch Eisen. Dies würde offensichtlich eine leichtere Kontrolle von etwaigen Feuersbrünsten ermöglichen: If the scenery during the midst of the performance was to take fire, and the whole in a blaze, the spectators might rest quiet, it could not extend to reach them; and I do think, that, although the whole house resounded with the cry of fire, the idea would fix itself on the mind so strongly, that they were sitting on iron, that the alarm would not so much affect them, if it did at all, as to produce any mischievous consequences. 34

Im Theaterbau des ausgehenden 18. Jahrhundert war Eisen durchaus ein Thema, es kamen gerade die ersten Eisenvorhänge auf und wie schon erwähnt war Drury Lane eines der ersten Theater, das einen solchen besaß. Cooks Eisen hat aber auch eine metaphorische Ebene: Eisen beruhigt das Publikum, weil es die Zuschauer vom Bühnengeschehen isoliert. Die Bühne wird sicher vom Auditorium getrennt und das ‚gefährliche‘ Geschehen kann sich nicht in das Auditorium fortsetzen, das Emporium des Bösen, welches sich in der Vorstellung manifestiert, bleibt an seinem Platz. Eisen verhindert also das Verschwimmen von Grenzen zwischen den unterschiedlichen Theaterräumen: Das Theater wird ‚stabil‘, aber alles Lebendige verschwindet. Cook belässt es nicht dabei, die Verwendung von Eisen nur auf die Bühne zu beschränken. Fast alles soll in seinem idealen Theater aus Eisen sein: Sitze, Treppen und Bühnenrahmen genauso wie die Türen und die Vorderseiten der Logen und Balkone. Was auffällt, ist, dass Cook nicht nur auf den Sicherheitsaspekt referiert, sondern immer wieder zu ästhetischen Gesichtspunkten zurückkehrt. So beschreibt er den Innenraum des Theater wie folgt: The front of stage and orchestra should be iron; the orchestra in particular would be extremely handsome, cast with beautiful festoons of flowers or trophies, and painted in character. […] Then the partitions of the boxes might be very neatly managed and light, being all cast in open work and the front of the boxes might also be cast in scrolls, Gothic, or in trophies, in fact, in any way, figure, or shape, fancy might invent, more tastefully, more light and elegant, than it is possible to do in any other way.35

34 Ebd., S. 303. 35 Ebd., S. 304f.

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Anders als Ware und Edgeworth verbinden sich hier nicht Material und Performanz. In Cooks ‚leblosem‘ Theater bleiben nur eiserne unverrückbare Ornamente übrig, alles Ephemerale, wie die Bewegung von Körpern und das gesungene und gesprochene Wort, ist verschwunden. Für Cook wäre das the most elegant [theatre] in the world; and one that no accident, no misfortune, no incendiary could destroy – that would brave the utmost efforts of time to destroy it – that would endure for ages.36

Diese Vision kann man als das ultimative sichere Theater ansehen: Es ist unzerstörbar, weder Feuer noch Zeit können ihm etwas anhaben, und seine ZuschauerInnen (die, wenn es sie überhaupt noch gibt, wohl eher zu Betrachtern der eisernen Ornamente geworden sind) sind sicher vor den Gefahren der Bühne. In Cooks Vision wird jegliches Risiko undenkbar.

IV. Die drei Texte, die in diesem Kapitel diskutiert wurden, entstanden, wie schon erwähnt, in einer Zeit des Übergangs der Theater- und Bühnenarchitektur. Abschließend soll nun der Blick auf ein realisiertes ‚neues‘ Haus geworfen werden. Es handelt sich hier um den tatsächlichen im Jahr 1812 fertig gestellten Neubau von Drury Lane durch Benjamin Dean Wyatt (1775–1852).37 Dieser beschrieb und erklärte sein Werk in Observations on the Design for the Theatre Royal, Drury Lane. Mit diesem Text reagierte er auf ein Pamphlet von George Wyatt (kein Verwandter) mit dem Titel Compendious Description of a Design for a Theatre (1812), in dem behauptet wurde, Benjamin Dean Wyatt hätte George Wyatts Entwürfe plagiiert. Wie die theoretischen Texte Wares, Edgeworths und Cooks, beschäftigt sich auch Wyatt mit den räumlichen Gegebenheiten eines Theaters. Die Gefahr des Feuers steht hier allerdings nicht im Mittelpunkt, sondern ein anderes Risiko, welches das Theater als grundsätzlich öffentlicher Raum mit sich bringt: dem mehr

36 Ebd., S. 306. 37 Benjamin Dean Wyatt (1775–1852) stammt aus einer Architektenfamilie. Als junger Mann arbeitete er für die East Indian Company und wurde dann Sekretär des Herzogs von Wellington. Für diesen baute er Apsley House in der Nähe des Hyde Parks. Er entwarf außerdem die Duke of York Column und Lancaster House in London.

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oder weniger harmonischen Zusammentreffen unterschiedlicher sozialer Gruppen. Das Risiko ist hier also klar ein moralisches, welches durch ausgefeilte Baumaßnahmen reduziert werden soll. Wyatts Theaterbau wird von ihm als ein System sauber getrennter Räume beschrieben, in dem ein potentiell riskantes Vermischen von Standesgrenzen verhindert werden soll. Sein Ziel ist „decorum among the several orders and classes of visitants to the theatre“38, dies soll ‚respektables‘ Publikum von den weniger kultivierten Theatergängern beschützen: [P]rotecting the more rational and respectable class of Spectators from those nuisances to which they have long been exposed, by being obliged to pass through Lobbies, Rooms, and Avenues, crowded with the most disreputable Members of the Community, and subject to scenes of the most disgusting indecency.39

Wyatt unterteilt also die unterschiedlichen Publikumsgruppen streng an Hand ihrer respektiven Bereiche innerhalb des Theaters. Das bedeutet nicht, dass bestimmte soziale Schichten vom Theaterbesuch ausgeschlossen werden; die Trennung erfolgt vielmehr ‚virtuell‘ durch ein arrangement, which should virtuall amount to an exclusion of those whom it was desirable to exclude, without any declared intention of so doing.

Ein Beispiel für diese subtile Segregation ist der Umstand, dass die Passagen, die zu den teureren „dress boxes“ führten, sich nicht mehr mit den zu den weniger ‚seriösen‘ „basket boxes“ kreuzten. So begegneten die ‚anständigen‘ Damen der Gesellschaft nicht den „women of the town“ (ein Euphemismus für Prostituierte, die im Theater auf Kundschaft warteten). Räume, in denen sich die Schichten mischen könnten wie „Lobbies, Coffee Rooms, or other appendage of that description“, werden von Wyatt abgeschafft. Diese scharfe Trennung soll wiederum indirekt die ‚gefährlichen‘ Theaterbesucher abschrecken: I calculated that the Women of the Town, and all the most disorderly Spectators, must find that part of House so ill adapted to their convenience, that they would totally desert it; and

38 Benjamin Dean Wyatt: Observations on the Design for the Theatre Royal, Drury Lane, as Executed in 1812: Accompanied by Plans, Elevation, & Sections of the Same. 1813, S. 2. 39 Ebd., S. 42.

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naturally resort to whatever part of the House should furnish the accommodation which they require.40

So kreiert Wyatt ein Theater, das in seiner sozialen Heterogenität gesellschaftliche ungefährdete Harmonie vorgaukelt. Chaos und Risiko werden durch Architektur und besonders durch visuelle Manipulation gebannt, welche an Jeremy Benthams Panoptikon erinnert: [T]here is no gloomy recess in any part of the Boxes, to favour the riotous or improper proceedings of disorderly; every one [sic] in brought in full view of the House; […] and that being the case, many are, no doubt held in awe of observation, who might otherwise have disturbed the House by noisy and licentious conduct.41

Wyatt hat also realisiert, was Cook, Edgeworth und Ware theoretisierten, einen sicheren, kontrollierten und ‚rationalen‘ Theaterraum, in dem ein ‚zivilisiertes‘ Publikum in aller Ruhe und Sicherheit sich der Muße eines schönen Theaterabends hingeben kann.

V. Im Jahr 1972 kam es im Vorfeld einer der wohl zivilisiertesten Kunstveranstaltungen im deutschsprachigen Raum, den Salzburger Festspielen, zu einem Theaterskandal. Bei der von Claus Peymann inszenierten Uraufführung des Stücks Der Ignorant und der Wahnsinnige von Thomas Bernhard war vorgesehen, dass am Ende des Stückes für einige Minuten absolute Dunkelheit herrschen sollte. Nicht nur die Bühnenbeleuchtung und die Lichter im Zuschauerraum sollten verlöschen, sondern auch die Notbeleuchtung. Während dies bei der Generalprobe auch geschah, schritt am Tage der Premiere die Feuerpolizei ein und die Notbeleuchtung

40 Ebd., S. 44. Eine andere Strategie Wyatts räumliche Restriktionen zu verstecken ist es, die ,unerwünschten‘ BesucherInnen durch spektakuläre Ausblicke abzulenken: „I endeavoured to make the handsome effect of this room sufficiently pleasing and attractive, to divert the minds of those who were intended to occupy it, from any idea of their being excluded from that part of the House […]; by opening a view of the staircase and other parts, from the ground floor, to give to all those, who should ascend no higher than the „Dress Boxes, a coup d’oeil of the most striking part of the Interior“ (ebd., S. 45). 41 Ebd., S. 48.

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blieb eingeschaltet. Besetzung, Regisseur und natürlich Thomas Bernhard protestierten heftig, man gelangte zu keiner Einigung, das Stück wurde abgesetzt. Die Kontroverse landet vor einem Bühnengericht und ging als „Notlicht-Skandal“ in die österreichische Theatergeschichte ein. Das Theater ist und bleibt also riskant. Es ist in künstlerischer, moralischer und nicht zuletzt materieller Hinsicht gefährlich. Dies hängt stark mit dem Charakter des Theaters als öffentlichem Raum zusammen. Die reale Gefahr des Theaterbrandes wird in diesem Zusammenhang oft zur Klammer, die eine Reihe von Risiken beinhaltet. Das Feuer steht für moralische, künstlerische und unter Umständen auch nationale Krisen und Risiken. Ein Ziel der Theaterarchitektur muss es also sein, diese Risiken möglichst klein zu halten und dabei aber auch einen den Darbietungen angemessenen Rahmen zu schaffen. Ein ‚sicherer‘ Raum wird also zum erklärten Ziel. Die in diesem Beitrag diskutierten populärwissenschaftlichen Texte bieten Möglichkeiten an, genau dieses zu bewerkstelligen. Jeder der hier besprochenen Texte geht von der realen Gefahr eines verheerenden Brandes aus, bewegt sich aber im Rahmen der baulichen und architektonischen Ausführungen immer wieder hin zu künstlerischen, nationalen und moralischen ‚Gefahren‘. In kulturtheoretischen Überlegungen zum Thema Risiko wird stets auch eine soziale Komponente mitgedacht. Risiko setzt sich nicht nur aus mehr oder weniger empirisch feststellbaren Elementen zusammen, sondern ist das „Resultat sozialer Konstruktionsprozesse“42 und wird dementsprechend durch Risikodiskurse kommuniziert, die keineswegs im ‚luftleeren‘ Raum stehen. Es ist also keine große Überraschung, dass sich gerade die kritische Diskursanalyse für die Analyse faktualer Texte über Risiko anbietet. Im Kontext von literarischen Texten wird hingegen der Komplex Risiko größtenteils als Motiv diskutiert, oft im Zusammenhang mit Risiken und Krisen der Gegenwart, wie zum Beispiel atomare Katastrophen oder Klimawandel.43 Die Texte, die im Zentrum dieses Artikels stehen, ermöglichen es, eine Brücke zwischen diesen Polen zu schlagen. Obwohl die diskutierten Texte streng genommen nicht literarisch sind und vorrangig ‚technische‘ Fragen zum Thema haben,

42 Stephanie Catani: Risikonarrative: Von der Cultural Theory (of Risks) zur Relevanz literaturwissenschaftlicher und literarischer Risikodiskurse, in: Monika Schmitz-Emans (Hg.): Literatur als Wagnis/Literature as a Risk. Berlin/Boston 2013, S. 159–189. 43 Vgl. zum Beispiel Evi Zemanek: Unkalkulierbare Risiken und ihre Nebenwirkungen: Zu literarischen Reaktionen auf ökologische Transformationen und den Chancen des Ecocriticism, in: Monika Schmitz-Emans: Literatur als Wagnis (wie Anm. 42), S. 279– 302.

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sind sie doch auch ästhetische Texte, in denen ‚Risiko‘ nicht nur als Thema sondern auch metaphorisch und symbolisch in Erscheinung tritt: Als materielles und körperliches Risiko, das ZuschauerInnen eingehen, wenn sie potentiell gefährliche Theaterbauten betreten; als das kulturelle Risiko, ‚schädlichen‘ – oft ausländischen – Einflüssen ausgesetzt zu sein; und nicht zuletzt, das Risiko, das das Theater stets in sich trägt. Die behandelten Texte machen auch die soziale Komponente ihres spezifischen Risikodiskurses deutlich, erlauben sie doch einen Blick auf die – hier künstlerischen – Ängste ihrer Zeit. Ziel dieses Artikels war es zu zeigen, dass sich Diskurse rund um das Feuerrisiko in Theatern nicht auf rein technische und architektonische Abhandlungen reduzieren lassen. In den behandelten Texten geht es immer auch um die ‚anderen‘ Risiken des Theaters. Was im Theater geschieht, ist öffentlich, live und nur schwer kontrollierbar, und das muss wohl auch so sein. Daraus ergibt sich eine Spannung zwischen Kunst und Sicherheit, die sich durch die besprochenen Texte zieht. Die unterschiedlichen idealen Theaterbauten der drei Autoren sind materielle Versuche, dieser Spannung einen sicheren Rahmen zu geben, das Geschehen zu zähmen. Ob das immer wünschenswert ist, bleibt dahingestellt. Um mit Thomas Bernhard zu sprechen: „Eine Gesellschaft, die zwei Minuten Finsternis nicht verträgt, kommt ohne mein Schauspiel aus“.44

44 Wolfram Malte Fues/Wolfram Mauser: Verbergendes Enthüllen: zu Theorie und Kunst des dichterischen Verkleidens. Festschrift für Martin Stern. Würzburg 1995, S. 400.

Die Lloyd’s List Information und Risiko in der frühneuzeitlichen Marineversicherung Stefan Geißler The history of insurance begins with the sea1 Tim Armstrong, Slavery, Insurance, and Sacrifice in the Black Atlantic

Wenn man über Marineversicherungen in der (Frühen) Neuzeit spricht, findet sich sehr schnell der Name „Lloyd’s of London“.2 Zu den bereits existierenden Kaffeehäusern in London gesellte sich 1692 das namensgebende „Lloyd’s Coffee House“ in der Lombard Street, um fortan das geschäftliche Zentrum für all jene Personen zu werden, welche ein Interesse am Schiffsverkehr und maritimen Handel hatten.3 Der „internationale“ Seehandel boomte seit dem 18. Jahrhundert und war dabei wesentlich günstiger als der Transport auf dem Landweg. 4 Im Umfeld der Kaufleute, Reeder und Schiffshändler entwickelte sich aus einem Sicherheitsbedürfnis sowie einer starken Gewinnorientierung die Frühform eines maritimen

1

Tim Armstrong: Slavery, Insurance, and Sacrifice in the Black Atlantic, in: Bernhard Klein/Gesa Mackenthun (Hg.): Sea Changes. Historicizing the Ocean. New York 2004, S. 167–186, S. 180.

2

Im Folgenden wird oftmals die verkürzte Form „Lloyd’s“ verwendet, welche sich auch in den Quellen ab dem 19. Jahrhundert wiederfindet. Jedoch ist damit nicht die (Hamburger-)-Lloyd oder Hapag-Lloyd gemeint.

3

Vgl. Ralph Davis: The Rise of the English Shipping Industry. In the Seventeenth and Eighteenth Centuries. 2. impr. Newton Abbot 1972, S. 163.

4

Vgl. Ronald Findlay/Kevin H. O'Rourke: Power and Plenty. Trade, War, and the World Economy in the Second Millennium. Princeton 2009, S. 382.

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Versicherungswesens, was den Grundstein für den auch heute noch existierenden Versicherungskonzern „Lloyd’s of London“ darstellte. Kaufleute streben seit Jahrhunderten nach Sicherheit und suchten daher nach Möglichkeiten, ihre Waren und deren Transport gegen unvorhergesehene Ereignisse abzusichern und das Risiko eines Ausfalls zu reduzieren.5 „[Merchants need] to know the world and its markets because knowledge was central to managing risk, whether it was the vessel itself, or markets as places or commodities.“6 Ein Kaufmann in der Frühen Neuzeit verfügte natürlich nur über eine bestimmte Menge an zu investierendem Kapital. Dieses wollte er möglichst gewinnbringend einsetzen und der Überseehandel versprach zu dieser Zeit enorme Gewinne. Die mit einer solchen Unternehmung verbundenen Gefahren waren jedoch ebenso enorm: Bis zum 17. Jahrhundert lässt sich eine erhöhte Verlustrate im Seehandel feststellen, wenige Schiffe erreichten ein Dienstalter von mehr als 15 Jahren – bei einer einfachen Fahrtdauer von mehreren Monaten gen Asien eine sehr kostspielige Investition mit hohen Einsätzen.7 Viele Händler wagten dennoch das lukrative Geschäft, wollten die Gefahr eines Verlusts jedoch in gewissem Umfang beherrschen und in Form eines berechneten Risikos kalkulieren können. Kein Händler zu dieser Zeit wollte seine Schiffe und Waren als „Hochrisikoanlagen“ betrachten, daher musste er sich intensiv mit den Themen Risikotragfähigkeit eines Marineversicherers und der eigenen Risikobereitschaft auseinandersetzen. Das Konzept des Risiko-Managements war im 18. Jahrhundert bekannt und wurde immer weiter verbessert. Mithilfe von Statistik und Mathematik konnten Daten in großem Umfang erfasst und ausgewertet werden. Gerade Lebens- und Marineversicherungen erlebten dadurch ihre erste Hochphase. Besonders England und London mit seiner kosmopolitischen Atmosphäre gehörten zu den Hotspots des Versicherungswesens: „The practice of insurance was born and bred in London“.8 Für die weitere Entwicklung des Versicherungswesens musste mit der Verbindung von

5

Anders als in einigen Arbeiten werden hier die Begriffe Risiko und Gefahr nicht Synonym verwendet. Gefahren entsprechen unspezifischen Schadenspotentialen, wohingegen Risiken kalkulierbare Schadenspotentiale darstellen. Vgl. Martin Lengwiler: Risikopolitik im Sozialstaat. Die schweizerische Unfallversicherung 1870–1970. Köln 2006, S. 37.

6

Sheryllynne Haggerty: ‚Merely for Money‘? Business Culture in the British Atlantic, 1750–1815. Liverpool 2012, S. 55.

7

Vgl. Kenneth R. Andrews: Ships, Money, and Politics. Seafaring and Naval Enterprise in the Reign of Charles I. Cambridge 1991, S. 32.

8

Peter George Muir Dickson: The Sun Insurance Office, 1710–1960. A History of Two and a Half Centuries of British Insurance. London 1960, S. v.

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erfahrungsbasierter Praxis und wissenschaftlicher Untermauerung eine Transformation von Unsicherheiten hin zu Risiken geschafft werden: „In other words, in principle, calculable risk can be transferred economically through conventional premium-based insurance, while uncertainty cannot.“9 Betrachtet man die überlieferten Quellen der Lloyd’s, finden sich eine Vielzahl von Informationssammlungen, welche für eine Berechnung des individuellen Risikos notwendig waren. Beispielsweise existieren Bücher über einzelne Länder und deren Häfen, dem Aufbau der Küste, mögliche Gefahrstellen aber auch eine Beschreibung der Bewohner und ihrer kulturellen Praktiken. Mit diesen Informationen konnte man nun vermeintlich jegliches Risiko berechnen. Damit stellte man den Handel auf statistische Grundlagen. Dies veränderte den Umgang der Menschen mit (natürlichen) Gefahren. „The growth of science and mathematics led people to believe that, to some extent, they could take control over the accidental.“10 Hier entwickelte sich ein sehr rationaler Umgang mit Risiko. Die aufkommenden Versicherungen etablierten die institutionelle Grundlage dafür, dass die Händler ihre Handel oder Transporte trotz eines bestehenden Risikos sicher durchzuführen konnten. 11 Vor allem seit dem 18. Jahrhundert waren daher Londoner Kaufleute bereit, „hochriskante Fernfahrten“ zu unternehmen, um mit den hierbei erzielten höheren Gewinnen den nahen Küsten- und Mittelmeerhandel zu überbieten.12 Mit der erhöhten Reichweite der Schiffe und ihrer langen Fahrtzeit wurden Informationen über ihren Standort und Zustand essentiell – sowohl für die Eigner wie auch die Versicherer. With the practice of insuring ships and their cargoes against sea risk there would naturally arise the necessity of adopting means to ascertain whether the vessels were seaworthy, and to have the relative qualities of ships in this respect classified and recorded in some manner convenient to persons interested in shipping.13

9

Adrian Leonard: The Pricing Revolution in Marine Insurance, 1600–1824. Cambridge 2013, S. 5.

10 Haggerty: ‚Merely for Money’ (wie Anm. 6), S. 32. 11 Vgl. Peter Borscheid: Systemwettbewerb, Institutionenexport und Homogenisierung. Der Internationalisierungsprozess der Versicherungswirtschaft im 19. Jahrhundert, in: Zeitschrift für Unternehmensgeschichte 51 (2006), S. 26–53, hier S. 39. 12 Margit Schulte Beerbühl: Deutsche Kaufleute in London. Welthandel und Einbürgerung (1660–1818). München 2007, S. 328. 13 Lloyd’s Register of Shipping: Annals of Lloyd’s Register. Being a Sketch of the Origin, Constitution, and Progress of Lloyd’s Register of British & Foreign Shipping. London 1884, S. 3.

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Eine Antwort auf die zunehmenden Bedürfnisse der (britischen) Kaufleute war die Lloyd’s List mit ihren späteren Erweiterungen. Diese hochspezialisierte Wirtschaftszeitung, zu Beginn des 18. Jahrhunderts durch Edward Lloyd im Umfeld des Lloyd’s Coffee House entstanden, dient noch heute als Aggregator dieser Informationen und Wissen für Schifffahrtsindustrie und Handel.14 Im namensgebenden Londoner Kaffeehaus trafen sich seit 1691 Geschäftsleute und private Versicherungsgeber, um über Risikoversicherungen von globalen Schiffstransporten zu verhandeln. Die einige Jahre später gegründete „Society of Lloyd’s“ (die spätere „Lloyd’s of London“) institutionalisierte diese Verbindungen und stellte den Beginn einer historisch bedeutenden Versicherungsgesellschaft dar. 15 Bis in das 19. Jahrhundert hinein entwickelte sich London so zum „globalen Zentrum der maritimen Versicherungen“.16 Genaue Informationen über Lage, Route und Beladung von Schiffen hatten dabei einen sehr hohen Stellenwert. Diese wurden in den Lloyd’s Lists gesammelt und zusammen mit anderen die Schifffahrt betreffenden Meldungen und Werbeanzeigen wöchentlich herausgegeben. Der Inhalt dieser Zeitung veränderte sich je nach den Bedürfnissen der Leser, stellte jedoch nur eine Zusammenfassung der gesammelten Informationen bei Lloyd’s dar. Im konkreten Versicherungsfall wurden natürlich alle Informationen zusammengetragen, um allen Beteiligten die bestmögliche Unterstützung zu gewähren.17

14 Auch wenn diese beiden Begriffe ohne Unterscheidung verwendet werden, sind sie für dieses Thema klar zu unterschieden. Ich verwende hierfür unter anderem die Arbeiten von Peter Burke (Peter Burke: Die Explosion des Wissens. Von der Encyclopédie bis Wikipedia. Berlin 2014) und Ikujiro Nonaka (Ikujiro Nonaka: A Dynamic Theory of Organizational Knowledge Creation, in: Organization Science 5/1 (1994), S. 14–37, hier S. 15: „In short, information is a flow of messages, while knowledge is created and organized by the very flow of information, anchored on the commitment and beliefs of its holder.“ 15 Anders als im Bereich der Feuerversicherungen als zweitem Pfeiler der privaten Versicherungen existiert bisher keine quellennahe Studie über diesen Teil der (europäischen) maritimen Versicherungsgeschichte. Vgl. Cornel Zwierlein: Der gezähmte Prometheus. Feuer und Sicherheit zwischen Früher Neuzeit und Moderne. Göttingen 2011. 16 Peter Borscheid: Europe: Overview, in: Ders., Niels Haueter (Hg.): World Insurance. The Evolution of a Global Risk Network. Oxford 2012, S. 37–66, hier S. 39. 17 Wie drastisch diese Reduzierung der Information sein konnte, zeigt sich bei einem Blick in die jährlichen „Reports of Wrecks and Casualties“ der Lloyd’s. Hier wurden im Falle eines beschädigten oder verlorenen Schiffes alle Informationen zusammengetragen, aber auch die Exzerpte für die Ausgabe der Lloyd’s List definiert. Aus einem zwei bis

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Zu Beginn enthielten die später sogar täglich erscheinenden Ausgaben der Lloyd’s List Informationen über den globalen Schiffsverkehr. Wie beschrieben deckten die Inhalte sehr unterschiedliche Bereiche ab, gemeinsam war ihnen jedoch die inhaltliche Ausrichtung auf den (maritimen) Geschäftsmann seiner Zeit. Im Folgenden soll die Entstehungsgeschichte der Lloyd’s List und ihr Stellenwert für die maritime Logistik ab dem 19. Jahrhundert erschlossen werden. Zunächst ist eine kurze Einführung in das maritime Versicherungswesen der Frühen Neuzeit vorangestellt, damit der Leser ein besseres Verständnis der Zusammenhänge erlangen kann. Im zweiten Teil werden die Besonderheiten der Wirtschaftszeitung Lloyd’s List vorgestellt, mit denen sie sich gegenüber der Konkurrenz behauptete und letztlich zu ihrem noch heute anhaltenden Erfolg beitrugen. Einen besonderen Stellenwert nahmen hier das Sammeln und Verarbeiten von Informationen ein. Mit einem weltweiten System der Informationsgewinnung konnte Lloyd’s ihren Kunden ein bisher nichtexistierendes Wissensangebot offerieren und sie so an sich binden. Wie sich dieses System entwickelte und wie es über die Jahrzehnte immer weiter verfeinert wurde, soll im letzten Teil erläutert werden.

DAS FRÜHNEUZEITLICHE MARITIME VERSICHERUNGSWESEN Marineversicherungen existierten bereits seit Jahrhunderten, so lässt sich für London eine überlieferte Police aus dem Jahr 1426 nachweisen. Lombardische und venezianische Händler entwickelten im Laufe der Zeit einen Weg, die Effekte der allgegenwärtigen Bedrohungen der See zu senken. 18 Die Kosten zur Behebung von Schäden oder gar die komplette Erstattung wurden so weit wie möglich verteilt, um die Belastung des Einzelnen zu minimieren. Durch die Zunahme des verfügbaren Kapitals eines Kaufmanns wurde daraus ein Geschäft, um „Sicherheiten“ gegen mögliche „Risiken“ zu bieten.

dreiseitigen Eintrag konnten dann schnell nur ein oder zwei Sätze übrigbleiben. Eine drastische Reduktion der übermittelten Information für die Leserschaft. 18 Vgl. Adrian Leonard: Gresham and Defoe (Underwriters). The Origins of London Marine Insurance. London 2014, S. 2f.

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Risks consequently have to be understood as permanent companions of everyday life. As long as people value certain things or conditions and as long as they take decisions in the presence of uncertainty, they will face risks. Risks are hence a basic constituent of life. 19

Der Umgang mit Risiken gehörte zum alltäglichen Geschäft eines frühneuzeitlichen Händlers. Wenn er sie als zu bedrohlich betrachtete, konnte die Sicherheit einer Versicherung verlockend sein. Dadurch wurde aus einem Warentransport über die Ozeane eine mehr oder minder komplizierte mathematische Gleichung. Risiken und Gefahrenpotentiale wurden mit Versicherungen und zu erwartenden Gewinnen verrechnet, und wenn das Ergebnis nach Wunsch des Kaufmanns war, wurde der Transport angeordnet. Das Wissen um Risiken (samt deren Berechnung aufgrund von Statistiken und anderer Daten), war für diese Gleichungen elementar und wurde durch Lloyd’s mit der Lloyd’s List zur Verfügung gestellt. Dies ist für ein Versicherungsunternehmen nicht üblich, da solche Daten und Informationen für die eigenen Mitarbeiter natürlich mehr als nützlich waren und sind, für mögliche Kunden jedoch einen zu genauen Einblick in die eigene Arbeit gewähren. Gleichzeitig ist es für die Wirtschaftlichkeit eines Unternehmens wünschenswert, diese Daten nicht nur einem Kunden beziehungsweise einer Nutzungsart zur Verfügung zu stellen. Lloyd’s begann daher, individuell zugeschnittene Informationspakete für Kunden bereitzustellen, um deren Bedürfnisse zu befriedigen. 20 Die Weitergabe dieser Daten erfolgte im Laufe des 18. Jahrhunderts allerdings nur sehr langsam. Die „aktuellsten“ Neuigkeiten eines ausländischen Hafens konnten häufig Monate alt sein. Ebenso konnten aber natürlich Schiffe ohne eine Spur verloren gehen, was die wenigen Informationen wiederum sehr wertvoll machte. Wenn ein Schiff gesunken war oder auch nur beschädigt wurde, konnte es für den Eigner häufig sehr teuer werden, die genauen Umstände in einem fernen Hafen zu klären oder ein weiteres Schiff zur Untersuchung los zu schicken. Lloyd’s bot nun eine Dienstleistung an, welche für die meisten Händler durchaus vorteilhaft erschien – konnten sie sich doch so ein genaueres Lagebild verschaffen. Weiter übernahmen die assoziierten Agenten vor Ort viele der Aufgaben gegen eine Gebühr, ohne dass der Händler selbst eine Vertrauensperson aussenden musste.21

19 Terje Aven/Ortwin Renn: Risk Management and Governance. Concepts, Guidelines and Applications. Heidelberg 2010. 20 Vgl. Mark Andrejevic: Infoglut. How too much Information is Changing the Way We Think and Know. New York 2013, S. 60. 21 Die Agenten der Lloyd’s werden weiter unten umfassender vorgestellt.

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Ein Beispiel aus dem Jahr 1814 zeigt diese Differenzierung und Amortisierung der Ware Information: Aufgrund der akuten Gefahr vor (französischen) Freibeutern organisieren sich die Handelsschiffe in von der Navy bewachten Konvois, welche sie bei der Fahrt nach Übersee beschützten. Lloyd’s erstellte für die Subscriber daher umfangreiche Konvoi-Listen mit den beteiligten Schiffen, Treffpunkten und Abfahrtszeiten. Diese Information konnte jedoch auch für andere Klientel interessant sein: Read a Letter from Mr. John Robertson of Abchurch Lane, stating, that a Friend of his in Scotland, has written to him To know „for how much per annum he could get a Copy from Lloyds, of all the Convoy Lists together, or any particular Quarter.22

Hier findet sich die erste Erwähnung eines privaten Interesses an Informationen außerhalb des Geschäftsumfeldes der Lloyd’s. In allen früheren Quellen findet ein Austausch mit politischen und militärischen Institutionen oder (konkurrierenden) Unternehmen statt. Es war oftmals sehr kostspielig, wenn nicht unmöglich, Ereignisse in entfernten Häfen oder auf See zu widerlegen oder zu bestätigen. Zudem musste man sich in solch einem Fall auf unbekannte Mittelsmänner und Geschäftsleute verlassen, deren „Charakter“ und Zuverlässigkeit man nicht einschätzen konnte. Persönliche Verbindungen und das darin verkörperte „Vertrauen“ waren ein wertvolles Gut für jeden Geschäftsmann. Daher war es naheliegend, sich an eine vertrauensvolle Institution wie Lloyd’s zu wenden, um möglichst genaue und vor allem verbürgte Informationen zu erhalten. So konnte auch John Robertson geholfen werden: Resolved, that Mr. Robertson be informed that as the Committee are no sufficiently acquainted with the nature, and extent of the information requested by his Friend in Scotland, they can at present only state, that having had an application, from the Underwirters at Liverpool, for a Copy of the Convoy Lists, and Lists of Vessels licenced to sail without Convoy, they were advised that they could not be furnished with them, at a less expense than 200 Pound per annum.

Er nahm in einem späteren Schriftwechsel das Angebot an und Lloyd’s stellte ihm das Informationspaket zusammen. Die Entstehung der Lloyd’s List wäre ohne die besondere Stellung dieses Unternehmens nicht nachvollziehbar: Lloyd’s of London belegt auch heute noch ei-

22 Lloyd’s of London: Minutes of the Committee of Lloyd’s. Sep 1813–Mar 1815. Guildhall Library/MS31571-005. London 1815, S. 61.

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nen oberen Platz innerhalb der maritimen Versicherer, versteht sich selbst allerdings nicht als ein Versicherungsunternehmen im engeren Sinn, sondern als ein „international einzigartiger Versicherungsmarkt“. 23 Lloyd’s stellte seit jeher lediglich ihre Räumlichkeiten und andere Dienstleistungen für zahlende Mitglieder zur Verfügung, und erhielt bei erfolgreichem Geschäftsabschluss eine Provision. Neben dem geschäftlichen Umfeld verstanden es die Verantwortlichen, ihren Marktplatz mit weiteren Assets zu versehen, um die „Underwriter“ bei ihren Geschäften zu unterstützen und um sie auch weiterhin als Mitglieder zu halten. 24 Ein Underwriter war ein privater Kapitalgeber, welcher durch einen „Broker“ für eine mögliche Versicherung ins Spiel gebracht wird. Wenn er das Risiko eingehen möchte, unterschreibt er die Versicherungs-Police mit seiner gewünschten Summe. Wenn kein Zwischenfall eintrat, konnte er die gewonnene Gebühr einstreichen und hatte damit sein Geld gut angelegt. 25 Um im Falle einer Beschädigung oder eines Totalverlustes nicht einen sehr großen Verlust zu erleiden, teilten sich viele Underwriter das Risiko einer Police. Nur wenige hatten jedoch die Verbindungen und die Möglichkeiten, sich umfassend mit allen Informationen, den Risiken und den beteiligten Personen zu befassen. Nur ganz erfahrene Underwriter (meist ehemalige Kaufleute im Ruhestand) wagten sich an die Versicherung von sogenannten „cross risks“, also den Fahrten zwischen zwei ausländischen Häfen. Nach einer Weile etablierte sich daher das System des „lead underwriters“. Er zeichnete als erstes eine Versicherungs-Police, bestimmte meist den zu zeichnenden Betrag für jeden weiteren Underwriter und übernahm zudem die Kommunikation zwischen dem Broker, dem Versicherten und Lloyd’s. 26 Bei meiner Beschäftigung mit Lloyd’s und der Lloyd’s List konnte ich einige Stadien der Professionalisierung identifizieren, die mir als ein grobes Raster dienen: Zunächst wurden bestehende Information genutzt und aggregiert, um den eigenen Subscribern einen Vorteil zu verschaffen. Um das Informationsangebot zu erweitern und als Reaktion auf den zunehmenden Überseehandel, baute Lloyd’s

23 Vgl. Maria Kyriakou: From Discreteness to Cooperation. Relational Contracting in the London Marine Insurance Market [Dissertation]. London 2002, S. 158. 24 Vgl. für eine moderne Definition der Underwriter: Kyriakou: Discreteness (wie Anm. 23), S. 165. 25 Weiter Erklärungen zu den Underwritern und Brokern finden sich bei Christopher Kingston: Adverse Selection and Institutional Change in Eighteenth Century Marine Insurance. Edinburgh 2008, S. 2ff. 26 Vgl. Christopher Kingston: Marine Insurance in Britain and America, 1720–1844. A Comparative Institutional Analysis, in: The Journal of Economic History 67 (2007), S. 379–409, hier S. 386.

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ein eigenes Agentennetzwerk auf, damit jeder Subscriber und Underwriter vertrauensvolle Personen vor Ort vorfanden. Nach erneutem Wachstum des weltweiten Handels waren noch genauere Informationen nötig. Lloyd’s erwarb nach und nach die „Signal Stations“ der britischen Navy und betrieb diese weltweit bis in das 20. Jahrhundert hinein. Eine ausführliche Erläuterung dieser drei Etappen findet sich weiter unten. Diese „Professionalisierungsphasen“ hoben Lloyd’s in den Bereichen Risikomanagement und -bewertung weit über mögliche Mitbewerber. Ein Großteil des britischen Handelsvolumens im 19. Jahrhundert (und darüber hinaus) wurde bei Lloyd’s versichert. Bereits früh zeigte sich diese Marktposition in den Selbstevaluationen und den Marktanalysen: That the arrangements at Lloyd’s have so perfected the system of Insurance business, as to have given to the Subscribers the most efficient and respectable correspondents in every considerable maritime town in the civilized world, whereby a course of information is secured, beneficial in a vast variety of modes, not only to the Underwriters, but to the public. This system has grown by slow degrees, is the result of long and costly experience, and once dispered, would require ages to renew and re-establish.27

Dieses System hatte verschiedene historisch gewachsene Elemente, ein zentrales stellte die „Lloyd’s List“ dar.

DIE ENTSTEHUNG DER „LLOYD’S LIST“ Sie entstand durch systematisches Sammeln, Kompilieren und Herausgeben von Abfahrts- und Ankunftsnachrichten von Schiffen aus englischen und kontinentalen Häfen: On the front page appeared the rates of exchange, the microscopic Stock Exchange List of the time, and a few other items of general business interest. The back page was given over to the „Marine List“ - arrivals, and occasionally sailings, reported from the principal English and Irish ports […] a few paragraphs relating to casualties, speakings, missing vessels, and other items of interest to merchants, shipowners, and underwriters 28

27 Lloyd’s of London: Report of the Special Committee 1824, Guildhall Library/8244. London 1824, S. 35f. 28 Lloyd’s of London: Lloyd’s List & Shipping Gazette. 1734–1934, 200 years of shipping news, Guildhall Library (Fo Pamphlet 288). London 1934, S. 7.

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Immer wieder an die Bedürfnisse der Underwriter angepasst, kann man ab dem späten 18. Jahrhundert von einer ersten „Professionalisierung“ der Zeitung sprechen. Um 1796 entschloss sich das „Committee of Lloyd’s“ zum Einsatz eines Secretary mit besonderen Aufgabenbereichen: The Committee taking into their serious consideration the Arrangement necessary to be made at Lloyds […] and that the nature and extent of the Business of the Subscribers of Lloyds requires that there should be a Secretary […] and to whom through the Master all Articles of Intelligence shall be conveyd and under whose Authority subject to the control of the Committee all information should be regulated for Publication and that in the frequent occasions of intercourse between Lloyds and the different Offices under Government such an Establishment would have peculiar advantages […]29

In den Grundzügen ist hier bereits das spätere Informationsnetzwerk von Lloyd’s vorgestellt. Der Secretary, später das entsprechende „Sub-Committee of Intelligence“, überwachte den Eingang aller „Intelligence“ und Informationsbruchstücke, um dann im besten Interesse seiner Subscriber zu entscheiden, was damit passieren sollte. Die „Kontrolle“ des Zugangs zu diesen Informationen verdient besondere Beachtung, da dies einen entscheidenden Vorteil gegenüber möglichen Konkurrenten darstellte. Welche Informationen nun in London eintrafen, wie dieses System aufgebaut wurde und wer letztlich darauf Zugriff hatte, soll im Folgenden beschrieben werden.

INFORMATION ALS WARE Verursacht durch verschiedene Brände innerhalb Londons und im speziellen in den Gebäuden von Lloyd’s beinhaltet der überlieferte Quellenbestand keinerlei Akten vor 1760. Dennoch lassen sich aus anderen Beständen die Anfänge der maritimen Informationsübermittlung in den „Sound- und Marine-Lists“ identifizieren. Ein „Sound“ bezeichnet den Zustand eines Schiffes und gibt Aussage über seine Einsatzfähigkeit, was für jeden Händler eine entscheidende Information dar-

29 Lloyd’s of London: Minutes of the Committee of Lloyd’s. Dec 1771–Aug 1804. Guildhall Library/MS31571-001. London 1805, S. 124.

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stellte. Auf einem fahruntüchtigen Schiff wollte niemand seine Waren transportieren lassen.30 Lloyd’s erwarb alle verfügbaren Sound-Lists, um den Underwritern eine Auswahl „verlässlicher“ Schiffe zu ermöglichen: „That it be recommended to the Committee to procure Lists of all Convoys together with the Sound[s] Lists, and that whatever Expences attend procuring the same […].“31 Das Sammeln der Zustände von Ozean-, oder Küstenschiffen wurde bereits früh mit dem „Lloyd’s Register“ institutionalisiert, dessen fragmentarisch überlieferte Versionen auf 1764 und 1786 zurückdatieren. Spätere statistische Daten lieferten den Kaufleuten einen sehr genauen Überblick über den jeweils aktuellen Stand der britischen Handelsmarine und jener ausländischen Schiffe, die regelmäßig mit ihnen Geschäfte machten.32 Der zweite Bestandteil aus den Anfangstagen waren die „Marine Lists“, eine Auflistung von Abfahrten und Ankünften der Handelsschiffe, welche durch Hafenregistraturen, Subscriber oder „Freunde“ in den entsprechenden Häfen gesammelt und nach London verschickt wurden. Doch welchen Vorteil stellte nun dieses Konvolut aus einzelnen Informations-Paketen für einen Kaufmann seiner Zeit dar? Um den Wert dieser Informationen für einen Subscriber bei Lloyd’s einschätzen zu können, muss man sich dessen zwei mögliche Rollen verdeutlichen. Zunächst musste er einer der „erlaubten“ Professionen nachgehen: „Only Merchants, Bankers, Underwriters, and Insurance Brokers, shall be permitted to become Subscribers on being recommended to the Committee“.33 Der Zugang zu Lloyd’s war also absichtlich beschränkt, und dies traf nicht nur auf den Beruf zu. So mussten sich Subscriber für oder gegen Lloyd’s entscheiden, eine parallele Mitgliedschaft bei Lloyd’s und einem anderen maritimen Versicherer war nicht gestattet. Dadurch konnte er die erste mögliche Funktion eines Subscribers bei Lloyd’s wahrnehmen und als Händler direkt von den bereitgestellten Informationen profitieren. Weiterhin waren permanent Bedienstete in den Räumlichkeiten anwesend, welche den Zugang der Besucher kontrollierten. So musste jeder Subscriber oder dessen temporäre Vertretung eine Elfenbein-Marke vorzeigen, um Zugang in die inneren Räume von Lloyd’s zu erhalten:

30 Siehe für eine ausführliche, zeitgenössische Definition: Manuel Llorca-Jaña: The Marine Insurance Market for British Textile Exports to the River Plate and Chile. 1810– 50, in: Robin Pearson (Hg.): The Development of International Insurance. London 2010, S. 25–36, hier S. 32. 31 Lloyd’s: Minutes 1771–1804 (wie Anm. 29), S. 66. 32 Für eine nach Jahreszahlen aufgeschlüsselte Inhaltsübersicht des Lloyd’s Register siehe: Centre for Port & Maritime History: Infosheet 52, Lloyd’s Marine Insurance Records, Merseyside Maritime Museum. Liverpool 2004, S. 2. 33 Lloyd’s: Minutes 1771–1804 (wie Anm. 29), S. 196.

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5th That a Door shall be open´d in the second or inner Room under the Clock by which Door only, all Subscribers their Substitutes, or Clerks shall enter, upon shewing their Tickets to the Door Keeper. The Door to open inwards, and no Person to be permitted to go out at that Door. 6th That the present (or outer) Door shall be the entrance into the Lobby, which shall be appropriated for the use of Non-Subscribers who may have Business to transact with Subscribers.

Lloyd’s etablierte also eine sehr starke Abgrenzung nach außen, was diese Institution noch interessanter für vermögende Kaufleute machte. „Neue“ Handelspartner hatten es sehr schwer. Generell vermieden es die bestehenden Subscriber, Geschäfte mit Personen zu tätigen, zu denen sie keinerlei Verbindung hatten.34 Seit 1800 wurde festgelegt, dass jeder neue Subscriber (und später jeder Agent) durch mindestens drei Subscriber vorgeschlagen und anschließend nach einer Wahl durch das Committee of Lloyd’s bestätigt werden musste: Resolved, that in future any Recommendation of a new Subscriber to these Rooms, being shown to two of the Committee, it shall be sufficient should they approve of the Gentleman recommended; if not it must remain till the Committee shall meet. 35

Die Welt des Handels war eine vernetzte Welt, und da die Komplexität immer mehr zunahm, benötigte selbst ein erfahrener Kaufmann die Hilfe von Experten, welche ein starkes, weltweit operierendes Informationsnetzwerk bereitstellen konnten. Lloyd’s of London erkannte diese Bedürfnisse und etablierte ein umfangreiches System, um diese Informationen gegen eine Gebühr bereitzustellen. Dieses System war die Lloyd’s List. Die Weltmeere waren ein Transportweg voller Unsicherheiten, und die Lloyd’s List brachte gegen Geld ein gewisses Maß an Sicherheit. Sie bediente schon in dieser Zeit ein Bedürfnis, das uns allen heute bekannt ist: Die Unwissenheit und Unsicherheit durch Wissen und detailgenaue Informationen zu beenden. „[…] A sprawling array of public and private agencies was collecting more information than anyone could possibly comprehend.“36 Für den Großteil der Menschen war die bereitgestellte Informationsfülle tatsächlich nicht zu bewältigen, für einige war sie jedoch im wortgetreuen Sinne Gold wert. Wenn nun ein britischer Kaufmann ein Subscriber bei Lloyd’s war, konnte er mit diesen Informationen seine Handelstätigkeit signifikant verbessern. Zunächst

34 Vgl. Kingston: Adverse Selection (wie Anm. 25), S. 15. 35 Lloyd’s: Minutes 1771–1804 (wie Anm. 29), S. 218. 36 Andrejevic: Infoglut (wie Anm.20), S. 11.

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waren ihm durch die beigefügten Preis-Indexe der einzelnen Häfen bestimmte Angebots- und Nachfragesituationen bekannt, auf die er reagieren konnte. Wenn er ein Schiff zum Transport gebucht hatte, beschrieben nacheinander folgende Ausgaben der Lloyd’s Lists den Reiseweg dieses Schiffes, wenn sie „überwachte“ Häfen ansteuerten. Auch wenn die Nachrichten von den Häfen nach London natürlich Tage oder Wochen brauchten, waren sie dennoch signifikant schneller als das überwachte Schiff.37 Ein Schiff war ein sehr teures Transportmittel und seine Besitzer wollten das Risiko eines Verlusts so weit wie möglich minimieren. Schiffseigner und Kaufleute suchten die detailreichsten Informationen über die Position des Schiffes, um in den Zielhäfen rechtzeitig die jeweiligen Verkäufe vorzubereiten. Bei einem Warentransport über sehr lange Distanz war ein genaues Timing erforderlich, damit das Unternehmen Gewinn abwarf. Die punktgenaue Ankunftszeit eines Schiffes mit dringend benötigten Waren konnte zwischen Reichtum und Bankrott entscheiden. Man kann hier sicherlich das bekannte Sprichwort „Zeit ist Geld“ verwenden. Je nach Zielort konnte der Händler mit Hilfe entsprechender Informationen noch rechtzeitig reagieren und entsprechende Vorbereitungen treffen, um seine Waren möglichst erfolgreich zu verkaufen. Bei längeren Fahrten, beispielsweise nach Asien oder Amerika, war es für einen Händler kaum möglich, nach Erhalt der Information wiederum selbst eine Nachricht mit Anweisungen für seine Handelspartner am Zielhafen zu verschicken (um beispielsweise die bald eintreffende Ware anzubieten), auch wenn die schnellen Postschiffe ihre Handelspendants weit hinter sich ließen. Dennoch waren diese Informationen nicht wertlos, so konnte ein Händler sich zumindest sicher sein, dass seine Waren unbeschadet bei seinen Partnern angekommen waren, und erfuhr dies nicht erst nach Monaten des Wartens und Bangens. Der Händler wurde so natürlich auch „rechtzeitig“ über eine Beschädigung unterrichtet, deren Reparatur die Fahrt erheblich verlängerte oder im schlimmsten Falle unmöglich machte. Wenn man einen Handel über die Weltmeere betrieb, nahm man das Risiko des Scheiterns in Kauf, denn

37 Die sogenannten „Packet Line Ships“ hatten natürlich auch mit den Wetterumständen zu kämpfen, verkürzten jedoch generell durch ihre leichtere und auf Schnelligkeit ausgelegte Bauweise die Reisedauer im Vergleich zu den Handelsschiffen der Kaufleute. Vgl. weiter Jessica Karagöl: Girdling the Globe, Networking the World. A Discourse Analysis of the Media Representation of Nineteenth-century Transport and Communication Technologies in Victorian Britain, 1838–1871 [Dissertation]. Heidelberg 2013, S. 51f.

