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German, French Pages 457 [459] Year 2013
Kulturwissenschaft Franz Steiner Verlag
V I C E V E R S A D eutsch- franz ö si sche Kul turstudi en
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Zwischen Transfer und Vergleich Herausgegeben von Christiane Solte-Gresser, Hans-Jürgen Lüsebrink und Manfred Schmeling
Zwischen Transfer und Vergleich Herausgegeben von Christiane Solte-Gresser, Hans-Jürgen Lüsebrink und Manfred Schmeling
V I C E V E R S A Deutsch-fra nzö sische Kul turs tu di e n Herausgegeben im Auftrag des Frankreichzentrums der Universität des Saarlandes von Manfred Schmeling Band 5
Zwischen Transfer und Vergleich Theorien und Methoden der Literatur- und Kulturbeziehungen aus deutsch-französischer Perspektive
Herausgegeben von Christiane Solte-Gresser, Hans-Jürgen Lüsebrink und Manfred Schmeling
Franz Steiner Verlag
Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der VolkswagenStiftung.
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar. Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig und strafbar. © Franz Steiner Verlag, Stuttgart 2013 Druck: Hubert & Co., Göttingen Gedruckt auf säurefreiem, alterungsbeständigem Papier. Printed in Germany. ISBN 978-3-515-10634-4
INHALTSVERZEICHNIS Hans-Jürgen Lüsebrink, Manfred Schmeling und Christiane Solte-Gresser Einführung: Zwischen Transfer und Vergleich ..............................................
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I. (WISSENSCHAFTS-)PERSPEKTIVEN PROGRAMMATISCHE POSITIONEN UND KONZEPTE Christiane Solte-Gresser Potenziale und Grenzen des Vergleichs. Versuch einer literatur- und kulturwissenschaftlichen Systematik .................
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Hans-Jürgen Lüsebrink Der Kulturtransferansatz .................................................................................
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Manfred Schmeling Komparatistik als Beziehungswissenschaft ....................................................
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II. (KULTUR-)BEGRIFFE INTER-, MULTI- UND TRANSKULTURALITÄT Anke Bosse Interkulturalität – von ‚Transfer‘ zu ‚Vernetzung‘ .........................................
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Kambiz Djalali Übersetzung und trilateraler Kulturtransfer. Deutsch-französische Konfigurationen am Beispiel der Rezeption persischer Dichtung .................................................................
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Elke Richter Albert Camus: Kultur-Kontakte im Mittelmeerraum .....................................
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Sonja Malzner Europäische Gemeinsamkeiten und national-kulturelle Spezifika des literarischen Blicks auf Afrika: Möglichkeiten und Aporien des Vergleichs von Afrika-Reiseberichten .....................................................
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Inhaltsverzeichnis
Jeanne Ruffing Risiken und Chancen typologischen Vergleichens am Beispiel der Analyse ethnischer und postkolonialer Kriminalliteratur......
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Louise-Hélène Filion Nouvelles perspectives sur l’intertextualité interculturelle: „théorie de la référencialité“ et „critique spatiale“ .........................................
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Karen Struve Ambivalenz statt Vergleich und Transfer. Theoretische und methodologische Überlegungen zu kultureller Differenz und Hybridität bei Homi K. Bhabha ........................
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III. (KULTUR-)TRANSFER KULTURBEZIEHUNGSFORSCHUNG, KULTURKONTAKTFORSCHUNG, KULTURTRANSFERFORSCHUNG Ruth Florack Stereotypenforschung als Beitrag zur Erforschung von Kulturvergleich und -transfer ...................................................................
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Thomas Keller Transkulturelle Differenz bei Barbara Cassin und Alain Badiou. Neueste deutsch-französische Vergleiche und Transfers im Zeichen der Verstreuung ...........................................................................
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Hans Manfred Bock Zur Überwindung nationaler Begriffsmodellierung des Intellektuellen. Neukonzeptualisierungen in Frankreich und ihre deutschen Filiationen ........
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Carolin Fischer Lyrik-Übersetzung als Kulturtransfer .............................................................
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Perrine Häfner Trafic ‚frontalier‘ et traduction littéraire. Nouvelles perspectives sur le transfert culturel et linguistique à l’exemple de Zazie dans le métro de Raymond Queneau ............................
225
Joseph Jurt Literaturzirkulation und Feldtheorie ...............................................................
239
Michel Espagne Transfert de comparatismes ............................................................................
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Inhaltsverzeichnis
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IV. (VERGLEICHS-)VERFAHREN BILATERALES, MULTILATERALES UND ‚ILLEGITIMES‘ VERGLEICHEN Michael Eggers Körper und Texte. Zur entstehungsgeschichtlichen Nähe von Komparatistik und vergleichender Anatomie ..........................................
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Margot Brink Topische Gedächtnis- und Wissensräume. Aktuelle Toposforschung im Kontext von Kulturvergleich und -transfer ......
291
Peter Herr (Un-)Vergleichbarkeit der Sho’ah? Herausforderungen für den Vergleich als Methode ........................................
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Rüdiger Zymner Gattungslandschaften. Probleme des generologischen Kulturvergleiches ..........................................
321
Ute Heidmann „La différence, ce n’est pas ce qui nous sépare“. Pour une analyse différentielle des relations littéraires et culturelles .............
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Peter V. Zima Französische Nietzsche-Rezeptionen. Zum interkulturellen Bedeutungswandel eines ambivalenten Werks .............
345
Stéphane Michaud Verteidigung des Vergleichs – Priorität der Dichtung: Impulse aus der Lyrik von Michel Deguy ......................................................
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V. (TEXT-)ENTGRENZUNGEN INTERTEXTUALITÄT UND INTERMEDIALITÄT Monika Schmitz-Emans Das andere Schreiben der Literatur. Begegnung und Interferenzen der Bilder als Beitrag zur Darstellung und Erkenntnis des kulturell Differenten ..............................
371
Patricia Oster Kunst als Medium des Kulturtransfers. Methodische Reflexionen am Beispiel von Cécile Wajsbrots Berlinromanen .........................................
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Inhaltsverzeichnis
Christoph Vatter Intermedialität – une affaire allemande? Interkulturelle Annäherungen an die Intermedialitätsforschung in Deutschland und Frankreich ..................
397
ANHANG Zusammenfassungen (dt.) ...............................................................................
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Résumés (frz.)..................................................................................................
427
Autorenverzeichnis .........................................................................................
441
Bildnachweis ...................................................................................................
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EINFÜHRUNG: ZWISCHEN TRANSFER UND VERGLEICH Hans-Jürgen Lüsebrink, Manfred Schmeling und Christiane Solte-Gresser
1. GRENZÜBERSCHREITUNG ALS METHODISCHE HERAUSFORDERUNG Im Zuge der Globalisierung nimmt das Bewusstsein für kulturwissenschaftliche Fragestellungen zu. Der gesellschaftliche Tatbestand beschleunigter kultureller Austauschprozesse hat zu erhöhter methodischer Reflexivität geführt. Die Forschung zu Kulturbeziehungen und die Theorien zum Kulturkontakt haben ihre Paradigmen daher in den letzten Jahren beständig erweitert. Neue methodische Ansätze und Begriffe sind entstanden. Unterschiedliche und häufig kulturwissenschaftlich orientierte Disziplinen wie Geschichtswissenschaften, Sprach- und Literaturwissenschaften, Bild- und Musikwissenschaften und Philosophie oder Disziplinbereiche wie Interkulturelle Kommunikation und cultural studies haben sich aufgrund gemeinsamer transkultureller Interessen einander angenähert. Es ist auf dieser theoretischen Ebene trotz der jeweiligen Spezifik des Faches so etwas wie eine interdisziplinäre Diskursgemeinschaft entstanden. Bestimmte analytische Kategorien, so insbesondere Dialogizität, Interkulturalität und Transkulturalität, Kulturtransfer, histoire croisée/entangled history, Hybridität, métissage, Differenz/Identität und Alterität/Fremdhermeneutik, gehören heute zum theoretischen Standard der meisten Disziplinen. Sie überlagern dabei zumeist traditionellere Konzepte wie Rezeption, Imagologie, Wirkung oder Einfluss. Grenzüberschreitungen finden darüber hinaus auf unterschiedlichen Ebenen (kulturell, sprachlich, sozial, textsortenspezifisch) und in unterschiedlichen Räumen oder Dimensionen (Region, Nation, Kontinent, globale Perspektiven) statt. Diese Dialektik der Grenzüberschreitung scheint sowohl sachlich als auch methodisch unhintergehbar: Teils unterliegen die entsprechenden Forschungsansätze und Methoden kulturellen bzw. nationalen wissenschaftlichen Traditionen, teils entwickeln sie sich dialogisch im internationalen Konzert. Hinzu kommt, dass sich die Literatur- und Kulturbeziehungen während der letzten Jahre im Zuge von Globalisierung, Kulturwandel und Medienrevolution radikal verändert haben. Diese Veränderungen schlagen sich direkt in neueren und neuesten theoretischen sowie methodischen Reflexionen nieder. Auf fruchtbare, aber auch auf besonders kontroverse Weise werden sie im deutsch-französischen Kontext diskutiert. Während die aktuellen Ansätze anglo-amerikanischer Provenienz als relativ gut erforscht gelten können, steht eine systematische Aus-
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Hans-Jürgen Lüsebrink, Manfred Schmeling und Christiane Solte-Gresser
schreitung des gegenwärtigen, sich ausgesprochen dynamisch entwickelnden deutsch-französischen Theorie-Feldes der Literatur- und Kulturbeziehungen noch weitgehend aus. Dabei stellen die deutsch-französischen Kulturbeziehungen in ihren vielfachen Gemeinsamkeiten, aber gerade auch in ihren interkulturellen Differenzen und Konfliktpotenzialen ein privilegiertes, interdisziplinäres Feld für die theoretische Konzeptualisierung und die methodische Untersuchung von Literatur- und Kulturbeziehungen allgemein dar. Sie haben für zahlreiche andere Konfigurationen eine Modell- und Pilotfunktion eingenommen und repräsentieren hiermit in vielfacher Hinsicht ein ‚Laboratoriumʻ der internationalen und interdisziplinären Kulturbeziehungsforschung. Zudem sind insbesondere die methodologischen Kategorien des Vergleichs und des (Kultur-)Transfers zunächst im französischsprachigen Raum konzipiert worden – in den 1920er Jahren der komparatistische Ansatz in der Literaturwissenschaft, Ende der 1980er Jahre der Kulturtransferansatz –, während die mit beiden Herangehensweisen in Verbindung stehende Rezeptionsforschung (die auf die ‚Konstanzer Schule‘ um Hans Robert Jauß und Wolfgang Iser zurückgeht) seit den 1970er Jahren in Deutschland entwickelt wurde. Diese drei Paradigmen sind seitdem im deutsch-französischen Kontext auf besonders fruchtbare Weise diskutiert, problematisiert und weiterentwickelt worden. 2. THEMENFELDER UND KONFLIKTLINIEN Die einzelnen Beiträge des vorliegenden Bandes gehen jeweils von einem bestimmten theoretisch-methodischen Themenfeld aus, beleuchten die gewählten Ansätze kritisch und zeigen anhand empirischen Materials sowie unter Rückgriff auf vorliegende Studien ihre Tragfähigkeit und ihre Erkenntnisgrenzen auf. Dabei werden eine Reihe neuer Herausforderungen deutlich, denen sich insbesondere der scheinbar vertraute Begriff des Vergleichs zu stellen hat. Zum einen nahmen Begriffe und Kategorien wie ‚Einflussʻ, ‚Wechselwirkungenʻ und ‚Austauschʻ im Wissenschaftsdiskurs des 19. und des beginnenden 20. Jahrhunderts eine wichtige Rolle ein, wurden jedoch in der aktuellen theoretischen Diskussion durch andere Paradigmen und Konzepte abgelöst, auch wenn ihnen in empirischen Studien sowie im öffentlichen Diskurs offensichtlich weiterhin eine zentrale Position zukommt; zum anderen hat die Medienrevolution der letzten 15 Jahre die Struktur von Literatur- und Kulturbeziehungen grundlegend verändert und erfordert eine neue theoretische Konzeptualisierung des spezifischen Verhältnisses von Literatur, Kultur und Medien im Gesamtkomplex. Zudem stehen angesichts der zunehmenden Literatur-, Medien- und Kulturverflechtungen Funktion und Struktur von Vergleichen grundlegend zur Debatte: In welchen Konfigurationen sind Vergleiche, ob sie nun bilateral oder multilateral angelegt sind, angesichts der verstärkt transkulturellen Struktur postmoderner Gesellschaften weiterhin wissenschaftlich haltbar und heuristisch sinnvoll? Welche theoretischen Ansätze könnten diesen neuen Strukturen gerecht werden? Welche
Einführung: Zwischen Transfer und Vergleich
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methodischen Vorgehensweisen und welche empirischen Untersuchungsdesigns lassen sich beispielsweise mit Konzepten wie métissage, ‚Hybriditätʻ und ‚Transkulturalitätʻ verbinden? Zunehmend wird deutlich, dass Konzepte der Kulturbeziehungsforschung nicht nur davon abhängen, wie die Beziehungen zwischen Kulturen konzipiert werden (z. B. Einfluss und Export versus dynamische, prozessorientierte Interaktions- und Akkulturationsprozesse), sondern vor allem auch davon, welcher Kulturbegriff jeweils zugrunde gelegt wird. Die Kritik an einer methodisch nur wenig reflektierten Vergleichspraxis macht in den letzten Jahren mehr und mehr auch die Problematik des Vergleichs deutlich. Es handelt sich hier um eine grundsätzliche Ambivalenz, die jedem Vergleich als Denkoperation innewohnt und die, abhängig von der wissenschaftlichen Position, die man einnehmen will, als Problem oder als erkenntnisförderndes Potenzial angesehen werden kann. Als Konsens gilt inzwischen, dass Perspektivabhängigkeit, Subjekt- und Standortgebundenheit selbstkritisch reflektiert werden müssen,1 damit Vergleiche nicht selektierend und generalisierend wirken.2 Wenn das zu vergleichende Fremde im Grunde nur vor dem Hintergrund des Eigenen fassbar werden kann, besteht freilich stets die Gefahr, dass es dem Gegenstand, der den Ausgangspunkt des Vergleichs bildete, angeglichen wird oder aber in eindeutiger Abgrenzung dazu erscheint, ohne dem Anderen wirklich gerecht zu werden. Diesem Problem kann eine systematische Reflexion und Artikulation des eigenen Erkenntnisinteresses, der damit implizierten Maßstäbe und der methodischen Konsequenzen entgegentreten. Zugleich sind jedoch vor allem literarische oder andere ästhetische Texte durch eine dialogische Dimension gekennzeichnet, welche Michail Bachtin und Julia Kristeva schon vor Jahrzehnten betont haben,3 die aber gerade heute in besonders produktiver Weise diskutiert wird und sich methodologisch fruchtbar machen lässt. Eine solche, jedem Text genuine Intertextualität fordert den Leser geradezu heraus, sie zu anderen Texten in eine erhellende Beziehung zu setzen. Denn das so im intertextuellen Netz entstehende Differenzprofil, das den traditionell bilateral angelegten Vergleich erweitert,4 entgrenzt scheinbar vorgegebene hierarchische Strukturen, Genealogien und Chronologien, wie sie die Quellen1
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Vgl. Zima, Peter V.: Vergleich als Konstruktion. Genetische und typologische Aspekte des Vergleichs und die soziale Bedingtheit der Theorie, in: ders. (Hg.): Vergleichende Wissenschaften. Interdisziplinarität und Interkulturalität in den Komparatistiken, Tübingen: Narr, 2000, S. 15–28, hier S. 27. Siehe Kaelble, Hartmut/Schriewer, Jürgen (Hg.): Vergleich und Transfer. Komparatistik in den Sozial-, Geschichts- und Kulturwissenschaften, Frankfurt/M., New York: Campus, 2003, insbesondere den Aufsatz von Kaelble, Hartmut: Die interdisziplinären Debatten über Vergleich und Transfer, in: ders./Schriewer (Hg.): Vergleich und Transfer, S. 469–493. Vgl. Bachtin, Michail M.: Die Ästhetik des Wortes, hg. von Rainer Grübel, Frankfurt/M.: Suhrkamp, 1979 (edition suhrkamp 967); Kristeva, Julia: Semeiotiké. Recherches pour une sémanalyse, Paris: Seuil, 1969 (Tel Quel). Vgl. Solte-Gresser, Christiane: Spielräume des Alltags. Literarische Gestaltung von Alltäglichkeit in deutscher, französischer und italienischer Erzählprosa (1929–1949), Würzburg: Königshausen & Neumann, 2010 (Saarbrücker Beiträge zur vergleichenden Literatur- und Kulturwissenschaft 50), S. 70.
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und Einflussforschung vor allem in Frankreich lange Zeit ins Zentrum ihrer Studien gestellt hatte. Neben dem bilateralen Vergleich und dem Vergleich als einem öffnenden Verfahren, das „erweitert, hinterfragt, konfrontiert, […] bewußt [macht und] im besten Falle auch ideologiekritisch“5 ist, wird daher seit der Jahrtausendwende verstärkt ein kulturwissenschaftlicher Ansatz diskutiert, den Elisabeth Bronfen als „cross-mapping“ bezeichnet.6 Hier geht es um das „Aufeinanderlegen und Kartographieren von Denkfiguren“, um das „Feststellen und Festhalten von Ähnlichkeiten, die sich zwischen ästhetischen Werken ergeben, für die keine eindeutigen intertextuellen Beziehungen im Sinne von explizit thematisierten Einflüssen festgemacht werden können“7. Damit geht zugleich ein methodologischer Anspruch einher, den Hartmut von Sass in seiner Konzeption des „emergenten“ bzw. des „offenen Vergleichs“ als ein irritierend-korrigierendes Ausprobieren bezeichnet. Denn diese spielerisch-kreative Suchbewegung, mit der der Vergleich systematisch instabil gehalten wird und die Vergleichsglieder „zu schillern“ beginnen, bewirkt eine „produktive Vagheit“, die durchaus intendiert ist.8 Eine solche Erweiterung traditioneller Vergleichsverfahren hat inzwischen zu einer eigenen Strömung in den Kulturwissenschaften geführt: der Theorie und Praxis des ‚illegitimen Vergleichensʻ9. Derartige Formen des analogiebezogenen Denkens, die nach Korrespondenzen zwischen disparaten Texten suchen, stellen das Lesen als kreativen und Bedeutung konstituierenden Akt in den Mittelpunkt literatur- und kulturwissenschaftlicher Theorie. Damit verschiebt sich der Fokus vom Autor eines originellen, in sich abgeschlossenen Werkes hin zum Leser, der vielfältige Beziehungen zwischen Texten im Prozess der aktiven Lektüre herstellt.10 Der besondere Charakter der vorliegenden Publikation besteht nun vor allem darin, solche Theorien und Methoden erstens auf ihre methodische Tragfähigkeit hinsichtlich aktuellster Literatur- und Kulturphänomene zu überprüfen, zweitens die höchst kontrovers verlaufende Diskussion entlang ihrer zentralen Konflikt5
Schmeling, Manfred: ‚Vergleichung schafft Unruhe‘. Zur Erforschung von Fremdheitsdarstellungen in der literaturwissenschaftlichen Komparatistik, in: Lenz, Bernd/Lüsebrink, HansJürgen (Hg.): Fremdheitserfahrung und Fremdheitsdarstellung in okzidentalen Kulturen: Theorieansätze, Medien/Textsorten, Diskursformen, Passau: Rothe, 1999 (Passauer interdisziplinäre Kolloquien 4), S. 19–35, hier S. 21. 6 Vgl. Bronfen, Elisabeth: Cross-Mapping. Kulturwissenschaft als Kartographie von erzählender und visueller Sprache, in: Musner, Lutz/Wunberg, Gotthart (Hg.): Kulturwissenschaften. Forschung – Praxis – Positionen, Wien: WUV, 2002 (Edition Parabasen), S. 110–134. 7 Bronfen: Cross-Mapping, S. 111 f. 8 Sass, Hartmut von: Vergleiche(n). Ein hermeneutischer Rund- und Sinkflug, in: ders./Mauz, Andreas (Hg.): Hermeneutik des Vergleichs. Strukturen, Anwendungen und Grenzen komparativer Verfahren, Würzburg: Königshausen & Neumann, 2011 (Interpretation interdisziplinär 8), S. 25–47, hier S. 31, S. 38. 9 Vgl. Lutz, Helga/Missfelder, Jan-Friedrich/Renz, Tilo (Hg.): Äpfel und Birnen. Illegitimes Vergleichen in den Kulturwissenschaften, Bielefeld: transcript, 2006 (Kultur- und Medientheorie). 10 Vgl. Solte-Gresser: Spielräume des Alltags, S. 71 f.
Einführung: Zwischen Transfer und Vergleich
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linien und strittigen Positionen nachzuzeichnen bzw. kritisch weiterzuführen und diese drittens in einem dezidiert interdisziplinären Kontext auf neue Perspektiven hin zu befragen. Denn es ist davon auszugehen, dass gerade die interdisziplinäre Debatte zwischen Literaturwissenschaftlern, Historikern sowie Sprach- und Kulturwissenschaftlern, welche sich allesamt mit methodischen Problemen der Vergleichbarkeit und des Transfers kultureller Phänomene auseinanderzusetzen haben, entscheidende Impulse für eine Neukonzeptualisierung des Theorien- und Methodenspektrums der Vergleichs- und Transferforschung liefert. Die entwickelten Begriffe sowie theoretischen und methodischen Ansätze sollen mit Blick auf ihren Stellenwert in unterschiedlichen Disziplinen sowie auf ihr Potenzial oder ihre Grenzen für das jeweils formulierte Erkenntnisinteresse aufgearbeitet, reflektiert und diskutiert werden. Welche impliziten und expliziten Ansätze der Theoriebildung liegen älteren und neueren Standardwerken zu den deutsch-französischen Kulturbeziehungen zugrunde? Anhand welcher Themenfelder werden die Kulturbeziehungen analysiert? Welche methodischen Implikationen ergeben sich daraus? Mit welchen Begrifflichkeiten wird jeweils operiert? Inwieweit bestehen Überschneidungen oder Anknüpfungspunkte der verschiedenen Konzeptionen? Welche methodischen Verfahren und Entwicklungstendenzen bietet die Kulturtransferforschung, die sich unter anderem mit multipolaren Kulturbeziehungen, mit Sprachkontakt und Übersetzung oder mit Begriffs-, Wissens- und Bildtransfer beschäftigt? Wo liegen die Herausforderungen, Aporien und methodischen Entwicklungspotenziale der Kulturtransfer- bzw. der Kulturkontaktforschung sowie deren Konvergenzen und Divergenzen? 3. GLIEDERUNG DES BANDES I. (Wissenschafts-)Perspektiven. Programmatische Positionen und Konzepte Die erste Sektion dieses Bandes zielt darauf ab, ausgehend von grundlegenden, programmatischen Einleitungen die zentralen aktuellen Theoriekonzepte und methodischen Ansätze im Bereich der Kulturbeziehungsforschung zur Diskussion zu stellen. Zunächst geht es darum, Vergleich und Transfer in die Forschungslandschaft einzuordnen und einige systematische Vorüberlegungen (Begriffe, Gegenstände, funktionale Bewertung) anzustellen. Auf der Basis einer Typologie von Forschungsansätzen wird die Frage nach der ‚Leistung‘ vergleichender Verfahren aufgeworfen und anhand unterschiedlicher programmatischer Positionen eine kontrastive Systematik theoretischer Vergleichskonzepte vorgeschlagen (Christiane Solte-Gresser). Hinterfragt werden zudem die Möglichkeiten und Funktionen des Kulturtransfers in einer Zeit, da die territorialen Bezugspunkte (Nation) nicht mehr den gleichen Stellenwert haben wie im 18., 19. oder 20. Jahrhundert und neben transkulturellen Einheiten (wie transnationalen Kulturräumen) Bezugsgrößen und Konzepte wie ‚Interkultur‘ (Bernd Müller-Jacquier, Mark Terkessidis) und ‚Kollektive‘ (Klaus Peter Hansen) eine zunehmende Bedeutung er-
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Hans-Jürgen Lüsebrink, Manfred Schmeling und Christiane Solte-Gresser
langen (Hans-Jürgen Lüsebrink).11 In einem weiteren Einführungsbeitrag liegt der Akzent auf der Frage, inwieweit Gegenstand und (vergleichende) Methode sich gegenseitig bedingen bzw. inwieweit kulturelle und speziell literarische Beziehungen mit Hilfe eines tertium comparationis gleichsam erst konstruiert werden müssen (Manfred Schmeling). II. (Kultur-)Begriffe. Inter-, Multi- und Transkulturalität Ausgehend von dem eingangs eröffneten Spektrum zur grundlegenden Problematik des Vergleichs auf literarischer, kultureller und sprachlicher Ebene geht es in der zweiten Sektion des Bandes um Formen der Konzeptualisierung von Literaturund Kulturbeziehungen. Hier werden unterschiedliche Neuansätze der begrifflichen Erfassung des Phänomens ‚Kultur‘ umrissen, in Relation zueinander gesetzt und kritisch weiterentwickelt: Wird Interkulturalität als Transferprozess oder als Vernetzungsphänomen verstanden (Anke Bosse)? Inwieweit eröffnen die Theoriekonzepte des Kulturtransfers und der Transkulturalität neue Perspektiven für die Analyse der Rezeption und Übersetzung literarischer Texte (Kambiz Djalali)? Wie lassen sich diese Konzepte methodisch überzeugend auf die Analyse kolonialer und postkolonialer Konfigurationen von Literatur- und Kulturbeziehungen anwenden (Sonja Malzner, Jeanne Ruffing)? In der Auseinandersetzung mit Literatur bedeutet dies unter anderem, Analyseverfahren zu entwickeln, die Konzepten der hybridité oder des métissage gerecht werden können (Karen Struve). Dies wirft auch die Frage auf, wie etwa das kontrovers diskutierte Werk Albert Camus’ zu verorten ist: Ist Camus als Algerier zu bezeichnen oder vielleicht doch – mit Edward Said – als eine „späte imperiale Gestalt“12 (Elke Richter)? Auch in intertextueller Hinsicht treten die unterschiedlichen Wissenschaftskontexte deutlich zutage, beispielsweise wenn Intertextualitätsansätze in produktiver Weise mit Konzepten der mémoire littéraire zusammen gedacht werden. In diesem Zusammenhang werden insbesondere die Theorieansätze von Tiphaine Samoyault auf ihr interkulturelles Potenzial hin befragt (Louise-Hélène Filion).
11 Vgl. hierzu Terkessidis, Mark: Interkultur, Frankfurt/M.: Suhrkamp, 2010 (edition suhrkamp 2589); Müller-Jacquier, Bernd: Interkulturelle Kommunikation und Fremdsprachendidaktik, Koblenz: Universität Koblenz-Landau, 1999 (Fernstudium Fremdsprachen in Grund- und Hauptschulen); Lüsebrink, Hans-Jürgen: Interkulturelle Kommunikation. Interaktion – Fremdwahrnehmung – Kulturtransfer, Stuttgart, Weimar: Metzler, 2005, 32012, S. 7–8. 12 Said, Edward W.: Kultur und Imperialismus, Frankfurt/M.: Fischer, 1994, S. 239 (Original: Culture and Imperialism, New York: Alfred A. Knopf, 1993).
Einführung: Zwischen Transfer und Vergleich
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III. (Kultur-)Transfer. Kulturbeziehungsforschung, Kulturkontaktforschung, Kulturtransferforschung In der dritten Sektion des Bandes soll mit dem Kulturtransferansatz ein erstes zentrales Paradigma der theoretischen Neuperspektivierung von Kulturbeziehungen, das zunächst im deutsch-französischen Kontext entwickelt worden ist, beleuchtet und kritisch diskutiert werden. Die hier versammelten Beiträge erschließen zentrale Problembereiche der aktuellen theoretischen Diskussion: die theoretischen Verknüpfungen zwischen dem Kulturtransferansatz und dem tradierten Konzept der ‚Kulturbeziehungsforschung‘ (Thomas Keller, Hans Manfred Bock) und die Beziehungen zwischen Perzeptionsforschung und Kulturtransferansatz (Ruth Florack). Joseph Jurt stellt aus literatursoziologischer Perspektive die grundlegenden methodischen und theoretischen Konzepte des interkulturellen Interferenzraums und der von Pierre Bourdieu geprägten, aber in den letzten Jahren transkulturell weiterentwickelten Theorie des kulturellen Feldes zur Diskussion. Carolin Fischer und Perrine Häfner arbeiten am Beispiel von Lyrik-Übersetzungen sowie Raymond Queneaus avantgardistischem Roman Zazie dans le métro Spezifika der Übersetzung und des interkulturellen Transfers literarischer Texte heraus. Michel Espagne schließlich zeigt in seinem Beitrag u. a. anhand der Rezeption der deutschen Geisteswissenschaften durch den russischen Formalismus, wie komparatistische Herangehensweisen selbst zum Gegenstand des Transfers zwischen Disziplinen und Kulturräumen werden. IV. (Vergleichs-)Verfahren. Bilaterales, multilaterales und ‚illegitimes‘ Vergleichen Um das Vergleichen als Methode im engeren Sinne geht es in der vierten Sektion des Bandes. Der Vergleich ist zwar eigentlich noch keine Methode, sondern ein Grundelement kognitiver Prozesse. Gleichwohl hat er für die Kulturtransferforschung methodischen Status. Das vergleichende Verfahren wird als solches funktional eingesetzt, um Differenzen und Gemeinsamkeiten zwischen abgebenden und aufnehmenden Kulturen zu erforschen. Präsentiert werden in einem ersten Schritt neue Vorschläge zur Analyse literarischer Texte: das Konzept einer erweiterten Toposforschung, die zwischen Thematologie, Intertextualitätstheorie und Diskursanalyse angesiedelt ist (Margot Brink), die methodischen Voraussetzungen einer comparaison différentielle, die sich als intertextueller Dialog versteht (Ute Heidmann), eine kritische Rehabilitierung des traditionellen Vergleichsparadigmas in der Literatur gegenüber den gegenwärtigen Einflüssen der Kulturwissenschaften (Stéphane Michaud), die deutsch-französische Transfergeschichte der vergleichenden Wissenschaften (Michael Eggers) sowie Vergleichsmethoden in genetischer, rezeptionsästhetischer und gattungstheoretischer Hinsicht (Peter V. Zima, Rüdiger Zymner). Dass der Vergleich als wissenschaftliche Methode an epistemologische sowie ethisch-politische Grenzen stößt, wird
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anhand der Diskurse über Shoah und Genozid zur Diskussion gestellt, die zu einer radikalen ethischen und ästhetischen Komparatistik herausfordern (Peter Herr). V. (Text-)Entgrenzungen. Intertextualität und Intermedialität Die fünfte Sektion des Bandes widmet sich aktuellen Fragen und Problemen der Intertextualitäts- und Intermedialitätstheorie. Als vergleichende Verfahren, welche die Brücke zwischen literarischer und visueller Kultur schlagen, werden die gegenwärtig besonders kontrovers diskutierten Ansätze einer interkulturellen Intermedialitätsforschung präsentiert, die in hohem Maße geeignet scheinen, die transkulturellen Dimensionen der zeitgenössischen Medienkulturen konzeptuell zu erfassen (Christoph Vatter). Dabei wird jedoch auch ein Hiatus zwischen der deutschen und der französischen Forschungslandschaft deutlich. Während die Intertextualitätsdiskussion seinerzeit von Frankreich ausgegangen ist und erst in den 1970er Jahren (auch unter dem Einfluss amerikanischer Theorien) in deutschen Forschungskontexten rezipiert wurde, ist die Intermedialität eher eine deutsche, insbesondere auch romanistische Domäne, die in Frankreich erst allmählich einen entsprechenden Stellenwert einnimmt. In vielen Beiträgen wird nachgewiesen, dass Kulturtransfer und Vergleich sich nicht zuletzt in Form von Intertextualität und Intermedialität materialisieren. In der modernen Literatur bilden fiktionale Auseinandersetzungen mit Texten, Kunstwerken und Medien oftmals die Grundlage für komplexe ästhetische Verfahren. Untersucht wird dies am Beispiel des Berlin-Romans L’Ile aux musées von Cécile Wajsbrot (Patricia Oster). Der abschließende Beitrag richtet den Fokus auf das Potenzial der Literatur und erörtert, ob durch Eigenschaften wie Polyphonie und Polyperspektivität die unausweichliche perspektivische Beschränkung wissenschaftlicher Darstellung kompensiert werden kann (Monika Schmitz-Emans). 4. ERTRÄGE DES SAMMELBANDES Wie das Spektrum der Beiträge zeigt, werden die zentralen literatur- und kulturtheoretischen Konzepte des Vergleichs und des Transfers in einen breiten Diskussionsrahmen gestellt und zugleich im Zusammenhang mit textbezogenen Fallbeispielen auf ihre aktuelle heuristische Tragfähigkeit hin überprüft. Der Schwerpunkt liegt auf kultur-, medien- und literaturwissenschaftlichen Ansätzen, unter Einschluss auch kunsthistorischer Forschungen und kulturanthropologischer Fragestellungen. Besonders in diesen Bereichen, die mit neuen Akzentsetzungen vor allem im deutsch-französischen Kontext entwickelt und diskutiert worden sind, sind in den letzten zehn Jahren grundlegende Neuperspektivierungen der komparatistischen und transferorientierten Forschung erfolgt. Diese knüpfen methodisch und theoretisch an die vorliegenden, vor allem im Bereich der Sozial- und Kultur-
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geschichte entwickelten transnationalen Ansätze13 an, erschließen aber zugleich konzeptuell neue Dimensionen interkultureller und transkultureller Verflechtungen. Eine ausführliche Diskussion entwickelt sich um die methodische Tragweite des Transfer-Begriffs. Auf welchen strukturellen bzw. historischen Grundlagen, unter Beteiligung welcher Instanzen, in welcher Form und mit welchem Ergebnis vollzieht sich Kulturtransfer? Welche Rolle spielen ‚Mittler‘ in solchen Prozessen? Welche systematischen Beziehungen bestehen in theoretischer und methodischer Hinsicht zwischen dem Kulturtransferansatz, der auch auf die Aneignungsformen und Wirkungsweisen von Texten und kulturellen Artefakten zielt, und der – in erster Linie literaturwissenschaftlich ausgerichteten – Rezeptionsforschung? Fraglich ist außerdem, ob der Transfer-Begriff mehr als ein heuristisches Untersuchungsdesign sein kann, das bei Anwendung jeweils der methodisch-sachlichen Präzisierung bedarf. Die in der Themenformulierung vorgegebene Dynamik eines Prozesses, der sich zwischen den beiden Phänomenen des Transfers und des Vergleichs bewegt, erweist sich als produktivste Dimension des vorliegenden Bandes. Nach wie vor bestehen in der wissenschaftlich-institutionellen Realität beträchtliche Vorurteile hinsichtlich der verwendeten Begrifflichkeiten. So findet man immer wieder die Auffassung, das Vergleichen sei ein statisches, tendenziell hierarchisierendes Verfahren, das der grundlegenden Alterität der Vergleichsgegenstände nicht gerecht werden kann, oder Transferbewegungen seien bilateral und eindirektional angelegt und daher nicht imstande, transnationale Phänomene angemessen zu berücksichtigen. Zudem hätte man erwarten können, dass sich der disziplinäre Hiatus zwischen Geschichts-, Kultur- und Sozialwissenschaften auf der einen und Kunst- bzw. Literaturwissenschaften/Komparatistik auf der anderen Seite zumindest bis zu einem gewissen Grade auch in der jeweiligen Situierung der verschiedenen Beiträge innerhalb der Kulturtransferforschung einerseits bzw. des Vergleichsdenkens andererseits widerspiegeln würde. Doch die hier präsentierten Studien argumentieren erheblich differenzierter. Nahezu sämtliche Beiträge verweisen, freilich stets unter dem Vorbehalt methodischer Konkretisierung, auf die unauflösbare Interdependenz von Kulturtransferforschung und vergleichender Verfahrensweise. Einerseits zeigt sich der Vergleich damit als ein notwendiges Instrument der Transferforschung, andererseits entwickelt sich die traditionelle Komparatistik derzeit zu einer Disziplin, die kul13 Vgl. Haupt, Heinz-Gerhard: La lente émergence d’une histoire comparée, in: Boutier, Jean/ Julia, Dominique (Hg.): Passés recomposés. Champs et chantiers de l’Histoire, Paris: Ed. Autrement, 1995, S. 196–207; ders. (Hg.): Geschichte und Vergleich: Ansätze und Ergebnisse international vergleichender Geschichtsschreibung, Frankfurt/M., New York: Campus, 1996; ders./Kocka, Jürgen (Hg.): Comparative and Transnational History: Central European Approaches and New Perspectives, New York, Oxford: Berghahn Books, 2009; Benninghaus, Christina [u. a.] (Hg.): Unterwegs in Europa: Beiträge zu einer vergleichenden Sozial- und Kulturgeschichte. Festschrift für Heinz-Gerhard Haupt, Frankfurt/M., New York: CampusVerl., 2008; Kaelble: Die interdisziplinären Debatten sowie Kaeble/Schriewer (Hg.): Vergleich und Transfer.
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turwissenschaftliche und damit auch inter- und transkulturelle Fragestellungen immer stärker ins Zentrum ihres Aufgabenspektrums rückt. Interdisziplinarität und Meta-Reflexion prägen denn auch die einzelnen Beiträge in entscheidender Art und Weise. Die Auseinandersetzung mit Kulturtransfer und Vergleich ist weniger an stofflichen Nachweisen und Deutungen ausgerichtet als an einem vielschichtigen interdisziplinären und interkulturellen Dialog, in dem unter anderem geschichtswissenschaftliche, sprach- und literaturwissenschaftliche, kunsthistorische sowie dezidiert komparatistische und kulturwissenschaftliche Perspektiven vertreten sind und der Theoriebildung und Analyse gleichermaßen einschließt. In diesem Rahmen ergänzen sich historische Bilanzierungen und innovative Vorschläge zur Weiterentwicklung der Forschungsparadigmen. Deutlich wird dabei außerdem die Notwendigkeit, der sprachlichen Dimension auch in Forschungsfeldern, die außerhalb der traditionellen Philologien liegen, einen besonderen Stellenwert einzuräumen. Die Verbindung von philologischen mit kultur- und medienwissenschaftlichen sowie übersetzungswissenschaftlichen Fragestellungen und Methoden, die in mehreren Beiträgen überzeugend demonstriert wird, ist zweifelsohne als eine für zukünftige Forschungen wegweisende Konfiguration anzusehen. Zum anderen wird deutlich, dass der Kulturtransferansatz ebenso wie der komparatistische Ansatz durch die Verknüpfung mit kulturund buchhistorischen Fragestellungen und Methoden besonders fruchtbare Ergebnisse hervorzubringen vermag. Insgesamt erweisen sich vor allem diejenigen Beiträge als in hohem Maße innovativ, deren jeweiliges Theorieverständnis selbst interkulturell geprägt ist. Die kritische Reflexion von ursprünglich in Nachbardisziplinen beheimateten Ansätzen und ihre flexible Weiterentwicklung für die eigene Forschungsarbeit werden außerdem durch den lebendigen Dialog zwischen etablierten Experten-Ansätzen und neuesten, zumeist durch junge Nachwuchswissenschaftler/-innen vertretenen literatur- bzw. kulturtheoretischen Zugängen gefördert. Die vorliegende Publikation geht auf eine gleichnamige Tagung zurück, die vom 9. bis 12. Februar 2012 an der Universität des Saarlandes stattfand und deren internationale Prägung mit Teilnehmern aus dem französischen, belgischen, kanadischen, schweizerischen und deutschen Kulturraum den Austausch zwischen unterschiedlichen Forschungsparadigmen zusätzlich befruchtete. Aufgrund des unterschiedlichen wissenschaftsgeschichtlichen Theoriestandes, bestimmter national geprägter Färbungen der jeweiligen Paradigmen und einzelner in der wissenschaftlichen Tradition eines spezifischen Kulturraums stehender Mittlerfiguren gewannen die Potenziale und Grenzen der verschiedenen Ansätze ein besonders deutliches Profil. Gerade im Dialog konnte so ein Diskussionsraum entstehen, der auf einer meta-theoretischen Ebene selbst zum Vergleich und zum Transfer von Transfer- und Vergleichsmethoden herausforderte. Wir danken der Volkswagen Stiftung für die großzügige Unterstützung der Tagung „Zwischen Transfer und Vergleich“ und der vorliegenden Publikation. Unser besonderer Dank gilt ferner den Mitarbeiterinnen des Frankreichzentrums der Universität des Saarlandes für die hervorragende konzeptionelle und organisatorische Unterstützung.
