Werte und Paradigmen zwischen Wandel und Kontinuität: Literatur- und sprachwissenschaftliche Perspektiven [1 ed.] 9783737010733, 9783847110736


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Werte und Paradigmen zwischen Wandel und Kontinuität: Literatur- und sprachwissenschaftliche Perspektiven [1 ed.]
 9783737010733, 9783847110736

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Gesellschaftskritische Literatur – Texte, Autoren und Debatten

Band 2

Herausgegeben von Monika Wolting und Paweł Piszczatowski

Anna Rutka / Magdalena Szulc-Brzozowska (Hg.)

Werte und Paradigmen zwischen Wandel und Kontinuität Literatur- und sprachwissenschaftliche Perspektiven

Mit 5 Abbildungen

V& R unipress

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet þber http://dnb.d-nb.de abrufbar. Gedruckt mit freundlicher Unterstþtzung der Humanistischen FakultÐt der Katholischen UniversitÐt Lublin. Diese Publikation ist peer-reviewed.  2019, V& R unipress GmbH, Robert-Bosch-Breite 6, D-37079 Gçttingen Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich gesch þtzt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen FÐllen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Umschlagabbildung:  Natascha Wolting Vandenhoeck & Ruprecht Verlage j www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com ISSN 2629-0510 ISBN 978-3-7370-1073-3

Inhalt

Danksagung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Anna Rutka / Magdalena Szulc-Brzozowska Werte und Paradigmen zwischen Wandel und Kontinuität. Literatur- und sprachwissenschaftliche Perspektiven – Vorbemerkungen . . . . . . . . .

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I. Literaturwissenschaft Historischer Rückblick Marzena Gjrecka (Lublin) Innovationen und Kontinuitäten in der deutschsprachigen literarischen Textkultur des 11. und 12. Jahrhunderts . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

25

Ewa Grzesiuk (Lublin) Georg Friedrich Meier und das Paradigma der Menschenliebe im 18. Jahrhundert. Ein Beitrag zur historischen Emotionsforschung

. . . .

41

Nina Nowara-Matusik / Marek Krys´ (Katowice) »Polen wieder erstehen lassen!« Bettina von Arnims Polenbroschüre in imagologischer Perspektive . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

65

Yvonne Nilges (Eichstätt) Götter, Helden und Nietzsche: Über Geist und Buchstabe in den Dada-Avantgarden Zürich und Berlin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

79

Tomczuk Dorota (Lublin) »Erziehung, […] nicht Moralpauke und wenn möglich – Kunst statt Kitsch« – Joseph Roths Beiträge zu Film und Kino . . . . . . . . . . . . .

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Inhalt

Gegenwartsreflexionen Joanna Drynda (Poznan´) Problematisierung der Identitätsfragen im Werk von Anna Kim

. . . . . 111

Joanna Ławnikowska-Koper (Cze˛stochowa) Literarische Familien im Fokus des Wertewandels. Zu deutschsprachigen Familien- und Generationenromanen im 21. Jahrhundert . . . . . . . . . 131 Anna Rutka (Lublin) Zu semantischen Verschiebungen und (Re)Definitionen im Flüchtlingsblick auf die neuen Flüchtlinge Deutschlands: Ilija Trojanows »Nach der Flucht« (2017) und Wladimir Kaminers »Ausgerechnet Deutschland. Geschichten unserer neuen Nachbarn« (2018) . . . . . . . 147 Marek Jakubjw (Lublin) Versuch über die moderne Hagiographie. Zu Martin Mosebachs Roman »21. Eine Reise ins Land der koptischen Martyrer« . . . . . . . . . . . . 159 Małgorzata Dubrowska (Lublin) Barbara Honigmanns neueste »kleine Erzählungen«. Zum Narrativ der Kontingenz im Roman »Georg« (2019) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 171

Zukunftsvisionen Rafał Pokrywka (Bydgoszcz) Überlebende der Zukunft. Wertewandel angesichts spekulativer Katastrophen im Gegenwartsroman . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 185

II. Sprachwissenschaft Magdalena Szulc-Brzozowska (Lublin) Kontroversen um das Konzept des Patriotismus im Deutschen und im britischen Englisch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 203 Monika Grzeszczak (Lublin) Stabilität und Variabilität des Demokratiebegriffs im Deutschen . . . . . 221

Inhalt

7

Joanna Pe˛dzisz (Lublin) Tanzende Körper im Lichte sozialer Transformationen: Eine text- und diskurslinguistisch orientierte Reflexion über Re-Codierungen öffentlicher Diskurse im zeitgenössischen Tanz . . . . . . . . . . . . . . 239 Urszula Topczewska (Warszawa) Bedeutung als Kontextualisierung am Beispiel Gender . . . . . . . . . . . 259 Eliza Chabros (Lublin) Auf dem Weg zur Mehrsprachigkeitsdidaktik – über das neue Paradigma und seine Herausforderungen aus der Lehrerperspektive . . . . . . . . . 277

Danksagung

Die Herausgeberinnen des Bandes danken an dieser Stelle der Katholischen Universität Lublin Johannis Pauli II für die finanzielle Unterstützung der Vorbereitung und Drucklegung dieses Bandes. Ein besonderer Dank gilt Frau Professorin Monika Wolting für die meritorische Betreuung der Aufsätze sowie die Aufnahme des vorliegenden Bandes in die Reihe »Gesellschaftskritische Literatur – Texte, Autoren und Debatten«. Frau Natascha Wolting danken wir für die freundliche Bereitstellung des Coverbildes.

Anna Rutka / Magdalena Szulc-Brzozowska

Werte und Paradigmen zwischen Wandel und Kontinuität. Literatur- und sprachwissenschaftliche Perspektiven – Vorbemerkungen

Das aktuelle »Fraglichwerden der Selbstinterpretationen der sich als ›okzidentalmodern‹ verstehenden Gesellschaft und ihrer begrifflichen und metaphysischen Gewissheiten«1 hat seinen Ursprung und Auslöser in den sich beschleunigenden ökonomischen, politischen und sozialen Transformationen des 21. Jahrhunderts. Die tiefgreifenden Veränderungen der etablierten Konstellationen werden gegenwärtig durch die global geführten, »neuen Kriege«2, den Terrorismus und die dadurch verursachten massiven Migrationsprozesse herbeigeführt. Die Massenmobilität, Freizügigkeit, transkulturelle Lebenslagen3, elektronische Massenmedialisierung und Mehrsprachigkeit auf der einen Seite und globale Fluchtbewegungen aus Kriegsgebieten sowie ökonomische Migration stellen gegenwärtig Dynamiken dar, die traditionelle Bestimmungen, Klassifikationen und Anerkennungsstrategien hinterfragen, verschieben aber zugleich auch verfestigen und neue Konzepte aufleben lassen4. Die Fragen nach Kultur und

1 Völker, Susanne: Legitimes und illegitimes Sprechen – Klassifikationen und Praktiken der Desidentifikation. In: Sprache und Sprechen im Kontext von Migration. Hrsg. von HansJoachim Roth/Henrike Terhart/Charis Anastasopoulos. Wiesbaden: Springer VS 2013, S. 43– 60, hier S. 43. 2 Der Begriff die »Neuen Kriege« in Bezug auf diverse Konflikte des 21. Jahrhunderts geht auf Herfried Münkler zurück. In seinem Buch »Die neuen Kriege« (Reinbeck bei Hamburg: Rowohlt, 2002) beschreibt er mit diesem Gesamtbegriff die neuen politischen Konstellationen, die nach der bipolaren Konfliktlage der Ost-West-Teilung der 1990er Jahre global entstanden sind. Dieses Phänomen umfasst diverse aktuelle Konflikte in Bereichen der Wirtschaft, Politik, Kultur und Religion, die von enormen Gewaltausbrüchen begleitet werden. 3 Vgl. Welsch, Wolfgang: Transkulturalität. Zur veränderten Verfassung heutiger Kulturen. In: Hybridkulturen: Medien, Netze, Künste. Hrsg. von Irmela Schneider/Christian Thomson, Christian. Köln: Wienand, S. 67–90, hier S. 71. 4 Vgl. Völker, Legitimes und illegitimes Sprechen. 2013, S. 43,44. In diesem Zusammenhang sind die heftigen rechtspopulistischen Debatten um Thilo Sarazzins Streitschrift »Deutschland schafft sich ab« (2010) zu erwähnen oder der öffentliche Aufstieg von Pegida und AfD in den letzten Jahren.

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Anna Rutka / Magdalena Szulc-Brzozowska

Identität werden dabei im öffentlichen Diskurs »oftmals als Vehikel für machtpolitische Auseinandersetzungen missbraucht«5. Im deutschen und deutschsprachigen Kulturraum sind es nicht zuletzt die sog. postmigrantischen Generationen (d. h. Kinder und Enkel der nach Deutschland Geflüchteten oder Migrierten)6, die aktuell die tradierten eurozentrischen Herrschaftsparadigmen und Werte wie Nation, Heimat, Herkunft, religiöse Zugehörigkeit und Muttersprache einer rigorosen Kritik unterziehen und aus einem transkulturellen Blickwinkel auf die grundsätzliche Wandelbarkeit und Konstruiertheit dieser traditionellen Vorstellungen sowie ihre machtpolitische Instrumentalisierung hinweisen.7 Im Zusammenhang mit den aktuellen, kontrovers geführten Diskussionen über die Werte der Leitkultur und ihre vermeintliche Bedrohung durch Überfremdung8 sowie über die Forderungen nach Grenzschließung und Ausweisung von Flüchtlingen erscheint die Rolle der Literatur als Medium sowohl der Reflexion als auch Normierung von sozial-politischer Wirklichkeit als besonders relevant. Literarische Texte weisen dabei häufig antizipatorische Funktionen auf, was, wie dies Monika Schmitz-Emans treffend bemerkt, an das Märchen vom Hasen und Igel erinnern mag: »Während die Hasen der jeweils aktuellen Theorien und Theoreme noch ehrgeizig rennen, um das Ziel – die modellhafte Beschreibung der Wirklichkeit – zu erreichen, ist der Igel der Literatur schon da, stachlig und antizipatorisch«9. Die Literarizität und inter- bzw. transkulturelle Optik ermöglichen, die Wandelbarkeit und Prozessualität diverser Kulturbegriffe sowie Konstruktion unserer Vorstellungen vom ›Eigenen‹ und ›Fremden‹ kenntlich zu machen. Gerade in diesem reflektierten und reflexiven Zugang zu den oft machtpolitisch missbrauchten Kategorien der Kultur, Nation und Identität offenbart sich das 5 Giessen, Hans W./Rink, Christian: Zur Relevanz von Kulturkonzepten. In: Migration in Deutschland und Europa im Spiegel der Literatur. Interkulturalität – Multikulturalität – Transkulturalität. Hrsg. von dies.: Berlin: Frank & Timme 2017, S. 7–11, hier S. 7. 6 Vgl. z. B. Autorinnen und Autoren der postmigrantischen Generation wie Lena Gorelik, Jagoda Marinic´, Maxi Obexer, Olga Grjasnowa, Max Czollek, Julya Rabinowich, Vladimir Vertlib, SAID, Marica Bodrozˆic´, Emine Sevgi Özdamer, Melinda Nadj Abonji, Zehra C ¸ irak, Senthurian Vararatharajah und viele andere. 7 Dazu vgl. Giessen, Hans W./Rink, Christian, Zur Relevanz von Kulturkonzepten. 2017, S. 7. Neulich erschien auch ein essayistischer Band, herausgegeben von Fatma Aydemir und Hengemeh Yaghoobifarah unter dem symptomatischen Titel »Eure Heimat ist unser Albtraum«. Berlin: Ullstein 2019. 8 Vgl. dazu den Band Leitkulturen und Wertediskussionen. Zur Darstellung von Zeitgeschichte in deutschsprachiger Gegenwartsliteratur. Hrsg. von Maritn Hellström/Edgar Platen. München: IUDICUM Verlag 2014. 9 Schmitz-Emans, Monika: Globalisierung im Spiegel literarischer Reaktionen und Prozesse. In: Literatur im Zeitalter der Globalisierung. Hrsg. von Manfred Schmeling/Monika SchmitzEmans. Würzburg: Könighausen & Neumann 2000, S. 285–316, hier S. 286.

Vorbemerkungen

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Aufklärungspotenzial literarischer Texte und ihr Beitrag zur »›Lesbarkeit‹ soziopolitischer Entwicklungen«10. Monika Schmitz-Emmans charakterisiert diese Funktion der gegenwärtigen Literatur wie folgt: »Gerade die Relativität, Instabilität und Wandelbarkeit von Ordnungsvorstellungen kann als Generalthema der literarischen Moderne gelten; moderne Literatur thematisiert (und stimuliert dadurch) Prozesse der Ent-Grenzung, der Relativierung von Denk- und Beschreibungsmustern, der Infragestellung von Hierarchien und Begründungsmodellen.«11

Die Preisgabe der etablierten politischen, sozialen und moralischen Kategorien und Wertungen wie auch Unbeständigkeit von ordnenden gesellschaftlichen Systemen und die Kontingenz der diskursiven Ordnungen sind jedoch keineswegs exklusive Phänomene unserer globalisierten und virtualisierten Gegenwart.12 Die Reflexion über Verschiebung von Bedeutungen, Reformulierung von tradierten Modellen, Vermischung unterschiedlicher Kulturelemente (Kulturtransfer) sowie der damit verbundene Wertewandel sind uralte Sprach- und Literaturprobleme, die sich für jede kulturhistorische ›Epoche‹ nachweisen lassen. Das Zusammenfließen und Vermischen von Elementen verschiedener Kulturkreise stellte immer schon die zentrale Dynamik der Kulturen weltweit 10 Miriam Geiser macht in ihrer Studie »Der Ort transkultureller Literatur in Deutschland und Frankreich« auf die akute methodologische Notwendigkeit aufmerksam, kulturelle Globalisierungstendenzen in die Betrachtung literarischer Entwicklungen einzubeziehen. Geiser schreibt in ihrer Untersuchung der deutsch-türkischen und frankomaghrebinischen Literatur der Postmigration die Eigenschaft zu, »im transnationalen Raum von Kulturkontakten« im Zeitalter der Globalisierung antizipatorisch zu wirken und zur ›Lesbarkeit‹ soziopolitischer Ereignisse beitragen zu können. Diese Einschätzung der Erkenntnisfunktion interkultureller Literatur in transnationaler Perspektive trifft meines Erachtens durchaus auch auf die Texte von Gorelik, Marinic´ und Obexer zu. Vgl. Geiser, Miriam: Der Ort transkultureller Literatur in Deutschland und Frankreich. Deutsch-türkische und frankomaghrebinische Literatur der Postmigration. Würzburg: Könighausen & Neumann 2015, S. 317. 11 Schmitz-Emans, Globalisierung im Spiegel literarischer Reaktionen und Prozesse. 2000, S. 286. 12 Monika Wolting macht in ihrem einleitenden Beitrag zum Band »Identitätskonstruktionen in der deutschen Gegenwartsliteratur« auf die früheren, d. h. vor der »Beschleunigung« der Zeitstrukturen (Hartmut Rosa) nach 1989, Entwicklungsphasen der gesellschaftlichen und identitären Veränderungen aufmerksam. Während in den 1950er und 1960er Jahren die »Außenorientierung des Individuums« nach externen Kriterien wie Geschlecht, Beruf, Rollen, soziale Schichten vorherrschend war, vollzog sich in den 1970er und 1980er Jahren eine breit aufgefächerte Emanzipation der Individuen und Veränderung der Werte. Um 2000 entwickelten sich im Zuge der sich beschleunigenden Modernisierungsprozesse neue Bewusstseinslagen, die Wolting in Anlehnung an Heiner Barz und Wilhelm Kampik mit den Begriffen »Vieldeutigkeit« und »Prozesshaftigkeit« charakterisiert. Vgl. Wolting, Monika: »Identität kann nur als ein Problem existieren« – Zu Identitätskonstruktionen in der Gegenwartsliteratur. Einleitung. In: Identitätskonstruktionen in der deutschen Gegenwartsliteratur. Hrsg. von Monika Wolting. Göttingen: V& R unipress 2017, S. 9–18, hier S. 12.

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dar.13 Kriege, Naturkatastrophen, Flucht- und Migrationsbewegungen sind Phänomene, die die Menschheitsgeschichte seit ihren Anfängen begleiteten und jeweils signifikante Wertereformulierungen nach sich zogen. Andererseits sind bei der Einschätzung des gesellschaftlichen Wandels sozialer Werte, der durch Multikulturalität und globalisierte Lebensformen ausgelöst wurde, Vorsicht und kritische Haltung geboten. Wie Ilija Trojanow und Ranjit Hoskote in ihrer Streitschrift »Kampfabsage« (2016) zu recht bemerken, ist die vielfach beschworene »Fusion heterogener kultureller Elemente« nur »oberflächlich«: »Eine Fusion ist kein Zusammenfluß; sie ist das Produkt des Kapitalismus, der kein Interesse an echter Vielfalt hat. Die wirtschaftliche Logik der Globalisierung verlangt die einfache Reproduktion, schnell zu vervielfältigende Produkte, die auf einem einheitlichen Variationsmuster basieren, leicht zu bedienende Programme in verschiedener Aufmachung, damit die Einheimischen das Neue nicht als fremd empfinden Das Gleichgewicht zwischen globalen Ambitionen und lokalem Komfort wird durch Hochglanzpolitur erreicht; […] Die Annahme, die Globalisierung habe zu einem intensiveren und dynamischeren Austausch der Kulturen geführt, ist falsch. Die kapitalistische Globalisierung hat einen negativen Effekt auf die Vielfalt. Sprachen und künstlerische Ausdrucksmöglichkeiten sterben aus, alternative Lebensweisen bleiben nur in den trockenen Wälzern der Gelehrsamkeit erhalten.«14

Der vorliegende Band setzt sich zum Ziel die Brüchigkeit, Konstruiertheit und historische Kontingenz von kulturellen und gesellschaftlichen Werten und Paradigmen einer literaturwissenschaftlichen und sprachwissenschaftlichen Reflexion zu unterziehen. Vor einem diachronen und synchronen Hintergrund gehen die einzelnen Beiträge folgenden Fragen nach: Welche literarischen und sprachlichen Praktiken und Strategien werden eingesetzt, um die Kontingenz der gegebenen klassifikatorischen Ordnungen zu beschreiben; Welche kritischreflexiven Zugänge gibt es heutzutage und gab es in der Vergangenheit zu den kaum abschließbaren Debatten um Herausbildung neuartiger Schicksalsgemeinschaften; Der Wandel im Sinne von Re-Formulierung, Neu-Codierung, Hybridisierung, Verschiebung der Semantiken und Diskurse wird dabei sowohl anhand literarischer Texte wie auch sprachkritischer Analysen verfolgt. Die Dynamiken der Neugestaltung sowie des Beibehaltens oder des Rekurses auf traditionelle Ordnungsmuster werden gleichermaßen auf der axiologischen, sozial-gesellschaftlichen, religiös-theologischen, philosophischen, sprachkognitiven, sprachsemantischen und diskursanalytischen Ebene aufgezeigt. Die diachrone und synchrone Perspektive der in diesem Band versammelten Beiträge lässt eine grundsätzliche Konstante erkennen: Sowohl im literaturhisto13 Vgl. dazu Trojanow, Ilija/Hoskote, Ranjit: Kampfabsage. Kulturen bekämpfen sich nicht, sie fließen zusammen. Frankfurt am Main: Fischer Verlag 2016, S. 11–13. 14 Ebd., S. 33.

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Vorbemerkungen

rischen wie auch politisch-historischen und sprachkritischen Diskurs unterschiedlicher Epochen – vom Mittelalter angefangen, über das 18., 19. Jahrhundert, die Zeit der Moderne um 1900 bis hin zu differenzierten Schreib- und Darstellungsweisen des 20. und 21. Jahrhunderts und spekulativen Zukunftsvisionen in neusten Erzähltexten – lässt sich eine komplementäre Dynamik erkennen, die als ein ständiges Pendeln zwischen Wandel/Bruch und Kontinuität/ Beständigkeit charakterisiert werden kann. Die linguistisch fundierte Werteforschung setzt vorrangig an der Text- und Diskursanalyse an, die im Gefolge der pragmatischen sowie kognitiven Wende (in den 70er und dann 80er Jahren des 20. Jhs.) wesentliche Berührungspunkte mit kultur-, sozial- und politikwissenschaftlichen Disziplinen aufweist. In Betracht wird im linguistischen Teil des Bandes der kommunikationsstrategische Akt des Begriffsbesetzens (mittlerweile ist die Metapher Begriffe besetzen eine anerkannte Größe der politischen Rhetorik geworden) gezogen, der sich durch ein breites Spektrum an unterschiedlichen sprachlichen Phänomenen kennzeichnet. Auf der intratextuellen Ebene umfasst er z. B. Schlagwörter (Fahnenund Stigmawörter), Metaphern, Neologismen und Okkasionalismen, konzeptuelle Blends, Implikaturen, Sprechakte, Präsuppositionen, auf der Ebene der Akteure kommen Interaktionsrollen, Diskurspositionen und Medialität in Frage, dagegen wird die Transtextualität u. a. durch Frames, Topoi, diskursemantische Grundfiguren, Historizität, Ideologien, Mentalitäten oder Sozialsymbolik strukturiert. Die Erforschung von Begriffsprägung/konzeptueller Konkurrenz, parteilichem Prädizieren/Bezeichnungskonkurrenz, Umdeuten/deskriptiver Bedeutungskonkurrenz sowie Umwerten/deontischer Bedeutungskonkurrenz setzt die Rekonstruktion rekursiver Gebrauchsmuster voraus, die im Rahmen der Frame-Semantik oder kognitiver Ethnolinguistik in einigen Beiträgen unternommen wird. Im Fokus des Interesses beider Ansätze steht das stereotypische Konzept mitsamt seiner Profilierung, die je nach Diskurs variieren kann, wobei Intertextualität als erforderliches Element der Analyse zum Vorschein kommt. Überdies hinaus visieren die linguistischen Analysen dieses Bandes in Bezug auf die kognitiv-sprachliche Gestaltung von Werten und Paradigmen eine Hybridisierung von Konzepten, Diskursen sowie sprachlichen Formen an. *** Den literaturwissenschaftlichen Teil des Bandes eröffnet der historische Rückblick von Marzena Gjrecka, der »Innovationen und Kontinuitäten in der deutschsprachigen literarischen Textkultur des 11. und 12. Jahrhunderts« untersucht. Anhand von zwei, anonym überlieferten Werken »Hochzeit« und »Wiener Genesis«, die aus der gesamten Textgruppe der rund 80 frühmittelhochdeutschen Dichtungen ausgewählt wurden, kann die Autorin aufzeigen,

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dass die frühmittelhochdeutschen Texte bedeutende Zeugnisse einer außergewöhnlichen Zeit: des beginnenden »Aufbruchs Europas« (K. Bosl) sind. Aus den Analysen geht hervor, dass in viele Texte dieser Zeit gegen das Klischee der ›Weltabgewandtheit‹ lehrhafte und anekdotische Ausblicke und persönliche Elemente hereindrängen, die nicht mehr sakral gebunden sind und ein wachsendes Interesse am Diesseits bei Autoren und Lesern verraten sowie das Bedürfnis nach der Erweiterung der althergebrachten Sinnhorizonte um menschennahe Sujets, und in der Folge nach selbständiger profaner Narration belegen. Ewa Grzesiuk analysiert in dem Aufsatz »Georg Friedrich Meier und das Paradigma der Menschenliebe im 18. Jahrhundert. Ein Beitrag zur historischen Emotionsforschung« im Kontext der sich wandelnden, naturwissenschaftlichen und philosophischen Konzepte die Erforschung von Emotionen, darunter besonders der ›Menschenliebe‹, die als das Fundament eines geglückten privaten und gesellschaftlichen Lebens verhandelt wurde. Die Autorin rekonstruiert den Weg, auf dem sich im 18. Jahrhundert die Emotionsforschung als philosophischer Untersuchungsgegenstand etabliert hatte (etwa bei Thomasius, Wolff, Leibnitz, Gottsched, Baumgarten) und in literarischen Texten der Epoche den Niederschlag fand. Eine besondere Beachtung findet in Grzesiuks Aufsatz die nuancierte Darstellung des Paradigmas ›Menschenliebe‹ und seine originelle Auslegung in philosophischen Schriften Georg Friedrich Meiers. Den historischen Rekurs auf das 19. Jahrhundert erschließen Nina NowaraMatusik und Marek Krys´ mit ihrem Beitrag zum essayistischen Werk Bettina von Arnims »›Polen wieder erstehen lassen!‹ Bettina von Arnims Polenbroschüre in imagologischer Perspektive«. Die Autorin und der Autor stellen Arnims Essay allerdings nicht in den traditionellen literaturhistorischen Kontext der »Polenliebe« und »Polenschelte«, sondern untersuchen ihn in einer imagologisch ausgerichteten Perspektive. Dieser interpretatorische Zugang ermöglicht es, in der von Bettina von Arnim entworfenen Vision Polens die eigentümlichen Unterschiede (Differentia specifica) zum zeitgenössischen deutschen Diskurs über Polen zu erschließen und deutliche Anknüpfungen der »Polenbroschüre« an die romantischen (Auto)Konzepte Polens offen zu legen. Den »quasireligiösen Heroismen« des Zürcher und Berliner Dadaismus (1916–1920) im Diskursfeld der zeitgenössischen Nietzsche-Nachfolge geht Yvonne Nigles im Beitrag »Götter, Helden und Nietzsche: Über Geist und Buchstabe in den Dada-Avantgarden Zürich und Berlin« nach. Die Verfasserin analysiert, wie in den von Dadaisten entwickelten Schreib- und Darstellungsweisen – Laut- und Buchstabengedichte, Spiel der Zeichen und Priorität der Schrift vor dem Inhalt – die Dynamiken des Wandels und der Kontinuität ihren Ausdruck fanden. Darüber hinaus verfolgt der Text differenzierte Fortwirkungen und Einflüsse der von deutschsprachigen Dadaisten entwickelten, ästheti-

Vorbemerkungen

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schen und kulturwissenschaftlichen Positionen auf die Kunstkonzepte des 20. Jahrhunderts wie z. B. die literarischen Entwürfe des absurden Theaters, der konkreten Poesie, die Aktions- und Konzeptkunst, zeitgenössische Performances. Somit fokussiert der Aufsatz die Kontinuität(en) des von den Dada-Avantgarden Zürich und Berlin initiierten Wandels in den darauf folgenden künstlerischen Perioden. Dorota Tomczuk beschäftigt sich in ihrem Beitrag »›Erziehung, […] nicht Moralpauke und wenn möglich – Kunst statt Kitsch‹. Joseph Roths Beiträge zu Film und Kino« mit der ambivalenten Haltung des österreichischen Literaten und Publizisten zum technischen Fortschritt und der sich rasant entwickelnden Unterhaltungsindustrie seiner Zeit. Roths Beiträge zu Film und Kino zeigen die Verschiebung und Neujustierung der Werte und Paradigmen der Alltagskultur einer Übergangsgesellschaft in einer Zeit des sozialen und kulturellen Wandels. Der Aufsatz präsentiert Roths Plädoyer für den Film als die eigenständige Kunstform in Abgrenzung zum Theater sowie die Aufwertung des Potenzials des Kinos als »Erziehungsanstalt« der Massen. Andererseits kann die Autorin nachweisen, wie sich beim Feuilletonisten allmählich Skepsis und Enttäuschung über die Werte der Vertreter der Filmbranche (Produzenten und Schauspieler) breit machten, die in vielerlei Hinsicht die bis heute aktuellen Kritikpunkte der Unterhaltungsindustrie vorweggenommen haben. Die Gegenwartsreflexionen in literarischen Texten des 20. und 21. Jahrhunderts eröffnet der Beitrag »Problematisierung der Identitätsfragen im Werk von Anna Kim« von Joanna Drynda. Ausgehend von den essayistischen Werken der aus Südkorea stammenden österreichischen Autorin, in denen sie die Kontingenz von Kategorien wie Herkunft, Heimat oder Identität erörtert, analysiert der Beitrag die Romane der Schriftstellerin im Hinblick auf das dort artikulierte Fremdsein und die Entfremdung. Dryndas Beitrag spürt den Vernetzungen von Sprache, Identität und Erinnerung nach und veranschaulicht, wie Anna Kim die traditionellen Zugehörigkeitsvorstellungen kritisch als »Bedrohung« entlarvt und für offene, dynamische und jeweils biographisch fundierte Selbstpositionierungen plädiert. Joanna Koper betrachtet in ihrem Aufsatz »Literarische Familien im Fokus des Wertewandels. Deutschsprachige Familien- und Generationenromane im 21. Jahrhundert« literarische Familien seit 2000 als »Träger des globalen und lokalen zivilisatorischen Wandels und damit des Wertewandels«. Als Referenzpunkte für den Überblick der Familienproblematik im 21. Jahrhundert dienen der Verfasserin dabei Umgang mit Erinnerung, Einstellung zur Privatheit, Medialisierung und Selbstreflexivität. Der familiäre Wertewandel in Bezug auf die Zeitgeschichte wird besonders in deutschen und österreichischen Erzähltexten als »Entlügen« der offiziellen Geschichte sichtbar, während sich in der Privatsphäre der Paradigmenwandel in erster Linie als Reaktion auf Globalisierung,

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Digitalisierung und allgemeine zivilisatorische Beschleunigung manifestiert und zu neuen Lebensentwürfen einleitet. Anna Rutka visiert in ihrem Text »Zu semantischen Verschiebungen und (Re)Definitionen im Flüchtlingsblick auf die neuen Flüchtlinge Deutschlands: Ilija Trojanows ›Nach der Flucht‹ (2017) und Wladimir Kaminers ›Ausgerechnet Deutschland. Geschichten unserer neuen Nachbarn‹ (2018)« den literarischen Blick zweier deutscher Autoren ›mit Migrationshintergrund‹ auf die traditionellen Subjekt-, Nation- und Staatskonzepte angesichts der gegenwärtigen, globalen Fluchtbewegungen an. Die literarischen Entwürfe Kaminers und Trojanows – so das Fazit der Autorin – zeigen die Notwendigkeit einer Disposition zur Offenheit, plädieren für Vielfalt, Mehrfachzugehörigkeiten und grenzübergreifendes Denken als die notwendigen und unentbehrlichen Modelle der Zukunft. In dem Beitrag »Versuch über die moderne Hagiographie. Zu Martin Mosebachs Roman ›21. Eine Reise ins Land der koptischen Martyrer‹« analysiert Marek Jakubjw die ästhetische Funktion der traditionellen christlichen Gattung Hagiographie, die in Martin Mosebachs Roman zur Literarisierung des terroristischen Angriffs auf koptische Wanderarbeiter im Jahre 2015 verwendet wurde. Durch den Rückgriff auf das seit dem Mittelalter überlieferte hagiographische Muster gelingt es Mosebach, wie es Marek Jakubjw in seinen Analysen beweist, die Opfer der IS-Terroristen vor der Trivialisierung durch die tägliche mediale Berichterstattung zu schützen und sie der Anonymität zu entreißen. Darüber hinaus dient die Verbindung der traditionellen Gattungsform mit dem modernen Reisebericht dazu, den/die Leser_in zur Reflexion über die Rolle überlieferter Denk- und Lebensformen in der postmodernen Welt zu verleiten. Ähnlich wie Marek Jakubjw beschäftigt sich auch Małgorzata Dubrowska in dem Beitrag »Barbara Honigmanns neueste ›kleine Erzählungen‹. Zum Narrativ der Kontingenz im Roman ›Georg‹ (2019)« mit den textinternen Schreibverfahren, an denen sich die Verschiebung der narrativen Modelle in der neusten Prosa des 21. Jahrhunderts ablesen lässt. Die Autorin untersucht, wie Barbara Honigmann das Narrativparadigma der Kontingenz zur Darstellung des nur fragmentarisch verfügbaren Schicksals der Vater-Figur einsetzt. Das Schreibprinzip der Kontingenz versteht Dubrowska dabei nach Monika Schmitz-Emans als »das Paradigma der Literatur im Zeitalter der Globalisierung« und somit als Antwort auf das Verschwinden des einen, verbindlichen ›Master Narratives‹. Einen Blick in die Zukunft wirft der Beitrag von Rafał Pokrywka »Überlebende der Zukunft. Wertewandel angesichts spekulativer Katastrophen im Gegenwartsroman«. Der Verfasser analysiert sechs, nach 2000 erschienene, deutschsprachige Romane, die diverse mögliche künftige Katastrophen problematisieren. Im Kontext der katastrophischen Szenarien und des spekulativen Potenzials dieser Erzähltexte lotet der Aufsatz den Wandel der Werte aus, der sich

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Vorbemerkungen

in Raum- und Zeit-Transformationen, in medialer Hegemonie und im Stellenwert des Menschen ankündigt. Pokrywka veranschaulicht in seinen Analysen, wie die literarischen Zukunftsprognosen gegenwärtige Ängste und Krisen der postmodernen Wohlstandsgesellschaft widerspiegeln und daraus Darstellungen katastrophaler Wertewandel – sei es als Warnung oder als Versprechen – ableiten. *** Die synchronen und diachronen literaturwissenschaftlichen Perspektiven, die auf Analysen von fiktionalen Texten basieren, werden im abschießenden Teil des Sammelbandes um linguistische und glottodidaktische Fragestellungen und Fallbeispiele ergänzt. Der Blick auf die aktuelle deutsche Sprache und die (Fremd)sprachendidaktik erlaubt es, die Hinterfragung von scheinbar festen und unverrückbaren Orientierungspunkten im aktuellen sozial-gesellschaftlichen und kulturellen Diskurs erfassbar zu machen. Gleichzeitig gewähren die sprachwissenschaftlichen Beiträge aufschlussreiche Einblicke in die Mechanismen des Kreierens, Erfindens und der funktionalen Umsetzung von ›neuen‹ und ›alten‹ Werten und Paradigmen. Einen Einblick in die Konsequenzen der Begriffsbesetzung gewährt der Beitrag »Kontroversen um das Konzept des Patriotismus im Deutschen und britischen Englisch« von Magdalena Szulc-Brzozowska. Die Autorin setzt sich anhand von experimentellen Daten mit naivem, subjektivem Weltbild der jeweiligen Muttersprachler_innen bezüglich dieses Begriffs aus kontrastiver Sicht auseinander, indem sie die Frame-Semantik und die kognitive Ethnolinguistik als methodologische Grundlage heranzieht. Im Zentrum ihres Interesses steht nicht nur die Frage nach der aktuellen, neuen, kognitiven Definition von Patriotismus, sondern auch nach der Legitimierung des Konzepts als Wert im europäischen (deutschen und britischen) Kulturraum. Mit der Rekonstruktion der kognitiven Definition eines anderen Begriffs, der – dem Patriotismus ähnlich – einen heiklen europäischen Wert darstellt, und zwar der Demokratie im Deutschen befasst sich Monika Grzeszczak in dem Aufsatz »Stabilität und Variabilität des Demokratiebegriffes im Deutschen«. Die Autorin setzt sich zum Ziel, sowohl die stereotypische Vorstellung, d. h. das Basiskonzept von Demokratie als auch ihre Profilierung zu untersuchen. Der Begriff Demokratie wird in seiner semantisch-kognitiven Spannbreite aufgezeigt; dies erfolgt u. a. dank der Einbeziehung ideologisch diverser Diskurse, deren Analyse die spezifische axiologische Neugestaltung/Modifizierung des traditionellen Ordnungsmusters ergibt. Die Problematik der Hybridisierungsprozesse greift Joanna Pe˛dzisz in »Tanzende Körper im Lichte sozialer Transformationen: Eine text- und dis-

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Anna Rutka / Magdalena Szulc-Brzozowska

kurslinguistisch orientierte Reflexion über Re-Codierungen öffentlicher Diskurse im zeitgenössischen Tanz« auf. Unter die Lupe wird das sprachlich-kognitive Phänomen der Verflechtung der Tanzaufführungen mit dem kritischreflexiven Diskurs über die Welt genommen. Die Absicht der Autorin besteht darin, eine Re-Codierung der öffentlichen Diskurse aufzuzeigen, indem der zeitgenössische Tanz als Instrument zur kritischen Betrachtung der Wirklichkeit eingesetzt wird. Der Rolle des Kontextes bei der Bedeutungsstiftung ist der Artikel »Bedeutung als Kontextualisierung am Beispiel Gender« von Urszula Topczewska gewidmet. Am Beispiel des Wortes Gender wird seine Bedeutung aufgrund von semantisch salienten Gebrauchsweisen ermittelt. Im Vordergrund der Analyse stehen die referentiellen Kontextualisierungshinweise, die zugleich einen Zugang zu kulturspezifischen Wissensbeständen, insbesondere zu axiologisch motiviertem Wissen, bieten. Den linguistischen Teil schließt Eliza Chabros mit dem Beitrag »Auf dem Weg zur Mehrsprachigkeitsdidaktik – über das neue Paradigma und seine Herausforderungen aus der Lehrerperspektive« ab, mit dem sie die Konsequenzen der Globalisierungsprozesse im heutigen Europa, allem voran die ethnische Heterogenität und deren Ergebnis in Form der Nachfrage nach Mehrsprachlichkeit in der Sprachenbildung anspricht. Der diskutierte Paradigmenwechsel bezieht sich auf die Lehrkraft als Schlüsselelement der integrierten Fremdsprachendidaktik im mehrsprachlichen Unterrichtskonzept. Lublin im September 2019

I. Literaturwissenschaft

Historischer Rückblick

Marzena Gjrecka (Lublin)

Innovationen und Kontinuitäten in der deutschsprachigen literarischen Textkultur des 11. und 12. Jahrhunderts

Abstract Die deutschsprachige, überwiegend geistliche Literatur von der Mitte des 11. bis in die zweite Hälfte des 12. Jahrhunderts, die bis in die 1960er Jahre als asketische, weltabgewandte, weltverneinende »Cluniazenserdichtung« etikettiert wurde, kennzeichnet, wie die neueste literaturwissenschaftliche Mediävistik aufgezeigt hat, eine neue Qualität und Neuakzentuierung, die in der Kontamination von traditionellen religiösen und profanen Elementen besteht und sich sowohl auf der formalen als auch der inhaltlichen Ebene widerspiegelt. Der vorliegende Artikel setzt sich zum Ziel, dieses neue Paradigma anhand von zwei exemplarischen, gattungsdifferenten, anonym überlieferten literarischen Texten, der »Hochzeit« und der »Wiener Genesis«, aufzuzeigen und somit zur Ergänzung dieses breiten Forschungsfeldes, auch in methodologischer Hinsicht, beizutragen.

Bis in die 1960er Jahre wurde die deutschsprachige, überwiegend geistliche Literatur von der Mitte des 11. bis in die zweite Hälfte des 12. Jahrhunderts, die nach einer anderthalb Jahrhunderte dauernden Pause in der deutschsprachigen Textproduktion ansetzte, als asketische, weltabgewandte, ja weltverneinende »Cluniazenserdichtung« etikettiert, die den Geist des Klosters Cluny und der von ihm ausgegangenen und sich allmählich über Kloster Hirsau im Schwarzwald und das lothringische Gorze ausgebreiteten, kirchlichen Reformbewegung atmet. Exemplarisch sei hier Ranke angeführt: »Die frühmittelhochdeutsche Dichtung des 11./12. Jahrhunderts ist zunächst ausgesprochene Geistlichendichtung; sie steht im Dienste der kirchlichen Propaganda, der Predigt und Kirchenlehre, und ihre Haltung ist durchaus weltfeindlich, mönchischasketisch. Memento mori tönt es durch die Verse dieser Dichtung, wohin wir auch hören. ›Denk an den Tod, an das Gericht nach dem Tod, und lass die Güter dieser Welt fahren! […] Memento mori! Vanitas vanitatum vanitas – Vergänglichkeit alles Irdischen und Eitelkeit alles irdischen Strebens‹: schärfster Dualismus, weiteste Aufreißung der Kluft zwischen Welt und Gott – das ist, nur in verschiedener Abschattung des Temperaments und dichterischen Vermögens, die einheitliche Antwort der frühmit-

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telhochdeutschen Dichtung des 11./12. Jahrhunderts auf unsere Frage nach dem Verhältnis von Gott und Welt.«1

Dieses scharfe, negative Urteil wurde in den späteren 1960er Jahren etwas gemildert, indem man eher von einer benediktinischen Dichtung im Sinne der allgemein monastischen Rückbesinnung auf die Verwirklichung der »Regula Benedicti« und Erneuerung einer idealen urkirchlichen Ordnung sprach und somit das traditionelle Kennwort »cluniazensisch« sich nicht nur als problematisch, sondern geradezu als ungeeignet erwies.2 Dass diese Etikettierung nicht nur »allzu grob und vereinfachend«3, sondern geradezu auch irreführend und – in Bezug auf ihren Inhalt sowie ihre Form und Bedeutung – devaluierend ist, haben in den letzten Dekaden zahlreiche, in erster Linie deutschsprachige, Mediävistinnen und Mediävisten aufgezeigt. Aus ihrer Sicht atmen die frühmittelalterlichen Texte keineswegs alle im gleichen Maße und Sinne den Geist der Askese, sondern sie sind als eigenständige Werke des Neuanfangs zu betrachten. Als einer der ersten hat den Rang und die Qualität dieser Literatur Friedrich Maurer, der Hauptherausgeber der deutschsprachigen Dichtungen des 11. und 12. Jahrhunderts,4 herausgestellt, indem er schrieb, ideell und formal habe die Dichtung der Salierzeit die höfische Dichtung der Stauferzeit mit ihrem theozentrisch-höfischen Weltbild (Hartmann von Aue, Wolfram von Eschenbach) vorbereitet.5 Einen wichtigen Beitrag zur Milderung des negativen Urteils und der größeren Differenzierung hat Hans Gernentz mit seiner Studie »Kleinere deutsche Gedichte des 11. und 12. Jahrhunderts« von 1970 geleistet. Er bezeichnet die Texte dieser Zeit zwar auch als »vorwiegend religiös«, aber seines Erachtens dienen sie nicht mehr Missionszwecken und zeugen von »einem auffallenden Qualitäts-

1 Ranke, Friedrich: Gott, Welt und Humanität in der deutschen Dichtung des Mittelalters. Basel: Schwabe 1953, S. 13–14. Vgl. auch Schröder, Werner : Der Geist von Cluny und die Anfänge des frühmittelhochdeutschen Schrifttums. In: »Beiträge zur Geschichte der deutschen Sprache und Literatur 72« (1950), S. 321–400. 2 Vgl. Meißburger, Gerhard: Grundlagen zum Verständnis der deutschen Mönchsdichtung im 11. und 12. Jahrhundert. München: Fink 1970, S. 11. 3 Maurer, Friedrich: Salische Geistlichendichtung. In: Dichtung und Sprache des Mittelalters. Gesammelte Aufsätze. Hrsg. von Friedrich Maurer. Bern/München: Francke 1963, S. 168–173, hier S. 168. 4 Die religiösen Dichtungen des 11. und 12. Jahrhunderts. 3. Bde. Hrsg. von Friedrich Maurer. Tübingen: Niemeyer 1965 u. 1970. 5 Maurer, Salische Geistlichendichtung. 1963, S. 168–170.

Innovationen und Kontinuitäten

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sprung«.6 Das Bild sei zu sehr generalisiert und die gezeichnete Grundlinie dieser Literatur werde der Vielfalt der Erscheinungen dadurch nicht gerecht: »Auf keinen Fall kann man ganz allgemein feststellen, ›die religiöse Erneuerungsbewegung‹ habe vom Kleriker wie vom Laien mönchische Askese gefordert. Ein großer Teil der Dichtungen ist im Gegensatz zu dieser These ausgesprochen unasketisch, zum Beispiel ›Vom Rechte‹ und ›Die Hochzeit‹«.7

Die größten Verdienste bei der Revidierung dieses Forschungsklischees hat die neueste literaturwissenschaftliche Mittelalterforschung. Stephan Müller und Jens Schneider, die Herausgeber des grundlegenden Sammelbandes »Deutsche Texte der Salierzeit – Neuanfänge und Kontinuitäten im 11. Jahrhundert«, die mich zum Thema dieses Beitrags inspirierten, erblicken im »Wiederbeginn volkssprachiger Schriftlichkeit«8 um 1050/60 einen »deutlichen Innovationsschub«9. In ihrem grundlegenden Beitrag »Die unruhige Generation. Deutsche und lateinische Literatur in der zweiten Hälfte des 11. Jahrhunderts«10, den Gisela Vollmann-Profe zusammen mit ihrem Mann Benedikt Konrad Vollmann, einem mediävistischen Latinisten, veröffentlicht hat, stellt sie fest, dass die volkssprachigen Texte dieser Zeit zwar noch im Schatten der lateinischen Literatur stehen, jedoch damals etwas aufbrach, das in der westlichen Gesellschaft bis auf den heutigen Tag geblieben ist: »[…] die Bereitschaft, immer wieder das Überkommene, Vertraute, Gewohnte der kritischen Reflexion zu unterwerfen und neue Antworten zu suchen, wenn die traditionellen Antworten der sich wandelnden Realität oder auch dem sich wandelnden Bewusstsein nicht mehr genügen.«11

Diese kritische Reflexion und die daraus resultierte Offenheit fällt zeitlich mit wichtigen tiefgreifenden, alle Bereiche des gesellschaftlich-politischen Lebens erfassenden Umwälzungen zusammen, die um die Mitte des 11. Jahrhunderts begannen: Die gesamte, bis dahin festgefügte frühmittelalterliche Gesellschaftsordnung geriet in Bewegung; es kam zu wachsender Unzufriedenheit mit 6 Gernentz, Hans J.: Literaturhistorische Einleitung. In: Kleinere deutsche Gedichte des 11. und 12. Jahrhunderts. Hrsg. von Hans J. Gernentz. Leipzig: Bibliographisches Institut 1970, S. 9–20, hier S. 9. 7 Ebd., S. 13. 8 Vgl. Vollmann-Profe, Gisela: Wiederbeginn volkssprachiger Schriftlichkeit im hohen Mittelalter. 1050/60–1160/70. 2. Auflage. Tübingen: De Gruyter 1994. 9 Müller, Stephan/Schneider, Jens: Vorwort. In: Deutsche Texte der Salierzeit – Neuanfänge und Kontinuitäten im 11. Jahrhundert. Hrsg. von Stephan Müller/Jens Schneider. München Fink 2010, S. 7–10, hier S. 9. (Mittelalterstudien des Instituts zur interdisziplinären Erforschung des Mittelalters und seines Nachwirkens 20). 10 Vollmann-Profe, Gisela/Vollmann, Benedikt Konrad: Die unruhige Generation. Deutsche und lateinische Literatur in der zweiten Hälfte des 11. Jahrhunderts. In: Müller/Schneider : Deutsche Texte der Salierzeit. 2010, S. 11–27, insb. S. 19–27. 11 Ebd., S. 18.

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dem Althergebrachten, Bestehenden; die Suche nach neuen Erkenntnissen und beweisbarer Wahrheit wurde allerorts und immer mehr spürbar.12 Die religiöse Erneuerungs- und Intensivierungsbewegung erfasste die ganze Gesellschaft.13 Mit diesen Veränderungen korrespondierte ein verändertes Denken und ein neues Selbstbewusstsein. Stefan Weinfurter verwendet in seiner Monographie für dieses Phänomen den Begriff »Entzauberung der Welt«14. Dies generierte auch literatursoziologische Veränderungen bei Autoren und Publikum dieser Zeit: Die geistlichen – in der Mehrheit anonym gebliebenen – Produzenten der literarischen Texte, in erster Linie Mönche und Weltgeistliche, also klerikal Gebildete, die des Lesens und Schreibens und damit auch der Bildungssprache Latein mächtig waren, sowie konvertierte Laien, darunter auch eine namentlich genannte Frau Ava, versuchen nun, mit ihrem Schrifttum diesen Anspruch aufzufangen und dem drängenden Bildungsanspruch des neuen, meist in theologischen Fragen ungebildeten Publikums von konvertierten oder im Weltleben stehenden Laien vorwiegend adligen Standes gerecht zu werden. Durch diese hier in groben Zügen dargestellten eigenen Voraussetzungen, aus denen diese neue – auch in einer anderen Sprache, dem frühen Mittelhochdeutschen bzw. Frühmittelhochdeutschen verfasste und überlieferte – Literatur erwuchs, ergab sich ein ganz eigenes Profil in thematischer und formaler Hinsicht. Die kritische Reflexion und Suche nach neuen Wegen führte in der literarischen Textproduktion zu zahlreichen Differenzen und Neuakzentuierungen inhaltlicher, formeller und funktioneller Art. Zur geistlichen, biblisch-heilsgeschichtlichen Thematik, die die althochdeutsche Dichtung – in erster Linie die beiden biblischen Epen, das anonym überlieferte »Heliand« und »Die Evangelienharmonie« des Otfrid von Weißenburg, aber auch kleinere Texte wie »Das Wessobrunner Gebet« und »Muspilli« – prägen, kommen neue Stoffe und Motive hinzu, die steigendes Interesse an der Profangeschichte und an menschlichen Sujets (Physisches, Gesellschaftliches, Alltagsweltliches, Komisches) selbst widerspiegeln. Die Heilsgeschichte, die für den mittelalterlichen Menschen Universalgeschichte schlechthin war, wird in zahlreichen literarischen Texten dieser Zeit parallel mit der Weltgeschichte betrachtet und zusammengeführt. Daraus ergibt sich eine für die damaligen Verhältnisse neue literarische Kategorie, die

12 Vgl. Vollmann-Profe/Vollmann: Die unruhige Generation. 2010, S. 11. – Mehr hierzu siehe Kempf, Friedrich: Ketzer- und Reformbewegungen bei Klerus und Laien (1000–1050). Das Abendland an der Wende zum Hochmittelalter. In: Handbuch der Kirchengeschichte. Sonderausgabe. Hrsg. von Hubert Jedin. Bd. III/1. Freiburg/Basel/Wien: Herder 1985, S. 397– 410. 13 Vgl. Gernentz, Literaturhistorische Einleitung. 1970, S. 11. 14 Weinfurter, Stefan: Canossa. Die Entzauberung der Welt. München: Beck 2006.

Innovationen und Kontinuitäten

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Peter Ganz als das »Nebeneinander, die Gleichzeitigkeit und das Ineinanderspielen geistlicher und weltlicher Dichtung«15 bezeichnet. Die Stoffe und Themen dieser neuansetzenden Literatur sind – wie bereits angedeutet – zwar fast durchweg geistlich und das Hauptanliegen der Autoren ist die Vermittlung vertieften Verständnisses des Heilswissens und dogmatischtheologischer Spekulationen in der Volkssprache. Geistliche Orientierung und Fokussierung der Werke hindern die Autoren jedoch nicht daran, die vermittelten Stoffe neu zu akzentuieren und sie thematisch neu zu transponieren, sodass man deutlich von einem Interessenwandel und einer anderen Akzentsetzung als in der geistlichen althochdeutschen Literatur des 8.–9. Jahrhunderts sprechen kann.16 Auf das veränderte geistige Klima antworten auch neue literarische Typen. Die Vielfalt der literarischen Formen dieser Literatur ist enorm, daher bleibt auch die Zuordnung eines Textes zu der einen oder anderen Gruppe trotz einiger Versuche problematisch. Dies resultiert daraus, dass diese Literatur in besonderem Maße im Experimentierstadium begriffen ist: »Die Autoren erprobten neue literarische Formen und entwickelten ein Textrepertoire mit je eigenen Typen und Gebrauchsfassungen.«17 In der Folge kennzeichnen die Texte gattungstypologische Unfestigkeit und Kontaminationen, fließende Übergange von hymnisch-liedhaften zu episch-rezitativen oder von narrativen zu traktathaftexplizierenden Abschnitten. Die Dichter selbst bezeichnen ihre Werke als »scopf« (dt. Gedicht), »spell«, »rede« oder »zala« (dt. Erzählung, Geschichte), »liet« (dt. Lied) oder »buoch« (dt. Buch). Zu den Rahmenbedingungen der literarischen Innovationen gehören gleichzeitig zahlreiche Kontinuitäten: in erster Linie Anlehnung an die Bibel, lateinische Bibelkommentare, gattungstypologische Anknüpfung an die Tradition der lateinischen Literatur, Reflexe der mündlichen volkssprachlichen Dichtung des germanisch-karolingischen Redestils, Elemente und Regeln der ars rhetorica und ars praedicandi, die Versform als Abbild der kosmischen Ordnung, die zahlenbestimmte Symbolstruktur und lateinische Einsprengsel sowie Latinismen, um nur die Wichtigsten zu nennen. Es ist im Rahmen des vorliegenden Beitrags weder möglich noch angebracht, all die Werke der frühmittelhochdeutschen Literatur, in denen sich die genannten beiden Positionen, Innovation und Tradition, widerspiegeln, im Ein15 Ganz, Peter F.: Die Hochzeit: fabula und significatio. In: Studien zur frühmittelhochdeutschen Literatur. Cambridger Colloquium 1971. Hrsg. von Leslie P. Johnson/Hans-Hugo Steinhoff//Roy A. Wisbey. Berlin: Schmidt 1984, S. 58–73, hier S. 73. 16 Vgl. Klein, Dorothea: Mittelalter. Lehrbuch Germanistik. Mit 17 Abbildungen. Stuttgart/ Weimar : Metzler 2006, S. 146 und Brunner, Horst: Geschichte der deutschen Literatur des Mittelalters im Überblick. Stuttgart: Reclam 1997, S. 85–86. 17 Klein, Mittelalter. 2006, S. 146.

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zelnen zu nennen, geschweige denn sie zu besprechen. Daher wird hier von der gesamten sprachlich homogenen Textgruppe, die rund 8018 oder 9019 anonym oder namentlich in fünf Sammel- und zahlreichen Streuhandschriften (meist in Österreich) überlieferte Dichtungen umfasst, auf zwei exemplarische gattungsdifferente eingegangen: die heilsgeschichtlich-didaktische Erzählung »Die Hochzeit« und das alttestamentarische Epos »Die Wiener Genesis«. Anhand dieser beiden Texte wird untersucht, wie diese Zusammenhänge von Religiösem und Profanem, Geistlichem und Weltlichem, die in der germanistischen literaturwissenschaftlichen Mittelalterforschung in einzelnen Texten und Gattungen der frühmittelhochdeutschen Literatur seit einiger Zeit zwar erforscht, aber methodisch nur am Rande reflektiert werden, zu erfassen und zu kategorisieren sind.20 Beispiel 1: In der um 1150 vermutlich in Kärnten entstandenen und in der Millstätter Handschrift anonym überlieferten Verserzählung »Die Hochzeit«, in deren Zentrum das mythische Motiv des Hieros gamos, der Hochzeit von Himmel und Erde steht, wird das Innovative bereits auf der Form-Ebene sichtbar : Gattungstypologisch lässt sich der Text schwer einordnen, worauf bereits der deutsche Mediävist Peter Ganz hinwies, indem er fragte: »Buß- und Sittenpredigt? Behandlung von der Gegensätzlichkeit von Diesseits und Jenseits? Glaubens- und Sittenlehre? Trost des Himmels? Sittenkritik der cluniazensischen Spätzeit? Aufruf zur Buße oder Lust an der wirklichen Welt?«21 Der namenlose Verfasser der »Hochzeit« bezeichnet in der 1. Strophe des der lateinischen Tradition verpflichteten Prologs sein literarisches Produkt mit den Begriffen »spel« (dt. »Erzählung« und »Parabel«, v. 2) und »zeichen« (dt. »Zeichen«, v. 4)22 : »Ihr könnt nun eine besondere Geschichte hören von einem mächtigen König, 18 Ebd., S. 121. 19 Karolak, Czesław/Kunicki, Wojciech/Orłowski, Hubert: Dzieje kultury niemieckiej (dt. Geschichte der deutschen Kultur). Warszawa: Pan´stwowe Wydawnictwo Naukowe 2007, S. 31. 20 Vgl. Geistliches in weltlicher und Weltliches in geistlicher Literatur des Mittelalters. Hrsg. von Christoph Huber/Burghart Wachinger/Hans-Joachim Ziegeler. Tübingen: Niemeyer 2000. Einen wichtigen Beitrag dieses Sammelbandes im besprochenen Kontext bildet Elke Brükkens Artikel: Schwierige Nähe. Reflexe weltlicher Kultur und profaner Interessen in frühmittelalterlicher geistlicher Literatur, S. 27–50, in dem zwei frühmittelhochdeutsche Texte unter die Lupe genommen werden: Die Rede vom Glauben des Armen Hartmann und Von des todes gehugde des Heinrich von Melk. 21 Ganz, Die Hochzeit: fabula und significatio. 1984, S. 58. 22 Die Hochzeit. In: Frühe deutsche Literatur und lateinische Literatur in Deutschland 800–1150. Hrsg. von Walter Haug/Benedikt Konrad Vollmann. Frankfurt/Main 1991: Deutscher Klassiker Verlag, S. 784–749, hier S. 785. (Bibliothek des Mittelalters 1).

Innovationen und Kontinuitäten

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von vielem, was wunderbar zeichenhaft ist und tiefe Bedeutung hat.« (vv. 1–5)23

Damit weist er auf zwei Sinnebenen des Textes hin: den historischen, literarischen und den geistigen, allegorischen Sinn.24 Die Ankündigung der allegorischen Interpretationskunst ist ein gattungstypologischer Hinweis und berechtigt von einer heilsgeschichtlich-allegorischen Dichtung zu sprechen, in der die dichterische Produktion, Sinnverhüllung und -enthüllung im Medium der Allegorie thematisiert werden.25 Der eigentliche Sinn ist also nicht eine unterhaltende Erzählung, sondern der geistige Gehalt, der unter der Oberfläche des literarischen Sinnes verborgen liegt. Beide Aspekte des Allegorischen, der ästhetische sowie der wahrheitsbezogene, werden in unmittelbarer Ansage gleichgewichtig hervorgehoben: »Ihr intentionales Gefüge – das Schöne um des Wahren willen – wird für den Hörer als verpflichtend dargestellt.«26 Unmittelbar danach reflektiert der Autor sein literarisch-exegetisches Schaffen im Bilde eines »kunstreichen Goldschmieds« (v. 9), der edle handwerkliche Fertigkeiten erlernt hat. Diese hätten ihn befähigt, das Gold zu läutern, damit es nicht verfalle. Analog dazu sei die auszulegende Weisheit zu klären, um ihre Beständigkeit zu sichern. Darüber hinaus verstehe es der Goldschmied, dem geläuterten Gold in zeichenhafter Prägung das Siegel schöner Form zu geben: die geklärte Wahrheit wird im sinnenhaften, poetisch-allegorischen Bilde zum Ausdruck gebracht.27 Die Einleitung endet mit der Ankündigung der didaktischen Funktion des Textes: Derjenige, der die verborgene Wahrheit besitze, sei verpflichtet, sie den Anderen mitzuteilen (vv. 43–50)28. Während die Auslegung des Goldes als Lebensweisheit, »kluges Verhalten« (v. 41), das man aus der angekündigten Erzählung gewinnen kann, traditionell ist, ist der darauf folgende ausführliche, 27 Verse umfassende, detailreiche Passus über edlen Goldschmuck – »Armreife und Fingerring« (v. 19), »Brosche aus Golddraht« (v. 23) –, der sich bei Frauen großer Beliebtheit erfreut, auffallend und äußerst originell. Er ist nicht nur ein Indiz für das Laienpublikum, darunter

23 Ebd., S. 784. – Wegen des Profils dieses Sammelbandes wird weiter auf Zitate im Original verzichtet. 24 Vgl. Wehrli, Max: Geschichte der deutschen Literatur. Von den Anfängen bis zum Ende des 16. Jahrhunderts. 3. bibliographisch erneuerte Ausgabe. Stuttgart: Reclam 1997, S. 165. 25 Vgl. Kiening, Christian: Zwischen Körper und Schrift. Texte vor dem Zeitalter der Literatur. Frankfurt a. M.: Fischer 2003, S. 124. 26 Hellgart, Ernst: Zur Poetik frühmittelhochdeutscher Dichtung. In: Geistliche Denkformen in der Literatur des Mittelalters. Hrsg. von Klaus Grubmüller/Ruth Schmidt-Wiegand/Klaus Speckenbach. München: Fink 1984, S. 131–138, hier S. 136. 27 Mehr zur Goldschmied-Allegorese siehe: Hellgart, Zur Poetik. 1984, S. 136 und Kiening, Zwischen Körper und Schrift. 2003, S. 124–127. 28 Die Hochzeit. 1991, S. 791.

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ein Frauenpublikum, sondern zeugt auch vom Einbezug menschlicher Sujets in diesen durchaus – wie noch zu zeigen ist – religiösen Kontext. Diesseitsbezogen und menschennahe ist auch die eigentliche, gegenüber der Deutung sich überraschend selbständig entfaltende »treffliche« (v. 42) Geschichte (vv. 145–324), die im Märchenstil beginnt und deren Handlung »auf dieser schönen Erde« (vv. 146–147) verortet wird. Sie handelt von zwei namenlosen Protagonisten, einem »mächtigen König« (V. 3), der unerreichbar »auf einem sehr hohen Gebirge« (v. 148), »weit oben« (v. 207) residiert und einem lieblichen strahlend schönen Mädchen, einer reinen tugendreichen Jungfrau aus edlem Geschlecht, die in einem schönen, angenehmen und lieblichen Tal wohnt (vv. 194–195). Eines Tages »kam er [der König] auf den Gedanken, dass das Mädchen die rechte Frau für ihn wäre« (vv. 208–209). Der Herr wirbt nun um sie und schickt einen Boten zu der jungen Braut mit der Nachricht: »Er wünschte sie / für sich zur Frau.« (vv. 218–219). Das »vortreffliche Mädchen« (v. 236) und »ihre guten Verwandten« (v. 230) stimmen seiner Werbung zu. Dieser Zustimmung folgen das Verlöbnis und die Heimholung der Braut: »Da vollzog der edle Held die Verlobung, so war es Gewohnheit und Recht. Er gab ihr seinen Ring. Das galt als Verlobung. Es wurde ein Tag vereinbart, an dem er sie heimholen sollte.« (vv. 224–229)29

Unmittelbar vor der Hochzeit wird die Braut gebadet und »in ein weißes Brautgewand« gekleidet und mit »Bändern«, »goldenen Spangen« und der »Goldbrosche« (vv. 280–284) geschmückt. Der Herr reitet mit seinen Rittern zu ihr. Sie geleiten die »strahlend schön(e)« (v. 288), »makellos(e)« (v. 292) Braut mit Gesang in die Heimat des Bräutigams, wo das herrlichste Hochzeitsmahl gefeiert wird.30 Die Auslegung und Erläuterung des Zeichenhaften, die viel länger und viel komplizierter ist als die erzählte geradlinige Geschichte selbst (vv. 325–1078), nimmt zahlreiche Details der Erzählung auf und folgt dem heilsgeschichtlichen Konzept der Erlösung des Menschen durch Jesus Christus.31 Die allegorische 29 Ebd., S. 797. 30 Vgl. Freytag, Hartmut: Die frühmittelhochdeutsche geistliche Dichtung in Österreich. In: Die österreichische Literatur. Ihr Profil von den Anfängen im Mittelalter bis ins 18. Jahrhundert (1050–1750). Teil 1. Hrsg. von Herbert Zeman. Graz: Akademische Druck- und Verlagsanstalt 1986, S. 119–150, hier S. 132. 31 Vgl. Ehrismann, Gustav : Geschichte der deutschen Literatur bis zum Ausgang des Mittelalters. Bd. 2: Die mittelhochdeutsche Literatur I: Frühmittelhochdeutsche Zeit. 2. Aufl. München: Beck 1954, S. 202 und Freytag, Die frühmittelhochdeutsche geistliche Dichtung. 1986, S. 133.

Innovationen und Kontinuitäten

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Deutung arbeitet mit traditioneller Technik. Der Autor lehnt sich dabei an die lateinische und deutschsprachige Homiletik an. Im allegorischen geistigen Sinne bedeutet das Gebirge den Himmel und das Tal die Erde, der Bräutigam – den »Heilige(n) Geist, der zum Menschen kommt« (vv. 342–343) und die Braut – den »Menschen« (v. 344) bzw. die menschliche Seele. Der Ring bedeutet »das Taufkleid, / das das Kind trägt, / wenn es schließlich aufersteht, / um die Gemahlin Gottes / für immer und ewig zu sein.« (vv. 353–358).32 Andere Elemente der Allegorese bedeuten entsprechend: der Brautbote – »unsern Vermittler / beim allmächtigen Gott / […] den Priester« (vv. 363–365), die »ratenden Verwandten« der Braut – »das sind die Sakramente, / denn sie helfen uns, / zu einem leben in Christus« (vv. 375–378) und das »weiße Kleid, / das die Braut trug, / das bedeutet, dass wir erst / weißer werden müssen als Schnee, / bevor wir in das Reich Gottes kommen dürfen […]« (vv. 777–781).33 Im Hintergrund dieses auslegenden Passus stehen generell die zeitgenössische Allegorese des alttestamentarischen »Hoheliedes«, insbesondere Prologe zu Hoheliedkommentaren,34 die Auslegung des neutestamentarischen Gleichnisses von der königlichen Hochzeit (Mt 22, 2–14), aber auch lateinische Bewerbungsallegorien und heimische Brautwerbungsepik.35 Eine konkrete Quelle ist jedoch nicht fassbar. Bei all den Vorbildern und Analogien entfaltet das erzählende Gedicht ein anschauliches Bild der Hochzeitsvorgänge.36 Auch wenn man bis jetzt für die Parabel keine konkrete Quelle nennen kann, so ist es wahrscheinlich, dass der Dichter mit homiletischer Technik und der Kenntnis des vierfachen Schrifttums sowie der Predigerkunst, die solche Parabeln gerne verwendete, vertraut war. Gegen Ende dieser exegetischen Partie hebt der Autor eine Bedingung hervor : Derjenige, der sich auf »eine so herrliche ewige Hochzeit« (v. 1063) vorbereite, solle sich an die rechte Ordnung halten, d. h. das Gesetz des Alten Testaments zurücklassen und sich an das Liebesgebot des Neuen Testaments halten (vv. 1076–1079). Diese den Text abschließende Belehrung wird bereits vorher

32 Die Hochzeit. 1991, S. 805. 33 Ebd., S. 829 u. 831. 34 Vgl. Ohly, Friedrich: Hohelied-Studien. Grundzüge einer Geschichte der Hoheliedauslegung des Abendlandes bis um 1200. Wiesbaden: Steiner 1958, S. 254–260. 35 Mehr hierzu siehe: Ganz, Peter F.: Die Hochzeit. In: Deutschsprachige Literatur des Mittelalters. Studienauswahl aus dem Verfasserlexikon (Band 1–10). Hrsg. von Burghart Wachinger. Berlin/New York: De Gruyter 2001, Sp. 324–328 und Ganz, Die Hochzeit: fabula und significatio. 1984, S. 62. – Mehr zum Brautmotiv siehe: Geißler, Friedman: Brautwerbung in der Weltliteratur. Halle/Saale: Niemeyer 1955. 36 Vgl. Haug, Walter/Vollmann, Benedikt Konrad: Kommentar. In: Frühe deutsche Literatur und lateinische Literatur in Deutschland 800–1150. Hrsg. von Walter Haug/Konrad Benedikt Vollmann. Frankfurt a. M. 1991, S. 1515. (Bibliothek des Mittelalters 1).

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zweimal angedeutet (vv. 103–104 u. 125–126). Den Schluss bilden traditionsgemäß die Beteuerungsformel und ein Gebet um Aufnahme ins Himmelreich. Auf Grund des Gesagten lässt sich feststellen, dass die »Hochzeit«, das erste frei erfundene allegorische deutschsprachige Gedicht von der Begegnung zwischen Bräutigam und Braut, sich sowohl auf der inhaltlichen als auch auf der formellen Ebene als eine selbständige kreative Experimentierform erweist. Es werden hier Elemente von Predigt- und Erzählstil weltlicher Unterhaltungsliteratur vermischt. Das uralte mythische Motiv von der königlichen Brautwerbung und Hochzeit wird dadurch zum Mittel religiöser Unterweisung, vermutlich als geistliche Kontrafaktur zur weltlichen Heldendichtung, die Otfried von Weißenburg in seiner »Evangelienharmonie« initiierte.37 Neben zahlreichen biblischen Anlehnungen werden im Text auch viele profane Elemente verwendet. Beispiel 2: Poetische Eigenständigkeit und Neuakzentuierung prägt auch die 6062 Langzeilen unregelmäßiger Länge umfassende »Wiener Genesis«, auch »Altdeutsche Genesis« genannt, die zwischen 1060 und1080 in Kärnten entstand und in drei Handschriften – Wiener, Millstätter und Vorauer38 – überliefen worden ist. Auf Basis der alttestamentarischen »Genesis« wird hier auf anschauliche Art und Weise die biblische Geschichte von der Erschaffung der Engel und dem Sturz Luzifers über die Weltschöpfung und die Erschaffung Adams und Evas, den Sündenfall, Kain und Abel, Noah und die Sintflut, Abraham, Jakob und seine Söhne bis zu Joseph in Ägypten poetisch nacherzählt. Die Ausdichtung des ersten Buches Mose schließt mit einem Ausblick auf die Erlösung und die letzten Dinge. Im Kontext der Einbindung des Weltlichen in den religiösen Stoff kommt in diesem Text die Schlüsselposition der Szene der Menschenerschaffung (vv. 215–444) zu. Diese Szene kündigt die Verlagerung der Akzente vom Jenseits aufs Diesseits, vom göttlichen Handeln auf menschliches Wirken quasi programmatisch an. Im Hinblick auf die zentrale Position des Menschen im ganzen Text beginnt der Autor nicht mit dem alttestamentarischen Sechstagewerk (vgl. Gen 1–31), sondern mit der Erschaffung der Engel und mit dem Sturz Luzifers (vv. 10–78). Diesem Passus folgt die Beratung der Trinität mit seinen Engeln über die Erschaffung des Menschen. In der literarischen Ausformung dieses in der Frühscholastik begründeten Theologumenons werden die himmlischen Verhältnisse an die feudalen Verhältnisse des Frühmittelalters angepasst: Der Schöpfer berät sich mit seinen Engeln wie ein feudaler Fürst – »ihr Herr« (v. 42) –

37 Vgl. Ganz, Die Hochzeit. 2001, Sp. 324–326. 38 Die Vorauer-Handschrift enthält nur die Josephsgeschichte.

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mit seinen »Vasallen« (v. 28)39 und verhält sich wie ein kluger König, der vor einem wichtigen Unternehmen den Rat seiner Großen einholt. Die ausführliche Beschreibung der Erschaffung Adams, die in drei Kapiteln (vv. 213–461) nacherzählt wird, steht im Gegensatz zum knappen, bis auf einen Vers reduzierten Bibelbericht der »Vulgata«: »Et creavit Deus hominem ad imaginem suam; / ad imaginem Dei creavit illum; masculum et feminam creavit eos« (Gen 1, 27).40 Der Autor gibt hier die biblisch-theologische Idee der Gottesebenbildlichkeit des Menschen mittels des wiederholten Ausdrucks »nach dem Gottesbild« (vv. 176–177) wieder, wobei er an der ersten Stelle das Possessivpronomen »unser« verwendet, um damit zum Ausdruck zu bringen, dass am Werk der Menschenerschaffung alle drei göttlichen Personen beteiligt waren und dass infolgedessen der Mensch die ganze Dreifaltigkeit abbildet. An anderer Stelle verwendet er das Pronomen »mein« (vv. 227–228), um Gott-Vater als den eigentlichen Schöpfer hervorzuheben. Originell ist die Bezeichnung Gottes als »Werkmeister« (v. 215), die ankündigt, dass Gottes Tun als handwerkliche Tätigkeit dargestellt wird. Die göttliche Handarbeit, worauf auch die Verben »tun« (v. 331), »machen« (v. 369) und »zusammenfügen« (v. 395) hindeuten, wird technisch genau geschildert. Alle Glieder und Organe des menschlichen Körpers werden nacheinander mit naiver Freude am Detail beschrieben. Die erste literarische Anatomie in deutscher Sprache setzt »beim Haupt« (v. 229) ein. Der geistliche Verfasser lässt Gott den Schädel mit Haut überziehen und dem runden Kopf die Haare wie eine Perücke überstreifen (vv. 231–236)41. Danach bespricht der Autor ausführlich »die sieben Löcher« (v. 238) für die Sinnesorgane: »zwei bei den Ohren«, »dazu zwei Augen«, »zwei an der Nase«, »eine als Mund« (vv. 239–245). Es handelt sich hier allerdings nicht um originelle Einfälle des Autors, sondern um wörtliche Entlehnungen in Gedankeninhalt, sprachlicher Formulierung und Stil. Der Verfasser lehnt sich an verschiedene Werke lateinisch-theologischer Literatur an, insbesondere an das Schöpfungsgedicht »De spiritalis historiae gestis« des Acitus Avitus und »De opificio Dei« von Lucius Caelius Firminanus Lactantius.42 Aus dem Werk des Letzteren erklärt er die Art der Aufzählung der sieben Öffnungen am Haupte; aus dem ersten wiederum die Rundung des Kopfes. Darüber hinaus sind durchgängig Aspekte aus 39 Aus der Wiener Genesis. In: Frühmittelhochdeutsche Literatur. Mittelhochdeutsch/Neuhochdeutsch. Auswahl, Übersetzung und Kommentar. Hrsg. von Gisela Vollmann-Profe. Stuttgart: Reclam 1996, S. 6–33, hier S. 8–9. 40 Hier zit. nach: (Zugriff am 10. 08. 2019). 41 Aus der Wiener Genesis. 1996, S. 19–20. 42 Mehr hierzu siehe Weller, Alfred: Die frühmittelhochdeutsche Wiener Genesis. London: Hendel 1967, S. 42–43 und Eßer, Josef: Die Schöpfungsgeschichte in der Altdeutschen Genesis. Kommentar und Interpretationen. Göppingen: Kümmerle 1987, S. 266–376, insbesondere S. 276–280.

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anderen außerbiblischen Quellen zu finden, wobei es nicht immer möglich ist, eine exakte Vorlage zu eruieren: So ist z. B. die Sonderstellung des Mundes und seine doppelte Aufgabe als Sprech- und Essorgan bei Lactantius, Hrabanus Maurus, Isidor von Sevilla und anderen Exegeten zu finden. Die Nützlichkeit und Funktionstüchtigkeit der einzelnen Organe, die auf der semantischen Ebene mittels der insgesamt viermal, davon dreimal superlativisch, gebrauchten Adjektive und Adverbien »nützlich« (v. 238), »am nützlichsten« (v. 246, 272, 360) zum Ausdruck kommen, dominiert in der gesamten anatomischen Schilderung. An einer Stelle scheint der Gebrauch dieses Adverbs aus der christlichen Perspektive fast pervers zu sein. Die Feststellung »das Nützlichste kommt alles in den Magen« (v. 360)43 kontrastiert eindeutig mit dem neutestamentarischen Imperativ : »Der Mensch lebt nicht nur von Brot, sondern von jedem Wort, das aus Gottes Mund kommt.« (Mt 4,4)44 Einige der Vorstellungen – das Herz als der Sitz der Seele und der physische Lebensmittelpunkt (v. 321)45, die Verbindung von Lachen und Milz (v. 324) oder von Galle und Zorn (v. 325) – gehen nicht auf die spätantike kirchlich-theologische Literatur zurück, sondern auf die antike und frühmittelalterliche Volksmedizin und allgemein bekanntes, seit der Antike weitverbreitetes Gedankengut. Im volksmedizinischen Verständnis hatte die Milz die Aufgabe, die schwarzgalligen Stoffe an sich zu ziehen, die den Menschen mürrisch stimmen, um so der Heiterkeit zum Durchbruch zu verhelfen. Selbst der dem heutigen Leser spaßhaft vorkommende Zweck des kleinen Fingers, der dazu gut ist, »um im Ohr zu bohren« (v. 294) und so den Gehörgang freizulegen – übrigens ein Beispiel dafür, dass die anschauliche Vermittlung des biblischen Stoffes bis an die Grenze des Komischen reicht – stimmt, wie Eßer bereits nachgewiesen hat, mit den medizinischen Lehren des Mittelalters überein.46 Die knappe, in auffallender Weise mit den ausführlichen Beschreibungen der restlichen Körperteile kontrastierende Erwähnung des männlichen Geschlechtsorgans (v. 364) ist auf die frühmittelalterliche Kirchenlehre, in der der Sexus tabuisiert und als sündhaft an-

43 Vgl. auch Aus der Wiener Genesis. 1996, S. 20–21, vv. 245–246: »in dem munde einez, / si nutze nist neheinez.«/ »eine (Öffnung) als Mund – / als die nützlichste von allen!« 44 Hier zit. nach: Die Bibel. Einheitsübersetzung mit dem Kommentar der Jerusalemer Bibel. Hrsg. im Auftrag der Bischöfe Deutschlands, Österreichs, der Schweiz, des Bischofs von Luxemburg, des Bischofs von Lüttich, des Bischofs von Bozen-Brixen. Stuttgart: Herder 1980, S. 1090. 45 Mehr hierzu siehe: Ertzdorff, Xenia von: Das Herz in der lateinisch-theologischen und frühen volkssprachigen religiösen Literatur. In: »Beiträge zur Geschichte der deutschen Sprache und Literatur« 84 (1962), S. 249–301. 46 Vgl. Eßer, Die Schöpfungsgeschichte. 1987, S. 333.

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gesehen war,47 zurückzuführen. Diese sparsame Beschreibung kann aber auch ein Hinweis auf den geistlichen Stand des Textproduzenten sein. Die detaillierte anatomische Schilderung, die von großer – nicht nur theologischer –Gelehrsamkeit und Erudition des Autors zeugt, weist allerdings einige Lücken und Unvollkommenheiten auf: In Vers 239 fängt der Verfasser die Beschreibung noch einmal bei den »Achseln« an, um vergessene oder nicht gehörig betonte Dinge in nachholender Schilderung dem Zuhörer vor Augen zu führen. Er erwähnt den »Hals« (v. 358) nicht gleich nach der Beschreibung des Hauptes, sondern erst im Zusammenhang mit den Verdauungsorganen (vv. 354–355). Dem Bericht über die Herstellung der einzelnen Körperteile folgt eine detaillierte Schilderung der Zusammenfügung der anatomischen Gliedmaßen mittels verschiedener Arten von »Lehm« (vv. 375–399). Sie wird ebenso als handwerkliche Tätigkeit dargestellt: »Als Gott aus den einzelnen Stücken / den Menschen zusammenfügen wollte, / da nahm er, glaube ich, / einen klebrigen Lehm; / wo er wollte, / dass die Gliedmaßen sich verbinden, / strich er etwas davon dazwischen, / so dass sie zusammenhalten konnten.« (vv. 375–398)48

Der scheinbar naiven, auf den ersten Blick sogar kindischen, Beschreibung von verschiedenen Lehmsorten, wobei der Oberbegriff »Lehm« im Text insgesamt siebenmal vorkommt, wird – wie zuerst Sünger feststellte und nach ihr Smiths konstatierte – eine tiefe theologische Dimension und eine besondere Funktion zugeschrieben: »Die Zahl 7 hat einen Symbolcharakter : Die siebenfache Erwähnung des Erdenlehms lässt sich über die Gaben des Heiligen Geistes auf den Spiritus Sanctus selbst beziehen. Die Siebenzahl ist nochmals in ihre Bestandteile zerlegt: Dreimal erscheint ›leim‹ in einem Initialabschnitt (W 3a), je einmal in vier verschiedenen Abschnitten (W 4a, W 4b, W 4c, W 5a). Dass die Sieben auch hier als ›Summe‹ der beiden heiligen Grundzahlen: der 3 als dem Symbol der Trinität und der 4 als dem Symbol der Welt oder ›Schöpfung‹ zu deuten ist, lässt sich aus dem Text selbst erweisen; der Dichter umschreibt das Geheimnis der Dreieinigkeit des Schöpfers und verwebt mit dieser Beschreibung die dreifache Nennung des ›leim‹.«49 47 Vgl. hierzu Gjrecka, Marzena: Der erotische Diskurs in der höfischen Literatur des deutschen Hochmittelalters. In: Diskurse als Mittel und Gegenstände der Germanistik. Materialien der Jahrestagung und internationalen wissenschaftlichen Konferenz des Verbandes Polnischer Germanisten, abgehalten an der Warmia und Mazury Universität 8.–10. Mai 2008. Hrsg. von Franciszek Grucza/Grzegorz Pawłowski/Reinhold Utri. Warszawa: Uniwersytet Warszawski 2009, S. 138–149. 48 Aus der Wiener Genesis. 1996, S. 30. 49 Die frühmittelhochdeutsche Wiener Genesis. Kritische Ausgabe mit einem einleitenden Kommentar zur Überlieferung. Hrsg. von Kathryn Smith. Berlin: Schmidt 1972, S. 37–38. – Vgl. auch Sünger, Maria T.: Studien zur Struktur der Wiener Genesis. Klagenfurt: Verlag des Geschichtsvereines für Kärnten 1964, S. 93–94.

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Zusammenfassend kann man feststellen, dass die Erschaffung des ersten irdischen, körperlichen Menschen Sinn-Bild des zweiten, himmlischen Menschen ist. Smiths konstatiert: »Wie Adam aus der jungfräulichen Erde erschaffen wurde, so nahm Christus Gestalt an in der Jungfrau, in seiner Person ›verbindet‹ sich wahre Gottheit durch die Einwirkung des Heiligen Geistes mit der uns allen eigenen menschlichen Natur.«50

Im abschließenden Passus der langen anthropologischen Partie wird die Beseelung des Menschen von Gott beschrieben: Der aus lauter Teilen und Teilchen zusammengesetzte Mensch erhebt sich nun, von Gottes Atem erfüllt, aufrecht, das Gesicht dem Himmel zugewandt, und tut seine ersten Schritte in der Welt. Der Autor zeigt hier Adam als eine wahrhaft erhabene Einheit. Für seine Einsetzung als Herrn aller Geschöpfe findet der Dichter Worte von feierlichem Schwung. Das Ganze beschließt die Rede des Schöpfers, in der er seinem Geschöpf die ganze Erde mitsamt allen Lebewesen überreicht und ihn zum Verwalter der gesamten Schöpfung macht. Diese Schlussszene macht deutlich, dass der Autor im Laufe der Erzählung immer mehr den Akzent vom Jenseits, vom göttlichen Heilsplan auf das Diesseits, auf das menschliche Wirken verschiebt und von der Darstellung Gottes als allwissendes Wesen von unfassbarer Weisheit, durch die jedem menschlichen Körperteil und -organ eine zweckvolle Aufgabe zugewiesen wird, zur Darstellung des Adam als eines perfekt konzipierten Wesens übergeht und mit dem Ausblick auf die menschliche Tätigkeit schließt. Die den Bericht über die Erschaffung des Menschen konkludierende Formulierung: »Die Hände konnte er zu jeglicher Arbeit gebrauchen« (vv. 410–411) hebt zusätzlich den pragmatischen Aspekt dieses poetischen Menschenkonzeptes hervor. Alle Modifikationen, die sachkundige, wenn auch scheinbar primitive, Ausweitung des erzählerischen Details sowie die andere Pointierung, lassen die in der bisherigen Forschung weiterhin ungeklärte Frage nach dem Produzentenund Rezipienten-Kreis sowie nach der Funktion der frühmittelhochdeutschen religiösen Texte im Allgemeinen und der »Wiener Genesis« im Besonderen klären. Die im Rahmen der Textanalyse aufgezeigten Änderungen lassen auf die Herkunft, den Stand und das Interesse des anonymen Dichters der »Wiener Genesis« schließen: Er zeigt sich hier weniger als Gelehrter, sondern vielmehr als Mann des praktischen Lebens, der nicht dogmatische Fragen oder exegetische Positionen durchspielen, sondern die alttestamentarische historia aktualisieren will. Die Ergänzungen sind somit durch die pragmatische Gebrauchssituation des Textes bedingt. Der anonyme Verfasser der frühmittelhochdeutschen poetischen Paraphrase des biblischen Genesis-Buches stellte sich die Erweiterung 50 Ebd., S. 103–104.

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des weltlichen Wissens zur Aufgabe. Das im Text dokumentierte Interesse an natürlichen alltäglichen Dingen weist darauf hin, dass der religiösen Literatur des deutschen Frühmittelalters eine neue Funktion zukommt. Sie ist Spiegel und Orientierung für das geistig-soziale Leben. Deshalb wirkt sie nicht so sehr belehrend, erläuternd oder erbauend, sondern vielmehr unterhaltend und Wissensneugierde weckend. Die Analyse der beiden frühmittelhochdeutschen Texte, der »Hochzeit« und der »Wiener Genesis«, hat aufgezeigt, dass auf der inhaltlichen, formellen und funktionalen Ebene einerseits die literarische Tradition fortgesetzt und andererseits poetische Freiräume geschaffen und damit die Wege der Neuzeit angebahnt werden. Dies macht deutlich, dass die Etikettierung der deutschsprachigen Literatur des 11. und 12. Jahrhunderts als asketische, weltabgewandte, ja weltverneinende »Cluniazenserdichtung« als falsch und irreführend abzuweisen ist und dass sich diese Literatur im Gegenteil als äußerst innovativ, kreativ und experimentierend erweist.51 Es wird zwar in der Anredeform an das Publikum an die älteste gesungene althochdeutsche Dichtung angeknüpft und das christliche Gedankengut mittels traditioneller Auslegungsstrategien vertieft. Zugleich wird aber sichtbar, dass in der frühmittelhochdeutschen Literatur, die seit der Antike unter die gängige Gattung »Bibelepik« (Massner) und sacra poesis (Wehrli) subsumiert worden ist, lehrhafte und anekdotische Ausblicke und persönliche Elemente hereindrängen, die nicht mehr sakral gebunden sind und ein wachsendes Interesse am Diesseits bei Autoren sowie Lesern verraten und das Bedürfnis nach Erweiterung der Texte um menschennahe Sujets und – in der Folge – nach selbständiger profaner Narration belegen. So erweisen sich die frühmittelhochdeutschen Werke als bedeutende Zeugnisse des beginnenden »Aufbruchs Europas« (K. Bosl) und ihre Autoren, grundsätzlich Geistliche, als Gestalten des Übergangs, die vor dem Hintergrund althergebrachter Sinnhorizonte alte Wege neu gehen und mit ihren formal und inhaltlich höchst experimentierfreudigen, Religiosität mit Rationalität und Ästhetik zu verbinden versuchenden Texten der Neuzeit, in deren Literatur die Aufgabe der Paränese und der Befestigung im Glauben hinter den ästhetischindividualisierten Anspruch zurücktritt, einen Weg bahnen.52 Gerade in der Weitertradierung der christlichen Werte, dem Festhalten an der göttlichen Ordnung, der Einbettung des menschlichen Daseins in einen größeren, universalen Kontext und der parallel verlaufenden Erweiterung und Ergänzung um menschennahe Sujets, liegen kulturelles Erbe und ihre Bedeutung in der heuti51 Maurer, Salische Geistlichendichtung. 1963, S. 168. 52 Vollmann-Profe, Gisela: Nachwort. In: Frühmittelhochdeutsche Literatur. Mittelhochdeutsch/Neuhochdeutsch. Auswahl, Übersetzung und Kommentar. Hrsg. von Gisela Vollmann-Profe. Stuttgart: Reclam 1996, S. 293–295, hier S. 295.

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gen Ära of Changes, in der postsäkulären Zeit des Übergangs von der schriftlichen zur digitalen Kultur und Literatur auch für den gegenwärtigen axiologischen Diskurs. Die frühmittelhochdeutsche Textproduktion beweist, dass man – um mit Odo Marquard zu sprechen – die Mittelalter-Neuzeit-Zäsur entdramatisieren53 und den klischeehaften Mittelalter-Begriff selbst rehabilitieren und aufwerten muss.

53 Marquard, Odo: Neuzeit vor der Neuzeit? Zur Entdramatisierung der Mittelalter-NeuzeitZäsur. In: Philosophie im Mittelalter. Hrsg. von Jan P. Beckmann. Hamburg: Meiner 1987, S. 369–373, hier S. 369.

Ewa Grzesiuk (Lublin)

Georg Friedrich Meier und das Paradigma der Menschenliebe im 18. Jahrhundert. Ein Beitrag zur historischen Emotionsforschung

Abstract Die Autorin nimmt sich in ihrem Text eines in der deutschen Philosophie und Literatur leitenden Paradigmas der allgemeinen Menschenliebe an. Im Laufe des 18. Jahrhunderts wurde neben der verdeutschten Menschenliebe auch der ursprüngliche griechische Terminus Philanthropie verwendet, bis sich in der zweiten Jahrhunderthälfte der Termin Sympathie durchgesetzt hat. Einer der wichtigen Philosophen, der die allgemeine Menschenliebe als moralische Pflicht eines jeden Menschen definiert, ist Georg Friedrich Meier (1711–1777). Er erlebt seit einigen Dezennien eine Renaissance und scheint einer der Vorläufer der Emotionsforschung im 18. Jahrhundert zu sein. Indem die Autorin Meiers Konzept der allgemeinen Menschenliebe skizziert, verweist sie auf eine überraschende Parallele: Die heutige Emotionsforschung wendet sich dem gleichen Phänomen, wenn auch unter einem veränderten Namen Einfühlung, zu. Von diesem Terminus, der auf Hermann Lotze sowie Robert und Theodor Vischer zurückgeht, wurde das englische Wort empathy abgeleitet, das ein Phänomen beschreibt, welches an seiner Aktualität nichts eingebüßt hat und nun multidisziplinär erforscht wird.

Der Diskurs um die Menschenliebe ist einer der ältesten Diskurse, die der Reflexion des Menschen über sich selbst und dessen Position in der Welt entspringen. Diese positive Emotion wurde in verschiedene termini technici gekleidet, in der griechischen Antike hieß sie philanthropie, in der römischen Antike amor universalis, humanitas und im 18. Jahrhundert auch sympathy/ Sympathie. All diesen Begriffen liegt das Bewusstsein zugrunde, der Mensch sei nicht imstande, alleine auszukommen, was wohl die ursprünglichste Erfahrung des Menschen ausmacht, und dass er andere Menschen um sich braucht. Anton Hügli und Daniel Kipfer bestimmen den Rang dieses Phänomens im 18. Jahrhundert folgendermaßen:

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»Die deutsche Aufklärungsphilosophie erhebt die Menschenliebe – im Sinne der von der Nächstenliebe kaum zu unterscheidenden Liebe der Menschen zu den andern Menschen – zu einem ihrer zentralen Begriffe.«1

Das führende Paradigma des 18. Jahrhunderts blickt also auf eine lange Geschichte zurück. Der älteste Begriff griechischen Ursprungs – philanthropon – gilt als Attribut der Götter und Heroen, der Könige und Feldherren.2 An diese Tradition scheint der Autor des Artikels »Menschen=Liebe Gottes« in »Zedlers Lexikon« anzuknüpfen, der dieses Attribut auf den christlichen Gott bezieht3. Überraschenderweise waren es Stoiker, deren Konzepte auf die Abtötung der Leidenschaften abzielten, die einen positiven Beitrag zur Entwicklung des Philanthropie-Gedankens geleistet haben: Durch die Betonung des gemeinsamen natürlichen Ursprungs heben sie (in der Nachfolge Senecas) die unter den Menschen herrschende Gleichheit hervor.4 Plutarch war einer der Autoren, bei denen dieser Begriff wegen der Häufigkeit seiner Verwendung auffällt. Seine Texte weisen das breiteste semantische Spektrum dieses Begriffes auf: »Die Skala der Bedeutungen von Philanthropie reicht bei Plutarch von ›Höflichkeit‹ und ›Großzügigkeit‹ bis zu ›Nächstenliebe‹ (einschließlich der Feindesliebe).«5 Diese Teilaspekte werden in den späteren moralphilosophischen Texten um die christliche Komponente bereichert. Sympathie ist ein Begriff, der den der Menschenliebe im 18. Jahrhundert abzulösen scheint. Seine ursprünglichste Bedeutung, worauf im »Historischen Wörterbuch der Philosophie« hingewiesen wird, galt allerdings nicht der zwischenmenschlichen Zuneigung, denn er war in seinem Ursprung ein naturphilosophischer Begriff. Bereits in der Antike wandelt sich dessen Bedeutung »von den eng gefaßten passivischen Parallelaffektionen zu den aktiven (magischen) Kräften und Wirkungen, bis er in der Neuzeit dann in dem weiten Gebrauch üblich ist, den Zedlers Universal-Lexicon so wiedergibt: Sympathie sei ›in der Natur-Lehre eine 1 Hügli, Anton/Kipfer, Daniel: ›Philanthropie‹. In: Historisches Wörterbuch der Philosophie. Hrsg. von Joachim Ritter und Karlfried Gründer. Basel: Schwabe 1989. Bd. 7, Sp. 543–552 , hier Sp. 548. 2 Vgl. Hügli/Kipfer, ›Philanthropie‹. 1989, Sp. 543. 3 ›Menschen=Liebe Gottes‹. In: Johann Heinrich Zedler : Grosses vollständiges Universal-Lexicon aller Wissenschafften und Künste. 64 Bde. Leipzig: J. H. Zedler, 1731/32–1752. Bd 20, Sp. 761: »Menschen=Liebe GOttes, ist eine hertzliche und thätige Neigung GOttes zu den Menschen. Sie bestehet demnach in einer Begierde, auf alle Weise der Menschen Wohlseyn zu befördern. Diese Liebe nun wird in unterschiedener Absicht genennet bald eine Gnade, so fern wir selbige nicht verdienen, und solcher vielmehr unwürdig sind; bald eine Barmhertzigkeit, in Ansehung des grosses Elendes, darinnen die Menschen stecken; bald eine Gütigkeit, in Ansehung der würcklichen Liebes=Erweisung, oder der Wohlthaten, welche uns GOtt erweiset.« 4 Hügli/Kipfer, ›Philanthropie‹. 1989, Sp 545. 5 Ebd.

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verborgene Übereinstimmung zweyer Cörper und Neigung des einen zu dem andern‹«6.

Es mag kein Zufall sein, dass der ursprünglich kosmologische Begriff gerade im 18. Jahrhundert große Karriere macht: Newtons Gravitationstheorie7 inspiriert damals Philosophen und Schriftsteller, die naturwissenschaftliche Methode auch auf die Beschreibung der menschlichen Gefühlswelt anzuwenden: »Im 18. Jahrhundert werden ›Sympathie‹ wie auch das Adjektiv ›sympathetisch‹ bzw. das Verb ›sympathisieren‹ zu Modeworten der Literatur der Empfindsamkeit und stehen dort für eine unmittelbare Affinität zu etwas oder Zuneigung zu jemandem, für Gleichklang der Herzen, für Freundschaft und Menschenliebe.«8

Vornehmlich wendet die englische Moralphilosophie (Shaftesbury, F. Hutcheson, D. Hume und A. Smith) diesen Begriff an. Gotthold Ephraim Lessing, der Hutchesons »Sittenlehre der Vernunft«9 ins Deutsche übersetzte, mag auch zur Verbreitung des Sympathie-Begriffes beigetragen haben, so dass er zum ästhetischen und kunstkritischen Begriff wurde10. Johann Gottfried Herder entwickelt seinen Begriff der ästhetischen Erfahrung in Anlehnung an den SympathieBegriff: Für ihn beruhe »ästhetische Erfahrung auf Sympathie, dem Verstehen eines Werkes aus sich heraus, wobei sich der Rezipient möglichst vollständig in die ›Umstände, Denk- und Fühlungsart, Lieblingsbegriffe‹ hineinzuversetzen 6 Kranz, Margarita/Probst, Peter : ›Sympathie I.‹. In: Historisches Wörterbuch der Philosophie. Hrsg. von Joachim Ritter und Karl Gründer. Basel: Schwabe 1998. Bd. 10, Sp. 751–756, hier Sp. 752. 7 Gravitationswellen wurden allerdings erst im 21. Jahrhundert nachgewiesen und diese Entdeckung war des Nobelpreises für Physik wert. Ausgezeichnet wurden im Jahre 2017 Rainer Weiss, Barry Barish und Kip Thorne. 8 Von der Lühe, Astrid: ›Sympathie II‹. In: Historisches Wörterbuch der Philosophie. Hrsg. von Joachim Ritter und Karl Gründer. Basel: Schwabe 1998. Bd 10, Sp. 756– 762, hier S. 756. 9 Franz Hutchesons Sittenlehre der Vernunft, aus dem Englischen übersetzt. Erster Band. Leipzig: Joh. Wendler 1756: »Eine andere wichtige Bestimmung oder Empfindung der Seele kann die sympathetische genennet werden, die von allen äusserlichen Sinnen unterschieden ist, und vermöge welcher unsere Herzen mit denjenigen, deren Zustand uns bekant ist, zugleich fühlen. […] Und dieses geschieht ohne alle Absicht auf den Vortheil.« S. 65f. Bd. 2 ist im gleichen Jahr erschienen. Originaltitel: »System of Moral Philosophy«. Glasgow 1755. Zu Lessings Hutcheson-Übersetzung vgl. etwa Redekop, Benjamin W.: Enlightenment and Community. Lessing, Abbt, Herder and the Quest for a German Public. Bd. 1, Montreal: McGill-Queen’s University Press 1961, insbes. S. 89f.; Hugh Barr Nisbet: Lessing’s Ethics. In: Lessing Yearbook 25 (1993), S. 1–40, bes. S. 6–9. 10 Zum Sympathie-Begriff bei Schiller vgl. Riedel, Wolfgang: Die Anthropologie des jungen Schiller. Zur Ideengeschichte der medizinischen Schriften und der »Philosophischen Briefe«. Würzburg: Königshausen & Neumann 1985, bes. S. 128ff.; Ottmann, Dagmar : Klang der Sirenen und Sprache des Herzens. Zu Schillers Musikästhetik. In: Friedrich Schiller und der Weg in die Moderne. Hrsg. von Walter Hinderer. Würzburg: Königshausen & Neumann 2006. S. 525–558, bes. S. 531f.

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habe«11. Im 19. Jahrhundert wird vor dem Hintergrund der Sympathie-Konzepte des vorigen Jahrhunderts von Friedrich Theodor Vischer und Theodor Lipps eine Einfühlungs-Ästhetik begründet.12 Die Fähigkeit des Menschen, mit anderen mitzuempfinden, die als fundamentale menschliche Emotion begriffen wird, bekommt ihren Namen je nach Epoche und Anthropologie ihren jeweiligen Namen. Diese veränderten Namen, denen Inhalt bzw. Teilaspekte gemeinsam sind, bilden trotz aller Differenzen ein Kontinuum, eine Fortsetzung der Selbstreflexion des Menschen über Jahrhunderte hinweg. Wenn man die Erforschung der Emotionen im historischen Wandel überblickt, dann ergibt sich eine überraschende Parallele: Das ihm 18. Jahrhundert führende Paradigma erfährt im 21. Jahrhundert, und zwar unter dem aus dem 19. Jahrhundert stammenden terminus technicus, erneute Zuwendung.

Emotionsforschung heute und gestern Thomas Anz zeichnet in seinem in literaturkritik.de erschienenen Text »Emotional Turn? Beobachtungen zur Gefühlsforschung«13 die Entwicklung dieses neuen (und von einer breiteren Geschichtsperspektive aus gesehen: alten) Forschungsansatzes nach, der seit den Anfängen des 21. Jahrhunderts zu einem der führenden interdisziplinären Felder wurde. Anz weist darauf hin, dass die gegenwärtige Emotionsforschung eine Reaktion auf ein gewisses Desinteressement gegenüber den Emotionen als Forschungsgegenstand sei, das im 20. Jahrhundert auch innerhalb der Psychologie14 vorherrschte. Wie sich dieses Phänomen erklären lässt, beantwortet der von Anz zitierte Autor der Monografie »Pathos. Tradition und Aktualität einer vergessenen Kategorie der Poetik«: »Im 20. Jahrhundert hat sich der Akzent in Kritik, Poetik und Literaturwissenschaft eindeutig auf die intellektuellen, reflektierenden, nicht emotionalen Aspekte der Dichtung (und der Kunst im allgemeinen) verschoben«15. Anz fügt noch korrigierend hinzu, dass die Ästhetik und Poetik der ersten zwei Jahrzehnte des vorigen Jahrhunderts doch noch von Begriffen 11 Von der Lühe, ›Sympathie‹. 1998, Sp. 758. 12 Vgl. Von der Lühe, ›Sympathie‹. 1998, Sp. 758. 13 Anz, Thomas: Emotional Turn? Beobachtungen zur Gefühlsforschung. (Zugriff am 05. 07. 2019). 14 Anz weist auf den Appell Klaus R. Scherers »Wider die Vernachlässigung der Emotion in der Psychologie« hin, den der Forscher 1980 während des Kongresses der Deutschen Gesellschaft an die Teilnehmer richtete. Anz, Emotional Turn? 15 Dachselt, Rainer : Pathos. Tradition und Aktualität einer vergessenen Kategorie der Poetik. Heidelberg: Universitätsverlag Winter 2003. Zit. nach Anz, Emotional Turn? (Zugriff am 05. 07. 2019).

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getragen wurde, die emotiven Ursprungs sind wie Erlebnis, Pathos oder Einfühlung. Danach erfolgte eine Epoche der »Verhaltenslehren der Kälte«16, die Lethen als Literatur der Neuen Sachlichkeit attestiert und die eine der Ursachen »jahrzehntelange[r] Ausblendung«17 der Emotionen als Forschungsobjekt wurde. Nach etwa einem halben Jahrhundert überwand die Literaturwissenschaft die Distanz gegenüber Emotionen, so dass das neulich herausgegebene »Handbuch Literatur & Emotionen«18 in der Zeit der Konjunktur auf eine reiche empirische Basis zurückgreifen konnte. Was die Aufklärungsforschung angeht, lässt sich etwa seit den 1970er Jahren eine intensivere Auseinandersetzung mit diesem vernachlässigten Bereich beobachten. Unter den Wegbereitern der Gefühlsforschung ist Hans-Jürgen Schings mit seinem Melancholie-Buch19 zu nennen, dem ein Mitleid-Buch20 folgte. In seine Fußstapfen traten seine Schülerinnen und Schüler, die den Schwerpunkt Literatur und Anthropologie verfolgten, etwa Peter-Andr8 Alt mit zahlreichen Texten zur Literatur des 18. Jahrhunderts, Monika Fick,21 Alexander Kosˇenina22 und Wolfgang Riedel23. Einen nicht zu unterschätzenden Beitrag zur Erforschung der Affekte leisteten Rüdiger Campe24 und Carsten Zelle25. In ihre Fußstapfen ist eine ansehnliche Gruppe von Forschern getreten, die hier einzeln nicht aufgeführt werden können. Ertragreich bei der Erforschung der Poetik, Ästhetik und Literatur des 18. Jahrhunderts erweist sich die Reihe »Poetogenesis. Studien und Texte zur empirischen Anthropologie der Literatur«26. 16 Vgl. Lethen, Helmut: Verhaltensweisen der Kälte. Lebensversuche zwischen den Kriegen. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1994. 17 Von Koppenfels, Martin/Zumbusch, Cornelia: Einleitung zum: Handbuch Literatur & Emotionen. Berlin/Boston: de Gruyter 2018, S. 1–36, hier S. 17. 18 Handbuch Literatur & Emotionen. Hrsg. von Martin von Koppenfels und Cornelia Zumbusch. Berlin: de Gruyter 2018. 19 Schings, Hans-Jürgen: Melancholie und Aufklärung. Melancholiker und ihre Kritiker in Erfahrungsseelenkunde und Literatur des 18. Jahrhunderts. München: Beck 1980. 20 Schings, Hans-Jürgen: Der mitleidigste Mensch ist der beste Mensch. Poetik des Mitleids von Lessing zu Büchner. 2., durchges. Aufl. Würzburg: Königshausen & Neumann 2012 (1. Aufl. München: Beck 1980). 21 Fick, Monika: Lessing Handbuch. Leben – Werk – Wirkung. Stuttgart: Metzler 2000, 3., neu bearb. u. erw. Aufl. 2010. 22 Kosˇenina, Alexander: Anthropologie und Schauspielkunst. Studien zur »eloquentia corporis« im 18. Jahrhundert. Tübingen: Niemeyer 1995. 23 Riedel, Wolfgang: Die Anthropologie des jungen Schiller. Würzburg: Königshausen & Neuman 1985; Riedel Wolfgang: Homo natura. Würzburg: Königshausen & Neumann 1996. 24 Campe, Rüdiger : Affekt und Ausdruck. Zur Umwandlung der literarischen Rede im 17. und 18. Jahrhundert. Tübingen: Niemeyer 1990. 25 Zelle, Carsten: »Angenehmes Grauen«. Literaturhistorische Beiträge zur Ästhetik des Schrecklichen im 18. Jahrhundert. Hamburg: Meiner 1987; Zelle, Carsten: Die doppelte Ästhetik der Moderne. Stuttgart: Metzler 1995. 26 Vgl. etwa: Anthropologie der Literatur. Poetogene Strukturen und ästhetisch-soziale Handlungsfelder. Hrsg. von Rüdiger Zymner und Manfred Engel. Paderborn: Mentis 2004;

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Die heutige Forschung nimmt sich erneut der Kategorien an, die im 18. und 19. Jahrhundert für die Wirkungsästhetik fundamental waren, und im Laufe des 20. Jahrhundert als obsolet zu gelten begannen. Über diese Rückbesinnung der heutigen Literaturwissenschaft schreibt Anz, indem er exemplarisch den Begriff »Einfühlung« aufgreift, Folgendes: »Zu einem neuen Beispiel für die Wiederbelebung des Glaubens an einen in der neueren Literaturwissenschaft als hoffnungslos antiquiert geltenden Begriff könnte ›Einfühlung‹ werden. Die professionelle Art zu lesen, die sich Literaturwissenschaftler zu eigen gemacht haben, verweigert sich tendenziell identifikatorischer und empathetischer Lektüre. Und diese Verweigerung hat dazu geführt, dass Identifikation und Empathie als Bestandteile literarischer Kommunikation von ihnen auch als Untersuchungsgegenstand wenig beachtet wurden. Dazu hat die in der Literaturwissenschaft jahrzehntelange Diskreditierung des deutschen Wortes ›Einfühlung‹ beigetragen«27.