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„carriage by sea was, however, liable to interruption and delay“.38 Hier kommt die zweite Rolle eines Subscribers bei Lloyd’s ins Spiel, die des „Underwriters“. Because interpreting all this information to determine premiums involved weighing numerous factors, underwriting was ultimately a matter of individual judgment, requiring experience and familiarity with the routes, vessels, people, and circumstances involved. Lloyd’s attracted a wide variety of underwriters, many of whom were active or retired merchants, and whose specialist knowledge of particular kinds of risks enabled them to make these kind of judgments39

Ein Underwriter versicherte mit seinem Privatvermögen Schiffe oder Ladung gegen Beschädigung oder Komplettverlust, um im Falle der erfolgreichen Überfahrt aus der Prämie Gewinn zu schlagen. Dieses Risiko wollte man jedoch nicht alleine tragen, so dass in den allermeisten Fällen eine Gruppe von Underwritern gemeinsam ein Schiff versicherte. Nicht alle wollten oder konnten sich en Detail mit allen Informationen auseinandersetzen, sodass meist ein sehr gut informierter Underwriter eine Versicherungspolice für eine vermeintlich „sichere“ Fahrt zeichnete und dann viele Trittbrettfahrer ebenfalls ihr Glück versuchten und damit das Risiko teilten.40 Wenn man ausreichend Underwriter für eine Versicherungspolice fand, war das Schiff gegen die natürlichen und menschlichen Gefahren auf See versichert und die Besitzer befanden sich in der komfortablen Position, das Schiff auszusenden. Solche Versicherungen gegen Risiken auf einer langen Schiffsreise waren insbesondere eine der Grundlagen des Handels mit Partnern in Asien und anderen weit entfernten Gebieten. Seit dem 18. Jahrhundert wuchs der Handel über die Weltmeere unter anderem durch diese Absicherung immer mehr an.41 Der Gefahrenraum Meer und das dort vorhandene Risiko wurde durch diese Informationen

38 Thomas Southcliffe Ashton: An Economic History of England. The 18th Century. London 1977, S. 72. 39 Kingston: Marine (wie Anm. 26), S. 386. 40 Vgl. ebd. Die Aufteilung hing natürlich von der Grösse und dem Wert eines Schiffes ab. Beliebt waren jedoch 8, 16, 32 oder 48 Underwriter. Vgl. weiter: Violet Barbour: Marine Risks and Insurance in the Seventeenth Century, in: Journal of Economic and Business History 1 (1928–1929), S. 561–596, hier S. 569f. 41 Verschiedene Arbeiten unterstützen diese Aussage, vgl. beispielhaft Schulte Beerbühl: Deutsche Kaufleute (wie Anm. 12), S. 331 und William Ashworth: Customs and Excise. Trade, Production and Consumption in England 1640–1845. Oxford 2003, S. 135.

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zunehmend kalkulierbarer und konnte in Zahlen berechnet werden. Mit dem Umzug in die Royal Exchange entstand so ein vielversprechender „trading point“ für maritime Informationen, in dem die gesammelten Daten von allen Beteiligten als Ware wahrgenommen wurden. Die Quantität dieser Datensammlung spricht für sich und lässt auch heute noch erahnen, welche Organisationsstruktur im Hintergrund vorhanden sein musste, um diese zu verarbeiten: Innerhalb von zwei Monaten des Jahres 1829 erreichten 3558 Shipping Lists und 627 individuelle Briefe von Agenten oder Subscribern London, deren Informationen bewertet und verarbeitet wurden, um anschließend in 30 Lists herausgegeben zu werden. Die Lloyd’s List stellt ein Netzwerk von Versicherten, Versicherern, Anlegern und Objekten dar. Mit dem großen Wachstum des britischen Seehandels (zwischen 1780–1850 ca. um den Faktor 10) und den Telegraphen als schnellem Kommunikationsmedium bekam dieses Netzwerk ein globales Ausmaß. In einem derart kapitalintensiven Bereich wie dem der Versicherungen mussten stets möglichst genaue Informationen vorliegen, um das eigene Risiko kalkulieren zu können. Ein Vorsprung der „Ware Information“ bedeutete oft höhere Gewinne. Durch eine eigene Informationsverwaltung war ein Kaufmann oder Reeder in London auch über die Vorgänge rivalisierender Händler oder Handelskompanien informiert. Es entwickelte sich ein ganz neuer Zugang, mit Informationen umzugehen. Indem die bereits zusammengestellten Daten der Lloyd’s List individuell weiterverarbeitet wurden, konnten sie ihren Konkurrenten zuvorkommen. Dies erforderte jedoch zusätzliche Informationen und Beziehungen, um beispielsweise die Schiffsnamen bestimmten Eignern zuzuordnen oder die Auftraggeber einzelner Kapitäne zu verfolgen. Hierfür wurden neue Publikationen benötigt. Neben den Lloyd’s List und dem Lloyd’s Register entstanden (zu einem späteren Zeitpunkt) beispielsweise die Lloyd’s Shipping Lists mit den Klassifikationen der einzelnen Schiffe samt ihren Kapitänen mit deren Werdegängen und – aufbauend auf den Daten der Lists – kartengestützte Register der havarierten Schiffe und Wracks. Diese Verluste an Schiffen und Ladungen stellten „Brüche“ im normalen Alltagsgeschäft dar, welche die Notwendigkeit eines Tools wie der Lloyd’s List untermauern, um künftige Gefahren zu minimieren. Die Sammlung und Verarbeitung solch riesiger Datenmengen innerhalb weniger Tage erforderte eine erhebliche logistische Leistung, die kontinuierlich wuchs. Im Laufe des 18. und 19. Jahrhunderts wurde London zum Handels- und Finanzzentrum Europas, und die Lloyd’s List wurde differenzierter und umfangreicher. Sie musste in den folgenden Jahrzehnten ihren Inhalt verändern. Das Sammeln von Informationen wurde zu einem eigenen Unternehmen. Der Ablauf und die Veränderung der Aggregation durch technologische Neuerungen, etwa die Telegraphie oder das verbesserte Postwesen, aber auch der langsame Übergang von

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Segel- zu Dampfschiffen bis hin zur Nutzung der Schiffspropeller wirkte auf Reisewege, Kommunikationszeiten und letztlich auf die Standards der Informationssammlung ein. Wie schnell oder langsam passte sich der Komplex der Lloyd’s seiner Zeit an? Mit der Zeit wuchs der Handel über Häfen mit direkter britischer Kontrolle hinaus. Informationen aus weit entlegenen Gebieten wurden über mehrere Stationen geleitet, die nicht immer genau und verlässlich arbeiteten. Man konnte nicht wie bisher allein auf die generierten Listen vertrauen, sondern benötigte weitere Informationsquellen.

DIE AGENTEN DER LLOYD’S Als zweite „Professionalisierungsphase“ kann der Aufbau eines weltweiten Agentennetzwerkes identifiziert werden, welcher eine viel detailgenauere Informationssammlung erlaubt, als sie durch Sound und Marine Lists möglich gewesen wäre. Ein Agent der Lloyd’s ist damals wie heute der Ansprechpartner in einem Versicherungsfall vor Ort. Er regelt die Kommunikation mit den Eignern, Beteiligten und der Lloyds. Zudem prüft er, ob tatsächlich ein Versicherungsschaden vorliegt. Obwohl historische Darstellungen von Lloyd’s selbst diese Etablierung erst auf Mitte des 19. Jahrhunderts datieren, konnte im Archiv eine Agentenliste für das Jahr 1821 bestätigt werden.42 Einzelne Nennungen innerhalb der Protokolle des General Meetings im August 1800 lassen sogar auf eine noch frühere Organisation schließen: Resolved, that these Resolutions be published in the Public Papers, as those of the Underwriters at Lloyds, and that printed Copies of the sentence pronounced by Judge Grose be circulated among the Subscribers to this House and sent to the Agents at the Outer Ports.43

Vermutlich waren die ersten Agenten zunächst „nur“ einfache Lieferanten für die Shipping Intelligence und weiterer Informationen. Unter diesem Begriff sind die Daten zusammengefasst, welche bisher aus den Sound- und Marine-Lists extrahiert wurden. Nunmehr war ein Agent für deren Beschaffung zuständig und dabei wesentlich zuverlässiger als frühere Quellen. Daneben sammelten die Agenten

42 Zu vergleichen wären hier neben den diversen Jubiläumsbänden auch die historischen Bereiche der Homepages von Lloyd’s of London oder Lloyd’s List. 43 Lloyds of London: A List of the Subscribers to Lloyd’s. Also a List of the Agents and a Copy of their Appointment and Instructions, December 31, 1821. London 1822; Vgl. Lloyd’s, Minutes 1771–1804 (wie Anm. 29), S. 271.

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eine neue Art von Information – die „Speakings“. Auch wenn die Weltmeere eine riesige Ausdehnung erreichen, bewegen sich die Schiffe doch auf mehr oder minder einheitlichen Routen. Dadurch kam es nicht selten vor, dass sich zwei Schiffe auf ihren jeweiligen Routen trafen. Ein geläufiger maritimer Begriff hierfür war „to speak“. Dies konnte eine tatsächlich verbale Kommunikation bedeuten, oftmals verständigte man sich jedoch mit einheitlichen Flaggensignalen. 44 Lloyd’s bezahlte nun Kapitäne, damit diese solche Treffen in einem zweiten Logbuch festhielten und sämtliche Informationen wie Name und Kapitän des Schiffes, Abfahrts- und Zielhafen, Ladung und mögliche Beschädigungen notierten. Die Daten dieses Logbuchs wurden dann so schnell wie möglich einem Agenten übermittelt, damit dieser weiter an Lloyd’s berichtete. Diese Praxis war nicht neu, wurde von Lloyd’s jedoch professionalisiert, institutionalisiert und damit auf ein neues Level gehoben.45 Mit dieser Neuerung verfügte man über eine neue Qualität von Information – der Ozean war, frei nach Roland Wenzlhuemer, nun nicht mehr eine „Black Box“, ein Händler konnte nun zumindest Ausschnittsweise den Reiseweg seines Schiffes nachverfolgen. Wie sich aus den Akten erkennen lässt, befanden sich jedoch auch Agenten in teilweise recht prominenten Positionen wie der eines Konsuls, eines Gouverneurs oder eines höheren Offiziers der British Navy, also eines Vertreters der britischen Regierung im jeweiligen Hafen. Wenn man heute durch größere und in der Vergangenheit bedeutende Hafenstädte geht, findet man fast immer an verschiedenen Hauswänden die Embleme der Lloyd’s-Agenten. Möglicherweise sind es sogar noch die gleichen Firmen oder Familien, welche die Aufgaben für Lloyd’s übernehmen. Denn auch in Zeiten sekundenschneller Kommunikation und via GPS ortbare Schiffe wünscht sich ein Reeder oder Kaufmann einen Ansprechpartner vor Ort, der sich um alle anfallende Arbeiten und Ärgernisse kümmert. 46

44 Vgl. Seija-Riitta Laakso: Across the Oceans. Development of Overseas Business Information Transmission, 1815–1875 [Dissertation]. Helsinki 2006, S. 148. 45 So berichtet Karel Davids von derartigen Aufzeichnungen bereits im 17. Jahrhundert. Vgl. Karel Davids: Sources of Knowledge. Journals, Logs, and Travel Accounts, in: John Hattendorf (Hg.): Maritime History. Volume 2: The Eighteenth Century and the Classic Age of Sail. Malabar 1997, S. 79–86, hier S. 83. 46 Vgl. Kai Umbach: Das grenzüberschreitende Geschäft in der See- und Transportversicherung von Ende des 19. Jahrhunderts bis in die 1990er Jahre. Ein internationaler Gewerbezweig auf dem Weg hin zu „globalisierten“ Verhältnissen? [Dissertation]. Marburg 2008, S. 14.

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Lloyd’s nutzte ebenfalls diese Verbindungen, um eigene politische Vorhaben zu unterstützen. Um 1807 wurden im britischen Parlament einige Gesetzesvorlagen über eine erhöhte Zeichnungssteuer für maritime Versicherungspolicen lanciert, was direkte negative Auswirkungen für Lloyd’s bedeutet hätte. Neben vielen anderen Bemühungen richtete Lloyd’s eine Bitte an jene Subscriber, welche im Parlament saßen: That the Members of the City of London, and such Subscribers to this House who are Members of Parliament, be requested to watch the progress of the Bill intended to be brought in […].47

Diese, im Übrigen zum Teil erfolgreiche Einflussnahme, steht exemplarisch für eine Vielzahl von politischen Bemühungen durch Lloyd’s of London. Neben dem Sammeln von Informationen nutzte Lloyd’s sein Netzwerk also auch für andere Zwecke. Diese enge Verbindung zwischen privaten Kaufleuten und politischen Akteuren fand sich zu dieser Zeit auch in den anderen spezialisierten Kaffeehäusern Londons. Gerade die Politik nutzte allerdings besonders die gut ausgebauten Kommunikationsstrukturen bei Lloyd’s.48 Vorstellbar ist, dass auf bereits bestehende Strukturen der East India Company zurückgegriffen wurde, um so das eigene Agentennetzwerk zu entwickeln. Diese Überlegung bedarf allerdings noch genauerer Quellenrecherche. Die (ehemaligen) Strukturen der britischen Signal Stations wurden in jedem Fall in großem Umfang durch Lloyd’s wieder in Betrieb genommen und stellten ein weiteres, weltweites Netzwerk neben den Agenten dar.

SIGNAL STATIONS Eine Signal Station war meist mit einem Telegraphen oder Semaphoren ausgestattet, um bei der Navigation an gefährlichen Küstenstreifen zu helfen. Nachdem die

47 Lloyd’s of London: Minutes of the Committee of Lloyd’s. Aug 1804– Dec 1809. Guildhall Library/MS31571-002. London 1810, S. 302. 48 Für Wolfgang Behringer bedurfte es zur Konstituierung der politischen Öffentlichkeit neben den gut erforschten Kaffeehäusern zusätzlicher einer „soliden Infrastruktur der Kommunikation“. Diese fand sich beispielslos in den Räumlichkeiten der Lloyd’s, und war zudem in eine in sich geschlossene und vertrauliche Gemeinschaft eingebettet, was den Politikern zugutekam. Vgl. Wolfgang Behringer: Im Zeichen des Merkur. Reichspost und Kommunikationsrevolution in der frühen Neuzeit (Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte 189). Göttingen 2003, S. 17.

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britische Regierung viele der Stationen aufgegeben hatte, übernahm Lloyd’s diese Gebäude und besetzte sie mit ihren Agenten. Neben der ursprünglichen Aufgabe war auch hier nun das Sammeln von Informationen über den Schiffsverkehr, Havarien auf See und die Weiterleitung von Briefen und Telegraphennachrichten als tägliche Arbeit durch die Agenten und ihre Mitarbeiter zu verrichten. Mit den Signal Stations öffnete die Lloyd’s ihr Informationsangebot nun für jeden der es sich leisten konnte: „Shipowners or others who wish to be supplied with reports of vessels from any of these stations are requested to communicate with the Secretary of Lloyd’s, London.“49 Zusätzlich hatten die Agenten vor Ort die Möglichkeit, auf eigene Rechnung zu arbeiten: Lloyd’s passes on the information regarding Vessels which precede the word „Hammond“ in the telegrams to the respective Shipowners, charging to each Shipowner the cost of the telegram plus 2 Pounds fee. Mister Hammond report Vessels following the word „Hammond“ direct to the Owners (principally Neutral Owners abroad) under their own arrangements.50

Mit diesem Kommunikations- und Informationsnetzwerk wurde Lloyd’s endgültig zu einem der wichtigsten Lieferanten für maritime Nachrichten und Informationen. Seither haben sich die verantwortlichen Personen immer wieder an sich veränderte Marktbedingungen angepasst, um diese Institution am Leben zu erhalten. Der „Marktplatz“ Lloyd’s existiert noch heute, die Lloyd’s List besteht allerdings seit einigen Jahren nur noch in digitaler Form. Sie liefert weiterhin Informationen über Schiffsbewegungen auf den Weltmeeren, allerdings nunmehr als sehr umfangreiche GPS-Datenbank mit Echtzeit-Informationen. Sie ist ihrem Grundsatz treu geblieben – die gelieferten Informationen können nur schwer genauer sein.

AUSBLICK Dieser Artikel kann die Entstehung, den Aufbau und die Auswirkungen der Lloyd’s List auf den weltweiten Handel und damit der Logistik nur anreißen. Der Stellenwert der Information und ihres Warencharakters wurde jedoch herausgearbeitet und kann als eine wichtige Komponente dieses Systems betrachtet werden. Das Beispiel der Lloyd’s List zeigt, welchen wichtigen Stellenwert die Finanz-

49 Lloyd’s of London: History of Signal Stations. England, Guildhall Library MS31679001, London 1910, S. 1. 50 Lloyd’s: Signal Stations (wie Anm. 49), S. 12.

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und Wirtschaftsgeschichte innerhalb einer umfassenderen Risikogeschichtsschreibung über etablierte Epochengrenzen hinweg einnimmt. Sobald eine Firma oder Institution wie die Lloyd’s sich etabliert hatte und beispielhaft mit der Lloyd’s List einen markanten und wichtigen Dienst anbieten konnte, überdauerte sie Regierungen, politische Umstürze und Kriege. Dies ermöglicht mit der Erschließung bisher weniger beachtetet Quellenbestände zusätzliche Betrachtungsweisen auf bereits bestehende Narrative. Die Handelsverbindungen über das weltweit gespannte Agenten-Netzwerk lassen sich ohne ein grundlegendes Verständnis der Funktionsweise und Nutzung der Lloyd’s List nur schwer nachvollziehen. Wie angedeutet ist die Zeitung der Geschichtswissenschaft nicht unbekannt, sie wurde jedoch im überwiegenden Teil der Arbeiten als Primärquelle für Schiffsfahrten oder Katastrophen herangezogen. Mit weiterführenden Forschungen über ihre Entstehungs- und Funktionsweise eröffnen sich hier noch viele weitere Möglichkeiten. Nur mit quellennahen Arbeiten können das Risikoverständnis und die Risikohandhabung eines untersuchten Zeitraums verstanden und analysiert werden, um in weiteren Arbeiten dann auch möglicherweise Gemeinsamkeiten und Unterschiede herauszuarbeiten. Die Lloyd’s List wird in dieser Arbeit als „communication system“ betrachtet, das in einem globalen Maßstab Informationen sammelt, verarbeitet und diese bestimmten Empfängern zur Verfügung stellt.51 Gerade der Fokus auf die Information – das Sammeln, Verarbeiten und Publizieren – soll ein Schwerpunkt meiner Arbeit darstellen. Der Gefahrenraum Meer und die damit verbundenen Risiken wurden mit diesen Informationen immer beherrschbarer und konnten in Zahlen ausgedrückt werden – ideal für eine Versicherung. Die Bedeutung von billigen, schnellen, und genaueren Informationen darf hierbei nicht unterschätzt werden.

51 Vgl. für eine Definition des „communication systems“ C. E. Shannon: A Mathematical Theory of Communication. Urbana 1948, S. 2 und in moderner Form Daniel Headrick: When Information Came of Age. Oxford 2000, S. 3–4.

Epidemien, Erdbeben, Deichbrüche, GAUs und andere Katastrophen Skizze einer Literaturgeschichte des Risikos Michaela Holdenried

ZU DEFINITION UND HERKUNFT DES RISIKOBEGRIFFS In lexikalischen Werken, etwa im Brockhaus, wird „Risiko“ üblicherweise mit der „Möglichkeit“ gleichgesetzt, „dass eine Handlung oder Aktivität einen körperl. oder materiellen Schaden oder Verlust zur Folge hat oder mit anderen Nachteilen verbunden ist, im Unterschied zur Gefahr, die eher eine unmittelbare Bedrohung bezeichnet. Von R. spricht man nur, wenn die Folgen ungewiss sind“.1 Das Risiko impliziert also zunächst einmal, anders als die Gefahr, das Eingehen eines Wagnisses, das böse beziehungsweise ungut enden kann. Damit ist der Aktivitätsgrad ein anderer als im Falle der Gefahr – die zwar auch als Ergebnis riskanten Verhaltens (etwa in Extremsportarten) drohen kann, der man aber „schlichtweg ausgesetzt“2 ist. In den meisten Definitionen wird zudem darauf verwiesen, dass Risiken häufig mit durch technische Artefakte bedingten Entscheidungen zusammenhängen.

1

O. V.: Art. Risiko, in: Brockhaus. Die Enzyklopädie. 20., überarbeitete und aktualisierte Aufl., Bd. 18. Leipzig / Mannheim 1998, S. 417–420, hier S. 417.

2

Niels Gottschalk-Mazouz: Art. Risiko, in: Marcus Düwell/Christoph Hübenthal/Micha H. Werner (Hg.): Handbuch Ethik. Zweite, aktualisierte und erweiterte Auflage, Stuttgart/Weimar 2006, S. 502–508, hier S. 503.

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Aus der Soziologie stammen der Begriff der ‚Risikogesellschaft‘ 3 sowie die Perspektivierung der Risikofolgenabschätzung: „Die Entscheider würden als Risiko bezeichnen, was den Betroffenen als Gefahr erscheinen muss, da sie weder an den Chancen noch an der Entscheidung selbst partizipieren“, 4 konstatiert das Handbuch Ethik im Anschluss an Niklas Luhmann. Dass man Risiken überhaupt abschätzen zu können glaubt, ist Ausdruck des Vertrauens in Risiko-Analysen, denen Sicherheits- und Störfallschätzwerte zugrunde liegen. Indes können immer auch Ereignisketten eintreten, die probabilistisch nicht oder nur sehr vage bestimmbar sind: So ist menschliches Versagen, etwa in technischen Großanlagen, kaum vorauszuberechnen. Die Unterscheidung zwischen realen und hypothetischen, objektiven und subjektiven Risiken ist infolgedessen oft schwierig bis unmöglich und korreliert (positiv oder negativ) mit dem Glauben an eine durch die modernen Natur- und Ingenieurwissenschaften gewährleistete Beherrschbarkeit der Welt. Waren Risiken (etwa von Epidemien oder Hungersnöten) in vormodernen Gesellschaften meist unkalkulierbar, so zeichneten sich moderne Industriegesellschaften durch die Annahme aus, es sei möglich, „die menschlichen Lebensverhältnisse rational zu planen, deren Risiken in kalkulierbare Systeme zu überführen“ – wohingegen in der Postmoderne sichtbar geworden ist, „dass gerade die unabsehbaren Neben- und Spätfolgen geplanten Handelns wieder in Unüberschaubarkeit zurückfallen“.5 So sind heutige ökologische Katastrophen zum einen dadurch charakterisiert, dass sie nicht mehr in jedem Fall einem bestimmten Verursacher zugeschrieben werden können, zum anderen lassen sie sich aufgrund ihrer globalen Folgen schwerlich eingrenzen: Tschernobyl und Fukushima sind nicht nur lokale Katastrophen, sondern bedrohen die Welt als ganze. Wir haben es hier mit sogenannten Makro-Risiken zu tun, einem Typus des Risikos, der die Menschheit insgesamt betrifft. Risiko sei – so gibt das zu Rate gezogene Handbuch der Ethik an – kein genuin ethischer Begriff,6 doch eröffnen sich in seinen soziologischen, juristischen und ökonomischen Verwendungskontexten stets ethische Perspektiven, denen die interdisziplinäre Risikoforschung entsprechenden Raum gibt. So sind die rechtlichen und wirtschaftlichen Folgen von Bankenkrisen auch ethischer Natur – eine

3

Vgl. Ulrich Beck: Risikogesellschaft. Auf dem Weg in eine andere Moderne. Frankfurt a. M. 1986.

4

Gottschalk-Mazouz: Risiko (wie Anm. 2), S. 503.

5

O.V.: Art. Risikogesellschaft (wie Anm. 1), S. 419.

6

Vgl. Gottschalk-Mazouz: Risiko (wie Anm. 2), S. 502.

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nicht allzu überraschende Erkenntnis, die Viviane Forrester schon 1997 sehr zugespitzt in ihrer Streitschrift Der Terror der Ökonomie formulierte (für deren angeblich ‚simplifizierende‘ Darstellung sie Schelte bezog). Ursprünglich, und das ist, wie noch ersichtlich werden wird, für den Zusammenhang mit der Literatur bedeutsam, stammt der Risiko-Begriff aus der Handelsschifffahrt: Das Handbuch der Ethik verweist hier auf das italienische Seeversicherungswesen des 14. Jahrhunderts, der Brockhaus hingegen auf das 17. Jahrhundert Ungeachtet dieser Differenz gibt somit schon die Etymologie zu erkennen, dass bahnbrechende technische Neuerungen und ihre Auswirkungen auf die sozioökonomische Ebene den Risiko-Begriff determinieren – bis heute. Thetisch formuliert, dürften es insbesondere die Makro-Risiken sein, die für eine Literaturgeschichte des Risikos ergiebig sind. Dabei lässt sich allerdings schon vorab feststellen, dass frühere Jahrhunderte ihre jeweiligen Risiken keineswegs als örtlich begrenzte Mikro-Risiken einschätzten, sondern die drohenden Ereignisse aufgrund ihrer umfassenden Auswirkungen auf das gesamte Sozialgefüge als grundstürzende Katastrophen auffassten. Für ihre Darstellung zurückgegriffen wurde deshalb auch auf besonders extreme literarische Formen: auf Endzeitvisionen und apokalyptische Prophetien, also auf Dystopien. Fragt man etwa danach, weshalb die Pest so bedrohlich wirken konnte, obgleich sie nicht eigentlich unter das subsumierbar ist, was wir heute als Großrisiken beschreiben würden, so drängt sich die Antwort auf, dass dies mit einem tatsächlich befürchteten Ende der Welt im speziellen Sinne des Endes eines ständisch gefügten Sozialwesens zusammenhing. Die Pest, so Maren Lickhardt und Niels Werber in einem Band zur Krise als Erzählung (2013), konnte wohl deshalb zur „Apokalypse hochstilisiert werden, weil sie nicht nur menschliche Körper, sondern die Organisationsform der mittelalterlichen Gesellschaft selbst zu zerstören drohte“.7 Dystopische Literatur umfasst demnach solche Werke, in denen der Bezug auf Makro-Risiken extreme Formen der narratio oder genauer, da auch lyrische und dramatische Werke mitgemeint sind, der literarischen Repräsentation, hervorbringt. Variiert, so Lickhardt und Werber, werden dabei lediglich die die Apokalypse generierenden Szenarien, die Apokalypse als Beschreibungsmodell aber bleibt bestehen: „Dass vor dem Risiko zunächst einmal alle gleich sind, ist ein

7

Maren Lickhardt/Niels Werber: Pest, Atomkrieg, Klimawandel: Apokalypse-Visionen und Krisen-Stimmungen, in: Uta Fenske/Walburga Hülk/Gregor Schuhen (Hg.): Die Krise als Erzählung. Transdisziplinäre Perspektiven auf ein Narrativ der Moderne. Bielefeld 2013, S. 345–357, hier S. 345.

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weiteres Merkmal aller Apokalypsen und betrifft demnach auch die apokalyptischen Szenarien des 20. Jahrhunderts“.8 Risiken führen in einer bestimmten Kumulationsform zu Krisen oder Katastrophen, diese wiederum werden, so ließe sich schlussfolgern, je nach Wahrnehmung der Bedrohungstiefe, in graduell unterschiedliche Formen dystopischer (oder dystopieaffiner) Literatur umgesetzt: Dazu zählen Novellen, denen die Neuigkeit ja bereits etymologisch eingeschrieben ist; dazu zählen aber auch Dramen, die Groteske (in dramatischer oder epischer Form), der Endzeitroman, der Öko-Thriller und Science-Fiction-Texte. Festzuhalten ist jedoch, dass bislang in der Literaturgeschichte eher auf Krisensymptome oder katastrophische Ereignisse bei der Beschreibung literarischer Risiko-Phänomene zurückgegriffen wurde, also auf die verdichteten Folgeerscheinungen, nicht aber auf die Risiken als solche. Im Folgenden soll in einer Skizze zu einer möglichen Literaturgeschichte des Risikos versucht werden, diesen Aspekt stärker als bisher üblich hervorzuheben. Dabei kann es jedoch nur um besonders auffällige literarische Risikonarrative gehen. Was für die Literarisierungen der Apokalypse gilt, lässt sich jedenfalls auf die Risikoerzählungen übertragen: Beide sind Formen der Narrativierung und Ästhetisierung, die möglicherweise erst (mit) ursächlich für eine bestimmte gesellschaftlich verbreitete Angst- und Krisenstimmung werden, wie Lickhardt und Werber festgehalten haben.9 Als heuristische These bedenkenswert erscheint mir ferner ihre Annahme, „dass sich Gesellschaften traditionell über Apokalypsen mit Problemen konfrontieren, die sie überfordern“10 – was einst der nukleare Winter war, ist heute die Erderwärmung. Dass aber auch die ‚normalistischen‘ Ausgestaltungen manch apokalyptischer Szenarien – auf die Katastrophe folgt nicht das Ende, sondern stets ein Weg aus der Krise – zum Bestandteil des Problems werden, ist sicher ebenso richtig.11 Wenn Risiken also ‚objektiv‘ nicht (mehr) einschätzbar sind, kommt ihrer ‚Kommunikation‘, im wissenschaftlichen Diskurs ebenso wie durch die literarische Repräsentation, eine wichtige Rolle zu.

8

Ebd., S. 347.

9

Die 1980er Jahre beschreiben sie als ein in besonderem Maße durch ‚aufklärerische Untergangsvisionen‘ bestimmtes Jahrzehnt, mit Hoimar von Dithfurts Warnrufen und Günter Anders’ Endzeitphilosophie.

10 Ebd., S. 352. 11 Vgl. ebd., S. 356 (mit Rekurs auf Jürgen Link).

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KRIEG, SCHIFFFAHRT UND SCHWARMINTELLIGENZ: UMRISSE EINER LITERATURGESCHICHTE DES RISIKOS Was begriffsgeschichtlich erst Jahrhunderte später unter ‚Risiko‘ firmierte, verhandelte die Antike unter den Aspekten des Wagnisses und des Abenteuers, als Kriegsgeschehen, als Schiffsreise mit ungewissem Ausgang, in der Form der Ilias und der Odyssee. Der Krieg um Troja, die Seefahrt, die Erkundung ferner Küsten aus Neugierde und ökonomischem Interesse waren für die Griechen ‚Risikofaktoren‘. Es ist also kein Zufall, dass die (Handels-)Schifffahrt am Anfang der Wortgeschichte steht: Im Epos geboren und in der Entdecker- und Abenteuerliteratur perpetuiert, ist das Wagnis Motor und Ziel der literarischen Repräsentation zugleich. Bis heute ist in diesen Genres das Risiko besonders literaturfähig – und anders als in den oben erwähnten dystopischen oder dystopieaffinen Genres oder Großgattungen geht es in Epos und Abenteuerliteratur tatsächlich um die Beschreibung der Risiken als solchen, um Sturmfahrt und Verzauberung, Klippen und zu besiegende Ungeheuer, die Gefahren lieblich lockender Gesänge und des Vergessens. Vermutlich rettete sich das Risiko in seiner abenteuerlich-epischen Form über die Kreuzzugsliteratur ins späte Mittelalter, in dem die mit der kriegerischen Ausfahrt, dem Reisen, verbundenen Risiken abgelöst werden durch ‚stationäre‘, Epidemien geschuldete Katastrophen: Für das Spätmittelalter, so Margarete Zimmermann, galt die Pest von 1347/48 als „Krisensymptom par excellence“.12 In Giovanni Boccaccios um 1350 entstandenem Decamerone aber lasse sich eine literarische Antwort auf die tiefgreifende Erschütterung der florentinischen Stadtkultur und -gesellschaft erkennen, die zugleich in der Tradition der Sozialutopie stehe, indem sie gewissermaßen ein neues „Gruppenmodell“ schaffe: Im außerstädtischen Bereich einer ländlichen Villa würden „Elemente der Gilde, der ‚famiglia‘ und der monastischen Kommunität“13 miteinander verschmolzen. Den Risiken einer Auflösung der sozialen Bindungen, so könnte man schlussfolgern, begegnet Boccaccio demnach nicht nur durch das Erzählen, sondern auch durch den Entwurf eines alternativen Modells für das soziale Zusammenleben. Der ‚schwarze Tod‘ fungiert somit nicht nur als großer Gleichmacher, sondern lässt Boccaccio auch zum Neuerer von Erzählformen werden, denen eine kommunale Reorganisation entspricht (an der er selbst als Politiker beteiligt war). Novellenzyklen wie das Decamerone, Margarete von Navarras Heptaméron (1559) und

12 Margarete Zimmermann: Krise, Auflösung und Konstituierung sozialer Gruppen in Boccaccios Decameron, in: Germanisch-Romanische Monatsschrift 40.2 (1990), S. 141–155, hier S. 141. 13 Ebd., S. 150.

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Goethes Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten (1795) reagieren jeweils auf ‚Störungen‘ von außen, denen gegenüber sich eine Gruppe konstituiert, welche neue gesellschaftliche Konzepte diskutiert. Mit dem Dreißigjährigen Krieg (1618–1648) kam es in Europa zu Verwüstungen bislang ungekannten Ausmaßes. Unvorstellbare Gräuel, das Ausbluten durch Kontributionen („Der Krieg ernährt den Krieg“ 14 ) und die Verheerungen der Landschaft wurden zu Gegenständen einer umfangreichen Literatur. Die Barocklyrik eines Andreas Gryphius (man denke etwa an das 1636 entstandene Sonett Tränen des Vaterlandes) und die ‚protorealistische‘ Erzählkunst eines Hans Jakob Christoffel von Grimmelshausen schildern die Kriegsfolgen in großer Drastik. In seiner Rezeption wurde der Dreißigjährige Krieges gar zur Allegorie des Krieges überhaupt; noch Bertolt Brechts Drama Mutter Courage und ihre Kinder (1941) führt die Überzeitlichkeit des Grauens und der menschlichen Verrohung an seinem Beispiel vor. Wurde der Dreißigjährige Krieg von Menschen hervorgebracht, so war das Erdbeben von Lissabon 1755 für die Zeitgenossen ein extremes Naturereignis von höchster Dramatik. Die größte Naturkatastrophe der europäischen Geschichte ließ die Frage der Theodizee ungemein virulent werden, und nicht nur in philosophisch-theologischer, sondern auch in literarischer Hinsicht waren ihre Folgen bekanntlich weitreichend. So hat Heinrich von Kleist mit seiner Novelle Das Erdbeben in Chili (1807), wie in der Forschung vielfach betont, weniger auf das Beben in Santiago von 1647 denn auf das Lissabonner Beben von 1755 Bezug genommen. Manche Passagen orientieren sich am „Duktus von Desasterdarstellungen, der auf Flugblättern und in Lehrgedichten aus dem 17. und 18. Jahrhundert anzutreffen ist“,15 und darüber hinaus scheint Kleist, so legt es Christoph Webers Untersuchung nahe, auf Briefsammlungen zurückgegriffen zu haben, die Augenzeugenschaft suggerieren. Deren fiktiver Charakter wurde erst in der jüngeren Forschung vermutet,16 sodass Kleist wohl von ihrer Authentizität ausgegangen sein dürfte.

14 Friedrich Schiller: Wallenstein, in: Ders.: Sämtliche Werke. Bd. 2. Hg. von Peter-André Alt. München/Wien 2004, S. 269–547, hier S. 319. 15 Christoph Weber: Santiagos Untergang – Lissabons Schrecken: Heinrich von Kleists Erdbeben in Chili im Kontext des Katastrophendiskurses im 18. Jahrhundert, in: Monatshefte 104.3 (2012), S. 317–336, hier S. 319. 16 Vgl. ebd., S. 319.

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Eine „radikale Unterminierung gängiger Denkmuster“ 17 lässt sich bei Kleist u.a. daran ablesen, dass seine Novelle keine Aufhebung des katastrophischen Ereignisses in eschatologische beziehungsweise teleologische Sinngefüge mehr erlaubt. Den Schilderungen eines fast bukolischen Zustandes der Geflüchteten im Tal, in dem alle, welchen Standes sie auch sein mögen, „zu einer Familie“18 zusammenwachsen, folgt der umso drastischere Umschlag in die nächste Katastrophe, mit der das sich anbahnende Glück der beiden Liebenden endgültig zerstört wird. Die Novelle nutzt damit das in ihr entworfene Schreckenstableau eines durch und durch von Unwägbarkeiten – Risiken elementaren Ausmaßes – durchzogenen Geschichtsverlaufs, um auch noch die letzte Fluchtmöglichkeit – die in eine gleichsam private Idylle, ein extraurbanes Soziotop – radikal zu verneinen. Gegenmodelle zur schreckensreichen Realität, wie sie noch Boccaccio in seiner Rahmenerzählung erprobt hatte, werden damit hinfällig. In der Literatur des Bürgerlichen Realismus kommen Umweltzerstörung und technizistische Hybris bereits ungeschönt in den Blick. Details wie Telegraphenmasten und Überlandleitungen, welche die Landschaften verschandeln, sind nur Symbole größerer Umweltrisiken, wie sie die rasante Industrialisierung und ingenieurtechnische Modernisierung in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts mit sich brachte. Die Auswirkungen der letzteren zeigt ein Autor wie Theodor Storm in seismographischer Genauigkeit: In seinem letzten großen Werk, der Schimmelreiter-Novelle (1888), wird der Deichbau zur Allegorie einer Fortschrittsgläubigkeit, die alles außer Acht lässt, was die Dorfgemeinschaft und ihren Umgang mit den bedrohlichen Fluten bisher ausgemacht hat. Hauke Haien, als neuer Deichgraf der Vertreter einer kalt-rationalen Weltsicht, lehnt die abergläubischen Opfervorstellungen (ein Hund muss in den Deich eingemauert werden, um die Natur zu besänftigen) strikt ab, verursacht aber durch sein asoziales Verhalten die finale Katastrophe, die alle gefährdet und seine Frau und das gemeinsame Kind das Leben kostet. Wie die Forschung nachgewiesen hat, basiert Storms komplex gestaltete Novelle jedoch nicht auf einem simplen antipodischen Schema von Tradition vs. Fortschritt, denn letztlich hält ja der neue Deich, während der alte bricht – allerdings bricht er just dort, wo er an den neuen stößt, wie Johannes Harnischfeger betont: „Altes und Neues verbinden sich nicht organisch miteinander, weil der

17 Ebd., S. 323. 18 Heinrich von Kleist: Das Erdbeben in Chili, in: Ders.: Sämtliche Werke und Briefe. Bd. 2. Hg. von Helmut Sembdner. 9., vermehrte und revidierte Ausgabe. München 1993, S. 144–159, hier S. 152.

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Held mit seinen hochfliegenden Plänen nicht auf das Vergangene aufbaut.“ 19 Storm spielt in seiner Novelle indessen nicht die Notwendigkeit technischer Neuerungen gegen einen abergläubischen Beharrungsglauben aus (der alte Deichgraf ist kein positiver Vertreter der hergebrachten Ordnung), sondern konfrontiert in mindestens ebenso auffälliger Weise die Gemeinschaft mit dem verschlossenen Einzelgänger, dessen Aufsteigertum ihn in unversöhnlichen Gegensatz zum Dorf geraten lässt. Was Storm überdies poetologisch ausstellt, sind die Bedingungen der narrativen Vermittlung: Nicht nur Haiens Scheitern an der Notwendigkeit, sein Wissen zu kommunizieren, sondern auch die verschachtelte Rahmenhandlung der Novelle verdeutlicht, dass es gegenüber den Erfordernissen der Risikobewältigung keine einfache Wahrheit geben kann – Sagentradierung, orale Erzählung, Zeitungsnotiz und Zuhörerschaft bilden einen novellistisch tief zurückreichenden Erzähltunnel, eine metadiegetische Struktur par excellence. Jede dieser metadiegetischen Ebenen enthält eine andere Antwort auf die Risiken, welche mit der Eindämmung von Naturgewalten verbunden sind. Im Naturalismus werden die sichtbaren Folgen der Industrialisierung und die damit verbundenen Risiken der Pauperisierung und der Rebellion insbesondere in den Dramen Gerhart Hauptmanns vorgeführt. Obwohl sich der schlesische Dichter auch in seiner naturalistischen Phase trotz aller politischen Evidenz nicht als politischer Autor verstand, wirkten Die Weber (1892) überaus skandalisierend. In den Großstadtgedichten des Naturalismus und schließlich des Expressionismus werden die gravierenden Folgen der Urbanisierung für die Gesellschaft und das Individuum aufgezeigt: Der von Georg Heym entworfene ‚Gott der Stadt‘ ist nicht nur der alles Auflösende, Zersetzende, er ist auch ein Faszinosum eben durch seine Vernichtungskraft. Jakob van Hoddis wiederum hat in seinem Gedicht Weltende (1911) eine entfesselte Natur in einen grotesken Gegensatz zur Fortdauer menschlicher Routinen gesetzt: „Dachdecker stürzen ab und gehn entzwei / Und an den Küsten – liest man – steigt die Flut.“20 Das Weltende ist für den Dichter keine Brueghel’sche Szenerie mehr, sondern enthüllt seinen Schrecken als medial konsumierbare Nachricht; die Menschen sind so weit verdinglicht, dass sie wie Gegenstände ‚entzweigehen‘. Im Kontrast zur antipathetischen Form bei van Hoddis ist die Sehnsucht nach dem ‚neuen Menschen‘ bei den meisten Expressionisten überaus pathoserzeugend – im positiven wie negativen Sinne. Maßgebliche Elemente ihrer Dichtung stammen aus dem Bildreservoir der Technik, deren vernichtende Wirkung in der 19 Johannes Harnischfeger: Modernisierung und Teufelspakt. Die Funktion des Dämonischen in Theodor Storms Schimmelreiter, in: Schriften der Theodor-Storm-Gesellschaft 49 (2000), S. 23–44, hier S. 31. 20 Jakob van Hoddis: Weltende, in: Ders.: Gedichte. Berlin 1985, S. 3.

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Kriegslyrik evoziert wird. Sozialbeziehungen werden durch den Fortschritt zum Negativen verändert, und der Einzelne sieht sich anonymisiert und entindividualisiert in der Masse untergehen. Der Film und andere neue Medien verstärken die ‚veloziferische‘ Dynamik; neue Transportmittel lassen die Entfernungen schrumpfen und die Ortlosigkeit wachsen. Schon in seinem berühmten ‚ChandosBrief‘ von 1902 hatte Hugo von Hofmannsthal die Auswirkungen einer alles Gewachsene hinwegfegenden Moderne in ein Bild des Sprachzerfalls gefasst; dem ‚Zerfall der Werte‘ folgt unabwendbar der der Worte. Eine preziöse Sprache als Remedium gegen deren plebejisch-propagandistischen Gebrauch (der Ausrufer, der Reklame, der Politparolen) versuchen bekanntlich einige Dichterkreise der sogenannten Konservativen Revolution zu pflegen und in elitären Zirkeln das zu schaffen, was ein gegengesellschaftliches Dasein ermöglichen soll. Sprach- und Formzertrümmerung einerseits, ihre exklusive Restauration andererseits sind Reaktionsweisen auf eine als verheerend empfundene Moderne. Wo die Ambivalenz gegenüber ihrem Destruktionspotential in Abscheu umschlägt, wird Zuflucht in der Idyllendichtung gesucht – bei einigen Expressionisten (und auch bei Hauptmann) führt die Moderneskepsis zum Einverständnis mit dem Nationalsozialismus, der Einfachheit und Überschaubarkeit der Lebensverhältnisse versprach. Die Kolonialliteratur hatte da schon vorgezeichnet, wie eine entsprechende Dichtung aussehen könnte: Auf ein Leben im Einklang mit der Natur und der kolonialen Umwelt zentriert – die freilich beide dem starken Willen des Pflanzers unterworfen sind –, in Abkehr vom städtischen Leben mit seinen ‚verlotterten‘ Sitten, wird dort die Scholle als Grundlage eines einfachen Lebens gefeiert. In seiner Kenntnis der Umwelt und der Interdependenz mit ihr gebietet der Siedler der fortschreitenden Moderne Einhalt. Eine Hinwendung zu low risk könnte man darin sehen: Die Risikofolgenabschätzung soll zu einer quantité negligeable reduziert werden; der Einzelne erhält, zugespitzt formuliert, seine krisensicher scheinende Autonomie zurück. Nach dem Zweiten Weltkrieg (und dem Zivilisationsbruch des Holocaust) wurde eine extreme Skepsis gegenüber einem in der Katastrophe endenden technizistischen Fortschrittsdenken literaturbestimmend: Unzerstörbare Werte wollte man nun nicht bloß im Religiösen oder Utopischen, sondern auch in der Hinwendung zur Natur wiederfinden. Es verwundert daher nicht, dass in der unmittelbaren Nachkriegszeit dem Gedicht die schwere Hypothek zukam, über den Bezug auf die Natur das ‚wahre Sein‘, wie es bei Wilhelm Lehmann beschworen wird, zurückzugewinnen. Die Naturlyrik wandte sich diesem die Katastrophen überdauernden, scheinbar ewiggleichen Moment der Rettung eines transzendental obdachlos gewordenen Nachkriegsmenschentums zu. Lehmanns Gedichte feiern die Na-

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tur als Heilmittel gegen die moderne Entfremdung, die nicht zuletzt durch die krisenhaften Erfahrungen des Zweiten Weltkriegs traumatische Dimensionen angenommen hatte – das Trauma des Holocausts wurde erst mit signifikanter Verspätung ‚literaturfähig‘. Bei diesem Anknüpfen an romantische Traditionen ging es um die geschichtsenthobene Sphäre einer Natur, die sowohl als Projektionsraum für die Lösung der Subjekt-Objekt-Polarität wie auch als Fluchtraum dienen konnte. Natur ist in diesen Gedichten immer schon ein mit dem Mythos und dem Individuum gleichermaßen identifizierter Raum, kein Raum der für sich stehenden Naturerscheinungen. Hiroshima und seine Folgen blieben lange Zeit eine Leerstelle; erst in der Hinwendung zum Faktischen sollte sich die Literatur dem Thema nähern: im Dokumentartheater. In seinem berühmtesten Stück, In der Sache J. Robert Oppenheimer, 1964 von Erwin Piscator uraufgeführt, stellt Heinar Kipphardt den sog. Vater der Atombombe ins Zentrum eines ‚szenischen Berichts‘. Dazu hatte er 3000 Seiten der Verhörprotokolle der amerikanischen Atomenergiebehörde ausgewertet, von der Oppenheimer beschuldigt worden war, als Kollaborateur der Sowjetunion die Entwicklung der Wasserstoffbombe verzögert zu haben. Schon die Materialmenge erforderte ein stark straffendes Eingreifen Kipphardts, doch hat man diesen v. a. dafür kritisiert, dass am Ende seines Stücks eine nicht den historischen Tatsachen entsprechende Wandlung des Wissenschaftlers steht – der echte Oppenheimer protestierte denn auch gegen die ihm angedichtete Schlusserklärung. Friedrich Dürrenmatt wiederum hat in einem poetologischen Begleittext zu den Physikern (1962) seiner Überzeugung Ausdruck verliehen, dass eine Geschichte erst dann zu Ende gedacht sei, wenn sie die schlimmstmögliche Wendung genommen habe. Hierfür aber eigne sich kein Genre besser als das der Tragikomödie: Anders als Brecht glaubte Dürrenmatt bekanntlich nicht daran, dass das eingreifende Verhaltens des Dramatikers zur Besserung des unüberschaubaren, bedrohlichen, von anonymen Mächten bestimmten Zustands einer Welt beitragen könne, in der die Atombombe nicht nur denkbar, sondern auch einsetzbar geworden war – ein schlicht unbeherrschbares Risiko. In seinem poetologischen Text Theaterprobleme stellt Dürrenmatt eine nur auf den ersten Blick merkwürdig anmutende Konvergenz her: „Unsere Welt hat ebenso zur Groteske geführt wie zur Atombombe.“21 Die McCarthy-Ära, die Verfolgung kritischer Intellektueller, der Kalte Krieg und die Kuba-Krise stehen im Hintergrund dieser Auseinandersetzungen mit dem Unausdenkbaren einer Vernichtung der ganzen Menschheit. Dieses Makro-Risiko 21 Friedrich Dürrenmatt: Theaterprobleme, in: Horst Turk (Hg.): Drama und Theater. Theoretische Konzepte von Corneille bis Dürrenmatt. Tübingen 1992, S. 169–190, hier S. 185.