Einführung: Zwischen Transfer und Vergleich
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LITERATURVERZEICHNIS Bachtin, Michail M.: Die Ästhetik des Wortes, hg. von Rainer Grübel, Frankfurt/M.: Suhrkamp, 1979 (edition suhrkamp 967). Benninghaus, Christina [u. a.] (Hg.): Unterwegs in Europa: Beiträge zu einer vergleichenden Sozial- und Kulturgeschichte. Festschrift für Heinz-Gerhard Haupt, Frankfurt/M., New York: Campus-Verl., 2008. Bronfen, Elisabeth: Cross-Mapping. Kulturwissenschaft als Kartographie von erzählender und visueller Sprache, in: Musner, Lutz/Wunberg, Gotthart (Hg.): Kulturwissenschaften. Forschung – Praxis – Positionen, Wien: WUV, 2002 (Edition Parabasen), S. 110–134. Haupt, Heinz-Gerhard: La lente émergence d’une histoire comparée, in: Boutier, Jean/Julia, Dominique (Hg.): Passés recomposés. Champs et chantiers de l’Histoire, Paris: Ed. Autrement, 1995, S. 196–207. Haupt, Heinz-Gerhard (Hg.): Geschichte und Vergleich: Ansätze und Ergebnisse international vergleichender Geschichtsschreibung, Frankfurt/M., New York: Campus, 1996. Haupt, Heinz-Gerhard/Kocka, Jürgen (Hg.): Comparative and Transnational History: Central European Approaches and New Perspectives, New York, Oxford: Berghahn Books, 2009. Kaelble, Hartmut/Schriewer, Jürgen (Hg.): Vergleich und Transfer. Komparatistik in den Sozial-, Geschichts- und Kulturwissenschaften, Frankfurt/M., New York: Campus, 2003. Kaelble, Hartmut: Die interdisziplinären Debatten über Vergleich und Transfer, in: ders./Schriewer, Jürgen (Hg.): Vergleich und Transfer. Komparatistik in den Sozial-, Geschichts- und Kulturwissenschaften, Frankfurt/M., New York: Campus, 2003, S. 469–493. Kristeva, Julia: Semeiotiké. Recherches pour une sémanalyse, Paris: Seuil, 1969 (Tel Quel). Lüsebrink, Hans-Jürgen: Interkulturelle Kommunikation. Interaktion – Fremdwahrnehmung – Kulturtransfer, Stuttgart, Weimar: Metzler, 2005, 32012. Lutz, Helga/Missfelder, Jan-Friedrich/Renz, Tilo (Hg.): Äpfel und Birnen. Illegitimes Vergleichen in den Kulturwissenschaften, Bielefeld: transcript, 2006 (Kultur- und Medientheorie). Müller-Jacquier, Bernd: Interkulturelle Kommunikation und Fremdsprachendidaktik, Koblenz: Universität Koblenz-Landau, 1999 (Fernstudium Fremdsprachen in Grund- und Hauptschulen). Said, Edward W.: Kultur und Imperialismus, Frankfurt/M.: Fischer, 1994 (Original: Culture and Imperialism, New York: Alfred A. Knopf, 1993). Schmeling, Manfred: ‚Vergleichung schafft Unruhe‘. Zur Erforschung von Fremdheitsdarstellungen in der literaturwissenschaftlichen Komparatistik, in: Lenz, Bernd/Lüsebrink, Hans-Jürgen (Hg.): Fremdheitserfahrung und Fremdheitsdarstellung in okzidentalen Kulturen: Theorieansätze, Medien/Textsorten, Diskursformen, Passau: Rothe, 1999 (Passauer interdisziplinäre Kolloquien 4), S. 19–35. Sass, Hartmut von: Vergleiche(n). Ein hermeneutischer Rund- und Sinkflug, in: ders./Mauz, Andreas (Hg.): Hermeneutik des Vergleichs. Strukturen, Anwendungen und Grenzen komparativer Verfahren, Würzburg: Königshausen & Neumann, 2011 (Interpretation interdisziplinär 8), S. 25–47. Solte-Gresser, Christiane: Spielräume des Alltags. Literarische Gestaltung von Alltäglichkeit in deutscher, französischer und italienischer Erzählprosa (1929–1949), Würzburg: Königshausen & Neumann, 2010 (Saarbrücker Beiträge zur vergleichenden Literatur- und Kulturwissenschaft 50). Terkessidis, Mark: Interkultur, Frankfurt/M.: Suhrkamp, 2010 (edition suhrkamp 2589). Zima, Peter V. : Vergleich als Konstruktion. Genetische und typologische Aspekte des Vergleichs und die soziale Bedingtheit der Theorie, in: ders. (Hg.): Vergleichende Wissenschaften. Interdisziplinarität und Interkulturalität in den Komparatistiken, Tübingen: Narr, 2000, S. 15–28.
I. (WISSENSCHAFTS-)PERSPEKTIVEN Programmatische Positionen und Konzepte
POTENZIALE UND GRENZEN DES VERGLEICHS Versuch einer literatur- und kulturwissenschaftlichen Systematik Christiane Solte-Gresser
1. VORÜBERLEGUNGEN 1.1 Ausgangssituation: Eine Systematik des Vergleichs als Desiderat Seit verglichen wird, wird auch über die theoretischen Voraussetzungen und methodischen Konsequenzen dieser Operation nachgedacht. Allerdings wurden solche Erkenntnisse im Bereich der Literatur- und Kulturwissenschaften lange Zeit nicht so systematisch zusammengeführt, wie dies vielleicht wünschenswert wäre. Dafür ließe sich eine ganze Reihe an Gründen anführen. Es scheint, als sei der Begriff des Vergleichens in den letzten 20 bis 30 Jahren sukzessive abgelöst worden durch andere ‚beziehungswissenschaftliche‘ Begriffe wie Transfer, Hybridisierung, Rhizom, third space, Transkulturalität oder Intertextualität. Womöglich ist die relativ unsystematische Erforschung aber auch zurückzuführen auf die Tatsache, dass das dialektische Denken, das der Vergleich fordert, ein heute weniger verbreitetes Paradigma darstellt, als dies in den 1970er und 1980er Jahren der Fall war. Darüber hinaus aber lässt sich feststellen, dass der Vergleich heute nicht nur zunehmend ersetzt wird durch relationale Begriffe aus dem breiten konzeptionellen Spektrum der Kulturtheorie, sondern gerade in der Komparatistik auch durch abstraktere Konzepte wie mondial, universel oder général.1 Als symptomatisch für diesen Befund innerhalb der littérature comparée als akademischer Disziplin konnte bis in die Mitte der 1990er Jahre die Aussage des Komparatisten Daniel-Henri Pageaux gelten, die mittlerweile schon fast zum Topos geworden ist: „Mais vous, les comparatistes, que comparez-vous? A cette question, faussement naïve et vraiment malicieuse, le comparatiste se doit de répondre: rien“2.
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Vgl. Heidmann, Ute: Comparatisme et analyse de discours. La comparaison différentielle comme méthode, in: Adam, Jean-Michel/dies. (Hg.): Sciences du texte et analyse de discours. Enjeux d’une interdisciplinarité, Lausanne: Univ. de Lausanne, Fac. des Lettres, 2005 (Etudes de lettres 2005, 1/2), S. 99–118. Pageaux, Daniel-Henri: La Littérature générale et comparée, Paris: A. Colin, 1994.
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Der vorliegende Band versucht freilich, komplexere Antworten auf das von Pageaux aufgeworfene Problem zu finden. Doch nach wie vor, darin besteht in der Forschung weitgehend Einigkeit, ist die Kluft zwischen Theorie und Praxis des Vergleichs eklatant und das Bedürfnis nach einer Systematisierung seiner Potenziale und Grenzen entsprechend groß.3 Dieser Beitrag setzt sich zum Ziel, aus dem breiten Feld der bisherigen Überlegungen zum Vergleich einige programmatische Positionen auszuwählen und diese im Hinblick auf die Gemeinsamkeiten und Unterschiede ihrer theoretischen Voraussetzungen und ihrer jeweiligen Erkenntnisinteressen zu kategorisieren. Er geht dabei von der Beobachtung aus, dass gegenwärtige Diskussionen über den Vergleich mitunter wenig fruchtbar verlaufen; sei es, weil sie von grundsätzlichen Vorurteilen und Missverständnissen dieser Denkoperation gegenüber geprägt sind, sei es, weil die Überlegungen in erster Linie dadurch motiviert scheinen, ‚Feinde‘ oder ‚Gewährsmänner‘ für die eigene wissenschaftliche Position und Theoriebildung ins Feld zu führen. Die extremen Haltungen dieses breiten Spektrums an Positionen zum Vergleichen als wissenschaftlicher Tätigkeit ließen sich auf der einen Seite umreißen mit der These, dass das Vergleichen im 21. Jahrhundert eine gänzlich angestaubte, ja geradezu reaktionäre Angelegenheit sei, auf der anderen Seite steht die Behauptung, der Vergleich sei überhaupt das einzige wissenschaftsethisch korrekte Verfahren. Demgegenüber fällt auf, dass offensichtlich gerade in jüngster Zeit verstärkt nach einer produktiven Systematik des Vergleichs gesucht wird, die solche starren und polarisierenden Dichotomien überwindet und das kreative Potenzial vergleichender Geistestätigkeit in den Blick rückt. Eine solche Tendenz lässt sich etwa beobachten in so unterschiedlichen Forschungsbeiträgen wie der hermeneutischen Grundlegung des Vergleichs von Hartmut von Sass, in der methodologischen Auseinandersetzung Rüdiger Görners mit dem Vergleich als „geistige[r] Form“, den Entwürfen einer Geschichte des Vergleichs in der Komparatistik von Carsten Zelle oder in dem spielerischen, aber darum nicht weniger systematischen Umgang mit dem Vergleich als philologischem Vergnügen, den Achim Hölter vor3
Corbineau-Hoffmann stellt fest, der literaturwissenschaftliche Vergleich sei auch um die Jahrtausendwende noch mehr Programm als Realität (vgl. Corbineau-Hoffmann, Angelika: Vom Nutzen und Nachteil des Vergleichens in der Komparatistik, in: dies.: Einführung in die Komparatistik, Berlin: Schmidt, 22004, S. 88–100, hier S. 100) und das Nachdenken über das Vergleichen selbst noch immer eine terra incognita (S. 92). So gäbe es keine Theorie, Methode oder bedeutsame wissenschaftliche Diskussion über das Vergleichen. Auch Ute Heidmann betont das „déficit méthodologique et épistémologique“, indem sie konstatiert: „Nombre de représentants [de la littérature comparée, C. S.] ont prêté étonnamment peu d’importance à cette dimension“ (Heidmann: Comparatisme et analyse de discours, S. 99 und 100). Peter V. Zima behauptete gar vorletztes Jahr noch, die Komparatisten hätten es „bisher versäumt […], ihr Fach theoretisch und methodisch zu fundieren“ (Zima, Peter V.: Komparatistische Perspektiven. Zur Theorie der vergleichenden Literaturwissenschaft, Tübingen: Francke, 2011, S. 2 und 15). Achim Hölter vermutet, dass die zunehmende Konzentration auf Postkolonialismus und Mehrsprachigkeit in unserem Fach ein „subtiles Ausweichen vor dem Problem des Vergleichenmüssens“ darstellen könnte (Hölter, Achim: Über den Grund des Vergnügens am philologischen Vergleich, in: Komparatistik (2010), S. 11–23, hier S. 14).
Potenziale und Grenzen des Vergleichs
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schlägt.4 Von welchen Prämissen wird in der Bewertung der Potenziale und Grenzen des Vergleichs als wissenschaftlicher Tätigkeit jeweils ausgegangen? Von welchen Formen des Vergleichs wird hier genau gesprochen? Welche Konsequenzen ergeben sich daraus? Und schließlich: Weshalb sollten wir überhaupt vergleichen? 1.2 Vorgehen: Ein synchroner Blick auf das (literatur-)wissenschaftliche Vergleichen Um solche Fragen zu beantworten, richte ich den Fokus meiner Überlegungen – entsprechend meiner Kompetenzen und Interessen als vergleichende Literaturwissenschaftlerin – auf Kunstwerke, d. h. auf ästhetische Artefakte und deren Eigenarten, die eben nicht aus sich selbst heraus verstanden, sondern in Relation zu anderen gesetzt werden sollen.5 Vorauszuschicken bleibt dabei, dass mein Blickwinkel ein synchroner ist, der sich ganz bewusst gegen eine chronologische Ordnung richtet, weil so das gesamte Spektrum der Potenziale und Probleme des Vergleichs besonders deutlich hervortreten kann. Gleichwohl ließe sich aus dem herangezogenen Material auch ein wissenschaftsgeschichtlicher Prozess rekonstruieren; ein sicherlich lohnendes Unterfangen, das neue Einsichten in die historische und gesellschaftliche Bedingtheit bestimmter Positionen und Ansätze liefern könnte. Um dieses Feld des literatur- und kulturwissenschaftlichen Vergleichs so konzise wie möglich zu skizzieren, liegt mein Hauptaugenmerk nicht auf methodologischen Fragen und Problemen. Ich frage also weniger danach, welche einzelnen Schritte wir unternehmen, wenn wir vergleichen, und wie sich solche Vergleichsverfahren wiederum systematisieren lassen. Gegenstand meiner Überlegungen sind also nicht die Kategorien und Typen des Vergleichs selbst. Denn dazu haben unter anderen Gérard Genot, Peter V. Zima, Manfred Schmeling und Hartmut von Sass bereits stringente Typologien vorgelegt, die sich in ihrer Konsequenz als gut handhabbar erwiesen haben und die sich zudem gegenseitig in sinnvoller Weise ergänzen.6 Das Erkenntnisinteresse dieses Beitrags betrifft vielmehr das theoretische 4
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Vgl. Sass, Harmut von: Vergleiche(n). Ein hermeneutischer Rund- und Sinkflug, in: ders./ Mauz, Andreas (Hg.): Hermeneutik des Vergleichs. Strukturen, Anwendungen und Grenzen komparativer Verfahren, Würzburg: Königshausen & Neumann, 2011 (Interpretation interdisziplinär 8), S. 25–48; Görner, Rüdiger: Der Vergleich als geistige Form. Versuch einer Methodenreflexion, in: Comparatio 1/2 (2009), S. 277–290; Zelle, Carsten: Komparatistik und ‚comparatio‘ – der Vergleich in der Vergleichenden Literaturwissenschaft, in: Komparatistik (2005), S. 13–33, und Hölter: Über den Grund des Vergnügens. Eine solche Perspektive nimmt auch Ute Heidmann ein, wenn sie fordert, es müsse um einen „retour du comparatisme littéraire aux textes“ gehen; das heißt, um „procédures complexes de mise en langue, en texte, en discours“ (Heidmann: Comparatisme et analyse de discours, S. 101). Ich erinnere nur an die Unterscheidung zwischen monokausalem und kontaktologischem Vergleich, zwischen strukturell-typologischen und kontextbezogenen Analogien (Schmeling, Manfred: Typen und Methoden des Vergleichs, in: ders. (Hg.): Vergleichende Literaturwissenschaft. Theorie und Praxis, Wiesbaden: Athenaion, 1981, S. 11–24), zwischen genetischen und typologischen Vergleichen bzw. zwischen Differenz- und Konkordanzmethoden sowie
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Spektrum dieses Tuns, das sich anhand folgender Fragen kartieren lässt: Wie bewerten wir das Verfahren des Vergleichs, welche Intention verfolgen wir damit, von welchen Grundannahmen gehen wir dabei aus und innerhalb welches Denkhorizontes bewegen wir uns jeweils? 1.3 Der kleinste gemeinsame Nenner des Vergleichs – ein Definitionsversuch Die grundlegenden Dimensionen eines jeden Vergleichs, an denen sich die einzelnen wissenschaftlichen Positionen – Vergleichsprogrammatiker wie Vergleichskritiker gleichermaßen – theoretisch abarbeiten, weisen selbst wiederum ein hohes Maß an Vergleichbarkeit auf. Sie lassen sich in etwas vereinfachender Weise folgendermaßen zusammenfassen und bilden damit einen gemeinsamen reflexiven Ausgangspunkt der verschiedenen Denkansätze: Der Vergleich ist eine diskursive Konstruktion,7 die durch Gleichstellung oder Angleichung hervorgebracht wird.8 Es handelt sich um eine Konstruktion, welche ein kritisches, auf Differenz hin ausgerichtetes Erkenntnispotenzial birgt9 und stets die Frage nach dem eigenen Standpunkt aufwirft und damit nach den hierarchischen Strukturen, die dem Ver-
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zwischen affirmativen und kontrastiven Funktionen (Zima, Peter V.: Komparatistik. Einführung in die vergleichende Literaturwissenschaft, Tübingen: Francke, 1992 und 22011, und Zima: Komparatistische Perspektiven, S. 1–47, bes. S. 13 und 19), zwischen univers extérieur, univers sémantique, thématique, syntaxe und plan d’expression (Genot, Gérard: Niveaux de la comparaison, in: Köpeczi, Béla/Vajda, György (Hg.): Littératures de diverses cultures au vingtième siècle, Stuttgart: Kunst und Wissen, 1980, S. 743–750) oder auch an von Sass’ theoretisch höchst aktuelle Differenzierung hinsichtlich der Temporalität (diachron – synchron), der Kausalität (genetisch – typologisch), der Normativität (präferenzlos – asymmetrisch), der Vollständigkeit (geschlossen – offen) und der Stabilität (stabil – emergent) (vgl. Sass: Vergleiche(n), v. a. S. 39). Auch Rüdiger Görner stellt 2009 fest, dass derartige Methodenmodelle gegenwärtig nur wenig konkurrieren (vgl. Görner: Der Vergleich als geistige Form, S. 283). Das Vergleichen gilt in der Antike bekanntlich als ein rhetorisches Verfahren (Aristoteles’ „Topik“, in: ders.: Rhetorik, hg. v. Gernot Krapinger, Stuttgart: Reclam, 2010, Buch III, 1406b) und weist damit auf die sprachliche Verfasstheit des Vergleichens hin sowie auf das Prinzip der Konstruktion, also der Künstlichkeit oder der Technik (im Gegensatz zu Vorstellungen wie Natürlichkeit oder Wesenhaftigkeit). Vgl. hierzu auch Zima: Komparatistische Perspektiven, S. 1–48, der neben Ideologiekritik und Interkulturalität den Zeichencharakter sowie das Moment der Konstruktion als Grundprinzipien des Vergleichs ausmacht. Im Grimmschen Wörterbuch, das in diesem Zusammenhang oft zur etymologischen Klärung herangezogen wird, wird der Vergleich definiert als Zustand des Gleichseins, der durch Ausgleichung hervorgebracht wird. Vergleichung ist hier eine „Nebeneinanderstellung zweier ähnlicher Dinge behufs Gleichstellung oder behufs kritischer Hervorhebung der Ähnlichkeiten und Unähnlichkeiten“ (Grimm, Jacob/Grimm, Wilhelm: Vergleichung, in: dies.: Deutsches Wörterbuch von Jacob und Wilhelm Grimm, Bd. 25, München: Deutscher Taschenbuch Verlag, 1984, S. 458–460, hier S. 459). In Kants Kritik der Urteilskraft gilt das Vergleichen bekanntlich als grundlegendes Erkenntnismodell (vgl. dort v. a. das Kap. V: Von der reflektierenden Urteilskraft).
Potenziale und Grenzen des Vergleichs
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gleichen innewohnen.10 Das bedeutet, dass der Vergleich eine paradoxe Struktur besitzt; er bewegt sich stets zwischen den Polen Ähnlichkeit und Differenz,11 innerhalb eines Spektrums, an dessen Extrempunkten, wie Zima es formuliert, Identität und Inkommensurabilität stehen.12 Der Vergleich als wissenschaftliches Verfahren kann nun in ganz unterschiedlicher Weise mit diesem Paradox umgehen. Er kann erstens die Differenz betonen und damit das Grenzüberschreitende positiv in den Vordergrund rücken. Er kann zweitens auf der Ähnlichkeit bestehen und damit die Wahrnehmung und Erfahrung von Alterität kritisierend in Frage stellen. Er kann drittens versuchen, das Paradox dialektisch aufzulösen und in eine Synthese zu überführen, und er kann viertens das Paradox als eine provozierende Herausforderung begreifen und versuchen, dieses zu subvertieren oder gar zu potenzieren. 2. KONZEPTIONEN DES VERGLEICHS 2.1 Vergleichen als Grenzüberschreitung: Relativieren, Differenzieren, Horizonte erweitern Bei Ansätzen dieser ersten Kategorie stehen die Differenzaspekte des Vergleichs im Vordergrund: Weil die Eigenarten und Besonderheiten eines Forschungsgegenstandes überhaupt nur erkannt werden können, wenn er mit anderen in Beziehung gesetzt wird, lässt sich der Vergleich als eine unhintergehbare Grundlage jeden wissenschaftlichen Arbeitens bezeichnen.13 Er stellt damit eine Denkbewegung gegen den Monismus, Atomismus und Positivismus bestimmter einzelphilologischer Perspektiven oder dezidiert werkimmanenter Ansätze dar. Insofern er dem ideologiekritischen Aufbrechen monolithischer Strukturen14 dient, kann er als „acte critique“15 schlechthin verstanden werden. 10 Clements betont darüber hinaus, Vergleichen sei (beispielsweise im Frankreich des siècle classique) vor allem im Zusammenhang mit Rivalität und Wettbewerb zu verstehen. Er verweist dabei besonders auf die deutschen Konnotationen wie „gleich machen“, „auf eine Stufe heben: likening“, Clements, Robert John: Comparative Literature as Academic Discipline. A Statement of Principles, Praxis, Standards, New York: MLA, 1978, S. 10). Damit wird dem Begriff vor allem eine Komponente der Macht eingeschrieben. 11 Vgl. Sass: Vergleiche(n), S. 26. 12 Dies wären also die Grenzen, an denen der Vergleich obsolet wird. Vgl. Zima, Peter V.: Vergleich als Konstruktion, in: ders. (Hg.): Vergleichende Wissenschaften. Interdisziplinarität und Interkulturalität in den Komparatistiken, Tübingen: Narr, 2000, S. 15–29, hier S. 16 f., und Zima: Komparatistische Perspektiven, S. 19. 13 Vgl. Zirmunskij, Viktor: Die literarischen Strömungen als internationale Erscheinungen, in: Rüdiger, Horst (Hg.): Komparatistik. Aufgaben und Methoden, Stuttgart: Kohlhammer, 1973, S. 104–126, hier S. 104 f., zit. nach Lamping, Dieter: Vergleichende Textanalysen, in: Anz, Thomas (Hg.): Handbuch Literaturwissenschaft. Gegenstände – Konzepte – Institutionen, Bd. 2: Methoden und Theorien, Stuttgart, Weimar: Metzler, 2007, S. 216–224, hier S. 218. 14 Vgl. Schmeling, Manfred: ‚Vergleichung schafft Unruhe‘. Zur Erforschung von Fremdheitsdarstellungen in der literaturwissenschaftlichen Komparatistik, in: Lenz, Bernd/Lüsebrink,
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Ein weiteres Potenzial des Vergleichs tritt in der These zum Vorschein, er nehme stets einen supranationalen Standpunkt ein: Nicht binationale oder bilaterale – und damit statische –, sondern vielmehr grenzüberschreitende, dynamische Zusammenhänge sollen durch das Vergleichen erkannt werden.16 In dieser Hinsicht wird der Vergleich als „produktive Alterität“ im Kontext fremdhermeneutischer Prozesse aufgefasst. Das heißt, er verfolgt eine Bewegung des Distanzierens, durch die eine genuine Fremdheit des Textes sichtbar wird.17 Im grundsätzlichen Anerkennen einer solchen ‚Andersheit‘ bzw. Eigenständigkeit der Vergleichsglieder sieht Carsten Zelle denn auch die bedeutendste Dimension der Komparatistik.18 Mit diesem produktiven Potenzial eines auf Veränderung abzielenden Grenzüberschreitens kann der Vergleich nicht nur als wissenschaftlich relevant, sondern auch ganz grundsätzlich als Motor literarischer oder künstlerischer Produktion gelten. So betont etwa Peter Brockmeyer, ohne vergleichende und sich auf diese Weise abgrenzende Kenntnis des Alten könne nichts Neues, ohne Kenntnis des Anderen nichts Eigenes hervorgebracht werden: Der Vergleich generiere also jegliche literatur- und kulturgeschichtliche Entwicklung.19 In seinen Überlegungen zum „Vergleich als geistige Form“ betont Rüdiger Görner gerade diesen Aspekt in besonderem Maße: „Die Werke, die wir vergleichen, sind selbst immer auch aus bestimmten Vergleichen entstanden.“20 2.2 Vergleichen als Negation von Alterität: Angleichen, Einebnen, Zentrieren, Generalisieren Der grundsätzliche Kritikpunkt eines auf Gleichheit fokussierten wissenschaftlichen, z. B. werkimmanent verfahrenden Ansatzes besteht in dem Vorwurf, der intertextuelle Vergleich könne den Einzeltext in seiner Besonderheit nicht genügend würdigen. Analogien herzustellen heißt aus dieser Perspektive beispiels-
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Hans-Jürgen (Hg.): Fremdheitserfahrung und Fremdheitsdarstellung in okzidentalen Literaturen: Theorieansätze, Medien/Textsorten, Diskursformen, Passau: Rothe, 1999 (Passauer interdisziplinäre Kolloquien 4), S. 19–36, hier S. 21. Vgl. Marino, Adrian: Comparatisme et théorie de la littérature, Paris: PUF, 1988, S. 18–19, und Ribeiro, Manuel: Le discours critique littéraire. Un enjeu nécessaire du comparatisme, in: Tötösy de Zepetnek, Steven (Hg.): Comparative Literature Now: Theories and Practice/La littérature comparée à l’heure actuelle: Théories et réalisations, Paris: Champion, S. 173– 181, hier S. 175. Vgl. Dyserinck, Hugo: Komparatistik. Eine Einführung, Bonn: Bouvier, 31991, zit. nach Corbineau-Hoffmann: Einführung in die Komparatistik, S. 90. Vgl. Corbineau-Hoffmann: Einführung in die Komparatistik, S. 19, und Schmeling: Vergleichung schafft Unruhe, S. 20–21. Vgl. Zelle: Komparatistik und ‚comparatio‘,S. 29. Vgl. Brockmeyer, Peter: Der Vergleich in der Literaturwissenschaft, in: Kaelble, Hartmut/ Schriewer, Jürgen (Hg.): Vergleich und Transfer. Komparatistik in den Sozial-, Geschichtsund Kulturwissenschaften, Frankfurt/M., New York: Campus, 2003, S. 351–366, hier S. 353. Görner: Der Vergleich als geistige Form, S. 285.
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weise, unhistorisch zu verfahren,21 Differenzen zunichte zu machen22 und also dem Absolutheitsanspruch der Kunst nicht gerecht zu werden.23 Als ein zusätzliches Problem wird die Tatsache angesehen, dass Vergleiche keine Gesamtinterpretation liefern können, sondern selektierend, ja geradezu zerstückelnd wirken, weil die Auswahl eines Vergleichskriteriums noch nichts darüber aussagt, ob der zu vergleichende Aspekt für das Werk überhaupt wesentlich ist oder nicht.24 Die radikalste Kritik, die zugleich zu den dezidiertesten theoretischen und methodischen Neuansätzen im Bereich der Literatur- und Kulturwissenschaft geführt hat, ist die praktische Unmöglichkeit, einen nicht-hierarischen Vergleich durchzuführen. Mit von Sass gesprochen, geht es um die Frage, ob sich ein gänzlich präferenzloser, also symmetrischer Vergleich überhaupt realisieren lässt,25 ob also ein gleichwertiges Inbeziehungsetzen der Vergleichsglieder jemals möglich ist. Das Problem liegt grundsätzlich darin, dass der Vergleich immer von einem bestimmten Standpunkt ausgeht, das Vergleichen als Operation also stets ein hierarchischer, nämlich ein einseitiger Verstehensprozess ist, in dem das Fremde seine Genuität zu verlieren scheint. Neben der Möglichkeit, sich theoretisch entweder kritisch auf der Seite der Ähnlichkeit oder produktiv auf der Seite der Differenz zu verorten, lassen sich noch zwei weitere Formen ausmachen, mit dem Paradox des Vergleichs umzugehen: die Synthese und die Dekonstruktion.
21 Daher könne der Vergleich methodisch nur ein untergeordnetes Hilfsmittel darstellen (vgl. Gadamer, Hans-Georg: Wahrheit und Methode. Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik, Tübingen: Mohr, 41975, S. 175), vgl. dazu auch Birus, Hendrik: Das Vergleichen als Grundoperation der Hermeneutik, in: Berg, Henk de/Prangel, Matthias (Hg.): Interpretation 2000: Positionen und Kontroversen. Festschrift für Horst Steinmetz zum 65. Geburtstag, Heidelberg: C. Winter, 1999, S. 95–117. 22 Vergleichen tötet beispielsweise laut Benedetto Croce die Individualität des Textes ab; überhaupt sei er für eine spezifische Methode zu vage (Croce, Benedetto: La ,letteratura comparata‘, in: La Critica. Rivista di letteratura, storia e Filosofia I (1903), S. 77–80, zit. nach Weisstein, Ulrich: Einführung in die Vergleichende Literaturwissenschaft, Stuttgart: Kohlhammer, 1968, S. 74–76). 23 Peter Szondi vertritt die bekannte These, das Kunstwerk „verlang[e], dass es nicht verglichen werde“ (Szondi, Peter: Über philologische Erkenntnis, in: ders.: Hölderlin-Studien. Mit einem Traktat über philologische Erkenntnis, Frankfurt/M.: Insel, 1967, S. 21). Zur Problematik der ‚Vergleichsverweigerung‘ bei Gadamer und Szondi s. auch Görner: Der Vergleich als geistige Form, S. 289 und 290. 24 Vgl. Corbineau-Hoffmann: Einführung in die Komparatistik, S. 99. 25 Vgl. Sass: Vergleiche(n), S. 36 f.
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2.3 Vergleichen als dialektischer oder differenzieller Prozess: Analogien herstellen und Differenzen erkennen Wenn der Vergleich gerade aus einer Verbindung von Allgemeinem und Besonderem besteht26 und demnach ein genuin dialektischer Prozess ist, dann haben wir es mit einem Verfahren zu tun, das eine Synthese zwischen Analogie und Differenz bildet. Die Vergleichende Literaturwissenschaft lebt, so Corbineau-Hoffmann, nachdem die Vergleichsgrundlage erst einmal geschaffen ist, gerade von Verschiebungen und Divergenzen.27 Im „Spannungsfeld zwischen den Polen Identität und Inkommensurabilität“ angesiedelt, bezeichnet Zima das Vergleichen in diesem Zusammenhang als einen dialogischen Prozess.28 Es geht in dieser dritten Kategorie also darum, im Vergleich Konstruktionen zu bilden, die es ermöglichen, das Differente im Hinblick auf das Gemeinsame zu erkennen und eine nicht-hierarchische Beziehung zwischen den Gegenständen herzustellen. Ziel ist demnach die Entwicklung nicht statischer, sondern dynamischer Vergleichskategorien, wie dies beispielsweise im Ansatz der comparaison différentielle geschieht, den Ute Heidmann und Jean-Michel Adam vorschlagen.29 Wichtig scheint es gerade im Rahmen einer literaturwissenschaftlichen Komparatistik, beim Nachdenken über diese Kategorie des Vergleichs noch einmal auf das grundsätzliche Potenzial der Kunst und Literatur hinzuweisen. Eine wesentliche Eigenschaft des Ästhetischen besteht eben darin, dass ein Werk als (beispielsweise fiktionale und damit spielerische) Verdopplung des analytischen, vergleichenden Vorgangs gelten kann – eine bedeutsame Dimension des Literarischen liegt ja beispielsweise gerade in der fortwährenden Auseinandersetzung mit dem Anderen, Fremden, die als Wahrnehmung oder Erfahrung poetisch, narrativ oder dramatisch in Szene gesetzt wird. Daher setzt das Verstehen dieses Werkes einen dialogischen Gesamtbegriff von Literatur voraus.30 Das vergleichende Interpretieren des Kunstwerks bildet also eine solche grundlegende Alteritätserfahrung ab: Das Werk verhält sich aufgrund seiner ästhetischen Dimension, zu der unter anderem auch seine Vieldeutigkeit und Ambivalenz gehören,31 sperrig zur Interpre-
26 Vgl. Dilthey, Wilhelm: Beiträge zum Studium der Individualität, in: ders.: Die geistige Welt. Erste Hälfte: Abhandlungen zur Grundlegung der Geisteswissenschaften, Stuttgart, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 21957, S. 241–316, hier S. 303, zit. nach Lamping: Vergleichende Textanalysen, u. a. S. 221. 27 Vgl. Corbineau-Hoffmann: Einführung in die Komparatistik, S. 88–100. 28 Zima: Komparatistische Perspektiven, S. 25. 29 Vgl. Heidmann: Comparatisme et analyse de discours, S. 99–118, bes. S. 104 und S. 115, 116. 30 Vgl. Schmeling: Vergleichung schafft Unruhe, S. 25–28. 31 Vgl. hierzu die Eigenschaften literarischen Schreibens zwischen philosophischer Erkenntnisproduktion und subjektiver Inszenierung von Lebenswissen in Solte-Gresser, Christiane/ Brink, Margot: Grenzen und Entgrenzungen. Zum Verhältnis von Literatur und Philosophie, in: dies. (Hg.): Ecritures. Denk- und Schreibweisen jenseits der Grenzen von Literatur und Philosophie, Tübingen: Stauffenburg, 2004, S. 9–29.
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tation, eben weil es sich aufgrund dieser Eigenschaften einem vereindeutigenden wissenschaftlichen Zugriff entzieht.32 Ein solches Sich-Einlassen auf die Gesetzmäßigkeiten und Eigenarten der Literatur, mit dem bedeutende methodische Konsequenzen verbunden sind,33 bildet zugleich den Ausgangspunkt für die vierte und letzte Vergleichskategorie. 2.4 Vergleichen als ‚illegitimes‘ Verfahren: Subvertieren, Verschieben, Neuordnen, Potenzieren Die grundsätzliche Dialogizität34 oder Intertextualität eines jeden Kunstwerks35 fordert viele Wissenschaftler zu radikaleren Verfahren des Inbeziehungsetzens heraus, als der traditionelle, bilaterale Vergleich dies vermag. Einer poststrukturalistisch oder dekonstruktivistisch orientierten Denkrichtung geht es daher um eine Erweiterung solch statischer Strukturen, nämlich um das Konstruieren von dynamischen, multilateralen Relationen, die unabhängig von Chronologie, Einfluss, kausalen und genetischen Bezügen bestehen. Pageaux skizziert dieses Vorgehen, das er in erster Linie als ein Lektüreverfahren versteht, folgendermaßen: Latérales, transversales, pendulaires, ce sont ces lectures qui donnent validité et dynamisme à la comparaison, à la série de comparaisons qui va se développer, d’un texte à l’autre, d’un ensemble ou d’une série à d’autres, et qui fournit la base de la synthèse, des axes, des lignes directrices qui non seulement permettent de passer d’un texte à un autre, mais de les lire comme un nouvel ensemble.36
Die foucaultsche Diskursanalyse stellt beispielsweise eine bekannte Technik solcher Formen des Relationierens dar; eine Denk- und Verfahrensweise, die fundamentale Codes von Wissensordnungen irritiert, „… faisant vaciller et inquiétant pour longtemps notre pratique millénaire du Même et de l’Autre“37.
32 Vgl. Corbineau-Hoffmann: Einführung in die Komparatistik, S. 64. 33 Vgl. die Aussage des Dichters William Mitchell: „Poetry teaches us to compare apples and oranges“, die gewissermaßen zum Motto eines ganz eigenen Zweigs der Vergleichstheorie wird, nämlich dem ,illegitimen Vergleichen‘, von dem im nächsten Abschnitt noch die Rede sein wird (Mitchell, William: Placing Words. Symbols, Space, and the City, Cambridge: MIT Press, 2005, S. 48, zit. nach Lutz, Helga/Missfelder, Jan F./Renz, Tilo: Einleitung: Illegitimes Vergleichen in den Kulturwissenschaften, in: dies. (Hg.): Äpfel und Birnen. Illegitimes Vergleichen in den Kulturwissenschaften, Bielefeld: transcript, 2006, S. 7–20, hier S. 9). 34 Vgl. hierzu grundlegend Bachtin, Michail M.: Die Ästhetik des Wortes, hg. von Rainer Grübel, Frankfurt/M.: Suhrkamp, 1979. 35 „Tout texte se construit comme mosaïque de citations“, vgl. Kristeva, Julia: Semeiotiké. Recherches pour une sémanalyse, Paris: Seuil, 1969, S. 85. 36 Pageaux, Daniel-Henri: La Lyre d’Amphion. De Thèbes à La Havane pour une poétique sans frontières, Paris: Presses de la Sorbonne Nouvelle, 2001, S. 299. 37 Foucault, Michel: Les Mots et les choses. Une archéologie des sciences humaines, Paris: Gallimard, 1966, S. 7.