Unter den Forschern, die eine gewisse Renaissance dieser um 1900 noch grundlegenden ästhetischen und kunsttheoretischen Kategorie eingeleitet haben, nennt Anz Georg Braungart28 und Simone Winko29, deren Interesse der Literatur um 1900 galt. Der von Robert und Friedrich Theodor Vischer in den 1870er-Jahren eingeführte Begriff Einfühlung wurde für die ästhetische und hermeneutische30 Reflexion produktiv gemacht. Die oben erwähnte Abkehr vom Emotionellen trug in wenigen Jahrzehnten dazu bei, dass Einfühlung zu einer zwar geduldeten Kategorie wurde, die aber »als Phänomen eines unprofessionellen Umgangs mit Kunst […] aus dem Terrain wissenschaftlicher Rationalität ausgeschlossen wurde«31. Das Intuitive schien sich nun als ein schwer beschreibbarer und erfassbarer Begriff der literaturwissenschaftlichen und ästhetischen Reflexion zu entziehen. Anz weist allerdings darauf hin, dass sich die Psychologie diesem Phänomen zuwandte, ihm aber eine neue Bezeichnung verlieh: Der amerikanische Psychologe E.B. Titchener übertrug das deutsche Wort ins Englische. Von nun an wird das alte Phänomen unter der Bezeichnung Empathy bekannt.32 Wenn man aber die Geschichte dieses Phänomens und die Namen, in welche es sich kleidete, zurückverfolgt, kommt man am 18. Jahr-

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Mellmann, Katja: Emotionalisierung – Von der Nebenstundenpoesie zum Buch als Freund. Eine emotionspsychologische Analyse der Literatur der Aufklärungsepoche. Paderborn: Mentis 2007. Anz, Emotional Turn? Braungart, Georg: Leibhafter Sinn. Der andere Diskurs der Moderne. Tübingen: Niemeyer 1995. Winko, Simone: Kodierte Gefühle. Zu einer Poetik der Emotionen in lyrischen und poetologischen Texten um 1900. Berlin: E. Schmidt 2003. Vgl. Von der Lühe, ›Sympathie II.‹. 1998, Sp. 758. Anz, Emotional Turn? Vgl. Till, Dietmar : Empathie. In: Handbuch Literatur & Emotionen. 2018, S. 540–541.

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hundert nicht vorbei: Menschenliebe, Philanthropie, Sympathie sind die älteren Schwestern des heute inflationär gewordenen Empathie-Begriffes. Die heutige Literaturwissenschaft lässt sich von zahlreichen Einzeldisziplinen inspirieren und bezieht aus ihnen ihre Erklärungsmuster33, während die Entwicklung im 18. Jahrhundert in eine entgegengesetzte Richtung verlief: Das Interesse des 18. Jahrhunderts für das Paradigma der Menschenliebe griff vom Bereich der Philosophie auf die sich neu etablierenden Felder über, die im Laufe des Jahrhunderts ihre Eigenständigkeit als wissenschaftliche Disziplinen erwarben und bewahrten (etwa die philosophische Anthropologie, Psychologie, Ästhetik in ihrem Ursprung als Wissenschaft der schönen Erkenntnis und später die Theorie der Kunst sowie die Poetik). Indem der Mensch, der mit neuem wissenschaftlichem Instrumentarium erfasst werden sollte, ins Zentrum des Interesses des 18. Jahrhunderts rückte, sahen sich vorerst die Metaphysik, deren Hauptaufgabe in Bezug auf den Menschen unter anderem die Beschreibung der seelischen Vorgänge und Erkenntnisvermögen war, und die Erkenntnistheorie, die die Prinzipien einer vernunftmäßigen Erfassung der Wirklichkeit bot, vor eine neue Aufgabe gestellt. Die wissenschaftliche Erfassung des »ganzen Menschen«34 im »Jahrhundert der Vernunft« wurde dann von vielen Richtungen aus unternommen, denn die sich rapide entwickelnden Naturwissenschaften und insbesondere die Medizin35 wurden herangezogen. Die Moralphilosophie der Zeit erhob darüber hinaus die Selbst- und Fremderkenntnis zur moralischen Pflicht36 eines jeden. Die Folge waren Akzentverschiebungen innerhalb der bestehenden Disziplinen und eine beginnende Spezialisierung: Christian Wolff, der als Vater des Rationalismus gilt, legt den Grundstein für die Psychologie, indem er seine »Psychologia rationalis« und »Psychologia empirica« als separate Texte veröffentlicht.37 Leibniz erkennt im System der Erkenntnistheorie eine Lücke und postuliert eine Logik der unteren Erkenntniskräfte. In dessen Nachfolge wie-

33 Vgl. dazu v. a. das den aktuellen Forschungsstand reflektierende Handbuch Literatur & Emotionen. Hrsg. von Martin von Koppenfels und Cornelia Zumbusch. Berlin/Boston: de Gryuter 2018. 34 Vgl. dazu: Borchers, Stefan: Die Erzeugung des »ganzen Menschen«. Zur Entstehung von Anthropologie und Ästhetik an der Universität Halle im 18. Jahrhundert. Berlin/New York: de Gruyter 2011; »Der ganze Mensch«. Anthropologie und Literatur im 18. Jahrhundert. DFG-Symposion 1992. Hrsg. von Hans-Jürgen Schings. Stuttgart/Weimar : Metzler 1994. 35 »Vernünftige Ärzte«. Hallesche Psychomediziner und die Anfänge der Anthropologie in der deutschsprachigen Frühaufklärung. Hrsg. von Carsten Zelle. Tübingen: Niemeyer 2001. 36 Vgl. die Habilitationsschrift der Autorin: Das Faszinosum Mensch. Das Interesse am Menschen im Nexus von Philosophie, Ästhetik und Literatur in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts in Deutschland. Lublin: Wyd. KUL 2013. 37 Vgl. Die Psychologie Christian Wolffs. Systematische und historische Untersuchungen. Hrsg. von Oliver-Pierre Rudolph und Jean-FranÅois Goubet. Tübingen: Niemeyer 2004.

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derholen Christian Wolff, Christoph Gottsched und Georg Bernhard Bilfinger38 dieses Postulat. Realisiert wird es allerdings erst von Alexander Gottlieb Baumgarten, der in seiner »Aesthetica« nicht nur eine Aufwertung der unteren Erkenntniskräfte (hierzu gehören die Emotionen, oder in der damaligen Sprache Leidenschaften und Affekte) vollzieht, sondern den Literaturadepten auch eine Anleitung bietet, sich angesichts und trotz des malum metaphysicum39 zu vervollkommnen. Dies waren allerdings spätere Folgen einer sich noch im ausgehenden 17. Jahrhundert anbahnenden Entwicklung, die emotionale Sphäre des Menschen wissenschaftlich zu erfassen. Diese Aufgabe unternahmen etwa die Naturrechtslehrer Samuel Pufendorf und Christian Thomasius, indem sie die Liebe und die Menschenliebe zur fundamentalsten Emotion des Menschen erklärten, die einen nicht zu unterschätzenden Einfluss auf die gesellschaftliche Ordnung ausübt.

Ansätze zur Erforschung der Menschenliebe im 20. Jahrhundert Die literaturwissenschaftliche Forschung zum 18. Jahrhundert hat bereits im vorigen Jahrhundert Annäherungsversuche an dieses Paradigma unternommen, um Paul Kluckhohn40 und Dagobert de Levie41 zu nennen. Kluckhohn konzentriert sich vornehmlich auf eine der möglichen Facetten der Liebe, und zwar die Liebe in der Ehe bzw. die Liebe zwischen Mann und Frau, während De Levie sich dem Begriff der allgemeinen Menschenliebe zuwendet. Kluckhohn erstellt einen historischen Überblick seit der Antike, aber mit dem Schwerpunkt Liebe/Ehe. De Levie geht in seiner Untersuchung von der Prämisse aus, dass in den philosophischen und literarischen Texten zweierlei Konzepte der Menschenliebe sensu largo vorliegen: die religionstheologisch geeichte Nächstenliebe und die die säkularisierte Auffassung zum Ausdruck bringende Menschenliebe senso stricto. Der Autor nennt Pufendorf, Thomasius, Wolff und Gottsched als Meilensteine, erwähnt Alexander Gottlieb Baumgartens lateinische Definition der Philanthropie, aber übergeht mit Stillschweigen deren Fortsetzung, die seine 38 Vgl. Grzesiuk, Das Faszinosum Mensch. 2013, S. 167–174. 39 Die Rückbesinnung auf diese von Leibniz eingeführte Kategorie ermöglicht die Korrektur einer der wohl populärsten, aber wie sich zeigt, unbegründeten These vom Glauben des 18. Jahrhundert an die Allmacht der menschlichen Vernunft. Vgl. dazu: Grzesiuk, Das Faszinosum Mensch. 2013, S. 30–32. 40 Kluckhohn, Paul: Die Auffassung der Liebe in der Literatur des 18. Jahrhunderts und in der deutschen Romantik. 3., unveränderte Aufl. Tübingen: Max Niemeyer 1966. 41 De Levie, Dagobert: Die Menschenliebe im Zeitalter der Aufklärung. Säkularisation und Moral im 18. Jahrhundert. Bern u. Frankfurt a. M. 1975.

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These evident in Frage stellen würde. Hätte De Levie darüber hinaus auf die Texte des älteren Bruders des Begründers der Ästhetik, Siegmund Jacob Baumgarten, der von Voltaire »die Krone deutscher Gelehrten, von Andern das Orakel der Theologen«42 genannt wurde, zurückgegriffen, wäre es ihm gar nicht möglich gewesen, seine These aufrechtzuerhalten. Siegmund Jacob Baumgartens Verdienst für die Theologie der Aufklärung, liege darin, dass er »die philosophische Begriffsbildung des Leibnizschülers Christian Wolff in die Theologie übertrug und so das orthodoxe Dogma sowohl durch rationale Beweisführung als durch historisch-kritische Exegese einerseits stützte, andererseits einschränkte«43. Im »Unterricht vom rechtmässigen Verhalten eines Christen, oder theologische Moral, zum academischen Vortrag«44 behandelt der Theologe die Menschenliebe im »Dritten Teil« seiner Abhandlung »Von der zum rechtmäßigen Verhalten eines Christen nötigen Gemütsfassung, oder Tugend, und den dazu dienlichen Hülfsmitteln« im Paragraphen 259 als eine der »Tugenden gegen andere Menschen« und definiert sie folgendermaßen: »Die Menschenliebe besteht in der Fertigkeit sich an aller Menschen Wohlfahrt zu belustigen, und dieselbe daher aufs möglichste zu befördern; folglich dieselbe nicht nur gern zu sehen, genemzuhalten [sic!] und aufrichtig zu wünschen, sondern auch alles mögliche zur Verschaffung, Erhaltung und Vermehrung derselben beizutragen, hingegen das Gegentheil davon ungern zu sehen, und aufs möglichste wegzuschaffen und zu verhüten (par. 134).«45

Die erste Auflage dieser Abhandlung wurde 1738 veröffentlicht. Der Theologe Baumgarten verwendet den nach Auffassung De Levies säkular beladenen Begriff, was ein Hinweis darauf ist, dass sich die intendierte klare Trennungslinie zwischen der theologischen und der säkularisierten philosophischen Auffassung der Menschenliebe nicht immer ziehen lässt.46 42 Frank, G., ›Baumgarten, Sigmund Jacob‹. In: Allgemeine Deutsche Biographie 2, 1875, S. 161 [Online-Version]. (Zugriff am 01. 07. 2019). 43 Schmidt, Martin, ›Baumgarten, Sigmund Jacob‹. In: Neue Deutsche Biographie 1, 1953, S. 660 [Online-Version]. (Zugriff am 01. 07. 2019). 44 Baumgarten, Siegmund Jacob: Unterricht vom rechtmässigen Verhalten eines Christen, oder theologische Moral, zum academischen Vortrag. Vierte Auflage Halle, verlegts Johann Andreas Bauer, 1750. Zitiert wird der Text unter Beibehaltung der Schreibweise des Originals. Darüber hinaus vgl. das Biogramm in Johann Heinrich Zedler : Grosses vollständiges Universal-Lexicon aller Wissenschafften und Künste Supplement 3, Sp. 263–270 [Online-Version]. (Zugriff am 01. 07. 2019). 45 Baumgarten, S.J. Versuch. 1750, S. 652–653. 46 Mittlerweile ist der Begriff »Säkularisation« auch obsolet geworden. Vgl. Pollack, Detlef: Säkularisierung – ein moderner Mythos? Studien zum religiösen Wandel in Deutschland. 2., durchges. Auflage. Tübingen: Mohr Siebeck 2012: »Säkularisierung ist inzwischen vielmehr

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Wie oben angedeutet, erwähnt De Levie den jüngeren Brüder des Theologen, Alexander Gottlieb Baumgarten im Kontext der Differenzierung von religionsgeprägter Menschenliebe und der »säkularen«: »Doch der Mensch der Aufklärung war sich im allgemeinen des Unterschiedlichen bewusst. Sprach der Deutsch, so unterschied er gewöhnlich die »Liebe des Nächsten« von der »Menschenliebe«, sprach er Latein, so schied er zwischen caritas oder dilectio proximi und amor universalis omnium hominum. So heisst es denn auch bei dem Wolffianer Alexander G. Baumgarten: Amor hominum (nicht etwa caritas oder dilectio proximi!) philanthropia est.«47

A. G. Baumgartens Definition ist aber noch nicht zu Ende: »§. 905. Amor hominum Philanthropia [Baumgarten nennt deutsche Entsprechungen zu wichtigen Begriffen, hier : »Menschen-Liebe«] est, amorem amati mutuum proportionatum volens Zelotypia [»Liebes-Eifer«] est, qui cum misericordia, fauore, beneuolentia, clementia vniuersales in deo sunt & maximi, §. 684, 904. Quumque constans amor intensus sit Fidelitas [»Treue«], deus aeternum amans infinite summe fidelis est, §. 904, 812.«48

Baumgarten lässt seinen Begriff der Menschenliebe evident theonom fundieren, ähnlich wird auch sein Schüler Georg Friedrich Meier vorgehen. Ein Verdienst von De Levie ist allerdings der Hinweis auf Samuel Pufendorf, der seine Konzeption des natürlichen Rechts anthropologisch fundiert, und der die Geselligkeit zum obersten Prinzip seiner Naturrechtslehre erhebt, die den Menschen an den gemeinsamen Ursprung erinnert und ihm die Aufgabe auferlegt, er möge »so viel an ihm ist, eine friedfertige und liebreiche Geselligkeit unterhalten, und sich gegen seines gleichen also bezeugen […], wie es die Beschaffenheit und der Zweck des Menschlichen Geschlechtes durchgängig erfordert«49. De Levie scheint aber wohl den Gedanken aus den Augen verloren zu haben, dass diese Neuansätze vor dem Hintergrund eines kohärenten metaphysischen Systems entstanden sind, das Gott, den Schöpfer als Garanten der weltlichen Ordnung erklärt und ihn auch als die Quelle der Liebe auffasst. Zum anderen hat De Levie die Tatsache nicht genug berücksichtigt, dass gerade damals die Philosophie erst darum bemüht war, ihre deutsche Terminologie festzulegen, dem Postulat Christian Thomasius’ folgend, man solle Wissenschaften in der jeweiein ebenso streng gemiedener Begriff geworden, wie seine Anwendbarkeit auf die modernen gesellschaftlichen Entwicklungen früher als selbstverständlich unterstellt wurde.« S. 1. 47 De Levie, Menschenliebe. 1975, S. 30. 48 Baumgarten, Alexander Gottlieb: Metaphysica. Editio VII. Halae Magdeburgicae: C. H. Hemmerde 1779, S. 370. 49 Pufendorff, Samuel: Acht Bücher vom Natur- und Völcker-Rechte. Frankfurt a.M.: Wächter 1711, Bd. 1, S. 355. Bei De Levie eine inkorrekte Seitenangabe. Vgl. De Levie, Menschenliebe. 1975, S. 123.

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ligen Nationalsprache betreiben.50 Als Entsprechung des griechischen Terminus philanthropia oder des lateinischen amor universalis bevorzugt Thomasius den Begriff »Leutseligkeit«51, den er aber inkonsequent mal als Menschenliebe senso largo, mal sensu stricto verwendet, Christian Wolff, der den größten Beitrag zur Festlegung der deutschen philosophischen Terminologie52 geleistet hat, benutzt in seinen lateinischen Schriften den Begriff »amor universalis«53, während er in seinen deutschen Schriften schlicht den Begriff der Liebe bzw. der Liebe des Nächsten verwendet. Der Inhalt der Definitionen Wolffs entspricht aber exakt der Bedeutung des Wortes Menschenliebe.54

50 »So schrieben auch nicht die Griechischen Philosophi Hebraeisch noch die Römischen Griechisch, sondern ein jeder gebraucht sich seiner Mutter-Sprache. Die Frantzosen wissen sich dieses Vortheils heut zu Tage sehr wohl zu bedienen. Warum sollen denn wir Teutschen stetswährend von andern uns wegen dieses Vortheils auslachen lassen, als ob die Philosophie und Gelahrheit nicht in unserer Sprache vorgetragen werden könte.« Christian Thomasius: Einleitung zu der Vernunft-Lehre. Halle: Salfeld 1711, S. 13f. Vgl. dazu: Grzesiuk, Das Faszinosum Mensch. 2013, S. 53–59. 51 Vgl. dazu Borgstedt, Thomas: ›Tendresse‹ und Sittenlehre. Die Liebeskonzeption des Christian Thomasius im Kontext der ›Preciosit8‹ – mit einer kleinen Topik galanter Poesie. In: Christian Thomasius (1655–1728). Neue Forschungen im Kontext der Frühaufklärung. Hrsg. von Friedrich Vollhardt. Tübingen: Niemeyer 1997, S. 405–428, bes. 416f. 52 Vgl. August Langen: Der Wortschatz des 18. Jahrhunderts. In: Deutsche Wortgeschichte. Hrsg. von Friedrich Maurer und Friedrich Stroh. Berlin: de Gruyter 1959. Bd. 2, S. 23–223, hier S. 39. 53 Vgl. etwa: §.161 Amor universalis. In: Christian Wolff: Jus gentium methodo scientifica pertractatum, in quo jus gentium naturale ab eo, quod voluntarii, pactitii et consuetudinarii est, accurate distinguitur. Halae Madeburgicae: Officina Liberaria Rengeriana 1749, S. 128; Christian Wolff: Philosophia moralis sive Ethica method scientifica pertractata. Pars quinta. Halae Magd.: Libraria Rengeriana 1753, S. 659: »Honor humanitatis fluit es amore universali«. 54 In der »Deutschen Ethik« entfaltet Wolff seinen Liebesbegriff vor dem Telos der Glückseligkeit und der Vollkommenheit: »§. 774. Weil der Mensch nur das Gute wollen kann (§. 506. Met.): das Gute aber dasjenige ist, was uns und unseren Zustand vollkommener machet (§. 422. Met), folgends uns Lust oder Vergnügen gewehret (§. 404. Met.); so will er nur, was ihm Lust oder Vergnügen bringet. Derowegen wenn er eines andern Glückseeligkeit wollen soll; so muß er bereit seyn daraus Vergnügen zu schöpffen, und demnach den andern lieben (§. 449. Met.). Nun ist er verbunden des andern Glückseeligkeit zu wollen (§. 767.), und also ist er auch verbunden den andern zu lieben.« Im nächsten Paragraphen wird der Liebesbegriff konkretisiert: »da die Liebe eine Bereitschafft ist aus eines andern Glückseeligkeit Vergnügen zu schöpfen (§. 449. Met.); so lieben wir ihn als uns selbst, wenn wir aus seiner Glückseeligkeit eben ein solches Vergnügen schöpffen, als wir haben würden, wenn es unser eigene wäre.« Christian Wolff: Vernünfftige Gedancken von der Menschen Thun und Lassen […] Neue Auflage. Halle: Renger 1752, S. 545f. In seiner Definition wird auch die Liebespflicht gegenüber Feinden formuliert: den Paragraphen Nr. 856 hat er der »Liebe der Feinde« gewidmet. Vgl. dazu: De Levie, Menschenliebe. 1975, S. 68: »Noch fehlt bei Wolff das Wort Menschenliebe, das man seit den zwanziger Jahren des Jahrhunderts vorwiegend als Bezeichnung für den säkularen Liebesgedanken verwendet und das im Erscheinungsjahr von Gottscheds »Ersten Gründen der gesamten Weltweisheit« (1734) erstmalig in einem deut-

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Auf die Unzulänglichkeit einer solchen strengen Grenzziehung zwischen Nächstenliebe und Menschenliebe, die De Levie vorgenommen hat, weisen die Autoren des Artikels »Philanthropie«, der eingangs zitiert wurde, hin, indem sie keine semantische Differenz zwischen Menschenliebe und Nächstenliebe erblicken.55 Neben Thomasius, der die Tugend als vernünftige Liebe definiert, nennen sie Christian Wolff und Christian August Crusius, bei denen die Menschenliebe als eine moralische Pflicht gegenüber anderen Menschen fungiert. Die Autoren betonen allerdings, dass »die Gleichsetzung von Menschenliebe mit der christlichen Nächstenliebe [sich] noch deutlicher bei Crusius [zeigt], der die allgemeine Menschenliebe aus der Liebe Gottes zu den Menschen begründet«56. Crusius erklärt die allgemeine Menschenliebe zur »höchste[n] Pflicht des natürlichen Rechtes«57. Aber weder De Levie noch die Autoren des Artikels »Philanthropie« noch Jesko Reiling58, der Autor einer Bodmer-Monografie, nehmen auf einen Philosophen Bezug, der sich sowohl als Schulphilosoph als auch als Herausgeber der Moralischen Wochenschriften hervorgetan hat und der neben Alexander Gottlieb Baumgarten als »Kants Bezugsautor« genannt wird59 – Georg Friedrich Meier. Gerade in einer Monografie, die dem Autor, der eine literarische Debatte gegen Gottsched führte, gewidmet ist, überrascht die gänzliche Ausblendung Meiers, der sich auf die Seite Bodmers geschlagen hat60 bis er dann von Jakob Immanuel Pyra abgelöst wurde. Bodmer und Meier pflegten freundschaftlichen

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schen Wörterbuch und zwar in der Bedeutung des griechischen Lehnworts Philanthropia aufgenommen wurde.« Vgl. Hügli/Kipfer, ›Philanthropie‹. 1989, Sp. 548. Ebd., Sp. 549. Ebd., Sp. 549. Die menschenfreundlichen Gefühle wie das Mitleid in Bodmers Epen interpretiert Reiling vor dem Hintergrund der uns interessierenden Kategorie: »Damit artikuliert Bodmer eine um die Mitte des 18. Jahrhunderts weit verbreitete Ansicht, die unter dem Begriff der ›Menschenliebe‹ insbesondere in Moralischen Wochenschriften propagiert wurde«. Reiling, Jesko: Die Genese der idealen Gesellschaft. Studien zum literarischen Werk von Johann Jakob Bodmer (1698–1783). Berlin/New York 2010, S. 169. Vgl. Schwaiger, Clemens: Alexander Gottlieb Baumgarten – ein intellektuelles Porträt. Stuttgart-Bad Cannstatt: Frommann-Holzboog 2011, S. 46. In einem Brief an Friedrich von Hagedorn vom 2. September 1747 schreibt Bodmer folgendes: »Was vor ein fürchterlicher Gegner ist der H. Prof. Meyer für H. Gottscheden! Ein Criticus und ein Demonstrant in einer Person«. Zit. nach: Döring, Detlef: Der Literaturstreit zwischen Leipzig und Zürich in der Mitte des 18. Jahrhunderts. Neue Untersuchungen zu einem alten Thema. In: Bodmer und Breitinger im Netzwerk der europäischen Aufklärung. Hrsg. von Anett Lütteken und Barbara Mahlmann-Bauer. Göttingen: Wallstein 2009, S. 60–104, hier S. 93.

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Umgang61 und die Briefe Bodmers an etliche Adressaten belegen dessen anhaltendes Interesse für Meiers Wirken.62 Reiling nennt aber Gellert als Bodmers Gewährsmann und im Kontext der Menschenliebe bezieht er sich lediglich auf ein 1743 von Gellert publiziertes Gedicht sowie dessen »Moralische Vorlesung Nr. 21«. Ohne den Beitrag Gellerts unterschätzen zu wollen, sollte daran erinnert werden, dass die Vorlesungen Gellerts posthum von seinen Freunden veröffentlicht wurden63, einige Jahre nach dem Erscheinen der »Noah«-Dichtung (1752).

Meiers Beitrag zur Begründung des Paradigmas der Menschenliebe im 18. Jahrhundert Lange Zeit war Georg Friedrich Meier ein vergessener Autor, bis um die 1970er Jahre seine Renaissance einsetzte, die durch Reprint-Ausgaben von Meiers Werken64 initiiert wurde. Darauf folgten Biografien und Forschungstexte65, so 61 Vgl. Das Jahrhundert der Freundschaft. Johann Wilhelm Ludwig Gleim und seine Zeitgenossen. Hrsg. von Ute Pott. Göttingen: Wallstein 2004, S. 90: »Nach Jakob Immanuel Pyras frühem Tod schloss sich Samuel Gotthold Lange dem Freundeskreis um Gleim an. Dazu gehörten zu der Zeit Georg Friedrich Meier, Johann Jakob Bodmer, Friedrich von Hagedorn und Ewald Christian von Kleist. Unter dem Titel »Freundschaftliche Briefe« erschien 1746 eine Auswahl von Briefen dieses Kreises, herausgegeben von Gleim und Lange.« 62 Vgl. dazu: Döring, Detlef: Der Literaturstreit zwischen Leipzig und Zürich in der Mitte des 18. Jahrhunderts. Neue Untersuchungen zu einem alten Thema. In: Bodmer und Breitinger im Netzwerk der europäischen Aufklärung. Hrsg. von Anett Lütteken und Barbara Mahlmann-Bauer. Göttingen: Wallenstein 2009, S. 60–104. 63 Gellert, Christian Fürchtegott: Sämmtliche Schriften. Thl. 1. Leipzig: Weidmanns Erben u. Reich 1769. Moralische Vorlesungen nehmen den 6. und 7. Teil in Anspruch (beide 1770 veröffentlicht). 21. Vorlesung »Von der Menschenliebe, dem Vertrauen auf Gott, und der Ergebung in seine Schickungen« befindet sich im 7. Teil. Leipzig. Weidmanns Erben u. Reich, u. Caspar Fritsch 1770, S. 462–489. 64 Etwa Meier, Georg Friedrich: Versuch einer allgemeinen Auslegungskunst. Halle 1757. Mit einer Einleitung von Lutz Geldsetzer. Reprint. Düsseldorf: Stern-Verlag Janssen 1965; Georg Friedrich Meier : Theoretische Lehre von den Gemüthsbewegungen überhaupt. Halle 1744. Reprint. Frankfurt a.m.: Athenäum, 1971; Georg Friedrich Meier : Beurteilung der Gottschedischen Dichtkunst. Halle 1747. Reprint. Hildesheim: Olms, 1975; Georg Friedrich Meier : Anfangsgründe aller schönen Wissenschaften. 3 Theile. 2., verb. Aufl. Halle 1754–1759. Reprint. 3 Bde. Hildesheim: Olms 1976; Georg Friedrich Meier : Gedanken von Schertzen. Halle 1744. Mit Einleitung, Zeittafel und Bibliographie. Hrsg. von Klaus Bohnen. Reprint. Kopenhagen 1977; Georg Friedrich Meier und die Anfangsgründe aller schönen Künste und Wissenschaften. Hrsg. von Günter Schenk. Halle 1992; Moralische Wochenschriften: Der Gesellige. Eine moralische Wochenschrift. Hrsg. von Samuel Gotthold Lange und Georg Friedrich Meier. 6 Theile. Halle 1748–1750. Mit einem Nachwort neu hrsg. von Wolfgang Martens. 3 Bde. Reprint. Hildesheim 1987; Der Mensch. Eine moralische Wochenschrift. Hrsg. von Samuel Gotthold Lange und Georg Friedrich Meier. Halle 1752. Mit einem Nachwort neu hrsg. von Wolfgang Martens. Reprint. Hildesheim: Olms 1992. Voll-

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dass man heute von einer Meier-Renaissance sprechen kann. Der Schüler, Biograph und Übersetzer Baumgartens wurde an der Fridericiana in Halle zu seinem Nachfolger (1740), als Baumgarten an die Viadrina berufen wurde. Samuel Gotthold Lange, ein Freund und Mitherausgeber der Moralischen Wochenschriften, erstattete Bodmer über Meiers Kompetenzen als Philosophieprofessor folgenden Bericht: »Dieser geschickte Mann ist von grosser Autorität. Die zahlreichen Hallerischen Musensöhne hangen ihm an. Er hat zum wenigsten in seinen Stunden 300 Auditores. Er hat mehr als alle Professores der philosophischen Fakultät zusammen.«66 Meier hat zahlreiche Texte zu verschiedenen philosophischen Disziplinen verfasst, und zwar zur Metaphysik, Logik, Ethik, Ästhetik, aber nicht alle Texte wurden erschöpfend untersucht, so dass die neuere Meier-Forschung bestehende Lücken zu schließen versucht.67

ständige Bibliografie bis 2015 in: Georg Friedrich Meier (1718–1777). Philosophie als »wahre Weltweisheit«. Hrsg. von Frank Grunert und Gideon Stiening. Berlin/Boston: de Gruyter 2015. 65 Schenk, Günter : Leben und Werk des halleschen Aufklärers Georg Friedrich Meier. Halle 1994; Pozzo, Riccardo: Georg Friedrich Meiers »Vernunftlehre«. Eine historisch-systematische Untersuchung. Stuttgart/Bad Cannstadt: Frommann-Holzboog 2000; Wübben, Yvonne: Gespenster und Gelehrte. Die ästhetische Lehrprosa G. F. Meiers (1718–1777). Tübingen: Niemeyer 2007; Schenk, Günter : Allgemeine Zeichentheorie und Hermeneutik des 18. Jahrhunderts in Halle. Christian Thomasius, Alexander G. Baumgarten, Georg Friedrich Meier, Johann August Eberhard, Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher. Halle (Saale): Medienwerker – Prius Schenk Verlag 2009; Georg Friedrich Meier (1718–1777). Philosophie als »wahre Weisheit«. Hrsg. von Gideon Stiening und Frank Grunert. Berlin/ Boston: De Gruyter 2015. 66 Lange an Bodmer, 05. 07. 1746. Zit. nach: Bergmann, Ernst: Die Begründung der deutschen Ästhetik durch Alex.[ander] Gottlieb Baumgarten und Georg Friedrich Meier. Mit einem Anhang: GF. Meiers ungedruckte Briefe. Leipzig: Röder und Schunke 1911, S. 128. 67 Dieter Hüning stellt fest, die Forschung habe Meier vornehmlich als »Logiker, Hermeneutiker und Ästhetiker« wahrgenommen, daher gilt sein Beitrag Meier als Naturrechtslehrer. Vgl. Hüning, Dieter : Das Recht zu »allen Tugenden, zu allen rechtmäßigen Handlungen, und zu allen Sünden«. Naturrecht und Naturzustand in Georg Friedrich Meiers »Recht der Natur«. In: Georg Friedrich Meier (1711–1777). Philosophie als »wahre Weltweistheit«. Hrsg. von Frank Grunert und Gideon Stiening. Berlin/Boston: de Gruyter 2015, S. 259–283. Meier als Ästhetiker wurden neulich gewidmet: Kaleri, Ekaterini: Ästhetische Wahrheit. Transformationen der Erkenntnistheorie in der Ästhetik Georg Friedrich Meiers. In: Geschichte der Hermeneutik und die Methodik der textinterpretierenden Disziplinen. Hrsg. von Jörg Schönert und Friedrich Vollhardt. Berlin: de Gruyter 2005, S. 365–402 sowie Buchenau, Stefanie: Weitläufige Wahrheiten, fruchtbare Begriffe. Georg Friedrich Meiers Anfangsgründe aller schönen Wissenschaften. In: Georg Friedrich Meier (1711–1777). Philosophie als »wahre Weltweisheit«. Hrsg. von Frank Grunert und Gideon Stiening. Berlin/Boston: de Gruyter 2015, S. 287–297 sowie Stiening, Gideon: »Metaphysick aller schönen Wissenschaften und Künste«. Georg Friedrich Meiers ästhetische Theorie. In: Georg Friedrich Meier (1711–1777). Philosophie als »wahre Weltweisheit«. Hrsg. von Frank Grunert und Gideon Stiening. Berlin/Boston: de Gruyter 2015, S. 299–321. Eine vollständige Bibliographie liegt vor in: Leben und Werk des Halleschen Aufklärers Georg Friedrich Meier. Halle/Saale:

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Meier diskutiert das Phänomen der Menschenliebe im 4. Band seiner »Philosophischen Sittenlehre«68 als ersten Abschnitt »Von der Menschenliebe« im zweiten Hauptabschnitt seiner Abhandlung (»Pflichten gegen andere Menschen«) und widmet ihm die Paragraphen 784–809 (S. 26–99). Aus dem Umfang dieses Abschnitts kann geschlossen werden, wie fundamental ihm diese Problematik erscheint. Meier ist nicht geneigt, zwei differente Begriffe von Menschenliebe zu entwerfen, wie De Levie für philosophische Texte suggeriert hat, denn in einer Polemik beansprucht er für sich selbst als Polemiker die Milde, die eben der Menschenliebe entspringt, und weist darauf hin, dass die Menschenliebe von doppelter Beschaffenheit ist: »Ein Mann, der mit Aufrichtigkeit seines Herzens irrt, verdient nicht gehaßt zu werden, als welches ohnedem die algemeine Menschenliebe, die so wol eine christliche als philosophische Pflicht ist, fordert.«69 Meiers positives anthropologisches Programm, das in der »Philosophischen Sittenlehre« entfaltet wird, setzt in der Nachfolge von Georg Wilhelm Leibniz das Kriterium der perfectio, der Vollkommenheit, voraus und vor diesem Hintergrund wird auch der allgemeine Begriff der Liebe definiert: »Die Freude über die Vollkommenheit eines Dinges wird, die Liebe desselben, genennt« (PhS 4, S. 16). Daraus folgt die Verpflichtung für jeden, der tugendhaft sein will, er müsse »alle übrige endliche Dinge, auf eine so vollkommene Art lieben, als es ihm möglich ist, und diese Liebe, durch die würkliche Beförderung der Vollkommenheit anderer endlichen Dinge, in dem möglichsten Grade beweisen« (PhS 4, S. 16). Diese Pflicht nimmt allgemeinen Charakter an, denn sie soll »alle[n] Dingen, in so ferne sie liebenswürdig sind« gelten, und daher rührt die Pflicht »einer allgemeinen Liebe« (PhS 4, S. 16). Meier definiert zwar das Attribut »liebenswürdig« nicht, aber aufgrund der Definition der Liebe setzt er vermutlich voraus, dass der Leser erkennen wird, dass sich dahinter der Aspekt der Vollkommenheit verbirgt. Zunächst bezieht sich der allgemeine Begriff der Liebe auf alle Dinge, die das Gepräge der Vollkommenheit tragen, im nächsten Schritt wird aber ein wichtiger Bezugspunkt bestimmt, indem hier das Nützlichkeitskriterium hervorgehoben wird: »Da wir mit andern Menschen näher und stärker verbunden Hallescher Verlag 1994 sowie in: Georg Friedrich Meier (1718–1777). Philosophie als »wahre Weisheit«. Hrsg. von Gideon Stiening und Frank Grunert. Berlin/Boston: De Gruyter 2015. 68 Georg Friedrich Meier : Philosophische Sittenlehre. Vierter Theil. Zweyte und verbesserte Auflage. Halle im Magdeburgischen: Carl Hermann Hemmerde, 1766. Der Text wird im Folgenden bei Beibehaltung der aus der heutigen Sicht irritierenden Orthografie und Interpunktion unter der Sigle PhS zitiert. 69 Georg Friedrich Meier : Vertheidigung der christlichen Religion, wider Herrn Johann Christian Edelmann. Zweyte Auflage. Halle im Magdeburgischen, verlegts Carl Hermann Hemmerde, 1749, S. 22.

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sind, als mit andern vernünftigen Creaturen, so ist die Liebe der Menschen uns selbst und den geliebten Personen nützlicher, als die Liebe anderer Geister.« (PhS 4, S. 25) Einleitend wird eine Hierarchie der Liebespflicht aufgestellt, die in erster Linie dem Schöpfer, dann dem Menschen selbst und dann den anderen Menschen gilt: »§. 784. Wir sind zu der allgemeinen Liebe der Menschen, oder zu der allgemeinen Menschenliebe dergestalt verbunden, daß wir nach GOtt und uns selbst, alle andere Menschen, unter allen übrigen Creaturen, vorzüglich lieben müssen. Par. 783.« (PhS 4, S. 26)

Dann differenziert Meier zwischen der »wohlgeordneten Liebe«, die all den Postulaten des tugendhaften Handelns entspricht und der »unordentlichen Liebe«, die eine Sünde ist und in diesem Teil nicht behandelt wird. Meier lässt den Begriff der allgemeinen Menschenliebe theonom fundieren: »wir müssen andere Menschen um der wichtigsten Bewegungsgründe willen lieben: weil sie Geschöpfe GOttes sind, weil sie die vornehmsten Mittel der Ehre GOttes sind, weil die das Ebenbild GOttes an sich tragen u.s.w.« (PhS 4, S. 27, §. 784)

Die Gleichheit der Menschen, die in den naturrechtlichen Konzepten als Begründung der Geselligkeit aufgeführt wird, hat somit ihren Ursprung in Gott, dem Garanten der in der Welt herrschenden Ordnung, daher wird vom Tugendhaften ein rechtes Maß verlangt, das vom jeweiligen Objekt seiner Liebe abhängt: Der aufgestellten Seins-Hierarchie entsprechend wird empfohlen, die Menschenliebe solle »nicht stärker seyn, als die Liebe zu GOtt, sie muß dieser Liebe auch nicht gleich seyn, und sie muß sich in die Liebe zu GOtt auflösen, indem wir andere Menschen um GOttes willen, und in den Menschen GOtt, lieben §.145.148« (PhS 4, S. 28). Die Liebe ordnet er der Begehrungskraft zu und behauptet, sie sei »eine Begierde nach der Vollkommenheit anderer Menschen §.615–656« (PhS 4, S. 27), denn das Begehrungswürdige sollte vollkommen sein. Ohne diese Elemente bleibt sie »eine thörichte Menschenliebe«, die nichts anderes sei »als ein blosser blinder natürlicher Trieb, dergleichen die Liebe vieler Eltern zu ihren Kindern ist«. (PhS 4, S. 27) Damit das rechte Maß richtig eingeschätzt und aufrechterhalten werden kann, wird die Menschenliebe an die Erkenntnis anderer Menschen gekoppelt: »§.785. Die wohlgeordnete Menschenliebe muß, aus einer rechten und pflichtmäßigen Kenntniß anderer Menschen, fliessen, und derselben proportionirt seyn §.784.« (PhS 4, S. 31) Diese Emotion wird zwar der unteren Erkenntniskraft wegen ihrer ›Sinnlichkeit‹ zugeordnet, doch damit sie zu einer Tugend werden kann, muss sie dem Korrektiv der Vernunft untergeordnet sein: »die wahre und tugendhafte Menschenliebe wird zwar, durch die Sinnlichkeit, und durch die ausgebesserten

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Triebe der Natur und sinnlichen Leidenschaften, verstärkt; allein sie steht unter der Herrschaft der Vernunft und Freyheit.« (PhS 4, S. 28) Bei der Ausübung der Menschenliebe, denn sie gehört nicht in den Bereich der Theorie70, sondern der Alltagspraxis71, sollte sich der Mensch an einigen Kriterien orientieren, die das rechte Maß zu erzielen helfen. Allen voran nennt Meier das Kriterium der Vollkommenheit, an dem sich die Intensität dieses Gefühls anderen gegenüber bemessen sollte: »Je vollkommener ein Mensch ist, desto stärker müssen wir ihn lieben« (PhS 4, S. 33) Diesem folgt das Bekanntschaftskriterium »Je bekannter uns ein Mensch ist, desto mehr müssen wir ihn lieben; je weniger er uns aber bekannt ist, desto weniger sind wir verbunden, ihn zu lieben« (PhS 4, S. 33) und als drittes kommt das Nützlichkeitskriterium: »Je nützlicher uns ein Mensch ist, desto mehr müssen wir ihn lieben« (PhS 4, S. 36). Diesem letzteren Kriterium entspringt die Pflicht, »alle diejenigen Menschen besonders zu lieben, welche unsere Wohlthäter sind. Die Liebe eines Wohlthäters, um seiner Wohlthaten willen, ist die Dankbarkeit. Folglich verbindet uns, die allgemeine Menschenliebe, zur Dankbarkeit gegen alle unsere Wohlthäter ohne Ausnahme.« (PhS 4, S. 50f.)

Wahre Menschenliebe begreift Meier als ein reziprokes Verhältnis zwischen dem liebenden Subjekt und dem zu liebenden Objekt. Der tätige Liebende leistet einen Beitrag zur Vervollkommnung des Anderen und schöpft dann aus den Folgen seiner Tätigkeit Vergnügen. Meier geht dieses Phänomen komplex an und verliert auch die potentielle Unvollkommenheit der Menschen nicht aus den Augen, denn er erlegt jedem auf, die Unvollkommenheit anderer Menschen zu verhindern (PhS 4, S. 56). Die Attitüde, die in einer solchen Situation eingenommen werden sollte, ist »das Mitleiden«: »Folglich sind wir zum Mitleiden, und zur Barmherzigkeit gegen andere Menschen, verbunden. Die wahre Menschenliebe ist allemal mit dem Mitleiden verbunden, weil es unmöglich ist die Vollkommenheit einer geliebten Person zu befördern, wenn man nicht ihre Unvollkommenheiten, als die Hindernisse der Vollkommenheit, aus dem Wege räumt.« (PhS 4, S. 56f.)

Gemäß dem Prinzip der Proportion, das in der Definition der »wohlgeordneten Liebe« formuliert wird, differenziert Meier zwischen Mitleid gegenüber einem 70 »Eine ungeschäftige Menschenliebe, durch welche andere Menschen gar keinen Vortheil erlangen, und gar nicht vollkommener werden, ist entweder eine blosse höfliche Verstellung, und nichts weiter als ein heuchlerisches Vorgehen, oder sie ist nicht feurig und stark genung [!]. Was hilft es dem andern, wenn ich ihn, auf eine solche unkräftige Art, liebe?« (PhS 4, S. 40f.) 71 »§.788. Da wir nicht nur verbunden sind, unsere allgemeine Liebe thätig zu erweisen, sondern sie auch jederzeit gegen denjenigen Gegenstand auszuüben, welcher uns der nächste ist: §.781 so sind wir auch, in Absicht auf die Menschenliebe, zu einem ähnlichen Verhalten verbunden.« (PhS 4, S. 38)

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unglücklichen Menschen, der unverdient leidet, und Mitleid, das einem »Sünder« gilt. Im ersteren Falle gilt es, die Ursache des Unglücks zu erkennen und aus dem Weg zu räumen, im Falle eines verdienten Leidens empfiehlt der Moralphilosoph eine strenge Kur : »Das wahre Mitleiden macht in diesem Falle dem Sünder gehörige Vorwürfe, und erregt sein Gewissen. Es vermehrt also vorerst seinen Schmerz, damit er eine kräftige Verabscheuung der Sünde, und Besserung aufs Zukünftige, verursache. Alsdenn läßt es den Sünder so lange unter der Last der Uebel, die er sich selbst zugezogen hat, seufzen, bis es sieht, daß er, nach der Befreyung von diesen Uebeln, seine vorigen Sünden nicht wieder begehen werde.« (PhS 4, S. 59)

Die tätige Menschenliebe kann vielerlei Facetten annehmen: Neben dem Mitleid, das eine entsprechende Reaktion auf die festgestellte Unvollkommenheit eines anderen ist, werden noch »Gunst und Gewogenheit« (PhS 4, S. 61) genannt, zwei Gefühle, die dann entstehen, wenn bei einer anderen Person ein hoher Grad an Vollkommenheit festgestellt wird. Im Kontext dieser Art Menschenliebe empfiehlt der Moralphilosoph eine weitgehende Offenheit gegenüber den Mitmenschen, denn »die Menschenliebe hält alle Menschen für gut, bis das Gegentheil erwiesen wird« (PhS 4, S. 52) und darüber hinaus glaubt er, dass »kein Mensch so böse und unvollkommen [ist], daß er nicht eine gute Seite haben solte« (PhS 4, S. 62). Eine solche Attitüde setzt keineswegs Naivität voraus (»Ein aufrichtiger Liebhaber der Menschen ist nicht so blind, daß er das Böse in den Menschen ganz übersehen solte«, PhS 4, S. 62f.), denn es wird eine Erkenntnisleistung empfohlen, die darauf hinausläuft, »auch in denen sehr bösen Menschen das Gute zu entdecken« (PhS 4, S. 63). Diese positive Anthropologie ist dank metaphysischer Fundierung möglich, die die Menschen als Gottes Geschöpfe betrachtet, aber trotz gemeinsamen Ursprungs wird nicht immer der Pflicht, andere Menschen zu lieben, nachgegangen, als deren Hindernis wird »die misanthropische Beurtheilung anderer Leute« (PhS 4, S. 63) genannt. Damit die Menschenliebe zu einer Tugend wird, soll sie folgenden Kriterien gerecht werden: Sie »muß so stark seyn, als möglich ist« (PhS 4, S. 64) und »muß auch allgemein seyn« (PhS 4, S. 65), darüber hinaus soll ein Gleichgewicht zwischen der Eigenliebe und der Liebe des anderen Menschen (»wie wir die Menschheit in unserer eigenen Person lieben, eben so müssen wir sie auch in andern Personen lieben« PhS 4, S. 67) und eine Ähnlichkeit mit der Liebe Gottes zum Menschen angestrebt werden, denn Gott »liebt sie [die Menschen] unpartheyisch, nach der richtigsten und besten Erkenntniß ihrer Vollkommenheiten, aufs proportionirteste u.s.w.« (PhS 4, S. 68f.) Im Kontext der Menschenliebe Gottes wird dem Menschen die Pflicht auferlegt, interesselos zu lieben:

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»Und da GOtt selbst keinen Vortheil von der Liebe hat, wodurch er die Menschen liebt: so können aus diesem Grundsatze, alle Pflichten gegen andere Menschen, dergestalt hergeleitet werden, daß nicht einmal, der geringste Schein des intereßirten Wesens, dabey noch übrig bleibt.« (PhS 4, S. 69)

Weil die Menschenliebe von reziproker Beschaffenheit ist (»Liebe erweckt Gegenliebe«, PhS 4, S. 70) und »immer thätig« (PhS 4, S. 70) sein muss, definiert Meier das angemessene Verhalten eines Menschenfreundes, das »liebreiches Wesen oder Betragen« genannt wird: Es »besteht in der Fertigkeit, die Menschenliebe zu bezeichnen, oder an den Tag zu legen« (PhS 4, S. 69) und es wird verbal »durch Worte und Reden« oder auch »durch andere Handlungen« zum Ausdruck gebracht (PhS 4, S. 71). Werden diese Kriterien erfüllt, nennt man das angemessene Verhalten »liebreiches und humanes Wesen, oder die Humanität« (PhS 4, S. 71). Auch das Betragen eines Menschenfreundes wird mit spezifizierenden Attributen versehen: Es muss »gegen jedermann unverstelt, und ungeheuchelt seyn« (PhS 4, S. 71). Zu diesem Postulat der Aufrichtigkeit merkt Meier, indem er die Empirie heranzieht, kritisch an, man könne »die Aufrichtigkeit in dem liebreichen Betragen, heute zu Tage unter die seltensten Tugenden auf dem Erdboden rechnen« (PhS 4, S. 73). In den abschließenden Paragraphen dieser Abhandlung zur Menschenliebe entfaltet Meier eine Art Liebessemiotik, denn die Menschenliebe sollte »durch bequeme und geschickte Zeichen an den Tag« gelegt werden. Eine solche Fertigkeit wird »Freundlichkeit« genannt. Bei der Bestimmung der höheren Stufen wird der Aspekt des Schönen herangezogen: »Die Fertigkeit, in dem freundlichen Wesen sich solcher Zeichen zu bedienen, die in einem höhern Grade schön sind, wir die Artigkeit in dem freundlichen Bezeugen genennt; und ein höherer Grad dieser Artigkeit, sonderlich in den liebreichen Reden, wird die Höflichkeit gennent.« (PhS 4, S. 74f.)

Aus der Reflexion über die Menschenliebe schließt Meier negative Erscheinungen nicht aus und geht auf sie ein, indem er auf zwei Phänomene rekurriert: »Nun hat die Liebe ein doppeltes Gegentheil: die Gleichgültigkeit gegen den Gegenstand derselben, und den Haß desselben« (PhS 4, S. 76), wobei beide als Sünden gebrandmarkt werden. Ein höherer Grad der Gleichgültigkeit wird »Kaltsinnigkeit« genannt. Auffallend ist dabei, dass Meier eben in diesem Kontext seiner eigenen Zunft gedenkt und einen Beitrag zur philosophischen Fundierung der Gelehrtensatire72 zu leisten scheint: »Die Leute, die so intereßirt sind, daß sie nur für sich sorgen, welche den Umgang und die nähere Verbindung mit andern Menschen verhüten, Gelehrte die beständig unter 72 Zur Gelehrtensatire vgl. etwa: Kosˇenina, Alexander : Der gelehrte Narr. Gelehrtensatire seit der Aufklärung. Göttingen: Wallstein-Verl. 2003.

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ihren Büchern vergraben liegen, und andere Leute von dieser Art, Neugierige, welche sich zwar um andere Leute bekümmern, aber nur bloß deswegen, damit sie eine Zeit, die sie nicht zu brauchen wissen, vertreiben: dergleichen Personen machen sich aus der ganzen Welt nichts, und sind gegen alle Menschen, oder gegen die meisten derselben, ganz gleichgültig.« (PhS 4, S. 76f.)

Derjenige dagegen, der der Pflicht der Menschenliebe nachgeht, wird Menschenfreund genannt (PhS 4, S. 79) und selbst die Eigenliebe wird als Argument herangezogen, warum der Mensch andere Menschen lieben sollte: »Die Menschenliebe ist eine wahre Vollkommenheit eines Menschen §. 776.784.« (PhS 4, S. 80) Wer der Pflicht der Menschenliebe bewusst nicht nachgeht, der lässt sich von »Menschenhaß, oder der Misanthropie« (PhS 4, S. 85) leiten, der als »Feindseligkeit des Gemüths gegen unsern Nebenmenschen« definiert wird und Meier fügt hinzu, es sei »ein abscheuliches Laster«, denn »Er ist die Quelle der allergrösten Verbrechen gegen andere Menschen, und der Menschenfeind ist ein Teufel unter den Menschen, welcher zum Verderben und zum Untergange anderer Menschen erschaffen zu seyn scheint« (PhS 4, S. 86).73 Das Argument gegen die Misanthropie mag etwas naiv anmuten, aber Meier lässt es gelten: »Die Menschheit ist überhaupt was Liebenswürdiges, und man kann also alle Menschen so weit kennen, daß wir, einigen Grad der Liebe, gegen alle Menschen ohne Ausnahme, in unsern Gemüthern erwecken und unterhalten können.« (PhS 4, S. 77) Abschließend behandelt Meier »die Liebe der Feinde« (PhS 4, S. 88–99), einen Aspekt, der bei Thomasius, Wolff und Gottsched eigens hervorgehoben wurde, und stellt fest, sie sei »eine der wichtigsten Pflichten gegen andere Menschen« (PhS 4, S. 88) und zugleich sei »diese Pflicht in der Ausübung sehr schwer« (PhS 4, S. 90). Diese Schwierigkeit resultiert aus der Unmöglichkeit, die Ursache des Hasses bei einem anderen vorauszusehen und diesem vorzubeugen (»es steht nicht in meinem Vermögen, ob ich solche Feinde habe, die mich hassen, oder nicht. Es ist unmöglich, daß ich aller Menschen Herzen dergestalt in meiner Gewalt haben solte, daß ich allen Haß gegen mich in denselben verhüten solte.« PhS 4, S. 88f.) Auch hier spricht er sich für eine positive Herangehensweise aus, mit dem Hass der potentiellen Feinde zurechtzukommen. Vorerst wird auf den gemeinsamen Ursprung als Mensch erinnert – das Menschsein ist die Ursache, weswegen man seine Feinde verbunden ist zu lieben: »Wir sind ja, zu einer allgemeinen Menschenliebe und Menschenfreundschaft, verbunden. Die Menschen, welche meine Feinde sind, sind und bleiben ihrer Feindschaft ohnerachtet 73 Kritik der Misanthropie wird zu einem wichtigen Sujet der Literatur im 18. Jahrhundert. Vgl. dazu etwa: Hay, Gerhard: Darstellung des Menschenhasses in der deutschen Literatur des 18. und 19. Jahrhunderts. Frankfurt a. M.: Athenäum-Verl. 1970.

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Menschen, und ich muß sie also lieben.« (PhS 4, S. 89f.) Die Liebe der Feinde wird darüber hinaus als eine moralische Herausforderung betrachtet, denn alle Schwierigkeiten, die sich mit ihr verbinden, heben die Pflicht nicht auf: »Ob es nun gleich sehr schwer ist, seine Feinde zu lieben: so hört es doch deswegen nicht auf, eine Pflicht zu seyn. Wir sind vielmehr verbunden, um so vielmehr Fleiß anzuwenden, eine Pflicht zu beobachten, je schwerer sie ist.« (PhS 4, S. 90) Der Moralphilosoph fügt hinzu: »Es ist keine Kunst einen Freund zu lieben, allein das ist die beste Probe einer grossen Menschenfreundschaft, wenn wir so gar unsere Feinde lieben.« (PhS 4, S. 90) In einem separaten Teil werden dann noch die Laster gegen die Menschenliebe abgehandelt: Neid, Undankbarkeit, Unbarmherzigkeit, Boshaftigkeit und Unfreundlichkeit (PhS 4 S. 182–240). Das angemessene Verhalten allen Menschen gegenüber wird »die wahre Freundlichkeit, und das ächte liebreiche Wesen« genannt, sie besteht in der »Fertigkeit andern Leuten die Liebe zu ihnen zu bezeichnen« (PhS 4, S. 238) und es wird eine wichtige Bedingung hinzugefügt: »das ganze liebreiche Wesen, alle Artigkeit und Höflichkeit [muss] natürlich und ungezwungen seyn« (PhS 4, S. 238). Meier richtet seine Moralphilosophie nicht ausschließlich an Fachkundige, denn insbesondere im Falle der praktischen Weltweisheit ist es wichtig, dass die Tugend als moralphilosophisches Telos auch von einem jeden praktiziert wird. Auch im 5. Band der Wochenschrift »Der Mensch« schreibt Meier im 175. Stück »Von der allgemeinen Menschenfreundschaft«74. Hier bestimmt er das Wesen des Menschen in der Geselligkeit: »Ein Mensch wird nur alsdenn erst, in Absicht auf andere Menschen, ein rechter Mensch, wenn er ein wahrer Menschenfreund ist, und wenn sein Herz, durch die Liebe zur Menschheit entzündet, auf alle Menschen geneigt wird« (M 5, S. 1) und betont, dass der Mensch seiner Natur gemäß handelt, wenn er Freude empfindet, »wenn er anderer Menschen Glückseligkeit gewahr wird« und wenn er alles zu unternehmen versucht, »um aller Menschen Wohlfahrt zu befördern« (M 5, S. 1). Wie in seinem theoretischen Werk weist er auch hier darauf hin, dass derjenige, »welcher andere Menschen hasset, […] in seinem Herzen eine Abneigung von der menschlichen Natur« trägt, »ein Unmensch ist, ein aus der Art geschlagenes Mitglied des menschlichen Geschlechts« (M 5, S. 2). Meier beruhigt seine Leser und konstatiert, »ein solches Ungeheuer« sei »in der That eine Seltenheit« (M 5, S. 3). 74 Der Mensch. Eine Moralische Wochenschrift. Bd. 5. Halle: Gebauer 1753, S. 1–8. Im Weiteren unter der Sigle M zitiert. »Von der Freundschaft« handelt darüber hinaus 97. Stück im 3. Band (Halle: Gebauer 1752), »Vom Hasse anderer« Stück 91 im gleichen Band. Im 104. Stück des Geselligen heißt es: »Die Menschenliebe, diese zärtliche Mutter aller geselligen Tugenden, verknüpft die Menschen, die sich ihrem Gesetz unterwerfen, so genau mit einander, daß sie an allen Umständen einen gegenseitigen Antheil nehmen. Ein wahrer Geselliger, durch Menschenliebe ganz durchweicht, wird entweder gewahr, daß seine Nebenmenschen glückselig, oder daß sie unglückselig sind.« S. 65.

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Die natürliche Anlage reicht allerdings nicht aus, die Menschenfreundschaft gebührend zu pflegen, sie verlangt intensive Arbeit, so dass die Triebanlage zu einem Habitus werden kann: »Durch diesen Trieb der Natur wird ein Mensch noch nicht menschlich genug gesint, sondern es muß derselbe gehörig und verstärkt werden, und alsdenn entsteht daraus eine allgemeine Menschenfreundschaft, welche eine grosse Tugend ist, und welcher nur wenige auserlesene und großmüthige Seelen fähig sind.« (S.3) Nicht zufällig wird die allgemeine Menschenfreundschaft »göttliche Gesinnung« (S. 3) genannt. Meier, der im 18. Jahrhundert ein angesehener Philosoph war, verdient auch heutzutage mehr Beachtung. Ein defizitäres Forschungsfeld ist allerdings immer noch die Erforschung des Nexus seiner philosophischen und ästhetischen Konzepte und der Literatur der Zeit. Meier hatte besonderen Sinn für Literatur – diesen bewies er, als er Gottsched Paroli bot75 und als er den Wert von Klopstocks »Messias«-Dichtung erkannte und diesen gegenüber der Kritik (auch der von Seiten Lessings) verteidigte76. Diese Felder sind relativ gut erforscht. Der Erforschung des Freundschaftskultes, eines Lieblingssujets der ersten Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts77, wurde in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts wieder nachgegangen78. Aber all die Ansätze erschöpfen den Einfluss des Meierschen Œuvres auf die Literatur der Zeit immer noch nicht. Interessant wäre zu verfolgen, inwieweit sich die Schriftsteller der Zeit von den anthropologischen Konzeptionen aus der Schule Baumgartens, also auch von Meier, haben inspirieren lassen. Was die 75 Vgl. Döring, Detlef: Der Literaturstreit zwischen Leipzig und Zürich in der Mitte des 18. Jahrhunderts. Neue Untersuchungen zu einem alten Thema. In: Bodmer und Breitinger im Netzwerk der europäischen Aufklärung. Hrsg. von Anett Lütteken und Barbara Mahlmann-Bauer. Göttingen: Wallstein 2009, S. 60–104. Wichtige Texte wurden in der dreibändigen Ausgabe veröffentlicht: Meier, Georg Friedrich: Frühe Schriften zur ästhetischen Erziehung der Deutschen in 3 Teilen. Teil 2: Der »kleine Dichterkrieg« zwischen Halle und Leipzig. Halle/Saale: Hallescher Verl. 2000. 76 Vgl. dazu etwa: Meier. Urs: Der Messias in Zürich. Die Klopstock-Rezeption bei Bodmer, Breitinger, Waser, Hess und Lavater im Lichte des zeitgenössischen Literaturmarktes. In: Bodmer und Breitinger im Netzwerk der europäischen Aufklärung. Hrsg. von Anett Lütteken und Barbara Mahlmann-Bauer. Göttingen: Wallstein 2009, S. 474–496. 77 Vorerst nahmen sich Soziologen des Themas an: Simmel, Georg: Soziologie der Geselligkeit. In: Verhandlungen des Ersten Deutschen Soziologentages. Tübingen: Mohr Siebeck 1911, S. 1–16; Salomon, Albert: Der Freundschaftskult des 18. Jahrhunderts in Deutschland. Versuch zur Soziologie einer Lebensform. Diss. Masch. Heidelberg 1922. In den 30er Jahren: Rasch, Wolfdietrich: Freundschaftskult und Freundschaftsdichtung im deutschen Schrifttum des 18. Jahrhunderts vom Ausgang des Barock bis zu Klopstock. Halle: Niemeyer 1936. 78 Vgl. dazu etwa: Meyer-Krentler, Eckhardt: Der Bürger als Freund. Ein sozialethisches Programm und seine Kritiker in der neueren deutschen Erzählliteratur. München: Fink 1984; Frauenfreundschaft – Männerfreundschaft. Literarische Diskurse im 18. Jahrhundert. Tübingen: Niemeyer 1991; Vollhardt, Friedrich: Freundschaft und Pflicht. Naturrechtliches Denken und literarisches Freundschaftsideal im 18. Jahrhundert. Tübingen: Niemeyer 2001.

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Quelle des »prägnanten Moments« in Lessings »Laokoon« ist, scheint offensichtlich zu sein – es ist die cognitio praegnans aus Baumgartens Ästhetik. Die Autorin glaubt die Quelle für Lessings rauhe Tugend, in den Texten Baumgartens und Meiers gefunden zu haben79. Es scheint übrigens, dass Lessing ein eifriger Rezipient der Ästhetik Baumgartens und Meiers gewesen ist, obwohl er als Meiers Opponent häufig auftrat (vielleicht tat er dies auch eben deswegen). Meiers Beitrag zur Emotionsforschung ist noch nicht genügend erforscht. Die eingangs festgestellte Parallele zwischen dem Interesse an menschlichen Emotionen und deren Darstellung in der Literatur des 18. und des 20/21. Jahrhunderts zeugt davon, dass das Forschungsobjekt Mensch eine immerwährende Beschäftigung einer jeden Generation sein und dass das Wissen um den Menschen anhand des aktuell zugänglichen Instrumentariums erfasst werden muss, gemäß dem Motto Alexander Popes: »The proper study of mankind ist man«80.

79 Vgl. Grzesiuk, Ewa: »Rauhe Tugend«. Die Revision des stoischen Tugendbegriffs bei Baumgarten und Meier. In: Studia Niemcoznawcze LXI (2018), S. 563–574. 80 Alexander Pope’s Versuch am Menschen, In vier Briefen an Herrn St. John Lord Bolingbroke. Aus dem Englischen übersetzt von Johann Jakob Harder. Hrsg. von Herrn Kloß. Halle: Johann Jacob Curt 1772, S. 20 [Parallelausgabe deutsch-englisch]. In der Harderschen Übersetzung lautet dieser Satz folgendermaßen: »Erkenne dich nun selbst, laß ob, Gott auszuspüren,/Des Menschen Wissenschaft ist, Menschen zu studieren« (S. 21).

Nina Nowara-Matusik / Marek Krys´ (Katowice)

»Polen wieder erstehen lassen!« Bettina von Arnims Polenbroschüre in imagologischer Perspektive*

Abstract In der Forschung zu Bettina von Arnims Polenbroschüre besteht ein allgemeiner Konsens darüber, dass die Schriftstellerin ein durchaus positives Polenbild beschwöre und sich somit als eine der Letzten erweise, die sich in das im Umkreis der Polenlieder entstandene Paradigma der literarischen »Polenliebe« einschreibe, dessen Gegenpol die in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts entstehende deutsche Literatur der »Polenschelte« (R. Jaworski) darstelle. Und bei diesem Befund könnte man es ohne Weiteres belassen, wenn man sich dem Text nur aus der literaturhistorischen Perspektive annähern und ihn lediglich im politisch-historischen Diskurs der Zeit kontextualisieren würde. Die Frage nach dem Polenbild der Broschüre erfordert aber geradezu einen etwas anders gewichteten interpretatorischen Zugang, der implizit in der Fragestellung selbst enthalten ist und welcher von den neuesten Erkenntnissen der Imagologie Gebrauch macht. Eine imagologisch ausgerichtete Analyse des Essays wird es nämlich ermöglichen, einen differenzierteren Blick auf von Arnims Polendiskurs zu werfen und ihren Umgang mit populären deutschen (»polnische Wirtschaft«) und polnischen (»der romantische Messianismus«) Auto- und Heterostereotypen etwas genauer zu beleuchten.

1.

Einige methodologische Vorüberlegungen

Stellt man die Frage nach Bettina von Arnims Polenbild, das sie in ihrer als »Polenbroschüre« bekannten Schrift »An die aufgelös’te Preußische NationalVersammlung. Stimmen aus Paris« (1849) kreiert hat, betritt man unweigerlich das Feld der Imagologie – einer verhältnismäßig jungen akademischen Disziplin, die sich erst nach dem 2. Weltkrieg in Frankreich als ein Bereich der Geisteswissenschaften etabliert hatte. In dieser in die 50er Jahre des 20. Jahrhunderts fallenden Entwicklungsphase der Imagologie war sie jedoch stark * Die nachfolgenden Ausführungen beziehen sich zum Teil auf das Buch: Nowara-Matusik, Nina/Krys´, Marek (Hg.): Bettina von Arnim: O Polsce. Katowice: Wydawnictwo Uniwersytetu S´la˛skiego 2018, sowie auf einen in der englischen Sprache verfassten Beitrag »Bettina von Arnim and her Writings on Poland«, der erst zum Druck vorbereitet wird.

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Nina Nowara-Matusik / Marek Krys´

ideologisch geprägt und allen voran an der Erforschung eines essenziell aufgefassten Charakters oder »der Seele« der anderen Nation interessiert. Seit dieser Zeit haben sich jedoch ihr Profil, ihre Ziele und Untersuchungsmethoden wesentlich verändert: Spart man die bekannte Kontroverse zwischen der amerikanischen (Ren8 Wellek) und der französischen (Jean-Marie Carr8) Schule aus, so lässt sich stark generalisierend sagen, dass die französische Schule verhältnismäßig schnell der deutschen Schule weichen musste, für welche stellvertretend Hugo Dyserinck und sein Aachener Programm stehen. Auch wenn Dyserinks Ansatz bereits mehrere Nachfolger (und selbstverständlich Widersacher) gefunden hat und die gegenwärtige Imagologie in einen eigenartigen Konkurrenzkampf mit einer Reihe verwandter Disziplinen und Forschungsrichtungen (wie etwa interkulturelle Germanistik oder historische Stereotypenforschung) getreten ist, bleiben Dyserincks Erkenntnisse immer noch aktuell und lassen sich gerade im Rahmen einer literaturwissenschaftlich orientierten Untersuchung bestens anwenden. In aller Kürze lässt sich sagen, dass Dyserinck zufolge die Hauptaufgabe der Imagologie in der Untersuchung der Bilder von anderem Land in literarischen Werken besteht1: dies resultiert dabei nicht nur aus seiner Überlegung, dass es ja einfach literarische Werke gibt, in denen solche Bilder zu finden sind, sondern auch aus der Tatsache, dass jene Bilder sehr oft eine textimmanente Rolle spielen.2 Auch wenn sich dabei imagologische Arbeiten eines von einer anderen Disziplin ausgeliehenen Instrumentariums bedienen (man denke etwa an die soziologischen Termini Autostereotyp und Heterostereotyp), so besteht gegenwärtig ein allgemeiner Konsens darüber, dass der Gegenstand der heutigen Imagologie nationale Eigen- (autoimages) und Fremdbilder (heteroimages) sind3, deren Untersuchung auf der Basis eines literarischen Textes erfolgen soll.4 Manfred Beller fasst es wie folgt zusammen: »Das komplexe Verhältnis zwischen [Bildern vom Selbst und den Bildern vom Anderen] bildet ein wichtiges Segment der literarischen Imagination. Die Darstellung seiner Wirkung und Funktion im ästhetischen, literarischen, historischen, kulturellen 1 Vgl. Dyserinck, Hugo: Zum Problem der ›images‹ und ›mirages‹ und ihrer Untersuchung im Rahmen der Vergleichenden Literaturwissenschaft. In: arcadia. Zeitschrift für Vergleichende Literaturwissenschaft, Nr. 1, 1966, S. 107–120. (Zugriff am 17. 03. 2016). 2 Vgl. ebd. 3 Daher ist es verwunderlich, wenn man in manchen Beiträgen von »sog. imagologischen Arbeiten« liest. Siehe z. B.: Heuckelom, Kris van: Złodzieje i złote ra˛czki. Polskie stereotypy w Niderlandach. In: Postscriptum Polonistyczne, 2008 1 (1), S. 101–114, hier S. 102. Alle Übersetzungen aus dem Polnischen, wenn nicht anders vermerkt, kommen von den Autoren des vorliegenden Beitrags. 4 Wis´niewska, Lidia: »Stoffgeschichte«, imagologia i konstruktywistyczne uprawomocnienia komparastyki. In: Wiek XIX: Rocznik Towarzystwa Literackiego imienia Adama Mickiewicza, 4 (46)/2011, S. 233–244, hier S. 243.

Bettina von Arnims Polenbroschüre in imagologischer Perspektive

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und gesellschaftlich relevanten Zusammenhang ist Aufgabe der Imagologie.«5 Die Verdienste der Aachener Schule und ihrer Nachfolger in der Erforschung der literarischen Bilder des eigenen und fremden Landes sind unbestritten; ihr größter Nachteil besteht jedoch wohl darin, dass trotz ihres breit angelegten Forschungsprofils der Forschungsfokus im Grunde ziemlich begrenzt war : Die Textkorpora entstammten meist dem deutsch-französischen-englischen Raum, während andere Räume, darunter vor allem Ost- und Südeuropa, kaum wahrgenommen wurden. Daher scheint es berechtigt und notwendig zu sein, von Dyserinks Ansatz ausgehend eben jene Sprach- und Kulturräume – und speziell Polen – ins Blickfeld der Reflexion zu rücken. Dabei darf allerdings die Entwicklung, die die Imagologie bis dato durchgemacht hat, nicht außer Acht gelassen werden. Wie Michaela Voltrov# meint, habe sich die heutige Imagologie von einer (Sub)disziplin zu einer Methode entwickelt.6 Eine solche Diagnose ist ohne Zweifel richtig, sie bedarf aber noch eines Kommentars: Im Falle der Imagologie handelt es sich nämlich nicht nur um eine Methode, sondern auch um eine bestimmte Lesart, die für die stereotypisierten, nationalen Eigen- und Fremdbilder, welche man als historisch-politische, quasi konstante Variablen definieren kann, sensibilisiert ist und dabei nach ihrer Eigenart und Funktion in dem jeweiligen (literarischen) Text fragt, wobei der Text nicht als ein ahistorisches Sprachgebilde betrachtet wird, sondern als Produkt eines Autors und seiner Zeit. Eine solche Lektüre kann daher den außerliterarischen Kontext nicht ausschließen, denn, wie Lidia Wis´niewska behauptet, »imagologische Arbeiten (ähnlich wie thematologische) aktualisieren eine außerhalb des bloß Literarischen liegende Perspektive und verlangen so ihre Einbettung in einen größeren, z. B. einen soziologischen oder historischen, Zusammenhang.«7 Eine derart ausgerichtete Lektüre soll im Folgenden an der eingangs erwähnten »Polenbroschüre« Bettina von Arnims exemplifiziert werden.

2.

Der historische Kontext der »Polenbroschüre«

Unter den zahlreichen deutschen Staaten des 19. Jahrhunderts (vor der Vereinigung Deutschlands 1871) hatte Preußen den engsten Kontakt zum damals nicht existenten Polen, auch indem es ab 1772 einen Teil der polnischen Gebiete 5 Beller, Manfred: Das Bild des Anderen und die nationalen Charakteristiken in der Literaturwissenschaft. In: Eingebildete Nationalcharaktere. Vorträge und Aufsätze zur literarischen Imagologie. Hrsg. von Elena Agazzi. Göttingen: V& R unipress 2006, S. 21–46, hier S. 21. 6 Voltrov#, Michaela: Geschichte der komparatistischen Imagologie aus dem Blickwinkel des 21. Jahrhunderts. In: Deutsch ohne Grenzen. Deutschsprachige Literatur im interkulturellen Kontext. Hrsg. von Jürgen Eder/Zdeneˇk Pecka. Tribun EU 2015, S. 193–200, hier S. 198. 7 Wis´niewska, »Stoffgeschichte«. 2011, S. 241.

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besetzte. Trotz der angespannten politischen Situation, die sich aus den Unabhängigkeitsbestrebungen Polens ergab (Novemberaufstand 1830–1831, Großpolnischer Aufstand 1848), erschien in Preußen und vor allem in Berlin eine relativ große Gruppe von Menschen aus der Intelligenz, die mit Polen sympathisierte. Dazu gehörten der Schriftsteller und Diplomat Karl August Varnhagen von Ense (1785–1858) mit seiner als SalonniHre bekannt gewordenen Frau Rahel (1771–1833), der Jurist und Historiker Eduard Gans (1797–1839), der Schauspieler Ludwig Devrient (1784–1832), der Schriftsteller E.T.A. Hoffmann (1776– 1822), der Dramatiker Christian Dietrich Grabbe (1801–1836), der Jurist und Schriftsteller Karl Köchy (1799–1880), der Dichter Friedrich von Uechtritz (1800–1875), Personen aus dem Umkreis des literarischen Salons Elise von Hohenhausens (1812–1899)8 oder die Schriftstellerin Bettina von Arnim (1785– 1859). In ihrer als »Polenbroschüre« bekannt gewordenen Schrift »An die aufgelös’te Preußische National-Versammlung. Stimmen aus Paris«, die im Januar 1849 erschien, verweist Bettina von Arnim auf Ereignisse, die sich seit 1846 im preußischen Großherzogtum Posen ereignet hatten, und auf deren Folgen. Bereits in der zweiten Hälfte von 1845 erhielten die preußischen Behörden allgemeine Informationen über einen geplanten Aufstand in Großpolen, was zur Stärkung der Streitkräfte und zu zahlreichen Verhaftungen führte, darunter am 12. Februar 1846 von Ludwik Mierosławski, einem wichtigen Mitglied der Polnischen Demokratischen Gesellschaft (Towarzystwo Demokratyczne Polskie, TDP), der Pläne für den Aufstand bei sich hatte, und zwei Tage später einiger Dutzend weiterer führender Aktivisten, was die Erfolgsaussichten des Aufstandes zerstörte, wenngleich bewaffnete Zusammenstöße stattfanden. Als Ergebnis dieser Ereignisse wurden im preußischen Teilungsgebiet etwa eintausend Menschen Ermittlungen unterzogen, von denen mehr als sechshundert verhaftet wurden, weitere Repressionen richteten sich gegen polnische Wirtschafts- und Kultureinrichtungen, polnische Lehrer wurden aus den Gymnasien entfernt, die Zensur wurde verschärft, das Kriegsrecht – eingeführt und die Ansiedlungsaktion – wieder aufgenommen.9 Wesentliche Fragmente der »Polenbroschüre« beziehen sich auf den so genannten Berliner Polenprozeß, der zwischen dem 2. August und dem 17. September 1847 stattfand, und 254 des Hochverrats beschuldigte Personen wurden vor Gericht gestellt. Während der Ermittlungen machte Mierosławski (später 8 Vgl. Pufelska, Agnieszka: Zwischen Ablehnung und Anerkennung. Das polnische Berlin im widerspruchsvollen 19. Jahrhundert. In: Berlins 19. Jahrhundert. Ein Metropolen-Kompendium. Hrsg. von Roland Berbig/Iwan-M. D’Aprile/Helmut Peitsch/Erhard Schütz. Berlin: Akademie-Verlag 2011, S. 29–47, hier S. 41. 9 Vgl. Zdrada, Jerzy : Historia Polski 1795–1914. Warszawa: Wydawnictwo Naukowe PWN 2007, S. 348.

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widerrufene) ausführliche Aussagen über die Organisation und die Ziele des Aufstandes, die die Verschwörer von Posen belasteten, und erklärte dies mit dem Wunsch, die deutsche Gesellschaft darauf aufmerksam zu machen, dass der Aufstand gegen Russland auch im Interesse Deutschlands lag (wofür er von Arnim kritisiert wird). Der polnische Aktivist spielte eine besondere Rolle in dem Prozess, der in Deutschland großes öffentliches Interesse fand und über den in der Presse berichtet wurde. Mierosławski selbst wurde dabei wie folgt beschrieben: »Der Eindruck, welchen er durch seine ganze Erscheinung, blos durch seine feine äußere Persönlichkeit, selbst bei Denen hervorbrachte, welche kein Wort verstehen konnten, war außerordentlich und vielleicht nie dagewesen zu nennen. Es waren Momente voller Tragik. Vielen der Mitangeklagten rannen die Thränen über das Angesicht, auch im Publicum zeigte sich die größte Bewegung.«10

Während des Berliner Prozesses bat Bettina von Arnim um Gnade vor allem für Mierosławski, mit dem sie korrespondierte. In seiner Angelegenheit schrieb sie drei Briefe an Friedrich Wilhelm IV., die zusammen mit Anlagen, darunter die Verteidigungsrede Mierosławskis, über fünfzig Seiten umfassten. Ihre Bemühungen brachten jedoch keinen Erfolg, denn der König antwortete mit einem einzigen Brief, in dem er die Angeklagten Feiglinge und Lügner nannte.11 Mit dem Urteil vom 2. Dezember 1847 wurden 58 der 254 Angeklagten zum Tode verurteilt, darunter Mierosławski und sieben weitere, sieben zu lebenslanger Haft, sieben zu 25 Jahren Gefängnis, acht zu 20 Jahren und die Anderen zu kürzeren Haftstrafen (von 2 zu 8 Jahren Gefängnis).12 Wenige Monate später brach jedoch die Märzrevolution in Berlin aus, und eine der Forderungen der Revolutionäre war eine Amnestie für die Polen, die im Berliner Prozess verurteilt wurden, welche Friedrich Wilhelm IV. auch genehmigte. Mierosławski kehrte nach Großpolen zurück, von wo aus er einen Brief an die Schriftstellerin schrieb, dessen Inhalt von Arnim in ihrer Arbeit an der »Polenbroschüre« verwendete. Mierosławski schrieb dort über gebrochene Versprechungen, brutalen Verrat

10 Der Polenprozeß. Prozeß der von dem Staatsanwalte bei dem Königlichen Kammergerichte als Betheilgte bei dem Unternehmen zur Wiederherstellung eines polnischen Staats in Grenzen von 1772 wegen Hochverrats angeklagten 254 Polen, (in erster Instanz) verhandelt im Gebäude des Staatsgefängnisses bei Berlin. Hrsg. von Gustav Julius. Berlin: Verlag von A. W. Hayn 1848, Spalten 45–65, hier Spalte 59. 11 Vgl. Püschel, Ursula: Bettina von Arnim (1785–1859) – ihr politisches Engagement für Polen. In: Mein Polen… Deutsche Polenfreunde in Porträts. Hrsg. von Krzysztof Ruchniewicz/ Marek Zybura. Dresden: Thelem 2005, S. 137–172, hier S. 149f. 12 Vgl. Rakowski, Kazimierz: Powstanie poznan´skie w 1848 roku. Lwjw: Towarzystwo Wydawnicze 1900, S. 67.

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und schreckliche Grausamkeit, über Verbrechen an polnischen Bauern und das Brandmarken jener Gefangenen, die keinen Platz in Gefängnissen hatten.13 Diese Anschuldigungen betreffen jedoch die preußische Armee, denn die Amnestie der Verurteilten im Berliner Prozess wurde sicherlich durch das beispiellose Ausmaß der pro-polnischen Demonstrationen in Berlin herbeigeführt, bei denen etwa 100.000 Menschen »Lang lebe Polen!«, »Lang lebe die Freiheit!«, »Lang lebe Deutschland!« skandierten.14 Diese deutsch-polnische oder eher preußisch-polnische Eintracht erwies sich jedoch als sehr kurzlebig, denn nur wenige Monate später, am 27. Juli 1848, wurde während der Beratungen des wichtigsten Gesetzgebungsorgans, das auf der Erfolgswelle der Revolution entstand, der Frankfurter Nationalversammlung (zeitgenössisch auch constituierende Reichsversammlung oder Reichsparlament), beschlossen, dass ein Großteil des Großherzogtums Posen als deutsches Gebiet in den Deutschen Bund aufgenommen wird. Die Forderung nach Autonomie für das Großherzogtum Posen wurde damit abgelehnt und das Gebiet in die Provinz Posen umbenannt, was durch den fehlenden Eintrag über sein Bestehen in die preußische Verfassung vom 5. Dezember 1848 bestätigt wurde.15 Die Frage nach der Rolle der von Preußen besetzten polnischen Gebiete wurde damit politisch gelöst, während Bettina von Arnims Schrift einen Schwanengesang auf den den freiheitlichen Bestrebungen Polens förderlichen deutschen literarischen Diskurs der vorherigen beiden Jahrzehnte darstellt.

3.

Der deutsche literarische Diskurs über Polen in den Jahren 1830–1848/49

Die deutsche Literatur über Polen, die in dem Zeitraum 1830–1848/49, also in der Vormärzperiode, entstanden ist, steht ohne Zweifel unter dem Zeichen des Zeitgeistes, auf den sich wiederum historische Umbrüche und die sich verändernde politische Stimmung auswirkten. Wie Rudolf Jaworski ausführt, bewege sich die deutsche polenbezogene Literatur dieser Zeit zwischen zwei stark polarisierten Größen: der Polenliebe und der Polenschelte. Seiner Einschätzung nach verändere sich mit dem Umschlag der politischen Konjunktur auch die anfangs propolnische Gesinnung der Autoren und das Adjektiv »freiheitsliebend«, das die Bewunderung für die um ihre Freiheit kämpfenden Polen aus-

13 Vgl. Püschel, Bettina von Arnim (1785–1859). 2005, S. 155. 14 Vgl. Pufelska, Zwischen Ablehnung und Anerkennung. 2011, S. 40. 15 Vgl. ebd., S. 41.

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drückt, gehe fließend in das Epitheton »fanatisch« über.16 Zu dem ersten Typus der Literatur, die man auch als eindeutig propolnisch bezeichnen kann, gehören ohne Zweifel die sog. Polenlieder, Gedichte und andere literarische Werke deutscher Schriftsteller, die auf der Welle des Enthusiasmus der Deutschen für die um die Freiheit kämpfenden Novemberaufständischen verfasst wurden. Zu den typischen Motiven solcher Werke gehören: Polen als solches, polnische Landschaft, polnische Tugenden, polnische Geschichte, polnische Helden und Patrioten, die um die Unabhängigkeit Polens kämpfen. Und so flicht beispielsweise Ludwig Uhland in sein Gedicht »An Mickiewicz« (1833) eine Zeile aus der späteren Polenhymne ein (»Noch ist Polen nicht verloren«) (Ähnliches lässt sich übrigens in Bezug auf viele andere Autoren feststellen) und August von Platen lässt in seinem Gedicht »Wiegenlied einer polnischen Mutter« eine polnische Mutter sprechen, die ihr Kind in den Schlaf wiegend ihm die Erinnerung an den im »Heldenkrieg« gefallenen Vater einimpft, sowie das Verlangen nach Rache an dem an seinem Tod schuldigen russischen Zaren. Die Freiheitsbestrebungen der Polen fallen in dieser Zeit in Deutschland auf einen fruchtbaren Nährboden und werden zum »Symbol des Kampfes um eine breit aufgefasste Freiheit.«17 Die deutsche Literatur, die man mit der Etikette »Polenliebe« versehen kann, evoziert meistens ein stereotypes Bild des »edlen Polen«. Dieses Stereotyp, das sehr oft in der Begleitung der »schönen Polin« auftritt, eines damals ebenso weit verbreiteten Klischees der Polen, erreichte »den Höhepunkt seiner Popularität«18 eben in den 30. Jahren des 19. Jahrhunderts. Nach Igor Ka˛kolowski sei der »edle Pole« ein Reflex des verallgemeinernden Urteils der Deutschen über die Haltung der deutschen Insurgenten19, das Emblem eines edlen und stolzen Kriegers, der sich für das Rechte einsetzt; es handelt sich meistens um einen Mann von angenehmer und anziehender Statur, der den Damen gegenüber immer charmant ist und welchen Kühnheit und sogar Heldenmut auszeichnen.20 Die »schöne Polin« wird dagegen (in dieser Periode) meist als eine stolze, anmutige und sich ihrer Reize 16 Jaworski, Rudolf: Zwischen Polenliebe und Polenschelte. Zu den Wandlungen des deutschen Polenbildes im 19. und 20. Jahrhundert. In: Das Bild »des Anderen«. Politische Wahrnehmung im 19. und 20. Jahrhundert. Hrsg. von Birgit Aschmann/Michael Salewski. Stuttgart: Franz Steiner Verlag 2000, S. 80–89, hier S. 81. 17 Szyrocki, Marian/Cien´ski, Marcin: Sprawa polska w literaturze niemieckiej okresu 1830–1849. In: Literatura polityczna okresu Wiosny Ludjw w Austrii, Niemczech i Polsce. Hrsg. von Gerard Koziełek. Wrocław: Wydawnictwo Uniwersytetu Wrocławskiego 1986, S. 5–24, hier S. 8. [Germanica Wratislaviensia L]. 18 Płomin´ska-Krawiec, Ewa: Szlachetny Polak. In: Interakcje. Leksykon komunikowania polskoniemieckiego. (Zugriff am 22.05. 2019). 19 Ka˛kolewski, Igor : Od polnische Wirtschaft do polskiej gospodarnos´ci? Konfiguracje i kontynuacje niemieckich stereotypjw o Polakach od XVIII do pocza˛tkjw XXI wieku. In: Kultura Wspjłczesna, 1 (85), 2015, S. 88–99. 20 Płomin´ska-Krawiec, Szlachetny.

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bewusste Patriotin dargestellt. Das typische Bild eines edlen Polen, das gleichsam in der Apotheose der missbrauchten Unschuld mündet, findet man z. B. im Gedicht von Harro Harring, das seinem Buch »Der Pole« (1831) entstammt: Mein Schatz, der klirrt in Ketten, Er muß ein edler Pole sein. Ach könnt’ ich ihn doch retten; Wollt ihm mein Leben weih’n. Doch weil ich ihn nicht retten kann, So schau ich ihn am Brunnen an – Ich will um alles wetten, Er hat nie was Arg’s getan.21

Auf dem Gegenpol der unter dem Zeichen der Polenliebe stehenden Literatur befinden sich Texte, die sich in das Paradigma der Polenschelte einschreiben lassen. Die Tendenz zu einer hochmütig-herabwürdigenden Haltung gegenüber den Polen macht sich aber bereits in den Polenliedern bemerkbar, welche dem Zeitgeist gemäß immer mehr polenkritisch werden. Das Bild des Polen als Trunkenbold und Herumtreiber, der sich in einem Wirtshaus mit seinen Freunden amüsiert und den Augenblick genießt, skizziert z. B. Joseph von Eichendorff im Gedicht mit dem vielsagenden Titel »Der Polack« (1837): Der Polack Und komm’ ich, komm ich’ ohne Pelz, Mein’ Liebste fragt mich aus: »Wo hast Du lassen Deinen Pelz?« Und macht sich doch nichts draus. Da drüben ist gut Schnaps und Bier, Der Wirth bläst Klarinett, Da stritten wir, drei oder vier, Wer’s schönste Liebchen hätt’. Ich aber trank aus Deinem Schuh, Ließ meinen Pelz im Haus Und eine Handvoll Haar’ dazu, Ich mach’ mir gar nichts draus.22

Das Poem des oberschlesischen Romantikers veranschaulicht besonders eindrücklich das sich im deutschen Polendiskurs dieser Zeit immer weiter verbreitende Stereotyp der »polnischen Wirtschaft«. Dieses Heterostereotyp, des21 Harring, Harro: Der Pole. Ein Character-Gemälde aus dem dritten Decennium unseres Jahrhunderts. Zweiter Teil. Bayreuth: Grau 1831, S. 231. 22 Eichendorff, Joseph: Der Polack. In: Ders.: Gedichte. Norderstedt: Jazzybee Verlag Jürgen Beck, S. 156.

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sen Entstehung, Entwicklung und Perzeption Hubert Orłowski erforscht hat23, evoziert die Vision der Unordnung, des Chaos und der Anarchie, des Rückstandes und der Trunksucht, und dies sowohl im Privaten wie im Öffentlichen; es erscheint in der deutschen Literatur und im öffentlichen deutschen Polendiskurs in verschiedenen Konstellation eigentlich bis heute.24 Wie Orłowski ausführt, handelt es sich bei diesem Heterostereotyp um »eine Art Hegemonialdiskurs von organisierend-unterordnender Macht.«25 In solch einem Gewand tritt es z. B. in dem 1848 publizierten Pamphlet »Polenbegeisterung und Polenlärm« von Ernst Moritz Arndt auf, das sich eindeutig in das Paradigma der »Polenschelte« einschreibt. Der damals sehr populäre Literat bezeichnet die Polen als »leichtfertigen Wildfang« und »Wildlinge und Taugenichtse«26, welche nie im Stande sein werden, ihren Staat wiederherzustellen. Laut Gerhard Kosellek tut Arndt alle, »die sich für Polen einsetzten, leichtfertig als Unwissende, Narren und Schelme ab«27, sich selbst dabei als Vertreter einer »besseren« Nation positionierend.28 Arndts Polendiskurs beinhaltet also schon nationalistische Akzente, die in der deutschen Literatur immer öfter erscheinen und ihren Höhepunkt in Gustav Freitags bekanntem Roman »Soll und Haben« finden werden.

4.

Das Polenbild in der »Polenbroschüre«

Bettina von Arnims »Polenbroschüre« wird zwar in der Forschung bezüglich der deutsch-polnischen Beziehungen und des Polenbildes in der Literatur des Vormärz erwähnt, doch in der Regel beschränken sich die Forscher auf die Feststellung, dass die Schriftstellerin eine der letzten ist, die ein so eindeutig positives Bild von Polen zeichnet und dass sich ihre Aufmerksamkeit auf die Freiheitsbestrebungen der Polen richtet.29 Obgleich diese Diagnosen zweifelsfrei 23 Vgl. Orłowski, Hubert: Polnische Wirtschaft. Zum deutschen Polendiskurs der Neuzeit. Wiesbaden: Harrassowitz Verlag 1996. 24 Vgl. dazu: Jakosz, Mariusz: Wartos´ciowanie w internetowych komentarzach do artykułjw prasowych dotycza˛cych stosunkjw niemiecko-polskich. Katowice: Wydawnictwo Uniwersytetu S´la˛skiego 2016. 25 Orłowski, Hubert: Deutsche Liberale und polnische Demokraten: eine gescheiterte »Interessengemeinschaft« des 19. Jahrhunderts? Zum kulturhistorischen Kontext von Bettine von Arnims »Polenbroschüre«. In: Internationales Jahrbuch der Bettina-von-Arnim-Gesellschaft. Bd. 15. Berlin 2003, S. 125–137, hier S. 128. 26 Arndt, Ernst Moritz: Polenlärm und Polenbegeisterung. Berlin 1848. (Zugriff am 22. 05. 2019). 27 Kosellek, Gerhard: Reformen, Revolutionen und Reisen. Deutsche Polenliteratur. Wiesbaden: Harrassowitz Verlag 2000, S. 381. 28 Vgl. ebd. 29 Płomin´ska-Krawiec, Ewa: Szlachetny Polak. In: Interakcje. Leksykon komunikowania polsko-niemieckiego. (Zugriff

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richtig sind, lohnt es sich dennoch, einen genaueren Blick auf den Text der Schriftstellerin zu werfen, da sie das für uns interessante Problem nicht vollends erschöpfen. Bei einer solchen Forschungshandlung sollte man vor allem in Betracht ziehen, dass in Bettinas Essay ein Kollektivsubjekt auftritt: Es sind die Polen selbst, die sich nach dem Scheitern des Aufstandes in Großpolen nun im französischen Exil aufhalten und ihre Bitten um Hilfe für ihre Sache an »Frau Bettina von Arnim« richten. Dabei ist jedoch offensichtlich, dass hinter diesem Subjekt die Schriftstellerin selbst und ihre Überzeugungen stehen, die eine spezifische Maskierungsstrategie anwendet, um die Zensur zu täuschen. Das Polenbild wird daher gewissermaßen auf Umwegen geschaffen, durch scheinbare Selbstcharakteristik, in der Heterostereotype über Polen als angebliche Autostereotype dargestellt werden. Diese narrative Strategie anwendend, setzt sich die Autorin zunächst mit dem Stereotyp der polnischen Wirtschaft auseinander : »Seht es stehen die Scharfrichter an der Spitze der Legionen und legen Hand an, und würgen die Freiheit, wie sie lange schon an uns sich dazu eingeübt haben. Und nennen sie uns ein zerrissenes kampfverwildertes Volk! – treulos, übermütig, ohne Sitte und Gesetz, ausschweifend, das sein Schicksal verdient!«30 (S. 150)

Die im weiten Bedeutungsfeld des Stereotyps der »polnischen Wirtschaft« befindlichen Laster – Rohheit, Sittenlosigkeit, Unmoral, Anarchie –, die traditionell den Polen zugeschrieben werden, erweisen sich hier als Merkmale ihrer Feinde, der Länder, die sich selbst als außergewöhnlich gesetzestreu und »zivilisiert« betrachten.31 Eine besonders deutliche Umkehrung des Stereotyps der polnischen Wirtschaft findet sich jedoch auch in einem weiteren Fragment wieder : am 6. 07. 2019) sowie Szyrocki, Marian, Cien´ski Marcin: Sprawa Polska w literaturze niemieckiej okresu 1830–1849. In: Germanica Wratislaviensia L 1986, S. 5–24. 30 Bettina von Arnims Polenbroschüre. Im Auftrag der deutschen Akademie der Künste eingeleitet und herausgegeben von Ursula Püschel. Berlin (Ost): Henschelverlag 1954, S. 150. Im fortlaufenden Text wird aus dieser Ausgabe zitiert. 31 In ihren Überlegungen zum Stereotyp des »edlen Polen« kommt Izabela Surynt zu interessanten Schlussfolgerungen. Die Forscherin behauptet, dass dieses Stereotyp sowie das Stereotyp der »schönen Polin«, trotz ihrer scheinbar positiven Aussage, in der Konsequenz zur Entstehung negativer Polenbilder führen konnten, da sie das gleiche Herabwürdigungs- wie auch Komplimentierungspotenzial aufweisen. Darüber hinaus zeigt das Stereotyp des »edlen Polen« zahlreiche gedankliche Ähnlichkeiten mit dem in der Kolonialliteratur weit verbreiteten Bild des »edlen Wilden«. Vgl. Surynt, Izabela: Polen als Raum des ›Anderen‹ am Beispiel der deutschsprachigen Literatur der 1820er und 1830er Jahre. In: Romantik und Geschichte. Polnisches Paradigma, europäischer Kontext, deutsch-polnische Perspektive. Hrsg. von Alfred Gall/Thomas Grob/Andreas Lawaty/German Ritz. Wiesbaden: Harrassowitz Verlag 2007, S. 295–310.

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»[…] an die Volkskraft wendet sich unsere prophetische Mahnung, das Unrecht gegen die Polen mit dem Recht zu überwinden. – Dieses Recht üben und die eigenen Leidenschaften zu Gunsten dieses Rechtes in Banden halten, das ist die Erziehung des Volkes zur souveränen Macht!« (S. 165).

Wie aus dem Zitat hervorgeht, wollen die Polen – gemäß dem Stereotyp von Räubern, die im Chaos und in der Anarchie schwelgen –, einen Ausgleich für ihr Unrecht auf dem Weg des Rechts und der Rechtsstaatlichkeit. Man kann sich daher der These von Hubert Orłowski nicht anschließen, dass die Autorin die Tatsache der Existenz des Stereotyps der polnischen Wirtschaft im öffentlichen Diskurs über Polen aus ihrem Bewusstsein verdrängt hat.32 Nachdem von Arnim dieses Stereotyp dekonstruiert hat, geht die Schriftstellerin dann zum konsequenten Aufbau eines positiven Polenbildes über, in dem man mehrere konstitutive Elemente des Stereotyps eines »edlen Polen« erkennen kann. Dazu gehören unter anderem Stolz und Ehrgefühl: »Klagen mögen wir nicht, und trösten – o trösten werden wir uns nie, wir schämen uns des Daseins, unser Stolz verleugnet das tiefe Weh, und das versteht Ihr nicht, aber aus diesen Kümmernissen windet Ihr Euch keinen Ehrenkranz!« (S. 142f.); Und etwas weiter heißt es noch ausdrücklicher : »Wir sind stolz! Ein unauslöschlich Gefühl der Würde hält uns aufrecht vor unsern Tyrannen, daß wir nicht mit ohnmächtiger Bitte das Knie beugen vor ihnen, die uns Vergehen aufbürden und mit Lügen uns besudeln und Räubern uns zur Beute geben, die den Unschuldigen im Schlafe morden und Gründe dafür haben, so unnatürlich und grausam wie die Posener Beamten und Polenschergen selbst sie Euch zu verdauen geben!« (S. 152).

Insbesondere aber hebt die Schriftstellerin die Freiheitsliebe der Polen hervor, die in ihrer Interpretation sogar zum Rang eines Genies heranwächst: »Freiheit! Genius unseres Volkes, der Schmerz begeistert uns für dich! In unserem Elend trittst du höher und herrlicher vor uns auf! unbezwinglich durchdringen uns deine Schauer in unserem Sturz für alle Zeiten, mit dem wir die Freiheit der ganzen Menschheit verschütten! – Wir allein sind die eherne Mauer, an der ihre Feinde das Haupt sich zerschmettern! Wir sind die Krieger, vor denen sie fliehen! wenn wir nicht mehr sind – wenn wir unter dem Leichentuch der Freiheit begraben sein werden, welcher Damm wird dann dem Unflat wehren, in den die Ehre Deutschlands hinabsinkt« (S. 152).

Dieses positive Bild des Landes Polen und der Polen als Kämpfer für eine gerechte Sache und edle Patrioten (man beachte auch die Assoziation Polens mit 32 Orłowski, Hubert: Deutsche Liberale und polnische Demokraten: eine gescheiterte »Interessengemeinschaft« des 19. Jahrhunderts? Zum kulturhistorischen Kontext von Bettine von Arnims »Polenbroschüre«. In: Internationales Jahrbuch der Bettina-von-Arnim-Gesellschaft. Bd. 15. Berlin 2003, S. 125–137.

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dem in ein Leichentuch gehüllten und ins Grab gelegten Christus,) wird an anderen Stellen der »Polenbroschüre« jedoch noch weiter veredelt oder sogar idealisiert, und seine einzelnen Bestandteile bilden fast die Apotheose Polens als auserwählte Nation. Bettina scheint sich implizit auf die Idee des polnischen Messianismus zu beziehen, insbesondere auf seine romantische Variante. Wie allgemein bekannt, »war der sich in den 1840er Jahren formende polnische Messianismus eine Reaktion auf das Scheitern des Novemberaufstands von 1831, ein Versuch, den metaphysischen Sinn dieser Niederlage und ihres Platzes in der optimistischen Version der Geschichte zu erklären«33. Besonders populär wurden damals die Konzepte von Mickiewicz (»Polen als Christus der Völker«, »Totenfeier«, Teil III) und Słowacki (»Polen als Winkelried der Völker«, »Kordian«), die Polen eine besondere Rolle bei der Entwicklung der Menschheit verliehen. Und es war der Messianismus der polnischen Romantiker, der in der Geschichte dieser Idee die »vollkommenste Form«34 annahm. Es scheint, dass sich Reminiszenzen insbesondere an Mickiewiczs Variante des Messianismus auch in Bettinas Essay finden lassen. Als erstes derartiges Signal erscheint die kurze, aber äußerst aussagekräftige Phrase: »Polen wieder erstehen lassen! – wie königlich! – wie heldenreich!« (S. 141). Diese assoziative Gleichsetzung Polens mit dem auferstandenen Christus geht dabei mit der Notwendigkeit einher, ein Opfer zu bringen. Die Vorstellung, dass die Polen eine gequälte, verfolgte und unterdrückte Nation sind, erscheint in der Broschüre an mehreren Stellen: »So wie man uns Polen auf unserm Vaterlandsboden hin- und herverfolgt, so dürft ihr zum wenigsten die, welche diese den König beleidigende Schmach tausendfältig an uns übten, dem öffentlichen Urteil nicht entziehen!« (S. 149);

Und etwas weiter heißt es ähnlich: »Gerechtigkeit, Weisheit, Milde und Menschheitsbegeisterung aber wendet auf Polen, dem größten edelsten blutigen Opfer gereizter Ländergier seiner christlichen Schutzmächte […]« (S. 167).

Obwohl Polen hier als Opfer der »Besitzgier« seiner Nachbarn dargestellt wird, nämlich ihrer imperialistischen und damit durchaus bodenständigen Interessen – eine solche Darstellung hat also ihre rationale Begründung –, schreibt die Schriftstellerin diesem Opfer einen höheren, beinahe teleologischen Sinn zu: »Es muß ein Zweck sein, dem alle diese Opfer fallen. Die Freiheitssonne muß das Schlechte verwesen, um das Bessere erzeugen zu können. Wo würde das Heldentum 33 Vgl. (Zugriff am 15. 03. 2019). Eigene Übersetzung. 34 Kostkiewiczowa, Teresa: Mesjanizm. In: Słownik terminjw literackich. Hrsg. von Janusz Sławin´ski. Wrocław, Warszawa, Krakjw: Zakład Narodowy im. Ossolin´skich – Wydawnictwo 2002, S. 298–299, hier S. 298. Eigene Übersetzung.

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vergangener Zeiten wieder erstanden sein in Italien, wenn nicht die Tyrannei es zur Auferstehung rief« (S. 158).

Dieser Eindruck – der beinahe mystischen Verflechtung des Schicksals Polens mit dem Schicksal der ganzen Welt – wird durch die Gestalt des an einer anderen Stelle erwähnten Leviathans verstärkt – eines biblischen Monsters, das unter anderem in der Offenbarung des Johannes erscheint – der in der »Polenbroschüre« zur Verkörperung der feindlichen Absichten Russlands wird: »Seht! – auf länderräuberischen Wogen den russischen Leviathan heranbrausen, und vom Vaterland abgerissene Schollen eine nach der anderen ihm zuströmen!« (S. 151). All diese Leiden treffen Polen nicht zufällig: »Wie Ungarn und Italien die politischen Wendepunkte in großer Umfassung vorbereitet, so wird auch Polen der Anlaß werden zu ungeheuren Schicksalswendungen der Dynastien von ganz Europa« (S. 146). Gemäß der Idee des Messianismus von Mickiewicz erscheint Polen in Bettinas Vorstellung als ein Land, aus dem ein freiheitlicher Impuls hervorgehen wird, der andere Nationen anzieht. Die Schriftstellerin erklärt das Schicksal Polens also nicht nur aus historisch-politischer, sondern auch aus messianischer Sicht, indem sie das Opfer zeigt, welches ein von den Teilungsmächten gespaltenes Land als Voraussetzung für die Wiederherstellung der Bruderschaft und Solidarität unter den Völkern Europas bringen muss, mit denen das Schicksal Polens eng verflochten ist, und vor allem als Voraussetzung für die Erlangung der Freiheit. Das durchaus romantische Konzept Polens als auserwählte Nation, das beinahe wichtigste Autostereotyp des Polen, dessen Echo sogar in die Gegenwart reicht, wird so zum charakteristischsten Element der von Bettina skizzierten Vision Polens und damit auch zu einer Differentia specifica, einem eigentümlichen Unterschied, der sie vor dem Hintergrund des zeitgenössischen deutschen Diskurses über Polen hervorhebt. Die »Polenbroschüre«, die auf aktuelle politische Ereignisse reagiert, gewinnt damit einen supranationalen, wahrhaft romantischen Geist, der sich an der Kreation gedanklicher und künstlerischer Utopien ergötzt.

Yvonne Nilges (Eichstätt)

Götter, Helden und Nietzsche: Über Geist und Buchstabe in den Dada-Avantgarden Zürich und Berlin »Aber gerade dem Helden ist das S c h ö n e aller Dinge Schwerstes. Unerringbar ist das Schöne allem heftigen Willen.« (Friedrich Nietzsche, »Also sprach Zarathustra« [1884])1

Abstract Dieser Artikel behandelt den deutschsprachigen Dadaismus (1916–1920) im Kontext der zeitgenössischen Nietzsche-Rezeption. Wissensordnungen des Helden, Diskurse performativer Körperlichkeit, Simultan-, Laut- und Buchstabengedichte kennzeichnen die Avantgarde-Praktiken der Dadaisten. Davon ausgehend beeinflusst die (literarische) Materialität Aufwertungen des künstlerischen Produktionsverfahrens im weiteren Verlauf des 20. Jahrhunderts: Simultanparadigma, Montagetechnik, Aktionskunst, das neu konnotierte »Gesamtkunstwerk«, hybride Medialisierungen im Medien-Dispositiv usw. Auch kulturwissenschaftliche Positionen werden durch partielle Analogien zum Poststrukturalismus bereits antizipiert.