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ist zusammen mit jenen Risiken, die in der Veröffentlichung des Club of Rome zu den ‚Grenzen des Wachstums‘ von 1972 zur Sprache kommen, eine Leitreferenz zivilisations-, wissenschafts- und wirtschaftskritischer Literatur geblieben. (2012 wurde der neue Zukunftsreport 2052 veröffentlicht, im Prinzip eine Bestätigung der Annahmen von 1972 und ihre Fortführung.) Günter Grass etwa hat sich 1982 in seiner Feltrinelli-Preisrede mit den Prognosen des Clubs beschäftigt und die Sachlichkeit der katastrophalen Hochrechnungen betont: Die Apokalypse sei „das Ergebnis eines Geschäftsberichtes“.22 In seinem Roman Die Rättin (1986) hingegen wird die posthumane Welt von einem extraterrestrischen Standpunkt aus geschildert: Der Erzähler muss sich vom titelgebenden Nagetier – beide überleben die atomare Katastrophe – als „technischer Idiot“ beschimpfen lassen, hat er doch als menschliches „Risiko“23 den großen Knall verursacht. Dass auch die friedliche Nutzung der Atomenergie mit nicht kalkulierbaren Risiken behaftet ist, wurde spätestens am 28. April 1986 offenbar, als einer der Atomreaktoren des Meilers im ukrainischen Tschernobyl den GAU verursachte. Darauf nahm u.a. Christa Wolf in ihrem Text Störfall. Nachrichten eines Tages (1987) Bezug, der Meldungen über den Unfall mit der Sorge der Erzählerin, in der unschwer Wolf selbst zu erkennen ist, um ihren Bruder parallelisiert, der am selben Tag am Gehirn operiert werden soll. Einerseits wird das Vertrauen in die Beherrschbarkeit von Risiken durch den GAU zutiefst erschüttert, andererseits bedarf die Erzählerin der Hoffnung auf das mit medizintechnischer Hilfe herbeizuführende Gelingen der Operation. Wird hier also noch das Janusgesicht der modernen Naturwissenschaften vorgeführt – wobei es keine Entscheidung für die eine oder die andere Seite gibt, sondern lediglich die irrationale Hoffnung auf das Überleben eines Einzelnen –, so formuliert W. G. Sebald in dem ‚Elementargedicht‘ Nach der Natur (1988) fast zeitgleich, aber abgekoppelt von jedem aktuellen Geschehen sein Credo einer zutiefst entropischen ‚Naturgeschichte der Zer-

22 Günter Grass: Die Vernichtung der Menschheit hat gerade begonnen. Rede zur Verleihung des Internationalen Antonio-Feltrinelli-Preises für erzählende Prosa in Rom, in: Ders.: Werkausgabe. Bd. 9. Hg. von Volker Neuhaus. Darmstadt 1987, S. 830–833, hier S. 830. 23 Günter Grass: Die Rättin, in: Ders.: Werkausgabe. Bd. 7. Hg. von Angelika Hille-Sandvoss. Darmstadt 1987, S. 208.

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störung‘. Die Apokalypse in ihren je sich wandelnden Szenarien umfasst bei Sebald sowohl die Ausbeutung der Natur,24 die der Forschungsreisende Steller repräsentiert – ohne dies beabsichtigt zu haben, wird sein Hauptwerk, de bestiis marinis, zum „Reiseprogramm für die Jäger, Leitfaden beim Zählen der Pelze“25 – , als auch die Selbstzerstörung der menschlichen Zivilisation, gebannt ins Bild des brennenden Nürnberg. Die geschichts- und zivilisationspessimistische Allegorie ist in ihrer narrativen Anlage als Triptychon an Matthias Grünewalds Isenheimer Altar orientiert, dessen transgressive Bildlichkeit sie zum Zwecke der Verrätselung nutzt. Zuletzt noch ein paar Streiflichter auf die aktuelle risikoaffine Literatur: Bestseller-Romane wie Daniel Kehlmanns Die Vermessung der Welt (2005) und Frank Schätzings Der Schwarm (2004) scheinen zunächst völlig unvergleichbar zu sein, ersterer von höchster Komik, letzterer dystopisch par excellence. Betrachtet man sie aber unter dem Aspekt der Risikofolgenabschätzung, so könnten an Kehlmanns Figur des Alexander von Humboldt, jedenfalls in einer etwas vereinseitigenden Lesart, die Schattenseiten – und damit Risiken – vollendeter (Selbst-)Aufklärung dechiffriert werden. An sich selbst unternimmt Humboldt Experimente, die andere zum Zusammenbruch bringen – er wird mehr und mehr zu dem, von dem er schon früh gelesen hat: zum homme machine aus dem Werk Julien Offray de La Mettries. Und eine ähnlich unbarmherzige Haltung kultiviert Kehlmanns Humboldt auch gegenüber der Natur, etwa wenn er ein paar ‚räudige Hunde‘ bedenkenlos für ein Experiment opfert. In Schätzings Roman dagegen wehrt sich das Meer durch die Ausbildung einer Schwarmintelligenz gegen seine Vernichtung durch die maßlose Ausbeutung der ozeanischen Ressourcen. Beide Romane könnten u.a. aufeinander bezogen werden, weil letzterer – analog zur Sichtweise Sebalds und korrespondierend mit den Human-Animal Studies – eine Enthierarchisierung von Mensch und Tier vornimmt, indem die tierische Schwarmintelligenz als Handlungssubjekt gesetzt wird. Und Humboldt kippt bei Kehlmann nur einmal aus seiner souveränen Position, als er – auf der Suche nach seinem verschwundenen Hund – im Urwald schutzlos einem Jaguar begegnet und seinem verdutzten Begleiter Bonpland dessen Tötung mit der Erklärung verwehrt, dieser habe ihn gehen lassen. Schon dieser ungewöhnliche Perspektivenwechsel hin zum

24 Diese Ausbeutung wird in Sebalds Werk leitmotivisch in Szene gesetzt, etwa im Reiseroman Die Ringe des Saturn (1995), der eine fast wissenschaftliche Abhandlung zur Beinahe-Ausrottung des Herings enthält. 25 W.G. Sebald: Nach der Natur. Ein Elementargedicht. Frankfurt a. M. 32004, S. 66.

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ganz Anderen einer unbekannten Natur scheint mir in beiden Romanen interessantes Potential für eine ökokritisch ausgerichtete Literaturwissenschaft bereitzuhalten.26 Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass jede Zeit ihre Extremereignisse und deren Risiken in spezifischer literarischer Form verarbeitet. Unabhängig davon existieren Muster wie das Narrativ der Apokalypse, die als abrufbereite überzeitliche Darstellungsformen auf nicht mehr beherrschbar erscheinende Makro-Risiken verweisen und diese qua Ästhetisierung zugleich in das Diskursreservoir einer Gesellschaft einspeisen. Eine Literaturgeschichte des Risikos müsste diese Prozesse im Einzelnen beschreiben. Ob wirklich, diachron betrachtet, wo Gefahr ist, auch das Rettende wächst, ist eine längst nicht beantwortete Frage.

26 Zu Schätzings Roman im Zusammenhang erzählerischer Neuerungen vgl. bes. den erhellenden Beitrag von Evi Zemanek: Unkalkulierbare Risiken und ihre Nebenwirkungen. Zu literarischen Reaktionen auf ökologische Transformationen und den Chancen des Ecocriticism, in: Monika Schmitz-Emans (Hg.): Literatur als Wagnis/Literature as a Risk. Berlin/Boston 2013, S. 279–302.

Zwischen Vorsorge und Prävention Praktiken jüdischer Wohltätigkeit um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert Anna Michaelis

EINLEITUNG Die Juden im Deutschland des 19. Jahrhunderts wurden und werden von der Historiographie häufig als „Avantgarde der Moderne“ gezeichnet, insbesondere dann, wenn es um die Kontrastierung der deutschsprachigen Juden mit der jüdischen Kultur und Religiosität Osteuropas ging. Diese Zuschreibung des „modernen Akteurs“ auf die Juden in Deutschland kommt nicht von ungefähr: Schließlich wurden schon in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts jüdische und nichtjüdische Stimmen laut, welche die jüdische Minderheit als eine kulturelle und ökonomische Avantgarde wahrnahmen, der die Anpassung an eine durch die Industrialisierung veränderte Ökonomie, die Urbanisierung und den Wandel in gesellschaftlichen Strukturen schnell gelang. Diese zeitgenössische Sichtweise ist von der späteren Geschichtsschreibung weitgehend übernommen worden. Und tatsächlich waren die deutschen Juden der oberen Mittelschicht und der Oberschicht in vielerlei Hinsicht Gewinner der sozioökonomischen Umbrüche im Laufe des 19. Jahrhunderts, in fataler Hinsicht waren sie es jedoch auch nicht. So war die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts auch die Epoche einer neuen Form der Judenfeindschaft, des rassistisch-biologistischen Antisemitismus, und speziell in Deutschland der parteipolitisch organisierten antijüdischen Hetze durch die Antisemitenparteien. Die folgenden Überlegungen nehmen das Narrativ der „Modernität“ der jüdischen Bevölkerung zum Anlass, die Art und Weise zu untersuchen, in der Akteurinnen und Akteure des gehobenen jüdischen Bürgertums versuchten, die Zukunft der jüdischen Bevölkerung in Deutschland abzusichern. Welche Formen der Zukunftsbearbeitung dominierten, „konservative“ Vorsorge oder vorausschauend-

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intervenierende Prävention? Im Zentrum des Interesses steht dabei die Frage, welche unterschiedlichen Formen des Wissens – einerseits das Alltagswissen aus dem Leben in einer nicht-jüdischen Umwelt und andererseits ein in textuellen Diskursen produziertes Wissen – auf die Praktiken der Zukunftsabsicherung eingewirkt haben. Dabei zeige ich auch, dass die kategorische Unterscheidung zwischen vorgeblich „vormodernen“ und „modernen“ Bearbeitungsweisen von Zukunft nicht haltbar ist, da diese synchron auftraten und teils in engem Bezug zueinander standen. Die Wahrnehmungen und Deutungen alter und neuer Herausforderungen und die damit verbundenen Bearbeitungsweisen waren vielschichtig, wie ich im Folgenden anhand der Praktiken und Diskurse im Bereich der jüdischen Sozialpolitik erläutere. Der Begriff der Sozialpolitik bezieht sich in diesem Kontext auf das wohltätige und fürsorgende Engagement nichtstaatlicher Akteure, etwa von jüdischen Gemeinden, Stiftungen, Organisationen, und Vereinen.1 Dabei soll die These belegt werden, dass dieses Engagement der jüdischen Minderheit im Kaiserreich zwischen Praktiken der Vorsorge und der Prävention oszillierte beziehungsweise sich Vorsorge und Prävention bei der Untersuchung historischer Praktiken nicht immer voneinander trennen lassen: Die Akteurinnen und Akteure machten sich in ihren sozialpolitischen Praktiken und Diskursen auf komplexe und vielfältige Weise Methoden der Vorsorge und der Prävention zu eigen. Dabei wurden unterschiedliche Wissensformen wirksam und hatten einen Einfluss darauf, ob die sozialpolitisch Handelnden bestimmte Unsicherheiten als Risiken oder als Gefahren interpretierten.2 In diesem Zusammenhang plädiere ich dafür, eine klare Grenzziehung zwischen wissenschaftlich-statistischem Wissen und Alltags- und Erfahrungswissen zwar analytisch stark zu machen, in der empirischen Betrachtung jedoch auch fließende Übergänge zwischen den unterschiedlichen Wissensbeständen in den Blick zu nehmen. Auf diese Weise lassen sich etwa auch präventive Maßnahmen als mögliche Folgen von Alltagswissen einbeziehen. Zunächst werden die relevanten Entwicklungen in der Geschichte der jüdischen Wohlfahrt des Kaiserreiches beleuchtet und dabei speziell die jüdische Gemeinde von Berlin, die im Folgenden als Untersuchungsgegenstand im Mittelpunkt stehen wird, in den Blick genommen. Es folgen grundsätzliche Überlegungen über die Rolle von Wissen bei Praktiken der Vorsorge und der Prävention. Es 1

Vgl. Stephan Köppe/Peter Starke/Stephan Leibfried: Sozialpolitik, in: Hans-Uwe Otto/Hans Thiersch (Hg.): Handbuch Soziale Arbeit. Grundlagen der Sozialarbeit und Sozialpädagogik. 4., völlig neu bearbeitete Aufl., München/Basel 2011, S. 1485–1497, hier S. 1485.

2

Vgl. Niklas Luhmann: Soziologie des Risikos. Berlin/New York 1991, S. 30–36.

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schließt sich eine Untersuchung der für die Zukunftsgestaltung relevantesten drei Tätigkeitsfelder jüdischer Sozialpolitik an, nämlich die der Gesundheitspolitik, der sogenannten Ostjudenfürsorge und der Berufsumschichtung, also Maßnahmen zur Umgestaltung der Berufsstruktur der jüdischen Bevölkerung. Im Fazit werden die Ergebnisse zusammengefasst, abschließend diskutiert und weitergehende Untersuchungsmöglichkeiten ausgelotet.

ZUM HISTORISCHEN HINTERGRUND JÜDISCHER WOHLTÄTIGKEITSPRAKTIKEN Das Leben der in Deutschland lebenden Jüdinnen und Juden änderte sich im Laufe des Jahrhunderts seit den 1770er bis in die 1880er Jahre massiv und umfassend. Waren die Ideen der von Berlin ausgehenden jüdischen Aufklärung (Haskala) zunächst vor allem ein Diskurs innerhalb der jüdischen Oberschicht, so betraf die 1871 weitgehend abgeschlossene gesetzliche Emanzipation alle in Deutschland lebenden Juden.3 Spätestens in den 1890er Jahren hatte ein Großteil der deutschen Juden sowohl einen rasanten wirtschaftlichen als auch einen beträchtlichen sozialen Aufstieg hinter sich gebracht. Dieser in weiten Teilen des Judentums als positiv gewertete

3

Vgl. grundlegend zur jüdischen Aufklärung Jacob Katz: Aus dem Ghetto in die bürgerliche Gesellschaft. Jüdische Emanzipation 1770–1870. Frankfurt a. M. 1986; Shmuel Feiner: Haskala – jüdische Aufklärung. Geschichte einer kulturellen Revolution. Hildesheim 2007 u. Michael Graetz: Jüdische Aufklärung, in: Michael A. Meyer u.a. (Hg.): Deutsch-jüdische Geschichte in der Neuzeit. Bd. 1.: Tradition und Aufklärung 1600–1780. München 1996, S. 251–351. Zur jüdischen Aufklärung als Elitenphänomen vgl. Steven M. Lowenstein: Die Berliner Juden 1770–1830. Pioniere jüdischer Modernität, in: Reinhard Rürup (Hg.): Jüdische Geschichte in Berlin. Essays und Studien. Berlin 1995, S. 25–36, hier S. 26ff u. Ingrid Lohmann/Uta Lohmann: Die jüdische Freischule in Berlin im Spiegel ihrer Programmschriften (1803–1826). Preußische Regierung, bürgerliche Öffentlichkeit und jüdische Gemeinde als Adressaten, vor und hinter den Kulissen, in: Arno Herzig/Hans Otto Horch/Robert Jütte (Hg.): Judentum und Aufklärung. Jüdisches Selbstverständnis in der bürgerlichen Öffentlichkeit. Göttingen 2002, S. 66–90, hier S. 69. Grundlegend zur jüdischen Emanzipation und wirtschaftlichem Aufstieg vgl. Avraham Barkai: Jüdische Minderheit und Industrialisierung. Demographie, Berufe, und Einkommen der Juden in Westdeutschland 1850–1914 (Schriftenreihe wissenschaftlicher Abhandlungen des Leo-Baeck-Instituts 46). Tübingen 1988.

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Wandel ging jedoch einher mit neuen Entwicklungen, die innerhalb der jüdischen Bevölkerung in Deutschland als Gefahren für die Zukunft wahrgenommen wurden. Die Geburtenraten der jüdischen Bevölkerung sanken im Kaiserreich erheblich: Zu Beginn der 1870er Jahre hatten jüdische Familien im Schnitt 4,3 Kinder, im ersten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts dagegen nur noch 2,4 Kinder pro Familie. 4 Gleichzeitig wurden immer mehr jüdisch-christliche sogenannte „Mischehen“ geschlossen, was ebenfalls als demographische Bedrohung und als Verunsicherung der deutsch-jüdischen Identität wahrgenommen wurde. Der Anteil der Mischehen, die preußische Jüdinnen und Juden mit nichtjüdischen Partnern und Partnerinnen eingingen, stieg zwischen 1876 und 1910 von 4,4 auf 13,2, bis 1920 sogar auf 20,8 Prozent.5 Schließlich trug noch ein äußerer Faktor zu der demographischen Verunsicherung innerhalb der deutsch-jüdischen Bevölkerung bei: Aufgrund mehrerer antijüdischer Pogromwellen in Osteuropa zu Beginn der 1880er Jahre und um 1905 und aufgrund allgemeiner wirtschaftlicher Not verließen in der Zeit von 1880 bis 1914 etwa zwei Millionen osteuropäische Juden ihre Heimat. Davon kamen 78.000 Menschen nach Deutschland.6 Zudem schlug sich der Diskurs der Industriegesellschaften des Fin de Siècle um eine angebliche physische und psychische Degeneration der Menschen durch die Urbanisierung, Industrialisierung, die erhöhte Mobilität und die neuen Kommunikationsmittel auch in der jüdischen Bevölkerung nieder. Es wurden spezifi-

4

Vgl. Monika Richarz: Die Entwicklung der jüdischen Bevölkerung, in: Mordechai Breuer u.a. (Hg.): Deutsch-jüdische Geschichte in der Neuzeit. 1600–1780. Bd. 3: Umstrittene Integration 1871–1918. München 1996, S. 13–38, hier S. 16.

5

Vgl. ebd., S. 19.

6

Vgl. Inge Blank: „... nirgends eine Heimat, aber Gräber auf jedem Friedhof“. Ostjuden in Kaiserreich und Weimarer Republik, in: Klaus J. Bade (Hg.): Deutsche im Ausland, Fremde in Deutschland. Migration in Geschichte und Gegenwart. München 1992, S. 324–332, hier S. 326. Auf die Ursachen der jüdischen Einwanderung aus Osteuropa kann an dieser Stelle nicht genauer eingegangen werden, verwiesen sei aber auf die Studie Tobias Brinkmanns, in der er die „klassische“ Erklärung der Auswanderung durch unmittelbare Pogromerfahrung in Frage stellt und auch wirtschaftliche und kollektivpsychologische Argumente ins Feld führt (vgl. Tobias Brinkmann: Migration und Transnationalität. Paderborn 2012).

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sche Krankheiten, welche die deutschen Juden im „nervösen Zeitalter“ in besonderer Weise beträfen, identifiziert. Hierzu gehörten etwa Diabetes wegen der angeblichen „Vorliebe der Juden für Süssigkeiten- und Mehlspeisen“.7 In ihren Konstruktionen von demographischen und eugenischen Bedrohungsszenarien waren die deutschen Juden also stark im zeitgenössischen Diskursen verankert. Allerdings wurden diese durch das Bewusstsein des eigenen Minderheitsstatus und durch den erstarkenden biologistisch-rassistischen Antisemitismus in der jüdischen Bevölkerung besonders virulent. Die zwei Jahrzehnte um die Jahrhundertwende, die im Folgenden im Mittelpunkt der Betrachtung stehen werden, sind eine Zeit, in der sich der moderne Vorsorgestaat bereits begonnen hatte zu etablieren. Damit hatte sich das Prinzip des Rechts auf Unterstützung in Notlagen (etwa bei Arbeitslosigkeit oder Krankheit) begonnen durchzusetzen, wie François Ewald in seinem Klassiker über den Vorsorgestaat von 1986 herausgearbeitet hat.8 Auf nichtstaatlicher Ebene bestanden dabei traditionelle Praktiken der sozialen Absicherung fort. Zu den wichtigsten Instrumenten gehörte die Wohltätigkeit als unidirektionale und über die Grenze starker emotionaler beziehungsweise familialer Bindungen wirkende Hilfe, die häufig, jedoch nicht ausschließlich konfessionell organisiert war. Ohne einen systematischen Vergleich der Rolle von Wohltätigkeit im Judentum und im Christentum anzustreben, sei jedoch grundsätzlich angemerkt, dass im Judentum bereits in der Phase vor dem Babylonischen Exil (vor 587 v. Chr.) Wohltätigkeit neben der „Hesed“, der Nächstenliebe, die Funktion der „Zedakah“, also der „Gerechtigkeit“ als sozialen Ausgleichs hatte.9 Auch wenn wohltätige Praktiken über den Lauf der Jahrtausende einen massiven Wandel durchlaufen haben, lässt sich diese kompensierende Funktion noch im 19. Jahrhundert beobachten: So waren immer noch Wohltätigkeitspraktiken verbreitet, die Bedürftigen den sozialen Aufstieg beziehungsweise die

7

Heinrich Singer: Allgemeine und spezielle Krankheitslehre der Juden. Leipzig 1904, S. 83; des Weiteren beschäftigten sich sowohl monographische Erscheinungen als auch (populär)wissenschaftliche Vorträge und Zeitungsartikel mit diesem Phänomen, vgl. zum Beispiel Felix A. Theilhaber: Der Untergang der deutschen Juden. Eine volkswirtschaftliche Studie. München 1911; Albu: Die Krankheiten der Juden. Auszug aus einem am 6. März 1911 im Central-Verein deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens gehaltenen Vortrage, in: Im deutschen Reich, April 1911, S. 201–205 u. B. Baneth: Zur Krankheitsstatistik der Juden, in: Zeitschrift für Demographie und Statistik der Juden, Februar 1912, S. 17–25.

8

Vgl. François Ewald: Der Vorsorgestaat. Frankfurt a. M. 1993.

9

Vgl. Frederick B. Bird: A Comparative Study of The Work of Charity in Christianity and Judaism, in: The Journal of Religious Ethics 10 (1982), S. 144–169, hier S. 148f.

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Rückkehr in eine stabile Existenz sichern sollten.10 Des Weiteren spielten in der Realisierung jüdischer Wohltätigkeit traditionell das Ideal einer anonymisierten Beziehung zwischen Wohltäter und Empfänger eine wesentliche Rolle, um auf diese Weise erstens die Beschämung des Bedürftigen und zweitens wohltätiges Handeln als Strategie zur Steigerung des sozialen Ansehens auf Seiten des Wohltäters zu vermeiden.11 Die Anonymität des wohltätigen Handelns verlor im Laufe des 19. Jahrhunderts mehr und mehr an Bedeutung. Jedoch entfaltete sie zusammen mit der sozialpolitischen Funktion von Wohltätigkeit im Judentum eine langfristige Wirkung dadurch, dass sie eine frühe Institutionalisierung von Wohltätigkeit in der jüdischen Gemeinschaft begünstigte.12 In ihrer zukunftssichernden Dimension mischten sich in den Praktiken jüdischer Wohltätigkeit traditionelle Ansätze der Prävention und der Selbsthilfe mit modernen Konzepten. So hatte das wohltätige Handeln immer auch eine voraussehende Dimension, indem diejenige Wohltat am höchsten bewertet wurde, die dem Bedürftigen die Selbsthilfe und langfristige Konsolidierung ermöglichte. Des Weiteren wurde wohltätiges Handeln verurteilt, wenn es über die eigenen Kapazitäten hinausging und damit zur eigenen Verarmung führen konnte. Es wurden also auch präventive Grenzlinien eingezogen.13 Schließlich tendierten jegliche wohltätigen Praktiken vor Entstehung der Ideen von Sozialreform und sozialer Arbeit dazu, ihre Empfänger zu objektivieren, und die Wohltäter sahen sich ebenso wie auch staatliche Akteure berechtigt, weitgehende Eingriffe in das Leben der Empfänger vorzunehmen. Dieses sozialdisziplinierende Agieren verweist darauf, dass eine der Bedingungen, präventive

10 Vgl. Fritz Lamm: Aus der Geschichte der Armenverwaltung der jüdischen Gemeinde zu Berlin 1833–1913. Nach einem in der 32. Vertreter-Versammlung des Verbandes für jüdische Wohlfahrtspflege am 26. November 1913 gehaltenen Vortrag, CJA 1,75 A Be2, Nr. 66/1 #295, Bl. 1l. 11 Alan J. Avery-Peck: Charity in Judaism, in: Jacob Neusner/Alan J. Avery-Peck/William Scott Green (Hg.): Encyclopaedia of Judaism. Brill Online 2006 (). 12 Frederick B. Bird betont dieses Charakteristikum jüdischer Wohltätigkeit im Vergleich zum Christentum. Vgl. Bird: Study (wie Anm. 9), S. 146, S. 156 und S. 165. 13 Raphael Posner/Haim Hillel Ben-Sasson/Isaac Levitats: Charity, in: Michael Berenbaum/Fred Skolnik (Hg.). Encyclopaedia Judaica, Bd. 4: Blu-Cof. 2. Aufl., Detroit 2007, S. 569–575, hier S. 570.

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Maßnahmen überhaupt realisieren zu können, immer Macht ist 14 – deshalb waren es im Bereich der jüdischen Sozialpolitik auch vor allem Angehörige der oberen Mittel- und der Oberschicht, die als Planerinnen und vor allem Planer in Erscheinung traten. Insbesondere in den jüdischen Großgemeinden, etwa Hamburg, Frankfurt am Main und Berlin, entwickelten sich bereits seit der Frühen Neuzeit Netzwerke von wohltätigen Organisationen, die zum Teil von den Jüdischen Gemeinden selbst geführt wurden, zum Teil nur locker an diese angebunden waren. Die folgenden Ausführungen nehmen das Beispiel Berlin in den Fokus. Hier lässt sich die jüdische Sozialpolitik im Kaiserreich besonders gut beobachten. In den 1890er Jahren zentralisierten sich die Strukturen der jüdischen Wohlfahrtspolitik – ein Wandel, der sich auch in der christlichen und nicht-konfessionellen Wohlfahrt beobachten lässt.15 Exemplarisch dafür steht die Gründung des Verbandes für jüdische Wohlfahrtspflege in der Jüdischen Gemeinde Berlin 1895, der nun den bisher existierenden Großinstitutionen, der Zentralstelle der jüdischen Wohltätigkeitsanstalten und der Armenkommission der Jüdischen Gemeinde, übergeordnet war.16 Neben der Umgestaltung auf organisatorischer Ebene änderte sich auch die innere Ausgestaltung der jüdischen Wohlfahrt, deren Protagonistinnen und Protagonisten sich nun zunehmend der jüdischen Jugend als Objekt ihres Engagements annahmen. Diese Entwicklung hatte zunächst den Effekt, dass das Projekt der jüdischen Berufsumschichtung neu belebt wurde durch zahlreiche Gründungen von Heimen und Lehrinstitutionen für Jugendliche in der Ausbildung zu handwerklichen und hauswirtschaftlichen Berufen. 17 Nach der Jahrhundertwende trat neben den mit diesen Praktiken verbundenen beruflichen Produktivierungsdiskurs das Anliegen, die jüdischen Jugendlichen vor „Verwahrlosung“ und

14 Vgl. Ulrich Bröckling: Vorbeugen ist besser. Zur Soziologie der Prävention, in: Behemoth 1 (2008), S. 144–169, hier S. 46f. 15 Vgl. Steven M. Lowenstein: Die Gemeinde, in: Mordechai Breuer u.a. (Hg.): Deutschjüdische Geschichte in der Neuzeit. 1600–1780. Bd. 3: Umstrittene Integration 1871– 1918. München 1996, S. 123–150, hier S. 130ff. u. Derek Penslar: Philanthropy, the „Social Question“ and Jewish Identity in Imperial Germany, in: Leo Baeck Institute Year Book 38 (1993), S. 51–73, hier S. 53f. 16 Vgl. Lamm: Geschichte (wie Anm. 10), Bl. 1p. 17 U.a. sind hier zu nennen die Jüdische Haushaltungsschule zu Frankfurt a. M. (gegründet 1897), der Verein Lehrlingsheim Pankow (gegründet 1896) und die Israelitische Erziehungsanstalt Ahlem bei Hannover (gegründet 1893).

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Promiskuität zu bewahren.18 Diese „Entdeckung der Jugend“ im letzten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts bewirkte eine noch stärkere Fokussierung sozialpolitischer Maßnahmen auf die Zukunft. Auch wenn sozialpolitisches Engagement immer in der Gegenwart ansetzt und ansetzen muss, versuchen die Akteurinnen und Akteure mit seiner Hilfe in unterschiedlichem Grade und in unterschiedlicher Langfristigkeit auch immer die Zukunft zu beeinflussen. Allerdings waren nicht alle Maßnahmen jüdischer Sozialpolitik gleichermaßen auf die Zukunft ausgerichtet. So unterscheiden sich die Betreuung und Pflege alter Menschen in jüdischen Altenheimen und der Versuch, durch Maßnahmen der Berufsumschichtung jüdische Jugendliche zu Handwerkern und Landwirten auszubilden, massiv in ihren Implikationen für die Zukunft der jüdischen Bevölkerung in Deutschland. Zum einen besteht hier eine Differenz in der Altersgruppe, auf die sich die Maßnahmen beziehen – alte Menschen, die sich in ihrem letzten Lebensabschnitt befinden, und Menschen in der Adoleszenz, die ihr Leben noch vor sich haben und deren Beeinflussung durch sozialpolitische Maßnahmen eine Investition in die Zukunft sein kann. Bei den gewählten Beispielen besteht außerdem ein Unterschied im Ansatzpunkt der Maßnahmen – die Pflege und Betreuung als tendenziell konservative Maßnahme, um einen Zustand möglichst zu erhalten oder vorsichtig zu verbessern, im Gegensatz zur intervenierenden Maßnahme, die Berufsstruktur der jüdischen Bevölkerung gezielt zu verändern. Um aufzuschlüsseln, auf welche Weise Jüdinnen und Juden mittels sozialpolitischer Maßnahmen versuchten, die Zukunft der jüdischen Minderheit in Deutschland abzusichern und zu gestalten, lassen sich vornehmlich drei relevante Betätigungsfelder identifizieren: Erstens waren dies gesundheitspolitischen Aktivitäten, die im Wesentlichen die Stärkung, zumeist des kindlichen oder jugendlichen jüdischen Körpers, zum Ziel hatten. Etwa wurden in sogenannten Ferienkolonien Kuraufenthalte für jüdische Kinder und Jugendliche aus armen Familien organisiert, in deren Rahmen dann körperliche Ertüchtigung und gezielte Diät zur Aufpäppelung auf dem Programm standen.19 Zweitens waren dies Maßnahmen, die zum Ziel hatten, die kulturelle und soziale Identität der jüdischen Gemeinschaft in Deutschland abzusichern, und zwar insbesondere angesichts der aus Osteuropa einwandernden Juden, die vor Armut und dortigen Pogromen flohen. Hier spielten einerseits Ängste vor dem Verlust

18 Vgl. dazu Claudia Prestels Studie zur jüdischen Fürsorgeerziehung (Claudia Prestel: Jugend in Not. Fürsorgeerziehung in deutsch-jüdischer Gesellschaft, 1901–1933. Wien 2003). 19 Vgl. zum Beispiel Dreissigster Jahresbericht des Komitees für Ferien-Kolonien Jüdischer Kinder 1913, CJA, 1,75 A Be2, Nr. 316 #14226/1, S. 6ff.

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der eigenen Identität als kollektive Gruppe und die Befürchtungen einer wirtschaftlichen Belastung der Gemeinden eine Rolle. Andererseits bestand aber auch die nicht unbegründete Befürchtung, der Antisemitismus könnte sich durch die Anwesenheit dieser habituell als Juden identifizierbaren osteuropäischen Glaubensgenossinnen und -genossen verstärken.20 Drittens bezweckten Maßnahmen im Bereich der sogenannten Berufsumschichtung, jüdische Jugendliche aus der Unterschicht beziehungsweise der unteren Mittelschicht für Berufe im Handwerk, der Landwirtschaft oder in der Hauswirtschaft auszubilden. Dahinter stand die mitunter stark antisemitisch gefärbte Problematisierung des Umstandes, dass die jüdische Bevölkerung in akademischen und kaufmännischen Berufen überrepräsentiert ist.21

ÜBERLEGUNGEN ZUR ROLLE VON WISSEN BEI DEN PRAKTIKEN JÜDISCHER WOHLTÄTIGKEIT Die folgende Untersuchung will klären, welche Rolle unterschiedliche Formen des Wissens in den Praktiken und Diskursen der jüdischen Sozialpolitik des Kaiserreiches hatten. In diesem Zusammenhang stellt sich die Frage nach der Herkunft oder konkreter gefasst nach dem Produktionsort des Wissens. Es ist erstens das Wissen aus textuellen Diskursen und zweitens das eigene oder von anderen vermittelte Wissen aus dem sozialen Alltag in einer nicht-jüdischen Umwelt, das die Akteure in ihren Praktiken prägte. Das akteurseigene Erfahrungswissen 22 ist im Rahmen dieser Untersuchung nicht zugänglich, da es unmittelbar an die individuellen Akteure gebunden ist und der untersuchte Quellenbestand sich vor allem aus Akten von Organisationen und Vereinen rekrutiert. Auch auf das sozial abgeleitete Wissen aus den Erfahrungen anderer Personen lässt sich mittels des vorliegenden Quellenkorpus nicht zugreifen, da es sich in der Regel durch Quellen der informellen Kommunikation wie Korrespondenz oder Gespräche vermittelt.23

20 Vgl. dazu grundlegend Steven E. Aschheim: The East European Jew and German Jewish Identity, in: Studies in Contemporary Jewry 1 (1984), S. 3–25, insbesondere S. 11. 21 Tanja Rückert: Produktivierungsbemühungen im Rahmen der jüdischen Emanzipationsbewegung (1780–1871). Preußen, Frankfurt am Main und Hamburg im Vergleich. Münster 2005, S. 11. 22 Zu individuellen Erfahrungen als Teil des „subjektiven Wissensvorrats“ vgl. Alfred Schütz/Thomas Luckmann: Strukturen der Lebenswelt Band 1. Frankfurt a. M. 1979, S. 133. 23 Vgl. ebd., S. 293.

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In Texten diskursiviertes Wissen dagegen speiste sich zum einen aus der jüdischen Presse und zum anderen aus einem während der Jahrhundertwende wachsenden Korpus an wissenschaftlicher Literatur, die oft populär ausgerichtet war. Es ließe sich also noch einmal unterscheiden zwischen einem durch die jüdische Presse vermittelten Allgemeinwissen, das verhältnismäßig leicht verfügbar war durch Abonnements oder den Gang zum Zeitungshändler, und einem Expertenwissen, das vor allem in thematisch einschlägigen Periodika (etwa in der Zeitschrift für Demographie und Statistik der Juden) und wissenschaftlichen Einzelpublikationen verfügbar war. Ohne hier auf die Erreichbarkeit solcher Textzeugnisse außerhalb des unmittelbar wissenschaftlichen Kontextes eingehen zu können, sei hier jedoch angemerkt, dass eine gezielte Beschäftigung mit bestimmten Themen notwendig war, um solche Wissensbestände zu rezipieren. Auch wenn hier keine wissenssoziologische Nahsicht beziehungsweise Tiefenbohrung auf die Produktions- und Entstehungszusammenhänge konkreter Wissensbestände einzelner Akteure geleistet werden kann, so soll doch eine Annäherung daran stattfinden, welche Formen von Wissen überhaupt bei den zukunftsbezogenen Praktiken der jüdischen Wohltätigkeit im Kaiserreich eine Rolle spielten. Dieser Blick auf die Wissensformen, die in den Praktiken inkorporiert sind, ist entscheidend für deren Zuordnung zu Vorsorge oder zu Prävention: So beziehen sich präventive Praktiken auf statistisch-kalkulierendes Wissen, während Vorsorgepraktiken eher auf unschärfere Annahmen zurückzugreifen, die sich aus dem Erfahrungswissen speisen. Eng damit verbunden ist die von Niklas Luhmann etablierte Unterscheidung von Risiko und Gefahr:24 Wenn die Akteure Zukunft als beeinflussbare Größe interpretieren, so werden von außen kommende Gefahren zu einhegbaren Risiken umdefiniert, die gleichzeitig auch Chancen enthalten.25 Während gegen unkontrollierbare Gefahren nur mit unspezifischen Vorsorgemaßnahmen reagiert werden kann, können Risiken mithilfe präventiver Maßnahmen eingedämmt werden, was als Nebenfolge wiederum den Handlungsspielraum der Akteure im Hinblick auf das Eingehen weiterer Risiken erhöhen kann. Dominierten in der jüdischen Wohltätigkeit im Kaiserreich also Praktiken der Vorsorge oder der Prävention beziehungsweise lässt sich diese Trennung in der Praxis überhaupt aufrechterhalten? Welche Aussagen lassen sich daraus über die Konstruktion von „modernen“ Akteuren als Erklärungsschema für das Handeln

24 Vgl. Luhmann: Soziologie (wie Anm. 2), S. 30–36. 25 Ortwin Renn/Andrea Klinke: Risikoabschätzung und -bewertung. Ein neues Konzept zum Umgang mit Komplexität, Unsicherheit und Ambiguität, in: Jan Beaufort/Edmund Gumpert/Markus Vogt (Hg.): Fortschritt und Risiko. Zur Dialektik der Verantwortung in (post-)modernen Gesellschaften. Dettelbach 2003, S. 21–51, hier S. 23.

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der jüdischen Minderheit im Deutschland des späten 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts ableiten? Für die Klärung dieser Fragen bietet sich zunächst ein Blick an auf die historischen Ausgangsbedingungen, unter denen jüdische Wohltätigkeit im Kaiserreich realisiert wurde.

GESUNDHEITSPOLITISCHE MASSNAHMEN Das vom Unabhängigen Orden B’nai Brith (U.O.B.B.) gegründete Komitee für Ferienkolonien ermöglichte seit 1884 Kindern aus armen jüdischen Familien in Berlin vierwöchige Sommerferienaufenthalte in Kurorten im Berliner Umland. Auf diese Weise sollte zur körperlichen Regeneration der oft unterernährten und für Krankheiten anfälligen Kinder beigetragen werden. 26 Die gründliche medizinische Überwachung der Kinder war dabei eines der zentralen Instrumente, mit dem eine Verbesserung der gesundheitlichen Konstitution der Schützlinge sichergestellt werden sollte. Das Phänomen der Ferienkolonien war kein spezifisch jüdisches Phänomen – die erste Ferienkolonie für Kinder aus armen städtischen Verhältnissen wurde von dem Schweizer Geistlichen Hermann Walter Bion bereits 1876 gegründet, die erste Ferienkolonie in Deutschland entstand 1878 in Frankfurt am Main.27 Der Gründungszeitpunkt des Komitees für Ferienkolonien Jüdischer Kinder liegt mit dem Jahr 1884 demnach durchaus noch in der Anfangsphase der Entwicklung dieser Fürsorgemaßnahme in Deutschland, auch wenn jüdische Akteure hier nicht als Pioniere dieser neuen Form der Kindererholung hervorgetreten sind. Weitere jüdische Ferienkolonien gab es unter anderem in Hamburg, Posen, Frankfurt am Main und Kiel.28 Die Einrichtungen der jüdischen Kinderfürsorge schickten einzelne Zöglinge, deren körperliche Konstitution als verbesserungswürdig eingestuft wurde, in die Ferienkolonien. So entsandte etwa das Reichenheimsche Waisenhaus im Sommer 1907 46 Mädchen und Jungen zur Erholung in See- und Soolbäder beziehungsweise in sogenannte Waldkolonien.29 Der Großteil

26 Vgl. Bericht über das 25jährige Bestehen der jüdischen Ferien-Kolonien und Jahresbericht für 1908, CJA, 1,75 A Be2, Nr. 316 #546, Bl. 38f. 27 Zur Entwicklung der Ferienkoloniebewegung im Allgemeinen vgl. grundlegend Thilo Rauch: Die Ferienkoloniebewegung. Zur Geschichte der privaten Fürsorge im Kaiserreich. Wiesbaden 1992, hier S. 9f. und S. 71. 28 Vgl. ebd., S. 268. 29 Vgl. Siegmund Feist: Berichte über das Waisenhaus der jüdischen Gemeinde zu Berlin gestiftet von Moritz und Sara Reichenheim Weinbergsweg 13 (eröffnet am 8. Mai 1872)

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der teilnehmenden Kinder stammte jedoch aus armen Familien aus der Großstadt, die sich einen Sommeraufenthalt auf dem Land nicht leisten konnten. Die Durchführung jüdischer Ferienkolonien scheint sich nicht maßgeblich von derjenigen nicht-jüdischer Ferienkolonien unterschieden zu haben. In den Ferienkolonien wurden Maßnahmen der Gesundheitsvorsorge und der körperlichen Stärkung der oft unterernährten Kinder aus Arbeiterhaushalten mit der pädagogischen Fürsorge für die „Kolonisten“ kombiniert, denen ein kindgerechter Ferienaufenthalt ermöglicht werden sollte.30 Das Einbinden von pädagogischen Erkenntnissen als eine Form des Expertenwissens war ein Novum in der Kindererholung, dem sich offensichtlich auch die jüdischen Ferienkolonien öffneten: So wurde in den Berichten des Berliner Komitees für Ferienkolonien jüdischer Kinder immer wieder betont, dass die Kinder einen erfreulichen und erholsamen Aufenthalt in liebevoller Umgebung haben sollten, der sie die „dumpfen Räume“31 und „lichtlosen Verhältnisse“32 vergessen ließ, aus denen sie kamen. Das zweite wesentliche Anliegen der jüdischen Ferienkolonien, bestand darin, die in ihren Heimen „dahinsiechenden Kinder“ 33 aus Arbeiterfamilien im wahrsten Sinne des Wortes aufzupäppeln, durch eine streng überwachte Diät, viel Bewegung an der frischen Luft und die Nutzung von Heilbädern, sofern die Kolonien in Kurbädern angesiedelt waren. Denn, so stellte der Bericht der Ferienkolonien jüdischer Kinder für das Jahr 1910 fest: Wie oft haben wir Kinder fortgesandt, die blaß, matt, nervös, leicht skrofulös waren und die sich im Laufe der Zeit aus Schwächlingen zu Normalmenschen entwickelten.34

Es ging bei den Praktiken der Ferienkolonien also nicht darum, akute schwere Erkrankungen zu heilen, sondern vielmehr um eine präventive Stärkung der Konstitution des kindlichen Körpers und die Bekämpfung von Mangelerscheinungen. Im erklärten Ziel der jüdischen Ferienkolonien, die unterernährten Kinder zu

für die Zeit vom 1. April 1907 bis 31. März 1908, CJA, 1,75 A Be2, Nr. 314/1 #14225, Bl. 40f. 30 Vgl. Rauch: Ferienkoloniebewegung (wie Anm. 27), S. 40. 31 Siebzehnter Jahresbericht des Komitees für Ferien-Kolonien Jüdischer Kinder 1901, CJA, 1,75 A Be2, Nr. 316 #546, Bl. 141. 32 Ebd., Bl. 141. 33 Ebd., Bl. 141. 34 Siebenundzwanzigster Jahresbericht des Komitees für Ferien-Kolonien Jüdischer Kinder 1910, CJA, 1,75 A Be2, Nr. 316 #546, Bl. 15.

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„Normalmenschen“ zu machen, wird die Tendenz der Prävention zur Normalisierung ihrer Objekte explizit.35 Die Akteure mit jüdisch-bürgerlichem Hintergrund der Berliner Ferienkolonien für jüdische Kinder bemühten sich, aktuelle wissenschaftliche Erkenntnisse aus Medizin und Demographie in ihre Arbeit einzubinden, ihre Erfolge messbar zu machen und zu optimieren. Durch Interventionen in den kindlichen Körper und dessen Überwachung wurde die unabsehbare Gefahr eines demographischen Niedergangs, wie sie auch von Wissenschaftlern wie Felix A. Theilhaber prophezeit wurde,36 in ein beeinflussbares Risiko übersetzt. So berichtet der Einundzwanzigste Jahresbericht des Komitees für Ferien-Kolonien Jüdischer Kinder für das Jahr 1905: Im letzten Sommer hat [sich] nun Herr Dr. Scheier, [...] der Mühe unterzogen, eine größere Anzahl Kinder der jüdischen Ferien-Kolonie vor der Entsendung und nach der Rückkehr auf die Beschaffenheit ihres Blutes zu untersuchen. Er hat hierbei eine erhebliche Vermehrung der roten Blutkörperchen nach der Rückkehr vom Landaufenthalt festgestellt. Da nun diese roten Blutkörperchen die Träger des Blutstoffwechsels sind, und die Gesundheit von einem günstigen Blutstoffwechsel bedingt ist, so ist damit der wohltätige Einfluß des Ferienaufenthaltes nochmals mit Sicherheit erwiesen.37

Im weiteren Verlauf weist der Bericht zudem darauf hin, dass besagter Dr. Scheier die Ergebnisse seiner Untersuchungen unter dem Titel Über den Blutbefund bei Kindern mit Wucherungen des Nasenrachenraumes in der Zeitschrift für klinische Medizin veröffentlicht habe.38 Hier fand also zusätzlich zu der Anwendung medizinischer Erkenntnisse in der Praxis der Ferienkolonien ein Rücktransfer von Wissen in die medizinische Forschung statt. Zu den alltäglichen Praktiken in den jüdischen Ferienkolonien gehörten auch die regelmäßige Gewichtskontrolle und die genaue Protokollierung der Gewichtszunahme im Laufe des Aufenthalts. Auch sie lassen sich in der gesundheitspolitischen Tradition der allgemeinen Kindererholung im 19. Jahrhundert verorten. In der Ferienkoloniebewegung stand die statistische Erhebung der Gewichtszunahmen der teilnehmenden Kinder im Zentrum eines regelrechten Wettbewerbs der Kolonien untereinander, der von Kritikern gar als „Mästung“ der Kinder verunglimpft wurde.39 35 Vgl. Bröckling: Vorbeugen (wie Anm. 14), S. 43f. 36 Vgl. Theilhaber: Untergang (wie Anm. 7). 37 Einundzwanzigster Jahresbericht des Komitees für Ferien-Kolonien Jüdischer Kinder 1905, CJA, 1,75 A Be2, Nr. 316 #546, Bl. 63f. 38 Ebd., Bl. 64. 39 Vgl. Rauch: Ferienkoloniebewegung (wie Anm. 27), S. 186.