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Lesen – gerade auch literaturwissenschaftliches Lesen – kann als ein kreativer Prozess des Inbeziehungsetzens jenseits binärer Logiken verstanden werden.38 Was mit einer solchen Weise des Lesens intendiert wird, ist das Herausarbeiten von Analogien und Ähnlichkeitsdynamiken, die im Prozess der aktiven Lektüre durch Vergleichsketten erst sukzessive entstehen.39 Es handelt sich hier um Vergleichsketten, welche zum Beispiel anhand von kulturellen bzw. philosophischen Gesten hergestellt werden. Auch die hybridisierenden Textlektüren eines Homi Bhabha, die Verunsicherungen und Uneindeutigkeiten zum Ausgangspunkt nehmen, zwischen den Zeilen lesend Unschärfen betonen, über Assoziationen und Analogien entstandene Neukombinationen vorschlagen und dabei wissenschaftliche und literarische Sprache bewusst einander annähern oder miteinander verschränken, lassen sich innerhalb dieser Kategorie verorten.40 Lutz, Missfelder und Renz nennen ein solches Verfahren provokant „illegitimes Vergleichen“.41 Indem historische Texte als Dialogpartner unterschiedlichster Gegenstände jenseits chronologischer Ordnungen betrachtet werden, soll, wie Elisabeth Bronfen es formuliert, die „lebendige Kraft der Interpretation selbst in den Vordergrund rücken“42. Die lineare Logik von Textbeziehungen wird durchkreuzt zugunsten eines beweglichen, schillernden Mosaiks. Die Herstellung eines solchen Mosaiks liegt beispielsweise dem Versuch zugrunde, in einem Vergleich, der Jahrhunderte, kulturelle Räume und einzelne Textsorten überschreitet, verschiedene literarische Motive wie Äpfel und Orangen, Töpfe und Teller, Hüte und Mäntel hinsichtlich der Wahrnehmung und Erfahrung von Alltäglichkeit zueinander in Beziehung zu setzen.43 Damit entsteht ein komplexes, zunächst einmal assoziativ über bestimmte Denkfiguren organisiertes Netz an intertextuellen Beziehungen, in dem schließlich nicht mehr zu identifizieren ist, welcher Text welchem als Bezugstext dient. Damit kann ein Text als Antwort auf eine Frage erscheinen, die ein historisch und kulturell relativ weit davon entfernt liegendes Werk aufgeworfen hatte. Ungewohnte Neuordnungen und zunächst vielleicht irritierende Zusammenstellungen lassen so an Texten Momente hervortreten, die ansonsten nicht hätten sichtbar werden können. Elisabeth Bronfen konzeptualisiert ein solches Lektüreverfahren als cross-mapping: 38 Zu dieser Konzeption vgl. das in diesem Zusammenhang vielleicht folgenreichste theoretische Konzept von Roland Barthes (Barthes, Roland: Le Plaisir du texte, Paris: Seuil, 1973). 39 Vgl. Bronfen, Elisabeth: Cross-Mapping. Kulturwissenschaft als Kartographie von erzählender und visueller Sprache, in: Musner, Lutz/Wunberg, Gotthart (Hg.): Kulturwissenschaften. Forschung – Praxis – Positionen, Wien: WUV, 2002, S. 110–134, und Bronfen, Elisabeth: Shakespeare in Hollywood: Cross-mapping als Leseverfahren, in: Lutz/Missfelder/Renz (Hg.): Äpfel und Birnen, S. 23–39. 40 Vgl. hierzu den Beitrag von Karen Struve in diesem Band. 41 Vgl. die Einleitung Lutz/Missfelder/Renz: Illegitimes Vergleichen in den Kulturwissenschaften, in: dies. (Hg.): Äpfel und Birnen, S. 9. 42 Vgl. Bronfen: Cross-Mapping, S. 111. 43 Solte-Gresser, Christiane: Spielräume des Alltags. Literarische Gestaltung von Alltäglichkeit in deutscher, französischer und italienischer Erzählprosa (1929–1949), Würzburg: Königshausen & Neumann, 2010; zum methodischen Ansatz vgl. S. 68–72, zur Durchführung der Textanalysen vgl. S. 205–231, S. 277–296 und S. 340–267.
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Sie definiert es als „Aufeinanderlegen und Kartographieren von Denkfiguren“, und zwar mittels einer Verbindung zwischen den Gegenständen, die latent und implizit ist.44 In eine ähnliche Richtung geht auch das Potenzial vergleichender Tätigkeit, das Hartmut von Sass unlängst in seiner überzeugenden Hermeneutik des Vergleichs als eine von mehreren möglichen Funktionen vorgeschlagen hat: das „irritierend-korrigierende Ausprobieren“, durch welches eine produktive Vagheit entsteht und der Vergleich systematisch instabil gehalten wird.45 Damit entwirft von Sass die Kategorie des offenen Vergleichs, die eine freie Variation der Vergleichselemente verfolgt; und zwar durch eine befremdliche, zuweilen womöglich absurde, sich jedenfalls nicht unmittelbar aufdrängende Zusammenstellung der Glieder. Vergleichen hieße aus dieser Perspektive, eine spielerische, probierende Suchbewegung zu unternehmen; eine Suchbewegung, die nicht zuletzt jener Dynamik, Kreativität und Produktivität gerecht zu werden versucht, die ästhetischen Artefakten selbst innewohnt.46 Gerade ein solches spielerisch-kreatives Potenzial des Vergleichens bildet auch das Zentrum der höchst anregenden Überlegungen von Achim Hölter, in denen „20 heuristische… Motive“ aufgeführt werden, literaturwissenschaftliche Komparatistik aus Vergnügen zu betreiben.47 Selbstverständlich handelt es sich bei dieser Zusammenstellung lediglich um einen schematisch-reduzierenden Überblick, der nicht mehr – aber auch nicht weniger – leistet, als bereits bestehende, divergente Positionen zu typologisieren. Die Aufgabe einer dezidiert selbstreflexiven Komparatistik sollte es sein, die einzelnen kartierten Felder durch konkrete Forschungsfragen und bestimmte Untersuchungsgegenstände auf ihre Fruchtbarkeit hin zu überprüfen, die Theorieansätze in eine spezifische, explizit reflektierte Vergleichsmethode zu überführen und schließlich auf dieser Grundlage die Theoriebildung der Komparatistik selbst weiterzuentwickeln. Denn freilich lassen sich die skizzierten antagonistischen Positionen nicht abschließend im Sinne einer Synthese miteinander verrechnen. Ihr jeweiliges Potenzial ergibt sich erst im kritischen Vergleich miteinander bzw. dem konstruktiven und vor allem neugierigen, für fremde und ungewohnte Positionen offenen Befragen, Experimentieren und Weiterentwickeln untereinander. Dass ein solcher Vergleich verschiedener Ansätze des Vergleichens letztlich kein individuelles Unterfangen sein kann, sondern nationale, historische, kulturelle und vor allem disziplinäre Grenzen zu überschreiten hat, um seine Produktivität ganz entfalten zu können, versteht sich dabei von selbst; denn „… comparer veut … dire faire dialoguer“48.
44 Bronfen: Cross-Mapping, S. 111, und Bronfen: Shakespeare in Hollywood, S. 26. 45 Sass: Vergleiche(n), S. 43 und 31. 46 In diesem Zusammenhang wäre auch der emergente Vergleich zu nennen, in dem das tertium comparationis zu „schillern“ beginnt, vgl. ebd. Sowohl von Sass als auch Bronfen sehen in den Arbeiten Stanley Cavells ein solches Verfahren am Werk (Sass: Vergleiche(n), S. 43, und Bronfen: Shakespeare in Hollywood, S. 33 u. a.). 47 Hölter: Über den Grund des Vergnügens am philologischen Vergleich, S. 18–21 und 22. 48 Heidmann: Comparatisme et analyse de discours, S. 116.
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Christiane Solte-Gresser
LITERATURVERZEICHNIS Aristoteles: Rhetorik, hg. v. Gernot Krapinger, Stuttgart: Reclam, 2010. Bachtin, Michail M.: Die Ästhetik des Wortes, hg. von Rainer Grübel, Frankfurt/M.: Suhrkamp, 1979. Barthes, Roland: Le Plaisir du texte, Paris: Seuil, 1973. Birus, Hendrik: Das Vergleichen als Grundoperation der Hermeneutik, in: Berg, Henk de/Prangel, Matthias (Hg.): Interpretation 2000: Positionen und Kontroversen. Festschrift für Horst Steinmetz zum 65. Geburtstag, Heidelberg: C. Winter, 1999, S. 95–117. Brockmeyer, Peter: Der Vergleich in der Literaturwissenschaft, in: Kaelble, Hartmut/Schriewer, Jürgen (Hg.): Vergleich und Transfer. Komparatistik in den Sozial-, Geschichts- und Kulturwissenschaften, Frankfurt/M., New York: Campus, 2003, S. 351–366. Bronfen, Elisabeth: Cross-Mapping. Kulturwissenschaft als Kartographie von erzählender und visueller Sprache, in: Musner, Lutz/Wunberg, Gotthart (Hg.): Kulturwissenschaften. Forschung – Praxis – Positionen, Wien: WUV, 2002, S. 110–134. Bronfen, Elisabeth: Shakespeare in Hollywood: Cross-mapping als Leseverfahren, in: Lutz, Helga/ Missfelder, Jan F./Renz, Tilo (Hg.): Äpfel und Birnen. Illegitimes Vergleichen in den Kulturwissenschaften, Bielefeld: transcript, 2006, S. 23–39. Clements, Robert John: Comparative Literature as Academic Discipline. A Statement of Principles, Praxis, Standards, New York: MLA, 1978. Corbineau-Hoffmann, Angelika: Vom Nutzen und Nachteil des Vergleichens in der Komparatistik, in: dies.: Einführung in die Komparatistik, Berlin: Schmidt, 22004, S. 88–100. Croce, Benedetto: La ,letteratura comparata‘, in: La Critica. Rivista di letteratura, storia e Filosofia I (1903), S. 77–80. Dilthey, Wilhelm: Beiträge zum Studium der Individualität, in: ders.: Die geistige Welt. Erste Hälfte: Abhandlungen zur Grundlegung der Geisteswissenschaften, Stuttgart/Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 21957, S. 241–316. Dyserinck, Hugo: Komparatistik. Eine Einführung, Bonn: Bouvier, 31991. Foucault, Michel: Les Mots et les choses. Une archéologie des sciences humaines, Paris: Gallimard, 1966. Gadamer, Hans-Georg: Wahrheit und Methode. Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik, Tübingen: Mohr, 41975. Genot, Gérard: Niveaux de la comparaison, in: Köpeczi, Béla/Vajda, György (Hg.): Littératures de diverses cultures au vingtième siècle, Stuttgart: Kunst und Wissen, 1980, S. 743–750. Görner, Rüdiger: Der Vergleich als geistige Form. Versuch einer Methodenreflexion, in: Comparatio 1/2 (2009), S. 277–290. Grimm, Jacob/Grimm, Wilhelm: Deutsches Wörterbuch von Jacob und Wilhelm Grimm, Bd. 25, München: Deutscher Taschenbuch Verlag, 1984, S. 458–460. Heidmann, Ute: Comparatisme et analyse de discours. La comparaison différentielle comme méthode, in: dies./Adam, Jean-Michel (Hg.): Sciences du texte et analyse du discours. Enjeux d’une interdisciplinarité, Lausanne: Etudes de Lettres, 2005, S. 99–118. Hölter, Achim: Über den Grund des Vergnügens am philologischen Vergleich, in: Komparatistik (2010), S. 11–23. Kristeva, Julia: Semeiotiké. Recherches pour une sémanalyse, Paris: Seuil, 1969. Lamping, Dieter: Vergleichende Textanalysen, in: Anz, Thomas (Hg.): Handbuch Literaturwissenschaft. Gegenstände – Konzepte – Institutionen, Bd. 2: Methoden und Theorien, Stuttgart, Weimar: Metzler, 2007, S. 216–224. Lutz, Helga/Missfelder, Jan F./Renz, Tilo: Einleitung: Illegitimes Vergleichen in den Kulturwissenschaften, in: dies. (Hg.): Äpfel und Birnen. Illegitimes Vergleichen in den Kulturwissenschaften, Bielefeld: transcript, 2006, S. 7–20. Marino, Adrian: Comparatisme et théorie de la littérature, Paris: PUF, 1988. Mitchell, William: Placing Words. Symbols, Space, and the City, Cambridge: MIT Press, 2005.
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DER KULTURTRANSFERANSATZ Hans-Jürgen Lüsebrink Der Kulturtransferansatz stellt keine Theorie des Kulturkontakts und aller mit ihm verknüpften Phänomene dar. Er verfolgt nicht die Zielsetzung, an die Stelle bestehender theoretischer Ansätze insbesondere der Sprachkontaktforschung, der Übersetzungswissenschaft oder der literaturwissenschaftlichen Rezeptions- und Einflussforschung zu treten. Der Kulturtransferansatz repräsentiert, wie der Bielefelder Sozialhistoriker Heinz-Gerhard Haupt dies einmal in einer Seminardiskussion genannt hat, eine ‚Theorie mittlerer Reichweite‘1, die innerhalb eines breiteren Problemfelds – der Kulturbeziehungen, des Kulturaustauschs und des Kulturkontakts – theoretische Ansätze und methodische Verfahren zur Analyse der Übertragungsformen und -modalitäten kultureller Artefakte zwischen unterschiedlichen Sprach- und Kulturräumen entwickelt hat. Obwohl er großenteils andere Fragestellungen und Problemfelder anvisiert, ist der seit Ende der 1980er Jahre zunächst in Frankreich federführend von Michel Espagne und Michael Werner entwickelte Kulturtransferansatz2 kompatibel – bzw. bei bestimmten Fragestellungen auch eng verzahnt – mit der literaturwissenschaftlichen Rezeptionsforschung sowie der kulturwissenschaftlich ausgerichteten Hybriditätsforschung, die u. a. ausgehend von den Arbeiten von Homi Bhabha und Doris Bachmann-Medick3 in den letzten Jahren international breit diskutiert worden ist (wobei hier allerdings gelegentlich gegenüber den programmatischen Zielsetzungen die empirischphilologische Text- und Rezeptionsanalyse, ob in Medien oder literarischen Texten, eher vernachlässigt wurde). Der Kulturtransferansatz, der seit Mitte der 1980er Jahre im Anschluss vor allem an die literaturwissenschaftliche Rezeptionsforschung sowie die Sozial- und 1
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H.-G. Haupt benutzt den Begriff mit Blick auf den Kulturtransferansatz in Anlehnung an den US-amerikanischen Soziologen Robert K. Merton, der ihn für Theorien verwendet, die einen begrenzten Bereich sozialen Handelns betreffen. Vgl. Merton, Robert K.: Social Theory and Social Structure, New York: Free Press, 1968. Vgl. vor allem: Espagne, Michel: Les Transferts culturels franco-allemands, Paris: PUF, 1999 (Perspectives germaniques); Espagne, Michel/Werner, Michael (Hg.): Transferts. Les relations interculturelles dans l’espace franco-allemand (XVIIe et XIXe siècles), Paris: Editions Recherche sur les civilisations, 1988. Vgl. Bachmann-Medick, Doris: Cultural turns. Neuorientierungen in den Kulturwissenschaften, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt, 42010; Bhabha, Homi: On Cultural Hybridity – Tradition and Translation. Vortrag an der Universität Wien am 09.11.2007. Veröffentlicht unter dem Titel Über kulturelle Hybridität. Tradition und Übersetzung, aus dem Engl. von Kathrina Menke, hg. und eingel. von Anna Babka, mit einem Nachwort von Wolfgang Müller-Funk, Wien [u. a.:]: Turia + Kant, 2012.
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Kulturgeschichte und die Kultursoziologie insbesondere französischer Provenienz (Roger Chartier, Pierre Bourdieu4) entwickelt worden ist, zielt auf die Erforschung der Übertragung, Vermittlung und Rezeption kultureller Artefakte zwischen Kulturen ab. Der dem Kulturtransferansatz zugrunde liegende Kulturbegriff ist ein anthropologischer, wie er u. a. von Geert Hofstede, Edward T. Hall und Clifford Geertz maßgeblich geprägt worden ist.5 In diesem Rahmen wird unter ‚Kultur‘ die Gesamtheit der kollektiven Wahrnehmungs-, Denk- und Handlungsweisen einer Gemeinschaft (beispielsweise, aber keineswegs ausschließlich oder vor allem: einer Nation) verstanden. Sie prägen spezifische Werte, Identifikationsfiguren, Rituale und Symbolsysteme, die durch Sozialisationsinstanzen (wie vor allem die Familie, das Bildungssystem und die Medien) vermittelt werden und für das Denken, Handeln sowie die mentale Vorstellungswelt einer Gemeinschaft charakteristisch sind. Kulturen im anthropologischen Sinn bilden – je nach historischer Epoche und Kulturraum – den mentalen und symbolischen Zusammenhalt territorial, sozial oder auch religiös definierter Gemeinschaften. Für das Mittelalter und die Frühe Neuzeit sind zweifelsohne soziale und religiöse Definitionsmerkmale deutlich wichtiger als territoriale. Seit dem ausgehenden 18. bis zum ausgehenden 20. Jahrhundert stellen Nationen die herausragenden kulturanthropologischen Bezugsgrößen dar, die sich in erster Linie territorial (und damit durch Grenzen) definieren. Eine wichtige Ausnahme stellte bis 1918 im europäischen Kontext das Habsburgerreich als multikulturelle und vielsprachige Gesellschaft dar, deren interkulturelle Komplexität eine österreichische Forschergruppe, auch unter Rückgriff auf den Kulturtransferansatz, in einem breit angelegten Forschungsprojekt untersucht hat.6 Seit den letzten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts ist – zumindest in okzidentalen Gesellschaften – das dominante Nationenmodell tendenziell zurückgetreten gegenüber einerseits transnationalen Kulturräumen (wie dem europäischen oder dem nordamerikanischen Kulturraum) und andererseits gegenüber subnationalen Kulturen (wie den Regionalkulturen, die z. B. in Spanien und Großbritannien einen rasch zunehmenden Stellenwert erlangt haben). Das Nationenmodell selbst hat sich, ebenso wie die anderen territorialen Bezugsgrößen von Kultur im anthropologischen Sinne, interkulturalisiert. ‚Nation‘ wird – ebenso wie ‚Region‘ oder 4
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Vgl. vor allem den grundlegenden Aufsatz von Bourdieu, Pierre: Les conditions sociales de la circulation internationale des idées, in: Romanistische Zeitschrift für Literaturgeschichte/Cahiers d’histoire des littératures romanes 14/1–2 (1990), S. 1–10, wieder abgedruckt in: Actes de la recherche en sciences sociales 145 (Dezember 2002), S. 3–8. Vgl. Hofstede, Geert: Interkulturelle Zusammenarbeit. Kulturen – Organisationen – Management, Wiesbaden: Gabler, 1993 (Original: Culture’s Consequences: International Differences in Work-related Values, Beverly Hills [u. a.]: Sage Publ., 1980 (Cross-cultural Research and Methodology Series 5)); Hall, Edward T.: The Hidden Dimension [1966], New York [u. a.]: Anchor Books, Doubleday, 1990; Geertz, Clifford: The Interpretation of Cultures, New York: Basic Books, 1973. Vgl. auch Lüsebrink, Hans-Jürgen: Interkulturelle Kommunikation. Interaktion – Fremdwahrnehmung – Kulturtransfer, Stuttgart, Weimar: Metzler, [2005] 32012, S. 10–15. Vgl. hierzu u. a. Celestino, Federico/Mitterbauer, Helga (Hg.): Ver-rückte Kulturen. Zur Dynamik kultureller Transfers, Tübingen: Stauffenburg, 2003.
Der Kulturtransferansatz
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transnationale Kulturräume – in zunehmendem Maße nicht mehr als eine sprachlich und kulturell relativ homogene Bezugsgröße, sondern als eine im Fluss befindliche Gemeinschaft verstanden: eine Gemeinschaft, ein ‚Kollektiv‘7, das in wachsendem Maße von Migration, transkulturellen Einflüssen und interkulturellen Erfahrungen ihrer Mitglieder bestimmt und damit verändert wird. Selbst eine Nation wie Frankreich, die lange Zeit ihre kollektive Identität auf der Wirkungskraft kultureller Assimilation gründete, wird zunehmend, von Soziologen und Kulturwissenschaftlern etwa, als eine sowohl multikulturelle als auch interkulturelle Nation gesehen, die nicht nur in starkem Maße sozial von Migrantengruppen geprägt wird – dies ist seit der Mitte des 19. Jahrhunderts der Fall –, sondern die auch in kultureller Hinsicht in allen ihren Ausdrucksmedien und Praktiken, von der Gastronomie über den Film und die Musik bis hin zur Literatur und zum Theater, interkulturell geformt ist. „La France est aujourd’hui à la fois française, américaine et régionale“, schrieb der Soziologe Gérard Mermet 2002 in seinem Standardwerk Francoscopies. Comment vivent les Français, um die grundlegend interkulturell geprägte Struktur der heutigen französischen Gesellschaft und Kultur zu kennzeichnen.8 Interkulturalität, für die im französischen Kontext eher der Begriff métissage culturel verwendet wird, stellt also ein Resultat sowohl von Migrationswie von Kulturkontakt- und Kulturtransferprozessen dar. Dem Kulturtransferansatz liegt also keine invariable Bezugsgröße – wie die Nation – zugrunde, sondern ein anthropologisch definierter Kulturbegriff, dessen Ausprägungsformen historischen und kulturraumspezifischen Parametern unterliegen. Der Kulturtransferansatz hat in den letzten 30 Jahren dazu beigetragen, ein Feld von Phänomenen, das zuvor mit eher vagen und tendenziell unpräzisen Begriffen wie ‚kultureller Einfluss‘, ‚kultureller Austausch‘ oder ‚Kulturbeziehungen‘ (Begriffe, die zum Teil heute in der Allgemeinsprache noch sehr häufig verwendet werden) bezeichnet worden ist, in theoretischer und methodischer Hinsicht neu und präziser zu fassen. Er hat, in wissenschaftstheoretischer und methodischer Hinsicht, dazu beigetragen, Kulturbeziehungen und Kulturaustausch als dynamische Prozesse zu betrachten, in deren Verlauf sich die transferierten Artefakte häufig grundlegend wandeln, transformieren, an die Kommunikationsstile, Werte und Erwartungshaltungen der Zielkulturen angepasst oder ausgerichtet werden – gleichgültig, ob es sich um literarische Werke, publizistische Texte, Presseinformationen, Bilder, Medienformate, Werbebotschaften, Produktionstechnologien oder Kunstobjekte handelt. Indem der Kulturtransferansatz Kulturbeziehungen und Kulturaustausch als einen dynamischen und zugleich reziproken, das heißt sich wechselseitig vollziehenden und damit auch durch Phänomene wie das des
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Vgl. zum Begriff ‚Kollektiv‘, der von K. P. Hansen statt des Kulturbegriffs verwendet wird: Hansen, Klaus Peter: Kultur und Kulturwissenschaft, Tübingen, Basel: Francke, [1995] 4 2011, S. 122–136. Hansen bezeichnet Nationen als „Dachkollektive“, soziale Gruppen (mit spezifischen kulturellen Ausprägungen und Verhaltensmustern) als „Subkollektive“ (S. 123). Mermet, Gérard: Francoscopie 2003. Pour comprendre les Français. Faits – analyses – tendances – comparaisons – 10 000 chiffres, Paris: Larousse, 2002, S. 212.
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Hans-Jürgen Lüsebrink
‚Retransfers‘9 gekennzeichneten Prozess betrachtet, hat er den Blick auf die enge Verzahnung von Selektions-, Vermittlungs- und Rezeptionsprozessen gelenkt. Unter Selektionsprozessen wird in diesem Zusammenhang die „Auswahl von Objekten, Texten, Diskursen und Praktiken in der Ausgangskultur“ verstanden, „die sowohl eine qualitative wie quantitative Dimension aufweisen“10. Die Vermittlungsebene lenkt ihrerseits den Blick auf Vermittlerfiguren und -institutionen des Kulturtransfers, von Einzelpersonen (wie Austauschlehrern und -studierenden, Fremdenführern im touristischen Bereich, Übersetzern) über Kulturinstitutionen (wie die Goethe-Institute und die Instituts français), deren genuine Aufgabe Kulturvermittlung und damit Kulturtransfer darstellt, bis hin zum breiten Feld der medialen Mittlerinstitutionen. Zu diesen zählen z. B. Verlage, Fernsehanstalten, Internetplattformen sowie die Printmedien, die – im Rahmen ihrer Kommunikations-, Informations-, Unterhaltungsfunktionen – in vielfältiger Weise auch Informationen, Bilder, Texte und Praktiken aus anderen Kulturen selektieren, aufarbeiten, kommentieren und vermitteln – und damit transferieren. Die Rezeptionsebene schließlich betrifft die „Integration und dynamische Aneignung transferierbarer Diskurse, Texte, Objekte und Praktiken im sozialen und kulturellen Horizont der Zielkultur und im Kontext spezifischer Rezeptionsgruppen.“11 Hierbei lassen sich – auch im Anschluss an die zunächst im Bereich der Literaturwissenschaft seit den beginnenden 1970er Jahren entwickelte Rezeptionsforschung – verschiedene Prozesse unterscheiden, die von Phänomenen der ‚Übertragung‘ bis zu Prozessen der kreativen (oder produktiven) Rezeption und der intertextuellen Interkulturalität12 reichen. In anderen Wissenschaftstraditionen, wie in der Geschichtswissenschaft, hat sich zur Bezeichnung der Rezeptionsebene der Begriff ‚Aneignung‘ (französisch appropriation) etabliert, den etwa Roger Chartier in präziser Weise mit der Textsoziologie (Sociology of texts im Sinne von D. F. McKenzie) und der Buch- und Printmediengeschichte verbindet.13 Er lenkt hierdurch den Blick insbesondere auf die kulturspezifisch geprägten ‚materiellen Einschreibungsmodalitäten von Diskursen‘ („modalités matérielles d’inscription des discours“), die mit rezeptionslenkenden und bedeutungsgebenden Elementen wie Format, ästhetischer Gestaltung, Drucktechnik sowie Paratexten verknüpft sind.14 Der Historiker Jürgen 9 10 11 12 13
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Vgl. hierzu nachfolgend den Beitrag von Thomas Keller zum Transfer und zur Rezeption Heideggers nach bzw. in Frankreich und dem nachfolgenden ‚Retransfer‘ der französischen Heidegger-Lektüren nach Deutschland. Lüsebrink: Interkulturelle Kommunikation, S. 148. Lüsebrink: Interkulturelle Kommunikation, S. 149. Vgl. hierzu nachfolgend den Beitrag von Louise-Hélène Filion. Vgl. hierzu Chartier, Roger: Introduction: Mystère esthétique et matérialités de l’écrit, in: ders.: Inscrire et effacer. Culture écrite et littérature (XIe–XVIIIe siècle), Paris: Gallimard/ Seuil (Coll. Hautes Etudes), S. 7–15; McKenzie, Donald Francis: Bibliography and the Sociology of Texts, London: The British Library, 1986 (The Panizzi Lectures, 1985). Chartier, Roger: Inscrire et effacer. Culture écrite et littérature (XIe–XVIIIe siècle), Paris: Gallimard, Seuil, 2005 (Coll. Hautes Etudes), besonders „Introduction: Mystère esthétique et matérialités de l’écrit“, S. 7–15, hier S. 8–9.
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Osterhammel verwendet, mit anderen Implikationen, den semantisch ähnlichen Begriff der „Anverwandlung“ und bezeichnet hiermit produktive (oder kreative) Aneignungs- und Rezeptionsprozesse, deren Analyse für den Fall Japans und seiner Entwicklung seit den letzten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts eine „außergewöhnliche Fähigkeit zur modifizierenden Anverwandlung westlicher Kulturelemente ohne Aufgabe des eigenen Identitätskerns bewiesen hat“15. Zugleich weist Osterhammel in seinen globalgeschichtlich ausgerichteten Studien auf die Gefahr der „holistischen Vorstellung einer Gesamtgesellschaft“ hin, die bei beziehungsgeschichtlichen (und damit auch transferorientierten) Ansätzen bestehe, und betont, die Analyse müsse sich „nach Ebenen und Sektoren mehrdimensional differenzieren“16. Vereinzelt werden für die interkulturellen Rezeptionsformen (oder Aneignungsformen) kultureller Artefakte in anderen Kulturen oder Kulturräumen in der Kulturwissenschaft auch die Begriffe ‚Reterritorialisierung‘ und ‚ReKontextualisierung‘ verwendet. In Anlehnung an die Ansätze des Kommunikationswissenschaftlers James Lull17 und im Anschluss an die wissenssoziologische Theorie von Berger und Luckmann18 zielt die hiermit verbundene Analyseperspektive – durchaus ähnlich wie in der Kulturtransferforschung – darauf ab, „nicht dem statischen Modell einer unidirektionalen und sprecherzentrierten Auffassung von Kommunikation“ zu folgen, „bei der der Hörer, in diesem Fall eine bestimmte Zielkultur, in die Rolle des passiven Empfängers gedrängt wird, sondern der Annahme, Kultur werde im Prozess sozialer Interaktion überhaupt erst erzeugt, sodass die global zirkulierende Kulturform, die auf eine regionale Gemeinschaft stößt, nur im Rahmen solcher Prozesse überhaupt rekontexualisiert werden kann“19. Der Kulturtransferansatz impliziert zugleich, Prozesse der kulturellen Selektion, Vermittlung (oder Mediation) und Rezeption in möglichst empirisch differenzierter Weise zu erforschen, das heißt beispielsweise zu analysieren und möglichst präzise zu erfassen, welche Teile einer Buch- oder Filmproduktion in andere Kulturen übersetzt und übertragen worden sind. Dies impliziert auch zu analysieren, mit welchen unterschiedlichen Paratexten und mit welchen anders gelagerten 15 Osterhammel, Jürgen: Sozialgeschichte im Zivilisationsvergleich. Zu künftigen Möglichkeiten komparativer Geschichtswissenschaft, in: Geschichte und Gesellschaft 22/2 (April–Juni 1996), Themenheft Erweiterung der Sozialgeschichte, S. 143–164, hier S. 154. Osterhammel bezieht sich vor allem auf die Arbeiten von Westney, D. Eleanor: Imitation and Innovation: the Transfer of Western Organizational Patterns to Meiji Japan, Cambridge (MA) [u. a.]: Harvard UP, 1987, und Pauer, Erich S.: Der Technologietransfer nach Japan. Strukturen und Strategien, in: ders. (Hg.): Technologietransfer Deutschland – Japan von 1850 bis zur Gegenwart, München: Iudicium, 1992 (Monographien aus dem Deutschen Institut für Japanstudien 2), S. 48–72. 16 Osterhammel: Sozialgeschichte im Zivilisationsvergleich, S. 154. 17 Vgl. Lull, James: Media, Communication, Culture: A Global Approach, Cambridge: Polity Press, 1995. 18 Vgl. Berger, Peter L./Luckmann, Thomas: The Social Construction of Reality: A Treatise in the Sociology of Knowledge, London: Penguin, 1967. 19 Schröder, Ulrike: Tendenzen gegenläufiger Reterritorialisierungen in brasilianischen und deutschen Rap-Texten, in: Lusorama 71–72 (November 2007), S. 217–243, hier S. 219.
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Kommentarformen – und damit auch Sinngebungsmodalitäten – in der Filmkritik etwa ein erfolgreicher französischer Film wie Le Fabuleux Destin d’Amélie Poulain (2001) von Jean-Pierre Jeunet in Frankreich, in Deutschland und in den USA verknüpft wurde, das heißt wie er ‚interpretiert‘ und von der Filmkritik sowie vom Publikum gesehen und damit kulturspezifisch angeeignet worden ist; oder zu erfassen, welches Netz von Mittlerfiguren und Mittlerinstitutionen – vom Übersetzer über den Verleger bis zum Buchhändler – an der Übertragung französischer Literatur ins Deutsche in jener ‚Goldenen Periode‘ des Übersetzens beteiligt war, als die man die zweite Hälfte des 18. und die erste Hälfte des 19. Jahrhunderts im europäischen Kontext bezeichnen kann. Viele der potenziellen Forschungsbereiche und Forschungsfelder des Kulturtransfers in seinen unterschiedlichen Facetten und Dimensionen sind noch relativ wenig erschlossen und bearbeitet, obwohl in den letzten 30 Jahren eine Fülle von Forschungsschneisen geschlagen worden ist. Wir verfügen mittlerweile, dank der Arbeiten u. a. von Fritz Nies, Joseph Jurt, Beatrice Nickel, Carolin Fischer, Lieven D’Hulst, Blaise Wilfert-Portal sowie des von Rolf Reichardt und Hans-Jürgen Lüsebrink geleiteten und zusammen mit Annette Keilhauer und René Nohr bearbeiteten Projekts über Kulturtransfer im Epochenumbruch 1770–181520 über relativ breite und sichere Daten sowie über umfangreiche Übersetzungsstatistiken zu Übersetzungen vom Französischen ins Deutsche für die zweite Hälfte des 18. und für Teile des 19. Jahrhunderts, vor allem bezüglich des literarischen Bereichs. Aber es fehlen beispielsweise, auch für den deutsch-französischen Bereich, grundlegende und empirisch breit angelegte sozialhistorische Arbeiten zur Prosopografie der Übersetzer und anderer kultureller Mittlerfiguren und Institutionen, und vor allem für die Literatur, die Publizistik und die Medien des ausgehenden 19. bis beginnenden 21. Jahrhunderts zeigen sich zahlreiche, zum Teil noch völlig un20 Vgl. hierzu nacheinander Nies, Fritz (Hg.): Spiel ohne Grenzen? Zum deutsch-französischen Transfer in den Geistes- und Sozialwissenschaften, Tübingen: Narr, 2002 (Transfer 16); Nies, Fritz: Schnittpunkt Frankreich. Ein Jahrtausend Übersetzen, Tübingen: Narr, 2009 (Transfer 20); Lüsebrink, Hans-Jürgen/Reichardt, Rolf in Verbindung mit Annette Keilhauer und René Nohr (Hg.): Kulturtransfer im Epochenumbruch Frankreich-Deutschland 1770 bis 1815, 2 Bde., Leipzig: Leipziger Universitätsverlag, 1997 (Deutsch-französische Kulturbibliothek 9, 1–2); Van Bragt, Katrin: Bibliographie des traductions françaises (1810–1840): répertoires par disciplines, Louvain: PU de Louvain, 1995 (Symbolae Facultatis litterarum Lovaniensis, Series A, Bd. 21); Wilfert-Portal, Blaise: Des bâtisseurs de frontières. Traduction et nationalisme culturel en France, 1880–1930, in: Lombez, Christine/Kulessa, Rotraud von (Hg.): De la traduction et des transferts culturels, Paris: L’Harmattan, 2007, S. 231–253; Wilfert-Portal, Blaise: La place de la littérature étrangère dans le champ littéraire français autour de 1900, in: Histoire & Mesure 23/2 (2008), S. 69–101. Eine Publikation der Übersetzungsdatenbank von B. Wilfert-Portal ist vorgesehen im Rahmen des ANR-DFG-Projekts „Die Transkulturalität nationaler Räume. Prozesse, Vermittler- und Übersetzerfiguren sowie soziokulturelle Wirkungen des literarischen Kulturtransfers in Europa (1750–1900)“, das von Christophe Charle (ENS Paris), York-Gothart Mix (Marburg) und Hans-Jürgen Lüsebrink (Saarbrücken) geleitet wird (2012–2015); Fischer, Carolin/Nickel, Beatrice: Französische und frankophone Literatur in Deutschland (1945–1960): Rezeption, Übersetzung, Kulturtransfer, Frankfurt/M. [u. a.]: Lang, 2012.
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erschlossene Forschungsfelder. Diese betreffen die bisher nur in schmalen Bereichen aufgearbeiteten Fragestellungen des Medientransfers, zu dem auch das zunehmend an Bedeutung gewinnende Phänomen des Medienformattransfers (etwa von transkulturell verbreiteten TV-Serien) gehört.21 Für den Bereich der materiellen Kultur hat der Ethnologe Karl-Heinz Kohl in mehreren Aufsätzen auf die kreativen Dimensionen hingewiesen, die sich im Kontext des derzeitigen Globalisierungsprozesses beobachten lassen und die mit methodischen Ansätzen des Kulturtransfers empirisch erfasst werden können – auch etwa im Bereich der Konsumkulturen und der populären Medien und Mediengattungen (Comics, SitComs und Telenovelas22, etc.) sowie der religiösen Praktiken23. Er bezeichnet diese in Kulturtransferanalysen hervortretende kreativ-dynamische Dimension des Kulturtransfers als die „andere Seite der Globalisierung“, die als Resultat der „fruchtbaren Spannungen zwischen den Kulturen“ aufzufassen sei.24 Indem er in seinen Untersuchungen den Transfer okzidentaler Medien- und Konsumkulturen in außereuropäische Gesellschaften, vor allem nach Afrika, in den Blick rückt, verdeutlicht Kohl die kreative Dynamik und grundlegende Reziprozität (die er als „weltweite kulturelle Gegenbewegungen“ beschreibt) zeitgenössischer Kulturtransferprozesse, die keineswegs, wie häufig angenommen, zu einer zunehmenden Reduktion kultureller Diversität und damit einer wachsenden Angleichung der Kulturen des Globus führen würden: Offensichtlich trügt der äußere Schein. Sieht man nämlich etwas genauer hin, dann erkennt man schnell, dass sich unter den äußeren Ähnlichkeiten gravierende Unterschiede verbergen. Erst einmal in die eigene Kultur integriert, werden die aus dem Westen importierten Ideen, Güter und Waren mit neuen Bedeutungen versehen. Bisweilen werden sie dabei zu Waffen, die sich leicht gegen die richten lassen, von denen man sie bezogen hat.25 Die erwähnten Forschungsrichtungen deuten an, dass sich der Gegenstandsbereich der Kulturtransferforschung seit den 1980er Jahren beträchtlich erweitert hat – von den ursprünglich im Zentrum stehenden deutsch-französischen und mitteleuropäischen Forschungsfeldern zu transatlantischen und globalen Fragestellungen – und dass die Kulturtransferforschung sich zugleich in methodischer 21 Vgl. hierzu die in analytischer Hinsicht wegweisende Saarbrücker Dissertation von Didier, Aliénor: Interkulturelle Adaptionsformen von Fernsehformaten. Theorieansätze, Forschungsperspektiven und empirische Untersuchungen, am Beispiel des R. I. S.-Formates, dem ‚europäischen CSI‘ in Italien, Frankreich und Deutschland, Saarbrücken, Univ., Diss., 2012. 22 Vgl. hierzu z. B.: Bielby, Denise D./Harrington, C. Lee: Opening America? The Telenovelaization of U. S. Soap Operas, in: Television and New Media 6/4 (november 2005), S. 383– 399. 23 Vgl. hierzu Kohl, Karl-Heinz: Ein verlorener Gegenstand? Zur Widerstandsfähigkeit autochthoner Religionen gegenüber dem Vordringen der Weltreligionen, in: Zinser, Hartmut (Hg.): Religionswissenschaft. Eine Einführung, Berlin: Reimer, 1988, S. 252–273. 24 Kohl, Karl-Heinz: Die andere Seite der Globalisierung, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, Nr. 265, 14.11.2000, S. 11. 25 Kohl, Karl-Heinz: Aneignungen. Kulturelle Vielfalt im Kontext der Globalisierung, in: ders./ Schafhausen, Nikolaus (Hg.): New Heimat. Ausstellungskatalog, New York [u. a.]: Lukas & Sternberg, 2001, S. 8–18, hier S. 12–13.