I. Die folgende Analyse gilt dem Zürcher und Berliner Dadaismus (1916–1920) im Diskursfeld der zeitgenössischen Nietzsche-Nachfolge. In Anlehnung an Goethes Farce »Götter, Helden und Wieland« (1774) auf der einen und Fichtes Aufsatz »Über Geist und Buchstab in der Philosophie« (1795) auf der anderen Seite verweisen der Titel und der Untertitel dieser Untersuchung dabei auf zwei zentrale Phänomene, die einander wechselseitig bedingen: das neue, quasireligiöse Heldenwissen der Jahrhundertwende (auf der Basis der Subjektkrise) sowie neue, intermediale Schreib- und Darstellungsweisen, die Literatur, darstellende Kunst und bildende Kunst (und hier zumal die künstlerische Druckgrafik als Folge der Sprachkrise) miteinander kombinieren.

1 Nietzsche, Friedrich: Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe in 15 Bänden. Hrsg. von Giorgio Colli und Mazzino Montinari. München: dtv 1999. Bd. 4, S. 152.

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Quasireligiöse Heldenkonzepte2 stellen, mit Bourdieu zu sprechen, ein »symbolisches Kapital« für Kunstschaffende um 1900 dar : Vgl. z. B. die virulente literarische und musikalische Rezeption biblischer Stoffe sowie des Heiligen Sebastian, des Renaissance-Bußpredigers Savonarola oder auch Richard Strauss’ sinfonische Dichtungen »Also sprach Zarathustra« (1896) und »Ein Heldenleben« (1899). In einem Zeitraum von wenigen Jahrzehnten (ca. 1890 bis ca. 1920) nimmt diese neue künstlerische Verbindung von Heldentum und Heiligung, deren breites Spektrum von kunstreligiös-ästhetizistischen Formen bis hin zum anderen Extrem, der ›Kunst der Kunstlosigkeit‹ reicht, eine herausragende künstlerische Stellung ein. Im interdisziplinären Gesamtzusammenhang handelt es sich hier um ein noch immer zentrales Forschungsdesiderat, wobei die quasireligiösen Heroismen der Jahrhundertwende stets auf eine intensive, selektive künstlerische Rezeption Richard Wagners und/oder Friedrich Nietzsches zurückzuführen sind. Literarisch markant finden wir sie z. B. beim frühen Thomas Mann vor (der sowohl auf Wagner als auch Nietzsche komplex rekurriert),3 bei Stefan George, Elsa Bernstein, Else Lasker-Schüler, Georg Kaiser usw.; musikalisch neben Richard Strauss z. B. bei Franz Schreker, Gustav Mahler, Hans Pfitzner usw. – und auch, wie im Folgenden zu zeigen sein wird, in der die Einzelkünste sprengenden Kunst-Leben-Vermischung der Dada-Avantgarden Zürich und Berlin. Während die traditionelle, christliche Darstellung sakralisierter Helden – anders als bei griechischen Heroen – zur Verklärung neigte (vgl. die Postfigurationen Christi im barocken Märtyrerdrama), bieten quasireligiöse Heroismen um 1900 formal und gehaltlich eine Fülle an Erscheinungsformen, subtilen oder auch direkten psychologisch motivierten Brüchen, Leerstellen sowie ästhetischen Kontrasten. Auch apokalyptische, nihilistische und anarchische Darstellungsweisen, die gleichwohl in einem religiös aufgeladenen Kontext erfolgen, sind für dieses rivalisierende neue Heldenwissen in den Künsten um 1900 charakteristisch. Ggf. können politische Implikationen von dort ausgehend 2 Den Terminus der »Quasi-Religionen« hat der Theologe und Religionsphilosoph Paul Tillich eingeführt. In quasireligiösen Praktiken, so Tillich, schlage »die Kritik der traditionellen Religionen« im Zuge der Säkularisierung um »in alternative Formen der Religiosität«. – Tillich, Paul: Das Christentum und die Begegnung der Weltreligionen. In: ders.: Gesammelte Werke. Hrsg. von Renate Albrecht. Stuttgart: Evangelisches Verlagswerk 1959–1973. Bd. 5, S. 51. Zu »Quasi-Religionen« um 1900 aus geschichtswissenschaftlicher Sicht vgl. auch Nipperdey, Thomas: Religion im Umbruch. Deutschland 1870–1918. München: C.H. Beck 1988. 3 Vgl. hierzu eingehend Nilges, Yvonne: Unendliche Werkheiligkeit? Kunstreligion in Thomas Manns frühen Erzählungen und »Fiorenza«. In: Unendlichkeit. Transdisziplinäre Annäherungen. Hrsg. von Christoph Böttigheimer und Ren8 Dausner. Würzburg: Königshausen & Neumann 2018, S. 239–255; ferner, im Hinblick auf die literarische Rezeption Richard Wagners: dies.: Wagner in Literature. In: The Cambridge Wagner Encyclopedia. Hrsg. von Nicholas Vazsonyi. Cambridge: Cambridge University Press 2013, S. 650–654.

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bedeutsam werden (was, mit Marcel Duchamp zu sprechen, der »Anartist« im Berliner Dadaismus exemplifiziert).4 Immer allerdings werden im Zuge der quasireligiösen Heroismen genuin religiöse Motive in einen neuen, ursprünglich nicht religiös besetzten oder aber seit der Romantik abweichend tradierten religiösen Kontext übertragen. Der offene oder latent zutage tretende, ggf. leidende und vom Opfergedanken durchdrungene »Wille zur Macht«, Selbst- und Fremdstilisierung sowie differenzielle Gouvernementalität, die u. U. auch regressiv auftreten kann, sind wesentliche Elemente dieser variantenreichen neuen Heldenkonzeptionen im künstlerischen Wettbewerbsdispositiv um die Jahrhundertwende.5 Existentiell für das literarische Feld wie für die anderen Künste ist dabei die semantische Evolution des Wortes »Held«, das um 1900 mit traditionell christlichen Konnotationen aufgeladen ist, diesen jedoch nicht entspricht, indem es entsprechende Assoziationen subvertiert oder auch sprengt. Wurden Helden traditionell als ähnlich wie (ein) Gott verstanden, so ist um 1900 durch den epochalen Einfluss Wagners und/oder Nietzsches ein eklatanter Wechsel zu beobachten: Der Held ähnelt (einem) Gott nunmehr nicht länger nur, er substituiert ihn. Dies kann als ›Suche nach dem verlorenen Gott‹ im Zuge des von Nietzsche diagnostizierten Todes Gottes geschehen (vgl. das berühmte »Gott ist tot«-Zitat im Aphorismus 125 der »Fröhlichen Wissenschaft« [1882]); in diesem Fall liegt ein neuer Sinnstiftungsversuch in der künstlerischen Konstruktion von Transzendenz zugrunde, eine ›Konkurrenz‹ zu Gott auf der spirituellen Suche nach der Konvergenz mit ihm (so etwa auch bei Hugo Ball im Zürcher Dadaismus). Das andere Extrem dokumentiert der Berliner Dadaismus, wo die »transzendentale Obdachlosigkeit« der Klassischen Moderne6 vitalistisch affirmiert und zelebriert wird: als charismatisches, performatives, ultimativ ›erlösendes‹ Heldentum, das dem entstehenden Medien-Dispositiv auch im quasireligiösen Personenkult korrespondiert. Für den Dadaismus bleibt Richard

4 Bergius, Hanne: Das Lachen Dadas. Die Berliner Dadaisten und ihre Aktionen. Gießen: Anabas 1989, S. 11. 5 Quasireligiöse Heroismen waren zuvor sowohl bei Wagner als auch bei Nietzsche zur Conditio sine qua non geworden. Während Wagner beide Komponenten allerdings mythisch bejahte, wurden sie bei Nietzsche späterhin zum Anlass ausgeprägter Reibung. Nietzsches Geschichtsbild (hier insbesondere das heroische der monumentalischen Historie), seine ›Theothanatologie‹, seine postulierte Umwertung der Werte, seine Konzepte des asketischen Priesters, des Übermenschen, des Gekreuzigten usw. ermöglichten in ihrer Entwicklung von metaphysisch-ästhetischen Betrachtungen über den Perspektivismus der doppelten Optik bis hin zu den sogenannten ›Wahnsinnszetteln‹ eine außerordentliche, überaus differenzierte künstlerische Resonanz. 6 Luk#cs, Georg: Die Theorie des Romans. Ein geschichtsphilosophischer Versuch über die Formen der großen Epik. Berlin: Cassirer 1920, S. 23f.

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Wagners Musikdrama ohne Bedeutung; desto zentraler ist für die Dada-Avantgarden der Einfluss Friedrich Nietzsches. Der Begriff »Avantgarde« stammt aus der französischen Militärsprache und bezeichnet dort denjenigen Truppenteil, der als erstes vorrückt. Radikalität ist immer Avantgarde-typisch – insofern, als jeder Avantgarde die Provokationen einer »Umwertung der Werte« eigen sind. Künstlerische Avantgarden entfalten eine Eigendynamik steter Überbietung, und der Dadaismus entspricht den »avantgardetypischen Verschiebungen von der Welt- zur Sprachreferenz und von der Kunstautonomie zur Kunst-Leben-Vermischung«;7 dies jedoch in einer bisher unbekannten und unerhörten Intensität, die in einem der zahlreichen dadaistischen Manifeste als »Letzte Lockerung« des Zeitgeists propagiert wurde.8 Dada war eine internationale Bewegung mit verschiedenen Zentren, deren bedeutendste wir in Zürich, Berlin und Paris lokalisieren. Ihre Blütezeit im deutschsprachigen Raum, um die es uns im Folgenden zu tun ist, erfuhren die Dada-Avantgarden zunächst in Zürich (ab 1916) und im Anschluss daran (ab 1918) in Berlin. Was ist Dada? Eine klare, zusammenhängende Definition liegt weder vor, noch war sie von den Dadaisten intendiert. Dies entspricht der unsystematisch gehaltenen Philosophie Nietzsches und dem neuen Primat der Materialität: Die Methode der künstlerischen Herstellung, d. h. die Produktionsform, wird auch in den Dada-Avantgarden ausschlaggebend und ersetzt konventionelle Maßstäbe – ähnlich wie in anderen künstlerischen Avantgarden (vgl. z. B. auch den Paradigmenwechsel Tonaltiät/Atonalität in der Musik um die Jahrhundertwende). Es muss hier v. a. auch zwischen dem Zürcher und dem Berliner Dadaismus und einzelnen Vertretern der Bewegung differenziert werden, doch gibt es eine Trias, die den ›Neuen Menschen‹ in den diskursiven Praktiken des Dadaismus generell umschreibt: Spiel, Gelächter, Zufall. Den zentralen Bezugspunkt bildet erneut Nietzsche, in dessen moralkritischer Aphorismen-Sammlung »Jenseits von Gut und Böse« (1886) diese drei Hyperonyme vorgebildet sind: »Der europäische Mischmensch – ein leidlich hässlicher Plebejer, Alles in Allem – braucht schlechterdings ein Kostüm […]. Freilich bemerkt er dabei, das ihm keines recht auf den Leib passt, – er wechselt und wechselt. […] Aber der »Geist«, insbesondere der »historische Geist«, ersieht sich auch noch an dieser Verzweiflung seinen Vortheil: immer wieder wird ein neues Stück Vorzeit und Ausland versucht, umgelegt, abgelegt, eingepackt, vor allem s t u d i r t : – wir sind das erste studirte Zeitalter in puncto der »Kostüme«, ich meine der Moralen, Glaubensartikel, Kunstgeschmäcker und Religionen, vorbereitet wie noch keine Zeit es war, zum Karneval grossen Stils, zum 7 Engel, Manfred: Collage als Karnevalisierung. Schwitters’ Merzkunst. In: Bachtin im Dialog. Festschrift für Jürgen Lehmann. Hrsg. von Markus May und Tanja Rudtke. Heidelberg: Universitätsverlag Winter 2006, S. 271–295, hier S. 290. 8 »Letzte Lockerung« lautet der Titel des dadaistischen Manifests von Walter Serner (1920).

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geistigsten Fasching-Gelächter und Übermuth, zur transscendentalen Höhe des höchsten Blödsinns und der aristophanischen Welt-Verspottung. Vielleicht, dass wir hier gerade das Reich unserer E r f i n d u n g noch entdecken, jenes Reich, wo auch wir noch original sein können, etwa als Parodisten der Weltgeschichte und Hanswürste Gottes, – vielleicht dass, wenn auch Nichts von heute sonst Zukunft hat, doch gerade unser L a c h e n noch Zukunft hat!«9

Die Krise als Kairos: An die Stelle traditioneller Wahrheits- und Erkenntnissuche tritt ein potentiell anti-essentialistisches Grundkonzept, Zirkulation und Enthierarchisierung lösen konventionelle Ordnungsmuster ab. Tatsächlich werden poststrukturalistische Positionen hier in nuce bereits antizipiert: das »Spiel der Spur«, mit Derrida zu sprechen,10 die Strukturalität der Struktur, die Subversion der Signifikation. Die Sprache wird infolge der Sprachkrise als eine »Double« avant la lettre aufgefasst:11 Eine in sich geschlossene, kohärente Bedeutung, ein stabiles Zugehörigkeits- und Sicherheitsbewusstsein existiert nicht mehr. Potentiell tritt die Differenz an die Stelle der Ästhetik: Statt der Synthese der Künste, wie sie im romantischen Gesamtkunstwerk das Ziel gewesen war, wird nun gegenteilig deren Fragmentierung, Trennung und Zersetzung in einer neu verstandenen Dialogizität erstrebt: eine Neusemantisierung des Gesamtkunstwerks, indem die Summe der Teile destruiert und stattdessen die Teile selbst nobilitiert werden. Die Aufwertung des künstlerischen Produktionsverfahrens wird im Dadaismus, wie wir noch sehen werden, experimentell bis ins Extrem gesteigert, so dass die Materialität der Sprache die diskursiven Formationen prägt – bis hin zum radikalen Zufallsprinzip in der maschinellen Entstehung von Gedichten (Dada Berlin). Anachronistisch gesprochen, kann in diesem Kontext ebenfalls – cum grano salis – Bachtins kulturwissenschaftliche »Karnevalszeit« geltend gemacht werden, die dem »Augenblick« verpflichtet ist.12 Auf den subjektiven Moment be-

9 Nietzsche, Sämtliche Werke. 1999, Bd. 5, S. 157. Richard Huelsenbeck, der sich zunächst im Zürcher Dadaismus engagierte, aufgrund von Differenzen später nach Berlin ging und dort eine tragende Rolle in der Berliner Dada-Avantgarde übernahm, hat das o. g. Nietzsche-Zitat als Motto in seinem Dada-Almanach von 1920 angeführt. 10 Derrida, Jacques: Die diff8rance. In: Postmoderne und Dekonstruktion. Texte französischer Philosophen der Gegenwart. Hrsg. von Peter Engelmann. Stuttgart: Reclam 1990, S. 76–113, hier S. 104. 11 Vgl. hierzu Kristeva, Julia: Bachtin, das Wort, der Dialog und der Roman. In: Texte zur Literaturtheorie der Gegenwart. Hrsg. von Dorothee Kimmich. Stuttgart: Reclam 1996, S. 334–348, hier S. 341. 12 Bachtin, Michail M.: Chronotopos [Formen der Zeit und des Chronotopos im Roman. Untersuchungen zur historischen Poetik]. Mit einem Nachwort hrsg. von Michael C. Frank und Kirsten Mahlke. 4. Aufl. Frankfurt/Main: Suhrkamp 2017, S. 186 und S. 131f.: Die »Ganzheit des […] Lebens [ist verloren]. Leben und Tod werden nun lediglich innerhalb der Grenzen eines abgeschlossenen individuellen Daseins wahrgenommen […], das zudem unter seinem

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zogen sind denn auch die Schreib- und Darstellungsweisen: Der Dadaismus bevorzugte literarische Kleinformen wie Kurzprosa und Lyrik, die entweder durch den mündlichen Vortrag (d. h. durch Rezitation) und/oder durch dynamische graphische Gestaltung inszeniert wurden. Da die dadaistische Prosa vornehmlich aus Manifesten und kleinen Gebrauchsformen wie Annoncen, Zeitungsmeldungen, Postkarten, Programmzetteln, Flugblättern usw. besteht, werden wir uns im Folgenden auf die dadaistische Lyrik konzentrieren: Simultangedichte, Lautgedichte,13 Zufallsgedichte, lyrische Collagen, Montagen usw.14 Dabei soll die Aufmerksamkeit v. a. drei exemplarischen, besonders radikalen Beispielen der Dada-Lyrik gelten: dem Simultangedicht (Dada Zürich), dem Lautgedicht (Dada Zürich) sowie dem Buchstabengedicht, das seinerseits wiederum klassifizierbar ist in optophonetische Gedichte und lettristische, d. h. Plakatgedichte (Dada Berlin). Die »Wortkunst« August Stramms, die in der expressionistischen Zeitschrift »Der Sturm« dominierte, wurde in den DadaAvantgarden Zürich und Berlin mithin noch weiter aufgespalten und experimentell bis hin zur kleinsten sprachlichen Einheit als Readymade genutzt. Kultur- und Kunstkonventionen werden im Dadaismus auf den Kopf gestellt, um Auge und Ohr zu überraschen, was bereits anhand der Stilmittel hervortritt, deren sich die Dadaisten im literarischen Bereich bedienten: Vom Paradoxon, der Paronomasie, der Ironie, der Pointe, der Aposiopese, der Hyperbel, der Stilmischung, von wechselhaften, arbiträren Bildern, entlarvendem Pathos, Sarkasmus und schroffen Antithesen über abrupte Wechsel von gefälliger und schockierender Diktion bis schließlich hin zur aggressiven Publikumsbeschimpfung (im Berliner Dadaismus) reichen die vielgestaltigen Variationen von Signifikanten in einem offenen System ohne stabile Signifikate. Der Begriff »Dada« seinerseits korrespondiert dieser Protest- und Verweigerungshaltung, die den triadischen Konnex von Spiel, Gelächter, Zufall in differenziellen Erscheinungsformen prägt. Der Ursprung des Begriffs ist ungeklärt; mehrere Dadaisten haben Anspruch auf die Namensfindung erhoben, und es existieren diverse Entstehungsversionen. Die Semantik des Lallwortes »Dada« erlaubt Assoziationen sowohl mit frühkindlichen Reduplikationen als auch mit inneren subjektiven Aspekt gefaßt wird. […] Die ganze Problematik ist in den Grenzen der individuellen und geschlossenen Lebensreihe konzentriert.« 13 Als Vorläufer dadaistischer Lautgedichte kann Christian Morgensterns Grotesklyrik der »Galgenlieder« (1905) angesehen werden. 14 Da über die Frage, wie Collagen von Montagen abzugrenzen seien, in der Literaturwissenschaft kein Konsens besteht, wird der Begriff »Collage« im Folgenden dort verwendet werden, wo der Bezug eines literarischen Textes zu dem französischen Verb »coller« (»kleben«) noch deutlich erkennbar ist. Der Begriff »Montage« wird entsprechend in allen anderen literarischen Fällen verwendet, die mit Prozessen des Auf-, An- und Zusammenklebens im eigentlichen Wortsinne nichts mehr gemein haben.

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onomatopoetischen Wörtern, mit fremdsprachlichen Sprachgebräuchen ebenso wie mit der Vermarktung zeitgenössischer Werbe- und Kosmetikprodukte.15 Mit anderen Worten: Dada sollte zugleich alles und nichts sein, woraus die diskursiven ›Leitdifferenzen‹ der Zürcher und Berliner Dada-Avantgarden sich jeweils konstituierten. Die divergenten Diskursstrategien betreffen sowohl die Schreibweisen als auch deren künstlerische Darstellung im quasireligiösen Helden-Habitus.

II. Dada Zürich entstand 1916 im und als Reaktion auf den Ersten Weltkrieg. Seine Vertreter waren allesamt desillusionierte Exilanten, und als kennzeichnend für diese Frühphase des Dadaismus sind ein ausgeprägtes Krisenbewusstsein und eine damit verbundene Sinnsuche zu konstatieren. Im Februar 1916 konstituierte sich das »Cabaret Voltaire«, das zum Zentrum der Zürcher Dadaisten werden sollte, indem es an die bereits bestehende Kabarett-Kultur in Paris, Berlin und München anknüpfte.16 Gut ein Jahr später, im März 1917, wechselten die Zürcher Dadaisten über in die »Galerie Dada«. Uns interessiert vor diesem Hintergrund das Gründungsjahr 1916, das zugleich den Höhepunkt bedeutete, mit seinem »Cabaret Voltaire«. Die Gedichte dieser frühen Phase zeichnen sich dadurch aus, dass, anders als bei manchen expressionistischen Lyrikern, z. B. Gottfried Benn, das umgebende Chaos nicht in eine poetische Bildersprache überführt wird; vielmehr illustrieren sie das an sein Ende gekommene Sprechen. Zweierlei wird dabei von besonderer Bedeutung. Es ist dies zum einen der Einfluss des musikalischen Bruitismus, wie er dem Futurismus eignete: »Bruit«, d. h. »Lärm«, »Geräusch« wurde integraler Bestandteil der dadaistischen Lyrik, indem Satz-, Wort- und Lautfetzen rhythmisch miteinander verbunden und 15 So hatte die zeitgenössische Firma Bergmann & Co. unter dem Markennamen »Dada« haarstärkendes Kopfwasser, Toilettenseifen und Zahnpflegemittel beworben, worauf Hugo Ball, der Hauptvertreter des Zürcher Dadaismus, anspielt, wenn er auf der ersten Dada-Soir8e 1916 verkündet: »Dada ist die Weltseele, Dada ist der Clou, Dada ist die beste Lilienmilchseife der Welt.« – Ball, Hugo: Eroeffnungs-Manifest, 1. Dada-Abend Zuerich, 14. Juli 1916. In: Dada Zürich. Texte, Manifeste, Dokumente. Hrsg. von Karl Riha. Stuttgart: Reclam 2016, S. 30. In Balls Tagebuch »Die Flucht aus der Zeit« lesen wir über die Bezeichnung: »Dada heißt im Rumänischen Ja Ja, im Französischen Hotto- und Steckenpferd. Für Deutsche ist es ein Signum alberner Naivität und zeugungsfroher Verbundenheit mit dem Kinderwagen.« – Ebd., S. 14 (Eintrag vom 18. April 1916). 16 Also an das »Chat Noir« (Paris), das »Überbrettl« (Berlin), die »Elf Scharfrichter« (München), aber auch an das »Neopathetische Cabaret« des Frühexpressionismus (Berlin). Auch der Wortführer der italienischen Futuristen, Marinetti, hatte 1913 ein Manifest zur »Verherrlichung des Variet8s« geschrieben.

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dissonante Geräusche sowie akustische Eindrücke unterschiedlichster Provenienz imitiert wurden. (Das dadaistische Simultangedicht wird darauf Bezug nehmen.) Zum anderen orientierte sich die dadaistische Lyrik in Zürich aber auch kunstgeschichtlich am Kubismus, wie Picasso und Georges Braque ihn im Zuge der Abstrakten Kunst begründet hatten: Gegenständliche Formen waren dort zu geometrischen Formen, zum Formen-Rhythmus geworden. Im Kubismus herrschen Flächen und Linien, von der Ganzheit abstrahierte Einzelelemente. (Dies suchte zumal Hugo Ball auf seine Lautlyrik zu übertragen.) Handlungsfragmente unterschiedlichster Observanz und unkonventionelle Bildassoziationen fügen sich in der Lyrik des Zürcher Dadaismus so zu einem Textarrangement, das stets auf Vortrag, Publikum und Inszenierung in der Kabarett-Situation ausgerichtet ist. Damit gehen zwar auch latente politische Implikationen einher, doch kein politischer Aktivismus. Es ist wesentlich, dass Dada Zürich sich einem solchen im geschützten Kabarett-Raum ganz bewusst entzog: Der Dadaist sei »ein kindlicher, donquichottischer Mensch, der in Wortspiele und grammatikalische Figuren verstrickt ist«, lesen wir bei Hugo Ball.17 Einen neuen Sinn zu finden mit noch nie dagewesenen Mitteln der Sprache – dort, wo die Sprache als Mittel der Sinnfindung versagt hatte: Das war das Ziel der Zürcher Dadaisten, die das Pathos durch Ironie ersetzen und eine neue Äquilibristik zwischen Ekstase und Melancholie erlangen wollten. In seinem Roman mit dem treffenden Titel »Nein und Ja« des Jahres 1923, der auf den Unwillen der Dadaisten, sich festzulegen, weist, rekurriert denn auch Otto Flake auf die Tradition der romantischen Ironie, die nach Friedrich Schlegel ja ein steter »Wechsel von Selbstschöpfung und Selbstvernichtung« sei: »Dada [Zürich – Y.N.] ist dasselbe wie einst die berühmte und wenig verstandene romantische Ironie – eine Aufhebung. Aufgehoben wird der Ernst, nicht nur des Lebens, sondern auch jeder auf dem Gebiet der Weltanschauung, der Literatur und Kunst gefundenen Idee.«18

Insofern kann – anders als die Lyrik des Berliner Dadaismus – die Lyrik von Dada Zürich, insbesondere aber diejenige Hugo Balls tatsächlich als Radikalisierung romantischer Ansätze verstanden werden; sie nähert sich ästhetischen Motiven und der Sehnsucht nach transzendentaler Entgrenzung von dieser Seite wieder an. »Was wir zelebrieren, ist eine Buffonade und eine Totenmesse zugleich«, so

17 Ball, Hugo: Die Flucht aus der Zeit. In: Dada Zürich: Texte, Manifeste, Dokumente. 2016, S. 25 (Eintrag vom 11. April 1917). 18 Flake, Otto: Nein und Ja. Roman. Hrsg. von Michael Farin. München: Renner 1982, S. 264f.

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Ball in seinem Tagebuch,19 und er vergleicht den dadaistischen Drang zum öffentlichen Aufritt mit dem Dandytum. In seinen Erinnerungen, deren Titel quasireligiöse Assoziationen birgt (»Unsern täglichen Traum…«), konkretisiert Hans Arp den ›Sinn aus Un-Sinn‹, der das kindlich-metaphysische Spiel-und Lach-Konzept von Dada Zürich prägte. Es wird deutlich, wie wenig der Zürcher Dadaismus – ungleich dem Berliner Dadaismus – mit poststrukturalistischen Prämissen im engeren Sinne gemein hat, da er nicht anti-essentialistisch, sondern gerade als Suche nach einer tieferen Essenz verstanden wird: »Angeekelt von den Schlächtereien des Weltkrieges 1914, gaben wir uns in Zürich den schönen Künsten hin. Währen in der Ferne der Donner der Geschütze grollte […]. Wir suchten eine elementare Kunst, die den Menschen vom Wahnsinn der Zeit heilen und eine neue Ordnung, die das Gleichgewicht zwischen Himmel und Hölle herstellen sollte.«20

Wir kommen zu unserem ersten Gedichttyp, dem Simultangedicht. Es wurde im März 1916 von den Zürcher Dadaisten Richard Huelsenbeck, Marcel Janco und Tristan Tzara in einer Gemeinschaftsarbeit entwickelt. Hier wird das individuell konturierte und gerade für die Lyrik scheinbar so elementare »Ich« experimentell aufgehoben. Ein Simultangedicht, so lesen wir in Balls Tagebuch, »ist ein kontrapunktisches Rezitativ, in dem drei oder mehrere Stimmen gleichzeitig sprechen, singen, pfeifen oder dergleichen«.21 In unserem Beispiel, dem Simultangedicht »L’amiral cherche une maison / louer«, haben wir zur gleichen Zeit drei Stimmen, die sich in drei verschiedenen Sprachen – auf Deutsch, Englisch und Französisch – artikulieren, ohne dass die jeweils beziehungslosen, an sich schon fragmentierten Inhalte in irgendeiner geordneten Beziehung zueinander stünden. Das Simultangedicht ist Chaos in actu, das auf dem expressionistischen Simultan- oder Reihungsstil aufbaut. Während jedoch expressionistische Lyriker, z. B. Jakob van Hoddis, Zeit- und Welterfahrungen in der uneinheitlichen, zusammenhanglosen Reihung von Metaphern und Eindrücken modellieren, löst sich im dadaistischen Simultangedicht sogar die Kohärenz einzelner Bild- und Wahrnehmungskomplexe auf. Es liegt eine lyrische Simultantechnik vor, die das zeitliche Nacheinander durchbricht, um disparateste Sprechsituationen und heterogenste Lebenswahrnehmungen in einer kontingenten Mehrschichtigkeit des Erlebens gleichzeitig zu erfassen. Der Schluss des Gedichtes ist dabei be19 Ball, Hugo: Die Flucht aus der Zeit. In: Dada Zürich: Texte, Manifeste, Dokumente. 2016, S. 11 (Eintrag vom 12. März 1916). 20 Arp, Hans: Dadaland. In: ders.: Unsern täglichen Traum… Erinnerungen, Dichtungen und Betrachtungen aus den Jahren 1914–1954. Zürich: Die Arche [!] 1955, S. 51–61, hier S. 51. 21 Ball, Hugo: Die Flucht aus der Zeit. In: Dada Zürich: Texte, Manifeste, Dokumente. 2016, S. 11 (Eintrag vom 30. März 1916).

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zeichnend: Bei allen drei Stimmen heißt es am Ende (auf Französisch): »L’Amiral n’a rien trouv8« – der Admiral, der ein Zuhause zur Anmietung suchte, ist auf seiner Suche nicht fündig geworden.22 Hugo Ball liefert eine Theorie des Simultangedichts, die noch von einer zusätzlichen, bedrohlichen Geräuschkulisse ausgeht: Die Stimmen verdeutlichen dort die Irrfahrt und Verlorenheit der menschlichen Individualität, die akustischen Zusätze deren Übermacht und Zerstörung des Menschen im mechanischen Prozess. Hier wird die Suche nach einem Zuhause ausdrücklich als ›Suche nach dem verlorenen Gott‹ interpretiert: »Das menschliche Organ vertritt die Seele […] in ihrer Irrfahrt zwischen dämonischen Begleitern«.23 Die philosophisch-ästhetische Ausrichtung und theoretische Durchdringung des Zürcher Dadaismus ist grundlegend mit der Person Hugo Balls verbunden, der im Juni 1916, d. h. drei Monate später, seinerseits die Lautgedichte erfand. Die Sprachkrise bildet den nachdrücklichsten Ausgangspunkt: Nietzsche ist hier abermals zu nennen, v. a. aber auch Fritz Mauthners radikale Sprachkritik in der von Gustav Landauer weiterentwickelten Form. Hatte Nietzsche die Sprache als willkürlich bezeichnet und einen »Metapherntrieb« diagnostiziert, mit dem Menschen sich selbst und andere täuschen und durchaus auch getäuscht zu werden wünschen, so hatte Mauthner einen regelrechten »Hass« auf die »frech verratende Sprache« entwickelt, an die Landauers Buch »Skepsis und Mystik« (1903) anknüpfte, indem es den Sprung vom sprachlichen Chaos in die Sicherheit des Glaubens postulierte. Aufgabe der Lautgedichte sei es, so Ball, nun, die pharisäische Arbitrarität von Sprache zu überwinden und die Bildung von Lautformen natürlich und wahrhaftig, d. h. onomatopoetisch zu motivieren. Das Lautgedicht soll vom absolut gesetzten Wort zum absolut gesetzten Laut vorstoßen – so dass Lyrik als Äquivalent zur Abstrakten Kunst entsteht, die das Wort in seine Elemente, die Laute, auflöst. Aus diesen heraus soll dann, so Ball, eine neue Lautsymbolik synthetisiert werden, in der Assoziationen eine neue, kunstreligiöse Sinnstiftung ex nihilo ermöglichen. »Man verzichte«, fordert Ball, »mit dieser Art Klanggedichte in Bausch und Bogen auf die […] verdorbene und unmöglich gewordene Sprache. Man ziehe sich in die innerste Alchimie des Wortes zurück, man gebe auch das Wort noch preis, und bewahre so der Dichtung ihren letzten heiligsten Bezirk.«24

Indem die Relation zwischen Inhalt und Form, zwischen Referenz und Symbol im Lautgedicht aufgebrochen und die Konventionalität der Zeichenprozesse 22 Huelsenbeck, Richard/Janco, Marcel/Tzara, Tristan: L’amiral cherche une maison / louer. In: Dada. 113 Gedichte. Hrsg. von Karl Riha. Berlin: Klaus Wagenbach 2009, S. 76f. 23 Ball, Hugo: Die Flucht aus der Zeit. In: Dada Zürich: Texte, Manifeste, Dokumente. 2016, S. 11 (Eintrag vom 30. März 1916). 24 Ebd., S. 22 (Eintrag vom 24. Juni 2016).

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derart konsequent ad absurdum geführt wird, offenbare sich, folgen wir Ball weiter, die künstlerische Originalität, die in der Einfachheit nicht lexikalisierter Lautfolgen zur Kunst der Urvölker sowie zur Welt des Kindes zurückkehre.25 In dem Lautgedicht »Karawane«, das zu den bekanntesten von Hugo Ball gehört, reichen potentielle Zeichen-Assoziationen vom Karawanenzug und ElefantenStampfen, von Treiberrufen und exotisch klingenden Lauten über Zauberrituale, Geisterbann und hypnotische Magie bis hin zu frühchristlicher Glossolalie, Beschwörungs- und Gebetstexten sowie liturgischen Formeln.26 Auch hier entsteht aus dem ›Un-Sinn‹ ein ›tieferer Sinn‹, den Ball im »Cabaret Voltaire« in quasireligiösem Habitus als ›heroisches Sprachengebet‹ theatralisch inszenierte. »Ich habe eine neue Gattung von Versen erfunden, »Verse ohne Worte« oder Lautgedichte […]. Die ersten dieser Verse habe ich heute abend vorgelesen. Ich hatte mir dazu ein eigenes [kubistisches – Y.N.] Kostüm konstruiert [… und] gegen das Publikum Notenständer errichtet [. Nun stellte ich…] darauf mein mit Rotstift gemaltes Manuskript, bald am einen, bald am andern Notenständer zelebrierend. […] Ich hatte jetzt […] die »Elefantenkarawane« absolviert […; m]eine Stimme [ging über in …] die uralte Kadenz der priesterlichen Lamentation […]. [… I]ch begann meine Vokalreihen rezitativartig im Kirchenstile zu singen und versuchte es, nicht nur ernst zu bleiben, sondern mir auch den Ernst zu erzwingen. Einen Moment lang schien mir, als tauche in meiner kubistischen Maske ein bleiches, verstörtes Jungensgesicht auf, jenes halb erschrockene, halb neugierige Gesicht eines zehnjährigen Knaben, der in den Totenmessen und Hochämtern seiner Heimatspfarrei zitternd und gierig am Munde der Priester hängt. Da erlosch, wie ich es bestellt hatte, das elektrische Licht, und ich wurde vom Podium herab schweißbedeckt als ein magischer Bischof in die Versenkung getragen.«27

1917 kam in der »Galerie Dada« im Kontext der Lautgedichte der Ausdruckstanz noch neu hinzu. Während also im Zürcher Dadaismus irrationale, alogische Äußerungsformen mit affektiven, z. T. auch betont ursprünglichen Ausdrucksweisen kombiniert werden, um aus der Sprachkrise heraus neuen Sinn nach Nietzsches ›Theothanatologie‹ zu stiften, können wir im Berliner Dadaismus ebenfalls ein existentielles Krisenbewusstsein, jedoch einen ganz anderen

25 Auch hier, in Balls ›Primitivismus‹ und ›Infantilismus‹, können wir die Ursprünge des Zürcher Dadaismus im Expressionismus gut erkennen – in diesem Fall v. a., was die bildende Kunst betrifft. 26 Ruf, Oliver : Dadaismus. In: Historisches Wörterbuch der Rhetorik. Hrsg. von Gert Ueding in Verbindung mit Wilfried Barner [u. a.]. Tübingen/Berlin; Boston: Niemeyer/De Gruyter 1992–2015. Bd. 10, Sp. 185–197, hier Sp. 189. 27 Ball, Hugo: Die Flucht aus der Zeit. In: Dada Zürich: Texte, Manifeste, Dokumente. 2016, S. 20f. (Eintrag vom 23. Juni 1916).

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Umgang damit – und weder eine Krise der Sprache noch eine metaphysische Sinnsuche ausmachen.28

III. Dada Berlin entwickelte sich im Vergleich zu Dada Zürich eigenständig und war durch noch eminentere Innovationen, jetzt auch durch entschiedene Politisierung und subversiv-revolutionäre Aspekte geprägt. Spiel, Gelächter, Zufall sind auch hier bestimmend, doch dies in neu akzentuierter, radikaler Ausformung. Richard Huelsenbeck, der das Zürcher Simultangedicht mit entwickelt hatte, war bereits im Januar 1917 nach Berlin zurückgekehrt. Hier formierte sich im April des Folgejahres auf seine Initiative hin der »Club Dada« – der, anders als im »Cabaret Voltaire«, keine vergleichbare Lokalität aufwies. War in der Zürcher Exilsituation eine relative Intimität des literarischen Kabaretts prägend gewesen, so trat der Berliner Dadaismus inmitten der politischen Ereignisse aktiv aus der eskapistischen Isolation heraus. Nicht mehr »Die Flucht aus der Zeit«, mit Hugo Balls Tagebuch zu sprechen, sondern gerade das Sich-Hineinstürzen in die Zeitumstände wurde nunmehr zum Programm. Ende des Ersten Weltkriegs, blutige Niederschlagung der Revolution (d. h. der Arbeiteraufstände und der Räterepublik), Beginn der Weimarer Republik, in der die Berliner Dadaisten nur eine Wiederkehr der alten Mächte mit neuem Etikett erblickten: In seiner Autobiographie »Der Weg nach unten« von 1961 vermerkt Franz Jung dazu: »Was sich jetzt in Berlin als eine Bewegung herauszubilden schien, hatte mit der Bewegung ›Dada‹ […aus] Zürich […] nicht viel mehr gemeinsam als nur den Namen […]. Wenn der Züricher Dadaismus […] irgendwelche kunstästhetische Reformen vertreten haben sollte, so ist davon […] nichts nach Berlin gekommen.«29

Hatte Dada Zürich das Krisenbewusstsein der Zeit sinnstiftend zu lösen versucht, so ging Dada Berlin demgegenüber einen konträren Weg. Das sich mehr denn je offenbarende Chaos der unmittelbaren Lebenswelt, das in Berlin ungleich direkter zutage trat als in der Schweiz, wurde anders als in Zürich nun nicht mehr als Grundlage des Leidens angesehen, sondern nachgerade zelebriert. Das Leben als sinnlose Zersetzung: Synthetisierende Abstraktionen und 28 In seinem Zufallsgedicht »Um ein dadaistisches Gedicht zu machen« (Original auf Französisch) liefert Tristan Tzara eine methodische Anleitung zur Herstellung von Lyrik, die ganz das dadaistische Zufallsprinzip betont. Die Anleitung für eine Zeitungscollage macht selbst das Gedicht aus, was der Avantgarde-typischen Aufwertung des Produktionsverfahrens korrespondiert. 29 Jung, Franz: Der Weg nach unten. Neuwied/Berlin: Luchterhand 1961, S. 110.

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Assoziationen wurden als artifiziell und inauthentisch abgelehnt, die fortschreitende Technisierung, Vermassung und gesellschaftliche Unruhe, der Verlust einstmaliger Sicherheiten und der daraus resultierende Identitätskonflikt aus der Not heraus lachend umarmt. Während Dada Zürich v. a. auf den früheren Nietzsche rekurriert hatte, favorisierte Dada Berlin den späteren Nietzsche.30 Negation und Demarkation sind für Dada Berlin fundamental. Kein ›Sinn aus Un-Sinn‹ mehr also, keine spielerische Äquilibristik zwischen »Nein und Ja«, sondern die radikale Sinn-Verneinung im absurden Spiel des Lebens: So begriffen die Berliner Dadaisten den Expressionismus als ›bildungsbürgerlich‹ und lehnten ihn ebenso vehement ab wie den Futurismus und ihre Zürcher Wurzeln. Im Berliner Dadaismus entstand die ›Kunst der Kunstlosigkeit‹, d. h. die NichtKunst, der es nicht länger darum zu tun war, im gewohnten Sinne originell zu sein. In einigen Fällen formierte sich auf dieser Grundlage auch eine prononcierte Anti-Kunst. Durch die Entwicklung der Fotomontage31 ist der Berliner Dadaismus zumal auch kunsthistorisch von grundlegender Bedeutung. Das Moment des »Spiels« äußerte sich im Berliner Dadaismus immer als Aktions-Kultur, bisweilen auch als Agitation, wodurch ein großes Publikum erreicht wurde. Das dadaistische »Gelächter« gab sich anders als in Zürich jetzt durchaus nicht länger kindlich, sondern nihilistisch. Der »Zufall« schließlich radikalisierte sich bis hin zur Gleichsetzung mit der Mechanik, d. h. zum automatisch ablaufenden, selbsttätigen Prozess, der in Berlin nun ausdrücklich bejaht wurde. Es ist die Banalität des Alltags, die im Maschinenlauf zum Ausdruck kommt, in der sich auch die Buchstabengedichte Raoul Hausmanns, zu denen wir gleich kommen werden, in ihrer letzten Entwicklungsstufe spiegeln. Was die Kunst-Leben-Vermischung betrifft, so suchten die Berliner Dadaisten anders als die Zürcher Dadaisten die breite Öffentlichkeit – auch gegen deren Willen. Einige Vertreter, v. a. die Grafiker George Grosz und John Heartfield sowie dessen Verleger-Bruder Wieland Herzfelde, schlossen sich der soeben gebildeten KPD an; dies entsprach Lenins Verständnis von der kommunisti30 Allerdings folgte auch Dada Zürich Nietzsches eingangs genanntem Kostüm-Zitat. Balls Verkleidung als »magischer Bischof« gehört in diesen Kontext, ebenso Balls folgender Tagebucheintrag: »Der Dadaist liebt das Außergewöhnliche, ja das Absurde. Er weiß, daß sich im Widerspruche das Leben behauptet und daß seine Zeit wie keine vorher auf die Vernichtung des Generösen abzielt. Jede Art Maske ist ihm darum willkommen. […] Personen sind bei ihm billig zu haben, die eigne Person nicht ausgenommen. Er glaubt nicht mehr an die Erfassung der Dinge aus einem Punkte, und ist doch noch immer dergestalt von der Verbundenheit aller Wesen, von der Gesamthaftigkeit überzeugt, daß er bis zur Selbstauflösung an den Dissonanzen leidet.« – Ball, Hugo: Die Flucht aus der Zeit. In: Dada Zürich: Texte, Manifeste, Dokumente. 2016, S. 16f. (Eintrag vom 12. Juni 2016). 31 Vgl. etwa die Fotomontage von Hannah Höch: Schnitt mit dem Küchenmesser Dada durch die letzte Weimarer Bierbauchkulturepoche Deutschlands [1919].

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schen Partei als Avantgarde der Arbeiterklasse. Andere betonten den anarchistischen Protest, darunter Raoul Hausmann und Johannes Baader. Allen gemein war die Radikalität des Denkens, der agitatorische Impuls und die aktive Dekuvrierung bürgerlicher Werte.32 Das quasireligiöse Heldentum im Berliner Dadaismus repräsentiert zunächst und zumal Johannes Baader, der als »Oberdada« ein hervorstechendes Beispiel für die Aktionskunst avant la lettre darstellt. Als selbsternannter »Präsident des Weltalls« antizipierte er das Phänomen des Happenings und war bereits vor Dada Berlin als provokativer Christus redivivus aufgetreten. Sogenannte »Inflationsheilige« hatten während der Inflation von 1914 bis 1923 Konjunktur, und Baader sicherte dem Berliner Dadaismus mit seinen Aktionen größte Aufmerksamkeit. Im November 1918 unterbrach Baader im Berliner Dom den Hofprediger Dryander, womit er gegen die Bigotterie der zeitgenössischen Gesellschaft protestierte (Absegnung von Militarismus, Giftgas und blutiger Revolutionsniederschlagung). Raoul Hausmann kommentiert dies in seinen Erinnerungen »Dada empört sich, regt sich und stirbt in Berlin« wie folgt: »Am deutschen Wesen muß die Welt genesen: dieser Wahlspruch der frechen germanischen Überkompensation versklavte Millionen Hungernder und verbarg die militärischen Niederlagen nach bald vier Jahren vergeblichem Heroismus. […] In diesem tollen Klima, in dieser stumpfen Zerstörung kann man kein braver Typ von konventionellem Künstler sein. Also, en avant DADA! Selbst der vorsichtige DADA, das unentschiedene Tasten von Zürich genügt nicht mehr, zum Teufel! Nehmen wir die Unannehmlichkeiten einer freien, unabhängigen Geste auf uns! Lassen wir die Torheit des guten Geschmacks beiseite! Man muß an den Tod Gottes [Nietzsche – Y.N.] denken und ihn bekannt machen. Was ist euch Jesus Christus? Er ist euch Wurst!, ruft der Ober-DADA Johannes Baader am 17. November im Dom zu Berlin, den Prediger Dr. Dryander unterbrechend. Verhaftet, zum Posten geführt, wegen Gotteslästerung angeklagt. Sehr gut, das wird Lärm machen. Aktion, Aktion, vorbei die Zeit […auch – Y.N.] der Ästhetik; ich kenne keine Regeln mehr, weder des ›Wahren‹ noch des ›Schönen‹, ich verfolge eine neue Richtung, die die Ordnung meines Körpers mir vorschreibt.«33

Im Frühjahr 1919 machte Baader durch den Abwurf des Flugblatts »Die grüne Leiche« in der Weimarer Nationalversammlung auf sich aufmerksam, in dem er die Übernahme der Regierungsgewalt durch das »Dadaistische Zentralamt« forderte. Die Ausrichtung auf Publikum und Popularität, Körperkult, Charisma, 32 Vgl. hierzu auch Eisenhuber, Günther : Manifeste des Dadaismus. Analysen zu Programmatik, Form und Inhalt. Berlin: Weidler 2006 (Aspekte der Avantgarde; Bd. 8). 33 Hausmann, Raoul: Dada empört sich, regt sich du stirbt in Berlin. In: Dada Berlin. Texte, Manifeste, Aktionen. Hrsg. von Karl Riha. Stuttgart: Reclam 2013, S. 3–12, hier S. 3 und S. 5.

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Performativität, Histrionentum und Lachkultur werden bei Baader im Diskursfeld der zeitgenössischen Nietzsche-Nachfolge ebenfalls als intermediales, quasireligiöses Heldentum, doch ungleich offensiver als bei Hugo Ball und ausdrücklich ohne Sinnsuche betrieben. In »Reklame für mich (Rein geschäftlich)« von 1919 lesen wir : »Hindendorf [sic!], Ludenburg [sic!] sind keine historischen Namen. Es gibt nur einen historischen Namen: Baader. Diese Herren, die an den Marionettenfäden der Ewigkeit baumeln, die ich lenke, vergessen, daß der Krieg verlorenging, weil sie in Deutschland klüger sein wollten als der Präsident des Weltalls.«34

Die Produktion von Zeichen sowie das Material der Zeichenträger erlangen im Berliner Dadaismus eine exorbitante Relevanz. Raoul Hausmann selbst nannte seine progressiven Buchstabengedichte, die eine radikalisierte Weiterentwicklung der Zürcher Lautdichtung sind, »optophonetische« und »lettristische« Gedichte. Letztere firmieren auch unter der Bezeichnung »Plakatgedichte«. Durch die Fokussierung auf Buchstaben, d. h. Lettern, wird der absolut gesetzte Laut des Zürcher Dadaismus bei Hausmann nun durch den absolut gesetzten Buchstaben ersetzt. Optophonetisch sind die Plakatgedichte dann, wenn sie nicht nur visuell wirken, sondern auch vorgetragen und vor Publikum inszeniert werden, so dass eine nach Hausmann optimale Verknüpfung von Optik und Akustik als neue sprachliche Ausdrucksform entsteht. Ein aussagekräftiges Beispiel für dieses Verfahren stellt etwa Hausmanns bekanntes Gedicht »Kp’erioum« dar. Optophonetische Gedichte kombinieren Optik (vermittels Mikro- und Makrotypographie) und Phonetik (vermittels Lautketten): Feinheiten des Schriftsatzes, etwa Schriftart und Laufweite, werden ebenso bedeutsam wie die Gesamtgestaltung der Druckseite, beispielsweise Schriftgröße und Schriftauszeichnungen. Die visuelle »Oberflächengestaltung« als besondere Eigenschaft und neue materielle Qualität novelliert und revolutioniert in der optophonetischen Lyrik die Lautgedichte Hugo Balls.35 Noch stärker als im Zürcher Dadaismus ignoriert Hausmanns Lyrik nicht nur Semantik und Syntax, sondern verletzt auch die habituelle Lautstruktur, indem die anormale Häufung von Konsonanten und ggf. auch maschinellen Sonderzeichen eine potentielle Sinngebung unmöglich macht. Hausmanns Buchstabengedichte sind graphische Gedichte, die sich nicht allein einer konventionellen, sondern – wie der Berliner Dadaismus insgesamt – auch einer transzendierenden Deutung verweigern:

34 Baader, Johannes: Reklame für mich (Rein geschäftlich). In: ebd., S. 72–75, hier S. 72. 35 Vgl. hierzu Hübner, Corinna: Raoul Hausmann. Grenzgänger zwischen den Künsten. Bielefeld: Aisthesis 2003, S. 94.

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»[D]ies alles aber ist ein herrlicher Blödsinn, den wir bewußt lieben und verfertigen – eine ungeheure Ironie, wie das Leben selbst: die exakte Technik des endgültig eingesehenen Unsinns als Sinn der Welt!! Nieder mit dem deutschen Spießer!«36

Lettristische oder Plakatgedichte heißen Hausmanns optophonetische Gedichte schließlich in ihrer letzten, mechanisierten Entwicklungsstufe. Hier erreicht die Materialität der Sprache einhergehend mit dem Zufallsprinzip des Dadaismus ihren konsequenten Höhepunkt. Plakatgedichte sind Zufallsprodukte par excellence, die unter Mithilfe des Setzers entstehen: »Also in die Druckerei«, schreibt Hausmann, »und gleich, gleich die neue Dichtform in Angriff genommen. Dank dem Verständnis des Setzers war die Verwirklichung leicht, aus dem Kasten der großen hölzernen Buchstaben für Plakate nach Laune und Zufall hingesetzt, was da so kam, und das war sichtbar gut. Ein kleines f zuerst, dann ein m, dann ein s, ein b, eh, was nun? Na, ein w und ein t und so weiter und so weiter, eine große ecriture [sic!] automatique mit Fragezeichen, Ausrufezeichen und selbst einer Anzeigehand dazwischen!«37

Diese Erinnerungen – »Am Anfang war Dada« – verweisen abermals auf den quasireligiösen Heroismus in der Berliner Dada-Avantgarde. Hausmann vermischt in dem o. g. Zitat das Produktionsverfahren seiner beiden maßgebenden Plakatgedichte von 1918, »fmsbwtözäu« und »OFFEAHBDC«, wobei die Methode der Pcriture automatique an die experimentelle Literatur des Surrealismus denken lässt. Die Verabsolutierung der Technik wiederum ist dem Futurismus ähnlich. Sowohl Auswahl als auch Komposition des Gedicht-Materials erfolgen gänzlich zufällig.38 Damit bot Hausmanns Lyrik ›jenseits von Gut und Böse‹ – als »Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit«, mit Walter Benjamin zu sprechen – andererseits jedoch auch keine experimentellen Steigerungsoptionen mehr.

IV. Einen zeitgenössischen Sonderfall, der nicht dem Berliner Dadaismus, wohl aber dessen weiterem Umkreis zuzuordnen ist, finden wir in der Merzkunst von Kurt Schwitters vor. Schwitters entwirft in einem künstlerischen Individualstil (»Merz«) die Selbstreferenialität der Zeichen im Kontext seines »Merzgesamt36 Hausmann, Raoul: Der deutsche Spießer ärgert sich. In: Dada Berlin. Texte, Manifeste, Aktionen. 2013, S. 66–69, hier S. 69. 37 Hausmann, Raoul: Am Anfang war Dada. Gießen: Anabas 1980, S. 43. 38 Vgl. dagegen Tristan Tzaras Zufallsgedicht aus dem Zürcher Dadaismus, wo die Auswahl für die Zeitungscollage noch selbst getroffen wurde (s. Anm. 28).

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kunstwerk[s]«,39 das die utopische »Vermerzung der Welt« verbürgen soll (vgl. z. B. auch Schwitters’ »Sonate in Urlauten« [1923–1932], seine Merzarchitektur oder die nicht erfolgte Realisierung der Merzbühne).40 Schwitters’ Kunst basiert auf einer erneut ästhetisch orientierten Intermedialität und Materialität, wobei ohne explizite politische Zielsetzung ›Sinn aus Un-Sinn‹ kreiert werden soll. Die poststrukturalistische, differenzielle »Wiederkehr der Sprache« im Sinne von Foucault41 und die Priorität der Schrift, wie sie Derrida vertreten sollte, werden in den Dada-Avantgarden Zürich und Berlin künstlerisch bereits antizipiert. Wie wir nachvollzogen haben, teilt jedoch v. a. die Berliner DadaAvantgarde elementare Grundvoraussetzungen mit einschlägigen Positionen des Poststrukturalismus (und hier zumal der Dekonstruktion). Hier wird die Sprache einer kohärenten Bedeutung endgültig enthoben. Durch die radikale Zufallsproduktion nimmt der Berliner Dadaismus zudem den postulierten »Tod des Autors« (Roland Barthes)42 auf sehr eigene Weise schon vorweg. Die Absage an einen verlässlichen, stabilen Erkenntnisbegriff führt bei Dada Zürich zu Versuchen, die Kontingenzerfahrung der Moderne sinnstiftend neu zu bewältigen, während Dada Berlin die Unversöhnlichkeit des Lebens zwar bejaht, intellektuelle Reflexionen allerdings zugleich auch vehement verneint. Hierin schließlich unterscheiden sich die Berliner Dadaisten von Positionen des Poststrukturalismus. Weder Dada Zürich noch Dada Berlin hatte längeren Bestand. Die Berliner Dada-Messe im Jahr 1920 bildete zugleich den Höhe- und den Endpunkt des deutschen Dadaismus, doch ist die Weiterwirkung – insbesondere der Berliner Dada-Avantgarde – bei näherer Betrachtung eminent.43 Dada und seine Folgen haben zum Medien-Dispositiv entscheidend beigetragen und illustrieren Werte 39 Schwitters, Kurt: Das literarische Werk. Hrsg. von Friedhelm Lach. Köln: Dumont 1998. Bd. 5, S. 79. 40 Ebd., S. 252f.: »Ich nannte meine neue Gestaltung mit prinzipiell jedem Material MERZ. Das ist die 2te Silbe von Kommerz. Es entstand beim Merzbilde, einem Bilde, auf dem unter abstrakten Formen das Wort MERZ, aufgeklebt und ausgeschnitten aus einer Anzeige der KOMMERZ UND PRIVATBANK, zu lesen war. […] Ich nannte nun all meine Bilder als Gattung nach dem charakteristischen Bilde MERZbilder. Später erweiterte ich die Bezeichnung MERZ erst auf meine Dichtung, denn seit 1917 dichte ich, und endlich auf all meine entsprechende Tätigkeit. Jetzt nenne ich mich selbst MERZ.« – Schwitters bezeichnet die Zerlegung alltäglicher Materialien in ihre einzelnen Bestandteile spezifisch als »Entformeln« (ebd., S. 37). 41 Foucault, Michel: Die Ordnung der Dinge. Eine Archäologie der Humanwissenschaften. 9. Aufl. Frankfurt/Main: Suhrkamp 1990, S. 367. 42 Barthes, Roland: Der Tod des Autors. In: Texte zur Theorie der Autorschaft. Hrsg. von Fotis Jannidis, Gerhard Lauer, Mat&as Mart&nez und Simone Winko. Stuttgart: Reclam 2000, S. 185–193. 43 Vgl. hierzu auch Deleuze, Gilles: Logik des Sinns. Frankfurt/Main: Suhrkamp 1993: Künstlerische Avantgarden des 20. Jahrhunderts entwickeln eine methodische Produktion von Un-Sinn, indem sie die Leistungen von Repräsentationsmedien auf den Kopf stellen.

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und Paradigmen zwischen Wandel und Kontinuität besonders nachdrücklich: Das Simultanparadigma, das absurde Theater, die konkrete Poesie (v. a. im Umkreis der Wiener Gruppe in den 1950er Jahren und im Umkreis der Stuttgarter Gruppe ein wenig später), die Montagetechnik, aber auch das Action Painting und die Pop-Art der 1950er Jahre, die Aktionskunst (und hier zumal das Happening) der 1960er Jahre, die Konzeptkunst, die Medienkunst, inszenierte Körperlichkeit und zeitgenössische Performances – sie alle basieren u. a. auf Dada als Vorläufern. Von der Erfindung des Simultan- und Lautgedichts über Collage und Montage bis hin zur Aktion in der Kunst kommen die Kunst-LebenVermischung und die Neusemantisierung des intermedialen Gesamtkunstwerks in fragmentierten hybriden Medialisierungen besonders prononciert zum Ausdruck.44 Dabei beschränken sich die Einflüsse nicht auf sogenannte Avantgarde-Positionen: Einstmals marginalisierte künstlerische Verfahren sind inzwischen längst nicht nur salonfähig, sondern auch normativ geworden. Nicht nur für die Künste, auch für die philosophiegeschichtliche Entwicklung und die Kulturwissenschaften hat sich der Dadaismus, wie wir gesehen haben, z. T. als praktisch wegweisend erwiesen. Die Aufwertung des Produktionsverfahrens entspricht dem Linguistic Turn. Doch nicht strukturalistische, sondern poststrukturalistische Positionen werden vor dem Avantgarde-Hintergrund bedeutungsvoll: die »Schrift und die Differenz«, die Materialität von diskursiven Praktiken, Dialogizität in einem entgrenzten Textverständnis, zirkuläre Offenheit und konsequente Enthierarchisierung, Diskontinuität, Alterität und Hybridität – Positionen, die in poststrukturalistischen Theorien später mit Nietzsche entwickelt werden sollten, doch ohne quasireligiöse Götter- und Heldenkonzepte der Jahrhundertwende.

44 Zu diesem Wandel des »Gesamtkunstwerk«-Begriffs im 20. Jahrhundert, der von der ursprünglich romantischen Synthese hin zur zeitgemäßen Betonung des Bruchstückhaften geht, vgl. z. B. auch den Ausstellungskatalog des Kunsthauses Zürich: Der Hang zum Gesamtkunstwerk. Europäische Utopien seit 1800. 11. Februar bis 30. April 1983. Aarau; Frankfurt/Main: Sauerländer 1983.

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»Erziehung, […] nicht Moralpauke und wenn möglich – Kunst statt Kitsch« – Joseph Roths Beiträge zu Film und Kino

Abstract Der österreichische Schriftsteller Joseph Roth (1894–1939), der heutzutage vor allem als Verfasser von großen Romanen (»Die Rebellion«, »Radetzkymarsch«, »Die Kapuzinergruft«) berühmt ist, war seinen Zeitgenossen in erster Linie als Journalist bekannt. Obwohl Roths journalistische Arbeiten gut die Hälfte seines Werkes ausmachen, hat sein umfangreiches journalistisches Werk erst in letzter Zeit zunehmende Beachtung gefunden.1 Der folgende Aufsatz will zeigen, wie sich Roths ambivalente Meinung zum damals neuen Medium Film in seinen journalistischen Texten nachvollziehen lässt.

Nachdem Joseph Roth 1918 aus dem Militärdienst entlassen wurde, kam er 1919 wieder nach Wien, er setzte jedoch sein vor dem Krieg begonnenes Germanistikstudium nicht fort, sondern begann – aus Geldmangel – für Zeitungen zu schreiben. Noch während seiner Militärzeit verfasste er Berichte und Feuilletons für die Zeitschriften »Der Abend« und »Der Friede«, und in »Österreichs Illustrierter Zeitung« erschienen seine Gedichte und Prosa. Im April 1919 wurde er Redakteur bei der Wiener Tageszeitung »Der Neue Tag«, und 1920 zog er nach Berlin, wo bald Beiträge von ihm in verschiedenen Zeitungen erschienen, darunter in »Neue Berliner Zeitung« und »Berliner Börsen-Courier«. Ab Januar 1923 arbeitete er als Feuilletonkorrespondent für die renommierte »Frankfurter Zeitung«, in der in den folgenden Jahren ein großer Teil seiner journalistischen Arbeiten erschien. Roth wechselte seinen Aufenthaltsort in dieser Zeit zwischen Wien und Berlin und schrieb außer für die »Frankfurter Zeitung« auch Artikel für die »Wiener Sonn- und Montagszeitung«, für das »Neue 8-Uhr-Blatt« und für »Der Tag« in Wien sowie für das »Prager Tagblatt« und für den deutschsprachigen »Pester Lloyd« in Budapest. Außerdem verfasste er – parallel zu seiner FZ-Mitarbeit – als »Der rote Joseph« Beiträge für die sozialistische Zeitung »Vorwärts«. In Zusammenhang damit wird in der Forschung seine politische 1 Mehr dazu Sternburg, Wilhelm von: Joseph Roth. Eine Biographie. Köln: Kiepenheuer & Witsch 2009.

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Wandlung zwischen dem links orientierten »roten Josephus« in den Wiener Jahren und dem konservativen Monarchisten im französischen Exil diagnostiziert2. In der Zeit 1929–1930 schrieb er auch – gegen gute Bezahlung – für die nationalistischen »Münchner Neusten Nachrichten«, wofür er von seinen Freunden heftig kritisiert wurde. Nach der »Machtergreifung« veranlassten seine jüdische Herkunft und seine entschiedene politische Haltung Roth dazu, Deutschland sofort zu verlassen: Zum Ort seines Exils wurde Paris.3 Laut Selbstauskunft, die Joseph Roth 1920 im Neujahrsfeuilleton der Wiener Tageszeitung »Der Neue Tag« gegeben und die er in späteren Jahren leicht variiert wiederholt hat, wollte er mit seinen Feuilletons »das Anlitz der Zeit« zeichnen. Nach Porombka »[…] liefert er damit nicht nur die bekannteste und wohl treffendste Beschreibung seines journalistischen Œuvres; er hat damit auch eine Grunddefinition für das feuilletonistische Schreiben überhaupt ins Spiel gebracht.«4 Man muss dem Forscher zustimmen, dass der Einwand, das Roths Feuillletons insgesamt unterstellt wird »Dass sie lediglich dazu dienen, ihm ›bread and butter‹ zu finanzieren«5, sich eigentlich nur an einigen seiner Rezensionen zeigt. Sonst hat Roth seine Rolle des Autors, der für die Öffentlichkeit schreibt, »[…] gegen den Erwartungshorizont seines Publikums innovativ gestaltet, indem er die Grenze zwischen dem Referentiellen und dem Imaginären in beiden Bereichen: dem der so genannten schöngeistigen Literatur und dem der Publizistik, aufhob und neu konzipierte. In seinen Zeitungstexten verwendete er für seine Autorenstimme Konstruktionsregeln der publizistischen Textsorten. Sein imaginäres Ich für die ›Frankfurter Zeitung‹ korrespondiert so mit der in den Namen seiner literarischen Figuren häufig manifestierten onomastischen Ironie, ohne dass der Anspruch auf die lebensweltliche Referentialität seiner Aussage außer Kraft gesetzt wäre.«6

In den zwanziger und dreißiger Jahren publizierte Roth viele interessante Texte, in denen das damals neue Medium Film eine große Rolle spielte. Den Grundstein für seine journalistische Laufbahn legte er doch in Wien, und zwar in der Zeit, in der die österreichische Filmindustrie sich schnell zu einer weltweit wirkenden Kraft entwickelte. Die österreichische Filmproduktion erreichte zwischen 1918 2 Vgl. Wirtz, Irmgard: Joseph Roths Fiktionen des Faktischen. Das Feuilleton der zwanziger Jahre und »Die Geschichte von der 1002. Nacht« im historischen Kontext. Berlin: Schmidt 1997. 3 Siehe auch Leiß, Ingo/Stadler, Hermann: Deutsche Literaturgeschichte. Bd. 9: Weimarer Republik 1918–1933. München: Deutscher Taschenbuch Verlag 2007, S. 79. 4 Porombka, Wiebke: Joseph Roth. Feuilletons (1919–1922). In: 55 Klassiker des Kulturjournalismus. Hrsg. von Stephan Porombka/Erhard Schütz. Berlin: Siebenhaar Verlag 2008, S. 116. 5 Ebd. 6 Dzikowska, Elz˙bieta Katarzyna: Der »Schwabe« aus Brody. Verhandlungen der Identität in Joseph Roths Reisefeuilletons. In: Feuilleton – Essay – Aphorismus. Nicht-fiktionale Prosa in Österreich. Hrsg. von Sigurd Paul Scheichl. Innsbruck: university press 2008, S. 207–208.

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und 1923, gefördert durch die Isolation von wichtigen Filmnationen während des Ersten Weltkriegs und begünstigt durch die Inflation, ihren Höhepunkt. Somit zählte Österreich in diesen Jahren zu den führenden Filmproduzenten der Welt, mit der Sascha-Filmindustrie AG als einem der größten Produzenten Europas. Ab den 1920er-Jahren wurde jedoch die Weimarer Republik – mit der aufstrebenden Filmmetropole Berlin – ein beliebter Anziehungspunkt für Filmschaffende, auch aus Österreich. Auch Roth entschied sich, als 1920 »Der Neue Tag« – seine Haupterwerbsquelle – eingestellt wurde, nach Berlin überzusiedeln, was ihm neue Möglichkeiten für seine journalistische und schriftstellerische Zukunft eröffnete. Das Berlin der »Goldenen Zwanziger« war doch nicht nur die Stadt der Zeitungen und Verlage, sondern auch das Zentrum der Filmproduktion in Deutschland geworden, und eben in den Jahren der Weimarer Republik erlebte Berlin die Blütezeit des deutschen Films. Roth etablierte sich auch schnell als Filmkritiker, obwohl er gleichzeitig auch zahlreiche Reportagen, Reiseberichte, Buchrezensionen, Theaterkritiken und Feuilletons verfasste. Die einzige Fachzeitschrift für Film und Kino, für die er arbeitete, blieb dabei das seit 1919 wöchentlich erscheinende Magazin »Die Filmwelt«, für welche er nur sporadisch schrieb.7 In den zwanziger Jahren dominierte also die Unterhaltungskultur und die Öffentlichkeit den Film, der aus den mechanischen Apparaturen zur Simulation von Bewegung und aus den Experimenten der Chronophotographie heraus entstanden ist.8 Die Durchsetzung der modernen Massenkultur in den zwanziger Jahren war eng mit der technologischen und wirtschaftlichen Entwicklung der Massenmedien verbunden, und das Aufkommen der neuen Medien Film und Rundfunk veränderte die öffentliche Kommunikation und die Alltagskultur radikal. Sie beförderten nicht nur ein auf Unterhaltung und Information ausgerichtetes Rezeptionsverhalten, sondern auch neue visuell und akustisch geprägte Wahrnehmungsgewohnheiten des Publikums.9 Die sich rasant entwickelnde Filmindustrie und ihre Produkte wurden jedoch von Intellektuellen mit großer Skepsis betrachtet. Es kam zu heftigen Debatten zwischen den Vertretern der literarischen Intelligenz, die sich sowohl zu neuen Möglichkeiten des Mediums als auch zum Verhältnis von Literatur und Film äußerten.10 Zahlreiche 7 Mehr dazu im Nachwort zu Roth, Joseph: Drei Sensationen und zwei Katastrophen. Feuilletons zur Welt des Kinos. Hrsg. von Helmut Peschina und Rainer-Joachim Siegel. Göttingen: Wallstein Verlag 2014, S. 352–389. 8 Prümm, Karl: Neue Räume, neue Blicke. Die Wahrnehmung des Mediums Film als Modernität in der Literatur der Weimarer Republik. In: Literarische Moderne. Begriff und Phänomen. Hrsg. von Sabina Becker/Helmuth Kiesel. Berlin: Walter de Gruyter 2007, S. 474. 9 Streim, Gregor : Einführung in die Literatur der Weimarer Republik. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 2009, S. 28. 10 Siehe dazu Kino-Debatte. Texte zum Verhältnis von Literatur und Film 1909–1920. Hrsg. von Anton Kaes. Tübingen: Niemeyer Max Verlag 1984.

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Schriftsteller setzten sich mit dem Medium auseinander, und viele von ihnen ließen sich auch auf dieses Medium ein: »Hans Fallada, Erich Kästner und Wolfgang Koeppen bilden sich zu professionellen Beobachtern des Kinos aus, sie agieren als Filmreporter und als Filmkritiker, sie wollen dieses Phänomen begreifen und durchschauen. […] Diese Autoren realisieren damit eine spezifische Modernität, indem sie den Film als einen machtvollen Faktor der modernen Gesellschaft wahrnehmen, in ihn eindringen und die filmischen Wahrnehmungsprinzipien für das eigene Schreiben experimentell nutzen.«11

Die Feuilletontexte von Roth zum Thema Kino lassen sich einerseits als ein zeitund kulturgeschichtliches Dokument des deutsch-österreichischen Films betrachten, andererseits sind sie – laut Leitherer, die Roths Schreibstil treffend als »ironisch-subjektive Brille« bezeichnet – »[…] wie kleine Fenster in diese Welt aus einer anderen Zeit. Dabei handelt es sich nicht ausschließlich um Filmbesprechungen; Roth kommentiert so ziemlich alles, was in und um die Filmbranche herum geschieht – und bietet damit auch in einer so konzentrierten Menge von Rezensionen viel Abwechslung.«12 Dass Joseph Roth sich schon früh für künstliche Wirklichkeiten interessiert hat, bezeugt sein Text aus dem Jahre 1920, in dem er eine Szene aus seiner Kindheit, nämlich einen Besuch in einem Panoptikum, beschreibt.13 In einem anderen Text wird er jedoch konstiatieren, dass das Panoptikum im Zeitalter des Kinos nichts mehr zu erfüllen hat: Er würdigt die Stärke des neuen Mediums der bewegten Bilder und die Möglichkeiten seiner Wirkung auf die Gesellschaft, denn der Film kann eine neue Zeit anschaulich machen: »Die Wirkung des Kinos auf das Volk, die ja bei weitem unmittelbarer und stärker ist als die Wirkung von Zeitungen, wurde von den Vertretern des alten Regimes voll gewertet und richtig eingeschätzt.«14 Besonders wichtig scheint ihm dabei zu sein, dass »[…] der Film […] Schritt […] mit dem Galopp der Weltgeschichte [halten muss]. […] Die Revolution ist die künftige Beherrscherin der Kinowelt. […] Byzantinismus und Tartüfferie sind gegangen. Ihre Stelle nehmen ein: Vernunft und Sittlichkeit. So wird auch der Film im Freistaate eine Entwicklung nach aufwärts nehmen. Auch er wird eine neue Zeit im wahrsten Sinne des Wortes ›anschaulich machen‹. Die Zeitgeschichte bietet Stoff genug.«15

11 Prümm, Neue Räume, neue Blicke. 2007, S. 475. 12 Leitherer, Julia Elena: Sensationen über Sensationen. (Zugriff am 20. 06. 2019). 13 Nachwort zu: Roth, Drei Sensationen und zwei Katastrophen. 2014, S. 359. 14 Roth, Joseph: Film im Freistatt. In: Drei Sensationen und zwei Katastrophen. Feuilletons zur Welt des Kinos. Hrsg. von Helmut Peschina und Rainer-Joachim Siegel. Göttingen: Wallstein Verlag 2014, S. 7. [Alle Zitate aus Roths-Feuilletons entstammen dieser Ausgabe – D. T.] 15 Ebd., S. 8.

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Dieser Feuilleton bezeugt, dass Roth sich in diesem Bereich als Filmkritiker gut auskennt und dass er die Hoffnung hegt, »[…] der Film werde ›eine neue Zeit‹ im wahrsten Sinne des Wortes ›anschaulich machen‹. Roth imaginiert einen neuen Realismus in der Darstellungskunst – eine ›Natürlichkeit‹ –, die ›Byzantinismus und Tartüfferie‹ der Kaiserzeit vergessen lassen. Diese Natürlichkeit wird er beim Unterhaltungsfilm mit seinen monumentalen Erzählungen, unwahrscheinlichen Wendungen und dem einsetzenden Starkult nicht finden.«16 Damit Drehbuchautoren diesen Anforderungen gewachsen sein können, erteilt ihnen Roth zahlreiche Ratschläge. Seiner Meinung nach verlangt die starke Wirkung des filmischen Mediums einen verantwortungsvollen Umgang mit seinen Mitteln. Nicht den Spielfilm, sondern den Dokumentarfilm betrachtet Roth jedoch als wichtig für die Zukunft des neuen Mediums. Priwitzer bezeichnet sogar Roths Feuilletons zum Film als »eine Hymne auf die Kunst des Dokumentarfilms«: »Doch seine wahre Leistung vollbringt der Film in den Augen Roths nicht als Spiel- oder Unterhaltungsfilm, sondern als Dokumentarfilm. Nur dann könne der Film sich überhaupt von anderen Kunstformen, insbesondere vom Theater, emanzipieren. Die Themen, die sich Roth vorstellt, sind so vielfältig wie die Welt.«17 Im Zentrum von Roths Erwägungen stehen oft die Wechselbeziehungen der Filmwelt und der Realität; nicht selten betont er auch die Veränderbarkeit der außerfilmischen Wirklichkeit und die Möglichkeiten ihrer Wiederspiegelung, die der Film anbietet: »Wunder der Vorzeit sind Selbstverständlichkeiten der Gegenwart. Das Unglaubliche von heute wird morgen alltäglich. Dieses Alltägliche von morgen, heute schon verwirklicht zu sehen, ermöglicht die Scheinwelt des Kinos.«18 Zu den Aufgaben des Kinos gehört nämlich: »Das Verborgene aufzudecken, Geheimnisse zu entschleiern, das Unsichtbare darzustellen […].«19 Nur dann, wenn diese »Möglichkeiten des Unmöglichen«20 im Kino genutzt werden, kann dieses Medium nicht mehr als Konkurrent des Theaters betrachtet werden, sondern als dessen notwendige Ergänzung. Roth bemerkt, dass der Film nicht versucht, ans Theater anzuknüpfen, sondern an die bildende Kunst: »Nicht an die Dichtkunst im überlieferten Sinn, sondern an eine neue, die, vom Wort losgelöst, nur die Eigenschaften der dramatischen Spannung, der erweiterten Phantasie, der Plastik in ihren Werken beibehält. Der Film gibt zu, daß er mit Schatten arbeitet und er beansprucht für seine Schatten das gleiche Maß von Anerkennung, daß 16 Priwitzer, Jens: Das Kino als Erziehungsanstalt. (Zugriff am 15. 05. 2019). 17 Ebd. 18 Roth, Scheinwelt, S. 35. 19 Ebd., S. 36. 20 Ebd.

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man den Körpern auf der Bühne zollen zu müssen glaubt. Er verlangt Respekt für seine Stummheit, wie das Theater für seine Beredtheit, und er glaubt in eine Zukunft zu weisen, in der das Wort überflüssig und das Sprechen unrentabel sein wird; in der, ebenso wie der Funkspruch oder ein Scheinwerfer die Zeitung ablöst, die Sprechbühne verschwunden ist und der fixere Film an ihre Stelle tritt.«21

Die frühen Beiträge Joseph Roths zu Film und Kino sind also von deutlicher Faszination für das neue Medium geprägt, was sich jedoch im Laufe der Zeit ändert, indem seine Einstellung immer kritischer wird. Er schreibt zwar noch mit großer Begeisterung über einige Erscheinungen und sogenannte »Sensationen« in der Filmwelt, aber auch über gewisse Enttäuschungen in der Branche: »In den Regionen des Films ereignet es sich oft, daß eine mit Spannung erwartete Sensation das Aussehen einer künstlerischen Katastrophe annimmt. Ich bin immer überrascht, wenn es anders kommt. Denn die Hersteller auch des künstlerisch ambitionierten Filmwerks rekrutieren sich aus der ›Branche‹. Das ist eine Gruppe von Fachleuten, in der die Geschäftemacher ebenso heimisch sind wie die Idealisten, die Halbgebildeten wie die gründlichen Theoretiker, die charakterlosen Dilettanten wie die verantwortungsvollen Künstler.«22

Viel Platz widmet Roth dem Begriff der »Branche«, also der Gesamtheit der mit Herstellung und Aufführung von Filmen stehenden Unternehmen und Personen, die er folgendermaßen charakterisiert: »Die ›Branche‹ (die Filmbranche meine ich) ist im Grunde eine friedfertige Vereinigung von Konkurrenten, an deren natürlichen, angeborenen Pazifismus zu zweifeln ich keinen Grund habe. Dennoch können diese Friedlichen, die ihre Geschäftskämpfe untereinander mit Plakaten, Flüchen und Inseraten ausfechten, auch sehr wild und martialisch werden, sobald es die Situation erheischt, die man in den Kreisen des Films ›Konjunktur‹ nennt.«23

Roth nimmt die Rücksichtslosigkeit verschiedenster Anstrengungen, die die Vertreter der Filmbranche unternehmen, um miteinander konkurrrieren zu können, mit besonderer Aufmerksamkeit wahr. Roths Kritik an der Filmszene bezieht sich aber nicht nur auf die Produzenten, sondern auch auf die Schauspieler, deren Verwirrung sich im beinahe wahnsinnigen Streben nach Ruhm am besten in Hollywood bemerken lässt, das in den zwanziger Jahren zur Welthauptstadt der Filmindustrie avanciert. Für Roth bedeutet dieses Zentrum der Filmindustrie kaum eine Traumfabrik; er assozziert es eher mit dem Reich des Teufels und mit einem Ort der ewigen Verdammnis, indem er schreibt:

21 Roth, Film auf der Sprechbühne, S. 78. 22 Roth, Drei Sensationen und zwei Katastrophen, S. 118. 23 Roth, Die »Branche« mobilisiert, S. 153.

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»Ich kam nach Hollywood, nach Hölle-Wut, nach dem Orte, wo die Hölle wütet, das heisst, wo die Menschen die Doppelgänger ihrer eigenen Schatten sind. Das ist der Ursprung aller Schatten der Welt, der Hades, der seine Schatten für Geld verkauft, die Schatten der Lebenden und Toten, an alle Leinewände der Welt. Dort kommen die Träger der brauchbaren Schatten zusammen und verkaufen die Schatten für Geld und werden selig und heilig gesprochen, je nach Bedeutung ihrer Schatten.«24

Der Feuilletonist betont dies, dessen sich alle Zuschauer bewusst sein sollen: Dass die Figuren auf der Leinwand keine Menschen sind, obwohl sie für ein paar Momente als real erscheinen. Die Schauspieler verkaufen ihre »Schatten« an das Kino, was sie selbst »Schattengestalten« nennen lässt. Roth kritisiert somit sowohl die Dummheit der Menschen, die versuchen, ihrem Lieblingsschauspieler nachzueifern, als auch die Oberflächlichkeit von Regisseuren und Drehbüchern.25 Er verfasste sogar eine Reihe von Beiträgen, in denen er einzelne Vertreter der Filmindustrie mit feinem Spott und dabei vollkommen passend in seiner typischen Eigenart schildert, wie zum Beispiel die sogenannte »Diva« – gefeierte Schauspielerin, die durch exzentrische Allüren von sich reden macht: »Sie ist sozusagen die Achse, um die sich eine ganze kleine große Welt von Filmkunst- und Kitsch, von Kinodramaturgie und Regie, von Klatsch und Intrige, Kabale und Liebe dreht. […] Denn das Licht eines weiblichen Filmsterns hat die sonderbare Eigenschaft, nur sich selbst zu beleuchten und andere zu beschatten.«26 Auch die Bestimmung des Regisseurs von Roth weist auf dessen typische Eigenschaften und Verhaltensweisen hin: »Er ist ein Maler, der nicht malt, ein Komponist, der nicht komponiert, ein Musiker, der nicht spielt, ein Priester, der nicht predigt, ein Sänger, der nicht singt. In der Hauptsache ist er ein Kritiker, der stets und aus Prinzip kritisiert. […] Der Regisseur ist ein Soll im Reiche der Filmkunst, allwissend, allsehend, allmächtig, nur leider nicht auch allgütig und allgerecht.«27 Roths Plädoyers für den Film als eigenständige Kunstform in Abgrenzung zum Theater, seine Bemerkungen zum Verhalten der Filmstars und zu der gesamten Filmbranche klingen mal sarkastisch, mal spöttisch, zweifellos vermitteln sie aber dem Leser ein anschaulisches und zugleich amüsantes Bild der Kinowelt seiner Zeit. Von Anbeginn beschreibt er aber mit besonderer Aufmerksamkeit den pädagogischen Einfluss des Kinos auf die Kinobesucher und beschäftigt sich mit denjenigen, die sich für das Kino begeistern. Wie Peschina und Siegel im informativen Nachwort zur Sammlung von Roths Feuilletons zur Welt des Kinos verzeichnen, hängt dies zweifellos damit zusammen, dass er 24 Roth, Im Lande der Wolkenkratzer, S. 202. 25 Vgl. Leitherer, Julia Elena: Sensationen über Sensationen. (Zugriff am 20. 06. 2019). 26 Roth, Die Diva, S. 16–17. 27 Roth, Der Regisseur, S. 17–18.

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immer auf der Seite der unteren Gesellschaftsschichten stand, deren Vertreter die Masse der Kinobesucher der 1920 Jahre ausmachten.28 Roth beschreibt die Wechselwirkung zwischen Film und Publikum, aber auch die Grenzen zwischen Schein und Wirklichkeit und positive Wirkungen der Scheinwelt auf die Rezipienten: »In tausenden solcher abseits liegenden Städtchen mag wohl das Kino die Rolle einer Erziehungsanstalt spielen. Eine künstliche Fata morgana, spiegelt es dem nach der ›großen Welt‹ dürstenden kleinstädtischen Lehrmädel das ›Leben‹ vor, jenes Leben, das ihm vielleicht immer unerreichbar bleiben wird. Aber aus schattenhaften Gestalten und Geschicken, Szenen und Handlungen in der Filmwelt der Leinwand baut sich der kleine Mensch ein zweites zivilisiertes manchmal sogar kultiviertes ›Ich‹, in dem er aufzugehen sich bemüht und manchmal sogar aufgeht.«29

In seinen Feststellungen ist Roth dabei so tief- und zugleich scharfsinnig, dass er sogar Unterschiede im Wahrnehmungsverfahren des europäischen und amerikanischen Publikums konstatiert, wie zum Beispiel in seinem Bericht über den amerikanischen Film »Die fremde Frau« festzustellen ist: »Der Film scheint (auch in Amerika) einer der mittelmäßigen, nicht mehr landes-, sondern bereits weltüblichen Kitschfilme zu sein, in denen ein unschuldig Leidender zum Schluß doch noch glücklich erlöst wird. […] Es ist leicht denkbar, daß das robuste und naive amerikanische Publikum sehr leicht bei solchen Dingen gerührt ist und weint. Das skeptischere europäische läßt diese unwahrscheinliche Geschichte vorüberflirren und macht höchstens Regiebemerkungen.«30

Die Unterschiede zwischen dem europäischen und amerkanischen Kino interessieren Roth auch in Bezug auf eine andere Frage, die er immer wieder zu beantworten versucht, nämlich ob der Film als Kunst, also als ein schöpferisches Gestalten angesehen werden kann oder nicht: »Die Foxfilme beweisen die Überflüssigkeit dieses Streits. Die deutschen Filme scheiden sich von selbst und a priori in Kunst- und gewöhnliche Unterhaltungsfilme. Aber ebenso, wie es hier und dort gelungen ist, künstlerische Unterhaltungsromane zu schaffen, so gelang in Amerika der künstlerische Unterhaltungsfilm. Manchmal ist der dem Film zugrunde gelegte Vorgang banal – aber dann sind Einzelheiten und Nuancen schauspielerisch vertieft. Manchmal ist der Vorwurf eine unwahrscheinliche Übertriebenheit – aber dann sind die Einzelheiten von packender Wahrhaftigkeit. In dem man also gewissermaßen Phantasieschlösser real fundamentiert, erzwingt man sich das Interesse auch des anspruchsvollsten Zuschauers. […] Tendenz: das heißt, Wille zu moralischer Besserung ist überall vorhanden. In Amerika rechnet man mit der Erziehungsmöglichkeit des Films. Bei uns ist der Zuschauer moralisch komplizierter als 28 Nachwort zu Roth, Drei Sensationen und zwei Katastrophen, 2014, S. 362. 29 Roth, Knigge im Film, S. 14. 30 Roth, Richard-Oswald-Lichtspiele [»Die fremde Frau«], S. 60.

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in Amerika. […] Man soll nicht die Absicht merken und verstimmt werden. – Im übrigen aber wird der deutsche Film viel von Wilhelm Fox lernen können.«31

Roth behauptet an mehrerer Stellen in seinen Feuilletons, dass der Film vor allem im Dienst einer vernünftigen Volksaufklärung stehen soll, er widmet der allgemein ausgeprägten Auseinandersetzung über Aufgaben und Ziele des Films, die sich 1925 konturiert, aber auch viel Platz. Er stellt dabei fest, dass das FeuilletonPublikum entsprechend zum Konsum mobilisiert werden soll: »Kritiker sollen also zum einen dazu beitragen, die Filmkultur zu veredeln, ihr den Weg zur Kunst zu weisen bzw. dort zu mahnen, wo zu weit von diesem Pfad abgewichen wird. Mehr aber als zur Nobilitierung soll die Kritik zur effizienteren Kommerzialisierung des Films beitragen. Sie soll fürs Kino in toto und für spezielle Filme werben, auf diese Weise sichern helfen, dass das Filmgeschäft sich rentiert – und aufgrund der anwachsenden Gewinne der Film sich weiterhin in Richtung Kunst entwickeln. […] Das Kino wird als moralische Schaubühne betrachtet und ist ein Requisit der Volkserziehung, wie Rohrstab und Einmaleins. […] Erziehung, meine Herren Filmautoren, nicht Moralpauke und wenn möglich – Kunst statt Kitsch!«32

Roth erkennt also das Potenzial des Kinos als »Erziehungsanstalt« der Massen, die Verhaltensregeln lernen können, indem sie Manieren und Gesten der Schauspieler übernehmen und sich dadurch zivilisieren und kultivieren können. Mit vielen Intellektuellen seiner Zeit teilt er aber auch den Spott über das neue Medium Film, den er besonders in seinen Beiträgen zu den technischen Möglichkeiten des Kinos und Themen, die es berührt, zum Ausdruck bringt. So schreibt er zum Tonfilm, dass »[…] der sprechende Film […] nicht etwa die Täuschung [verstärkt], daß die beweglichen Schatten lebendige Menschen sind, sondern […] viel eher von der Tatsache [überzeugt], daß sie Schatten sind. Die Stimme kommt gleichsam aus einer anderen, uns, den lebendigen Zuschauern, näheren Dimension. Die menschliche Stimme scheint eine sehr körperliche Demonstration zu sein, körperlicher als der Körper, dem sie entströmt. […] Und erst, da wir den Tonfilm haben, wissen wir, wie viel der Film der Begleitmusik zu verdanken hat. Sie macht nicht nur die Stimme überflüssig, sie ersetzt gleichsam die dritte Dimension (im Verein mit unserer Phantasie) – weil sie aus einer ›andern‹ Welt kam, um eine nachbarliche zu unterstützen.«33

Roths Kritik galt auch bestimmten Themen, die manchmal im Kino aufgegriffen werden: So kritisiert er am Beispiel des deutschen halbdokumentarischen Films »Douaumont« Filme, die kriegerisches Geschehen (oft in verherrlichender Weise) zeigen: 31 Roth, Foxfilme in der Alhambra, S. 93–95. 32 Roth, Der Tendenzfilm, S. 11–13. 33 Roth, Bemerkungen zum Tonfilm, S. 169–170.

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»Alle Kriegsfilme geben eine falsche Vorstellung vom Krieg, weil die Hersteller glauben (und was sollen sie anderes), eine möglichst dokumentarische geben zu sollen. Und wenn da noch tausend oder zehntausend blinde Granaten explodieren, um möglichst viel glaubwürdiges Getöse und authentischen Rauch zu erzeugen; und wenn da noch hundert oder fünfhundert Statisten mit zerschossenen Leibern liegen bleiben; so verstärkt all dieser Realismus in uns nur den latent vorhandenen Wunsch, die schreckliche Wirklichkeit, die wir erlebt haben, mit dieser nachgemachten zu vergleichen, und keinen Augenblick vermögen wir, dieser zu trauen. […] Und wir glauben, sagen zu dürfen, daß wir endlich auf alle und jede Kriegsdarstellung verzichten: ob die Filme ›gut‹ sind, ›besser‹ oder ›schlecht‹. Es gibt ihrer schon zu viele. Blut und Fleisch und menschliche Herzen haben dort die ›Hauptrolle‹ gespielt. Dieses Material ist etwas ganz anderes als Zelluloid. Eines vom andern ist genau so weit entfernt wie die Front von der Branche und weiter als Neubabelsberg von Verdun!«34

Roths Blicke auf das Phänomen Kino und insbesondere auf die Lehraufgaben des Kinos spiegeln seine (meist deutlich sozialistisch geprägte) Stellung zur Gesellschaft und zu dem jeweiligen politischen System wider, obwohl er sie oft hinter Ironie oder banalen Filmkommentaren versteckt. Anfänglich ist bei ihm noch ein größerer Optimismus bezüglich der Branche festzustellen, indem Roth den Film oft als Kunstform mit großem Potential zur subtilen Moralisierung des Zuschauers beschreibt. Später werden immer weniger positive Aspekte des Films thematisiert und immer stärker fällt die wachsende Abneigung Roths gegen die Entwicklungen des Films auf.35 Die Zeit, in der Joseph Roth als Kritiker und Beobachter die Welt des Kinos mit den Mitteln des Feuilletons beschreibt, zerfällt in drei Phasen: Die erste umfasst die Wiener Jahre 1919–1920, als er sich als junger Kritiker und Feuilletonist zum neuen Medium äußert; dann der Beginn seiner Berliner Jahre, als er an dieser Thematik weniger interessiert ist als an seinem Aufstieg zum anerkannten Journalisten, der Filmkritiken nur als Broterwerb betrachtet; und als letzte Phase lässt sich die Mitte der zwanziger Jahre nennen, in denen sich Roth als etablierter Journalist seltener zum Film äußert, und seine Kritik am Film und an der Filmindustrie in sein literarisches Werk einfließen lässt.36 Aber auch in der Zeit, als sich Roth nur sporadisch zu diesem Thema ausspricht, spielen Film und Kino bis zu seinem Tod im Pariser Exil 1939 in seinem eigenen Leben eine bedeutende Rolle. Er versuchte durch eine Zweitverwertung seiner Romane mit der Filmbranche in Kontakt zu kommen, dann verfasste er sogar drei Filmentwürfe, denn wegen seiner immer schwieriger werdenden fi34 Roth, Schluß mit den Kriegsfilmen! S. 193–197. 35 Leitherer, Julia Elena: Sensationen über Sensationen. (Zugriff am 20. 06. 2019). 36 Anmerkungen zu Roth, Joseph: Drei Sensationen und zwei Katastrophen. Feuilletons zur Welt des Kinos. Hrsg. von Helmut Peschina und Rainer-Joachim Siegel. Göttingen: Wallstein Verlag 2014, S. 270–351.

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nanziellen Lage im Exil sah er den Film als einzige Möglichkeit, finanziellen Schwierigkeiten zu entgehen. Aus diesem Grund versuchte Roth sich – trotz seiner Distanz zur Filmindustrie – auch als Drehbuchautor. Zu einer Realisierung seiner Filmidee ist es aber nicht gekommen und als Filmautor blieb er erfolglos, diese Texte wurden nie verfilmt.37 In fast hundert Texten, die im Zeitraum von 1919 bis 1935 veröffentlicht wurden und in denen Roth sich mit dem Thema Film beschäftigt, gebraucht er eine Vielfalt der Formen: Neben Feuilletons, satirischen Aphorismen, Glossen, Studien von Stars und Publikum sowie Filmtypen »[…] entstehen […] unter dem Titel ›Dialoge‹ kurze Artikel, in denen Roth den Filmbetrieb mit Hilfe der literarischen Form von Minidrama und Doppelconference, wie damals im Kabarett üblich, betrachtet.«38 Das neue Medium beschäftigt ihn auch in seiner Prosa, wo – besonders in seinen Romanen – die Welt des Films und des Kinos oft als Sinnbild für Bedrohung und Verführung steht, Unmoral und Sittenlosigkeit herrschen, und die Macht der Verzauberung durch die Filmtechnik sowie der Verführung zum Bösen thematisiert werden.39 Der Sprachstil, den Roth in seinen Kino- und Filmbeiträgen verwendet, ist für seinen feuilletonistischen Stil typisch: »Die Leichtigkeit der Sprache erscheint als Kinderspiel, als Seifenblase: schillernd, vergänglich und nutzlos, wenn man nicht an zweckentbundener Schönheit selbst Freude hat. […] Roth, der einerseits für Unterhaltung und Amüsement plädiert, dem Langeweile als ethische Verwerflichkeit gilt, erhebt andererseits Anspruch auf eine solche Gültigkeit seiner Arbeit: ›man darf doch auch auf einer halben Seite einer Zeitung gültige Dinge sagen?!‹40 Zwei Positionen folgen aufeinander und widersprechen einander – ebenso wie die beiden in [Roths] Text aufzufindenden Thesen, der schlechte Ruf des Feuilletons beruhe einerseits auf dem Stil der Pathetiker bzw. andererseits auf demjenigen der Antipathetiker. Diese unaufgelöste Widersprüchlichkeit wirkt wie ein Symptom feuilletonistischer Unverbindlichkeit.«41

In seinem gesamten journalistischen Werk verkündigt Roth die Subjektivität, demnach scheinen ihm auch in seinen Filmfeuilletons »[…] nur solche Sicht37 Vgl. Nachwort zu Roth, Drei Sensationen und zwei Katastrophen. 2014, S. 384. 38 Ebd., S. 363. 39 Mehr dazu Capovilla, Andrea: Der lebendige Schatten. Film in der Literatur bis 1938. Wien/ Köln/Weimar : Boehlau 1994. 40 Roth, Josef: Feuilleton. In: Berliner Börsen Courier 24. 07. 21. Zit. nach: Jäger, Christian/ Schütz, Erhard: Städtebilder zwischen Literatur und Journalismus. Wien, Berlin und das Feuilleton der Weimarer Republik. Wiesbaden: Deutscher Universitäts-Verlag 1999. S. 288. 41 Jäger, Christian/Schütz, Erhard: Städtebilder zwischen Literatur und Journalismus. Wien, Berlin und das Feuilleton der Weimarer Republik. Wiesbaden: Deutscher Universitäts-Verlag 1999. S. 288.

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weisen für den Leser zumutbar, die erkennbar das ›ich‹ des Berichterstatters oder Deuters durchlaufen haben, die eindeutig von dessen Welt- und Wertvorstellungen berührt und damit gleichsam veredelt oder geadelt werden, sich damit aber auch als Kunstprodukt jenseits der reinen Wirklichkeit offenbaren.«42 Im Laufe der Zeit wird seine Zu- und Abneigung zum Film und zur Kinowelt wechseln, aber trotz seiner ambivalenten Einstellung dem neuen Medium gegenüber gilt das als unbestritten, was Roth in einem seiner Streiflichter bemerkt: »Der einzige Unterschied zwischen dem wirklichen Leben auf Erden und dem vorgestellten auf der Leinwand ist nur der : Die Erde ist rund, und die Leinwand ist flach.«43

42 Frank, Michael: Objektivität ist Schweinerei. SZ-Serie über große Journalisten (XX) – Joseph Roth. (Zugriff am 31. 05. 2006). 43 Roth, Streiflichter, S. 26.

Gegenwartsreflexionen

Joanna Drynda (Poznan´)

Problematisierung der Identitätsfragen im Werk von Anna Kim

Abstract Der Beitrag geht der migrationsbedingten Identitätsproblematik im Werk der österreichischen Autorin Anna Kim nach. Im ersten Schritt werden die wichtigsten Thesen der Diskussion über die Identitätsproblematik im Kontext der Migration dargestellt. Vor diesem Hintergrund wird auf Kims Essays eingegangen, die, von persönlichen Erfahrungen ausgehend, die gegebene klassifikatorische Ordnung abtasten. Schließlich werden (Neu)Figurationen von komplexen Identitätsfragen im fiktionalen Werk analysiert, um zu prüfen, inwiefern das Romanwerk auf eine Überwindung der Vorstellung von der reinen Identität hinzielt.

Einleitung Anna Kim (Jg. 1977), für ihr »beachtliches Sprachkunstwerk«1 mehrfach ausgezeichnet, gehört zu etablierten AutorInnen der jungen österreichischen Literaturszene. Dennoch kommt kaum eine Buchbesprechung ohne den Hinweis aus, sie sei in Südkorea geboren. Trotz der Beteuerungen der Autorin, ihre Identität sei im Deutschsprachigen verankert,2 platziert der Suhrkamp Verlag die Information über das Geburtsland auf das Cover des Romans »Die große Heimkehr« (2017), als wäre eine Erklärung nötig, warum das Foto auf dem auf Deutsch verfassten Werk kein europäisches Gesicht zeigt. So stehen Migrationserfahrungen der Autorin, gerade im Zusammenhang mit dem Romantitel, als ein Interpretationsschlüssel im Mittelpunkt, was Ijoma Mangold zufolge von vornherein die Rezeption steuert,3 aber auch oft ein Schubladisieren bewirkt, 1 Streitler, Nicole Katja: Anna Kim: Die Bilderspur. (Zugriff am 18. 07. 2019). 2 Vgl. Kim, Anna: Verborgte Sprache. In: Zwischenwelt. Literatur – Widerstand – Exil, 2004, H. 1, S. 36–37. 3 Mangold, Ijoma: Alles Spione. Die österreichische Autorin Anna Kim hat einen raffinierten historischen Roman über den Kalten Krieg in Korea geschrieben: »Die große Heimkehr«. (Zugriff am 18. 07.

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gegen das sich Kim vehement wehrt, indem sie »Pseudogenres wie die ›Migrantenlitertaur‹« als eine Form »von feindlichem Artenschutz«4 zurückweist. Nicht zuletzt wegen Rezeptionsreflexe solcher Art postuliert Weertje Willms eine Reflexion darüber, wie in der literaturwissenschaftlichen Praxis »Aussonderungsprozesse« zu vermeiden wären, dennoch steht für sie fest, der Bezug zwischen dem Text und der Herkunft des Autors lasse sich wohl nicht ganz umgehen.5 Von dieser Voraussetzung geht Monika Behravesh aus, wenn sie konstatiert, dass die als ›interkulturelle Literatur‹ apostrophierten Texte sich durch »die Mehrfachzugehörigkeit der AutorInnen« sowie »durch eine bestimmte Thematik und spezifische Erzählverfahren« auszeichnen.6 Die Herkunft der AutorInnen mit »plurikulturelle[n] Hintergrund« mit der Thematik ihrer Werke wird auch Christa Baumberger in Verbindung gesetzt, mit dem Ziel, charakteristische, generationsspezifische Konstanten festzuhalten: Während die in den 1940er und 1950er Jahren geborene Autorengeneration sich um eine Klärung der sprachlichen und kulturellen Identität bemühe und die Zugehörigkeit zur deutschen Literatur betone, scheine eine solche Verortung für jüngere, in den 1970er Jahren geborene Autorinnen und Autoren nicht mehr vordringlich zu sein. Für diese dränge sich das Biografische nicht mehr so prominent auf, allerdings blieben »Migration und Fragen zu Integration und Identität« nach wie vor dominante Themen.7 Baumbergers Bemerkung trifft auf Anna Kims Werk zu, in dem Mobilität und Migration sowohl reflektiert als auch literarisch inszeniert werden. Während die Essays die Migration, und somit das Fremde in unterschiedlicher Gestalt, als Grundlage der heutigen Welt kenntlich machen und deshalb unvermeidlich auf Kategorien wie Identität, Herkunft oder Heimat zurückgreifen, handeln Kims Romane, die narrativ um das Fremdsein und die Entfremdung kreisen, grundsätzlich von der Problematik derartigen Kategorien. Um das aufzuzeigen, wer-

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2019). Zum Problem der vorbestimmten Rezeption vgl. Krauze-Olejniczak, Alicja: Migrationsroman, der gar keiner sei: Malin Schwerdtfegers Caf8 Saratoga. Überlegungen zu der (so genannten) Migrationsliteratur. In: Pluralität als Existenzmuster. Interdisziplinäre Perspektiven auf die deutschsprachige Migrationsliteratur. Hrsg. von Racula Ra˘dulescu; Christel Baltes-Löhr. Bielefeld: transcript 2016, S. 97–116. Kim, Anna: Invasionen des Privaten. Graz/Wien: Droschl 2011, S. 104f. [Hervorhebung im Original]. Vgl. Willms, Weertje: Interkulturelle Familienkonstellationen aus literatur- und sozialwissenschaftlicher Perspektive. Zusammenfassung und Diskussion. In: Die interkulturelle Familie. Literatur- und sozialgeschichtliche Perspektiven. Hrsg. von Michaela Holdenried; Weertje Willms. Bielefeld: transcript 2012, S. 257–269, hier S. 261. Behravesh, Monika L.: Migration und Erinnerung in der deutschsprachigen interkulturellen Literatur. Bielefeld: Aisthesis 2017, S. 163. Vgl. Baumberger, Christa: Autoren-Übersetzter. Poetik der Mehrsprachigkeit und Übersetzung seit 2000. In: Gegenwart schreiben. Zur deutschsprachigen Literatur 2000–2015. Hrsg. von Corina Caduff; Ulrike Vedder. Paderborn: Wilhelm Fink 2017, S. 199–208, hier S. 203.

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den zuerst Hauptakzente der Diskussion über Identitätsproblematik im Kontext der Migration skizziert. Vor diesem Hintergrund richtet sich der Fokus auf Kims essayistisches Werk, das die gegebene klassifikatorische Ordnung abtastet, um sie zu hinterfragen. Danach sollte den Figurationen von Identitätsfragen im fiktionalen Werk nachgegangen werden. Die zentralen Fragen, die sich für die folgenenden Ausführungen stellen, lauten: Inwiefern zielt Kims Romanwerk auf eine Überwindung der Vorstellung von der reinen Identität hin? Welche Bedeutung wird dynamischen, offenen Ich-Konstruktionen beigemessen? Wie werden in diesem Zusammenhang Identität und Heimat in Beziehung zueinander gesetzt?

Identitätsfragen im Kontext der Migration »Identität ist ein Krisenbegriff – wäre Identität nicht in der Krise, bräuchte man den Begriff nicht«, behauptet die Ethikerin Regina Ammicht Quinn und betont, dass die ohnehin problematischen Identitätsfragen besonders dann an Brisanz gewinnen, »wenn es um diejenigen geht, die ›fremd‹ oder ›anders‹ sind.«8 Die Erfahrungen der Fremdheit bzw. der Andersartigkeit gehen im Zeitalter der Globalisierung mit einer radikalen Individualisierung und Pluralisierung der Lebensformen, der anwachsenden Mobilität großer Bevölkerungsteile und mit globalen Migrationsströmen einher. Diese in spätmodernen Gesellschaften nicht mehr außergewöhnlichen Erfahrungen beschreiben laut dem Soziologen Heiner Keupp »strukturelle Dynamiken, die die objektiven Lebensformen von Menschen heute prägen«.9 Damit hängt eine Relativierung tradierter Werte- und Identitätskonzepte zusammen, welche für Keupp nicht nur »die Vorstellung einer lebenslang stabil wirksamer Identität«10 infrage stellt, sondern auch die Notwendigkeit bedeutet, auf »[k]ulturalistisch verengte Blickweisen«, welche »purifizierte Identitäten und Lebensweisen unterstellen«, zu verzichten, weil diese »die komplexen Realitäten hybrider Lebensmuster« verfehlen.11 Mit Nachdruck verweist Keupp auf den prozessualen Charakter der identitären Selbstverortung: Kontingenz, Diskontinuität, Fragmentierung, Bruch, Zer8 Ammicht Quinn, Regina: Ethik der Integration. In: Multikulturalität in Europa. Teilhabe in der Einwanderungsgesellschaft. Hrsg. von Elke Ari[ns; Emanuel Richter ; Manfred Sicking. Bielefeld: transcript 2013, S. 109–123, hier S. 115. 9 Keupp, Heiner : Familie ist nicht mehr das, was sie einmal war. Von der selbstverständlichen Matrix zum Balanceakt. In: Die interkulturelle Familie. Literatur- und sozialgeschichtliche Perspektiven. Hrsg. von Michaela Holdenried; Weertje Willms. Bielefeld: transcript 2012, S. 27–44, hier S. 40. 10 Ebd., S. 42. 11 Ebd., S. 29.