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Die Praktiken der jüdischen Ferienkolonien waren, wie gezeigt, stark an der allgemeinen Ferienkoloniebewegung orientiert und wurden im Übrigen auch nur sehr vereinzelt auf diskursiver Ebene in einen spezifisch jüdischen Kontext gestellt. Eines der wenigen Beispiele für eine solche Kontextualisierung findet sich im Fortgang des oben zitierten Berichtes aus dem Jahr 1910, der das Ziel, die kränklichen Kinder zu „Normalmenschen“ zu machen, in ein jüdisches Anliegen überführt: „Wer schwächliche jüdische Kinder zu gesunden Menschen machen hilft, der hilft auch das Judentum zu erhalten.“40 Trotz oder gerade wegen der Seltenheit solcher Aussagen ist diese Stellungnahme besonders interessant: Vielmehr wird hier die physische Erhaltung der jüdischen Minderheit in Deutschland als Argument für die Notwendigkeit der Ferienkolonien in Stellung gebracht. Es fehlt dagegen jegliche Bezugnahme auf die Bekämpfung antisemitischer Vorurteile, die schließlich eng mit bestimmten jüdischen Körperbildern verknüpft waren, etwa dem vom „verweiblichten“ Juden.41 Überhaupt fällt bei der Untersuchung der gesundheitspolitischen Ansätze der jüdischen Ferienkolonien auf, dass der zeitgenössische Diskurs über angeblich spezifisch jüdische Pathologien, wie höhere Diabetesraten, eine schwache körperliche Konstitution und eine Neigung zu bestimmten psychischen Störungen, den sich auch viele Juden zu eigen machten, überhaupt nicht zur Sprache kommt. 42 Die in der Arbeit der jüdischen Ferienkolonien engagierten Personen scheinen also mit einem klaren bürgerlich-akkulturiertem Impetus eine jüdische Parallelinstitution zur allgemeinen Ferienkoloniebewegung geschaffen zu haben. Dazu mag beigetragen haben, dass die allgemeine Ferienkoloniebewegung weniger konfessionell als durch die Freimaurer geprägt war. Es bestand also weder von jüdischer noch von nicht-jüdischer Seite die Erwartungshaltung, dass mit den jüdischen Ferienkolonien eine starke religiös orientierte Institution etabliert werden müsse. Das einzige äußerliche jüdische Charakteristikum der Ferienkolonien für jüdische Kinder war die Versorgung der Kolonisten mit koscheren Speisen. Interessanter-

40 Siebenundzwanzigster Jahresbericht Ferien-Kolonien Jüdischer Kinder 1910 (wie Anm. 34), Bl. 15. 41 Vgl. Klaus Hödl: Die Pathologisierung des jüdischen Körpers. Antisemitismus, Geschlecht und Medizin im Fin de Siècle. Wien 1997, S. 166ff. 42 Veronika Lipphardt und Klaus Hödl haben die maßgeblichen Monographien über diesen wissenschaftlichen Diskurs, an dem auch jüdische Mediziner und Biologen beteiligt waren, vorgelegt. Siehe Veronika Lipphardt: Biologie der Juden. Jüdische Wissenschaftler über „Rasse“ und Vererbung 1900–1935. Göttingen 2008 u. Hödl: Pathologisierung (wie Anm. 41).

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weise führt der Bericht 25jährige Bestehen Ferien-Kolonien das Bedürfnis jüdischer Eltern, ihre Kinder in Ferienfreizeiten mit ritueller Versorgung unterzubringen, auch als Anstoß für die Gründung der Ferienkolonien an.43 Bei der Durchführung der Ferienkolonien entschieden sich die Organisatoren im Jahr 1902 zu einem pragmatischen Schritt: Sie brachten die Kinder, die an der Ferienfreizeit teilnahmen, im Mädchenhaus Pankow unter, um „besonders geeigneten Zöglingen eine gewisse Vorbildung in der Behandlung kleiner Kinder zu geben“44. Hier wurden gesundheitspolitische Maßnahmen mit den Aktivitäten der Berufsfürsorge, dem nächsten Feld der Betrachtung, verknüpft.

JÜDISCHE BERUFSFÜRSORGE Die jüdische Berufsfürsorge in ihrer Ausprägung, wie sie im ausgehenden 19. Jahrhundert und beginnenden 20. Jahrhundert bestand, ging zurück auf das sehr viel ältere Projekt der jüdischen Berufsumschichtung, also der gezielten Änderung der Berufsstruktur der jüdischen Bevölkerung. Die Maßnahmen der Berufsumschichtung richteten sich gegen die traditionell hohe Repräsentanz von Juden in den Berufszweigen des Waren- und Geldhandels. 45 Gefördert werden sollten dementgegen die Ausbildung junger männlicher Juden im Handwerk und in der Landwirtschaft. Die ersten Organisationen zur Berufsumschichtung, die auch unter dem Schlagwort der Produktivierung gehandelt wurde, gründeten sich in den 1810er Jahren und waren eng verknüpft mit den Bemühungen um eine gesetzliche Emanzipation der Juden. Sowohl jüdische als auch nichtjüdische Befürworter der Emanzipation vertraten dabei die Forderung nach der „bürgerlichen Verbesserung der Juden“, bei der Juden erstmal in Vorleistung treten mussten, unter anderem

43 Vgl. Bericht 25jährige Bestehen Ferien-Kolonien (wie Anm. 26), Bl. 38. 44 Mädchenhaus Pankow. Bericht über die Jahre 1899–1901, Berlin 1902, CJA; 1,75 A Be 2, Nr. 233 #463, Bl. 247. 45 Der Umstand, dass Juden seit dem Mittelalter in diesen Berufszweigen stark vertreten waren, weil sie aus den Zünften ausgeschlossen waren und es ihnen verboten war, Boden zu erwerben, ist von der mediävistischen Forschung zur Geschichte der Juden herausgearbeitet worden Vgl. zum Beispiel Michael Toch: Zur wirtschaftlichen Lage und Tätigkeit der Juden im deutschen Sprachraum des Spätmittelalters, in: Rolf Kiessling/Sabine Ullmann (Hg.): Judengemeinden in Schwaben im Kontext des alten Reiches. Berlin 1994, S. 39–50.

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durch die Berufsumschichtung, um sich das Recht auf Gleichstellung zu verdienen.46 In Preußen gründete sich 1812 die Gesellschaft zur Beförderung der Industrie unter den Bewohnern der Königlich Preußischen Staaten jüdischer Religion, die sich im Jahr 1845 in Gesellschaft zur Verbreitung der Handwerke und des Ackerbaus unter den Juden im Preußischen Staate umbenannte.47 Zweck der Gesellschaft war es unter anderem, die Lehrlinge durch Lehrgelder, Arbeitskleidung, finanzielle Unterstützung im Krankheitsfall und bei der beruflichen Weiterqualifikation nach abgeschlossener Lehre zu unterstützen.48 Zwar bestand sie nur bis etwa zur Jahrhundertwende, es gründeten sich jedoch weitere im letzten Jahrzehnt des 19. Jahrhundert. Auch entstanden zahlreiche neue Institutionen der Berufsumschichtung, die sich von den traditionellen Organisationen besonders dadurch unterschieden, dass sie der geschlossenen Fürsorge zuzuordnen sind. Das heißt, dass die Zöglinge in Heimen untergebracht waren und entweder dort oder in kooperierenden Institutionen unterrichtet wurden. So wurde in Berlin 1890 mit dem Jüdischen Mädchenstift zunächst eine Institution für die Ausbildung und Unterbringung für weiblicher Jugendliche ins Leben gerufen, worauf im folgenden Jahr das Zweite Waisenhaus der jüdischen Gemeinde zu Berlin folgte, das ausschließlich für männliche Zöglinge bestimmt war. 1894 wurde das Mädchenhaus Pankow und 1896 das Lehrlingsheim Pankow eröffnet, ebenso wie das Zweite Waisenhaus ausschließlich für männliche Zöglinge gedacht. Lediglich in den schon 1833 gegründeten Baruch Auerbachsche Waisen-Erziehungs-Anstalten für jüdische Knaben und Mädchen bestand eine wichtige Institution der geschlossenen Berufsfürsorge, die bereits vor dem Kaiserreich existierte.49

46 Vgl. Angelika Kipp: Jüdische Arbeits- und Berufsfürsorge in Deutschland 1900–1933 (Reihe Dokumente, Texte, Materialien/Zentrum für Antisemitismusforschung der Technischen Universität Berlin 31). Berlin 1999, S. 11. 47 Vgl. Sebastian Panwitz: Gesetze für die Gesellschaft zur Beförderung der Industrie unter den Bewohnern der Königlichen Preussischen Staaten jüdischer Religion, Berlin 1813, in: Ulrich Stascheit/Gerd Stecklina (Hg.): Jüdische Wohltätigkeits- und Bildungsvereine (Schriftenreihe des Arbeitskreises Geschichte der jüdischen Wohlfahrt in Deutschland 5). Frankfurt a. M. 2013, S. 214–225, hier S. 214 u. Uta Lohmann: „Auf der Organisation ruht die Zukunft des Handwerks“. The History and Activities of Jewish Artisans in Berlin, in: The Leo Baeck Institute Yearbook 41 (1996), S. 115–139, hier S. 118. 48 Vgl. Panwitz: Gesetze (wie Anm. 47), S. 217. 49 Vgl. Jakob Thon: Die jüdischen Gemeinden und Vereine in Deutschland. Berlin-Halensee 1906, S. 65f u. Bericht über das Zweite Waisenhaus der jüdischen Gemeinde zu Berlin in Pankow (1901), CJA, 1,75 A Be 2, Nr. 314 #544, Bl. 5.

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Im Gegensatz zu den Maßnahmen der Gesundheitspolitik fokussierten die Maßnahmen der Berufsfürsorge nicht darauf, die jüdische Gemeinschaft in Deutschland auf aktiv gestaltende Weise in ihrem religiösen und kulturellem Zusammenhalt zu stärken, sondern hatten vielmehr einen defensiven Charakter: Häufig begründeten die Akteurinnen und Akteure die Praktiken in diesem Bereich jüdischer Wohltätigkeit durch das Wissen um die antisemitische Kritik an der vorgeblich „unproduktiven“ jüdischen Berufsstruktur. So prognostiziert der Jahresbericht des Vereins Lehrlingsheim Pankow für 1897/98: [Dann] wird es uns gelingen, die hohe Kulturmission, welche wir übernommen haben, zu erfüllen und den Antisemitismus wirksam zu bekämpfen.50

Die Kulturmission besteht hier darin, die Angehörigen der unteren Schichten in volkswirtschaftlichen als wertvoll eingestuften Berufen auszubilden. Die Feststellung, dass eine Änderung der „jüdischen“ Berufsstruktur dem antisemitischen Vorurteilen Einhalt gebieten könnte, setzen die Verfasser des Berichts dabei als selbstverständliche Tatsache voraus. Es scheint also eher ein direktes oder abgeleitetes Erfahrungswissen zu sein, das offenbar als reproduzierbare Argumentationsfigur zu funktioniert. Allerdings konnten die Akteurinnen und Akteure der jüdischen Berufsumschichtung auch auf einen breiten Korpus von populärwissenschaftlichen und journalistischen Texten zugreifen, welche die jüdische Berufsstruktur als Ursache antisemitischer Anfeindungen problematisierten, so dass der subjektive Wissensbestand also höchst heterogener Natur war. Zeittypisch spielten dabei auch Sittlichkeitsvorstellungen, oft geschlechtsspezifisch konnotiert, eine wichtige Rolle: Insbesondere bei der Ausbildung von Mädchen in hauswirtschaftlichen Berufen wird betont, dass es auch Ziel sei, sie „emporzuheben zu wirtschaftlicher und sittlicher Tüchtigkeit“.51 Auch in anderer Hinsicht ist die geschlechtergeschichtliche Dimension bei der Ausprägung der Praktiken in der jüdischen Berufsfürsorge beachtenswert: Mit dem Jüdischen Mädchenstift und dem Mädchenhaus Pankow auf der einen Seite und dem Zweiten Waisenhaus und dem Lehrlingsheim Pankow auf der anderen Seite stehen sich jeweils zwei Institutionen für weibliche und männliche Zöglinge gegenüber. Aus den Tätigkeitsberichten sowohl des Mädchenstifts als auch des Mädchenhauses geht deutlich hervor, dass Berufsausbildung und Erziehung keine herausragende Qualifikation der Mädchen beinhalten. Vielmehr werden trotz mehrfach beklagter schlechter Schulbildung der Zöglinge im Unterricht nur die unmittelbar nötigen 50 Zweiter Verwaltungs-Bericht des Vereins Lehrlingsheim Pankow 1. April 1897 bis 31. März 1898, CJA, 1,75 A Be 2, Nr. 326 #556, Bl. 16. 51 Jüdisches Mädchenstift Berlin. Jahresbericht über 1901, CAHJP, D/Be4/337, S. 3.

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Kenntnisse in Rechnen, Wirtschaftslehre und Deutsch vermittelt. Auch werden die Mädchen nach beendeter Ausbildung in Stellen in kleinen Haushalten vermittelt, weil ihnen offenbar nicht zugetraut wird, umfangreicheren Anforderungen gerecht zu werden.52 Insbesondere beim Mädchenhaus Pankow fällt auf, dass die Zöglinge in extensiver Weise zu Arbeiten herangezogen wurden, die ihnen sicherlich die Gelegenheit zur Einübung bestimmter Fähigkeiten gaben, die aber vor allem der Kostenreduktion beziehungsweise der Einnahmesteigerung des Stiftes dienten. Hierzu gehörte die Verrichtung jeglicher Haushaltsarbeiten im Heim, das Anfertigen von Kleidung für den eigenen Bedarf und von Aussteuern für verlobte Zöglinge, das Waschen auf Rechnung für andere Einrichtungen und Privathaushalte, und die Praxis, Mädchen für Phasen von drei Tagen unentgeltlich in die Haushalte der Mitglieder zu schicken.53 Letztere Maßnahme bescherte dem Mädchenhaus Pankow knapp 550 Mark Einnahmen, während für die Wäsche gut 980 Mark Reingewinn zu verzeichnen war. Die Einnahmen dieser beiden Posten entsprachen immerhin den Unterhaltungskosten von drei Personen (Zöglinge oder Personal) pro Jahr im Mädchenhaus. 54 Schließlich hat auch die oben erwähnte Aufnahme und Betreuung der Kinder aus der Ferienkolonie eher den Charakter einer unentgeltlichen Dienstleistung denn einer gezielten Ausbildungsmaßnahme. Es scheint auch kein Bestreben gegeben zu haben, die Aufnahmekapazitäten der beiden Einrichtungen zu steigern. Im Gegenteil wurde die Zahl der Zöglinge des Mädchenhauses Pankow zwischen September 1901 und September 1902 sogar gezielt gesenkt, um angesichts einer prekären Haushaltslage Kosten zu verringern. Während die Berichte der Institutionen für weibliche Zöglinge besonders in den Abschnitten über Erziehung und Berufsausbildung eher knapp und allgemein gehalten sind, fallen die entsprechenden Passagen bei den Einrichtungen zur Ausbildung und Unterbringung von Lehrlingen sehr viel ausführlicher aus. Es wurde angestrebt, die jungen jüdischen Männer beziehungsweise jüdischen Jugendlichen in „neuen“ Berufen, etwa im Bereich der Elektrotechnik, unterzubringen und ihnen eine hohe Qualifikation, oft mit Perspektive auf eine Laufbahn

52 Vgl. Mädchenhaus Bericht 1899–1901 (wie Anm. 44), Bl. 247. 53 An dieser Stelle wird angemerkt, dass die Wäschereidienste im Laufe des Berichtsjahres sogar eingeschränkt werden mussten, da die Mädchen offenbar dermaßen überlastet waren, dass die Arbeiten nicht mehr sorgfältig ausgeführt werden konnten (vgl. ebd., Bl. 246f). 54 Die Unterhaltungskosten für eine Person wurden für 1901/02 auf 486,48 Mark beziffert (vgl. ebd., Bl. 247f).

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als Meister, zu ermöglichen.55 Hier wird also der Impetus einer innovativ ausgerichteten Ausbildungspraxis betont, und zwar interessanterweise ohne reale Gefahr für einer konservativen Handwerkerschaft, die ihre angeblich drohende berufliche Verdrängung als Argument für antisemitische Kampagnen fruchtbar machte.56 Selbstredend ist die geschlechtsspezifische Ausprägung der Maßnahmen der jüdischen Berufsfürsorge kein ausschließlich jüdisches Phänomen. Jedoch wird bei diesen Maßnahmen die Bedeutung der Debatte um die jüdische Berufsstruktur besonders deutlich. Denn Antisemiten versuchten, diesen Diskurs für ihre Zwecke zu vereinnahmen, indem sie auf antisemitische Denkmuster bei den nichtjüdischen Diskursteilnehmern zurückgriffen. Um diese antisemitischen Vorbehalte zu mobilisieren, griffen antisemitische Agitatoren ausschließlich auf die Berufsstruktur der männlichen und nicht der weiblichen jüdischen Bevölkerung zurück. Dementsprechend gestaltete sich die weibliche Berufsfürsorge weit weniger innovativ als die Berufsausbildung von männlichen Jugendlichen. Auch die Vermittlung von Lehrlingen ins Ausland verfolgten die Protagonistinnen und Protagonisten der jüdischen Berufsfürsorge mit großem Wohlwollen. So hebt zum Beispiel der Bericht des Lehrlingsheims Pankow als besonderen Erfolg hervor, dass seine früheren Zöglinge später in europäischen Ländern wie der Schweiz, Großbritannien oder auch Russland Anstellung fanden.57 Das Erteilen jüdischen Religionsunterrichts und die Vermittlung von Handwerker-Lehrlingen in schabbathfreie Lehrstellen erscheinen doch eher als Regelstandard einer konfessionsgebundenen Institution als eine gezielte Maßnahme, um den Rückgang der Religiosität im deutschen Judentum abzuwenden. An diesen Elementen der Berufsfürsorge zeigt sich: Es ging hier eher um eine Anpassungsleistung im Sinne der Vorsorge, mit der die Akteurinnen und Akteure der Berufsfürsorge hofften, den Antisemitismus zu beseitigen. Unintendierte Ne-

55 Vgl. Bericht über das Zweite Waisenhaus der jüdischen Gemeinde zu Berlin in Pankow (1901), CJA, 1,75 A Be 2, Nr. 314 #544, Bl. 7f. u. 14. 56 Penslar: Philanthropy (wie Anm. 15), S. 68. 57 Vgl. Dritter Verwaltungs-Bericht des Vereins Lehrlingsheim Pankow 1. April 1898 bis 31. März 1899, CJA, 1,75 A Be 2, Nr. 326 #556, Bl. 28. Da in den Statuten des Lehrlingsheims festgelegt war, dass die Zöglinge Angehörige eines deutschen Bundesstaates sein mussten, ist es unwahrscheinlich, dass es sich hier um eine Rückführung ausländischer Zöglinge in ihre Herkunftsländer oder einer Förderung der Weiterwanderung osteuropäischer Juden handelte (vgl. Fünfter Verwaltungs-Bericht des Vereins Lehrlingsheim Pankow 1. April 1900 bis 31. März 1901, CJA, 1,75 A Be 2, Nr. 326 #556, Bl. 65).

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benfolgen, wie etwa die neue Gefahr, dass ein hoch spezialisierter jüdischer Handwerkerstand antisemitischen Agitatoren in die Hände spielen könnte, wurden dabei außer Acht gelassen beziehungsweise nicht wahrgenommen. Insgesamt bietet das Aktivitätsfeld der jüdischen Berufsfürsorge jedoch Anlass für eine kritische Betrachtung der prinzipiellen Unterscheidung von Vorsorge und Prävention: Denn die Einschätzung, dass die Berufsstruktur der jüdischen Bevölkerung Anlass für antisemitische Kritik sei, basierte zwar nicht auf wissenschaftlichen Erhebungen, sondern auf Erfahrungs- und Diskurswissen. Diese Wissensformen erwiesen sich jedoch meines Erachtens als zuverlässig bei der Beurteilung der Lage, so dass die Frage berechtigt erscheint, ob die Umsetzung dieses Wissens in Praktiken nicht auch Züge von präventivem Handeln trägt.

EINWANDERUNG OSTEUROPÄISCHER JUDEN Zwischen 1880 und 1914 durchquerten etwa zwei Millionen osteuropäische Juden bei ihrer Flucht vor wirtschaftlicher Not und antisemitischer Verfolgung Deutschland. Etwa 78.000 von ihnen blieben aus unterschiedlichen Gründen langfristig in Deutschland. 58 Die erstarkende antisemitische Bewegung hatte in den einwandernden osteuropäischen Juden eine neue Zielscheibe gefunden, in denen sie kollektiv tradierte Vorurteile über das traditionelle „Ghettojudentum“ verkörpert sahen. In den 1880er und den 1890er Jahren setzte sie sich teilweise sogar erfolgreich für Grenzsperren und Ausweisungen von Ostjuden aus Deutschland ein.59 Von ihren deutschen Glaubensgenossen konnten sich die osteuropäischen Juden nicht uneingeschränkt Unterstützung und Schutz vor antisemitischen Anfeindungen erhoffen. Denn die deutschen Juden standen den „Ostjuden“ höchst ambivalent gegenüber und teilten im gewissen Maße die Vorurteile der nichtjüdischen Bevölkerung, zumindest befürchteten viele deutsche Juden jedoch einen angesichts der Einwanderung erstarkenden Antisemitismus. 60

58 Vgl. Blank: Heimat (wie Anm. 6), S. 326. 59 Vgl. Trude Maurer: Ostjuden in Deutschland, 1918–1933 (Hamburger Beiträge zur Geschichte der deutschen Juden 12). Hamburg 1986, S. 74. 60 Zum Verhältnis der westeuropäischen Juden im Allgemeinen beziehungsweise den deutschen Juden im speziellen zu den osteuropäischen Juden ist bereits eine Fülle von Publikationen veröffentlicht worden. stellvertretend sei hier auf die beiden grundlegenden Studien Steven E. Aschheim: Brothers and Strangers. The East European Jew in German and German Jewish Consciousness, 1800–1923. Madison 1982 und auf die

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Schon früh begannen sich jüdische Organisationen mit der jüdischen Ein- beziehungsweise Durchwanderung aus Osteuropa zu befassen. So wurde etwa die Alliance Israelite Universelle (gegründet 1860) aktiv, als Ende der 1860er Jahre infolge einer Hungersnot vermehrt litauische Juden nach Westen wanderten und die jüdischen Gemeinden im ostpreußischen Grenzgebiet keine Hilfe im notwendigen Umfang leisten konnten.61 Grob zusammengefasst gab es dabei drei Ansatzpunkte in der Wohltätigkeit jüdischer Institutionen gegenüber osteuropäischen Juden: Erstens wurde versucht, diese von der Auswanderung abzuhalten, vor allem durch wirtschaftliche Hilfsmaßnahmen in den Heimatländern. Hier waren die erwähnte Alliance, der Hilfsverein der deutschen Juden (gegründet 1901), Unabhängige Orden B’nai Brith (gegründet in den USA 1843), aber auch der Jüdische Frauenbund (gegründet 1904) wichtige Akteure. In dem Bericht über die zweite Delegiertenversammlung des Jüdischen Frauenbundes von 1907 forderte etwa Bertha Pappenheim: Wir aber müssen auch dafür sorgen, daß arme jüdische Mädchen den Antisemitismus nicht verbreiten, wir müssen verhindern, daß durch den Broterwerb vermürbte Mädchen den Bordellwirten in die Hände fallen.62

Und später führt Sidonie Werner aus: Vor allem in Galizien müsste energisch mit der Arbeit eingesetzt werden. Das jüdische Zweigkomitee zur Bekämpfung des Mädchenhandels hat dieses Ziel ins Auge gefasst. [...] Der Frauenbund soll die Bahnhofs- und Schiffsaufsicht für jüdische Frauen, Mädchen und Kinder in den Großstädten und Grenzstädten, sowie die Gründung von Auskunftsstellen in Angriff nehmen.63

Die Rednerinnen forderten, eine universell ansetzende und frühzeitige Intervention an solchen Strukturen anzusetzen, unter denen die Verschleppung und Zwangsprostitution von Frauen und Mädchen stattfand, und den Frauenhandel schon in den Heimatländern durch Aufklärungsarbeit und Überwachung einzugrenzen. Das Ziel der Arbeit des Frauenbundes war es hier ausdrücklich auch zu innovative Perspektive von Jack Wertheimer: Unwelcome Strangers. East European Jews in Imperial Germany. New York 1987 verwiesen. 61 Vgl. Brinkmann: Migration (wie Anm. 6), S. 68f. 62 Bericht über die Zweite Delegiertenversammlung des Jüdischen Frauenbundes, in: Allgemeine Zeitung des Judentums, 18.10.1907, S. 500. 63 Ebd., S. 501.

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verhindern, dass der „jüdische“ Frauenhandel antisemitische Vorurteile in der deutschen Bevölkerung fördern könnte. Diese Annahme beruhte auf Wissensbeständen, die sich aus eigenen Erfahrungen und vor allem aus jüdischen Presseerzeugnissen ableiteten. Diese Gefahrenwahrnehmung war durchaus berechtigt, denn tatsächlich bediente sich der Antisemitismus der Wilhelminischen Zeit stärker „ostjüdischer“ Klischeebilder und beschwor eine angebliche „Ostjudengefahr“ herauf. Unter diesem Eindruck, jedoch nicht auf der Basis systematisch erhobenen Wissens, entschieden sich deutsch-jüdische Organisationen dazu, vorsorgende Maßnahmen zu ergreifen, um die Gefahr antisemitischer Anfeindungen möglichst frühzeitig einzuhegen, also nicht das Risiko des Nichtstuns einzugehen. Die im zweiten Teil des Zitats benannten Maßnahmen setzten an einem zweiten Punkt an, nämlich dafür zu sorgen, dass diejenigen osteuropäischen Juden, hier Jüdinnen, die sich nun schon auf die Flucht begeben hatten, die Häfen zur Ausreise nach Übersee auch erreichten und während der Weiterreise versorgt wurden. Mit diesem Bündel präventiver Maßnahmen versuchten Akteurinnen und Akteure der Wohltätigkeit, dem Zuzug sogenannter Ostjuden frühzeitig vorzubeugen. Neben den im großen Rahmen operierenden Organisationen gründeten sich an vielen Orten lokale Komitees, die sich in diesem Bereich engagierten, wie zum Beispiel die Kommission zur Unterstützung durchreisender Juden in Berlin.64 Außerdem befasste sich auch die Armenkommission der jüdischen Gemeinde mit den durchreisenden osteuropäischen Flüchtlingen, etwa wenn sie in ihrem Bericht für 1890 bis 1892 dazu aufrief, „die auf der Durchreise befindlichen und in Noth gerathenen Glaubensgenossen [...] durch Gewährung von Logie- resp. Reise- und Zehrgeld zu unterstützen, bezw. für ihre Weiterbeförderung Sorge zu tragen“.65 In diesem Kontext wurde es für „zweckmäßiger“ erachtet, sich durch Investitionen gegen das Risiko eines dauerhaften Aufenthaltes von osteuropäischen Juden in der jüdischen Gemeinde Berlin abzusichern, „für die Beförderung der Durchziehenden Opfer zu bringen, als abzuwarten, bis die in Rede stehenden Personen [...] der Gemeinde dauernd zur Last fallen“.66 Drittens gab es Vereine und Organisationen, die sich um die Versorgung und Unterbringung derjenigen osteuropäischen Juden kümmerten, die langfristig, zumindest jedoch vorübergehend bleiben würden. Diese Vereine waren in Berlin und Umgebung vor allem die Arbeiterkolonie Weissensee und das Erste Waisenhaus der jüdischen Gemeinde zu Berlin. Während das Erste Waisenhaus Anfang 64 Vgl. Satzungen für die Kommission zur Unterstützung durchreisender Juden, CAHJP, D/Be4/316. 65 Bericht der Armen-Kommission der jüd. Gem. in Berlin umfassend die Jahre 1890– 1892, CJA, 1,75 A Be 2, Nr. 54 #280, Bl. 53. 66 Ebd.

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der 1890er Jahre seine Arbeit bereits auf jüdische Jungen aus deutschen Elternhäusern umorientierte, nahm die am 14. September 1902 eröffnete Jüdische Arbeiterkolonie und Asyl in Weissensee bei Berlin gleichzeitig deutsche und osteuropäische Juden auf. Ihr Zweck bestand in erster Linie darin, die sogenannte „Wanderbettelei“ 67 einzuschränken und die „wirthschaftliche und moralische Lage“68 jüdischer Bedürftiger zu stärken. Neben diesen drei Ansatzpunkten der Verhinderung, Begleitung und Folgenabfederung der Migration osteuropäischer Juden wurde im Laufe der 1890er Jahre noch ein weiterer Typ von Maßnahmen notwendig: Als aufgrund von hygienischen und medizinischen Problemen vermehrt Flüchtlingen die Einreise in die USA verweigert wurde, bestand eine neue Herausforderung darin, die Flüchtlinge wieder in ihre Heimatländer, zumindest jedoch bis zur deutschen Ostgrenze zurückzuführen. Für diesen Zweck entstanden folglich spezielle Rückführungskomitees.69 Bei der Betrachtung der Maßnahmen jüdischer Wohltätigkeit im Kontext der Einwanderung osteuropäischer Juden zeigt sich ein komplexes Bild des Zusammenwirkens von Maßnahmen und Wissensbeständen. Einerseits wurden äußerst vorausschauend und in Form eines auf drei beziehungsweise, bei Einbeziehung der Remigration, vier Phasen der Migration angelegten Reaktionsschemas auf die Einwanderung reagiert. Andererseits speisten sich die hier wirksamen Praktiken wiederum nicht, wie klassische Lesarten der Prävention nahelegen würden, aus exaktem wissenschaftlichem Wissen. Im Ergebnis zeigt sich: Vorsorgende und präventive Praktiken gingen ineinander über und ließen sich nicht trennscharf unterscheiden.

FAZIT Am Beispiel der jüdischen Minderheit im deutschen Kaiserreich ließ sich die Komplexität des risikobezogenen Handelns von „modernen“ Akteuren herausarbeiten, also die Gleichzeitigkeit von üblicherweise als „vormodern“ und „modern“

67 Satzungen des Vereins „Jüdische Arbeiterkolonie und Asyl in Weißensee bei Berlin“, CJA, 1,75 A Be 2, Nr. 299 #529, Bl. 1 u. Erster Rechenschaftsbericht des Vereins „Jüdische Arbeiterkolonie und Asyl“ in Weißensee bei Berlin. Bis 31. December 1902, CJA, 1,75 A Be 2, Nr. 299 #529, Bl. 1. 68 Satzungen Arbeiterkolonie (wie Anm. 67), Bl. 1. 69 Vgl. Schlussbericht des Deutschen Central-Komitee für die russischen Juden, Berlin, den 27. Januar 1898, CAHJP, AHW/821, Bl. 1ih.

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narrativierten Bearbeitungsweisen von Zukunft herausstellen und dadurch eben jene Kategorisierungen in Frage stellen. Bei der Gründung und Ausgestaltung der Ferienkolonien wurde stark auf das schon durch die allgemeine Ferienkoloniebewegung akkumulierte Wissen zurückgegriffen. Hier spielten medizinische Erkenntnisse über die körperliche Konstitution von Kindern und speziell armutsbedingte Krankheiten und Mangelerscheinungen eine Rolle. Die Ansätze, die Zukunft dieser Kinder und damit der jüdischen Gemeinschaft zu sichern, sind vor allem im Bereich der Prävention zu verorten. Hier wurden also die Gefahren einer Chronifizierung schon vorhandener Krankheiten und die Langzeitschäden durch Mangelernährung wahrgenommen und durch wohltätige Interventionen in Risiken transformiert. Die vereinzelt auftretenden Aussagen, die sich explizit auf die jüdische Gemeinschaft beziehen, formulieren nicht etwa den Antisemitismus in seiner Pathologisierung des jüdischen Körpers als Gefahr, sondern zeichnen vielmehr ein demographisches Bedrohungsszenario. Die jüdische Berufsvorsorge dagegen war stark in den schon in der frühen Emanzipationszeit ausgebildeten Wissensbeständen geprägt. Hier waren es vor allem Praktiken, die einer weiteren Ausbreitung des Antisemitismus Einhalt gebieten sollten, allerdings nicht die konkrete Gefahr in den Blick nahmen, dass sich die Berufsverbände im Bereich des Handwerks der Agitation von Antisemiten wie Adolf Stöcker in ihre Kampagnen integrieren würden. Die Projekte der jüdischen Berufsumschichtung waren also im Wesentlichen defensiv in Bezug auf die äußere Gefahr des Antisemitismus ausgerichtet und hatten im Gegensatz zu den gesundheitspolitischen Aktivitäten weniger die jüdische Minderheit in ihrer Gefährdung als demographische Größe im Blick. Im Bereich des Umgangs mit den osteuropäischen Juden als Herausforderung für die Zukunftssicherung der deutsch-jüdischen Gemeinschaft ergibt sich ein interessantes Bild: Hier werden sehr frühzeitige und breit ansetzende Maßnahmen gefordert, die sich in der Prävention verorten lassen. Der tatsächlich äußerst geringe Umfang der Einwanderung von osteuropäischen Juden im Kaiserreich stand allerdings in keinem Verhältnis zu den Maßnahmen, die von jüdischen Organisationen ergriffen wurden. Es ist nicht unwahrscheinlich, dass sich hier ein übliches Problem bei der Untersuchung der Wirksamkeit präventiver Maßnahmen im Allgemeinen abzeichnet: Denn es lässt sich nicht konstruieren, wie hoch die Einwanderungszahlen osteuropäischer Juden ohne die Abwehrmaßnahmen der deutschjüdischen Organisationen gewesen wären. Andererseits hatte die Reaktion der deutschen Juden auf die Migration osteuropäischer Juden durchaus Züge einer Panikreaktion, die vor allem auf den Antisemitismus als Gefahr zurückging. In diesem Bereich des wohltätigen Handelns wurde tatsächlich nur im geringen Umfang

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auf statistisches Wissen zurückgegriffen, um die Gefahr des langfristigen Verbleibs von osteuropäischen Juden einzugrenzen und als Risiko handhabbar zu machen. Die Wahrnehmungen alter und neuer Gefahren und die damit verbundenen Bearbeitungsweisen waren also vielschichtig, was anhand der Praktiken und Diskurse im Bereich der jüdischen Sozialpolitik belegt wurde. Besonders der Bereich der Maßnahmen der jüdischen Berufsumschichtung und der Bezug auf die Einund Durchwanderung von osteuropäischen Juden zeigt, dass präventive Maßnahmen nicht ausschließlich auf exaktes Wissen, etwa durch statistische Erhebungen zurückgreift, sondern auch auf Diskursen in der Presse, im Bereich der Populärwissenschaft und direktem und abgeleitetem Erfahrungswissen basieren kann. Für eine individualisiertere Perspektive, die etwa auch persönliche Erfahrungen mit Antisemitismus oder osteuropäischen Juden einschließt, wäre das Heranziehen von Egodokumenten der Akteure nützlich. So könnten etwa persönliche Korrespondenzen, biographische Berichte und Memoiren auf biographische Erfahrungen etwa im Berufsleben oder mit unterschiedlichen Ausformungen des Antisemitismus hin geprüft werden. Auch können sie aufschlussreich über die geographische Herkunft der Akteurinnen und Akteure sein, deren Wurzeln teilweise selbst in Osteuropa lagen, die sich aber schon lange in der deutsch(-jüdischen) Gesellschaft akkulturiert hatten beziehungsweise sich als akkulturiert begriffen. Auf diese Weise könnte neben sozial abgeleiteten Wissensbeständen auch das Erfahrungswissen als Teil des subjektiven Wissensbestandes einbezogen werden. Dadurch könnte anhand der jüdischen Minderheit im deutschen Kaiserreich noch genauer ausgelotet werden, inwiefern die Trennung zwischen Vorsorge und Prävention analytisch sinnvoll und empirisch bestimmbar ist.

Monströse Verantwortung Frankenstein und seine Kreatur als Personifizierungen von Risikosystemen Martin Sablotny

Debatten um die Auswirkungen wissenschaftlich-technologischen Fortschritts spielten sich im frühen 19. Jahrhundert vor dem Hintergrund tiefgreifender gesellschaftlicher Veränderungen ab, deren zukünftige Entwicklung im höchsten Maße ungewiss war. Die eklatante Zunahme von Kontingenzerfahrung im Zuge der Modernisierung ging, da sie eine für alle sichtbar menschengemachte Entwicklung war, mit einer zunehmenden Dominanz von Risikodebatten gegenüber anderen klassischen Formen der Kontingenzbewältigung einher, welche menschliche Verantwortung für ungewisse Ereignisse ausklammerten. Neu am Risikoparadigma ist vor allem die Annahme von Verantwortung für ungewisse Folgen menschlichen Handelns durch irgendeine Form der Kalkulation. Diese These ist zentral für alle theoretischen Ansätze, die Risikohandeln als ein genuin modernes oder jedenfalls tendenziell in der Moderne zu verortendes Phänomen betrachten.1 Der vorliegende Aufsatz demonstriert an zwei populären Beispielen, wie literarisches und filmisches Erzählen an Debatten um Risikoverantwortung anschließt und dabei wichtige Problemstellungen und Konzepte narrativ ausbreitet, die im wissenschaftlichen Spezialdiskurs noch nicht auf den Begriff gebracht sind. Ich beziehe mich auf Mary Shelleys Roman Frankenstein or the modern Prometheus (1818) und dessen filmische Verarbeitung in James Whales Frankenstein (1931). Gerade da zu den Entstehungszeiten beider der Terminus ‚Risiko‘ noch

1

Vgl. Ortwin Renn/Pai-Johanna Schweizer/Marion Dreyer/Andreas Klinke: Risiko – Über den gesellschaftlichen Umgang mit Unsicherheit. München 2007, S. 51–53.

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nicht in dem Maße ubiquitär verwendet wurde, wie dies in der heutigen ‚Risikogesellschaft‘ der Fall ist,2 interessiert mich die Frage, inwiefern die künstlerischen Annäherungen eine Vorstellung von dem Verhältnis von Risiko und Verantwortung entwickeln. Über Risiken im Zusammenhang mit wissenschaftlich-technologischen Neuerungen zu sprechen, geht einerseits mit dem Versuch einher, sie auf einen verantwortlichen Entscheidungsträger zurückzuführen, der eine spezifische Entwicklung forciert hat, andererseits bedeutet es, in den Blick zu nehmen, wie sich diese Entwicklung zunehmend der Beeinflussbarkeit durch einzelne Entscheidungsträger entzieht. Durch das Figurenpaar des Forscherprotagonisten Frankenstein und seiner Kreatur werden diese beiden sich gegenüberstehenden Aspekte repräsentiert. Deshalb deute ich Shelleys Roman wie auch Whales Film als narrative Auseinandersetzungen mit dem Verantwortungsparadox. Sie dienen darüber hinaus der vergleichenden Betrachtung unterschiedlicher Risikowahrnehmungsmuster, die aus verschiedenen Arten, über Risiken zu erzählen, resultieren. Wenn Risiken eher in Form von Bedrohungsszenarien verhandelt werden, stiftet dies ein anderes Verhältnis zu ihnen, als wenn eine Abwägung von möglichem Schaden und Chancen auserzählt wird, die riskanten Entscheidungen zugrunde liegt.

WARNUNG DES FORSCHERS – ZUR RAHMENHANDLUNG IN MARY SHELLEYS FRANKENSTEIN Shelleys Roman lädt in besonderem Maße zu einer Interpretation unter dem Gesichtspunkt der Risikowahrnehmung ein: Er erzählt nicht nur die Geschichte eines riskanten Unterfangens, sondern auch von der Wahrnehmung dieser Geschichte als einer Lehre über den richtigen Umgang mit Risiken. Insbesondere die Rahmenhandlung dient der Reflexion über Risikowahrnehmung. Im Roman kommen mehrere Erzähler zu Wort: Der Erzähler im größten Teil des Textes ist der Forscherprotagonist Frankenstein. Dieser Teil schließt einen kürzeren Abschnitt ein, in dem sein Geschöpf als Erzähler fungiert. Erzähler der Rahmenhandlung aber ist der Entdeckungsreisende Robert Walton, der als fiktiver Autor Frankensteins Erzählung niederschreibt und in Briefen an seine Schwester in England sendet – also dessen erster Rezipient. Walton befindet sich auf einer Expedition, bei der er mit dem Schiff von St. Petersburg aus eine Passage zum Nordpol entdecken

2

Ulrich Beck: Risikogesellschaft. Auf dem Weg in eine andere Moderne. Frankfurt a. M. 1986.

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möchte. Dabei trifft er auf Frankenstein, der dem Tod nahe auf einer Scholle vor Waltons Schiff treibt. Das Schiff selbst steckt im dichter werdenden Packeis mehrere Tage fest. Walton nimmt Frankenstein auf und lässt sich dessen Lebensgeschichte erzählen. Frankenstein unterbricht sich dabei immer wieder mit Warnungen vor den Folgen der Hybris menschlichen Entdeckerwillens, wobei eine gewisse Skepsis angesichts des Exempelcharakters seiner Erzählung anklingt: Learn from me, if not by my precepts, at least by my example, how dangerous is the acquirement of knowlegde […].3

Aus dem negativen Vorbild Frankensteins wird in der als Abschreckung gedachten Erzählung auch ein Faszinosum, das zur Nachahmung anregt. Deswegen erzählt Frankenstein Walton nur eine Geschichte über die Folgen seiner Arbeit und spart deren Details aus Furcht, damit ein unheilvolles Wissen in die Welt zu bringen, wohlweislich aus. Waltons mehrfache Versuche, von Frankenstein Einzelheiten über die Erschaffung seines Geschöpfes zu erfahren, werden von Frankenstein rigide zurückgewiesen. Mit seinem Argwohn behält er Recht: Am Ende des Romans zeigt sich deutlich die Ambiguität der Erzählung. Nach Frankensteins Tod auf dem Schiff löst sich das Packeis wieder. Die von den Widrigkeiten der Fahrt schwer auf die Probe gestellte Mannschaft (es gab bereits mehrere Tote) fordert von Walton die sofortige Umkehr nach Süden. Es spricht zunächst nichts dafür, dass Walton aus Frankensteins Geschichte gelernt hat, als er, beflügelt von dessen Risikobereitschaft und Entdeckergeist, seinen Männern vorhält, Feiglinge zu sein: Did you not call this a glorious expedition? and wherefore was it glorious? Not because the way was smooth and placid as a southern sea, but because it was full of dangers and terror […].4

Letztlich erkennt er jedoch, dass er die Verantwortung für deren weitere Gefährdung nicht tragen kann und willigt in die Rückkehr ein.

3

Mary Shelley: The Novels and the Selected Works. Bd. 1: Frankenstein or the Modern Prometheus. Hg. v. Nora Crook. London 1996, S. 36.

4

Shelley: Frankenstein (wie Anm. 3), S. 163.

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DER SCHÖPFER – ERZÄHLERISCHE ZUORDNUNG VON VERANTWORTUNG Waltons Rolle als Expeditionsleiter deutet auf einen wichtigen Aspekt von Risikohandeln hin, der in Shelleys Roman thematisiert wird und auf den meine Interpretation im Wesentlichen aufbaut: das Tragen von Verantwortung. In Niklas Luhmanns Definition ist der Risikobegriff an einen Entscheider gekoppelt, dem die Verantwortlichkeit für einen möglichen Schadensfall zugerechnet werden kann.5 Was für den Handelnden als Risiko erscheint, ist für die von den Auswirkungen dieser Entscheidung betroffenen Dritten, die selbst nicht auf die Entscheidung einwirken können, eine Gefahr. Jedoch ist in vielen Fällen von Risiko eine eindeutige Zuordnung von Verantwortung schwer möglich, wenn in einem komplexen System zwischen Handelnden und Betroffenen nicht mehr zu unterscheiden ist. Wolfgang Bonß führt dazu – in Zusammenfassung einer umfangreichen Debatte um solche Zuordnungsschwierigkeiten – die Unterscheidung zwischen individuellen Risikohandlungen und Risikosystemen (auch ‚Gefahren zweiter Ordnung‘) an.6 Letztere sind mit wissenschaftlich-technologischen Entwicklungen eng verbunden: So ist die Zuweisung originärer Leistungen von Wissenschaftlern meist medial gesteuert. Und welche Risiken von einzelnen Neuerungen ausgehen, stellt sich oft erst zeitlich verschoben heraus, weil sie in einem anderen Zusammenhang angewendet werden, als von den Urhebern intendiert. Gerade in solchen Fällen von Risikosystemen dienen Erzählungen der Komplexitätsreduktion: Wo kein Verantwortlicher auszumachen ist, wird er narrativ erzeugt. Dabei kann es sich auch um eine fiktive Figur handeln. Viktor Frankenstein taucht in Shelleys Roman als der Naturforscher auf, in dessen Arbeit sich die wissenschaftlichen Bemühungen von Jahrhunderten erfüllen. Er ist eine Figur genialisch schöpferischer Autonomie. In zweifelhafter Bescheidenheit sagt er selbst über sich: I was surprised that among so many men of genius, who had directed their inquiries towards the same science, that I alone should be reserved to discover so astonishing a secret. 7

5

Vgl. Niklas Luhmann: Soziologie des Risikos. Berlin/New York 2003, S. 30–33.

6

Wolfgang Bonß: Vom Risiko. Unsicherheit und Ungewissheit in der Moderne. Hamburg 1995, S. 62–65.

7

Shelley: Frankenstein (wie Anm. 3), S. 36.

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Damit zeigt sich Frankenstein als der herausgehobene (Stell-)Vertreter von Wissenschaft in Vergangenheit und Gegenwart. Bereits der Titel des Romans Frankenstein or the Modern Prometheus gibt durch seinen Anschluss an den Prometheus-Mythos einen Hinweis auf das Genie-Narrativ, welches den Protagonisten Frankenstein charakterisiert. Es handelt sich in diesem Fall aber um eine negativ konnotierte Abwandlung des Narrativs. Der entscheidende Unterschied zwischen Prometheus und Frankenstein besteht darin, dass Prometheus sich der Entwicklung seiner Schöpfung als ihr Lehrmeister verpflichtet fühlt. Frankenstein hingegen wendet sich von seinem Geschöpf ab, sobald es zum Leben erwacht. Kennzeichnend für Frankenstein ist, dass ihm die Verantwortlichkeit für die Folgen seines Projekts zwar zugerechnet werden kann, er selbst aber keine Verantwortung dafür übernimmt, indem er über den unsicheren Ausgang seines Experiments anfänglich gar keine Überlegungen anstellt. Frankenstein will in erster Linie die technische Realisierbarkeit künstlicher Schöpfung unter Beweis stellen. Sobald ihm dies gelungen ist, stellt er erschrocken fest, welch folgenschweres und leider nicht in einem sicheren Versuchsrahmen abgegrenztes Experiment damit beginnt, dass das Geschöpf nun ein Eigenleben entwickelt und damit seiner Kontrolle entzogen ist. Er flieht daraufhin vor seiner Verantwortung und vor seinem Geschöpf. Dass sich die Eigenmächtigkeit der Kreatur nun auch gegen ihren Schöpfer wenden könnte, erscheint im Verlauf der Handlung als selbsterfüllende Befürchtung. Die Tragik des Romans besteht in einem Konkurrenzverhältnis zwischen künstlicher Schöpfung und natürlicher Reproduktion. Frankensteins Geschöpf, von seinem Schöpfer alleingelassen und von den Menschen aufgrund seiner Hässlichkeit gefürchtet, fordert von seinem Schöpfer eine Gefährtin, die ihm dieser schließlich verweigert, aus Furcht vor den weiteren unabsehbaren Folgen. Daraufhin ermordet der Homunkulus im Verlauf der Handlung die gesamte Familie seines Schöpfers. Sein Rachefeldzug gipfelt in der Ermordung von Frankensteins Frau in der Hochzeitsnacht. Die Risiken, die Frankensteins Kreatur verkörpert, lassen sich in zwei Kategorien einteilen: Zum einen ein Risiko für die Identität des Protagonisten, zum anderen eines für unbeteiligte Dritte. Frankensteins persönlicher Schaden besteht darin, dass sein Anspruch auf Autonomie als schöpferisches Subjekt, seine erstrebte Selbstverwirklichung durch das wissenschaftliche Vorhaben ad absurdum

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geführt wird.8 Im Streit zwischen Frankenstein und seinem Geschöpf, in dem dieser ihm abermals den Wunsch nach einer Gefährtin ausschlägt, bringt es der Homunkulus auf den Punkt: „You are my creator, but I am your master; – obey!“9 Der Verantwortung für sein Handeln gegenüber seinen Mitmenschen wird Frankenstein vor allem nicht gerecht, weil er ihnen die Existenz des Monsters verschweigt, wodurch das Risiko für sie immens steigt. Fast alle Morde im Roman hätten verhindert werden können, wenn er die Opfer rechtzeitig gewarnt hätte. Hierin liegt ein weiterer Aspekt in der Wahrnehmung von Risikosystemen, die in der Erzählung auf die Forscherfigur übertragen werden: Für den Laien sind wissenschaftlich-technologische Neuerungen etwas, das in hohem Maße auf das Alltagsleben Einfluss nimmt, dessen Ursprünge aber gänzlich undurchsichtig sind. Bei Risikosystemen von Wissenschaft und Technik ist die Ermittlung einer ursächlichen Entscheidung schlicht ein Problem unauflösbarer Komplexität. Die Geschichte Frankensteins liest sich dagegen einfacher: Ursachen von Risiken sind hier als dunkles Geheimnis beschrieben. Sie werden von dem für die Risiken Verantwortlichen absichtsvoll verschwiegen. Dieses Erzählmoment macht die Frankenstein-Figur für Narrative über wissenschaftlich-technologische Risiken so anschlussfähig. Es verweist darauf, dass wissenschaftliche Arbeit in einen institutionellen Kontext eingebunden sein und auch gegenüber einer außerwissenschaftlichen Öffentlichkeit kommuniziert werden sollte. Frankensteins gesamte Arbeit ist arkan.10 Er kommuniziert sein Vorgehen weder in der Fachwelt, zum Beispiel gegenüber seinen Lehrern an der Universität,

8

Vgl. Eva Kormann: Künstliche Menschen oder der moderne Prometheus – Der Schrecken der Autonomie bei Mary Shelley, E.T.A. Hoffmann und Villiers de L’Isle-Adam, in: Eva Kormann/Anke Gilleir/Angelika Schlimmer (Hg.): Textmaschinenkörper. Genderorientierte Lektüren des Androiden. Amsterdam 2006, S. 87–109, bes. S. 94–96.