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und theoretischer Hinsicht ausdifferenziert hat. Die anfangs noch deutlich privilegierten Untersuchungsgegenstände der Literatur und der Printmedien sind in die verschiedensten Richtungen hin ausgeweitet worden und umfassen mittlerweile ein sehr breites Spektrum kultureller Medien, Institutionen und Praktiken, unter Einschluss auch von Wissenschaftsdiskursen und Wissenschaftsinstitutionen,26 audiovisuellen Medien, des Internets, der Kunst und der Kunstgeschichte27 sowie verschiedenster Formen institutioneller und sozialer Praktiken, wie etwa pädagogischer Modelle, anwendungsbezogener Technologien und Unternehmenskulturen.28 Dies zeigen auch mehrere Beiträge des vorliegenden Bandes. Der europäisch-außereuropäische Kulturtransfer in seinen kulturellen Formen, seinen Auswirkungen und seiner dynamischen Reziprozität ist in weiten Teilen, vor allem was Afrika und Asien angeht, noch relativ wenig erforscht, obwohl auch hierzu in den letzten Jahren einige wegweisende Forschungsarbeiten entstanden und erschienen sind, u. a. von Johannes Paulmann, Albert Gouaffo, Ibrahima Diagne und Laurier Turgeon.29 Trilaterale und multilaterale Kulturtransferprozesse, die in den letzten Jahren u. a. durch mehrere Studien von Michel 26 Vgl. hierzu exemplarisch: Kanz, Kai Torsten: Deutsch-französischer Wissenstransfer in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts: Das Beispiel der medizinisch-naturwissenschaftlichen Periodika, in: Müller, Gerhard H. (Hg.): Themen zur Geschichte der Biologie. Zum 60. Geburtstag von Prof. Dr. Armin Geus, Nancy: Presses Universitaires de Nancy, 1999 (Philosophia scientiae/Cahier spécial 2), S. 55–81, sowie im vorliegenden Band der Beitrag von Michel Espagne. 27 Vgl. hierzu z. B. Espagne, Michel: L’Histoire de l’art comme transfert culturel. L’itinéraire d’Anton Springer, Paris: Belin, 1990, und den Beitrag von Patricia Oster im vorliegenden Band. 28 Vgl. hierzu z. B. Barmeyer, Christoph/Davoine, Eric: Internationaler Transfer von Unternehmenskulturen. Fallstudien zur Rezeption von Unternehmenswerten und Verhaltenskodizes in deutschen und französischen Tochtergesellschaften, in: Oesterle, Jörg Michael (Hg.): Internationales Management im Umbruch: Globalisierungsbedingte Einwirkungen auf Theorie und Praxis internationaler Unternehmensführung, Wiesbaden: Deutscher Universitätsverlag, 2007, S. 257–289; Berger, Françoise: Les transferts de technologie américaine dans la sidérurgie française et allemande. Etude comparée pour l’entre-deux-guerres, in: Metzger, Chantal/ Kaelble, Hartmut (Hg.): Deutschland – Frankreich – Nordamerika: Transfers, Imaginationen, Beziehungen, Stuttgart: Steiner, 2006 (Schriftenreihe des Deutsch-Französischen Historikerkomitees 3, Geschichte), S. 171–188. 29 Vgl. nacheinander Paulmann, Johannes (Hg.): Ritual – Macht – Natur. Europäisch-ozeanische Beziehungswelten in der Neuzeit, Bremen: Überseemuseum Bremen, 2005; Gouaffo, Albert: Wissens- und Kulturtransfer im kolonialen Kontext: das Beispiel Kamerun (1884–1919), Würzburg: Königshausen & Neumann, 2007 (Saarbrücker Beiträge zur vergleichenden Literatur- und Kulturwissenschaft 39); Diagne, Ibrahima: L’Afrique dans l’opinion publique allemande: Transferts culturels et perception de l’Afrique dans l’Allemagne de l’entre-deuxguerres, Berlin, Münster: Lit-Verlag, 2009 (Frankophone Literaturen und Kulturen außerhalb Europas 1); Turgeon, Laurier/Delâge, Denys/Ouellet, Réal (Hg.): Transferts culturels et métissages Amérique/Europe, XVIe–XXe siècle/Cultural Transfer, America and Europe. 500 Years of Interculturation, Paris: L’Harmattan, 1996; vgl. auch zum transatlantischen Kulturtransfer Lüsebrink, Hans-Jürgen (Hg.): Transferts culturels entre l’Europe et l’Amérique du Nord aux XVIIIe et XIXe siècles. Circulation des savoirs, réappropriations formelles, réécritures, Themenheft Tangence 72 (été 2003), S. 5–146.
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Espagne und seiner Equipe exemplarisch insbesondere anhand der deutschfranzösisch-russischen Kulturtransferbeziehungen30 sowie von Kambiz Djalali für den persisch-deutsch-französischen Kulturtransfer31 analysiert worden sind, zeigen neue Perspektiven einer Erweiterung der Kulturtransferforschung auf mehrpolige Konfigurationen auf. Ein internationales Kolloquium, das Michel Espagne und Hans-Jürgen Lüsebrink Anfang November 2012 in Saarbrücken zum Thema „Transferts de savoirs sur l’Afrique. Acteurs, institutions et médias en France et en Allemagne, de l’époque coloniale aux indépendances africaines“ organisiert haben, ging in dieser Perspektive der Frage nach, welche grundlegenden Unterschiede, aber auch Konvergenzen in den Transferbeziehungen zwischen dem deutschen und französischen Diskurs über Afrika in der Kolonialzeit bestanden. Die Einzelbeiträge betrafen sowohl den ethnologischen Wissenstransfer als auch Formen des Kulturtransfers in Medien und Literaturformen wie der Fotografie, der Publizistik und dem literarischen Reisebericht sowie vielfältige Vermittlerfiguren des europäisch-afrikanischen Kulturtransfers – Übersetzer, Sprachgehilfen, Ethnologen, Schriftsteller, Fotografen, Journalisten, Sprachwissenschaftler, Administratoren, Politiker.32 Intensität, Symmetrien und Asymmetrien von Kulturtransferbeziehungen spiegeln auch Machtverhältnisse und Macht-Hegemonien wider: Dies lässt sich am französisch-deutschen Kulturtransfer des 18. Jahrhunderts ebenso nachweisen wie, in einer völlig anderen historischen Konfiguration, an den europäisch-afrikanischen Kulturtransferprozessen des 20. Jahrhunderts. Europäisches Wissen, europäische Bücher, Filme, Musikproduktionen und literarische Werke sind bis in die Gegenwart etwa auf dem afrikanischen Kontinent ungleich präsenter als umgekehrt afrikanische Kulturproduktionen der unterschiedlichsten Art in Europa. Und selbst der europäische Diskurs über Afrika, der weiterhin in den Medien und auch im Literaturbetrieb von Europäern beherrscht wird, basiert nur zu einem geringen Teil auf Formen des Wissens- und Kulturtransfers aus Afrika nach Europa, etwa auf Übersetzungen afrikanischer Literatur, afrikanischer Publizistik und wissenschaftlichen Studien afrikanischer Wissenschaftler, sondern überwiegend auf Beobachtungen, Reiseerfahrungen und Forschungsarbeiten europäischer Journalisten, Literaten und Wissenschaftler, die Afrika in mehr oder minder intensiver – oder auch oberflächlicher – Weise kennengelernt haben.
30 Vgl. Dmitrieva, Katia/Espagne, Michel (Hg.): Transferts culturels triangulaires France – Allemagne – Russie, Paris: Editions de la Maison des Sciences de l’Homme, 1996 (Philologiques 4); Espagne, Michel (Hg.): Russie – France – Allemagne – Italie. Transferts quadrangulaires du néoclassicisme aux avantgardes, Tusson: Du Lérot, 2005 (Transferts), sowie den Beitrag von Michel Espagne im vorliegenden Band. 31 Vgl. Djalali, Kambiz: Les Echanges orientalistes franco-allemands au 19e siècle autour de la poésie persane classique, Saarbrücken, Univ., Diss., erscheint 2013, Würzburg: Königshausen & Neumann (Saarbrücker Studien zur vergleichenden Literatur- und Kulturwissenschaft). 32 Die Akten des Kolloquiums werden unter dem o. g. Titel 2014 unter der Herausgeberschaft von Michel Espagne und Hans-Jürgen Lüsebrink erscheinen.
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Wie die umrissenen Beispiele und Frageperspektiven zeigen, ist der Kulturtransferansatz auch und in vielfältiger Weise mit dem Vergleichen verknüpft. Erst der heuristische Vergleich und damit die In-Beziehung-Setzung von Ausgangs- und Zielkulturen bzw. -kulturräumen ermöglicht die Analyse von Kulturtransferprozessen. Durch den Vergleich von unterschiedlichen Transferformen – etwa des Transfers und der Übersetzung afrikanischer Literatur und Publizistik in Deutschland und umgekehrt deutscher Literatur und Publizistik in Afrika – werden Asymmetrien und damit ungleiche Machtverhältnisse deutlich, vor allem in der Kolonialzeit, aber auch in der postkolonialen Ära. Ansätze der Komparatistik, ob in der Literaturwissenschaft oder in anderen Disziplinen wie der vergleichenden Ethnologie oder der vergleichenden Folklore-Forschung, sind selbst Objekte des Kulturtransfers, die als solche, wie das Beispiel der Werke des russischen Formalisten und Folkloreforschers Vladimir Propp zeigt, in häufig sehr komplexe und mehrpolige Transferprozesse eingebunden sind.33 Mehrere programmatische Aufsätze der vergangenen Jahre, die auch in Beiträgen des vorliegenden Bandes aufgenommen und weiterentwickelt wurden, haben die enge Verzahnung und tendenzielle Interdependenz von komparatistischen Ansätzen und Transferansätzen herausgearbeitet.34 Der Historiker Jürgen Osterhammel etwa hat in einem programmatischen Aufsatz die „Möglichkeiten komparatistischer Geschichtswissenschaft“ in einer globalhistorischen Perspektive mit Blick auf den Kulturtransferansatz wie folgt umrissen: Der Vergleich muss beziehungsgeschichtlich abgefedert, bewusste kulturelle Transfers und nicht intendierte Akkulturationsprozesse müssen aufgespürt, „invented traditions“ identifiziert, Synkretismen entschlüsselt werden. Dazu ist ein Verständnis der Zusammenhänge zwischen Europa und der übrigen Welt erforderlich, das über die herkömmlichen politischen und ökonomischen Interessen der 33 Vgl. hierzu im vorliegenden Band den Beitrag von Michel Espagne. 34 Vgl. im vorliegenden Band insbesondere die Beiträge von Hans Manfred Bock und Michel Espagne sowie weiterführend: Middell, Matthias: Kulturtransfer und Historische Komparatistik – Thesen zu ihrem Verhältnis, in: ders.: (Hg.): Kulturtransfer und Vergleich, Themenheft Comparativ 10/1 (2000), S. 7–41; Zwierlein, Cornel A.: Komparative Kommunikationsgeschichte und Kulturtransfers im 16. Jahrhundert – Methodische Überlegungen entwickelt am Beispiel der Kommunikation über die französischen Religionskriege (1559–1598) in Deutschland und Italien, in: Schmale, Wolfgang (Hg.): Kulturtransfer. Kulturelle Praxis im 16. Jahrhundert, Innsbruck [u. a.]: Studien Verlag, 2003 (Wiener Schriften zur Geschichte der Neuzeit 2), S. 85–120; Eisenberg, Christiane: Kulturtransfer als historischer Prozess. Ein Beitrag zur Komparatistik, in: Kaelble, Hartmut/Schriewer, Jürgen (Hg.): Vergleich und Transfer. Komparatistik in den Sozial-, Geschichts- und Kulturwissenschaften, Frankfurt/M., New York: Campus, 2003, S. 399–417; Lingelbach, Gabriele: Erträge und Grenzen zweier Ansätze. Kulturtransfer und Vergleich am Beispiel der französischen und amerikanischen Geschichtswissenschaft während des 19. Jahrhunderts, in: Conrad, Christoph/Conrad, Sebastian (Hg.): Die Nation schreiben. Geschichtswissenschaft im internationalen Vergleich, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 2002, S. 333–359; Osterhammel, Jürgen: Transferanalyse und Vergleich im Fernverhältnis, in: Kaelble/Schriewer (Hg.): Vergleich und Transfer, S. 439–468; Werner, Michael/Zimmermann, Bénédicte: Vergleich, Transfer, Verflechtung. Der Ansatz der Histoire croisée und die Herausforderung des Transnationalen, in: Geschichte und Gesellschaft 28/4 (2002), S. 607–636.
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Kolonialismus- und Imperialismusforschung hinausgeht. Der Strukturvergleich zwischen Zivilisationen und das Studium interzivilisatorischer Beziehungen sind zwei Seiten der einen Medaille.35 Der Kulturtransferansatz hat in den letzten 30 Jahren seine theoretischen Prämissen und seine methodischen Implikationen erheblich ausdifferenziert und in den verschiedenen Fachdisziplinen vielfältige empirische Forschungsergebnisse erzielt. Die kulturtheoretische Diskussion hat diese Ausdifferenzierungen und Erweiterungen allerdings relativ wenig zur Kenntnis genommen und sich vor allem auf den Transfer-Begriff selbst und seine konnotativen Bedeutungsschichten fokussiert, woraus sich auch ein Teil der Kritik am Kulturtransferansatz erklären lässt. Der kulturwissenschaftliche Transfer-Begriff ist trotz der lexikalischen Ähnlichkeit nur sehr indirekt mit dem Begriff des wirtschaftlichen Warentransfers und dem psychoanalytischen Transfer-Begriff verknüpft. Er geht nicht von Märkten oder psychischen Strukturen, sondern von sprachlich und interkulturell geprägten Kulturräumen aus. Er ist nicht, wie dies beim Warentransfer der Fall ist, genuin intentional und zielorientiert (sowie darüber hinaus profitorientiert), sondern grundlegend und in erster Linie prozessorientiert. Und die ihm zugrundeliegende Dimension des ‚Transfers‘ als eines komplexen, dynamischen und reziproken Prozesses beschränkt sich keineswegs auf die reine ‚Übertragung‘ eines Artefakts von einem Ausgangsraum in einen Zielraum, sondern impliziert zum Teil tiefgreifende sprachliche und kulturelle Veränderungen, Übersetzungsmodalitäten und kreative Aneignungsformen. Die im vorliegenden Band an die Ansätze der Kulturtransferforschung kritisch und zugleich kreativ anknüpfenden Beiträge zeigen das heuristische Erkenntnispotenzial des Kulturtransferansatzes und die hiermit verbundenen analytischen Möglichkeiten. Im Kontext der aktuellen literatur- und kulturtheoretischen Methodendiskussion, die wie kaum ein anderer Bereich der Geisteswissenschaften von einem beschleunigten, auch stark von intellektuellen Moden beherrschten Rhythmus der Kreation, der Diffusion, der Abnutzung und des ‚Verfalls‘ methodischer und theoretischer Begrifflichkeiten gekennzeichnet ist, gilt es, die empirischen Erkenntnismöglichkeiten und Forschungsperspektiven, die der Kulturtransferansatz eröffnet und unter Beweis gestellt hat, weiterzuverfolgen und ihn nicht in Konkurrenz, sondern in systematischer Verbindung mit komparatistischen, text- und medienwissenschaftlichen sowie interkulturellen Forschungsansätzen weiterzuentwickeln und weiterzudenken. LITERATURVERZEICHNIS Bachmann-Medick, Doris: Cultural turns. Neuorientierungen in den Kulturwissenschaften, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt, 42010. Barmeyer, Christoph/Davoine, Eric: Internationaler Transfer von Unternehmenskulturen. Fallstudien zur Rezeption von Unternehmenswerten und Verhaltenskodizes in deutschen und
35 Osterhammel: Sozialgeschichte im Zivilisationsvergleich, S. 155.
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französischen Tochtergesellschaften, in: Oesterle, Jörg Michael (Hg.): Internationales Management im Umbruch: Globalisierungsbedingte Einwirkungen auf Theorie und Praxis internationaler Unternehmensführung, Wiesbaden: Deutscher Universitätsverlag, 2007, S. 257–289. Berger, Françoise: Les transferts de technologie américaine dans la sidérurgie française et allemande. Etude comparée pour l’entre-deux-guerres, in: Metzger, Chantal/Kaelble, Hartmut (Hg.): Deutschland – Frankreich – Nordamerika: Transfers, Imaginationen, Beziehungen, Stuttgart: Steiner, 2006 (Schriftenreihe des Deutsch-Französischen Historikerkomitees 3, Geschichte), S. 171–188. Berger, Peter L./Luckmann, Thomas: The Social Construction of Reality: A Treatise in the Sociology of Knowledge, London: Penguin, 1967. Bhabha, Homi: On Cultural Hybridity – Tradition and Translation. Vortrag an der Universität Wien am 09.11.2007. Veröffentlicht unter dem Titel Über kulturelle Hybridität. Tradition und Übersetzung, aus dem Engl. von Kathrina Menke, hg. und eingel. von Anna Babka, mit einem Nachwort von Wolfgang Müller-Funk, Wien [u. a.:]: Turia + Kant, 2012. Bielby, Denise D./Harrington, C. Lee: Opening America? The Telenovela-ization of U. S. Soap Operas, in: Television and New Media 6/4 (november 2005), S. 383–399. Bourdieu, Pierre: Les conditions sociales de la circulation internationale des idées, in: Romanistische Zeitschrift für Literaturgeschichte/Cahiers d’histoire des littératures romanes 14/1–2 (1990), S. 1–10, wieder abgedruckt in: Actes de la recherche en sciences sociales 145 (Dezember 2002), S. 3–8. Celestino, Federico/Mitterbauer, Helga (Hg.): Ver-rückte Kulturen. Zur Dynamik kultureller Transfers, Tübingen: Stauffenburg, 2003. Chartier, Roger: Introduction: Mystère esthétique et matérialités de l’écrit, in: ders.: Inscrire et effacer. Culture écrite et littérature (XIe–XVIIIe siècle), Paris: Gallimard/Seuil (Coll. Hautes Etudes), S. 7–15. Diagne, Ibrahima: L’Afrique dans l’opinion publique allemande: Transferts culturels et perception de l’Afrique dans l’Allemagne de l’entre-deux-guerres, Berlin, Münster: Lit-Verlag, 2009 (Frankophone Literaturen und Kulturen außerhalb Europas 1). Didier, Aliénor: Interkulturelle Adaptionsformen von Fernsehformaten. Theorieansätze, Forschungsperspektiven und empirische Untersuchungen, am Beispiel des R. I. S.-Formates, dem ‚europäischen CSI‘ in Italien, Frankreich und Deutschland, Saarbrücken, Univ., Diss. 2012. Djalali, Kambiz: Les Echanges orientalistes franco-allemands au 19e siècle autour de la poésie persane classique, Saarbrücken, Univ., Diss., erscheint 2013, Würzburg: Königshausen & Neumann (Saarbrücker Studien zur vergleichenden Literatur- und Kulturwissenschaft). Dmitrieva, Katia/Espagne, Michel (Hg.): Transferts culturels triangulaires France – Allemagne – Russie, Paris: Editions de la Maison des Sciences de l’Homme, 1996 (Philologiques 4). Eisenberg, Christiane: Kulturtransfer als historischer Prozess. Ein Beitrag zur Komparatistik, in: Kaelble/Schriewer (Hg.): Vergleich und Transfer, S. 399–417. Espagne, Michel: Les Transferts culturels franco-allemands, Paris: PUF, 1999 (Perspectives germaniques). Espagne, Michel/Werner, Michael (Hg.): Transferts. Les relations interculturelles dans l’espace franco-allemand (XVIIe et XIXe siècles), Paris: Editions Recherche sur les civilisations, 1988. Espagne, Michel: L’Histoire de l’art comme transfert culturel. L’itinéraire d’Anton Springer, Paris: Belin, 1990. Espagne, Michel (Hg.): Russie – France – Allemagne – Italie. Transferts quadrangulaires du néoclassicisme aux avantgardes, Tusson: Du Lérot, 2005 (Transferts). Fischer, Carolin/Nickel, Beatrice: Französische und frankophone Literatur in Deutschland (1945– 1960): Rezeption, Übersetzung, Kulturtransfer, Frankfurt/M. [u. a.]: Lang, 2012. Geertz, Clifford: The Interpretation of Cultures, New York: Basic Books, 1973. Gouaffo, Albert: Wissens- und Kulturtransfer im kolonialen Kontext: das Beispiel Kamerun (1884–1919), Würzburg: Königshausen & Neumann, 2007 (Saarbrücker Beiträge zur vergleichenden Literatur- und Kulturwissenschaft 39).
Der Kulturtransferansatz
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KOMPARATISTIK ALS BEZIEHUNGSWISSENSCHAFT Manfred Schmeling
1. ZUM BEGRIFF DER ‚BEZIEHUNG‘ Das Stichwort, unter dem ich einige Gedanken formulieren möchte, lautet: Komparatistik als Beziehungswissenschaft. Dabei geht es mir weniger um das Fach als Institution, sondern mich inspiriert der Begriff der ‚Beziehung‘ bzw. der ‚Relation‘ zu einigen Vorüberlegungen, die mit der besonderen methodischen Zielrichtung der Beiträge für diesen Band zu tun haben. Dass es sich in den Beiträgen darum handelt, Relationen zu erkennen bzw. herzustellen, kann schon deshalb niemand bestreiten, weil wir ohne relationistisches Denken gar nicht auskommen könnten. Der Begriff der ‚Relation‘ gehört zur „topic of logic“ (Peirce)1 und spielt in der Geschichte der Philosophie eine zentrale Rolle. Einen ersten heuristischen Einstieg in die Problematik kann die folgende Definition aus der Ontologia (1730/36) von Christian Wolff liefern: „Was einer Sache für sich nicht zukommt, sondern erst dann erkannt wird, wenn sie auf etwas anderes bezogen wird, wird 2 R[elation] genannt.“ Schon Platon sprach von Gegenständen, „die nur mit Blick auf anderes sind, was sie sind.“3 Günther Patzig hat in einem prägnanten Beitrag die formallogischen Aspekte des Relationsbegriffs – u. a. in kritischer Auseinandersetzung mit Platon, Aristoteles, Frege und Carnap – weiter ausdifferenziert. Er unterscheidet zwischen semantisch autonomen, relationsfreien Begriffen einerseits und solchen Begriffen, die nur durch die Beziehung zu einem anderen ihren speziellen Sinn ergeben. Beispiel: Kein Sohn ohne Vater (und vice versa).4 1 2 3 4
Zit. nach Ritter, Joachim/Gründer, Karlfried (Hg.): Historisches Wörterbuch der Philosophie, Basel, Darmstadt: Wiss. Buchgesellschaft, 1992, Bd. 8, Artikel „Relation“, Spalte 578–612. Hier Sp. 578: „Relatives have since Aristotle been a recognized topic of logic“. Wolff, Christian von: Philosophia prima sive Ontologia, ed. et curavit Joannes Ecole, [1736] Hildesheim [u. a.]: Olms, 1977, § 856, S. 636, zit. nach Artikel „Relation“ in Ritter/Gründer (Hg.): Historisches Wörterbuch der Philosophie, Sp. 597. Ritter/Gründer (Hg.): Historisches Wörterbuch der Philosophie, Sp. 579. Die Konstellation ‚Vater-Sohn‘ ist ein gängiges Beispiel philosophischer Diskussionen über die Relation. Logischerweise wäre sie auf die Vater-Tochter-Relation bzw. allgemeiner auf die Vater-Kind-Relation auszuweiten. Mit Bezug auf Aristoteles liefert das Historische Wörterbuch der Philosophie eine Definition, die das Prinzip der „Umkehrbarkeit“ hervorhebt: „Für Aristoteles gilt die Umkehrbarkeit von R[elation]en, da sich Relativum und Korrelat gegenseitig fordern: ohne Doppeltes kein Halbes, ohne Halbes kein Doppeltes.“ (Artikel „Relation“ in Ritter/Gründer (Hg.): Historisches Wörterbuch der Philosophie, Sp. 580).
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Manfred Schmeling Philosophische Reflexion wurde schon früh auf die Tatsache aufmerksam, dass wir manches von den Dingen behaupten können, was für sie aufgrund dessen, was sie selber sind, d. h. in ihrer Vereinzelung gilt; anderes aber von ihnen nur insofern mit Wahrheit gesagt werden kann, als es etwas anderes gibt, zu dem sie in Beziehung (Relation, Verhältnis) stehen oder gesetzt werden kann.5
Der strukturelle Gehalt dieser Aussage ist freilich auf literarische Verhältnisse nicht ohne Weiteres übertragbar, weil die sprachlogische Perspektive in diesem Fall vom einzelnen Begriff und nicht vom strukturell und semantisch viel komplexeren Text oder Werk ausgeht. Betrachtet man einen literarischen Text jedoch als ein Gebilde, das keine monolithische Existenz hat, sondern grundsätzlich fremdbestimmt ist und daher erst unter Berücksichtigung von anderen Werken (Kontexten, Parallelen, Einflüssen, Rezeptionen o. ä.) adäquat erschlossen werden kann, so ist das philosophische Konzept der Relation durchaus assoziierbar mit der methodischen Grundidee vergleichender Literaturwissenschaft. Denn Relation und Vergleich gehören logisch zusammen. Wer vergleicht, stellt Beziehungen her. Die relationistische Struktur des Vergleichs bedingt, dass sich ein gegebener Gegenstand – in unserem kulturwissenschaftlichen Zusammenhang ein Text, ein Kunstwerk usw. – in den Augen des Betrachters semantisch weiter öffnet, neu und anders darstellt. Wenn ich nun das Gewicht auf das Wort ‚Beziehungswissenschaft‘ lege, so soll das natürlich auch an den von Edouard Glissant geprägten Begriff der „Poétique de la Relation“ erinnern.6 Aber bei Glissant zielt der Begriff „Relation“ ausschließlich auf postkoloniale Literatur ab und ist überhaupt nicht klar definiert. Sind Beziehungen präexistent oder werden sie durch vergleichende Verfahren hergestellt? In der Transfer-Forschung würde man wohl vom Ersteren ausgehen, nämlich von konkreten Kontakten. In der Komparatistik ist beides möglich. Der altmodische Ausdruck der ,gegenseitigen Erhellung‘ besitzt meines Erachtens immer noch seinen Stellenwert – oder, um den Aufklärer Wolff nochmals zu bemühen: die Bedeutung bzw. die Funktion einer Sache erhält ihr besonderes Profil, wenn die Sache auf eine andere Sache bezogen wird. Termini wie ‚Einfluss‘, ‚Rezeption‘, ‚Transfer‘, ‚Vergleich‘, ‚Vermittlung‘, auch ‚Hybridisierung‘, in-between etc. – ja alle literatur- oder kulturwissenschaftlichen Kombinationen mit ‚inter‘ oder ‚trans‘ – sind Beziehungsbegriffe. Es handelt sich um Nomenklaturen, die erst in der Anwendung Sinn ergeben. Sie implizieren auch Vermeidungsstrategien, also die negative Form von Beziehung. Zu den prominentesten theoretischen Auseinandersetzungen mit diesem Thema zählt das Buch von Harold Bloom, The Anxiety of Influence7. Zu unserem sprachlogischen Beispiel der Vater-Sohn-Relation passt bei Harold Bloom die psychoanaly-
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Krings, Hermann/Baumgärtner, Hans-Michael/Wild, Christoph (Hg.): Handbuch philosophischer Grundbegriffe, Bd. 4, München: Kösel-Verlag, 1973, S. 1220–1221. Glissant, Edouard: Poétique de la Relation, Paris: Gallimard, 1990. Bloom, Harold: The Anxiety of Influence, Oxford: Oxford UP, 1973.
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tische Version der interliterarischen Beziehung zwischen Dichter-Vater und Dichter-Sohn, starkem und schwachem Autor, Einfluss und Formen der Abwehr von Einfluss. Auch die Diskussionen über kulturelle oder nationale Fremdbilder bzw. die entsprechenden Antagonismen (Identität–Alterität, Eigen–Fremd) orientieren sich an Beziehungen. Ich zitiere immer wieder gerne Ortfried Schäffter: „Fremdheit ist keine Eigenschaft von Dingen oder Personen, sondern ein Beziehungsmodus“8. Gemeint ist hier die Standortbezogenheit und Subjektivität von Einstellungen und Urteilen über andere Kulturen. Man kann diesen Gedanken erkenntniskritisch vertiefen und mit Friedrich Nietzsche die relativistische Auffassung vertreten, dass auch grundsätzlich kein „zeitloses Subjekt der Erkenntnis“9 existiert: Es gibt „nur ein perspektivisches Erkennen“10. Individuelle Vorurteile sind häufig gesellschaftlich vorgeprägt. Die Fremdheit einer kaukasischen Medea war im hellenischen Griechenland weniger mit kultureller Neugierde als mit dem Selbstverständnis der Griechen und dem damaligen Frauenbild verbunden. Die Tragödie von Euripides – genauer gesagt: es handelt sich um die Perspektive des unglücklichen Jason – identifiziert Fremdheit im selben gedanklichen Zusammenhang mit Barbarentum, Hexerei und Weiblichkeit. Auch Goethes Arsenal von Begriffen, die er im Kontext seiner Weltliteratur-Thesen verwendet – „geistiger Verkehr“, „Ideenwechsel“, „fremde Teilnahme“11 – gehören in meine ‚Beziehungskiste‘. Aber gerade der Terminus „Weltliteratur“ bedarf immer wieder der kritischen Problematisierung. Goethes Äußerungen beruhen ein Stück weit auf nationaler Selbstvergewisserung und sind, wie man postkolonial sagen würde, ‚germanozentrisch‘ geprägt (Etiemble).12 Aus methodischen Gründen geradezu gemieden wird heute ein anderer Begriff, nämlich ‚Einfluss‘. In Anlehnung an Harold Bloom möchte man sagen: aus Angst vor Positivismus. Relationistisches Denken ist somit nicht nur strukturell, sondern auch hermeneutisch und durchaus ideologisch wirksam. Der Diskurs über die Beziehungen zwischen unterschiedlichen Kulturen vollzog sich lange Zeit, nicht nur bei Goethe, sondern besonders auch noch bei Thomas Mann, André Gide, Romain Rolland usw. auf humanistischer oder kosmopolitischer Grundlage. Was ist eigentlich
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Schäffter, Ortfried: Modi des Fremderlebens. Deutungsmuster im Umgang mit Fremdheit, in: ders. (Hg.): Das Fremde – Erfahrungsmöglichkeiten zwischen Faszination und Bedrohung, Opladen: Westdeutscher Verlag, 1997, S. 11–43, hier S. 12. 9 Nietzsche, Friedrich: Zur Genealogie der Moral, in: ders.: Werke in drei Bänden, hg. v. Karl Schlechta, Bd. 2, Darmstadt: WBG, 1997, S. 761–900, hier S. 860. 10 Nietzsche: Zur Genealogie der Moral, S. 861. 11 Zum Weltliteratur-Begriff bzw. verwandten Begriffen bei Goethe vgl. u. a. Goethe, Johann Wolfgang von: Sämtliche Werke nach Epochen seines Schaffens, Münchner Ausgabe, hg. von Karl Richter [u. a.], Bd. 18.2: Letzte Jahre 1827–1832, hg. v. Johannes John [u. a.], München, Wien: Hanser, 1996, S.12–13, 86, 97, 98. 12 Vgl. Etiemble, René: Faut-il réviser la notion de Weltliteratur?, in: Jost, François (Hg.): Actes du IVe Congrès de l’Association Internationale de Littérature Comparée/Proceedings of the IVth Congress of the International Comparative Literature Association, Fribourg 1964, The Hague, Paris: Mouton, 1966, Bd. 1, S. 5–16, hier S. 6.
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aktuell aus der Idee des Kosmopolitismus geworden? Meines Erachtens ist dieses ein Thema für die Intellektuellen-Forschung – und einige der folgenden Beiträge widmen sich dieser Thematik. Wenn Weltbürgertum, Humanismus, Brüderlichkeit, freiheitliches Denken, Friedensliebe, Urbanität, Demokratie etc. einst als die Tugenden kosmopolitisch gesinnter Intellektueller, wenn nicht zwischenmenschlicher Beziehung schlechthin galten, so scheint dieser Idealismus durch aktuelle Tendenzen ordentlich in Frage gestellt. Ob in Anbetracht dessen, was man die moderne ‚Durchökonomisierung‘ nennt, die ethischen Potenziale eines solchen Begriffs noch gelten, mag man bezweifeln. Ein Kulturtransfer, der durch eine sich gewissermaßen verselbstständigende, kaum mehr aufzuhaltende Globalisierung bewirkt wird, entzieht dem Vergleich und der Auseinandersetzung mit dem Fremden ein Stück weit die humanistischen Grundlagen. 2. GEGENSTAND UND METHODE Ich übertrage nun den soeben angedeuteten begrifflichen Zusammenhang auf unser literatur- bzw. kulturwissenschaftliches Geschäft. Dabei gehe ich von der Überlegung aus, dass Gegenstand und Methode sich gegenseitig bedingen. Letzteres gilt vielleicht für Disziplinen wie die Interkulturelle Kommunikation und die Komparatistik noch mehr als für andere Fächer aufgrund der Spezifik des Vergleichens. Der komparatistische wie der transkulturelle Blick transzendieren von vornherein die monolithische Sicht, der Untersuchungsgegenstand öffnet sich gewissermaßen auf unterschiedlichen Ebenen: international, interdisziplinär, transkulturell, intertextuell, intermedial, auch metatheoretisch. Diese Begriffe bezeichnen, wie wir alle wissen, etablierte und auch bei den Studierenden beliebte Forschungsbereiche von nicht nachlassender Aktualität. Neben der Untersuchung von Intertextualität steht vor allem die Intermedialität, die neben Bild-Kunst und Musik auch die neuen Medien einschließt, im Zentrum des Interesses. Die besondere Komplexität dieser Forschungsgebiete ergibt sich aus der Tatsache, dass zugleich Sprach-, Literatur- und Kulturgrenzen überschritten werden. Letzteres gilt auch für theoretische Dialoge, wie vor allem die Untersuchungen von Peter V. Zima deutlich gemacht haben.13 Für die oben genannten Gegenstandsbereiche existieren jeweils zwei theoretische Möglichkeiten: Entweder der Gegenstand selbst – z. B. der Text eines Romans – setzt sich aus entsprechenden Beziehungen zusammen und ‚hungert‘ geradezu nach komparatistischer Behandlung: der Gegenstand bestimmt die Methode. Literarische Referenzen in einem Roman bedeuten häufig mehr als eine nur zufällige Anspielung auf einen fremden Text. In Mario Vargas Llosas Der Geschichtenerzähler (El hablador, 1987)14, der u. a. im
13 Zima, Peter V.: Komparatistik, Tübingen, Basel: Francke, ²2011. Vgl. Kap. II: Komparatistik als dialogische Theorie, S. 69–104. 14 Vargas Losa, Mario: Der Geschichtenerzähler, aus dem Spanischen von Elke Wehr, Frankfurt/M.: Suhrkamp, 1995.
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Amazonas-Urwald spielt, liefert die Erwähnung von Kafkas Verwandlung einen hermeneutischen Zugang zur Traumwelt des Protagonisten und fordert so den Vergleich der beiden Werke heraus. Oder aber mein Ansatz produziert durch Kontextualisierung gleichsam erst das Beziehungsgeflecht, in das ein Werk eingelagert ist: die Methode bedingt den Gegenstand. Ich kann Kafkas Prozess entweder rein germanistisch betrachten oder aber aus gattungstypologischen Gründen mit Cervantes’ Don Quijote vergleichen, also Kriterien von außen herantragen, ohne dass es sichtbare genetische Beziehungen zwischen den beiden Romanen gibt. Dies ist freilich eine theoretische Unterscheidung, in der Praxis vermischen sich die Verfahren. Kein genetischer Vergleich ohne Kontextualisierung, d. h. Einbettung in exogene Prozesse, die neben literarisch-ästhetischen immer auch komplexere kulturelle und gesellschaftliche Beziehungen betreffen. Eine der ersten systematischen Untersuchungen zu diesem methodischen Aspekt lieferte Ende der 1950er Jahre der tschechische Komparatist Dionýz Ďurišin,15 der zwischen ‚genetischen Beziehungen‘ oder ‚Kontaktbeziehungen‘ einerseits und kontextuell bedingten Beziehungen andererseits unterscheidet. Von diesem Sachverhalt ausgehend differenziere ich zwischen Komparatistik und Interkultureller Kommunikation. Letztere beruht ausschließlich auf (auch negativen) ‚Kontakten‘, auf der Tatsache, dass Kulturen miteinander in einen Dialog treten, sich vernetzen, aufeinander einwirken oder sich auch gegenseitig desavouieren. Ein textuell nachprüfbarer Kontakt oder regard croisé (Begriff aus der neueren französischen Kulturtransferforschung, etwa bei Bénédicte Zimmermann und Michael Werner) liefert zwar eine sichere empirische Basis für die komparatistische Untersuchung literarischer Werke, ist aber keine Conditio sine qua non für den Vergleich, der auch durch assoziierende Verfahren, Kontextualisierung, typologische Raster etc. zu sinnvollen Ergebnissen führen kann.16 Christiane Solte-Gresser hat die typischen Vergleichsmöglichkeiten in ihrem Beitrag (in diesem Band) sehr präzise systematisiert. Der Vergleich als methodisches Verfahren wird auch noch in einem anderen Zusammenhang hinterfragt: Wenn ‚Kultur‘ nicht mehr essenzialistisch, sondern als prozessualer Vorgang oder auch als ‚polyphonisch‘ oder gar ‚hybrid‘ interpretiert wird, was wird dann aus unseren binären Gegenüberstellungen? Konsens besteht darüber, dass statisch-binäre stoffliche Vergleiche, etwa auf der Basis von Motiven, wie sie in der älteren Komparatistik einst üblich waren, zu kurz greifen und heutigen wissenschaftlichen Maßstäben nicht mehr genügen. Aber auf welcher Ebene der Reflexion hat die ‚Zweier-Logik‘ dann noch Bestand? Die Forschung spricht von der Hybridität als von einer „interkulturellen Denkfigur“, die u. a. auf Theorien von Michail Bachtin, Jacques Lacan, Jacques Derrida und Homi Bhabha fußt und einen „dritten Raum“ bezeichnet, 15 Ďurišin, Dionýz: Vergleichende Literaturforschung. Versuch eines methodisch-theoretischen Grundrisses, Berlin: Akademie-Verlag, ²1976, S. 50 f. 16 Zu dieser Unterscheidung vgl. Lüsebrink, Hans-Jürgen: Interkulturelle Kommunikation, Stuttgart, Weimar: Metzler, 2005, S. 33.