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streuung und Übergänge beeinflussen als zentrale Merkmale der Welterfahrung die Identitätsbildung, die zu einem Projektentwurf des eigenen Lebens werde, wenn nicht zu einer Verfolgung paralleler und partiell widersprüchlicher Projekte.12 Die Identität erscheint aus dieser Sicht als eine Summe verschiedener Teilidentitäten, die sich aus Interaktionen eines Individuums in diversen lebensweltlichen Zusammenhängen (Familie, Beruf, Freizeit, sprach- und kulturspezifische Kontexte etc.) auf synchroner und diachroner Achse ergeben. Deswegen sollte man, speziell im Kontext der Migration, von derartigen Identitätsvorstellungen Abschied nehmen, die so etwas wie reine Identitäten, ob individuell oder kollektiv verstanden, seien. Es geht, so Keupp weiter, »um die Überwindung von ›Identitätszwängen‹ und die Anerkennung der Möglichkeit, sich in normativ nicht vordefinierten Identitätsräumen eine eigene ergebnisoffene und bewegliche authentische Identitätskonstruktion zu schaffen.«13 Auf Keupps Modell der Patchwork-Identität14 rekurriert Behravesh in ihren Überlegungen zu Identitätskonzepten im Migrationskontext. Im Gegensatz zu Keupp distanziert sie sich von dem, wie sie behauptet, konzeptionell unscharfen Begriff Identität und schlägt eine terminologische Differenzierung vor: Sie spricht von der »Selbst- und Fremdidentifizierung bzw. -positionierung«, womit eine »konkrete explizite situations- und kontextabhängige Selbst- bzw. Fremdverortung in der sozialen Dimension«15 gemeint wird. Während das in Wechselwirkung mit Fremdidentifizierung und -positionierung stehende Selbstverständnis auf die biografische Kontinuität rekurriert, worunter die diachrone und synchrone Kohärenz der als Teilidentitäten bezeichneten sozialen Rollen verstanden wird, verwendet Behravesh den Terminus Zugehörigkeit in Bezug auf einen Partizipationsraum, der auf Konstruktionen von Gemeinsamkeiten und Verbundenheit beruhe und es ermögliche, gesellschaftliche und historische Verortungen zu erfassen, ohne dabei auf enthnisierende und kulturalisierende Beschreibungen auszuweichen.16 So wird der Blick auf den im Migrationskontext relevanten »Komplex aus multiplen Bindungen eines Individuums an verschiedene Kollektive«17 gelenkt. Die Vorteile des Zugehörigkeitsbegriffs gegenüber dem der kollektiven Identität begründet Behravesh in Anlehnung an Joanna

12 Vgl. ebd., S. 42. 13 Ebd., S. 29. 14 Vgl. Keupp, Heiner u. a.: Identitätskonstruktionen. Das Patchwork der Identitäten in der Spätmoderne. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1999. 15 Behravesh, Migration und Erinnerung in der deutschsprachigen interkulturellen Literatur. 2017, S. 67. 16 Vgl. ebd. 17 Ebd., S. 40.

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Pfaff-Czarnecka mit dessen Offenheit und Dynamik, die den prozessualen und situativen Aspekt der Zugehörigkeit hervortreten lassen.18 Des weiteren macht die Forscherin auf die Verflechtung von Sprache und Identität bzw. Zugehörigkeit aufmerksam. Ihre Argumentation stützt sich auf die Auffassung, individuelle Mehrsprachigkeit manifestiere sich gleichermaßen auf der Ebene der individuellen Identität.19 Zugleich werden Anhaltspunkte geliefert, um die Besonderheit der migrationsbedingten Mehrsprachigkeit zu präzisieren. Diese liege laut Behravesh darin, dass »anders als in der sukzessiven Mehrsprachigkeit hier biografische Erinnerungen einfließen und beide Sprachen […] sehr stark emotional besetzt und zugleich an Zugehörigkeits- und Identifizierungsfragen des Subjekts gebunden sind.«20

»Für mich war meine Zugehörigkeit eindeutig; für alle anderen zweifelhaft –«21 Mit diesen Worten bringt Anna Kim in dem Essay »Der sichtbare Feind (II)« (2015), in dem sie sich mit der Sichtbarkeit der Fremdheit ausweinendersetzt, und der argumentativ zum Teil auf frühere Essays zurückgreift, ihr Dilemma auf den Punkt – eine Diskrepanz zwischen der Selbst- und Fremdidentifizierung. Wie bereits in »Verborgte Sprache« (2004) und in »Invasionen des Privaten« (2011) geht sie auf das Befremden ein, das ihr Aussehen im Zusammenhang mit dem perfekten Sprachgebrauch erregt und spricht von »einer optischen Täuschung«22, die sich für die Umwelt aus einer vermeintlichen Eindeutigkeit der Oberfläche ergibt. Die Selbstpositionierung wird wie folgt markiert: »meine koreanische Biologie, ist das, was ich repräsentiere […]. Mein privates Ich speist sich jedoch nicht, entgegen der öffentlichen Meinung, aus meiner Biologie.«23 Beim Nachdenken über einen Identitätsfindungsprozess werden außer der Bürde der Repräsentation auch diverse Zuschreibungen problematisiert, die unabhängig von der Form, sei es als »Dissertationen, die die ramponierte Seele der Hybriden beschreiben«24, sei es als Alltagserfahrungen, wie etwa die, dem sichtbar Fremden lasse sich »nur mit einem tierischen Vokabular beikommen«, 18 19 20 21

Vgl. ebd., S. 46f. Vgl. ebd., S. 59f. Ebd., S. 61. Kim, Anna: Der sichtbare Feind (II). In: Kim, Anna: Der sichtbare Feind. Die Gewalt des Öffentlichen und das Recht auf Privatheit. St. Pölten/Salzburg/Wien: Residenz 2015, S. 81– 110, hier S. 101. 22 Ebd., S. 100. 23 Ebd., S. 100f. 24 Ebd., S. 95.

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eine »Entindividualisierung« oder »Entmenschlichung«25 bedeuten. Prekär sind die Zuschreibungen zum einen deshalb, weil sie Andere allein auf Grundlage ihres Aussehens als geringwertiger behandeln sowie fremden Kulturen die Komplexität absprechen; zum anderen, weil »sie von der dominanten Kultur als Wahrheit weitergegeben werden, die das hybride Kind […] als solche annimmt«.26 Festzuhalten sei an dieser Stelle, dass der verworrene Status eines Subjekts nicht von dessen mehrkulturellem Hintergrund abhängig gemacht wird, sondern von der gesellschaftlichen Sichtweise, die einen Fremden damit konfrontiert bzw. tyrannisiert, nicht aus einer Kultur zu stammen: Wenn einem vermittelt wird, so Kim, die kulturelle Homogenität sei die Norm, führe der Druck, sich zu einer Seite bekennen zu müssen, dazu, dass das Zögern einer Fehlleistung gleichkommt, einem »Unvermögen, einkulturig zu sein.«27 Die Autorin besteht auf der Mehrfachzugehörigkeit und distanziert sich ebenso von dem identitären »Ver- oder Gebot«28 wie von der Formulierung »zwischen den Kulturen,29 ohne die Probleme mit dem »Gewinn einer multiethnischen Biografie«30 – die Chance, zwei Kulturen auf eine intime Weise kennenzulernen – auszublenden: »Die doppelte Anstrengung im Ausbilden der Identität bestand und besteht darin, auf diesem Recht zu bestehen, mich nicht davon beirren zu lassen, dass Herkunftskultur nur im Singular angegeben wird.«31 Dabei ist der kulturelle Plural nicht nur gegen die Außenwelt zu verteidigen, sondern auch gegen die Familie. Wenn Kim sich in »Invasionen des Privaten« auf Keupps Identitätstheorie beruft, um den dialogischen Charakters des Identitätsprozesses anzudeuten und das Bedürfnis, von Anderen anerkannt zu werden, ohne in ihre Erwartungen einzugehen,32 geht es ihr in erster Linie um die Akzeptanz vonseiten des familiären Umfelds. Das in »Der sichtbare Feind« sezierte Unverständnis der Eltern hängt mit ihren Schwierigkeiten zusammen, in der Fremde Fuß zu fassen, und mündet in das Erschaffen zweier sprachlich und kulturell getrennten Räume. Dem öffentlichen Raum, der eine intensive Arbeit der Selbstinszenierung erfordert, stand das sich auf die Wohnung beschränkende Reich des Privaten entgegen. Die »Schattenwelt« mit ihrem »Schattenregime« wurde von einem »Kampf der 25 26 27 28 29

Vgl. ebd., S. 88 [Hervorhebung im Original]. Ebd., S. 102. Ebd., S. 103 [Hervorhebung im Original]. Kim, Invasionen des Privaten. 2011, S. 104. Kim, Der sichtbare Feind. 2015, S. 104 [Hervorhebung im Original]. In der Argumentation gegen das defizitäre ›Dazwischen‹ gibt es Parallelen zu Leslie A. Adelson: Against Between – Ein Manifest gegen das Dazwischen. In: Literatur und Migration. Text + Kritik. Sonderband. Hrsg. von Heinz-Ludwig Arnold. München: Richard Boorberg Verlag 2006, S. 36–46. 30 Kim, Der sichtbare Feind. 2015, S. 104. 31 Ebd., S. 105. 32 Kim, Invasionen des Privaten. 2011, S. 37–38.

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Identitäten« geprägt, »der sich in ersten Linie sprachlich ausdrückte«.33 Dieser Kampf bedeutet nicht allein das Festhalten der Eltern an der koreanischen Sprache und Kultur sowie die Angst, die kulturelle Identität zu verlieren, was von Vorwürfen begleitet wird, die Tochter »hätte die Seiten gewechselt, wäre zu den Fremdem übergelaufen«.34 Nicht minder gravierend erweist sich für das Selbstverständnis der Tochter die sprachlich bedingte Instabilität sozialer Rollen. Wenn Baumberger den jüngeren Autoren mit Migrationshintergrund einen Hang zum Lob der Mehrsprachigkeit attestiert, verweist sie darauf, es gehe hier weniger um das Drama eines neuen Spracherwerbs denn um die Erregung der Instabilität – nachgedacht werde über den schillernden Begriff der Grenze, ob Sprach-, Kultur- oder Landesgrenze, die zwischen »Freiheit und Gefangenschaft, zwischen Macht und Ohnmacht« verlaufe.35 Auch in dem in der Schattenwelt entfachten Identitätsstreit geht es um das Machtgefüge. »Sprechen als eine Frage der Machtausübung: Beherrsche ich eine Sprache, beherrsche ich nicht nur das Sprechen, Grammatik, Semantik, sondern auch mein Gegenüber«,36 heißt es in »Verborgte Sprache«, indes in »Der sichtbare Feind« eine sprachbedingte Verschiebung der Machtverhältnisse in der Eltern-Kind-Relation ins Visier gefasst wird: Der aus einem Sprachunvermögen resultierenden Elternohnmacht steht die Macht des Kindes gegenüber, das sich als Elternteil der Eltern wahrnimmt, indem es deren Kommunikation mit der Außenwelt kontrollieret oder manipuliert.37 Das alltägliche Dolmetschen für die Eltern wird von der Autorin wie folgt kommentiert: »ich war ihr Sprachrohr, ihre Sprachprothese, verborgte Sprache, so nannte ich meine Wörter, die ich nie behalten durfte, denn ich war die Bibliothek und der Bibliothekar […]. Denn meine Stimme musste ja immer zur Verfügung stehen: Sobald sie meine Sprache brauchten, musste ich sie hergeben. Die Sprache gehörte mir nicht, ich borgte sie her.«38

Während die verborgte Sprache als ein Ersatz, ein prothetischer Ausgleich einer unvollständig bleibenden Stimme, den Sprachlosen aus der Ohnmacht und somit zur Würde verhilft, ist die Enteignung der Sprache durch die Eltern für das Ich problematisch, weil sie dessen Integrität verletzt und das Ich immer wieder an seine Grenzen stoßen lässt. Die Unmöglichkeit einer klaren Grenzziehung taucht, oft in Verbindung mit Bildern der Reise, beim Nachdenken über Mehrfachzughörigkeit(en) als Topos 33 34 35 36 37 38

Kim, Der sichtbare Feind. 2015, S. 98. Kim, Invasionen des Privaten. 2011, S. 39. Vgl. Baumberger, Autoren-Übersetzter. 2017, S. 203. Kim, Verborgte Sprache. 2004, S. 36. Vgl. Kim, Der sichtbare Feind. 2015, S. 83f. Ebd., S. 93 [Hervorhebung im Original].

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auf. So werden etwa Passkontrollen, die imaginierte in reale Zugehörigkeiten verwandeln lassen, mit folgendem Kommentar begleitet: »Diese Art der Grenzziehung funktioniert reibungslos nur bei eindeutigen Menschen, vieldeutige […] widerstehen dieser Form der Eingrenzung […], denn sie sind nichts anderes als Personifikationen einer Entgrenzung«.39 Das Reisen, ein migrantisches Motiv schlechthin, wird metaphorisch an die Identitätskonstitution von Migranten und den mit ihnen nachdrücklich gleichgesetzten Kolonialisierten40 gekoppelt: »Beim Reisen bewege ich mich stets an Grenzen: Ich nutze die Möglichkeit voll aus, die Fremdheit bietet, genieße diese Rolle, die für mich mehr als nur eine Rolle ist – es ist ein Existenzkonzept, meine natürliche Umgebung: die Fremde ist der Ort, an den ich hingehöre. Die Reisende ist ein Großteil meiner Identität, ich bin Vollzeitreisende.«41

Die Identität einer Vollzeitreisenden, die in wandelnden Kontexten neu konturiert wird und daher jede Selbstverständlichkeit untergräbt, scheint eine Beheimatung auszuschließen. Heimat sei für Kim »ein entleerter Begriff«, weil das Heimatkonzept mit dem Prinzip von Ein- und Ausgrenzung so sehr an die Idee der Homogenität, der Einkulturigkeit gekoppelt sei, dass es ohne diese nicht funktioniere.42 Da zu der Idee Heimat auch Einsprachigkeit gehört, fühle sich diese an wie »ein weiter, leerer Raum, durch den dann und wann ein Gefühl huscht, das als Wort getarnt ist«43, ein Wort an der Grenze zur Ohnmacht.

Die Ohnmacht der Sprache entdecken Eine Verbindung von Sprache und Identität, von Sprache und (Ohn)Macht werden in dem Prosaerstling »Die Bilderspur« (2004) inszeniert. Das Motto aus Wittgensteins »Philosophischen Untersuchungen« – »Ein Bild hielt uns gefangen. Und heraus konnten wir nicht, denn es lag in unserer Sprache, und sie schien es uns nur unerbittlich zu wiederholen« – verweist peritextuell auf die Verhandlung der Identitätsthematik im Spannungsfeld von Bild, Sprache und Kunst. Die Autorin schildert die Beziehung einer Tochter zu ihrem malenden Vater, der als Emigrant fernöstlicher Herkunft trotz des Anscheins einer Faszination, die von ihm ausgeht, keinen Anschluss an die westliche Gesellschaft findet. Die Beziehung wird durch Abschiede geprägt, denn anders als das Kind, das in der 39 Kim, Invasionen des Privaten. 2011, S. 94 [Hervorhebung im Original]. 40 Vgl. Kim, Der sichtbare Feind. 2015, S. 105f. sowie Kim, Invasionen des Privaten. 2011, S. 104. 41 Kim: Invasionen des Privaten, S. 47 [Hervorhebung im Original]. 42 Vgl. Kim, Der sichtbare Feind. 2015, S. 106f. 43 Ebd., S. 95.

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Fremde schnell Wurzeln schlägt, muss der Vater »Heimat haben«.44 Zwischen Heimatbildern und einer regelmäßigen »Rückkehr ins Fremdvertraute«45 zerrissen, führen die Figuren ein sprachliches Machspiel vor. »[H]ilflos ohne K. wie Kind, Sprachrohr, Heimlich-Übersetzer, Wanderstab, erschöpft vom Fluten des Fremdseins«46, ist der Mann von der Sprache der Tochter abhängig: »Ich schummle die Übersetzung zwischen das Kreischen, helfe bei Fallen und Fällen, nennt er mich mein Sprechrohr«.47 Die Trennungen sind für die Tochter problematisch, weil der Vater sie in eine ihm fremde Welt weder begleiten kann noch will und weil er kein Verständnis für ihre Entfremdung aufbringt, die plastisch in einem Spiegelbild expliziert wird: »Verbringe heimliche Stunden vor dem Spiegelgesicht, studiere die Augen herab. Aus dem Gefühl des Fremdseins zum Ich entspringt das Fremdsein zur Welt. Ein Fehler scheint unterlaufen: Innen und Außen unversöhnlich.«48 Das Zitat deutet klar darauf hin, dass die zwischen dem Ich und den Anderen ausgetauschten Blicke sich auf kein Bild einigen können. Da die Sprache ›unerbittlich‹ an der Stelle ist, an der Alternativen denkbar sein müssten, erlaubt sie es nicht, über die Grenzen des Bildes zur Wirklichkeit hinauszugehen – stattdessen liefert sie ständig dasselbe Bild oder überhaupt nur Bilder, und sei es nur Wunsch- oder Zerrbilder. Ganz im Sinne von Wittgensteins Diktum, in der Sprache werde alles ausgetragen,49 weist die Autorin dem jeweiligen Gefangensein in Projektionen, das eine Kluft zwischen Vater und Tochter zeitigt, die Gestalt einer anderen Sprache zu: »Vater versucht […] mal in seiner, mal in meiner Sprache Abschiedsworte zu finden. […] Es fällt mir schwer, eine Antwort zu geben. […] Antworte ich schließlich in meiner Sprache, Fremdsprache, lese ich Nicken zurück.«50 Das Bewusstsein, in der Sprache gefangen zu sein, wird aber nicht durch das Erschaffen einer neuen Sprache, der Bildersprache, kompensiert,51 vielmehr besteht die Funktion von Bildern im wörtlichen Sinn, von Gemälden, im Veranschaulichen, dass die Sprache der Bilder dem Künstler erlaubt, sich freimütig zu äußern, was in der Fremde die einzige Möglichkeit bildet, sich als Subjekt zu positionieren. Als Bildschöpfer ist der Vater auf keine prothetische Sprache 44 45 46 47 48 49

Kim, Anna: Die Bilderspur. Graz/Wien: Droschl 2004, S. 18. Ebd., S. 23. Ebd., S. 73. Ebd., S. 10. Ebd., S. 22 [Hervorhebung im Original]. Vgl. Wittgenstein, Ludwig: Philosophische Grammatik. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1978, S. 143. 50 Kim, Die Bilderspur. 2004, S. 23. 51 Vgl. Horv#th, Andrea: Fremdheit und Mehrsprachigkeit in Anna Kims Die Bilderspur. In: Werkstatt, 2012, H. 7, S. 66–74, (Zugriff am 18. 07. 2019).

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angewiesen, was an der Umpolung der Machtverhältnisse demonstriert wird – beim Malen hat der Mann einen ursprünglichen Rang des mächtigen Elternteils wieder, der seinem Kind die Weltregeln erklärt: »Er lehrt K., den Pinsel zu führen, Kurven, Gerade zu ziehen, ohne zu zittern. Nimmt ihre Hand, führt sie die erste Länge.«52 »Bild sei Heimat«53 für beide Figuren in dem Sinne, dass es eine Befreiungssphäre ankündigt, ein Reich, in dem ein Ich ›ich‹ sagen kann. In einem ähnlichen Ton äußert sich die Autorin über ihre Schreibarbeit: »Schreiben bedeutet für mich, die Begrenztheit, in der ich mich im Grunde befinde, zu sprengen«.54 So wird in einem autoreflexiven Gestus erkundet, was im Bereich des Sagbaren liegt und wie die Relation zwischen Sprache und Identität literarisch darstellbar ist. Die verborgte Sprache als die Sprache einer anteilnehmenden Instanz, die das Schweigen von Sprachlosen zeitweilig unterbricht, wird in »Die gefrorene Zeit« (2008) anders konzeptualisiert. Die Fremdperspektive werde laut Martina Poljak in den politischen Dienst einer Annäherung an Opfer der Sprachlosigkeit gestellt.55 In dem Roman über die Folgen des Jugoslawienkriegs liegt die narrative Aufmerksamkeit auf den persönlichen Kriegstraumata eines jungen KosovoAlbaners, der seit Jahren nach seiner als vermisst geltenden Frau sucht. Zum Sprachrohr von dem in Österreich lebenden Arbeitsemigranten Luan Alushi wird die Ich-Erzählerin, eine Wiener Roter-Kreuz-Mitarbeiterin, die ihm den Ante-Mortem-Fragebogen ausfüllen hilft und sich bereit erklärt, »die Ohnmacht der Sprache zu entdecken«.56 Geht man mit Wolfgang Müller-Funk von Ricoeurs These aus, das Subjekt manifestiere sich symbolisch nur, indem es selbst erfährt, erzählt und erinnert,57 verweist die Tatsache, dass Luans Stimme nur durch die Erzählerin wiedergegeben wird, auf die Desintegration des Subjekts. Seine Teilidentitäten als Sohn, Ehemann, Familienernäher, Liebhaber, Migrant, Staatsbürger und Zeitzeuge sind nicht nur, mit Heiner Keupp gesprochen, in sich widersprüchliche Projekte. Vielmehr brechen sie als ein Identitätsgerüst infolge 52 Kim, Die Bilderspur. 2004, S. 72 [Hervorhebung von der Autorin]. 53 Ebd., S. 85. 54 Vgl. Kim, Anna: »Schreiben bedeutet für mich, die Begrenztheit, in der ich mich im Grunde befinde, zu sprengen«. Anna Kim im Gespräch mit Christa Stippinger. In: Anthologie »fremdLand«. Das Buch zum Literaturpreis »schreiben zwischen den kulturen« 2000. Hrsg. Von Christa Stippinger. Wien: edition exil 2000, S. 15–20, hier S. 19. 55 Vgl. Poljak, Martina: (Un)Erzählbare Geschicht(en) in Anna Kims »Die gefrorene Zeit«. In: Zagreber Germanistische Beiträge, 2012, H. 21, S. 165–180, hier S. 166. Zu Kims Verständnis des Politischen siehe auch: Bichler, Josef: »Wir lassen uns gerne täuschen«. Ein Interview mit Anna Kim. (Zugriff am 18. 07. 2019). 56 Kim, Anna: Die gefrorene Zeit. Roman. Graz/Wien: Droschl 2008, S. 9. 57 Vgl. Müller-Funk, Wolfgang: Zur Narrativität von Kulturen: Paul Ricoeurs Zeit und Erfahrung. In: Müller-Funk, Wolfgang: Kulturtheorie. Einführung in Schlagertexte der Kulturwissenschaften. Tübingen/Basel: Francke 2006, S. 291–310, hier S. 294.

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von Kriegserfahrungen zusammen, sodass nur noch Liebe,58 zur Ehefrau und danach zur Erzählerin, eine Illusion des Selbstwerts aufrechtzuerhalten scheint. Vom Ausmaß der inneren Auflösung zeugen Luans scheiternde Verbalisierungsversuche. »Zeigst an, dass es keine passenden Wörter mehr gibt, gleichzeitig suchst du, hangelst nach richtigen Sätzen«,59 heißt es, oder : »Du benutzt deine Hände beim Erzählen, versprichst dich oft, verhedderst dich ständig, deine Zunge holpert wie auf Kopfstein«.60 Das verzweifelte Ringen um Worte und Benennung wirft zum einen existentielle Fragen nach der menschlichen Identität, nach denkbaren Bezugspunkten des (Sich)Identifizierens sowie nach Möglichkeiten, die Identität sprachlich aufzuspüren, auf: »Identität laut Fragenbogen ist klar bemessen, sie setzt sich zusammen aus Geschlecht, Alter, Krankheit, Kleidung, Augenzeugenberichten und Zufallsbegegnungen. Im Sprechen unternehmen wir den Versuch, die verschwundene Person einzukreisen, festzuhalten, festzulegen.«61

Nicht weniger Platz wird, zum anderen, der »Identität der Toten«62 eingeräumt, den Fragen nach Grenzen dessen, was man als Menschen bezeichnen kann, nach einem Verhältnis zwischen Subjekten und deren leblosen, mitunter verstümmelten oder verwesten Körpern, »Menchendinger, Dingmenschen nach der Verwandlung«:63 »Knochengebilde […], kein Mensch aber auch kein Gegenstand, ein Zwitter, blicklos, hautlos, seelenlos […]; besitzt eine Leiche Identität, besitzen Leichenteile Identität, das ist dich ein Widerspruch, Tod bedeutet den völligen Verlust von Identität«.64 Wie Antonia Rahofer festhält, führe Kim dabei zwei Diskurse gegeneinander ins Feld, den medizinischen und erkenntnistheoretischen,65 wenn auch die Arbeit forensischer Mediziner und der Erzählerin auf dasselbe Ziel hinsteuert – auf das Zusammenfügen der Menschenreste, die 58 Zum identitätsstiftenden Charakter der Liebe vgl. Illouz, Eva: Warum Liebe weh tut. Eine soziologische Erklärung. Aus dem Englischen von Michael Adrian. Berlin: Suhrkamp 2011, bes. S. 226: »Weil die Erfahrung der Liebe eine Antwort auf die Frage des Wertes gibt, verfügt die Liebe in der Moderne über die Fähigkeit, sozialen Wert zu produzieren und zu stabilisieren.« [Hervorhebung im Original]. 59 Kim, Die gefrorene Zeit. 2008, S. 20. 60 Ebd., S. 69. 61 Ebd., S. 14f. [Hervorhebung im Original]. 62 Ebd., S. 113. 63 Ebd., S. 115. 64 Ebd., S. 117. Auch: »Wie viel Identität kann eine Leiche haben, ist sie doch nur der letzte Rest, der auf den vergangenen Menschen verweist, ein Negativabzug.« (ebd., S. 127). 65 Vgl. Rahofer, Antonia: Kriegsinhalt – Textgewalt? Zur Verschränkung von Erinnern und Erzählen in Anna Kims Roman »Die gefrorene Zeit«. In: Kriegsdiskurse in Literatur und Medien nach 1989. Hrsg. von Carsten Gansel/Heinrich Kaulen. Göttingen: V& R unipress 2011, S. 165–181, hier S. 173.

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Entdeckung einer Verbindung zwischen dem Vorher und Nachher, die (Re)Konstruktion von Identität. Doch anders als die Ärzte, die »Dolmetscher, zugleich Übersetzer«66 aus der Sprache des Todes, denen es gelingt, die Leiche der Vermissten zu identifizieren, verfehlt die Erzählerin ihr Ziel. »In jedem Fall bleiben Worte unauffindbar ; zurückgezogen in ein Gehäuse, verweigern sie sich selbst einem Versteckspiel, an dessen Ende sie unweigerlich auftauchen müssten«,67 lautet der Kommentar zum vergeblichen Versuch, Traumata in Worte zu fassen und die Erinnerung an die Tote mit ihren sterblichen Resten narrativ zu vereinbaren. Die Position der Beobachterin, die dem Mann ihre Sprache zur Verfügung stellt, selbst aber keine Erinnerung hat (»da sie mir nur berichtet wurde«68), beleuchtet auf der Metaebene zum einen den Konstruktcharakter der Erinnerung, zum anderen die Verschränkung von Erinnerung, Sprache und Identität.

»da das Individuum und die Gemeinschaft eins sind und der Einzelne unsterblich durch die Gruppe –«69 Die Erzählerin scheitert nicht nur an der Sprache als einem Darstellungsmedium, vielmehr ist das Fiasko bereits vorprogrammiert. Wiewohl die Erinnerung, wie Harald Welzer ausführt, nur durch emotionale Besetzung zustande kommt,70 wird das Projekt mit einem Anspruch auf Sachlichkeit gestartet: »Gefühle vermeiden, nach Fakten suchen: Namen, Zahlen, Orten«.71 Zum weiteren Problem wird die Tatsache, dass individuelle Erinnerungen in einem kulturspezifischen Kontext sprachlich kodiert werden und, wie Behravesh erläutert, nur aus ihm heraus erklärbar sind.72 Die Erzählerin signalisiert Luans Teilhabe an zwei Sprachen und somit die Partizipation an zwei kulturellen Traditionen: »es leben in dir zwei Zungen, eine vergangene und eine gegenwärtige, sie nähern sich von zweierlei Gedächtnissen, Identitäten«,73 hat aber zu dem Netzwerk sprachkodierter Bedeutungen, die dessen konkrete autobiografische Erinnerung rahmt, strukturiert und ihr Sinn verleiht, keinen Zugang.

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Kim, Die gefrorene Zeit. 2008, S. 115. Ebd., S. 127. Ebd., S. 34. Kim, Anna: Anatomie einer Nacht. Roman. Berlin: Suhrkamp 2012, S. 206. Vgl. Welzer, Harald: Das kommunikative Gedächtnis. Eine Theorie der Erinnerung. München: Beck 2005, S. 8 und 11. 71 Kim, Die gefrorene Zeit. 2008, S. 9. 72 Behravesh, Migration und Erinnerung in der deutschsprachigen interkulturellen Literatur. 2017, S. 68. 73 Anna Kim: Die gefrorene Zeit, S. 21 [Kursive im Original].

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Die Mehrfachzugehörigkeit kehrt als Problem in »Anatomie einer Nacht« (2012) wieder, wenn in der Romanform die zuvor in »Invasionen des Privaten« essayistisch enthüllten Kolonialisierungsfolgen Grönlands durch Dänemark thematisiert werden. Der Handlungsort ist eine fiktive grönländische Stadt Amar.q, »wo es nichts ausmacht, niemand zu sein«74, und in der »die Erinnerung auszutrocknen beginnt« und »ein Vergessen ein[setzt], das maßgeblich das Ende der Welt zu dem Macht, was es ist: zum Ende«.75 Die dermaßen pointierten Eigenheiten des Ortes geben der reflektierten Entwurzelung und kulturellen Stigmatisierung der Inuit den kontextuellen Rahmen. In einer komplexen Struktur werden Bilder von sechzehn Figuren verwoben, von denen sich elf innerhalb von fünf Stunden einer Nacht das Leben nehmen. Symptomatisch für inszenierte Aushandlungsprozesse der Zugehörigkeit erscheint die Geschichte der Protagonistin, die sich gegen den Freitod entscheidet. Sara, im Kindesalter von einem dänischen Paar adoptiert, zu einer Dänin und zur Verachtung des Barbarischen der Inuit erzogen, kann sich weder gegen noch für den »dreckige[n] Eskimo«76 entscheiden, für den sie trotz ihrer Sozialisation gehalten wird. »Vielleicht war ihr Dilemma, dass sie niemals Gemeinschaft fand, obwohl es genau das war, was sie sich sehnlichst wünschte […], aber selbst wenn sich Sara anderen Manschen anvertraute, gab es diese Distanz zwischen ihnen, das Fremdsein, das sich zwischen sie schob […], und nicht einmal sich selbst lernte sie kennen, weil sie es verlernt hatte, nach sich selbst zu fragen.«77

Wie aus der Passage hervorgeht, erscheint die Zugehörigkeit ohne ein Kollektiv nicht denkbar. Das Bedürfnis, einen festen Platz in einer Gemeinschaft und ihrer Geschichte und somit in einem breiteren historischen Kontext zu haben, entspringt dem Wunsch, dem eigenen Leben Bedeutung und Kontinuität zu verleihen. Freilich deutet Saras Bemühung, ihre »grönländische Geschichte auszugraben«,78 ein »erinnerungskulturelles Paradox« an, das Behravesh im Hinblick auf ein Defizit an Repräsentation der Migrationsgeschichte derart resümiert: »Die offizielle Erinnerungskultur hält trotz der langen Migrationsgeschichte an einem natio-ethno-kulturellen Narrativ fest und bietet damit keine Identifikationsangebote für die MigrantInnen und deren Nachkommen.«79 Auch nicht für die von Kim mit Migranten verglichenen Kolonialisierten – Amar.q zeigt sich als ein »Speicher für alles Vergessene, Vergrabene«.80 74 75 76 77 78 79

Anna Kim: Anatomie einer Nacht. Roman. Berlin: Suhrkamp 2012, S. 89. Ebd., S. 18. Ebd., S. 82. Ebd., S. 106. Ebd., S. 225. Behravesh, Migration und Erinnerung in der deutschsprachigen interkulturellen Literatur. 2017, S. 133. 80 Kim, Anatomie einer Nacht. 2012, S. 88.

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Die Frage der Selbstversorgung in einen gesellschaftlich-historischen Kontext konfrontiert die Protagonistin mit multiplen, für ihre Familiengeschichte relevanten Bezügen, so dass sie zu einer Grenzgängerin zwischen mehreren Kollektiven und Geschichten wird: Neben die soziohistorische Wirklichkeit Dänemarks mit ihren Narrativen, die im Grundton der einzigen Chronik Grönlands folgen, welche »die Verwandlung einer wilden in eine zivilisierte Welt«81 preist, treten die Narrative des Herkunftslandes sowie die Erzählungen anderer dänisierter Inuit. Saras persönliche Geschichte lässt sich daher nicht nur aus einem Zugehörigkeitskotext erklären, denn sie geht aus multiplen Zugehörigkeitskontexten hervor, was die inszenierte Verschränkung disparater Biografiefragmente auf der formalen Ebene vor Augen führt. Auch werden Saras individuelle Erinnerungen von Erfahrungen und kollektiven Erinnerungen verschiedener Gruppen so durchdrungen, dass eine eineindeutige Selbstidentifizierung allenfalls einer fraglichen Reduzierung gleichkommen würde. Umso mehr Bedeutung wird der Erinnerungsarbeit beigemessen: »Sobald die Erinnerung versiegt ist, gibt es das Leben nicht mehr«,82 heißt es in der letzten Romanpassage. Da die junge Frau keinen Selbstmord begeht, macht sie sich zur Pflicht, »als Lebenswillige Erinnerungen anzuhäufen«.83 Um ihrem Leben eine Chronologie zu geben, durchstöbert sie einerseits wie »das ›archivische‹, d. h. das externalisierte Gedächtnis«84 – besucht Archive, studiert Dokumente und Fotoalben, andererseits folgt Spuren autobiografischer Erinnerungen. Dabei zeigt sich die Erinnerung, die in Saras beide Sprachen einfließt, als ein vornehmlich emotiver Akt. Dass Emotionen und Gefühle als Generatoren von Sinn und Bedeutung fingieren, kommt explizit zur Sprache: »[Ich] versuche mich zu erinnern, beginne in meinem Kopf zu kramen, vielleicht krame ich nicht ausschließlich ich ihm, sondern auch darin, was man gemeinhin als Herz bezeichnet: Ich durchwühle meine Gefühle, denn sie sind auch Informationsträger, auch sie enthalten und verraten Erinnerung.«85

Außerdem wird sich die Frau der Tatsache bewusst, dass erlebte Erfahrungen nicht abgerufen, sondern narrativ erzeugt, geformt und gedeutet werden. Indem sie ihre Erinnerungen bis ins kleinste Detail notiert, zieht sie in Betracht, »dass man Geschriebenem nicht trauen dürfe, die Fiktionalisierung setzte ein, sobald sich ein Satz im Kopf forme und ins Papier geritzt werde. Gerade in einem Tagebuch

81 82 83 84

Ebd., S. 227f. Ebd., S. 299. Ebd., S. 294. Behravesh, Migration und Erinnerung in der deutschsprachigen interkulturellen Literatur. 2017, S. 93. 85 Kim, Anatomie einer Nacht. 2012, S. 176.

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[…] spricht ein fiktives Ich, die dramatisierte Version meiner selbst, die niemals genau das wiedergibt, was ich in diesem Moment spüre.«86

Die in einem »Dialog mit sich selbst«87 narrativ hergestellten Vergangenheitsversionen, die Sara je nach einem inneren Impuls in ein anderes, größeres Kollektiv einbinden, zeugen von nicht von einem wahrgenommenen Identitätsbruch, sondern von dem wahrgenommenen Konstruktcharakter des Ich, das sich aus der Gleichzeitigkeit mehrerer Bindungen ergibt.

»Was wissen Sie über Ihre Heimat?«88 Die Frage wird in »Die große Heimkehr« von einem alten Koreaner Yunho Kang an die Ich-Erzählerin gerichtet, die im Alter von vier Jahren von einem deutschen Paar adoptiert wurde und als Erwachsene in Seoul nach leiblichen Eltern sucht, um von ihnen zu erfahren, warum sie ihr »die Heimat genommen haben«.89 Wie Keupp ausführt, werden viele Sehnsüchte nach Heimat, Zugehörigkeit und Verortung in Urbildern von Familie gebündelt und verstärkt,90 daher fungiert als ein Bezugspunkt für Hannas Vorgeschichte die Familiengeschichte von Yunho. Sie wird vor dem Hintergrund Koreas Geschichte erzählt, wobei der Fokus auf den Jahren der japanischen Kolonialherrschaft (1905–1945), dem Koreakrieg (1950–1953) und auf dem titelgebenden Plan des nordkoreanischen Regime liegt, exilierte Koreaner heimzuholen. Obwohl der betagte »Archivar«91 verspricht, der Erzählerin narrativ Heimat zurückzugeben, zeigt sich diese entweder als ein geräumiger »Platzhalter«92 für diffuse Wunschträume oder als »eine heikle, furchtbare und furchterregende Religion«.93 Ersterer kommt dann zum Vorschein, wenn die Existenz koreanischer Flüchtlinge und der während des Zweiten Weltkriegs aus ihren Dörfern gezerrten und auf japanische Schiffe geladenen Zwangsarbeiter in Japan geschildert wird. Das Ziel der ›Gastgeber‹ scheint die Identitätsverleugnung der Ankömmlinge zu sein und der Zwang zu einem derart tiefen Eintauchen in die japanische Kultur, dass Koreaner bis zur Unkenntlichkeit in diese versinken. Das geforderte Konzept der Zwangsanpassung verstärkt einerseits Strategien der »Camouflage« – »die biegsame Identität der Zainichi« erlaubt ihnen »in der 86 87 88 89 90 91 92 93

Ebd., S. 225. Ebd., S. 295. Kim, Anna: Die große Heimkehr. Roman. Berlin: Suhrkamp 2017, S. 15. Ebd., S. 282. Vgl. Keupp, Familie ist nicht mehr das, was sie einmal war. 2012, S. 33. Kim, Die große Heimkehr. 2017, S. 14 [Hervorhebung im Original]. Ebd., S. 311. Ebd.

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Anonymität zu verschwinden, eins mit der Mehrheit, der Masse zu werden.«94 Andererseits führt er dazu, dass sich unter der koreanischen Minderheit die von dem Politikwissenschaftler Emanuel Richter analysierte »konfrontativ wirkende Verklärung der Heimat« entwickelt, die eine scheinbar homogene Identität vermittele und die im Gastland als ihrerseits geschlossenen Gruppenzugehörigkeit dem kulturellen Anpassungsdruck entgegengehalten werde.95 Die aus einem bloßen Gegenreflex »Heimathungrigen«96 sind ein leichtes Ziel für nordkoreanische Propaganda, wenn diese ihnen mit der schwulstigen Heimatrhetorik ein Zuhause vorgaukelt. Für politische Ziele eingespannt, wird Heimat in der zweiten Option, als Religion, wiederum als Vorwand benutzt, um die nicht mehr Erwünschten unter dem Deckmantel der Menschlichkeit loszuwerden: »Die Rückkehr aller Koreaner in ihre Heimat sei eine humanitäre Angelegenheit, erklärte die japanische Regierung. Mehr als eine halbe Million Menschen, viele von ihnen infolge ihrer Armut unzufrieden, gewaltbereit, gewalttätig, sehnten sich danach (ja, die Sehnsucht wurde ins Feld geführt), in ihre Heimat zurückzukehren; ihnen dies zu verweigern, sei unmenschlich…«97

Die von Yunho beschworenen Imaginationen von Heimat, ob als auf den Herkunftsraum bezogene Erinnerungen oder als Ankunftsentwürfe entworfene Projektionen, kreisen um einen bestimmten Ort, stellen aber damit Sesshaftigkeit als eine Realisierung menschlichen Lebenstraums heraus. Dem steht das Konzept der Ich-Erzählerin gegenüber, in dem der stete Ortswechsel kein beliebiges Nebeneinander von Orten schafft, sondern zu einer behaglichen Ortsvielfalt umgewertet wird: »[I]ch glaube nicht an den Ort Heimat«, heißt es in Hannas Polemik gegen den Vorwurf, sie sei »wahrhaftig heimatlos«, »Ich glaube dass es Orte gibt, die man liebt […], in denen sich die Seele zu Hause fühlt, Seelenlandschaften.«98 Indem die Frau das Phänomen einer lebensqualitätssichernden soziopsychischen Ortsbindung unterstreicht, argumentiert sie mit der Ortsvielfalt ähnlich wie Hermann Bausinger, der in seinem Plädoyer für »die Anerkennung der Heimatpluralität« auf Ulrich Becks einprägsamen Begriff der ›Ortspolygamie‹ zurückgreift.99 Heimat sei für den deutschen Kulturwissenschaftler »ein Kürzel für Orientierungssicherheit, für konstante und verlässliche 94 Ebd., S. 420 [Hervorhebung im Original]. 95 Richter, Emanuel: Multikulturalität und Demokratie. Zuwanderung und die konzeptionellen sowie praktischen Probleme der politischen Integration. In: Multikulturalität in Europa. Teilhabe in der Einwanderungsgesellschaft. Hrsg. von Elke Ari[ns/Emanuel Richter/Manfred Sicking. Bielefeld: transcript 2013, S. 41–70, hier S. 52. 96 Kim, Die große Heimkehr. 2017, S. 130. 97 Ebd., S. 328 [Hervorhebung im Original]. 98 Ebd., S. 281 [Hervorhebung im Original]. 99 Vgl. Bausinger, Hermann: Heimat und Globalisierung. In: Österreichische Zeitschrift für Volkskunde, 2001, H. LV/104, S. 121–135, hier S. 133.

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Beziehungen und Erfahrungen«, es sei jedoch nicht nötig, »Heimat quasi kartographisch festzulegen und einzugrenzen«, denn »Heimatbezüge und Heimatgefühle profitieren von der Vielfalt des Heimatlichen«.100 Für Bausinger bildet Heimat, von der Entgegensetzung von Fremd und Eigen abgekoppelt, ein gewichtiges Identitätsinstrument. Im Anschluss an Peter Weichhart geht er davon aus, die raumbezogene Identität leiste einen wesentlichen Beitrag zur psychischen Sicherheit und zur Konstanz. Akzentuiert werden aber, im Unterschied zu den einst mit dem Begriff Heimat verbundenen »Kontinuitätskonstruktionen«, die von aktuellen Befindlichkeiten ausgehenden »Konstanzerfahrungen«.101 Vor diesem Hintergrund wird der Unterschied zwischen Yunhos und Hannas identitätsstiftenden Heimatvorstellungen sichtbar. Anders als der alte Mann lehnt sie mit ihrer Erfahrung sowohl den Rückzug auf eine an den Boden gebundene Identität als auch Yanhos Fixierung auf Formen ethnisch-kultureller Identität und die ihnen vermeintlich zuschreibbaren gesellschaftlichen Effekte ab. Je detaillierter der Mann die Verwirrnisse seiner M8nage-r´-trois schildert, je präziser er die jeweiligen Bilder von ihm, seinem Freund und der von ihnen beiden gleichermaßen vergötterten Frau abgleicht, umso schneller zerschmelzen vor dem kühl resümierenden Auge der Erzählerin die gewohnten, auf der Kontinuität basierenden Begriffe Heimat und Identität. Erst im Rückblick wird sich der Mann der ungeahnten Dimensionen eines Spiels mit einer »Metamorphose« oder »Tarnidentität«102, mit sozialen Rollen, erfundenen Namen, Familien- und Herkunftsgeschichten, das in einem nahezu pathologischen Extrem Yunhos Geliebte Eve Moon vorführt, bewusst. Im Kontext der geschilderten geschichtlichen Prozesse sowie der Zwangsmobilität, die in einen individuellen Erfahrungsbereich aller Figuren hineinreicht, erweist sich Eves fluide Identität nicht als Fluch, sondern als eine kühne Überlebensstrategie. Die Frau passt sich an, indem sie ihre Identität – und ihre Heimat – nach den jeweils aktuellen Gegebenheiten der Zeit und der Umwelt neu bestimmt und instrumentalisiert. Dieses Modell hat für Hanna, die wahrscheinlich selbst, was Yunho mit seiner Erzählung andeutet, ein Opfer der aus politischen oder wirtschaftlichen Gründen erzwungen Ortsveränderung ist, wegen seines extremen Charakters keine Vorbildfunktion, schärft aber den Blick auf den prozessualen Charakter des Aushandelns von (Teil)Identitäten, von Ansprüchen auf die Anerkennung differenter Herkunftsgeschichten, von kulturellen Differenzen im Allgemeinen. So setzt Kim das in Szene, was Bausinger in Bezug auf das gesellschaftliche Faktum der Migration folgendermaßen formuliert: Es ist »unsinnig, Heimat nach dem Geburtsschein rationieren zu wollen, und es ist auch kein 100 Ebd., S. 130. 101 Vgl. ebd., S. 132 [Hervorhebung im Original]. 102 Kim, Die große Heimkehr. 2017, S. 348.

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Ausweg, die Menschen auf ihre Herkunft festzulegen und klare Verhältnisse mit puren Identitäten zu fordern.«103

Fazit: »Wir sind identitätswahnsinnig« Indem Anna Kim eine Unterscheidung zwischen dem Privaten und Politischen zurückweist und in ihrem Werk einem weiten sozial- und politikhistorischen Themenfeld nachspürt – als Bezugskontext fungieren Kriegs- und Kolonialisierungsfolgen innerhalb und außerhalb von Europa – zeigt sie auf, dass jeder Migration bereits andere Mobilitätsströme vorangingen und mutmaßlich auch noch viele weitere folgen werden. So erscheint das Phänomen der Migration und der Mobilität in seiner »Mobilitätsdichotomie«, wie Monika Shafi »den Kontrast zwischen freiwillig gewählter und erzwungener Bewegung«104 nennt, als eine universelle Erfahrung moderner Menschen, als »eine kulturelle Ur-Szene«,105 die wiederum eng mit Fragen nach Identitätsbildung verknüpft ist. »Identität in unseren Augen ist weniger eine Schnittstelle zwischen Subjekt und Gesellschaft als vielmehr eine Bedrohung«,106 schreibt Anna Kim in »Invasionen des Privaten« und subsumiert unter das kollektive, bedrohte ›Wir‹ Migranten und Kolonialisierte, die in derselben Weise dem starken Druck standhalten müssen, ihr Selbstbild einkulturig zu konturieren. Aus der in den Essays artikulierten Abwehr gegen den gesellschaftlich geforderten kulturellen Singular gehen entscheidende künstlerische Impulse aus. Gleichsam programmatisch für thematisierte Mehrfachzugehörigkeit(en) lesen sich Sätze, welche die Autorin ihrer Doppelgängerin aus Grönland in den Mund legt: »Warum ist es so schwierig zu akzeptieren, dass Abstammung und Identität nicht immer übereinstimmen müssen, fragt sie weiter. Und sie äußert den Verdacht, dass der gängige Begriff von Identität ein fundamentalistischer sei: Wir sind identitätswahnsinnig, sagt sie.«107

103 Bausinger, Heimat und Globalisierung. 2001, S. 134. 104 Shafi, Monika: A living. Wer tut so was, um sein Überleben zu sichern. Zur Problematik von Mobilität, Arbeit und Würde in Romanen der Gegenwartsliteratur. In: Gegenwart schreiben. Zur deutschsprachigen Literatur 2000–2015. Hrsg. von Corina Caduff/Ulrike Vedder. Paderborn: Wilhelm Fink 2017, S. 139–149, hier S. 142. 105 Moser, Natalie: Deutschsprachige Migrationsliteratur in der Schweiz? Zur Prosa von Ca˘ta˘lin Dorian Florescu. In: Pluralität als Existenzmuster. Interdisziplinäre Perspektiven auf die deutschsprachige Migrationsliteratur. Hrsg. von Racula Ra˘dulescu/Christel Baltes-Löhr. Bielefeld: transcript 2016, S. 173–189, hier S. 186. 106 Kim, Invasionen des Privaten. 2011, S. 38 [Hervorhebung im Original]. 107 Ebd., S. 103 [Hervorhebung im Original].

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In den Romanen, die poetologisch insofern verschieden sind, als jedem seine eigene Sprache zugestanden wird, zeigen sich dann Verbindungslinien und Knotenpunkte, wenn einige Facetten des ›Identitätswahnsinns‹ reflektiert werden. Die Werke demonstrieren desaströse Auswirkungen der Historie auf individuelle Lebensläufe und führen vor, wie eine historische Dimension der Identität einem Einzelnen Traumata an der Grenzen der Sprache aufzwingt. Die problematisierte Versprachlichung von Erfahrungen und Erinnerungen, welche die Identität überhaupt erst schafft, zeigt sich schon deshalb als diffizil, weil es zuweilen einer Vermittlungsinstanz bedarf, die eine Begegnung zwischen Unsagbarem und Sagbarem in Aussicht stellt und somit den Sprachlosen aus ihrer Ohnmacht verhilft. Außer der in Szene gesetzten Verschränkung von Sprache, Identität und Erinnerung, zieht sich als Leitmotiv durch Kims Romane auch eine Dekonstruktionsarbeit an dem Heimatbegriff. Trotz, oder gerade wegen der Erfahrungen des Grenzgängertums, ist die Orientierung am engen Umkreis gegenwärtig nicht unwichtiger geworden, allerdings hinterfragt Kim die Einengung auf lokale, homogene Bindungen und Zusammenhänge, die einer Vielfalt möglicher heimatlicher oder heimatlich anmutender Bezüge nicht gerecht werden. Wie aus den Ausführungen hervorgeht, wechselt die Autorin die Perspektive und statt einen etwaigen migrationsbedingten Identitätsverlust für Identitätsprobleme von Migranten und Kolonialisierten verantwortlich zu machen, betrachtet sie kritisch die gesellschaftliche Zugehörigkeitsvorstellung: »Identität ist nur akzeptabel, solange sie rein ist, ist sie gemischt, wird ihr der Staus der Identität aberkannt«.108 Durch den Blickwechsel wird nicht die ethnisch-nationale Identität eines Subjekts, sondern die jeweils biografisch fundierte Funktion konkreter Selbstpositionierung(en) in den Vordergrund geschoben und damit die Dynamik und Offenheit der Identitätsprozesse.

108 Kim, Invasionen des Privaten. 2011, S. 103f. [Hervorhebung im Original].

Joanna Ławnikowska-Koper (Cze˛stochowa)

Literarische Familien im Fokus des Wertewandels. Zu deutschsprachigen Familien- und Generationenromanen im 21. Jahrhundert

Abstract Der Themenkomplex Familie gehört zu den wichtigen Topoi der Literatur. Seit der Jahrtausendwende wird er mit großer Intensität und Effizienz von den AutorInnen der neuen Familien- und Generationenromane aufgegriffen, wovon der hohe Anteil auf dem Buchmarkt und die Anerkennung seitens Kritik und Leserschaft zeugt. Die Familie dient ihnen oft als Exponent des zivilisatorischen Wandels, indem die Familiennarrative den inter- und transgenerationellen Wertewandel widerspiegeln. Diese Prozesse betreffen zugleich die Familie selbst. Eine synthetische Betrachtung ausgewählter Romane aus Deutschland (I.-M. Mahlke, E. Ruge), Österreich (A. Geiger. A. Mitgutsch, A. Reitzer) und der Schweiz (W. Rohner, R. Schweikert) bestätigt, dass die literarische Familie im Familien- und Generationenroman ein Träger des globalen und lokalen zivilisatorischen Wandels und damit des Wertewandels ist, auch wenn inhaltliche und formale Differenzen im Hinblick auf die Herkunft und Erfahrung der SchriftstellerInnen festzustellen sind.

Einleitendes Es gibt in der Literaturgeschichte Topoi und Motive, die für Beständigkeit und Kontinuität der Literatur bürgen. Mag es auch paradox klingen, so sind sie doch oft Exponenten des sich in der außerliterarischen Welt vollziehenden Wandels. Zu dieser Gruppe von Konstanten, denen eine subversive Kraft innewohnt, gehört der Themenkomplex Familie.1 Die Literaturfähigkeit der Familie entspringt ihrem Spannungspotential, wie es Theodor Wolpers explizit zum Ausdruck bringt: »Da alle Lebensprobleme, auch die der Herrschaft, Einordnung und Rebellion und die des Zusammenlebens beider Geschlechter, in der Familie auf engstem Raum gegeben sind – zudem nicht nur innerhalb einer Altersgruppe, sondern über die Generationen

1 Goody, Jack: Die Entwicklung von Ehe und Familie in Europa. Berlin: Dietrich Reimer 1986.

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hinweg – ist ihre literarische Gestaltung für motiv- und themengeschichtliche Untersuchungen besonders interessant.«2

In jeder Epoche vollzieht sich kontinuierlich und oft unauffällig die Ablösung der schon tradierten Formen des Zusammenlebens durch neue kollektive Verhaltensmuster. Dieser Prozess war lange Zeit Gegenstand von Untersuchungen gesonderter Forschungsdisziplinen – heute wird er immer häufiger interdisziplinär erörtert. Darüber hinaus bietet sich die Literatur in ihrer kompensatorischen Funktion zur Wissenschaft als ein besonders sensibles Instrument an, um diese Wandlungsprozesse zu registrieren und somit zu archivieren. Denn literarische Texte als Kulturtexte ermöglichen einen vieldimensionalen Einblick in die Stationen der Entwicklung von Gesellschaften, darunter der Familien.3 LeserInnen weltweit sind die Namen Borgia, Rougon-Macquart, Plantagenet, Karamasow, Buddenbrook, Benet ein Begriff.4 Es ist fraglich, ob die heute tonangebenden literarischen Familien einzelner Literaturen jeweils einen so nachhaltigen Ruhm erlangen werden. Denkt man an die dem deutschsprachigen Lesepublikum bekannten Familien Matzerath, Schnier, Pokrifke, Kohut, Leondouri, Sterk, Powileit/Umnitzer, Bernadotte, so drängt sich die Frage nach dem Stellenwert, der Botschaft und der Rezeption der zeitgenössischen Familienprosa auf. Die neuen deutschsprachigen Familien- und Generationenromane, die von Aleida Assmann zu autonomen Formen des kollektiven Gedächtnisses erhoben wurden,5 etablierten sich auch als historisch und kulturanthropologisch brisante Referenztexte. Den Weltkonstruktionen dieser Werke liegen nämlich symbolische Ordnungen zugrunde, die sich nach außen chronotop als Konventionen und Riten erkennen lassen.6 Im Hinblick darauf wird behauptet, dass die literarische Familie im Familien- und Generationenroman ein Träger des globalen und lokalen zivilisatorischen Wandels und damit des Wertewandels ist. Die syntheti2 Wolpers, Theodor : Einleitung. In: Familienbildung als Schicksal. Wandlungen eines Motivbereichs in der neueren Literatur. Hrsg. von Theodor Wolpers. Göttingen: Vandenhoeck 1996, S. 7–16. 3 Mit der Sprache unseres digitalen Zeitalters ausgedrückt, umfassen diese Entwicklungen sowohl die familienbezogene Hard- als auch Software. Der Vergleich von Design und Operationsprogrammen der ersten Nokia-Handys und der Apple-Smarthphones der zweiten Dekade des 21. Jahrhunderts mit all ihren Funktionen illustriert diesen spektakulären Wandel. 4 Cullens heißen die Protagonisten der Vampir-Serie von Stephanie Meyer; der Name Weasley taucht in Joanne Rowlings Bestseller-Serie »Harry Potter« auf. Es sind Beispiele der populären Literatur von globaler Resonanz. 5 Vgl. Assmann, Aleida: Geschichte im Familiengedächtnis. In: Neue Rundschau 118, 2007, 1, S. 157–176. 6 Vgl. Martinec, Fritz/Nitschke, Claudia: Familie und Identität in der deutschen Literatur. Frankfurt a. M.: Peter Lang 2009 (=Regensburger Beiträge zur deutschen Sprach- und Literaturwissenschaft; 95).

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sche Betrachtung der im 21. Jahrhundert veröffentlichen deutschsprachigen Familien- und Generationenromane folgt daher einerseits der Frage nach den Variablen und Konstanten der literarischen Familienbilder (Familie als Subjekt / Wert an sich), andererseits wird nach dem historischen Wertewandel (Familie als Objekt / Werteträger) gefragt. Diese Herangehensweise rekurriert auf die Methoden der sozio- und kulturwissenschaftlichen Literaturwissenschaft in der textanalytischen Praxis.7 Es entspricht dem neuen transdisziplinären Paradigma, bestehend aus »Kognition und Narration, Erinnerung und Verdrängung, Identität und Alterität, Textualität und Modalität, Repräsentation und Inszenierung sowie Performativität und Theatralität«,8 das sich nach der kulturalistischen Wende nachhaltig durchsetzte.

Die reale und literarische Familie im Sog des (Werte)wandels Das materiale und soziale Umfeld der Familie ist seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts durch einen steten Wandel geprägt, was sich auf den Charakter der Familienstrukturen niederschlägt und sie sogar als »Indikator für die Typik und Tiefe eines sozialen Umbruchs« und »Seismographen einer fundamentalen Verschiebung gesamten sozialen Sozialsystems« ansehen lässt.9 Diese Diagnose impliziert fortdauernde Wandlungsprozesse der individuellen und kollektiven Familienbilder. Sie betreffen mehrere Gebiete und stehen seit über einem halben Jahrhundert im Fokus des wissenschaftlichen Interesses der Humanwissenschaften. Für weitere Überlegungen ist die Festlegung einer adäquaten Definition der Familie erforderlich, die nicht lediglich »ein gesellschaftlich erwünschtes Leitbild vom familiären Zusammenleben« wäre und die in der Familie von heute herrschenden Beziehungsmuster realistisch wiedergäbe.10 Am prägnantesten wird die Familie von dem Soziologen und Familienforscher Johannes Huinink definiert, der die Familie als generationenübergreifende Solidarge7 Vgl. Wagner-Egelhaaf, Martina: Literaturtheorie als Theorie der Gesellschaft. In: Literatur. Macht. Gesellschaft. Neue Beiträge zur theoretischen Modellierung des Verhältnisses von Literatur und Gesellschaft. Promotionskolleg Literaturtheorie. Unter Mitarbeit (als Hrsg.): Nikolas Buck/Dominic Büker/Maren Conrad/Pegah Byroum-Wand/Ana Ilic/Japhet Johnstone/Esteban Sanchino/Haimo Stiemer/Martin Stobbe. Heidelberg: Universitätsverlag 2015. S. 17–38. 8 Sommer, Roy : Kulturbegriff. In: Literatur- und Kulturtheorie. Hrsg. von Ansgar Nünning. Stuttgart: Metzler 2008, S. 396. 9 Spory, Anke: Familie im Wandel. Kulturwissenschaftliche, soziologische und theologische Reflexionen. Münster : Waxmann 2012, S. 2. 10 Stein, Margit: Familie und Familienentwicklung in Zahlen. Ein Überblick über aktuelle Studien und Statistiken. In: Familie als Ort von Erziehung, Bildung und Sozialisation. Hrsg. von Ursula Boos-Nünning/Margit Stein. Münster : Waxmann 2013, S. 7.

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meinschaft postuliert. Der gemeinsame Haushalt ist bei diesem Verständnis keine Voraussetzung mehr, was die Prognose einer »multilokalen Mehrgenerationenfamilie« als Familienmodell der Zukunft realistisch macht.11 Eine solchermaßen verstandene Familie integriert die überlieferten, theologisch, historisch, gesellschaftlich oder psychologisch geprägten Modelle und Funktionen, die sie jedoch variiert und neu definiert. Die literarischen Bilder der Familie spiegeln das prägnant wider. So entsteht ein Spannungsbogen und Balanceakt zwischen Realität der Familie und literarischer Fiktion, die mit ihren Strategien der Re- und Dekonstruktion, diese literarisiert. Die AutorInnen entwerfen also zeitgenössische Familienmuster (nicht unbedingt als Musterfamilien) in der Auseinandersetzung mit den vorgefundenen Formen des familialen Lebens. Der ausgedienten bürgerlichen Kleinfamilie patriarchaler Prägung stehen daher liberale, ökonomisch bedingte Familienformen entgegen. Das Zurückgreifen auf konservierte Familienbilder erfüllt jedoch geschichtlich eine wichtige Funktion, indem frühere und moderne Muster und Modelle der Familie sowie die Umstände ihrer Veränderung und Verschiebung thematisiert und archiviert werden.12 Dieses Prinzip gilt auch für den soziologischen Befund der Lektüre. Die neue Qualität der familialen Bande ergibt sich aus der Tatsache, dass eine geschlechterübergreifende Arbeit in der Familie nach 1945 zur Normalität wurde. Dazu führten zweifelsohne die Selbstverwirklichungskonzepte der Frau, affirmiert in den Gleichheitsparolen der zweiten Welle der Frauenbewegung. Im neuen Millennium ist die Familie kein exklusives »lebensbestimmendes System«13 mehr, denn angesichts der zivilisatorischen Entwicklungen hat sie ihre wirtschaftliche und biologische Rolle eingebüßt. Aus der heutigen Sicht der Familienwissenschaft bleibt die wesentlichste Aufgabe der Familie »die Organisation eines konsumorientierten Lebensstils, die gemeinsame Freizeitgestaltung und die Rekreation«14, mit der Einschränkung, dass die individuellen Einstellungen und Sinnzuschreibungen entscheidend sind. Die »mehrebenenanalytischen«15 Untersuchungen der Familiensoziologen bezeugen die fortgeschrittene Pluralisierung und Demokratisierung der Familie, was zu der Karriere

11 Huinink, Johannes: Familie. Konzeption und Realität. In: Informationen zur politischen Bildung. Familie und Familienpolitik 301, 2008, Bonn 2009. S. 4–14, hier S. 10. 12 Vgl. Ławnikowska-Koper, Joanna: Literarisierung der Familie im österreichischen Roman der Gegenwart. Kon/Texte – eine kulturwissenschaftliche Betrachtung. Berlin: Peter Lang Verlag 2018, S. 32–34. 13 Schipfer, Rudolf Karl: Epochen der Familie. Ein Streifzug durch 2000 Jahre Familie – von der Antike bis ins 21. Jahrhundert. In: »beziehungsweise«, Oktober 2008, S. 6–7. 14 Ebd.; vgl. dazu: Geschichte der Familie. Hrsg. von Andreas Gestrich/ Jens-Uwe Krause/ Michael Mitterauer. Kröner : Stuttgart 2003. 15 Vgl. Petzold, Mathias: Familien heute. Sieben Typen familialen Zusammenlebens. In: Television 14, 2001, 1, S. 16–19, hier S. 18.

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des Begriffs »familiäre Lebensformen«16 beitrug. Das soziologische Wissen lässt in den literarischen Familien »einerseits institutionelle Strukturen hervorheben und erkennen und veranlasst diese andererseits zu einer Auseinandersetzung mit den Funktionen von Ehe und Familie für Individuum und Gesellschaft«17. Darüber hinaus sind die Erkenntnisse der Familienpsychologie eine Wissensquelle über Krisenfaktoren (z. B. Bedrohungen der familiären Kommunikation und Interaktion)18 und deren Lösungspotenziale innerhalb einer Familiendynamik, was grundsätzlich der Erforschung der Qualität des familialen Lebens dient.19 Im Hinblick darauf erschafft die Psychologisierung der familiären Beziehungen in der Literatur aller Epochen, so auch in der Gegenwartsliteratur, glaubwürdige Identifikations- oder Erfahrungsmuster für die LeserInnen. Auch die theologische Debatte zur religiösen und weltlichen Rolle und Funktion der Heiligen Familie20 ist aus der Sicht der Gegenwartsliteratur produktiv, denn als ein Artefakt der Kultur bleibt die Heilige Familie eine der am tiefsten verinnerlichten Referenzinstanzen des abendländischen Familienbildes, die zur Diskussion über die hierarchischen und patriarchalischen Strukturen der Familie anregt.

Literarische Familien im Fokus der kulturwissenschaftlichen Literaturwissenschaft Die kulturwissenschaftliche Literaturwissenschaft dient der Analyse diverser kultureller Zeichen und ganzheitlicher Symbolsysteme, die autonom außerhalb der Literatur als Mittel kultureller Erinnerung auftreten, sie hilft bei der Erfor16 Huinink, Johannes: Zur Positionsbestimmung der empirischen Familiensoziologie. In: Zeitschrift für Familienforschung, 18, 2006,2, S. 212–252, hier S. 240. 17 Vgl. Ławnikowska-Koper : Literarisierung der Familie. 2018, S. 37. 18 Petzold, Matthias: Die Multimedia-Familie. Mediennutzung, Computerspiele, Telearbeit, Persönlichkeitsprobleme und Kindermitwirkung in Medien. Opladen: Leske& Budrich: 2000. Vgl. auch ders.: Medien im Alltag von Familien. In: Bundeskonferenz für Erziehungsberatung. Generation digital – Neue Medien in der Erziehungsberatung. Fürth: bke 2011, S. 14–30. 19 Vgl. ebd., S. 19. 20 Vgl. Knieps-Port Le Roi, Thomas: Wie heilig ist die Familie. Auf dem Weg zu einer »Theologie der Familie« zwischen kirchlichem Diskurs und familialer Wirklichkeit. In: Fragmentierte Familien. Brechungen einer sozialen Form in der Moderne. Hrsg. von Inge Kroppenberg/ Martin Löhnig. Bielefeld: transcript, S. 11–38; Erlemann, Hildegard: Heilige Familie. Ein Tugendvorbild im Wandel der Zeit. Kult und Ideologie. Münster : Ardey Verlag 1993; Peter Walter : Einige Annäherungen an das Thema »Familie« aus theologiegeschichtlicher Perspektive. In: Walter, Peter : Syngrammata. Gesammelte Schriften zur systematischen Theologie. Hrsg. von Thomas Dietrich/Michael Quisinsky/Ulli Roth/Tobias Speck. Freiburg, Basel, Wien: Herder 2015, S. 69–78.

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schung und Interpretation der Genese und Funktionen der Semiosphäre. So ermöglicht der kulturwissenschaftliche Ansatz in der Literaturwissenschaft die Ermittlung der Bilder kollektiver Sinnstiftung und oft auch Träger nationaler Identitätskonstruktion. Roy Sommer zufolge bieten »fiktionale Texte als ›AutoEthnografie‹ den Zugang zu den Selbstbeschreibungsdimensionen einer Gesellschaft und zu kulturellen Werten und Normen«21. Das wiederum ermöglicht eine Rekonstruktion der kulturellen Praxis einer Gesellschaft. Eben darauf rekurriert das Paradigma eines »social turn«22. Demnach registriert die Literatur soziale Spannungsfelder und Veränderungsprozesse gemäß einer kultursoziologischen Text-Kontext-Theorie. Die reale – und konsequenterweise auch die literarische – Familie sind dessen natürliche Exponenten. Das Phänomen und die Hochkonjunktur der zeitgenössischen deutschsprachigen Familiendichtung wird seit bald zwei Jahrzehnten intensiv eruiert.23 Maßgebend zeigt sich dabei nicht nur die Anzahl der Publikationen, sondern ihre Eigenart. Die meisten einschlägigen literaturhistorischen Studien behandeln solche Themen wie Kontinuität und systematisierende Aufarbeitung der Familienproblematik24, Geschlechterproblematik25, Erinnerungsdiskurs (Familie als Träger des kollektiven Gedächtnisses)26 und den Familienalltag. Der auffälligste Wesenszug des neuen, postmodernen Familien- und Generationenromans ist »die existentielle Verschränkung von Individuum, Familiengeschichte und nationaler Geschichte«27. Die Experten auf diesem Gebiet – Aleida Assmann, Michaela Holdenried, Sigrid Weigel, Martin Hilscher – erkennen das Potenzial des vertrauten, wenn auch neu definierten Genres im ethischen Bereich: und zwar im »Entlügen«28 der Familiengeschichte zwecks einer »vergangenheitsentlastete(n)«29 Selbstbestim21 Sommer : Kulturbegriff. 2008, S. 396. 22 Wagner-Egelhaaf, Literaturtheorie als Theorie der Gesellschaft. 2015, S. 18. 23 Vgl. u. a. Familie und Identität in der deutschen Literatur. Hrsg. von Martinec/Nitschke. Frankfurt a. M.: Peter Lang 2009 und Deutsche Familienromane. Hrsg. von Costagli/Galli. München: Fink 2010. 24 Hermann, Britta: Familienroman im 19. Jahrhundert. In: Deutsche Vierteljahresschrift für die Literaturwissenschaft und Geschichte 84, 2010, 2, S. 186–208. 25 Weigel, Sigrid: Topographien der Geschlechter, Kulturgeschichtliche Studien zur Literatur. Rowohlt: Reinbek bei Hamburg 1990; Weigel Sigrid: Genea-Logik. Generation, Tradition und Evolution zwischen Kultur- und Naturwissenschaften. München: Fink 2006. 26 Assmann: Geschichte im Familiengedächtnis. 2007, 1. S. 157–176. 27 Vgl. ebd., S. 160. 28 Holdenried, Michaela: Zum aktuellen Familienroman als erinnernder Rekonstruktion. In: Le Texte 8tranger [en ligne]. 2011, 8, Januar. (Zugriff am 15. 05. 2019). 29 Hilscher, Martin: NS-Geschichte als Familiengeschichte. »Am Beispiel meines Bruders« von Uwe Timm. In: Erinnern, Vergessen, Erzählen. Beiträge zum Werk Uwe Timms. Hrsg. von Friedhelm Marx. Göttingen: Wallstein 2007. S. 91–102, hier S. 93.

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mung der Nachfahrengeneration. Die formelle Aufarbeitung dieser Problematik hat eine neue Perspektivierung erzwungen, die in Form einer »Teleskopage«30 Einblicke in die Tiefe der Vergangenheit ermöglicht. Angesichts der seit ca. 2010 anhaltenden Popularität von Prosawerken, die neben der historischen auch die gegenwartsbezogene Problematik thematisierten, schlage ich eine eigene, an Michael Ostheimer orientierte Definition des Familien- und Generationenromans31 vor: »Der neue deutschsprachige Familien- und Generationenroman stellt die (oft durch Kommunikationsunfähigkeit gestörten) Gefühls- und Erfahrungswelten der Familienmitglieder im Spannungsfeld von individuellen und gesellschaftlichen Interaktionsund Transformationsprozessen, die vom privaten, kollektiven und kulturellen Gedächtnis unterminiert werden, dar. Die Komplexität der dargestellten Inhalte wird durch die realistische Erzählweise kompensiert.«

Tragende narrative Muster der meisten erzählten Familiengeschichten stützen sich nach wie vor auf die konstitutiven Familienmythen, zu denen die Einheit von Liebe, Ehe und Elternschaft, die Vorstellung von einem gemeinsamen Dach, von Familiennormen, von Leiblichkeit und gemeinsamer Elternschaft gehören.32 Des Weiteren greifen die AutorInnen auf die tradierten Motive wie Mutterliebe, Ehebruch, Vater-Sohn-Konflikt, Geschwisterzwist, Untergang der Familie oder die Bewahrung der Familie zurück.33

Wertesysteme literarischer Familien in deutschsprachigen Familien- und Generationenromanen nach 2000 Ronald Ingleharts Studie »The Silent Revolution«34 von 1977, die Erkenntnis und Beschreibung der Bedürfnisse und Werteinstellungen der postindustriellen 30 Holdenrided, Zum aktuellen Familienroman als erinnernder Rekonstruktion. 2011. 31 Ostheimer, Michael: »Monumentale Verhältnislosigkeit«. Traumatische Aspekte im neuen deutschen Familienroman. In: Gedächtnis und kultureller Wandel. Erinnerndes Schreiben. Perspektiven und Kontroversen. Hrsg. von Judith Klinger/Gerhard Wolf. Tübingen: Max Niemayer 2009, S. 149–166, hier S. 151. Bei der Erfassung des Phänomens des modernen Familienromans sind die Literaturforscher bemüht, die Faktoren der Ein- und Ausschlussmechanismen zu bestimmen. 32 Vgl. Cyprian, Gudrun: Familienbilder als Forschungsthema. In: Familienbilder : Interdisziplinäre Sondierungen. Hrsg. von Gudrun Cyprian/Marianne Heimbach-Stein. Opladen: Leske& Budrich 2003, S. 11. 33 Vgl.: Wenzel, Peter: Gattungsgeschichte. In: Metzler Lexikon der Literatur- und Kulturtheorie. Hrsg. von Ansgar Nünning. Stuttgart/Weimar: Metzler Verlag, S. 231–232, hier S. 231. 34 Ronald Inglehart: The Silent Revolution: Changing Values and Political Stiles among Western Publics. Princeton: Princeton University Press 1977; Deutsche Ausgabe: Die stille Revolution. Vom Wandel der Werte. Bodenheim: Athenaeum 1982.

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Gesellschaften enthält, eröffnete die weltweite öffentliche Wertewandel-Debatte.35 Das Paradigma des Wertewandels mit einer Gegenüberstellung von materialistischen und postmaterialistischen Werten wurde auch im deutschsprachigen Raum angenommen,36 und die 1960er Jahre wurden zugleich als Übergang zum Pragmatismus und Individualismus anerkannt.37 In Zusammenhang damit steht die Ablösung der traditionellen religiösen und kulturellen Normen durch pluralistische Werte.38 Nach Helmut Klages wurden die »Pflicht- und Akzeptanzwerte« durch »Selbstentfaltungswerte« ersetzt.39 Im Rahmen der Europäischen Wertestudien (EVS – European Values Study)40 durchgeführte Untersuchungen liefern aktuelles und relevantes Wissen über zeitgenössische Zustände europäischer Gesellschaften. Als eines der Signifikate dieser vieldimensionalen Prozesse wird der Wertewandel untersucht, und zwar aus der Sicht der Familie.41 Die fiktionalen Welten der Familiendichtung der Gegenwart gehen auf den durch soziale Transformationsprozesse ausgelösten normativen Wandel zurück, der seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts die Wertesysteme der Familienmitglieder nachhaltig prägt. Als Werte gelten dabei »allgemeine und grundlegende Orientierungsstandards, die für Denken, Reden und Handeln auf individueller und kollektiver Ebene Vorgaben machen und dabei explizit artikuliert oder implizit angenommen werden«42. Der Wertewandel in der Welt literarischer Familien ist ein Träger des trans- und intergenerationellen Selbstverständnisses der Protagonisten.

35 Wortführer der Debatte über den Wertewandel waren in der BRD u. a. Helmut Klages, Peter Kmieciak, Hans Jürgen Hippler, Elisabeth Wolf-Csan#rdy, Elisabeth Noelle-Neumann und in Österreich u. a. Paul Zulehner, Regina Polak, Hannes Wimmer, Fritz Plasser und Peter Ulram. 36 Noelle-Neumann, Elisabeth: Zeitwende. Der Wertewandel 30 Jahre später. In: Aus Politik und Zeitgeschichte 29, 2001, S. 15–22. 37 Heinemann, Isabel: Wertewandel. Version 1.0. In: Docupedia-Zeitgeschichte, 22. 10. 2012. (Zugriff am 15. 06. 2019). 38 Ebd. 39 Klages, Helmut/Hippler, Hans Jürgen/Herbert, Willi: Werte und Wandel. Frankfurt a. M.: Campus Verlag 1992, S. 40–41. 40 Diese 1978 von Sozialwissenschaftlern initiierte Langzeitstudie zur Erfassung menschlicher Wertorientierungen umfasste in den zwanzig Jahren mehr als 100 000 Personen in Europa und in der letzten Zeit in der ganzen Welt als WVS (die Erhebungen mit der FragebogenMethode werden alle neun Jahre wiederholt: 1981, 1999, 1999–2000, 2008). Die gesammelten Daten sind inzwischen eine wichtige Referenzquelle der empirischen Sozialforschung. 41 Heinemann: Wertewandel. 2012; Zum Thema Familienwerte vgl. Wirsching, Andreas: Agrarischer Protest und Krise der Familie. Zwei Versuche zur Geschichte der Moderne. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften 2004; von Oertzen, Christine: Teilzeitarbeit und die Lust am Zuverdienen. Geschlechterpolitik und gesellschaftlicher Wandel in Westdeutschland 1948–1969. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1999. 42 Neumaier, Christopher/Gensicke, Thomas: Wert/Wertewandel. In: Wörterbuch der Soziologie. Hrsg. von Günter Endruweit/Gisela Trammsdorf/Nicole Burzen. Konstanz: UTB 2012.

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Eine kulturwissenschaftlich orientierte Betrachtung der Literatur setzt die Festlegung von Referenzpunkten voraus, die den Wandelprozess erkennen lassen. Für den untersuchten Zeitraum (die ersten zwei Jahrzehnte des 21. Jahrhunderts) sind es die Einstellung zu Vergangenheit (Erinnerungsdiskurs), Produktionssphäre (Arbeit, Geldwelt, Globalisierung), Privatheit (Liberalisierung vs. Intimisierung), Medialisierung und Selbstreflexivität. Diese Problematik ist in den einschlägigen Familien- und Generationenromanen mit unterschiedlicher Intensität und Ausprägung präsent. Die vorhandenen Differenzen hängen mit der Herkunft und Erfahrungswelt der AutorInnen zusammen. Familienbücher sind ein bedeutender Teil der deutschsprachigen Literatur, worauf ihr hoher Anteil auf dem Buchmarkt und nicht zuletzt auch die Anerkennung seitens der Leserschaft und der Kritik verweisen. Ein Beleg hierfür ist etwa die stete Präsenz von Familienromanen auf der Shortlist für den Deutschen Buchpreis, der für deutsche, österreichische und Schweizer AutorInnen bestimmt ist. Zwischen 2005 und 2018 waren es vierzehn Titel, von denen fünf preisgekrönt wurden: 2005 Arno Geiger »Es geht uns gut«, 2007 Julia Franck »Die Mittagsfrau«, 2010 Melinda Nadj Abonji »Tauben fliegen auf«, 2011 Eugen Ruge »In Zeiten des abnehmenden Lichts« und 2018 Inger-Maria Mahlke »Archipel«. Diese ausgezeichneten Romane fokussieren das Thema Familie aus verschiedenen Perspektiven und könnten allesamt unter die oben angeführte Definition subsumiert werden. Sie machen die Familiengeschichte zum Perpetuum mobile der Zeitgeschichte und diese somit auch für den Leser erlebbar. Zugleich gewähren sie auch Einsichten in die Kondition der modernen Familie. Um die Gültigkeit dieser These für den ganzen deutschsprachigen Raum zu überprüfen, berücksichtige ich bei dieser Betrachtung ausgewählte Romane deutscher, österreichsicher und Schweizer AutorenInnen.

Deutschland Das Phänomen des deutschen Familien- und Generationenromans ist eine Folge der nachträglichen narrativen Auseinandersetzung der Enkel mit der Welt ihrer Großeltern und Eltern.43 Das übergeordnete Thema dieser Romane betrifft die Verwicklung von Mitgliedern der eigenen Familie der AutorInnen in die NSVerbrechen. Repräsentative Texte dieser Strömung, oft autobiografisch geprägt, sind Stephan Wackwitz’ »Ein unsichtbares Land« (2003), Tanja Dückers »Himmelskörper« (2003), Ulla Hahns »Unscharfe Bilder« (2003), Uwe Timms »Am Beispiel meines Bruders« (2003), John von Düffels »Houwelandt« (2004) oder 43 Vgl. Rutka, Anna: Erinnern und Geschlecht in zeitgenössischen deutschen Familien- und Generationenromanen. Lublin: Wydawnictwo KUL 2011.

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Michael Zellers »Die Reise nach Samosch« (2004). Fast zehn Jahre nach diesem ersten Boom des Familienromans und über zwanzig Jahre nach dem Mauerfall veröffentlichte Eugen Ruge seinen Debütroman »In Zeiten des abnehmenden Lichts«44, in dem er, wie Britta Langhoff es ausdrückt, »in wechselnden Perspektiven von bröckelnden Mauern sowie vom bröckelnden Familienzusammenhalt«45 erzählt. Der Spannungsbogen dieses von der Literaturkritik (wie früher auch Geigers »Es geht uns gut«) an den »Buddenbrooks« gemessenen Viergenerationenroman,46 der die ostdeutsche Wirklichkeit wachruft, hängen im doppelten Sinne mit dem »abnehmenden Licht« des Titels zusammen. Einmal steht diese Metapher für die große Geschichte: das Licht des Kommunismus erlischt; eine andere Assoziation geht auf die Aussage des Autors über seine private Zeiterfahrung zurück. Nach der Sommersonnenwende am 24. Juni (Ruges Geburtstag) werden die Tage kürzer. Der Autor verweist damit generell auf den Zeitverlauf und Prozesse der unabwendbaren Veränderung der familiären Konstellationen, die unabhängig von der Auseinandersetzung mit dem Familiengedächtnis auch den zivilisatorischen Wandel markieren. Dies kommt zum Ausdruck in der rebellischen Haltung von Markus, dem Enkel des Kommunisten und Patriarchen der Familie Wilhelm. Er hält nicht viel von den Prinzipien und utopischen Idealen, nach denen der Großvater unkritisch und der Vater schon kritischer lebten. Seine Zukunft verbindet er mit den strengen Regeln des freien Marktes im Westen. So betrifft der von Ruge illustrierte Wertewandel in erster Linie eine Ernüchterung nach dem Wahn der Ideologie.47 Ruges Wenderoman bestätigt die Tragfähigkeit der Familie für die Illustration des Prozesses des Wertewandels, unabhängig von der geopolitischen Fixierung des Erzählstoffes. 2018, sieben Jahre nach Ruges für die Aufarbeitung der deutschen Geschichte wichtigen Roman erschien »Archipel«48 von Inger-Maria Mahlke, ein Roman, der jedoch nicht die deutsche, sondern die spanische Geschichte zur Folie der Familiengeschichte nutzt. Es handelt sich um zu einer Familiensaga verwobene Schicksale mehrerer auf der Insel Teneriffa lebender Familien. Ihr über hundert Jahre fortdauerndes Mit- und Nebeneinanderleben erweist sich für den Plot des 44 Ruge, Eugen: In Zeiten des abnehmenden Lichts. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 2011. 45 Britta Langhoff: In Zeiten des abnehmenden Lichts, Eugen Ruge,3. 10. 2011, In: Literaturzeitschrift, de, (Zugriff am 15. 06. 2019). 46 Vgl. Pokrywka, Rafał: Der Generationenroman als Figuration historischer Übergänge. Arno Geigers Es geht uns gut. In: Studia Germanica Posnaniensia XXXIV, 2013, S. 149–161. 47 Richter, Steffen: Der Blick der Hineingeborenen. Aus den Tiefen des Realsozialismus: Eugen Ruges Familienroman »In Zeiten abnehmenden Lichts«. (Zugriff am 15. 06. 2019). 48 Mahlke, Inger-Maria: Archipel. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 2018.

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Romans narrativ sehr ergiebig, denn es liefert diskursiven Stoff für die Einsicht in die gesellschaftlich und politisch relevanten Mechanismen und Prozesse des Menschenlebens. Der Roman wird rückwärts erzählt: Mit der Chronologie nimmt die Intensität der Details ab, dafür aber werden die Strukturen des Ganzen erkennbarer. »Politische Prozesse und soziale Entwicklungen bilden für Inger-Maria Mahlke ein grobes Gerüst, in das sie ihre Figuren einbettet.«49 Es lassen sich zwei Dimensionen des Romans unterscheiden: »die touristische Gegenwart mit ihrem Klientelismus und die Franco-Vergangenheit mit ihrer repressiven Bevormundung«50. Die Lebensgeschichten der Familien Bernadotte und Baute illustrieren den Prozess des Übergangs zwischen diesen Etappen der Geschichte Spaniens. Die einfühlsame und gleichzeitig kritische Zeichnung der Romanfiguren ermöglicht es der Autorin, die familiären Konstellationen mit ihren Krisenmomenten als universal darzustellen. So erkennt man etwa in der Person der Tochter Anas und Felipes eine Kritik an der jungen Generation, die oft auf Kosten der Eltern lebt und nicht erwachsen werden will. Die Reality-TVSerie, die sich Ana anschaut, steht im Roman symptomatisch für einen Lebensersatz.51 Der Wertewandel, wie ihn Mahlke im Rückwärtsgang illustriert, lässt die Frage nach seiner Unabwendbarkeit und Notwendigkeit aufkommen. Am Beispiel dieser Romane wird ersichtlich, wie der deutsche Familien- und Generationenroman evolviert. Er entwickelt sich in Richtung einer universellen Klärung der existenziellen Zusammenhänge und Vermittlung kulturanthropologisch brisanter Bilder des Alltags, ohne aber auf den historischen Kontext zu verzichten.

Österreich Die österreichischen ErzählerInnen setzten sich mit dem Themenkomplex des doppelten Gedächtnisses schon in der Anti-Heimat-Literatur auseinander, speziell aber seit dem Ende der 1980er Jahre, wobei sich ihr Ansatz von dem der bundesdeutschen AutorInnen unterscheidet.52 Doch auch die österreichischen SchriftstellerInnen trugen zum Durchbruch des neuen Familien- und Generationenromans bei. In dem Roman »Es geht uns gut«53, der inzwischen als Klassiker des Genres gilt, greift Arno Geiger auf die Strategie der Rekapitulation 49 Vgl. Mazenauer, Beat: Rückwärts durch ein Jahrhundert. (Zugriff am 15. 06. 2019). 50 Ebd. 51 Ebd. 52 Vgl. Kaszyn´ski, Stefan: Österreichische Literatur zwischen Moderne und Postmoderne. Berlin: Peter Lang 2019, S. 129–141. 53 Geiger, Arno: Es geht uns gut. München: Hanser 2005.

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der Alltagsszenen zurück. Es handelt sich um eine Familiengeschichte von drei Generationen der Familie Strek, in der die historisch heikle Frage des Austrofaschismus nicht durch den Schuld-Sühne-Komplex dominiert ist, sondern vielmehr durch Identitätsproblematik. Es ist keine klischeehafte Abbildung der Lebensverhältnisse in Österreich zwischen 1930 und 2001, denn Geiger gelang es, überzeugend zu illustrieren, wie sich mit jeder weiteren Generation die Einstellungen zu Familie, Staat und deren Werten wandeln. Die »familiäre Unambitioniertheit« des Protagonisten Philipp spielt auf Individualisierung, Selbstverwirklichung und Genuss als Gegenwerte der Modernisierungsphase an. Diese Etappe überwindet der angehende Schriftsteller jedoch noch nicht vollständig. Sein Familiensinn wird erst durch den Umgang mit diversen Erinnerungstücken (alten Fotos, einer Kanonenkugel im Garten) geweckt, die er in der ihm von der Oma vermachten Villa vorfindet. Seine Geliebte Johanna, die sich provokant zu ihrer Familie bekennt und dennoch ihren Mann mit Philipp betrügt, steht im Roman für solche Werte wie Multi-Optionalität und Umgang mit der Komplexität der Wirklichkeit. Und sie verweist sie schon auf neue gesellschaftlichen Tendenzen wie Regrounding und pragmatischen Realismus.54 Geiger zeigt den Wandel anhand der Gegenüberstellung von gegenwarts- und vergangenheitsbezogenen Passagen, in denen die Welt Philipps, seiner Eltern und Großeltern rekapituliert wird. Angelika Reitzers Roman »Wir Erben« (2014)55 konzentriert sich nicht explizit auf die Thematisierung der österreichischen Geschichte, insbesondere der Kriegszeit. Aus der Perspektive zweier Frauen werden quasi parallel zwei Familiengeschichten erzählt, in denen nicht der Wandel der Werte, sondern eher ihr Bestehen hervorgehoben wird. Zu diesen gehört das Solidaritätsgefühl der Familienmitglieder und damit die Familie selbst. Marianne – die Protagonistin des ersten, österreichischen Teils des Romans – erkennt den Sinn des familiären Zusammenhalts und entdeckt mit der Zeit, dass Familie nicht die Aufgabe der eigenen Identität bedeuten muss. Auch Siri, die im Zentrum des zweiten (deutschen) Teils steht, gelangt zur Erkenntnis, dass der ständige Wandel seinen Gegenpol in der Beständigkeit hat und bekennt sich zu ihrer Familie. Reitzer triff den Nerv der Zeit, indem sie die modernen familiären Lebensformen in den Plot der Geschichte integriert und gleichzeitig den Wert der Tradition anerkennt. Ihre Protagonistinnen schätzen also den Wert der Arbeit und der Bildung. Als überaus souveräne Frauen gestalten sie ihre Umwelt nach ihren eigenen Regeln.

54 In diesem Zusammenhang wird von der neuen Bürgerlichkeit gesprochen, die sich als moderne Formation der Gesellschaft etabliert. 55 Reitzer, Angelika: Wir Erben. Wien: Jung und Jung 2014.

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Eine andere Familienerfahrung bietet Anna Mitgutschs Roman »Familienfest« (2003)56. Die Handlung spielt in Boston und erzählt die Geschichte der ursprünglich aus Galizien nach Amerika eingewanderten jüdischen Familie Leondouri. Diese zeiträumliche Verschiebung verursacht, dass diese Familiengeschichte universal ist und den Übergang von den materialistischen zu den postmaterialistischen Werten symbolisiert, was an dem Wechselspiel der Lebensentwürfe der Großeltern und ihrer Enkel veranschaulicht wird. Während für Bessi und Joseph Geldverdienen und Mietebezahlen mit Erfolg gleichzusetzen waren, streben ihre Kinder nach Ansehen und einem Umzug in ein besseres Viertel. Die Enkel der ersten Einwanderer werden wiederum, dem Geist der 1960er Jahre gemäß, das Streben nach Wohlstand in Frage stellen und ihren Anspruch auf Freiheit ausleben. Die polyphone Erzählweise mit den stets wechselnden Stimmen und Perspektiven der aufeinander folgenden Generationen ermöglicht die Konfrontation ihrer Lebensmodelle. Diese innere Dynamik der Erzählung macht den Prozess des Wertewandels, wie er sich in den Edna-, Marvill- und Adina-Passagen manifestiert, sichtbar. Mitgutsch gelingt dies dank einer subtilen Erzählstrategie, die auf einer »dichten Beschreibung«57 des Alltags ihrer Protagonisten beruht. Diese Beispiele aus Österreich bestätigen das große Potenzial der Familienplots, historisch, politisch und gesellschaftlich komplexe Fragen zu diskursivieren. Die SchrifstellerInnen erheben die Familie zum Träger des zivilisatorischen Wandels und thematisieren zugleich auch den Wandel der Familie.

Schweiz Die AutorInnen aus der Schweiz fügen sich in die allgemeine Tendenz der deutschsprachigen Literatur ein, wovon zahlreiche Familien- und Generationenromane aus den vergangenen zwanzig Jahren zeugen.58 Die Familienproblematik bestimmt die Narrative von »plurizentrischen Generationenenerzählungen« und »rekonstruktiven Familienerzählungen«.59 Zur ersten Gruppe ge56 Mitgutsch, Anna: Familienfest. München: Luchterhand 2003. 57 Geertz, Clifford: Dichte Beschreibung. Beiträge zum Verstehen kultureller Systeme. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2003. 58 Ausführlich berichtet darüber der Aufsatz: Müller, Ralph/Jeanneret, Sylvie/Lambrecht, Tobias/Beaud, M8lissa: Neue Familienromane. Ein Bericht zu Familien- und Generationenerzählungen in der Deutschschweiz und in der Romandie der Gegenwart. In: ChStudien. Zeitschrift für Literatur und Kultur aus der Schweiz, 1-2017. (Zugriff am 15. 06. 2019). 59 Ebd.

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hören unter anderem die Bücher von Urs Widmer, in denen der Autor »im Modus des Fiktionalen die eigene Familiengeschichte erforscht«60. In der autobiografischen »Reise an den Rand des Universums« (2013), die nach den Romanen »Der Geliebte der Mutter« 2000 und »Das Buch des Vaters« 2004 erschien, erzählt er die ersten dreißig Jahre seines Lebens. Diese Erinnerungen gewähren einen Einblick in die Zeitgeschichte und lassen sich daher auch als Zeitzeugnisse lesen. Eine Rekonstruktion der Familiengeschichte unternimmt Werner Rohner in seinem Debütroman »Das Ende der Schonzeit« (2014)61. Die Konfrontation mit dem Krebstod der Mutter, sowie die späte Annäherung an den zuvor in seinem Leben abwesenden, verschollenen Vater David, verursacht, dass Joris auf dem guten Weg ist, zu sich selber zu finden und eine Distanz zu der ihn umgebenden Welt zu gewinnen. Rohner gelingt es in diesem Buch, die Komplexität der familiären Beziehungen mit einer »ausbalancierten Sprache, nahe dem Alltäglichen«62 zu erzählen und – wie der Rezensent Julian Ingelmann bemerkt – vermag er es mit dem heute sehr häufig aufgegriffenen Motiv der Krebserkrankung, nicht die Leidensgeschichte Luisas zu rekonstruieren, sondern zu zeigen, »wie die Diagnose das Verhältnis zwischen Mutter und Sohn beeinflusst. Rohner beweist ein feines Gespür dafür, wie der Krebs alles ändert – und wie doch irgendwie alles beim Alten bleibt.«63 Nicht nur diese Problematik verweist auf eine vertiefte Rezeption der Zeiterfahrung. Auch die Geschichte der Mutter, als einer politisch aktiven Frau, die nicht vor einer Familiengründung zurückschreckt und so die Praxis der Emanzipation der Frau (aus der Perspektive der Schweiz) repräsentiert. Während Rohners Roman auf die Beziehung von zwei Generationen beschränkt ist, zeigt Ruth Schweikert mit »Wie wir älter werden« (2015)64 die Lebensverhältnisse von Großeltern, Eltern und Enkelkindern. Auch wenn die Rezensenten im Chor die Unüberschaubarkeit der komplexen Handlung bemängeln,65 erkennen sie den Wert des Romans in dem Versuch der Autorin, mit dieser transgenerationellen Familiengeschichte das Vergehen der Zeit zu fixieren. Die Koordinaten dieser natürlichen Entwicklung sind historisch brisante Fakten wie der 11. September 2001 oder Tragödie auf der Insel Utøia. Ihre Signifikanten spiegeln sich im sozialen Bereich wider – die mäandernden Verwandtschaftsbeziehungen, getrennte Ehen, uneheliche Kinder, komplizierte 60 Ebd. 61 Rohner, Werner : Das Ende der Schonzeit. Basel: Lenos Verlag 2014. 62 Ingelmann, Julian: Werner Rohners einfühlsames Romandebüt Ende der Schonzeit liegt nur als Taschenbuch vor. (Zugriff am 15. 06. 2019). 63 Ebd. 64 Schweikert, Ruth: Wie wir älter werden. Frankfurt a. M.: Fischer 2015. 65 Bucheli, Roman: Rezension für Neue Zürcher Zeitung vom 23. 05. 2015, Martin Ebel: Rezension für Die Welt vom 06. 06. 2015, Christoph Schröder: Rezension für Die Tageszeitung vom 06. 06. 2015.

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Geschwisterbeziehungen. Was aber von besonderer Brisanz erscheint, ist die nachlassende Leistungsfähigkeit bei gleichzeitigem Autonomieanspruch der jüngeren Generationen. Junge Leute, die in den 60er und 70er Jahren ambitioniert ihre Pläne umsetzten, werden als Eltern von Kindern dargestellt, die sich nicht behaupten können. Signifikant erscheinen hier die Worte eines Rezensenten: »Ein roter Faden im Buch war für mich die finanzielle Abhängigkeit dieser mittleren Generation von den Eltern. In beiden der von Jacques begründeten Familienzweige scheitert die folgende Generation daran, sich und ihre Kinder aus eigener Kraft zu ernähren. Erst Brennan, Iris Sohn, distanziert sich von der finanziellen Abhängigkeit und will unabhängig von seiner Mutter leben. Die Kinder scheinen nicht erwachsen zu werden, ihre Eltern können in hohem Alter immer noch nicht aufhören, sich um sie zu sorgen. Doch der Kokon zeigt erste Risse. Eine Gesellschaft von Erben, die Demokratie und Menschenrechte nach dem Zweiten Weltkrieg nicht selbst erkämpft hat, ruht sich auf den von den Eltern gewonnenen Lorbeeren aus, zu kraftlos, um für sich selbst zu sorgen.«66

Die in den deutschsprachigen Familien- und Generationenromanen stark pointierte Problematik der Erinnerung an Krieg und Holocaust wird in den Texten der SchweizerInnen im geringeren Umfang thematisiert. Die Spannung zwischen dem Fundus der Familienerinnerung und offiziellem Gedächtnis, die für die Texte deutscher und österreichischer SchriftstellerInnen auschlaggebend und narrativ produktiv ist, fungiert hier aus historischen Gründen als ein Nebenthema. Dominant sind dafür »Auseinandersetzungen mit Erwartungen gegenüber der Familie als vermeintlichem Ort der Sicherheit und des emotionalen Wohlbefindens, mit innerfamiliären Problemen wie Kommunikationsblockaden«67.

Fazit In allen hier angeführten Romanen deutscher, österreichischer und Schweizer AutorInnen bildet die Zeitgeschichte eine Folie der Geschehnisse. Einerseits fixiert sie diese auf der Zeitachse durch Hinweis auf konkrete historische Ereignisse, andererseits markiert sie damit mentale Formationen durch Rückblenden auf konkrete öffentliche Diskurse. Literarische Familien sind dabei Exponenten der historischen Wandlungsprozesse, die auch die Familie selbst 66 Rezension: Buchdoktor. Ruth Schweikert: Wie wir älter werden. (Zugriff am 15. 06. 2019). 67 Ebd.

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betreffen. Diese implizieren diskrete Verschiebungen im mentalen Bereich: Mit der ethischen Wende als einem neuen Paradigma in der Erinnerungskultur kann die Geschichte der eigenen Familie und des eigenen Landes besser verstanden werden. Die neue Perspektivierung, besonders im deutschen und österreichischen Roman, trägt zum Entlügen der offiziellen Geschichte bei. Der Wertewandel betrifft in den genannten Texten nicht nur Geschichte als Historie, sondern in erster Linie die Erfahrungswelt der Menschen. Der Leser erkennt die Entstehung einer Zivilgesellschaft nach dem Zweiten Weltkrieg, vor allem aber begleitet er die emanzipatorische Selbstbehauptung der Frau unter den neuen Voraussetzungen. Diese Entwicklung schlägt sich nicht nur auf die dargestellten Arbeitsverhältnisse, sondern auch auf das Familienleben nieder. Deutsche, österreichische und Schweizer AutorInnen rekurrieren in fast gleichem Maße auf Folgen der Globalisierung und einer zivilisatorischen Beschleunigung, die sich in der Digitalisierung des privaten und öffentlichen Raumes manifestiert. Kritisch beziehen sie sich auf die neoliberalen Parolen, infolge derer die traditionellen Lebensentwürfe der Menschen in Frage gestellt werden. Die Literatur erfüllt hiermit ihre archivierende und korrektive Funktion. Die Familien- und Generationenromane veranschaulichen die Wechselwirkungen von Familie und Gesellschaft mit allen individuellen und kollektiven Folgen dieser Abhängigkeit. Latent wohnen ihnen Fragen nach dem Sinn der Geschichte, den Richtungen und Grenzen des Fortschritts und generell der Zukunft inne.68

68 Ławnikowska-Koper, Literarisierung der Familie. 2018, S. 212–216.

Anna Rutka (Lublin)

Zu semantischen Verschiebungen und (Re)Definitionen im Flüchtlingsblick auf die neuen Flüchtlinge Deutschlands: Ilija Trojanows »Nach der Flucht« (2017) und Wladimir Kaminers »Ausgerechnet Deutschland. Geschichten unserer neuen Nachbarn« (2018) Abstract Trojanows »Nach der Flucht« und Kaminers »Ausgerechnet Deutschland« kritisieren gegenwärtige diskursive (Macht)Mechanismen im Umfeld der Massenmigration und verweisen darauf, dass die bisherigen traditionellen Subjekt-, Nations- und Staatskonzepte angesichts der globalen Fluchtbewegungen von heute nicht mehr haltbar sind. Die Literarisierungen beider Autoren erscheinen als Korrektive gegenüber den tagespolitischen Diskursen der Öffentlichkeit, in denen die transkulturelle Migration einseitig als Krise verhandelt wird. Sie zeigen mit Nachdruck die Notwendigkeit einer Disposition zur Offenheit, plädieren für Vielfalt, Mehrfachzugehörigkeiten und grenzübergreifendes Denken.

Der seit Jahren anhaltende Flüchtlingszustrom nach Europa wird medial und politisch in erster Linie als Krise verhandelt. Im ökonomisch und politisch als sicher geltenden Europa rückt man die vor Kriegen, Terrorismus oder Hungersnöten Fliehenden in die prekäre Position von Asylsuchenden. Sie sind oft auf ein aussichtsloses, zermürbendes Warten angewiesen, was sie zu einer zeitlich und räumlich unsicheren Entweder-Oder-Situation verdammt. In dem auf staatlichen Sicherheitsmechanismen aufgebauten europäischen Diskurs gelten diese Menschen als Störfall und Bedrohung. Sie destabilisieren nämlich die moderne Herrschaftslogik, die auf eine zu etablierende soziale Sicherheit autonomer (neo)liberaler Subjekte ausgerichtet ist.1 In dieser dichotomisierenden Sichtweise fallen die Geflüchteten aus allen etablierten sozialen und kulturellen Koordinaten des Gesellschaftslebens heraus. Mit rechtlichen Sicherheitsinstrumenten werden sie konsequent zu ›Anderen‹ abgestempelt und als prekarisierte Subjekte in eine unmündige Lage versetzt, indem man ihnen Rechte auf Arbeit,

1 Vgl. dazu das Vorwort von Judith Butler zum Buch von Isabell Lorey : Die Regierung der Prekären. Wien/Berlin: Verlag Turia + Kant 2012, S. 8.

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Bewegungsfreiheit und Selbstbestimmung weitgehend verweigert.2 In der inneneuropäischen Perspektive bündeln sich stets virulente nativistische und nationalstaatliche Diskussionslagen und xenophobische Haltungen, die in die Angst vor sogenannter kultureller ›Überfremdung‹ und finanzieller Überforderung Europas münden. Angesichts dieser ziemlich eindimensional geführten öffentlich-medialen Debatte über die Migration kommt der Literatur eine bedeutende Rolle zu, die politisch-soziale Sichtweise der Wirklichkeit und ihre scheinbare Selbstverständlichkeit auszudifferenzieren oder zu hinterfragen. Die Literarizität besitzt darüber hinaus antizipatorische Kompetenzen, sie vermag die Realität aus einer transkulturellen Perspektive zu reflektieren und ermöglicht dadurch die Wandelbarkeit und den Konstruktionscharakter der tradierten Vorstellungen über das Eigene und Fremde sowie die herrschaftspolitischen Mechanismen hinter den Kategorien wie Heimat, Nation, Identität und Migration kenntlich zu machen.3 Eine besondere Erkenntnisfunktion weisen dabei literarische Texte von Autorinnen und Autoren auf, die selbst Migrationshintergrund haben.4 Der Literatur der postmigrantischen Schriftstellerinnen und Schriftsteller kommt heutzutage eine gewichtige Funktion zu, »im transnationalen Raum von Kulturkontakten« im Zeitalter der Globalisierung antizipatorisch zu wirken und zur ›Lesbarkeit‹ soziopolitischer Ereignisse beizutragen.5 Die in diesem Beitrag zu analysierenden Texte stammen von zwei ehemaligen osteuropäischen Flüchtlingen Ilija Trojanow und Wladimir Kaminer. Kaminers satirische Geschichten »Ausgerechnet Deutschland. Geschichten unserer neuen Nachbarn« (2018) und Trojanows 2017 herausgebrachtes Buch »Nach der Flucht« sind als literarische Reaktionen auf die sogenannte euro2 Isabell Lorey diskutiert in ihrem Buch die Rolle der Prekarisierten in den modernen Gesellschaften, die ihrer Meinung nach darin besteht, dass »wir gerade durch Prekarisierung regiert werden und uns regierbar halten«. Ebd., S. 14. Der auf die Etablierung der staatlichen Sicherheit konzentrierte Diskurs der modernen euro-atlantischen Gesellschaften definiert eigenmächtig, wer als schützenswert gelten darf und wer nicht. Die Klassifizierung der als prekär anerkannten Subjekte vollzieht sich über Prozesse des Othering und ist de facto eine Konstruktion und Hervorbringung dieser Ungleichverhältnisse. Damit werden die modernen Herrschaftslogiken reproduziert und befestigt. Eine analoge Prekarisierung als gezielte diskriminierende Differenzierung der Flüchtlinge wird meines Erachtens in der aktuellen europäischen Politik sichtbar. 3 Dazu vgl. Giessen, Hans W./Rink, Christian: Zur Relevanz von Kulturkonzepten. In: Migration in Deutschland und Europa im Spiegel der Literatur. Interkulturalität – Multikulturalität – Transkulturalität. Hrsg. von Hans W. Giessen/Christian Rink. Berlin: Frank & Timme 2017, S. 7–11, hier S. 7. 4 Diese Behauptung will nicht suggerieren, dass Texte über die Migration von Autorinnen und Autoren, die keinen Migrationshintergrund haben, per definitionem weniger erkenntnisreich sein müssen. 5 Vgl. Geiser, Miriam: Der Ort transkultureller Literatur in Deutschland und Frankreich. Deutsch-türkische und frankomaghrebinische Literatur der Postmigration. Würzburg: Könighausen & Neumann 2015, S. 317.

Semantische Verschiebungen und (Re)Definitionen im Flüchtlingsblick

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päische Flüchtlingskrise 2015/16 und ihre Folgeerscheinungen einzuschätzen. Beide Werke reflektieren das Schicksal der Flüchtlinge, die in Deutschland Zuflucht suchen. Die problematische Existenz der Menschen während und nach der Flucht verleitet beide Schriftsteller dazu, auf eigene Migrationsgeschichte zurückzublicken, gegenwärtige Ungleichheitsverhältnisse kritisch zu überprüfen und über die Möglichkeiten der Herausbildung neuartiger, interund transnationaler Schicksalsgemeinschaften zu reflektieren.