9

Shelley: Frankenstein (wie Anm. 3), S. 130.

10 Eva Horn beschreibt die spezifische Funktion der literarischen Figur des exzessiven Wissenschaftlers darin, den Bezug zwischen „offizieller und arkaner, disziplinärer und nicht-disziplinärer“ Wissensgenese auszuloten: „Indem sie seine Neugierde über die Grenzen des Erlaubten hinweg exploriert, ist sie ein Gedankenexperiment auf die Funktionsweisen dieser Grenzen und die Verfasstheit eines wissenschaftlichen Kanons, der genau in dieser Überschreitung überhaupt als solcher erst sichtbar wird.“ Eva Horn: Abwege der Forschung. Zur literarischen Archäologie der wissenschaftlichen Neugierde (Frankenstein, Faust, Moreau), in: Eva Horn/Bettine Menke/Christoph Menke (Hg.): Literatur als Philosophie – Philosophie als Literatur. München 2006, S. 153–171, hier S. 159.

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noch in einer Öffentlichkeit von Laien, etwa seiner Familie oder Freunden gegenüber. Für all diejenigen aber, die keinen Einblick in seine Entstehung haben, kann neues und unvertrautes Wissen verstörend sein.

DAS GESCHÖPF – EINE GESCHICHTE DES KONTROLLVERLUSTS Mittels der Figur des Monsters wird also das Problem der Kommunikation neuen Wissens sowie der Kommunikation und Wahrnehmung potentiell mit ihm einhergehender Risiken auserzählt. Es fungiert als eine symbolische Gegenfigur zu seinem Schöpfer. Die Gegenüberstellung von Aktion und Reaktion, Schöpfung und Zerstörung, die von den beiden Figuren verkörpert wird, führt konsequent in die Konfrontation von Kontrollanspruch und Kontrollverlust. An dieser Stelle setzt auch die Metareflexion des Textes über den fiktiven Charakter seines konkreten Risikoszenarios ein: Während Frankenstein Risikoverantwortung zugerechnet wird, steht seine Kreatur für die Verselbstständigung eines schwer kontrollierbar gewordenen Risikosystems. Die Emanzipation des Geschöpfs von seinem Schöpfer wird bereits in der Erzähltechnik deutlich. Die Art, wie der Erzähler Frankenstein den Monolog des Homunkulus in der Mitte des Romans einführt, suggeriert, er würde diesen anschließend indirekt wiedergeben: […] I consented to listen; and, seating myself by the fire which my odious companion had lighted, he thus began his tale.11

Im folgenden Textabschnitt spricht jedoch nicht der Erzähler Frankenstein – für ihn wäre die derart detaillierte Wiedergabe des von der Kreatur Erzählten unwahrscheinlich. Widersprechen würden sich außerdem der (mit vielen Pathosformeln gefüllte) Appell an das Mitgefühl seines Schöpfers, auf den der Monolog zielt, und der tiefe Hass, den Frankenstein zum Zeitpunkt seines Erzählens gegen das Monster verspürt.12 Das Geschöpf selbst übernimmt als dritter Ich-Erzähler.

11 Shelley: Frankenstein (wie Anm. 3), S. 76. 12 Vgl. zum Thema von Sympathie in Frankenstein und der Sympathielenkung durch das Erzählermodell Anna E. Clark: Frankenstein; or, the Modern Protagonist, in: ELH 81 (2014) 1, S. 245–268, bes. S. 244f.

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Freilich ist die Installation einer Rahmenhandlung mit der Schilderung einer Erzählgemeinschaft und anschließendem Erzählerwechsel kein originäres Verfahren. Im Vergleich jedoch zur Einbettung von Frankensteins Erzählung in die eingangs geschilderte Rahmenhandlung der Nordpolexpedition irritiert die Einführung dieser weiteren Binnenerzählung: Während die erste Rahmenhandlung erklärt, dass Walton Frankensteins Schilderungen aufschreibt, des Weiteren die Gestaltung dieser ersten Rahmenhandlung als Briefroman die Genese des Romantextes fingiert, entfällt hier eine Erklärung darüber, wie der Erzähler Frankenstein die Rede des Homunkulus-Erzählers fixiert. Das bisherige narrative Verfahren in der Verknüpfung der unterschiedlichen Erzählebenen wird gebrochen und damit auch die handlungslogische Erklärung dafür, wie die Erzählung der Kreatur in den Romantext gelangt. In diesem Bruch offenbart sich gewissermaßen ein Anspruch erzählerischer Autonomie des Geschöpfs. Es ist ein ausgesprochen komplex denkendes und fühlendes Wesen, das sich zudem sprachlich sehr elaboriert äußern kann, wie in seinem Monolog deutlich wird. Die Erzähltechnik dient dabei auch der Sympathielenkung des Rezipienten, denn das Geschöpf appelliert an Frankensteins Mitgefühl, um ihn zum Erschaffen einer Partnerin für ihn zu bewegen: […] I now see compassion in your eyes; let me seize the favourable moment, and persuade you to promise what I so ardently desire.13

Wenn nun aber die Kreatur den Status eines Subjekts erhält, hat dies auch Auswirkungen auf seine symbolische Funktion als Verkörperung eines Risikosystems. Die Wirkung einzelner Entscheidungen im Umgang mit ihm ist aufgrund der Komplexität eines psychischen Systems nicht mehr zu ermessen. Der Widerspruch zwischen Verantwortungszuweisung und Risikosystem wird also erzählerisch in einem Vater-Sohn-Konflikt repräsentiert, bei dem (erzieherische) Verantwortung und – je nach Perspektive – Emanzipation oder Kontrollverlust in einem schwer zu definierenden Verhältnis stehen. Um diese Konstellation noch einmal an das Wissenschaftssystem rückzubinden, kann das Monster als ein lebendig gewordenes Medium bezeichnet werden. Es repräsentiert das Risiko der Verbreitung von Frankensteins monströser Entdeckung, der Nachahmung seines folgenschweren Experiments. 14 Frankenstein versucht, eine Verbreitung seines Wissens zu vermeiden. Dies drückt sich zum einen

13 Shelley: Frankenstein (wie Anm. 3), S. 109. 14 Vgl. Andrew Burkett: Mediating Monstrosity. Media, Information, and Mary Shelley’s Frankenstein, in: Studies in Romanticism 51 (2012) 4, S. 579–605, bes. S. 584 und S. 590f.

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darin aus, dass er die Details seines Experiments in der Erzählung an Walton verschweigt, zum anderen darin, dass er sein Geschöpf bis zum Nördlichen Eismeer jagt, um es wieder zu beseitigen. In seiner spezifischen symbolischen Gestalt ist das Monster eine Verkörperung von Wissensgenese durch Kombination, Neuanordnung und Revitalisierung bereits vorhandenen Wissens sowie seiner Verselbstständigung. 15 Das Wissen, welches Frankenstein benötigt, um sein Projekt zu verwirklichen, umfasst Physiologie, Chirurgie, Medizin, Galvanismus und Chemie. Er entnimmt die Idee seines Vorhabens der Lektüre alter alchemistischer Schriften von Cornelius Agrippa, Albertus Magnus und Paracelsus, die er in Jugendjahren vorgenommen hat, und die Mittel seiner Umsetzung dem Studium moderner Naturwissenschaft und Medizin. So wie ihm sein gesammeltes Wissen das erfolgreiche Projekt der Vitalisierung ermöglicht, so setzt er sein Geschöpf aus gesammelten Leichenteilen und Tierkadavern zusammen, um ihm schließlich mithilfe elektrischer Kräfte Leben einzugeben. In der späteren (einsamen, rein rezeptiven) Sozialisation des Homunkulus wird erneut augenscheinlich das kombinatorische Prinzip vorgeführt: Nach seinen Streifzügen durch das Land versteckt er sich im Haus einer Familie, die er über mehrere Monate heimlich beobachtet. Dabei erlernt er die Sprache der Menschen. In diesem Haus findet er eine kanonische Sammlung an Literatur, mithilfe derer er sich eine humanistische Bildung aneignet. Seine intellektuelle und emotionale Entwicklung führt ihm auch vor Augen, wie einsam er ist: Mit Goethes Leiden des jungen Werther entdeckt er eine empfindsame Seite in sich, die in ihm die Sehnsucht nach einem Leben in Gemeinschaft weckt. Durch einen Band von Plutarchs Lebensbeschreibungen erschließt er sich die Welt von Gesellschaft und Politik, und Miltons Paradise Lost lässt ihn die eigene Existenz im Vergleich zur Erschaffung des Menschen durch Gott reflektieren: Like Adam, I was created apparently united by no link to any other being in existence; […] He had come forth from the hands of God a perfect creature, happy and prosperous […] but I was wretched, / helpless, and alone. Many times I considered Satan as the fitter emblem of my condition; for often, like him, when I viewed the bliss of my protectors, the bitter gall of envy rose within me.16

15 Vgl. ebd., S. 590f. 16 Shelley: Frankenstein (wie Anm. 3), S. 97.

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Die Sozialisation des Geschöpfs ist gänzlich von Zufällen geprägt, im Gegensatz zur planvollen Zusammensetzung seiner Physis durch Frankenstein. Dadurch entsteht ein augenscheinliches Bild für die im Prozess der Forschung ebenfalls oft vom Zufall abhängige Wissensgenese. Zugleich demonstriert diese Diskrepanz Frankensteins Kontrollverlust über das von ihm initiierte Projekt.17 Der Vergleich wird im entsprechenden Erzählabschnitt ganz deutlich aufgerufen, wenn der Homunkulus im Monolog direkt nach seinen Ausführungen der Eindrücke, die Paradise Lost bei ihm hinterlassen hat, auf die Tagebücher Frankensteins zu sprechen kommt, die dieser über seine Erschaffung geführt hat. Er hat sie in der Tasche eines Gewandes zufällig aus dem Laboratorium mitgenommen, kann sie nach dem Spracherwerb lesen und ist angewidert von der genauen Beschreibung jedes Details seiner Statur. Die symbolische Bedeutung der Art und Weise, wie Frankenstein seine Kreatur erschafft, beantwortet die Frage des irritierten Lesers, warum der Forscher für sein Experiment nicht eher einen leblosen, aber vollständigen Körper zu beleben versucht, als erst einen Körper zusammenzusetzen. Direkt hier schließt sich die Frage an, warum Frankenstein seine erlangten Fertigkeiten nicht nutzt, die Opfer des Monsters zum Leben zu erwecken. Die Antworten auf beide Fragen sind nicht in der Handlungslogik selbst zu suchen, sondern im beschriebenen symbolischen Verweischarakter der Kreatur. 18 Zum einen verkörpert ihre Zusammensetzung den Prozess von Wissenschaft, zum anderen verweist die fehlende Indienstnahme von Frankensteins Erkenntnissen für humane Zwecke auf eine Verselbstständigung wissenschaftlicher Entwicklung, die auch an den Bedürfnissen des Menschen vorbeigehen oder ihnen gar entgegenstehen kann. Für die Komplexität und schwere Beinflussbarkeit der Risiken, die mit einer solchen Entwicklung verbunden sind, stehen des Weiteren übermenschliche Größe und Kraft des Monsters, die den Menschen bedrohen oder zu bedrohen scheinen (denn anfangs verhält es sich ja friedlich, wird aber nichtsdestoweniger gefürchtet). Frankenstein hat nach eigener Erklärung aus praktischen Gründen sein Geschöpf in dieser Größe geschaffen, um bei dessen Zusammensetzung leichter hantieren zu können und weil sie es ihm ermöglicht, tierische Knochen für den Skelettbau zu verwenden. Die Tatsache, dass er die einfachere Handhabung bei

17 Es hätte vielleicht nicht denselben fatalen Ausgang genommen, wenn seinem Geschöpf nicht diese Bildung zuteil geworden wäre, welche ja auch eine Ursache für seinen Frust bildet. 18 Vgl. Alan Rauch: The Monstrous Body of Knowledge in Mary Shelley’s Frankenstein, in: Studies in Romanticism 34 (1995) 2, S. 227–253, hier S. 228–230.

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der Zusammensetzung der Kreatur der besseren Kontrolle nach dessen Vitalisierung vorzieht, offenbart ein weiteres Mal sein mangelndes Risikobewusstsein, die fehlende Kalkulation von eventuellen Folgen seines Unternehmens. Zusammengefasst haben die beiden besprochenen Figuren zweierlei Funktionen für den Text: Sie verkörpern in ihrem Konflikt miteinander erstens die paradoxe Konfrontation zwischen Verantwortungs- und Kontrollanspruch über Risiken (gesteigert zur Hybris der Selbstüberschätzung im Rahmen der Risikowahrnehmung) und dem Ohnmachtsgefühl, das angesichts der Komplexität und Größe von Risikosystemen aufkommt, wenn man für deren Bewältigung verantwortlich ist. Zweitens stellen sie in ihrer Charakteristik metareflexiv die Vereinfachungen zur Schau, die sowohl die Verantwortungszuschreibung an den Wissenschaftler als auch die Erzählung einer unkontrollierbaren Fortschrittsentwicklung enthalten. Bei Frankenstein geschieht dies durch die Beschreibung der Überheblichkeit, mit der er sich als schöpferischer Vollender wissenschaftlichen Fortschritts geriert. Bei dem Geschöpf geschieht es durch seine körperliche Zusammensetzung aus Flickwerk (Wissensgenese), seine übermenschliche Größe und Kraft (Komplexität) sowie durch seine erzählerische Eloquenz (Verselbstständigung).

FRANKENSTEIN ALS NEGATIVVORBILD FÜR WISSENSCHAFT BEI SHELLEY Das Projekt Frankensteins ist abschreckendes Beispiel und inspirierendes Faszinosum zugleich. Das Monster weckt einerseits Schrecken, andererseits Mitleid beim Leser. Diese ambige Rezeption, die auch textintern verhandelt wird, macht die Figuren keinesfalls allein als Ausdruck einer risikoaversen Perspektive auf naturwissenschaftliche Neuerungen interpretierbar. Im Gegenteil: Die (Selbst-)Inszenierung des Forschers schließt an ein traditionsreiches Narrativ an, welches die Position des institutionellen Außenseiters zu einer Bedingung von Innovation macht – um es mit einem jüngeren Terminus auszudrücken, der im Kontext von Shelleys Roman ahistorisch klingen mag. Der Begriff der Innovation beschreibt die Chancenseite von Risiken wissenschaftlich-technologischer Entwicklungen. Mit ihm lässt sich sehr gut demonstrieren, welches Dilemma dem Forscher als Risikofigur im Roman eingeschrieben ist. Wenngleich der Innovationsbegriff erst im Verlauf des 19. Jahrhunderts seine heutige Bedeutung und damit auch eine

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größere Relevanz erlangte,19 gehe ich, wie bereits anhand des Risikobegriffs geschildert, davon aus, dass Erzählungen in der Lage sind, Probleme zu fassen, die noch nicht auf den Begriff gebracht sind. Von den im frühen 20. Jahrhundert aufkommenden sozialwissenschaftlichen Definitionen von Innovation sind im Zusammenhang mit Risikohandeln vor allem diejenigen interessant, welche die wirtschaftlich-sozialen Voraussetzungen für Innovation zu bestimmen suchen: etwa soziale Marginalität als begünstigender Faktor bei Georg Simmel und Ernst Grünfeld.20 Ich nehme für die folgenden Überlegungen an, dass Shelley diese Analyse erzählerisch vorwegnimmt, indem der Selbststilisierung Frankensteins die Vorstellung zugrunde liegt, eine prekäre, periphere Stellung innerhalb der Gesellschaft begünstige die eigene Innovationsfähigkeit, da Innovation das Eingehen von Risiken voraussetzt. Pierre Bourdieus Habituskonzept liefert eine Erklärung dafür, warum Risikokalkulationen mal mehr vor dem Hintergrund des Bestandschutzes und mal mehr vor dem Hintergrund von Innovationsfähigkeit angestellt werden: Wer über genügend soziales und symbolisches Kapital verfügt, wird bestrebt sein, dieses Kapital zu sichern und seinen damit verbundenen Habitus zu verteidigen. Er wird Risiko eher in Abgrenzung zu Sicherheit definieren und Risiken meiden. Wer über wenig oder kein Kapital verfügt, wird eher Risiken eingehen, um seine Chancen zur Etablierung im sozialen Feld zu erhöhen.21 Dabei ist es in einer Erzählung durchaus möglich, dass es sich bei der Stilisierung zum genialischen ‚Sonderling‘ der Wissenschaft gleichsam bereits um den Bestandteil eines Habitus handelt, der auf eben jenen

19 Es war die moderne Ingenieurswissenschaft, die mit dem Anspruch der Erfindung von etwas genuin Neuem antrat. Im 18. Jahrhundert wurden Wissenschaft und Forschung noch eher in dem Verständnis der Ergründung des Wahren unternommen. Und wo Naturforscher schöpferisch tätig waren, geschah dies – deskriptiv und reflexiv – als eine Nachahmung göttlicher Schöpfung. Nichtsdestoweniger gab es im Bereich der Umsetzung menschlicher Schöpfungs- und Machbarkeitsphantasien Neuerungen, die als innovativ angesehen werden können. Und es gab auch eine Vorstellung davon, wie Innovationen entstehen. Siehe hierzu: Arnold Zingerle: Innovation, in: Joachim Ritter/Karlfried Gründer (Hg.): Historisches Wörterbuch der Philosophie. Bd. 4: I–K. Basel/Stuttgart 1976, S. 391–393. 20 Georg Simmel: Exkurs über den Fremden, in: Georg Simmel: Soziologie. Berlin 1908, S. 509–512. Ernst Grünfeld: Die Peripheren. Ein Kapitel Soziologie. N.V. Amsterdam 1939. 21 Pierre Bourdieu: Ökonomisches Kapital, kulturelles Kapital, soziales Kapital, in: Reinhard Kreckel (Hg.): Soziale Ungleichheiten. Göttingen 1983, S. 183–198.

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Ausweis von Innovationsfähigkeit zielt, bei dem die Figur sehr wohl in institutionelle Prozesse eingebunden ist. Viktor Frankenstein ist als Student der Naturwissenschaften an der Universität Ingolstadt zunächst ein Sonderling, weil er vor seinem Studium nur unsystematischen Zugang zur Wissenschaft hatte. Aus diesem Grund vertiefte er sich etwa leidenschaftlich in das Studium alchemistischer Schriften von Agrippa und Paracelsus. An der Universität allerdings erhält er später eine Ausbildung nach allen geltenden Standards der Zeit und zeigt sich dabei als äußerst gelehrsamer Student. Nur mit der Nutzanwendung moderner Naturwissenschaft und dem Zwang zu kleinteiliger empirischer Arbeit kann er sich nicht abfinden.22 Was sein wissenschaftliches Ethos anbelangt, ist er immer noch tief beeindruckt von den Alchemisten. Als Vertreter einer nicht-institutionellen, nicht-universitären Forschungspraxis nehmen sie innerhalb einer bestehenden Ordnung des Wissens eine äußerst prekäre Stellung ein. Schon aus diesem Grund handelt es sich in Frankensteins Augen um Vorbilder für große Innovationen, die in Einzelleistung erbracht werden. Die Projekte der Alchemisten, die Suche nach dem Lebenselixier und Möglichkeiten der Metalltransmutation gelten Frankensteins Lehrern als irregeleitet, während er von ihnen fasziniert bleibt. Der moderne Wissenschaftsbetrieb läuft ihm zu maschinell ab. Frankenstein gilt an der Universität nicht etwa als Außenseiter, weil er in seinen Studien dezidiert neue Wege beschreitet, zumindest zunächst nicht, sondern weil er im Gegenteil auf eigentlich veraltetes Wissen und veraltete Paradigmen von Wissensordnung zurückgreift. Sein Schöpfungsprojekt gelingt ihm letztlich, weil er moderne Forschung mit Inspirationen aus den Projekten der Alchemisten betreibt, wo sich seine Kollegen deren Ansprüchen längst entsagt haben. Von einer Innovation kann dennoch keine Rede sein. Seine Entdeckung ist für niemanden von Nutzen. Als Ergebnis seines Projekts stehen lediglich die ermordeten Familienmitglieder. Er teilt die Details seiner Entdeckung nicht nur unter dem schrecklichen Eindruck seines Geschöpfs wohlweislich niemandem mit, es erscheint auch höchst fraglich, ob er jemals im Sinn hatte, seine Arbeit für den wissenschaftlichen Diskurs anschlussfähig und für die Gesellschaft nutzbar zu machen. Die Distanz des Forscherprotagonisten vom Alltagsgeschäft der Wissenschaft steht in direktem Zusammenhang mit seinem fehlenden Bewusstsein für die pragmatische Anwendbarkeit seiner Erfindung zum Nutzen der Gesellschaft. Frankensteins Obsession, neues Leben erschaffen zu wollen, bei gleichzeitigem Desinteresse für den Erhalt von Leben oder die Möglichkeit der Wiederbelebung 22 Vgl. Christa Habricht: Victor Frankenstein zwischen medizingeschichtlicher Realität und literarischer Fiktion, in: Günther Blaicher (Hg.): Mary Shelleys „Frankenstein“. Text, Kontext, Wirkung. Essen 1994, S. 100–111, hier S. 103.

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von Verstorbenen, mag den Leser zunächst irritieren. Sie folgt aber einer logischen Konsequenz, begreift man sein Vorhaben als ein letztlich destruktives, gegen die Institutionen der Wissenschaft gerichtetes Unterfangen. Dass Frankensteins Geschöpf – repräsentativ für seine wissenschaftliche Errungenschaft – wohl das Potential gehabt hätte, Leben zu retten, zeigt eine Episode des Romans besonders augenscheinlich, in der die Kreatur seinem Schöpfer erzählt, wie sie versuchte, ein junges Mädchen vor dem Ertrinken zu retten: She continued her course along the precipitous sides of the river, when suddenly her foot slipt, and she fell into the rapid stream. I rushed from my hiding place, and, with extreme labour from the force of the current, saved her, and dragged her / to shore. She was senseless; and I endeavoured, by every means in my power, to restore animation […]23

Indem das ‚Monster‘ jegliche Kraft aufwendet, das Mädchen zu retten, demonstriert es die moralische Verpflichtung von Wissenschaft zum Dienst an den Menschen, die in diesem Fall – kontrastiv zu Frankensteins Missachtung eben dieser Verpflichtung – in der Reanimation der Ohnmächtigen besteht.24 Seine enorme Stärke kommt ihm dabei zugute. Allerdings wird der Homunculus bei seinem Rettungsversuch von einem Bauern gestört, zu dem das Mädchen offensichtlich gehört. Dieser entreißt ihm das Mädchen und schießt auf ihn. Frankensteins monströse Entwicklung hätte gänzlich andere Folgen zeitigen können, wenn sich der Forscher, nach dem durchbruchartigen Erfolg seiner Einzelleistung, an das von ihm so verhasste Alltagsgeschäft dessen anwendungsbezogener Weiterentwicklung begeben hätte. So zumindest impliziert es die geschilderte Episode. Um es in der Symbolik des Romans auszudrücken: Hätte sich Frankenstein um die Sozialisation seiner Kreatur bemüht, anstatt sie zu verstoßen, wäre aus ihr womöglich ein Helfer statt ein Mörder geworden. Hierin besteht seine eigentliche Verfehlung. Indem Frankensteins Geschichte an ein Narrativ anknüpft, welches Außenseitertum als Motor für Innovation behauptet, repräsentiert der Protagonist gewissermaßen ein systemimmanentes und notwendiges Risiko von Forschung. Zugleich fungiert er jedoch als eine Ausschlussfigur und demonstriert ex negativo, dass Forschung auf den Wiederanschluss an einen institutionalisierten wissenschaftlichen Diskurs hin ausgerichtet und an einer moralischen Verpflichtung gegenüber der Gesellschaft orientiert sein muss, um ein solches Risiko kontrollieren zu können. Dies ist das Ergebnis der Kalkulation, welche Shelley erzählerisch entfaltet.

23 Shelley: Frankenstein (wie Anm. 3), S. 105. 24 Vgl. Rauch: Body of Knowledge (wie Anm. 18), S. 240.

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Eine aufschlussreiche kulturgeschichtliche Analyse, in die sich meine Interpretation einfügt, liefert Phillip Sarasin. Er beschreibt den Entstehungskontext von Shelleys Roman im ersten Drittel des 19. Jahrhunderts als ein schwer zu differenzierendes Ineinandergreifen von Wissenschaft, Populärwissenschaft und bizarrer Scheinwissenschaft, welches mit der Aufklärungseuphorie einherging. 25 (Die äußerst populären Wissenschaftsgebiete von Vitalismus und Galvanismus, welche auch Frankenstein den Schlüssel zu seinem Projekt liefern, wie auch das große Interesse für Magnetismus, in dessen Zusammenhang Waltons Nordpolexpedition steht, sind charakteristische Beispiele für diese Diskurslage.) 26 Unter dem Eindruck eines zu großen Einflusses von ‚Scharlatanen‘ auf die öffentliche Meinung über Wissenschaft hatte sich deshalb zunehmend die Ansicht durchgesetzt, dass Wissenschaft in stärkerem Maße institutionell abgesichert und Laien von ihr ausgeschlossen werden müssten. Shelleys Roman könnte in diesem Sinn auch als eine erzählerische Vertreibung des Scharlatans aus dem Reich der Wissenschaft gelesen werden.

FRANKENSTEIN ALS REPRÄSENTANT RISKANTER WISSENSCHAFT BEI JAMES WHALE Die Zeit um 1900 nun kennzeichnet Sarasin als eine, in der die beschriebene Distanzierung so weit fortgeschritten war, dass Populärwissenschaft zwar weiterhin einen wichtigen Bestandteil von Publizistik und Unterhaltungskultur darstellte, zwischen ihr und den Inhalten professionalisierter Wissenschaft aber kaum noch erstzunehmende Verbindungen bestanden. Er erklärt damit die Entwicklung von Wissenschaftlerfiguren in der Populärkultur, die aus der Perspektive des Laien als Imaginationen eines (mit Lacan gesprochen) ‚Großen Anderen‘ erscheinen, 27 mit Wissen und Praktiken, die vom Alltag des Laien weit entfernt sind. Sie prägen

25 Vgl. Phillip Sarasin: Das obszöne Genießen der Wissenschaft. Über Populärwissenschaft und „mad scientists“, in: Philip Sarasin: Geschichtswissenschaft und Diskursanalyse. Frankfurt a. M. 2003, S. 231–257, hier S. 236. 26 Siehe zu Frankenstein im Kontext von Vitalismus, Galvanismus und Magnetismus Jessica Richard: „A Paradise of My Own Creation“. Frankenstein and the Improbable Romance of Polar Exploration, in: Nineteenth Century Contexts 25 (2003) 4, S. 295– 314. Edward T. Oakes: Lab Life: Vitalism, Promethean Science, and Mary Shelley’s Frankenstein, in: Logos: A Journal of Catholic Thought and Culture 16 (2013) 4, S. 56–77. 27 Vgl. Sarasin: Populärwissenschaft und „mad scientists“ (wie Anm. 25), S. 250.

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sich einerseits in überspitzt positiven Figuren von Heilsbringern aus, andererseits auch in unheimlichen Figuren, für die sich der Begriff des ‚mad scientist‘ etabliert hat. Bei letzteren handelt sich um Figuren, die ebenso wie Frankenstein als Ausschlussfiguren vernünftigen gesellschaftlichen Zusammenlebens fungieren. Mehr noch als bei Shelleys Frankenstein wird bei ihnen der ‚Wahnsinn‘ zum entscheidenden Code des Ausschlusses, welcher die Ursache bildet für ihre Unberechenbarkeit, zuweilen auch ihre Skrupellosigkeit, ihre zu hohe Risikobereitschaft, mithin das Risiko, das sie selbst für die Gesellschaft verkörpern. 28 Der letzte Abschnitt meiner Ausführungen widmet sich einer filmischen Adaption, in der – wie in zahlreichen weiteren – die Gestaltung eines solchen ‚mad scientist‘ an die Frankenstein-Figur anschließt. Dabei kann gezeigt werden, wie sehr die Anschlussfähigkeit von Shelleys Roman für eine populärkulturelle Bearbeitung des frühen 20. Jahrhunderts in dessen spezifischer Auserzählung von Risikowahrnehmung begründet liegt. Gleichzeitig lässt sich eine tiefgreifende Transformation dieses Wahrnehmungsschemas im Zuge der Adaption beobachten. In einem Aufsatz zu Frankenstein in der Vitalismus-Debatte des 19. Jahrhunderts stellt Edward T. Oakes die These auf, Shelleys Roman sei Opfer seines eigenen Erfolgs geworden, indem er sich als derart anschlussfähig für Adaptionen erwiesen habe, dass der Originaltext in der Rezeptionsgeschichte des Stoffes in den Hintergrund gedrängt wurde. 29 Tatsächlich können die zahlreichen Hypertexte als Bestätigung dafür gelten, wie der Roman einen gesellschaftlichen Diskurs aufnimmt, für dessen begriffliche Rahmung sich (zumindest im Bereich von Naturwissenschaft und Technik) erst nach seiner Entstehungszeit die Debatte(n) über Risiko, Verantwortung und Verantwortbarkeit sowie Betroffenheit entwickelt. Mit der zunehmenden Thematisierung von Risiken im Zusammenhang mit Naturwissenschaft und Technik wuchs auch die Zahl der Figuren, die mit ihren für die Menschheit riskanten Forschungsexperimenten in der Nachfolge Frankensteins stehen und in irgendeiner Form Bezug zu Shelleys Text nehmen. Dies spricht zunächst einmal für dessen Leistung, ein diffuses gesellschaftliches Phänomen erzählerisch fassbar zu machen. Oakes’ Argumentation, nach der Frankensteins ‚Karriere‘ mit einem Verlust einherging, trifft auf das im Folgenden angeführte Beispiel insofern zu, als in der 28 Vgl. Torsten Junge/Dörthe Ohlhoff: In den Steinbrüchen von Dr. Moreau, in: Junge, Torsten/Dörthe Ohlhoff (Hg.): Wahnsinnig genial. Der Mad Scientist Reader. Aschaffenburg 2004, S. 7–22, bes. S. 14f. Roslynn D. Haynes: From Faust to Strangelove. Representations of the Scientist in the Western Literature. Baltimore/London 1994, bes. S. 143–161 und S. 236–267. 29 Vgl. Oakes: Lab Life (wie Anm. 26), S. 56f.

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Bearbeitung die für den Roman charakteristische Selbstreflexion des Textes als eine vereinfachte Erzählung über ein komplexes Feld riskanter Entwicklungen verloren geht. Zentraler Aspekt ist für mich dabei weniger ein Urteil über künstlerische Qualität als vielmehr die Frage, welche Charakteristika die FrankensteinFigur für die Entwicklung der stereotypen Figur des ‚mad scientist‘ in der sich entwickelnden Populärkultur anschlussfähig machen und welche nicht. In der Tonverfilmung des Romans von James Whale aus dem Jahr 1931, welche im hohen Maße stilprägend gewirkt hat für weitere Adaptionen, kommt dem künstlichen Geschöpf entgegen der Vorlage kein wirklicher Subjektstatus zu.30 Die Naivität, in der das Monster hier dargestellt wird, steht in krassem Gegensatz zu seiner Eloquenz in Shelleys Roman. Sein aggressives Verhalten resultiert nicht, wie bei Shelley, aus der Erkenntnis der eigenen Ausgestoßenheit, die darin gipfelt, dass Frankenstein ihm eine Partnerin verwehrt. Dieses Verhalten wird bei Whale schlicht mit dessen Veranlagung begründet. In dem Film implantiert Frankenstein seiner Kreatur das ‚abnorme‘ Gehirn eines Verbrechers und Mörders. Es wurde von seinem Gehilfen aus dem Anatomiehörsaal von Frankensteins Professor Waldmann gestohlen und dabei mit einem ‚normalen‘ Gehirn vertauscht, mit welchem das Experiment wohlmöglich nicht denselben verheerenden Ausgang genommen hätte – so die Suggestion des Plots.31 Im Vergleich zu Shelleys Roman weist das Geschöpf bei Whale eher animalische als menschliche Züge auf, da es sich nicht artikulieren kann. Es wird eher als Objekt denn als Subjekt betrachtet. Der Aspekt seiner Sozialisierung ist in dieser Bearbeitung nicht relevant. Damit verändert sich auch die Rolle Frankensteins als Verantwortungsträger von Risiko. Seine Schuld besteht in dieser Version der Geschichte nicht in einer Abweisung von Verantwortung für seine Entdeckung. Er flieht zunächst nicht von seiner Kreatur, wie bei Shelley. (Zwar wendet er sich ihr keineswegs liebevoll zu, aber er sperrt sie ein, um Unheil zu vermeiden.) Auch verheimlicht er sein Experiment nicht vor Familie, Freunden und der Fachwelt. Seine Frau, sein Vater, ein Freund und sein Lehrer, Professor Waldmann, werden eingeweiht. Waldmann soll die Kreatur einschläfern – ein Versuch, das Risiko frühzeitig einzudämmen, der misslingt. Das Monster tötet Waldmann und flieht. Frankenstein und sein Geschöpf fungieren bei Whales in ähnlicher Weise als Personifikationen von naturwissenschaftlich-technologischen Risikosystemen. Sie werden aber nicht metareflexiv durch eine symbolische Charakteristik als solche gekennzeichnet. Dem Monster fehlt die Souveränität, die für ein dynamisches, sich verselbstständigendes System von Wissenschaft stehen könnte. Vielmehr verkörpert es eine Vorstellung von Sühne durch die ‚zurückschlagende‘ Natur, mithin 30 Frankenstein R: James Whales. USA 1931. 31 Ebd., 00:06:52–00:07:27.

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ein riskantes Spiel am (letztlich übermächtigen) Objekt der Naturerforschung. Das Risiko, welches Frankenstein zu verantworten hat, steigert sich nicht erst durch seinen Umgang mit seiner Schöpfung nach dem geglückten Experiment. Es lässt sich kaum eine Handlungsentscheidung ausmachen, die er im Angesicht seiner Entdeckung hätte besser treffen können, wie dies in Shelleys Roman der Fall ist. Da der mordende Charakter des Monsters bei Whale anatomisch prädisponiert ist, hätte die einzig bessere Entscheidung des Forschers in der Unterlassung seines Experiments bestanden.32Anders formuliert: Wissenschaftliche Arbeit, wenn sie Eingriffe an der Natur vornimmt, erscheint hier per se moralisch fragwürdig. Whales Film produziert einen Katharsis-Effekt, der den Zuschauer beruhigt aus dem Film entlässt. Frankenstein schwört unter dem Eindruck der schrecklichen Folgen seines Experiments seinen Forschungen ab. Er bereitet sich auf die immer wieder hinausgeschobene Hochzeit mit seiner Verlobten vor und lässt sich durch sie von seinem ‚Wahnsinn‘ kurieren. 33 Seine Braut wird, wie bei Shelley, am Hochzeitstag von dem Monster angegriffen, kommt aber mit dem Leben davon. Im Roman wird Frankenstein durch den Tod seiner Braut die Rückkehr in ein bürgerliches Familienleben unmöglich. Im Film kann der Forscher aus dem einsamen Exil seines entlegenen Labors zurück in die Gesellschaft geholt werden. Die Dorfgemeinschaft um das Anwesen seines Vaters macht sich am Ende des Films mit ihm an der Spitze auf die Jagd nach dem Monster, das sie schließlich in einer Mühle festsetzen und diese mit ihm abbrennen. Es gibt also eine Chance, die Folgen des unheilvollen Experiments wieder unter Kontrolle zu bringen, wenn der Wissenschaftler die Gemeinschaft zu ihrem Schutz anführt, statt im Verborgenen seine egoistischen Machbarkeitsphantasien auszuleben. Bei Shelley hingegen triumphiert das Geschöpf bis zuletzt über seinen Schöpfer und verabschiedet sich schließlich selbst aus dem Leben, nachdem ihm die finale Rache an Frankenstein geglückt ist. Die kathartische Verbrennung des Monsters am Ende von Whales Films ist freilich nur deshalb frei von moralischen Konflikten möglich, weil es im Gegensatz zu der Figur in Shelleys Roman eher animalische als menschliche Züge trägt. Während dem Geschöpf im Film als Verkörperung einer von Menschen ver-

32 Freilich kommt dem Gehilfen Fritz durch die Verwechslung der Gehirne ebenfalls Schuld an den fatalen Folgen des Experiments zu. Da er aber im Auftrag seines Meisters handelt und zudem geistig beeinträchtigt zu sein scheint, schmälert dies nicht die Verantwortung, die Frankenstein trägt. 33 Whales: Frankenstein (wie Anm. 30), 00:42:02–00:42:47.

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kehrten und rein zerstörerischen Natur kein Mitleid zuteilwird, bleibt seine Bewertung im Roman weniger eindeutig: Es fordert in seinem Monolog Empathie für sich ein und erhält diese auch partiell. 34 Ein Vergleich zwischen Roman und Film sollte freilich nicht außer Acht lassen, dass bei dem ungleich höheren Produktionsaufwand des Films gegenüber dem Roman im stärkeren Maße technische Realisierbarkeit auf der einen und Aspekte der Vermarktung – etwa Publikumserwartungen – auf der anderen Seite berücksichtigt werden müssen. 35 Eine einseitige Fokussierung der Schadensseite wissenschaftlich-technologischer Risiken lässt sich durch den Anspruch an den Unterhaltungswert, wie auch durch praktisch technische Bedingungen filmischen Erzählens erklären: Die ausgestellte Monstrosität, das kategorisch ‚Andere‘ und ‚Böse‘, als das wissenschaftliche Neuerungen in der Figur des Homunculus verkörpert werden, bedient vor allem Angstlust – eine Erwartungshaltung, die für das Horrorgenre konstitutiv ist.36 Eine Figurenzeichnung, die mehr Entwicklungspotenzial in eine positive oder negative Richtung enthielte, würde zudem die schnelle dramaturgische Zuspitzung des Konflikts zur Katastrophe sowie seine karthatische Auflösung am Ende erschweren, die dem für das Medium charakteristischen Zwang zur Kürze folgt. Nicht zuletzt geht der Wegfall der Rahmenhandlung und der unterschiedlichen Erzählerstimmen, wie sie bei Shelley zu finden sind, mit dem Medienwechsel einher.37 Hiermit wird zugleich eine wichtige Rezeptionsebene des Romans, die Reflexion über Risikowahrnehmung, im Film ausgeblendet.

34 Einschränkend muss erwähnt werden, dass der Film die Ambivalenz von Mitleid und Schrecken in der Körpersprache der Kreatur (gespielt von Boris Karloff) auffängt. Mimik (trauriger Blick), Gestik (gebückte Haltung) und Stimme (qualvolles Stöhnen) machen einen bemitleidenswerten Eindruck. Die zentrale Szene der Kindstötung stellt die tragische Gestalt am augenscheinlichsten dar. Hier schlägt das harmlose Spiel mit dem Mädchen am See durch die Naivität des Geschöpfs in ein tödliches um. Es ertränkt das Kind nicht absichtsvoll und erschrickt selbst sehr über seine Tat. (Whales: Frankenstein [wie Anm. 30], 00:46:30–00:48:22) Mitleid für die Kreatur kann allerdings allenfalls beim Filmpublikum erzeugt werden. Keine der Figuren innerhalb des Films hat Mitleid mit ihr. Sie ist auch kommunikativ nicht in der Lage, Empathie für sich einzufordern. 35 Vgl. zu den ökonomischen und technischen Entstehensbedingungen des Spielfilms und ihrem Einfluss auf die filmische Adaption von Literatur: Ulrike Schwab: Erzähltext und Spielfilm. Zur Ästhetik und Analyse der Filmadaption. Berlin 2006, bes. S. 29–32 und S. 42–46. 36 Vgl. Sarasin: Populärwissenschaft und „mad scientists“ (wie Anm. 25), S. 253. 37 Vgl. zur Spezifik der Erzählerrede im Erzähltext und ihrer (komplizierten) Adaption im Spielfilm Schwab: Erzähltext und Spielfilm (wie Anm. 35), S. 88–93.

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Die spezifisch veränderte Perspektive von Whales Film auf die Risikoproblematik im Frankenstein-Stoff ist von den medialen Entstehensbedingungen also stark beeinflusst. Unabhängig davon aber, welchen Anteil das Medium und welchen Anteil der diskursive Kontext daran hat, passt es zu der von Sarasin beschriebenen Entwicklung des Verhältnisses von Populärkultur und Wissenschaft, dass Whales die Debatte über Innovation und Risiko in polarisierter Weise aufgreift. Im Ergebnis enthält der Film eine konservative, risikoaverse Darstellung der Folgen wissenschaftlich-technologischen Fortschritts. Er fokussiert seine zerstörerische Wirkung auf die Natur sowie gesellschaftliche Institutionen des Zusammenlebens und kennzeichnet die Chancen, die der Protagonist in ihm sieht, als wahnsinnige Blendungen eines Einzelnen. Shelleys Text von 1818 nimmt eine solch eindeutige Bewertung wissenschaftlich-technologischer Risiken nicht vor, obwohl die Folgen von Frankensteins Experiment ungleich schrecklicher geschildert werden. Bei allen eindringlichen Warnungen, die er an Walton während seiner Erzählung richtet, überlässt es Frankenstein in seinen finalen Worten vor dem Tod letztlich doch dem Rezipienten, was er aus seiner Geschichte für eine Lehre ziehen soll: Seek happiness in tranquillity, and avoid ambition […] of distinguishing yourselfe in science and discoveries. Yet why do I say this? I have myselfe been blasted in these hopes, yet another may succeed.38

FAZIT: FURCHT UND FASZINATION – PERSPEKTIVIERUNGEN FRANKENSTEINS Shelleys Roman und Whales filmische Adaption artikulieren ein Unbehagen gegenüber Wissenschaft und Technik aufgrund der prinzipiellen Ungewissheit über die Art der durch sie ausgelösten weitreichenden gesellschaftlichen Veränderungen. Sie vereinen dabei zwei Strategien der partiellen Vergewisserung des Ungewissen: Eine Strategie ist die Imagination von Szenarien, also die Aneignung des Ungewissen durch Erzählen. Eine weitere Strategie ist die Auffassung ungewisser Zukunftsereignisse als Risiko, das man kalkulieren kann und mithilfe dessen man Verantwortlichkeiten definieren kann. Die Komplexität reduzierende, karthartische Funktion der Frankenstein-Erzählung lässt sich plausibel mit der in der Philosophiegeschichte gängigen Unterscheidung von ‚Angst‘ und ‚Furcht‘ erklären. Hans Blumenberg sieht in seinem

38 Shelley: Frankenstein (wie Anm. 3), S. 166.

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Buch Arbeit am Mythos eine wesentliche Grundfunktion des Erzählens in der Überführung von ‚Angst‘ als einem diffusen Erwartungsaffekt in auf ein konkretes Szenario beziehbare ‚Furcht‘.39 Diese Überführung erfolgt dabei nicht etwa „primär durch Erfahrung und Erkenntnis“, „sondern durch Kunstgriffe wie den der Supposition des Vertrauten für das Unvertraute und der Benennung für das Unbenennbare“.40 Im Falle von Shelleys Roman erfolgt die „Supposition des Vertrauten für das Unvertraute“ durch den Bezug auf den Prometheus-Mythos. Im Anschluss an diesen wird der Forscher als schöpferisch-autonomes Subjekt vor dem Hintergrund seiner gesellschaftlichen Verpflichtungen beleuchtet. Whales Bearbeitungen des Stoffes kann auf die in zahlreichen Texten des 19. und frühen 20. Jahrhunderts tradierte und gleichsam selbst mythisch gewordene Figur des ‚mad scientist‘ zurückgreifen. Sie bildet mit ihren wiederkehrenden Attributen (Exzentrik und Verantwortungslosigkeit) den narrativen Nukleus in zahlreichen Erzählungen um wissenschaftlich-technologische Risiken. Die „Benennung für das Unbenennbare“ wird geleistet durch die beiden beschriebenen Personifikationen von Risiko: Frankenstein und seine Kreatur, wobei diese Funktion dadurch bestätigt zu sein scheint, dass der Name des Schöpfers auf das eigentliche Objekt der Furcht, sein Geschöpf, übergegangen ist. Kauft man heute eine HalloweenMaske von Frankenstein, so ist es die berühmte Maske des Monsters aus Whales Film – eine poetische Ironie, bedenkt man, dass sich Frankenstein in Shelleys Roman aufgrund seiner Abgestoßenheit von der Kreatur weigert, ihr einen Namen zu geben. Dass die beiden Frankenstein-Erzählungen das in ihnen geschilderte Bedrohungsszenario als eine Erzählung über Risiken entwerfen, wird zum einen offensichtlich durch die Konzentration auf eine Verantwortungsfigur, zum anderen durch das kalkulierende Abwägen komplexer Entscheidungen unter Unsicherheit, welches insbesondere Shelleys Roman in einigen Abschnitten kennzeichnet. Shelleys Roman und Whales Film vermitteln aber ein völlig unterschiedliches Verständnis von Risiken wissenschaftlich-technologischen Fortschritts. Während der Film eine eindeutig risikoaverse Perspektive einnimmt, demonstriert der Roman die uneindeutige Rezeption solcher Risiken zwischen Furcht und Faszination, mithin die Wahrnehmung des verantwortlichen Forschers zwischen Abscheu und Be-

39 Angst, so Blumenberg, ist „Intentionalität des Bewusstseins ohne Gegenstand“, eine gespürte Bedrohlichkeit der Zukunft. ‚Furcht‘ ist gewissermaßen leichter zu ertragen als ‚Angst‘, weil die Benennung einer bestimmten Bedrohung immerhin eine mentale Form der Kontrolle beinhaltet. (Hans Blumenberg: Arbeit am Mythos. Frankfurt a. M. 1976, S. 11.) 40 Ebd., S. 12.