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in dem die Konstitution von Identität und Alterität weder als multikulturelles Nebeneinander noch als dialektische Vermittlung, sondern unauflösbare und wechselseitige Durchdringung von Zentrum und Peripherie, Unterdrücker und Unterdrücktem modelliert wird.17
In dieser Betrachtungsweise ist das Augenmerk allerdings eher auf den Gegenstand als solchen gerichtet – und weniger auf die methodische Perspektive. In der Tat ist die postkoloniale Literatur wie durchtränkt von Beispielen hybrider Existenz: In den Satanischen Versen von Salman Rushdie verlaufen z. B. die kulturellen Prozesse zwischen den Polen „Indischsein“ und „Englischsein“ hin und her, und die paradoxe „Vereinigung-durch-Hybridisierung“ wird sogar eigens thematisiert.18 Eine ganz andere Frage ist es, ob die Binarität kognitiv tatsächlich hintergehbar ist. Wahrscheinlich kann man differentielles Denken ins Endlose vervielfältigen, im Prozesshaften kultureller Dynamiken perpetuieren, aber wir werden immer das Eine mit dem Anderen und das Andere, das dann das Eine wird, wieder mit dem ‚anderen Anderen‘ in Beziehung setzen. Die binäre Logik ist unser epistemologisches Schicksal. Tatsache bleibt gleichwohl, dass unser Kulturbegriff kein statischer sein kann, sondern dass sich Kultur stets im Zusammenspiel mit anderen Kulturen, das bedeutet in den Dimensionen von Prozessen, Konfrontationen, Revolutionen, Wettbewerb usw. realisiert. Auf diesem Prinzip beruht der Ansatz des Buches von Pascale Casanova in La République mondiale des Lettres, das die Diskussion über ‚Weltliteratur‘ auf literatursoziologischer Ebene fortsetzt.19 3. ZUM KOMPARATISTISCHEN STELLENWERT LITERARISCHER MUSTER Nach meinen theoretischen Anmerkungen zur Nomenklatur und zu einigen methodischen Aspekten von Kultur- und Literaturbeziehungen sei abschließend ein kurzer Blick auf die Literatur gestattet. Die literarischen Themen und Strukturen haben sich der gesellschaftlichen Mobilität angepasst. Kaum ein Schriftsteller der Gegenwart verzichtet auf interkulturelle Themen.20 Man kann geradezu von einer ‚Ethnologisierung‘ der Literatur sprechen; die meisten neueren Literaturnobelpreise haben mit diesem Sachverhalt zu tun. Soziokulturelle und ästhetische Argumente bedingen sich gegenseitig: Einerseits liefert das persönliche Leben zwischen den Kulturen häufig den Stoff, aus dem gute Romane gemacht werden, andererseits verfolgen die Autoren künstlerische Strategien – wie z. B. Formen literarischer 17 Nünning, Ansgar (Hg.): Metzlers Lexikon Literatur- und Kulturtheorie, Stuttgart, Weimar: Metzler, ²2002, S. 260. 18 Rushdie, Salman: Die Satanischen Verse, München: Knaur, 1997, S. 422. (Orig.: The Satanic Verses, New York: Viking, 1988.) 19 Casanova, Pascale: La République des Lettres, Paris: Seuil, 2008. 20 Vgl. Meyer, Christine (Hg.): Kosmopolitische ‚Germanophonie‘. Postnationale Perspektiven in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur, Würzburg: Königshausen & Neumann, 2012.
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Mehrsprachigkeit oder das narrative Spiel mit Fremdperspektiven –, die man als die ästhetische Konsequenz existenzieller Disharmonie oder gar kultureller und politischer Unterdrückung betrachten kann. Unter anderem denke ich hier an die Nobelpreisträgerin und Rumänien-Deutsche Herta Müller, die auf dem letzten Weltkongress der International Comparative Literature Association (Seoul, 2010) ihre Existenz zwischen den Kulturen in Lektüren und Diskussion präsentiert hat. Nicht minder aufmerksam verfolgt wird das persönliche und das literarische Schicksal von Schriftstellern wie Salman Rushdie, Orhan Pamuk oder Mario Vargas Llosa. Man muss, wie oben bereits angedeutet, in Texten mit entschieden transkulturell angelegter Thematik das vergleichende Verfahren nicht erst von außen an die Texte herantragen, sondern der Gegenstand bestimmt wieder einmal die Methode. Ich möchte das jedoch verallgemeinern. Nicht nur für Romane mit spektakulären interkulturellen Schilderungen, sondern auch für scheinbar ‚national‘ geprägte Texte gilt: kein Text ist mit sich selbst identisch. Jeder Text ist auf die eine oder andere Weise fremdbestimmt, zeichnet sich durch Beziehungen aus, die ihn kulturell transzendieren. Das gilt vom Gilgamesch-Epos über die Tragödien der Antike oder die Epen des Mittelalters bis hin zur Moderne und Postmoderne. Es gibt freilich historisch bedingte Grade der Explizitheit fremdkultureller Beziehungen. Aber prinzipiell sehe ich zwischen der schon erwähnten Medea von Euripides und dem hochgradig ethnologisierten Roman El hablador (Der Geschichtenerzähler) von Mario Vargas Llosa keinen Unterschied. Was ich als vergleichender Literaturwissenschaftler damit sagen möchte: Solche Texte, in denen Transfer und Vergleich die kulturelle Dynamik gewissermaßen explizit vorexerzieren, sollten unsere besondere Aufmerksamkeit auf sich ziehen. Die Relationen, die wir vergleichend herstellen, sind, zumindest partiell, bereits im Bewusstsein von Autoren bzw. Erzählern oder Protagonisten präsent. Man könnte daher von einem ,doppelten Vergleich‘ sprechen. Was sich auf literarischer Ebene eher impressionistisch vollzieht, bedarf indes komparatistischer Systematik. Ich plädiere daher erstens für einen endogen zu entwickelnden Merkmal-Apparat kultureller Grenzüberschreitungen und zweitens für die Abgleichung der endogenen Phänomene mit außerliterarischen Transferprozessen. Welches sind genau die strukturellen bzw. ästhetischen Merkmale, die einen gegebenen Text als Gegenstand transkultureller bzw. komparatistischer Analyse besonders qualifizieren? Auf welchen sprachlichen, historischen und gesellschaftlichen Voraussetzungen beruht die Dekonstruktion des Nationalen im Literaturbegriff der Schriftsteller?21 Es ist klar, dass z. B. ein postkolonialer Roman, der sich durch literarische Mehrsprachigkeit auszeichnet, einer entsprechenden soziolinguistischen und politischen etc. Kontextualisierung bedarf; ich denke hier zum Beispiel an den Roman Texaco von Patrick Chamoiseau.22 21 Vgl. Schmeling, Manfred: Die Entgrenzung der Nation im Literaturbegriff der Schriftsteller, in: Hudemann, Rainer/ders. (Hg.): Die ,Nation‘ auf dem Prüfstand/La ,Nation‘ en question/ Questioning the ,Nation‘, Berlin: Akademie Verlag, 2009 (Vice Versa. Deutsch-französische Kulturstudien 3), S. 161–174, hier S. 163. 22 Chamoiseau, Patrick: Texaco, Paris: Gallimard, 1992.
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Wir finden somit ein großes Potenzial vor, das zahlreiche literarisch-konkrete Formen kultureller Grenzüberschreitung umfasst. Ich nenne im Folgenden einige forschungsrelevante Kategorien, die zwar als solche nicht neu sind, aber auf eine systematische Bearbeitung im Rahmen einer interkulturellen Poetik noch warten: – – – – – – – – –
transkulturelle Intertextualität transkulturelle Intermedialität Konstruktion von narrativen Fremdperspektiven (z. B. im Reise- oder Exilroman) generische Fremdbestimmtheit von Textsorten (z. B. der Einfluss des japanischen Haiku auf den französischen vers libre) Formen sprachlicher Fremdbestimmtheit (außer der literarischen Mehrsprachigkeit sind es Formen der Übersetzung, der Selbstübersetzung durch bilinguale Autoren, der fiktiven Übersetzung usw.) der große, wichtige Bereich der nationalen bzw. kulturellen Fremdbilder und Stereotypen die Formen der Metaphorisierung interkultureller Beziehungen interkulturelle Sprachspiele interkulturelle Karikaturen (ein sehr aktuelles, politisch-journalistisches TextBild-Phänomen, das man auch unter dem Begriff der ‚Intermedialität‘ rangieren lassen kann) 4. ZUR METAPHORIK TRANSKULTURELLER BEZIEHUNGEN
Mit der Metaphorisierung habe ich mich in letzter Zeit auch persönlich ausführlicher befasst, darum sei ein Wort dazu gestattet. Der Bereich ist noch weitgehend unerforscht. Nicht nur die Literatur, auch die interkulturellen Theorien sind wie durchtränkt von Beziehungsmetaphern. Warum eigentlich, wenn es doch in Theorien darum geht, mit klaren Begriffen und nicht mit auslegbaren Bildern zu arbeiten? Edouard Glissant z. B. hat seine Poétique de la Relation auf der biologistischen, von den Poststrukturalisten entlehnten Metapher des ‚Rhizoms‘, des in alle Richtungen frei wuchernden Wurzelgeflechts aufgebaut: La notion de rhizome maintiendrait donc le fait de l’enracinement, mais récuse l’idée d’une racine totalitaire. La pensée du rhizome serait au principe de ce que j’appelle une poétique de la Relation, selon laquelle toute identité s’étend dans un rapport à l’Autre.23
Mit dieser Definition möchte er gegen die Hierarchisierung kultureller Prozesse anschreiben. Konkret geht es um den ästhetischen Widerstand gegen die ehemaligen Kolonialmächte. Ram Adhar Mall wiederum spricht in seinem Buch über Philosophie im Vergleich der Kulturen von der „Überlappung“ der Kulturen, weil die Metapher der „Verschmelzung“ ihm zu undialektisch, zu harmonisierend
23 Glissant: Poétique de la Relation, S. 23.
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scheint.24 Solche Metaphern sind also mitnichten lediglich rhetorische Ausschmückungen, sondern transportieren Konzepte und Ideologien. Die Beziehungs-Metaphorik bestimmt in sehr komplexer Weise das sprachliche Erscheinungsbild von Transfer und Vergleich – im Bereich kulturwissenschaftlicher Theorien ebenso wie in der Tagespolitik und im Journalismus, in literarischen Texten ebenso wie in essayistischen Schriften. Immer wieder vernimmt man da z. B. das Wort „Tandem“ zur Bezeichnung des deutsch-französischen Verhältnisses, bis Anfang des Jahres 2012 verkörpert durch das politische Paar Angela Merkel und Nicolas Sarkozy. Der Spiegel zitiert: Die Vorstellung von einem gleichberechtigten Bündnis zwischen Paris und Berlin sei unter diesen Bedingungen absurd, stellt das Nachrichtenmagazin Marianne fest: ‚Wenn man von einem deutsch-französischen Tandem spricht, ist mehr als klar – die Deutschen sitzen am Lenker, die Franzosen treten in die Pedale.‘ Gemeinsam fahren sie das deutsch-französische Tandem, aber Merkel sitzt vorne… und Sarkozy tritt in die Pedale.25
Mit Blick auf die bevorstehenden Wahlen in Frankreich warnte ein Leitartikel in Le Monde vor zu viel Nähe zwischen den beiden – die Harmonie könnten viele Franzosen auch übel nehmen, zu viel ‚Merkozy‘ diskriminiere die nationale Autonomie der Franzosen. Interkulturelle Metaphorik und interkulturelle Sprachspiele interferieren allenthalben. Ein beliebtes Mittel der Darstellung interkultureller Beziehungen sind sprachliche Kontraktionen: von ‚Merkozy‘ (aus Merkel und Sarkozy) zu ‚Merlande‘ (aus Merkel und Hollande). Freilich sind die politisch-ideologischen Vorzeichen der Begegnungen zwischen Kanzlerin Merkel und dem französischen Präsidenten Hollande nun nicht mehr dieselben. Auch die Literatur kennt solche Sprachspiele: „Alsagérie“ ist eine Kontraktion, die Assia Djébar in ihrem Roman Les Nuits de Strasbourg (1997)26 verwendet, um die interkulturelle Liebe zwischen einem Elsässer und einer Algerierin auf einen gemeinsamen, freilich ironisch gemeinten, Nenner zu bringen. Mario Vargas Llosas Protagonist in Der Geschichtenerzähler träumt von einem gewissen „Tasurinchi-Gregor“ und verknüpft auf diese Weise die Amazonas-Kultur mit Kafkas Verwandlung, also mit europäischer Weltliteratur. Hinter solchen Sprachspielen bzw. bildlichen Konstruktionen verbergen sich, wie bereits gesagt, Konzepte, und diese Konzepte zu historisieren und zu analysieren ist eine lohnende Aufgabe. Die Bilder ändern sich mit den Zeiten; das gilt zumal für das Verhältnis Deutschland-Frankreich. Gegen Ende des Ersten Weltkrieges kommentiert der deutsch-französische Dichter Yvan Goll, der als Jude 24 Mall, Rad Amhar: Philosophie im Vergleich der Kulturen. Interkulturelle Philosophie – eine neue Orientierung, Darmstadt: Wiss. Buchgesellschaft, 1995, vgl. S. 46. 25 Ehlers, Fiona [u. a.]: Koloss ohne Kompass, in: Der Spiegel, 51/2010, S. 98–101, hier S. 100. Die Übersetzung des Spiegel ist sehr frei. In der Zeitschrift Marianne lesen wir: „Résultat, le guidon du tandem est bien dans les mains de l’Allemagne, laissant à la France le soin de pédaler derrière.“ (Lévy, Emmanuel: Crise européenne: pourquoi le G2 franco-allemand est une illusion, in: Marianne, 29 novembre 2010). 26 Djébar, Assia: Les Nuits de Strasbourg, Paris: Actes Sud, 1997.
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und Elsass-Lothringer von den Spannungen besonders betroffen war, die Beziehungen wie folgt: Es ginge darum, „Feuer und Wasser, das gallische und das germanische Element […] zusammenzubringen“. Jedoch: „Von Frankreich und Deutschland wehen Süd- und Nordwind, es zieht am Rhein, und da ist eine Bronchitis schnell da.“27 Die Literatur verdichtet – im wahrsten Sinne des Wortes – das, was ich, etwas floskelhaft, weiter oben eine ‚Beziehungskiste‘ genannt habe. Ein besonders interessantes Bild für den deutsch-französischen Kulturtransfer hat André Gide entworfen. Das dritte methodische Element, die subjektive Perspektive des Vergleichers (wer spricht?, wer wählt welches tertium comparationis?), das ich in Anbetracht der Komplexität des Themas zurückstellen musste, ist dabei alles andere als eine quantité négligeable: Welche Parameter des Vergleichs verwendet ein André Gide, wenn er in seinen „Réflexions sur l’Allemagne“ (1919) schreibt: „Nos plus beaux dons, peut-être avions-nous besoin de l’Allemagne pour les mettre en œuvre, comme elle avait besoin de notre levain pour faire lever sa pâte épaisse?“28 Die schönsten Werke der Franzosen, sagt Gide, hätten von den Deutschen profitiert, aber diese wiederum benötigen die Hefe der Franzosen, damit ihr schwerer Teig („pâte épaisse“) aufgeht. Ich erspare Ihnen jetzt die eigentlich fällige mentalitätsgeschichtliche Reflexion über die den Metaphern unterlegten Stereotypen, über Cartesianismus und geistige Leichtigkeit auf der einen, über geistige Schwerkraft und romantische Tiefe auf der anderen Seite. Vielmehr lade ich Sie ein – um die Hefeteig-Metapher noch etwas weiter auszureizen –, den deutsch-französischen Kuchen nunmehr anzuschneiden und hoffentlich mit Genuss zu verspeisen. LITERATURVERZEICHNIS Bloom, Harold: The Anxiety of Influence, Oxford: Oxford UP, 1973. Casanova, Pascale: La République des Lettres, Paris: Seuil, 2008. Chamoiseau, Patrick: Texaco, Paris: Gallimard, 1992. Djébar, Assia: Les Nuits de Strasbourg, Paris: Actes Sud, 1997. Ďurišin, Dionýz: Vergleichende Literaturforschung. Versuch eines methodisch-theoretischen Grundrisses, Berlin: Akademie-Verlag, ²1976. Ehlers, Fiona [u. a.]: Koloss ohne Kompass, in: Der Spiegel, 51/2010, S. 98–101. Etiemble, René: Faut-il réviser la notion de Weltliteratur?, in: Jost, François (Hg.): Actes du IVe Congrès de l’Association Internationale de Littérature Comparée/Proceedings of the IVth Congress of the International Comparative Literature Association, Fribourg 1964, The Hague, Paris: Mouton, 1966, Bd. 1, S. 5–16. Gide, André: Réflexions sur l’Allemagne, in: La Nouvelle Revue Francaise 69 (1919), S. 35–46. Glissant, Edouard: Poétique de la Relation, Paris: Gallimard, 1990.
27 Goll, Yvan: René Schickeles Vortragsabend, in: Neue Zürcher Zeitung, Nr. 347, 12.03.1918. 28 Gide, André: Réflexions sur l’Allemagne, in: La Nouvelle Revue Francaise 69 (1919), S. 35– 46, hier S. 44.
Komparatistik als Beziehungswissenschaft
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Goethe, Johann Wolfgang von: Sämtliche Werke nach Epochen seines Schaffens, Münchner Ausgabe, hg. von Karl Richter [u. a.], Bd. 18.2: Letzte Jahre 1827–1832, hg. v. Johannes John [u. a.], München, Wien: Hanser, 1996. Goll, Yvan: René Schickeles Vortragsabend, in: Neue Zürcher Zeitung, Nr. 347, 12.03.1918. Krings, Hermann/Baumgärtner, Hans-Michael/Wild, Christoph (Hg.): Handbuch philosophischer Grundbegriffe, Bd. 4, München: Kösel-Verlag, 1973. Lévy, Emmanuel: Crise européenne: pourquoi le G2 franco-allemand est une illusion, in: Marianne, 29 novembre 2010. Lüsebrink, Hans-Jürgen: Interkulturelle Kommunikation, Stuttgart, Weimar: Metzler, 2005. Mall, Rad Amhar: Philosophie im Vergleich der Kulturen. Interkulturelle Philosophie – eine neue Orientierung, Darmstadt: Wiss. Buchgesellschaft, 1995. Meyer, Christine (Hg.): Kosmopolitische ‚Germanophonie‘. Postnationale Perspektiven in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur, Würzburg: Königshausen & Neumann, 2012. Nietzsche, Friedrich: Zur Genealogie der Moral, in: ders.: Werke in drei Bänden, hg. v. Karl Schlechta, Bd. 2, Darmstadt: WBG, 1997, S. 761–900. Nünning, Ansgar (Hg.): Metzlers Lexikon Literatur- und Kulturtheorie, Stuttgart, Weimar: Metzler, ²2002. Ritter, Joachim/Gründer, Karlfried (Hg.): Historisches Wörterbuch der Philosophie, Basel, Darmstadt: Wiss. Buchgesellschaft, 1992, Bd. 8, S. 597. Rushdie, Salman: Die Satanischen Verse, München: Knaur, 1997. (Orig.: The Satanic Verses, New York: Viking, 1988.) Schäffter, Ortfried: Modi des Fremderlebens. Deutungsmuster im Umgang mit Fremdheit, in: ders. (Hg.): Das Fremde – Erfahrungsmöglichkeiten zwischen Faszination und Bedrohung, Opladen: Westdeutscher Verlag, 1997, S. 11–43. Schmeling, Manfred: Die Entgrenzung der Nation im Literaturbegriff der Schriftsteller, in: Hudemann, Rainer/ders. (Hg.): Die ‚Nation‘ auf dem Prüfstand/La ‚Nation‘ en question/Questioning the ‚Nation‘, Berlin: Akademie Verlag, 2009 (Vice Versa. Deutsch-französische Kulturstudien 3), S. 161–174. Vargas Losa, Mario: Der Geschichtenerzähler, aus dem Spanischen von Elke Wehr, Frankfurt/M.: Suhrkamp, 1995. Zima, Peter V.: Komparatistik, Tübingen, Basel: Francke, ²2011.
II. (KULTUR-)BEGRIFFE Inter-, Multi- und Transkulturalität
INTERKULTURALITÄT – VON ‚TRANSFER‘ ZU ‚VERNETZUNG‘ Anke Bosse
1. VON ‚TRANSFER‘ ÜBER ‚TRANSFERPROZESS‘ ZU ‚VERNETZUNG‘ Seit mehr als 20 Jahren hat sich ‚Transfer‘ als produktiver Schlüsselbegriff in den Kulturwissenschaften etablieren können, insbesondere in der KulturtransferForschung. Die ersten entscheidenden Impulse kamen bekanntlich von Michel Espagne und Michael Werner, beide am CNRS in Paris tätig. Seither hat der Transfer-Begriff einen Transformationsprozess durchlaufen. Um diesen und die Konsequenzen daraus geht es mir.1 Als Ausgangspunkt bietet sich ein genauerer Blick auf den Begriff ‚Transfer‘ an. Etymologische Wörterbücher geben zu ‚Transfer‘ drei Bedeutungen an, die sich ähnlich in einem Hinweis Michel Espagnes von 1999 wiederfinden,2 nämlich: 1) „Zahlung ins Ausland in fremder Währung“; 2) „Überführung, Weitertransport im Reiseverkehr“ und 3) „Übertragung“.3 1 2
Symptomatisch ist, dass ‚Transfer‘ von Anfang an begleitet ist von alternativen oder ergänzenden Begriffen wie relations interculturelles, imbrications, métissage, échanges, circulation, ‚Beziehungen‘, ‚Austausch‘, ,Vermittlung‘, ‚Rezeption‘, ‚Prozess‘. „Ce n’est pas tout à fait un hasard si le terme de transfert évoque à la fois des flux financiers, des déplacements de population et l’un des moments de la cure psychanalytique. En effet un transfert culturel engage aussi bien la vie économique, démographique, psychique et intellectuelle des groupes sociaux mis en présence même s’il est vrai que la vie intellectuelle est plus propice à l’observation d’imbrications qui concernent des choses et des personnes mais surtout leur interprétation symbolique.“ (Espagne, Michel: Les Transferts culturels francoallemands, Paris: PUF, 1999, S. 1) Die Verbindung „flux financiers“ – „vie économique“ ist insofern plausibel, als sie dem Fokus der Kulturtransferforschung auf das ökonomische Modell von Export und Import entspricht. Die Verbindung „déplacements de population“ und „vie […] démographique“ entspricht dem Fokus auf Migrationen und auf die physische Dislozierung von Kulturvermittlern. Wenn wir den Blick aber auf die dritte Bedeutung von ‚Transfer‘ werfen – „un des moments de la cure psychanalytique“, dann erscheint der Sprung zur „vie […] psychique et intellectuelle“ im Kulturtransfer doch sehr weit. Aber gerade der „vie […] psychique et intellectuelle“ wird die Schlüsselrolle zugeschrieben, kontinuierlich die kulturellen ‚Verschachtelungen‘/imbrications zu beobachten und vor allem deren symbolische Interpretation zu leisten. Hier passt etwas nicht so recht zusammen.
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‚Transfer‘ ist als „Fremdwort […] bereits im 18. Jh. mit der […] kaufmännischen Bedeutung ‚Übertragung des Eigentumsrechts einer Aktie‘, im 19. Jh. auch im Sinne von ‚Überweisung, Übertrag, Auszahlung‘ bezeugt.“ Die zwei „anderen Bedeutungen sind jung (20. Jh.)“; das Wort ist „aus engl. transfer ‚Übertragung, Überweisung, Umbuchung usw.‘ entlehnt, einer Bildung zu engl. to transfer (< lat. transferre, aus lat. trans ‚hinüber‘ […] und lat. ferre ‚tragen, bringen‘.“4 Seiner Herkunft nach ist ‚Transfer‘ also zunächst und dominant ein ökonomischer Begriff für die Zahlungsbewegung von A nach B. Erst später steht ‚Transfer‘ auch für eine topografische Bewegung: die ‚Überführung‘, die wiederum von A nach B verläuft. Schließlich wird ‚Transfer‘ auch als psychologischer Begriff eingesetzt, nämlich für die ‚Übertragung‘ eines Gefühls von einem Objekt A (oft eine Person) auf ein anderes Objekt B (ein Objekt, das der Person gehört).5 ‚Transfer‘ ist also eine unilineare Bewegung, bei der von der Position A etwas weggenommen und auf die Position B übertragen wird. ‚Transfer‘ bedeutet, etwas hinüber zu tragen, die Bewegungs- und Blickrichtung geht von A nach B. Und hier zeigen sich die Möglichkeiten und Grenzen des Begriffs ‚Kulturtransfer‘. Zur ökonomischen Bedeutungsvariante passt, dass sich Forschungen zum Kulturtransfer am Modell von Export und Import orientieren und kulturelle Güter als zirkulierende „Waren“ auffassen, die „von bestimmten Trägergruppen produziert, von Mittlern ‚transportiert‘ und verkauft, von Rezipienten erworben und konsumiert werden.“6 Zur topografischen Bedeutungsvariante passt der Fokus auf Migrationen und auf die Dislozierung v. a. der zwischen Kulturen vermittelnden Personen und Gruppen. Doch sind auch Differenzen zu verzeichnen. 1) Senden-Empfangen: Beim Transfer als Überweisung, Überführung und Übertragung wird immer von A etwas weggenommen und in toto nach B transferiert. Dies ist, soweit ich sehe, beim Kulturtransfer nicht der Fall. 2) Bewegungs- und Blickrichtung: Forschungen zum Kulturtransfer interessieren sich dezidiert für die ‚Empfänger‘-Kultur und damit für eine Bewegungs- und Blickrichtung, die der Transferrichtung von A zu B genau entgegen gesetzt ist: Die Empfängerkultur B adaptiert etwas von A, holt sich etwas von A herüber.
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Duden, Bd. 7: Das Herkunftswörterbuch. Etymologie der deutschen Sprache, hg. von der Dudenredaktion auf der Grundlage der neuen amtlichen Rechtschreibregeln, Mannheim [u. a.]: Dudenverlag, 4., neu bearb. Auflage, 2007, S. 860. Duden, Bd. 7, S. 860. Es handelt sich dabei nicht um einen Vorgang, der zwingend mit einer psychoanalytischen Therapie (vgl. Anm. 2) verbunden wäre. Lüsebrink, Hans-Jürgen/Reichardt, Rolf: Kulturtransfer im Epochenumbruch. Fragestellungen, methodische Konzepte, Forschungsperspektiven. Einführung, in: dies. in Verbindung mit Annette Keilhauer und René Nohr (Hg.): Kulturtransfer im Epochenumbruch. Frankreich – Deutschland 1770 bis 1815, 2 Bde., Leipzig: Leipziger Universitätsverlag, 1997 (DeutschFranzösische Kulturbibliothek 9, 1–2), Bd. 1, S. 9–26, hier S. 19.
Interkulturalität – von ‚Transfer‘ zu ‚Vernetzung‘
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Dass Forschungen zum Kulturtransfer wiederum so gezielt auf die Empfängerkultur, auf die Rezipienten fokussieren,7 beruht darauf, dass sie sich von kulturellem Expansionismus, von den impliziten nationalen Hegemonieansprüchen älterer Kulturvergleiche explizit distanzieren.8 Dieser Ansatz ist äußerst wichtig für eine möglichst neutrale Beobachterposition des Forschenden. Doch sollte der Blick aus Richtung ‚Rezeption‘ nicht dazu führen, überaus wirksame Macht-Asymmetrien zu übersehen. Die Geschichte zeigt, dass Kulturtransfers immer wieder im Rahmen von Imperialismus, Kolonialismus, Krieg stattfanden: Die dominante, expansive Kultur A überträgt Teile ihrer Kultur hinüber in die Kultur B, oktroyiert sie ihr – und ausgerechnet diese Bewegungsrichtung entspricht der ursprünglichen Bedeutung von ‚Transfer‘ …9 3) Binarität und Unilinearität versus Mehrdimensionalität: Ein Transfer geht von A nach B, er ist bilateral und verläuft unilinear. Er impliziert keine Reziprozität und damit eben auch nicht den Austausch. Ihre ursprüngliche Perspektive auf binäre Bezüge hat die Kulturtransfer-Forschung inzwischen geöffnet, sie untersucht inzwischen auch raum- und gesellschaftsübergreifende Austauschprozesse und die wechselseitige Durchdringung von mehreren Kulturen.10 Vor allem aber erkannten Kulturtransfer-Forscher im Laufe der Zeit, dass das, was sie ‚Transfer‘ nannten, die Richtung ändern, in mehrere Richtungen gehen, kontinuierlich oder diskontinuierlich verlaufen kann, dass hier also offene, mehrdimensionale interkulturelle Prozesse zu beobachten sind. Dem entsprach ‚Transfer‘ als Solo-Begriff nicht mehr. Dementsprechend war mehr und mehr von „Transferprozessen“ die Rede,11 schließlich von „interkulturellen Transferprozessen“12 – ein Ansatz, die Binarität und
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Lüsebrink/Reichardt: Kulturtransfer, S. 19. Lüsebrink/Reichardt: Kulturtransfer, S. 19. Die postcolonial studies haben gezeigt, dass dann keine totale Überfremdung stattfand, sondern komplexe Mischungen entstanden. Ein Beispiel: Als Iran im 7. Jahrhundert arabisiert wurde, zwang man dem Persischen, einer indoeuropäischen Sprache, die arabische Schrift auf, also die Schrift einer semitischen Sprache. Ergebnis: Für Laute, die es nur im Persischen gibt, wurden neue Schriftzeichen in Abwandlung arabischer eingeführt. Und es entwickelte sich das Neupersische in einer Mischung aus Persisch und Arabisch. 10 Es geht um ‚interkulturelle Transfers‘. Es geht nicht – wie der Begriff ‚Kulturtransfer‘ vermuten lässt – um den Transfer von Kultur oder Kulturen, sondern um den Transfer zwischen Kulturen. Symptomatisch für die Verkürzung durch den Begriff ‚Kulturtransfer‘ ist, dass dieses Singular-Kompositum den transferts culturels, Substantiv Plural mit Adjektiv, nicht genau entspricht. Wörtlich genommen, müssten die transferts culturels auf den Transfer selbst als spezifisch kulturelles Phänomen fokussieren und weniger auf das, was da transferiert wird. Vgl. schon 1988 den Titel von Espagne, Michel/Werner, Michael (Hg.): Transferts. Les relations interculturelles dans l’espace franco-allemand (XVIIIe et XIXe siècle), Paris: Edition Recherche sur les civilisations, 1988. 11 Lüsebrink/Reichardt: Kulturtransfer, S. 31. 12 Werner, Michael: Dissymmetrien und symmetrische Modellbildungen in der Forschung zum Kulturtransfer, in: Lüsebrink/Reichardt (Hg.): Kulturtransfer im Epochenumbruch, S. 87– 101, hier S. 88.
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Unilinearität, die dem Begriff ‚Transfer‘ eindeutig innewohnen, abzuschwächen. 4) Transfer – Prozess – Vernetzung: Dass sich diese interkulturellen Prozesse auf vielen Ebenen abspielen – räumlich, zeitlich, sozial, mit Zwischenstufen –, dass diese Ebenen komplexe Beziehungen miteinander unterhalten und sich oft nicht durch sich selbst, sondern erst durch ihre Interaktionen konstituieren, führte Michael Werner zu dem Schluss: Genau besehen, handelt es sich um ein Beziehungsgeflecht mit einer Vielzahl von Gelenkstellen, zu deren Untersuchung ein einfaches Modell von Transfer, Transport und Zirkulation nicht mehr ausreicht.13
Mit der Diagnose ‚Beziehungsgeflecht‘, mit Vorschlägen wie „Modellierung des kulturellen Transfers als dynamisches Netzwerk“14 steht die mehrdimensionale interkulturelle Vernetzung zur Debatte. Um ‚Transfer‘ zu ersetzen? Meines Erachtens kann ‚Transfer‘ als Impulsgeber von interkulturellen Vernetzungen, als Auslöser von Transformationsprozessen angesehen werden. Er könnte als Begriff für diese Anfangsphase und für unilineare Übertragungen fungieren. Dann aber stellt sich die Frage, ob das Teil-Phänomen ‚Transfer‘ noch als Ober-Begriff, als ‚Label‘ in dieser Form beizubehalten ist.15 2. INTERKULTURALITÄT: ‚EIGENES‘ VERSUS ‚ANDERES‘, ‚VERTRAUTES‘ VERSUS ‚FREMDES‘ – DISTANZ, DIFFERENZ ‚Interkulturalität‘ ist inzwischen längst zum Paradigma in den Literatur- und Kulturwissenschaften geworden und wurde entsprechend gründlich erforscht. Daher möchte ich mich hier auf einige problematische Aspekte beschränken. Bei der Analyse von interkulturellen Prozessen wird mit dem prominenten Oppositionspaar ‚Eigenes‘ versus ‚Fremdes‘ operiert. Andrea Polaschegg hat nun auf das Problem hingewiesen, dass wir in der Opposition von Eigenem und Fremdem die 13 Werner, Michael: Transfer und Verflechtung. Zwei Perspektiven zum Studium soziokultureller Interaktionen, in: Mitterbauer, Helga/Scherke, Katharina (Hg.): Ent-grenzte Räume. Kulturelle Transfers um 1900 und in der Gegenwart, Wien: Passagen Verlag, 2005 (Studien zur Moderne 22), S. 95–107, hier S. 101. 14 Mitterbauer, Helga/Scherke, Katharina: Einleitung, in: dies. (Hg.): Ent-grenzte Räume, S. 13– 21, hier S. 15. 15 Mit Blick auf das Thema des vorliegenden Bandes – Transfer und Vergleich – erscheint mir wichtig, dass sich die anfängliche Ablehnung, die die Kulturtransfer-Forschung gegenüber dem Vergleich einnahm, gegen die hierarchisierende Wertung von Kulturen richtete. Damit aber ist der Vergleich an sich, als Operation, nicht obsolet geworden – so ist er etwa Voraussetzung für die Analyse eines Transfers. Der Vergleich von Ausgangs- und Rezeptionssituation ist nötig, weil nur durch das Erfassen der Differenzen die jeweils vorgenommenen Uminterpretationen und Akkulturationsprozesse und die in diesen Prozessen entstehenden Relationen von ‚Anderem‘ und ‚Eigenem‘ bestimmt werden können. Richtete sich der Fokus der Kulturtransfer-Forschung dezidiert auf die Rezeptionssituation, so öffnet sich der Blick nun auch auf die Ausgangssituation in der ‚anderen‘ Kultur.
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Elemente zweier verschiedener Dichotomien und zwei unterschiedliche Operationen vermischen.16 Das kulturell ‚Eigene‘ konstituiere sich durch Abgrenzung und Positionierung gegenüber dem, was ‚anders‘ ist – es entstehe also eine Dichotomie der identitäts- und systemstabilisierenden Differenz. Zu dieser Beobachtung Polascheggs wäre hinzuzufügen, dass Differenz durch stufenweise Angleichung gemindert werden kann, die Relation zwischen Eigenem und Anderem also dynamisch ist. Das Fremde hingegen bildet – so Polaschegg – eine Opposition nicht zum Eigenen, sondern zum Vertrauten. Fremd sei oder werde, was nicht vertraut oder nicht mehr vertraut ist – eine Dichotomie der Distanz. Das Fremde verliert seine Fremdheit, wenn wir uns damit verstehend vertraut machen. Die Relation zwischen Vertrautem und Fremdem ist bestimmt durch die Dynamik zwischen Distanz und verstehender Annäherung.17 Gerade weil das durch Differenz geschaffene ‚Andere‘ und das durch Distanz hergestellte ‚Fremde‘ in der Praxis (inter-)kultureller Sinn- und Bedeutungsproduktion ineinander spielen, wäre es sinnvoll, im konkreten Fall abzuklären, welche der beiden Operationen wie im Spiel ist – eventuell beide – und dies auch zu benennen. 3. INTERKULTURALITÄT – TRANSKULTURALITÄT – KULTUR Die Diskussion um den Kulturbegriff hat zu seiner Dynamisierung geführt: Kultur wird nicht mehr als distinkte Einheit, sondern als Ensemble von Bedeutungszuschreibungen, Sinnkonstruktionen und Praktiken gesehen, das sich im permanenten interkulturellen Austausch mit ‚anderen‘ Kulturen vorübergehend durch „dynamische Verdichtung“18 erstellt – Kultur gilt als Prozess, als immer schon hybrid. Damit wir diesen Prozess aber beschreiben können, gehen wir immer noch 16 Polaschegg, Andrea: Der andere Orientalismus. Regeln deutsch-morgenländischer Imagination im 19. Jahrhundert, Berlin, New York: de Gruyter, 2005 (Quellen und Forschungen zur Literatur- und Kulturgeschichte 35 (269)), S. 41–44. 17 Schon anhand der Etymologie ist das Fremde als das Distante und das Andere als das Differente zu erkennen: ander ist ein „gemeingerm. Für- und Zahlwort […]. Die alte Verwendung von ‚ander‘ als Ordnungszahlwort lässt sich auch noch in der Gegenüberstellung mit ‚ein‘ erkennen, beachte z. B. ‚der eine – der andere‘, ‚ein Wort gab das andere‘. Heute wird ‚ander‘ zum Ausdruck der Verschiedenheit und zu unbestimmt unterscheidender Wertung verwendet. […]“ (Duden Bd. 7, S. 35). – fremd: „Das altgerm. Adjektiv mhd. vrem[e]de, ahd. fremidi […] ist eine Ableitung von dem im Nhd. untergegangenen gemeingerm. Adverb *fram ‚vorwärts, weiter; von – weg‘ […] (engl. from […]) und bedeutete ursprünglich ‚entfernt‘, dann ‚unbekannt, unvertraut‘.“ (ebd., S. 235, Hervorhebungen A. B.) Ergänzend sei hinzugefügt: „ahd. fram ‚vorwärts, fort‘; Ausgangsbedeutung also etwa ‚fort seiend‘ zu der in → vor, → fort usw. vorliegenden Wurzel. Dann auch allgemein ‚außerhalb der gewohnten Umgebung‘ […]“. (Kluge. Etymologisches Wörterbuch der deutschen Sprache, bearb. von Elmar Seebold, 24., durchgesehene und erw. Auflage, Berlin, New York: de Gruyter, 2002, S. 315; Hervorhebung A. B.) 18 Mitterbauer, Helga: Dynamik – Netzwerk – Macht. Kulturelle Transfers „am besonderen Beispiel“ der Wiener Moderne, in: Mitterbauer/Scherke (Hg.): Ent-grenzte Räume, S. 109– 130, hier S. 110.