Literarische Einmischungen der Geflüchteten Sowohl Ilija Trojanow als auch Wladimir Kaminer sind Migranten, die Sprachwechsler wurden und als deutsche Erfolgsschriftsteller reüssierten. Der 1965 in Sofia geborene Ilija Trojanow kam als sechsjähriges Kind mit seinen Eltern Anfang der 1970er Jahre in die Bundesrepublik und erhielt dort politisches Asyl. Die Erfahrung des Exils und seine Konsequenzen hinterließen gleichermaßen im Leben und Werk des bulgarisch stämmigen Autors tiefgreifende Spuren.6 Einen vergleichbaren Exilweg machte der 1967 in Moskau geborene Kaminer durch. 1990 kam der ausgebildete Toningenieur für Theater und Rundfunk als russischer Jude im Rahmen des Flüchtlingskontingents für Juden aus der ehemaligen Sowjetunion nach Berlin und begründete dort seine Existenz als deutschschreibender Autor und Entertainer. Die für diese Analyse ausgewählten, 2017 und 2018 publizierten Texte unterscheiden sich in ihrer ästhetischen Form gravierend. Kaminer beschreibt in seiner charakteristischen satirisch-komischen Art vordergründig amüsante Geschichten über die Ankunft der Flüchtlinge in deutscher Gegenwart. In pointierten Episoden beschreibt der Schriftsteller kleine Alltagsszenen der problematischen Existenz der neuen Migranten und ihre Aufnahme mitten in der deutschen Gesellschaft. Der satirische Blick des Autors fokussiert dabei sowohl humorvoll-lustige als auch existenziell-ernste Aspekte des Lebens auf der Flucht. Die kurzen Schmunzelgeschichten verschränken scharf beobachtete Szenen aus dem deutschen Alltag der Flüchtlinge mit Reflexionen, die einen anekdotisch-universalisierenden Charakter aufweisen und autobiographischen Erinnerungssplittern über die Ankunft des Autors und seiner Familie in Deutschland. Einen heterogenen Charakter hat auch der in Form von fast 200 kurzen Notaten konstruierte Text Trojanows. »Nach der Flucht« verbindet 6 Trojanows literarische Texte kreisen immer wieder um die Probleme der Flucht, des Exils und kosmopolitischer Lebensweise. Vgl. z. B. »Die Welt ist groß und die Rettung lauert überall« (1996), »Der Weltensammler« (2006), »EisTau« (2011) oder die Reisereportagen »An den inneren Ufern Indiens« (2004).

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spiegelbildlich zweimal jeweils 99 Notatblöcke, die im ersten Teil »Von den Verstörungen« von I bis XCIX aufsteigend, und im zweiten Teil »Von den Errettungen« absteigend von 99 bis eins erzählt werden. Die Notizen bündeln in einer distanzierenden Er-Form Anekdoten, episodenhafte Momentaufnahmen, autobiographische Erinnerungsbilder und diverse Zitate aus literarischen und philosophischen Texten. Zwischen die beiden Teile hat der Autor ein Bild aus dem Zyklus des afro-amerikanischen Malers Jacob Lawrence »The Migration Series« (1940/41) eingeschoben, der ihn, nach seiner eigenen Aussage, zum Niederschreiben des Textes inspiriert hat.7 Sowohl die gesichtslosen fliehenden Menschen auf Lowrences Bild als auch Trojanows Notizen verdichten das Tagespolitische und Autobiographische zu einem »Blick auf das exemplarische Schicksal vieler Menschen in unserem noch jungen dritten Jahrhundert«8. Wie unterschiedlich die beiden Werke in ihrer ästhetischen Form und Gattungsspezifik auch sein mögen, gemeinsam ist ihnen ein universalisierender und transnationaler Blick auf das Phänomen der aktuellen Massenmigration. Beide Bücher weisen eine starke autobiographische Inspiration auf, die allerdings jeweils durch die ästhetische Stilisierung als sichtlich gebrochen dargeboten wird. Bei Kaminer dient die ›schützende‹ Form der Satire, die mit Humor das Prekäre der Exilsituation nivelliert, zur Distanzierung. Während bei Trojanow die intertextuellen und intermedialen Bezüge wie auch die durchgehende Narration in der dritten Person die Direktheit und Selbstbezogenheit der Flüchtlingserlebnisse mindern.

Flucht und Flüchtlingsexistenz Die Völkerwanderung und transkulturelle Erfahrungen von Migration und Migranten sind ein uraltes Kulturphänomen. Die Spezifik der literarischen Produktionen, die durch aktuelle Migrationsprozesse im globalen und postkolonialen Zeitalter inspiriert werden, rührt daher, dass der Anteil der Migranten am literarischen Prozess ein allgemein verbreitetes, globales Phänomen geworden ist. Das traditionelle Verständnis der »Natio-nalphilologien« stellt eine Herausforderung dar. Die Literatur von Autorinnen und Autoren mit Migrationshintergrund »rüttelt an einem Grundpfeiler dieser Philologien, die in der

7 Vgl. Trojanow, Ilija: Nach der Flucht. Frankfurt am Main: S. Fischer 2017, S. 8. Beim weiteren Zitieren im Text mit der Sigle NF. 8 Vgl. Dietmar Jacobsen: Einmischungen eines Kosmopoliten. In: lieraturkritik.de. (Zugriff am 25. 09. 2018).

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Bündelung von Muttersprache, Literatur und nationaler Identität besteht«9, bemerkt Christoph Parry treffend. Mit der gegenwärtigen innereuropäischen Mobilität und dem massiven Zustrom von Flüchtlingen von außerhalb Europas sind nicht nur die Kategorien der traditionellen nationalstaatlichen Literatur und Philologie obsolet geworden, sondern es zeichnet sich auf mehreren Ebenen des sozialen und kulturellen Lebens ein akuter Reformulierungsbedarf ab.10 Die beiden zur Analyse ausgewählten Bücher sind einerseits Beispiele der sogenannten Migrationsliteratur, andererseits kann man sie als Flucht- bzw. Flüchtlingstexte bezeichnen, da sie primär unter dem Einfluss der europäischen Flüchtlingskrise entstanden sind. Da sowohl Trojanow als auch Kaminer in erster Linie die Phänomene der Flucht und der Flüchtlingsexistenz anvisieren, soll im ersten Teil des Beitrags die von beiden Autoren unternommene Revision und Reformulierung der Wesensbestimmung und Bedeutung der Flucht näher betrachtet werden. Im anschließenden Teil der Textanalysen sollen die weiteren mit Migration verknüpften Kategorien Heimat und nationalstaatliche Identität in transnationaler Perspektive untersucht werden.

Flucht – Exil – Fremde In seinem spiegelbildlichen Band lotet Trojanow im ersten Teil der Notate die »Verstörungen« aus, die durch die Flucht und das Leben in der Fremde ausgelöst werden. Der literarische Blick fällt auf die traditionell national begriffenen Kategorien von Fremde, Flucht und Heimatlosigkeit. Bereits in dem mit »Vorab« betitelten Prolog wird ein starres Bild des Flüchtlings als eine »eigene Kategorie Mensch« (NF: 9) aus dem traditionellen nationalen Diskurs herbei zitiert. In dieser ›vorab‹ bestimmten, eigenkulturellen Sicht erscheint der Geflüchtete als »Objekt«, »[e]ine Zahl, [e]in Kostenpunkt« bzw. »Punkt« und »Problem, das gelöst werden muss« (NF: 9). In der statischen Perspektive der Einheimischen verkörpern Menschen auf der Flucht »Unsicherheit« (NF: 54) und die »Auflö9 Parry, Christoph: Europas transkulturelle Literaturen. Das Ende der Nationalliteratur? In: Migration in Deutschland und Europa. Hrsg. von Hans W. Giessen/Christian Rink. 2017, S. 111–125, hier S. 112. 10 Monika Schmitz-Emans erfasst diesen beschleunigten Wandel von Ordnungsmustern im Zuge der Globalisierungsprozesse wie folgt: »Gerade die Relativität, Instabilität und Wandelbarkeit von Ordnungsvorstellungen kann als Generalthema der literarischen Moderne gelten; moderne Literatur thematisiert (und stimuliert dadurch) Prozesse der Ent-Grenzung, der Relativierung von Denk- und Beschreibungsmustern, der Infragestellung von Hierarchien und Begründungsmodellen.« Vgl. Schmitz-Emans, Monika: Globalisierung im Spiegel literarischer Reaktionen und Prozesse. In: Literatur im Zeitalter der Globalisierung. Hrsg. von Manfred Schmeling/Monika Schmitz-Emans/Kerst Walstra. Würzburg: Könighausen & Neumann 2000, S. 285–316, hier. S. 286.

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sung des Verlässlichen« (NF: 54), da »totale Sicherheit« (NF: 54) als Prämisse und Bürgerrecht der euroatlantischen Welt gilt. An vielen Stellen wird eine schmerzhafte Diskrepanz zwischen der eigenkulturellen Sichtweise der Hiesigen und der Erlebniswelt des als »Fremden« eingestuften Flüchtlings zur Schau gestellt. Die daraus resultierenden Folgen werden in Form flüchtiger Episoden und poetischer Metaphern als Kommunikationsstörungen und Exkludierungen aus der Gemeinschaft kenntlich gemacht. Die innere Dynamik des Textes zielt jedoch darauf hin, diese geläufige Wahrnehmung des Exils als Krise in Frage zu stellen und zu reformulieren. Ohne die Evidenz der traumatischen Erlebnisse der Flucht zu negieren, entwerfen die reflexiven Notate im zweiten Teil eine gegenläufige, komplementäre Sicht: »Heimatlosigkeit muss nicht falsch sein« und »Flucht kann allein aus der Bewegung heraus begriffen werden.« (NF: 71) Die Redefinition der Flucht und Flüchtlingsexistenz richtet sich konsequent gegen den »Blickwinkel des Stillstands« (NF: 71) und der Sesshaftigkeit und lotet Aspekte der Dynamik, Kreation und Verwandlung aus. Trojanow befreit Flüchtlinge aus der ihnen aufgestülpten Opferrolle (NF: 73). Ihre Flucht wird als »Akt des Widerstandes«, »Selbstermächtigung« und »Aufbruch« (NF: 73) aufgewertet. Die Reflexionen des zweiten Teiles konstruieren eine Opposition zwischen dem vertrauten Eigenen und dem Fremden bzw. der Entfremdung. Aus dieser Dichotomie heraus wird das Leben in der Fremde als Schärfung der Sinne (NF: 96), »Stärkung des Selbstbewusstseins« (NF: 97) und »Glück sich häuten zu dürfen« (NF: 96) neu begriffen. In der Prozesshaftigkeit des Exils verschmelzen Gegensätze zu einer Einheit. Flucht gerät in der poetischen Optik zu einem »AufBruch!«, der gleichermaßen »Flug« und »Fall« (NF: 74) miteinschließt. Die Reflexion der Paradoxien und Ambivalenzen der Existenz in der Fremde mündet in eine universelle Überlegung zur »conditio humana«, die im Grunde eine Metapher des Exils schlechthin darstellt: »Einsam unter Fremden versucht er das Unsagbare auszudrücken.« (NF: 105) Während Trojanow in reflexiv-poetischen Bildern das Wesen der Flucht und Fremdheit zu erfassen versucht, protokolliert Wladimir Kaminer mit dem Blick eines »Ethnologen des Alltags«11 die problematische Ankunft der neuen Flüchtlinge aus Afghanistan, Irak, Syrien und anderen afrikanischen Ländern, die er alle augenzwinkernd als »Syrer« bezeichnet. Als neugieriger Geschichtensammler, der selbst ein Geflüchteter ist und daher keine »Scheu vor Fluchtwellen«12 hat, pickt der Ich-Erzähler aus seiner Umgebung zum Teil komischskurrile und zum Teil ernsthaft-bittere Episoden auf. Im menschenfreundlichen 11 Vgl. die Besprechung des Buches in MDR.DE. (Zugriff am 26. 09. 2018). 12 Vgl. Kaminer, Wladimir : Ausgerechnet Deutschland. Geschichten unserer neuen Nachbarn. München: Goldmann 2018, S. 53. Beim weiteren Zitieren mit der Sigle AD.

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Grundton des Textes scheut Kaminer nicht vor politisch unkorrekter Kritik zurück, indem er über Passivität, chronische Unpünktlichkeit, Langschlaferei, Langsamkeit und opressive patriarchalische Familienverhältnisse der »Syrer«13 den Stab bricht. Die Unangepasstheit und Alterität der Flüchtlinge, die an einer Stelle als »das syrische Chaos« (AD: 36) apostrophiert werden, verwebt der Erzähler stets mit seiner eigenen Vergangenheit als junger Asylbewerber in Deutschland. Die Freiheit der satirischen Schreibweise erlaubt es ihm dabei eine ausgewogene Balance zwischen Begeisterung der »Willkommenskultur« und den Wutpositionen der Rechtspopulisten zu behalten. Kaminers humoreske Geschichten über die alltäglichen Verwirrungen sowohl auf der deutschen Seite als auch auf der Seite der Flüchtlinge sind in ihrer inneren Dynamik darauf hin orientiert, gegen die Abschottung und stringente Kategorisierung anzuschreiben. Der Erzähler weigert sich, Integration als restlose Angleichung und Anpassung zu begreifen und setzt sich, ähnlich wie Trojanow, für ein dynamisches, prozesshaftes Verständnis des Begriffs: »Wahre Integration besteht nicht darin, alle Menschen in Reih und Glied aufzustellen, sondern sich täglich zu entwickeln, Neues kennenzulernen, dem Fremden furchtlos in die Augen zu schauen und zu fragen: Du, Fremder, was willst du eigentlich von mir?« (AD: 89) In diesem Sinne erscheint jegliche Erwartung eines wie auch immer erfolgreichen Abschlusses der Massenwanderung und endgültiger Lösung der sogenannten Flüchtlingsfrage von Grund auf falsch. Da diese Phänomene keine Zustände, sondern dynamische Konstruktionen sind, ist die Ankunft der Geflüchteten eigentlich ein nie abschließbarer Vorgang. Angesichts der Enttäuschung der »Syrer« über ihren Aufenthalt in Deutschland, formuliert der Ich-Erzähler eine universelle Erkenntnis über das Wesen einer jeden Flucht: »Die Diskrepanz zwischen dem Traumbild und der Realität macht sie [die Syrer, A.R.] ohnmächtig. Sie glauben, am falschen Ort angekommen zu sein. […] Die Suche nach der verpassten Tür wird niemals aufhören, sie geht immer weiter. Die wichtige Erkenntnis, die man vom Reisen mitbringt, ist, dass es anscheinend nicht ein, sondern mehrere Paradiese gibt.« (AD: 173,174)

Was Trojanow als konstitutive Wesenselemente der Flucht postuliert, d. h. Widerstand, Selbstermächtigung und Aufbruch, konkretisiert Kaminer mit seinen erinnerten und beobachteten Geschichten. In der Episode »Syrisches« rekapituliert er seinen kindlichen, rebellischen Drang zu Ausbrüchen verschiedener Art: »aus dem Kindergarten«, »aus dem Pionierlager« (AD: 175) und schließlich mit 23 Jahren aus der zerbrechenden Sowjetunion nach Deutschland. All diesen Ausbrüchen war immer eine bedeutende Konstante eigentümlich, die der

13 Vgl. ebd., S. 39, 41–43.

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Schriftsteller als unveränderbares Lebensgefühl bezeichnet und wie folgt charakterisiert: »Ich bin ein Fremder in einer fremdem Landschaft. Irgendjemand oder irgendetwas hat mich hier ausgesetzt mit undefinierbarer Aufgabe. Zu welchem Zweck bin ich hier? Nur die Toten wissen Bescheid. […] Und selbst wenn wir auf die andere Seite blicken und fragen könnten, was das Ganze sollte, würde uns dieses Wissen auf dieser Seite nichts nützen. Deswegen: Flucht.« (AD: 176)

Beide Autoren werten in ihren Texten die Fremde und das Fremdheitsgefühl als das zutiefst Humane und Universelle der menschlichen Existenz auf. Im Nachtrag zu seinem Buch zitiert Trojanow Worte von Hugo von St. Viktor, die diese Botschaft bestätigen: »[…] vollkommen ist aber jener, dem die ganze Welt ein fremdes Land ist.« (NF: 115)

Heimat – Nation – nationale Identität Sowohl Trojanow als auch Kaminer erfassen in ihren Werken das Infragestellen des nationalen Denkens und erforschen neue Wahrnehmungsmöglichkeiten in Bezug auf die damit verknüpften Kategorien Heimat und nationale Zuordnung. Beide Schriftsteller durchbrechen den Dualismus vom Eigenen und Fremden. Heimat und Nation geraten in ihrem literarischen Diskurs zu diffusen, politisch nicht erfassbaren Begriffen. Trojanows Bemerkungen wirken der Verabsolutierung von eigenstaatlichen, monokulturellen Vorstellungen entgegen und hinterfragen die Prägungen des Individuums und der Gruppe in einem gegebenen soziohistorischen Umfeld.14 Der Kosmopolit Trojanow stellt vertraute nationale Schemata und Bewertungen radikal in Frage. Er lehnt den allgemeingültigen Heimat-Begriff ab und bezeichnet ihn als »Gewalt« (NF: 94). Folgerichtig besteht er auf einer entgegengesetzten Denkweise – »Heimatlosigkeit muss nicht falsch sein« (NF: 71) – und plädiert dafür, Heimat in die persönlich-intime Bewusstseinssphäre des Individuums zu verlagern: »Ich bin mein eigener Staat« (NF: 45), »Seine einzige Heimat sind die Augen der Frau, die er liebt. Er ist daheim in der Umarmung von Familie und Freunden, er fühlt sich gelegentlich aufgehoben zwischen den Buchdeckeln oder im Klang eines Saxophons […]« (NF: 93). In den dualistischen Konflikten zwischen Nationalismus und Kosmopolitismus stellt sich der Schriftsteller auf die Seite der Staatslosen und widersetzt sich »einer konstruierten Uniformierung« und »abstrakte[n] Identität« des Nationalstaates. (NF: 109) Der Er-Erzähler des Textes definiert sich als ein Staatenloser 14 Vgl. Dramolett in der Notiz XIX, in der ein Flüchtling auf die ihm von einem Beamten aufgezwungenen ethnisch-nationalen Zuschreibungen Folgendes antwortet: »Beamter: Was bist du? Flüchtling: Kompliziert.« (NF: 21).

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und klammert essentialistische Zuschreibungen aus, akzeptiert dagegen Wandel und stete Veränderung als die Essenz seines Seins: »Die Identität wird einem bei der Geburt gegeben, aber sie wird von demjenigen bestimmt, der sie trägt. Sie ist kein Erbe. Ich bin der Vielschichtige…«15 Trojanows Notate, die diversen transgressiven Existenzmodi das Wort sprechen, berühren allerdings an vielen Stellen die schmerzhaften Brüche und Verletzungen, die aus der Konfrontation mit dem weiterhin virulenten monokulturell-nationalistischen (Selbst)Verständnis resultieren. Die Geflüchteten oder freiwillig Staatenlosen sind vielerorts der Gewalt der Klassifizierungen ausgesetzt. Die Umgebung empfindet sie als Störung, als Bedrohung der eigenen Sicherheit und als »Provokation für die feinsäuberliche Ordnung des Staates« (NF: 44). Die Existenz auf der Flucht muss stets mit Widersprüchen und »Absurditäten von Grenzen« (NF: 47) rechnen. Da die Umgebung weitgehend in nationalstaatlichen Schemata denkt und handelt, wird der Staatenlose oder Geflüchtete in die Position eines Parias gedrängt und auf den Status eines »Niemand« (NF: 45) im »Niemandsland« (NF: 95) abgestuft. Dem positiv besetzten Entwurf einer utopischen Zugehörigkeit zu einer transterritorialen Vielfalt wird eine desavouierende Verdammung zu einem entwurzelten und als »verloren« gebrandmarkten »nowhere« (NF: 91) gegenübergestellt. Für die bürokratisch begriffene Identität gibt es aktuell nur eine einengende Alternative: »Ich bin entweder Niemand oder eine Nation« (NF: 45). Die Loslösungsversuche von Zuschreibungen der Heimat bergen noch eine andere, nicht weniger problematische Verstörung. Für wie illusorisch auch der Begriff der Heimat befunden wird, so erscheint es unmöglich, sich vollständig von ihm zu trennen. Die Herkunft wird einem »nachgetragen wie ein abgenutztes Hemd, das er zurückgelassen hat« (NF:41). Trotzdem bleibt ihm eine Rückkehr in das Land der Geburt verwehrt, da er sich unter den Zurückgebliebenen nicht mehr heimisch fühlt. Das Herkunftsland erweist sich als das Land der Vergangenheit, als »eine Terra incognita«, die von »Geistern« bevölkert und von »Gerüchten« regiert wird. (NF: 42) Auch Wladimir Kaminer teilt die Skepsis von Trojanow und setzt das grundsätzliche Misstrauen dem Staat gegenüber als Prämisse seiner literarischen und weltanschaulichen Haltung. Ähnlich wie beim bulgarisch stämmigen Autor rekurriert diese Reserviertheit den Ideen der Nationalstaatlichkeit und der kulturellen Homogenisierung auf die schmerzlichen Erfahrungen des kommunistischen Regimes in Ost-Mittel-Europa. Kaminer gibt deshalb offen zur Kenntnis: »Aus meiner Zeit in der Sowjetunion wusste ich: Glaube nie dem Staat aufs Wort, er nutzt dein Vertrauen aus, um dich in blöde Situationen zu locken 15 Hier handelt es sich um ein Zitat aus Mahmud Darwischs »Kontrapunkt«, was vom Autor in den Zitatnachweisen auf S. 120 angegeben wird.

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und deine Leichtgläubigkeit für seine Zwecke zu missbrauchen.« (AD: 216) Die Erfahrung der durch den Staat organisierten systematischen Isolierung und Informationssperre ist eine, die der Ich-Erzähler mit den heutigen Flüchtlingen zu teilen meint. »Die Neugier auf die Welt« (AD: 171) erscheint für Kaminer als eine antreibende Kraft seiner Suche nach »einem fremden Paradies« (AD: 170). Deshalb erkennt er eine Wahlverwandtschaft mit den geflüchteten Syrern, die darin besteht, dass sie »[v]erwirrte Traumfänger in einem fremden Paradies« (AD: 170) seien. In seiner offenen Schreibweise, die auch Widersprüche als unvermeidliche Bestandteile der Ganzheit akzeptiert, situiert sich der Ich-Erzähler in ein Dazwischen als »ein Fremder in einer fremden Landschaft« (AD: 175). Mit Unverständnis begegnet er seinen ehemaligen Landesleuten, denen er einen radikalen Nationalismus und Flüchtlingsfeindschaft attestiert.16 Als literarische Antwort auf den »Rechtsradikalismus« (AD: 227) und die ausgeprägte Staatsgläubigkeit vieler konservativer Russen der Putin-Ära, die der Meinung sind, »Europa stehe kurz vor dem Abgrund« (AD: 227), erzählt Kaminer eine anekdotisch anmutende Geschichte über seinen Besuch in den international bekannten Filmstudios in Babelsberg. Als Amerikaner eine Filmserie über den Kampf gegen Terror in Afghanistan, Palästina und Syrien in den Ruinen der DDR-Fabriken drehten, sollten in den Bombenszenen original syrische Flüchtlinge spielen. Dubioserweise sind allerdings alle Syrer beim Casting durchgefallen, da sie »den Amerikanern nicht arabisch genug« (AD: 124) aussahen. Für die einschlägigen Massenszenen hat man letztendlich Kosovoalbaner eingesetzt, »die sich als die besseren Syrer erwiesen. Sie sahen irgendwie viel arabischer und unrasierter aus […]« (AD: 124). Diese skurrile Episode belegt Kaminers Überzeugung von der Absurdität der national-ethnischen Kategorisierungen, die als Machtinstrument für Manipulationen jeglicher Art anfällig sind.

Schlussbemerkungen Die in dem Beitrag besprochenen Werke schreiben sich in die Reihe von aktuellen literarischen Texten ein, die mittelbar oder unmittelbar durch die aktuelle massive Flüchtlingswelle nach Europa inspiriert wurden.17 Trojanows »Nach der 16 Vgl. AD: 196. 17 Auf die Flüchtlingskrise in Europa geht explizit Elfriede Jelinek in ihrem Collagetext »Die Schutzbefohlenen« (2013), in dem die Asylproteste um die Wiener Votivkirche mit Aischylos’ Drama »Die Schutzflehenden« und der Kritik neoliberaler Machtverhältnisse in Europa des 21. Jh. verwebt werden. 2012 erschien der Debütroman des österreichischen Autors Martin Horv#th »Mohr im Hemd. Oder wie ich auszog, die Welt zu retten«, der auf pikareske Art die Geschichte eines minderjährigen Flüchtlings in einem Wiener Asylheim thematisiert. Er-

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Flucht« und Kaminers »Ausgerechnet Deutschland« kritisieren gegenwärtige diskursive (Macht)Mechanismen im Umfeld der Massenmigration und verweisen darauf, dass die bisherigen traditionellen Subjekt-, Nations- und Staatskonzepte angesichts der globalen Fluchtbewegungen von heute nicht mehr haltbar werden.18 Die Literarisierungen beider Autoren erscheinen als Korrektive gegenüber den tagespolitischen Diskursen der Öffentlichkeit, in denen die transkulturelle Migration einseitig als Krise verhandelt wird. Sie zeigen mit Nachdruck die Notwendigkeit einer Disposition zur Offenheit, plädieren für Vielfalt, Mehrfachzugehörigkeiten und grenzübergreifendes Denken. Ilija Trojanow postuliert in diesem Sinne in einer der letzten Notizen seines Reflexionsbandes wie folgt: »Die Menschheit kann nur kosmopolitisch überleben. Je ausgelaugter der Planet wird, desto stärker werden die Kräfte der Abgrenzung und Ausgrenzung den exterminatorischen Kampf um die verbliebenen Ressourcen anheizen. Alle zentralen Probleme können nur weltgemeinschaftlich gelöst werden. Der Nationalist im 21. Jahrhundert ist ein Apokalyptiker.« (NF: 110)

Die satirisch-humorvollen Geschichten Kaminers sensibilisieren in ihrer Grundbotschaft für das überlebenswichtige Miteinander und Grenzüberschreiten. In einem MDR-Interview zu seinem neuen Buch kritisiert der Schriftsteller die heutzutage weit verbreiteten Abschottungstendenzen in der Politik vieler Staaten: »Man kann nicht glücklich und zufrieden in einem Haus leben, wenn’s bei dem Nachbarn brennt. Irgendwann klopft er bei Dir an. Das ist nur die Frage der Zeit. Man muss die Brände des Nachbarn wie eigene wahrnehmen. Das ist neu!«19 Diese Erkenntnis findet sein literarisches Pendant in signifikanten Abschlusssätzen von »Ausgerechnet Deutschland«: »Denn Wärme ist das wertvollste Gut, das wir Menschen weitergeben können. Ein altes indiawähnenswert in diesem Zusammenhang wären auch Prosatexte neueren Datums wie etwa Abbas Khiders Roman »Ohrfeige« (2016) über einen irakischen Flüchtling , der mit einer fingierten Lebensgeschichte die beim Asylverfahren entscheidenden Richter beeindrucken und überzeugen möchte. 2015 veröffentlichte Jenny Erpenbeck ihren Roman »Gehen, ging, gegangen«, in dem sie Einblicke in die existenzielle Notlage und Herkunftsgeschichten der afrikanischen, in Berlin gestrandeten Flüchtlinge gibt. 18 Über das aktuelle »Fraglichwerden der Selbstinterpretationen der sich als ›okzidental-modern‹ verstehenden Gesellschaft und ihrer begrifflichen und metaphysischen Gewissheiten« infolge der tiefgreifenden Veränderungen durch Migration, Mobilität, Freizügigkeit vgl. Völker, Susanne: Legitimes und illegitimes Sprechen – Klassifikationen und Praktiken der Desidentifikation. In: Sprache und Sprechen im Kontext von Migration. Hrsg. von HansJoachim Roth/Henrike Terhart/Charis Anastasopoulos. Wiesbaden : Springer VS 2013, S. 43–60, hier S. 43, 44. 19 Zitiert nach der Besprechung des Buches in MDR.DE. (Zugriff am 26. 09. 2018).

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nisches Sprichwort sagt: ›Ein Indianer friert unter der Decke. Zwei Indianer frieren nicht.‹ Und die Ewigkeit? Sie ist schnell vorbei.« (AD: 236)

Marek Jakubjw (Lublin)

Versuch über die moderne Hagiographie. Zu Martin Mosebachs Roman »21. Eine Reise ins Land der koptischen Martyrer«

Abstract In seinem 2018 herausgegebenen Buch »Die 21. Eine Reise ins Land der koptischen Martyrer« beschäftigt sich Martin Mosebach mit der Enthauptung von koptischen Wanderarbeitern durch die IS-Terroristen im Jahr 2015 in Libyen. Die Struktur der traditionellen christlichen Hagiographie, deren er sich bei der Darstellung des Ereignisses und der Begleitumstände bedient und sie mit der Reportage verbindet, erlaubt ihm nicht nur eine adäquate Sprache zu finden, um die Getöteten der Anonymität der medialen Berichterstattung zu entreißen, sondern auch entsprechend dem gewählten Genre seinen Text als Mittel der Auseinandersetzung mit der postmodernen Welt einzusetzen.

Abgesehen von strikt konfessioneller Erbauungsliteratur wird der Begriff des Heiligen im 21. Jahrhundert gewöhnlich in der Geschichtsschreibung verwendet, und die Gattung der Hagiographie wird eher mit den mittelalterlichen Darstellungen der Heiligenvita und hagiologischen Untersuchungen als mit moderner Prosa assoziiert.1 Nichtsdestoweniger tauchen in der deutschsprachigen Literatur der letzten Jahre Texte auf, die dieses Thema aufs Neue aufgreifen.2 Zu erwähnen wären u. a. »Johanna« (2006) von Felicitas Hoppe oder »F« 1 Die Hagiographie als literarische Gattung entwickelte sich zunächst vom 7. bis zum 11. Jahrhundert. Vgl. Pratsch, Thomas: Der hagiographische Topos: griechische Heiligenviten in mittelbyzantinischer Zeit. Berlin/New York: De Gruyter 2005, S. 9. Als Stichwort kommt Hagiographie im »Metzler Literaturlexikon« nicht vor und wird nur im Zusammenhang mit der Legende erwähnt. Vgl. Metzler Literaturlexikon. Begriff und Definitionen. Hrsg. von Günter und Irmgard Schweikle. Stuttgart: Metzler 1990, S. 261f. 2 Auch die Literaturwissenschaft widmet sich diesem Thema, indem sie die alten Definitionen von Gisbert Kranz (vgl. Kranz, Gisbert: Der Heilige in der modernen Literatur. In: Geist und Leben 34, 1961, S. 348–361) modifizieren und an die Bedingungen der Postmoderne anpassen. Vgl. Das Heilige (in) der Moderne. Denkfiguren des Sakralen in Philosophie und Literatur des 20. Jahrhunderts. Hrsg. von Hector Canal, Maik Neumann/Caroline Sauter/Hans-Joachim Schott. Bielefeld: Transcript 2013; Die Heiligen und das Heilige. Sprachliche, literarische und kulturelle Aspekte eines Phänomens. Hrsg. von Tomasz Z˙urawlew/Thomas Brose. Berlin: Peter Lang 2018.

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(2013) von Daniel Kehlmann3, die zwischen der poetischen »Aneignung«4 der überlieferten Stoffe und der Auslotung der Grenzen des Heiligendiskurses in der Moderne oszillieren. Einen anderen Weg hat Martin Mosebach eingeschlagen, der in seinem 2018 veröffentlichten Buch »Die 21. Eine Reise ins Land der koptischen Martyrer« keine Glaubenshelden der Vergangenheit oder fiktive Gestalten, sondern Menschen beschreibt, denen von ihrem konfessionellen Umfeld der Status der Heiligen zuerkannt wurde. Es sind auf den ersten Seiten des Buches aufgelistete koptische Wanderarbeiter, die von den IS-Terroristen entführt und am 15. Februar 2015 am Strand von Wilayat Tarabulus, westlich der Hafenstadt Sirte in Libyen kaltblütig ermordet wurden. Die Täter inszenierten die Hinrichtung und veröffentlichten dann im Internet ein Video, das sie mit dem Titel »Eine in Blut geschriebene Nachricht an die Nation des Kreuzes« versahen. Der spektakuläre Terrorakt stieß in Europa, selbst unter den Christen, auf verhältnismäßig wenig Interesse.5 Mosebach, der sich zwei Jahre später nach Ägypten begab und Orte besuchte, die mit den Getöteten verbunden sind, konstruierte seinen Bericht als ein komplexes Gefüge von formalen, historischen, sozialen und religiösen Bezügen, das mit dem Blick eines westlichen Reisenden konfrontiert wird. Trotz der geographisch und geschichtlich bedingten Fremdheit ist er bestrebt, sich schrittweise dem ungewöhnlichen Phänomen zu nähern, um es vor der Trivialisierung durch die tägliche mediale Berichterstattung zu schützen und die Opfer der Anonymität zu entreißen. Um dieses Ziel zu erreichen, wagt er den beachtenswerten Versuch, eine überlieferte Form in die moderne Prosa hinüberzuretten. Den narrativen Rahmen der »persönlich gehaltenen Reportage«6 bildet die Struktur der traditio3 Vgl. Jakubjw, Marek: Über Daniel Kehlmann. Die Heiligen in einer gottlosen Welt. In: Die Heiligen und das Heilige. Sprachliche, literarische und kulturelle Aspekte eines Phänomens. Hrsg. von Tomasz Z˙urawlew/Thomas Brose. Berlin: Peter Lang 2018, S. 249–264. 4 In ihrer Rezension zu dem Buch von Felicitas Hoppe »Johanna« schreibt Wiebke Porombka: »Anstatt der zahlreichen Bearbeitungen der Geschichte von Johanna eine weitere hinzuzufügen, ist es der ebenso leidenschaftliche wie zermürbende Vorgang der Aneignung und der Fortschreibung des historischen Stoffs selbst, der Hoppe interessiert.« In: Porombka, Wiebke: Die narrative Kraft des Faktischen. (Zugriff am 16. 11. 2018). 5 Zu den Gründen dieser Reaktionen vgl. Kissler, Alexander : Christenverfolgung – woher rührt unser Desinteresse? (Zugriff am 4. 12. 2018). 6 Zmija, Thomas: Freiraum begrenzen: Martin Mosebach – Die 21: eine Reise ins Land der koptischen Märtyrer. (Zugriff am 17. 11. 2018). Vgl. Auch Cammann, Alexander: Mit Jesus auf den Lippen. (Zugriff am 04. 02. 2018).

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nellen Hagiographie, die entsprechend den Gattungsvorgaben nicht nur die Geschichte des Heiligen selbst, sondern auch ethische, moralisierende und historische Umstände mit einschließt. Auf diese Weise gibt sie einen Einblick in die geistige und kulturelle Verfassung der Gemeinschaft, die ihn hervorgebracht hat.7 Ihr typologischer Charakter verweist einerseits auf das biblische Vorbild, andererseits wird sie zum Erkenntnisinstrument, das dem Leser erlaubt, in seiner Welt Orientierung zu gewinnen. Darüber hinaus wird durch die Einführung von mirakulösen Elementen die dargestellte Wirklichkeit aus dem kausalen Zusammenhang der bloßen Tatsachen gelöst. Der Aufbau der Hagiographie ist fest geregelt und enthält in den meisten Fällen eine Einführung des Erzählers, die Fakten aus dem Leben des Heiligen, die Beschreibung des Martyriums, Berichte über die Wunder und Reliquien, wie auch ein Nachwort des Erzählers.8 Gemäß dem Bescheidenheitstopos, der in der Einleitung der traditionellen Hagiographie verwendet wird,9 signalisiert der Autor seine Bedenken, dem Stoff gerecht werden zu können, und betont eingangs das Unbegreifliche der Tat. Die Ruhe eines toten männlichen Kopfes, den er auf der Titelseite einer Zeitschrift sieht, fesselt zunächst die Aufmerksamkeit des Erzählers. Sein Interesse wird gesteigert, wenn er das Foto mit dem von den Entführern gedrehten Video verbindet, wo sowohl die Täter als auch die Opfer keine Emotionen zeigen, obwohl der »sorgfältig gemachte kleine Film«10 bei ihm für Empörung sorgt und ihn sogar bei seiner Betrachtung zur Invektive (»Horde im Oktober 2017«11) veranlasst. Der Kontrast zwischen schockierenden oder erstaunlichen Tatsachen, mit denen der Erzähler konfrontiert wird, und dem Mangel an entsprechenden Instrumenten, diese zu definieren, wird dann im ganzen Text konsequent von Mosebach durchgespielt. Die Probleme des Erzählers mit der Auslegung des Geschehenen tauchen schon bei dem Versuch auf, eine adäquate Sprache zu seiner Beschreibung zu finden. Selbst die Bezeichnung »Martyrer«, die zum ersten Mal im Titel des Buches verwendet wird, scheint in ihrer ursprünglichen Bedeutung aus dem Vokabular des westlichen Bewusstseins verschwunden zu sein und stößt, Mosebach zufolge, zurzeit nur in einem stark konfessionell geprägten Umfeld auf positive Resonanz. Es ist kein Zufall, dass aus der langen Reihe der gegenwärtigen europäischen heiligen Martyrer nur »der von der russischen Orthodoxie

7 Vgl. Kumka, Emil: Historia hagiografii. (Zugriff am 17. 11. 2018). 8 Zum Aufbau der Hagiographie vgl. Pratsch, Der hagiographische Topos. 2005. 9 Vgl. ebd., S. 32. 10 Mosebach, Martin: Die 21. Eine Reise ins Land der koptischen Martyrer. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 2018, S. 29. 11 Ebd., S. 31.

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heiliggesprochene Alexander Schmorell als Mitglied der Weißen Rose«12 und Maximilian Kolbe aus dem katholischen Polen im Buch erwähnt werden. Gleichzeitig erlebt der Begriff eine Renaissance, indem er auf die islamistischen Attentäter bezogen wird. Diese zwei, weit voneinander entfernten, Standpunkte werden in einem markanten Dialog über das Martyrium thematisiert. Die Gesprächspartner, die als anonyme Rollenträger auftreten und »Bezweifler« und »Beschwörer« genannt werden, veranschaulichen nicht nur die stark polarisierten Haltungen, sondern auch die begriffliche Inkommensurabilität, die sie repräsentieren. Die von einem arabischen, religiös indifferenten und in Europa sozialisierten Geschäftsmann zur Sprache gebrachten modernen Konnotationen wie die Verherrlichung der Gewalt, perverse Faszination und Entfachung von Aggressionen zwischen den nationalen Gruppen, werden dem Hinweis auf das traditionell friedliche Potenzial des Begriffs und auf die personalistisch geprägten Handlungsmotivationen entgegengesetzt. Ebenso mehrdeutig und von der jeweiligen politischen Situation abhängig ist die Bezeichnung »Kreuzzug«, die – »von dem historischen Komplex der Kreuzzüge«13 losgelöst – zur pauschalisierenden und ambivalenten Identifizierung von Gruppen dient. In dem von den Tätern gedrehten Video wird der amerikanische Präsident Barack Obama gezeigt, der sich beklagt, »daß während der Kreuzzüge im Namen Jesu Grausamkeiten verübt worden seien«.14 Seine Aussage wird als Beweis genutzt, um das dichotomische Weltbild der christlichen Aggressoren aus dem Westen und der mutigen, nicht vor Gewalt scheuenden Verteidiger aus dem Osten zu legitimeren. Einer ähnlichen Denkstruktur bediente sich George Busch während des Irakkrieges, um eine gegensätzliche Wirkung zu erzielen. Beide Bestrebungen zeigen wiederum, wie der Begriff instrumentalisiert wird, um – wie Mosebach schreibt – »eine Klarheit der Symmetrie«15 zu erreichen, die von einer »Sehnsucht nach einer vereinfachenden mythologischen Bild-Erzählung«16 geleitet ist. Die realitätsnahe Schilderung der Hinrichtung, die Mosebach in seinem Buch in Anlehnung an das Video liefert, führt dabei nur zu einer veristischen Reproduktion des Tatbestandes, der heutzutage in einer solchen Form zu einem multireferentiellen Objekt wird.17 Um der Reduktion des Opfers der koptischen Wanderarbeiter auf einen in der Öffentlichkeit kurzfristig Aufsehen erregenden 12 13 14 15 16 17

Ebd., S. 13. Ebd., S. 32. Ebd., S. 29. Ebd., S. 32. Ebd., S. 34. Zum Problem der Grenze zwischen Fakten und Fiktionen vgl. Fakten, Fiktionen und FactFictions. Hrsg. von Toni Tholen/Patricia Cifre Wibrow/Arno Gimber. Hildesheim: Universitätsverlag Hildesheim 2018.

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Vorfall vorzubeugen, der politisch, soziologisch oder psychologisch gedeutet wird, wird es von Mosebach in den Vollzug des Ritus als einer geschlossenen, sinnvollen Struktur integriert. Auf diese Weise bekommt das von den Islamisten gebotene grausame Spektakel eine konkurrierende Bedeutung. Wenn sie ein Bild kreieren, um ihre Stärke zu demonstrieren und die Gefangenen herabzuwürdigen, will Mosebach in keine der bestehenden Abwehrmechanismen wie spontaner Protest oder Verurteilung hineinrutschen. Er entkräftet die von den Tätern intendierte Auslegung des Ereignisses, indem er seinen Ablauf mit sakralen Handlungen verbindet: »Er [einer der Täter – M.J.] beginnt die Rede mit dem Lob des ›starken, mächtigen und zu allen Völkern barmherzigen Gottes‹ – erinnert das nicht an den Lobpreis der griechischen Liturgie, der auch in die koptische Eingang gefunden hat […]«18. Die instrumentalisierte religiöse Rede wird somit in den Kreislauf der Opfer-, in diesem Fall der Märtyrertradition verlegt und ändert die Wahrnehmungsperspektive. In den Vordergrund rücken nicht die Täter, sondern die hingerichteten Menschen, die einem Opferritual unterliegen. Obwohl sie in einheitliche orangenfarbene Overalls gekleidet sind und auf dem Boden knien, werden diese bildlichen Signale neu konnotiert: Die Unterbrechung des Vorgangs – die Schweigepause, die den Beobachtern erlaubt über das Geschehene zu reflektieren, »erinnert an das gesammelte stumme Warten der zur Prozession aufgestellten Mönche vor dem Einzug in die Kirche – ›Statio‹ heißt ein solches konzentriertes Innehalten«.19 Die getöteten Kopten werden somit nicht mehr zu anonymen Opfern eines Terroraktes, sondern zu Teilnehmern einer erhabenen Handlung. Die im Titel genannte anonyme Zahl wird durch die Namen ersetzt, was ihnen die Identität und Entscheidungsfreiheit zurückgibt. Um die Würde dieses Opferaktes nicht zu beeinträchtigen, räumt der Erzähler den für den modernen Betrachter typischen Verdacht aus dem Weg, dass die Gefangenen mit Drogen sediert worden seien. Ihre »unheimliche Ruhe«20 kontrastiert mit der technischen Schilderung der Exekution: »Kein Schrei, nur ein Gewirr leiser Stimmen ist vernehmbar : ›Jarap Jesoa! – Herr Jesus!‹ – das Stoßgebet der Sterbenden.«21 Die Sakralisierung des Geschehenen hat zur Folge, dass auch andere Elemente der dargestellten Welt ihre faktographische Bedeutung verlieren und zu Exponenten einer real-irrealen, als ganzheitliche Struktur aufgefassten Wirklichkeit werden. Die Motivationen ihrer Bewohner erweisen sich vor diesem Hintergrund als notwendige Konsequenz der darin geltenden Regeln und Mechanismen. 18 19 20 21

Mosebach, Die 21. 2018, S. 31. Ebd., S. 34. Ebd., S. 36. Ebd.

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Die Exemplifizierung dieser Abhängigkeit vor Ort, d. h. in der Heimat der getöteten Kopten, fällt dem Erzähler jedoch nicht leicht. Ihre Häuser im Dorf El Or wurden abgerissen und durch neue ersetzt, was er als Zeichen der fortschreitenden modernen Homogenität (»die Grundform industriellen Bauens«22) versteht. Er ist auf die sichtbaren (die Sprache versteht er nicht) Spuren der alten Traditionen angewiesen, die er z. B. in der Aufstellung von Möbeln oder in den Bildern entdeckt, die – wie oft bei Mosebach der Fall – nicht nur ortsspezifisch sind, sondern auch eine latente übergreifende Struktur widerspiegeln, die über das Lokale hinausgeht:23 »Die Madonnenbilder lehnten sich an den italienischen Barock eines Carlo Dolci oder an historische russische Ikonen des neunzehnten Jahrhunderts an; oft sah ich den ›Barmherzigen Jesus‹ mit den Regenbogenstrahlen, den die polnische Nonne Faustina beschrieben hat, oft auch ein befremdlich modisch wirkendes Jesus-Porträt mit onduliertem Bart.«24

Die profanen Gegenstände, die die Martyrer in ihrem Alltagsleben benutzten, werden von ihren Familien sorgfältig aufbewahrt und erinnern den Erzähler an Reliquien: »[…] nach einer alten Tradition auch der lateinischen Kirche gelten die Gegenstände, die von Heiligen berührt worden sind, ebenfalls als verehrungswürdige Reliquien. Wenn die Leichname eines Tages in die Wallfahrtskirche überführt sein werden, wird man den Familien Stücke der blutgetränkten Overalls sicher nicht verweigern – in den Reliquienschränken werden sie dann den Ehrenplatz einnehmen.«25

Bei dem Gesang der Angehörigen steigen in ihm Erinnerungen auf: »Ich fühlte mich an den Rhythmus der Psalmodie erinnert, welche die Sufi-Tänze begleitete, die ich in der Totenstadt von Kairo erlebt hatte – gab es in diesem Gesang, der in meinen Ohren nicht besonders sakral, sondern heiter und spielerisch wie ein Abzählreim unter Kindern klang, eine Geistesverwandtschaft mit den Liedern dieser gottverliebten Bruderschaften?«26

Die Überschneidungen zwischen der profanen und sakralen Wirklichkeit, die in der Mentalität der Kopten fest verankert sind, lässt den außenstehenden Erzähler mit Hilfe der ihm gebührenden Mittel wie Vergleich oder Assoziation auf die präfigurativen Muster zurückgreifen, um sie nachvollziehen und verstehen zu können. Die Information von Zeugen der Entführung, dass die getöteten Kopten 22 Ebd., S. 70. 23 Ähnliche Anzeichen nimmt er auch in nichtchristlichen Weltteilen, z. B. in Asien, wahr. Vgl. u. a. Mosebach, Martin: Stadt der wilden Hunde. Nachrichten aus dem alltäglichen Indien. München: Hanser 2008. 24 Mosebach, Die 21. 2018, S. 92. 25 Vgl. ebd., S. 112. 26 Ebd., S. 113.

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in der Nacht beim Namen gerufen wurden, kommentiert er folgendermaßen: »Diese Namensrufe aus der Finsternis – wo hatte ich etwas Ähnliches gelesen? Gab es nicht im Alten Testament die Erzählung von einem schlafenden jungen Mann, der nachts durch das Rufen seines Namens geweckt wurde? Auch er hieß Samuel.«27 Der Martyrer Matthew war ein Schwarzer aus Ghana, der sich zum Christentum bekannte und zusammen mit anderen Kopten hingerichtet wurde. Seinen Glaubensakt verbindet der Erzähler mit den christlichen Martyrern aus der römischen Tradition, d. h. mit Adactus, der beim Anblick von dem zum Tod verurteilten Heiligen Felix Christ wurde und dessen Schicksal teilte,28 wie auch dem Evangelisten Matthäus, der in Äthiopien das Martyrium erlitten hatte. Die Standhaftigkeit der Gefangenen soll Ursache zur Christenbekehrung eines der Wächter gewesen sein, was »an älteste Vorbilder erinnert – das erste davon der römische Hauptmann unter dem Kreuz, der nach dem Tod Jesu bekannte: ›Wahrlich, dieser ist Gottes Sohn gewesen‹«.29 Der Zeugenbericht über die Folterungen der Gefangenen »[klang] nicht nach einer Schilderung aus dem Jahr 2015, sondern als stamme sie aus der »Legenda aurea« des Jacobus de Voragine«.30 Die Anknüpfung an die Legende verstärkt den übersinnlichen und mirakulösen Charakter der von Mosebach heraufbeschworenen Vorstellungswelt der Kopten, in der sich die Marienerscheinungen, Engel und fantastische Geschichten, z. B. über die Versetzung der Kirche nach Bayahoo,31 mit der alltäglichen Wirklichkeit vermischen. Sie schaffen einen Hintergrund, vor dem auch die pathetische, affektierte oder erhabene Ausdrucksweise nicht befremdend wirkt. Auf die Frage nach dem Heiligsein antwortet zum Beispiel einer der Martyrer (Malak): »Das reicht mir nicht […] ich will es durch den Tod tun.«32 Sie korrespondiert mit der koptischen Liturgie, die ihrem Leben und ihren Taten in synthetischer Form einen symbolischen Sinn verleiht: »Sie waren im Ritus aufgegangen, wie es in der westlichen Welt selbst für Mönche vielfach nicht mehr möglich ist«33, schreibt Mosebach und betont seine gemeinschaftsstiftende 27 Ebd., S. 60. 28 Vgl. Felix. (Zugriff am 20. 5. 2019). 29 Ebd., S. 221. 30 Ebd., S. 221f. Das von dem Dominikaner Jacobus de Voragine im 13. Jahrhundert verfasste Werk »Legenda Aurea« gilt als eines der wichtigsten Vorbilder für die hagiographische Literatur in Europa. Darüber hinaus passt es sehr gut in Mosebachs Konzeption des Traditionstransfers, weil sein Autor – wie Ulrich Wyss schreibt – »die Vielfalt der Traditionen zu einer Figur das herauszupräparieren [bemüht ist], was am ehesten Anspruch auf auch historische Wahrheit haben dürfte«. Wyss, Ulrich: Legenden. In: Epische Stoffe des Mittelalters. Hrsg. von Volker Mertens/Ulrich Müller. Stuttgart: Kröner 1984, S. 57. 31 Vgl. Mosebach, Die 21. 2018, S. 217f. 32 Ebd., S. 115. 33 Ebd., S. 161.

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Funktion wie auch die produktive Fort- und Umsetzung der früheren Traditionsstränge, die u. a. in der Sprache der Liturgie ihren Niederschlag findet: »Die altkoptische Sprache ist die letzte Gestalt, welche die Sprache der Pharaonen unter hellenistischer Herrschaft angenommen hatte, und so ist sie denn bis heute auch die Sprache der Liturgie und lebt in ihr, und nur in ihr, fort. Hinzu trat das Griechische, die Sprache des Neuen Testaments und der , der unter den Ptolemäern in Alexandria geschaffenen Übersetzung des Alten Testaments. Im zweiten nachchristlichen Jahrtausend wurde dann auch das Arabische Liturgiesprache, vor allem für die Schriftlesungen, so daß die koptische Liturgie in drei Sprachen gesungen wird. Man kann also sagen: Die ganze Geschichte des Landes ist in diesem Gottesdienst anwesend.«34

Darüber hinaus sind in seiner Beschreibung der Liturgie auch die Materialität der Wandlung, die er der »abstrakten, idealisierten Form«35 in der westlichen Kirche gegenüberstellt, das Akustische als Choral und ihre Bildlichkeit relevant. Einen besonderen Platz räumt Mosebach in diesem Zusammenhang den Objekten der kultischen Verehrung ein. Die nach dem Prinzip sancto subito schnell heiliggesprochenen koptischen Martyrer wurden auf Ikonen verewigt: »in neo-archaischer Stilisierung: dicht zusammengedrängt kniend, so daß ihre Heiligenscheine sich ineinanderschieben, die Hände sind zu einem über ihnen schwebenden Christus erhoben. Diese Ikonographie ordnet sie in die alte Martyrertradition ein und nimmt deswegen ganz bewußt keinerlei Rücksicht auf das tatsächliche Aussehen der Männer.«36

Die traditionelle Ausführung entsprach aber nicht dem Bedürfnis der Familien, die nicht zu abstrakten Heiligengestalten beten wollten. Aus diesem Grund entstand ein von einem anonymen Fotografen gemachtes Plakat – eine Art Collage, auf der er »die Köpfe auf den Photos in Ausweisen und Soldbüchern der Männer auf andere Körper gesetzt [hat] […] aufrecht stehende Körper in weißen liturgischen Gewändern mit über der Brust gekreuzter roter Stola des Diakons […] In den Händen, die nicht die ihren sind, tragen sie Segenskreuze wie ein Bischof, der damit die Menge segnet, und auf den Köpfen eine Königskrone, die aber in ihrer Zweidimensionalität im Kontrast zu den Gesichtern steht und aussieht wie aus Goldpapier ausgeschnitten.«37

Indem Mosebach die Verehrung der getöteten Kopten als Bestandteil des liturgischen Ritus darstellt, weist er auf den Mechanismus hin, der der koptischen Gemeinschaft erlaubt, das aktuell Geschehene in ihre überlieferten Gepflogenheiten und ihre Weltwahrnehmung zu integrieren. Der Prozess gewinnt dadurch 34 35 36 37

Ebd., S. 163. Ebd., S. 164. Ebd., S. 70. Ebd., S. 71.

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einen Modellcharakter, kann aber offensichtlich kein Vorbild für die moderne, westliche Gesellschaft sein.38 Wenn Mosebach dem Leser Einblick in die ganzheitliche koptische Wirklichkeit gibt, will er nicht ausschließlich über eine vergessene Gruppe berichten39 oder in der entfernten Nachfolge Franz Werfels40 den Status der Stimme der unterdrückten Minderheit usurpieren. Er ist sich des kulturellen Abstands, der die westliche Welt von der koptischen trennt, vollkommen bewusst, was er unter anderem durch die Wahl der Erzählperspektive eines faszinierten, aber zugleich distanzierten Beobachters immer wieder betont. Die Konfrontation mit einer ganz andersartigen, aber entfernt verwandten Kultur hat zum Ziel, zunächst die eigenen etablierten postkolonialen Erklärungsschemata zu revidieren, um in weiterer Folge auch alternative Wirklichkeitswahrnehmungen berücksichtigen zu können oder – wie in dem oben erwähnten Dialog in einem Teehaus in Kairo – den Gesprächspartner »wenigstens nachdenklich [zu] machen«,41 wenn die Standpunkte zu stark voneinander abweichen. Wenn der Hagiograph in den vergangenen Epochen andeutete, dass er nur einen Teil der zahlreichen Ereignisse beschrieben hat, die mit dem Leben des Heiligen zusammenhängen,42 schöpft Mosebach nicht aus dem Überschuss, sondern eher aus den Spuren der ursprünglichen Substanz, die das Überdauern und den Zusammenhalt der koptischen Gemeinschaft trotz 1400-jähriger Unterdrückung sicherte und zur Bewahrung der eigenen Identität beitrug. Er versucht das Erfahrene vor dem Vergessen zu schützen, wählt aber eine andere Vorgehensweise als die übliche Praxis der Erinnerung an die vergangenen Traditionen, die sich gewöhnlich auf die überlieferten Textzeugnisse bezieht und in der modernen Literatur praktiziert wird. Mosebach deutet die besichtigte 38 Eine solche Absicht schreibt in seiner Rezension Matthias Westerhoff dem Buch von Mosebach zu: »Er [Mosebach – M.J.] will über den Westen Gericht halten, ihm das Vorbild der koptisch-orthodoxen Kirche als Heilmittel empfehlen. Ohne erhebliche Verkürzungen, ja Widersprüche kann dieses Vorhaben nicht gelingen – ganz abgesehen davon, dass es das reine Dogma in einer aufgeklärten Welt schwer haben dürfte, aus gutem Grund.« Westerhoff, Matthias: Ganz normale Jungen. (Zugriff am 04. 12. 2018). 39 Vgl. Schneider, Wolfgang: »Die 21« von Martin Mosebach. Sehnsucht nach dem Mysterium. (Zugriff am 3. 12. 2018). 40 Mit seinem 1933 herausgegebenen Roman »Die vierzig Tage des Musa Dagh« beschrieb Franz Werfel den Völkermord an den Armeniern im Osmanischen Reich während des Ersten Weltkrieges. Auf diese Spur weist Paul Badde hin. Vgl. Badde, Paul: »Die 21: Eine Reise ins Land der koptischen Martyrer« von Martin Mosebach. (Zugriff am 4. 12. 2018). 41 Mosebach, Die 21. 2018, S. 44. 42 Pratsch, Der hagiographische Topos. 2005, S. 340ff.

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Umgebung nicht nach der von Aleida Assmann beschriebenen Art, die dem »Zeitalter digitaler Medien« entspricht: »Gedächtnis [wird] als eine plastische Masse betrachtet, die unter den wechselnden Perspektiven der Gegenwart immer wieder neu geformt«43 wird. In der Welt der Kopten gibt es noch den sozialen Bezugsrahmen, den Maurice Halbwachs als Grundvoraussetzung für den uneingeschränkten Austausch zwischen dem kollektiven und individuellen Gedächtnis bezeichnet,44 was eine intakte Traditionsvermittlung garantiert. Sie ist darüber hinaus keine literarische Fiktion, sondern eine unmittelbar erfahrbare Realität. Mosebach gibt ihr den Status eines Entwicklungsstrangs, den er als Alternative zu der europäischen Geschichte darstellt: In der koptischen Kirche »hat es nach der Beendigung der Großverfolgung unter den römischen Kaisern, nach der Kirchenspaltung auf dem Konzil in Chalzedon und der islamischen Eroberung nichts von dem gegeben, was westliche Kirche in immer neue Zustände geraten ließ: keine Reformation, keine Gegenreformation und keine Säkularisation«.45 Anders gewendet ist die koptische Welt kein Reservat, sondern eine lebendige Wirklichkeit, die imstande war, unter den ständig wechselnden geschichtlichen Bedingungen einerseits die Kontinuität ihrer Tradition zu bewahren und andererseits ihr Entwicklungspotenzial in den modernen Zeiten unter Beweis zu stellen, was er am Beispiel der unternehmerisch erfolgreichen Kopten in Kairo zeigt. Die unmittelbare Präsenz einer alternativen, kulturell christlich geprägten Welt stellt den paradigmatischen Charakter der westlichen Zivilisationsgeschichte in Frage, deren Entwicklungsprinzip durch die älteren Vorstellungen von Dauer oder Wachstum als ebenbürtig ersetzt wird. Ihre Stärke erweist sich in der Fähigkeit zur Synthese von diversen Elementen, die aus unterschiedlichen Quellen wie dem hellenisierten Judentum, gnostischen Spekulationen, synkretistischen Riten, Mysterienkulten oder dem Platonismus46 kommen, produktiv umgesetzt und auf diese Weise weiter tradiert werden. Ein gegenwärtiges Beispiel dafür ist der Umgang der Kopten mit den Bildern ihrer getöteten Angehörigen. Die Darstellungen der einzelnen Martyrer (manche mit Kronen auf dem Kopf) können auf einen anspruchsvollen europäischen Leser exotisch und befremdend wirken. Nichtsdestoweniger sind sie für Mosebach Anlass, um auf »das Problem der religiösen Bilder, das den Westen seit dem neunzehnten Jahrhundert beschäftigt«, einzugehen. Ähnlich wie in einem seiner Essays aus dem Band »Der Ultramontane« weist er auf die relative Bedeutung der Kategorie des Kitsches hin, die nach ihm zur Abgrenzung »zwischen blassem 43 Assmann, Aleida: Erinnerungsräume. Formen und Wandlungen des kulturellen Gedächtnisses. München: Beck 2006, S. 158. 44 Vgl. Halbwachs, Maurice: Das Gedächtnis und seine sozialen Bedingungen. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1985 und ders.: Das kollektive Gedächtnis. Stuttgart: Enke 1967. 45 Mosebach, Die 21. 2018, S. 61. 46 Vgl. ebd., S. 237.

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Kunstgewerbe und Bonbon-Süßigkeit«47, wie auch zur Ausgrenzung von dem durch die Kunstkritik unerwünschten Schaffen dient. Der Kunstkenner Mosebach48 schreibt demnach kein Plädoyer für minderwertige populäre Darstellungen, sondern polemisiert mit der sich seit dem 18. Jahrhundert vollziehenden Kunstentwicklung in Deutschland, die er als fortschreitende Loslösung von der Tradition betrachtet.49 Deswegen gewinnt für ihn die in der koptischen Provinz geschaffene Verschmelzung von traditionellen Vorgaben und moderner Erwartung den Rang eines Modells: »Was Pop-, Video- und Photokünstler des Westens schon seit längerem versuchen, wenn sie sich dem volkstümlichen grellfarbigen Kitsch in die Arme werfen, weil sie hier letzte Kraftresiduen vermuten, die der »Hochkunst«, wie sie spüren, längst abhanden gekommen sind, haben hier Bildschirmbastler in der tiefsten Provinz zustande gebracht, um einem ernsthaften spirituellen Bedürfnis zu brauchbaren Andachtsbildern zu verhelfen.«50

In seiner Darstellung der komplexen koptischen Welt verbindet Mosebach die moderne Reportage mit Strukturelementen der traditionellen Hagiographie. Er rekonstruiert das Martyrium der koptischen Wanderarbeiter, indem er es mit den präfigurativen biblischen Mustern verbindet. Deswegen sind die Martyrergestalten allem Anschein nach »Christus redivivus«51 in der koptischen Welt des 21. Jahrhunderts. Gleichzeitig zeigt sich auch die Distanz zwischen dem gewonnenen Bild und der Perspektive des modernen europäischen Betrachters, die ihm nicht erlaubt, der vorgeschlagenen Deutung ohne weiteres zu folgen. In einem seiner Essays formulierte Mosebach diese Abhängigkeit radikal, indem er fragte: »Ist die Religion so etwas Ähnliches wie eine aussterbende folkloristische Handwerkskunst? Sind das Beten und das Weben alter Muster gleich weit von

47 Ebd., S. 73. Zum Problem des religiösen Kitsches vgl. Mosebach, Martin: Magische Städte. Lourdes und die Pilger. In: Mosebach, Martin: Der Ultramontane. Alle Wege führen nach Rom. Augsburg: Sankt Ulrich 2012, S. 46–64. 48 Vgl. u. a. seine Essays aus dem Band Du sollst dir ein Bild machen. Über alte und neue Meister. Springe: zu Klampen 2005. 49 Vgl. Jakubjw, Marek: »Wo sie am meisten befremdet, ist man ihrem Ursprung am nächsten.« Martin Mosebachs Umgang mit der Tradition. In: Karły na ramionach olbrzymjw? Kultura niemieckiego obszaru je˛zykowego w dialogu z tradycja˛. Hrsg. von Katarzyna GrzywkaKolago/Lech Kolago/Maciej Je˛drzejewski/Robert Małecki. Warszawa: Instytut Germanistyki Uniwersytetu Warszawskiego 2015, S. 125–134. 50 Ebd. 51 Zu den Modellen der Transfiguration in der modernen deutschsprachigen Literatur vgl. Kłan´ska, Maria: Die Transfigurationstechnik im Kontext der Bezüge zwischen Bibel und Literatur. In: Der Heiligen Schrift auf der Spur. Beiträge zur biblischen Intertextualität in der Literatur. Hrsg. von Maria Kłan´ska/Jadwiga Kita-Huber/Paweł Zarychta. Dresden/Wrocław: Neisse 2009, S. 35–49.

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moderner gesellschaftlicher Realität entfernt?«52 Der Wandel der Betrachtungsperspektive soll den Leser zu der Erkenntnis führen, dass die überlieferten Denk- und Lebensformen leicht zu übersehen sind, wie das von Mosebach eingesetzte hagiographische Muster, das in seinem Text immer wieder hinter den Reiseeindrücken hervorschimmert und ebenso paradox, unzeitgemäß, unwirklich zu sein scheint, aber real ist wie das Ereignis am libyschen Strand im Jahr 2015.

52 Mosebach, Martin: Schall und Klang der Transoxanen. Eine Pilgerfahrt zum Festival der Volksmusik in Samarkand. In: Mosebach, Martin: Als das Reisen noch geholfen hat. Von Büchern und Orten. München: DTV 2014, S. 24.

Małgorzata Dubrowska (Lublin)

Barbara Honigmanns neueste »kleine Erzählungen«. Zum Narrativ der Kontingenz im Roman »Georg« (2019)

Abstract Die Autorin des vorliegenden Beitrags befasst sich mit der neuesten autofiktionalen Prosa der in Straßburg lebenden, deutsch-jüdischen Schriftstellerin. Sie geht von der Schilderung der Poetik Barbara Honigmanns aus, deren Zentrum »eine ganz kleine Literatur des persönlichen Anvertrauens«, des Erinnerns, des Briefs und des Tagebuchs bildet, zumal diese Schreibstrategie ebenfalls zum Kompositionsprinzip des Vater-Buchs wird. Da das Schicksal des Protagonisten nur bedingt und fragmentarisch rekonstruierbar ist, wird das Narrativ der Kontingenz zum Schreibprinzip.

Honigmanns Poetik Autobiographie, Autofiktion – »kleine Literatur des Anvertrauens« In der Tübinger Poetikvorlesung (2000) äußert sich Barbara Honigmann zur deutsch-jüdischen Literatur und Geschichte. Zu Beginn ihrer Ausführungen hebt die Autorin hervor, dass die Lebenszeugnisse zweier Frauen den Anfang und das Ende jener Literatur markieren. Ihre Aufmerksamkeit gilt zwei Erinnerungsbüchern: Glückel von Hamelns »Denkwürdigkeiten« und Anne Franks »Tagebuch«. Wenn Honigmann über dreihundert Jahre der deutsch-jüdischen Beziehungen spricht, rekurriert sie auf die Zeit zwischen 1645 und 1945 – die Eckdaten bezeichnen das Geburtsjahr Glückel von Hamelns und das Todesjahr Anne Franks – und meint dabei »die Spanne vom Eintritt der Juden in die deutsche Geschichte und Kultur bis zu ihrem gnadenlosen Rauswurf.«1 In der Vorlesung, in der die Faszination vom autobiographischen Schreiben zweier deutscher Jüdinnen in den Vordergrund rückt, widmet sie sich ebenfalls den Tagebüchern und Briefen Rahel Varnhagens. Als behutsame Leserin derer Texte 1 Honigmann, Barbara: Eine ›ganz kleine Literatur‹ des Anvertrauens. Glückel von Hameln, Rahel von Varnhagen, Anne Frank. In: Diess.: Das Gesicht wiederfinden. Über Schreiben, Schriftsteller und Judentum. München: Hanser 2006, S. 7–29, hier S. 9.

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Małgorzata Dubrowska

stellt Honigmann fest, dass die Autorin – als Frau und Jüdin – »eine unglücklich Liebende und Sehnende« bleibt, die – von der Exklusionserfahrung der Mehrheitsgesellschaft stigmatisiert – »sich in ihrem selbsterfundenem Leben nach einer Verschmelzung mit der deutschen Kultur gesehnt [hat].«2 Die Lebenszeugnisse dreier Frauen, deren Hoffnung auf Emanzipation, Assimilation und Selbstverwirklichung ein gewaltsames Ende gesetzt wird, nennt Honigmann »eine ganz kleine Literatur«, eine vorliterarische Form »des persönlichen Anvertrauens, des Erinnerns, des Briefs, des Tagebuchs«3, die im Unterschied zur ›großen‹ Literatur kein diskursives Potenzial habe, von »Bagatellen und Geschichten des Tages«4 erzähle und eine Art »Selbstgespräch und Selbstbefragung«5 sei. Zugleich hebt die Autorin hervor, dass diese kleinen Geschichten – mit ihrer Direktheit und Eindringlichkeit – in die große Geschichte eingebettet und zur Historie umgedeutet werden können. Somit sind sie ein Teil der weiblichen Genealogie. Honigmann sagt dazu: »Es sind Werke, in denen uns Frauen Geschichten, Begebenheiten, Gedanken und Träume erzählen, die von ihrem Leben als Angehörige einer kleinen Minderheit in einer großen Kultur handeln, unter starker innerer und äußerer Anspannung geschrieben und deshalb von so unvergleichbarer Intimität und Intensität. Eine ›ganz kleine‹ Literatur des Anvertrauens, in der uns die Autorinnen durch die Geschichte hindurch anzublicken scheinen.«6

Honigmann schreibt, dass sie instinktiv zu diesen Texten, die nicht so selbstverständlich wie etwa die Werke Goethes oder Kleists ihren Bildungsweg bestimmt und begleitet haben, gegriffen habe, um sich der intellektuellen Verwandtschaft mit den Autorinnen und der Schicksalsgemeinschaft zu vergewissern: »Ich möchte nämlich wissen, ob wir noch etwas gemeinsam haben, ob mir diese Frauen und ihr Schreiben ähnlich sind, ob ich vielleicht auch zu dieser ›ganz kleinen Literatur‹ des Randes, der unkomfortablen Randposition gehöre, weil mein Schreiben ja auch nur etwas wie ein autobiographisches Schreiben zwischen Enthüllen und Verstecken [Hervorhebung M.D.] ist, in einer ständigen, vielleicht zwanghaften Konfrontation mit der auferlegten Familien- und Lebensgeschichte, einer dauernden Introspektion dieses Lebens und seiner Genese.«7

Sie gibt zu, die Geschichten dieser jüdischen Frauen aus drei Jahrhunderten seien ein Teil ihrer eigenen Geschichte. Mit dem Identifikationsgestus bezeugt die 2 3 4 5 6 7

Ebd., S. 20, S. 21. Ebd., S. 10. Ebd., S. 12. Ebd., S. 11. Ebd., S. 26–27. Ebd., S. 28. Vgl. hierzu Fiero, Petra S.: Zwischen Enthüllen und Verstecken: eine Analyse von Barbara Honigmanns Prosawerk. Berlin: De Gruyter 2008. (Conditio Judaica, Bd. 69).

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Schriftstellerin ihre Nähe und Affinität zur »kleinen Literatur des Anvertrauens«. Der Schreibmodus, den sie sich zu eigen gemacht hat, wird bei ihr in den europäischen, zeitgeschichtlichen Kontext gebracht, weil ihre kleinen Geschichten immer in die aktuelle Historie eingebettet werden. Hinzu kommt, dass sie, als eine auf Deutsch schreibende, in Straßburg lebende Jüdin, paradigmatisch für die Wandelbarkeit und Relativität althergebrachter Identitäts- und Lebensvorstellungen steht und durch ihr Leben und Werk am europäischen Kulturtransfer mitwirkt. Da Honigmann sich in ihrem literarischen Schaffen zwischen Autobiographischem und Biographischem bewegt, bleibt diese Thematik in den Ausführungen zur Poetik zentral. In der ersten Zürcher Poetikvorlesung (2002), das dem Problem des autobiographischen Schreibens gewidmet ist, greift die Autorin das von Serge Doubrowski herausgearbeitete Konzept der Autofiktion auf, das sie auf ihr eigenes Oeuvre bezieht. Sie hebt hervor, dass das autobiographische Schreiben, das in der Mitte zwischen Tagebuch und Roman liege, auch Fiktion sei. Honigmann schreibt, dass ein autobiographisches Projekt der Selbsterforschung und Selbstoffenbarung zugleich auch Selbstinszenierung und Selbstfiktionalisierung sei.8 Sie sagt in diesem Kontext: »Jeder, der schreibt, entfernt sich von der erlebten, gedachten und gefühlten Wirklichkeit, von der er berichtet, trennt Teile davon aus ihrem ursprünglichen Zusammenhang heraus, setzt sie neu zusammen, um sie zum Gegenstand seiner Betrachtungen zu machen [.]«9 In der dritten Zürcher Vorlesung, die sie ebenfalls 2002 gehalten hat, nimmt Honigmann Stellung zum biographischen Schreiben, indem sie nicht nur über ihr unterlassenes Projekt – Bertha Pappenheims Biographie – Auskunft gibt, sondern sich auch Gedanken über die Erinnerung als literarischer Stoff macht, und zwar im Kontext der Erinnerung an die Figuren der Eltern. Die Autorin, die es erst nach dem Tode ihrer Eltern gewagt hat, ihre literarischen »Porträts«10 nachzuzeichnen, ist sich dessen bewusst, dass »[a]uch die Erinnerung, der Stoff, aus dem die Literatur so oft gemacht zu sein scheint, […] erfunden sein [will].11 Ihrer Ansicht nach gelte dies insbesondere in Bezug auf die Figuren der Eltern, weil sie »im Ungeklärten und Unerklärbaren« bleiben und sich »auf dem 8 Vgl. Honigmann, Barbara: ›Wenn mir die Leute vorwerfen, daß ich zuviel von mir spreche, so werfe ich ihnen vor, daß sie überhaupt nicht über sich selber nachdenken.‹ Zürcher Poetikvorlesung (I): Über autobiographisches Schreiben. In: Diess.: Das Gesicht wiederfinden. Über Schreiben, Schriftsteller und Judentum. München: Hanser 2006, S. 31–60, hier S. 39. 9 Ebd., S. 40. 10 Honigmann, Barbara: Ein Buch, das ich nicht geschrieben habe. Zürcher Poetikvorlesung (III): Über biographisches Schreiben. In: Diess.: Das Gesicht wiederfinden. Über Schreiben, Schriftsteller und Judentum. München: Hanser 2006, S. 89–111, hier S. 93. 11 Ebd.

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schmalen Pfad zwischen gegenseitigen Ansprüchen, Abgrenzungen und Vereinnahmungen«12 befinden. Die Nachzeichnung der Lebensgeschichte ihrer Familie, die zu ihrem Lebensthema13, zu einem immer wiederkehrenden Motiv ihres Schreibens wird, das sie – als Schriftstellerin und Malerin – zu einem mehrmals wiederholten Versuch eines Malers vergleicht, der ein und dasselbe Motiv aufs Neue gestaltet, ist auch immer wieder eine Bestrebung, mit der »kleinen Literatur des Anvertrauens« auf großen historischen Kontext zu verweisen. Hinzu kommt, dass in der literarischen Verarbeitung der Eltern-Porträts nicht nur die erinnerten Figuren, sondern auch die Erinnerung an sie eine Wandlung erfahren. Honigmann schreibt: »Ich würde diese Nachzeichnungen gern und noch einmal und vielleicht noch mehrmals versuchen, um, wie es in der Malerei üblich ist, verschiedene Porträts und Zeichnungen nebeneinanderstellen zu können. Denn auch nach ihrem Tod verändern sich die Menschen noch.«14

Der im Jahre 2019 – zum siebzigsten Geburtstag der Schriftstellerin – herausgegebene Roman15 »Georg« stellt den aktuellen Versuch der Autorin dar, das Vater-Porträt nachzuzeichnen. Im Schreibmodus der »kleinen Literatur des Anvertrauens«, in dem kleine Episoden in die geschichtlichen (Um)Brüche transfiguriert werden, offenbart sich nicht nur die kleine und große Geschichte des deutsch-jüdischen Lebens, sondern es wird auch das Potenzial moderner Literatur sichtbar, die »einen Bogen zwischen traditionsreichen Themen, Motiven und Bildern zur Gegenwart [schlägt]« und dadurch »ihren antizipatorischen und modellbildenden Charakter [bezeugt].«16 Darüber hinaus tragen »die kleinen Erzählungen«17 Honigmanns den neuen Herausforderungen für die zeitgenössische Literatur Rechnung, indem sie sich mit ihrem Narrativ in das Schilderungsraster der literarischen Moderne einfügen lassen: In der Studie 12 Ebd. 13 In ihrem Buch »Eine Liebe aus nichts« (1991) erzählt sie über den Vater und in »Ein Kapitel aus meinem Leben« (2004) spürt sie der Lebensgeschichte ihrer Mutter nach. In dem Band »Damals, dann und danach« (1999) schreibt sie u. a. sowohl über ihre Mutter als auch über ihren Vater und gedenkt ebenfalls ihrer matrilinealen und patrilinealen jüdischen Vorfahren. Vgl. hierzu die Kapitel »Gräber in London« und »Von meinem Urgroßvater, meinem Großvater, meinem Vater und von mir« sowie »Der Untergang von Wien«. 14 Honigmann: Ein Buch, das ich nicht geschrieben habe, S. 94. 15 Jandl, Paul: Die vielen Geschichten eines Vaters, der am Ende sich selbst abhandenkommt. In: Neue Zürcher Zeitung vom 27. 02. 2019. (Zugriff am 01. 04. 2019). Der Rezensent der NZZ nennt das Buch einen Roman, der »nah an den Fakten bleibt.« 16 Schmitz-Emans, Monika: Globalisierung im Spiegel literarischer Reaktionen und Prozesse. In: Literatur im Zeitalter der Globalisierung. Hrsg. von Manfred Schmeling/Monika SchmitzEmans/Kerst Walstra. Würzburg: Königshausen & Neumann 2000, S. 285–316, hier S. 308. 17 Ebd., S. 286.

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»Neuverhandlungen des Holocaust. Mediale Transformationen des Gedächtnisparadigmas« (2014) schreibt Kirstin Frieden, dass »[d]ie Zeit des einen, verbindlichen ›Master Narratives‹, der Rahmen- und Identität gebenden MasterErzählung […] vorbei zu sein [scheint]«18. Sie zitiert Jean-Francois Lyotard, der bereits 1986 in »Das postmoderne Wissen. Ein Bericht« die Meinung vertritt, dass die große Erzählung ihre Glaubwürdigkeit verloren habe. Schmitz-Emans greift den Gedanken Lyotards auf und spricht von neuen Herausforderungen für die kleinen Erzählungen.19 Honigmanns Miniaturen, in dem Schreibmodus zwischen Autobiographie und Autofiktion verfasst, reihen sich in das thematische Paradigma der Literatur im Zeitalter der Globalisierung ein, für die das Prinzip der Kontingenz charakteristisch ist. Monika Schmitz-Emans sagt dazu: »Kontingenz steht im thematischen Zentrum moderner Literatur – die Kontingenz des Einzelnen wie des Ganzen, die der interpretierten Wirklichkeit sowie die der interpretierenden Instanzen selbst.«20 Schmitz-Emans konzipiert ihre These zwar als literarische Reaktion auf die Globalisierung, aber sie trifft auch auf die in Honigmanns Buch geschilderte Problematik zu: Der in der globalisierten Welt erschienene Roman »Georg« thematisiert das Schicksal eines Juden und Deutschen, der im Zeitalter vor der Globalisierung, in den Jahren 1903–1984 lebte, aber fast sein ganzes erwachsenes Leben ein Citoyen du Monde – Jude, Deutscher, Europäer, enemy alien in London und Kanada, DDR-Bürger – blieb. Der Protagonist, ein promovierter Bildungsbürger und erfolgreicher Pressekorrespondent, der im kanadischen Internierungslager zum Kommunisten wird, kommt 1946 aus London nach Berlin und lässt sich im sowjetischen Sektor nieder. Seinem Schicksal, seiner Lebenseinstellung und diversen Erinnerungen an Georg (der Nachname fällt im Roman nicht)21 entnahm Honigmann die in ihrem Vater-Buch problematisierten thematischen Schwerpunkte, denen im vorliegenden Beitrag nachgegangen wird.

18 Frieden, Kirstin: Neuverhandlungen des Holocaust. Mediale Transformationen des Gedächtnisparadigmas. Bielefeld: Transcript 2014, S. 24. 19 Vgl. Lyotard, Jean-Francoise: Das postmoderne Wissen. Ein Bericht. Wien: Böhlau 1986, S. 112. Zit. nach: Frieden, Neuverhandlungen. 2014, S. 24; vgl. auch Schmitz-Emans, Globalisierung im Spiegel literarischer Reaktionen und Prozesse. 2000, S. 286. 20 Schmitz-Emans, Globalisierung im Spiegel literarischer Reaktionen und Prozesse. 2000, S. 286. 21 Die Autorin schreibt zwar, dass Georg im Londoner Exil auf dem doppelten »n« in seinem Nachnamen bestanden hat – sich auf diese Weise zum ›Deutsch-Sein‹ bekannte – und den Vornamen nicht anglisieren wollte, erwähnt aber den Nachnamen nicht.

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Die kleinen Erzählungen Das Porträt des Protagonisten wird von der Ich-Erzählerin Anna in achtzehn Kapiteln nachgezeichnet, die nicht dem chronologischen, sondern dem thematischen Prinzip folgen, wobei die einzelnen Stationen des Lebens in separaten Miniaturen geschildert werden: »Barbara Honigmann erzählt ihr Buch in Sprüngen. Sie greift vor und nimmt dann wieder einen roten Faden auf, der die Rhetorik des Romans bestimmt.«22 Den Rahmen in der Geschichte bildet die den Text eröffnende Szene, mit deren lakonischer Version der Roman ausklingt. Diese Klammer gilt der die letzte Schicksalsetappe Georgs einleitenden Schilderung: Die Ich-Erzählerin, die den von der dritten Ehefrau geschiedenen weinenden Vater zeigt – schweigend und fassungslos in einem möblierten Zimmer sitzend – versucht, »[…] sein Schweigen durch [ihr] Reden zu füllen […].«23 Sie kommentiert die Schlüsselszene wie folgt: »Sonst war es ja meistens mein Vater, der von seinem Leben erzählte, von der Odenwaldschule, die er in seiner Jugend besucht hatte, von seiner Großmutter Anna, deren Namen ich trage, von seinem Bruder und seiner Mutter, die beide so früh gestorben waren, und von den verschiedenen Ländern, in denen er gelebt hatte und alle diese Erzählungen und Erinnerungen wurden von mir stets durch ›Erzähl weiter, Pappi‹ im Fluss gehalten.«24

Die ›Erzähl weiter, Pappi‹-Formel, die im Text wie ein Refrain auftaucht, weist zum einen auf die Vertrautheit der Ich-Erzählerin mit dem Vater hin, macht zum anderen den Titelhelden der Geschichte zum Zeitzeugen, der – ein erfolgreicher Journalist und Pressekorrespondent – zwar keine Memoiren oder Erinnerungen schriftlich verarbeitet hat, aber als storekeeper of memory25 in der vornehmlich für die weibliche Genealogie typischen Form der oral history zum Beschützer des Gedächtnisses wird, zumal er alle familiären Verbindungen im Gedächtnis behalten und rekonstruieren konnte. Paul Jandl deutet den von der Ich-Erzählerin im Roman angeführten Refrain als den Widerhall der Vergangenheit, als erinnerte Erinnerung, die aber für Honigmann zum Schreibanlass wird. Er sagt: »Weil der Vater nicht mehr lebt, ist dieses ›Erzähl weiter‹ nicht viel mehr als das Echo der eigenen Stimme. Aber es ist auch ein Auftrag.«26 Die Erinnerung der Ich-Erzählerin an Vaters Erzählungen gilt den Gesprächen, die immer wieder während ihrer Peregrinationen stattgefunden haben: Die im kommunikativen 22 23 24 25

Jandl, Die vielen Geschichten eines Vaters. Honigmann, Barbara: Georg. München: Hanser 2019, S. 8. Ebd. Vgl. hierzu Jansen, Odile: Women as Storekeepers of Memory. Christa Wolf ’s Cassandra Project. In: Gendered Memories. Hrsg. von John Neubauer/Helga Geyer-Ryan. Amsterdam/ Atlanta: Rodopi 2000, S. 35–43, hier S. 35. (Studies in Comparative Literature 28). 26 Jandl, Die vielen Geschichten eines Vaters.

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Gedächtnis gespeicherten Erinnerungen Georgs werden vornehmlich während der Ausflüge aktiviert und weitergegeben. Der Vater erzählt der Tochter auf ihren gemeinsamen Wanderungen, Spaziergängen und beim Autofahren diverse Geschichten und Anekdoten. Die Ich-Erzählerin erinnert sich: »Das Unterwegssein und die Bewegung dabei scheinen ihm Sicherheit gegeben zu haben und Antrieb gewesen zu sein, denn selten fanden solche Gespräche etwa einander gegenüber sitzend an einem Tisch statt, sozusagen Angesicht zu Angesicht.«27

Das Kompositionsprinzip des Romans entspricht dem Modus des mündlichen Erzählens: In den Vordergrund rücken »die Sagen seines [von Georgs] Lebens«28, erinnerte Erzählungen, Bilder, Gespräche, Gesten und Rückblenden, die sich oft nicht mehr verifizieren lassen, aber sich in die Erinnerung der Tochter an den Vater verwoben haben. Außer den mündlichen Zeugnissen, die erinnert und nacherzählt werden, zitiert die Ich-Erzählerin gewählte Auszüge aus den Briefen Georgs, die die Erinnerung an die Vater-Tochter-Kommunikation ergänzen. Dem Kommentar der Ich-Erzählerin ist zu entnehmen, dass der Journalist bezeichnenderweise keine Artikel aus seinem beruflichen Leben gesammelt und keine Memoiren29 verfasst hat: Eine Ausnahme bildet die Pariser Skizze des jungen Georg aus den 1920er Jahren, drei maschinengeschriebene Blätter, die der Vater der Ich-Erzählerin hinterlassen hat. Diese losen, unkommentierten schriftlichen Zeugnisse aus der Jugend des Journalisten stellen – in ihrer skizzenhaften Form – das Schreibprinzip »der kleinen Erzählung« dar, werden zum Prototyp der schriftstellerischen Methode Barbara Honigmanns. In den von der Autorin verfassten Miniaturen, in denen die Erzählungen des Vaters wiedergegeben oder die Erinnerungen der Ich-Erzählerin an ihn und dessen Geschichten verarbeitet werden, wird die Vergangenheit in die Gegenwart transponiert, die Erinnerung als Stoff vergegenwärtigt. In der Tübinger Poetikvorlesung rekurriert sie auf den Begriff der Erinnerung, den sie in den Kontext der jüdischen Tradition einbettet und sagt: »Das hebräische Wort sachor, der zentrale Begriff im Judentum für Erinnerung, meint ja vor allem die Vergegenwärtigung einer wichtigen tradierten Sache oder Handlung, die in einem ritualisierten Akt der Gegenwart gewürdigt wird.«30

Honigmann bestätigt ihre Schreibstrategie, indem sie das in Georgs Erinnerungen Verschwiegene und Ausgesparte thematisiert und nach Ursachen für 27 Honigmann, Georg. 2019, S. 53–54. 28 Ebd., S. 39. 29 Die Ich-Erzählerin schreibt, dass der Vater zwar keine Memoiren, aber dafür zwei Sachbücher über westliche Medienkonzerne und deren mangelnde Pressefreiheit verfasst hat. Sie fragt: »Hat er das wirklich geglaubt«? […] Mit wem rechnete er eigentlich ab?« Ebd., S. 149–150. 30 Honigmann, Eine ›ganz kleine Literatur‹ des Anvertrauens. 2006, S. 15.

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diese Lücken sucht: Als die Ich-Erzählerin bei ihren Recherchen in den StasiAkten und den Akten des englischen Geheimdienstes MI5 Informationen über Georgs Inhaftierung oder dessen Gesuch um ein Asyl in Westberlin entdeckt – wichtige, aber in Vaters Erzählungen verschwiegene Fakten – macht sie sich Gedanken über mögliche Gründe für die von ihm vorgenommene Tabuisierung mancher Schlüsselepisoden. Die Ich-Erzählerin äußert die Vermutung, dass sich die Lücken in Georgs Geschichten auf die Begebenheiten beziehen, die wohl »[…] zu schwer wogen, um sie mit in die Gegenwart hinüberzutragen, denn die Erinnerungen verwandelten sich in den Erzählungen auf [ihren] Spaziergängen und während [ihrer] Autofahren ja zur Gegenwart, die er mit [ihr] teilte.«31 Die Kontingenz der Biographie Georgs wird durch etliche Faktoren determiniert. Sie werden im Roman unter den Begriffen: Verlust, miese Erbschaft, Besitz- und Bindungslosigkeit sowie Zwischen-den Stühlen-Sitzen subsumiert. Aus der Kontingenz des Schicksals des Protagonisten ergibt sich ebenfalls die Form des Erzählens: Das Narrativ der Möglichkeit und Nichtnotwendigkeit, des Zufalls und Fragments bestimmt die Struktur des Romans. Im Folgenden soll der Kontingenz von Georgs Schicksal und deren literarischer Verarbeitung nachgegangen werden. Das Leben Georgs wird von vielen Verlusten stigmatisiert: Von dem frühen Tod seiner geliebten Mutter in der Kindheit traumatisiert, erleidet er weitere Brüche und Verluste: den Verlust des Elternhauses – er hat ein angespanntes Verhältnis zu seinem Vater und dessen neuer Frau –, den Tod des älteren Bruders im Ersten Weltkrieg und den Verlust der hessischen Heimat. All das hat zur Folge, dass Georg in seinen Erzählungen fast keine Geschichten und keine Erinnerungsbilder aus der Kindheit mitteilt. Er erwähnt nie den Ort, an dem sein Vater begraben ist und spricht nicht über dessen Leben: Statt von seinem Vater spricht er von seinem Schulleiter, dem Reformpädagogen Paul Geheeb. Der Protagonist erzählt kaum von seinem Bruder. Die Ich-Erzählerin stellt fest: »Seine Erinnerungen an die Familie endeten mit dem Tod seiner Mutter […].«32 In der erinnerten Erzählung der Ich-Erzählerin ist zwar von zwei Kinderfotos die Rede, aber sie werden dem Leser in sprachlichen Ekphrasen präsentiert, zumal sie – nicht mehr als Originale, sondern Abzüge – verloren gegangen sind: »Die Kopien der beiden Fotos habe ich verlegt oder verloren, aber die Bilder sind mir noch ganz gegenwärtig […]«33, sagt die Ich-Erzählerin, womit der Verlust der Photographien quasi multipliziert wird. In ihrer Erinnerung an das ekphrastisch geschilderte Foto, auf dem Georg – »ein schmächtiger Bub«34 – mit 31 32 33 34

Honigmann, Georg. 2019, S. 72–73. Ebd., S. 36. Ebd., S. 15. Ebd., S. 16.

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seinem Vater zu sehen ist, hebt sie die physische Stärke des Großvaters hervor, dessen schwarz-weißes Bild sie im Gedächtnis behalten hat. Die Ich-Erzählerin diagnostiziert aber auch den Wunsch des Protagonisten nach Nähe zu seinem Vater : Trotz der von Georg empfundenen Hassgefühle gegenüber dem Vater will er eine Bindung zu ihm bewahren: Er sieht ihm im erwachsenen Alter ähnlich, wäre gerne Arzt wie er und »ihrer beider Handschriften waren ununterscheidbar.«35 Ein weiterer Verlust im Leben Georgs gilt dem gewaltsamen Schicksal seiner Familienangehörigen in der NS-Zeit. Er selbst konnte zwar den Repressalien entkommen – arbeitete seit 1931 als Pressekorrespondent in London, was er einem schicksalsträchtigen Zufall, der »folgenreichste[n] Lüge [seines] Lebens«36, er könne Englisch, verdankt – aber etliche Familienangehörige wurden nach Theresienstadt deportiert und ermordet. Die anderen Verwandten konnten rechtzeitig auswandern, sie suchten Zuflucht in London, den USA oder Palästina. Die Geschichte der Familie nach 1938 blieb aber in den Erzählungen des Vaters ein Tabu: »[…] das blieb im Dunkeln, mein Vater wusste es nicht oder sagte es nicht, davon gab es keine Erzählungen, ja nicht einmal Erwähnungen.«37 An einer anderen Stelle hebt die Ich-Erzählerin hervor, dass Georg es »gewusst haben muss«38, aber sein ganzes Leben lang dazu geschwiegen hat. Die Tabuisierung des gewaltsamen Todes der Familienmitglieder geht mit dem Schweigen über die Hinterbliebenen einher : Georg hat nach dem Krieg keinen Kontakt zu seinen Verwandten, zumal er, nachdem er aus dem Bohemien ein Kommunist geworden und nach Deutschland, in die russische Besatzungszone zurückgekehrt war, ihnen als »der Verschollene«39 galt. In Honigmanns Roman werden zwar einige Lücken durch Recherchen und Treffen mit den in Amerika verbleibenden Cousins geschlossen, aber vieles bleibt ungeklärt, zumal die Ich-Erzählerin es nicht gewagt hat, ihren Vater nach dem Schicksal seiner Breslauer Familie zu fragen. Das (Ver)Schweigen und die Tabuisierung diverser Ereignisse als Zeichen der Traumatisierung ist bei Georg vornehmlich auf den Verlust seiner Nächsten zurückzuführen. Das omnipräsente Gefühl des Verlustes, das ebenfalls den Verlust der hessischen Heimat bedeutet, wird im Leben des Protagonisten durch dessen Besitzlosigkeit und Bindungsunfähigkeit gekennzeichnet: Georg lebt »immer nur in provisorischen Bindungen, ohne Sicherheit und ohne Halt«40 und bleibt ein einsamer Mensch, denn er verlässt immer die Wohnungen seiner 35 36 37 38 39 40

Ebd., S. 17. Ebd., S. 62. Ebd., S. 22. Ebd., S. 25. Ebd., S. 49. Ebd., S. 42.

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Frauen und deren Freundeskreise, während sein einziger Freund in Österreich lebt. Der metaphorisch begriffenen Besitzlosigkeit, die die Ich-Erzählerin als Lebenshaltung deutet, wird die Besitzlosigkeit im wörtlichen Sinne gegenübergestellt, die sie zwar nicht als Armut versteht – die Ich-Erzählerin gibt zu, ihr Vater liebte »gutes Essen und guten Wein, einen gut sitzenden Anzug und ein schnelles Auto«41 –, aber auf die vielfachen Verluste in seinem Leben verweist. In der Besitzlosigkeit sieht sie die Fortsetzung seines Schicksals. Sie sagt: »Er hatte Orte, Adressen und Ehen aneinandergereiht und außer seinen beiden Töchtern und den Bata-Schuhen nichts besessen.«42 In der unbewusst eingenommenen besitzergreifenden Attitüde seinen Töchtern gegenüber sieht die Ich-Erzählerin einen kompensatorischen Mechanismus: Der Vater, der seine ältere Tochter wie einen Teil von ihm betrachtet, hält zu ihr und findet für diese kleine Gemeinschaft mit dem sprachlichen Identifikationsgestus »›wir – wir Männer‹«43 eine Formel, die zur Chiffre für Geborgenheit und Zusammenhalt wird. Die IchErzählerin sagt: »[…] mein Vater nahm mich oft für einen Mann, einen Bruder, einen Kumpel und Gefährten, mit dem er durch dick und dünn gehen kann und der ihn vielleicht auch ein bisschen beschützt vor dem Leben, in dem ihm so vieles zerbrach, Lieben und Ehen und der Familienzusammenhalt und Tradition und Religion und Zugehörigkeit jeder Art.«44

Von der Erfahrung der Alterität und Disparität, die dem Protagonisten sowohl in England der 1930er Jahre als auch während der Internierung in Kanada und in der DDR zuteilwird, berichtet die Ich-Erzählerin, indem sie an Georgs Aussagen und ihre eigenen Erinnerungen rekurriert: In einem seiner Briefe, den die Tochter zitiert, gibt er desillusioniert zu: »›Du lebst überall als enemy alien und immer im Exil‹[…]«.45 Die »vielfache[] Entfremdung«46 des polyglotten Kosmopoliten, der für die Genossen zu bürgerlich und für die Bürger zu bohHmehaft ist47, ist vornehmlich auf die transitorische Identität Georgs zurückzuführen, der nicht nur seiner Herkunft, sondern später auch seinem »kommunistischen Bekenntnis entrückt [war].«48 Die Ich-Erzählerin schreibt, dass er den Zustand des Zwiespalts, des Zwischen-den-Stühlen-Sitzens »resigniert«49 erleidet und das Erbe seines Großvaters David antritt, d. h. dessen »miese Erbschaft«50 aufnimmt 41 42 43 44 45 46 47 48 49 50

Ebd., S. 41. Ebd., S. 155. Ebd., S. 29. Ebd., S. 30. Ebd., S. 97. Ebd., S. 45. Vgl. ebd., S. 155. Ebd., S. 45. Ebd., S. 45. Ebd., S. 44.

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und als »Jude ohne Bekenntnis«51 lebt – nachdem sein Großvater David, der sich als Reformer des Judentums gesehen und sich für die Assimilation eingesetzt hat, mit der jüdischen Tradition gebrochen hat – aber sein Judesein sei ihm »ins Gesicht geschrieben.«52 Für die Tochter hinterlässt er die Aufzeichnungen des Großvaters, die er, wie die Ich-Erzählerin sagt, »durch alle Lebensepochen, Ehen, Länder, Wohnungen […] mit den Bata-Wanderschuhen als einzigen Besitz bewahrt und [ihr] später, mit Kommentaren und Notaten versehen, übergeben [hat].«53 In dieser Hinterlassenschaft hebt sie den von dem Vater handschriftlich abgeschriebenen Artikel Davids über den Status der Juden in der Gesellschaft – die Schrift des Großvaters gegen das Abzeichen an der Kleidung – hervor, die sie von Georg als indirekte Botschaft, als »eine Auseinandersetzung mit sich selbst über die Unentrinnbarkeit des Gezeichnetseins«54 zugeschickt bekam. Die Sehnsucht nach Befreiung aus der »miesen Erbschaft« wird in Georgs Biographie durch seinen Eintritt in die Kommunistische Partei kompensiert, von der er sich Gemeinschafts- und Zugehörigkeitsgefühl erhofft: Die Ich-Erzählerin deutet den Glauben des Vaters an die KP als eine Hoffnung nach einer Gemeinschaft, »in der er weder Jude noch Deutscher und noch weniger beides zusammen war, sondern einfach ein Mensch.«55 Die Sehnsucht nach Akzeptanz und sein Protest gegen ethnonationalistisch motivierte Zuordnung finden in dem »größenwahnwitzige[n] DDR-Zweig«56 keine Erfüllung. In der DDR lebt Georg als Westemigrant, Jude und Kommunist in einer Parallelwelt, unter den Juden, die Re-Emigranten und Kommunisten sind wie er. Der Klub »Die Möwe« ist ein geschützter Ort für Prominente und Kulturschaffende. Der Eskapismus der neuen Bourgeoisie wird u. a. an dem geschichtlichen Wandel in dem neugegründeten sozialistischen Staat demonstriert: In Bad Saarow, der Ortschaft, in der in den 1920er Jahren jüdische Villenbesitzer lebten und wo in der NS-Zeit die SS-Kommandantur sowie ein Außenlager des KZs Sachsenhausen bestand, hat nach dem Krieg die neue antifaschistische Prominenz ihre Ferienhäuser, während das andere Ufer russisches Sperrgebiet ist. Der Hass gegen die deutschen Juden, die im Sommer zu neu-alten Bewohnern werden, wird in der Erinnerung der Ich-Erzählerin an Vaters Gespräche abrufbar, indem sie den Antisemitismus der Bewohner, deren Selbstbemitleidung und Konkurrenz im Leiden thematisiert. Die Kontingenz von Georgs Schicksal wird somit an seiner Lebensetappe in 51 Ebd., S. 155. 52 Ebd. Die Ich-Erzählerin findet z. B. in den Akten des englischen Geheimdienstes Notizen über Georgs »natürliche Kennzeichen« als Jude: u. a. das mediterrane Aussehen und die prominent nose. Vgl. ebd., S. 154. 53 Ebd., S. 46. 54 Ebd., S. 154. 55 Ebd., S. 97. 56 Ebd., S. 144.

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der DDR erkennbar : Die Ich-Erzählerin sagt, er habe seinen bohHmehaften Charakter nie abgelegt, »[d]eshalb passte ja auch die spätere Zugehörigkeit zur Kommunistischen Partei nie richtig zu ihm, überhaupt das Engagierte und Festgelegte«.57 Der in-between-Zustand, an dem der Protagonist zeit seines Lebens leidet, hat zur Folge, dass er keine innere Balance zu finden vermag und immer an der Schwelle zwischen Unmut und Charme schwebt: »Gregor war nämlich zugleich misanthropisch und gesellig, bissig und charmant, immer witzig und zugleich immer ein bisschen traurig, widersprüchliche Eigenschaften, die vielleicht von der ›miesen Erbschaft‹ stammten, dem ewigen Zwischenden-Stühlen-Sitzen.«58

Im Roman referiert die Ich-Erzählerin die Erinnerungen von Georgs vier Frauen, die von Depressionen ihres (Ex)Mannes berichten. Sie schreibt: »[ich] habe keine Erinnerung daran.«59 Das Verstummen Georgs für Tage oder Wochen, die »Enge des Herzens«60 sind die im Roman nicht explizit genannten, psychosomatisch bedingten Symptome für seine Unangepasstheit, Entfremdung und falsche Entscheidungen. In einem Zitat aus dem Brief an die Tochter kommt das Gefühl der Desillusionierung und der Niederlage bei dem die Bilanz ziehenden Vater zum Ausdruck. Er schreibt: »Richte, liebes Kind, Dein Leben heute so ein, dass Du nicht später sagen wirst, oh, hätte ich doch damals – wie es sich Dein armer Vater immer wieder sagt«.61 Im Roman, in dem die große europäische und deutsche Historie als Folie für die intime Familiengeschichte dient, wird vor dem familiären Hintergrund, am Schicksal Georgs und seiner Vorfahren, das Ende der Judenemanzipation in Deutschland, die nicht einmal zwei Generationen überdauert hat, in kleinen Episoden thematisiert. Indem die Ich-Erzählerin – sich erinnernd – das Leben Georgs zu rekonstruieren versucht, Fragen nach falschen Entscheidungen ihres Vaters stellt62 und ein intimes Porträt des unbehausten Menschen entwirft, werden ihre kleinen Erzählungen zu Universalien, in denen die Alterität Georgs im Zentrum steht.

57 58 59 60 61 62

Ebd., S. 40. Ebd., S. 74. Ebd., S. 20. Ebd., S. 135. Ebd., S. 111. Sie betreffen u. a. den Kalten Krieg, den Kommunismus und die Spionage für die Sowjetunion.

Zukunftsvisionen

Rafał Pokrywka (Bydgoszcz)

Überlebende der Zukunft. Wertewandel angesichts spekulativer Katastrophen im Gegenwartsroman

Abstract Der Beitrag befasst sich mit Untergangszenarien und Zukunftsvisionen, in denen Überlebende globaler Krisen und Katastrophen eine neue Moral ausbilden. Dieser Wertewandel vollzieht sich meistens evolutionär und nicht revolutionär, durch langsame, beinahe unauffällige Verschiebungen und Umwertungen innerhalb der bisher geltenden Wertehierarchien. Die aktuellen deutschsprachigen Romane, die diesen Wandel thematisieren, bilden somit Zukunftslabore, in denen über Grenzen, Anwendungsmöglichkeiten und Festigkeit von (vor allem westlichen) Wertesystemen spekuliert wird. Im Beitrag werden unter diesem Aspekt folgende Romane analysiert: Thomas Lehr »42« (2005), Thomas Glavinic »Die Arbeit der Nacht« (2006), Dietmar Dath »Die Abschaffung der Arten« (2008), Georg Klein »Die Zukunft des Mars« (2013), Thomas von Steinaecker »Die Verteidigung des Paradieses« (2016), Doron Rabinovici »Die Außerirdischen« (2017).

Die katastrophalen Angstvisionen der Gegenwart konzentrieren sich um folgende Bereiche: von selbst auftretende Naturkatastrophen, von Menschen verursachte Naturkatastrophen (vor allem die globale Erwärmung mit ihren Konsequenzen), Kriege mit Schwerpunkt auf Atomkriegen, Tod aus dem All (Asteroiden, Kometen, Strahlung), globale Hungerwellen, unheilbare Seuchen, massiver Ausfall von Informationssystemen, Migrationen und darauffolgende Kulturkonflikte, Überbevölkerung und Raummangel, schließlich Invasionen von Außerirdischen und andere Gefahren, die innerhalb unterschiedlicher Verschwörungstheorien entworfen werden. Diesen sehr bildlichen und im Grunde stark simplifizierten Untergangsszenarien liegen komplexe (wenn auch, wie zu vermuten steht, nicht immer bewusst problematisierte) Phänomene zugrunde, unter denen drei besonders relevant für die heutige Krisenerfahrung scheinen: erstens, die neuen, zurzeit nur teilweise direkt erfahrbaren Transformationen von Raum und Zeit, zweitens, die Hegemonie der Medialität und medial simulierten Wirklichkeit, die den Zugang zur objektiv feststellbaren Wirklichkeit erschwert, sowie drittens, der labile und immer wieder hinterfragte

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Stellenwert des Menschen und die Unsicherheit in Bezug auf die Definition von Menschlichkeit. Wie alle Untergangsszenarien und ihre diskursiven Berechtigungen, so werden auch die oben genannten Phänomene in hohem Maße mittels wissenschaftlicher, futurologischer oder fantastischer Spekulationen ausgelotet. Ihre Quelle bildet freilich die reale (bzw. medialisierte und als real empfundene) Erfahrung der Krisenhaftigkeit, deren globale Präsenz und Vielzahl von kulturellen Repräsentationen die für die Postmoderne paradigmatischen Thesen vom Ende der Geschichte in Frage stellen. Vorsichtig ausgedrückt könnte behauptet werden, dass die Überzeugung von der dialektischen Entwicklung der ›Welt‹ (was auch immer unter diesem Begriff vorgestellt werden mag), demzufolge auch von der Unvermeidbarkeit von Krisen und Katastrophen als Umschlagpunkten der Geschichte,1 im zweiten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts die größten Ausmaße seit dem Verfall der totalitären Systeme des vorigen Jahrhunderts annimmt. Entgegen der Überzeugung Hans Ulrich Gumbrechts, die Zukunft sei »eine Dimension, die sich zunehmend allen Prognosen verschließt und die zugleich als Bedrohung auf uns zuzukommen scheint«2, was vom Ende der historischen Zeit zeugen sollte, scheinen die zu erwartende Katastrophe bzw. eine Reihe von krisenhaften Erscheinungen bis zu einem gewissen Grade vorhersehbar zu sein und auf einen dialektischen, historischen Umbruch in Zukunft hinzudeuten. Gumbrechts These von der »breiten Gegenwart«3 kann jedoch zurzeit nicht bestritten werden: Die Vergangenheit ist hauptsächlich durch ihre elektronische Reproduzierbarkeit allgegenwärtig, bildet zugleich eine Zuflucht vor den kommenden Bedrohungen (vgl. Baumans Retrotopia4), die Zukunft erscheint dagegen als Umkehrung der aufklärerischen Träume von einer besseren Welt von morgen, fast ausschließlich als negative Utopie. Es kann nicht verwundern, dass die Gegenwartsliteratur diese pessimistischen Stimmungen widerspiegelt und – was auch nicht überraschen sollte – mittels ihrer rhetorischen Kraft als Medium intensiviert. Die aktuelle Karriere von postapokalyptischen Szenarien, dystopischen Science-Fiction-Narrationen und im Grunde ›retrotopischen‹ (zum Teil eskapistischen) Never-never-landSehnsüchten der Fantasy veranschaulicht nicht nur das Ausmaß des katastrophischen Denkens in den postmodernen Wohlstandsgesellschaften, sondern auch eine kaum zu verhehlende Faszination vom globalen Ende und der Mög1 Vgl. Leschke, Rainer : Medientheorie und Krise. In: Die Krise als Erzählung. Transdisziplinäre Perspektiven auf ein Narrativ der Moderne. Hrsg. von Uta Fenske/Walburga Hülk/Gregor Schuhen. Bielefeld: transcript 2013, S. 11. 2 Gumbrecht, Hans Ulrich: Unsere breite Gegenwart. Aus dem Englischen von Frank Born. Berlin: Suhrkamp 2010, S. 16. 3 Ebd. 4 Vgl. Bauman, Zygmunt: Retrotopia. Berlin: Suhrkamp 2017.