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wunderung. Risikowahrnehmung in Whales Film kann man mit einem Risikobegriff in Abgrenzung von Sicherheit beschreiben, da dieser Film suggeriert, das beschriebene Risiko ließe sich vollständig beseitigen. Zugespitzt formuliert erzählt die Geschichte: Eine Welt ohne Veränderungen wäre eine Welt ohne Risiken. Chancenseiten von Risiken werden nicht aufgezeigt, wodurch wissenschaftliche Fortschrittsbemühungen eben nur noch als ‚Wahnsinn‘ erklärbar werden. Anders verhält es sich in Shelleys Roman, dessen Darstellung von Verantwortlichkeit eher mit einem Risikobegriff in Abgrenzung von verantwortungsfreier Gefahr zu beschreiben ist. Dabei wird die fiktive Konstruktion von Verantwortlichkeit nicht verdeckt, sondern textintern reflektiert: Es genügt nicht, den Verantwortlichen zu stellen und ihn von seinem riskanten Handeln abzubringen, wie die Familie von Frankenstein dies in Whales Film unternimmt. Der wissenschaftliche Fortschritt als ein Risikosystem, den das Monster bei Shelley repräsentiert, kann, einmal in der Welt, von niemandem aufgehalten werden. Er bringt einerseits Chancen mit sich, kann andererseits großen Schaden verursachen, wie auch das Geschöpf positive und negative Entwicklungspotenziale aufweist, die immerhin mittelbar beeinflusst werden können. Auch wenn die Geschichte in Shelleys Roman eine fatale Entwicklung nimmt, kann sie nicht als Artikulation einer dezidiert risikoaversen Betrachtung naturwissenschaftlich-technologischen Fortschritts gelesen werden. Sie enthält durch das Negativvorbild Frankensteins implizit eine Lehre über die Notwendigkeit, Risiken einer unaufhaltsamen Entwicklung zu erkennen, zu kommunizieren und so zu behandeln, dass Chancen genutzt und Schäden vermieden werden. Des Weiteren stellt sie die Institutionalisierung von Wissenschaft mit der Entwicklung eines solchen Risikobewusstseins ebenfalls ex negativo als einen Fortschritt dar – denn im Roman ist Frankenstein mit seinem Interesse für Alchemie und Naturphilosophie, mit seiner Exzentrik und Institutionenfeindlichkeit die rückwärtsgewandte Figur. Ich möchte an dieser Stelle nicht darüber spekulieren, ob Shelleys Roman und Whales Film wirklich eine Entwicklung in der narrativen Behandlung von Wissenschaft und Risikowahrnehmung widerspiegeln, die sich vom 19. zum 20. Jahrhundert und im Zuge der Ausdifferenzierung des populärkulturellen Horrorgenres vollzog, wie dies Sarasin in seiner geistesgeschichtlichen Kontextualisierung der ‚mad scientist‘-Figur beschreibt. Hierzu müsste ein größeres Korpus vergleichbarer Texte und Filme um riskante naturwissenschaftliche Projekte, Naturforscher und ‚mad scientists‘ danach untersucht werden, ob es risikoaffine oder -averse, fortschrittsoptimistische oder -skeptische, progressive oder konservative Tendenzen gibt, die sich in Charakterisierungen fiktiver Forscherfiguren und ihrer Projekte niederschlagen.

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Unabhängig von ihren kulturgeschichtlichen Kontexten demonstriert mein vorgestellter Vergleich, wie anschlussfähig der Frankenstein-Stoff für verschiedene Darstellungen von Risikowahrnehmung ist. Veränderungen in der Charakterisierung von Figuren, welche Verantwortung und Kontrolle von Risiken repräsentieren, in der Wahl erzählerischer Mittel und der Erzählstruktur öffnen hier sehr unterschiedliche Perspektiven. Shelleys Roman wie auch Whales Film zeigen dabei, wie verschiedene narrative Ausprägungen von Risikowahrnehmung gleichsam selbst Risiken enthalten: Eine sehr einseitige Fokussierung auf die Schadensseite birgt womöglich das Risiko, Chancen zu verkennen und umgekehrt. Nicht zuletzt Shelleys Roman zeigt jedoch, dass das Thema Risikowahrnehmung durch die erzählerische Vermittlung in seiner ganzen Vielschichtigkeit sehr gut erfasst werden kann. Risikowahrnehmung wird im hohen Maße durch Narrative beeinflusst. Gleichzeitig sind erzählerische Mittel sehr gut geeignet, diesen Prozess kritisch zu beschreiben: Wechsel von Erzählperspektiven machen deutlich, wie sehr Risikowahrnehmung von subjektiven Faktoren wie individueller Betroffenheit und Beeinflussbarkeit von Risiken abhängt. Die Konstruktion von Verantwortungsfiguren illustriert zudem das Bedürfnis nach Einigung über die Zuständigkeit für Risiken und zeigt zugleich, dass dieses Bedürfnis im Risikohandeln nicht gänzlich erfüllt werden kann. Über dieses Paradox zu erzählen, enthält letztlich eine denkwürdige Pointe: Der ‚Mythos Frankenstein‘ demonstriert die ungebrochene Lebendigkeit von Narrativen im Umgang mit Unsicherheiten, welche parallel zu empirischer Kalkulation und Bewertung von Risiken bis in die Gegenwart äußerst relevant sind. Eine literaturwissenschaftliche Perspektive auf Risikodebatten kann an diesem Punkt ansetzen, um die Beschaffenheit und die Ursachen von Diskrepanzen zwischen professioneller Risikobewertung und intersubjektiver Risikowahrnehmung besser zu verstehen.

Von der Risikoberechnung zur Vertrauensfrage Die deutsche Kernenergiedebatte am Beispiel des Kernkraftwerks Stade Christian Götter

Das ‚friedliche Atom‘, die zivile Nutzung der Atomenergie, war von Beginn an explizit mit Risikodebatten verbunden; der Begriff des Restrisikos ist gar für die Atomtechnologie spezifisch und bezeichnet das Risiko, das in Kauf zu nehmen sei, wenn man auf die Technologie nicht vollständig verzichten wolle.1 Zu Beginn der Kernenergienutzung in der BRD 2 wurde gerade von ihren Befürwortern in Wirtschaft, Wissenschaft und Politik über die mit der Technologie verbundenen Risiken debattiert, um darzulegen, dass diese kontrollierbar, ihre Anwendung also sicher sei. Die 18 Atomwissenschaftler, die am 12. April 1957 die Göttinger Erklärung unterzeichneten, wiesen darin darauf hin, dass die „Verbreitung von Radioaktivität […] die Bevölkerung der Bundesrepublik wahrscheinlich heute schon ausrotten“ könnte.3 Diese Warnung allerdings bezogen sie allein auf den Einsatz von Atomwaffen, nicht jedoch auf Atomreaktoren. Mit Blick auf letztere betonten sie, „daß es äußerst wichtig ist, die friedliche Verwendung der Atomenergie mit

1

Julian Nida-Rümelin/Johann Schulenburg: Risiko, in: Armin Grunwald (Hg.): Handbuch Technikethik. Stuttgart 2013, S. 18–22, hier S. 20.

2

Einen Überblick bietet Joachim Radkau/Lothar Hahn: Aufstieg und Fall der deutschen Atomwirtschaft. München 2013, die aktualisierte sowie zugespitzte Fassung der Habilitationsschrift Radkaus von 1983.

3

Erklärung der 18 Atomwissenschaftler vom 12. April 1957, zitiert nach Carl Friedrich von Weizsäcker: Die Verantwortung der Wissenschaft im Atomzeitalter. 6. Auflage, Göttingen 1978. Original 1957, S. 50–52.

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allen Mitteln zu fördern“.4 Die hiermit verbundenen Risiken hielten sie demnach für beherrschbar. Die Einschätzung, dass es möglich wäre, Kernenergie ‚sicher‘ zu handhaben, spiegelt sich auch im ersten Paragraphen des Atomgesetzes vom 23. Dezember 1959 wider. Hier wurde ‚Sicherheit‘ in drei von vier Absätzen thematisiert.5 Abweichende Ansichten blieben in der BRD bis in die 1970er Jahre in der Minderheit. 6 Dann allerdings erreichten kritische Perspektiven auf die von Menschen erzeugten Risiken eine breite Öffentlichkeit.7 Im Folgenden untersuche ich die Risikodebatten, die in der niedersächsischen Hansestadt Stade mit Blick auf das dortige Kernkraftwerk geführt wurden.8 Der Ort ist Teil des Samples in einer Untersuchung zur Wahrnehmung von Atomenergie an Standorten von Kernkraftwerken in Deutschland und Großbritannien. Bei Stade wurde – gemeinsam mit demjenigen in Würgassen in Nordrhein-Westfalen – erstmals in der Bundesrepublik ein kommerzielles Kernkraftwerk „ohne jede Staatshilfe von privater Hand errichtet“, wie der Bundesminister für wissenschaftliche Forschung Gerhard Stoltenberg im Mai 1967 stolz erklärte. 9 Es war von 1972 bis 2003 in Betrieb, wobei sich die Untersuchung auf die Zeit von der Antragsstellung bis nach Tschernobyl beschränkt. Als Quellengrundlage dienen vor allem die lokalen Medien, die nicht nur über das Kernkraftwerk berichteten, sondern auch über seine Befürworter und Gegner, über lokale politische Diskussionen ebenso wie über solche auf regionaler, Landes- und Bundesebene. Zudem waren sie durch Kommentare seitens der Redaktion und Leserbriefe ein Forum für die lokalen Diskussionen, in denen sie sich auch selbst positionierten. Zusammen mit den Akten der lokalen parlamentarischen Gremien auf Stadt- und Kreisebene ist die Überlieferungssituation als hervorragend zu bewerten.

4

Ebd.. S. 50-52.

5

Bundesgesetzblatt 56, 31.12.1959, S. 814.

6

Man beachte vor allem Bodo Manstein: Im Würgegriff des Fortschritts. Frankfurt a. M. 1961, beispielsweise S. 125 und S. 131.

7

Siehe zum Beispiel Hans Jonas: Das Prinzip Verantwortung. Frankfurt a. M. 1979; Ulrich Beck: Risikogesellschaft. Auf dem Weg in eine andere Moderne. Frankfurt a. M. 1986; Anthony Giddens: Konsequenzen der Moderne. Frankfurt a. M. 1995.

8

Siehe für einen Überblick die Beiträge in Klaus Frerichs/Gerd Mettjes (Hg.): Neue Energie!? Abschied vom Kernkraftwerk Stade. Bremen 2004.

9

Atomkraftwerk Stader Sand wird gebaut! Stader Tageblatt, 19.5.1967; siehe auch Klaus Barthelt/Klaus Montanus: Begeisterter Aufbruch. Die Entwicklung der Kernenergie in der Bundesrepublik Deutschland bis Mitte der siebziger Jahre, in: Jens Hohensee/Michael Salewski (Hg.): Energie – Politik – Geschichte. Nationale und internationale Energiepolitik seit 1945. Stuttgart 1993, S. 89–100, hier S. 95.

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In den Risikodebatten in Stade lassen sich drei verschiedene Verwendungsformen des Risikobegriffs finden, die im Großen und Ganzen zeitlich aufeinander folgten. Zunächst, in der Zeit vom Planungsbeginn bis in die Bauzeit des Kraftwerks hinein, dominierte ein Risikobegriff, der sich auf wirtschaftliche Aspekte des Kernkraftwerks bezog und somit gewissermaßen dem kaufmännischen Verständnis des Begriffs ähnelte, das am Übergang zur Neuzeit in den italienischen Handelsstädten des 14. Jahrhunderts aufkam.10 In den Jahren danach herrschte der bereits angerissene Risikobegriff vor, der sich auf Risikokontrolle, Beherrschbarkeit und Sicherheit der Kernenergie bezog. Die entsprechenden Debatten waren weitgehend auf Erklärungen der Protagonisten der Atomkraft beschränkt, also der Politiker, Behörden und Betreiber. Dies änderte sich von 1978/79 an. Von diesem Jahr an wurden die Debatten zunehmend von denjenigen angestoßen, die an eben dieser Beherrschbarkeit zweifelten. Dieser Umbruch steht im Zentrum der folgenden Analyse. An ihm zeigt sich, dass es keine Fragen der akzeptablen oder nicht akzeptablen Risikohöhen oder bestimmter Arten von Risiken waren, die letztlich den Verlauf der Risikodebatten prägten. Prägend war auch nicht die aufkommende, nationale wie internationale Debatte um die Rolle des Risikos im Allgemeinen.11 Es waren vielmehr lokal rückgebundene Fragen des Vertrauens, die den Verlauf der Risikodebatten vor Ort maßgeblich prägten.12 Schon Luhmann wies darauf hin, dass komplexe soziale Ordnungen ohne Vertrauen nicht aufrecht erhalten werden könnten.13 Nur mithilfe von Vertrauen in Experten ist ihm zurfolge in komplexen Situationen, die nicht von allen Entscheidungsträgern überschaut werden können, informiertes Handeln möglich. 14 Eine entsprechende Komplexität entstand mit der Industrialisierung und der Ausweitung und praktischen Anwendung wissenschaftlicher Erkenntnisse seit dem 18. Jahrhundert. Angesichts zunehmend arbeitsteiliger Gesellschaften sank die Kompetenz der Individuen mit Blick auf die gesamtgesellschaftlich vorhandenen und angewandten Kenntnisse. Einen wesentlichen zusätzlichen Schub erfuhr diese Komplexität durch den Einsatz der Kernenergie, der das Ausmaß der Risikopo-

10 Nida-Rümelin: Risiko (wie Anm. 1), S. 18. 11 Siehe Anm. 7. 12 Zum Begriff des Vertrauens siehe Ute Frevert: Vertrauen – eine historische Spurensuche, in: Dies. (Hg.): Vertrauen. Historische Annäherungen. Göttingen 2003, S. 7–66. 13 Niklas Luhmann: Vertrauen. Ein Mechanismus der Reduktion sozialer Komplexität. Stuttgart 1968, S. 10 und S. 96. 14 Ebd., S. 23–36.

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tentiale und den Zeitraum möglicher Folgen menschlichen Handelns auf eine unübersehbare Zukunft hinaus erweiterte. 15 Insofern kann es nicht verwundern, wenn Ute Frevert beobachtet, dass Vertrauen seit dem 18. Jahrhundert – und insbesondere im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts – zum „Leitmotiv sozialen Handelns“ in der westlichen Welt geworden sei.16 Dies lässt sich am Beispiel der Stader Debatten über die Kernenergie konkret nachvollziehen. Die Vertrauensbeziehungen zu den Kernkraftexperten – letztlich also den Vertretern der Genehmigungsbehörden wie auch der Betreibergesellschaft – waren entscheidend für die Bewertung der akzeptablen oder eben nicht akzeptablen Risiken.17 Der Auslöser der kompletten Kehrtwende in den Stader Risikodebatten war nämlich eben keine Veränderung in den Risiken, sondern deren veränderte Wahrnehmung. Der Hauptgrund für diese Veränderung war ein Bruch im Vertrauensverhältnis zwischen dem Betreiber des Atomkraftwerks, den Behörden auf lokaler und Landesebene sowie der Bevölkerung vor Ort. 18 Er ging darauf zurück, dass die Betreibergesellschaft und die Behörden versuchten, Pläne und Zwischenfälle hinter verschlossenen Türen zu behandeln, also die lokale Bevölkerung und teils auch die lokalen Behörden ihrerseits nicht ins Vertrauen zogen. Weitere Vertrauensbrüche und Vorfälle auf lokaler, nationaler und internationaler Ebene ließen das Vertrauensverhältnis in den Jahren danach weiter erodieren und führten dazu, dass die Gruppe der erklärten Kernkraftkritiker vor Ort wuchs. Die Risikodebatten um die Kernenergie in Stade lassen sich demnach in zwei Phasen unterteilen – eine Zeit des Vertrauens und eine Zeit des Misstrauens.19

15 Siehe Manstein: Würgegriff (wie Anm. 6), S. 145f.; Jonas: Prinzip (wie Anm. 7), S. 7– 9, 26-30; ferner Beck: Risikogesellschaft (wie Anm. 7), S. 14 und S. 26–31. 16 Ute Frevert: Vertrauensfragen. Eine Obsession der Moderne. München 2013, S. 24. 17 Zur zunehmenden politischen Aushandlung akzeptabler Risikohöhen siehe auch Beck: Risikogesellschaft (wie Anm. 7), S. 300. 18 Damit soll nicht gesagt sein, dass der Wandel in den lokalen Vertrauensbeziehungen das einzige Element gewesen sei, das zu der veränderten Risikowahrnehmung führte. Freilich spielten auch Prozesse wie gesamtgesellschaftliche Veränderungen von Risikohöhenwahrnehmungen, Verschiebungen hin zu postmateriellen Werten und die Dynamiken der Umwelt- und Anti-Kernkraftbewegung eine Rolle, wenn auch nicht die entscheidende. Beachte zu den übergreifenden Verschiebungen etwa Jens Ivo Engels: Naturpolitik in der Bundesrepublik. Ideenwelt und politische Verhaltensstile in Naturschutz und Umweltbewegung 1950–1980. Paderborn 2006, S. 14–28. 19 Albrecht Weisker konstatiert für die bundesdeutsche Ebene, dass hier mit Veränderungen in den Risikodebatten in den 1970er Jahren ein Vertrauensverlust einherging, Albrecht Weisker: Expertenvertrauen gegen Zukunftsangst. Zur Risikowahrnehmung der

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INTAKTES VERTRAUEN – AKZEPTIERTE RISIKEN (VOR 1978) Solange das Vertrauensverhältnis zwischen Behörden, Betreibern und Bevölkerung in Stade intakt war, beschränkten sich die Risikodebatten vor Ort auf die beiden zuerst erwähnten Risikobegriffe, den wirtschaftlich geprägten zum einen und den auf Beherrschbarkeit und Sicherheit hinweisenden zum anderen. Dominant war zunächst das wirtschaftlich geprägte Risikoverständnis. Tatsächlich war zunächst sogar gar nicht von einem Risiko die Rede. Stattdessen beherrschten Hoffnungen und Chancen die öffentlichen Debatten.20 Schon einen Monat bevor am 28. Juli 1967 der Antrag für das Kernkraftwerk Stade (KKS) tatsächlich gestellt wurde,21 hatte das Stader Tageblatt über die entsprechenden Pläne der Nordwestdeutsche Kraftwerke AG (NWK) berichtet. Für den Verfasser stand die Annahme im Vordergrund, dass ein Atomkraftwerk Stade zusammen mit dem bereits arbeitenden Ölkraftwerk zu einem der entscheidenden Energiestandorte in Norddeutschland machen könnte. Das Kernkraftwerk könnte Strom wirtschaftlicher produzieren als aktuelle Kohle-, Öl- oder Gaskraftwerke. Der Verfasser meinte weiter: „Der weißen Kohle Elektrizität – aus Kernkraft gewonnen – gehört offensichtlich die Zukunft. Sollte das auch gleichzeitig im Stader Fall zur Rettung aus der Finanznot beitragen können?“ 22 Als am 19. Mai 1969 Bundesminister Schmücker die Kraftwerksbaustelle besuchte, hoffte er, das Kraftwerk könne „zum Symbol einer friedlichen Zukunftsentwicklung werden“. Daher „wünschte“ er auch dem Kraftwerk, gewissermaßen im Interesse der Region und der gesamten Bundesrepublik, „alle Ausstrahlungskraft“. 23 Dass ein erfahrener Politiker dem neuen Kernkraftwerk dies wünschen konnte und die lokalen Medien den Begriff kommentarlos hinnahmen, deutet bereits an, dass die öffentlichen Debatten in Stade noch weit davon entfernt waren, Risikodebatten zu sein.

Kernenergie, in: Ute Frevert (Hg.): Vertrauen. Historische Annäherungen. Göttingen 2003, S. 394–421, hier S. 396, S. 409f. und S. 418. 20 Einschränkend muss man bedenken, dass die Bandbreite der Utopien gegenüber den 1950er Jahren inzwischen begrenzt worden war, und dass die Träger der Debatten vor allem politische sowie wirtschaftliche Eliten waren, Radkau, Atomwirtschaft (wie Anm. 2), S. 57–60, S. 68 und S. 132–141. 21 Schreiben des Sozialministers an NWK, TÜV Nord und Regierungspräsidenten in Stade, 23.8.1967, II 22.51.46, in NLA Stade, Rep. 180 Hb Nr. 1030. 22 1972 Atomstrom aus Stade?, in: Stader Tageblatt, 16.6.1967. 23 Ansprachen vor dem Kernkraftwerk, in: Stader Tageblatt, 20.5.1969, ferner Stades Kraftwerk Magnet für die Industrie, ebd.

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Als der Risikobegriff dann doch direkt verwendet wurde, bezog er sich nicht auf Radioaktivität und Strahlung, sondern auf die wirtschaftliche Seite des Atomkraftwerks. Als einen knappen Monat nach Schmücker der niedersächsische Wirtschaftminister Karl Möller in Stade war, betonte er, es brauche „Risikobereitschaft und Mut […], den Bau weiterer Kernkraftwerke zu beginnen, […] schon deshalb, weil die Kernkraftwerke vier Jahre und die Industriewerke im allgemeinen nur zwei Jahre Bauzeit erfordern“.24 Das mit dem KKS verbundene Risiko war also aus seiner Sicht vor allem das unternehmerische Risiko derjenigen, die Atomkraftwerke bauten. Der Staat müsse unterstützend eingreifen, dieses Risiko zu tragen helfen – konnte ein Kraftwerk doch entscheidend für das „zukünftige[s] Schicksal“ einer Stadt wie Stade sein, wie der Reporter des Tageblatts, Heinrich Quell, meinte.25 Die lokalen Medien waren in diesen Jahren nicht etwa besonders unbesorgt. Auch in den Unterlagen der lokalen parlamentarischen Gremien finden sich keine Hinweise auf spezielle Risikodebatten. Überhaupt waren Kritiker des neuen Kernkraftwerks kaum zu finden. Allein im Rahmen des Genehmigungsverfahrens selbst waren einzelne kritische Stimmen zu Wort gekommen, die sich auf die technischen Risiken und die Radioaktivität bezogen. Hier interessierte sich der Wasserleitungsverband Altes Land für mögliche Auswirkungen von radioaktiven Emissionen auf das lokale Trinkwasser. 26 Eine Bürgerin aus Hamburg-Harburg erhob Einspruch gegen das geplante Kernkraftwerk. Sie hatte jedoch aus Sicht der Genehmigungsbehörde „keine sachlich begründeten Einwendungen“ gemacht, weshalb ihr Widerspruch im Verfahren keine weitere Rolle spielte.27 Berücksichtigt wurde allein der Einwand der Gemeinde Hollern. Deren Bürgermeister Heinrich zum Felde und Gemeindedirektor Hans Lorenzen wollten allerdings nur sicherstellen, dass im Rahmen der Genehmigung geprüft würde, ob ihre Gemeinde,

24 Neuer Start der vier Küstenländer, in: Stader Tageblatt, 13.6.1969. 25 Ebd. Zur wirtschaftlichen Bedeutung des Kraftwerks beachte Doris von Dosky: Untersuchungen zu Auswirkungen der Kernkraftwerke Obrigheim, Stade, Goesgen. Diss., Darmstadt 1987. 26 Erste Teilgenehmigung, Niedersächsischer Sozialminister II 22.51.46 und Niedersächsischer Minister für Wirtschaft und Verkehr, II/5a – 26.72.b, an Kernkraftwerke Stade GmbH u.a., 5.7.1968, S. 16–19, in NLA Stade, Rep. 180 Hb Nr. 1030. 27 Niederschrift über den Erörterungstermin am 15.12.1967 zum Kernkraftwerkprojekt Stade, durch Ministerialrat Muschalek für den Niedersächsischen Minister für Wirtschaft und Verkehr, II/5 a – 26.72 b (Stade), 22.12.1967, S. 1f., in NLA Stade, Rep. 180 G Nr. 1682.

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insbesondere der Ortsteil Bassenfleth, „ausreichend gegen Sach- und Personenschäden abgesichert“ sei. Keinesfalls sei es ihre Absicht, „den Bau des Kernkraftwerkes zu verzögern oder gar zu verhindern“. Der Sozialminister Reichwaldt und der Wirtschafts- und Verkehrsminister Dr. Flemes, in deren Namen die Genehmigung erteilt wurde, sahen hier keinen Grund zur Sorge: „Diese Frage ist sorgfältig geprüft worden und kann bejaht werden. Die vorgesehenen Sicherheitsvorkehrungen sind so umfangreich, daß Schäden nicht zu befürchten sind.“ Als Beispiel für diese Sicherheitsmaßnahmen wurde u.a. die Höhe des Abluftkamins angeführt. 28 Dass prinzipiell das Risiko schädlicher Auswirkungen des Kernkraftwerks in unmittelbarer Nachbarschaft bestehen könnte, räumten die Behörden hier also durchaus ein. Zugleich allerdings erklärten sie mit Gewissheit, dass das Eintreten solcher Schäden aufgrund der getroffenen Vorkehrungen ausgeschlossen sei. Die Risiken galten als beherrscht. Da weitere Schriftwechsel mit der Gemeinde nicht überliefert sind, darf man davon ausgehen, dass diese Antwort den Bürgermeister und den Gemeindedirektor zufriedenstellte. Größere Aufmerksamkeit erregte das Genehmigungsverfahren nicht. Erst als das Kraftwerk selbst physisch in die Höhe wuchs, sozusagen für die Menschen vor Ort greifbar wurde, wurde auch eine auf Fragen der Radioaktivität zielende Risikodebatte öffentlich geführt. Auch sie war auf die Risikokontrolle und die entsprechenden Möglichkeiten der modernen Technik konzentriert. So hieß es im Juli 1969 im Stader Tageblatt über die den Reaktor umgebende stählerne Kugel, diese sei „so stark, daß auch bei dem ‚größten anzunehmenden Unfall‘ (sogenannter ‚Gau-Fall‘) ein unkontrolliertes Entweichen radioaktiver Spaltprodukte verhindert und eine Gefährdung der Bevölkerung ausgeschlossen sein wird“.29 Zu den technischen Maßnahmen hinzu kamen auf physikalischen Prinzipien beruhende Sicherheitsvorkehrungen. Eine atomare Explosion sei „im Kernkraftwerk nicht möglich. Wenn der Reaktor ‚überkritisch‘ wird, erhöht sich auch die Temperatur des Wassers. Damit ändert sich auch die Moderatorfähigkeit des Wassers, das dann der Kettenreaktion entgegenwirkt.“ 30 Diese Diskussion über die technische und wissenschaftliche Risiko-Beherrschung wurde insbesondere in zeitlicher Nähe zur Inbetriebnahme des Reaktors vom Betreiber des Kraftwerks aktiv vorangetrieben. Zahlreiche Details sollten verdeutlichen, dass alle Eventualitäten berücksichtigt worden seien. So wurde im

28 Erste Teilgenehmigung, Niedersächsischer Sozialminister II 22.51.46 und Niedersächsischer Minister für Wirtschaft und Verkehr, II/5a – 26.72.b, an Kernkraftwerke Stade GmbH u.a., 5.7.1968, S. 18, in NLA Stade, Rep. 180 Hb Nr. 1030 29 Zwei Sicherheitshüllen um Reaktor, in: Stader Tageblatt, 3.7.1969. 30 Ebd.

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Januar 1971 eine Konferenz mit verschiedenen „Kernkraft-Experten“ im Informationszentrum des entstehenden Kernkraftwerks veranstaltet, zu der Journalisten eingeladen wurden.31 Als Multiplikatoren erfuhren diese hier, dass aufgrund der Sicherheitsvorkehrungen „auch die schwersten denkbaren Unfälle nicht zu einer Katastrophe führen können“.32 Das gelte für Flugzeugabstürze ebenso wie für „ein Platzen des gesamten Primär-Wasserkreislaufes: Immer seien die Beton- und Stahlwände stärker als alle auf sie einwirkenden (angenommenen) Kräfte“.33 Eine atomare Explosion des Reaktorbrennstoffs sei physikalisch nicht möglich, auch wenn dies, wie angegeben wurde, „Anlaß vieler Angstvorstellungen“ sei. Das Wasser der Elbe werde um weniger als 0,1°C aufgeheizt, was kein Vergleich zu natürlichen Temperaturschwankungen durch die Sonne sei.34 Auch werde keine Radioaktivität an das Wasser abgegeben, da nur der primäre von drei Wasserkreisläufen mit Radioaktivität in Berührung komme, während das Kühlwasser dem dritten Kreislauf entspreche. An die Luft dagegen werde zwar Strahlung abgegeben, allerdings in unproblematischen Größenordnungen: „Die vom Kraftwerk ausgehende Strahlenbelastung wird selbst im ungünstigsten Fall für die Bewohner der umliegenden Gebiete 0,03 rem/Jahr […] nicht überschreiten.“ 35 Dies entspreche dem genehmigten Wert der Emissionen, praktisch sei nur mit 0,003 rem pro Jahr zu rechnen – während die durchschnittliche „natürliche Strahlenbelastung“ in der BRD „bei 0,1 bis 0,2 rem/Jahr“ liege. 36 Laut einem der anwesenden Experten, dem Holsteiner Biophysiker Prof. Dr. Johannes Meißner, sei zudem eine Belastung unterhalb von 100 rem nicht kritisch. Diese Risiko-Bewertungen der „Kernkraft-Experten“ fanden offenbar das Vertrauen des anwesenden Tageblatt-Vertreters, der betonte, sie seien „gelassen und mit der Autorität des Fachmannes“ vorgetragen worden.37

31 Die Sicherheit steht an erster Stelle, in: Stader Tageblatt, 28.1.1971. 32 Ebd. 33 Ebd. 34 Die Wärmeabgabe der Kraftwerke war einer der frühesten Kritikpunkte, siehe beispielsweise für Wyhl Dieter Rucht: Von Wyhl nach Gorleben. Bürger gegen Atomprogramm und nukleare Entsorgung. München 1980, S. 82; Sorgen um die Qualität von Wasser und Luft standen allgemein im Zentrum der Umweltsorgen der frühen 1970er Jahre, siehe übersichtlich Franz-Josef Brüggemeier: Schranken der Natur. Umwelt, Gesellschaft, Experimente 1750 bis heute. Essen 2014, S. 257. 35 Die Sicherheit steht an erster Stelle, in: Stader Tageblatt, 28.1.1971. 36 Ebd. 37 Ebd.

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Die lokale Presse ließ sich überzeugen: Die existenziellen, gesundheitlichen und Umweltrisiken galten als so gering, dass man das Kraftwerk in der Nachbarschaft bedenkenlos akzeptieren konnte. Das Stader Tageblatt betonte dies auch 1972 noch einmal, als die Anlage aus der Obhut der Erbauer, der KraftwerkUnion, an die Betreibergesellschaft übergeben wurde. Laut Hans-Ulrich Fabian, einem Diplom-Physiker der NWK, könne sogar „ein schwerbewaffneter und zweckmäßig ausgerüsteter Sabotagetrupp“ den Reaktor zwar abschalten, „aber auf keinen Fall eine Gefährdung der Bevölkerung hervorrufen“.38 Im alltäglichen Betrieb dagegen drohe keine Gefahr. „Patrick Rübenberg, Dipl.-Ing. und Abteilungsleiter bei KKS“ betonte, die radioaktive Belastung durch Emissionen liege unter derjenigen einer Urlaubsreise in den Schwarzwald. Zudem würden bereits jetzt die Sicherheitsvorkehrungen des Kraftwerks erweitert, um auch in dem unwahrscheinlichen Fall gewappnet zu sein, dass einer der seit kurzem auf der Elbe verkehrenden Flüssiggastanker „genau querab dem Kraftwerk leckschlägt, daß sich weiter nach Verdampfen eine Gaswolke bildet und daß diese endlich genau dann explodiert, wenn sie das Kraftwerk erreicht“. 39 Als das Kernkraftwerk seinen Leistungsbetrieb in den Händen der von NWK und der Hamburgischen Electricitäts-Werke AG gegründeten KKS GmbH aufnahm, ergänzten praktische Erfahrungen die theoretischen Risikoberechnungen. Noch im Oktober 1972 betonte das Tageblatt, dass die Sicherheitstechnik funktioniere. Bisher habe es drei Schnellabschaltungen gegeben – infolge von Ereignissen, die bei nicht-nuklearen Anlagen „unter keinen Umständen zur Abschaltung geführt“ hätten. „Bei Kernkraftwerken jedoch sind die Sicherheitsbestimmungen besonders streng – im Interesse der Allgemeinheit.“40 Ein Jahr später resümierte das Tageblatt noch einmal die Zuverlässigkeit und Sicherheit des lokalen Reaktors – und untermauerte seine Bedeutung durch einen Blick auf die aktuelle nationale Energiedebatte. Eine Uhr mit Radium-Leuchtfarbe strahle mit der 20fachen Intensität der natürlichen Hintergrundstrahlung – das Stader Kernkraftwerk dagegen gebe weniger als ein Prozent dieser Menge an die Umgebung ab. Da Kernenergie aber nicht nur sicher sei, sondern auch billiger als konventionell erzeugter Strom, sei vor dem Hintergrund der Ölkrise der Ausbau von Kernkraftwerken in der BRD von großer Bedeutung.41

38 Experten unterstreichen: Keine Gefahr durch Kernkraftwerk. Einzig denkbare Ausnahme wäre mit konventionellen Waffen geführter Krieg, Stader Tageblatt, 18.5.1972. 39 Ebd. 40 Experten ‚testeten‘ Kraftwerk-Sicherheit. Gäste erlebten Schnellabschaltung des Reaktors, Stader Tageblatt, 7.10.1972. 41 Im Kernkraftwerk ohne eine Störung 12 Milliarden kWh, Stader Tageblatt, 8.11.1973.

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Die Erfahrung mit dem eigenen, routiniert laufenden Kraftwerk schien vor Ort beruhigend zu wirken.42 Während in Whyl oder Brokdorf massive Proteste gegen dortige Kraftwerksvorhaben das Land in Atem hielten und ein (trans-) nationales Netzwerk von Kernkraftkritikern entstand, 43 waren Risiken des eigenen Kraftwerks für die Stader Bevölkerung zunächst kein Thema mehr, über das öffentlich gestritten wurde. Noch im Oktober 1977, als der Journalist Wolf Konerding einen Beitrag über Stade für das ZDF produzierte, konnte er feststellen, dass die Menschen in Stade ‚ihr‘ Kraftwerk mehrheitlich positiv bewerteten. 44 Zweifel an der Sicherheit der Kernenergie im Allgemeinen, wie sie auf der nationalen Ebene unübersehbar waren, 45 und des Stader Kernkraftwerks im Besonderen waren ein fremdes Phänomen, etwas, das es außerhalb der eigenen Kommune gab, oder das die Sache einer, wie man lesen konnte, ideologisch verklärten Jugend war.46 Das heißt freilich nicht, dass es vor Ort gar keine kritischen Stimmen gegeben hätte. Diese gab es sehr wohl, in aller Regel jedoch mit Bezügen auf die (trans-) nationalen Debatten, etwa in der Wissenschaft. Beispielsweise hatte im April 1972 der Diplomingenieur Detlef Bockelmann in einem Leserbrief darauf hingewiesen, dass der äußerst geringe Umfang der radioaktiven Emissionen des Stader Kernkraftwerks nicht bedeute, dass diese nicht gefährlich seien. Man müsse vielmehr auf dem aktuellen Forschungsstand davon ausgehen, dass selbst kleinste Strahlenmengen Schäden an Lebewesen hervorrufen könnten – insbesondere an kleinen Lebewesen, also Kindern und vor allem Embryonen. Dass derlei von „der Interessengemeinschaft Physik und Energie stets mit nicht zu überbietender Expertenarroganz“ abgetan werde, ändere nichts an den Tatsachen und werde von „der Öffentlichkeit“ sicherlich künftig nicht mehr ohne weiteres hingenommen. 47 Ein Jahr

42 Beachte zu diesem Effekt auch Ortwinn Renn: Wahrnehmung und Akzeptanz technischer Risiken. Bd. 3: Das Symbol Kernenergie – Einstellungen und ihre Determinanten. Jülich 1981, S. 29–32. 43 Siehe beispielsweise Wolfgang Rüdig: Anti-Nuclear Movements. A World Survey of Opposition to Nuclear Energy. Harlow 1990, besonders S. 130–135 und S. 150–152, aber auch Milder, Stephen: „Today the Fish, Tomorrow Us.“ Anti-Nuclear Activism in the Rhine Valley and Beyond, 1970–1979. Diss., Chapel Hill 2012, passim. 44 Bau eines zweiten Kernkraftwerks ist nicht aktuell, Stader Tageblatt, 15.10.1977. 45 Weisker, Expertenvertrauen (wie Anm. 19), S. 406. 46 Siehe zum Beispiel Bleibt bald nichts anderes übrig? Experten: Keine Gefahr vom Atom!, in: Stader Tageblatt, 22.5.1971; Ministerpräsident Kubel hatte beim Knopfdruck den Daumen oben, Stader Tageblatt, 29.6.1971. 47 Gefährden kleinste Strahlenmengen doch manche Menschen?, Leserbrief von Detlef Bockelmann, Stader Tageblatt, 18.4.1972.

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danach forderte die SPD aus Buxtehude, einer Nachbarstadt Stades, eine Untersuchung der Sicherheit des lokalen Atomkraftwerks durch den Kreistag – da eine Bürgerinitiative aus der Bremer Gegend infolge eines Radioberichts über die zusätzlichen Sicherheitsmaßnahmen, die im KKS gegen das eventuelle Unglück eines Gastankers auf der Elbe installiert wurden, geschlussfolgert hatte, dass das Kraftwerk nicht sicher genug sei und daher sein Aus verlangte. 48 Für den Kreistag stand dies jedoch nicht zur Debatte. Schließlich kritisierten Stader Pastoren 1976 am Brokdorfer Beispiel das Vorgehen der deutschen Bundes- und Landespolitiker in der Atompolitik generell: Sie sahen einen unverantwortlichen Umgang mit der Umwelt und totalitäre Züge in der Durchsetzung der Atompolitik.49 Stade und das Stader Atomkraftwerk schien das jedoch nicht zu betreffen. Die weit überwiegende Mehrheit der lokalen Bevölkerung, der Politiker und auch die lokalen Medien waren mit ‚ihrem‘ Kernkraftwerk zufrieden. 50 Sein Bau hatte einen wirtschaftlichen Aufschwung eingeleitet und die entsprechenden Vorteile dominierten die lokalen Debatten. Die mit dem Kernkraftwerk verbundenen Risiken schienen akzeptabel und beherrschbar, ein Grund für aufgeregte Debatten waren sie nicht. Das allerdings änderte sich ab 1978.

VERTRAUENSBRUCH UND VERÄNDERTE RISIKOWAHRNEHMUNG (1978/1979) Am 13. Januar 1978 berichtete das Stader Tageblatt, dass die NWK in Hannover beantragt habe, bei Stade ein Zwischenlager für ausgebrannte Brennelemente einzurichten.51 Dieser Umstand an sich war für die meisten Stader kein übergroßes Problem. So meinte der Fraktionsvorsitzende der SPD im Stader Stadtrat, HansGünter Eidtner, dass man als Standort eines Atomkraftwerks wohl kaum etwas gegen ein solches Lager haben könne. Diese Position konnten auch die anderen

48 Ein Rundfunk-Interview schlägt heftige Wellen. Stillegung des Kernkraftwerks Stade wird gefordert, Stader Tageblatt, 3.2.1973; ‚Sicherheitsvorkehrungen im Kernkraftwerk prüfen‘, Stader Tageblatt, 9.2.1973. 49 Pastoren aus dem Kreis Stade betonen: ‚Menschliche Freiheit durch Atomreaktoren stark gefährdet‘. Sofortiger Baustopp und Aufklärung verlangt, Stader Tageblatt, 21.4.1976. 50 Jürgen Bohmbach: 31 Jahre Kernkraftwerk Stade – Rückblick und Bilanz, in: Klaus Frerichs/Gerd Mettjes (Hg.): Neue Energie!? Abschied vom Kernkraftwerk Stade. Bremen 2004, S. 57–72, hier S. 67f. 51 Lager für Atom-Müll im Landkreis Stade, Stader Tageblatt, 13.1.1978.

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etablierten Parteien vor Ort teilen.52 Auch Jürgen Mainz vom Tageblatt war dieser Meinung.53 Tatsächlich wurde ein solches, speziell für den Müll des Stader Kraftwerks, einige Jahre später errichtet.54 Allein Vertreter von Bürgerinitiativen wie der Arbeitsgemeinschaft Umweltplanung Niederelbe (AUN) oder der Stader Arbeitskreis Atomenergie und auch die lokale FDP um Reinhard Merten stellten sich in der Sache gegen ein Atommülllager in Stade.55 Dennoch kennzeichnet der Antrag einen entscheidenden Bruchpunkt in der Stader Debatte über das Risiko des eigenen Kernkraftwerks. Denn die sachliche Frage nach dem Lager stand nicht im Vordergrund. Vielmehr bedeutete die Art und Weise des Antrags für zahlreiche Stader einen eklatanten Vertrauensbruch, den wieder zu vergeben nicht alle in der Lage waren: Die Stadt und ihre Bevölkerung nämlich waren nicht über den Antrag informiert worden. Die Empörung hierüber zog sich durch alle politischen Lager. Der Stader Stadtdirektor Dr. Jürgen Schneider brachte es auf den Punkt: „Wenn durch dieses eigenmächtige Vorgehen der NWK hier Bürgerunmut entsteht, marschiere ich an der Spitze.“56 Das Unternehmen habe aus seiner Sicht „dumm“ agiert und mit diesem Fehltritt alles riskiert: „Bislang haben wir ein insgesamt gutes Verhältnis zur hiesigen Industrie. Nur deshalb herrschte in der Vergangenheit auch kein Unmut unter den Bürgern. Den Ärger, der jetzt durch die NWK entstanden ist, teile ich.“57 Darüber hinaus zweifelte der Stadtdirektor sogar die Aufrichtigkeit der Landesregierung in Hannover an, die mitgeteilt hatte, von dem Antrag überrascht worden zu sein, ein Vorwurf, den auch Bürgerinitiativen wie die AUN erhoben. 58 Auch Jürgen Mainz vom Tageblatt zeigte sich offen kritisch: Äußerste Skepsis jedenfalls ist angebracht. Warum stellte die NWK ihren Genehmigungsantrag so klammheimlich […]? Die Bürger im Kreis Stade haben ein Recht auf Antworten

52 Gunther Schönfeld/Jürgen Mainz: Politiker sind überrascht und empört. Heimliches Vorgehen stößt auf Kritik, Stader Tageblatt, 14.1.1978. 53 Jürgen Mainz: Heimlichkeit macht äußerst mißtrauisch, Stader Tageblatt, 14.1.1978. 54 Stader Atommüll soll ab 1985 auf dem Werksgelände bleiben, Stader Tageblatt, 22.2.1980. 55 Hans Schmidt: Zweites Kernkraftwerk schon vorprogrammiert? Leserbrief, Stader Tageblatt, 2.2.1978; Stades Liberale nehmen Stellung, Stader Tageblatt, 13.2.1978; Demonstration in Stade gegen Atommüllager, Stader Tageblatt, 9.3.1978. 56 Gunther Schönfeld/Jürgen Mainz: Politiker sind überrascht und empört. Heimliches Vorgehen stößt auf Kritik, Stader Tageblatt, 14.1.1978. 57 Ebd. 58 Ebd.

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[…]. Dabei sind sie auf die Hilfe der Politiker angewiesen. Sie müssen jetzt die Fragen aufwerfen, die bisher nur Bürgerinitiativen stellten.59

Eine Woche später, nachdem die Landesregierung versichert hatte, ebenfalls überrascht worden zu sein, legte Gunther Schönfeld für die Zeitung nach: Zu dubios war das Vorgehen der NWK-Gesellschaft, die ihren Antrag, in Stade ein Zwischenlager zu errichten, ohne Wissen örtlicher Behörden formuliert hatte. Zu heftig war die Reaktion kommunaler Politiker und Verwaltungsexperten, als daß die Öffentlichkeit nun glauben könnte, an der ganzen Sache sei nichts dran. Zu laut ist das Geflüster zum Beispiel im Stader Rathaus, die Ministerialbürokraten in Hannover hätten längst Wind von dem NWK-Vorhaben gehabt. Zu widersprüchlich sind die Aussagen, die das Tageblatt selbst aus Hannover in den vergangenen Tagen bekommen hat.60

Wo zuvor die Risiken der Kernkraft als beherrschbar gegolten hatten und kein Anlass für umfangreiche Debatten gewesen waren, änderte sich dies nun. Wenn in der Folge Probleme beim Atomkraftwerk auftraten, wollten die Mitglieder der politischen Gremien vor Ort nun genau wissen, worum es ging, und auch das Tageblatt befasste sich (wieder) mit Details. Als im März 1978 Hans Schmidt von der AUN berichtete, dass es im Reaktordruckbehälter des KKS Risse gäbe, 61 druckte das Tageblatt die Erklärung des technischen Betriebsleiters Heinz Cramer in allen Einzelheiten ab. Cramer erklärte, die fraglichen Risse seien keine vorhandenen Risse, sondern angenommene. Der Reaktordruckbehälter nämlich sei so ausgelegt, dass er „an der schwächsten Stelle bis zu knapp 50 Millimeter tiefe und etwa 360 Millimeter lange Risse verkraften“ könne.62 Da der TÜV den Mantel alle vier Jahre mit Ultraschall prüfe, wodurch schon Risse von 3 Millimeter Tiefe aufgespürt werden könnten, bestehe also kein Grund zur Sorge. 63 Das Thema schien durch diese ausführliche Erläuterung zunächst wieder erledigt – der Umstand, dass sie erschien, deutet aber bereits darauf hin, dass Schneider die Situation korrekt beschrieben hatte: Dadurch, dass die NWK die lokale Bevölkerung (und vor allem die Behörden) bei ihren Zwischenlagerplänen nicht ins Vertrauen gezogen hatte,

59 Jürgen Mainz: Heimlichkeit macht äußerst mißtrauisch, Stader Tageblatt, 14.1.1978. 60 Gunther Schönfeld: Zweifel bleiben, Stader Tageblatt, 21.1.1978. 61 Der AUN liegt eine bestürzende Information vor: Der Reaktor-Druckbehälter des Atomkraftwerks Stade hat Risse, Stader Tageblatt, 7.3.1978. 62 NWK-Dementi: Von Rissen im Druck-Behälter keine Spur, Stader Tageblatt, 18.3.1978. 63 Ebd.

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wurde ihr nun ebenfalls weniger vertraut und sie musste umfangreiche Erklärungen abgeben, die zum relevanten Thema in den lokalen Medien wurden. 64 Für lokale Kernkraftgegner und auch die FDP saß der Vertrauensbruch tiefer. Erstere, beispielsweise Harm Menkens, brachten mögliche Manipulationen an Messwerten ins Gespräch und zweifelten öffentlich an der politischen Aufsicht auf Landes- und Bundesebene. 65 Rudolf Fischer, der FDP-Bezirksvorsitzende, konzentrierte sich in den folgenden Monaten auf die Frage, ob die Katastrophenschutzpläne für den Fall des Falles ausreichend waren. Um dies für jeden überprüfbar zu machen, forderte er deren Offenlegung, wissenschaftliche Prüfung und Einübung unter Beteiligung der Bevölkerung. 66 Da für den Katastrophenschutz nicht zuletzt der Kreis selbst verantwortlich war, ging Fischers Kritik damit weiter als diejenige der übrigen etablierten politischen Parteien und auch als die der lokalen Presse, indem sie auch gegenüber den eigenen Kreisbehörden Misstrauen zum Ausdruck brachte. Damit war er zunächst allein. Als Anfang 1979 allgemeine Informationen zum Katastrophenschutzplan veröffentlicht wurden, sah Helmut Badekow vom Tageblatt hierin ein Zeichen, dass man den Behörden vor Ort vertrauen könne.67 Fischer jedoch blieb bei seiner Kritik und vermutete, die Weigerung, alles öffentlich zu machen, zeige, dass „der Bevölkerung das wahre Risiko der Kernkraftwerke verheimlicht werden“ solle – auch vom Kreistag.68 Es war allerdings kein konkretes Risiko, das Fischer hier als zu hoch kritisierte – es war die Möglichkeit eines verschwiegenen Risikos, die er vermutete, da offenbar sein Vertrauen in die Verantwortlichen der Kernenergie beschädigt worden war. Bereits im nächsten Jahr wurde allerdings deutlich, dass auch diejenigen, deren Misstrauen weniger ausgeprägt war als das Fischers oder Menkens‘, nicht wieder zu den vertrauensvollen Verhältnissen von vor 1978 zurückgekehrt waren. Die Gewissheit, dass Risiken im eigenen Kernkraftwerk beherrscht werden konnten, war verschwunden und das einmal beschädigte Vertrauen bröckelte mit jedem neuen Zwischenfall weiter ab. Dies zeigte sich bereits angesichts der partiellen

64 Weisker weist zudem darauf hin, dass die Atomindustrie in den späten 1970er Jahren bundesweit aktiv um Vertrauen warb, das sie als wesentliche Komponente der Auseinandersetzung um die Kernenergie erkannt hatte, Weisker: Expertenvertrauen (wie Anm. 19), S. 415f. 65 Harm Menkens: Grenzwerte schließen Schädigung nicht aus, Stader Tageblatt, Leserbrief, 2.5.1978. 66 Schaltet die Reaktoren ab, Stader Tageblatt, 30.6.1978; Ernstfallübung mit Bevölkerung von Verantwortlichen abgelehnt, Stader Tageblatt, 20.10.1978. 67 Helmut Badekow: Das Ende der Verdrängung, Stader Tageblatt, 10.1.1979. 68 Atomübung wird unterstützt, Stader Tageblatt, 14.3.1979.