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von der Vorstellung mehrerer, differenzierbarer Kulturen aus. Schon unsere Rede von Kulturen impliziert diese Vorstellung. Und wir sind aus heuristischen Gründen darauf angewiesen. Diese Vorstellung liegt auch dem Begriff der ‚Interkulturalität‘ zugrunde: Inter-Aktionen können nur zwischen mindestens zwei Größen stattfinden. Sie müssen nur nicht zwingend, wie Wolfgang Welsch unterstellte, als „eigenständige und damit […] getrennte Entitäten“ konzeptualisiert werden.19 In mehreren Aufsätzen unterscheidet Wolfgang Welsch Multi-, Inter- und Transkulturalität genau voneinander und kontrastiert sie mit dem traditionellen Kulturbegriff, der auf Herder zurückgehe (Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit, 1782–1791). Herder meint mit Kultur Volkskultur, die sich durch eine soziale und ethnisch konsolidierte Homogenität nach innen und durch Abgrenzung nach außen auszeichnet (Kultur als Entität bzw. Kugelsystem). Herders ursprünglicher dehierarchisierender Ansatz, mit dem er die Selbstberechtigung ‚jeder‘ Kultur und ihre Eigenständigkeit herauszustellen suchte, erweist sich als gefährlich, denn sein in der Vorstellung ethnischer Reinheit fußender Kulturbegriff zeigt sich uns in Form verschiedenster Rassismen und Separatismen in der Geschichte und noch heute. Dabei ist die ethnische Konsolidiertheit der herderschen ‚Volkskultur‘ längst als Fiktion desavouiert – seit Benedict Andersons Studie Imagined Communities. Reflections on the Origin and Spread of Nationalism20, die die narrativ-diskursive Konstitution von Begriffen wie ‚Nation‘ oder ‚Volk‘ überzeugend darlegt. Während Welschs Kritik hier schlagend ist, ist sein Interkulturalitätsverständnis deutlich zu stark von der Idee des Kulturkonflikts geprägt. Das Konzept ‚Interkulturalität‘ mache „nicht einmal den Versuch, die traditionelle Kulturvorstellung [nach Herder] zu überwinden, sondern will sie bloß ergänzen, um die problematischen Folgen aufzufangen. Es reagiert auf den Umstand, daß die Kugelverfassung der Kulturen notwendig zu interkulturellen Konflikten führt“, und sei „bloß kosmetisch“21. Die Crux des Kugelkonzepts sei, dass Kulturen, die „im Stil von Kugeln verstanden sind, einander abstoßen und bekämpfen müssen“22. Das ist eine Radikalisierung der Formulierung bei Herder, bei dem die Kulturen als ‚Kugeln‘ einander nur „stoßen“23. Wenn Welsch diese Stelle bei Herder als „Geburtsstätte des Theorems vom ‚clash of civilizations‘“ bei Samuel Huntington ansehen möchte,24 so liegt das wohl eher an der Radikali19 So Heinz Antors Kritik an Welsch (Antor, Heinz: Multikulturalismus, Interkulturalität und Transkulturalität. Perspektiven für interdisziplinäre Forschung und Lehre, in: ders. (Hg.): Inter- und Transkulturelle Studien. Theoretische Grundlagen und interdisziplinäre Praxis, Heidelberg: Winter, 2006 (Anglistische Forschungen 362), S. 25–39, hier S. 27 f. 20 Anderson, Benedict: Imagined Communities. Reflections on the Origin and Spread of Nationalism, London: Verso, 1983. 21 Welsch, Wolfgang: Transkulturalität. Zur veränderten Verfasstheit heutiger Kulturen, in: Institut für Auslandsbeziehungen (Hg.): Migration und kultureller Wandel. Themenheft der Zeitschrift für Kulturaustausch 45/1 (1995), S. 39–44, hier S. 39 f. 22 Welsch: Transkulturalität, S. 39 f. 23 Herder, Johann Gottfried: Auch eine Philosophie der Geschichte zur Bildung der Menschheit [1774], Frankfurt/M.: Suhrkamp, 1967, S. 47. 24 Welsch, Wolfgang: Was ist eigentlich Transkulturalität? [2009], www2.uni-jena.de/welsch/ tk-1.pdf (08.03.2013), S. 3, auch in: Darowska, Lucyna/Lüttenberg, Thomas/Machold, Clau-
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sierung dieser Stelle durch Welsch: ‚einander stoßen‘ ist weit weniger konfliktuell als ‚einander abstoßen‘ und gar ‚einander bekämpfen‘. Welsch evoziert, wie dann auch Huntington, etwas mutwillig, dass die Sphären unterschiedlicher Kulturen nach diesem Modell nur in Konflikt miteinander geraten können. Wie Huntington hat er dabei übrigens eine einseitige Vorstellung von Konflikten. In einer der m. E. produktivsten Kritiken an Huntingtons clash of civilizations hat Heinz Hartmann 1995 zu Recht darauf hingewiesen, dass Huntington einen verengten Konfliktbegriff zugrunde legt, einen immer ‚kriegerisch‘ gedachten mit Siegern und Verlierern. Hartmann erinnert daran, dass bereits Georg Simmel (und nach ihm Emile Durkheim u. a.) zwischen dem „destruktiven Konflikt“ und dem „konstruktiven Konflikt“ unterschied, wobei letzterer Lern- und Kohärenzprozesse, auch Befreiungsprozesse in Gang setzen könne. Simmel sah den Konflikt als Wechselwirkung zwischen Individuen und dies wiederum als Voraussetzung für die Ausbildung von Sozialität.25 Welsch macht ‚Interkulturalität‘ zum Popanz, um dagegen um so deutlicher sein eigenes Konzept der Transkulturalität profilieren zu können – und übersieht, dass wir auch da, wo wir, Welsch sehr wohl folgend, komplexe transkulturelle Hybridisierungsprozesse, Mischungen analysieren, von mindestens zwei differenzierbaren Größen ausgehen müssen. Es kommt darauf an, entlang welcher Linien differenziert wird – entlang sprachlicher, sozialer, territorialer etc. So berechtigt Welschs Transkulturalitätskonzept ist, es blendet die historische Dimension und die Koexistenz verschiedener Kulturmodelle zu sehr ab. So wie es einerseits immer schon Hybridisierungsprozesse gab (und nicht nur heute), so gab und gibt es die Vorstellung von Kulturen als eigenständigen, voneinander getrennten Einheiten, die nach innen homogen sein sollen und nach außen abzugrenzen sind. In unseren Analysen interkultureller Vernetzungen ist es sinnvoll, von einem offenen, dynamischen Kulturbegriff auszugehen. Doch die Untersuchungsgegenstände und die Vorstellungen der in interkulturellen Prozessen Agierenden sind darauf zu prüfen, welcher Kulturbegriff dort jeweils zugrundeliegt. Es ist in der Wissenschaft gang und gäbe, Begriffe mit Blick auf das jeweils leitende Erkenntnisinteresse zu adaptieren. Es geht mir nicht darum, vermeintlich ‚korrekte‘ Definitionen vorzulegen, sondern darum, darzulegen, dass solche Adaptionen nicht 1:1 erfolgen, dass sie Blindstellen und Verblendung verursachen können – insbesondere was die impliziten ursprünglichen Bedeutungen betrifft, die mit dem Begriff weiterhin verbunden sind und mittransportiert werden. Ich möchte an die Positionalität erinnern, die uns einen Begriff in einem bestimmten Sinne verwenden lässt, die unsere Wahl sowie unsere Bearbeitung der Untersuchungsgegenstände bestimmt – nämlich unsere kulturellen und disziplinären dia (Hg.): Hochschule als transkultureller Raum? Kultur, Bildung und Differenz in der Universität, Bielefeld: transcript, 2010 (Kultur und soziale Praxis), S. 39–66. 25 Hartmann, Heinz: Clash of Cultures. When and Where? Critical Comments on a New Theory of Conflict – and its Translation into German, in: International Sociology 10/2 (Juni 1995), S. 115–125; Simmel, Georg: Der Streit [1908], in: ders.: Gesamtausgabe, Bd. 11: Soziologie. Untersuchungen über die Formen der Vergesellschaftung, hg. von Otthein Rammstedt, Frankfurt/M.: Suhrkamp, 1992, S. 186–255.
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Gebundenheiten. Und schließlich wissen wir, dass wir Begriffe, deren Problematik wir ausgeleuchtet haben, beibehalten, wenn sie heuristisch unverzichtbar sind – wie z. B. bei ‚Kulturen‘. 4. BEISPIELE Ich möchte mit konkreten Beispielen schließen, um einige mir wichtige Punkte zu verdeutlichen. Die Opposition ‚Okzident‘ versus ‚Orient‘ ist zutiefst eurozentristisch.26 Denn ‚Orient‘ ist keine Selbstbezeichnung, sondern ein europäischer Begriff für Weltgegenden, die, vom ‚Okzident‘ aus gesehen, östlich „in oriente sōle ‚in Richtung der aufgehenden Sonne‘“ liegen.27 Der ethnozentrischen Selbstbezeichnung Europas für den ‚eigenen‘ Kulturraum steht die Fremdbezeichnung für den davon abgegrenzten ‚anderen‘ Kulturraum gegenüber. Per Bezeichnung wird Differenz arretiert. Zugrunde liegt das Modell von Kulturen als geschlossenen Einheiten. Ausgerechnet derjenige, dem dieses Modell zugeschrieben wird, Johann Gottfried Herder,28 sollte beim jungen Johann Wolfgang Goethe eine wichtige interkulturelle Mittlerfunktion einnehmen. Unter Herders Anleitung lernte Goethe die Bibel nicht nur als Glaubensbuch im eigenkulturellen, europäischen Kontext zu sehen, sondern als „hebräische“, ‚orientalische‘ „Dichtkunst“, rückversetzt in ihren kulturellen Herkunftskontext.29 Begeistert übersetzte Goethe das Hohelied.30 Als ihm 26 Dazu Bosse, Anke: Orientalismus und Komparatistik, in: Hölter, Achim/Zymner, Rüdiger (Hg.): Handbuch Komparatistik. Theorien, Arbeitsfelder, Wissenspraxis, Stuttgart: Metzler, 2013, S. 193–196. 27 Kluge, S. 670. 28 Vgl. Anm. 18. Vgl. zur Schlüsselstellung, die Herder in der Rezeption der orientalischen Kultur in Deutschland einnahm: Stemmrich-Köhler, Barbara: Zur Funktion der orientalischen Poesie bei Goethe, Herder, Hegel: exotische Klassik und ästhetische Systematik in den „Noten und Abhandlungen zu besserem Verständnis des West-östlichen Divans“ Goethes, in Frühschriften Herders und in Hegels Vorlesungen zur Ästhetik, Frankfurt/M. [u. a.]: Lang, 1992, S. 48. 29 Goethe, Johann Wolfgang von: Sämtliche Werke. Briefe, Tagebücher und Gespräche, 40 Bde., hg. v. Dieter Borchmeyer [u. a.], Frankfurt/M.: Deutscher Klassiker-Verlag, 1985– 1999, hier Abt. 1, Bd. 14: Sämtliche Werke. Aus meinem Leben, Dichtung und Wahrheit, 2005. Die Frankfurter Goethe-Ausgabe wird zukünftig mit der Sigle FA zitiert – die Abteilung mit römischer Ziffer, der Band mit arabischer, dann folgend die Seitenzahlen. Hier also: FA I 14, 438, 445. – Goethe erwähnt in diesem Zusammenhang ganz richtig den englischen Theologen Robert Lowth (1711–1787), der in seinen Praelectiones academicae de poesia sacra Hebraeorom (1753) den poetischen Charakter der Bibel als unerreichbar darstellte und die Bibelwissenschaften revolutionierte. Herder folgte diesen Überlegungen kritisch in Vom Geist der Ebräischen Poesie (1782–83), antizipierte sie aber auch schon in Älteste Urkunde des Menschengeschlechts (1774–76). Dazu Stemmrich-Köhler: Zur Funktion der orientatlischen Poesie, S. 46–84, sowie Bosse, Anke: „Meine Schatzkammer füllt sich täglich …“. Die Nachlaßstücke zu Goethes ‚West-östlichem Divan‘. Dokumentation – Kommentar, 2 Bde., Göttingen: Wallstein, 1999, hier Bd. 1, S. 63–65. 30 FA I 12, S. 364–370.
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Herder auch noch den Koran als ‚orientalische‘ Dichtung nahebrachte, übertrug Goethe, da er kein Arabisch konnte, auf der Basis einer lateinischen Koran-Übersetzung ein paar Suren ins Deutsche31 – eine Übersetzung zweiter Hand, die mehrere sprachlich-kulturelle Relaisstationen durchläuft. Zwei heilige, vermeintlich unantastbare Schriften werden umperspektiviert zu ‚orientalischer‘ Poesie. Im gemeinsamen Kreuzungspunkt ‚Poesie‘ schwindet die Differenz, es schwindet zugleich gegenüber dem ‚Fremden‘, dem Koran, die irritierende Distanz, und das vermeintlich Vertraute, die Bibel, wird zu einem ‚Fremden‘.32 Wie in solchen Doppelbewegungen Kulturen für einander durchlässig werden, das hat Goethe in seinem West-östlichen Divan meisterlich demonstriert. Im Mai 1814 erhielt Goethe von seinem Verleger Cotta eine Neuerscheinung seines Verlags, den Diwan des Mohammed Schemsed-din Hafis. Der Wiener Orientalist Joseph von Hammer hatte ihn erstmals vollständig vom Persischen ins Deutsche übersetzt33 – eine Pioniertat, die sich der Ausbildung an der Kaiserlichköniglichen Akademie für Orientalische Sprachen in Wien und den intensiven Verbindungen Österreichs zum Osmanischen Reich verdankte.34 Nicht umsonst zog Hammer „türkische Comentare zu Rath, Schemii, Sururi und Sudi“35 – und dies hinterließ türkisierende Spuren in seiner Übersetzung aus dem Neupersischen, das seinerseits aus Persisch und Arabisch gemischt ist. Auf Goethe jedenfalls wirkten die ins Deutsche übersetzten Gedichte des Ḥāfiẓ, eines persischen Dichters des 14. Jahrhunderts, so „lebhaft“ ein, dass er bekannte:
31 Bereits 1772 entnahm Goethe Teile einiger Suren aus David Friedrich Megerlins deutscher Koran-Übersetzung und formulierte sie leicht um. Ihnen fügte er Teilübersetzungen der 6. und 10. Sure nach der lateinischen Koran-Übertragung des Ludovicus Maraccius von 1698 hinzu (FA I 12, 361–364). Dazu Bosse: „Meine Schatzkammer“, Bd. 1, S. 63–65, sowie Mommsen, Katharina: Goethe und die arabische Welt, Frankfurt/M.: Insel, 1988, S. 157–238. 32 FA I 12, S. 371 f. 33 Ḥāfiẓ: Der Diwan von Mohammed Schemsed-din Hafis, aus dem Persischen zum erstenmal ganz übersetzt von Joseph v. Hammer, 2 Bde., Stuttgart, Tübingen: Cotta, 1812–1813, Repr. Hildesheim, New York: Olms, 1973. 34 Die Voraussetzungen waren in Österreich denkbar günstiger als etwa in Deutschland (Mangold, Sabine: Eine „weltbürgerliche Wissenschaft“ – die deutsche Orientalistik im 19. Jahrhundert, Stuttgart: Steiner, 2004 (Pallas Athene: Beiträge zur Universitäts- und Wirtschaftsgeschichte 11), S. 44 f., 54, 123–127). In Wien war durch die zunächst kriegerischen, dann seit Ende des 17. Jahrhunderts diplomatischen Kontakte zum Osmanischen Reich nicht nur eine Möglichkeit geschaffen, relativ direkt an originale orientalische Literatur zu kommen. Vielmehr erwachte mit Maria Theresias Gründung der Kaiserlich-königlichen Akademie für Orientalische Sprachen 1754, die für die Kontakte zum Osmanischen Reich sogenannte ‚Sprachjünglinge‘ in der klassischen Sprachtrias Arabisch-Persisch-Türkisch ausbildete, das wissenschaftliche Interesse am Orient: Die Orientalistik konnte sich institutionalisieren. Hammer war einer der berühmtesten Absolventen dieser Akademie, dann ihr Mitarbeiter. Er avancierte so und über seine weitreichende Publikationstätigkeit zu Österreichs damals führendem Orientalisten. 35 Ḥāfiẓ: Der Diwan, S. IV.
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Anke Bosse […] ich mußte mich dagegen productiv verhalten, weil ich sonst vor der mächtigen Erscheinung nicht hätte bestehen können. […] Alles was dem Stoff und dem Sinne nach bey mir Ähnliches verwahrt und gehegt worden, that sich hervor […].36
Zwei Grundimpulse lassen sich identifizieren. Zunächst der dichterische Wettstreit. In Hammers Vorrede – eine jener paratextuellen Textsorten, über die interkulturelle Mittler37 entscheidenden Einfluss ausüben – wird Ḥāfiẓ vorgestellt als „das Wunder der Welt“, dessen „Worte […] übermenschliche Kraft“ hatten.38 Hammer zitiert hier Daulat-Šāhs taẓkireh, eine überaus einflussreiche persische Lyrik-Anthologie des 15. Jahrhunderts. Wenn Hammer nun Ḥāfiẓ mit Berufung auf die Autorität und ‚Authentizität‘ Daulat-Šāhs in höchsten Tönen preist, dann gewinnt er sich selbst als interkulturellem Mittler enormes Prestige – in Europa. Und er motiviert Goethe nicht nur zur Teilhabe an diesem Prestige, sondern auch zum dichterischen Wettstreit mit einem ganz Großen. Sich mit Ḥāfiẓ zu messen bedeutete für Goethe auch die Bestätigung eigener Größe. Zweiter Grundimpuls Goethes war die Entdeckung einer Ähnlichkeit – eine Differenz mildernde Wahrnehmung, die vom ‚Eigenen‘ im ‚Anderen‘ affiziert ist. Denn Ḥāfiẓ‘ Grundthemen Liebe, Wein und Gesang erinnerten Goethe an die eigenen lyrischen Anfänge, für die er sich wiederum von einem ‚Anderen‘ hatte inspirieren lassen, von der anakreontischen – also griechischen – Motiv-Trias Liebe, Wein, Gesang. Ich denke, dies gibt uns eine Ahnung nicht nur von den mehrdimensionalen, interkulturellen Vernetzungen, sondern auch von den Ermächtigungsstrategien, die hier am Werk sind. Es blieb nicht bei Ḥāfiẓ. Goethe begann mit intensiven, monatelangen Studien zur ‚orientalischen‘ Literatur und Kultur. Er erschloss sie sich durch die Lektüre hunderter Bücher, durch Übersetzungen, orientalistische Werke, Anthologien, Reiseberichte, Lexika, wissenschaftliche Artikel – in Deutsch, Latein, Englisch und Französisch, also erneut über mehrere sprachliche und kulturelle Relaisstationen.39 Angeregt von diesen höchst unterschiedlichen Texten, hat er in seinen Divan-
36 Tag- und Jahreshefte 1815, FA I 17, 259 f. 37 Hammer war nur einer von mehreren Orientalisten, die Goethe in der Divan-Zeit mit ihren Schriften und Ratschlägen zur Seite standen, so Heinrich Friedrich von Diez, Johann Gottfried Ludwig Kosegarten, Georg Wilhelm Lorsbach und Heinrich Eberhard Gottlob Paulus. Dass diese in ihren Urteilen nicht immer übereinstimmten, zwischen Hammer und Diez sogar ein öffentlicher Streit entbrannte, hat Goethe genug Anlass geboten, sich in der Relativität von Darstellungen und Urteilen zur orientalischen Literatur zu üben. Zum Hammer-DiezStreit: Mommsen, Katharina: Goethe und Diez. Quellenuntersuchungen zu Gedichten der Divan-Epoche, Berlin: Akademie-Verlag, 1961 (Sitzungsberichte der Deutschen Akademie der Wissenschaften zu Berlin, Klasse für Sprachen, Literatur und Kunst, 1961, Bd. 4). 38 Ḥāfiẓ: Der Diwan, S. XIV f. 39 Bosse: „Meine Schatzkammer“, S. 167–588.
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Gedichten mehrere intertextuelle und -kulturelle Verfahren angewandt:40 interkulturelle Vernetzung auf der Mikroebene des Gedichts.41 Ein Beispiel: Der umtriebige interkulturelle Mittler Hammer hat auch die Fundgruben des Orients42 herausgegeben, ein üppiges orientalistisches Sammelwerk. Auf die ersten 4 Bände setzte er als paratextuelles Titel-Motto: „Sag: Gottes ist der Orient, und Gottes ist der Occident;/ Er leitet, wen er will, den wahren Pfad./ Cor. II. Sure“.43 Auf dieser privilegierten Position hat das Motto eine maximale Wirkung auf den – westlichen – Leser. Ihm sollte die Markierung als Zitat eine wortgetreue Übersetzung suggerieren. Dem ist nicht so. Im Koran ist die Rede von „Osten“ und „Westen“ als Himmelsrichtungen,44 erst Hammer machte daraus „Orient“ und „Okzident“ und stülpte so einem arabo-islamischen Text eine eurozentrische Topografie über – und der westliche Leser folgt dieser Manipulation. Sie wird noch durch das einleitende „Sag“ verstärkt. Es fungiert als Aufforderung an den Leser, durch Sprechen dieses Surenverses an der Verbindung von Orient und Okzident und dem Glauben an göttliche Führung zu partizipieren. Für letzteres konnte sich Goethe nicht erwärmen, wohl aber für die Orient-OkzidentVerbindung, die er übernahm im folgenden Gedicht: Gottes ist der Orient! Gottes ist der Occident! Nord- und südliches Gelände Ruht im Frieden seiner Hände.45
Die aus dem Motto übernommenen ersten beiden Verse sind prägnant transformiert: Goethe lässt „Sag:“ weg, fügt Ausrufezeichen hinzu und konvertiert die Aufforderung zum affirmativen, emphatischen Ausruf. Dieser gewinnt durch den Wegfall des „und“ maximale Einprägsamkeit, denn so gelingt mit „Gottes ist der Orient/ Gottes ist der Occident“ ein perfekter syntaktischer Parallelismus – und so auch, entscheidend, ein semantischer: die emphatisierte Gleichheit von Orient und Okzident jenseits jeder Differenz. Den Verweis auf die 2. Sure streicht Goethe und damit den intertextuellen und -kulturellen Koran-Bezug. So wird ‚Gott‘ kulturell neutralisiert – je nach Leser kann er der jüdische, der christliche, der des Islam sein. Oder aber ein all-präsenter, der Welt immanenter Gott. Die Verse 3–4 lassen 40 Zur Einführung in die für den Divan eingesetzten intertextuellen und -kulturellen Verfahren Bosse: „Meine Schatzkammer“, S. 1102–1106. 41 Dazu ausführlich Bosse, Anke: „Gottes ist der Orient! Gottes ist der Occident!“ – und Abgesänge? Intertextualität – Interkulturalität, in: Bohnenkamp, Anne/Martínez, Matías (Hg.): Geistiger Handelsverkehr. Komparatistische Aspekte der Goethe-Zeit. Für Hendrik Birus zum 16. April 2008, Göttingen: Wallstein, 2008, S. 99–127. 42 Wie sich Goethes „imaginativer Orientalismus“ wesentlich durch Lektüre speiste, zeigt Birus, Hendrik: Goethes imaginativer Orientalismus, in: Jahrbuch des Freien deutschen Hochstifts 1992, S. 107–128. 43 Fundgruben des Orients, hg. von Joseph von Hammer-Purgstall, bearb. durch eine Gesellschaft von Liebhabern, 6 Bde., Wien: Anton Schmid, 1809–1818. 44 Dies zeigt ein Vergleich mit Rudi Parets Übersetzung 170 Jahre später: „Sag: Gott gehört der Osten und der Westen. Er führt, wen er will, auf einen geraden Weg.“ (Der Koran, Übersetzung von Rudi Paret, Stuttgart [u. a.]: Kohlhammer, 1979). 45 FA I 3.1, 15.
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auf diese pantheistische Gottesvorstellung schließen, die Goethe übrigens favorisierte und die hier weitere interkulturelle Bezüge einkreuzt:46 Vernetzung. „Nordund südliches Gelände/ Ruht im Frieden seiner Hände.“ Indem Goethe die OstWest-Fixierung des (koranischen) Prätexts sprengt und den Norden und Süden mit einbezieht, wird die weltimmanente Präsenz göttlichen Schutzes und Friedens universell. ‚Eigene‘ Verse werden mit ‚anderen‘ verbunden, die Differenz verwischt. Und so erfüllt sich auf kleinem Raum das Programm des West-östlichen Divans, Westliches mit Östlichem zu einem Dritten zu hybridisieren.47 Ich hoffe, deutlich gemacht haben zu können, dass intertextuelle und -kulturelle Bezüge zu komplex sind, um nach dem Modell ‚Transfer‘ erfasst werden zu können. Die eingangs skizzierte begriffliche Entwicklung von ‚Transfer‘ zu ‚Transferprozess‘ zu ‚Vernetzung‘ spiegelt diese Erkenntnis und wäre konsequent weiterzuführen. LITERATURVERZEICHNIS Anderson, Benedict: Imagined Communities. Reflections on the Origin and Spread of Nationalism, London: Verso, 1983. Antor, Heinz: Multikulturalismus, Interkulturalität und Transkulturalität. Perspektiven für interdisziplinäre Forschung und Lehre, in: ders. (Hg.): Inter- und Transkulturelle Studien. Theoretische Grundlagen und interdisziplinäre Praxis, Heidelberg: Winter, 2006 (Anglistische Forschungen 362), S. 25–39. Bhabha, Homi: Die Verortung der Kultur [1994], Tübingen: Stauffenburg, 22007 (Stauffenburg discussion 5). Birus, Hendrik: Goethes imaginativer Orientalismus, in: Jahrbuch des Freien deutschen Hochstifts 1992, S. 107–128. Bosse, Anke: „Meine Schatzkammer füllt sich täglich …“. Die Nachlaßstücke zu Goethes ‚Westöstlichem Divan‘. Dokumentation – Kommentar, 2 Bde., Göttingen: Wallstein, 1999. Bosse, Anke: „Gottes ist der Orient! Gottes ist der Occident!“ – und Abgesänge? Intertextualität – Interkulturalität, in: Bohnenkamp, Anne/Martinez, Matías (Hg.): Geistiger Handelsverkehr. Komparatistische Aspekte der Goethe-Zeit. Für Hendrik Birus zum 16. April 2008, Göttingen: Wallstein, 2008, S. 99–127. Bosse, Anke: Orientalismus und Komparatistik, in: Hölter, Achim/Zymner, Rüdiger (Hg.): Handbuch Komparatistik. Theorien, Arbeitsfelder, Wissenspraxis, Stuttgart: Metzler, 2013, S. 193– 196. Dahnke, Hans-Dietrich/Otto, Regine (Hg.): Goethe-Handbuch, Bd. 4: Personen, Sachen, Begriffe, 2 Bde., Stuttgart, Weimar: Metzler, 1998.
46 Zur Anschlussfähigkeit an pantheistische Vorstellungen schon des jungen Goethe, zur Verkreuzung mit dem Glauben an das menschliche Genie (insbesondere des Autors …) und zu Goethes ‚skeptisch beweglichem‘ Verhältnis sowohl zum Judentum als auch zum Christentum und zum Islam: Dahnke, Hans-Dietrich/Otto, Regine (Hg.): Goethe-Handbuch, Bd. 4/1: Personen, Sachen, Begriffe A–K, Stuttgart, Weimar: Metzler, 1998, S. 165–175, 545 f., 581– 590, u. Bd. 4/2: Personen, Sachen, Begriffe L–Z, 1998, S. 828–831, 895–898. 47 Ähnlich dem Konzept Homi Bhabhas, wonach durch Hybridität ein „Raum da-zwischen“, ein „Dritte[r] Raum“ entsteht (Bhabha, Homi: Die Verortung der Kultur [1994], Tübingen: Stauffenburg, 22007 (Stauffenburg discussion 5), S. 58, 166).
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ÜBERSETZUNG UND TRILATERALER KULTURTRANSFER Deutsch-französische Konfigurationen am Beispiel der Rezeption persischer Dichtung Kambiz Djalali
1. DIE FUNKTION VON ÜBERSETZUNGEN IM KONTEXT EINES DREISEITIGEN KULTURTRANSFERS Bei der Auseinandersetzung mit französischen und deutschen Übersetzungen klassischer persischer Dichtung1 im deutsch-französischen Raum des 19. Jahrhunderts sind immer soziale und geistige Prozesse diesseits und jenseits des Rheins zu berücksichtigen. Hinsichtlich der vor allem durch Übersetzungen erzeugten Konstruktion des persischen Dichters Ferdowsi (940 oder 941–1020)2 als historischer Persönlichkeit kann festgehalten werden, dass der historische Ferdowsi von deutschen und französischen Übersetzern als eine überzeitliche Figur, als Inkarnation des Heldischen angesehen wurde. Vor dem Hintergrund einer immerwährenden europäischen Homer-Rezeption bot sich das Œuvre des Persers geradezu als Sujet für Orientalisten an, die sich für klassische persische Dichtung interessierten. Ähnliches kann man für Saadi (1190–1283 oder 1291), Hâfez (1320–1398) und Djâmi (1414–1492) feststellen. Historische Perspektiven auf das präislamische Iran, das Ferdowsis Werk mit seinem antiken Sagenstoff zur Verfügung stellte, waren für die Konstruktion einer iranischen Identität essentiell, die sich von einer arabischen unterscheidet. Poesie wird hierbei als eine Art Kanal wahrgenommen, durch den ein Leser einen Einblick in die iranische Geisteswelt gewinnen kann. Zweifelsohne kann 1
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Unter dem Begriff klassische persische Dichtung versteht man die iranischen Lyriker des Mittelalters, deren Werk von deutschsprachigen und französischen Orientalisten eingehend analysiert wurde und die im heutigen Iran noch populär sind. Viele Ausführungen des Beitrags gehen auf meine Dissertation Das Fremde ist dem Eigenen zu eigen – Die klassische persische Dichtung im deutsch-französischen Raum des 19. Jahrhunderts (Würzburg: Königshausen & Neumann, 2013, in Vorbereitung) zurück, der auch einzelne Passagen und Zitate entnommen sind. Seit langer Zeit wird das alte Köngisbuch des Dichters Ferdowsi als ein großes Werk der Weltliteratur angesehen. Dennoch ist es außerhalb des heutigen Iran einem breiteren Leserpublikum nur wenig bekannt. Vielleicht hängt dies zum Teil mit dem großen Umfang dieser Dichtung zusammen.
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diese Wahrnehmung in den geistesgeschichtlichen Kontext der sich insbesondere Anfang des 19. Jahrhunderts herausbildenden Konstruktion einer deutschen und französischen Nationalkultur eingeordnet werden. Orientalisten, die im deutschfranzösischen Raum biografische Skizzen klassischer persischer Dichter veröffentlichten, harmonisierten ihr Bild persischer Dichtung mit ihrer zeittypischen Weltanschauung, die durchgängig nationale bzw. auch nationalistische Charakteristika aufwies. Der zeitgenössische Betrachter mag diese Sichtweise paradox finden, aber die Orientalisten jener Zeit, die u. a. klassische persische Lyrik in ihre jeweilige Nationalsprache übertragen hatten, nahmen sie nicht als sonderlich widersprüchlich wahr. Sehr interessant muss es für sie gewesen sein, sich mit universalistisch konnotierbaren Sujets auseinanderzusetzen. Man gewinnt überdies den Eindruck, dass sie sich bei ihren umfangreichen Übertragungsarbeiten einer äußerst anspruchsvollen philologischen Herausforderung stellen wollten. Insbesondere beim Studieren von Ferdowsi, Saadi, Hâfez und Djâmi nahmen sie die Verse dieser Dichter als zur iranischen Nationaldichtung gehörig wahr. Bei der Betrachtung der Motivgeschichte klassischer persischer Dichtung lassen sich zwei unterschiedliche Traditionslinien unterscheiden: In den Werken Saadis, Djâmis und Hâfez’ fand man zum einen ein in persischer Sprache zum Ausdruck gebrachtes unorthodox islamisches Glaubensbekenntnis vor. Im Œuvre Ferdowsis konstruierte man zum anderen eine iranische Nationalidentität. Die nicht historisch gewachsene Herstellung von Nationalität mündete im deutsch-französischen Raum in ein dichotomisches Denken, das gerade dann als Bezugsgröße fungieren konnte, wenn intendiert wurde, die jeweils eigene deutsche oder französische Nationalliteratur begrifflich eindeutig zu fassen und von einer sogenannten Fremdkultur abzugrenzen. Zu Beginn ihrer Übersetzungswerke fertigten die Orientalisten immer biografische Einführungen in das Werk der einzelnen persischen Dichter an, um dem interessierten Leser einen leichteren Zugang zum jeweils übersetzten persischen Œuvre zu verschaffen. In ihren Werken findet man mehr oder weniger originalgetreue Übersetzungen des jeweiligen persischen Originals vor. Hâfez stieß hierbei im deutschsprachigen Raum auf ein viel stärkeres Echo als in der gehobenen Pariser Gesellschaft des 19. Jahrhunderts. Im Unterschied dazu motivierte Ferdowsi den deutsch-französischen Orientalisten Jules Mohl zur französischen Übersetzung von dessen umfangreichem Königsbuch. Diese Übertragungsarbeit inspirierte in Frankreich die Schaffung eigener Literatur in größerem Maße als in deutschen Landen. Rückert übertrug zwar das Buch der Könige oder den Schahname, aber eine Übersetzung regte kaum einen Deutschen zum Dichten und Fabulieren an. Dass Ferdowsis Werk gerade in Frankreich auf der Grundlage der französischen Mohl-Übersetzung viele Dichter zum Schreiben bewegte, liegt u. a. darin begründet, dass in Frankreich die Avesta- und Pahlavi-Studien3 vorangeschritten waren und Ferdowsi aufgrund seines Rückgriffs auf den alt- und mittel-
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Vgl. Tavakoli-Targhi, Mohamad: Refashioning Iran. Orientalism, Occidentalism and Historiography, New York: Palgrave, 2001, S. 21.
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persischen Sagenstoff, der im Altertum anzusiedeln ist, für die französischsprachige Poesie relevant wurde. Es gibt einen weiteren Grund, warum man aus orientalistischer Perspektive Werke klassischer persischer Dichtung analysierte: Deutsch- und französischsprachige Orientalisten rekonstruierten persische Dichtkunst im Sinne eines iranischen Nationalismus, wodurch zugleich eine jeweils deutsche bzw. französische Nationalkultur konstruiert wurde. Diese Konstruktionen standen im Einklang mit einer geistesgeschichtlichen Tendenz im Herzen Europas, die es der Idee des Nationalismus ermöglichte, ihren Einfluss auf viele andere Länder auszudehnen. Gewissermaßen konnte und kann nationalistisches Gedankengut auf diese Weise exportiert werden. Ferdowsis Königsbuch war geradezu prädestiniert, um im deutsch-französischen Sprachraum nationalistisch interpretiert zu werden. Wenn man sich vor Augen führt, dass sein iranisches Königsbuch4 die Vorstellung erzeugte, Worte arabischen Ursprungs in der eigenen persischen Lyrik deshalb weitgehend zu tilgen, weil dieses als fremdländisch empfundene Sprachgut nicht in das vermeintlich Eigene zu passen schien, so ist es möglich, ihn in ahistorischer Weise als iranischen Nationaldichter zu betrachten. Ein dichotomisches Denken konstituierte sich daher ohne größere Schwierigkeiten. Zudem interessierten sich die zumeist nationalistisch gesinnten Orientalisten für eine fremdsprachige Dichtung, die so anders als das Arabische war, welches als eine Art lingua franca der muslimisch geprägten arabischen Welt des Mittelalters betrachtet werden kann. Hierbei ist zu bedenken, dass die eigenständige klassische persische Dichtung einen wichtigen Beitrag zur definitiven Konsolidierung der persischen Sprache in der islamischen Welt leistete, die weitgehend vom arabischen Idiom dominiert wurde. Dieses geschah dergestalt, dass das Persische seine Autonomie in der muslimischen Welt bewahren konnte. Allerdings ist die persische Lyrik des Mittelalters in einer Zeit des direkten Austausches mit arabischen Sprachelementen entstanden. Durch die Konstruktion einer in erster Linie durch sprachliche Kategorien definierten jeweils deutschen und französischen Nationalkultur lag es auf der Hand, sich auch mit einem Idiom zu befassen, dessen Sprecher u. a. durch die Schaffung von Dichtung ihre von jeher gesprochene Sprache erfolgreich von der arabischen Dominanz zu emanzipieren verstanden hatten. Da die Intention vieler Orientalisten darin bestand, sich von der Theologie und damit vom Hebräischen, Altgriechischen und Lateinischen zu emanzipieren,5 konnte die tiefgreifende Analyse klassischer persischer Dichtung ein Indikator für den Prozess der Hervorhebung der 4 5
Vgl. Monchi-Zadeh, Davoud: Wörter aus Xurāsān und ihre Herkunft, Leiden: Brill, 1990 (Acta Iranica Série 3, Textes et mémoires 29). Als Beispiele für die Emanzipation der orientalischen Studien von der Theologie sei auf das Auftreten und Wirken der französischen Orientalisten Louis Langlès (1763–1824) und Antoine Isaac Silvestre de Sacy (1758–1832) und des österreichischen Diplomaten und Orientalisten Joseph von Hammer-Purgstall (1774–1856) hingewiesen. Langlès lehrte vor allem Persisch. De Sacy konzentrierte sich auf die Vermittlung des Arabischen. Joseph von Hammer-Purgstall übersetzte im damaligen Konstantinopel aus dem Persischen und beschäftigte sich im Laufe seines Lebens intensiv mit der Geschichte des Osmanischen Reiches.