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lichkeit eines neuen Anfangs. Hinter all diesen Visionen verbirgt sich auch ein Szenario vom Wertewandel, ja vom Ende aller Werte, und wieder in doppelter Hinsicht – als Alptraum und Faszinosum. Die politische Attraktivität derartiger Narrationen scheint offensichtlich: Je nach Ideologie können Darstellungen katastrophaler Wertewandel als Warnung und Versprechen eingesetzt werden, man denke z. B. an Kriege, die einerseits als Katastrophe der Menschheit, andererseits als Chance auf ihre Erneuerung wahrgenommen werden (vgl. den Krieg als »einzige Hygiene der Welt«5 in Marinettis »Manifest des Futurismus«, 1909 – auch heute fehlt es nicht an derart radikalen Erwartungen). Im vorliegenden Beitrag wird versucht, sechs deutschsprachige Romane, die nach 2000 erschienen sind, auf ihr spekulatives Potenzial hin zu analysieren. Es handelt sich um folgende Autoren und Texte: Thomas Lehr, »42« (2005), Thomas Glavinic, »Die Arbeit der Nacht« (2006), Dietmar Dath, »Die Abschaffung der Arten« (2008), Georg Klein, »Die Zukunft des Mars« (2013), Thomas von Steinaecker, »Die Verteidigung des Paradieses« (2016) und Doron Rabinovici, »Die Außerirdischen« (2017). Im Kontext von möglichen künftigen Katastrophen und ihrer literarischen Gestaltung interessiert hier vor allem der Wandel der Werte, verstanden einerseits als Veränderung innerhalb der Wertesysteme der dargestellten Welt, andererseits als Bewusstsein des Wandels in der Metadimension des Textes, die mit dessen implizitem Autor gleichgesetzt werden könnte. Die Struktur des Beitrags folgt den oben genannten Kategorien, die der gegenwärtigen vor-katastrophischen Erfahrung zugrunde liegen: (1) Transformationen von Raum und Zeit, (2) Hegemonie der Medialität, (3) Stellenwert des Menschen.

Transformationen von Raum und Zeit Dass Raum und Zeit nicht nur physikalische Dimensionen, sondern auch ethische Kategorien bilden können, scheint unbestritten. Geografische Räume (Wälder, Gewässer, Berge, Wüsten, Inseln, Kontinente, Planeten) verfügen über verschiedene Ressourcen, bieten diverse Entwicklungsmöglichkeiten und sind für den Menschen mit seinen Wertungs- und Wertesystemen von vornherein ethisch bestimmt – privilegiert oder benachteiligt, zugänglich oder unerreichbar, stabil oder labil, ertragreich oder karg. Die politisch besetzten, immer instabilen Räume können zwar günstige ökonomische Verhältnisse, Zuflucht und Entfaltungsmöglichkeiten bieten, aber auch Einschränkung, Verfolgung und 5 Marinetti, Filippo Tommaso: Manifest des Futurismus. In: Manifeste und Proklamationen der europäischen Avantgarde (1909–1938). Sonderausgabe. Hrsg. von Wolfgang Asholt/Walter Fähnders. Stuttgart: Metzler 2005, S. 5.

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Armut darstellen.6 Die ethische Tragbarkeit der Dimension Zeit wird in diachronen Vergleichsanalysen historischer und aktueller Wertesysteme sichtbar und bildet einen wichtigen Bestandteil aller relativistischen Wertetheorien. Einen neuen Spekulationsraum eröffnet der immer stärkere Impakt der Relativitätstheorie auf kulturelle Narrationen. Die moralische Dimension der Uneinheitlichkeit der Zeit in verschiedenen physikalischen Zuständen scheint die Rezipierenden, besonders von Science-Fiction-Texten, immer stärker zu beschäftigen. In Thomas von Steinaeckers Roman »Die Verteidigung des Paradieses« folgt die Thematisierung der Raumfrage konventionellen Wegen. Die globale Erwärmung sowie die darauffolgende Zerstörung und atomare Verseuchung der mitteleuropäischen Länder zieht eine neue geopolitische Organisation des Kontinents nach sich. Die unter den sog. Shields lebenden Menschen bilden unterschiedliche Gemeinschaften, von anarchistischen Siedlungen bis zu Elitevierteln. Der offene Raum ist gefährlich, wird nur von Autos und Zügen auf der Reise von Siedlung zu Siedlung vermessen. Eine atomare Katastrophe führt eine abrupte Veränderung ein – nur wenige Shields bleiben aufrechterhalten, sie werden auch zu erwünschten Zufluchtsorten (siehe das Paradies im Titel), während auf der sog. Großen Ebene (Deutschland) Chaos herrscht. Die wenigen Überlebenden (Survivors) mutieren unter der radioaktiven Strahlung oder versuchen, aus der verseuchten Zone zu flüchten, was nur unter Nutzung schützender Uniformen erfolgen kann. Rund um das zerstörte Europa wird eine neue politische Organisation (NEU) mit Sitz in Frankreich gebildet, die über die Verteilung von Geflüchteten entscheidet, diese auch nicht selten an neue, in der Zone entstehende, halblegale Fabriken verkauft. In räumlicher Hinsicht sind hier folgende Phänomene hervorzuheben – das »insularische Denken«7 der Überlebenden, die ihre kleinen Utopien um jeden Preis (auch um den Preis des menschlichen Lebens) verteidigen, des Weiteren das ›Insularische‹ aller politischen Organisationen überhaupt, die auf Ausschluss und Ungleichheit aufgebaut werden, schließlich die Umkehrung der europäischen Raumverhältnisse vom Beginn des 21. Jahrhunderts – diesmal ist es Mitteleuropa, das zur gefährlichen Wüstenperipherie wird und seine Überlebenden zur Flucht in das neue, leicht verschobene Zentrum zwingt. Der hier dargestellte Wandel der Werte ist wenig überraschend, stellt auch keine Revolution dar, sondern lediglich eine Zuspitzung des ohnehin ubiquitären, nur öffentlich leicht getarnten Egoismus der 6 Selbst wenn das Handbuch »Raum« nur selten direkt auf die ethische Wahrnehmung des Raums hinweist, ist diese Frage in vielen Kapiteln latent (wie z. B. »2. Politischer Raum« oder »5. Postkolonialer Raum«). Vgl. Raum. Ein interdisziplinäres Handbuch. Hrsg. von Stephan Günzel. Stuttgart: Metzler 2010. 7 Vgl. Otto, Wolf Dieter : »Insularisches Denken« und das Problem der Kulturbegegnung. Eine xenologische Skizze. In: Aus Politik und Zeitgeschichte, 32–33, 2018: Inseln, S. 35–41.

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heutigen Wohlstandsgesellschaften. Auch die im Roman skizzierte Katastrophe weicht nicht viel von den üblichen Traumata zeitgenössischer Umweltschützer ab. Eine Umkehrung des Motivs der Insel als Utopie stellt Doron Rabinovicis Roman »Die Außerirdischen« dar. Die Insel wird hier zum Ort von Terror und Verfolgung, denen Teilnehmer einer besonderen Realityshow ausgesetzt werden. Unter Parolen der besseren Zukunft werden hier Menschen vernichtet, die die Welt erlösen wollten, indem sie sich den vermeintlichen, in den Medien vielbesprochenen, jedoch als solche kaum bestätigten Außerirdischen (»Wir wissen noch nichts; nicht, wer sie sind. Nicht, woher sie kommen. Nicht, was sie hierherführt. Nicht einmal, ob sie überhaupt aus dem All sind«8) als Freiwillige zum Verzehr anboten. Im Gegensatz zum anscheinend offenen, für alle zugänglichen medialen Raum, in dem die Schicksale der ›Helden‹ (Champs) bewertet und kommentiert werden, bildet die Insel eine Art Arbeits- und Todeslager, gleichzeitig auch die letzte Stätte der unvermittelten Wirklichkeit, in der es zwar keine Außerirdischen, dagegen aber unverfälschte Materialität und grausame Menschenhierarchie mit einem eigenen Wertesystem gibt. Diese Katastrophe des Menschlichen ereignet sich bei Rabinovici im Abseits, fern von medialen Inszenierungen der Angst und der Hoffnung, die die Außerirdischen gemäß dem in der Unterhaltungskultur verbreiteten Muster erwecken sollten (Invasion aus dem All: Ende oder neuer Anfang?). Das Motiv der Außerirdischen wird auch von Georg Klein im Roman »Die Zukunft des Mars« aufgenommen. Seine Marsmenschen sind allerdings keine Aliens, sondern die Nachkommen der ersten mythischen Kolonisten von der Erde. Da es auf dem Heimatplaneten zu einer Naturkatastrophe mit globalen Folgen (die »dereinst den Hochmut der Amerikaner gebrochen und dem Rest der Welt den berühmten Ewigen Winter beschert hatte«9) kam und auf dem Mars alle fortgeschrittenen technologischen Einrichtungen ebenso durch eine Katastrophe zerstört wurden, wurde auch der Kontakt zwischen den beiden Himmelskörpern unterbrochen. Die beiden menschlichen Gemeinschaften im All entwickeln sich seitdem parallel langsam vom Rückstand zu bescheidenem Wohlstand hin, wobei das Leben auf dem Mars von beinahe steinzeitlicher Primitivität gekennzeichnet ist. Jedoch werden auf der Erde nach dem ›Ewigen Winter‹ und dem verwüsteten roten Planeten nach dem ›Gerechten Untergang‹ ähnliche Moralvorstellungen herausgebildet. Das höchste Gebot der Marsmenschen ist Arbeit: Wer nicht arbeiten kann, wird (wenn auch ohne Proteste) getötet. Auf der Erde herrschen dagegen kleine Warlords, die die dortigen Schwarzmärkte zu steuern versuchen und sich in unzählige Scharmützel mit ihren Nachbarn ver8 Rabinovici, Doron: Die Außerirdischen. Berlin: Suhrkamp 2017, S. 17. 9 Klein, Georg: Die Zukunft des Mars. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 2015, S. 145.

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wickeln. Den höchsten Preis haben dort noch funktionierende Artefakte aus der »Guten Alten Zeit«10 (bereits im Namen der ›Epoche‹ wird eine, wenn auch ironische, Wertung kodiert). Klein knüpft hier an die Tradition des Erzählens nach der Apokalypse an, in der die Lesenden die ihnen bekannten Objekte, Bräuche und Orte in einem neuen Licht betrachten können. Die zeitliche Distanz (Welt der Zukunft) ermöglicht auch relativistische Analogiebildungen zwischen den einzelnen Wertesystemen – diese sind für die gegebene Gemeinschaft zum gegebenen Zeitpunkt immer offensichtlich, »natürlich«, von kaum bestrittenen Traditionen und Konventionen verfestigt. Kleins Spekulationen zur Zukunft des Mars sowie zum Bestehen von zwei unabhängigen menschlichen Siedlungen im Weltraum entspringen offenbar den verbreiteten, politisch und kommerziell immer stärker vertretenen Träumen vom Terraforming anderer Planeten im Sonnensystem, eben mit Nachdruck auf dem Mars, sowie von der Erschaffung einer neuen menschlichen, am besten »natürlichen« (ohne geerbte und kulturell geprägte Vorurteile und Grenzziehungen) Wertegemeinschaft außerhalb der Erde, die ›wieder von vorne‹ (ein durchaus utopischer Gedanke) anfangen könnte. Über das mögliche extraterrestrische Leben im Sonnensystem spekuliert auch Dietmar Dath in seinen Romanen, am prägnantesten wohl in »Die Abschaffung der Arten«. Die Zivilisation der Menschen ist zu Ende, überwältigt von der Sinnlosigkeit ihrer Existenz schwinden sie angesichts des Aufstiegs intelligenter, modifizierter Tiere (Gente). Auch diese posthumane, trans-animalische Zivilisation dauert nicht lange, sie wird von einer künstlichen Intelligenz (Keramikaner) überfallen und findet Zuflucht auf der Venus und dem Mars. Die Kolonisierung der beiden Welten geht auf verschiedene Weise vonstatten: Auf der Venus entsteht eine quasi-menschliche, rückwärtsgewandte Gesellschaft, die den Errungenschaften der alten Erdbewohner huldigt, auf dem Mars spielt sich ein evolutionäres experimentum crucis ab, ein ewiger Krieg, den die stärksten Individuen überleben sollen, um nachher eine bessere Gesellschaft zu bilden. Vertreter der beiden Planeten, die Geschwister Feuer und Padmasambhava, lernen, wechseln ihre Geschlechter, werden zu Liebhabern, um auf der erneuerten, menschenleeren Erde eine Utopie außerhalb der Zeit zu finden und sie als perfektionierte Gente zu erkunden. Unaufhörlich vollziehen sich immer neue Wertewandel: von der Dekadenz der aussterbenden Menschen über die neue, postliberale Moral der Gente, die ihre Körper und Geschlechter frei verändern können, die Grausamkeit des Marsexperiments, den Aufstieg und die Regression der Venus bis hin zur paradiesischen Erde, die, wie sich herausstellt, Ergebnis einer musikalischen Komposition ist, ein Spielstück in den Händen genialer Erfinder, die gelernt haben, die Geschichte des Lebens direkt zu gestalten. Das 10 Ebd., S. 193.

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Erdenparadies entstammt somit nicht nur der Biotechnologie, dem in die Praxis umgesetzten Sozialdarwinismus und dem technischen, Raumfahrten und Terraforming anderer Planeten ermöglichenden Fortschritt, sondern auch einem wahnsinnigen, von Menschen entworfenen Projekt: »Die Menschen mußten sterben, damit die Menschheit eine Chance hat. Denn das waren die Gente ja: die erste realisierte Menschheit.«11 Jahrtausende von biologischen, gesellschaftlichen und technischen Versuchen, Reflexionen und Spekulationen sowie unermessliche Opfer dieser Experimente sollten somit eine neue Art hervorbringen, die alle Grenzen frei überschreiten könnte, ohne etwas zu müssen und zu wollen: »Sie hatten das Erbe, es beherrschte sie nicht«12 – lautet einer der letzten Sätze des Romans. Die generell optimistische, eine bessere Zukunft verkündende Spekulation von Dath findet ihre Antithese im Roman »42« von Thomas Lehr. Auch hier wird die Zeit aufgehoben, allerdings unbeabsichtigt, aufgrund einer Katastrophe im Genfer CERN, aus der nur eine kleine Gruppe Menschen gerettet wird, die sich gerade bei einem der Detektoren des riesigen Teilchenbeschleunigers aufhält. Ohne Zeit wird die Wirklichkeit zu einer dreidimensionalen Fotografie (FOLIE), die sich durchmessen, aber nie überschreiten lässt, die Erstarrten (Fuzzis) kann man zwar anfassen und bewegen, ja nach Belieben missbrauchen und töten, jedoch nicht in die Zeit zurückrufen. Es gibt kein Eigentum mehr, die Moral ist fast ausschließlich auf die wenigen Chronifizierten (die sich im zeitlosen Raum bewegen können) anwendbar, dies jedoch nicht aufgrund irgendwelcher Prinzipien, sondern aus Angst und Gewohnheit. Es ist eine extrem materialistische Vision, die an die Philosophie des Marquis de Sade erinnert, wo alles Materielle zu haben und zu gebrauchen ist, »seit eben die ganz [sic!] Welt ein Kaufhaus geworden ist, die Menschen zu Puppen, ihre Autos, Computer, Maschinen, Motoren zu ruhender Ware«13. Alle chronifizierten ProtagonistInnen des Romans werden langsam zu Komplizen in einem kaum gewollten Verbrechen, sie beginnen das Vorhandene, die fremden Körper ohne Willen und die Objekte ohne Besitzer – aus Not, Verzweiflung, Langeweile oder Begierde – zu benutzen. Vor allem die bewussten und zufälligen Morde sowie der exzessive sexuelle Missbrauch der Nicht-chronifizierten, der in einem trockenen Stil wiedergegeben wird, führt das Ausmaß der Gewalt vor Augen. Was von diesem fantastischen, wenn auch wissenschaftlich halbwegs erklärbaren, ›Standbild‹ der Wirklichkeit veranschaulicht wird, ist der latente und wahrscheinlich nicht seltene Traum von der kompletten und ungestraften Pornografisierung des Alltags, vom sadistischen Libertinismus in extremo, von absoluter Benutzbarkeit 11 Dath, Dietmar : Die Abschaffung der Arten. Frankfurt am Main: Suhrkamp 2008, S. 549. 12 Ebd., S. 552. 13 Lehr, Thomas: 42. München: dtv 2017, S. 254.

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des Körpers bei maximal gesunkenem ökonomischem Drang (alles verliert an Wert, kostet nichts, steht frei zur Verfügung). Die im Roman von Lehr dargestellte Vision könnte somit als buchstäbliche ›Verkörperung‹ der Idee gedeutet werden, die den audiovisuellen Medien, dem Internet oder den sozialen Netzwerken mit ihrem unbegrenzten Zugang, kostenlosen Vergnügen und der Enttabuisierung der menschlichen Intimität zugrunde liegt. Und dennoch: auch wenn die Voraussetzungen zur Herausbildung einer perfekten Spaßgesellschaft erfüllt werden, sind die Chronifizierten depressive, manische Gestalten im »verfluchte[n] Paradies«14, gefangen die ganze ›Zeit‹ in ein und derselben Sekunde, in einer unbeweglichen Welt voller Aktionen ohne Reaktionen.

Hegemonie der Medialität Die Außerirdischen im Roman von Rabinovici sind eine mediale Tatsache und höchstwahrscheinlich eine Lüge – sie provozieren bestimmte Handlungen und Einstellungen, weshalb sie, als mediale Phänomene, durchaus ›real‹ (wirksam) sind. Da es sie aber nicht gibt und das ganze im Fernsehen und Internet inszenierte Spektakel der ›Spiele‹ (Wer soll gegessen werden?) eine Ausgeburt der virtuellen Unterhaltungskultur ist, vielleicht sogar ein ironischer Witz eines Users, ist hier von einer höheren, einer simulierten Wirklichkeit zu sprechen, deren Fundament der Hyperrealismus im Sinne Baudrillards ist.15 In seiner moralistischen Aussage liefert der Roman Rabinovicis eine Erklärung für das neue Unbehagen an der medialen Kultur : Ihre Rezipierenden sind zugleich ihre Produzierenden und Gefangenen, ohne Menschen kann sie nicht funktionieren und doch funktioniert sie gegen die Menschen, indem sie unter dem Deckmantel von Bildung und Unterhaltung oppressive Strategien schmuggelt, Ausschlussmechanismen und Prestigezwänge, Spielregeln, nach denen alle angeschlossenen ›Nutznießer‹ spielen, ohne dies zu wollen oder ohne sich bewusst gemacht zu haben, was sie wollen können. Dieser Zustand wird auch von der fortschreitenden Infantilisierung der Gesellschaft, von der Vorliebe für möglichst spannende und wenig anspruchsvolle Shows, Wettbewerbe und Spiele ermöglicht, die Teil einer neuen kapitalistischen Mythologie werden und kraft ihres entwaffnenden, autoironischen Witzes jegliche Kritik aufheben. Selbst wenn Rabinovicis Roman die wenig überraschenden Erkenntnisse über den maximalen, idealistisch kaschierten Hedonismus und den minimalen Wahrheitsanspruch der neuen Medien wiederholt, ist seine Diagnose im Hinblick auf den ange14 Ebd., S. 267. 15 Vgl. Baudrillard, Jean: Der symbolische Tausch und der Tod. Aus dem Französischen von Gerd Bergfleth. München: Matthes & Seitz 1982, S. 112–119.

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deuteten (bzw. denkbaren) historischen Kontext, den Holocaust und die mögliche Rückkehr des Totalitarismus – diesmal im Rahmen einer globalen Realityshow – durchaus plausibel. Was in »Er ist wieder da« (2012) von Timur Vermes signalisiert wurde, erhält im Roman Rabinovicis eine diskursive Gestalt und eine deutliche Pointe: Der Weg der medialen Zügellosigkeit führt ins Lager, egal ob man dafür oder dagegen ist. Dass die wirkliche Katastrophe des Romans – das Lager auf der Insel – dem Publikum verborgen bleibt, lässt die andere, medial inszenierte Katastrophe stärker hervortreten. Es ist die Ankunft der Außerirdischen und die damit verbundene »Denormalisierung«,16 der feste Bestandteil jeder Krise. Hin- und hergerissen zwischen Panik und Ekstase, abwechselnd auf der Flucht vor dem Verhängnis aus dem All und auf den Knien vor der Allmacht der neuen Herrschenden, feiert die Menschheit im Grunde ihre eigene Abhängigkeit von der nie endenden Show. Es kann nicht verwundern, dass die Bilder der Ausschreitungen und der friedlichen Demonstrationen verdächtig konventionell wirken, als wären alle spielerisch durch den bloßen Konsum von Untergangsszenarien, vor allem katastrophischen Filmen, auf einen Super-GAU vorbereitet. Die Quelle dieser kollektiven Regelmäßigkeiten im Denken und Verhalten wären in den massenweisen medialen Inszenierungen von Krisen und Katastrophen zu suchen, die laut Hal Foster »a psychic collectivity – a psychic nation«17 produzieren und die Rezipierenden in unverhohlener Faszination und Freude am eigenen Überleben konsolidieren – es sind die anderen, die sterben, andere Körper, die zerstört werden. Wie diese »psychische Nation« in Krisenmomenten funktionieren kann, versuchen verschiedene Simulationen darzustellen, unter anderem auch literarische Texte, die kollektive Ängste und ihre Auslöser diagnostizieren.18 »Die Krise ist zunächst einmal eine dramaturgische Kategorie und d. h., Krisen werden erzählt«19 – dem Gedanken von Rainer Leschke folgend, lässt sich behaupten, dass Krisen wie alle Erzählungen, besonders wenn sie als fiktional wahrgenommen werden, gleichermaßen Entsetzen und Sucht hervorrufen, Angst vor dem Tod (oder einfach Angst vor der Preisgabe der bisherigen Stabilität) und ein Bedürfnis, Überlebender zu sein, Auserwählter, einer der wenigen, die es ›geschafft haben‹. So stellt sich Heinz, der Protagonist von Thomas 16 Link, Jürgen: Zum Anteil apokalyptischer Szenarien an der Normalisierung der Krise. In: Die Krise als Erzählung. Transdisziplinäre Perspektiven auf ein Narrativ der Moderne. Hrsg. von Uta Fenske/Walburga Hülk/Gregor Schuhen. Bielefeld: transcript 2013, S. 35. 17 Foster, Hal: The Return of the Real. The Avant-Garde at the End of the Century. Cambridge: The MIT Press 1996, S. 222. 18 Vgl. z. B. die Reportage von Kathrin Röggla »really ground zero. 11. september und folgendes« (2001) und ihren Roman »die alarmbereiten« (2010). 19 Leschke, Medientheorie und Krise. 2013, S. 29.

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von Steinaeckers »Die Verteidigung des Paradieses«, seine und seiner Gefährten Wanderung durch die verseuchte Zone als filmisches Abenteuer vor, nicht selten erzählt er in Filmkonventionen, auch den traurigsten Ereignissen verleiht er eine erzählerische Spannung: »Mir fällt gerade ein, dass ich vor und auf dem Marsch immer davon geträumt habe: dass mich wer filmt. […] Der Gedanke: Das ist mein Moment. Das ist mein Movie.«20 Wie sich später herausstellt, ist Heinz nicht nur der Erzähler des Romans, sondern auch ein zum Schreiben und Erzählen prädestinierter Protagonist – ein Klon, ausgestattet mit einprogrammierten erzählerischen Fähigkeiten und mit einer Bibliothek der Weltliteratur auf einem Chip unter der Achsel, mit der Aufgabe betraut, Schriftsteller und Chronist zu werden. Erst am Ende des Romans wird deutlich, dass die letzten Kapitel seines Berichts im agonalen Hungeramok auf einem Schleuserschiff verfasst wurden, dass er das andere Ufer nicht erreichte, nie gerettet, nie zum Medienstar wurde und auch nicht in die Zone zurückkehrte, um als Mönch Menschen zu helfen. Wenn man dem letzten Abschnitt des Romans glaubt (Meldung vom Tod des Protagonisten), wird auch die zeitkritische Aussage der vorausgegangenen Kapitel fragwürdig, was nur umso stärker die Tatsache betont, dass Steinaeckers Roman (wie alle Romane) fiktional ist und sein Anspruch auf Zeitkritik im Rahmen einer spekulativen Fiktion über die Zukunft wahrgenommen werden sollte. Was Rabinovicis und Steinaeckers Romane veranschaulichen, sind medialisierte Gesellschaften, deren kollektive Wahrnehmungsmechanismen von Simulationen gesteuert werden. Allem Anschein nach sollte also ein Ende der Gesellschaft auch ein Ende der Medialität bedeuten, verstanden nicht nur als kognitive Übermacht der Medien, sondern auch als jegliche Wirklichkeitsvermittlung. Dies sei jedoch nicht der Fall, so Thomas Glavinic in seinem Roman »Die Arbeit der Nacht«. Der auf der plötzlich menschenleer gewordenen Erde umherirrende Protagonist Jonas sucht nicht nur die ganze vermisste Menschheit, sondern tritt auch in einen inneren Dialog. Er filmt sich selbst und erweckt dadurch unbeabsichtigt den ›Schläfer‹, sein nächtliches Alter Ego, ein böses Ich im eigenen Körper. Unerklärlich scheinen das Wesen der Katastrophe und die geheimnisvolle Absenz der anderen, kaum verständlich auch die Motivation des ›Schläfers‹, Jonas zu gefährden, wenn nicht zu töten. Der Drang des Protagonisten, menschenleere Orte, verwüstete Landschaften und Nächte im eigenen Schlafzimmer auf Band aufzunehmen sowie fremde Wohnungen, öffentliche Gebäude, Supermärkte, andere Städte und Länder zu besuchen, ergibt sich wahrscheinlich aus dem Bedürfnis nach Kontakt mit anderen Gesellschaftsmitgliedern, deren Eigenart laut Luhmann darin besteht, einander zu beob20 Steinaecker, Thomas von: Die Verteidigung des Paradieses. Frankfurt am Main: Fischer 2017, S. 318.

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achten und beobachtet zu werden.21 Wenn das soziale System fehlt (totale Menschenvernichtung mit einer Ausnahme), hat der Beobachter keine Funktionen mehr, kann nicht genannt, definiert und kontrolliert werden. Die längst bekannte soziologische These, nach der der Mensch außerhalb der Gesellschaft kein Mensch sei, die normalerweise zur Untersuchung von lange Verschollenen oder Eremiten eingesetzt wird, die sich menschliche Verhaltensweisen abgewohnt haben, erreicht bei Glavinic eine radikale Dimension des endgültigen Ausstiegs. Dadurch wird nicht nur das immer noch tragfähige Robinson-Motiv in seiner ganzen Grausamkeit wieder verarbeitet, sondern auch der postmoderne Traum vom Ausstieg aus der unerträglich gewordenen Gesellschaft (um auf eine lange Reihe von Texten aus den letzten Jahrzehnten hinzuweisen, u. a. Christian Krachts »Imperium«, 2012) ironisch verkehrt. Eine psychoanalytische (Jonas als Ich und der Schläfer als Es) oder existenzialistische (Sartres »Die Hölle, das sind die Anderen«) Auslegung könnten zwar in Bezug auf Glavinics Roman am stärksten überzeugen, jedoch erscheint eine soziologisch fundierte Interpretation – paradoxerweise, da hier das Ausbleiben der Gesellschaft thematisiert wird – im Kontext der Werte als nicht ganz abwegig. Verunsichert durch die ersten, von ihm unabhängigen Aktivitäten des Schläfers, stellt Jonas fest: »Er mußte sich unter allen Umständen an das halten, was da war. Was eindeutig belegbar, nicht zu bestreiten war«22 – ein erstaunlicher Einfall, bedenkt man, dass dem Protagonisten nichts mehr als die harte Realität der verlassenen Welt geblieben ist. Und eben daran scheitert sein Wahrnehmungsvermögen. Ohne die anderen, die bisher eine nur selten hinterfragte Objektivität stifteten, wird die Wirklichkeit zum Feind des Einzelmenschen, lässt sich in ihrer Totalität nicht erfassen (und dieser Illusion hängen doch alle medialen Gesellschaften an), produziert Simulationen, die zu nennen und zu unterscheiden er nicht imstande ist.23 Daher auch die kompulsive Arbeit mit Kameras – da der soziale Garant der Wahrheit ausbleibt, muss sich der Protagonist ein ganzes System der Objektivierung alleine erschaffen.

21 Vgl. Luhmann, Niklas: Einführung in die Systemtheorie. Hrsg. von Dirk Baecker. Heidelberg: Carl Auer 2011, S. 136–160. 22 Glavinic, Thomas: Die Arbeit der Nacht. München: dtv 2011, S. 105. 23 Vgl. Famula, Marta: Gleichnisse des erkenntnistheoretischen Scheiterns. Thomas Glavinics Roman Die Arbeit der Nacht in der Tradition des labyrinthischen Erzählens bei Franz Kafka und Friedrich Dürrenmatt. In: Transitträume. Beiträge zur deutschsprachigen Gegenwartsliteratur. Hrsg. von Andrea Bartl unter Mitarbeit von Hanna Viktoria Becker. Augsburg: Wißner 2009, S. 113.

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Stellenwert des Menschen Wer ist Jonas ohne Gesellschaft? Welchen Wert hat sein Leben? Wer kann seinen Selbstmord sehen und ihm einen Wert zuschreiben? Der Tod des Protagonisten ist ein stilles Manifest der radikalen Vereinsamung des Überlebenden, in einer menschenleeren Welt ist der letzte Tod bloß eine Naturerscheinung. Der Status des Überlebenden einer Katastrophe scheint zwiespältig: einerseits ist er ein Übermensch, der Unzerstörbare (vgl. zahlreiche Texte, Filme und Computerspiele, die sich von dieser Heldenfantasie nähren), andererseits kann ihm von anderen, stärkeren Überlebenden der Status des Untermenschen zugewiesen werden. Steinaeckers »Die Verteidigung des Paradieses« veranschaulicht dieses Problem am deutlichsten, wenn auch – wie bereits festgestellt – eher schematisch. In einer neuen geopolitischen Lage sind die von der Katastrophe Betroffenen, diejenigen ohne Heim und Besitz die Unterworfenen und Untergeordneten. Steinaecker wiederholt hier gängige Muster der Western- und Kriegsliteratur, wirft auch ein Licht auf mögliche postapokalyptische Geschlechterverhältnisse, die – kaum überraschend – den bisherigen im höchsten Grad ähneln. Keine der beiden Protagonistinnen überlebt den Marsch durch die Zone, die ältere, Anne, ist zu schwach und behindert die anderen Überlebenden nur, sie wird auf dem Weg zurückgelassen, die junge Mutter Özlem wird von ihren ›Freunden‹ an Schleuser verkauft, da ihr Körper einen anderen Wert als der männliche hat. Heinz und seine beiden Gefährten werden trotzdem nicht verschont. Auf dem Schleuserschiff wird ihr Preis, gemäß dem Alter und Gesundheitszustand, in einer durchaus nicht postapokalyptischen Währung (Euro) veranschlagt, der des Klons Heinz ist selbstverständlich viel höher. Die aus der verseuchten Zone Geflüchteten werden zu Sklaven. Viel frappierender stellt sich die Auffassung der neuen postkatastrophalen Menschlichkeit bei Dietmar Dath (Gente, die Menschen ersetzen, künstliche Intelligenz der Keramikaner, Gentechnologie als Perfektionierung des Menschen), Georg Klein (Menschen auf dem Mars, ihre kulturelle und körperliche Differenz zu Erdbewohnern), Thomas Lehr (die in der Zeit Gefangenen als Marionetten, die Chronifizierten als neue Götter) oder Doron Rabinovici (zweifelhafte Freiwilligkeit des medialen Selbstmords) dar. Popularität und Überzeugungskraft dieser und vieler ähnlicher Visionen in der Gegenwartskultur legt die Annahme nahe, dass eine Reformulierung der Vorstellung vom Menschen in Sicht ist oder zumindest befürchtet oder erhofft wird. Klonen, künstliche Intelligenz und Kolonisierung anderer Planeten müssen früher oder später zu entscheidenden Rekapitulationen führen, zu Einschränkungen oder Erweiterungen der fundamentalen Begriffe Mensch und Leben, demzufolge auch

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zu neuen ideologischen Kämpfen zwischen wissenschaftlichen, religiösen, ethischen und axiologischen Legitimierungen dieser Begriffe. Unter den genannten Endzeit- und Neuanfangsszenarien scheint die Spekulation von Dietmar Dath (»Die Abschaffung der Arten«) am vielfältigsten. Die Science-Fiction-Konvention bildet hier nicht nur ein Werkzeug zur aktuellen Zeit- und Gesellschaftskritik, sondern ermöglicht es auch, ein Labor der Zukunft herzustellen, in dem über potenzielle Entwicklungsformen des Menschlichen gemutmaßt wird. Dath macht an dieser Stelle auch auf eine weitere, bereits diskutierte Prognose aufmerksam: Die Erweiterung des Menschen wird nicht auf dem Wege der rein technologischen Vervollkommnung der körperlichen Fähigkeiten zustande kommen (wie es noch moderne Spekulationen vom Mensch als ›Prothesengott‹ zu wissen meinten), sondern durch die Preisgabe der Überzeugung von der Besonderheit und Einzigartigkeit des Menschen angesichts der immer noch nicht ausgeschöpften Evolutionsmöglichkeiten.24 Daths Vision der fernen Zukunft ist daher unserem kognitiven und evaluativen Instrumentarium nur teilweise zugänglich. Die evolvierten neuen Menschen (bzw. posthumanen Wesen) sind grundsätzlich anders, in vielen Fällen kaum verständlich, nehmen ihre Wirklichkeiten anders wahr und bilden auf dieser Grundlage neue Wertesysteme.

Welche Werte? Zu erörtern bleiben folgende Fragen: Von welchen Werten und Wertesystemen ist hier die Rede? Aus welchen ethischen Positionen sprechen diese Texte? Was wollen sie anklagen, was verteidigen? In welchen Zeit- und Raumverhältnissen sind ihre Spekulationen berechtigt? Dass sie nur vorläufige, in einem bestimmten Kontext vertretbare Thesen liefern und dass sie einmal – wie alle futurologischen Prognosen – an Aktualität einbüßen werden, steht außer Frage. Ebenso sicher ist, dass sie eher konventionell und im Hinblick auf bedeutende aktuelle Probleme interpretiert werden. Auf diese Weise kann ihre mehr oder weniger verborgene moralistische Aussage, die mit der Meinung des impliziten Autors als Disponent von Spielregeln im Text gleichzusetzen wäre, aufgedeckt und belegt werden, allerdings nur unter bestimmten Lektürebedingungen. Für mitteleuropäische Rezipierende vom Anfang des 21. Jahrhunderts scheinen diese Texte somit an bekannte Traditionen anzuknüpfen sowie bestimmte ideologische Positionen einzunehmen.

24 Vgl. Clarke, Bruce: Posthuman Metamorphosis. Narrative and Systems. New York: Fordham University Press 2008, S. 195–196.

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Thomas Lehr (»42«) und Thomas Glavinic (»Die Arbeit der Nacht«) schreiben vom Standpunkt der postmodernen, desillusionierten Zyniker. Selbst wenn beide die aufklärerische Gattungstradition der Robinsonade wiederaufnehmen, sind ihre Visionen pessimistisch. Ihre Protagonisten lernen wenig, handeln unlogisch, verlieren sich in Traumata und Endzeitvisionen, und wenn sie etwas mit Daniel Defoes paradigmatischer Figur teilen, dann ist es die Angst vor der unbekannten Welt und das kompulsive Bedürfnis, diese möglichst schnell und aggressiv zu kolonisieren. Die frühmoderne Sehnsucht nach dem Naturmenschen wird hier ins kulturelle Gegenteil verkehrt: Die neuen Kolonisten sind ungezügelte Konsumenten mit Selbstvernichtungstrieb, die Natur als unvermitteltes Phänomen gibt es nicht mehr, sie bildet lediglich einen neutralen oder gar feindlichen Hintergrund für die Reflexion über zwischen- und innermenschliche Antagonismen, mit denen sich die Protagonisten auseinandersetzen müssen. Ihre rücksichtslose Vereinnahmung von Zeit und Raum hat ethische Ausmäße – der einzige Wertewandel in abnormalen, unsozialen Bedingungen führt zu Materialismus und Nihilismus. Somit sind diese Texte Prognosen für eine unmenschliche Zeit, in der ein katastrophaler Bruch in der Gesellschaftsstruktur eine ethische Lücke hinterlässt, die sich mit keinen neuen Prinzipien auffüllen lässt. Die beiden können zusammen mit anderen Zynikern der Gegenwartsliteratur gelesen werden: Michel Houellebecq, Sybille Berg (vgl. ihren letzten Roman »GRM. Brainfuck«, 2019) oder Clemens J. Setz (vgl. die nahe Zukunft in »Indigo«, 2012). Doron Rabinovici (»Die Außerirdischen«) und Thomas von Steinaecker (»Die Verteidigung des Paradieses«) äußern sich aus der Position der Spätaufklärer und Gesellschaftskritiker. Ironisch und in Andeutungen prangern sie die Fehler der postmodernen sozialen und medialen Systeme an, die in Zukunft schwerwiegende Folgen nach sich ziehen können. Beide richten ihr Augenmerk auf die Manipulationen der Informationsgesellschaft. Sie werden auch gerne im Kontext der aktuellen politischen Debatten gelesen: Rabinovici als jüdischer Autor mit seinem festen Themenkomplex Fremdheit, Identität, Schuld, Holocaust (vgl. u. a. seine vorigen Romane »Ohnehin«, 2004, und »Andernorts«, 2010), Steinaecker als Diagnostiker der europäischen Migrationspolitik. Beide Autoren scheinen auf eine stille Katastrophe hinzuweisen: Demokratie, Bildung und Geld schützen niemanden vollkommen, jeder kann Sklave, Vertriebener, Opfer des Terrors werden. Deshalb weisen von den hier besprochenen ihre Texte die stärksten didaktischen Ansprüche auf. Ähnlich profiliert scheint das Schaffen von Juli Zeh (vgl. u. a. ihre Dystopie »Corpus Delicti«, 2009) oder Lukas Bärfuss. Dietmar Dath (»Die Abschaffung der Arten«) und Georg Klein (»Die Zukunft des Mars«) lassen sich als mäßig optimistische Utopisten bezeichnen. Der politisch engagierte Autor Dath wird auch als überzeugender Futurologe gelesen,

Überlebende der Zukunft

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seine Romane (vgl. auch »Pulsarnacht«, 2012, »Venus siegt«, 2015, »Der Schnitt durch die Sonne«, 2017) bilden präzise Werkzeuge zur Analyse der künftigen Menschen- und Zivilisationsverfassung. Die Methode Kleins ist anders – seine Visionen sind poetisch, manchmal grotesk, wissenschaftlich kaum untermauert, liefern auch kein eindeutiges Fazit, geschweige denn eine glaubwürdige Prognose für die Zukunft. Wenn Dath den Klassikern der Science-Fiction (vor allem Stanisław Lem) näher zu stehen scheint, kann Georg Kleins Roman mit den Versuchen von Michael Stavaricˇ (vgl. die eher nebulösen Katastrophenvisionen in »Brenntage«, 2011, sowie »Königreich der Schatten«, 2013) und Christian Kracht (vgl. die dystopische Schweiz in »Ich werde hier sein im Sonnenschein und im Schatten«, 2008) zusammengestellt werden. Was wahrscheinlich am nächsten liegt, ist die Verortung der hier besprochenen Texte in der genannten Tradition der Aufklärung, worauf die ihnen immanenten (sei es in der moralischen Verfassung der Protagonisten oder im ethischen Profil des impliziten Autors) Vorstellungen von Gut und Böse verweisen könnten. Eine Ausnahme kann Dietmar Daths Roman bilden – in hohem Maße kommt er ohne Referenzen zur Vergangenheit und Gegenwart aus und erinnert nur selten daran, dass es einmal eine Zivilisation der Menschen gab.

II. Sprachwissenschaft

Magdalena Szulc-Brzozowska (Lublin)

Kontroversen um das Konzept des Patriotismus im Deutschen und im britischen Englisch

Abstract Der vorliegende Beitrag stellt einen Teil meiner linguistisch fundierten Forschung zum Konzept des Patriotismus im Deutschen und britischen Englisch dar. Mittels des methodologischen Instrumentariums der Frame-Semantik (u. a. Fillmore, Busse, Konerding, Ziem) sowie der kognitiven Ethnolinguistik (Lubliner Ethnolinguistische Schule) werden die experimentellen Daten, d. h. die Ergebnisse einer Umfrage zum Deutschen und britischen Englisch, die ein naives und subjektives Weltbild der Muttersprachler der jeweiligen Sprach- und Kulturgemeinschaft widerspiegeln, kontrastiv beschrieben, wobei die lexikographischen Daten als Bezugspunkt für die Befragungsdaten anvisiert werden. Im Zentrum meines Interesses steht primär die Rekonstruktion der aktuellen kognitiven Definition von Patriotismus sowie die Frage nach der Legitimierung des Konzepts als Wert im europäischen (deutschen und britischen) Kulturraum unter Berücksichtigung einer konzeptuellen Reformulierung des Begriffs.

1.

Einleitung

Patriotismus ist heutzutage fast in ganz Europa ein breit diskutiertes Thema. Dabei tritt insbesondere die Frage des Status der einzelnen Länder hinsichtlich ihrer Integrität in Bezug auf die EU in den Vordergrund. Diese Debatte schließt auch die Gestaltung der multikulturellen Gesellschaft sowie eines multikulturellen Europas mit ein. Auf der Welle der Migrationskrise in Europa erwachen nationale Bewegungen, die nationales Identitätsgefühl zur Sprache bringen oder sogar stärken. Die Lubliner Ethnolinguistische Schule definiert Patriotismus als einen der Werte im europäischen Kulturraum, der im Rahmen des Forschungsprojekts EUROJOS1 – neben anderen Konzepten wie Haus/Heim, Europa, Arbeit, Freiheit, 1 EUROJOS steht als Abkürzung für Europa und je˛zykowy obraz ´swiata/sprachliches Weltbild. Das Projekt, unter der Leitung von Prof. J. Bartmin´ski, trägt den Titel: »Je˛zykowo-kulturowy obraz ´swiata Słowian i ich sa˛siadjw na tle porjwnawczym«/›Sprachlich-kulturelles Weltbild von Slawen und ihren Nachbarn im Vergleich‹.

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Ehre, Demokratie, Gerechtigkeit, Gesundheit, Heimat/Vaterland, Familie, Nation, Seele, Solidarität und Toleranz – einer wissenschaftlichen Debatte, genauer gesagt axiologischen komparativen Studien zur Rekonstruktion des sprachlichen Weltbildes, unterzogen wird. Die Forschungen zielen unter Berücksichtigung sowohl spezifisch nationaler als auch universeller Aspekte auf die Aufdeckung von Ähnlichkeiten und Unterschieden in der Konzeptualisierung der Welt verschiedener kommunikativer Gemeinschaften ab. Angesichts der Tendenz zur Auseinandersetzung mit Patriotismus im öffentlichen Diskurs habe ich mich dem EUROJOS-Forscherteam angeschlossen, um das Konzept aus sprachwissenschaftlicher Sicht unter die Lupe zu nehmen. In diesem Zusammenhang stelle ich im vorliegenden Beitrag sowohl die Frage, ob und inwieweit Patriotismus im traditionellen Sinne als Grundlage ethischer Normen in der jeweiligen Sprachgemeinschaft betrachtet werden darf, als auch jene nach der semantischen Neugestaltung des Begriffs in das Zentrum meines Interesses. Anvisiert werden die deutsche und die britische Sprachgemeinschaft. In Deutschland gehört die Problematik aufgrund des Missbrauchs des Patriotismus durch Nationalisten schon mindestens seit Ende des 2. Weltkriegs zu den Schlüsselfragen im politisch-öffentlichen Diskurs. In Großbritannien dagegen kommen andere Faktoren in Frage, die die Sichtweise des Konzepts beeinflussen konnten, wie z. B. die postkolonialistische Strömung mitsamt der Gestaltung der multikulturellen Gesellschaft bzw. die andauernde Brexit-Debatte. Mein Forschungsinteresse gilt den Kontroversen um die Legitimierung und/ oder Neudefinierung von Patriotismus, wobei das deutsche und das britische Konzept sowie deren Vergleich aus den vorerwähnten Gründen – die den Tendenzen, einerseits den alten Patriotismus-Begriff abzulehnen und durch einen neuen zu ersetzen, andererseits den traditionellen, ethnisch motivierten zu fundieren, zugrunde liegen – im Fokus der Aufmerksamkeit stehen.

2.

Theoretischer Hintergrund und methodologische Anmerkungen

Die theoretische Grundlage der vorliegenden Analyse bilden die kognitive Ethnolinguistik und die Frame-Semantik. Die tieferen Wurzeln der kognitiven Ethnolinguistik sind in der Theorie des sprachlichen Weltbildes (Wilhelm von Humboldt, Leo Weisgerber) und in dem Konzept des sprachlichen Relativismus (Edward Sapir, Benjamin Lee Whorf) begründet, auf die sich Jerzy Bartmin´ski als Begründer der Lubliner Ethnolinguistischen Schule beruft, indem er den Hauptbegriff der kognitiven Ethnolinguistk, nämlich sprachliches Weltbild als

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205

ein Ergebnis der menschlichen Erfahrung, Konzeptualisierung und der Interpretation der Welt, das in der Sprache, in grammatischen Formen, im Wortschatz, in Klischeetexten oder implizierten Texten enthalten ist, formuliert.2 Zur Erfassung des sprachlichen Weltbildes und seiner Einheit, des Stereotyps/ Basiskonzepts, dient die kognitive Definition als methodologisches Instrumentarium. Das Stereotyp unterliegt der Profilierung, aus der sich Profile, also Varianten von Basisvorstellungen ergeben, die unter subjektiven Gesichtspunkten, d. h. nach angenommenen Werten und kommunikativen Intentionen, gebildet werden.3 Die kognitive Definition stelle ich dem Frame gegenüber, der in methodologischer Hinsicht gleich wie die kognitive Definition zur Erfassung der Bedeutung eines sprachlichen Ausdrucks, innersprachlich und/oder interkulturell eingesetzt werden kann.4 Beim Frame handelt es sich um einen konzeptuellen Wissensrahmen, der Weltwissen umfasst und aufgrund von menschlichen Erfahrungen in einer Sprachgemeinschaft, ähnlich wie das sprachliche Weltbild, entstanden ist. Dieser wird als etabliertes Wissen beim Sprachverstehen aus dem Gedächtnis abgerufen.5 Sowohl die Frameanalyse als auch die Rekonstruktion des sprachlichen Weltbildes zielen auf die Identifizierung wiederkehrender Sprachgebrauchsmuster mittels des Prädikationspotenzials ab. Zwischen Frame und kognitiver Definition besteht eine weitgehende Analogie, somit nutze ich beide Ansätze zum Aufbau eines hybriden Beschreibungsmodells des Konzepts Patriotismus, die zueinander in Bezug stehen und gegenseitig als Kontrollfilter dienen. Zuerst werden die Bezugsdomänen des Ausdrucks Patriotismus als spezifizierungsbedürftige Annotationskategorien, das sind die Leerstellen beim Frame,6 festgelegt. Diese werden anschließend mit bestimmten, konkreten

2 Vgl. Bartmin´ski, Jerzy : Je˛zykowy obraz s´wiata. Lublin: UMCS 1990, S. 110. 3 Vgl. Bartmin´ski, Jerzy/Niebrzegowska, Stanisława: Profile a podmiotowa interpretacja ´swiata. In: Profilowanie w je˛zyku i w teks´cie. Hrsg. von Jerzy Bartmin´ski/Ryszard Tokarski. Lublin: Wydawnictwo UMCS 1998, S. 211–224, hier S. 217; Niebrzegowska-Bartmin´ska, Stanisława: Projekt badawczy ETNO(EUROJOS) a program etnolingwistyki kognitywnej. In: Etnolingwistyka 25, 2013, S. 267–281, hier S. 272. 4 Vgl. Klein, Josef : Frame als semantischer Theoriebegriff und als wissensdiagnostisches Instrumentarium. In: Interdisziplinarität und Methodenpluralismus in der Semantikforschung. Hrsg. von Inge Pohl. Frankfurt/Main: Peter Lang 1999, S. 157–183; Ziem, Alexander : Frames und sprachliches Wissen. Kognitive Aspekte der semantischen Kompetenz. Berlin/New York: De Gruyter 2008. 5 Vgl. Busse, Dietrich: Frame-Semantik. Ein Kompendium. Berlin/Boston: De Gruyter 2012; Ziem, Frames und sprachliches Wissen. 2008. 6 Bei kognitiver Definition entsprechen den Leerstellen die Facetten.

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Werten gefüllt.7 Den Zugriff für die Leerstellen von Frames bilden Texte und Diskurse.8 Die entsprechenden Werte werden in dem von mir erstellten Korpus von Daten aus drei Typen von Quellen entnommen: den lexikographischen Daten, den Textdaten und den Umfragen.9 Die Füllwerte/fillers (also die expliziten Prädikationen) weisen den Charakter von Text-Tokens auf. Sie können sich aber mit Standardwerten/default values decken, den impliziten, also konventionellen Prädikationen im Sinne inferierter Werte, die wiederum dem Stereotyp/Basiskonzept entsprechen. Diese zeichnen sich durch Prototypikalität bzw. Typikalität, also semantische Salienz aus.10 In einem ersten Schritt wurden Daten aus Wörterbüchern und Lexika gesammelt, die Informationen zur Hypothesenaufstellung über Leerstellen, Standardwerte (Stereotype) liefern. Diese Daten erlauben auch, das Konzept aus diachroner Sicht zu erfassen und somit den alten Patriotismus-Begriff zu definieren. Im nächsten Schritt werden diese Daten den experimentellen Daten, also 7 Vgl. Ziem, Alexander/Pentzold, Christian/Fraas, Claudia: Medien-Frames als semantische Frames: Aspekte ihrer methodischen und analytischen Verschränkung am Beispiel der ›Snowdon-Affäre‹. In: Frames interdisziplinär : Modelle, Anwendungsfelder, Methoden. Hrsg. von Alexander Ziem/Lars Inderelst/Detmer Wulf. Düsseldorf: Düsseldorf University Press 2018, S. 155–184, hier S. 162, 164, 165; Scholz, Ronny/Ziem, Alexander: Das Vokabular im diskurshistorischen Vergleich: Skizze einer korpuslinguistischen Untersuchungsheuristik. In: Diskurs – interdisziplinär. Zugänge, Gegenstände, Perspektiven. Hrsg. von Heidrun Kämper/Ingo Warnke. Berlin/Boston: De Gruyter 2015, S. 281–313, hier S. 299–300. 8 Vgl. Busse, Dietrich: Recht als Text Linguistische Untersuchungen zur Arbeit mit Sprache in einer gesellschaftlichen Institution. Tübingen: Max Niemeyer 1992; Busse, Dietrich: Text – Sprache – Wissen. Perspektiven einer linguistischen Epistemologie als Beitrag zur Historischen Semantik. In: Scientia Poetica. Hrsg. von Lutz Danneberg/Wilhelm Schmidt-Biggemann/Horst Thom8/Friedrich Vollhardt. Berlin/New York: De Gruyter 2006, Bd. 10, S. 101– 137; Busse, Dietrich: Linguistische Epistemologie. Zur Konvergenz von kognitiver und kulturwissenschaftlicher Semantik am Beispiel von Begriffsgeschichte, Diskursanalyse und Frame-Semantik. In: Sprache – Kognition – Kultur. Sprache zwischen mentaler Struktur und kultureller Prägung. Hrsg. von Heidrun Kämper/Ludwig Eichinger Berlin/New York: De Gruyter 2008, S. 73–114; Fraas, Claudia: Gebrauchswandel und Bedeutungsvarianz in Textnetzen: Die Konzepte Identität und Deutsche im Diskurs zur deutschen Einheit. Tübingen: Narr 1996; Klein, Frame als semantischer Theoriebegriff und als wissensdiagnostisches Instrumentarium. 1999; Konerding, Klaus-Peter : Themen, Diskurse und soziale Topik. In: Mediendiskurse. Bestandsaufnahme und Perspektiven. Hrsg. von Claudia Fraas/ Michael Klemm. Frankfurt/Main: Peter Lang 2005, S. 9–38; Lönneker, Birte: Konzeptframes und Relationen: Extraktion, Annotation und Analyse französischer Corpora aus dem World Wide Web. Berlin: Akademische Verlagsgesellschaft AKA 2003; Ziem, Frames und sprachliches Wissen. Kognitive Aspekte der semantischen Kompetenz. 2008. 9 Eine Analyse von Textdaten, die Profilierung berücksichtigt, wird in dem vorliegenden Beitrag aus Platzgründen nicht dargestellt. Ihre Ergebnisse werden in kommenden Publikationen der Autorin behandelt. 10 Zu den Bestandteilen des Frames vgl. Ziem, Frames und sprachliches Wissen. Kognitive Aspekte der semantischen Kompetenz. 2008, S. 298–339.

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den Befragungsdaten, gegenübergestellt. Die Befragung dient der Gewinnung von Informationen über die Stabilisierung und Etablierung bestimmter Bedeutungen sowie der Verifizierung der Hypothesen. Der Fokus liegt in der Ermittlung eines naiven, subjektiven Weltbildes.11 Solche Daten können für einen interkulturellem kognitiven Vergleich erfolgreich eingesetzt werden, weil sie Werte darstellen, die das Verständnis des Konzepts bei Muttersprachlern indirekt widerspiegeln. Die Probanden sollten die offene Frage: Was macht Ihrer Meinung nach das Wesen von echtem Patriotismus aus? beantworten. Den Schwerpunkt der vorliegenden Analyse bilden jedoch experimentelle Daten, die mit den lexikographischen Definitionen als Bezugspunkt gegenübergestellt werden.

3.

Konventionalisiertes Bild des Patriotismus: seine Erfassung in lexikographischen Quellen

Der Begriff Patriotismus geht auf das Altgriechische patqi~tgr (patrijtes)/ Landsmann und dann auf das lateinische patrio¯ta zurück. Im 16. Jahrhundert gelangte er über das Französische patriote ins Deutsche und ins Englische und bezog sich ursprünglich auf Abstammung, Heimat, Ethnizität. Grundsätzlich erfreute er sich positiver Konnotationen. Erst im 19. Jh. kam er mit Nationalismus und Chauvinismus in Verbindung, wodurch er vor allem in Deutschland aufgrund seines Missbrauchs im Nationalsozialismus negativ konnotiert wurde. In den gegenwärtigen lexikographischen Quellen ist eine relativ scharfe Grenze zwischen Patriotismus und Nationalismus zu beobachten; die historisch und ethnisch begründete Auffassung des Begriffs wurde dem Verfassungspatriotismus gegenübergestellt, der auf demokratischen, übernationalen Verfassungswerten aufbaut und der im Unterschied zu dem alten Begriff eine positive Markierung aufweist. Patriotismus wird generell als (begeisterte) Liebe zum Vaterland bzw. vaterländische Gesinnung definiert. Er verfügt über eine Menge von Synonymen wie Heimatgefühl, Vaterlandsliebe (gehoben, oft emotional markiert), aber auch Nationalstolz, Staatsgesinnung, Nationalbewusstsein, Staatsbewusstsein. Einerseits wird übersteigerter Patriotismus als Nationalismus, Chauvinismus (abwertend), Rechtsextremismus, Lokalpatriotismus (abwertend), Hurrapatriotismus (abwertend) bezeichnet, auf der anderen Seite erscheinen Nationalismus 11 Vgl. Apresjan, Jurij: Semantyka leksykalna. Synonimiczne ´srodki je˛zyka. Übersetzung Zofia Kozłowska/Andrzej Markowski. Wrocław: Ossolineum 1980 [Originalausgabe Moskau 1974]; Putnam, Hilary : Mind, Language and Reality. Philosophical Papers. Cambridge: Cambridge University Press 1975. Bd. 2.

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und Chauvinismus in Opposition zu Patriotismus. In den lexikografischen Definitionen sind sowohl positive als auch negative Konnotationen ersichtlich. Die negativen heben den Aspekt einer übermäßigen Bindung an Werte, Traditionen, Nation, Land und sogar an Überheblichkeit und unkritisch übertriebenen Stolz hervor. Die lexikographischen Quellen bringen neben dem Verfassungspatriotismus auch den ökonomischen, glühenden, leidenschaftlichen und sozialistischen Patriotismus zur Sprache.12 Die Bedeutung von Patriotismus in den britischen Wörterbüchern und Lexika macht neben Liebe zum Land auch Hingabe für das eigene Land oder, im Falle des Lokalpatriotismus, auch für seine eigene Ortschaft oder Region aus. Für das Verständnis des Begriffs sind solche Aspekte wie Stolz auf das eigene Land, nationale Loyalität, Unterstützung, Sorge und sogar Verteidigung maßgeblich. Als Synonyme kommen u. a. Nationalismus, Loyalität, Chauvinismus, Gemeinsinn, Fahnengeschwenke, Zugehörigkeitsgefühl infrage. Darüber hinaus werden Typen von Patriotismus wie Chauvinismus, Jingoismus (die englische Variante des Hurra-Patriotismus), Superpatriotismus, Ultranationalismus, fanatischer Patriotismus genannt.13 Auffallend ist im Vergleich zu den deutschen Definitionen der Wert »Bereitschaft zur Hingabe, Aufopferung«, der in den deutschen gegenwärtigen Quellen kaum vorhanden ist. Merklich ist auch die stärkere Kennzeichnung positiver Bedeutungsaspekte. Englischsprachige Quellen entbehren grundsätzlich der 12 Anhand von (in Auswahl): Brockhaus Enzyklopädie in 24 Bänden. 19. völlig neu bearbeitete Auflage. Mannheim: Brockhaus 1986–1996. Bd. 16; Digitales Wörterbuch der deutschen Sprache (DWDS). Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften. (Zugriff am 17. 05. 2018); Duden. Bd. 5. Das Fremdwörterbuch. 7. bearbeitete und erweiterte Auflage. Mannheim/Leipzig/Wien/Zürich: Dudenverlag 2001, S. 739; Duden online. Bibliographisches Institut GmbH 2019. (Zugriff am 17. 05. 2018); Encyclopedia Britannica 2019. (Zugriff am 18. 06. 2019); Meyers Enzyklopädisches Lexikon in 25 Bänden. 9. völlig neu bearbeitete Auflage. Mannheim/ Wien/Zürich: Bibliographisches Institut 1976. Bd.18; Online Etymology Dictionary 2001–2019. Douglas Harper. (Zugriff am 18. 06. 2019); (Zugriff am 18. 06. 2019); Wörterbuch der deutschen Gegenwartssprache. Hrsg. von Ruth Klappenbach/Wolfgang Steinitz. 4. durchgesehene Auflage. Berlin: Akademie der Wissenschaften 1977/41981. Bd. 4, S. 2753. 13 Anhand von (in Auswahl): Oxford English Dictionary. Oxford University Press 2019. (Zugriff am 21. 06. 2019); Cambridge Dictionary. Cambridge University Press 2019. (Zugriff am 21. 06. 2019); Collins Online Dictionary. Collins 2019. (Zugriff am 21. 06. 2019); Macmillan English Dictionary Online. Springer Nature Limited 2002–2019. (Zugriff am 21. 06. 2019).

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Anmerkungen, welche die Differenzierung von positiv und negativ (abwertend) besetzten Ausdrücken enthalten. Auch die Unterscheidung zwischen ethnisch und nicht-ethnisch begründeten Begriffen findet sich in der Regel in deutschen Lexika. Ungeachtet dieser Tatsache kommt sowohl eine positive als auch eine negative Konzeptualisierung von Patriotismus auch in britischen Quellen vor. Die lexikographisch erfasste Bedeutung von Patriotismus in beiden Sprachen ergibt das Tertium Comparationis, und zwar auf der einen Seite Liebe, Zuneigung zum eigenen Land, auf der anderen Seite ihre extrem ausgeprägte Form, die in einer schwächeren oder stärkeren Ausprägung des Fanatismus zum Vorschein kommt.

4.

Naives Weltbild – aktuelle Auffassung von Patriotismus bei der jüngeren Generation

Im Folgenden werden Ergebnisse einer Umfrage zum Konzept des Patriotismus dargelegt. Die Befragung wurde unter deutschen Studierenden im Mai 2019 an der Bergischen Universität Wuppertal und unter britischen Studierenden im November 2018 am University College of London durchgeführt. Die Anzahl der Probanden betrug jeweils ca. 100.14 Die Probandengruppen wurden nach Alter, Geschlecht und nationaler Zugehörigkeit ausgeglichen und dann ausgewertet. Anvisiert wurden gleichrangige Probandengruppen mit jeweils deutscher oder britischer Nationalzugehörigkeit. Zum Vergleich zusätzlich herangezogen wurden Ergebnisse einer Umfrage unter den in London Studierenden, die eine andere Nationalität als die britische angegeben hatten. Diese dienten als Beispiel zur Erfassung des Patriotismus durch »ad-hoc« Mitglieder derselben Sprachgemeinschaft.15

14 Insgesamt nahmen 109 Probanden (Alter 18–30, eine Person Lehrkraft 50) an der Umfrage in Deutschland teil, darunter neun anderer Nationalität als die deutsche (türkisch, griechisch, kurdisch, italienisch, österreichisch). In überwiegender Mehrheit waren das weibliche Personen. In London wurden 150 (50 nicht-britische) Studierende befragt (Alter 18–29). Der Anteil der Frauen betrug doppelt so viel wie der von Männern. Andere Nationalitäten bezogen sich auf die Länder China, Ungarn, Rumänien, USA, Italien, Frankreich, Malesien, Deutschland, Australien, Österreich, Niederlande, Indien, Griechenland, Georgien, Spanien, Pakistan. Die Studienfächer der deutschen und britischen Probanden zeichneten sich durch ein breites Spektrum aus, und zwar umfasste es geisteswissenschaftliche, naturwissenschaftliche, exakte, medizinische sowie andere Fachrichtungen. 15 In Betracht wurden jedoch nur Studierende, die mindestens schon 3 Jahre in Großbritanien leben, so dass man annehmen könnte, dass die Aufenthaltszeit ein Einleben in die britische Kultur ermöglicht hat, gezogen.

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Die Auswertung in Prozentzahlen betrifft die Anzahl der Probanden, die ihre Stimme pro konkreten Wert abgegeben haben. Da es sich um eine offene Frage handelte, konnten einzelne Personen mehrere Werte angeben.16

4.1

Deutsch

Wie sich aus der Umfrage ergab, können im Frame Patriotismus folgende Hauptleerstellen stichwortartig formuliert werden: Land/Heimat/Vaterland, Nation, Kultur, darunter Werte, Traditionen, Sprache, Religion, Nationalsymbolik, sowie Wirtschaft, Sport, Politik, Militär, Mitmenschen, Herkunft, Nationalismus, Globalisierung und Internationalisierung. Die höchste semantische Salienz weisen Werte auf, die die Leerstellen Land/Heimat/Vaterland, Nation, Kultur füllen. 68 % der Probanden nennen die Füllwerte, die Patriotismus als Liebe zu einem Gebiet, zu dem man sich zugehörig fühlt (das Vaterland/die Heimat) konzeptualisieren und auch die Hochachtung des eigenen Landes involvieren. In einigen Fällen taucht eine Anmerkung auf, dass die Vaterlandsliebe/ Heimatliebe bedingungslos ist, d. h. irgendwelche Nachteile, Fehler sollten unbeachtet bleiben. Die Einstellung zum eigenen Land kann auch durch weitere Werte wie starker Bezug zum Heimatland, Verbundenheit mit dem eigenen Herkunftsland, vollkommene Zuneigung, Zusammenhalt, charakterisiert werden. Die Informanten unterstreichen den Aspekt der Unterstützung des Landes mit eigener Emotionalität, indem sie Patriotismus mit emotional erlebter Heimatnähe, mit »sich heimisch«, »zu Hause« fühlen, Geborgenheit, Gemeinschaftsgefühl im Herkunftsland, also schlichtweg einem Heimatgefühl identifizieren. In semantischer Nähe stehen Nationalstolz, Stolz auf das eigene Land, die Kultur, die Leistungen der Vorfahren (31 % der Befragten). In Bezug auf die Leerstellen Nation, Herkunft und Kultur bezeichnen 21 % der Studierenden Patriotismus als Identifikation mit Nation, Ethnizität, Kultur oder dem Herkunftsland. Kultur kommt als eine entscheidende Leerstelle zum Vorschein. Das Vertreten und die Vermittlung der Kultur, auch auf internationaler Ebene sowie ihre Erforschung und Verteidigung, was mit Bewahren alter Traditionen, Normen, Werte im Zusammenhang steht, sind Werte, die von 38 % der Informanten vertreten werden. Die Befragten verweisen dabei auf das Hochhalten geltender Werte, darunter christlicher Werte, auf das Traditionsbewusstsein, dem u. a. Folgendes zugrunde liegt: Erziehung eigener Kinder, die an alten Normen und Werten orientiert sein soll, Kenntnis über das Land, seine Geschichte, andere 16 Demzufolge braucht die Prozentsumme aller von den Befragten genannten Werten nicht 100 % betragen. Die Probanden konnten nämlich mehrere Optionen/Werte angeben.

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kulturelle Begebenheiten wie Musik, deutsche Küche, Persönlichkeiten. Dabei wird das Lernen aus der Geschichte einzeln angegeben und das Ausleben der Werte, Kultur und Sprache, inklusive Feiern von Festen, z. B. von Nationalfeiertagen relativ stark betont. In Bezug auf die Sprache legen die Probanden einen Akzent nicht nur auf ihre Ausübung, sondern auch auf ihre Beherrschung und ihren Schutz. Das Schlagwort Schutz kommt auch im breiteren Kontext, und zwar als Schutz vor Verfremdung bezüglich des ganzen Landes vor. In Bezug auf das Praktizieren von Werten kommt der Wertschätzung der Nationalfarben, der Flagge und der Nationalhymne eine besondere Rolle zu. Dabei wurde das Kennen und Mitsingen der Nationalhymne konkret formuliert (8 %). Aus all den genannten Füllwerten der Leerstellen Land, Nation, Kultur lässt sich ein positiv konnotiertes Konzept des Patriotismus entwickeln. Es deckt sich mit dem klassischen Verständnis des Patriotismus im europäischen Kulturraum. Die Werte lassen sich unproblematisch als Standardwerte, also als Stereotyp bzw. Basiskonzept bezeichnen: demzufolge könnte man Patriotismus als Wertekategorie erfassen. Das positive Bild unterstützen Sinnhaftigkeit der eigenen Existenz, Fairness, Gerechtigkeit, Tiefgründigkeit, Pünktlichkeit und Fleiß (3 %). Jedoch werden diese Leerstellen auch durch andere Werte spezifiziert. Aus der Umfrage geht eine Ansicht hervor, dass Patriotismus im Sinne von Stolz keine moderne, aktuelle Sichtweise in Deutschland ist. Bei den Schlagworten Stolz, Liebe oder Nation erfolgt eine skeptische Spezifizierung bei 31 % der Informanten, und zwar durch die Attribuierung »irrationaler, unbegründeter Stolz auf die eigene Herkunft und das Land«, »stark ausgeprägter Stolz«, sogar mit dem Postulat, jede Sprache und Nation gleich zu lieben und darauf stolz zu sein. Vaterlandsliebe erscheint im negativen Licht, wenn die Rede von übertriebener, gesteigerter Liebe, dem Glauben an die Stärke der eigenen Nation und deren Bevölkerung oder von extremer Ausübung von Vaterlandsliebe ist, die unter der Parole »mein Land ist das Beste« zu einem Herrschaftsdenken (also zum Extremismus), z. B. in Form einer Abneigung gegenüber dem Leben in anderen Ländern oder sogar der Verachtung anderer Nationen oder Länder führt. Patriotismus bedeutet dann Bevorzugung des eigenen Landes, der einheimischen Kultur bei gleichzeitiger Herabsetzung anderer Nationalitäten und der Kategorisierung des eigenen Landes als des besten, inklusive Intoleranz gegenüber anderen Ländern oder Religionen. Der Patriot neige also dazu, sein Land zu beschönigen und nicht offen gegenüber anderen Nationalitäten und Werten zu sein. Integration ist im Patriotismus ein Fremdwort. Eine äußerst kritische Meinung spiegelt sich in der Formulierung des Patriotismus als Gedankenkonstrukt wider, das eine »Flucht in die Rückbesinnung auf Nationalstolz sein soll, wenn persönliche Probleme nicht bewältigt werden können«.

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Eine weniger extreme, jedoch misstrauische Einschätzung des Patriotismus drückt sich in der Konzeptualisierung des Begriffs als Haltung »für das eigene Land einzustehen« aus, wodurch aber – wenn der Beschützerinstinkt stark ausgeprägt ist – Gewaltanwendung mit dem Ziel, das Land zu verteidigen, zugelassen wird. Die Probanden bestreiten die Legitimität des traditionellen PatriotismusBegriffs, indem sie auf die Konsequenz von Erscheinungen wie Multikulturalität oder Globalisierung verweisen. Patriotismus im Sinne einer kulturellen Verbundenheit, des Vorrangs der eigenen Kultur, Nation oder des eigenen Landes stößt auf eine kritische Betrachtung, ja sogar auf Ablehnung. Internationalisierung, das Einschließen unterschiedlicher Volksgruppen, gezieltes Einsetzen nationaler Varietät, das Zusammenleben von Menschen aller Länder wird erstrebt, und daraus folgend die Einheit aller Bürger und die totale Zurückweisung nationaler Gedanken. Patriotismus besteht darin, andere Gemeinschaften und andere Länder nicht als Feindbilder zu sehen, sondern als gleichberechtigt anzuerkennen. Akzeptanz anderer Nationalitäten. Toleranz und Offenheit, gegenseitige Unterstützung, Integration bilden unabdingbare Bedeutungskomponenten. Zum Negativimage des Patriotismus tragen direkte Aussagen (4 %) über die fließende Grenze zum Nationalismus und Rassismus als Vorstufe des Nationalismus sowie die Instrumentalisierung des Begriffs im politischen Leben, u. a. über seinen Missbrauch im Populismus bei. Dem gegenüber stehen die Abgrenzung des Patriotismus vom Nationalismus und Negierung von Extremen und von Rassismus (2 %).17 Die Probanden berufen sich auf den negativ geprägten Hintergrund in Deutschland, der mit einer negativen Betrachtung des Patriotismus und seiner sehr negativen Besetzung (historisch ist er wegen der NS-Zeit verschrien und politisch rechts orientiert) einhergeht, woraus sich ein Gefühl der Scham ergibt, so dass ein Bekenntnis zum Patriotismus als problematisch gilt. Patriotismus ist ein schwieriges und kritisches Konzept in Deutschland, sogar ein Tabu-Thema. Es wird sogar ein Mangel an Patriotismus in Deutschland festgestellt (11 % der Probanden). Hinter der Äußerung »Gesunden Patriotismus zu leben ist aufgrund der Geschichte nicht möglich« steckt aber ein Hauch von Bedauern über diese Tatsache. Der Wunsch nach gesundem Patriotismus äußert sich außerdem in der Formulierung »sich nicht schämen müssen für Patriotismus aufgrund von Fehlern aus der Vergangenheit«. Patriotismus wird mit »Deutsch-Sein« gleichgesetzt und als solches aus existentieller Sicht für umstritten gehalten. In diesem 17 Gemeint sind bei diesen Prozentzahlen nur die Probanden, die diese Inhalte auf eine direkte Art und Weise ausdrückten.

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Zusammenhang bildet auch der Wert »Sich-Bekennen, dass man deutsch ist, woher man kommt« einen Bestandteil des Begriffs. Überdies drückt sich die Neugestaltung des Konzepts auch in der Auffassung des Patriotismus als Meinungsfreiheit aus (3 %). Patriotismus wird auch durch die Leerstelle Wirtschaft, die mit der Leerstelle soziale Gemeinschaft/Gesellschaft in Verbindung steht, strukturiert. Zu den Füllwerten dieser Leerstellen gehören vor allem die Unterstützung der einheimischen Wirtschaft, unter anderem durch Steuern, durch die Unterstützung der Interessen des Landes und durch die Sorge um das Wohl des Landes. In politischer und sozialer Hinsicht erwähnen die Befragten Partizipation, politisches Engagement, Einstehen für die eigene Gemeinschaft, Kooperation unter den Bürgern, auch im Sinne von politischen Aktivitäten, EU-Politik und Mitbestimmung durch die Teilnahme an Wahlen, sowie Stolz auf die Politik und Wirtschaft des Landes. Den Erfolg des Herkunftslandes schätzen zu wissen kennzeichnet die bürgerliche und patriotische Einstellung. Dieser Aspekt wird auch bei der Leerstelle Sport aufgenommen, wo er mit dem Einsatz bei sportlichen Veranstaltungen sowie gemeinsamen Aktivitäten wie Fußball-Weltmeisterschaften korrespondiert. Dabei taucht Spaß als Element des Patriotismus auf (insgesamt 23 %). Die Leerstelle Militär wird in direkter Weise zu einem äußerst niedrigem Grade (2 %) thematisiert. Die Füllwerte drücken Stolz auf das Militär, die Bereitschaft zu sterben und das Kämpfen für das Land (eher in Bezug auf die Vergangenheit) aus. In Zusammenhang mit dieser Problematik erscheint auch das Schlagwort Hingabe. Dieser Wert kann aber auch generell auf das Land bezogen werden, ähnlich wie Loyalität, Treue, Schutz, Sicherheit oder Frieden (7 %). Marginal bestimmen den Begriff Patriotismus uneingeschränkter Dienst und Unterwerfung gegenüber dem Vaterland. In Bezug auf diese Werte kann Patrotismus als Liebe, aber keinesfalls als Aufopferung verstanden werden. Die Komplexität des Konzepts bestätigen auch Meinungen über ein breites Spektrum an land- und kulturgebundenen Auffassungen des Patriotismus. Als Beispiel wurde amerikanischer Patriotismus mit der Parole »America first« genannt. Andere, vereinzelte Aussagen (2 % der Probanden) bezogen Patriotismus auf die Notwendigkeit der Akzeptanz einer patriarchalischen Gesellschaft, weil die Herrschaft von Männern durch Tradition, Normen und Konventionen sanktioniert ist. Die Erforschung der Vielschichtigkeit dieser Problematik bedarf experimenteller Daten von größerem Umfang, die u. a. solche Faktoren berücksichtigen wie den Grad der Identifizierung von Probanden mit der jeweiligen Kultur.18 18 Das patriarchalische Konzept des Patriotismus wurde von Informanten mit Migrationshintergrund vertreten.

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Britisches Englisch

Beim Frame Patriotismus in der britischen Sprachgemeinschaft treten konventionalisierte Leerstellen und Füllwerte wie Land/Staat, Nation und Kultur in den Vordergrund. Diese werden mit Stolz auf das eigene Land (also das Land, aus dem man kommt oder mit dem man sich verbunden fühlt), auf die eigene Nation, auf das kulturelle Erbe, sowie auf die Infrastruktur des öffentlichen Sektors, auf den Respekt gegenüber dem Staat, und die Liebe zum Land gefüllt. Es wird der Aspekt der emotionalen Zuneigung und der emotionalen und physischen Verbundenheit mit einer Gemeinschaft, einer Kultur und einem Ort/Land, in dem man lebt (inklusive dessen Geschichte) hervorgehoben. In dieser Konsequenz erscheint Patriotismus in den Augen von 42 % der Probanden als kollektiver Stolz, Respekt gegenüber dem, was das Land ausmacht und Respekt gegenüber den Mitmenschen, Gemeinschaftsgefühl und Zuneigung zum eigenen Staat. Das positive Bild des Konzepts Patriotismus verstärken dann auch Aussagen über die vereinigende Kraft des Patriotismus, die Zufriedenheit und Dankbarkeit des Bürgers gegenüber dem Staat impliziert. Dies steht in engem Zusammenhang mit Loyalität gegenüber dem eigenen Staat bzw. der eigenen Stadt (auch angesichts einer Niederlage oder Krise) und gegenüber den Idealen, die eigene Nation für sich beansprucht, Normen und der Kultur (insgesamt 21 %). Es bestehen Überschneidungen mit der Leerstelle Kultur, die mit dem Hochhalten, der Förderung und der Vermittlung von Geschichte, Sprache und Kultur besetzt wird. Das Bewahren und das Pflegen der eigenen Kultur mitsamt ihren Traditionen besteht laut Informanten z. B. im Teetrinken, der Achtung vor der Königin oder im ordentlichen Anstellen in einer Schlange (13 %). In diesen Bereich fallen auch Füllwerte, die Kenntnisse über die Geschichte und das politische Leben betreffen. Diese Füllwerte gehören auch zum Schlagwort Verpflichtung. Verpflichtung umfasst eine Anzahl von Elementen wie z. B.: Land, Nation, Umgebung, Mitmenschen, Engagement in der Geschichte, Kultur, Politik und – in aktuellen staatlichen Angelegenheiten – das demokratische Recht auf Abstimmung (die Nicht-Teilnahme an Wahlen gilt als unpatriotisch), die Unterstützung der Regierung bzw. des Präsidenten, aber auch politischen oder sozial bedingten Widerspruch. Die bürgerliche Verpflichtung dehnt sich aus auf die Unterstützung des Gesundheitswesens, des Schulwesens, von Älteren, Kindern, Obdachlosen, Kranken und all jenen, die Hilfe brauchen. Ein guter Bürger zu sein bedeutet, das Gesetz zu respektieren, Traditionen zu achten, Steuern zu zahlen, vor allem aber, zu arbeiten, an staatlichen Ereignissen teilzunehmen und auch, die Nationalflagge zu besitzen (34 %). Das Pflichtgefühl verbindet sich mit dem Wunsch nach Wohlergehen des Staates oder mit der Hingabe für das Wohl des Landes.

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Der Füllwert »Unterstützung« ist neben der Leerstelle Land und Leute oder Wirtschaft auch der Leerstelle Sport eigen. Er äußert sich darin, sich im Sport (z. B. im Fußball) für das eigene Land auszusprechen (8 %). Diese Konnotationen sind grundsätzlich positiv, auch wenn sie eine vorübergehende emotionale Abneigung gegenüber einer anderen Mannschaft implizieren (z. B. »Hass gegenüber den Deutschen, die uns beim Elfmeterschießen besiegen«).19 Einem wirtschaftlich-sozial motivierten Verständnis des Patriotismus als Gerechtigkeit (z. B. im Falle gerechter Umverteilung des Einkommens) entspricht der Füllwert, der die Gestaltung des Staates als ›guten Ort für jeden‹ hervorhebt (3 %). Aus der Umfrage ergibt sich aber auch eine durch den Prozess der Globalisierung motivierte Perspektive des Konzepts Patriotismus. Primär verweisen die Informanten auf Patriotismus als veraltetes Konzept mit einer historischen Grundlage, für das es bei der Ablehnung der Idee der Nation keine Legitimierung mehr gibt, vor allem nicht in einem multikulturellen Raum wie es z. B. London ist. Patriotismus als Liebe zum Staat ist wegen nationaler Ideen höchst problematisch. Die traditionelle Auffassung von Nation und Kultur erscheint in einem solchen Fall sinnlos. Die neue Sichtweise eröffnet die Möglichkeit, unterschiedliche Kulturen als Bestandteile einer Nation anzusehen. Die Probanden sind der Meinung, dass Offenheit gegenüber anderen Kulturen in der Zeit der Globalisierung eine Notwendigkeit darstellt, zumal andere Kulturen bereichernd wirken. Patriotismus im alten Verständnis sei »eine dumme Idee«, umso mehr als die Grenzen ein »künstliches Konzept« darstellen (16 %). Einen relativ abstrakten Charakter gewinnt Patriotismus als Gedankenkonstrukt bzw. Glaubenssystem, das mit soziohistorischen und politisch kollektiven Idealen verbunden ist. Patriotismus wird als Glaube, sich durch Sprache, Kultur, Regierung einigen zu können, definiert (5 %). Für die Ablehnung des alten Begriffs des Patriotismus sprechen Assoziationen mit der rechten Szene oder sogar dessen Gleichsetzung mit Nationalismus (18 %). Die Überheblichkeit, die darin besteht, die eigene Nation als eine bessere und eine andere als schlechtere zu betrachten und das eigene Land und dessen Bürger gegenüber anderen zu bevorzugen, führt zu Diskriminierung und muss als eine negative und gefährliche Idee eingeschätzt werden. Die Arroganz, die sich in blinder Liebe zur eigenen Nation manifestiert, bedeutet einen Verlust für das Individuum. Die Idee, eine eigene Nation, ein eigenes Land oder eine eigene Kultur zu haben, soll daher abgelehnt werden. Xenophobie und Rassismus sind andere Menschen ausschließende Faktoren, die Kriegen und dem Radikalismus zugrunde liegen. Unter Antonymen des 19 Freie Übersetzung der Autorin. Die gleiche Anmerkung bezieht sich auf alle weiteren aus der englischsprachigen Umfrage zitierte Aussagen.

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Patriotismus werden – neben Rassismus – Krieg, Monarchie und eine AntiMigrations-Einstellung genannt. Patriotismus unterliegt zwar einer restriktiven Wahrnehmungsweise der Identität, er entscheidet jedoch über die Stabilität der Identität im eigenen Kulturkreis, was ein die Einheit sichernder Faktor ist. Daher soll ein neues, adaptiertes Konzept voraussetzt werden. Das Postulat der Offenheit, die NichtBeachtung von Staatsgrenzen ist parallel zur Negation des Prinzips der Identitätsbestimmung aufgrund der ethnischen Herkunft (10 %) zu sehen. Darauf soll auch ein neuer, eindeutiger, transparenter, allgemein nachvollziehbarer und erforderlicher Begriff von Patriotismus beruhen. Echter Patriotismus – Liebe zum Land, zur Nation und Kultur soll unabhängig davon sein, ob man dieses bzw. diese als sein eigen betrachtet oder nicht. Der Wunsch nach Integrität und Bewältigung der Diskriminierung äußert sich u. a. in Aussagen über das Verhältnis zwischen England und Großbritannien, die den Stolz von Engländern nicht nur auf England, sondern auf Großbritannien (mitsamt den dazu gehörenden Nationen) thematisieren (3 %). Als Anzeichen von falsch verstandenem Patriotismus betrachten 3 % der Informanten die Assoziationen der Flagge des Vereinigten Königreichs Großbritannien und Nordirland mit einer höheren sozialen Klasse, und die der englischen Flagge mit einer niedrigeren Klasse. Einen Missbrauch von Patriotismus (in seiner traditionellen Version), der negative Konsequenzen haben kann, lässt sich auf medialer Ebene in Politik, vor allem in der aktuellen Brexit-Kampagne beobachten. Ein Zeichen der Instrumentalisierung des Patriotismus wird auch darin gesehen, dass er vom Staat gefördert wird (5 %). Die Fragwürdigkeit des Begriffs Patriotismus belegen zusätzlich Aussagen (13 % der Informanten) wie »Selbsternannte Patrioten sind oft Nationalisten und Rassisten, und echte Patrioten werden beschämt« oder »Echten Patriotismus gibt es nicht«, »Großbritannien ist wenig patriotisch und wird es immer weniger in den letzten Jahren«. Sie verweisen darauf, dass Patriotismus grundsätzlich schwer definierbar ist und je nach Individuum extrem unterschiedlich verstanden und bewertet wird; ferner, dass dieses Phänomen politischen und sozialen Umwandlungen unterliegt, die seine Existenz in Frage stellen können.

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Exkurs: Konzept des Patriotismus bei nicht-britischen Studierenden Aus den experimentellen Daten, die sich der Umfrage von Studierenden mit nicht-britischer Herkunft entnehmen lassen, wurden zwar ähnliche Leerstellen ermittelt, jedoch zum Teil mit unterschiedlichen Werten. Spezifische Werte konzeptualisieren den Patriotismus in Einzelfällen als Liberalismus oder Altruismus, aber auch als Disziplin und Oberherrschaft. Den Löwenanteil bilden Werte, die einen neuen Patriotismus definieren, mit besonderer Berücksichtigung anderer Länder und Mitmenschen bei gleichzeitigem Fokus auf einer starken Bindung an das eigene Land. Entscheidende Füllwerte thematisieren die Sorge um den Staat, darunter um seine Wirtschaft, z. B. durch das Zahlen von Steuern, oder um seine politische Position in der Welt, u. a. durch politisches Engagement der Bürger (wie z. B. ihre Teilnahme an Wahlen), sowie die Sorge um die unmittelbare Umgebung (z. B. Sauberkeit) und die Sorge um Mitmenschen (21 %). Eine relativ extreme Position spricht Treue, die vorhin schon genannte Disziplin und Oberherrschaft an; auch die Verteidigung des Landes wird genannt, selbst wenn jenes falsch handelt, (9 %). Patriotismus bedeutet in diesem Zusammenhang Dienst an der Gesellschaft, Arbeiten für Gerechtigkeit, eine gute Verteilung der Güter in der Welt und Engagement für die Weltgemeinschaft. Dabei taucht hier der Aspekt der Hingabe auf, der nicht nur eine staats- oder nationalbezogene Gemeinschaft, sondern auch die Weltgemeinschaft umfasst. Unter Unterstützung des Landes wird aber auch konstruktive Kritik seitens der Bürger verstanden, die im Eingestehen von Mängeln, Ehrlichkeit bestehen soll. Offenheit und Engagement der Bürger resultieren aus dem Konzept des Patriotismus als Teil der Demokratie. Der Fokus soll auf der Zukunft liegen, nicht auf einer Nostalgie oder Romantik (34 %). Offenheit und Respekt gegenüber anderen Nationen und Menschen gleicher, aber auch anderer Herkunft gehören zu den zentralen Füllwerten, die blinden Patriotismus als negativ, dagegen eine vernünftige Identifikation mit eigenem Zuhause als wünschenswert erscheinen lassen (26 %). 21 % der Probanden sprechen sich gegen extremen, unbegründeten Stolz und Hass gegenüber fremden Menschen sowie extreme Liebe, Nationalismus bzw. »negativen« Patriotismus aus, der sich leicht in Nationalismus oder Chauvinismus verwandeln kann. Die traditionelle Konzeptualisierung des Patriotismus als Liebe bzw. Stolz (ohne die negative Konnotation mit Extremismus), der Glaube an die Priorität des eigenen Landes in der Welt, das Zugehörigkeitsgefühl in Bezug auf den Ort, in dem man geboren ist, werden durch weitere universelle Werte des Patriotismus in positivem Sinne ergänzt, die sich grundsätzlich auf das Hochhalten von

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Treue und Respekt gegenüber der Kultur sowie die Identifikation mit der Sprache und Geschichte, den Traditionen, aber auch der Vermittlung der Kultur in der Welt beziehen. Darunter taucht eine starke emotionale Zuneigung auf, die die Achtung vor Nationalfarben und Nationalliedern miteinschließt. In den Vordergrund tritt Patriotismus als ein Faktor, der Verbundenheit herstellt (56 %).

5.

Fazit

Die Ergebnisse der vergleichenden Analyse lassen die Feststellung zu, dass sowohl in der deutschen als auch in der britischen Sprachgemeinschaft der auf die ethnische Herkunft bezogene, in der Kultur schon längst etablierte Begriff Patriotismus in Frage gestellt wird. Zwar zeigen sich unter dominierenden Standardwerten die lexikographisch verfestigten Werte, die positive Konnotationen aufweisen, wie z. B. Liebe, Stolz, Zuneigung und Verbundenheit, sie sind aber in beiden Sprachen unterschiedlich ausgeprägt. Im Deutschen tritt bei den Kontrasten Emotionalität mit dem Aspekt der Geborgenheit des Heimatsgefühls sowie der Identifikation in den Vordergrund, im britischen Englisch dagegen tauchen Verpflichtung mitsamt Dankbarkeit, Zufriedenheit und Loyalität gegenüber dem eigenem Staat auf, die jedoch Kritik und Widerspruch miteinbeziehen. Dem Patriotismus im Deutschen kommt eine entscheidende soziale Rolle zu, indem neben sozialer Gerechtigkeit, die im britischen Englisch relativ stark vertreten ist, Aufrechterhaltung der Kultur, Garantie der nationalen Identität und somit Prävention vor Verfremdung sowie Sinnstiftung für die eigene Existenz fokussiert werden. Dies spiegelt sich u. a. wider bei der Berufung auf die Religion und christliche Werte sowie ein Ausüben der Kultur – hier vor allem mit Fokus auf der deutschen Sprache. Die Besonderheit des britischen Patriotismus hingegen beruht darauf, das Engagement des Bürgers im Staatsleben und bei der Entwicklung des Landes hervorzuheben. Im Deutschen lässt sich grundsätzlich eine höhere Ausdifferenzierung von Leerstellen und dazugehörigen Werten beobachten – im britischen Englisch hingegen überwiegen generelle Aussagen (selbst die Bezeichnungen Vaterland, Heimat, Land im Deutschen drücken kognitiv-semantische Unterschiede aus). In beiden Kulturgemeinschaften wird ein neuer Begriff Patriotismus in Anlehnung an die Leerstellen Multikulturalismus und Globalisierung konstruiert. Die Idee der Nation als Prinzip des Patriotismus wird dabei abgelehnt. Die diesbezüglichen standardisierten Werte im Deutschen entwickeln sich unter Negierung des Herrschaftsdenkens und einer Respektlosigkeit gegenüber anderen Völkern bzw. ihrer Herabwürdigung. Dabei wird Liebe oder Stolz als vernunftwidrig, unmotiviert, übertrieben und nationalistisch erklärt, wobei auf die geschichtliche Grundlage des Missbrauchs des Patriotismus verwiesen wird.

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Daraus ergibt sich das Postulat einer Offenheit und Toleranz. Für die britische Gesellschaft ist der Multikulturalismus schon längst eine Tatsache, die historisch begründet ist. Der etablierte Multikulturalismus in Großbritannien liegt der Skepsis gegenüber dem ethnisch motivierten Patriotismus zugrunde, aber zugleich einem neuen Konzept der Nation und des Patriotismus, das in der Regel multiethnisch sein soll. Demzufolge erscheint beispielsweise Monarchie (in Opposition zur Demokratie) als Antonym des Patriotismus. Im Kontext der Überheblichkeit der Briten wird die Einheit Großbritanniens in Bezug auf England sowie Europa und die Brexit-Debatte angesprochen. Patriotismus bekommt negative Züge durch den politischen Missbrauch. Der neue britische Patriotismus soll letztendlich die Bewältigung des Denkens in den Kategorien Kolonialismus, Gleichberechtigung, Gleichstellung von Bürgern mit Migrationshintergrund, Integrität mit Europa und soziale Verbundenheit innerhalb Großbritanniens mit einem Akzent auf der Beseitigung sozialer Ungerechtigkeit zur Folge haben. Die Idee des neuen deutschen Patriotismus hingegen kennzeichnet sich durch den Wunsch nach einem gesunden Nationalcharakter, der vorrangig die Abgrenzung von allen nationalen Gedanken voraussetzt, jedoch Spaß an gemeinsamen, auch nationalbegründeten Aktivitäten involviert und Meinungsfreiheit und Enttabuisierung von wirtschaftlicher sowie militärischer Unterstützung des Landes impliziert – wobei der Frieden als unabdingbarer Bestandteil des Patriotismus stets präsent ist. Den britischen Patriotismus kennzeichnet die Idee von Liberalismus und Altruismus, die ganz eindeutig auch durch Informanten der unter ethnischem Aspekt gemischten Gruppe vertreten wird. Grundsätzlich konnten die von den nicht-britischen Befragten angegebenen Definitionen das Konzept des Patriotismus als Wert sogar aus ihrer quasi »gegensätzlichen« Perspektive untermauern. Patriotismus wird nämlich als Kategorie nationalen Stolzes, rationaler Identifikation, Aufopferung, Rücksichtnahme auf den Staat, seine Politik und Wirtschaft sowie Disziplin und Oberherrschaft einerseits, andererseits als Beachtung aller Mitmenschen, Offenheit, ferner als Arbeit und Engagement für die ganze Welt begriffen. Die Verbindung der extremen Positionen, d. h. einer national- oder staatsorientierten, die eine starke emotionale Bindung des Bürgers mitsamt der Tradition als Grundlage berücksichtigt und der anderen, die blinde Zuneigung und nationalistische Aspekte negiert und für Achtung anderer Nationen und Menschen wirbt, scheint die aktuelle Lage der nicht-britischen Informanten widerzuspiegeln, die in einer anderen als in der britischen Kultur verwurzelt sind, jedoch aktuell in Großbritannien als Studierende Fuß fassen und sich Akzeptanz und Beachtung wünschen. Das naive Bild des Patriotismus im Deutschen und im britischen Englisch weist eine relativ starke Beeinflussung durch die historische sowie die gegenwärtige politisch-soziale Situation auf. Der deutsche Patriotismus tritt eindeutig

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als Gewünschtes in Erscheinung, dem ein besonderes Gewicht zugeschrieben wird, und zwar sollen einerseits das Gefühl der Unsicherheit, der Verfremdung und des Mangels an Identität, die durch die Folgen der Globalisierungsprozesse bzw. Migrationskrise verursacht wurden, bewältigt werden, andererseits soll der in der Nazizeit in schlechten Ruf gebrachte und heute noch tabuisierte Begriff von nationalistischen Aspekten gelöst werden und so ein tolerantes, weltoffenes und friedliches Deutschland vermitteln. Dagegen streitet der britische Patriotismus die Idee der Nation als seine Grundlage möglicherweise aufgrund der Eingliederung von Bürgern aus den ehemaligen Kolonialstaaten ab, wodurch Parallelen mit dem deutschen Konzept des Verfassungspatriotismus gezogen werden können. In dem Motto Einheit drückt sich der Wunsch nach Bewältigung der Diskriminierung und nach Gerechtigkeit im sozialen und politischen Leben aus; die Wurzeln dieser Aspekte sind u. a. in der imperialistischen Vergangenheit und in der Struktur der Klassengesellschaft zu finden.20 Abschließend lässt sich feststellen, dass die experimentellen Daten den Status des Patriotismus als Wert sowohl in der deutschen als auch in der britischen Sprachgemeinschaft belegt haben – selbst wenn unterschiedliche Werte und dazu noch unterschiedliche Grade bei der Spezifizierung des Konzepts eine Rolle spielten und wenn eine kritische Auffassung des »alten« Patriotismus die semantisch positive Neugestaltung des Begriffs umso mehr voraussetzte.

20 Die Meinung wurde u. a. in Anlehnung an die Ergebnisse der mündlichen Befragung formuliert, die parallel an die schriftliche Umfrage durchgeführt wurde.

Monika Grzeszczak (Lublin)

Stabilität und Variabilität des Demokratiebegriffs im Deutschen1

Abstract Der Beitrag setzt sich zum Ziel, das Verständnis des Demokratiebegriffs im Deutschen nach der Methode der »kognitiven Definition« zu rekonstruieren. Dieser Definitionstyp geht über das Paradigma der klassischen Definition hinaus und erfasst ganze Spektra an »kategorialen, charakteristischen, evaluativen« Eigenschaften, die einem Begriff durch die Mitglieder einer gesellschaftlich-kulturellen Gemeinschaft zugeschrieben werden. Als Materialbasis dienen dabei drei Arten von Quellen, und zwar : Wörterbücher des Deutschen, in denen der Zustand des sprachlichen Systems dokumentiert ist, experimentelle Befragungen sowie Pressetexte. Die durch diese Datentriangulation erhobenen sprachlichen Daten werden anschließend herangezogen, um eine einheitliche synthetische, integrierte kognitive Definition des Begriffs ›Demokratie‹ aufzustellen, die eine Einsicht in die Struktur des Basisbegriffes gewähren soll. Dies eröffnet wiederum die Möglichkeit, besondere Arten des Gebrauchs (der Profilierung/ Modifizierung) des Demokratiebegriffs anhand spezialisierter ideologischer Diskurse aufzuzeigen, und zwar des linksliberalen, liberalkonservativen, linken, feministischen und christlichen (katholischen wie evangelischen) Diskurses.

1.

Einleitung

Die Lubliner Wissenschaftlerin Stanisława Niebrzegowska-Bartmin´ska stellte in ihrem in der Zeitschrift »Etnolingwistyka« (»Ethnolinguistik«) erschienenen Artikel mit dem Titel »Über verschiedene Varianten der lexikographischen Definition – von der Taxonomie bis zum Kognitivismus« (»O rjz˙nych wariantach definicji leksykograficznej – od taksonomii do kognitywizmu«) fest, dass »die Ziele, Methoden und Objekte des Definierens […], insbesondere im Zu1 Der Beitrag stellt eine »spezifisch« deutsche Variante von Demokratie dar. Eine »spezifisch« polnische Variante des Demokratiebegriffs wurde in der folgenden Arbeit präsentiert: Grzeszczak, Monika: Poje˛cie ›demokracji‹ w je˛zyku polskim. In: Wartos´ci w je˛zykowo-kulturowym obrazie ´swiata Słowian i ich sa˛siadjw. Hrsg. von Stanisława Niebrzegowska-Bartmin´ska/Dorota Pazio-Wlazłowska. Lublin: Wydawnictwo Uniwersytetu Marii CurieSkłodowskiej 2019, S. 201–222. (Koncepty i ich profilowanie; Bd. 5).

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Monika Grzeszczak

sammenhang mit dem Brechen traditioneller strukturalistischer Paradigmen und dem Entstehen neuer Strömungen kognitiver und anthropologisch-kultureller Orientierung«,2 im Laufe der letzten fünfzig Jahre zum Schlüsselthema der linguistischen Reflexion wurden. In den Diskussionen, die im Bereich der theoretischen Semantik geführt wurden, prallten in dieser Zeit zwei »polar unterschiedliche Konzeptionen« aufeinander. Den traditionellen, auf strukturellsemantischen (und in der Tat taxonomischen) Prinzipien beruhenden, den Definitionsinhalt nur auf die »notwendigen und hinreichenden« Merkmale beschränkenden »minimalistischen« Definitionen wurde das Modell der »maximalistischen« Definitionen gegenübergestellt. Letztere wurden als »semantischkulturelle Explikationen« betrachtet, die darauf abzielen, alle – »sprachlich, kommunikativ und kulturell relevanten« – Eigenschaften eines Objekts anzugeben.3 Die beinahe zur selben Zeit – und unabhängig voneinander – entstandenen Konzeptionen der maximalistischen Definitionen von Jerzy Bartmin´ski4 und Anna Wierzbicka5 stehen somit im Gegensatz zur minimalistischen Art und Weise des Definierens von Bedeutungen. In der polnischen Linguistik werden Bartmin´skis Thesen inzwischen »als Durchbruch in der herkömmlichen Beschreibungstradition sowie als Versuch, einen neuen Trend in der Metalexikografie zu bestimmen«6 angesehen.7 Ziel des vorliegenden Beitrags ist der Versuch, das Verständnis von Demokratie in der deutschen Sprache zu rekonstruieren sowie die Art und Weise der Konzeptualisierung dieses Begriffs im deutschen öffentlichen Diskurs am Ende des 20. Jahrhunderts und im ersten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts darzulegen. 2 Niebrzegowska-Bartmin´ska, Stanisława: O rjz˙nych wariantach definicji leksykograficznej – od taksonomii do kognitywizmu. In: Etnolingwistyka 30, 2018, S. 259–284. 3 Ebd., S. 260–261. 4 Bartmin´ski, Jerzy : Załoz˙enia teoretyczne słownika. In: Słownik ludowych stereotypjw je˛zykowych. Zeszyt prjbny. Opracował zespjł w składzie Jan Adamowski et al. Wrocław: Wydawnictwo Uniwersytetu Wrocławskiego 1980, S. 7–35; Bartmin´ski, Jerzy : Definicja leksykograficzna a opis je˛zyka. In: Słownictwo w opisie je˛zyka. Hrsg. von Kazimierz Polan´ski. Katowice: Wydawnictwo Uniwersytetu S´la˛skiego 1984, S. 9–21; Bartmin´ski, Jerzy : Definicja kognitywna jako narze˛dzie opisu konotacji słowa. In: Konotacja. Hrsg. von Jerzy Bartmin´ski. Lublin: Wydawnictwo UMCS 1988, S. 169–183. 5 Wierzbicka, Anna: Lexicography and Conceptual Analysis. Karoma: Ann Arbor 1985. 6 Niebrzegowska-Bartmin´ska, O rjz˙nych wariantach definicji leksykograficznej – od taksonomii do kognitywizmu. 2018, S. 261. 7 Unter den zahlreichen Arbeiten von Bartmin´ski – auch der von ihm mitverfassten – die in vielen Sprachen veröffentlicht wurden, kann aus der Perspektive des deutschen Rezipienten der folgende Artikel als Muster für die Anwendung der maximalistischen (kognitiven) Definition herausgegriffen werden: Bartmin´ski, Jerzy/Z˙uk, Grzegorz: Polnisch rjwnos´c´ ›Gleichheit‹ im semantischen Netz. Kognitive Definition der rjwnos´c´ ›Gleichheit‹ im Polnischen. In: Normen- und Wertbegriffe in der Verständigung zwischen Ost- und Westeuropa. Akten der internationalen Arbeitstagung 27./28. Februar 2006 in Jena. Hrsg. von Bettina Bock/Rosemarie Lühr. Frankfurt/M.: Peter Lang 2007, S. 33–68.

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Methodologische Grundlagen bilden die Prämissen der kognitiven Ethnolinguistik in der von der »Lubliner Ethnolinguistischen Schule« erarbeiteten, definierten und operationalisierten Version8. Gegenstand dieses Bereichs linguistischer Forschung ist »die Sprache in all ihren Varietäten, einschließlich der Umgangssprache, in ihrem Verhältnis zu Kultur, Mensch und Gesellschaft.«9 Indem die Lubliner Ethnolinguistik von der Sprache ausgeht und diese in den Vordergrund stellt, versucht sie »den Menschen sowie dessen Art und Weise der Konzeptualisierung der Welt zu ergründen.«10 Ihr Forschungsansatz nähert sich sowohl der synchronischen amerikanischen Ethnolinguistik (Edward Sapir, Benjamin Lee Whorf) als auch der diachronischen russischen Ethnolinguistik (der Schule von Wiaczesław W. Iwanow und Władimir N. Toporow; der Schule von Nikita I. Tołstoj und Swietłana M. Tołstoj) an, tendiert dabei jedoch zur panchronischen Auffassung. Sie berücksichtigt einerseits »die Fakten aus der Vergangenheit«, die als »Erbe in der Gegenwart« vorhanden sind, andererseits befasst sie sich mit den Fragen der Gegenwartssprache.11 Mit der semantischen Forschung von Anna Wierzbicka12 steht sie in engem Zusammenhang. Die begriffliche Schlüsselkategorie der Lubliner Schule ist das sprachliche Weltbild (SWB; pol. »je˛zykowy obraz s´wiata«/JOS; engl. »linguistic view of the world«). Dieser Terminus, der sich aus zwei Quellen, nämlich der deutschen idealistischen Philosophie und Sprachwissenschaft (Wilhelm von Humboldt, Leo Weisgerber, Helmut Gipper) sowie der amerikanischen Anthropologie (Edward Sapir, Benjamin Lee Whorf) speist, wird als »eine in der Sprache enthaltene Wirklichkeitsinterpretation, die sich als Menge von Denkmustern und 8 Dieses Terminus oder seiner anderssprachigen Entsprechungen (»die Lubliner (Ethnolinguistische) Schule«, engl. »the Ethnolinguistic School of Lublin«/»the Lublin School of Poland«/»Lublin school of cognitive ethnolinguistics«) bedienten sich unter anderem: Czachur, Waldemar: Dyskursywny obraz ´swiata. Kilka refleksji. In: tekst i dyskurs – text und diskurs 4, 2011, S. 79–97; Underhill, James W.: Ethnolinguistics and Cultural Concepts. Truth, Love, Hate and War. Cambridge: Cambridge University Press 2012, S. 229; Zinken, Jörg: The Ethnolinguistic School of Lublin and Anglo-American cognitive linguistics. In: Aspects of Cognitive Ethnolinguistics. Von Jerzy Bartmin´ski. Sheffield/Oakville: Equinox 2012, S. 1–5. 9 Niebrzegowska-Bartmin´ska, Stanisława: Badania etnolingwistyczne w Lublinie. In: Poznan´skie Spotkania Je˛zykoznawcze 13, 2004, S. 79–89. 10 Bartmin´ski, Jerzy : Czym zajmuje sie˛ etnolingwistyka. In: Akcent, 1986, Nr. 4, S. 16–22. 11 Bartmin´ski, Jerzy : Lubelska etnolingwistyka. In: Analecta, 2002, H.1–2, S. 29–42. 12 Wierzbicka, Lexicography and Conceptual Analysis. 1985; Wierzbicka, Anna: Nazwy zwierza˛t. In: O definicjach i definiowaniu. Hrsg. von Jerzy Bartmin´ski/ Ryszard Tokarski. Lublin: Wydawnictwo UMCS 1993, S. 251–267; Wierzbicka, Anna: Understanding Culture Through Their Key Words. English, Russian, Polish, German, and Japanese. Oxford: Oxford University Press 1997; Wierzbicka, Anna: Je˛zyk – umysł – kultura. Wybjr prac pod red. Jerzego Bartmin´skiego. Warszawa: Wydawnictwo PWN 1999; Wierzbicka, Anna: Semantyka. Jednostki elementarne i uniwersalne. Przeł. Adam Głaz. Lublin: Wydawnictwo UMCS 2006. Siehe auch: Bartmin´ski, Jerzy : In the Circle of Inspiration of Anna Wierzbicka. The Cognitive Definition – 30 Years Later. In: Russian Journal of Linguistics 22, 2018, S. 749–769.