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Kernschmelze im US-amerikanischen Kernkraftwerk Three Mile Island am 28. März 1979.69 Während Dr. Hans-Ulrich Fabian von der NWK AG erklärte, da der Zwischenfall letztlich unter Kontrolle gebracht werden konnte, sei dies ein beruhigendes Zeichen,70 wollte Stadtdirektor Schneider das lokale Kraftwerk angesichts des Vorfalls in den USA gründlich prüfen und notfalls auch abschalten lassen.71 Er war zwar gewillt, den etablierten Experten des TÜV zu vertrauen – allerdings nicht unbegrenzt. So schienen ihm die jährlichen Routineprüfungen nicht ausreichend. Der Stader SPD-Landtagsabgeordnete Helmut Barwig sah sich sogar grundsätzlich nicht mehr in der Lage, Atomenergie zu befürworten. Der Grund dafür war das beschädigte Vertrauen: Man muß wohl sagen, daß wir von den Fachleuten bislang entweder belogen oder hinters Licht geführt worden sind. Die Behauptungen, so etwas wie in den USA könne gar nicht passieren, sind offensichtlich schlicht falsch.72

Auch das Tageblatt war schockiert. Mit Blick auf diejenigen, die sich für Kernenergie einsetzten, sprach es von „Kern-Propagandisten“ und ihren „Beruhigungsparolen“. Der Vertrauensbruch war offensichtlich: Nichts ist mehr so wie vorher. […] Nichts ist unmöglich, alles kann passieren, und über den Eintrittszeitpunkt sagen (Un-)Wahrscheinlichkeitsberechnungen nichts.73

Sicherheit vermittelnde Risikodebatten über die Höhe von Grenzwerten und Restrisiken, an denen die Zeitung knapp zehn Jahre zuvor noch teilgenommen hatte, schienen angesichts des verlorenen Vertrauens nun undenkbar. 74 Noch im selben Monat wurde ein weiterer Zwischenfall bekannt – nicht in den USA, sondern in Stade selbst. Kernkraftgegner verteilten hier ein Flugblatt, in dem es hieß, dass eine Schweißnaht des Reaktordruckbehälters des lokalen Kraftwerks

69 Eine gute Übersicht über den Hergang und die Folgen mit Blick auf die USAtomenergie bietet J. Samuel Walker: Three Mile Island. A Nuclear Crisis in Historical Perspective. Berkeley 2004. 70 Harrisburg: Für NWK ‚beruhigend‘, Stader Tageblatt, 21.4.1979. 71 Die langen Schatten von Harrisburg fallen auch auf Stade, Stader Tageblatt, 3.4.1979. 72 Ebd. 73 Ebd. 74 Siehe Luhmanns These, dass Vertrauen notwendig sei, um Hypotheken auf die Zukunft zu ertragen, Luhmann: Vertrauen (wie Anm. 13), S. 7.

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unerwartet stark versprödet sei. Das bedeutet, dass das Material durch den Beschuss mit Neutronen verändert worden war, an Härte gewonnen und Elastizität verloren hatte. Schnell erklärte der Leiter des Kraftwerks, Bernhard Eblenkamp, dass dies zwar korrekt, aber kein akutes Sicherheitsproblem sei. 75 Man habe eine verstärkte Versprödung in Materialproben der Schweißnaht festgestellt, die näher am Kern des Reaktors platziert worden seien und somit einen Ausblick auf die künftige Entwicklung des Materials der Naht selbst erlaubten. Um die weitere Versprödung der Naht selbst zu vermindern, habe man verschiedene Maßnahmen ergriffen. 76 Die Erklärung klang simpel und die Möglichkeiten, mit der Versprödung umzugehen, galten als vielfältig und in der Branche wohlbekannt.77 Heikel für die Wahrnehmung vor Ort war jedoch, dass hier inmitten einer sowieso angespannten Debatte ein erneuter Vertrauensbruch gesehen wurde. Denn, wie das Tageblatt in seinem Bericht betonte, sei die Versprödung eben nicht durch Betreiber, Kontrolleure oder Behörden bekanntgegeben worden, sondern durch Bürgerinitiativen.78 Stadtdirektor Schneider stimmte erneut in die Kritik ein – angesichts eines solchen Verhaltens dürfe man sich „nicht über das Mißtrauen in der Bevölkerung wundern“. Er erneuerte denn auch seine Forderung nach einer gründlichen Überprüfung des Reaktors.79 Das Misstrauen war so groß, dass niemand daran dachte, dass Heinz Cramer das Phänomen der Versprödung im April des

75 Reaktordruckgefäß völlig in Ordnung, Stader Tageblatt, 18.4.1979. 76 Vorbeugende Maßnahmen gegen Versprödung des Druckbehälters, Stader Tageblatt, 28.4.1979. 77 Tatsächlich waren Probleme der Materialversprödung mit Blick auf die Reaktorsicherheit immer wieder ein Thema, so beispielsweise bereits bei Versuchsreihen des Argonne National Laboratory und Oak Ridge National Laboratory 1951 und 1952, bei der Internationalen Atomenergieorganisation in Wien 1962, der Euratom-Komision 1966 und bei der Reaktorsicherheitskommission und zuständigen Bundesministerien besonders ab den frühen 1970er Jahren, Paul Laufs: Reaktorsicherheit für Leistungskernkraftwerke. Die Entwicklung im politischen und technischen Umfeld der Bundesrepublik Deutschland. Berlin 2013, S. 262, S. 357, S. 788, S. 834 sowie S. 841–851, S. 856–864, S. 871–875 und S. 939–942. 78 Ebd. Zum Debattenverlauf siehe auch Petra Uhlmann: Schallmauern und Meilensteine. Zur technischen und ökonomischen Entwicklung des Kernkraftwerks Stade, in: Klaus Frerichs/Gerd Mettjes (Hg.): Neue Energie!? Abschied vom Kernkraftwerk Stade. Bremen 2004, S. 81–90. 79 Schneider kritisiert Informationspolitik, Stader Tageblatt, 25.4.1979.

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Vorjahres durchaus angesprochen hatte, als er sich zur Stabilität des Reaktordruckbehälters im Hinblick auf mögliche Risse geäußert hatte. 80 Einen weiteren Monat später wurde das Vertrauensverhältnis zwischen den Menschen vor Ort auf der einen sowie den Betreibern des Kernkraftwerks und den Landes-Aufsichtsbehörden auf der anderen Seite erneut in Mitleidenschaft gezogen. Anfang Mai 1979 deckte nämlich das Tageblatt einige Vorfälle auf, bei denen die Betreiber des KKS von den Behörden geforderte Reaktorabschaltungen verweigert oder Messungen verschoben hätten – was die Aufsichtsbehörden jeweils akzeptierten.81 Die nun entstehenden Debatten hatten unter anderem Initiativen für eine Fernüberwachung des Kraftwerks zur Folge. 82 In den folgenden Monaten beruhigten sich zwar einige der Kritiker vor Ort wie Helmut Barwig 83 oder die Tageblatt-Redaktion84 und fanden zu einem etwas vertrauensvolleren Verhältnis zu ‚ihrem‘ Kernkraftwerk zurück. Dennoch hatten die Vorfälle der Jahre 1978 und 1979 das Vertrauensverhältnis zwischen der lokalen Bevölkerung, Politikern und Behörden, den Betreibern und Aufsichtsbehörden auf Landesebene sowie zu den mit der Kontrolle der Auflagen betrauten technischen Experten nachhaltig erschüttert. Wann immer in der Folge von Risiken der Kernenergie die Rede war, wurde dies in Stade nicht mehr im vollen Vertrauen auf die Sicherheit des eigenen Kraftwerks hingenommen. Vielmehr wuchs die Gruppe der Zweifler an der Kontrollierbarkeit der Risiken mit jedem weiteren Vorfall an – und die Sensibilität der Problemwahrnehmung nahm zu.

FORTSCHREITENDER VERTRAUENSVERFALL (AB 1979) Skeptisch gegenüber der Kernenergie und misstrauisch gegenüber ihren Befürwortern blieben zunächst die Bürgerinitiativen, Fischer und die sich formierenden Grünen.85 Horst Schörshusen aus Buxtehude etwa kritisierte die kurz zuvor doch

80 NWK-Dementi: Von Rissen im Druck-Behälter keine Spur, Stader Tageblatt, 18.3.1978. 81 Das Atomkraftwerk hatte Angst vor Mißverständnissen der Öffentlichkeit, Stader Tageblatt, 5.5.1979. 82 Vor Anschalten Sonderprüfung des Atomkraftwerks, Stader Tageblatt, 12.5.1979. 83 Helmut Barwig/Dr. Wolfgang Schwenk: Neubau weiterer Kernkraftwerke kann nicht ausgeschlossen werden, Stader Tageblatt, Leserbrief, 1.12.1979. 84 Siehe ‚Wir sitzen in einem elend treibenden Boot‘, Stader Tageblatt, 13.10.1980. 85 Siehe zum Beispiel Für Veröffentlichung des Revisionsberichtes, Stader Tageblatt, 2.9.1980.

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öffentlich gemachten Katastrophenschutzpläne im April 1981 mit deutlichen Worten. In einer 50seitigen Broschüre legte er dar, wieso diese Pläne die Bevölkerung nicht schützen könnten und forderte das Aus für alle Atomkraftwerke. 86 Nachdem die Grünen 1982 in den niedersächsischen Landtag eingezogen waren, nutzten sie ihre dortige Präsenz, um den Atomenergiebefürwortern immer wieder auf den Zahn zu fühlen. Vor allem drehten sich ihre Anfragen hier um die Versprödung des Stader Reaktors, wobei sie sich zunächst noch auf kritische Aussagen von TÜV und RSK beriefen,87 bald aber auch Maßnahmen, die diese absegneten, zu „Trick[s]“ erklärten,88 ihr Misstrauen also explizit auf die technischen Experten ausweiteten, welche die Sicherheit des KKS beurteilen sollten. Unter solchen Bedingungen schienen Debatten über akzeptable oder nicht akzeptable Risiken zwischen Gegnern und Befürwortern der Kernenergie letztlich nicht mehr möglich. Das Stader Tageblatt sah dies mit Bedauern, wurde so doch „jede fruchtbare Diskussion um die friedliche Nutzung der Kernenergie auch im Hinblick auf die Probleme der dritten Welt im voraus“ unmöglich.89 Diese Einschätzung bewahrheitete sich vollständig nach dem Super-GAU von Tschernobyl.90 In dessen Folge waren die Risiken der Kernenergie in Stade ein häufig und intensiv diskutiertes Thema. 91 Galt das dortige Kraftwerk doch nicht nur den Grünen als besonders gefährdet und daher abzuschalten, sondern auch der SPD, mit Ausnahme der Stader Genossen, als bester Kandidat für den ‚Einstieg in den Ausstieg‘. Für sie nämlich hatte der Vorfall in der Ukraine die bis dahin theoretischen Gefahren „zu einem realen Risiko“ werden lassen.92 CDU und FDP dagegen wollten an dem Reaktor festhalten, solange er ‚sicher‘ sei. Wenn aber in der Folge die Sicherheit des KKS erörtert wurde, ging es weniger darum, welches Ri-

86 Da bleibt nur noch das kalte Grausen, Stader Tageblatt, 11.4.1981. 87 Mehrheit lehnt Entschließung zur Stillegung des Reaktors ab, Stader Tageblatt, 29.4.1983. 88 Andere Notkühlung gegen Berstgefahr, Stader Tageblatt, 18.7.1983. 89 Hans-Dieter Hamboch: In Gorleben ging eine Tür auf, Stader Tageblatt, 9.10.1984. 90 Beachte hierzu vor allem Stephanie Cooke: In Mortal Hands: A Cautionary History of the Nuclear Age. New York 2009, S. 302–324. 91 Beachte besonders Bohmbach: Kernkraftwerk (wie Anm. 50), der hier den wesentlichen Umschwung in der Debatte über das KKS verortet. 92 SPD und Grüne wollen Stader Atomkraftwerk abschalten, Stader Tageblatt, 31.1.1987.

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sikoausmaß warum vertretbar war oder nicht, sondern darum, wer welchen Experten vertraute.93 Als der Stader Stadtrat im September 1986 eine Anhörung zur Sicherheit des lokalen Kraftwerks veranstaltete, sollten auch ‚kritische Experten‘ eingeladen werden. Als diese schließlich absagten, da ihnen angeforderte Unterlagen vonseiten der Landesregierung nicht ausgehändigt wurden, blieb auch die Fraktion der Grünen der Anhörung fern und bezeichnete sie als „Kaspertheater“. 94 Bürgerinitiativen sprachen von einer „Farce“, da sie kein Vertrauen mehr in die versammelten Experten vom Betreiber, von der Landesregierung, dem TÜV und der Reaktorsicherheitskommission hatten: Der Glaube in die Objektivität von Instituten wie der Gesellschaft für Reaktorsicherheit und dem TÜV ist erschüttert, weil sich in der Vergangenheit immer wieder gezeigt hat, daß ihnen die Interessen der Atomkraftwerksbetreiber näher liegen als die Sicherheitsinteressen der Bevölkerung.95

Eine Studie zur Sicherheit des KKS, die von den Grünen bei der Gruppe Ökologie in Hannover in Auftrag gegeben worden war, bezeichnete die PreussenElektra dagegen als „fehlerhaft und teilweise grob irreführend“.96 Der Bremer Atomphysiker Prof. Dr. Jens Scheer, auf den sich Bürgerinitiativen immer wieder beriefen und der Atomkraftwerke nur dann zulassen wollte, wenn Gefahren „mit naturgesetzlicher Sicherheit ausgeschlossen“ würden,97 wurde von zahlreichen anderen Akteuren als Diskussionspartner abgelehnt, weil er bis 1980 Mitglied der KPDAufbauorganisation gewesen war und zwar Atomkraftwerke im Westen abgelehnt, chinesische Atomwaffentests aber gutgeheißen habe. 98 Die Mehrheit der Stader Lokalpolitiker, die den Betreibern des Kraftwerks, den zuständigen Behörden und Experten weiterhin vertrauten, erklärten daher die Äußerungen kritischer

93 Konflikte zwischen Experten waren weltweit eine wichtige Triebkraft hinter der Kernenergiekritik, wobei diese vor allem außerhalb der BRD wichtig waren, Rüdig: Movements (wie Anm. 43), S. 65–72. 94 Experten: Stader Reaktor ist sicher, Stader Tageblatt, 16.9.1986. 95 Ebd. 96 Stader Reaktor ebenso sicher wie die neuen Kernkraftwerke, Stader Tageblatt, 18.2.1987. 97 Stade ist deutlich unsicherer als andere Kernkraftwerke, Niederelbe Zeitung Otterndorf, 2.3.1987. 98 Kernenergie: Neese steht zu Nürnberger Parteitags-Positionen, Niederelbe Zeitung Otterndorf, 2.3.1987.

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Experten für unglaubwürdig. Aus ihrer Perspektive gab es schlicht „keine anerkannten Experten“, die ein besonderes Risiko beim KKS ausmachten.99 Ein Physiker, dessen Beitrag das Stader Tageblatt im August 1986 abdruckte, brachte das Problem auf den Punkt: Wenn man die Aussagen der PreussenElektra und einen Antrag der Hamburger Grünen Alternativen Liste vergleiche, bleibe man ratlos zurück. Wer hat nun recht? Wem soll ich glauben? Hier liegt doch das entscheidende Problem für den Bürger und auch für den Politiker: Er kann die Aussagen nicht selbst verifizieren, er muß dem einen oder dem anderen sein Vertrauen schenken und ihm schlicht glauben.100

Das fasste die Lage gut zusammen. Bis 1978 hatten die Menschen in Stade und Umgebung mit wenigen Ausnahmen den Behörden, Betreibern und Experten vertraut, die ihnen erklärten, dass die Risiken des Atomkraftwerks vor Ort vertretbar waren. Dieses Vertrauen bildete die Basis dafür, die oftmals komplexen Risikobetrachtungen zu akzeptieren, die gerade in der Frühzeit des KKS kursierten. Durch die Vorfälle von 1978 und 1979 wurde die bestehende Vertrauensbeziehung dann durch die NWK und die niedersächsische Landesregierung verletzt, die ihrerseits den Stadern kein Vertrauen entgegenzubringen schienen.101 Nach 1979 sank die Anzahl derer, die den Kernenergiebefürwortern noch vertrauen konnten, ihren Risikoanalysen glaubten, mit jedem weiteren Zwischenfall. Tschernobyl spitzte diese Situation weiter zu, nicht zuletzt, weil in der Folge die Anzahl der Menschen, die sich in Bürgerinitiativen engagierten zunahm und die SPD außerhalb Stades den ‚Einstieg in den Ausstieg‘ forderte – angefangen mit dem KKS.102 Auch das Stader Tageblatt nahm nun eine extrem kritische Position ein, die es über Jahre nicht wieder verließ. Im Mai 1986 meinte Focko Siebels vom Stader Tageblatt, jegliche Risikoabwägungen rundweg ablehnend, da „eine vollständige Sicherheit“ der Atomkraftwerke nicht möglich sei, müsse man aussteigen – und

99

Sicherheit des Atommeilers: Warten auf das große Hearing, Stader Tageblatt, 27.6.1986.

100 Schörshusen widerspricht Industrie: ‚Atomkraft-Ausstieg ist machbar‘, Stader Tagegblatt, 5.8.1986; siehe auch oben, Anm. 14. 101 Zur Gegenseitigkeit in Vertrauensverhältnissen siehe Luhmann: Vertrauen (wie Anm. 13), S. 41, 59, 73. 102 Siehe beispielsweise: Demonstration: ‚Schaltet den Schrottreaktor ab‘, Stader Tageblatt, 25.4.1988.

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mit dem KKS sollte man anfangen, so bald wie möglich. 103 Da sich die Bevölkerung kein eigenes, fachlich fundiertes Urteil bilden könne und auf die Aussagen „einer technizistischen Pseudo-Priesterschaft des Atoms“ angewiesen sei, habe man nur die Wahl „zu glauben […] oder eben mißtrauisch zu sein“. Und glauben wollte er nicht, zumal es auch „Eingeweihte“ Zweifler gebe. 104 Ein Jahr danach kommentierte Wolfgang Stephan, wobei er die veränderte Situation nach 1978 ausblendete, die Ereignisse nach dem Super-GAU von Tschernobyl hätten „auch den Glauben an die uneingeschränkte Verläßlichkeit des Behörden-Apparates erschüttert. […] Bis uns schließlich klar wurde, daß hier die Ideologen am Werke waren.“105 Hinzu kamen weitere Skandale. Im Herbst 1987 wurde ein Korruptionsskandal bekannt. Handwerker, die auf lukrative Aufträge aus dem wie das KKS von PreussenElektra betriebenen Kernkraftwerk Kleinensiel spekulierten, hatten oftmals für die dortigen Auftraggeber private Arbeiten erledigen müssen, um diese zu erhalten. Focko Siebels fragte: „Leben wir in einer Bananenrepublik?“ Mit Blick auf das anschließende Kommunikationsverhalten der PreussenElektra meinte er, dieses „muß tiefes Mißtrauen wecken“. 106 Noch am Ende des Jahres wurde bekannt, dass die für Atommülltransporte zuständige Firma Transnuklear Mitarbeiter von Atomkraftwerken bestochen hatte, wobei in einem Fall auch ein Stader Mitarbeiter aufgelistet wurde. Beinahe zeitgleich wurde klar, dass eben diese Firma aus einer belgischen Wiederaufbereitungsanlage falschen Atommüll zurück nach Deutschland gebracht hatte. Dies hatte zur Folge, dass in den Lagern hiesiger Kraftwerke, die oft von den lokalen Gegnern nur im Hinblick darauf akzeptiert worden waren, dass sie allein lokalen Müll aufnehmen sollten, unbekannte Stoffe lagerten. In seinem Kommentar stellte Siebels explizit die Verbindung von Vertrauen und Risikoabwägungen her: In der Atomindustrie scheint alles möglich zu sein. […] Wer will nun angesichts solcher Zustände sicher sein, daß etwa der Atommeiler Stade wirklich sicher ist und uns nicht morgen um die Ohren fliegt. Der Glaube an die sogenannten Experten, die uns immer wieder Sicherheit verheißen, wird langsam zum Kinderglauben. Irgendwer bezahlt die schließlich

103 Focko Siebels: Trauerspiel im Stader Rat, Stader Tageblatt, 13.5.1986. 104 Focko Siebels: Die Priester des Atoms, Stader Tageblatt, 23.5.1986; beachte zu den Hintergründen etwa Rüdig: Movements (wie Anm. 43), S. 65–67. 105 Wolfgang Stephan: Tschernobyl und das Jahr danach, Stader Tageblatt, 25.4.1987. 106 Focko Siebels: Tiefes Mißtrauen nach den Nordenhamer Vorfällen, Stader Tageblatt, 24.10.1987.

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auch. Und: Ein Amerikaner sagte einmal, daß irgendwann das auch tatsächlich geschehe, was irgend passieren könne. Das Vertrauen hat ein Ende!107

Als im Januar der Verdacht aufkam, deutsche Firmen hätten Plutonium an Libyen und Pakistan verkauft, kündigte der gerade auf einer Diskussionsveranstaltung des Tageblatts anwesende SPD-Landesvorsitzende Johann Bruns an, das Aus des KKS im Landtag beantragen zu wollen.108 Wolfgang Stephan kommentierte im Tageblatt – ein weiteres Mal über die länger zurückliegenden Verschiebungen hinwegsehend: Nach Harrisburg und Tschernobyl ließ sich vortrefflich über die Sicherheit der Atomkraftwerke streiten. Eine aufkommende Grundsatz-Debatte konnte – wenn auch mühsam – gerade noch unterdrückt werden – jedenfalls lassen die Konsequenzen aus Tschernobyl noch heute auf sich warten. Doch mit den ersten Enthüllungen über Schmiergeld-Zahlungen und unkontrolliert durch die Lande verschobene Atom-Müll-Fässer mußte auch ein neues Risiko beleuchtet werden: Die Zuverlässigkeit und Kontrolle der Betreiber.109

Angesichts von Vorwürfen über verzögerte Meldungen über Vorfälle an die Aufsichtsbehörden in den Kraftwerken Biblis und Stade am Jahresende nannte Steffen Kappelt vom Tageblatt dies „[f]ür den Bürger eine unerträgliche Situation“.110 Das allerdings war etwas zu weit gegriffen. Es wurde deutlich, dass die Debatten über die Risiken der Kernenergie in Stade vor 1978 äußerst ruhig verliefen: Man vertraute allgemein den Informationen, die Betreiber und Behörden ausgaben und akzeptierte die mit dem Kernkraftwerk verbundenen Risiken als beherrschbar. Als zuerst die Betreiber und zunehmend auch die Behörden, vor allem auf Landesebene, dieses Vertrauen verspielten, indem sie die lokale Öffentlichkeit und die lokalen Behörden ihrerseits nicht ins Vertrauen über Pläne und Probleme zogen, kam es jedoch zu einem Vertrauensbruch. Dieser zog in den folgenden Jahren immer weitere Kreise und ließ Debatten über konkrete Risiken unmöglich werden, weil den grundlegenden Zahlen, Berechnungen und Interpretationen nicht mehr

107 Focko Siebels: Vertrauensvorschuß ist aufgebraucht, Stader Tageblatt, 19.12.1987. 108 Betroffenheit und Entsetzen über den Atom-Müll-Skandal, Stader Tageblatt, 16.1.1988. 109 Wolfgang Stephan: Da fehlen auch einem Werner Remmers die Worte, Stader Tageblatt, 16.1.1988. 110 Steffen Kappelt: Und der Weihnachtsmann steht nicht vor der Tür, Stader Tageblatt, 9.12.1988.

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vertraut wurde – was auch für die Angaben der Kritiker galt, die bald eigene Experten für ihre Seite fanden. Die Akzeptanz von Risiken, mit anderen Worten, war weniger abhängig von deren Höhe und diesbezüglichen Argumenten als von der Frage, ob den zuständigen Betreibern, Behörden und Experten vertraut wurde oder nicht.111 Man kann hier also Ute Frevert zustimmen, die diagnostizierte, dass am Ende des 20. Jahrhunderts „Vertrauen zu einem Leitmotiv sozialen Handelns“ geworden sei.112 Die Behauptung jedoch, dass ‚die Bürger‘ im Allgemeinen zu denen gehörten, die das Vertrauen in die Kernenergie und ihre Befürworter verloren hätten, ginge zu weit. Freilich hatte es eine kritische Phase angesichts des Vertrauensbruchs Anfang 1978 gegeben, in der selbst vonseiten der lokalen Behördenvertreter kritische Äußerungen zu vernehmen waren. Der Bruch war jedoch nicht von Dauer. Und auch wenn sich in der Folge kritische Stimmen in der Debatte fest etablierten – in Form lokaler Politiker des Umlandes ebenso wie vereinzelt in Stade selbst, auf Landesebene, in Umwelt- und Antikernkraftbewegungen ebenso wie in der lokalen Zeitungsredaktion – so befürwortete doch die absolute Mehrheit der Mitglieder des Stader Rates weiterhin das Kraftwerk. Auch der Kreistag wollte mehrheitlich von einem Aus des KKS nichts wissen.113 Eine Unterschriftenaktion von Bürgerinitiativen wurde in der Region nur von 1450 Personen unterschrieben.114 Und als das Neue Stader Wochenblatt nach dem Tschernobyl-Jahrestag 1989 als ‚Frage der Woche‘ wissen wollte: „Muß der Schrottreaktor in Stade abgeschaltet werden?“, waren die Antworten in der Stadt nachdenklich, und geteilt – zumindest, solange es keinen Ersatz gäbe.115 Für die Mehrheit der Stader Bevölkerung war, mit anderen Worten, das wirtschaftliche Risiko eines Kraftwerks-Aus wichtiger als die existenziellen, gesundheitlichen und Umweltrisiken, die das KKS mit sich brachte und die als vertretbar galten – wenn man den Befürwortern vertrauen konnte.

111 Zu verschiedenen Faktoren, die außerhalb der naturwissenschaftlich-technischen Fakten bei der Risikobewertung von Kernkraftwerken eine Rolle spielen siehe auch Renn: Wahrnehmung (wie Anm. 42). 112 Frevert: Vertrauensfragen (wie Anm. 16), S. 24. 113 Der Kreistag lehnt die Stillegung ab, Stader Tageblatt, 17.12.1988. 114 Der Minister und die Bürgerinitiative, Stader Tageblatt, 18.2.1989. 115 Muß der Schrottreaktor in Stade abgeschaltete werden? Neue Stader Wochenblatt, 3.5.1989.

Von ‚Betriebsanleitungen‘, ‚Crashkursen‘ und ‚Erfolgsmethoden‘ 1 Zeitgenössische Elternratgeber als Medium der Risikokommunikation und -konstruktion Maike Nikolai-Fröhlich

RISIKO KIND(ER) Unter dem Titel „Entscheidest Du noch oder lebst du schon?“ zeichnete die Soziologin Hella Dietz unlängst im Feuilleton der Zeitung Die Zeit die gegenwärtig rege geführte mediale Debatte über die Divergenz von Kinderwünschen und Geburtenrate in Deutschland nach. Dietz konstatierte, dass der „Großteil der Debattenbeiträge […] davon aus[geht], dass die Entscheidung für oder gegen Kinder eine individuellrationale Entscheidung ist, bei der Kosten und Nutzen von Kindern gegeneinander abgewogen werden“.2 Und tatsächlich werden innerhalb der Diskussion3 vor allem die Vor- und Nachteile einer Familiengründung – insbesondere

1

Der Titel bezieht sich auf die im Folgenden untersuchten Ratgebertexte: Louis Borgenicht/Joe Borgenicht: Das Baby. Inbetriebnahme, Wartung und Instandhaltung. München/Wien 2004; Nora Imlau: Crashkurs Baby. Anleitung für Ungeübte… garantiert ohne Schnickschnack. München 2012; Felicitas Richter: Schluss mit dem Spagat. Wie Sie aufhören, sich zwischen Familie und Beruf zu zerreißen. Die Erfolgsmethode simple present. München 2015. Zitierte Abschnitte werden im Weiteren mit den Abkürzungen „Betriebsanleitung“, „Crashkurs“ und „Erfolgsmethode“ im Fließtext belegt, paraphrasierte Abschnitte in Fußnoten.

2

Hella Dietz: Entscheidest du noch oder lebst du schon?, in: Zeit Online, 13.1.2016.

3

Vgl. (Auswahl) Antonia Baum: Man muss wahnsinnig sein, heute ein Kind zu kriegen, in: FAZ Online, 6.1.2014; Marc Brost/Heinrich Wefing: Geht alles gar nicht, in: Zeit

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und gerade für Frauen – einander gegenübergestellt und Elternschaft ganz explizit als Risiko verhandelt: So pointierte die Autorin Larissa Böhning in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, dass mit der Entscheidung für ein Kind in der Gegenwart „ein unkalkulierbares Risiko“4 einhergehe. Auch Dietz bedient sich einer Risikosemantik,5 wenn sie darauf hinweist, dass letztlich die Folgen der Entscheidung für ein Kind unberechenbar blieben, da „niemand, der sich gerade überlegt, ob er oder sie sich auf das Wagnis einlassen will, sicher wissen [kann], ob er zu denjenigen gehören wird, für die jene Momente des Glücks die Einbußen aufwiegen oder nicht“.6 In Dietz’ Feststellung schwingen auch diejenigen Argumente mit, die in Befragungen junger (Eltern-)Paare in Deutschland immer wieder genannt werden: Die Gründung einer Familie wird überwiegend als ‚beglückend‘ und ‚sinnstiftend‘ wahrgenommen,7 diesen immateriellen Aspekten werden aber gleichzeitig – graduell geschlechtersegregierte – materielle Verluste gegenübergestellt, beispielsweise im Hinblick auf wegfallende Karriereoptionen und eine hohe finanzielle Belastung durch ein oder mehrere Kinder.8 Weiter wird Elternschaft als zentrale

Online, 30.1.2014; Larissa Böhning: Kinder kriegen. Wir brauchen einen Familismus!, in: FAZ-Online, 5.2.2014; Jennifer Litters: Nicht nur wegen der Rente. 15 Gründe, jetzt ein Baby zu machen, in: Focus-Online, 5.11.2014; Antje Schrupp: Eine Million Gründe gegen Kinder, in: Zeit Online, 24.8.2015; Catherine Newmark: Kinder bekommen und glücklich bleiben, in: Zeit Online, 9.9.2015; Frieda Thurm: Gute Gründe gegen Kinder, in: Zeit Online, 7.7.2016; Nina Pauer: Die große Illusion, in: Zeit Online, 9.7.2016. 4

Böhning: Kinder kriegen (wie Anm. 3).

5

Monika Schmitz-Emans konstatiert, dass „‚Risiko‘ und ‚Wagnis‘ […] als unterschiedliche Akzentuierungen ein- und desselben Sachverhalts betrachtbar“ sind, Wagnis aber positiv konnotiert ist. Monika Schmitz-Emans: „Wagnis“ und „Risiko“. Semantisierungen und Nachbarbegriffe, in: Dies. (Hg.): Literatur als Wagnis/Literature as a Risk. Berlin/Boston 2013, S. 835–870, hier S. 835.

6

Dietz: Entscheidest du noch (wie Anm. 2). (Hervorhebung durch NF.)

7

Vgl. Zentrum für Europäische Wirtschaftsforschung: Geburten und Kinderwünsche in Deutschland. Bestandsaufnahme, Einflussfaktoren und Datenquellen. Mannheim 2013, S. 129.

8

Vgl. Jan Eckhard/Thomas Klein: Die Motivation zur Elternschaft. Unterschiede zwischen Männern und Frauen, in: Dirk Konietzka/Michaela Kreyenfeld (Hg.): Ein Leben ohne Kinder. Kinderlosigkeit in Deutschland. Wiesbaden 2013, S. 311–330.

Von ‚Betriebsanleitungen‘, ‚Crashkursen‘ und ‚Erfolgsmethoden‘ | 225

Belastungsprobe für die Paarbeziehung genannt. Konflikte in diesem Kontext würden vor allem an der Aufteilung von Erwerbs- und Fürsorgearbeit entbrennen.9 Diese Ambivalenz gründet auf und wird verstärkt durch die zahlreichen Wahlmöglichkeiten, denen sich (Eltern-)Paare heute gegenübersehen: Einerseits sind sie in Bezug auf den Zeitpunkt einer Familiengründung (Geburtenkontrolle und Fertilitätsmedizin lassen glauben, die Gründung einer Familie lasse sich problemlos aufschieben) und die Gestaltung des Familienlebens (mit oder ohne Trauschein, Patchwork- oder Regenbogenfamilie, teil- oder alleinerziehend) so frei wie nie. Andererseits fühlen sich (Eltern-)Paare zahlreichen Widersprüchen ausgesetzt, die sich vor allem aus der Frage nach der Vereinbarkeit von Familie und Berufstätigkeit ergeben, insbesondere auch und gerade im Hinblick auf das Spannungsverhältnis von Kontinuität und Wandel der Geschlechterlagen und -rollen.10 Klar ist: „Während man früher auf eingespielte Regeln und Muster zurückgreifen konnte, werden jetzt mehr und mehr Entscheidungen fällig.“ 11 Elisabeth Beck-Gernsheim prägte bereits in den 1990er Jahren zur Beschreibung dieses Phänomens den Begriff der „postfamilialen Familie“ 12, die sich in einer Grauzone zwischen Individualisierungsprozessen, sich transformierenden Arbeits- und Geschlechterverhältnissen und dem nach wie vor starken Bedürfnis nach Beständigkeit und Gemeinschaft bewegt.13Auch Ulrich Beck konstatierte vor zwei Jahrzehnten in seiner vielrezipierten Arbeit Risikogesellschaft (1986), dass die Gründung einer Familie eine höchst zwiespältige, gar riskante Angelegenheit darstellt: Ein Kind wird nicht nur zum zentralen Individualrisiko, zum „Hindernis

9

Vgl. Tomke König: Familie heißt Arbeit teilen. Transformationen der symbolischen Geschlechterordnung. Konstanz 2012.

10 Einen umfassenden Überblick bieten: Dorothea Christa Krüger/Holger Herma/Anja Schierbaum (Hg.): Familie(n) heute. Entwicklungen, Kontroversen, Prognosen. Weinheim/Basel 2013. 11 Elisabeth Beck-Gernsheim: Auf dem Weg in die postfamiliale Familie. Von der Notgemeinschaft zur Wahlverwandtschaft, in: Dies./Ulrich Beck (Hg.): Riskante Freiheiten. Individualisierung in modernen Gesellschaften. Frankfurt a. M. 1994, S. 116–135, hier S. 124. 12 Beck-Gernsheim: Postfamiliale Familie (wie Anm. 11), S. 135. Vgl. auch dies: Was kommt nach der Familie? Einblicke in neue Lebensformen. München 1998. 13 Vgl. aktuell zum Spannungsfeld von Familie Beate Kortendiek: Familie: Mutterschaft und Vaterschaft zwischen Traditionalisierung und Modernisierung, in: Ruth Becker/Dies. (Hg.): Handbuch Frauen- und Geschlechterforschung. 3., erw. und durchges. Aufl., Wiesbaden 2010, S. 434–445.

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im Individualisierungsprozeß“14, indem es die Mobilität, die Selbstbestimmung und die Planbarkeit des Alltags grundlegend einschränkt. Im Prozess des Elternwerdens und -seins rücken gerade auch die Widersprüche und Ungleichheiten zwischen den Geschlechtern stärker ins Bewusstsein: [M]it den Entscheidungen [im Zusammenleben als Familie] werden die unterschiedlichen und gegensätzlichen Konsequenzen und Risiken für Männer und Frauen und damit die Gegensätze ihrer Lagen bewusst.15

Gleichzeitig steigt die Bedeutung von Kindern und mit ihr auch die Qualität der Elter(n)-Kind-Bindung, die angesichts hoher Scheidungsraten laut Beck „zur letzten verbliebenen, unaufkündbaren, unausstauschbaren Primärbeziehung“16 in der Risikogesellschaft wird. Dass Becks Zeitdiagnose auch in der Gegenwart nicht an Gültigkeit verloren hat, zeigen aktuelle soziologischen Arbeiten, die gleichermaßen eine „neue Risikodimension“17 einer Familiengründung feststellen und dabei implizit Becks Argumentation folgen: So betont Birgit Geissler, dass Individualisierungs- und Modernisierungsprozesse dazu beigetragen haben, „dass die Kosten [der] Entscheidung [für ein Kind] bewusster geworden und präziser bezifferbar sind“. Die Geburt eines Kindes wird eben nicht mehr als eine „quasi-natürliche Folge der Partnerwahl und Eheschließung“18 wahrgenommen, sondern als Ergebnis eines willen- und wissentlichen Entscheidungsprozesses, dem eine Abwägung möglicher Vor- und Nachteile vorangeht; Elternschaft wird zur Handlungsoption, die, um wieder zu Beck zurückzukehren, „reflexiv“ verhandelt, d. h. „selbst zum Thema und Problem“19 wird. Niklas Luhmann beschreibt eine solche verstärkte Wahrnehmung von Wahlmöglichkeiten als ein wesentliches Charakteristikum der (post-)modernen Gesellschaft, in der mehr und mehr Zustände als Folge von Entscheidungen und nicht

14 Ulrich Beck: Risikogesellschaft. Auf dem Weg in eine anderer Moderne. Frankfurt a. M. 1986, S. 193. (Hervorhebung im Original.) 15 Ebd., S. 176. (Hervorhebung im Original.) 16 Ebd., S. 193. (Hervorhebung im Original.) 17 Birgit Geissler: Machtfragen zwischen Familie und Erwerbsarbeit. Die Kosten der Kinder in der Familiengründung und danach, in: Martina Löw (Hg.): Geschlecht und Macht. Analysen zum Spannungsfeld von Arbeit, Bildung und Familie. Wiesbaden 2009, S. 31–46, hier S. 34. (Hervorhebung im Original.) 18 Ebd., S. 34. 19 Beck: Risikogesellschaft (wie Anm. 14), S. 26. (Hervorhebung im Original.)

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„als extern veranlaßt“20 gesehen und kommuniziert werden. Ausgehend von einer strikten Unterscheidung von Risiko als Selbst- und Gefahr als Fremdzuschreibung,21 beschreibt Luhmann Risiken allerdings weniger als soziale Realität, sondern vielmehr als (kulturelle) Praxis beziehungsweise als ein Ergebnis von Beobachtungs- und Zuschreibungsprozessen. Konstituierend für Risiko sind dabei zum einen Kontingenz – die Zukunft kann sich so, aber auch ganz anders gestalten –, zum anderen Wahlfreiheit; unter einer Risikoperspektive kommt es zur „Unterscheidung von guten und schlechten Ergebnissen, Vorteilen und Nachteilen, Gewinnen und Verlusten sowie d[er] Unterscheidung von Wahrscheinlichkeit oder Unwahrscheinlichkeit ihres Eintreffens“.22 Dass die von Luhmann beschriebene Wahrnehmung nicht nur technische und politische Diskurse beherrscht, sondern auch Gestalt in zwischenmenschlichen und familialen Beziehungen annimmt, scheint allerdings so selbstverständlich, dass Luhmann dem nicht weiter nachgeht.

RISIKOFORSCHUNG UND (GENDERORIENTIERTE) LITERATURWISSENSCHAFT Risikolagen und -diskurse sind aber nicht ausschließlich Gegenstand soziologischer und sozialwissenschaftlicher Analysen, gegenwärtig beginnt auch die Literaturwissenschaft, wenn auch noch nicht systematisiert, mit Risikotermini und -konzepten zu operieren. Im Rückgriff auf soziologische und kulturalistische Risikobegriffe werden genre- und epochenübergreifend literarische Risikoabbildungen sowie die literarische Verarbeitung von und die Positionierung in Risikodiskursen untersucht.23 Über eine bloße Rekonstruktion von Risikodarstellungen hinaus wird ein genereller Zusammenhang von Literatur und Risikokommunikation angenommen, wie Stephanie Catanis Analyse von Risikonarrativen der Gegenwart zeigt. Catani betont, dass

20 Niklas Luhmann: Soziologie des Risikos. Berlin/New York 1991, S. 31. 21 „Entweder wird der etwaige Schaden als Folge der Entscheidung gesehen, also auf die Entscheidung zugerechnet. Dann sprechen wir von Risiko, und zwar vom Risiko der Entscheidung. Oder der etwaige Schaden wird als extern veranlaßt gesehen, also auf die Umwelt zugerechnet. Dann sprechen wir von Gefahr.“ Ebd., S. 30f. 22 Ebd., S. 235. 23 Zu nennen ist vor allem der umfangreiche Sammelband Schmitz-Emans (Hg.): Literatur als Wagnis (wie Anm. 5).

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der Risikobegriff an das Medium des Narrativen wie des Fiktionalen über die dem Risiko genuin inhärenten Fiktionsmerkmale grundsätzlich gekoppelt [ist]. […] Risikoszenarien [sind] auf narrative Verfahren angewiesen, die sie als etwas, was außerhalb des Gegenwärtigen und bereits Erfahrenen, jedoch innerhalb des Möglichen liegt, erst fiktional erzeugen.24

Gegenwärtig allerdings noch weitestgehend ausgeblendet bleibt die Genderdimension literarischer Risikodiskurse und -konstruktionsprozesse und das, obwohl eine Verbindung der Kategorien Risiko und Gender – gerade auch im Hinblick auf produktionsästhetische Kontexte und Gattungsspezifika – überaus fruchtbar ist. Beide Kategorien als „relationale und überdies kontextuell-funktionale, kulturspezifische und semantisch instabile Größen, die auch für scheinbar Universelles und transzendental Gestelltes gelten“25, sind zentrale Momente (gegenwärtiger) literarischer und pragmatischer Texte. Im Hinblick auf den Komplex Familie ergänzt ein solcher intersektionaler, prioritär aber literaturwissenschaftlicher Zugang überdies die sozialwissenschaftliche Familien- und Risikoforschung. Dies gilt beispielsweise im Hinblick auf die Untersuchung der „stereotype[n] Codierung von ‚Fürsorge‘ und ‚Fürsorglichkeit‘ als ‚weiblich‘ oder ‚Risiko‘ und ‚Risikoaffinität‘ als ‚männlich‘“ 26 . Im Folgenden soll anhand einer exemplarischen Analyse zeitgenössischer Elternratgeber nachgezeichnet werden, auf welche Weise Risiken im Kontext von Familie und Familiengründung narrativiert werden und wie dabei zentral auf genderfizierte Vorstellungen abgestellt wird.27

24 Stephanie Catani: Risikonarrative. Von der Cultural Theory (of Risk) zur Relevanz literaturwissenschaftlicher und literarischer Risikodiskurse, in: Schmitz–Emans (Hg.): Literatur als Wagnis (wie Anm. 5), S. 159–189, hier S. 165. 25 Gudrun Loster-Schneider: Vorwort, in: Dies. [u.a.] (Hg.): Geschlecht, Fürsorge, Risiko. Beiträge des 1. Dresdner Nachwuchskolloquiums zur Geschlechterforschung am 27.11.2013 im Festsaal des Rektorates der TU Dresden. Leipzig 2015, S. 7–15, hier S. 7. 26 Ebd., S. 8. 27 Ein solches transdisziplinäres und gleichermaßen intersektionales Forschungsparadigma liegt auch folgendem Dissertationsprojekt zugrunde, in dessen Rahmen die literarische Dimension des Diskurs um Familiengründung und Elternschaft als Risiko innerhalb zeitgenössischer Elternratgeber und (Familien-)Romane untersucht wird, insbesondere im Hinblick auf Genderaspekte: Maike Nikolai-Fröhlich: Familiengründung als ‚Risiko‘: Gegenwartsliteratur als Ort der (Re-)Produktion und Subversion einer genderfizierten Zuschreibung. Die Arbeit entsteht an der Technischen Universität Dresden.

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RISIKOKOMMUNIKATION UND -KONSTRUKTION IN (ELTERN-)RATGEBERN Darauf, dass die Gründung einer Familie gegenwärtig primär als riskant wahrgenommen und verhandelt wird, verweisen nicht nur die eingangs zitierten Beiträge, sondern auch die zahlreichen Kinderwunsch-, Schwangerschafts-, Baby- und Erziehungsratgeber, die (werdenden) Eltern gegenwärtig zur Verfügung stehen. Der Beratungsbedarf scheint enorm zu sein. Zur Illustration: Der Best- und Longseller Jedes Kind kann schlafen lernen wurde mehr als 700.000-mal verkauft und dürfte damit wenigstens vom Titel her, der bereits suggeriert, dass das Thema Kinderschlaf Probleme birgt, einer großen Anzahl von Eltern bekannt sein;28 bei der Suche nach dem Schlagwort „Elternratgeber“ bei Amazon, gegenwärtig einer der größten Online-Buchhändler, werden mehr als 16.000 Titel angeboten. All diese Ratgeber sollen auf die Geburt eines Kindes und die Zeit danach vorbereiten und/oder bei der Bewältigung der sich verändernden Umstände helfen. Sie thematisieren somit vorrangig potenzielle (Negativ-)Zustände und den Umgang mit diesen. Aber nicht nur Elternratgeber, sondern Ratgeberliteratur im Allgemeinen, vom Beziehungs- und Lebenshilferatgeber über Titel zur Ernährung und Gesundheit bis hin zu Berufs- und Karriereratgebern, um nur einige zu nennen, hat seit Jahren auf dem deutschen Buchmarkt Hochkonjunktur zu verzeichnen.29 Seit 2007 sind Ratgeber sogar in einer eigenen Warengruppe vertreten, in der sich seither diejenigen Titel subsumieren, die als „handlungs- oder nutzenorientiert für den privaten Bereich“30 erachtet werden; Ratgeber aller Couleur versprechen Handlungs- und Entscheidungshilfen für ihre Rezipientinnen und Rezipienten in praktischen und alltagsbezogenen Bereichen – übersetzt in eine Risikoterminologie: Anleitung

28 Annette Kast-Zahn/Hartmut Morgenroth: Jedes Kind kann schlafen lernen. Vom Baby bis zum Schulkind. Wie Sie Schlafprobleme Ihres Kindes vermeiden und lösen können. Ratingen 1995. Vgl. Verkaufszahlen: . 29 Trotz geringem Rückgang machten Ratgeber 2015 rund 14% des Gesamtumsatzes auf dem deutschen Buchmarkt aus. Vgl. Internetauftritt des Deutsche Buchhandels. Börsenverein des Deutsche Buchhandels: Tabellenkompendium zur Wirtschaftspressekonferenz des Börsenvereins des Deutschen Buchhandels e.V. am 7. Juni 2016. 30 Börsenverein des Deutsche Buchhandels: Warengruppen-Systematik neu (WGSneu) – Version 2.0. Einheitlicher Branchenstandart ab 1. Januar 2007 (Stand: 15.7.2006), S. 2.