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eigenen wissenschaftlichen Autonomie sein. Der Import von Versmaßen der klassischen persischen Lyrik im deutsch-französischen Raum des 19. Jahrhunderts sollte vor diesem Hintergrund betrachtet werden. Bedeutsam ist bei orientalistischen Arbeiten zum Persischen und über Dichter vom Stellenwert eines Ferdowsi, Djâmi, Saadi und Hâfez, dass sie im Vergleich zu Arbeiten der Klassischen Philologie eine andere Schwerpunktsetzung aufwiesen. Überdies hatten iranisierende Orientalisten aufgrund ihrer anderen Sujets die Möglichkeit, dadurch hervorzustechen und auf iranische Literatur aufmerksam zu machen. Als erstklassig eingestufte Werke klassischer persischer Dichtung einem interessierten deutschen und französischen Adressatenkreis zu vermitteln, konnte Orientkennern einen Zugang zu intellektuellen Elitekreisen diesseits und jenseits des Rheins verschaffen. Daher gelang es beispielsweise Orientalisten wie Joseph von Hammer-Purgstall und Jules Mohl, sich in diesen gesellschaftlichen Kreisen zu etablieren und zu wissenschaftlichem Prestige zu kommen.6 Vor allem ihre Arbeiten zum Persischen dienten als Inspirationsquelle für das lyrische Werk deutsch- und französischsprachiger Dichter. In diesem Zusammenhang liegt es nahe, sich u. a. schwerpunktmäßig mit solchen persischen Dichtern zu befassen (und deren Werk einem deutschen und französischen Rezeptionskreis zugänglich zu machen), die nicht nur in ihrem eigenen Sprachraum als in stilistischer und inhaltlicher Sicht erstklassig galten und bis zum heutigen Tage gelten. Unter der Bedingung eines positiv verlaufenen Transfers von als außerordentlich bedeutsam eingestufter Literatur aus einem anderen Kulturraum in den jeweils eigenen Sprachraum hatte ein erfolgreicher wissenschaftlicher Akteur gute Aussichten, in literarischen Wissenschaftsdisziplinen zu Ruhm und Ansehen zu gelangen. Denn traditionelle Forschungsfelder der Philologen lagen in der Literatur der griechisch-römischen Antike. Intendierte man, etwas Neuartiges in die Philologie zu importieren, dann brauchte man wissenschaftliche Themen, die noch weitgehend unerforscht geblieben waren. Auf großes Interesse stießen, wie schon die philologische Auseinandersetzung mit der griechisch-römischen Antike gezeigt hatte, in fremden Idiomen verfasste Geschichten, die vom Aufstieg und Fall von Individuen und als zu einer bestimmten Nation zugehörig angesehenen Völkerschaften handeln. Als solch eine Geschichte galt beispielsweise Ferdowsis Schahname.7 Dem europäischen Leser konnte sie einen intensiveren Eindruck von Ewigkeit vermitteln und nach Identifikation strebenden Menschen eine Orientierung als imaginäre Konstruktion anbieten, welche eine optimistische Sichtweise auf die eigene Zukunft ermöglichte. Mit ihren Arbeiten zur persischen Dichtung stellten iranisierende Orientalisten der Nachwelt eine literarische Stofffülle zur Disposition, die zur Konstruktion einer iranischen Literaturgeschichte herangezogen wer6
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Insbesondere die Herausgabe der orientalistischen Zeitschrift Fundgruben des Orients trug mit dazu bei, dass Joseph von Hammer-Purgstall eine der wichtigsten Figuren der deutschen Orientalistik wurde. Der Württemberger Jules Mohl war maßgeblich an der Publikation der wichtigen französischen Zeitschrift Journal asiatique beteiligt. Mohl, Jules: Le Livre des rois. Persisch-Französisch, Nachdruck der Originalausgabe, Paris: 1976; Rückert, Friedrich: Firdosi’s Königsbuch (Schahname), Berlin: Reimer, 1890–1894.
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den und letztlich als Orientierung zur begrifflichen Rahmensetzung der jeweils eigenen Nationalkultur fungieren konnte. Da die behandelten Orientalisten intendierten, sich von der geistigen Vorherrschaft der christlichen Theologie zu emanzipieren, befassten sie sich mit dem lyrischen Werk von Ferdowsi im Gegensatz zu Sprachkunstwerken aus der Feder von Saadi, Djâmi und Hâfez. Denn in deren Schaffen konnte ein Orientalist herausarbeiten, dass persische Dichter den Versuch unternahmen, einer einseitig ausgerichteten Arabisierung bzw. rein arabischen Islamisierung der persischen Sprache und Sagenwelt zu widerstehen. In diesem Kontext kann man festhalten, dass die dichterische Einverleibung iranischer Legenden und Helden ein probates Mittel dafür war, einer Einkleidung in ein semitisches oder mit koranischen und biblischen Figuren versehenes Gewand nicht nur wie bei Ferdowsi zu trotzen, sondern wie bei Hâfez, Djâmi und Saadi koranische und biblische Motive in die persische Sprache einzubauen. 2. DIE KULTURELLEN AUSWIRKUNGEN DES IMPORTS KLASSISCHER PERSISCHER DICHTUNG IM DEUTSCHFRANZÖSISCHEN SPRACHRAUM DES 19. JAHRHUNDERTS Die Beschäftigung mit der klassischen Poesie Ferdowsis hatte das Potenzial, eine Verbindungslinie zwischen einer zoroastrischen und islamischen Tradition im kulturellen Leben Persiens zu konstruieren. Mit diesem Zugriff konnten auch Bezüge zur Überlieferung der griechisch-römischen Antike erzeugt werden. Daher erschien das Andere gar nicht mehr so andersartig, sondern enthielt zahlreiche Anknüpfungspunkte für einen europäischen Leser, der beispielsweise in Ferdowsi einen persischen Homer herauszulesen vermochte. Als im Mittelalter wirkender Dichter blieb er darüber hinaus als einer der Repräsentanten des Persischen stets mit der islamischen und präislamischen Tradition verwoben. Das Verbindungselement zu beiden Überlieferungssträngen bildete die persische Sprache, die weiterhin gesprochen wurde und aus dem Arabischen Entlehnungen vornahm. Eine solche Entlehnung war das arabische Wort vatan, das so viel wie Vaterland und patrie heißt. Mögliche Referenzmomente konnte man auch bei anderen Dichtern der persischen Poesie antreffen. Nur mussten diese mit einer Identifikation mit dem persischen Dichter einhergehen. So glaubte Goethe in Hâfez und seiner Dichtung, die er lediglich aus der Hammer-Purgstall-Übersetzung kannte, einen Seelenverwandten wahrzunehmen. Somit war er der festen Überzeugung, dass der persische Dichter des Divans geistig mit ihm in enger Verbindung stand. Gewissermaßen hatte sich Goethe – wie andere am Morgenland interessierte Dichter und Gelehrte – im Laufe seiner Hafêz-Rezeption ein orientalisierendes Gewand umgehängt. Der Name Hafêz bedeutet im Übrigen soviel wie ,Derjenige, der den Koran auswendig kann‘. Im West-östlichen Divan zieht Goethe eine Parallele von Hâfez zu sich selbst, dem Abendländer, der analog zu Hâfez für sich in Anspruch nahm, den Bibelstoff zu beherrschen. Daneben gibt es eine ganze Reihe von Gedichten,
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in denen man den Eindruck gewinnt, dass Goethe ganz in die für ihn sich als orientalisch offenbarende Situation eintaucht und sich gewissermaßen als unorthodoxer lebensfroher Muslim zumindest als Angehöriger einer ihm fremden Offenbarungsreligion mit großer Bewunderung und Faszination für Hâfez verkleidet, den er aller Wahrscheinlichkeit nach im Original nicht gelesen hatte. Aus offenbarungsreligiöser Perspektive war Goethes Zuneigung für Hâfez in sich schlüssig und folgerichtig. Denn der Islam als zuletzt entstandene der drei großen vorderorientalischen Konfessionen nimmt explizit auf Judentum und Christentum Bezug und enthält selbst jüdisches, christliches und judenchristliches Überlieferungsgut, und zwar oft in eigentümlicher Verzerrung. Neben dem, was der pantheistische Goethe in seinen heiligen Schriften las, lagen nun auf einmal Varianten vor: Was er unverrückbar für dasselbe hielt, erscheint als etwas, das man auch anders hätte erzählen können. Fügt man dem noch hinzu, dass sich die Unterscheidung zwischen der wahren Offenbarungsreligion und der unwahren Mythologie auf die Vorstellung berief, dass die Mythologie in so vielen, oft einander widersprechenden Varianten erzählt wird, während die Offenbarungsreligion nur den einen feststehenden heiligen Text kennt, so wird deutlich, wozu die poetische Konversion zum Islam imstande sein kann: er vermittelt eine religiöse Welt, die komplex ist und nur schwerlich vereinfacht werden kann. Auch ein Perspektivenwechsel stellt sich ein. Von einem angenommenen islamischen Standpunkt aus können dann auch poetisch-mythologische Züge in das Christentum hineingetragen werden, womit sich der absolute Wahrheitsanspruch auch dieser Offenbarungsreligion zweifelsohne auf einen gemeinsamen Ursprung zurückführen lässt. Aus diesem Grunde gab es für Orientalisten, die sich mit klassischer persischer Dichtung auseinandergesetzt haben, nicht das Wort Gottes an sich, sondern – wenn überhaupt – nur ein ihm zugeschriebenes Wort.8 Diese stellten somit für die wissenschaftlichen Erkenntnisse der Theologie, die einen Absolutheitsanspruch in sich bargen, eine Konkurrenz dar. Durch die Behandlung religiöser Themen im Bereich des Islam wurde auf subtile, indirekte Weise die Ausnahmestellung christlicher Glaubenssätze aberkannt und auf weniger herausragende Positionen verwiesen, auf denen sie mit anderen überlieferten Glaubenssätzen leichter koexistieren können. Parallel zu dieser Entwicklung vollzog sich die Konstruktion der Gedanken einer seit jeher existierenden Nationalkultur. Diese Konstruktion ist im Falle Rückerts auch Ausdruck einer Unzufriedenheit bezüglich gegenwärtiger Zustände. Rückert war ein erklärter Gegner der napoleonischen Okkupation.
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Stellt man sich vor, dass es im Persischen zwei Wörter für den Begriff Gott gibt, nämlich das persische chodah und das aus dem Arabischen entlehnte Allah, so lässt diese mögliche Ausdrucksvariante für christlich geprägte Orientalisten den Schluss zu, dass es nicht das Wort Gottes sein muss, sondern auch ein Wort Gottes geben kann.
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3. ZUM KONSTRUKTIONSCHARAKTER DER DEFINITION EINER NATIONALKULTUR IM KONTEXT INTERKULTURELLER VERFLECHTUNGSSITUATIONEN Die jeweilige Betonung der kulturellen Eigenständigkeit, die Orientalisten mit anderen Intellektuellen durch Abgrenzung von anderen sogenannten Nationen konstruieren wollten, führte u. a. dazu, dass Kulturelemente als zum eigenen Kulturkreis zugehörig oder eben nicht zugehörig betrachtet wurden. Dieses Denken in bestimmten zeittypischen Dimensionen diente als Referenz bei der Definition von Forschungsthemen und bei der Selektion von Werken klassischer persischer Dichter. Das bedeutet, dass der Schwerpunkt der Analyse dieser Texte weniger auf der individuellen Würdigung der Übersetzungsarbeit der Orientalisten, die aus dem Persischen übersetzt haben, als auf der Betrachtung der Simultanität eines deutsch-französischen Prozesses im 19. Jahrhundert liegt, der zur Hybridisierung von Kulturen und zur Erfindung von nationalen Identitäten beitrug. Vor diesem Hintergrund schrieb man persischen Dichtern nationale Kategorien zu. Und aufgrund der Tatsache, dass eine Nationalkultur nahezu unmöglich begrifflich zu bestimmen ist, stellt das Werk von Orientalisten9 eher eine Projektionsfläche für eine zu schaffende Zukunft als eine feststellbare Realität dar. Aus diesem Grunde kann man die von Orientalisten übersetzten Werke klassischer persischer Poesie als homeless texts bezeichnen,10 die erst dann entweder in Frankreich oder in Deutschland heimisch werden konnten, wenn sie rezipiert und übersetzt wurden. Der Orientalist als Interpret von Versen klassischer persischer Dichter sah historisch bedingt diese Ausdrucksformen als zentrale Bestandteile der Kenntnisse einer Nationalkultur an, die freilich stets ein Konstrukt war und ist. Aus heutiger Perspektive würde man eher eine kosmopolitische Weltsicht vermuten wollen. Aber in der Tat stellte es sich zumeist etwas anders dar. Bei Friedrich Rückert erhärtete sich dieser Eindruck nicht. Eben seine orientalistischen Werke führen vor Augen, dass seine Forschung das Ziel verfolgte, einen entscheidenden Beitrag zur Schaffung einer deutschen Nationalkultur zu leisten.11 Der Begriff der culture nationale ist nicht nur ein französischer Identitätsbegriff, sondern wird in Frankreich auch vor allem bei der Analyse fremder Kulturen gebraucht. Als ein nationale Gemeinsamkeiten definierender Terminus kann er auch als ein Ausdruck angesehen werden, der die biologistischen Merkmale einer Rasse bestimmen könnte. Mit dieser Zugehörigkeit ging einher, dass grundlegende Charakteristika herausgearbeitet werden mussten, die nicht zwangsläufig mit den Merkmalen in Einklang standen, die man in Werken klassischer persischer Dichter erkannt hatte. Die meisten Orientalisten strebten in ihren wissenschaftlichen Arbeiten nicht in 9
Der Dichter, Orientalist und Nationalist Friedrich Rückert war der Auffassung, das persischarabische Versmaß ghazal in die deutsche Dichtung eingeführt zu haben. Die deutsche Ghazelen-Dichtung war in der Biedermeierzeit in Deutschland sehr beliebt. 10 Vgl. Tavakoli-Targhi: Refashioning Iran. 11 Vgl. Nöldeke, Theodor: Das iranische Nationalepos, in: Grundriss der iranischen Philologie, Berlin: De Gruyter, 21920, S. 130–211, und Massé, Henri: Firdousi et l’épopée nationale, Paris: Perrin, 1935.
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erster Linie danach, das Œuvre von Ferdowsi, Hâfez, Djâmi und Saadi so originalgetreu wie möglich wiederzugeben, sondern sie wollten zusätzlich einen Beitrag zur Konstruktion einer deutschen oder französischen Nationalidentität leisten. Die Genese dieser Form von Identität folgt ihrer zeittypischen Logik. Wollten Orientalisten wie Friedrich Rückert dazu beitragen, bei ihren Lesern ein nationales Zugehörigkeitsgefühl herzustellen, so mussten sie literarische Erzeugnisse vorrevolutionärer Gesellschaften rezipieren, untersuchen und im geistigen Kontext der eigenen Zeit neu deuten. Der Import persischer Poesie, den u. a. die deutsche und französische Orientalistik vornahm, trug nicht nur zur Konstruktion einer Nationalliteratur als Teil einer Nationalkultur bei, sondern führte auch zur Relativierung eigener ästhetischer Normen, die aus einer eigenen literarischen Tradition entstanden waren.12 Der Kulturtransfer zwischen dem imaginären Iran, Frankreich und Deutschland ist nicht nur trilateral, sondern fokussiert sich auch auf bilaterale deutschfranzösische Vermittlungsprozesse. Aufgrund der Tatsache, dass diese bilaterale Orientierung, die notwendigerweise die Komplexität interkultureller Beziehungen bei der Analyse von Wechselwirkungen des lyrischen Persiens mit dem deutschfranzösischen Sprachraum auf den Bereich der klassischen persischen Dichtung zurückführen musste, erschien aus heuristischen Gründen als sinnvoll. Durchgeführt wurden in diesem Kontext komparatistische Untersuchungen von interkulturellen Aneignungsformen von verdeutschten Sprachelementen und Bauprinzipien aus bedeutenden Werken klassischer persischer Dichtung. Insbesondere Spezifika dieser Sprachkunstwerke wurden hierbei betrachtet. Notwendig wurde diese Betrachtungsart aus einer komparatistischen Analyseperspektive. Bedeutsam war aus diesem Blickwinkel die vergleichende Auseinandersetzung mit enzyklopädischen Lexika, die in kulturell je spezifischer, von der Struktur nationaler Wissenskulturen geprägter Form Informationen über Persien diskursiv verarbeiten und vermitteln. Der Kulturtransfer setzte in der Regel unmittelbar nach der Rezeption von Versen klassischer persischer Dichter ein. Er ereignete sich zunächst auf der Grundlage von Übertragungen aus dem Persischen ins Französische und ins Deutsche. Sie geben in dreifacher Hinsicht Hinweise auf Eigenheiten trilateraler Kulturtransferprozesse zwischen dem zu jener Zeit als geistiges Persien fassbaren und dem deutsch-französischen Sprachraum des 19. Jahrhunderts. Die originalgetreueren und freien Übertragungen, deren kulturelle Dynamik durch Diskurskritik und Rekontextualisierung charakterisiert war, zeigten zunächst, dass im 17. und bis zum Ende des langen 19. Jahrhunderts Wissen über Persien und persische Dichtung in wesentlichen Teilen über Frankreich – das zusammen mit Großbritannien das wichtigste Vermittlerland in Europa für Wissen über persische Lyrik darstellte – nach Deutschland importiert wurde und somit einen zweifachen Prozess der Wissens- und Informationsselektion, der sprachlich-kulturellen Übersetzung und der interkulturellen Aneignung – u. a. in Kommentarformen, wie sie sich in Über12 Vgl. Mayer, Hans: Der Streit zwischen Heine und Platen, in: ders.: Außenseiter, Frankfurt/M.: Suhrkamp, 1981, S. 207–223.
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setzungskritiken zeigten – durchlief. Das vielleicht wichtigste persische Heldenepos, der Schahname, wurde nicht direkt, sondern im Wesentlichen über die französische Übersetzung des deutschsprachigen Jules Mohl als möglicher Stoff der französischen Literatur des 19. Jahrhunderts nach Frankreich eingeführt.13 Mit Ausnahme von Goethe und Heine erwarben deutsche Dichter autonom ihre Kenntnisse über die persische Literatur, Sprache und Kultur durch die Rezeption von Stoffen klassischer persischer Lyrik. Die meisten unter ihnen waren vermutlich nie aktiv des Persischen mächtig. Das bedeutet, dass nicht auf indirektem Wege, sondern auch auf direktem Wege Strukturelemente klassischer persischer Poesie in den europäischen und damit auch in den deutsch-französischen Raum transferiert wurden. 4. ÜBERSETZUNGEN ALS MEDIUM DES KULTURTRANSFERS Aus dem Dargelegten geht hervor, dass Übersetzungen ein zentrales Medium des Kulturtransfers zwischen Persien, Frankreich und Deutschland darstellen: die im vorliegenden Beitrag erwähnten Beispiele belegen jedoch, dass häufig weniger Ganztextübersetzungen aus dem Persischen als Transpositionen von homeless texts von Bedeutung waren. Bei der Untersuchung von Kulturtransferprozessen wurde auch die Relevanz der Analyse von Periodika deutlich. Der Kulturtransfer entwickelt sich in diesem Zusammenhang nicht so sehr anhand von Übersetzungen, sondern in der produktiven Aneignung persisch-arabischer Poesieformen. Er vollzieht sich darüber hinaus in Diskursen über klassische persische Dichtung und in Praktiken des Erwerbs des Persischen, das, wie erwähnt, eher passiv als aktiv beherrscht wurde. Die produktive Aneignung und zugleich kritische Aneignung von persisch-arabischen Metra zeigt sich beispielsweise in der Saadi- und Hâfez-Übersetzung des deutschen Dichtergelehrten Friedrich Rückert, in Formen der Kontextualisierung vor dem Hintergrund der deutschen Öffentlichkeit, in Formen der Selektion und kreativen Neustrukturierung und schließlich in Formen der kritischen Distanznahme, wie sie Heine und Immermann bezüglich der deutschen Ghaselendichtung in der Auseinandersetzung mit dem Grafen Platen zum Ausdruck gebracht haben.14 Aus quellenkritischer Sicht muss an dieser Stelle betont werden, dass britische und französische Orientalisten im Vergleich zu deutschen Orientkennern hinsichtlich des Persischen über einen erheblichen Wissensvorsprung verfügten, da sie seit der Epoche des europäischen Kolonialismus und des Imperialismus im persischsprachigen Kulturraum direkt und indirekt präsent waren. In Vorworten zu Übersetzungen und in Übertragungen selbst wird auf mehrere Strukturelemente hingewiesen, welche die Dynamik von trilateralen Kulturtransferprozessen zwischen dem geistigen Persien, Frankreich und Deutschland auch im Medium der 13 Vgl. Hadidi, Djavâd: Firdowsy dans la littérature française, in: Revue de littérature comparée 49/3 (juillet 1975), S. 364–372. 14 Vgl. Mayer: Der Streit zwischen Heine und Platen.
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Übersetzung charakterisieren.15 Diese mussten nicht nur kontextualisiert werden, sondern führten auch zu geschichtswissenschaftlicher Quellenkritik und zur kulturkritischen Distanznahme und Formulierung eines eigenen Diskurses. Letzterer kommt in paratextuellen Elementen wie Fußnoten, Kommentaren und Übersetzungskritiken zum Ausdruck, die allerdings in sich keinen autonomen Diskurs darstellen. Nach der Analyse und Charakterisierung feinmaschiger Vernetzungsformen innerhalb von Kulturräumen, die sich erst um 1800 als nationale Räume voneinander abzugrenzen begannen, kann man festhalten, dass diese durch Mechanismen der Begegnung und der Differenzierung konstruiert worden sind. In diesem Kontext fingen auch Orientalisten diesseits und jenseits des Rheins an, sich als deutsche oder französische Orientalisten zu betrachten.16 Dieser Aspekt wirkt auf den ersten Blick recht widersprüchlich. Ebenso wie Gelehrte und Dichter des Aufklärungszeitalters konnten Stoffe der klassischen persischen Dichtung es ihren Rezipienten ermöglichen, in ihren wissenschaftlichen und literarischen Werken zwar den universellen Charakter der menschlichen Vernunft zu betonen, aber diesem gleichzeitig ein nationales Charakteristikum zuzuschreiben.17 Auch eine wissenschaftsnationalistische Haltung etablierte sich in der deutschen und französischen Orientalistik des 19. Jahrhunderts.18 Darüber hinaus weisen u. a. Spezialisten 15 Der Württemberger Jules Mohl (1800–1876), der in Tübingen protestantische Theologie studiert hatte, ging mit einem Stipendium seiner Landesregierung zu Silvestre de Sacy nach Paris, um später eine Professur zu erhalten. Er konnte tatsächlich in Paris bleiben und erhielt eine Professur für Persisch am Collège de France. Der deutsche Orientalist Heinrich Leberecht Fleischer, ein weiterer de-Sacy-Schüler, kehrte nach seinem Studium der orientalischen Sprachen in Paris nach Sachsen zurück und erhielt in Dresden einen Lehrstuhl. Zu jener Zeit wie auch heute gehörte das Übersetzen aus dem Persischen und Arabischen zur philologischen Ausbildung eines Orientalisten. Weitere spätere Professoren, die Schüler von Silvestre de Sacy waren, sind Johann Gottfried Kosegarten und Johann August Vullers (1803–1880). 16 In Paris hatten Silvestre de Sacy, der Deutsche Heinrich Julius Klaprot (1783–1835), der Sinologe und Bibliothekar der Königlichen Bibliothek Jean-Pierre Abel Rémusat (1788– 1832) und andere französische Orientalisten bereits 1821 die französische Société asiatique ins Leben gerufen, die seit 1823 auch eine eigene Zeitschrift, das Journal asiatique, zur Publikation wissenschaftlicher Abhandlungen ihrer zumeist französischen Mitglieder herausgab. In Deutschland fehlte aber zu jener Zeit eine vergleichbare Gesellschaft. So kam es, dass am 2. Oktober 1845 die Deutsche Morgenländische Gesellschaft in Darmstadt gegründet wurde. Ihre gleichnamige Zeitschrift publizierte Forschungsergebnisse deutscher Orientalisten. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts verfasste der deutsche Dichter und Orientalist Friedrich Rückert eine vernichtende Kritik des französischen Livre des Rois des Württembergers Jules Mohl und Professors am Collège de France. Vgl. Rückert, Friedrich: Bemerkungen zu Mohl’s Ausgabe des Firdusi, in: Zeitschrift der Deutschen Morgenländischen Gesellschaft 8 (1854), S. 239–329, und 10 (1856), S. 127–282. 17 Vgl. Wiener, Claudia: Friedrich Rückerts „De idea philologicae“ als dichtungstheoretische Schrift und Lebensprogramm, Schweinfurt: Schweinfurter Stadtarchiv, 1994. In dieser in lateinischer Sprache verfassten Dissertation strebte Rückert u. a. wohl vergebens danach, eine deutsche Ursprache zu finden. Zudem war Rückert aus nationalistischen Gründen frankophob. 18 Fragt man sich, warum Persisches bzw. Iranisches in Form einer ausführlichen Darstellung des Livre des Rois in einer Zeitschrift Berücksichtigung fand, die es sich zur Aufgabe ge-
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der persischen Dichtung einen vornehmlich trilateralen Lebensweg auf.19 Die Betrachtung der Biografien von Orientalisten wie Hammer-Purgstall und Mohl zeigt eindeutig den Konstruktionscharakter einer Nationalhistoriografie. Hierbei wird stets ein sich als Orientalist und/oder Dichter empfindendes Ich oder Subjekt dem Fremden gegenübergestellt. Diese Gegenüberstellung wurde gemäß des Grads der Unterscheidung beider Gesichtspunkte vorgenommen. Um diesen graduellen Unterschied zur Abgrenzung verwenden zu können, musste das Andere als grundverschieden vom Eigenen betrachtet werden. Ob dies den tatsächlichen Verhältnissen entsprach, blieb unberücksichtigt. Dieser Sachverhalt ist ein Indiz für die Modalitäten eines Negativums, bei dem es sinnvoll zu sein schien, seine Darstellungsweise zu charakterisieren. Spricht man vom Iranischen oder Persischen, vom Deutschen und Französischen, kann man die Spiegelmetapher verwenden. Bei ihr handelt es sich um einen Funktionsmechanismus, der nicht nur Differenzen produziert, sondern auch kulturelle Heterogenität zu konstruieren vermag. Auch bezeichnet er ein Interaktionsgeflecht, das nach der Logik der Analogie strukturiert ist. Ebenso wie man vermutete, dass eine deutsche und französische Kultur existiert habe und zum Teil noch vorhanden sei, machte man u. a. in der klassischen persischen Dichtung Kennzeichen der iranischen Nation aus. Diese Vorstellung, die sich zu einem dezidierten Nationalismus entwickeln konnte, impliziert zugleich Merkmale einer Säkularisierung, einer partiellen Lösung vom rein arabischen Islam. Daher muss die Betrachtung der Rezeption klassischer persischer Dichtung im deutsch-französischen Raum trilateral sein. 6. TRILATERALER KULTURTRANSFER UND KULTURELLE MISCHFORMEN Die Analyse trilateraler Vermittlungsprozesse im deutschen und französischen Diskurs dient dazu, das Forschungsfeld auf weitere Partner auszudehnen. Dieses führte folgerichtig zur Betrachtung kultureller Mischformen, die aus der französisch-deutschen Beschäftigung mit klassischer persischer Lyrik entstanden waren. macht hatte, die Konstruktion und Entwicklung von Konzepten einer National- und Fremdsprachenliteratur zu beobachten, so stellt man zunächst fest, dass die Vermittlung persischer Kultur nicht nur durch literarhistorische Essais oder in den Vorworten von Übersetzungen, sondern auch durch die Zeitschrift Revue des Deux Mondes erfolgte. Vgl. Ampère, JeanJacques: Le Shah-Nameh, in: Revue des deux Mondes quatrième série, tome 19 (juillet–septembre 1839), S. 441–469 und S. 624–648; und ders.: Les Antiquités de la Perse, in: ders.: La Science et les Lettres en Orient, Paris: Didier, 1865, S. 150–182. Es ging nicht nur darum, das Fremde zu erforschen, sondern das Eigene in Abgrenzung zum Fremden hervorzuheben. 19 Betrachtet man beispielsweise die Werdegänge des deutsch-französischen Orientalisten Jules Mohl und des Österreichers Joseph von Hammer-Purgstall, so spielen immer mindestens drei Kulturräume in ihren Werken eine entscheidende Rolle: Bei Mohl sind es seine württembergische Heimat, sein Pariser Lehrstuhl und seine lebenslange Auseinandersetzung mit dem Persischen. Bei Hammer-Purgstall, dem Diplomaten im Dienste der Habsburger an der Hohen Pforte, ist in diesem Zusammenhang seine Auseinandersetzung mit dem Persischen und der Kultur und Sprache des Osmanischen Reiches seiner Zeit von großer Wichtigkeit.
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Die Transferforschung privilegiert die Untersuchung von Passagen und Wechselwirkungen etwa zwischen französischer und deutscher Kultur. Führt man sich die Genese von Übertragungen und Adaptationen von persischen Sprachelementen vor Augen, welche Werken bedeutender iranischer Dichter entnommen sind, dann erkennt man, welche entscheidende Rolle die Rezeptionskultur gespielt hat. In diesem Kontext lebten und wirkten Orientalisten wie Jules Mohl in Frankreich, die Repräsentanten eines ,deutschen‘ Bestandteils in der sich konstituierenden französischen Orientalistik darstellten. Ebenso waren Philologen als Orientalisten tätig, die als Schüler de Sacys20 als Repräsentanten eines ,französischen‘ Bestandteils in der sich von der Theologie lösenden deutschen Orientalistik betrachtet werden können. Darüber hinaus muss noch das dichterische und orientalistische Werk von Friedrich Rückert Berücksichtigung finden, der als Sprachgenie nicht nur imstande war, deutsche Übertragungen aus dem Persischen vorzulegen, sondern u. a. auch aus dem Arabischen ins Deutsche übersetzte. Im Vergleich zu Jules Mohl und zu deutschen Orientalisten der Pariser Orientalistenschule reiste Rückert aus studientechnischen Gründen nicht ins Ausland, um beispielsweise in den Nahen Osten zu gelangen. Als nationalistisch denkender Poet und vor allem als deutscher Orientalist war für ihn die sogenannte Bildungsreise belanglos. Zudem war er frankophob und ein erklärter Feind Napoleons. Überdies hatte er es sich zum Ziel gesetzt, einen wichtigen Beitrag zur Schaffung einer deutschen Nationalliteratur zu leisten. Er trachtete aus diesem Grunde danach, u. a. im Persischen das Eigene im Fremden aufzufinden. Somit erledigte sich ein Auslandsaufenthalt zu orientalistischen Studienzwecken. Dies wirkt aus heutiger Sicht paradox. Damals nahm kaum jemand an dieser Betrachtungsweise Anstoß. Wozu Land und Leute Persiens erkunden, wenn man der Überzeugung war, mit Hilfe des Fremden das Eigene ausfindig machen zu können? Die Antwort auf diese Frage war wahrscheinlich für Rückert offensichtlich. Zur Schaffung einer deutschen Nationalliteratur war es nicht erforderlich, in die Länder zu reisen, aus denen die sprachlichen Originale für seine Übersetzungen nach Europa transportiert worden waren. In diesem Kontext kam Frankreich überdies als Land für ein Studium deshalb nicht in Betracht, weil die deutsche Kultur, zu der sich Rückert zugehörig fühlte, in Abgrenzung zum französischen Modell von 1750 an Gestalt anzunehmen begann. Teil dieser Genese war das Bedürfnis nach Etablierung einer deutschen Nationalkultur bzw. Nationaldichtung, die das Ziel verfolgte, sich vom französischen Klassizismus zu emanzipieren. Nicht nur im politischen Bereich, sondern auch in Kunst und Literatur korrespondierte das Gefühl, zu einer deutschen Nation zu gehören, mit dem Bedürfnis, sich von den Ideen der Französischen Revolution partiell zu lösen und durch die Entwicklung von Xenophobie und Ablehnung der na20 Dieser französische Orientalist prägte nachhaltig wichtige deutsche Orientalisten wie Heinrich Leberecht Fleischer (1801–1888) und Johann Gottfried Ludwig Kosegarten (1792– 1860), dem insbesondere Goethe viele seiner Orientkenntnisse verdankte. Aufgrund der Tatsache, dass diese Gelehrten keine Reise in den Nahen Osten unternahmen, um intensive Studien zu betreiben, waren sie auf die Gelehrsamkeit des in Paris tätigen Silvestre de Sacy angewiesen.
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poleonischen Okkupation dem deutschen Volk Identitätsangebote zu unterbreiten, die von der nationalen Identität eines anderssprachigen Nachbarn grundverschieden waren. In gewisser Weise kann die deutsche Orientalistik der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts als ‚französischer̒ Zeitabschnitt betrachtet werden, weil sich viele deutsche Orientalisten in Paris, bei Silvestre de Sacy, mit dem Persischen und Arabischen beschäftigten. Zu jener Zeit konstituierte sich die durch die Pariser Schule gegangene deutsche Orientalistik als eine in ihrer Zeit omnipräsente Referenz, die sich im Laufe des 19. Jahrhunderts eher zu einer Islamkunde als zu einer rein philologischen Disziplin weiterentwickelte. Die Zielsetzung, die französischen Wissenschaftler in der Orientalistik zu überbieten und auf Basis des französischen Modells ein eigenes, als tragfähiger empfundenes Modell zu präsentieren, wäre ohne französische Prägungen vermutlich nicht möglich gewesen. Daher mussten Verflechtungsmomente ausgemessen werden, die den Prozess der Herausbildung eines Nationalbewusstseins durchdringen. Aus diesem Grunde exemplifiziert der vorliegende Beitrag nicht nur einen über Kreuz liegenden Blick auf die Verarbeitung von Motiven klassischer persischer Dichtung, sondern integriert auch Umarbeitungen und Entlehnungen sowie Aneignungen durch die Adaptation des persischen Originals. Beschäftigt man sich mit der Rezeption des Werks des iranophilen Arthur de Gobineau im Wagnerkreis in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, so erkennt man, dass Gobineau zunächst aufgrund seiner frankreichkritischen Haltung in Frankreich selbst mit Anfeindungen rechnen musste und daher zu Anfang weitgehend unbeachtet blieb. Dieses mag damit zusammenhängen, dass seine Rezeption im deutschnational bzw. chauvinistisch eingestellten Wagnerkreis jener Zeit umso positiver gewesen war. Dennoch blieb und bleibt Gobineaus Theorie von der Ungleichheit der Rassen ein europäisches Phänomen, das in der Gedankenwelt französischer und deutscher Eliten und darüber hinaus nicht nur auf kritisches, sondern auch auf zustimmendes Echo traf. Unvermeidlich war es somit, eine zweidimensionale Untersuchung bilateraler Beziehungen zwischen Deutschland und Frankreich durchzuführen und plurilaterale Verflechtungsmomente zu verbalisieren. Bilateral war die wissenschaftliche Konkurrenz, die zwischen französischen und größtenteils in Frankreich ausgebildeten deutschen Orientalisten entstand. Aufgrund dieser mehrdimensionalen Gemengelage, die bei der Rezeption klassischer persischer Dichtung im deutsch-französischen Raum des 19. Jahrhunderts in Erscheinung trat, ist es sinnvoll, von einem Prisma zu sprechen. Ein Prisma bricht Strahlen, führt Bilder auf die sie konstituierenden Farben zurück und komponiert diese schließlich wieder neu, indem es Lichtbrechungen in Erscheinung treten lässt, die im Bereich deutsch-französischer Beziehungen und vor allem auf dem politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Sektor wahrnehmbar werden. Daher ist der vorliegende Beitrag hinsichtlich der Herausarbeitung kultureller Mischformen nicht auf die zu simple Analyse binärer Entitäten festgelegt. Durch die Untersuchung dieser Mischformen, die aus einer Beschäftigung von Dichtern wie Goethe und Rückert mit klassischer persischer Dichtung resultieren, kann festgestellt werden, dass sprachliche Elemente aus der klassischen persischen
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Dichtung das Produkt einer Vermischung und gegenseitigen Durchdringung von persischen und europäischen Kulturbausteinen sind, die zu neuen poetischen Ausdrucksformen umgearbeitet worden sind. Diese folgen ihren eigenen strukturellen Grundsätzen. Trotz aller vollzogenen Transformationen bleiben die Komponenten der Mischformen zurück, die in der französischen Poesie des 19. Jahrhunderts und der deutschen Ghaselendichtung zum Ausdruck kommen. Eine der Intentionen des Studiums von Prozessen, die kulturelle Mischformen durchziehen, bestand darin, die Transformation nachzuvollziehen, die sie den konstitutiven Kulturträgern auferlegten. Entgegen eines zu Anfang des 19. Jahrhunderts vorherrschenden Zeitgeists ging es weniger darum, mythologischen Wurzeln nachzuspüren, als vielmehr um den Versuch, die Art und Weise der kulturellen Vermischung zu erklären und ihre Mechanismen herauszuarbeiten. In Abgrenzung zu nationalistischen und ethnozentristischen Betrachtungsarten, die auch bei Orientalisten zeitbedingt Einzug gehalten hatten und die Existenz einer originären kulturellen Unbeflecktheit behaupteten, kann die Untersuchung der Rezeption klassischer persischer Dichtung im deutsch-französischen Raum des 19. Jahrhunderts einen Beitrag zum besseren Verständnis der Entstehungsweisen der europäischen Kulturen leisten. In Anbetracht aller kulturellen Mischformen, die anzutreffen waren, fühlten sich Orientalisten, die über Dichter klassischer persischer Dichtung gearbeitet haben, den nationalen und regionalen Identitäten ihrer Herkunftsländer zugehörig, die kein Paradoxon im Hinblick auf ihre sprachliche und kulturelle Identität darstellten. Das bedeutet, dass das Nationale eine konstruierte Größe war, die als etwas Naturgemäßes, nicht als etwas Künstliches betrachtet wurde. Aufgrund dieser Tatsache wurde man bezüglich der Irano-Orientalistik Zeuge einer Multiplikation von kulturellen Vermischungsräumen, einer Beschleunigung von Kontakten und Interaktionen und einer Verbreitung von Anpassungsmomenten der gegenseitigen Wahrnehmung, die zur permanenten Neugestaltung des kulturellen textus führen. Darüber hinaus könnte die Betrachtung der Problematik neuer kultureller Mischformen des deutsch-französischen Kulturtransfers in den Humanwissenschaften, der Formen selektiver Aneignung, von kulturellen Einverleibungen und Adaptationen dazu dienen, das alte Konzept einer in sich geschlossenen Wissenschaftskultur zu falsifizieren. Stattdessen sollte man von nicht abgeschlossenen Wissenschaftskulturen sprechen, die immerwährend neu komponiert werden und auf sich ständig modifizierenden Praktiken basieren, die konjunkturell bedingte Auffassungen widerspiegeln. Das Paradigma des Kulturtransfers kann bei der Betrachtung von Übersetzungen dazu beitragen, nationalistische Denkweisen bewusst zu überwinden, ihren von zunächst fremden Importen abhängigen Konstruktionscharakter herauszuarbeiten und transnationale Analysen vorzunehmen.
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ALBERT CAMUS: KULTUR-KONTAKTE IM MITTELMEERRAUM Elke Richter
1. EINLEITUNG „Camus, c’est un patrimoine national qu’il faut redécouvrir: le talent, la générosité d’un génie“1 – solch emphatische Worte findet Yasmina Khadra zu Beginn des Jahres 2012 für seinen Schriftstellerkollegen Albert Camus. An dessen Geburtshaus im algerischen Dréan (ehemals Mondovi) haben sich anlässlich des 52. Todestages von Camus und 50 Jahre nach dem Ende des Algerienkrieges neben Khadra der französische Botschafter sowie der Präfekt des Wilayas von El-Tarf versammelt, um eine Gedenktafel für Camus anzubringen. Der offiziell-kommemorative Akt kann als Teil einer Verschiebung in der Wahrnehmung und Verortung des großen existenzialistischen Autors gesehen werden, die sich in den letzten zehn Jahren ausmachen lässt. Nach der vehementen Ablehnung, die Camus während des algerischen Befreiungskrieges und in den folgenden Jahrzehnten von algerischen Nationalisten wie Intellektuellen gleichermaßen entgegenschlägt, verändert sich der Blick: Algerien entdeckt ‚seinen‘ Camus neu bzw. Camus wird ‚als Algerier‘ neu entdeckt. Diese Tendenz lässt sich beispielsweise an Titeln neuerer Camus-Biografien ablesen (z. B. Albert Camus: Fils d’Alger, 2010)2 wie gleichermaßen auch an denen neuester Forschungsarbeiten (z. B. „Albert Camus, l’Algérien“, 2010 oder Albert Camus, the Algerian, 20073). Der Versuch, Camus in das kulturelle Gedächtnis Algeriens einzuschreiben, erfolgt darüber hinaus auch von politischer Seite: Bereits im Jahr 2005 meldet sich kein Geringerer als der al-
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http://radiorcj.info/2012/01/24/5396/algerie-une-plaque-commemorative-dans-la-maison-decamus-52-ans-apres-sa-mort (08.05.2013). Vircondelet, Alain: Albert Camus: Fils d’Alger, Paris: Fayard, 2010. Toumi, Alek Baylee: Albert Camus, l’Algérien, in: Nouvelles Etudes Francophones 25/2 (2010), S. 88–100; Carroll, David: Albert Camus, the Algerian. Colonialism, Terrorism, Justice, New York: Columbia UP, 2007. Zu erwähnen sind außerdem von algerischer Seite organisierte Kolloquien zu Camus mit den entsprechenden Editionen, z. B. L’Association Rencontres Méditerranéennes Albert Camus: Albert Camus et les écritures algériennes, Aixen-Provence: Edisud, 2004.