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Monika Grzeszczak

Urteilen über die Welt erfassen lässt«, definiert. »Dies können Denkmuster/ Urteile sein, die entweder in der Sprache selbst, in ihren grammatikalischen Formen, im Wortschatz, in klischeehaften Texten (z. B. in Sprichwörtern) fixiert oder durch die Sprachformen und Texte impliziert sind.«13 Den angenommenen methodologischen Annahmen entsprechend wird zunächst darauf abgezielt, das sogenannte »Basisstereotyp/Basiskonzept«14 der ›Demokratie‹ im Deutschen zu rekonstruieren. Das Stereotyp/Konzept – im Lubliner Kreis als »ein Element der Kultur« sowie »eine Einheit des sprachlichen Weltbildes« verstanden – besteht »nicht nur aus kognitiven, sondern auch aus emotiven und pragmatischen Inhalten, die auf individuellen und gesellschaftlichen Erfahrungen von Menschen basieren.«15 Als Werkzeug zur Beschreibung des Basis-Stereotyps dient die kognitive Definition, die sich darauf konzentriert, »die in einer Sprache eingeprägten kognitiven Inhalte sowie die Art und Weise der Strukturierung derselben durch die Sprache wiederzugeben.«16 Ihre Idee »ist in der Forderung verankert, die Bedeutung nicht als abstraktes, sondern als subjektives Dasein zu betrachten, als das, was die Menschen unter bestimmten Worten verstehen.«17 Des Weiteren wird versucht, die nachfolgende Frage zu beantworten: Welche Merkmalbündel werden der ›Demokratie‹ in den spezialisierten öffentlichen Diskursen, die ideologisch und weltanschaulich differenziert sind, zugeschrieben?18 Die einzelnen Diskurstypen werden nach Bartmin´ski – in Anlehnung an 13 Bartmin´ski, Jerzy : Punkt widzenia, perspektywa, je˛zykowy obraz s´wiata. In: Profilowanie poje˛c´. Wybjr prac. Hrsg. von Jerzy Bartmin´ski. Lublin: Wydawnictwo UMCS 1993, S. 90–107. Siehe dazu auch: Bartmin´ski, Jerzy : Der Begriff des sprachlichen Weltbildes und die Methoden seiner Operationalisierung. In: tekst i dyskurs – text und diskurs, 2012, H. 5, S. 261–289. Alle Zitate aus dem Polnischen wurden von der Autorin übersetzt. 14 An die bereits gemachten Konkretisierungen anknüpfend wird hier in Anlehnung an Bartmin´ski und Chlebda der Terminus Stereotyp synonym mit dem Terminus Konzept verwendet. Bartmin´ski, Jerzy/Chlebda, Wojciech: Problem konceptu bazowego i jego profilowania – na przykładzie polskiego stereotypu ›Europy‹. In: Etnolingwistyka 25, 2013, S. 69–95. 15 Ebd., S. 71. Siehe dazu auch: Gryshkova, Nina: Samostijnost w je˛zyku ukrain´skim. In: Wartos´ci w je˛zykowo-kulturowym obrazie ´swiata Słowian i ich sa˛siadjw. Hrsg. von Maciej Abramowicz/Jerzy Bartmin´ski/Iwona Bielin´ska-Gardziel. Lublin: Wydawnictwo UMCS 2012, S. 223–239. 16 Bartmin´ski, Definicja kognitywna jako narze˛dzie opisu konotacji słowa. 1988, S. 173. 17 Bartmin´ski, Jerzy : Niektjre problemy i poje˛cia etnolingwistyki lubelskiej. In: Etnolingwistyka 18, 2006, S. 77–90. 18 Im Lubliner Kreis wird der Begriff des Diskurses – wenn auch in sich »unscharf« und vieldeutig – im Unterschied zum Text, der als »sprachliches Produkt eines Kommunikationsereignisses« angesehen wird, im Rahmen der Sprachpraxis (also des Sprachgebrauchs) verortet. Dabei betrifft er nicht »schlicht ›die Sprache in ihrem Gebrauch‹, sondern er umfasst auch den ganzen situativen Kontext, das ganze komplexe Kommunikationssystem, das der Interaktion und der Realisierung der gesteckten Ziele dient. Er ist eine prozessuale und kontextuelle Konzeptualisierung des ›Kommunikationsereignisses‹, dessen gegenständliche,

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Teun van Dijk19 – als »Derivate« verstanden, die aus einer »gemeinsamen kulturellen Basis« (»cultural common ground«)20 abgeleitet werden, in denen das Basis-Stereotyp der ›Demokratie‹ jeweils eigenen Modifikationen unterliegt. Die Diskurstypen beziehen sich nämlich auf unterschiedliche Programme und Ideologien und nehmen vielseitige Modifikationen der Grundbedeutung vor.21 Der Schlüsselbegriff der Methodologie, an den in diesem Teil des Beitrags angeknüpft wird, ist der Begriff der Profilierung. Darunter versteht man »eine subjektive (d. h. ihr Subjekt habende [subjektbezogene – M.G.]) sprachlichbegriffliche Operation, die darin besteht, das Bild eines Objekts spezifisch zu gestalten, indem es unter bestimmten Aspekten aufgefasst wird […] im Rahmen eines bestimmten Wissenstyps, entsprechend den Anforderungen einer bestimmten Sichtweise.«22 Als Materialgrundlage dienen dabei drei Typen sprachlicher Daten: Wörterbücher, experimentelle Untersuchungen (Umfragen) und Texte. Es werden sowohl historische als auch zeitgenössische Wörterbücher der deutschen Sprache, etymologische Wörterbücher, Wörterbücher der Synonyme und sinnverwandten Wörter sowie Fremdwörterbücher einbezogen. Die im Jahre 2019 unter mehr als einhundert deutschen Studierenden gewonnenen Umfragedaten dienten als Grundlage zur Erschließung des »umgangssprachlichen« Verständnisses des Demokratiebegriffs. Was die Textdaten anbelangt, so wurden in erster Linie publizistische Pressetexte berücksichtigt, die weltanschaulichideologisch unterschiedlich geprägten Tages- und Wochenzeitungen von (hauptsächlich) überregionaler Reichweite entnommen wurden. Die Textdaten stammen sowohl aus der eigenen Exzerption von Pressetexten des gegebenen öffentlichen Diskurses als auch – in überwiegendem Maße – aus Internetressourcen, u. a. aus den Suchmaschinen der folgenden Zeitungen: »Süddeutsche

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›erzeugerische‹ Konzeptualisierung der Text ist.« Bartmin´ski, Jerzy/Niebrzegowska-Bartmin´ska, Stanisława: Tekstologia. Warszawa: Wydawnictwo Naukowe PWN 2009, S. 32. Dijk, Teun A. van: Dyskurs polityczny i ideologia. Przeł. Aneta Wysocka. In: Etnolingwistyka 15, 2003, S. 7–28. Die gemeinsame kulturelle Basis beruht »auf dem gesunden Menschenverstand« und sie ist »ideologiefern«. »Sie umfasst Normen und Werte, die von allen Mitgliedern einer sprachlichkulturellen Gemeinschaft geteilt werden.« Bartmin´ski, Jerzy/Z˙uk, Grzegorz: Poje˛cie ›rjwnos´ci‹ i jego profilowanie we wspjłczesnym je˛zyku polskim. In: Etnolingwistyka 21, 2009, S. 47–67. Bartmin´ski, Jerzy : Wartos´ci i ich profile medialne. In: Oblicza komunikacji. Ideologie w słowach i obrazach. Hrsg. von Irena Kamin´ska-Szmaj/Tomasz Piekot/Marcin Poprawa. Wrocław: Wydawnictwo Uniwersytetu Wrocławskiego 2008, S. 23–41. Bartmin´ski, Jerzy/Niebrzegowska Stanisława: Profile a podmiotowa interpretacja ´swiata. In: Profilowanie w je˛zyku i w teks´cie. Hrsg. von Jerzy Bartmin´ski/Ryszard Tokarski. Lublin: Wydawnictwo UMCS 1998, S. 211–224. Siehe auch: Czachur, Waldemar : Diskursive Weltbilder im Kontrast. Linguistische Konzeption und Methode der kontrastiven Diskursanalyse deutscher und polnischer Medien. Wrocław: Oficyna Wydawnicza ATUT 2011, S. 164.

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Zeitung«, »Die Zeit«, »Frankfurter Allgemeine Zeitung«, »Die Tageszeitung« sowie dem »Digitalen Wörterbuch der deutschen Sprache des 20. Jahrhunderts. Zeitungskorpora« (=DWDS ZK).23 Aus Platzgründen wird im vorliegenden Beitrag das Verständnis der Demokratie im Lichte von drei Quellentypen (Wörterbuch-Umfrage-Text), die im Weiteren als Grundlage für die synthetische kognitive Definition des Demokratiebegriffs gelten, nur skizzenhaft dargestellt. Lediglich skizzenhaft wird auch die Art und Weise der Konzeptualisierung des zu analysierenden Begriffs im Rahmen der ausgewählten Diskurstypen präsentiert.24 Der Darstellung des Demokratiebegriffsverständnisses im Lichte der Umfrage- und Textdaten geht eine kurze Schilderung der Bedeutungsentwicklung des Lexems Demokratie vom 16. Jahrhundert bis zur Gegenwart voraus. Dabei werden – einerseits – stabile, konstante Merkmale, die in der Semantik des Lexems fest verwurzelt sind, wie auch – andererseits – variable Merkmale sowie semantische Verschiebungen, die sich im Laufe der nachfolgenden Jahrhunderte bis in die Gegenwart vollzogen, aufgezeigt.

2.

Das Lexem Demokratie im Spiegel der Wörterbuchdaten

Das Lexem Demokratie25 hatte in früheren Zeiten einen engen Bedeutungsumfang. Dies geht aus dem historischen »Frühneuhochdeutsche[n] Wörterbuch«26 hervor, das den Wortschatz der hochdeutschen Sprache von der Mitte des 14. bis zur Mitte des 17. Jahrhunderts umfasst.27 Es definiert die Demokratie als 23 (Zugriff am 31. 07. 2019). 24 Das sprachliche Bild des Demokratiebegriffs samt seiner Profilierung wurde in der folgenden Monographie dargestellt: Grzeszczak, Monika: Poje˛cie ›demokracji‹ i jego profilowanie w polskim i niemieckim dyskursie publicznym (1989–2009). Lublin: Towarzystwo Naukowe KUL 2015. 25 In verschiedenen Varianten geschrieben: im 16. Jahrhundert in der lateinischen Form democratia ›Herrschaft des Volks‹, danach in der Form democraty (1592); ab 1639 als Democratey. Kluge, Friedrich: Etymologisches Wörterbuch der deutschen Sprache. Bearb. von Walther Mitzka. 20. Aufl. Berlin: Walter de Gruyter 1967, S. 126. (1. Aufl. 1883); Paul, Hermann: Deutsches Wörterbuch. Bedeutungsgeschichte und Aufbau unseres Wortschatzes. 10., überarbeitete und erweiterte Aufl. von Helmut Henne/Heidrun Kämper/Georg Objartel. Tübingen: Niemeyer 2002, S. 214. (1. Aufl. 1897). 26 Goebel, Ulrich/Lobenstein-Reichmann, Anja/Reichmann, Oskar (Hrsg.): Frühneuhochdeutsches Wörterbuch. Berlin/New York: Walter de Gruyter 1989–2013. Bd. 1–11. (begründet von Robert R. Anderson/Ulrich Goebel/Oskar Reichmann; Bd. 5 Lieferung 1 ddeube 2006, bearb. von Markus Denkler/Dagmar Hüpper/Oliver Pfefferkorn/Jürgen Macha/ Hans-Joachim Solms). 27 Das Lexem Demokratie wird im »Deutschen Wörterbuch« der Gebrüder Grimm, einem der bedeutendsten und umfangreichsten lexikographischen Werke, nicht registriert. Grimm, Jacob/Grimm, Wilhelm: Deutsches Wörterbuch. 16 Bde. in 32 Teilbänden. Leipzig/(später)

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»Herrschafts- und Gesellschaftsform, bei der die Staatsgewalt vom Volk ausgeht.« In der angeführten Definition werden drei Merkmale der Demokratie benannt, und zwar : (1) Regierungsform, (2) Organisationsform einer Gesellschaft, (3) in der der Inhaber der Staatsgewalt (der Souverän) das Volk ist, das im 16. und 17. Jahrhundert als »gemeines Volk, Plebs, Pöbel«28 aufgefasst wird. Die Bedeutungsentwicklung des Lexems Demokratie hin zu einer Herrschaftsform, in der die Staatsgewalt vom ganzen Volk ausgeübt wird,29 begann im 18. Jahrhundert. In dem von Johann Ch. Adelung herausgegebenen allgemeinsprachlichen »Grammatisch-kritischen Wörterbuch der hochdeutschen Mundart […]«30 wird das Lexem Demokratie wie folgt erläutert: »diejenige Verfassung des gemeinen Wesens, wo sich die höchste Gewalt bey dem Volke, oder allen einzelnen Gliedern ohne Unterschied befindet.« In der angegebenen Definition wird im Definiens ein neuer Oberbegriff (Hyperonym) zu Demokratie eingeführt: (4) Verfassung. Dabei wird darauf verwiesen, dass es sich beim Inhaber der höchsten Gewalt (5) um alle Mitglieder (der jeweiligen Gemeinschaft) handelt. Das spätere, aus dem 19. Jahrhundert stammende, als »ein wichtiges Verdeutschungswörterbuch« geltende »Allgemeine verdeutschende und erklärende Fremdwörterbuch […]« von Johann Ch. A. Heyse,31 dessen Initiator im Vorwort nationale und patriotische Ziele deklariert, registriert neben den Synonymen »die Volksherrschaft, Volksregierung, das Volksreich oder Bürgerreich« die folgende Bedeutung des Lexems Demokratie: »eine Staatsverfassung, in welcher

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Stuttgart: Verlag von S. Hirzel 1854–1961. (Quellenverzeichnis: Leipzig 1971; Nachdrucke: Leipzig 1966–1971, München 1984, 1999). Auf die Gleichsetzung der Demokratie mit der Herrschaft des Pöbels (»des gemeinen Menschen«) verweisen u. a. die folgenden Belege: »Democratia, Herschung des gemeynen volcks« (Dasypodius 1536); »Democratia, da viel vom gemeinen Mann regieren« (Luther 1539); »Democratia, herrschung und regierung des gemeinen volcks« (Maaler 1561); »democtratia oder das regiment in welchem das volckh herschet« (Ertinger 1697). Schulz, Hans/ Basler, Otto: Deutsches Fremdwörterbuch. Berlin/New York: Walter de Gruyter 1913–1983. Bd. 1–7. (2. Aufl. Berlin/New York: Walter de Gruyter 1995–2004, Bd. 1–5). Diese Bedeutung bestätigt u. a. das folgende Zitat: »Democratie, ist eine ordentliche Regiments-Form, in welcher die Majestät bey dem gesammten Volck ist.« (Zedler 1734 = Zedler, Johann H.: Großes vollständiges Universallexikon aller Wissenschaften und Künste. Halle–Leipzig 1734. Bd. 7.). Zitiert nach: Paul, Deutsches Wörterbuch. 2002, S. 214. Adelung, Johann Christoph/Soltau, Dietrich Wilhelm/Schönberger, Franz Xaver (Hrsg.): Grammatisch-kritisches Wörterbuch der hochdeutschen Mundart mit beständiger Vergleichung der übrigen Mundarten, besonders aber der oberdeutschen. Wien: Bauer 1811. Bd. 1–4. (1. Aufl. Leipzig 1774–1786, 5 Bde.; 2. Aufl. Leipzig 1793–1801, 4 Bde.; Supplementband 1818). Heyse, Johann Christian August: Allgemeines verdeutschendes und erklärendes Fremdwörterbuch mit Bezeichnung der Aussprache und Betonung der Wörter nebst genauer Angabe ihrer Abstammung und Bildung. Neu bearb. von Karl Wilhelm Ludwig Heyse. 10. Ausgabe. Hannover : Hahnsche Hof-Buchhandlung 1848. (1. Aufl. Oldenburg 1804).

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das Volk, d.i. [das ist, im Sinne von ›das heißt, das bedeutet‹ – M.G.] die Gesammtheit der Bürger, die höchste sowohl gesetzgebende, als ausübende Gewalt hat.« Gemäß der angeführten Definition wird dem Volk (= allen Bürgern) sowohl (6) die Gesetzgebung (Legislative/legislative Gewalt) wie auch die vollziehende Gewalt (Exekutive/exekutive Gewalt) zugestanden. Im 19. Jahrhundert wurde das Lexem Demokratie – mit einer gewissen kritischen Distanz – von Johann Wolfgang von Goethe in der Bedeutung einer auf dem Fundament der (7) Freiheit basierenden Verfassung verwendet.32 Im »Wörterbuch der deutschen Sprache […]« von Daniel Sanders sind drei Bedeutungen des Lexems Demokratie33 verzeichnet, und im späteren »Fremdwörterbuch« dieses Lexikographen kommt eine weitere Bedeutung hinzu.34 In beiden Wörterbüchern wird das Verständnis der Demokratie als Regierungsform und Verfassung bestätigt, in der der wichtigste Inhaber der Gewalt das Volk ist. In beiden Wörterbüchern werden weitere Oberbegriffe zu Demokratie eingeführt, und zwar : (8) Staat, (9) Name einer politischen Partei. Das »Deutsche Wörterbuch« von Hermann Paul35 registriert – neben der ursprünglichen, etymologischen Wortbedeutung (»Volksherrschaft«) sowie der bereits zuvor genannten Bedeutungen – eine neue, übertragene Wortbedeutung der Demokratie, und zwar : (10) »übertr. i. S.v. Gleichberechtigung.«36 Die Bedeutungsdifferenzierung des Lexems Demokratie erfolgte in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts und steht in engem Zusammenhang mit der nach dem Zweiten Weltkrieg entstandenen politischen Situation. In den in der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik (DDR) herausgegebenen Nachkriegswörterbüchern wird eine deutliche Unterscheidung zwischen der 32 Demokratie »als freiheitl. Staatsverfassung, krit.; auch in Korrelation zu ›Aristokratie‹«. Darauf verweist das Zitat aus dem in den Jahren 1819–1822 entstandenen, autobiographischen Prosawerk mit dem Titel »Kampagne in Frankreich«: »Was mir… auffiel, war, dass ein gewisser Freiheitssinn, ein Streben nach D. [Demokratie] sich in die hohen Stände verbreitet hatte; man schien nicht zu fühlen, was alles erst zu verlieren sei, um zu irgend einer Art zweideutigen Gewinnes zu gelangen.« Goethe-Wörterbuch. Hrsg. von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, der Akademie der Wissenschaften in Göttingen und der Heidelberger Akademie der Wissenschaften. Stuttgart/Berlin/Köln: Verlag W. Kohlhammer 1978–2012. Bd. 1–6. (digitalisiert 2004–2009). 33 Und zwar : 1. »Volksherrschaft«; 2. »Verfassung, nach der die höchste Gewalt vom Volke ausgeht«; 3. »Staat mit solcher Verfassung«. Sanders, Daniel/Maclachlan, Ewen/Monteiro, Jos8 Gomes: Wörterbuch der deutschen Sprache mit Belegen von Luther bis auf die Gegenwart. Leipzig: Verlag von Otto Wigand 1860–1865. Bd. 1–2. In der dritten Bedeutung seit Ende des 17. Jahrhunderts. 34 Und zwar : 4. »auch als Name einer nach Zeit und Ort versch. nuancierten Partei«. Sanders, Daniel: Fremdwörterbuch. Leipzig: Verlag von Otto Wigand 1871. Bd. 1–2. In dieser Bedeutung seit der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts. 35 Paul, Deutsches Wörterbuch. 2002, S. 214. 36 Ebd. Er versieht diese Bedeutungsexplikation mit dem Ausdruck: »Demokratie der Dichtung« (1835 Gutzkow; Wülfing 1982).

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Demokratie »im Kapitalismus« und der Demokratie »im Sozialismus« vorgenommen, wobei die letztgenannte Demokratieform mit den Bezeichnungen »Volksdemokratie, Volksmacht« gleichgesetzt wird. Die Demokratie »im Kapitalismus« wird hingegen mit »Parlamentarismus«37 in Verbindung gesetzt. In den Wörterbuchdefinitionen38 wird die Demokratie wie folgt aufgefasst: (11) Prinzip, nach dem der wichtigste Inhaber der Gewalt das Volk ist; (12) Art und Weise der Ausübung der politischen Staatsgewalt, die damit verbunden ist, dass (13) allen Bürgern das gleiche Recht zugestanden wird, auf das politisch staatliche Leben Einfluss zu nehmen; (14) Staatsverfassungsform, in der die Gewalt von einem Gesellschaftsteil (von einer beliebigen gesellschaftlichen Klasse) ausgeübt wird. In dem sechsbändigen, von Ruth Klappenbach und Wolfgang Steinitz herausgegebenen »Wörterbuch der deutschen Gegenwartssprache«, dessen erste drei Bände durch eine Zusammenarbeit von Germanisten aus Ost- und Westdeutschland entstanden sind, werden zwei Bedeutungen des Lexems Demokratie angegeben.39 In der dort angeführten Definition weist die Demokratie einige markante Merkmale auf. Sie wird – erstens – als (15) Prinzip des gesellschaftlichen Lebens wahrgenommen, (16) das mit der Mitentscheidung und (17) dem Zusammenwirken aller Mitglieder der jeweiligen Gruppe/Gemeinschaft (bei einem beliebigen Vorhaben) verbunden ist. Zweitens wird sie mit dem Vorhandensein eines Rechtsakts von höchstem Staatsrang, und zwar mit (18) dem Grundgesetz verflochten. Drittens wird die Demokratie mit dem (19) Prinzip der politischen Repräsentation assoziiert, dessen Kern darin besteht, dass die Staatsgewalt durch die vom Volk gewählten Vertreter ausgeübt wird.

37 Görner, Herbert/Kempcke, Günter (Hrsg.): Synonymwörterbuch. Sinnverwandte Ausdrücke der deutschen Sprache. Leipzig: VEB Bibliographisches Institut 1973, S. 157. 38 Siehe die Definitionen des Lexems Demokratie in den folgenden Wörterbüchern: Fremdwörterbuch. Unter Mitwirkung zahlreicher Fachwissenschaftler. Bearb. von den vereinigten Redaktionen im Verlag Enzyklopädie. Sprachwissenschaftliche Leitung Horst Klien. Lektorat Alfred M. Uhlmann. Gesamtleitung Heinrich Becker. Leipzig: Verlag Enzyklopädie 1959; Großes Fremdwörterbuch. Bearb. vom Lektorat Deutsche Sprache des VEB Bibliographisches Institut Leipzig in Zusammenarbeit mit zahlreichen Fachwissenschaftlern. Leitung der Arbeiten Ruth Küfner. 4., durchgesehene Aufl. Leipzig: VEB Bibliographisches Institut 1982; Handwörterbuch der deutschen Gegenwartssprache. Von einem Autorenkollektiv unter der Leitung von Günter Kempcke. Berlin: Akademie-Verlag 1984. Bd. 1–2. 39 Und zwar : 1. »Prinzip, nach dem jeder Einzelne einer Gemeinschaft durch seine Mitbestimmung an der Gestaltung des Ganzen mitwirken kann«; 2. »in einer Verfassung festgelegte Staatsform a) in der die Herrschaft durch vom Volke gewählte Vertreter ausgeübt wird b) in der die Macht auf allen Gebieten des gesellschaftlichen Lebens vom Volke ausgeht, deren Charakter jedoch durch die jeweils herrschende Klasse bestimmt wird.« Klappenbach, Ruth/ Steinitz, Wolfgang (Hrsg.): Wörterbuch der deutschen Gegenwartssprache. Berlin: Akademie-Verlag 1964–1977. Bd. 1–6.

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In den in der Bundesrepublik Deutschland herausgegebenen Wörterbüchern sind die Definitionen des Lexems Demokratie – erwartungsgemäß – vom Einfluss der kommunistischen Ideologie frei. In den dort enthaltenen Definitionen werden vor allem politische und – seltener – soziale Merkmale (Attribute) von Demokratie festgehalten wie zum Beispiel: (20) das Vorhandensein eines Parlaments (einer Volksvertretung), (21) die Suche nach Akzeptanz bestimmter politischer Lösungen, die (22) unter einer parlamentarischen Mehrheit erfolgt, (23) allgemeine,40 (24) freie Wahlen,41 (25) freie Willensbildung.42 Zusammenfassend lässt sich sagen, dass in den historischen und zeitgenössischen Wörterbüchern des Deutschen von einer bis zu vier Bedeutungen des Lexems Demokratie verzeichnet sind. Die semantische Entwicklung des Lexems sowie die Erweiterung seiner Bedeutungen wird dadurch bestätigt. Anhand der genannten Bedeutungsexplikationen ist es gelungen, 25 definierende Merkmale der Demokratie ausfindig zu machen, wobei die politischen Merkmale ausdrücklich exponiert werden, während sich die sozialen Merkmale hiernach platzieren. Beide Merkmalbündel finden ihre Bestätigung in den sogenannten »sprachlichen Beweisen«43. Das Assoziieren der Demokratie mit der (7) Freiheit (dem Freibürger) veranschaulichen – beispielsweise – die Kollokationen »freie Demokratie«, »freiheitliche Demokratie«44 sowie die Bedeutungsexplikationen solcher Derivate wie: Demokrat »ein Freibürger, Freiheitsfreund«45 ; demokratisch »freiheitlich«46/ »freibürgerlich, freiländisch«; demokratisieren »freibür-

40 Siehe die Definition dieses Lexems in: Duden. Bedeutungswörterbuch. Hrsg. und bearb. von Wolfgang Müller. 2., völlig neu bearbeitete und erweiterte Aufl. Mannheim/Wien/Zürich: Dudenverlag 1985. Bd. 10, S. 175. 41 Siehe die Definition dieses Lexems in: Duden. Deutsches Universalwörterbuch. Bearb. von Günther Drosdowski und der Dudenredaktion. 3., neu bearbeitete und erweiterte Aufl. Mannheim u. a.: Dudenverlag 1996, S. 329. (1. Aufl. 1983). 42 Siehe die Definition dieses Lexems in: Drosdowski, Günther : Duden. Stilwörterbuch der deutschen Sprache. Die Verwendung der Wörter im Satz. 7., völlig neu bearbeitete und erweiterte Aufl. Mannheim/Wien/Zürich: Dudenverlag 1988. Bd. 2, S. 192. 43 Das heißt in Synonymen, Antonymen/Oppositionen, Kollokationen, Zusammenstellungen und Zusammensetzungen, wie auch in den Bedeutungsexplikationen der Derivate sowie in den von den Wörterbuchautoren verzeichneten Verwendungsbeispielen dieses Lexems. Den Terminus »sprachliche Beweise« verwende ich in Anlehnung an Wierzbicka. Nach Ansicht dieser Wissenschaftlerin sollen für »alle in den Definitionen genannten Merkmale« »sprachliche Beweise« angegeben werden. 44 Drosdowski, Duden. Stilwörterbuch der deutschen Sprache. 1988, S. 192. 45 Heyse, Allgemeines verdeutschendes und erklärendes Fremdwörterbuch mit Bezeichnung der Aussprache und Betonung der Wörter nebst genauer Angabe ihrer Abstammung und Bildung. 1848, S. 220. 46 Drosdowski, Günther : Duden. Etymologie. Herkunftswörterbuch der deutschen Sprache. 2., völlig neu bearbeitete und erweiterte Aufl. Mannheim/Wien/Zürich: Dudenverlag 1989. Bd. 7, S. 120.

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gerliche Gesinnungen hegen und äußern«; Demokratismus »der Freibürgersinn«47. Die Bedeutungsexplikationen von Derivaten und Wortverbindungen, in denen sie auftreten, beweisen, dass in der Semantik der Demokratie – neben der Freiheit – auch (26) die Gleichheit der Bürger verankert wird: Demokrat »Anhänger einer Staatsform, in der die Staatsbürger gleich und frei sind.«48 Verallgemeinernd lässt sich feststellen, dass sich mithilfe der durchgeführten Analyse der sogenannten »sprachlichen Beweise« zahlreiche neue »semantische Komponenten«, die im Wesen der Demokratie liegen, erschließen lassen. Unter politischem Aspekt sind dies u. a.: (27) direkte oder indirekte Machtausübung; (28) Herrschaft der Gesellschaftsmehrheit sowie Respektierung des Willens der Mehrheit der Bürger bzw. der parlamentarischen Mehrheit; (29) Vorhandensein von politischen Parteien; (30) Realisierung des Rechtsstaats- und Sozialstaatsprinzips.

3.

Das Verständnis des Demokratiebegriffs im Lichte der Umfragedaten

In experimentellen Untersuchungen, die in der ersten Dekade des Jahres 201949 durchgeführt wurden und an denen über einhundert junge Deutsche teilnahmen, die an verschiedenen Fakultäten und Fachrichtungen an über 20 deutschen Universitäten und Hochschulen studierten, wurden dem Demokratiebegriff

47 Heyse, Allgemeines verdeutschendes und erklärendes Fremdwörterbuch mit Bezeichnung der Aussprache und Betonung der Wörter nebst genauer Angabe ihrer Abstammung und Bildung. 1848, S. 220. 48 Mackensen, Lutz: Deutsches Wörterbuch. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt Taschenbuch Verlag GmbH 1979. Bd. 1–3. 49 Die Umfrage enthielt die folgende offene Frage: »Was macht deiner Meinung nach eine echte Demokratie aus?« Als Vorlage diente eine Frage, die polnischen Studierenden dreimal (1990, 2000 und 2010) gestellt wurde. Ziel der Umfrage war es, »das umgangssprachliche, gängige« Verständnis des Demokratiebegriffs zu erfassen. Die Umfrageergebnisse wurden in der Art und Weise aufgearbeitet, wie es die Arbeitsgruppe der Lubliner Ethnolinguisten unter der Leitung von Bartmin´ski vorgeschlagen hatte. Siehe: Bartmin´ski, Jerzy (Hrsg.): Je˛zyk – wartos´ci – polityka. Zmiany rozumienia nazw wartos´ci w okresie transformacji ustrojowej w Polsce. Raport z badan´ empirycznych. Lublin: Wydawnictwo UMCS 2006. Die Aufbereitung und Ausarbeitung der deutschen Umfrage sowie die vollständige Liste der Universitäten und Hochschulen samt Fakultäten und Fachrichtungen wurde in dem Artikel »Das Bild der ›Demokratie‹ im Deutschen im Lichte experimenteller Untersuchungen (Umfragen)« (»Obraz ›demokracji‹ (›Demokratie‹) w je˛zyku niemieckim w s´wietle badan´ ankietowych«) dargestellt. Artikel im Druck.

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zahlreiche Merkmale zugeschrieben,50 die auf drei grundlegende Aspekte zurückgeführt werden können: Auf einen sozialen (50,58 %), politischen (36,64 %) und – in geringerem Grad – auf einen ethischen (7,27 %) Aspekt.51 Das am stärksten stabilisierte Merkmal, das die semantische Dominante des deutschen Demokratiebegriffs ausmacht, ist die Freiheit des Menschen (insgesamt 76 Nennungen), die vielseitig aufgefasst wird. Die meisten Befragten hielten die Meinungs- und Entscheidungsfreiheit für essenziell; seltener gaben sie die Wahlfreiheit, Pressefreiheit (breiter gefasst auch Medienfreiheit) sowie Versammlungsfreiheit, »die Freiheit […], an der Politik mitzuwirken«, Religionsund Glaubensfreiheit an. Diese breit verstandene Freiheit wird von der Gleichberechtigung/Gleichheit (insgesamt 27 Nennungen) begleitet, die wie folgt verstanden wird: »gleiches Recht/gleiche Rechte für alle«, Chancengleichheit, »Gleichberechtigung aller am politischen Geschehen«. Über den Kern des Demokratiebegriffs entscheiden auch die folgenden weiteren, nachrangigen Merkmale: Akzeptanz (insgesamt 9X angegeben; »Akzeptanz anderer Meinungen«; »Jede Meinung, Ansicht wird akzeptiert«; »In einer Demokratie werden (fast) alle Meinungen akzeptiert, auch wenn sie eher am Rand stehen«); Mehrheitsentscheidung/Mehrheitsentscheid (8X), Respekt (7X), Toleranz (6X), Offenheit (6X), Meinungsaustausch (5X), Pluralismus (4X), Selbstbestimmung (4X), (friedvolles) Miteinander (4X). Die oben genannten – in erster Linie sozialen Merkmale der ›Demokratie‹ – werden von zahlreichen politischen Attributen begleitet. Diese sind folgende: Mitbestimmung und Mitgestaltung (u. a. »Mitbestimmung des Volkes«; »Mitbestimmung aller bei Fragen, die die Zukunft eines Landes etc. betreffen, unabhängig von ethnischen und sozialen Hintergründen«; samt Mitbestimmungsrecht/Mitspracherecht 51 Nennungen); freie Wahlen (19X); (aktive) Teilnahme/(aktive) Partizipation »an politischen und sozialen Fragen« (10X). Auf den weiteren Rangplätzen folgen: Transparenz (insgesamt 6X), Volksherrschaft (5X), Gewaltenteilung (5X), Verfassung (4X; u. a. »Verfassung auf Basis der Menschenrechte«), Wahlrecht (4X), »Politiker als Vertreter des Volkes und nicht des eigenen Willens« (4X). Neue wesentliche Merkmale der Demokratie unter ethischem Aspekt sind hingegen: Gerechtigkeit (9X), Fairness/Ehrlichkeit/keine Korruption (9X), die Überzeugung, dass jeder Mensch wichtig ist (4X; »Alle Menschen sind gleich viel wert«; »Jeder ist willkommen«; »Jeden Bürger, egal welcher Herkunft, Schicht, Alter etc. ernst nehmen«). 50 Die Befragten gaben insgesamt 330 »zitierte Ausdrücke« an, die unter »sinnverwandten Gruppen« zusammengefasst und anschließend auf 56 Metaausdrücke zurückgeführt wurden. 24 Metaausdrücke überschritten die Schwelle von mindestens vier Nennungen. 51 Der psychosoziale (3,92 %), psychische (1,51 %) und kulturelle Aspekt (0,3 %) können als weniger symptomatisch angesehen werden.

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4.

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Der Demokratiebegriff in Textdaten

Das untersuchte publizistische Textmaterial bestätigt, dass in der Konzeptualisierung des Demokratiebegriffs die Merkmale verwurzelt sind, die bereits von den Lexikographen angegeben sowie in der durchgeführten Umfrage festgehalten wurden. Die oben erfasste Merkmalsammlung wird dabei um weitere Merkmale erweitert, vervollständigt und konkretisiert, was unten skizzenhaft dargestellt wird. In der überwiegenden Anzahl der Textbelege (Zitate) wird die Demokratie – im Sinne von »Herrschaftsform/Herrschaftssystem/politischem System« – mit Freiheit in Verbindung gebracht, wie die nachstehende Äußerung zeigt: »Man kann also feststellen, dass die parlamentarische Demokratie die Herrschaftsform ist, bei der die Chance, die Freiheit zu verwirklichen, am höchsten ist.«52 In zahlreichen Kontexten werden verschiedene Arten von Freiheit angeführt, darunter unter anderem: Meinungsfreiheit, Glaubens-, Vereins-, Versammlungsfreiheit, Vereinigungsfreiheit, Organisationsfreiheit, die Freiheit des Denkens, des Gewissens, Demonstrationsfreiheit, Informationsfreiheit, Pressefreiheit, Medienfreiheit. Als wesentliches Fundament der Demokratie werden – häufig – die in der Verfassung ausgeprägten Grundrechte angesehen. Als Grundwerte der Demokratie gelten Freiheit und Gleichheit, wobei manchmal Folgendes angemerkt wird: »Demokratie heißt im Westen [d. h. in Westdeutschland] hauptsächlich Freiheit, im Osten [d. h. in Ostdeutschland] ganz überwiegend Gleichheit.«53 Die Gleichheit wird als »Gleichheit der Rechte und Chancen aller Bürger« sowie als gleiches Stimmrecht bei Entscheidungsprozessen wahrgenommen. Es wird u. a. Folgendes festgestellt: »›Ein Mensch, eine Stimme‹ – dieser zentrale Grundsatz verlangt die unbedingte Gleichheit aller im demokratischen Entscheidungsverfahren.«54 Der in erster Linie auf die deutsche Demokratie nach der Vereinigung bezogene Demokratiebegriff wird auf die Staats- und Gesellschaftsform (das Gesellschaftssystem) bezogen, die sich durch Pluralismus (»pluralistische Demokratie«) und Offenheit (»offene Demokratie«) auszeichnet und in der Personen und Gruppen verschiedener Nationalität und Kultur zusammenleben (»multikulturelle Demokratie«). Die Tatsache, dass die Demokratie auf Rechten, der Verfassung sowie dem Sozialstaatsprinzip basiert, belegen die in den Texten häufig vorkommenden festen Wortverbindungen wie zum Beispiel: »rechtsstaatliche Demokratie«/ »rechtsstaatlich verfasste Demokratie«; »grundgesetzliche Demokratie«/ »konstitutionelle Demokratie«; und »soziale Demokratie«. Zahlreiche Bezeichnungen für die 52 »Die Zeit« vom 23. 04. 1998; DWDS ZK. 53 »Der Tagesspiegel« vom 11. 10. 2002; DWDS ZK. 54 Scheer, Hermann: Demokratie ist nur noch Maske. In: Die Tageszeitung, 27. 02. 2001.

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deutsche Demokratie verweisen auf grundlegende Verfassungsprinzipien wie den Föderalismus und das Sozialstaatsprinzip (»föderale und soziale Demokratie«) oder die Verteidigung der Demokratie gegen politische Gefahren (u. a. gegen den Rechtsextremismus/Rechtsradikalismus, gegen die Dominanz einer Partei; »wehrhafte Demokratie«, »die abwehrbereite Demokratie des Grundgesetzes«). Charakteristisch, gleichzeitig aber auch einigermaßen neu im Verhältnis zu den Wörterbuch- und Umfragedaten, ist – unter wirtschaftlichem Aspekt – der Hinweis auf die Verbindung zwischen Demokratie und Kapitalismus (Marktwirtschaft) (»kapitalistische Demokratie« /»marktwirtschaftliche Demokratie«) sowie die Gleichsetzung der Demokratie mit Wohlstand. Dies bestätigen die folgenden Belege: »Ohne Zweifel ist die Marktwirtschaft das effizienteste Wirtschaftssystem, das existiert. Ihm verdanken wir den raschen Wiederaufbau unseres durch den Zweiten Weltkrieg zerstörten Landes, den Wohlstand unserer Gesellschaft und wohl auch die Stabilität unserer Demokratie.«55 ; »Der K. [Kapitalismus – M.G.] hat erst ungeahnten Wohlstand geschaffen, dann die Demokratie befördert, die ihrerseits den K. krisensicherer gemacht hat.«56

5.

Synthetische kognitive Definition des Demokratiebegriffs

Im Folgenden wird der Versuch unternommen, eine synthetische – aus Platzgründen in zusammengefasster Form präsentierte – kognitive Definition des Demokratiebegriffs im Deutschen zu formulieren, die auf erzählerische Strategien zurückgreift und eine narrative Form aufweist. Sie umfasst aufeinanderfolgend die politischen, sozialen, ethischen und wirtschaftlichen Merkmale des Demokratiebegriffs. [1] [›Demokratie‹] ist eine Herrschafts- und Gesellschaftsform, [2] in der das Volk/die Mehrheit/alle Bürger Inhaber der Staatsgewalt (der Souverän) sind. [3] Jeder Bürger hat das Recht, mitzuentscheiden (sich an Entscheidungen zu beteiligen), verfügt über das gleiche Recht, auf das politisch-staatliche Leben Einfluss zu nehmen, direkt oder indirekt durch seine in freien Wahlen gewählten Vertreter. [4] Grundlegend für eine Demokratie sind weiterhin – unter politischem Aspekt – das Vorhandensein (mehrerer) politischer Parteien und einer Verfassung samt der darin enthaltenen Grundrechte. [5] Die gewählten Volksvertreter bemühen sich um Zustimmung bei der parlamentarischen Mehrheit (Mehrheitsprinzip), deren Wille berücksichtigt (respektiert) werden soll. [6] Unter sozialem Aspekt garantiert die Demokratie den Menschen/allen Bür55 Gräfin Dönhoff, Marion: Wo bleibt das Ethos? In: Die Zeit 28/1996. 56 Joffe, Josef: Zerstört der Kapitalismus die Demokratie? In: Die Zeit 35/2009.

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gern ein breites Spektrum an Rechten und Freiheiten. Dazu zählen u. a. folgende: Meinungsfreiheit, Informationsfreiheit, Medienfreiheit, Pressefreiheit, Glaubens-, Vereins- und Versammlungsfreiheit, Vereinigungsfreiheit, die Freiheit des Denkens, des Gewissens, Organisationsfreiheit, Demonstrationsfreiheit. [7] Sie garantiert allen (ohne Ausnahme) die Gleichberechtigung und Gleichheit von Rechten und Chancen (Chancengleichheit) sowie das gleiche Stimmrecht bei Entscheidungsprozessen. Zum Kern der Demokratie gehören darüber hinaus: [8] Pluralismus, [9] Toleranz und [10] Offenheit. Unter ethischem Aspekt – der allerdings weniger ausgeprägt ist – stellen folgende Charakteristika die wichtigsten Demokratiemerkmale dar : [11] Gerechtigkeit, [12] Fairness/Ehrlichkeit/ keine Korruption sowie [13] die Überzeugung, dass jeder Mensch wichtig ist. Unter wirtschaftlichem Aspekt machen [14] Kapitalismus, Marktwirtschaft und [15] Wohlstand das Wesen der Demokratie aus. Eine solch gängige Demokratievorstellung »unterliegt flexiblen Modifikationen und Veränderungen in der tatsächlichen Kommunikation.« Im Endeffekt entstehen »dynamische und variable Narrationen« über die Demokratie. In den einzelnen Diskurstypen sind unterschiedliche Profile des Demokratiebegriffs vorhanden, die »unterschiedlich geordnete Konfigurationen von [Merkmalen und] Aspekten beinhalten.«57

6.

Profilierung des Demokratiebegriffs in ausgewählten Typen des öffentlichen Diskurses

Durch die Analyse des gesammelten Textmaterials und seine Exemplifizierung wird deutlich, dass dem Basiskonzept der Demokratie auf der Ebene des öffentlichen Diskurses qualitative – unterschiedlich ausgewählte und ausgeprägte – Merkmale zugeschrieben werden. So entstehen mannigfaltige axiologische und ideologische Varianten des Demokratiebegriffs. In diesem Teil des Beitrags wird – wie dies bereits in der Einleitung signalisiert wurde – die Profilierung des Demokratiebegriffs in Zeitungen und Zeitschriften mit folgenden Ausprägungen skizziert: a. linksliberal (»Süddeutsche Zeitung«, »Die Zeit«), b. liberalkonservativ/rechts (»Frankfurter Allgemeine Zeitung«), c. links (»Die Tageszeitung«), d. feministisch (»Emma«), e. christlich: katholisch (»Die Tagespost«) und evangelisch (»Chrismon«). Aus der Perspektive der linksliberalen Medien setzt die Demokratie die Herrschaft der (parlamentarischen) Mehrheit voraus, die die Rechte verschiedener Minderheiten respektiert. Demokratie bedeutet die Vereinbarung der 57 Niebrzegowska-Bartmin´ska, O rjz˙nych wariantach definicji leksykograficznej – od taksonomii do kognitywizmu. 2018, S. 273.

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Monika Grzeszczak

Herrschaft der (parlamentarischen) Mehrheit mit Werten wie Respektierung der Rechte von Minderheiten, »Führung der öffentlichen Debatten auf zivilisierte Art und Weise«, »friedliche Konfliktlösung« unter Einhaltung demokratischer Prozeduren, »Verzicht auf Gewaltanwendung«. Die Demokratie wird stark mit den in der Verfassung festgehaltenen Grundrechten (Freiheits- und Gleichheitsrechten) verbunden, insbesondere mit verschiedensten Arten von Freiheit. Freiheit steht in engem Zusammenhang mit Verantwortung. Gleichheit bezieht sich in erster Linie auf die von der Verfassung garantierte Gleichberechtigung/ Gleichbehandlung von Frauen und Männern. Toleranz und Pluralismus werden als typische, unverzichtbare Merkmale einer Demokratie aufgefasst; dabei wird auf den Pluralismus der Medien und den politischen Pluralismus verwiesen. Es wird die Meinung vertreten, dass die Basispolitik in einer Demokratie die Sozialpolitik sei. Im Diskurs der Medien mit liberalkonservativer Ausrichtung bedeutet Demokratie die Herrschaft der Mehrheit, dabei auch »den Kampf um die Mehrheit« und die Respektierung der Mehrheitsentscheidungen (auch in Weltanschauungsfragen) unter der Annahme, dass die Minderheit zwar Schutz genießt, aber »nicht das Anrecht, die Mehrheit zu überstimmen«. Es werden grundlegende Freiheitsrechte (Grundrechte) geprägt. Freiheit wird mit Verantwortung einerseits sowie mit (innerer und äußerer) Sicherheit andererseits assoziiert. Es wird auf das in der Demokratie zentrale Verfassungsprinzip der Gleichberechtigung von Frauen und Männern verwiesen. Pluralismus wird als Vielfalt von »Ansichten, Bedürfnissen und Interessen« der Bürger verstanden, wobei implicite u. a. auf den politischen und ideologischen Pluralismus hingewiesen wird. Im linken Diskurs setzt die Demokratie die Herrschaft der Mehrheit voraus, jedoch unter strikter Respektierung der Rechte verschiedener Minderheiten. Die Demokratie wird als »Herrschaft des Volkes«, das heißt der »Bürgerinnen und Bürger, die sich frei und selbstbestimmt Regeln für ihr Zusammenleben geben«, verstanden. Sie wird u. a. eng mit Werten wie Respekt gegenüber Minderheiten, Schutz ethnischer Minderheiten vor Diskriminierung, religiöse Toleranz in Verbindung gebracht. Es wird auf zahlreiche Freiheitsrechte sowie auf den Zusammenhang von Freiheit und Verantwortung verwiesen. Außerdem wird das Verfassungsprinzip der Gleichberechtigung von Frauen und Männern hervorgehoben, wobei »eine gleichberechtigte Repräsentation und Teilhabe von Frauen in allen Institutionen und Gremien der Europäischen Union« gefordert wird. Die Gleichheit von Rechten und Chancen am Arbeitsplatz (gleicher Lohn/gleiches Gehalt, gleiches Mitbestimmungsrecht) wird postuliert. Pluralismus bezieht sich auf vielfältige Formen des bürgerschaftlichen Engagements. Für wesentlich hält man den medialen Pluralismus und den Meinungspluralismus (Meinungsvielfalt).

Stabilität und Variabilität des Demokratiebegriffs im Deutschen

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Im feministischen Diskurs wird die Demokratie als »Herrschaft aller«, das heißt sowohl der Männer als auch der Frauen, aufgefasst. Demokratie wird u. a. mit den Frauenrechten, dem Nichtvorhandensein von Gewalt und der Gleichberechtigung der Geschlechter verknüpft. Bei den Frauenrechten rangiert das Recht auf Selbstbestimmung im Kontext von Schwangerschaft und Geburt (bewusste Entscheidung für bzw. bewusster Verzicht auf die Schwangerschaft durch das Abtreibungsrecht) an erster Stelle. »Tatsächliche« religiöse Toleranz wird gefordert, die als Nichtvorhandensein der »religiös motivierte[n] Unterdrückung von Frauen« verstanden wird. Zudem werden »volle« Gleichheit und »volle« Gleichberechtigung von Frauen und Männern sowie die Erweiterung des Machtbereichs in Bezug auf Frauen postuliert. Im katholischen Diskurs wird die »gleiche« Würde eines jeden Menschen, »unabhängig von seinem sozialen Status, seiner wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit, seinem Bildungsniveau, seiner Hautfarbe oder seinem Aussehen, seinem Geschlecht, seinem Alter oder seinem gesundheitlichen Zustand«, mit der Demokratie in Verbindung gebracht. Hervorgehoben werden die im Grundgesetz garantierten Freiheiten, insbesondere die Glaubens-, Konfessions- und Religionsfreiheit sowie die »Freiheit der Kirche«. Es wird auf das Verfassungsprinzip der Gleichberechtigung von Frauen und Männern Bezug genommen. Als etwas in der Demokratie Selbstverständliches wird der religiöse und weltanschauliche Pluralismus angesehen. Im evangelischen Diskurs wird die im Grundgesetz garantierte Konfessions-, Religions- und Gewissensfreiheit in den Vordergrund gestellt. Dabei werden »die Entscheidungsfreiheit nach eigenem Gewissen« sowie »die Freiheit der Eltern, die religiöse und sittliche Erziehung ihrer Kinder in Übereinstimmung mit ihren eigenen Überzeugungen sicherzustellen« exponiert. Man setzt die »Gleichheit aller Menschen vor Gott«, die Gleichberechtigung von Mann und Frau »in der Familie und Gesellschaft« sowie das Recht aller Menschen auf Selbstbestimmung voraus. Gefordert wird die »volle« Gleichberechtigung in Fragen von Religion und Religionsunterricht im öffentlichen Schulwesen und die Gleichbehandlung von evangelischem Religionsunterricht und Ethikunterricht. Die Rolle der freien Diskussion, der öffentlichen Debatte in Bezug auf ethische Fragen und »der offenen Auseinandersetzung über kontroverse Fragen«, die in einer Atmosphäre von Offenheit und Respekt gegenüber anderen Meinungen geführt werden soll, wird betont.

238

7.

Monika Grzeszczak

Zusammenfassung

Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass jeder Datentyp (Wörterbuch-, Umfrage-, Textdaten) für das sprachliche Bild des Demokratiebegriffs stabile gemeinsame, aber zum Teil auch unterschiedliche Merkmale einbringt. Die aus den Wörterbuchdaten gewonnenen Merkmale sind am stärksten stabilisiert und bilden den »Begriffskern«. Die Umfrage- und Textdaten ermöglichen es, die Anzahl der der Demokratie zugeschriebenen Merkmale zu vergrößern, wodurch die Semantik des hier analysierten Begriffs eine wesentliche Bereicherung erfährt. Diese Merkmale zeigen allerdings »einen unterschiedlichen Stabilisierungsgrad«58. Charakteristisch ist, dass der Demokratiebegriff in allen Datentypen in Bezug auf zwei Schlüsselaspekte aufgefasst wird, und zwar im Hinblick auf den politischen und den sozialen Aspekt. In den Wörterbuchdaten werden politische Merkmale der Demokratie exponiert, ihnen folgen soziale Merkmale. Bei den Umfragedaten liegt die umgekehrte Reihenfolge vor : Der politische Aspekt steht dem sozialen Aspekt deutlich nach. Die von den Befragten angegebenen Merkmale der »echten« Demokratie weisen darüber hinaus auf den ethischen Aspekt hin. In den Textdaten wird hingegen zusätzlich der wirtschaftliche Aspekt des Demokratiebegriffs sichtbar. Auf das Basiskonzept der Demokratie, das nach der Methode der kognitiven Definition rekonstruiert wurde, bezieht sich jeder Typ des öffentlichen Diskurses. Hierbei wird jeweils der Gesichtspunkt präsentiert, der der angenommenen Weltanschauung sowie dem deklarierten (geschätzten) Wertesystem entspricht. Kennzeichnend ist, dass bei sämtlichen Arten des öffentlichen Diskurses auf die Grundrechte (insbesondere auf die Freiheitsrechte) sowie auf das Verfassungsprinzip der Gleichberechtigung von Männern und Frauen Bezug genommen wird. Pluralismus und Toleranz werden als wichtige und wesentliche Merkmale der Demokratie angesehen. Dabei werden in verschiedenen Diskurstypen unterschiedliche Dimensionen von Pluralismus hervorgehoben, und zwar : der politische Pluralismus (im linksliberalen und liberalkonservativen Diskurs), der mediale Pluralismus (u. a. im linksliberalen und linken Diskurs) und der religiös-weltanschauliche Pluralismus (im katholischen Diskurs). Aus dem gesammelten Textmaterial geht hervor, dass der Demokratiebegriff auch im deutschen ökologischen, anarchistischen, rechtsextremen und linksextremen Diskurs auf spezifische, jeweils eigene Art und Weise konzeptualisiert wird, was – höchstwahrscheinlich – Gegenstand eines separaten weiteren Beitrags sein wird. 58 Bartmin´ski/Z˙uk: Poje˛cie ›rjwnos´ci‹ i jego profilowanie we wspjłczesnym je˛zyku polskim. 2009, S. 49.

Joanna Pe˛dzisz (Lublin)

Tanzende Körper im Lichte sozialer Transformationen: Eine text- und diskurslinguistisch orientierte Reflexion über Re-Codierungen öffentlicher Diskurse im zeitgenössischen Tanz

Abstract Zum Ziel der im Beitrag präsentierten Ausführungen wird die Darstellung der zeitgenössischen Tänzer als Diskursakteure, die zweidimensional, unmittelbar in den Tanzaufführungen und mittelbar in den Beschreibungen der Tanzaufführungen, die spektakulären Diskurse über Identität, Werte in der konventionalisierten Wirklichkeit, Individuum in der Gesellschaft u. a. thematisieren, um sie in der Öffentlichkeit, auf der Bühne, zu aktualisieren oder zu (re)kontextualisieren. Die beiden Dimensionen der Diskursführung haben zur Folge, dass das Visuelle, d. h. die sinnlich wahrgenommenen Bewegungen im Tanzereignis, mit allen anderen Modalitäten wie z. B. Licht, Musik oder Raum, in Sprache übertragen werden, was zur Re-Codierung der Diskurse führt. Die Analyse des gesammelten Textkorpus geht den folgenden Fragen nach: a. Welche öffentlichen Diskurse werden in den Beschreibungen der Tanzaufführungen versprachlicht? b. Wie werden öffentliche Diskurse in den Beschreibungen der Tanzaufführungen versprachlicht? Die Fragestellung ermöglicht die Kennzeichnung der Beschreibungen aus text- und diskurslinguistischer Sicht, um auf dieser Grundlage die Themen der Tanzaufführungen zu identifizieren und die Probleme herauszufiltern, die das Funktionieren der Gemeinschaften, Wertesysteme oder Identitäten prägen.

1.

Vorbemerkungen

Körper wird zum Schlüsselwort der im Beitrag präsentierten Ausführungen. Er gilt als Orientierungspunkt für die Idee corps dansant (dancing body, tanzende Körper) und gewinnt den Status eines ästhetischen Konzeptes, das alle möglichen Körper umfasst. Dazu gehören corps politique, corps imaginaire, corps commun sowie corps critique. Im Hinblick darauf wird nicht nur ein ästhetischer, sondern auch ein kritischer Standpunkt der TänzerInnen in den Blick genommen, um die Tatsache hervorzuheben, dass die zeitgenössischen TänzerInnen ihre Körper zur kritischen Auseinandersetzung mit der Wirklichkeit

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Joanna Pe˛ dzisz

verwenden.1 Demnach zielen die hier dargestellten Überlegungen darauf ab, zeitgenössische TänzerInnen als Diskursakteure zu betrachten, die primär in den Tanzaufführungen die öffentlichen spektakulären Diskurse über Identität, Werte in der konventionalisierten Wirklichkeit, Individuum in der Gesellschaft u. a. aktualisieren. Sekundär thematisieren die zeitgenössischen TänzerInnen diese Fragen mittels Texten – Beschreibungen der Aufführungen –, in denen ChoreographInnen der Tanzaufführungen expressis verbis Themen der öffentlichen Diskurse benennen und zum Ziel haben, das diskursive Kontinuum dank der Tanzaufführungen sowie der Beschreibung dieser Aufführungen aufrechtzuhalten. Die grundlegenden Fragen, die die im Beitrag präsentierten Ausführungen aufgreifen, lauten dementsprechend: 1. Welche öffentlichen Diskurse werden in den Beschreibungen der Tanzaufführungen versprachlicht? 2. Wie werden öffentliche Diskurse in den Beschreibungen der Tanzaufführungen versprachlicht? 3. Welchen Status gewinnen zeitgenössische TänzerInnen in öffentlichen Diskursen? Die Analyse der Beschreibungen der Tanzaufführungen zielt somit darauf ab, die Hybridisierungsprozesse hervorzuheben, in deren Rahmen eine Tanzaufführung und der Text über eine Aufführung über diskursives Potential verfügen und demnach in Relation zueinander gesetzt werden. Es könnte davon ausgegangen werden, dass die auf diese Weise entstehenden Hybridkonstruktionen aus semiotischer Perspektive zu einer Re-Codierung der spektakulären öffentlichen Diskurse führen.

2.

Zielsetzung

In dem 2019 veröffentlichen Artikel »Taniec wspjłczesny : sztuka patrzenia«2 betrachtet Godlewski den Tanz als eine autonome Kunst, die eine sehr reiche Geschichte hat, eigene Realisierungsformen entwickelt und spezifische Gattungen etabliert hat. Im Anschluss daran weist er auf die Schwierigkeit ihrer Rezeption hin: »Wenn man sich schon eine Tanzaufführung ansieht, begleitet 1 Szymajda, Joanna: Estetyka tan´ca wspjłczesnego w Europie po 1990 roku. Krakjw: Ksie˛garnia Akademicka 2013, S. 27. 2 Godlewski, Stanisław: Taniec wspjłczesny : sztuka patrzenia [Zeitgenössischer Tanz: Kunst des Anschauens, übersetzt von J.P.]. (Zugriff am 23. 02. 2019).

Tanzende Körper im Lichte sozialer Transformationen

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uns nicht selten das Gefühl der Verlorenheit – es ist nicht klar, wie das bewertet, wie das interpretiert werden kann. Man kann physische und akrobatische Leistungsfähigkeit der Tänzer oder ihr Rhythmusgefühl bewundern, aber manchmal erwartet man mehr. Welches Anschauen ist das richtige?«3 Als eine besondere Gattung gilt nach Godlewski der zeitgenössische Tanz, »[…] denn er verwendet keine lineare Handlung (am häufigsten gibt es hier überhaupt keine Handlung und keine narrative Darstellung), er strebt nicht nach dem mimetischen Abbild der Realität (er nähert sich den abstrakten Darstellungsformen an) und zielt nicht auf die technische Brillianz ab. […] All das trägt dazu bei, dass es eine Herausforderung ist, sich den zeitgenössischen Tanz anzuschauen.«4 Experimentelle Formen und Formate, die nicht selten Choreographen einsetzen, und der Verzicht auf die traditionelle Rezeption dieser Gattung der autonomen Kunst führen dazu, dass das Publikum eine besondere Art der Achtsamkeit und des Anschauens entwickeln soll.5 Die Rezeption einer Tanzaufführung könnte demnach eine gewisse Exklusivität voraussetzen, die dem zeitgenössischen Tanz nicht selten kritisch vorgehalten wird.6 Allerdings kommt der Autor der Beschreibung einer Tanzaufführung dem Prozess des Anschauens entgegen. Choreographen, künstlerische Leiter oder auch Tänzer werden zu Autoren. Deswegen übernehmen sie im Prozess der Entstehung einer Tanzaufführung zwei Rollen. Sie werden zu Choreographen, die in ihren Aufführungen selbst tanzen. Im Falle einer größeren Kompanie können extra angestellte DramaturgInnen die Idee, den Inhalt und die Handlung beschreiben. An dieser Stelle muss jedoch angemerkt werden, dass sie solch eine Beschreibung in der Kooperation mit dem Choreographen formulieren. Demzufolge richtet sich der Fokus der hier präsentierten Ausführungen auf die Bestimmung der öffentlich aufgegriffenen und diskutierten Themen bzw. der spektakulären Diskurse, auf die die zeitgenössischen TänzerInnen zum einen in ihren Aufführungen eingehen, zum anderen in den Beschreibungen dieser Tanzaufführungen hindeuten. Allerdings wird die »Was«-Frage um die »Wie«Frage ergänzt, um dadurch den Blick auf die Verbalisierung der Themen zu lenken, mit dem Ziel, die soziale Relevanz des zeitgenössischen Tanzes zu exponieren. Hervorhebung verdient die Tatsache, dass die hier in den Blick ge3 Übersetzt von J.P.: »Gdy juz˙ jednak trafi sie˛ na jakis´ pokaz taneczny, cze˛sto towarzyszy nam uczucie zagubienia – nie wiadomo, jak to ocenic´, jak interpretowac´. Moz˙na zachwycac´ sie˛ sprawnos´cia˛ tancerzy, ich akrobacjami czy poczuciem rytmu, ale czasem chciałoby sie˛ wynies´c´ z ogla˛dania tan´ca cos´ wie˛cej. Jak zatem patrzec´ ?« (ebd.) 4 Übersetzt von J P.: »[…] poniewaz˙ zazwyczaj nie operuje linearnymi fabułami (najcze˛s´ciej fabuł i narracji nie ma w nim wcale), nie da˛z˙y do mimetycznego odwzorowania ´swiata (bliz˙ej jest mu do abstrakcji) i nie ma ambicji technicznej doskonałos´ci […] To wszystko sprawia, z˙e ogla˛danie tan´ca wspjłczesnego jest zadaniem niezwykle wymagaja˛cym.« (ebd.) 5 Ebd. 6 Szymajda, Estetyka tan´ca wspjłczesnego w Europie po 1990 roku. 2013, S. 10.

242

Joanna Pe˛ dzisz

nommene Zielsetzung der These von Szymajda,7 dass die Tanzbotschaft kategorisch nicht angemessen und adäquat versprachlicht werden kann, zuwider läuft.

3.

Beschreibung einer Tanzaufführung aus text- und diskurslinguistischer Sicht

Aus textlinguistischer Sicht, die sowohl das theoretische als auch das empirische Fundament der funktionalen und strukturellen Analyse eines Textes8, der Bestimmung von Textmustern und -typen9 und der Festlegung der prototypischen, textsortenspezifischen Merkmale eines Textes10 legt, lässt sich die Beschreibung einer Tanzaufführung als Textsorte betrachten. Allerdings muss angemerkt werden, dass die in dem Beitrag präsentierten Ausführungen weniger darauf abzielen, die Beschreibung einer Tanzaufführung als Textsorte auszuloten, und mehr darauf, eine Auseinandersetzung mit ihrer inhaltlichen bzw. textfunktionalen Struktur zu leisten. Die dominierende Textfunktion der Beschreibung einer Tanzaufführung ist ohne Zweifel Informationsfunktion.11 In ihrer Struktur lässt sich die Segmentierung in thematische Abschnitte feststellen, die die semantische und kommunikativ-pragmatische Ebene prägen und über die außensprachliche Wirklichkeit mitteilen. Die zum Analysekorpus gehörenden Beschreibungen der Tanzaufführungen umfassen folgende thematische Segmente:

7 Ebd., S. 9f. 8 Brinker, Klaus: Textstrukturanalyse. In: Text- und Gesprächslinguistik. Ein internationales Handbuch zeitgenössischer Forschung. Bd. 1: Textlinguistik. Hrsg. von Gerd Antos/Klaus Brinker/Wolfgang Heinemann/Sven F. Sager. Berlin/New York: Walter de Gruyter 2000a, S. 164–175; Brinker, Klaus: Textfunktionale Analyse. In: Text- und Gesprächslinguistik. Ein internationales Handbuch zeitgenössischer Forschung. Bd. 1: Textlinguistik. Hrsg. von Gerd Antos/Klaus Brinker/Wolfgang Heinemann/Sven F. Sager. Berlin/New York: Walter de Gruyter 2000b, S. 175–186. 9 Heinemann, Wolfgang: Textsorte – Textmuster – Texttyp. In: Text- und Gesprächslinguistik. Ein internationales Handbuch zeitgenössischer Forschung. Bd. 1: Textlinguistik. Hrsg. von Gerd Antos/Klaus Brinker/Wolfgang Heinemann/Sven F. Sager. Berlin/New York: Walter de Gruyter 2000, S. 507–523; Heinemann, Margot: Textsorten des Alltags. In: Text- und Gesprächslinguistik. Ein internationales Handbuch zeitgenössischer Forschung. Bd. 1: Textlinguistik. Hrsg. von Gerd Antos/Klaus Brinker/Wolfgang Heinemann/Sven F. Sager. Berlin/ New York: Walter de Gruyter 2000, S. 604–614. 10 Sandig, Barbara: Text als prototypisches Konzept. In: Prototypentheorie in der Linguistik. Anwendungsbeispiele – Methodenreflexion – Perspektiven. Hrsg. von Martina MangasserWahl. Tübingen: Stauffenburg 2000, S. 93–112. 11 Brinker, Klaus: Linguistische Textanalyse. Eine Einführung in Grundbegriffe und Methoden (Grundlagen der Germanistik). Berlin: Erich Schmidt Verlag 2001. Bd. 29, S. 95.

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1. Textteil 1: Vorname und Nachname des Tänzers/der Tänzerin, Name der Kompanie, Titel der Tanzaufführung; 2. Textteil 2: Uraufführung/Premiere; 3. Textteil 3: Kurze Informationen über Spieldauer/Länge, Altersempfehlung, Preis der Eintrittskarten, Spielort; 4. Textteil 4: Beschreibung der Idee/der Handlung auf der Bühne, Benennung der Inspiration zur Entstehung einer Aufführung; 5. Textteil 5: Geschichte der Kompanie/Andere Aufführungen des Choreographen/der Choreographin/Profil des Choreographen/der Choreographin/der Kompanie/Werdegang als Tänzer/Tänzerin/Choreograph/Choreographin; 6. Textteil 6: Besetzung: Choreographie und Inszenierung, Idee und Konzept, choreografische Mitarbeit, kreative Beratung, Komposition, Assistenz, musikalische Leitung, künstlerische Leitung, technisch-künstlerischer Programmierer, Musik, Toningenieur, Bühne/Bühnenmeister und Kostüme, Installation, Licht/Lichtmanager, Dramaturgie/Dramaturgische Beratung, Video, Kooperation mit anderen Institutionen; 7. Textteil 7: Pressestimmen. Es ist bemerkenswert, dass die Textteile 1 bis 7 in unterschiedlichem Gefüge und in unterschiedlicher Reihenfolge vorkommen. Um die Erkenntnisse bezüglich der thematischen Segmentierung der Beschreibungen zu veranschaulichen, wird im Folgenden der Text Nr. 8 aus dem Analysekorpus als Beispiel angeführt, in dem die Textteile 1, 3, 4, 5, 4 und 6 unterschieden werden können. »Draw a Line (UA) Benedict Mirow Samstag, 18. Mai 2019, 20 Uhr, E 9,50 / erm. E 7,50, […] Sonntag, 19. Mai 2019, 11 Uhr, E 9,50 / erm. E 7,50, […] Ort: Rio Kino 1 (Sa.), Audimax Hff (So.) Dauer : 85 Min, […] Grenzen sind zum Überschreiten da: Das gilt für das Leben, die Kunst und für TänzerInnen sowieso. Richard Siegal weiß das. Er ist Tänzer, Choreograph und leitet mit dem in München und Köln beheimateten BoD, dem Ballet of Difference, eines der gegenwärtig aufregendsten freien Ensembles der Szene. Es geht Siegal nicht darum, seine künstlerische Vision durchzudrücken, sondern um eine Genese: Choreografie ist bei ihm der Prozess einer Aneignung, Kopien gibt es nicht. Das Individuum zählt. ›Wer bin ich? Was kann ich einbringen?‹ sind Leitfragen für die charismatische Tänzerin Courtney Henry. Die Basis, auf der gearbeitet wird, ist gegenseitiger Respekt, das benennt der Choreograf deutlich zu Beginn von Benedict Mirows Draw a Line. Ballett ist bei Siegal kein Korsett – die Korsagen in seinem soghaftpulsierenden Erfolgs-Stück Unitxt lassen sich als Reminiszenz lesen –, sondern eine universelle Sprache, die in die Zukunft weist. Was ursprünglich in Lagos mit afrikanischen TänzerInnen im Rahmen eines Work-

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shops entwickelt wurde, wiederum aus Siegals Vokabular, wird nach einer Einstudierung beim Bayerischen Staatsballet nun vom BoD aufs Neue neu interpretiert – ›Tanz 2.1‹, fasst er zusammen. Mitreißende Beats und Tanzszenen alternieren in Draw a Line mit spannenden Einblicken in die BoD-›Familie‹. Deren Optimismus und Energie ist ansteckend: Kann Kunst die Welt verändern? Das BoD hat schon mal damit angefangen. […] Regie: Benedict Mirow Kamera: Matthias Boch (BVK), Amadeus Hiller, Christian Berges, Thorsten Jareck Montage: Jan Keller Musik: Alva Noto, Carsten Nicolai Konzeptionelle Beratung: Katja Schneider Ton: Max Vornehm Mischung: Philipp Sellier Redaktion: Theresa März, Maximilian Maier (BFS), Monica Lobkowicz (arte) Fotos: T Ray Demski Draw a Line ist eine Produktion von NIGHTFROG, arte, BFS und Unitel in Kooperation mit dem Goethe Institut und der Deutschen Welle.«12

Es ist kaum zu übersehen, dass es in der Struktur dieser Beschreibung an den Textteilen 2 und 7 fehlt. Die Textteile 4 und 5 hingegen greifen so ineinander, dass die Informationen über das Profil des Choreographen und der Kompanie und die Informationen über die Inspirationen zur Entstehung der Aufführung sowie über die Qualität des Tanzes und die Handlungen der TänzerInnen auf der Bühne miteinander verwoben werden. Die in dem vorliegenden Beitrag präsentierten Ergebnisse der Analyse nehmen nur den Textteil 4 in den Blick, in dem auf Ideen, Konzepte und Inspirationen zur Entstehung einer Aufführung Bezug genommen wird. Die Befunde werden an entsprechenden Beispielen, in Form von den zitierten Textfragmenten exemplarisch dargestellt. Das Analysekorpus umfasst 38 Texte. Sie wurden auf Webseiten veröffentlicht, die komplexe digitale Plattformen bilden und entweder von konkreten Kulturstätten wie dem Theater Bielefeld13 betrieben werden oder bestimmten kulturellen Events aus den letzten zwei Jahren entstammen, hier : dem Internationalen Festival für zeitgenössischen Tanz der Landeshauptstadt München DANCE 201914, Berlins internationalem Festival für zeitgenössischen Tanz Tanz im August15 und dem Tanzfestival Rhein-Main 2018.16 Die Formate und Institutionen werden gewählt, weil sie zum Schauplatz der künstlerischen Leistungen der zeitgenössischen Tänzer werden. Aus einer Bürgerinitiative er12 13 14 15 16

(Zugriff am 27. 08. 2019). (Zugriff am 03. 07. 2019). (Zugriff am 03. 07. 2019). (Zugriff am 03. 07. 2019).

(Zugriff am 03. 07. 2019).

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wachsen bietet das Theater Bielefeld zunehmend kulturelle Aktivitäten im Stadtraum an und gilt als das kulturelle Zentrum Ostwestfalens.17 Im Rahmen des 16. Internationalen Festivals DANCE 2019 beschäftigen sich ChoreographInnen intensiv mit den Leitfragen: »wie wollen wir miteinander reden?« und »wie wollen wir miteinander kommunizieren?«, um zu erkennen, wie die heutige Gesellschaft Kommunikationsstrukturen bildet und wie sie ihnen auch ausgesetzt ist.18 Tanz im August ermöglicht dagegen dem Publikum die Auseinandersetzung mit dem facettenreichen Phänomen des zeitgenössischen Tanzes, mit Produktionen internationaler Stars und ChoreographInnen der Berliner Szene.19 Die Tanzplattform Rhein-Main richtet ihr Angebot an Tanzprofis, aber auch an Laien und ein tanzbegeistertes Publikum, mit dem Ziel, »noch mehr Menschen aus dem Rhein-Main-Gebiet für den Tanz zu begeistern.«20 Die dritte Ausgabe des Tanzfestivals Rhein-Main, die vom 2. bis 18. November stattfand, umfasste neue Tanzaufführungen internationaler Choreographie-Stars und präsentierte zusätzlich Stücke aufstrebender Künstler und Künstlerinnen, die in der RheinMain-Region leben und arbeiten.21 Vor diesem Hintergrund gilt das Analysekorpus als textsortenhomogen22 und die Textexemplare 1 bis 38 werden in einem konkreten Handlungsbereich realisiert, der als »Teil eines sozial, kulturell und zeitlich geprägten Raumes mit spezifischen Normen, Anspruchshaltungen und Erwartungen, gesetzlichen Vorgaben, Wertesystemen«23 verstanden wird. Die Webseiten, auf denen die Textexemplare 1 bis 38 publiziert wurden, gehören zum öffentlichen Handlungsbereich, der zugleich ermöglicht, thematisch und/oder funktional verbundene Textsortenfelder/Textsortenrepertoires eines Diskurses24 zu etablieren.

17 (Zugriff am 05. 07. 2019). 18 (Zugriff am 05. 07. 2019). 19 (Zugriff am 05. 07. 2019). 20 (Zugriff am 05. 07. 2019). 21 (Zugriff am 05. 07. 2019). 22 Jung, Matthias: Linguistische Diskursgeschichte. In: Öffentlicher Sprachgebrauch. Praktische, theoretische und historische Perspektiven. Hrsg. von Karin Böke/Matthias Jung/Martin Wengeler. Opladen: Westdeutscher Verlag 1996, S. 453–472. 23 Jakobs, Eva-Maria: Textproduktion im Kontext: Domänenspezifisches Schreiben. In: Textlinguistik. 15 Einführungen. Hrsg. von Nina Janich. Tübingen: Gunter Narr Verlag 2008, S. 264. 24 Adamzik, Kirsten: Textsortennetze. In: Textsorten, Handlungsmuster, Oberflächen. Linguistische Typologien der Kommunikation. Hrsg. von Stephan Habscheid. Berlin/Boston: Walter de Gruyter 2011, S. 372–380.

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4.

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Öffentliche Diskurse auf der Bühne

»Was wir tanzen? Nicht ›Gefühle‹ tanzen wir! Sie sind schon zu viel fest umrissen, zu deutlich. Den Wandel und Wechsel seelischer Zustände tanzen wir, wie sie als rhythmisch bewegtes Auf und Ab im Menschen lebendig ist. Die Inhalte des Tanzes und des Tanzkunstwerkes sind die gleichen wie die der übrigen gestaltenden und darstellenden Künste: Es geht hier wie dort um den Menschen und sein Schicksal.« (M. Wigman)25 Im Anschluss an die These von Mary Wigman bilden Themen, die in den Tanzaufführungen aufgegriffen und genannt werden, ein diskursives Kontinuum bzw. gelten als Aktualisierung der öffentlichen Diskurse, in denen sich TänzerInnen/PerformerInnen positionieren. Dementsprechend entsteht eine Relation zwischen der Tanzaufführung als autonomer Kunst und der Wirklichkeit. Das hat zur Folge, dass die Tanzaufführung zum »Kommentar zur Wirklichkeit, zur kritischen Verarbeitung ihres Inhaltes und zur Reaktion auf sie«26 wird. Ein Profil der Wirklichkeit wird von den zeitgenössischen TänzerInnen kreiert. Vor dem Hintergrund der diskurslinguistisch orientierten Überlegungen über den Status und die Rollen der Akteure im Diskurs27 gewinnen die zeitgenössischen Tänzer den Status der Diskursakteure. Hervorhebung verdient jedoch die Tatsache, dass die primäre Form der Beteiligung der Tänzer am Diskurs eine konkrete Tanzaufführung ist, in der Körper, Bewegungen von Körpern in Choreographie-Sequenzen, aber auch andere Elemente der Aufführung wie Licht, Musik, Bühnenbild, Visualisierungen, Kostüme usw. als Instrumente zu betrachten sind, mit denen zeitgenössische Tänzer konkrete Rollen und Status übernehmen und einen bestimmten Standpunkt im Diskurs nehmen. Als die sekundäre Form der Beteiligung am Diskurs gelten die Handlungen der zeitgenössischen Tänzer mittels Texten, hier : Beschreibungen der Tanzaufführungen. Ihre AutorInnen nennen expressis verbis die Themen der Tanzaufführungen, die

25 Lazarus, Heide: Methode ohne Technik? Die Mary Wigman-Schule und ihr Ausbildungskonzept für »Künstlerischen Tanz« um 1929. In: Psyche – Technik – Darstellung. Beiträge zur Schauspieltheorie als Wissensgeschichte. Hrsg. von Wolf-Dieter Ernst/Anja Klöck/Meike Wagner. München: Epodium 2016, S. 80. 26 Szymajda, Estetyka tan´ca wspjłczesnego w Europie po 1990 roku. 2013, S. 16, [übersetzt von J.P.]. 27 Z. B. Adamzik, Kirsten: Interaktionsrollen. Die Textwelt und ihre Akteure. In: Texte, Diskurse, Interaktionsrollen. Analysen zur Kommunikation im öffentlichen Raum. Hrsg. von Kirsten Adamzik. Tübingen: Stauffenburg 2002, S. 211–255; Albert, Georg: Die Konstruktion des Subjekts in Philosophie und Diskurslinguistik. In: Methoden der Diskurslinguistik. Sprachwissenschaftliche Zugänge zur transtextuellen Ebene. Hrsg. von Ingo H. Warnke/ Jürgen Spitzmüller. Berlin/New York: Walter de Gruyter 2008, S. 151–182; Kaczmarek, Dorota: Binationale Diskurse. Grundlagen und Fallstudien zum deutsch-polnischen medialen Gegendiskurs. Łjdz´ : Wydawnictwo Uniwersytetu Łjdzkiego 2018.

Tanzende Körper im Lichte sozialer Transformationen

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auf aktuelle öffentliche Diskurse Bezug nehmen, sie aktualisieren oder (re)kontextualisieren. Die Identifizierung der Themen, die in den zum Analysekorpus gehörenden Beschreibungen genannt werden, resultiert aus der diskursanalytischen Herangehensweise, die nach dem DIMEAN-Modell von Spitzmüller/Warnke28 die wortorientierte Auseinandersetzung auf der intratextuellen Ebene mit dem gewählten Textkorpus voraussetzt. »Wie beeinflussen die Likes, die wir online erhalten, unser Verhalten und Körperempfinden? ›Likes‹ erforscht Social-Media-Phänomene wie sogenannte Dance Covers und Yoga Tutorials und lässt dabei die Grenzen zwischen Tanz und Lesung, realer Welt und Online-Realität verschwimmen. Mal als Übungsleiterin, mal als Anthropologin nimmt uns Nfflria Guiu Sagarra mit auf eine physische Reise mit einem Hang zur Ironie. Die Tänzerin, Performerin und Choreografin, die bereits mit renommierten Tanzkompanien wie IT Danza, Carte Blanche und der Batsheva Dance Company zusammengearbeitet hat, bietet mit ›Likes‹ eine erfrischende Perspektive auf die Präsenz des Körpers im digitalen Zeitalter.«29

In dem angeführten Beispiel lassen sich bestimmte Schlüsselwörter erkennen wie unser Verhalten und Körperempfinden, Präsenz des Körpers, das digitale Zeitalter, Social-Media-Phänomene, die Grenzen verschwimmen, reale Welt, Online-Realität, anhand derer die Tanzaufführung »Likes« ohne Zweifel die Frage der in sozialen Medien kreierten Identitäten bzw. Realitäten erörtert. Demzufolge positionieren sich zeitgenössische TänzerInnen im öffentlichen Diskurs, indem sie mit Hilfe von den Ein- und Mehrworteinheiten wie Schlüsselwörtern, aber auch Stigmawörtern und Nomina30 auf konkrete, spezifische und komplexe Themen hinweisen, die von hoher Brisanz und Relevanz sind. Auf Grund der Analyse des zusammengestellten Korpus lassen sich folgende, in den Aufführungen aufgegriffene Themen identifizieren: 1. Thema: Der Mensch als Individuum a. Unterthema: Urbilder menschlicher Vorstellungsmuster/Archetypen/archetypische Charaktere: »Ausgehend von den Persönlichkeiten der TänzerInnen entwickelt er archetypische Charaktere, die gegensätzlicher nicht sein könnten.« (T3)31

28 Spitzmüller, Jürgen/Warnke Ingo H.: Diskurslinguistik. Eine Einführung in Theorien und Methoden der transtextuellen Sprachanalyse. Berlin/Boston: Walter de Gruyter 2011, S. 201. 29 (Zugriff am 27. 08. 2019). 30 Die Ein- und Mehrworteinheiten, auf derer Grundlage Diskurse bzw. Diskursausschnitte identifiziert werden können, kommen in den Texten T1 bis T38 vor und werden von der Autorin des Beitrags mit Kursivschrift in den angeführten Zitaten hervorgehoben. 31 Die Abkürzung T1, T2, T3, T4, …Tn steht für Text 1, Text 2, Tex 3, … Text n.

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b. Unterthema: Bedeutung des Individuums: »Das Individuum zählt. ›Wer bin ich? Was kann ich einbringen?‹ sind Leitfragen für die charismatische Tänzerin Courtney Henry.« (T8) c. Unterthema: Frage nach der menschlichen Identität (T9, T23, T37): »In ›Velvet‹ schafft die Berliner Choreografin eine Reihe von Porträts, die in diesen Welten operieren und Normen des Sehens und Denkens herausfordern. Sie suchen das Poetische, Irrationale auf, um Kategorisierungen, Verkörperungen und Identitäten – wie das Konzept des Weiblichen – sowohl zu konstruieren als auch zu dekonstruieren: […].« (T23); »Tim Plegge macht in seinem neuen Ballett Momente sichtbar, die den Umbau des Lebens und die Selbst-definition der eigenen Persönlichkeit in den Vordergrund stellen. […] Wie auf einer Baustelle ist in dieser hochspannenden Lebensphase alles ›under construction‹. Wichtige Fragen brauchen Zeit zu reifen: Wer bin ich? Wer möchte ich sein?« (T37)

2. Thema: Der Mensch und seine Zustände und Empfindungen a. Unterthema: menschliche Zustände und Empfindungen im Kontrast: Liebe vs. Lüge, Sehnsucht vs. Widerstandsfähigkeit, Träume vs. Ängste (T20, T24, T25, T29): »Aus verschiedenen Perspektiven beleuchtet Doherty die nordirische Verfasstheit, sie lässt eine Gruppe junger, selbstbewusster Frauen aufmarschieren und zwei Männer im Ringen um Trost und Zuversicht gegeneinander antreten. Dabei vereint sie spielend Gegensätze wie Sehnsucht und Widerstandsfähigkeit, Hoffnungslosigkeit und Utopie.« (T20)

b. Unterthema: Einsamkeit (T6, T12, T23): »Toni is lonely ist eine Tanz-Theater-Performance, in der die einsamsten Momente des Lebens erforscht werden. Erzählt wird dies von einem Mann in einem Tanzstück, der kein Tänzer ist.« (T12); »Claire Vivianne Sobottkes neues Solo findet Raum in einem Miniaturgarten. Hier geht es um Einsamkeit und Sexualität: […].« (T23)

c. Unterthema: Hoffnungen (T7, T20, siehe 2a): »Der junge chinesische Choreograf arbeitete in den jeweiligen Städten mit TänzerInnen und mit nicht professionellen Personen, die dort leben, zusammen. Die Recherche wurde dokumentiert und ist Teil dieser eindringlichen Inszenierung über Hoffnungen und Wünsche, […].« (T7)

d. Unterthema: Wünsche (T7, siehe 2c, T26, T29): »Was passiert, wenn die Wünsche, die in den dunklen Ecken unseres Geistes verborgen sind,

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plötzlich ans Licht gebracht werden? Was, wenn sie die ganze Zeit die treibende Kraft unserer Entscheidungen gewesen sind?« (T29) 3. Thema: Der Mensch in Relation mit anderen Menschen/Der Mensch als soziales Wesen a. das soziale Mit- und Gegeneinander (T1, T3, T7, T17)/ Konfrontation (T33): »Wann sollten wir uns einmischen? Und wie? In ihrem ›Piece for Person and Ghetto Blaste‹ erkundet Nicola Gunn die ethische Dimension von Konfrontation und Intervention.« (T17) b. Diversität der Gruppe (T3, T7, T28): »Neun Personen – aus Guangzhou, Hongkong und Macau – stehen auf der Bühne. Unterschiedliche Generationen, unterschiedliche Identitäten, KünstlerInnen und NichtKünstlerInnen. In einem geographischen und urbanen Raum zusammengespannt, haben sie ganz eigene Erfahrungen und Erinnerungen.« (T7)

c. das Kollektive/das Gemeinsame/Koexistenz (T5, T7, T9, T26, T33): »Mit anderen Worten: Über virtuelle Realität, reale Realität, erweiterte Realität und vermittelte Realität hinaus richten die beiden Künstler ihr Augenmerk auch auf die kollektive Realität. Kollektive Realität als Möglichkeit im Virtuellen, wo man sonst doch meist alleine unterwegs ist?« (T5)

d. der gegenseitige Respekt (T3, T8): »Dem Akt des Erzählens stellt er in logischer Konsequenz das Zuhören gegenüber – eine Fähigkeit, die bei der Vielheit kultureller Hintergründe, Werte und Überzeugungen in der globalisierten Gesellschaft heute vielleicht so wichtig ist, wie nie zuvor.« (T8) e. neue Formen der Gemeinschaft und Gemeinsamkeit (dank neuer Technologie: T5, T12): »Jasmine Ellis zitiert eine US-amerikanische Studie, nach der ein Viertel der befragten Personen die Zahl ihrer Vertrauenspersonen mit ›Null‹ angaben, was die häufigste Antwort auf diese Frage war. Wie hängt diese Beobachtung mit unserer ständigen Präsenz und Verfügbarkeit in den sozialen Medien zusammen?« (T12)

f. Ausgrenzung (T7, T37, siehe 1c). 4. Thema: Phänomene sozial-gesellschaftlicher Natur, die die Menschen begleiten a. Unterthema: Nähe (T6, T24): »An der Schnittfläche von Kunst und Wissenschaft spielend, wird der Körper zu den Extremen von Entfernung und Nähe, Verbundenheit und Isolation, Sicherheit und Unsicherheit geführt.« (T24)

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b. Unterthema: Sex/Sexualität (T23, T37 – siehe oben): »Es zeigt Situationen, die junge Erwachsene mit Gleichaltrigen erleben: Freundschaft, Ausgrenzung, Gruppendynamik, Selbstbewusstsein, Sexualität und Liebe.« (T37) c. Unterthema: Zurückweisung (T6)/Kategorisierungen (T23, T31): »Wie sehen wir einander an? Wie erlauben wir uns gesehen zu werden? Wie bestimmen unsere Körper die Art und Weise, wie wir die Welt um uns herum wahrnehmen? Können wir lernen, über Grenzen der Andersartigkeit hinwegzusehen?« (T31) d. Unterthema: Gewalt (T6, T9)/Druck (T7): »Ffflria inszeniert Rituale der Vergemeinschaftung, der Gewalt und Unterwerfung, der Revolte, ausgehend vom Körper.« (T9) e. Unterthema: Hoffnungslosigkeit vs. Utopie (T20, siehe 2a) f. Unterthema: Krisen (T7, T22): »Die Recherche wurde dokumentiert und ist Teil dieser eindringlichen Inszenierung über Hoffnungen und Wünsche, Chancen und Krisen, Druck und Ängste der Menschen in einem der schrillsten, intensivsten urbanen Gebiet der Welt.« (T7) g. Unterthema: Macht (T9): »In der sich ausbreitenden Trance und orgiastischen Wucht geht die politische Frage, die Ffflria stellt, nicht unter. Die Frage nach der Macht: Wer spricht mit wem worüber aus welcher Position? Die Antwort ist laut, und sie ist wütend.« (T9) 5. Thema: Gestaltung und Wahrnehmung der Realität a. Unterthema: Vielfalt der Realitäten (T5, siehe 3c) b. Unterthema: Vielfalt der Wahrheiten der Mediengesellschaft (T5, T11, T19): »In diesen Sprachgewittern der Mediengesellschaft scheitert die verbale Kommunikation. Sie geht unter zwischen Fake News, zerfällt zu sinnlosem Gestammel, aufgerieben von Zuschreibungen, Sprechverboten, hysterischen Hasstiraden. Jeder und jedem die eigene Wahrheit.« (T11)

c. Unterthema: Inszenierung in sozialen Medien (T25, T32): »Die Dinge, die wir tun, um gemocht zu werden, und die Narrative, zu denen wir unser Leben verweben – auch in den sozialen Medien, für die wir unseren Alltag inszenieren, um Anerkennung zu bekommen.« (T25) »Wie beeinflussen die Likes, die wir online erhalten, unser Verhalten und Körperempfinden? Likes erforscht Social-Media-Phänomene wie sogenannte Dance Covers oder Yoga Tutorials und lässt dabei die Grenzen zwischen Tanz und Lesung, realer Welt und Online-Realität verschwimmen.« (T32)

Tanzende Körper im Lichte sozialer Transformationen

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d. Unterthema: Details des alltäglichen Lebens (T18): »Ist es wahr, dass wir uns mehr an die großen Ereignisse erinnern als an das Gewöhnliche? […] Und was bleibt von all den vermeintlich irrelevanten Details des alltäglichen Lebens? […] Mit verschiedensten Mitteln, mit Bewegungen, Gerüchen und Popsongs versuchen die Performer*innen [sic!], ihre eigenen Erinnerungen abzurufen – und entbergen das Außergewöhnliche im scheinbar Gewöhnlichen.« (T18)

6. Thema: Ritualisierung der Realität a. Unterthema: Rave als Ritual (T6): »Wie frühere Stücke verfügt auch Crowd über eine mythische Dimension und ritualhafte Züge. Nicht umsonst ist der Boden erdbedeckt, ähnlich wie in Pina Bauschs Le sacre du printemps. Der Rave als Ritual, die Clubnacht als mythisches Ereignis. Die stundenlange Tanzekstase als transgressives Geschehen.« (T6)

b. Unterthema: Bedeutung der Tradition (T35): »›Familie und Tradition stellen zwei wichtige Grundpfeiler der albanischen Kultur dar und zu kaum einem Zeitpunkt sind sie enger miteinander verknüpft als bei einer Hochzeitszeremonie‹, sagt er. […]. Zu dieser tänzerischen Auseinandersetzung mit Tradition legt der Komponist Arne Stevens eine musikalische Begleitung vor, die im Rück-griff auf traditionelle albanische Instrumente den kulturellen Ursprungsort dieser Arbeit auch musikalisch ins Zentrum rücken wird.« (T35)

7. Orte als Inspiration a. das Perlflussdelta (T7): »Zu seinem neuesten Stück, Delta, das bei DANCE 2019 uraufgeführt wird, inspirierte Yang Zhen das Perlflussdelta. Dort entsteht eine der dichtest besiedelten, hochindustrialisierten Zonen der Welt. Yang Zhen interessieren die sozialen Folgen dieser Entwicklung: konzentrierter Luxus und unterentwickelte Regionen, Migrationsbewegungen, Koexistenz, Integration und Ausgrenzung ebenso wie die Auswirkungen, die der Lebensrhythmus in den verdichteten Städten auf deren BewohnerInnen hat. […].« (T7)

b. Belfast (T20): »Die furchtlose junge Choreografin Oona Doherty führt uns in das Nervensystem einer schmutzigen Stadt, in eine patriarchale, von Religiosität und ökonomischer Not geprägte Gesellschaft. Ihr vierteiliger Tanzabend ›Hard To Be Soft – A Belfast Prayer‹ basiert auf den Erfahrungen und Realitäten der Menschen, die heute in Belfast leben.« (T20)

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Solche Schlüsselwörter wie z. B. das Beziehungsgefecht (T1), das menschliche Individuum (T3), archetypische Charaktere (T3), das Zuhören gegenüber (T3), kollektive Realität (T5), neue Formen der Gemeinschaft (T5), Möglichkeit zum Mitmachen (T5), gegenseitiger Respekt (T8), Ängste der Menschen (T7), Integration (T7), die Mediengesellschaft (T11), die eigene Wahrheit (T11), sich mit anderen verbinden (T12), Verfügbarkeit in den sozialen Medien (T12), Kategorisierungen (T23), Verkörperungen (T23), Wünsche und Visionen (T26), Sozial-Media-Phänomene (T32), Online-Realität (T32), reale Welt (T32), Körperempfindungen (T32) verweisen auf Gegenstände, Eigenschaften oder Vorgänge der außersprachlichen Wirklichkeit. Das hat zur Folge, dass den Schlüsselwörtern eine Identifikationsfunktion zugewiesen wird. Sie sind Worteinheiten, die »das Selbstverständnis und die Ideale einer Gruppe oder einer Epoche ausdrücken, die Denkgewohnheiten diskursbestimmend markieren und deren kontextuelle und konnotative Bedeutung dominant ist«.32 Werden die im Textkorpus erkannten Schlüsselwörter in den Blick genommen, ist schließlich die Tatsache hervorzuheben, dass sie öffentliche Debatten identifizieren, in denen sich der Mensch im Zentrum des Interesses befindet. Er wird zum Dreh- und Angelpunkt. Seine Existenz wird hingegen mit anderen Phänomenen wie Realität(en), Medien, Werte, Emotionen, Bedürfnissen oder Gemeinschaft(en) in Relation gesetzt. Mit Nomina wie Ortsnamen (T7: das Perlflussdelta, T20: Belfast) markieren die Autoren der Beschreibungen das diskursive Potenzial eines bestimmten Raumes. Sowohl das Perlflussdelta als auch Belfast werden als Multi-Kulti-Orte der starken Kontraste betrachtet, wo Menschen angesichts der Vielheit unterschiedlicher kultureller, beruflicher und weltanschaulicher Hintergründe koexistieren müssen. Dank der Verwendung von Nomina collectiva, z. B. globalisierte Gesellschaft (T3), Jugend (T6), Generationen (T7), ein Kollektiv (T9), Menschen (T20) vollzieht sich die Gruppierung und Fokussierung, dank deren ein generalisierender Charakter der Aussagen möglich ist. Nach dem Prinzip der Verallgemeinerung lässt sich deswegen den Tanzaufführungen eine gewisse Universalität zuschreiben, die es erlaubt, den Grad der Betroffenheit und der Aktualität der erörterten Themen zu ermitteln. Stigmawörter drücken hingegen eine pejorative Kennzeichnung von Ideen, Konzepten, Personen, Gruppen oder Sachverhalten (vgl. ebenda: 144) aus. Deshalb deuten solche Beispiele wie Limitationen (T2), das Gegeneinander (T3), Zurückweisung (T6), Krisen (T7), Angst (T22)/ Ängste der Menschen (T7), Ausgrenzung (T7), Unterwerfung (T9), hysterisch[e] Hasstiraden (T11), Gewalt (T19), Desintegration (T21), Isolation (T24), Abneigung (T28), Andersartigkeit (T31), Ausgrenzung (37) auf das Problematische hin, auf dem die öffentlichen

32 Spitzmüller/Warnke, Diskurslinguistik. 2011, S. 142.

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Diskurse aufbauen und das die zeitgenössischen TänzerInnen in der kritischen tänzerischen Auseinandersetzung behandeln. Es darf nicht außer Acht gelassen werden, dass dieses Problematische auch in den Fragen zum Ausdruck gebracht wird, die in dem Analysekorpus vorkommen. Als Beispiel gilt der Text Nr. 19. »Latifa La.bissi White Dog Wie können wir geübte Sichtweisen, wie alten Groll ablegen? Wie können wir die Gewalt und den Lärm medialer Debatten überlisten? In ihrer neuen Performance für vier Performer*innen [sic!] schlägt Latifa La.bissi eine überraschende Strategie vor: Fortlaufen! ›White Dog‹ konzentriert sich auf die Bewegungen der Flucht, auf Drehungen und Ausweichmanöver als Formen eines poetischen Kampfes. Damit knüpft die französische Tänzerin und Choreografin an Themen ihrer vorangehenden Arbeiten an, wie Camouflage, das Sichtbarmachen von Marginalisiertem und die Gemeinschaftsbildung eigensinniger Individuen.«33

Die Autoren der Fragen realisieren damit konkrete Handlungen, die darauf abzielen, das Problematische in den Vordergrund zu stellen. In Anlehnung an die Taxonomie von Hindelang34 sind die in den analysierten Beschreibungen realisierten Fragehandlungen als problemzentriert zu betrachten. Sie werden im Falle einer einseitigen oder gemeinsamen Problemlage vollzogen und richten den Fokus auf theoretische Probleme.35 Im Hinblick darauf fallen unter die Kategorie der einseitigen Problemlagen: 1. Die Identitätsfrage und Rolle des Individuums in der Gesellschaft: »Wer bin ich? Was kann ich einbringen« (T8), »Wer möchte ich sein?« (T37); 2. Die Entstehung einer Gemeinschaft und/oder einer Gemeinsamkeit mit einer konkreten Struktur, mit einer konkreten Hierarchie: »Wie findet der und die Einzelne einen Platz?« (T9), »Wer spricht mit wem worüber aus welcher Position?« (T9), »Was braucht es, um ein Kollektiv zu formen?« (T9), »Wie viel an Gemeinschaft und Gemeinsamkeit ist überhaupt noch möglich?« (T12). Die zweite Gruppe von Fragen bezieht sich auf gemeinsame Problemlagen, die nicht selten mit dem Personalpronomen wir signalisiert werden und folgende Phänomene umfassen: 33 (Zugriff am 28. 08. 2019). 34 Hindelang, Götz: Zur Klassifikation der Fragehandlungen. In: Sprache: Verstehen und Handeln. Akten des 15. Linguistischen Kolloquiums. Hrsg. von Götz Hindelang/Werner Zillig. Tübingen: Max Niemeyer Verlag 1981. Bd. 2, S. 215–225. 35 Kohl Matthias/Kranz Bettina: Untermuster globaler Typen illokutionärer Akte. Zur Untergliederung von Sprechaktklassen und ihre Beschreibung. In: Sprechakttheorie. Hrsg. von Peter-Paul König/Helmut Wiegers. Münster : LIT 1992, S. 17–19.

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1. Die Rolle der Kunst für die Welt: »Kann Kunst die Welt verändern?« (T8); 2. Das Bild der Menschen in den sozialen Medien: »Wie hängt diese Beobachtung mit unserer ständigen Präsenz und Verfügbarkeit in den sozialen Medien zusammen?« (T12), »Wie beeinflussen die Likes, die wir online erhalten, unser Verhalten und Körperempfindungen?« (T32); 3. Der Umgang der Menschen mit den (Neuen) Medien: »Wie können wir die Gewalt und den Lärm medialer Debatten überlisten?« (T19); 4. Opposition Individuum – Gesellschaft/Gemeinschaft in der Konfrontation: »Isolieren wir uns eher, als um Hilfe zu bitten?« (T12), »Wann sollten wir uns einmischen? Und wie?« (T17); 5. Die Wahrnehmung der Realität, in der Individuen/Gemeinschaften mit anderen Individuen/Gemeinschaften funktionieren: »Ist es wahr, dass wir uns mehr an die großen Ereignisse erinnern als an das Gewöhnliche?« (T17), »Wie sehen wir einander an? Wie erlauben wir uns gesehen zu werden? Wie bestimmen unsere Körper die Art und Weise, wie wir die Welt um uns herum wahrnehmen?« (T31), »Wo liegt der Unterschied, den wir empfinden und wie fühlen wir gemeinsam?« (T33); 6. Das Dissimulieren und die Entlarvung von authentischer Persönlichkeit: »Was passiert, wenn die Wünsche, die in den dunklen Ecken unseres Geistes verborgen sind, plötzlich ans Licht gebracht werden?« (T29).

5.

Funktion und Aufgaben der zeitgenössischen TänzerInnen im öffentlichen Diskurs

Wie der oben dargestellten Analyse zu entnehmen ist, gehen corps dansant/ dancing body/tanzende Körper36 den ernsten Fragen nach, die etablierte, anerkannte, sozial und kulturell erlernte Ordnungsstrukturen wie die Idee der Gemeinschaft und der Gemeinsamkeit, das Konzept der Realität oder der Wahrheit anzweifeln, die Relativierung der Identität, der zwischenmenschlichen Beziehungen in den Vordergrund stellen und das Phänomen der »fluide[n] Welt« (T33) problematisieren. Seit Jahrzehnten folgt die Tanzwelt dabei der Idee, den Körper des zeitgenössischen Tänzers/der zeitgenössischen Tänzerin als Vergegenständlichung des Sichäußerns zu betrachten. So steht beispielsweise in der Aufführung »Instrument 1« durch die italienische Compagnie Compagnia Zappala Danza ein Tänzer auf der Bühne und hält seinen Monolog, der mit den Worten anfängt: »I’m a dancer speaking to you as an instrument.«37 Allerdings ist

36 Szymajda, Estetyka tan´ca wspjłczesnego w Europie po 1990 roku. 2013, S. 27. 37 (Zugriff am 31. 07. 2017).

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das Repertoire des körperlichen Ausdrucks facettenreich.38 Die Körperbewegungen, in ihren seriellen Abfolgen, in der Konfiguration mit Musik, Licht, Bühnenbild, unter Zuhilfenahme neuer digitaler Medien, in der Konfrontation mit dem Raum und auf eine nicht selten dramatische Thematik bezogen, schaffen eine hervorragende aber auch anspruchsvolle Botschaft in einer Tanzaufführung. Damit geht einher, dass der Tanz, hier : der zeitgenössische Tanz, als semiotisches Phänomen, als eine semiotische Praxis zu verstehen ist. Er gilt als ein übersprachliches kommunikationsfähiges Zeichensystem, ein einheitliches individuelles Gesamtzeichen, dessen Inhalt und Informationsgehalt suggestiv-unendlich und nicht ausschöpfbar ist.39 Das Visuelle mit all den genannten Modalitäten (Licht, Musik, Raum etc.) gehört hingegen zum sinnlich Wahrgenommenen, das nicht selten flüchtig, von kurzer Dauer, aber von großer Intensität ist und die in der Tanzaufführung behandelte Thematik entweder bedingt oder mit ihr kontrastiert, um die Wirkung des Gesamtzeichens noch zu intensivieren. Die Übertragung von sinnlich wahrgenommenen Bewegungen, im Zusammenhang mit anderen Modalitäten, in Sprache ist im Analysekorpus (T1 – T38) zu erkennen. Die Autoren der Beschreibungen von Tanzaufführungen entscheiden sich für die sprachliche Manifestation des Visuellen mit dem Ziel, auf übergreifende, oft seltsame, nicht selbstverständliche Korrespondenzen zwischen den erörterten Themen und den Körperbewegungen hinzuweisen. Anhand der Analyse des gesammelten Textkorpus sind diese Relationen festzustellen und sie werden in der Tabelle Nr. 1 zusammengestellt. Mit der Kursivschrift wird das sprachlich manifestierte Visuelle markiert. Beschreibung Behandeltes Thema einer Tanzaufführung T5 Thema: Gestaltung und Wahrnehmung der Realität Unterthema: Vielfalt der Realitäten

Verbalisierung des sinnlich Wahrgenommenen »Die technologischen Möglichkeiten der Augmented Reality machen die sonst unsichtbaren Spuren von Bewegung im Raum sichtbar. Sie erlauben deren Aufzeigen und Manipulieren. Beides wird möglich: die Vergegenwärtigung zurückliegender Bewegungen und mit den physischen Manifestationen von Choreografie.«

38 Wildgen, Wolfgang: Visuelle Semiotik. Die Entfaltung des Sichtbaren. Vom Höhlenbild bis zur modernen Stadt. Bielefeld: transcript-Verlag 2013, S. 181. 39 Hardt, Manfred: Poetik und Semiotik. Das Zeichensystem der Dichtung. Tübingen: Max Niemeyer Verlag 1976, S. 123–124.