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zum Risikohandling beziehungsweise -management. Sie und unterscheiden sich damit vom Sachbuch, das primär „wissensorientiert“31 ist. Die enorme Popularität von Ratgeberliteratur hat inzwischen dazu geführt, dass sich die Sachbuchforschung und vereinzelt auch die germanistische Literaturwissenschaft diesem Genre angenommen haben.32 Erste Versuche, Ratgeberliteratur als solche zu beschreiben und spezifische Gattungsmerkmale zu identifizieren, haben unter anderem gezeigt, dass gerade ihr anleitender Charakter als prototypisch gelten kann. So konstatiert Rudolf Helmstetter eine ‚Tunlichkeits-Form‘ von Ratgebern in Gestalt sorgsam implizit formulierter Vorschriften, die als reine Empfehlungen daherkommen.33 Christian Klein und Matías Martínez konnten zeigen, dass die Ansprache und Anleitung der Leserinnen und Leser als ‚Laiinnen‘ und ‚Laien‘ aus der Perspektive einer ‚Expertin‘ beziehungsweise eines ‚Experten‘ erfolgt, deren/dessen Expertise vor allem auf Erfahrungswissen beruht.34 Obwohl sich Ratgeber vordergründig den faktualen Textsorten zuordnen lassen, bedienen sie sich erzählerischer Elementen und Strukturen, was sie verstärkt zum Gegenstand literaturwissenschaftlicher Untersuchungen macht; neben deskriptiven Abschnitten enthalten Ratgeber gerade auch narrative Passagen, beispielsweise in Form einleitender und abschließender Rahmenerzählungen. Diese sind ein zentraler Bestandteil der Legitimationsstrategie und Autorisierung der erteilten Ratschläge. Gleichermaßen wird in diesen Abschnitten den Leserinnen und Lesern „ein Geschehen vergegenwärtigt“35 beziehungsweise werden hier Risikoszenarien antizipiert.

31 Ebd., S. 2. 32 Zu nennen sind u.a. das interdisziplinärer Themenheft „Ratgeber“ der Reihe „Non Fiktion. Arsenal der anderen Gattungen“, herausgegeben von der Mainzer Sachbuchforschung, insbesondere folgender Beitrag: Christian Klein/Matías Martínez: Herausforderungen meistern, Krisen überwinden. Über Ratgeber aus narratologischer Sicht, in: Non Fiktion 7, 1/2 (2012), S. 57–69; zu nennen sind überdies folgende Sammelbände: Peter-Paul Bänzinger [u.a.] (Hg.): Fragen Sie Dr. Sex! Ratgeberkommunikation und die mediale Konstruktion des Sexuellen. Berlin 2010; Michael Niehaus/Wim Peeters (Hg.): Rat geben. Zu Theorie und Analyse des Beratungshandelns. Bielefeld 2014. 33 Vgl. Rudolf Helmstetter: Die Tunlichkeits-Form. Zu Grammatik, Rhetorik und Pragmatik von Ratgeberbüchern, in: Niehaus/Peeters (Hg.): Rat geben (wie Anm. 32), S. 107–132, hier S. 112. 34 Vgl. Klein/Martínez: Herausforderungen meistern (wie Anm. 32), S. 67f. 35 Ebd., S. 57.

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Auch die grundlegenden Versuche, Ratgeberliteratur, insbesondere Erziehungsratgeber,36 als Gattung historisch und produktionsästhetisch zu kontextualisieren, verweisen auf solche Strategien. Erste Formen des Ratgebers als spezifische Literatur für Laiinnen und Laien werden dabei einhellig in der Frühen Neuzeit verortet und an die Etablierung des Buchdrucks und die Alphabetisierung breiter Teile der Gesellschaft geknüpft.37 So konnte Alfred Messerli für die sogenannte Haus(väter)literatur 38 einen spezifischen Kommunikationsmodus nachzeichnen, der Oralität vor- und über die Mittelbarkeit der Beratungssituation hinwegtäuschen soll.39 Markus Höffer-Mehlmer betont, dass bereits in frühen Ratgebern, wie dem aufklärerischen Volksbuch, Handlungsanleitungen in umfangreiche Erzählungen eingebettet werden.40 Die Simulation eines Gesprächscharakters in Ratgebern, insbesondere innerhalb der einleitenden und/oder abschließenden Narrationen, in denen auch zentral auf die Kompetenz der hier noch vorwiegend männlichen Autoren verwiesen wird,41 bleiben im 18. Jahrhundert ein fester Bestandteil von Ratgebern. Auch für das ausgehenden 18. und beginnenden 19. Jahrhundert, der Blütezeit der Eltern- beziehungsweise Erziehungsratgeber, sind solche einrahmenden „autorästhetischen Passagen“42 auszumachen. Ratgeber wurden in dieser Spanne zum zentralen Medium der Verbreitung des Ideals der bürgerlichen Kleinfamilie, inklusive der sich dort verfestigenden Vorstellung einer Geschlechterdichotomie

36 Zur Entstehung und Entwicklung des Genres Eltern-/Erziehungsratgeber siehe Markus Höffer-Mehlmer: Elternratgeber. Zur Geschichte eines Genres. Baltmannsweiler 2003. 37 Vgl. Ebd., S. 40; Klein/Martínez: Herausforderungen meistern (wie Anm. 32), S. 58f; Alfred Messerli: Eine Entwicklungsgeschichte der Medien und der Rhetorik des Rates, in: Non Fiktion 7, 1/2 (2012), S. 13–26, hier S. 15f. 38 Hausbücher enthalten auch Passagen, die sich eigens an Hausmütter richten; die nicht in den Verantwortungsbereich des Hausvaters miteingeschlossene Fürsorge- und Pflegearbeit wurde überdies ausführlicher in eigenständigen Pflegebüchern verhandelt. Erst im 18. Jahrhundert entstand eine eigenständige Hausmütterliteratur. Vgl. Michael Niedermeier: Die aufgeklärte „Hausmutter in allen ihren Geschäften“. Die ökonomischen Wurzeln der Hausmütterliteratur und Aspekte ihres vormodernen Emanzipationspotenzials, in: Holger Böning/Hanno Schmitt/Reinhart Siegert (Hg.): Volksaufklärung. Eine praktische Reformbewegung des 18. und 19. Jahrhunderts. Bremen 2007, S. 367–389. 39 Vgl. Messerli: Rhetorik des Rates (wie Anm. 37), S. 19. 40 Vgl. Höffer-Mehlmer: Elternratgeber (wie Anm. 36), S. 52. 41 Vgl. Klein/Martínez: Herausforderungen meistern (wie Anm. 32), S. 60. 42 Ebd., S. 60.

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und der daraus abgeleiteten Geschlechterrollen und -funktionen.43 Modus ist hier ebenfalls vorrangig das ‚väterliche Gespräch‘ oder die zeitgenössisch sehr populäre Darstellungsform des Briefwechsels.44 Solche architextuellen Bezüge, deren Funktion es ist, einerseits über die zeitlich-räumliche Distanz zwischen Ratschlag und dessen Rezeption hinwegzutäuschen, andererseits die Authentizität der Darstellung zu betonen, finden sich selbst in zeitgenössischen Ratgebern wieder; Christian Schütte sieht gerade in der Simulation einer face-to-face-Kommunikation eine Gemeinsamkeit aller Formen des schriftlichen Ratgebens.45 Doch während der Rückgriff auf rahmende Erzählungen und die Adaption autobiographischer und dialogischer Gattungen, die eine mündliche Erzählsituation konstruieren, als fixes Merkmal von Ratgeberliteratur betrachtet werden kann, änderten sich die Bezugspunkte der erzählerischen Elemente: Im Gegensatz zum beginnenden 20. Jahrhundert, für das Klein und Martínez eine Einbettung des Ratschlags in geschichtsphilosophische Großerzählungen beziehungsweise in einen übergreifenden ideologischen Rahmen konstatieren, 46 verlieren Legitimationsstrategien in der Nachkriegszeit zunehmend an Bedeutung. An ihre Stelle tritt eine stärkere „‚Biographisierung des / der Autors/in‘“47 und eine Betonung des subjektiven Erfahrungswissens innerhalb der Rahmenerzählungen, wie Sylka Scholz anhand von Beziehungsratgebern zeigen konnte. Insbesondere in zeitgenössischen Ratgebern bürgen „[d]ie Erfahrung aus dem eigenen Leben oder aus dem Leben anderer […] für ein Wissen, welches sich bewährt hat“.48

43 Vgl. Höffer-Mehlmer: Elternratgeber (wie Anm. 36), S. 91. 44 Vgl. Klein/Martínez: Herausforderungen meistern (wie Anm. 32), S. 63f. Letzterer wurde auch (oder gerade) von den wenigen Autorinnen eingenommen, wie beispielsweise Sophie von La Roches Briefe an Lina illustrieren. Vgl. dazu Reiner Wild: ‚Die Vernunft der Mütter‘. Sophie von La Roche im Feld philanthropischer Literatur des 18. Jahrhunderts, in: Gudrun Loster-Schneider (Hg.): Ach, wie wünschte ich mir Geld genug, um eine Professur zu stiften. Sophie von La Roche im literarischen und kulturpolitischen Feld von Aufklärung und Empfindsamkeit. Tübingen 2010, S. 210–222, hier S. 216. 45 Vgl. Christian Schütte: Kommunikative Strategien in Ratgeberbüchern zum Thema ‚Trauer‘, in: Niehaus/Peeters (Hg.): Rat geben (wie Anm. 32), S. 133–158, hier S. 135. 46 Vgl. Klein/Martínez: Herausforderungen meistern (wie Anm. 32), S. 63–66. 47 Sylka Scholz: Liebe und Elternschaft auf Dauer? Zusammenfassende Auswertung der Ratgeberanalyse und weiterführende Forschungsfragen, in: Dies./Karl Lenz/Sabine Dreßler (Hg.): In Liebe verbunden. Zweierbeziehungen und Elternschaft in populären Ratgebern von den 1950ern bis heute. Bielefeld 2013, S. 299–339, hier S. 326. 48 Ebd., S. 326.

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Die an dieser Stelle nur umrissene Entwicklung von Ratgebern verweist nicht nur auf Charakteristika von Ratgeberliteratur, sondern auch auf deren zentrale Funktion, die in den vergangenen Jahren zunehmend zum Gegenstand (sozial-) wissenschaftlicher Untersuchungen geworden ist. So verstehen Sylka Scholz und Karl Lenz Ratgeber als Orientierungshilfe und die gegenwärtige Popularität von Ratgeberliteratur als Ausdruck der Verunsicherung der/des Einzelnen im Individualisierungsprozess; generell könne mittels einer qualitativen Untersuchung von Ratgebern „auf kulturhistorische Gegebenheiten, Zusammenhänge und normative Vorstellungen“ 49 rückgeschlossen werden. Timo Heimerdinger stellt einen solchen ‚Verweischarakter‘ von Ratgebern hingegen infrage. Heimerdinger versteht Ratgeber vielmehr als „Ausdruck jeweils aktueller kultureller Bedürfnislagen“50 und damit nicht zwangsläufig als ein Abbild von dem, „was kulturell ist, sondern […], was fehlt“51. Auch Stefanie Duttweiler betont diesen Aspekt und fasst (Lebenshilfe-)Ratgeber vor allem als Unterweisung zur Selbstproblematisierung auf. Im Rekurs auf Foucaults Technologien des Selbst beschreibt Duttweiler Ratgeber als Anleitung, die auf eine „systematische Veränderung der Einstellung der Einzelnen, die Steigerung bestimmter Fähigkeiten und somit letztlich auf eine Modifikation der individuellen Erfahrungsmöglichkeiten[ ]“ 52 abzielt. In Ratgebern trete gerade „das ‚Problematische‘ […] und die Hoffnung, dies durch Beratung zu verändern“53, in den Vordergrund und auf diese Weise ins Bewusstsein der Leserinnen und Leser. Was Duttweiler hier speziell für Glücksratgeber konstatiert, lässt sich ebenso auf Elternratgeber übertragen, die gleichermaßen diejenigen Momente in den Fokus rücken, die – im Kontext von Schwangerschaft, Geburt, Elternwerden und -sein – als besonders problematisch wahrgenommen werden. Gleichzeitig suggerieren sie Hilfestellung, um schwierige Situation zu bewältigen oder zu ver-

49 Sylka Scholz/Karl Lenz: Ratgeber erforschen. Eine Wissenssoziologische Diskursanalyse von Ehe-, Beziehungs- und Erziehungsratgebern, in: In Liebe verbunden (wie Anm. 47), S. 47–75, hier S. 54. 50 Vgl. Timo Heimerdinger: Der gelebte Konjunktiv. Zur Pragmatik von Ratgeberliteratur in alltagskultureller Perspektive, in: Andy Hahnemann/David Oels (Hg.): Sachbuch und populäres Wissen im 20. Jahrhundert. Frankfurt a. M. [u.a.] 2008, S. 97–108, hier S. 107. 51 Ebd., S. 106. (Hervorhebung im Original.) 52 Stefanie Duttweiler: Sein Glück machen. Arbeit am Glück als neoliberale Regierungstechnologie. Konstanz 2007, S. 31. 53 Ebd., S. 31.

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meiden. In diesem Sinne kann Ratgeberliteratur als Medium der Risikokommunikation und des Risikomanagements verstanden werden: In Ratgebern werden erstens Risiken markiert, indem Problemlagen zentral thematisiert – oder mit Niklas Luhmann gesprochen – getroffene (oder noch zu treffende) Entscheidungen mit Schäden oder Gewinnen gekoppelt werden; zweitens werden Risikobewältigungsstrategien und Risikoprävention erörtert, indem nicht nur der Umgang mit, sondern auch die Vermeidung solcher Zustände in den Mittelpunkt der Ausführungen gestellt werden. Auch Rudolf Helmstetter versteht Ratgeber als Expression einer „tatsächlichen (oder zumindest gefühlte[n]) oder unterstellte[n] Empfindung eines Mangels, eines Defizits, eines Bedarfs, einer Problem- oder gar Notlage, die Suggestion von Optimierungs- und Perfektionierungsmöglichkeiten“54. Er betont aber auch, dass Ratgeber Bedürfnislagen nicht nur stimulieren, sondern gerade auch selbst produzieren.55 Im Hinblick auf Risiko liegt insbesondere in diesem Aspekt eine weitere zentrale Risikodimension des Genres: In Ratgebern werden Risikoszenarien nicht nur kommuniziert und der ‚richtige‘ Umgang mit diesen erläutert, sondern gleichermaßen erst erzählerisch erzeugt, unterstellt und/oder verstärkt. Risiken, immer (auch) als ein Ergebnis medialer Inszenierung, werden in Ratgebern narratorisch vergegenwärtigt und modelliert. Mehr noch: „Da es sich bei Risiken um mögliche Ereignisse handelt, die eintreten könnten, aber keinesfalls mit Notwendigkeit eintreten müssen“ 56 sind sie angewiesen auf erzählerische Verfahren und Vermittlung.57 Ratgeber werden auf diese Weise zum Schauplatz von Risikokonstruktionsprozessen und zwar in dem Sinne, dass sie potenzielle Zustände – die Leserin oder der Leser muss (noch) nicht betroffen sein, „[d]as Ratgeberbuch […] ist zuvorkommend“ 58 – ins Bewusstsein rufen, verstärken und/oder bagatellisieren; als ein Teil medialer Risikoinszenierungen werden Ratgeber zum Ort, an dem die ‚Realität‘ von Risiko erzählerisch erzeugt und/oder dramatisiert wird. 59

54 Helmstetter: Tunlichkeits-Form (wie Anm. 33), S. 108. 55 Vgl. ebd., S. 108. 56 Ulrich Beck: Weltrisikogesellschaft. Auf der Suche nach der verlorenen Sicherheit. Frankfurt a. M. 2007, S. 66. 57 Vgl. Catani: Risikonarrative (wie Anm. 24), S. 165. 58 Helmstetter: Tunlichkeits-Form (wie Anm. 33), S. 108. (Hervorhebung im Original.) 59 Beck: Weltrisikogesellschaft (wie Anm. 56), S. 66. Beck leugnet an dieser Stelle nicht die Realität von Risiko, sondern betont die übersteigerte Wahrnehmung dieser durch mediale Berichterstattungen. Übertragen auf den Untersuchungsgegenstand heißt das: Sicherlich sehen sich Eltern gegenwärtig problematischen lebenspraktischen Aspekten

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‚BETRIEBSANLEITUNGEN‘, ‚CRASHKURSE‘ UND ‚ERFOLGSMETHODEN‘: EXEMPLARISCHE UNTERSUCHUNG ZEITGENÖSSISCHER ELTERNRATGEBER Wie vielfältig sich eine solche Inszenierung von Risiken in Elternratgebern gestaltet, zeigt ein Blick auf aktuelle Titel dieser Sparte. Zu den Bestsellern zur Vorbereitung auf eine Elternschaft zählen Das Baby. Inbetriebnahme, Wartung und Instandhaltung (eng. Original: The Baby Owner’s Manual) von Louis und Joe Borgenicht und Nora Imlaus Crashkurs Baby. Anleitung für Ungeübte.60 Beide Ratgeber erläutern zentrale Aspekte wie die Ernährung, die Gesundheit und das Schlafverhalten eines Neugeborenen und bieten Hilfestellung im Umgang mit möglichen Schwierigkeiten. Die Texte markieren bereits auf paratextueller Ebene61 deutlich Risiken beziehungsweise eröffnen Risikoszenarien: Die Ratgeber verstehen sich als „Bedienungsanleitung [mit] vielen wichtigen Tipps“ (Betriebsanleitung, Rückseite Umschlag) und als „Crashkurs [mit] alle[n] wichtigen Infos […] kurz und bündig“ (Crashkurs, Rückseite Umschlag). Sie suggerieren auf diese Weise nicht nur, dass sich der Umgang mit einem Neugeborenen mitunter heikel gestaltet – ansonsten müssten (werdende) Eltern nicht grundlegend ‚angeleitet‘ oder ‚geschult‘ werden –, sondern verheißen auch Hilfestellung zur Überwindung/Vermeidung solcher Schwierigkeiten. Autorisiert werden die Ratschläge in beiden Fällen über die eigene Elternschaft der beiden Autoren und der Autorin: Ein Großvater, dessen Sohn, selbst ein „frischgebackener Vater“ (Betriebsanleitung, S. 208), und eine „Mutter von zwei kleinen Töchtern“ (Crashkurs, S. 160) schöpfen vor allem aus ihrem persönlichen Erfahrungswissen.

gegenüber, die an dieser Stelle nicht als ‚bloß konstruiert‘ geleugnet werden sollen. Im Fokus der Untersuchung stehen aber die Wahrnehmung und Kommunikation dieser Gesichtspunkte. 60 Beide Titel (wie Anm. 1) führen die Bestsellerlisten großer Versandbuchhandlungen wie Amazon und Thalia an. 61 Gemeint sind „Titel, Untertitel, Zwischentitel; Vorworte, Nachworte, Hinweise an den Leser, Einleitungen usw.; Marginalien, Fußnoten, Anmerkungen; Motti; Illustrationen; Waschzettel, Schleifen, Umschlag und viele andere Arten zusätzlicher, auto- oder allographer Signale, die den Text mit einer (variablen) Umgebung ausstatten“. Gerard Genette: Palimpseste. Die Literatur auf zweiter Stufe. Frankfurt a. M. 1993, S. 11.

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Was auf den jeweiligen Umschlägen nur anklingt, wird in den Einleitungen der Ratgeber explizit ausgeführt. Im Falle von Das Baby. Inbetriebnahme, Wartung und Instandhaltung in Form einer Adaption des Genres der Bedienungsanleitung. Einführend heißt es: Herzlichen Glückwunsch zur Geburt Ihres neuen Babys! Dieses Baby weist überraschende Übereinstimmungen mit anderen Geräten in Ihrem Haushalt auf. […] Das Baby ist ein umfassendes Benutzerhandbuch, mit dessen Hilfe Sie maximale Leistungen und optimale Resultate bei Ihrem Neugeborenen erzielen. (Betriebsanleitung, S. 13)

Eingangs wird auf diese Weise die zentrale Risikostrategie des Ratgebers elaboriert: eine ironische Versachlichung des Säuglings. Das Neugeborene wird aber nicht nur abstrahiert, sondern auch die Möglichkeit einer Optimierung der Elternschaft in Aussicht gestellt – in Duttweilers Worten: „eine Modifikation der individuellen Erfahrungsmöglichkeiten“62 – und das Entscheidungspotenzial von Eltern implizit betont. Gleichzeitig werden bereits hier in der Zukunft liegende (potenzielle) Negativzustände ins Bewusstsein gerufen: „das Gefühl von Frustration, Unfähigkeit, Hoffnungslosigkeit und Verzweiflung“ (Betriebsanleitung, S. 14). Auf welche konkreten Problemlagen sich werdenden Eltern einstellen müssen, wird in den folgenden Kapiteln erläutert, die ebenfalls im Gestus einer Bedienungsanleitung gehalten sind, fundiert mit zahlreichen Graphiken, Tabellen und Listen, welche die ‚Bedienung‘ des Neugeborenen erläutern und der Entscheidungsfindung und auf diese Weise im weitesten Sinne dem Risikomanagement dienen. So werden zum Beispiel im Hinblick auf die Ernährung des Säuglings mögliche Risiken antizipiert und mittels einer Pro-/Contra-Liste gegeneinander abgewogen: Während das Stillen dazu führen könne, dass sich die „Mutter […] eventuell zu sehr gebunden“ und der „Vater […] eventuell vernachlässigt“ (Betriebsanleitung, S. 72, Hervorhebung durch NF) fühlt, berge die Ernährung mit Flaschenmilch gesundheitliche Risiken für das Kind, gleichzeitig aber eine höhere Flexibilität für die Eltern. Eine konkrete Empfehlung wird hingegen nicht ausgesprochen, sondern vielmehr auf die Entscheidungsfreiheit der Eltern verwiesen: „Wägen Sie ab und entscheiden Sie sich für die für Sie beste Lösung“ (Betriebsanleitung, S. 73). Auch Crashkurs Baby greift einleitend problematische Aspekte des Lebens mit einem Neugeborenen auf, wenn auch erzählerisch völlig anders gestaltet: Im Versuch, die Perspektive eines Neugeborenen auf die Umwelt nachzuzeichnen, wird darauf hingewiesen, dass die Akklimatisierung des Kindes Schwierigkeiten

62 Duttweiler: Sein Glück machen (wie Anm. 52), S. 31.

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mit sich bringen kann. Daraus werden „Strategien, um zu begreifen, was da gerade passiert“ (Crashkurs, S. 4, Hervorhebung durch NF) abgeleitet: Wie fühlt es sich wohl für ein Baby an, anzukommen auf der Welt nach neun Monaten Bauch? Klar: Ganz genau weiß das keiner. Aber dass die Umstellung nicht ohne ist, kann man sich gut vorstellen. Umso wichtiger, dass das Neugeborene besonders sanft und liebevoll empfangen wird. (Crashkurs, S. 5)

Auch in Crashkurs Baby werden „widersprüchliche[ ] Gefühle“ (Crashkurs, S. 11) sowie „Sorge und Verzweiflung“ (Crashkurs, S. 17) in dieser Phase prognostiziert und das Ankommen in der außeruterinen Welt für Kind und Eltern – aufgrund mangelnder Nachvollziehbarkeit der kindlichen Empfindungen – zum unkalkulierbaren Risiko. Die Risikostrategie des Ratgebers ist aber eine andere: Anstatt auf eine ironische Verdinglichung des Neugeborenen baut der Ratgeber auf das Einfühlen in den Säugling und die Situation sowie auf eine gründliche Vorbereitung auf das Leben zu dritt. Dass eine gedankliche Vorwegnahme möglicher Problemlagen gleichzeitig zur zentralen Risikostrategie des Ratgebers wird, zeigt neben dem bereits genannten Beispiel der Anpassungsschwierigkeiten des Neugeborenen die Thematisierung potenzieller Bindungsschwierigkeiten zwischen Eltern beziehungsweise Mutter und Kind, auf die sich werdende Eltern einstellen sollten. Besonders interessant: Obwohl darauf hingewiesen wird, dass beide Elternteile zu Beginn der Eltern-Kind-Beziehung unter „Elternliebe“ leiden, die sich „erst verzögert einstellt“ (Crashkurs, S. 10), wird suggeriert, dass es sich dabei um ein geschlechterspezifisches Risiko handelt; die das Kapitel abschließende Infobox „Nachhilfe für die Mutterliebe“ thematisiert ausschließlich Strategien, die fehlende „Muttergefühle aus[lösen]“ (Crashkurs, S. 10, Hervorhebung durch NF) sollen. Auch bei der Aufteilung der Fürsorgearbeit baut der Ratgeber primär auf Vorsorge: In Bezugnahme auf „Studien63[, die] belegen, dass sich die meisten Paare nicht darüber unterhalten, wie sie die Elternschaft ganz praktisch managen wollen“ (Crashkurs, S. 18), werden mögliche Beziehungsprobleme als Ergebnis fehlender Vorbereitung gewertet; gleichzeitig wird die erste Zeit mit dem Kind als Chance kommuniziert, die ein Entwicklungspotenzial für die Paarbeziehung birgt: Ist die partnerschaftliche Rollenverteilung erst einmal ausgehandelt, „ist eine der schwierigsten Klippen auf dem Weg vom Paar- zum Elternsein gemeistert“ (Crashkurs, S. 18). Der Rückgriff auf gängige Bilder, hier das der Klippe, die es

63 Ratgebertypisch bleiben solche Bezüge sehr vage und werden nicht weiter belegt.

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zu umsegeln gilt, eine Metapher mit großer etymologischen Nähe zum Risikobegriff64, erfolgt hier nicht nur, um potenzielle Schwierigkeiten zu veranschaulichen, sondern auch, um diese als Risiko zu markieren und zwar in dem Sinne, dass diese als Ergebnis von Entscheidungen des Paares artikuliert werden: Werdende Eltern können und sollten, so der Ratgeber, ex ante beschließen, wie sie den Alltag mit Kind gestalten, statt „darauf zu vertrauen, dass sich das alles schon ergeben wird“ (Crashkurs, S. 18). Auch die Untersuchung eines dritten, thematisch allerdings anders gelagerten Ratgebers zeigt, dass Ratgeberliteratur zentral auf Prävention abstellt: Felicitas Richters Ratgeber Schluss mit dem Spagat. Wie Sie aufhören, sich zwischen Familie und Beruf zu zerreißen behandelt den Alltag mit älteren Kindern und die Rückkehr der Mutter in den Beruf. Der Ratgeber versteht sich als „Erfolgsmethode“, um „Beruf, Familie, Partnerschaft [und] Freizeit […] unter einen Hut zu bringen“ (Erfolgsmethode, Rückseite Umschlag). Schluss mit dem Spagat baut zentral auf Vorsorge, um Probleme in Alltagssituationen nicht nur zu bewältigen, sondern diese gar nicht erst aufkommen zu lassen. Dabei werden bereits auf paratextueller Ebene – eine Elternschaft wird im Titel zum Spagat, also zum mitunter schmerzhaften Versuch, zwei entgegengesetzte Pole zu verbinden – Negativzustände antizipiert und gleichzeitig das Entscheidungspotenzial von Eltern betont. Was der Titel nur andeutet, wird im ersten Kapitel des Ratgebers elaboriert und ein sehr konkretes Risikoszenario eröffnet: Anschaulich erzählt wird, wie eine berufstätige Mutter zweier Kinder, redlich bemüht, beruflich und auch privat allerlei Erwartungen zu erfüllen, an die Grenzen der Belastbarkeit kommt und ihren Säugling vor der eigenen Haustür vergisst. Dieses ‚worst-case‘-Szenario, das in anderen Genres wie der Familienkomödie längst zum Gemeinplatz geworden ist,65 wird zum Ausgangspunkt einer Ausführung genereller Belastungen, die mit der Verknüpfung von Familie und Beruf einhergehen können: Körperliche und emotionale Strapazen, partnerschaftliche Auseinandersetzungen, ein unbefriedigendes Berufsleben, der Verlust von Freizeit und Freundschaften und ein latent schlechtes – vermeintlich weibliches – Gewissen.66 Das umfangreiche Kapitel abschließend greift Richter nochmals die einführende Erzählung auf und erklärt: „Es ist meine 64 Die Etymologie des Begriffs ‚Risiko‘ ist unklar. Es wird aber gemeinhin angenommen, dass der Begriff vom griechischen Wort ‚riza‘ (Wurzel oder Klippe) abstammt und ursprünglich so viel wie ‚Klippen umsegeln‘ bedeutete. Vgl. Otthein Rammstedt: Risiko, in: Joachim Ritter/Karlfried Gründer (Hg.): Historisches Wörterbuch der Philosophie. Basel 1992, Bd. 8: R-Sc, S. 1045–1050, hier S. 1045. 65 Beispielhaft ist John Hughes Kassenschlager Kevin allein zu Haus aus den 1990er Jahren. 66 Vgl. Richter: Erfolgsmethode (wie Anm. 1), S. 8–24.

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eigene Geschichte. […] Ich zog die Notbremse und sprang aus dem Hamsterrad“ (Erfolgsmethode, S. 24). Die erst an dieser Stelle als Autodiegese markierte Rahmenerzählung, die das eigene Erleben und die Erfahrung der Autorin in den Mittelpunkt rückt, hat zweierlei Funktion: Zum einen wird sie zum Erzählanlass und zum Ausgangspunt der Markierung genereller Risiken einer Elternschaft – hier vor allem die Diagnose einer Überforderung/Überarbeitung durch die Doppelbelastung Familie und Beruf. Zum anderen wird die Inszenierung der subjektiven Erfahrung der Autorin zum zentralen Element der Legitimation beziehungsweise der Autorisierung der nachfolgenden Ratschläge und Bewältigungsstrategien. 67 Gleichzeitig rückt sie die Rolle von Eltern beziehungsweise implizit die von Müttern – der Ratgeber spricht zwar generell von Eltern, schildert aber fast ausschließlich die Lagen von Müttern – als Entscheidungsträger(innen) in den Fokus der Wahrnehmung; der Ratgeber wird zur Anregung, „die Notbremse“ (Erfolgsmethode, S. 24) zu ziehen, d. h. sich aktiv zu entscheiden, den eigenen Alltag neu zu gestalten. Ob sich die einleitend geschilderte Situation wirklich so ereignet hat, spielt dabei eine untergeordnete Rolle. Wesentlich ist die Suggestion, dass sich potenziell jede berufstätige Mutter in einem solchen Szenario wiederfinden könnte, wenn sie nicht rechtzeitig präventiv tätig wird. Risiken werden im Weiteren auch anhand von Fallgeschichten erzählerisch vergegenwärtigt und, ebenfalls im Rückgriff auf Topoi, mithilfe bekannter Narrative und erzählerischer Mittel ausgestaltet, wie das Beispiel von „Susanne“ zeigt. Auch die hier geschilderte Szene gleicht einem ‚worst-case‘-Szenario: Eine berufstätige Mutter muss sich entscheiden, entweder eine wichtige Präsentation zu halten oder sich um ihr verletztes Kind zu kümmern: In Susannes Kopf geht nun einiges durcheinander. Was soll sie jetzt machen? Sofort zur Schule fahren […]? Dann würde sie vielleicht im Team als unzuverlässig gelten. Oder jemand anderen bitten, zur Schule zu fahren? Kann sie das als Mutter ihrem Sohn zumuten? (Erfolgsmethode, S. 44)

In diesem Gedankenbericht spiegeln sich nicht nur die Zerrissenheit einer berufstätigen Mutter und die ambivalenten Rollenvorstellungen wider, denen sie sich

67 Damit reiht sich der Ratgeber in das von Renate Hof konstatierten wiedererwachende Interesse an autobiographischen Medien ein, die gleichermaßen ‚Lebensnähe‘ wie ‚Authentizität‘ versprechen. Vgl. Renate Hof: Einleitung: Gender und Genre als Ordnungsmuster und Wahrnehmungsmodelle, in: Dies./Susanne Rohr (Hg.): Inszenierte Erfahrung. Gender und Genre in Tagebuch, Autobiographie, Essay. Tübingen 2008, S. 7–24.

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gegenübersieht. Vielmehr veranschaulicht die Erzählung die dominierende Risikowahrnehmung, die hier durch die subjektive Antizipation von Schäden als mögliche Folgen beider Handlungsoptionen illustriert wird. An die Bewusstseinswiedergabe anschließend wird, wie schon in der Einleitung, nur in umgekehrter Reihenfolge, die Situation auf metadiegetischer Ebene verallgemeinert: Frauen und Männer, die sich zwischen Familie und Beruf aufreiben, kennen solche Situationen zu Genüge. Täglich müssen sie schnell abwägen und Prioritäten setzen, sich entscheiden, Folgen bedenken. Der scheinbar sofortige Handlungsdruck engt die Wahrnehmung ein. Nicht zu wissen, was zu tun ist, führt zu einer Gefühlsmischung von Hilflosigkeit und Überforderung, die entweder in Lähmung oder in eine unbedachte Handlung münden kann. (Erfolgsmethode, S. 44)

Zur Illustration von Risikosituationen und deren Wahrnehmung wird auf eine (vermeintlich) faktuale individuelle Fallgeschichte zurückgegriffen, in der, quasi aus einer auktorialen Erzählperspektive des Ratgebers heraus, subjektive Gefühle und Gedanken nicht nur berichtet, sondern auch daran anschließend kontextualisiert werden. Die daran anschließende Bewältigungsstrategie wird hingegen explizit aus einer literarischen Erzählung abgleitet. Michael Endes Roman Momo wird zur Folie, anhand derer die titelgebende „Erfolgsmethode ‚Simple Present‘“68 entfaltet wird: Im Vergleich mit der Figur des Straßenkehrers Beppo, der der kleinen Momo erklärt, wie er seine, scheinbar kein Ende findende Arbeit bewältigt, indem er sich nach und nach abarbeitet, wird auf das Entscheidungspotenzial der/des Einzelnen hingewiesen. Und auch hier dominiert die Vorstellung, die Gestalt der Zukunft mit Kind(ern) sei abhängig von Entscheidungen, die in der Gegenwart getroffen werden: „‚Simple‘ bedeutet genau das: das Komplizierte und Schwierige vereinfachen. Also entscheiden Sie sich (Erfolgsmethode, S. 45).

68 Die Methode simple present besteht im Wesentlichen darin, Abläufe im Alltag zu strukturieren, Betreuungsnetzwerke zu etablieren, Aufgaben abzugeben und eigene Bedürfnisse klar zu kommunizieren. Vgl. Richter: Erfolgsmethode (wie Anm. 1), Innenseite Umschlag.

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ELTERNRATGEBER ALS MEDIUM GENDERFIZIERTER RISIKOKONSTRUKTIONEN Auch das letzte Beispiel zeigt, dass Ratgeber nicht als bloße Orientierungshilfe beziehungsweise Anleitung zur Lösung von Problemlagen zu verstehen sind, sondern durchaus Risiko konstruierenden Charakter haben und zwar, indem sie zum Medium der Risikoantizipation werden. Ratgeber erläutern keineswegs rein deskriptiv Problemlagen und deren Bewältigung, sondern vergegenwärtigen vielmehr Risiken erzählerisch: Anstatt ausschließlich Informationen zum Umgang mit Kindern (im Sinne einer bloßen Vermittlung von Erfahrungswissen) bereitzustellen, etablieren die Ratgeber mehr oder minder ausführliche Erzählungen, um potenzielle zukünftige Zustände zu antizipieren. Alle untersuchten Ratgeber nehmen eine Risikoperspektive ein, indem sie mögliche Schwierigkeiten und (Negativ-) Zustände ausführen, die mit der Geburt eines Kindes einhergehen könnten und dabei das Entscheidungspotenzial der (werdenden) Eltern in diesem Prozess betonen. Gleichzeitig lassen sie den Eindruck entstehen, diese Zustände wären vermeidbar. Gerade dieser Aspekt mag die hohe Popularität des Genres erklären. Tatsächlich generieren Ratgeber aber vielmehr ‚Risikovermeidungsrisiken‘.69 Sie rücken einerseits neue, bis dahin ggf. noch gar nicht wahrgenommene Zustände in den Fokus der Rezipientinnen und Rezipienten. Andererseits unterbreiten sie unterschiedliche, im schlimmsten Fall konträre Handlungsanleitungen, die „die Ratlosigkeit und Orientierungslosigkeit, derenthalben man nach Rat sucht, verstärken“.70 Indem Ratgeberbücher (Negativ-)Zustände vorrangig als Ergebnis von selbst getroffenen/selbst zu treffenden Entscheidungen verhandeln, verlagern sie zudem strukturelle – und empirisch durchaus greifbare – Problemlagen auf eine subjektive Ebene, wie gerade das letzte untersuchte Beispiel eindrücklich zeigt. Eine solche Thematisierung wirkt wiederum auf die gesellschaftliche Praxis rück, denn Risiken bleiben in der gesellschaftlichen Wahrnehmung „eher rationaler Selbstregulierung überlassen“71. Anstelle von Solidarität tritt Eigenverantwortlichkeit. Jenseits einer solchen sozialwissenschaftlichen (Risiko-)Perspektive auf das Genre zeigt eine literaturwissenschaftliche Analyse dieser Sparte, wie Risikokommunikation und auch -konstruktion in Ratgebertexten genrespezifisch erzählerisch ausgestaltet wird und auf welche Weise sie zum Teil medialer Risikovermittlungs-

69 Vgl. Luhmann: Soziologie des Risikos (wie Anm. 20), S. 39. 70 Helmstetter: Tunlichkeits-Form (wie Anm. 33), S. 108. 71 Luhmann: Soziologie des Risikos (wie Anm. 20), S. 112.

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prozesse wird: Der Blick in und auf zeitgenössische Ratgeber für (werdende) Eltern macht deutlich, dass gerade auf paratextueller Ebene nicht nur autobiographische Zusatzinformationen vermittelt, sondern vor allem Risiken antizipiert werden und dass diese Vorwegnahme im Rückgriff auf bekannte Narrative, intertextuelle Bezüge und erzählerische Elemente erfolgt. Para- und gerade auch architextuelle Elemente tragen überdies wesentlich zur Gendersemantik der Texte bei, wie in allen untersuchten Ratgebern anklingt. Denn obwohl keiner der Titel explizit Mütter beziehungsweise Väter adressiert, sondern sich die untersuchten Ratgeber allesamt als Elternratgeber verstehen, sind hier deutlich Gender-Implikationen auszumachen: Bei Borgenichts/Borgenichts Ratgeber Das Baby. Inbetriebnahme, Wartung und Instandhaltung werden die Ratschläge anhand des Erfahrungswissens als (Groß-)Väter autorisiert; der Rückgriff auf das Genre der Bedienungsanleitung bedient überdies klassische Stereotype wie das des technikaffinen Mannes. Umgekehrt elaboriert Imlaus’ Crashkurs Baby Risikolagen und -strategien, die in ratgebertypischen paratextuellen Elementen wie dem Vorwort und Infoboxen vergeschlechtlicht werden. So wird unter anderem die Auseinandersetzung mit Gefühlen zur ‚Frauensache‘. Gleiches gilt für Richters Ratgeber Schluss mit dem Spagat, der das Spannungsverhältnis von Erwerbs- und Fürsorgearbeit zwar grundsätzlich als ein egalitäres versteht, Problemlagen aber fast ausschließlich aus ‚weiblicher‘ Perspektive erzählt. Auf diese Weise wird Fürsorgearbeit als ‚typisch weibliche‘ Aufgabe betont und die ‚Vereinbarkeitsfrage‘ weitestgehend zum Risiko für Frauen. Eine solche polare Festschreibung von Geschlecht im Kontext von Risiko und Risikokommunikation erfolgt noch wesentlich stärker in Ratgebern, die Eltern explizit als Mütter oder Väter adressieren. An anderer Stelle weise ich nach, wie zeitgenössische Mütter- und Väterratgeber zahlreihe (vermeintlich) geschlechterspezifische Risikolagen und -strategien erzählerisch antizipieren und sich dazu sehr deutlich Geschlechterstereotype bedienen. Dies erfolgt nicht nur über die Umschlaggestaltung und Semantik, sondern auch über architextuelle Bezüge, wie die Adaption literarischer Gattungen.72 Bei der Untersuchung von Ratgebern unter

72 Die Gender-Dimension zeitgenössischer Ratgeber wurde bis dato aus literaturwissenschaftlicher Perspektive noch nicht untersucht. Eine Ausnahme bildet das Dissertationsprojekt Nikolai-Fröhlich: Familiengründung als ‚Risiko‘ (wie Anm. 27). Einen ersten Ausblick auf das Potenzial einer solchen Untersuchung gibt überdies der (soziologische) Band Scholz/Dreßler (Hg.): In Liebe verbunden (wie Anm. 47), in dem Elternund Beziehungsratgeber von 1945 bis in die Gegenwart aus diskursanalytischer Perspektive im Hinblick auf genderwissenschaftliche Fragestellungen untersucht wurden.

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Risikoaspekten tritt besonders hervor, dass Ratgeberliteratur „der naturalisierten Geschlechterdifferenz besonders stark an[hängt]“.73 Zuletzt wurde auch deutlich, dass Risiko keineswegs ausschließlich Thema und/oder Untersuchungskategorie beispielsweise technischer Debatten ist, sondern gleichermaßen Gegenstand und Zugang zur Untersuchung von Geschlechterund Familiendiskursen. Beiträge der Sozial- und Geschichtswissenschaften geben im Hinblick darauf erste wichtige Impulse, an welche die Literaturwissenschaft anknüpfen kann. Umgekehrt zeigt sich eine literaturwissenschaftliche Risikoforschung als höchst anschlussfähig, indem sie die Funktion literarischer und auch pragmatischer Texte – zum Beispiel das Bereitstellen von Kernnarrativen – herausstellt und auf diese Weise auch Konstruktionsprozesse und -prinzipien von Geschlecht in Risikodiskursen offenlegt.

73 Sigrid Nieberle: Gender Studies und Literatur. Eine Einführung. Darmstadt 2013, S. 12f.

Riskante Körper Der zeitgenössische amerikanische Medizinthriller als Gattung der Risikokommunikation über Biopolitik Stella Butter Civilizations are shaped and defined by their priorities: by deciding what things and what relations are valuable. Their rules of reproducing power and wealth turn on these choices of what is – and what is not – valuable. Jason W. Moore, Capitalism in the Web of Life, 2015

EINLEITUNG: BIOPOLITIK ALS THEMA IM MEDIZINTHRILLER Der Medizinthriller gehört zu den beliebtesten Gattungen der westlichen Gegenwartsliteratur. Autoren wie Tess Gerritsen, Robin Cook, Michael Palmer oder Michael Crichton stehen regelmäßig auf Bestsellerlisten, und viele Blockbusterfilme beruhen auf deren Büchern. Für die Frage nach den Kontinuitäten und dem Wandel von Risikodiskursen, wie sie der vorliegende Band stellt, sind diese Werke von besonderem Interesse, denn der Medizinthriller ist eine Gattung der Risikokommunikation über aktuelle Biopolitik. Bei Biopolitik geht es gemäß Michel Foucault (2008) um Machttechniken, die auf die Regulierung der Bevölkerung zielen. Das Aufkommen von Disziplinen wie der Biologie, Statistik, Demografie und Epidemiologie um die Mitte des 18. Jahrhunderts stellte das Wissen bereit,

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um Lebensprozesse wie Geburten-, Krankheits- und Sterblichkeitsraten zu kalkulieren und zu steuern:1 „‚Leben‘ wird so zu einer selbständigen, objektivierbaren und messbaren Größe und zu einer kollektiven Realität, die von den konkreten Lebewesen und der Partikularität individueller Lebenserfahrung abgelöst werden kann.“2 Für unsere heutige Zeit diagnostizieren Soziologen wie Nikolas Rose eine Akzentverschiebung weg von der „Politik der Gesundheit“ des 18. und 19. Jahrhunderts hin zu einer „Politik des ‚Lebens selbst‘“3, die durch biotechnologische Entwicklungen gestützt wird: [Biopolitics] is concerned with our growing capacities to control, manage, engineer, reshape, and modulate the very vital capacities of human beings as living creatures.4

Das Spektrum an biopolitischen Themen in Medizinthrillern reicht von staatlichen Reaktionen auf den Ausbruch von Epidemien (zum Beispiel Leonard Goldbergs Plague Ship, 2013), Praktiken im Bereich der Gendiagnostik, -therapie und -patentierung (zum Beispiel Michael Crichtons Next, 2006) bis hin zur Erweiterung der Kategorie ‚Krankheit‘ um Eigenschaften und Verhaltensweisen, die zuvor nicht in den Zuständigkeitsbereich der Medizin fielen, aber nun als therapiebedürftig bewertet und mit Psychopharmaka behandelt werden (zum Beispiel Robin Cooks Acceptable Risk, 1995). Medizinthriller interessieren sich für die Risiken, die mit einer biopolitischen Vermessung des Lebens einhergehen. Grundlegend für Biopolitik ist die Unterscheidung zwischen dem Leben, das geschützt und gefördert wird (beispielsweise durch die Allokation von staatlichen Ressourcen), und dem Leben, das man sterben lassen kann oder das gar sterben muss.5

1

Michel Foucault: The Birth of Biopolitics. Lectures at the Collège de France 1978– 1979. Hrsg. von Michel Senellart. Übersetzt von Graham Burchell. New York 2008. Vgl. Michel Foucault: Recht über den Tod und Macht zum Leben., in: Andreas Folkers/Thomas Lemke (Hg.). Biopolitik: Ein Reader. Berlin 2014, S. 88–114.

2

Thomas Lemke: Biopolitik zur Einführung. 2te überarbeitete Auflage, Hamburg 2013, S. 14.

3

Nikolas Rose: The Politics of Life Itself. Biomedicine, Power, and Subjectivity in the Twenty-First Century. Princeton/Oxford 2007, S. 3; meine Übersetzung.

4

Rose: Politics of Life (wie Anm. 3), S. 3.

5

Vgl. Foucault: Recht (wie Anm. 1), S. 104. Zwar konzentrieren sich Analysen zeitgenössischer Biopolitik auf die Regulierung menschlichen Lebens, doch ist das biopolitische Feld wesentlich breiter, wie Forscher aus dem Bereich animal studies betonen,

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Biopolitik bedeutet somit, „das Lebende in einem Bereich von Wert und Nutzen zu organisieren“.6 Die kritische Hinterfragung der angelegten Kriterien zur Auslotung des Werts des Lebens steht im Zentrum vieler zeitgenössischer Medizinthriller, die einer zunehmenden Ökonomisierung des Lebens als Folge des Neoliberalismus kritisch gegenüberstehen. Für die Analyse der Risikokommunikation im Medizinthriller ist es hilfreich, sich auf drei Dimensionen von Biopolitik zu konzentrieren, die der Soziologe Thomas Lemke benennt, nämlich das „systematisch[e] Wissen vom ‚Leben‘ und von ‚Lebewesen‘“, Machtprozesse und Subjektivierungsweisen. 7 Zwar zielt Biopolitik nicht auf den Körper des einzelnen Subjekts, sondern auf den biologischen Körper der Bevölkerung, den sogenannten Gattungskörper, allerdings stützt sich Biopolitik auf Subjektivierungsweisen, so dass dadurch das einzelne Subjekt wieder in den Blick rückt. Bei Subjektivierungsweisen geht es um die Formung von Identität durch diskursiv vorformulierte Subjektpositionen und Praktiken, die zur Ausbildung eines bestimmten Habitus führen. So ist beispielsweise die Durchsetzung von medizinischen Hygienemaßnahmen, welche die Krankheits- und Sterblichkeitsraten der Bevölkerung reduzieren sollen, gekoppelt an die Herausbildung von Subjektivierungspraktiken, die diese Hygienenormen im Alltagsleben verankern. Das Subjekt ist somit wesentlich geprägt von der kulturell-symbolischen Ordnung, allerdings ist es nicht einseitig fremdbestimmt. Konkrete Subjekte arbeiten „an ihrer identifizierenden Verortung selbst mit“8, indem sie über ihre Wünsche und Befindlichkeiten reflektieren und gegebenenfalls suchen, sich diskursiven Festlegungen zu entziehen und alternative Praktiken zu entwickeln. Zum Zwecke meiner Untersuchung habe ich die von Lemke formulierten Leitfragen modifiziert, um sie auf den Medizinthriller und seine Risikokommunikation anzuwenden:

denn die biopolitische Grenzziehung zwischen schützenswertem Leben und dem Leben, das getötet werden kann, entspricht der Unterscheidung zwischen menschlichem und nicht-menschlichem Leben (vgl. James Stanescu: Beyond Biopolitics: Animal Studies, Factory Farms, and the Advent of Deading Life, in: Journal of Existential and Phenomenological Theory and Culture 8 (2013) 2, S. 135–160, hier S. 135.