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(Fortsetzung) Behandeltes Thema Beschreibung einer Tanzaufführung

Verbalisierung des sinnlich Wahrgenommenen

T6

Thema: Realisierung der Realität »Von der französischUnterthema: Rave als Ritual österreichischen Künstlerin bildgewaltig erzählt in zeitlupenhafter, hochverdichteter Bewegung.«

T9

Thema: Der Mensch in Relation mit anderen Menschen/Der Mensch als soziales Wesen Unterthema: das Kollektive/das Gemeinsame/ Koexistenz

»Gruppen verändern ihren Aggregatszustand [sic!], sie sind in permanentem Wandel, sie zerfallen und bilden sich neu. […] Denn Gruppen bestehen aus einzelnen Körpern.«

T12

Thema: Der Mensch in Relation mit anderen Menschen/Der Mensch als soziales Wesen Unterthema: neue Formen der Gemeinschaft und Gemeinsamkeit (dank neuer Technologie

»Fragen wie diese bilden den Hintergrund für Jasmine Ellis Stück Toni is lonely, das den Theaterschauspieler Philip Dechamps einem TanzEnvironment aussetzt. Je virtuoser die TänzerInnen agieren, desto manifester wird sein [sic!] Unvermögen.«

T17

Thema: Der Mensch in Relation mit anderen Menschen/Der Mensch als soziales Wesen Unterthema: das soziale Mit- und Gegeneinander

»Die australische Performancekünstlerin präsentiert ihrem Publikum ein moralisches Dilemma, dessen Untiefen sie in einer schweißtreibenden, simultanen Körper-, Denk- und Spracharbeit auslotet […].«

T18

Thema: Gestaltung und Wahrnehmung der Realität Unterthema: Details des alltäglichen Lebens

»Mit verschiedensten Mitteln, mit Bewegungen, Gerüchen und Popsongs versuchen die Performer*innen [sic!], ihre eigenen Erinnerungen abzurufen […].«

T22

Thema: Phänomene sozialgesellschaftlicher Natur, die die Menschen begleiten Unterthema: Krisen

»In einer Landschaft aus schwarzem Sand entfaltet sich ein faszinierender, hypnotischer Tanz und die sieben Tänzer*innen [sic!] verschmelzen zu bewegten Objekten, die wie ein Wachtraum immer neue Assoziationen hervorrufen.«

257

Tanzende Körper im Lichte sozialer Transformationen

(Fortsetzung) Behandeltes Thema Beschreibung einer Tanzaufführung

Verbalisierung des sinnlich Wahrgenommenen

T24

Thema: Der Mensch und seine Zustände und Empfindungen Unterthema: menschliche Zustände und Empfindungen im Kontrast

»Mit der Performerin Chloe Chignell und dem Musiker Morgan Hickinbotham schafft er eine hypnotisierende, intime Performance, die unsere Neugier auf das Unbekannte untersucht. An der Schnittfläche von Kunst und Wissenschaft spielend, wird der Körper zu den Extremen von Entfernung und Nähe, Verbundenheit und Isolation, Sicherheit und Unsicherheit geführt.«

T28

Thema: Der Mensch in Relation mit anderen Menschen/Der Mensch als soziales Wesen Unterthema: Diversität der Gruppe

»Zur Eröffnung des Festivals werden sich die Tänzer*innen [sic!] des Hessischen Staatsballetts in diese Druckkammer der Gefühle begeben, in der sie sich zart wie explosiv begegnen, und sich schließlich selbst der überwältigenden Flut aus getanzten Bildern ausliefern.«

T32

Thema: Gestaltung und Wahrnehmung der Realität Unterthema: Inszenierung in sozialen Medien

»Mal als Übungsleiterin, mal als Anthropologin nimmt uns Nfflria Guiu Sagarra mit auf eine physische Reise mit einem Hang zur Ironie.«

T33

Thema: Der Mensch in Relation mit anderen Menschen/Der Mensch als soziales Wesen Unterthema: das soziale Mit- und Gegeneinander

»Sie entwickelt das von ihr entwickelte Genre der Videochoreografie weiter und greift im Spannungsfeld von Videoarbeit und Liveperformance u. a. Einflüsse aus dem japanischen Low-Budget Filmgenre ›pinku eiga‹ auf. […] Das Stück entwickelt so einen dynamischen Raum zwischen Projektion, Publikum und Tanz, in dem alle Mit-Fühlende und somit Mit-Denkende sind.«

Tab. 1 Sprachliche Manifestation des visuell Wahrgenommenen in der Tanzaufführung40

40 Eigene Darstellung.

258

6.

Joanna Pe˛ dzisz

Abschließende Bemerkungen

Fragen nach Identität, Wertesystem(en), Realität(en), nach dem Funktionieren einer Gemeinschaft können, müssen aber nicht unbedingt »für machtpolitische Auseinandersetzungen missbraucht [werden]«.41 Sie haben ihren Schauplatz und Aushandlungsort auch anderswo, nicht zuletzt auf der Bühne, und, genauer, der Bühne des Tanzes. Auch dort, in der körperlichen Bewegung, geben diese Fragen Anlass und setzen Impulse zur tänzerischen Auseinandersetzung, die wiederum den Fragen eine neue Ästhetik in ihren diskursiven Dimensionen verleihen. Die in dem Beitrag präsentierten Ausführungen werden zum Plädoyer für die Anerkennung der Rolle des zeitgenössischen Tanzes als Instrument zum kritischen Hinterfragen der Wirklichkeit mit der Vielfalt ihrer Phänomene. In Anbetracht dessen können gewisse Berührungspunkte mit dem von SchmitzEmans42 zitierten Märchen vom Hasen und Igel gesehen werden: »Während die Hasen der jeweils aktuellen Theorien und Theoreme noch ehrgeizig rennen, um das Ziel – die modellhafte Beschreibung der Wirklichkeit – zu erreichen, ist der Igel der Literatur schon da, stachelig und antizipatorisch.«43 Es drängt sich die Vermutung auf, dass auch der Igel des Tanzes schon da ist: wild, hochsensibel, reflektierend und urteilsfähig.

41 Giessen, Hans W./Rink, Christian: Zur Relevanz von Kulturkonzepten. In: Migration in Deutschland und Europa im Spiegel der Literatur. Interkulturalität – Multikulturalität – Transkulturalität. Hrsg. von Hans W. Giessen/Christian, Rink. Berlin: Frank& Timme Verlag für wissenschaftliche Literatur 2017, S. 7. 42 Schmitz-Emans, Monika: Globalisierung im Spiegel literarischer Reaktionen und Prozesse. In: Literatur im Zeitalter der Globalisierung. Hrsg. von Manfred Schmeling/Monika SchmitzEmans/Kerst Walstra. Würzburg: Königshausen& Neumann 2000, S. 285–316. 43 Ebd., S. 286.

Urszula Topczewska (Warszawa)

Bedeutung als Kontextualisierung am Beispiel Gender

Abstract Die Rolle des Kontexts in der Bedeutungskonstitution besteht nicht darin, dass der Kontext Bedeutungen vorbestimmt bzw. vorgibt, sondern darin, dass Bedeutungen aus dem Kontext heraus interpretiert werden. In diesem Sinne kann von Interpretation als Kontextualisierung, d. h. als Akt der Bedeutungsgebung durch Bezug auf den Kontext, gesprochen werden. Im folgenden Beitrag werden im Unterschied zum gängigen Vorgehen der interpretativen Soziolinguistik, die sich auf nicht-referentielle Kontextualisierungshinweise konzentriert, v. a. die referentiellen als bedeutungsstiftende und für Bedeutung als Kontextualisierung ausschlaggebende Faktoren ausgewiesen. Zunächst werden rekurrente Wortverbindungen mit Gender im Archiv Paronym 2000 des DeReKo (Deutsches Referenzkorpus) mithilfe von COSMAS II identifiziert. Aus den statistisch signifikanten und semantisch auffälligen Gebrauchsmustern werden dann Bedeutungshinweise für Gender ermittelt, indem die Volltext-Belege für die ausgewählten Kollokationen qualitativ analysiert werden. Die Analyse soll eine Antwort auf die Frage geben, welche interpretatorischen Rückschlüsse die auffälligen Kookkurrenzen von Gender auf die Bedeutung des Wortes zulassen.

1.

Einführung

Bedeutung ist ein Terminus, der recht unterschiedlich aufgefasst werden kann. Es besteht aber mittlerweile in der Linguistik ein allgemeiner Konsens darüber, dass Bedeutungen durch sprachliche Ausdrücke nicht irgendwie »getragen«, sondern lediglich angezeigt bzw. angedeutet werden. Widdowson geht noch weiter und behauptet, dass Bedeutungen in sprachliche Texte hineingelesen werden: »We do not read possible meanings off from a text; we read plausible meanings into a text, prompted by the purpose and conditioned by the context.«1 1 Widdowson, Henry George: Text, Context, Pretext. Critical Issues in Discourse Analysis. Malden/Oxford/Victoria: Blackwell Publishing 2004, S. 19.

260

Urszula Topczewska

Bedeutungen werden allerdings auch durch den Kontext nicht vorgegeben. Die allgemein anerkannte prominente Rolle des Kontexts in der Bedeutungskonstitution besteht nicht darin, dass der Kontext Bedeutungen vorbestimmt bzw. vorgibt, sondern darin, dass Bedeutungen aus dem Kontext heraus interpretiert werden. In diesem Sinne kann von Interpretation als Kontextualisierung, d. h. als Akt der Bedeutungsgebung durch Bezug auf den Kontext, gesprochen werden. Im folgenden Beitrag werden im Unterschied zum gängigen Vorgehen der interpretativen Soziolinguistik, die sich auf nicht-referentielle Kontextualisierungshinweise konzentriert, v. a. die referentiellen als bedeutungsstiftende und für Bedeutung als Kontextualisierung ausschlaggebende Faktoren ausgewiesen. Im empirischen Teil des Beitrags werden zunächst rekurrente Wortverbindungen mit Gender im deutschen Referenzkorpus (DeReKo) mithilfe von COSMAS II identifiziert. Aus den statistisch signifikanten und semantisch auffälligen Gebrauchsmustern werden dann Bedeutungshinweise für Gender ermittelt, indem die Volltext-Belege für die ausgewählten Kollokationen qualitativ analysiert werden. Die Analyse soll eine Antwort auf die Frage geben, welche interpretatorischen Rückschlüsse die auffälligen Kookkurrenzen von Gender auf die Bedeutung des Wortes zulassen.

2.

Interaktive Konstruktion des Kontexts

Der sprachliche Kontext gilt allgemein als der Ausgangspunkt für eine Interpretation von Äußerungen. Jedes einzelne Wort verweist auf bestimmte Wissensrahmen, die interpretationsrelevante Zusammenhänge darstellen und Prämissen für die interpretativen Schlüsse liefern. Dies gilt sowohl für Autosemantika als auch für Funktionswörter. Das folgende Beispiel veranschaulicht zwei unterschiedliche Wissensrahmen, die die Nachbarwörter des Pronomens Wo für seine Interpretation in der Frage Wo bist du jetzt evozieren: (1) Ein Skype-Chat (B schaut sich während des Gesprächs ein Video an): A: Wo bist du jetzt? B: Ich bin zuhause. A: Ich meine, bei welcher Minute vom Video :) B: Ach so ;) B: 142

2 Der Beleg entstammt einem authentischen Chat-Gespräch, das im Februar 2015 geführt wurde.

Bedeutung als Kontextualisierung am Beispiel Gender

261

Die Bedeutung des Pronomens Wo wird im Kontext der Frage Wo bist du in der Regel (d. h. wenn keine besonderen Kontextangaben signalisiert werden) lokal verstanden. Wenn der Sprecher A von dieser Regel abweicht und das Pronomen in der temporalen Bedeutung gebraucht, muss er das explizit im Verlauf des Gesprächs sagen. Diese explizite Bedeutungsangabe erlaubt B, seine Antwort zu korrigieren. Bevor aber die korrigierte Antwort gegeben wird, bestätigt B, dass er den von A intendierten Zusammenhang erst jetzt verstanden hat. Und in diesem Moment wird die interaktive Konstruktion des Kontexts und somit auch die Kontextualisierung des Pronomens Wo abgeschlossen. Der objektiv gegebene Kontext ist erst dann bedeutungsstiftend, wenn er diskursiv signalisiert wird. Dabei gilt nicht nur für die temporale Interpretation des Pronomens Wo, sondern auch für eine lokale, dass jeweils referentielle Kontextsignale vorliegen müssen (etwa zuhause), damit diese Interpretation sinnvoll angenommen werden kann. Jef Verschueren bringt das wie folgt auf den Punkt: »Context contributes to clarity by being subject to negotiation, uptake or rejection, acceptance of uptake or renegotiation, and so on. This process, called contextualization, is one of the most important – if not the most important – ingredients in the verbal generation of meaning. In other words, contextual interpretations are actively signalled and/or used, and it is this fact that makes them most useful in linguistic analysis, because it is what makes them traceable.«3

Nach John Gumperz sind in jeder Äußerung bestimmte Hinweise darauf zu finden, welches Hintergrundwissen im gegebenen Fall verstehensrelevant ist4. Der Begriff Kontextualisierungshinweise wurde durch die interpretative Soziolinguistik geprägt, um diejenigen Kontextmerkmale hervorzuheben, die für die Bedeutungskonstitution ausschlaggebend sind. Bei der Kontextualisierung ist derjenige Wissensrahmen zu identifizieren, der ein deutlich höheres Maß an Selbstverständlichkeit bzw. an Konsensfähigkeit aufweist als die möglichen konkurrierenden Rahmen. Der verstehensrelevante Kontext ist nicht als objektiv gegeben anzusehen, sondern als ein kollektives Konstrukt, das dazu dient, in einer revidierbaren und für alle praktischen Zwecke ausreichenden Weise die kommunikative Situation zu definieren5. Dieses Hintergrundwissen, das die Kommunikationspartner sich gegenseitig unterstellen (der Andere weiß, dass ich weiß, dass er weiß, dass p), 3 Verschueren, Jef: Understanding Pragmatics. London: Edward Arnold/New York: Oxford University Press 1999, S. 111. Alle Hervorhebungen im Zitat stammen vom Autor. 4 Vgl. Gumperz, John Joseph: Discourse Strategies. Cambridge: Cambridge University Press 1983. 5 Vgl. Auer, Peter : Introduction: J. Gumperz’ approach to contextualization. In: The contextualization of language. Hrsg. von Peter Auer, Aldo Di Luzio. Amsterdam: John Benjamins 1996, S. 23.

262

Urszula Topczewska

wurde in der Forschungsgeschichte unterschiedlich aufgefasst: als pragmatische Präsuppositionen6, kollektives Wissen7, Implizituren8, gemeinsam akzeptierter Glaube9. Das Wissen unterliegt nicht den Wahrheitsbedingungen, sondern wird in einer Diskursgemeinschaft allgemein als wahr akzeptiert, wobei gelegentliche Divergenzen in den Wissensbeständen bzw. im aktualisierten Wissen direkt zu Interpretationsunterschieden – wie in Beispiel (1) gezeigt – führen. Als ein weiteres Beispiel sei hier das Prädikat jung in einem ungewöhnlichen Prädikationsrahmen angeführt, bezogen etwa auf einen Gegenstand und nicht auf ein Lebewesen: (2) Aufzüge sind fast immer jünger als ich. Sie sind, ab etwa 1970, verbeult, verdreckt und verrostet. Sie sehen runtergerockt und abgenudelt aus. Jünger als ich sind sie trotzdem.10 Mit dieser Art von Kontextualisierung haben wir es auch bei Wortspielen, z. B. in Witzen, zu tun. Zwei verschiedene ausdruckssyntaktische Kontextualisierungen (beruflich stehen vs. überhaupt stehen) bzw. zwei verschiedene Prädikationsrahmen werden im folgenden Beispiel zur Erzeugung eines komischen Effekts eingesetzt: (3) Neulich aß ich mit einer Kollegin. Sie fragte: »Wo möchten Sie beruflich in zehn Jahren eigentlich stehen?« Eine typische Psychofrage aus Bewerbungsgesprächen. Was soll das? Ich bin froh, wenn ich in zehn Jahren überhaupt noch stehen kann, egal wo.11 Die Kontingenz sprachlicher Bedeutungen hat noch weitere Folgen für ihre linguistische Beschreibung: Wenn sie nur in ihren kulturgeschichtlichen Zusammenhängen zu erfassen sind, kommt es bei ihrer Beschreibung nicht zuletzt auf außersprachliche Faktoren an, die ebenfalls als Kontext von Sprechhandlungen identifiziert werden können. Der Kontext beeinflusst freilich die Interpretation sprachlicher Äußerungen nicht im Sinne einer Vorbestimmung bzw. einer kognitiven Vorgegebenheit von Bedeutungen, sondern Bedeutungen 6 Vgl. Stalnaker, Robert: Pragmatic presupposition. In: Semantics and Philosophy. Hrsg. von Milton Munitz/Peter Unger. New York: New York University Press 1974, S. 197–213. 7 Vgl. Keller, Rudi: Wahrheit und kollektives Wissen. Zum Begriff der Präsupposition. Düsseldorf: Schwann 1974. 8 Vgl. Bach, Kent: Conversational Impliciture. In: Mind and Language 9, 1994, H. 2, S. 124–162. 9 Vgl. Stalnaker, Robert: Common Ground. In: Linguistics and Philosophy 25, 2002, H. 5–6, S. 701–721. 10 (Zugriff am 29. 05. 2015). 11 (Zugriff am 29. 05. 2015).

Bedeutung als Kontextualisierung am Beispiel Gender

263

werden aus dem Kontext heraus interpretiert. Schauen wir uns die folgende Bedeutung des Wortes Kompetenz an, das im bildungspolitischen Kontext auch dann verwendet werden kann, wenn man nichts lernt; auch dann, wenn man kein Wissen vermittelt, sondern nur die Fähigkeit, ohne dieses Wissen zurechtzukommen. (4) Um Menschen vor dem Ertrinken zu schützen, muss man ihnen also gar nicht das Schwimmen beibringen. Es genügt, sie frühzeitig darüber aufzuklären, dass tiefes Wasser gefährlich ist. Dies entspricht ja auch dem aktuellen Trend in der Bildungspolitik, auswendig gelerntes Wissen wird abgelehnt. Statt irgendwelcher Fakten und Zahlen sollen die Schüler einfach »Kompetenzen« erwerben. Statt in stumpfsinnigem Drill auswendig zu lernen, wie die Kraulbewegung geht, erwerben die Kinder die Nichtertrinkungskompetenz, Gewässer und Brücken zu meiden. Dazu ist nicht einmal ein Sportlehrer erforderlich. Dieses Prinzip lässt sich vermutlich in sämtlichen Fächern anwenden. Ich sehe das kritisch.12 Der Kontext bildet den Inhalt einer Interpretation und kann unter Umständen auch interaktiv ausgehandelt werden (was man gerne auch von den herkömmlichen Bedeutungen behauptet), indem die Kommunikationspartner einander das für die Interpretation relevante Hintergrundwissen (relevantes Wissen um den Kontext) signalisieren. Dieser Prozess des interaktiven Aufbaus des Kontexts kann im Anschluss an die interpretative Soziolinguistik Kontextualisierung genannt werden. Allerdings beschränkt sich das signalisierte Wissen nicht etwa nur auf prosodische, gestische, kinetische u. ä. nicht-referentielle Kontextualisierungshinweise, wie von Gumperz betont wurde, sondern kann auch aus dem benachbarten Ko-text erschlossen werden, worauf bereits die Vorläufer der Kontextualisierungsforschung wie Bronisław Malinowski und Karl Bühler in den dreißiger Jahren des 20. Jhs. hingewiesen haben13. Die im Rahmen der modernen Semantikforschung unter dem Stichwort »semantische Nähe« behandelten referentiellen Kontextualisierungshinweise werden in den korpuslinguistischen Arbeiten bei der Analyse des Kookkurrenzprofils ebenfalls berücksichtigt14. 12 (Zugriff am 29. 05. 2015). 13 Vgl. Malinowski, Bronisław: Problem znaczenia w je˛zykach pierwotnych. In: Je˛zykoznawstwo Bronisława Malinowskiego. Hrsg. von Krystyna Pisarkowa. Krakjw: Universitas. Bd. 2, 2000, S. 5–48; Bühler, Karl: Sprachtheorie. Die Darstellungsfunktion der Sprache. Stuttgart/ New York: Gustav Fischer 1934/1982. 14 Vgl. Belica, Cyril: Semantische Nähe als Ähnlichkeit von Kookkurrenzprofilen. In: Korpusinstrumente in Lehre und Forschung. Hrsg. von Andrea Abel/Renata Zanin. BozenBolzano: Freie Universität 2011, S. 155–178.

264

Urszula Topczewska

Diesen methodologischen Gedanken sollen die folgenden Ausführungen veranschaulichen und weiterführen.

3.

Korpusbasierte Bedeutungskontextualisierung

Texte als Produkte kommunikativer Handlungen bzw. diskursiver Praktiken15 stellen die empirische Basis für die linguistische Ermittlung von Bedeutungen dar. Wenn man die Bedeutung eines Wortes im Anschluss an Wittgensteins »Philosophische Untersuchungen« als Regel seines Gebrauchs definiert, und zwar als eine in der betreffenden Sprachgemeinschaft geltende Regel im Sinne Lewis, ist die Bedeutung ein beobachtbares und empirisch erfassbares Phänomen16. Eine Gebrauchsregel wird durch die kommunikative Praxis instituiert und kann ggf. abgeändert bzw. ganz aufgehoben werden. Sie ist also keine konstitutive (notwendige) Regel im Sinne Searles17, sondern eine normative im Sinne Brandoms18. Diesen Gedanken kann man bereits im britischen Kontextualismus vorfinden. Firth meint etwa, dass wichtige Bedeutungshinweise aus rekurrenten Wortgebrauchskontexten gewonnen werden können, und erklärt somit Gebrauchspräzedenzen zu Bezugspunkten für eine Bedeutungsinterpretation: »You shall know a word by the company it keeps«19. Die semantische Interpretation der Bedeutung erfolgt also aus den syntagmatischen Bedeutungsbeziehungen eines Gebrauchsmusters heraus20. Bedeutung als regelmäßig erwartbare Kontextualisierung kann insofern auch statistisch ermittelt werden. Je nachdem, auf welcher Bedeutungsebene man die Bedeutung rekonstruiert, benutzt man verschiedene Kontextualisierungshinweise. In Anschluss an Herbert Paul Grice kann man die wichtigsten Bedeutungsebenen als konventionelle/ wörtliche Bedeutung, Situationsbedeutung, Sprecherbedeutung bezeichnen.21

15 Vgl. Warnke, Ingo H./Spitzmüller, Jürgen: Diskurslinguistik. Eine Einführung in Theorien und Methoden der transtextuellen Sprachanalyse. Berlin/Boston: de Gruyter 2011. 16 Vgl. Topczewska, Urszula: Konnotationen oder konventionelle Implikaturen? Frankfurt am Main et al.: Peter Lang 2012, S. 57–113. 17 Vgl. Searle, John R.: Speech acts. An essay in the philosophy of language. Cambridge: Cambridge University Press 1969. 18 Vgl. Brandom, Robert: Making It Explicit. Reasoning, Representing, and Discursive Commitment. Cambridge: Harvard University Press 1994. 19 Firth, John Rupert: Papers in Linguistics 1934–1951. London: Oxford University Press 1957, S. 11. 20 Vgl. Stubbs, Michael: Corpus semantics. In: Routledge Handbook of Semantics. Hrsg. von Nick Riemer. New York/London: Routledge 2016, S. 106–121. 21 Vgl. Grice, Herbert Paul: Studies in the Way of Words. Cambridge Mass./London: Harvard University Press 1989, S. 117–137.

Bedeutung als Kontextualisierung am Beispiel Gender

265

Parallel dazu gibt es nach Dietrich Busse die folgenden drei Ebenen der Kontextualisierung: 1. zeichentheoretische Kontextualisierung: Was bedeutet Zeichen X in Kontext Y? 2. kollektiv-epistemische Kontextualisierung: Welche Wissensbestände werden durch das kommunikativ eingesetzte Zeichen X aktiviert? 3. individuell-epistemische Kontextualisierung: Was meint der Sprachbenutzer mit X in Kontext Y?22 Im Folgenden möchte ich zeigen, dass, während die individuell-epistemische Kontextualisierung v. a. gesprächslinguistisch zu ermitteln ist, die beiden anderen Ebenen sich auch anhand von Korpora geschriebener Texte ermitteln lassen. Es sind rekurrente Gebrauchskontexte, aus denen Kontextualisierungshinweise gewonnen werden, indem signifikante Kookkurrenten untersucht werden.

4.

Das Beispiel Gender – Datenbasis und Vorgehen

Die semantische Bandbreite von Gender wird hier in den elektronischen Korpora schriftlicher Texte des Mannheimer Instituts für Deutsche Sprache (IDS) untersucht. In Bezug auf die Kontextualisierung des Wortes Gender im DeReKo lauten meine Forschungsfragen wie folgt: – Was gehört zum kollektiven Wissen, das beim Gebrauch des Wortes regelmäßig aktiviert wird? – Welche Gebrauchskontexte lassen sich im Kookkurrenzprofil für Gender identifizieren? – Welche interpretatorischen Rückschlüsse lassen die statistisch auffälligen Kookkurrenzen von Gender auf die Bedeutung des Wortes zu? – Welche Bedeutungen von Gender ergeben sich aus den semantisch auffälligen Gebrauchskontexten des Wortes? Die beiden ersteren Fragen beziehen sich auf die kollektiv-epistemische Kontextualisierung; die zwei letzteren betreffen die zeichentheoretische Kontextualisierung.

22 Vgl. Busse, Dietrich: Diskurslinguistik als Kontextualisierung: Methodische Kriterien. Sprachwissenschaftliche Überlegungen zur Analyse gesellschaftlichen Wissens. In: Diskurslinguistik nach Foucault. Theorie und Gegenstände. Hrsg. von Ingo Warnke. Berlin/New York: de Gruyter 2007, S. 81–105.

266

Urszula Topczewska

Meine Datenquelle bilden authentische Sprachdaten aus dem DeReKo, das im September 2017 am IDS mithilfe von COSMAS II untersucht wurde. Die Untersuchungskorpora waren das W-Archiv des DeReKo mit über 7,6 Mrd. Wörtern Umfang (benutzt für die Erfassung allgemeiner Tendenzen im Gebrauch des Wortes) und das Archiv Paronym 2000 mit ca. 2,4 Mrd. Wörtern Umfang (benutzt für die Kookkurenzanalyse und qualitative Analyse der semantisch auffälligsten Belege). Die untersuchte Kontextgröße wurde explorativ eingesetzt: 9 Wörter links und 9 Wörter rechts (ein größerer Kontext wäre unüberschaubar). Berücksichtigt wurde dabei, dass sich die durchschnittliche Satzlänge (tokenSätze) im Korpus auf 14–15 Wörter beläuft. Im W-Archiv der geschriebenen Sprache, im Korpus W-gesamt, das alle Korpora des Archivs W (mit Neuakquisitionen) auf der Grundlage des Deutschen Referenzkorpus (DeReKo-2017-I) umfasst, wurde folgende Suchanfrage durchgeführt, um die wichtigsten Wortformen von Gender zu identifizieren: gender* (Groß- und Kleinschreibung nicht beachten) Die 16 häufigsten Wortformen aus dem W-Gesamt wurden dann im Korpus PARONYM-gesamt, das alle Korpora des Archivs PARONYM (Texte aus dem Zeitraum von 1990 bis 2015) auf der Grundlage des Paronymkorpus (DeReKo2015-II) umfasst23, mithilfe folgender Suchanfragen für eine statistische Untersuchung bereitgestellt: gender+ (Groß- und Kleinschreibung nicht beachten) gender++ainstreaming+ (Groß- und Kleinschreibung nicht beachten) gender++orschung++ (Groß- und Kleinschreibung nicht beachten) gender++udgeting+ (Groß- und Kleinschreibung nicht beachten) genderfrage+ (Groß- und Kleinschreibung nicht beachten) gender++tudies (Groß- und Kleinschreibung nicht beachten) gender++ahn+ (Groß- und Kleinschreibung nicht beachten) gender++ebatte+ (Groß- und Kleinschreibung nicht beachten) gendergerecht++++ (Groß- und Kleinschreibung nicht beachten) genderismus (Groß- und Kleinschreibung nicht beachten) gender++deologie (Groß- und Kleinschreibung nicht beachten) Die angewendete Untersuchungsmethode bestand aus den folgenden vier Schritten: 23 Das Archiv Paronym umfasst 32 deutsche regionale und überregionale Zeitungen von 1990 bis 2016, die meisten Texte stammen aus den Jahren 2000–2010.

267

Bedeutung als Kontextualisierung am Beispiel Gender

– Identifikation rekurrenter Wortverbindungen mit Gender ; – statistische Kookkurrenzanalyse der signifikanten Verwendungsmuster (Kollokationen) für Gender und ausgewählter Wortverbindungen mit Gender bei Kontextgröße bis zu 18 Wörtern; – manuelle Extrahierung semantisch auffälliger (sowohl häufiger als auch seltenerer) Kollokationen aus den gewonnenen Kookkurrenzprofilen; – induktive Korpusmusteranalyse: Generalisierung der Interpretation von Volltext-Belegen für die ausgewählten Kollokationen.

5.

Ergebnisse der Untersuchung

Gender ist ein eher seltenes Wort mit über 15 000 Treffern und Häufigkeitsklasse 14 im Korpus W-gesamt (für gender 14 600 Treffer, für gender+ lag die Trefferanzahl bei 15 436). Wenn man eine Häufigkeitsliste (absolute Häufigkeit) für die Lemmata von DeReKo anfertigen würde, würde gender den Rang 53 697 einnehmen, gender+ dagegen 51 876 (eine gewisse Unschärfe der Berechnung vorbehalten). Gender kommt genauso häufig vor wie Werbevertrag, Richtigstellung, luftdicht und Archiv-Foto, öfter als Verbrechensbekämpfung und seltener als aufgestaut. Gender+ kommt genauso häufig vor wie Jugendarzt, Briefwähler und unaufgefordert, öfter als Urenkelin und seltener als Bezirkschef. Die chronologische Verteilung der Belege für Gender lässt sich wie folgt grafisch darstellen: 7

6

5

4

3

2

1

Abb. 1: Zeitverlaufsgrafik für Gender im W-gesamt

2016

2015

2014

2013

2012

2011

2010

2009

2008

2007

2006

2005

2004

2003

2002

2001

2000

1999

1998

1997

1996

1995

1994

1993

1992

1991

1990

1989

1988

1987

1986

1984

1983

1982

1977

1970

1969

0

268

Urszula Topczewska

In der Zeitverlaufsgrafik kann man 1994 die erste wesentliche Zunahme der Wortverwendung verzeichnen, was durch das Aufkommen der Gender-Debatte zu erklären wäre. Die Zunahme der Verwendung von Gender ab 2000 hängt dagegen eng mit der Aufnahme von Wikipedia-Artikeln und Online-Diskussionen in das DeReKo zusammen. Die Verteilung der häufigsten Gender-Wortformen im W-Gesamt (COSMASExpansionsliste) ist folgende: Gender gender

12796 1694

Gender-Mainstreaming

1474

Genderforschung

404

Gendern

371

Gender-Budgeting

352

Genderfragen

245

Gender-Studies

237

Genders

212

Genderwahn

195

Gender-Debatte

188

gendergerechte

179

Gender-Forschung

170

Genderismus

169

gendern

165

Gender-Ideologie

162

Abb. 2: COSMAS-Expansionsliste für Gender im W-gesamt

Die folgende Zeitverlaufsgraphik für erste statistisch ermittelte typische Verwendungen von Gender im W-gesamt (Abb. 3) berücksichtigt die ersten 14 auffälligsten Kollokatoren. Die Wortproduktivität wächst deutlich in den Jahren 2014–2015; in diesem Zeitraum nimmt auch die Restkategorie »weitere Bildungen« zu. Dies kann als Zeichen dafür interpretiert werden, dass das Wort sich inzwischen eingebürgert hat und als solches im kreativen Umgang mit der deutschen Sprache häufiger eingesetzt wird. Es entstehen u. a. solche Neologismen wie z. B. Zweigenderung: (5) Als »Professx« (sic!) für Gender Studies an der Humboldt-Universität in Berlin eliminiert sie jede denkbare Form von Ausgrenzung durch sprachmolekulare Teilchenbeschleunigung. Deshalb nennt sie sich »Professx«, ausgesprochen wie in »Professix und Obelix«. Die x-Endung findet Horn-

Abb. 3: Zeitverlauf für Gender-Wortformen im Korpus W-gesamt

0

1

2

3

4

5

6

7

1969 1970 1977 1982 1983 1984 1986 1987 1988 1989 1990 1991 1992 1993 1994 1995 1996 1997 1998 1999 2000 2001 2002 2003 2004 2005 2006 2007 2008 2009 2010 2011 2012 2013 2014 2015 2016

weitere Bildungen

Gender

gender

Gender-Mainstreaming

Genderforschung

Gendern

Gender-Budge!ng

Genderfragen

Gender-Studies

Genders

Genderwahn

Gender-Deba"e

gendergerechte

Gender-Forschung

Genderismus

gendern

Gender-Ideologie

Bedeutung als Kontextualisierung am Beispiel Gender

269

270

Urszula Topczewska

scheidt knorke, da »in diesen ganzen Unterstrich-Formen immer auch Zweigenderung aufgerufen« wird, mithin also die populäre Illusion, »dass es Frauen und Männer gibt.«24 Die nächste Tabelle stellt die ersten 14 statistisch signifikanten Kollokatoren von Gender im Paronym-Archiv dar25. Charakteristisch für diese Kookkurrenzen sind Mehrwort-Anglizismen und Wörter, die zum Wortfeld Geschlecht (Hyperonym zu Gender) gehören. Der Kollokator Frauen kann als Hinweis darauf interpretiert werden, dass für den Gender-Diskurs das Thema Gleichberechtigung zentral ist.

Rang LLR

kumul. Häufig. links rechts Kollokatoren

Syntagmatische Muster 93 % Gender […] Mainstreaming

1

19096 739

739

1

1

Mainstreaming

2

8359

1177

438

1

1

Studies

96 % Gender […] Studies

3

1938

1255

78

1

1

Mainstreaming

62 % gender mainstreaming

4

1716

1332

77

1

4

Budgeting

92 % das Gender [… Gender] Budgeting

5

1574

1416

84

1

2

Gap

86 % der … Gender [Pay] Gap

6

1278

1478

62

1

1

studies

82 % gender […] studies

7

1126

1590

112

-9

9

Geschlecht

45 % Gender [… das …] Geschlecht

8

1067

1652

62

1

1

Trouble

91 % Gender Trouble

9

895

1709

57

1

2

Diversity

94 % für Gender [und] Diversity

10

814

1962

253

-9

9

Frauen

41 % Gender [Mainstreaming … und …] Frauen

11

739

2005

43

1

1

Pay

83 % der … Gender Pay Gap …

24 die tageszeitung, 29. 11. 2013, S. 20 (Quellenangabe aus dem Korpus). 25 Aus Platzgründen werden die entsprechenden Tabellen für die ausgewählten Gender-Wortbildungen: Gender-Mainstreaming, Genderforschung, Gender-Budgeting, Genderfragen, Gender-Studies, Genderwahn, Gender-Debatte, gendergerecht, Genderismus, Gender-Ideologie nicht angeführt.

271

Bedeutung als Kontextualisierung am Beispiel Gender

(Fortsetzung) Rang LLR

kumul. Häufig. links rechts Kollokatoren

Syntagmatische Muster 57 % Gender MainstreamingjTrouble … Unbehagen diejder Geschlechter

12

691

2074

69

-9

9

Geschlechter

13

675

2168

94

-5

7

and

54 % Gender […] and

14

561

2199

31

-1

-1

Doing

77 % Doing […] Gender

Abb. 4: Kookkurrenzprofil für Gender (Ausschnitt)

Als semantisch saliente Kookkurrenzen von Gender wurden manuell die folgenden 40 ausgewählt. Sporadisch fehlerhafte Daten, die in der KWIC-Ansicht dabei festgestellt wurden, z. B. mit falschen Leerzeichen wie nahe lie gender, überzeu gender sind insofern unerheblich für die gesamte Trefferanzahl, als es bei 100 zufällig sortierten Ergebnissen keinen einzigen Fall davon gab. #

Total

Anzahl

Autofokus von

bis

LLR

Kookkurrenzen

Syntagmatische Muster

1

739

739

1

1

19096

Mainstreaming

93 % Gender […] Mainstreaming

z

1177

438

1

1

8359

Studies

96 % Gender […] Studies

4

1332

77

1

4

1716

Budgeting

92 % das Gender [… Gender] Budgeting

5

1416

84

1

2

1574

Gap

86 % der … Gender [Pay] Gap

7

1590

112

-9

9

1126

Geschlecht

45 % Gender [… das …] Geschlecht

10

1962

253

-9

9

814

Frauen

41 % Gender [Mainstreaming … und …] Frauen

22

4149

59

-9

2

365

Sex

84 % Sex [und …] Gender

24

4213

25

-3

8

338

Queer

76 % Gender [und …] Queer StudiesjTheory und

25

4247

34

-9

9

338

Feminismus

47 % Feminismus [… und …] Gender Studies …

26

4278

31

-9

9

326

Frauenförderung

48 % Frauenförderung [… und …] Gender Mainstreaming …

33

4549

22

-8

8

281

Geschlechtergerechtigkeit

54 % Gender [Mainstreaming … nicht … mehr] Geschlechtergerechtigkeit

272

Urszula Topczewska

(Fortsetzung) #

Total

Anzahl

Autofokus von

LLR

Kookkurrenzen

Syntagmatische Muster 80 % der Gleichstellungspolitik [im Sinne …] Gender Mainstreaming …

bis

40

5169

20

-9

8

241

Gleichstellungspolitik

59

6213

24

-9

9

169

Chancengleichheit

54 % Gender Mainstreaming … für diejzur der Chancengleichheit von

83

7662

10

-6

9

132

Lohnlücke

60 % Gender … PayjAls GapjGender … die wird … Lohnlücke zwischen

86

7720

20

-9

8

130

Gleichberechtigung

55 % Gender … und … die Gleichberechtigung

88

7784

38

2

9

124

soziale

60 % Gender … das … soziale Geschlecht …

90

7814

17

-1

-1

120

Studiengang

70 % denjder Studiengang […] Gender Studies und

91

7844

30

-9

9

118

Strategie

60 % von Gender … Mainstreaming als ist … politischejeine … Strategie

94

7987

81

1

7

116

heißt

58 % Gender [… Mainstreaming … Gender …] heißt es …

95

7997

10

-8

9

116

bzw

50 % Gender Mainstreaming … bzw

188 10004 14

-8

9

66

sexuelle

57 % Gender FUNDAMENTALCHRISTENjund … oder … die sexuelle Orientierung

190 10021 12

-5

5

66

soziales

50 % Gender als … soziales Geschlecht …

Kontext

61 % englische Wort Gender Das bedeutet das imjGeschlecht … sozialen Kontext die Geschlechtsrolle

verrückbar

100 % etwas mit Gender zu tun haben wirkt gleichzeitigjaber … verschiebbar verrückbar

194 10063 13

225 10448 3

-7

8

9

9

64

59

273

Bedeutung als Kontextualisierung am Beispiel Gender

(Fortsetzung) #

Total

Anzahl

Autofokus von

LLR

Kookkurrenzen

Syntagmatische Muster 55 % Unterscheidung von biologischem zwischen sex undjsozialem Geschlecht … gender und …

bis

227 10462 9

-9

-2

59

Unterscheidung

233 10529 4

1

3

57

Interkulturalität

100 % Gender […] Interkulturalität

251 10659 7

-6

9

55

Sexismus

42 % Gender … und … Sexismus

259 10721 3

2

5

54

Frauenforschungszentrum

100 % Gender … Frauenforschungszentrum

294 12418 10

1

3

49

Medizin

80 % Gender [in der] Medizin

321 12617 8

-9

9

45

AfD

50 % AfD … gegen Gender Mainstreaming …

334 12687 3

-6

4

44

Geschlechteridentität

33 % Gender Geschlechteridentität

339 12797 11

-2

1

44

Religion

54 % Brandeis für Religion Kultur Gender und Recht

355 12897 4

-7

-3

42

biologischem

75 % biologischem … sozialemjGeschlechtjundjsex … gender

358 12926 4

-8

-6

41

patriotische

100 % eine patriotische Alternative und Bewegung des freien Wortes gegen Gender Mainstreaming Multikulturalismus

359 12929 3

-2

1

41

Ethnizität

66 % Gender Ethnizität

360 12941 12

-2

-2

41

englischen

66 % englischen BegriffsjBegriffen Begriff Gender Mainstreaming …

415 14014 3

1

1

37

Identity

100 % Gender Identity

421 14043 7

6

7

37

Ideologie

71 % Gender Gaga … eine … Ideologie

426 14087 21

-6

6

37

beschäftigt

42 % Gender [Studies und … -] beschäftigt sich …

427 14091 4

-4

-3

37

Forschungszentrum

100 % Forschungszentrum Musik und Gender

451 14307 5

-7

9

35

Foucault

80 % Gender Studies … Foucault

Abb. 5: Semantisch auffällige Kookkurrenzen

274

Urszula Topczewska

Insgesamt beweisen die Ergebnisse, dass Gender bereits ein allgemein anerkannter und viel diskutierter Begriff ist, was das folgende Volltext-Beispiel gut auf den Punkt bringt: (6) Der Begriff »Gender Mainstreaming« ist heute allgemein anerkannte Linie in der Frauenpolitik, auch Kanzler Schröder und Ministerpräsident Kurt Beck können ihn inzwischen aussprechen.26

6.

Interpretation von Gender-Wortbildungen und -Kookkurrenzen

Was besagen die semantisch und statistisch auffälligen syntagmatischen Muster über die Bedeutung von Gender? In den analysierten Volltext-Belegen konnten insgesamt über hundert verschiedene Gebrauchsweisen von Gender identifiziert werden, die sich in folgende Kategorien einteilen lassen: – Gender als Agens (z. B. die Dominanz der Gender Studies, Gender Mainstreaming ist wahre Sisyphusarbeit; Das Wort »Gender« bezeichnet das »soziale Geschlecht«, es steht im Gegensatz zum biologischen Geschlecht, welches in der Wissenschaft »Sex« heißt.) – Gender als Patiens (Debatten über Race, Gender und Queerness, Sie machen was mit Kunst und studieren was mit Gender oder sind bloß zu Besuch, Die moderne Frau öffnet den Mund, um ihrem Mann von Arbeitsteilung und Gender zu erzählen); – Gender in Attribuierungen (z. B. Mehr zum Thema Mode und Gender, die Politik des »Gender Mainstream«, dem Prozess des Gender Mainstream, Aber auch beim nächsten Schritt, dem Gender Budgeting, kann ihre Initiative erste Erfolge verbuchen); – Kookkurrenzen, die Bezeichnungen für Institutionen, Forschungsrichtungen, Initiativen etc. sind (z. B. Gender Studies Center, Forschungsbereich Gender und Neue Medien, Masterstudiengang zur Gender- und Diversity Kompetenz, Gender Learning, Juniorprofessorin für Öffentliches Recht und Legal Gender Studies, Sozialökonom mit dem Schwerpunkt Gender Studies, Tagung »Gender in Motion«); – Kookkurrenten, die Gender thematisch zuordnen (z. B. Chancengleichheit, Gleichberechtigung, Gleichstellungspolitik, Lohnlücke, Geschlechtergerechtigkeit, Frauenförderung, Frauenforschungszentrum, Feminismus, politische Strategie);

26 Rhein-Zeitung, 16. 07. 2001 (Quellenangabe aus dem Korpus).

Bedeutung als Kontextualisierung am Beispiel Gender

275

– Kookkurrenten, die Gender- und Genderkompositadefinitionen einführen (z. B. heißt, beschäftigt sich mit, bezeichnet, bedeutet, ist, bzw.); – Synonyme (im Sinne anaphorischer Verweise auf Gender, z. B. das soziale Geschlecht, kulturelles Geschlecht, sexuelle Orientierung, Geschlechtsrolle, Geschlechtsidentität); – Antonyme (z. B. biologisches Geschlecht, Sex, aber auch Religion, patriotische Alternative); – Attribuierung von Gender in Gender-Komposita (z. B. Gender Mainstreaming, Gender Budgeting, aber auch Genderwahn, Genderkonflikte, Gender-Brille); – Kookkurrenten, die auf eine evaluative Bedeutung von Gender hinweisen (z. B. Forschung, Studies, Ideologie, Wahnsinn). Die Kategorie der Antonyme fällt statistisch kaum signifikant aus, was auf einen positiven axiologischen Wert des untersuchten Wortes hindeuten müsste. Allerdings gehören zu den rekurrenten Verwendungskontexten von Gender auch solche Kollokationen, die den Begriff negativ bewerten. Kookkurrrenzen, die diese negative Bedeutung mit konstituieren, sind nicht nur eindeutig abwertend markierte Ausdrücke wie z. B. Genderwahn, sondern sie klingt auch im folgenden Beispiel mit an: (7) Auch seriöse Stimmen sorgen sich, was starke Frauen und die Chaostheorien der Gender Studies vom starken Geschlecht übrig gelassen haben27. Die Kategorie der evaluativen Bedeutung scheint die interessanteste für die semantische Profilierung von Gender zu sein. Da Bewertungsstandards, die für evaluative Bedeutungen verantwortlich sind, zeit- und situationsgebunden sind28, wäre es für zukünftige Untersuchungen besonders anregend, diskursive Zusammenhänge zu analysieren, in denen mit Gender nicht nur eine neutrale oder positive Wertung standardmäßig zum Ausdruck gebracht wird, sondern auch eine eindeutig negative. Diese Zusammenhänge sind im DeReKo aus verschiedenen Gründen unterrepräsentiert, nicht zuletzt deswegen, weil das Korpus v. a. Mainstreammedien und kaum die vollständige Bandbreite meinungsbildender Diskurse berücksichtigt.

27 Die Zeit Online-Ausgabe, 01. 04. 2004 (Quellenangabe aus dem Korpus). 28 Vgl. Potts, Christopher : The expressive dimension. In: Theoretical Linguistics 33, 2007, H. 2, S. 165–198.

276

7.

Urszula Topczewska

Fazit

Die in der vorliegenden Untersuchung stichprobenartig gewonnenen Belege zur Kontextualisierung von Gender konnten wegen allzu großer Anzahl qualitativ nicht erfasst werden. Weil nur ein ausgewählter Ausschnitt statistisch ermittelter salienter Belege interpretiert werden konnte, wurden aus den gewonnenen Kookkurrenzprofilen, d. h. aus den signifikanten Kollokationen bei Kookkurrenzstärke (LLR-Maß) über 35, bei Zuverlässigkeit hoch, semantisch auffällige (sowohl häufige als auch seltenere) Kollokationen manuell gefiltert. Bei der Analyse der extrahierten syntagmatischen Muster wurde induktiv vorgegangen, indem Interpretationen von Volltext-Belegen für die ausgewählten Kollokationen generalisiert wurden. Die semantische Variabilität des analysierten Lexems ist eindeutig axiologisch profiliert und kann aus der positiven oder negativen Bewertung von Ausdrücken abgeleitet werden, mit denen Gender in syntagmatischen Beziehungen auftritt, oder von Aktivitäten, deren Subjekt bzw. Objekt Gender ist. Für die linguistische Hermeneutik ist dieser engere und weitere lexikalische Kontext ein empirischer Hinweis, der es ermöglicht, nicht nur die deskriptive Bedeutung von Gender zu bestimmen, sondern auch die evaluative. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass im Mediendiskurs zumindest zwei evaluative Bedeutungen von Gender miteinander konkurrieren. Es wird zum einen als zivilisatorische Chance und Symbol für positive Werte verstanden, zum anderen aber auch als soziale Bedrohung und Ablehnung moralischer Werte.

Eliza Chabros (Lublin)

Auf dem Weg zur Mehrsprachigkeitsdidaktik – über das neue Paradigma und seine Herausforderungen aus der Lehrerperspektive

Abstract Die immer größere ethnische Heterogenität europäischer Länder (folglich auch der Schulklassen) und die daraus resultierenden sehr unterschiedlichen sprachlichen Hintergründe der Lernenden, machen eins klar : Die Sprachenbildung muss konsequenterweise das Konzept der Mehrsprachigkeit fördern und in der Unterrichtspraxis durchsetzen. Die bewährten Lehrmethoden greifen jedoch nicht mehr richtig und sind nicht imstande, über den Rahmen der additiven Mehrsprachigkeit hinauszugehen. Das ambitionierte Ziel, bei Lernenden eine funktionelle mehrsprachige Kompetenz zu entwickeln, bedarf des Paradigmenwechsels von der separaten zur integrativen Fremdsprachendidaktik. Der vorliegende Beitrag widmet sich den Lehrpersonen, die den Umwandlungsprozess hin zur Mehrsprachigkeitsdidaktik maßgeblich gestalten. Er geht auf die Fragen ein, welche Rolle die Lehrpersonen bei der Umsetzung innovativer Methoden spielen, welchen Ansprüchen die Lehrenden, die in der monolingualen Lehr- und Lerntradition aufgewachsen sind, gerecht werden müssen und welche Kompetenzen sie erwerben sollten, um an Professionalität und Authentizität nicht einzubüßen.

1.

Mehrsprachigkeitskonzept in der europäischen Bildungspolitik und in der fremdsprachendidaktischen Forschung

Sprachliche Vielfalt gehörte schon immer zum Erscheinungsbild Europas und wurde als seine unbestrittene Stärke betrachtet, auch wenn Sprachen historisch sowohl als Werkzeug der Integration und Verständigung als auch der Ab- und Ausgrenzung galten.1 Diese eindeutig positive Rezeption der Vielsprachigkeit resultiert in erster Linie aus der Einsicht, in welch hohem Maße einzelne europäische Sprachen und Kulturen zur Bereicherung der Sichtweisen und Wertesysteme der EuropäerInnen beigetragen haben. Die jetzige europäische Spra1 Vgl. Deutsch, Bettina: Mehrsprachigkeit durch bilingualen Unterricht? Frankfurt/Main: Peter Lang Verlag 2016, S. 9.

278

Eliza Chabros

chenpolitik ist konsequenterweise auf Bewahrung der Sprachenvielfalt ausgerichtet, wovon zahlreiche Dokumente zeugen, in denen das Konzept der Mehrsprachigkeit (durch die die Vielsprachigkeit Europas erst realisierbar ist) sowie Verfahren zu ihrer Umsetzung präsentiert und diskutiert werden. Im Gegensatz zur Vielsprachigkeit (multilingualism), die als ein organisiertes Nebeneinander von verschiedenen Sprachen innerhalb einer konkreten Gesellschaft definiert wird, bezieht sich der Terminus Mehrsprachigkeit (plurilingualism) auf das individuelle Repertoire der Sprachkompetenzen einer Person und wird somit präziser als individuelle Mehrsprachigkeit bezeichnet. Wie aus der Studie der europapolitischen Dokumente hervorgeht, hat sich der Umfang des Begriffs Mehrsprachigkeit je nach dem betreffenden Dokument und seinem Erscheinungsjahr geändert. Wert und Bedeutung des Begriffs wachsen ununterbrochen seit 1995 und dem Erscheinen des »Weißbuches zur allgemeinen und beruflichen Bildung – Lehren und Lernen – Auf dem Weg zur kognitiven Gesellschaft«2. Das in der erwähnten Publikation postulierte ziemlich eng gefasste Ziel der sprachlichen Bildung soll in der Beherrschung von drei Gemeinschaftssprachen bestehen, d. h. neben der Muttersprache noch zwei weiteren Amtssprachen der EU. Von Anfang an wird auch das Konzept begrüßt, mit dem Fremdsprachenlernen möglichst früh zu beginnen, d. h. bereits im Kindergartenalter, und es als lebenslangen Prozess zu begreifen. Zum Bewusstsein der EuropäerInnen gelangt auch die Botschaft, dass das Fremdsprachenlernen nicht einem engen, elitären Kreis vorbehalten sei. Vielmehr seien alle BürgerInnen dazu ermutigt. Die nachfolgenden Publikationen der europäischen Institutionen konkretisieren, dass mit Mehrsprachigkeit zwar eine aktive Beherrschung der Fremdsprache gemeint ist, diese aber nicht der Kompetenz eines Muttersprachlers entsprechen muss3 und postulieren eine noch höhere Anzahl der unterrichteten Sprachen, nämlich die Muttersprache plus zwei oder mehr Fremdsprachen4. Mit dem Abschlussbericht der Hochrangigen Gruppe Mehrsprachigkeit (2007) gewinnt das Konzept eine völlig neue Dimension, indem das Dokument explizit auf den interkulturellen Aspekt des Fremdsprachenlernens hindeutet.5 Spracherziehung soll demzufolge neben der mehrsprachigen Kompetenz auch die plurikulturelle Kompetenz, d. h. die Fähigkeit, mit anderen Kulturen umgehen zu können, integrieren und beim Lerner entwickeln. Mehrsprachige Kompetenz und plurikulturelle Kompetenz werden seitdem als Teile derselben komplexen Kompetenz definiert. Andere Postulate, die in Bezug auf die aktuelle europäische Sprachenpolitik erhoben werden, betreffen wiederum 2 Europäische Kommission 1995. 3 Vgl. Förderung des Sprachenlernens und der Sprachenvielfalt. Kommission der Europäischen Gemeinschaften 2003, S. 8. 4 Rat der Europäischen Union 2002. 5 Vgl. Deutsch, Mehrsprachigkeit. 2016, S. 9–26.

Auf dem Weg zur Mehrsprachigkeitsdidaktik

279

die Forderung nach besserer Effizienz des Fremdsprachenunterrichts und nach einer Popularisierung der außereuropäischen Sprachen, die bisher im Unterricht übergangen wurden.6 Während der mehr als zwanzigjährigen Präsenz des Begriffs Mehrsprachigkeit im bildungspolitischen Diskurs hat sich nicht nur seine Gestalt weiterentwickelt. Auch die Ziele, die man durch das Konzept zu erreichen hoffte, wurden mit der Zeit ganz anders formuliert. Neben den im Bewusstsein der BürgerInnen Europas schon längst verankerten positiven Aspekten, der geistigen Bereicherung des Individuums und der Teilhabe am Wissens- und Kulturreichtum, wird die Mehrsprachigkeit sozioökonomisch gerechtfertigt, denn sie führe zu einer Steigerung der Wettbewerbsfähigkeit der europäischen Wirtschaft und dank der mehrsprachigen Kompetenz seien die EuropäerInnen mobiler und würden bessere Beschäftigungsperspektiven haben. In der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit dem Thema Mehrsprachigkeit in der fremdsprachentheoretischen Literatur findet man weitere, detailliert ausgeführte Begründungen für den Einbezug des Konzepts in den Unterricht. Szymankiewicz/Kucharczyk weisen auf eine Distanzierung von Klischees und Vorurteilen und das Aufgeben der ethnozentrierten Sichtweise hin, die aus der Mehrsprachigkeit resultieren und heben die Entwicklung der sprachlichen und kommunikativen Sensibilität sowie der metakognitiven Strategien hervor.7 Krumm nennt in diesem Zusammenhang u. a. folgende Argumente: a. Erziehung zu Toleranz und Abbau der Angst vor dem Fremden, b. Wertschätzung der Menschen durch Wertschätzung ihrer Sprachen, c. Förderung der Sprachbewusstheit, des abstrakten Denkens und der metasprachlichen Entwicklung, d. Förderung der Mund- und Graphomotorik, der phonologischen Bewusstheit, der auditiven und visuellen Diskriminierung sowie e. Versuch der Überwindung einer unerwünschten Dominanz von Prestige-Sprachen durch die vom Schulalter her geprägte Offenheit gegenüber einer jeden Sprache.8 Das in der gegenwärtigen fremdsprachentheoretischen Literatur verbreitete Verständnis der Mehrsprachigkeit kann man nach Otwinowska wie folgt resümieren: Es ist nicht das Ziel der mehrsprachigkeitsdidaktischen Erziehung, muttersprachliche Kommunikation zu erreichen. Es ist vielmehr die Fähigkeit, sich der Sprachen in mehrsprachigen Kontexten zu bedienen, je nach dem Kommunikationsbedürfnis einer Person, was wiederum gute Sprachkenntnisse nicht 6 Eine ausführliche Analyse des europapolitischen Mehrsprachigkeitsdiskurses findet sich bei Deutsch, Mehrsprachigkeit. 2016. 7 Szymankiewicz, Krystyna/Kucharczyk, Radosław: Kompetencja rjz˙noje˛zyczna w pocza˛tkowym kształceniu nauczycieli. In: Neofilolog 45, 2015, H. 1, S. 73–86, hier S. 75. 8 Krumm, Hans-Jürgen: Veränderungen im Bereich des Lehrens und Lernens von Sprachen und deren Konsequenzen für die Aus- und Fortbildung von Fremdsprachenlehrerinnen. In: Neofilolog 51, 2018, H. 1, S. 11–27, hier S. 18.

280

Eliza Chabros

ausschließt. Weder Viel- noch Mehrsprachigkeit setzen die Kenntnis der einzelnen separat gespeicherten und verarbeiteten Sprachen voraus. Die beiden entspringen eher dem Zusammenspiel ganzer Sprachkonstellationen.9 Es liegt auf der Hand, dass die Umsetzung der oben skizzierten europapolitischen Richtlinien und Empfehlungen mit den traditionellen didaktischen Methoden nicht erreichbar ist. Man muss nach neuen Ansätzen und innovativen Methoden greifen, die dem ambitionierten Ziel der Umwandlung zur Mehrsprachigkeit gerecht werden können. Einer der Ansätze ist die sog. Mehrsprachigkeitsdidaktik, die im folgenden Abschnitt beschrieben wird. Es muss jedoch ausdrücklich betont werden, dass das Bedürfnis nach einem dringenden Paradigmenwechsel von den AkteuerInnen selbst gemeldet wird und daher nicht als bloßes Gutdünken der realitätsfremden bildungspolitischen Institutionen anzusehen ist. Denn sowohl Lehrkräfte als auch Lernende bemerken die Unzulänglichkeiten und Mängel der bisherigen didaktisch-methodischen Lösungen, die nicht auf die aktuellen Probleme des Fremdsprachenlehrens und -lernens zugeschnitten sind. Dazu gehört in erster Linie eine bis dahin nie in dem Maße wie heute zu beobachtende Heterogenität der Schulklassen in ihren unterschiedlichen Dimensionen, also »hinsichtlich Alter, Geschlecht, ethnischer, kultureller und sozialer Herkunft, aber auch Interessen, Motivation und Leistungsfähigkeit«10. Aus der multidimensionalen Heterogenität ergibt sich zwangsläufig die sprachliche Heterogenität der LernerInnen. Weitere Probleme stellen Verdrossenheit und wachsende Ungeduld der am Lehrund Lernprozess Beteiligten dar, die zum Teil in der rapiden Entwicklung der Technologien und der damit verbundenen Informationsüberflutung ihren Ursprung haben. LernerInnen sind sich nämlich dessen bewusst, dass sehr viele Informationen an ihnen vorbeigehen und dass sie an vielen Ereignissen nicht teilhaben können, weil ihnen im konkreten Moment die mehrsprachige Kompetenz fehlt. Sie durchlaufen einen langwierigen Lernprozess, kommen oft über ein unbefriedigendes Sprachniveau nicht hinaus und strengen sich an, Kompetenz zu entwickeln, die möglichst nah an die Sprachkompetenz eines Muttersprachlers herankommt. Zugleich verpassen sie die Chance, weitere Fremdsprachen zu erlernen oder in diesen zumindest rezeptive Fertigkeiten zu entwickeln. Es ist auch für Lehrkräfte sehr frustrierend, diese Kluft zwischen realen Bedürfnissen der Lernenden und mangelnden bzw. nicht mehr zeitgemäßen didaktischen Mitteln im Schulalltag zu beobachten. Das Argument, dass der Paradigmenwechsel von der isolierten zur integrativen Fremdsprachendidaktik 9 Otwinowska, Agnieszka: Na drodze ku wieloje˛zycznos´ci – rozwijanie słownictwa ucznijw na podstawie je˛zyka angielskiego. In: Je˛zyki obce w szkole, 2015, H. 2, S. 4–10, hier S. 5. 10 Vock, Miriam/Gronostaj, Anna: Umgang mit Heterogenität in Schule und Unterricht. Berlin: Friedrch-Ebert-Stiftung 2017, S. 5.

Auf dem Weg zur Mehrsprachigkeitsdidaktik

281

(auch Mehrsprachigkeitsdidaktik und multilinguales Fremdsprachenlernen) nur die Gesellschaften betreffen sollte, in denen mehrere Amtssprachen gebraucht werden, nicht aber monolinguale Gesellschaften, ist nicht mehr länger haltbar. Selbst das Festhalten an der Vorstellung einer monolingualen Gesellschaft ist in einer Zeit, die von internationalen Wechselbeziehungen geprägt ist, äußerst fraglich. Will man unter Mehrsprachigkeit tatsächlich ein Instrument der Integration verstehen, sollte man europaweit die Mehrsprachigkeitsdidaktik auf jeder Schulstufe und in allen Sprachenfächern umsetzen. Analysiert man die Argumente für die Einbettung des Mehrsprachigkeitskonzepts in den Fremdsprachenlehr- und Lernprozess, so lautet die Frage heute nicht, ob man es tun sollte, sondern vielmehr (leider immer noch), wie man es tun kann, weil die Implementierungsversuche zurzeit noch ziemlich bescheiden sind und auf diesem Feld weiterhin Entwicklungsbedarf besteht.11 Ferner ist die Frage nach der Rolle der Lehrenden im Prozess der Erziehung zur Mehrsprachigkeit, ihrer Kompetenzen und neuen Aufgaben, denen sie sich stellen müssen, von hoher Bedeutung. Ebenso die Frage, wie die Lehrpersonen selbst zu diesen Aufgaben stehen. In diesem Beitrag wird auf die letztgenannten Problemfelder, mit deutlichem Fokus auf die Lehrerperspektive, eingegangen.

2.

Die Mehrsprachigkeitsdidaktik – ihre Voraussetzungen und Verfahren

Aus der in den letzten Jahren zunehmenden Popularität des Mehrsprachigkeitskonzepts resultiert u. a. ein erhöhtes Interesse von Psycholinguisten an der Organisation des sprachlichen Wissens einer mehrsprachigen Person. Ebenso an den Prozessen, die einerseits beim Lernen der L3 und weiterer Sprachen und andererseits während der Produktion und Rezeption in jeder beherrschten Sprache ablaufen. Psycholinguistische Studien liefern Beweise dafür, dass Tertiärsprachen von Lernenden ganz anders als die L2 angeeignet und gebraucht werden.12 Beim Lernprozess der L3 kommen nämlich die bereits beim Lernen der Muttersprache (L1) und der ersten Fremdsprache (L2) gesammelten Ressourcen ins Spiel, worauf bisher nicht genügend Aufmerksamkeit gelenkt wurde. Die Anzahl der Interaktionen zwischen Sprachen wird dadurch automatisch vermehrt, was den Lernprozess nicht als einen bloß additiven Prozess betrachten 11 Die Schlussfolgerungen aus eigener Unterrichtspraxis, wo mehrsprachigkeitsorientierte Elemente zentrale Rolle spielen, dokumentieren u. a. Jaskuła, Małgorzata: Wieloje˛zycznos´c´ w szkole. In: Je˛zyki obce w szkole, 2015, H. 2, S. 42–46; Otwinowska, Na drodze. 2015. 12 Chłopek, Zofia: Nabywanie je˛zykjw trzecich i kolejnych oraz wieloje˛zycznos´c´. Aspekty psycholingwistyczne i inne. Wrocław: Wydawnictwo Uniwersytetu Wrocławskiego 2011, S. 11f.

282

Eliza Chabros

lässt. Es wird demnach vorausgesetzt, dass man als L3-LernerIn nicht bei null anfängt, sondern auf dem vorhandenen Wissen aufbauen kann und soll. Der Prozess der Sprachenverarbeitung im Gehirn einer mehrsprachigen Person (zumindest L3-LernerIn) ist komplexer und dynamischer, weil es vom Zusammenwirken solcher Faktoren abhängt wie: Sprachtypologie, das jeweils erreichte Niveau und die Aktivierungsstufe einer bestimmten Sprache, die Funktion, die eine konkrete Sprache für den Lernenden erfüllt sowie von Lernkontext und Lernstrategien. Darüber hinaus wächst mit jeder beherrschten bzw. unterrichteten Sprache auch automatisch die Vielfalt der Erfahrungen, wie man eine Sprache effektiv lernt und gebraucht d. h. die Sprachlernkompetenz.13 Diese psycholinguistischen Erkenntnisse und die Einsicht, dass die Lernenden über mehrsprachige Hintergründe verfügen, begründen die Notwendigkeit des Paradigmenwechsels von der bisher zumeist separaten zugunsten einer integrativen Fremdsprachendidaktik, die den parallelen Lehr- und Lernprozess zweier oder mehrerer Fremdsprachen durch gezieltes Auffinden von Ähnlichkeiten zwischen verschiedenen im schulischen und außerschulischen Bereich gelernten Sprachen koordiniert. Als Referenzbasis kann selbstverständlich auch die Muttersprache fungieren.14 Bei solch einem koordinierten Lernen mehrerer Fremdsprachen wird »eine Synergie von Ressourcen, Wissen und Fähigkeiten freigesetzt«15 und diese Tatsache zu ignorieren, widerspricht dem »Argument kognitiver Ökonomie [, das] besagt, dass es lernpsychologisch effizienter ist, mit einmal eingeführten, den Lernenden schon bekannten Konzepten und Modellen für alle Sprachen zu arbeiten, um die beim Sprachenlernen sehr hohe kognitive Belastung so niedrig wie möglich zu halten«16. Diese planvolle, rationelle Arbeitsweise wird von einer Prämisse diktiert, die viele ForscherInnen unterstellen und hervorheben: Sie würde die Zeit für das Erlernen einer weiteren Sprache wesentlich reduzieren17. Die Mehrsprachigkeitsdidaktik setzt demnach voraus, dass beim Fremdsprachenlernen die bereits beherrschte oder unterrichtete Sprache eine Art Brücke zu weiteren Fremdsprachen bildet. Es ist zugleich anzunehmen, dass die neu erlernten Sprachen rückläufig wirken können und den Lernenden helfen, bestimmte noch nicht völlig beherrschte Sprachphänomene zu verstehen bzw. zu 13 Ebd., S. 13. 14 Vgl. Piotrowska-Skrzypek, Małgorzata: Angielski szansa˛ dla francuskiego, czyli refleksja o zintegrowanym nauczaniu je˛zykowym z perspektywy wieloje˛zycznos´ci. In: Neofilolog 46, 2016, H. 2, S. 173–182, hier S. 176. 15 Ebd., S. 174. 16 Wokusch, Susane/Lys, Irene: Überlegungen zu einer integrativen Fremdsprachendidaktik. In: Beiträge zur Lehrerbildung 25, 2007, H. 2, S. 168–179, hier S. 170. 17 Vgl. u. a. Wokusch/Lys, Überlegungen. 2007, S. 172; Widła in Piotrowska-Skrzypek, Angielski szansa˛. 2016, S. 178.

Auf dem Weg zur Mehrsprachigkeitsdidaktik

283

vertiefen. Dieser Transfer von Wissensstrukturen von einer Sprache auf die andere kann die Elemente der Sprachoberfläche umfassen, d. h. Wortschatz (v. a. Ausdrücke, Internationalismen, Idiome), Grammatik und ihre Terminologie, phonetisch-phonologische Phänomene und Aspekte, die mit Etymologie und Sprachgeschichte verbunden sind. Andererseits erstreckt sich das Transferpotential auf höhere kognitive Prozesse und umfasst u. a. »Strategien, metakognitive Aspekte, kognitive Prozesse, tiefe Sprachstrukturen, metasprachliches Wissen, allgemeine Kompetenzen, kulturelle Aspekte, Themen [und] textuelle Makrostrukturen«18. Nachdem der integrative didaktische Ansatz samt seinen Prinzipien und Verfahren dargestellt worden ist, muss festgehalten werden, dass die Idee der Integration vorhandener Wissensstrukturen und ihrer Nutzung beim Erlernen einer neuen Sprache im Grunde genommen kein bahnbrechendes Konzept darstellt, denn es handelt sich um ein grundlegendes Prinzip der kognitiven Lerntheorie. Es ist demnach anzunehmen, dass es Lernende gibt, die solche Sprachvergleiche regelmäßig selbstständig vornehmen und mit diesem Prozess (wenn auch intuitiv) bereits beim Lernen der L2 beginnen, indem sie sich auf ihre Muttersprachenkenntnisse beziehen. Davon zeugen die im Unterricht geäußerten Bemerkungen der Lernenden hinsichtlich der Unterschiede bzw. Gemeinsamkeiten zwischen Sprachen, hauptsächlich innerhalb solcher Bereiche wie Etymologie, Syntax und Morphologie. Nicht alle Bemerkungen sind natürlich richtig, aber sie beweisen ein reales Interesse an Sprachen und ein mehr oder weniger bewusst erworbenes Wissen über Transfermechanismen. Auch Lehrpersonen nutzten z. B. das Potential der Sprachvergleiche lange bevor das Mehrsprachigkeitskonzept an Geltung gewann. Mit der Einbettung des mehrsprachigkeitsdidaktischen Ansatzes wird somit eher die konsequente Ausdehnung des Konzepts auf jeden Unterricht der (Fremd-)Sprachenfächer und das Training der mehrsprachigkeitsorientierten Techniken und Mechanismen, allen voran die Stärkung des positiven Transfers, intendiert. Die erhöhten metalinguistischen und metakognitiven Fähigkeiten einer mehrsprachigen Person gehen ohne eine geeignete Förderung verloren.19 Das Bedürfnis nach einer Neuorientierung der Fremdsprachendidaktik, die den aktuellen Herausforderungen der Sprachenbildung besser Rechnung tragen würde, kann man nach Jakisch wie folgt zusammenfassen:

18 Wokusch/Lys 2007, Überlegungen. S. 176. 19 Vgl. Bredthauer, Stefanie; Engfer, Hilke: Natürlich ist Mehrsprachigkeit toll! Aber was hat das mit meinem Unterricht zu tun? edu-pub: das Kölner Open-Access-Portal für die LehrerInnenbildung. 2018, S. 2 (Zugriff am 15. 07. 2019).

284

Eliza Chabros

»Das die schulische Wirklichkeit prägende Bild eines Sprachenunterrichts, bei dem jedes Fach weitgehend für sich agiert, keine Bezüge zwischen den verschiedenen (Fremd-)Sprachen hergestellt werden und der Sprachlehrgang scheinbar bei jeder neu hinzukommenden Sprache von Neuem beginnt, muss angesichts der faktischen Gegebenheiten einer globalisierten Welt sowie der Erkenntnisse der Mehrsprachigkeitsdidaktik als überholt bezeichnet werden. Was dadurch entsteht, ist nämlich bestenfalls eine Form der additiven Mehrsprachigkeit; erstrebenswert ist jedoch eine aus vernetzendem Fremdsprachenlernen resultierende integrative Mehrsprachigkeit. Fremdsprachenlernende sollen folglich nicht nur eine Sprache aktiv anwenden können, sondern darüber hinaus in der Lage sein, über den Aneignungsprozess zu reflektieren und sowohl das so erworbene Wissen als auch die gewonnenen Einsichten für weiteres Sprachenlernen nutzbar zu machen.«20

Auch im Kontext der Ankündigung, dass in Zukunft ausgerechnet polyglotte Personen die Weltnorm ausmachen werden, und nicht wie jetzt ein- oder zweisprachige Personen21 muss der Paradigmenwechsel in der Fremdsprachendidaktik begrüßt werden.

3.

Mehrsprachigkeitsdidaktik und neue Lehreraufgaben

Dass die Qualität der Bildung und der Lernerfolg im sehr hohen Maße von Lehrenden abhängen, ist eine Erkenntnis, die erst seit den 1990er Jahren die fremdsprachendidaktische Forschung wieder vermehrt prägt. Infolgedessen geraten nicht nur Wissen und akademische Vorbereitung der Lehrpersonen, sondern auch ihre individuellen Lehrphilosophien, Einstellungen und Verhalten ins Visier der Forschung als Faktoren, die über das Unterrichtsgeschehen und dessen Resultate maßgeblich entscheiden. Angesichts des im schulischen Fremdsprachenunterricht stattfindenden Paradigmenwechsels lässt sich die Lehrerperspektive nicht mehr weiter ausblenden, weil der neue Ansatz eine qualitativ andere Betrachtung des Lehrprozesses und somit der Lehrerrolle mit sich bringt, was wiederum eine große Herausforderung für die Professionalität der Lehrenden22 darstellt. Sie sind es, die mit ihrem Berufsethos, ihrer Erfahrung und Überzeugung Verantwortung dafür tragen, ob sich der neue Ansatz und die daraus resultierenden innovativen Verfahren in der Praxis durchsetzen werden. Zu einem Misserfolg bei der Einführung innovativer Maßnahmen trägt u. a. das fehlende Verständnis für die Notwendigkeit von Veränderung, die Distanz zu 20 Jakisch, Jenny : Lehrerperspektiven auf Englischunterricht und Mehrsprachigkeit. In: Zeitschrift für Interkulturellen Fremdsprachenunterricht 19, 2014, H. 1, S. 202–215, hier S. 204. 21 Vgl. Chłopek, Nabywanie je˛zykjw. 2011, S. 26. 22 Vgl. Droz´dział-Szelest, Krystyna: Innowacyjnos´c´ w edukacji je˛zykowej a profesjonalizm nauczyciela. In: Neofilolog 51, 2018, H. 1, hier S. 30.

Auf dem Weg zur Mehrsprachigkeitsdidaktik

285

dem jeweils repräsentierten Wertesystem und das hartnäckige Festhalten an bisher angewandten Lehrpraktiken. Ein weiteres mögliches Hindernis ist die Wahrnehmung notwendiger Veränderungen als Bedrohung z. B. für die eigene Autorität, sowie die mangelnde Akzeptanz des mit dem Paradigmenwechsel verbundenen zusätzlichen Arbeits- und Zeitaufwands23. Die Lehrpersonen müssen aus einem weiteren Grund von den Verfechtern des Mehrsprachigkeitskonzepts berücksichtigt werden. Die Implementierung der Prinzipien der Mehrsprachigkeitsdidaktik wird sich gerade für diejenigen unter ihnen, die das Erbe der monolingual ausgerichteten Lehr- und Lerntradition angetreten haben, als revolutionär erweisen.24 Die LernerInnen, die in der ethnischen Heterogenität aufgewachsen sind bzw. in ihr gerade aufwachsen und sie täglich im Schulalltag sowie in den Massenmedien wahrnehmen, dürften das Konzept wohl kaum als etwas Befremdendes oder Beängstigendes empfinden. In der Forschungsliteratur, die sich mit der Problematik der neuen Rollen und Aufgaben befasst, die Lehrkräften in Zusammenhang mit der Umsetzung der Mehrsprachigkeitsdidaktik implizit oder explizit zugeschrieben werden, stößt man auf Lehreraufgaben, die sich unmittelbar aus den neuen Gegebenheiten ergeben. Andererseits kann es sich um eine bereits längst vertraute Aufgabe handeln, hinter der sich jedoch völlig neue oder zum Teil neue Kompetenzen bzw. Fähigkeiten der Lehrpersonen und Verschiebungen innerhalb der Handlungsspielräume verbergen. Die gewonnenen Befunde werden mit den durch Literaturauswertung gewonnenen Schlussfolgerungen der Lehrkräfte konfrontiert (wenn solche tatsächlich vorliegen) und auf die Realisierbarkeit der jeweiligen Aufgabe hin kommentiert. Anschließend wird auf die sich aus den Verschiebungen und neuen Rollen ergebenden Implikationen eingegangen. Eine der Lehreraufgaben, die mehrmals in der zu Grunde liegenden Forschungsliteratur erwähnt wird25, weil sie aufs Engste mit dem Thema Mehrsprachigkeit und mit der Entwicklung des Konzepts im Kontext des schulischen Fremdsprachenunterrichts verbunden ist, ist:

23 Ebd., S. 32. 24 Vgl. Grasz, Sabine: Hilfe oder Hindernis? Meinungen finnischer Sprachstudierender über Mehrsprachigkeit als Ressource beim Deutschlernen. In: Zeitschrift für Interkulturellen Fremdsprachenunterricht 22, 2017, H. 2, S. 56–65, hier S. 57. 25 Vgl. u. a. Szymankiewicz/Kucharczyk, Kompetencja. 2015, S. 75; Krumm, Veränderungen. 2018, S. 16.

286 a)

Eliza Chabros

Schaffung der Möglichkeiten, die Vielfalt von Sprachen und Kulturen zu entdecken und zu erfahren

Um das didaktische Ziel zu erreichen, einen kompetenten Benutzer mehrerer Sprachen und Kulturen zu erziehen, muss sich die Schule an das Thema Mehrsprachigkeit vertikal und horizontal herantasten, d. h. im Rahmen eines jeden Sprachunterrichts, den die bestimmte Schule anbietet, wie auch auf jeder Altersstufe. Daraus ergibt sich, dass die Prinzipien des multilingualen Lernens ebenfalls die Muttersprache einbeziehen müssen, weil sie die kognitive Basis und wichtige Quelle des metasprachlichen Wissens für LernerInnen darstellt, hinsichtlich der Strukturen und Funktionen einer Sprache sowie der Kommunikationsprozesse.26 Für den Einbezug der Muttersprache in den Lernprozess weiterer Sprachen spricht auch das Argument der gemeinsamen mentalen Repräsentation von Sprachen. Bereits im L1-Unterricht muss eine Vereinheitlichung der terminologischen Grundlagen erfolgen, die in der Folgezeit ein effizientes Aufzeigen der Parallelen zwischen der L1 und anderen unterrichteten Sprachen ermöglichen. Weil die Bezüge auf die L1 neben kognitiven Effekten d. h. einer wirksameren Verarbeitung des neuen Materials, auch affektive Einstellungen vorteilhaft beeinflussen können, beispielsweise das Gefühl von Sicherheit, das neue Material richtig verstanden zu haben, sowie die Stärkung des Vertrauens in die eigenen Fähigkeiten27, darf die Muttersprache nicht mehr aus dem Fremdsprachenunterricht verbannt werden. Ihre Integration in den Lehrund Lernprozess stellt den ersten Schritt dar, mit dem ein positives Klima für die Mehrsprachigkeit im Klassenraum geschaffen werden kann. Das fortwährende Schaffen von Möglichkeiten zur Entdeckung neuer Sprachen und Kulturen impliziert die Notwendigkeit, die im Klassenraum bestehende Heterogenität und die daraus resultierende Multilingualität der Individuen erst wahrzunehmen und positiv einzuschätzen. Die für heutige Schulklassen oft charakteristische »hyperdiverse Mehrsprachigkeit«28 bewirkt, dass man als Lehrperson bei den meisten Lerngruppen nicht einmal dieselbe Erstsprache oder gleiche Sprachenfolge voraussetzen kann. Somit ist mit einem unterschiedlichen Kompetenzgrad in den zuvor erworbenen Sprachen zu rechnen, und diese Tatsache muss als Ausgangssituation für die Unterrichtspraxis zur Kenntnis genommen werden. Die Ausgangsvielfalt ist eindeutig als 26 Wach, Aleksandra: Odniesienia do je˛zyka ojczystego jako strategia uczenia sie˛ gramatyki je˛zyka obcego: perspektywa polskich ucznijw je˛zyka angielskiego. In: Neofilolog 48, 2017, H. 1, S. 73–87, hier S. 77. 27 Vgl. Myczko, Kazimiera: Transfer im Fremdsprachenunterricht aus didaktischer Sicht. In: Studia Germanica Posnaniensia 23, 2013, S. 89–99, hier S. 93ff. 28 Bredthauer, Stefanie: Sprachvergleiche als multilinguale Scaffolding-Strategie. In: Zeitschrift für Interkulturellen Fremdsprachenunterricht 24, 2019, H. 1, S. 127–143, hier S. 127.

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eine Bereicherung des Unterrichts und eine sehr günstige Voraussetzung für die Entwicklung der multilingualen Kompetenz zu beurteilen. Sie verdient eine besondere Hervorhebung innerhalb und außerhalb des Klassenraums durch die offen gezeigte Wertschätzung gegenüber einer jeden in der Klasse präsenten Sprache und Sprachvarietät. Als geeignete Manifestationsformen bieten sich hier Plakate mit Informationen über Sprachen, individuelle Sprachportraits und Sprachbiographien sowie Projekttage an, an denen die einzelnen Sprachen, darunter Herkunftssprachen der SchülerInnen, präsentiert werden. Mit dem einfachen und in jeder Altersgruppe einsetzbaren Silhouetten-Test29 lässt sich die Anzahl der beherrschten und unterrichteten Sprachen sowie ihre Relevanz für die SchüerInnen erkennen. Dank den Testergebnissen gewinnt man Einblick in das jeweilige individuelle mehrsprachige Repertoire und Klarheit darüber, an welche mehrsprachigen Ressourcen man bei den einzelnen SchülerInnen anknüpfen kann. Dass die Ergebnisse zugleich erhebliche Wissenslücken der Lehrpersonen aufdecken, ist offensichtlich. Es lässt sich problemlos voraussehen, dass der hyperdivers-mehrsprachige Hintergrund der Schülerschaft eine Fülle von Sprachen und Sprachvarietäten mit sich bringt, die der Lehrperson nicht bekannt sind. Ein Schüler, nennen wir ihn Sven, wächst im Elternhaus bilingual auf, gebraucht Schwedisch und Deutsch abwechselnd, eignet sich durch häufigen Kontakt mit Kindern seiner holländischen Nachbarn Grundkenntnisse des Niederländischen an, lernt Englisch und Spanisch im Schulkontext und in seiner Freizeit per Privatunterricht Japanisch, weil er sich für Japan und seine Kultur interessiert. Die umrissene Situation scheint heutzutage in vielen europäischen Ländern keine Seltenheit darzustellen. Das sprachliche Repertoire von Sven, lassen wir den Kompetenzgrad in jeder der erwähnten Sprachen erst einmal außer Acht, umfasst sechs Sprachen. Von der lokalen Landessprache abgesehen, dürften den Lehrpersonen, denen Sven im Verlauf seiner Schullaufbahn begegnet, die meisten der anderen Sprachen nicht zwingend bekannt sein. Auf das Problem, das in der geschilderten Situation deutlich erkennbar ist, wird in der Forschungsliteratur nur unmittelbar eingegangen, indem unterstellt wird, dass man nicht polyglott zu sein braucht, um erfolgreich zur Mehrsprachigeit erziehen zu können.30 Paradoxien dieser Art im Berufsalltag zu handhaben, gehört zwar zu Herausforderungen des professionellen Lehrerhandelns. In diesem Fall hilft jedoch das Zurückgreifen »auf ein umfangreiches, berufsbezogenes

29 Vgl. Krumm, Veränderungen. 2018, S. 14. 30 Vgl. Szymankiewicz/Kucharczyk, Kompetencja. 2015, S. 76. An dieser Stelle sei an die von Chłopek, Nabywanie je˛zykjw. 2011 formulierte These erinnert, dass die künftige Weltnorm polyglotte Personen sein werden (s. o.).

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Handlungsrepertoire« der Lehrperson nicht weiter31, was zahlreiche Berichte der PraktikerInnen belegen32. Die mangelnde Kenntnis anderer Sprachen durch die Lehrenden selbst erweist sich für sie als ein wesentliches Hemmnis bei der Umsetzung des Mehrsprachigkeitskonzepts. Ohne konkrete Maßnahmen seitens der Bildungssysteme33, die einerseits in der Einrichtung veränderter Ausbildungslehrgänge, andererseits in aufs Erlernen neuer Sprachen ausgerichteten Lehrerfortbildungen bestehen können, agieren die an der Einbettung mehrsprachiger Elemente interessierten Lehrenden im konkreten Unterrichtsgeschehen weiterhin recht hilflos. Eine mögliche, wenn auch nicht ideale Lösung für die Übergangsphase könnte ein von zwei Lehrkräften gleichzeitig geführter Unterricht darstellen, wobei diese ganz unterschiedliche Sprachkompetenzen in die Unterrichtspraxis einbringen sollten. Der Vorteil einer solchen Lösung besteht in der Erweiterung des Sprachenreservoirs und der daraus folgenden partiellen Entlastung der Lehrperson, die sich bei Fragen, bei denen sie sich unsicher fühlt, auf eine kompetente Kollegin oder einen kompetenten Kollegen stützen kann.34 Die Idee, Ressourcen, Erfahrungen und Energien mehrerer Lehrkräfte im Unterricht zu integrieren, scheint den heutigen Herausforderungen der Bildung besser zu entsprechen als die bisher übliche Haltung des geschlossenen Klassenraumes.35 Die Integration des multilingualen Potentials bei Lernenden muss obligatorisch mit der dringend erforderlichen Integration der Lehrkräfte einhergehen, die zurzeit vorwiegend individuell agieren. Es wäre anzunehmen, dass Lehrende bei der Umsetzung der Mehrsprachigkeitsdidaktik von Schulbuchverlagen unterstützt werden. Aktuelle Analysen von Lehrwerken lassen »konstatieren, dass diese zwar Einheiten zur Unterstützung mehrsprachiger Kompetenzen der Schülerinnen und Schüler enthalten. Diese sind jedoch rar gesät und darüber hinaus von zweifelhafter Qualität«36, was sich unter anderem darin manifestiert, dass außer dem Auffinden von Sprachverwandtschaften auf der lexiklischen Sprachebene weitere Sprachebenen kaum beachtet werden. Des Weiteren animieren die existierenden Materialien kei-

31 Schart, Michael: Die Lehrerrolle in der fremdsprachendidaktischen Forschung: Konzeptionen, Ergebnisse, Konsequenzen In: Fremdsprachen Lehren und Lernen 43, 2014, H. 1, S. 36–50, hier S. 41. 32 Vgl. u. a. Bredthauer, Sprachvergleiche. 2019, S. 129; Heyder, Karoline/Schädlich, Birgit: Mehrsprachigkeit und Mehrkulturalität – eine Umfrage unter Fremdsprachenlehrkräften in Niedersachsen. In: Zeitschrift für Interkulturellen Fremdspracheunterricht 19, 2014, H. 1, S. 183–201, hier S. 188. 33 Das Problem betrifft, wenn auch nicht gleichermaßen, alle europäischen Bildungssysteme. 34 Diese Lösung wird erfolgreich im CLIL (Content and Language Integrated Learning) angewendet. 35 Vgl. Krumm, Veränderungen. 2018, S. 25. 36 Bredthauer/Engfer, Natürlich ist. 2018, S. 6.

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neswegs »zum Reflektieren oder gar zum entdeckenden Lernen«37. In dieser Hinsicht sind die an mehrsprachigkeitsorientierten Verfahren und Materialien interessierten Lehrkräfte meistens auf eigene Ressourcen und eigene Kreativität angewiesen.38 Eine vorläufige Hilfestellung leisten lehrwerksunabhängige Materialien, die im Internet zur Verfügung stehen, den meisten Lehrpersonen jedoch unbekannt sind. Daraus, dass alle im Klassenraum repräsentierten Sprachen respektiert werden, darunter also Minderheitensprachen oder Herkunftssprachen, die den Status einer Prestige-Sprache weder in lokaler Gemeinschaft noch weltweit genießen, ergibt sich eine weitere Lehreraufgabe, die nachstehend erörtert wird:

b)

Aufwertung der Minderheitssprachen oder Herkunftssprachen

Wie Komorowska39 feststellt, haben Lehrende eine Möglichkeit, jene SchülerInnen beim Lernprozess zu unterstützen, die von ihrem Umfeld nicht genug unterstützt werden. Gemeint sind damit v. a. SchülerInnen aus Familien, deren sozial-ökonomischer Status niedriger ist als der Status ihrer MitschülerInnen, was wiederum häufig auf Kinder mit Migrationshintergrund zutrifft. Die Rolle der Lehrenden bestünde hier darin, klare Signale zu geben, dass auch weniger populäre bzw. gesellschaftlich weniger anerkannte Sprachen wichtig sind und respektiert werden müssen. Die Aufwertung der SchülerInnen und ihrer Familien bezüglich ihrer regionalen Kultur und der sog. Familiensprachen kann in der Unterrichtspraxis dadurch zum Ausdruck gebracht werden, dass diese Sprachen als relevante Ressourcenquelle beim Aufbau der integrierten Mehrsprachigkeit betrachtet werden. Damit dieses Unterfangen im Unterricht gelingen kann, muss der Einbezug von der Lehrperson sehr genau geplant und vorbereitet werden, was angesichts der fehlenden Unterrichtsmaterialien eine intensive selbständige Arbeit bedeutet. Die Studien zur Implementierung der mehrsprachigkeitsdidaktischen Elemente in den Unterricht zeigen leider, dass die Mehrzahl der Lehrkräfte wenig bzw. kaum über die tatsächlichen Sprachkompetenzen ihrer Lerngruppe sagen kann, was bedeutet, dass nicht einmal der erste Schritt zur Berücksichtigung der multilingualen Kompetenz der Lernenden gewagt wurde.40 Diese passive Hal37 Ebd. 38 Vgl. Marx, Nicole: Häppchen oder Hauptgericht? Zeichen der Stagnation in der deutschen Mehrsprachigkeitsdidaktik. In: Zeitschrift für Interkulturellen Fremdspracheunterricht 19, 2014, H. 1, S. 8–24, hier S. 16. 39 Komorowska, Hanna: Rola nauczyciela – mity i slogany a rzeczywistos´c´. In: Neofilolog 45, 2015, H. 2, S. 143–155, hier S. 154. 40 Bredthauer/Engfer, Natürlich ist. 2018, S. 9.

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tung der Lehrpersonen trägt selbstverständlich zur Untermauerung des PrestigeStatus des Englischen und anderer Schulsprachen zum Nachteil anderer Sprachen bei. Lehrpersonen versuchen sich damit zu rechtfertigen, dass sie wegen der fehlenden Sprachkenntnisse im Bereich der Herkunftssprachen der LernerInnen Angst vor Autoritätsverlust haben. Es ist nämlich sehr wahrscheinlich, dass sie sich auf einen Beitrag des Lernenden nicht mit einem fachlichen Kommentar beziehen können, weil sie ihn nicht verstehen. Weiterhin sind sie nicht imstande, Schimpfwörter u. a. aufzuspüren. Ein anderer Grund ist die sog. Time-on-task-Hypothese, die besagt, dass die gleichzeitige Förderung mehrerer Sprachen im Unterricht eine Überforderung für Lernende ist.41 Als Umsetzungshemmnis fungiert auch die Überzeugung, dass Sprachtransfer für Lernende verwirrend ist und mit unerwünschten, für das Lernen hinderlichen Interferenzen enden kann.42 Eine weitere Aufgabe der Lehrpersonen, die im wissenschaftlichen Diskurs zum Thema Mehrsprachigkeit diskutiert wird, lautet:

c)

Durch Einbezug mehrsprachiger Unterrichtskonzepte die Sprache(n) leicht erlernbar machen

Unter dieser von Krumm43 sehr lakonisch formulierten Aufgabe ist eigentlich eine alte Aufgabe im neuen Gewand (neues Instrumentarium des Mehrsprachigkeitskonzepts) zu begreifen. Den Willen, mit dem Integrieren der mehrsprachigen Elemente den Lernprozess der unterrichteten Sprache zu erleichtern, deklarieren beinahe alle zu dem Thema befragten Lehrkräfte.44 Durch gezielte Anknüpfung an das Vorwissen der Lernenden kann man sie einerseits leichter und schneller an neue Inhalte heranführen, andererseits bereits erarbeitete Inhalte durch Vergleiche mit anderen Sprachen vertiefen.45 Damit sind die Lehrkräfte lediglich auf die Entwicklung der Sprachkompetenz innerhalb der von ihnen selbst unterrichteten Sprache konzentriert. Dabei ist die Mehrsprachigkeitsdidaktik so konzipiert, dass sich die Unterrichtshandlungen nicht für den Aufbau der Kompetenzen innerhalb einer einzigen Sprache beschränken sollen. Sie soll das Interesse der Lernenden auch auf bisher unbekannte Sprachen lenken, die sie noch erlernen können. Das bedeutet praktisch, dass die Unterrichtshandlungen im größeren Umfang darauf zielen sollen, bei Lernenden die Mechanismen und Strategien des Sprach- und Kompetenzentransfers zwischen 41 42 43 44 45

Ebd., S. 12f. Vgl. Heyder/Schädlich, Mehrsprachigkeit. 2014, S. 189. Krumm, Veränderungen. 2018, S. 25. Vgl. Bredthauer, Sprachvergleiche. 2019, S. 135. Ebd.

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Sprachen einzuüben, um ihre Sprachlernkompetenz zu erhöhen. Im Endeffekt sollen die LernerInnen nämlich imstande sein, sich der Verfahren selbstständig zu bedienen, wodurch ihre Autonomie wesentlich gestärkt wird. Und dieses in Schule erworbene Potential können sie idealerweise beim Erlernen der Sprachen in lebensweltlichen Kontexten nutzen. Das Prädikat leicht in der eben diskutierten Aufgabe umfasst neben dem bereits Gesagten die Notwendigkeit einer weitgehenden Differenzierung der Verfahren und Lerntechniken je nach dem Alter der Lerngruppe und je nach den mehrsprachigen Vorkenntnissen der Individuen. Jedes Mal muss dementsprechend eine Grundlage im Sinne des bereits vorhandenen Vorwissens präsent sein, damit der Transfer zustande kommen kann. Die Techniken müssen also immer an die Altersspezifik der Gruppe angepasst sein.46 Andererseits lohnt es sich nicht aus der didaktischen Perspektive einen Sprachvergleich anzustellen, wo keine Ressourcen vorhanden sind. Die Aussagen der Lehrkräfte bestätigen, dass sich Sprachvergleiche als ein effizientes Unterrichtsverfahren erweisen, wenn sie individuell auf den konkreten Lehrenden zugeschnitten sind, d. h. auf Sprachkenntnissen basieren, über die er real verfügt.47 Dieses erwünschte Phänomen tritt dann ein, wenn die Lehrperson – bereits im Vorfeld – den multilingualen Hintergrund des Lernenden erkannt und sich, ohne den erhöhten Zeitaufwand zu scheuen, auf den Einsatz mehrsprachigkeitsdidaktischer Techniken gründlich vorbereitet hat. Sprache bzw. Sprachen leicht erlernbar zu machen, impliziert auch das für viele Lehrpersonen kontroverse Postulat, den eigenen Ehrgeiz zu unterdrücken, die Lernenden unter Vernachlässigung anderer Sprachen zu einem möglichst hohen Sprachniveau in der von ihnen selbst unterrichteten Sprache zu verhelfen,48 weil das dem eigentlichen Ziel der Mehrsprachigkeitsdidaktik (möglichst viele Sprachen zu erlernen) im Wege steht. Für die Mehrzahl von Lehrenden, denen aufgrund ihrer Bildungslaufbahn der monolinguale Habitus nahe ist, stellt es ein ernstes Wertproblem dar, »eine geschätzte und als Grundlage des Berufs gewählte Sprache auf einem als defekt empfundenen Niveau nicht nur zu akzeptieren, sondern dieses Niveau auch noch zum Unterrichtsziel zu machen«49. Die Chancen, eine solche Mentalitäts- bzw. Werteverschiebung ohne wesentliches Umdenken der bestehenden Ausbildungsprogramme (im Sinne der konsequenten Öffnung der Studierenden auf die Sprachenvielfalt) zu verwirklichen, stehen schlecht, weil sich die meisten Lehrenden immer noch dem philologi-

46 Weiterführend zur altersdifferenzierten Einbeziehung der mehrsprachigen Elemente in Curricula für Primar- und Sekundarstufe vgl. Krumm, Veränderungen. 2018, S. 16. 47 Vgl. Bredthauer, Sprachvergleiche. 2019, S. 134. 48 Vgl. Szymankiewicz/Kucharczyk, Kompetencja. 2015, S. 76. 49 Wokusch/Lys, Überlegungen. 2007, S. 175.

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schen Lehrkonzept einer einzigen Sprache sehr verpflichtet fühlen.50 Das Postulat richtet sich v. a. an LehrerInnen, die die Muttersprache unterrichten, und in einem noch größerem Maße an jene, die im Schulkontext die erste Fremdsprache unterrichten. Im Rahmen dieser Sprachenfächer sollte bei Kindern das Interesse an Sprachen erweckt und gepflegt werden. Schon während der ersten Fremdsprachenunterrichtsstunden soll ihnen das Gefühl vermittelt werden, dass die unterrichtete Sprache der erste Schritt auf dem Weg zu ihrer individuellen Mehrsprachigkeit ist. Dies gelingt jedoch nur, wenn die Lehrperson einen weiteren Aspekt beachtet und als eine ihrer vorrangigen Aufgaben wahrnimmt:

d)

Erwecken und Stärken der Motivation zum Sprachenlernen

Schon durch anfängliche Bewusstmachung und Wertschätzung der multilingualen Kompetenz können einzelne Lernende zur Überzeugung kommen, dass auch ihre Sprache relevant ist, was ihr Selbstbewusstsein stärkt und sie zum Lernen motiviert.51 Was sich darüber hinaus als motivierend für LernerInnen auswirken kann, ist die gut durchdachte Unterrichtsgestaltung, wo Lernenden genug Spielräume für den Einsatz eigener multilingualer Kompetenz geschaffen werden. Besondere motivierende Effekte werden jedoch von der Lehrperson selbst erwartet, da schon mehrmals bewiesen wurde, dass Lehrende als bedeutendste Motivationsfaktoren fungieren. Die authentische Haltung von Lehrpersonen, die im Rahmen von Fortbildungsveranstaltungen ihr eigenes multilinguales Repertoire erweitern konnten und ihr authentisches Interesse am Sprachenpotential, über das die Lernenden verfügen, vermögen bei jungen Menschen die Neugier an Fremdsprachen zu wecken und sie zum Lernen weiterer Fremdsprachen zu animieren. Voraussetzung dafür ist jedoch, dass den Lehrenden zuerst der Zugang zu attraktiven Forbildungsmöglichkeiten gewährt wird. Mit der gerade erörterten Lehreraufgabe ist die nächste aufs Engste verknüpft und wird durch den Paradigmenwechsel zum multilingualen Sprachenlernen implizit anvisiert.

e)

Stärkung des Gefühls, dass Sprachen im Schulkontext erlernbar sind

Wie am Anfang dieses Beitrags angedeutet wurde, lässt sich heutzutage im schulischen Fremdsprachenunterricht eine allgegenwärtige Atmosphäre der 50 Vgl. Szymankiewicz/Kucharczyk, Ebd. 51 Vgl. Bredthauer, Sprachvergleiche. 2019, S. 135.

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Verdrossenheit beobachten. Diese für den Lehr- und Lernprozess sehr ungünstige Erscheinung entsteht z. T. infolge der Konfrontation der enormen Möglichkeiten, die uns die neuesten Technologien bieten, mit den Einschränkungen des häufig eintönigen, mühseligen und zeitraubenden Lernprozesses einer Fremdsprache. In dieser Atmosphäre gedeiht der Gedanke, dass es vielleicht gar nicht möglich ist, im Rahmen des Schulunterrichts Kompetenzen zu erwerben, die einen kommunikative Bedürfnisse in diversen Lebenssituationen befriedigen lassen, ganz zu schweigen von funktionellen Kompetenzen in mehreren Sprachen. Diese Überzeugung lässt viele Lernende den Weg einschlagen, der ihnen am leichtesten erscheint. Sie beschränken sich ausschließlich auf die heutige lingua franca d. h. Englisch. Im Kontext dieser Tatsache soll man mit Einführung neuer sprachenübergreifender Unterrichtsverfahren nicht zögern. Vor allem in Verbindung mit der projekt- und aufgabenorientierten Fremdsprachendidaktik sowie der auf Kontakte mit anderen Sprachen und Kulturen ausgerichteten Pädagogik, die sich auf möglichst realitätsnahe Situationen stützen soll, kann die Mehrsprachigkeitsdidaktik sehr viele lernförderliche Effekte erzielen.52

4.

Schlussfolgerungen und Implikationen

In Anbetracht der sich sehr dynamisch verändernden Welt und der sich aus neuen Gegebenheiten für unsere LehrerInnen ergebenden Möglichkeiten und Bedürfnisse darf man die Mehrsprachigkeitsdidaktik als Chance für ein effizientes Sprachenlernen nicht ignorieren. Die Prinzipien des multilingualen Lernens im vollen Umfang umzusetzen, ist jedoch ein anspruchsvolles und arbeitsintensives Unterfangen, mit dem Lehrkräfte ohne geeignete Unterstützung nicht weit kommen werden, weil die Voraussetzungen des neuen Ansatzes in einem starken Kontrast zu den bisher angebotenen Lösungen und Praktiken stehen. Wie in den vorangehenden Überlegungen deutlich gemacht wurde, stehen dem integrativen Ansatz v. a. die Unzulänglichkeiten der Aus- und Fortbildungssysteme im Wege, die die neuesten Erkenntnisse der Psycholinguistik und Fremdsprachendidaktk in ihren Programmen noch nicht genügend berücksichtigt haben. Zentral ist dabei die derzeit zu wenig beachtete Einsicht, dass die sog. Tertiärsprachen anders als die Muttersprache und die erste Fremdsprache gelernt werden und dass die Lernenden typischerweise über ein mehr oder weniger umfangreiches Reservoir an Sprach- und Kulturkompetenzen, Lernerfahrungen und Lerngewohnheiten verfügen.53 Allein dies zu beher52 Wokusch/Lys, Überlegungen. 2007, S. 179. 53 Vgl. Chłopek, Nabywanie je˛zykjw. 2011, S. 26.

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zigen nützt nichts, wenn Ausbildungsprogramme für angehende Lehrkräfte das Training der Transfermechanismen und -potenziale ignorieren. Sie übersehen zudem den flexiblen Umgang mit der enormen Heterogenität der Schülerschaft als wichtiges Element der Lehrkompetenz. Was sich außerdem als hemmend für die Umsetzung der mehrsprachigkeitsdidaktischen Verfahren und Elemente im Unterricht zeigt, ist der Mangel an Lehrwerken und Unterrichtsmaterialien, die nicht nur vereinzelnte, lediglich auf lexikalische Gemeinsamkeiten zwischen wenigen Prestige-Sprachen konzentrierte Übungen enthalten ohne Hinweise auf ihre praktische Anwendung, sondern auch komplexe Einheiten, die den Transfer anderer sprachlicher Phänomene ermöglichen. Offenbar wird es noch eine Weile dauern, bis geeignete Lehr- und Lernmaterialien konzipiert werden, was damit zu erklären ist, dass sich mehrsprachigorientierte Ansätze erst dann als besonders lernförderlich erweisen, wenn sie maßgeschneidert sind, d. h. an die Anforderungen der konkreten Lerngruppe, ihre multilingualen Kompetenzen, die mehrsprachig geprägte Umgebung, in der sie heranwachsen, angepasst sind. Die vorauszusetzende hyperdiverse Mehrsprachigkeit einer jeden Gruppe geht nicht mit den Interessen der Verlage einher, Lehrwerke für einen möglichst breiten Kundenkreis zu publizieren. Fortbildungsmöglichkeiten, die auf lokaler Ebene stattfinden und der Sprachenspezifik und -vielfalt der konkreten Region am besten Rechnung tragen, sind folglich umso wichtiger. Damit die Implementierung der mit einem neuen Paradigma verbundenen innovativen Unterrichtsverfahren erfolgreich verläuft, müssen u. a. folgende Bedingungen erfüllt werden: a. Schaffung von Anreizen für Personen, die für den Implementierungsprozess zuständig sind b. Kompatibilität der innovativen Lösungen mit bisherigen Lösungen c. der Schwierigkeitsgrad der innovativen Lösungen muss angemessen sein d. Schaffung der Möglichkeit, die Auswirkungen der neuen Lösungen zu beobachten und zu überprüfen.54 Aus der Analyse der Bedingungen ergibt sich ein eher pessimistisches Bild für die Realisierbarkeit der Annahmen des integrativen Ansatzes. Die erhofften Resultate lassen auf sich warten, bis die mehrsprachigkeitsdidaktischen Verfahren in breiter Unterrichtspraxis implementiert werden (d). Die Einführung der anvisierten innovativen Lösungen muss im Großen und Ganzen als ein für Lehrende schwieriger Prozess eingeschätzt werden (c), weil sie institutionell wenig beim Erwerb neuer, von ihnen geforderter Kompetenzen unterstützt 54 Vgl. Droz´dział-Szelest: Innowacyjnos´c´ w edukacji je˛zykowej a profesjonalizm nauczyciela. In: Neofilolog 51, H. 1, 2018, S. 29–41, hier S. 33.

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werden – multilinguale Sprach(lern)kompetenz, Umgang mit Heterogenität von Lerngruppen, gegenseitiges Ergänzen von Sprachkompetenzen durch Zusammenarbeit mit anderen Lehrenden (b). Die Vorteile, die der neue Ansatz mit sich bringen kann, liegen eher auf der Seite der Lerner. Wenn aber durch die Förderung der individuellen Mehrsprachigkeit von SchülerInnen ein Beitrag zur Solidarität und Toleranz im künftigen Europa, zu einer Verbesserung des Unterrichtsklimas und zur stärkeren Motivation der Lernenden geleistet werden kann, dann sind die Implementierungsversuche jede Mühe wert.