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Elke Richter
gerische Staatspräsident Abdelaziz Bouteflika zu Wort, um Camus als „enfant de l’Algérie“ in die nationale Gemeinschaft der Algerier einzuschließen.4 Wenn ich für den Zeitraum dieser veränderten Haltung die letzten zehn Jahre angebe, so ist dies sicherlich auch mit dem algerischen Bürgerkrieg in Verbindung zu bringen, der die 1990er Jahre des Maghreb-Staates prägte und der für viele algerische Autoren und Intellektuelle eine kritische Auseinandersetzung mit der ausschließlichen Identifikation von algerischer Nation mit arabisch-muslimischer Kultur bedeutete. Camus’ Weigerung, während des Unabhängigkeitskrieges für eine der Seiten Partei zu ergreifen, wird 40 Jahre später als Öffnung neu interpretiert. Betont wird jetzt seine verzweifelte Suche nach einer Lösung jenseits des Entweder-Oder, sein Ringen um einen dritten Weg, der weder den kolonialen Status quo fortschreiben noch Algerien eine nationale Unabhängigkeit bescheren sollte, die mit dem Ausschluss der dort seit Generationen ansässigen Algerienfranzosen und Europäer verbunden war. Algerien also als Raum, der, in Camus’ Vision, als Raum der Pluralität und des Kulturkontakts erscheint.5 In dieses Fahrwasser, d. h. auf Entdeckungstour des Camus der Öffnung und der kulturellen Pluralität, begibt sich die hier folgende Analyse. Es sind Phänomene des Kulturkontakts im Werk von Camus, die in dieser Hinsicht aufschlussreich sind und die in zweierlei Richtungen verfolgt werden sollen: Zum einen legen die journalistischen bzw. essayistischen Schriften Camus’ seine politischgesellschaftliche Vision einer culture méditerranéenne frei, die vor dem Hintergrund rezenter kulturtheoretischer Modelle wie Multi-, Inter- und Transkulturalität neu gelesen werden kann. Die Analyse von Phänomenen des Kulturkontakts ist zum zweiten zentral für Camus’ fiktionale Texte. Hier können Analysen der Figuren, der Perspektive und des Raums Ambivalenzen und Uneindeutigkeiten freilegen, welche es wiederum unmöglich machen, Camus’ Texte eindeutig in einem nationalen Bezugsrahmen zu verorten. Dem Diskurs der Vereinnahmung Camus’ in französisches oder algerisches kulturelles Gedächtnis bzw. in eine der jeweiligen Literaturgeschichten, seiner Verortung als kolonialer oder antikolonialer Autor 4
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Es ist bezeichnend und verstörend zugleich, dass der algerische Staatspräsident Abdelaziz Bouteflika diese Charakterisierung ausgerechnet von den berühmten Worten Camus’ ausgehend vornimmt, die in Algerien während des Krieges einen Sturm der Entrüstung ausgelöst hatten. „Vous savez comment je vérifie que Camus est un véritable enfant de l’Algérie? C’est lorsqu’il dit que si sa mère était attaquée, il préférerait la défendre plutôt que la justice. Eh bien, c’est exactement ce que je sens, ce que je ferais, et je ne vois pas pourquoi Camus n’aurait pas eu le droit de le dire“ http://www.piednoir.net/guelma/culture/camuswagnernov07.html (08.05.2013). Bouteflikas symbolischer nationaler Vereinnahmung steht von französischer Seite Nicolas Sarkozys Versuch aus dem Jahre 2009 gegenüber, Camus’ sterbliche Überreste vom Friedhof in Lourmarin ins Panthéon zu überführen; vgl. z. B. die Nachricht auf http://www.lemonde.fr/politique/article/2009/11/19/sarkozy-souhaite-faire-entrer-albert-camusau-pantheon_1269540_823448.html (08.05.2013). Vgl. dazu z. B. die Äußerungen zweier bekannter algerischer Autorinnen, Assia Djebar und Maïssa Bey, die ein neues Licht auf Camus werfen. Djebar, Assia: Camus, ‚Le Premier Homme‘ le dernier livre, in: dies.: Ces Voix qui m’assiègent, Paris: Albin Michel, 1999 und Bey, Maïssa: L’Ombre d’un homme qui marche au soleil, Montpellier: Edition Chèvrefeuille étoilée, 2004.
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sind somit seine Texte, faktualer oder fiktionaler Art, entgegenzusetzen, die vielmehr, so die hier verfolgte These, Ambivalenzen bzw. Übergangsräume zwischen Kulturen und Nationen aufzeigen. 2. CAMUS’ ENTWURF EINER MITTELMEERKULTUR: DIE CULTURE MEDITERRANEENNE ALS INTERKULTURELLER RAUM Im Sommer 1937 hält Camus anlässlich der Eröffnung der von ihm mitbegründeten Maison de la Culture in Algier eine Rede, in der er seine Vorstellung vom ,Kulturraum Mittelmeer‘ darlegt.6 Wollte man seine Vision zunächst auf eine umgangssprachliche Formel bringen, so könnte man vom Plädoyer Camus’ für die Einheit in der Vielfalt sprechen. Camus versteht das Mittelmeer als „bassin international“7, um das sich die verschiedenen Länder mit ihren Bewohnern gruppieren. Die Idee des Internationalen, die Camus immer wieder ins Spiel bringt, ist sicherlich auch als Reminiszenz an seine Mitgliedschaft in der KP zu lesen, zu der vice versa die strikte Ablehnung der Idee der Nation, und im Speziellen einer mittelmeerischen Nation, gehört: „[N]ous rejetterons le principe d’un nationalisme méditerranéen“8. Das Nationenparadigma, das Camus in dieser Rede wiederholt als abstrakte Idee verwirft („Les nationalismes apparaissent toujours dans l’histoire comme des signes de décadence“9), identifiziert er vor allem mit in seinen Augen unberechtigt erhobenen Hegemonialansprüchen. Die Überlegenheit und Vorherrschaft einer der im Mittelmeerraum ansässigen Nationen bzw. Kulturen wird von ihm strikt abgelehnt. Camus vollzieht hier explizit eine Abkehr von faschistischen und kolonialistischen Diskursen, die auf der Superiorität der okzidental-christlichen Kultur und einer daraus resultierenden gleichsam ‚natürlichen‘ Vormachtstellung im Mittelmeerraum insistieren; auf diese Weise hatten vor ihm Vertreter der Gruppe der so genannten algérianistes (und in erster Linie Louis Bertrand) die koloniale Präsenz Frankreichs im Sinne einer Fortsetzung der Vormachtstellung Roms erläutert und historisch legitimiert.10 Bei Camus sind es jedoch weder das Christentum noch die Nation, die die Einheit stiften; er findet sie vielmehr in den klimatischen und geografischen Gegebenheiten des Mittelmeerraums, in der mediterranen Vegetation, aus der er eine spezifische Lebensform des homme de la méditerranée ableitet: 6
Vgl. Camus, Albert: La culture indigène, la nouvelle culture méditerranéenne. Cadres de la conférence inaugurale faite à la „Maison de la Culture“ le 8 février 1937, in: ders.: Essais, éd. établie et annotée p. Roger Quilliot et Louis Faucon, Paris: Gallimard, 1984 (Bibliothèque de la Pléiade), S. 1321–1331. Hinweise darauf, dass Camus sich im Jahr 1937 mit Fragen nach Nation und Kultur des Mittelmeers beschäftigte, finden sich auch in den Carnets. Vgl. Camus, Albert: Carnets I, Paris: Gallimard, [1962] 1984, S. 42, 44, 56. 7 Camus: La culture indigène, S. 1324. 8 Camus: La culture indigène, S. 1322. 9 Camus: La culture indigène, S. 1321. 10 Vgl. Bertrand, Louis: Le Sang des races [1899], Paris: Les maîtres du livre, 1921.
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Elke Richter Il n’y a qu’une culture. Non pas celle qui se nourrit d’abstractions et de majuscules. Non pas celle qui condamne. Non pas celle qui justifie les abus […] et qui légitime le goût de la conquête brutale. Celle-ci, nous […] n’en voulons pas. Mais celle qui vit dans l’arbre, la colline et les hommes.11 La Méditerranée, c’est cela, cette odeur ou ce parfum qu’il est inutile d’exprimer : nous le sentons tous avec notre peau.12
Hier spricht der junge Camus aus den Essays Noces (1938), dieser Hymne an die mediterrane Natur und den Menschen in ihr. Camus erhebt das Primat der Sinne und des Körpers über den Geist und den Intellekt und es sind erstere, die für ihn zur Bedingung und Lebensform „de toute une race, née du soleil et de la mer“ 13 werden. Als geografisch-klimatischer Raum ist das Mittelmeer Kreuzungspunkt von Menschen, Texten und Kulturen. Dass die arabische Kultur in Camus’ Sichtweise dazugehört, hat er wohl nirgends deutlicher als in der eingangs erwähnten Rede formuliert: „Ce qu’il y a de plus essentiel dans le génie méditerranéen jaillit peutêtre de cette rencontre unique dans l’histoire et la géographie née entre l’Orient et l’Occident“.14 Ja, Camus geht sogar noch weiter und behauptet: „[…] voilà la vraie Méditerranée, et c’est de l’Orient qu’elle se rapproche. Non de l’Occident latin.“15 Der Andere, vor dessen Folie sich das Eigene definiert, wird also hier gerade nicht im Orient bestimmt, sondern in der Kultur – und das heißt für Camus wieder in der klimatisch bedingten Mentalität – des Nordens. Hier, und ganz konkret in Deutschland,16 seien die Menschen zugeknöpft und sauertöpfisch, sie kennten keine „joie“, kein „laisser-aller“.17 Den Mentalitätsunterschieden zwischen nordischer und Mittelmeer-Kultur spricht Camus gar die Macht zu, Ideologien verändern zu können. So habe der Faschismus in Deutschland nicht dasselbe Gesicht wie in Italien, in Deutschland begegne einem zunächst der „hitlérien“18, in Italien hingegen zunächst der Mensch, dann der Faschist. Das Mittelmeer habe den Ideologien stets die Extreme genommen, und sie für den Menschen gemäßigt, so
11 Camus: La culture indigène, S. 1326. 12 Camus: La culture indigène, S. 1323. 13 Camus, Albert: Noces suivi de L’Eté, Paris: Gallimard, 1959, S. 21. Vgl. auch: „Et à ce confluent il n’y a pas de différence entre la façon dont vit un Espagnol ou un Italien des quais d’Alger, et les Arabes qui les entourent.“ Camus: La culture indigène, S. 1325. 14 Camus: La culture indigène, S. 1325. 15 Camus: La culture indigène, S. 1325. 16 Camus lässt hier die Erfahrungen einer für ihn unerfreulichen Reise anklingen, die ihn 1936 in die Länder Mitteleuropas und unter anderem auch nach Deutschland geführt hat. Verarbeitet ist diese Stimmung insbesondere in Camus’ Erzählung „La mort dans l’âme“ (in: L’Envers et l’endroit, 1937), in der ihn die graue, triste Stadt Prag mit dem ungenießbaren Essen (es gibt nur saure Gurken) an den Rand der Depression treibt; erst der Übergang nach Italien, in das Licht der Toskana, erweckt ihn zu neuem Leben. 17 Camus: La culture indigène, S. 1322. 18 Camus: La culture indigène, S. 1323.
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Camus’ an klimatheoretische Reflexionen aufklärerischer Provenienz gemahnende These. Legt man nun an diese Aussagen Camus’ rezente kulturtheoretische Modelle an, so ist es der Begriff des Interkulturellen, der mit Camus’ Vorstellung die meisten Berührungspunkte aufweist. Ich benutze diesen Begriff hier im Sinne Wolfgang Welschs bzw. Frank Schulze-Englers, die ihn in Abgrenzung zu Multiund Transkulturalität beschrieben haben.19 Interkulturalität bleibt Welsch zufolge einem herderschen Kulturverständnis verhaftet, das Einzelkulturen als in sich geschlossene, durch Homogenität nach innen und Abgrenzung nach außen charakterisierte Einheiten versteht, die jedoch im Kontakt miteinander auf Verständigung, Austausch und Dialog ausgerichtet sind. Eben diese Vorstellung vom friedlichen Zusammenschluss der um das Mittelmeer gruppierten Länder, und zwar einschließlich der arabisch-muslimischen, prägen Camus’ Bild der culture méditerranéenne.20 Es geht Camus darum, die „aspects divers“21 dieser Kultur anzuerkennen und gerade ihre Stärke in der Diversität zu betonen. Vor dem Hintergrund dieser Reflexionen zum kulturtheoretischen ‚Ort‘ des Mittelmeers wird ein roter Faden in Camus’ Argumentation sichtbar, in den sich auch Aussagen einreihen lassen, die er während des Unabhängigkeitskrieges mit Blick auf eine zu gründende algerische Nation gemacht hat. Wenn Camus im Jahr 1937 ein internationales, interkulturelles „bassin méditerranéen“ fordert, und zwar einschließlich der orientalischen Kultur, wenn er Hegemonieansprüchen der christlich-römischen Latinität eine klare Absage erteilt, so lehnt er entsprechend während des Algerienkrieges den alleinigen Anspruch der muslimisch-arabischen Bevölkerung auf eine algerische Nation ab. Camus bestimmt Algerien als Land mit einer pluralen kulturellen Tradition, in der er keiner der ansässigen Ethnien die Vorherrschaft zugesteht: Si bien disposé qu’on soit envers la revendication arabe, on doit cependant reconnaître qu’en ce qui concerne l’Algérie, l’indépendance nationale est une formule purement passionnelle. Il n’y a jamais eu encore de nation algérienne. Les Juifs, les Turcs, les Grecs, les Italiens, les 19 Vgl. Welsch, Wolfgang: Transkulturalität. Zur veränderten Verfassung heutiger Kulturen, in: Schneider, Irmela/Thomsen, Christian W. (Hg.): Hybridkultur: Medien, Netze, Künste, Köln: Wienand, 1997, S. 67–90. Schulze-Engler, Frank: Von ‚Inter‘ zu ‚Trans‘: Gesellschaftliche, kulturelle und literarische Übergänge, in: Antor, Heinz (Hg.): Inter- und Transkulturelle Studien. Theoretische Grundlagen und interdisziplinäre Praxis, Heidelberg: Winter, 2006, S. 41–54. 20 Es bleibt zu bedenken, dass Camus trotz seiner Emphase für die Kultur des Orients bei ihrer Beschreibung letztlich sehr nebulös bleibt. Während er nicht müde wird, die verschiedenen dem okzidentalen Kulturraum zugehörigen Länder aufzuzählen, die er zur culture méditerranéenne rechnet, benennt er nicht ein einziges arabisch-muslimisches Land. Sobald Camus also konkret auf die orientalische Kultur und Geistesgeschichte zu sprechen kommt, bleibt er vage bzw. offenbart schlicht seine Unkenntnis. Auch greift Camus in „La culture indigène“ auf zahlreiche Steretoype und Klischees den Orient betreffend zurück, so z. B., dass dieser „diffu[s] et turbulen[t]“ und, im Gegensatz zum Okzident, weniger „classique et ordonn[é]“ sei (Camus: La culture indigène, S. 1325). Eine kontrapunktische Lektüre der Rede wäre also in jedem Fall lohnend. 21 Camus: La culture indigène, S. 1326.
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Elke Richter Berbères, auraient autant de droit à réclamer la direction de cette nation virtuelle. Actuellement, les Arabes ne forment pas à eux seuls toute l’Algérie.22
Während des Befreiungskrieges wurde eine solche Aussage vonseiten algerischer Nationalisten als Verrat und als Streben Camus’ nach einer Beibehaltung des kolonialen Status quo interpretiert. Im Lichte aktueller kulturtheoretischer Ansätze kann man hier den Entwurf für ein Algerien bzw. den Mittelmeerraum insgesamt lesen, der erstens von fortgesetzten Kolonisationen und Dekolonisationen geprägt ist, in deren longue durée die französische nur die jüngste ist, und deren Resultat zweitens ein interkultureller Raum ist, in dem die Vormachtstellung einer Nation bzw. Kultur abgelehnt wird. Camus’ Konzeption des Mittelmeers als interkultureller Raum stehen einige wenige Äußerungen entgegen, die das bisher Dargestellte nuancieren und aufzeigen, dass der Mittelmeerraum für Camus eine Art Laboratorium der Kulturvermischung darstellt, die über die Idee des Interkulturellen hinausweist. Dazu sei hier abschließend eine Passage aus dem Essay „Petit guide pour des villes sans passé“ aus dem Jahre 1947 zitiert: Et d’abord la jeunesse y est belle. Les Arabes, naturellement, et puis les autres. Les Français d’Algérie sont une race bâtarde, faite de mélanges imprévus. Espagnols et Alsaciens, Italiens, Maltais, Juifs, Grecs enfin s’y sont rencontrés. Ces croisements brutaux ont donné, comme en Amérique, d’heureux résultats. En vous promenant dans Alger, regardez les poignets des femmes et des jeunes hommes et puis pensez à ceux que vous rencontrez dans le métro parisien.23
Dreierlei fällt hier auf: Zum ersten die schon erwähnte Konstruktion der culture méditerranéenne in Abgrenzung zu den Menschen des Nordens, den Parisern/Pariserinnen in diesem Fall. Zum zweiten – und hier eröffnet sich eine Differenz zum bisher Gesagten – wird hier neben den Völkern des Nordens auch die arabische Bevölkerung als Anderes abgegrenzt bzw. von den eigentlichen Vermischungsprozessen ausgeschlossen: „Les Arabes“, heißt es, „et puis les autres“. Die „race bâtarde“ entsteht lediglich infolge von Kreuzungen der Menschen europäischer Provenienz. Und schließlich zum dritten: Die Art der Vermischung, die Camus hier für die europäische Bevölkerung annimmt, erinnert bis in die Wortwahl („croisements brutaux“, „heureux résultats“, „mélanges imprévus“) an das, was Edouard Glissant unter Kreolisierung versteht, und damit an ein Kulturmodell, das eher als transkulturelles denn als interkulturelles Modell zu beschreiben ist.24 Interessanterweise zieht Camus selbst die Parallele zu den Vorgängen in Amerika. Die Idee einer solchen transkulturellen Durchdringung für den Mittelmeerraum stellt jedoch die Ausnahme in Camus’ Texten dar. Seine Vorstellung bleibt überwiegend, und darin sehr ähnlich der von Fernand Braudel in La Médi-
22 Camus, Albert: Chroniques algériennes. 1939–1958 Actuelles III, Paris: Gallimard, 1958 (folio essais 400), S. 202. 23 Camus: Noces, S. 127 f. 24 Vgl. Glissant, Edouard: Introduction à une poétique du divers, Paris: Gallimard, 1996, insbes. S. 16–21.
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terranée (1966)25 geprägten, die von in sich geschlossenen Kulturen, die sich mosaikartig zu einem interkulturellen Ganzen zusammenfügen. 3. DAS KOLONIALE ALGERIEN IN CAMUS’ FIKTIONALEN TEXTEN: EINE KONTRAPUNKTISCHE LEKTÜRE In der Folge der berühmten Camus-Studie von Conor Cruise O’Brien26 haben zahlreiche Forschungsarbeiten, insbesondere solche im Kontext der postcolonial studies, in Camus den kolonialen Autor aufgespürt.27 Wiederkehrend zielen die Argumente dabei auf die Diskrepanz zwischen der Darstellung der französischen Figuren als individualisierte, komplex gestaltete Romanfiguren, während die Algerier, so sie überhaupt auftauchen, nur als stumme, den Hintergrund bildende Masse in Erscheinung treten, als les Arabes. Dass der Mord in L’Etranger an einem Araber geschieht, spiegelt in dieser postkolonialen Lesart Camus’ tief verwurzelte rassistische Position des französischen colon.28 Meine folgenden Ausführungen haben das Ziel, diese Interpretationsrichtung gegen den Strich zu lesen, und zwar mithilfe eines Verfahrens, das Edward Said in Kultur und Imperialismus ([1993] 1994) wenn auch nicht umfassend als Methode beschrieben, so doch als Lektürehaltung umrissen hat. Es handelt sich um die von Said so bezeichnete ,kontrapunktische Lektüre‘, die er selbst in seinen groß angelegten Interpretationen kanonischer europäischer Texte des 19. und 20. Jahrhunderts nutzt, um auf Text-Spuren-Suche des kolonialen Anderen zu gehen; des Anderen, d. h. desjenigen, der in den europäischen Romanen des imperialistischen Zeitalters nur als Randerscheinung vorkommt, dessen flüchtiges Aufscheinen es aber ermöglicht, die tiefe Implikation des europäischen Romans in das imperialistische Projekt der Europäer aufzuzeigen. Said selbst widmet Camus’ Werk ein Kapitel von Kultur und Imperialismus und zeigt, dass in ihm keineswegs Aussagen über eine quasi kulturbereinigte und universale conditio humana zu finden sind:
25 Braudel, Fernand: La Méditerranée et le monde méditerranéen à l’époque de Philippe II, 2 tomes, Paris: Colin, 1966. 26 O’Brien, Conor Cruise: Albert Camus, München: Deutscher Taschenbuchverlag, 1971 (Original: Albert Camus, London: Wm. Collins & Co. Ltd., 1970). 27 In der Nachfolge O’Briens insbesondere Said, Edward W.: Camus und die Wirklichkeit des französischen Imperialismus, in: ders.: Kultur und Imperialismus, Frankfurt/M.: Fischer, 1994, S. 235–256 (Original: Culture and Imperialism, New York: Alfred A. Knopf, 1993); Albes, Wolf: Albert Camus und der Algerienkrieg, Tübingen: Niemeyer, 1990; ChauletAchour, Christiane: Albert Camus, Alger, Biarritz: Atlantica, 1998. Als Gegenstimme zu diesen Arbeiten liest sich David Carroll, der für L’Etranger beispielsweise die These aufstellt, Meursault sterbe als Araber: Carroll, David: Albert Camus, the Algerian, New York: Columbia UP, 2007. 28 Vgl. auch die psychoanalytische Interpretation Pierre Noras, der Camus einen unterdrückten, unbewussten Wunsch des pied-noir nach Genozid unterstellt: Nora, Pierre: Les Français d’Algérie, Paris: Julliard, 1961.
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Elke Richter [V]ieles in den Erzählungen (etwa Meursaults Prozeß) [ist] entweder eine verstohlene oder unbewußte Rechtfertigung der französischen Herrschaft oder ein ideologisches Manöver zu ihrer Verbrämung.29
Camus’ Literatur sei „ei[n] fesselnde[r] Bericht über den politischen und interpretativen Wettstreit […], das Territorium selbst zu repräsentieren, in Besitz zu nehmen und zu bewohnen“30, der Autor damit, so Saids Fazit, eine „sehr späte imperiale Gestalt“31. Wenn ich mich also im Folgenden auf die Suche nach den Spuren des kolonialen Anderen in Camus’ fiktionalen Texten begebe, dann nutze ich Saids Verfahren, lege es allerdings quer zu seiner These an. Es geht mir also nicht um deren Widerlegung, sondern um das Aufspüren von Zwischenräumen, von uneindeutigen Positionen, die es unmöglich machen, den Texten Camus’ eine eindeutige Aussage mit Blick auf den kolonialen Konflikt bzw. eine eindeutige Stellungnahme des Autors für eine der beiden ins Kolonialgeschehen verwickelten Nationen zu entnehmen. Näher betrachtet werden sollen im Folgenden zwei Novellen, „La femme adultère“32 und „L’hôte“33, aus dem 1957 veröffentlichten Erzählungsband L’Exil et le royaume. Zweifelsohne ist eine Lektüre beider Texte im saidschen Sinne möglich. Dies zeigt sich beispielsweise sehr deutlich, wenn man die Figurenkonstellation analysiert. Die Zeichnung der Araber scheint alle bekannten orientalistischen Stereotype und Klischees zu bestätigen: Sie erscheinen als namenlose, stumme und in ihre Burnusse eingehüllte Masse, die bedrückend, zum Teil auch bedrohlich auf die europäischen Protagonisten wirkt: „Leur silence, leur impassibilité finissaient par peser à Janine; il lui semblait qu’elle voyagait depuis des jours avec cette escorte muette“34. Die algerienfranzösischen Figuren hingegen werden als Repräsentanten der colons inszeniert. Marcel aus „La femme adultère“ repräsentiert den kolonialen Geschäftsmann, der auf Maximierung seines Profits in der Kolonie aus ist. Sein Blick auf das Land, in dem er lebt, und auf die arabische Bevölkerung ist von Abwertung („Marcel maudit encore ce pays“35) und latenten Rassismen geprägt. Aus seiner Sicht sind die Araber faul („Doucement le matin, pas trop vite le soir“36), sie haben kein technisches Verständnis („Tu peux être sûre qu’il n’a jamais vu un moteur de sa vie“37) und sind habgierige Feilscher („ils demandaient toujours le double pour qu’on leur donne le quart“38).
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Said: Kultur und Imperialismus, S. 242. Said: Kultur und Imperialismus, S. 244. Said: Kultur und Imperialismus, S. 239. Camus, Albert: La femme adultère, in: ders.: L’Exil et le royaume, Paris: Gallimard, 1957, S. 11–34. Camus, Albert: L’hôte, in: ders.: L’Exil et le royaume, S. 79–199. Camus: La femme adultère, S. 12. Camus: La femme adultère, S. 16. Camus: La femme adultère, S. 20. Camus: La femme adultère, S. 16. Camus: La femme adultère, S. 20 f.
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In der Novelle „L’hôte“ begegnen wir mit dem Protagonisten Daru zwar keinem offen rassistischen Vertreter der Kolonialmacht, aber dennoch einer Figur, die dem entspricht, was Albert Memmi in Le Portrait du colonisé als den „colonisateur de bonne volonté“39 bezeichnet hat. Daru verhält sich gegenüber dem wegen Mordes verurteilten Araber, den der Gendarm Balducci ihm bringt, gastfreundlich und aufmerksam. Gleichwohl spiegelt die soziale Stellung der Figuren in der Novelle deutlich die koloniale Situation. Die sozial höher gestellten Figuren, Gendarmen und Lehrer, sind Europäer, die Algerier sind Bauern, die vom Ertrag des kargen Landes leben müssen. Der Lehrer Daru ist im Besitz von Nahrungsmittelvorräten, die regelmäßig aus Frankreich geliefert werden und deren Verteilung unter den Armen er koordiniert. Die Macht, die Daru den Algeriern gegenüber besitzt, berührt damit eine existenzielle Dimension, sie betrifft den Besitz/Nicht-Besitz von Nahrung und sogar die Frage nach der Existenz an sich: Daru ist in der Position, Entscheidungen über das Leben des ihm anvertrauten Arabers zu treffen, und seine ‚großmütige‘ Geste zum Schluss der Novelle wirkt in diesem Sinn nicht viel mehr als paternalistisch.40 Dieser Lesart, an deren Ende Camus als französischer imperialer Autor festgeschrieben ist, soll nun eine zweite Lesart entgegengestellt werden, die wiederum die Analyse von Figuren, Perspektive und Raum in den Mittelpunkt stellt. Auf die saidsche Musikmetaphorik zurückgreifend bedeutet dies, dass quer zur bisher geschilderten Lesart eine kontrapunktische Stimme ‚hörbar‘ gemacht und den geschilderten Aussagen an die Seite gestellt werden soll. Auffallend ist zunächst die ähnliche Anlage der Figurenkonstellation in beiden Erzählungen: Es stehen jeweils zwei Europäer entweder einem einzelnen Araber (in „L’hôte“) oder einem Kollektiv von Arabern (in „La femme adultère“) gegenüber. Die beiden europäischen Figuren sind in ihrer Haltung den Arabern gegenüber dabei nicht identisch: Jeweils eine der beiden vertritt eine stärker kolonialistische Haltung als die andere. Perspektiviert wird das erzählte Geschehen in beiden Novellen aus Sicht der Figur mit der liberaleren Position: aus derjenigen Darus im Falle von „L’hôte“, aus derjenigen Janines in „La femme adultère“. Während Janines Mann seine diffamierenden Äußerungen den Arabern gegenüber zum Besten gibt, ist sie im Begriff zu schauen, zu registrieren, zu beobachten – und mit ihr der Leser. Und was sie beobachtet, steht dabei oftmals in Widerspruch zu dem, was ihr Mann sagt. Als dieser sich vorauseilend über die Langsamkeit des arabischen Kellners mokiert, heißt der sich direkt anschließende Satz: „Le café finit pourtant par arriver“41. Und Marcels Befürchtungen, der liegengebliebene Bus könne nicht weiterfahren, weil der Busfahrer sicher noch nie einen Motor gesehen habe, steht die Beschreibung eines lachenden Arabers entgegen, der diesen 39 Memmi, Albert: Portrait du colonisé précédé de Portrait du colonisateur [1957], Paris: Gallimard, 1985, S. 43 f. 40 Das Verbrechen des Arabers ist im Übrigen nur vor dem Horizont des implementierten französischen Gesetzes eines, nicht jedoch, wenn man es im Rahmen der arabischen (bzw. kabylischen) Stammeskultur liest. Das fiktionsinterne kulturelle Fremdverstehen gelingt also nicht, ja es wird von den europäischen Figuren nicht einmal angestrebt. 41 Camus: La femme adultère, S. 20.
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in kürzester Zeit repariert.42 Die Erzählung setzt also den Äußerungen der Figur die aus der Perspektive der internen Fokalisierungsfigur beschriebenen Handlungen entgegen und setzt damit einen argumentativen Kontrapunkt zur rassistischen Position Marcels. Betrachtet man in einem weiteren Schritt die Gestaltung des Kontakts zwischen arabischen und französischen Figuren, so fällt zunächst ein Vakuum auf: Die Figuren treten entweder gar nicht oder kaum bzw. äußerst eingeschränkt miteinander in Kontakt. Das französische Ehepaar aus „La femme adultère“ spricht kein Arabisch, sodass sie sich selbst mit Marcels Kunden notdürftig per Mimik und Gestik verständigen müssen. Zwischen den Figuren fehlen jedoch nicht nur die Worte, sondern auch die Blicke. Immer wieder wird erwähnt, dass dass die Araber den Franzosen den Blickkontakt verweigern, sie nicht ansehen.43 Besonders eindrücklich ist dies in der Szene, als ein großer, als schön und stolz beschriebener Araber den Platz überquert und Janine und Marcel nicht nur nicht (an-) sieht, sondern sie buchstäblich übergeht: Alors que l’espace vide de la place les entourait, il avançait droit sur la malle, sans la voir, sans les voir. Puis la distance qui les séparait diminua rapidement et l’Arabe arrivait sur eux, lorsque Marcel saisit, tout d’un coup, la poignée de la cantine, et la tira en arrière. L’autre passa, sans paraître rien remarquer, et se dirigea du même pas vers les remparts.44
Ohne das Ehepaar überhaupt eines Blickes zu würdigen, nimmt der Araber hier Raum ein, den das französische Paar für sich in Anspruch genommen hatte. Den beiden bleibt nichts anderes übrig, als im letzten Moment zurückzuweichen. Mit Blick auf die Frage nach der Inbesitznahme von Raum drängt sich an dieser Stelle der Vergleich mit der Mordszene aus L’Etranger förmlich auf: Wenn dort die Franzosen am Strand bzw. in der kleinen Bucht in den Raum der Araber eindringen und der Mord als (koloniale) Raumnahme der Franzosen interpretiert werden kann, als Raum, in dem nur eine der beiden Parteien Existenzrecht hat, so inszeniert diese Szene aus „La Femme adultère“ exakt das Gegenteil: Hier ist der Araber die raumnehmende Instanz, die sich den von Franzosen ‚okkupierten‘ Raum ‚zurückerobert‘.45 Kehrt man nun vom Raum zur Kategorie des Blicks zurück, so ist festzuhalten, dass Theorien des Blicks – spätestens seit Jacques Lacan46 – immer wieder 42 43 44 45
Vgl. Camus: La femme adultère, S. 17. Vgl. Camus: La femme adultère, z. B. S. 16, 21, 24. Camus: La femme adultère, S. 20. Das Nicht-Ansehen des kolonialen Eroberers hat auch Assia Djebar in L’Amour, la fantasia als Nicht-Anerkennung der Existenz des französischen Kolonisators fiktional inszeniert. Auch hier sind es die Algerier bzw. genauer die Algerierinnen, die den französischen Eroberern den Blick verweigern: „Les femmes prisonnières, […] elles ne regardent pas. […]. L’indigène, même quand il semble soumis, n’est pas vaincu. Ne lève pas les yeux pour regarder son vainqueur. Ne le ‚reconnaît‘ pas.“ Djebar, Assia: L’Amour, la fantasia [1985], Paris: Albin Michel, 1995, S. 69. 46 Lacan, Jacques: Le stade du miroir comme formateur de la fonction du Je telle qu’elle nous est révélée dans l’expérience psychanalytique, in: ders.: Ecrits II, Paris: Seuil, 1966, S. 93– 100.
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auf dessen zentrale Bedeutung als Instrument zur Ausbildung der Ich-Identität verwiesen haben. Der Blick in den Spiegel bzw. in die Augen des Anderen ist zentral für die Konstitution des Subjekts und die Ausbildung seiner Identität. Den französischen Figuren in den Novellen Camus’ wird dieser an-erkennende Blick von den arabischen Figuren verweigert. Gerade in „La femme adultère“ findet sich eine Vielzahl solcher Szenen, in denen die arabischen Figuren Blicke abwenden oder sie verweigern. Abschließend soll hier eine solche Passage näher betrachtet werden, die in einer weiteren Hinsicht interessant ist, weil sie einen bedeutsamen Perspektivenwechsel nach sich zieht: Pourtant, aucun ne la [Janine] regardait. Quelques-uns, sans paraître la voir, tournaient lentement vers elle cette face maigre et tannée qui, à ces yeux, les faisait tous ressemblants […]. Ils tournaient ce visage vers l’étrangère, ils ne la voyaient pas et puis, légers et silencieux, ils passaient autour d’elle […].47
An dieser Stelle kippt die Erzählung für einen winzigen Moment aus der Perspektive Janines in diejenige der sie umgebenden Araber: Aus ihrer Sicht ist sie die „étrangère“ im Land. Die stumme, schweigende Masse der Araber bekommt an dieser Stelle der Erzählung das Primat der Perspektive, um darauf zu verweisen, wer der ‚Fremde‘ im Land ist. Es ist ein winziger Moment, ein kurzer Perspektivwechsel, damit aber genau die Art von Bruch oder Riss im Text, die sich im Sinne Saids als Kontrapunkt aufspüren lässt. ‚Hörbar‘ wird auf diese Weise eine Gegenstimme zu Saids Lesart von Camus’ Texten, in der er lediglich die Inszenierung diskursiver imperialer Macht aufspürt. Die beiden hier vorgestellten Novellen und auch ihre Gegenüberstellung mit einem so berühmten Text wie L’Etranger zeigen aber, dass Camus’ Texte koloniales Geschehen sehr viel subtiler und nuancierter vorführen und koloniale Macht und Widerstand gleichsam nebeneinander in die Texte eingeschrieben sind. 4. SCHLUSS „Camus, c’est un patrimoine national“? – die diese Überlegungen einleitende Aussage von Yasmina Khadra soll zum Schluss mit einem Fragezeichen versehen werden. Sie perpetuiert eine Tradition der Camus-Forschung, die den Autor bzw. seine Texte nationalen Belangen einverleibt und sie dabei eindeutig zu verorten sucht. Camus’ Texte eröffnen jedoch sehr viel komplexere Aussageräume, sie führen Pluralität und Ambivalenz vor und machen somit Camus’ Verortung als französischer oder algerischer, als kolonialer oder antikolonialer Autor unmöglich. So hat die Analyse verschiedener Essays von Camus gezeigt, dass der Autor sich weder einer Nation Algerien noch einer Nation Frankreich, sondern einer als interkulturell bzw. international konzipierten Mittelmeerkultur zugehörig fühlt, 47 Camus: La femme adultère, S. 24.
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deren Einheit sich in den klimatisch-geografischen Gegebenheiten dieses Raums findet. Und auch die hier untersuchten fiktionalen Texte erlauben keine Festschreibungen. Die beiden untersuchten Novellen eröffnen eine zweite Stimme, die der ersten, eingängigen zuwiderläuft und sie bricht. Hatte Said die „späte imperiale Gestalt“ Camus ausgemacht, um auf diese Weise die Implikationen Camus’ in das historische Geschehen und den kolonialen Kontext aufzuzeigen, so haben diese Ausführungen gezeigt, dass seine Texte Ambivalenzen im Kulturkontakt zwischen den beiden ins Kolonialgeschehen verwickelten Nationen eröffnen. Camus bricht vorherrschende Perspektiven, lässt seine arabischen Figuren Räume überschreiten und stellt auf diese Weise wenigstens zwei Sichtweisen des Kolonialgeschehens nebeneinander. Somit werden die Grenzen eindeutiger Verortungen Camus’ anhand seiner Texte allzu deutlich und zeigen einmal mehr das Desiderat neuer literatur- und kulturwissenschaftlicher Klassifizierungssysteme, die Momente des Übergangs, der Uneindeutigkeiten, d. h. des kulturellen und nationalen Dazwischens berücksichtigen. LITERATURVERZEICHNIS Albes, Wolf: Albert Camus und der Algerienkrieg, Tübingen: Niemeyer, 1990. L’Association Rencontres Méditerranéennes Albert Camus: Albert Camus et les écritures algériennes, Aix en Provence: Edisud, 2004. Bertrand, Louis: Le Sang des races [1899], Paris: Les maîtres du livre, 1921. Bey, Maïssa: L’Ombre d’un homme qui marche au soleil, Montpellier: Edition Chèvrefeuille étoilée, 2004. Braudel, Fernand: La Méditerranée et le monde méditerranéen à l’époque de Philippe II, 2 tomes, Paris: Colin, 1966. Camus, Albert: La femme adultère, in: ders.: L’Exil et le royaume, Paris: Gallimard, 1957, S. 11– 34. Camus, Albert: L’hôte, in: ders.: L’Exil et le royaume, Paris: Gallimard, 1957, S. 79–199. Camus, Albert: Chroniques algériennes. 1939–1958 Actuelles III, Paris: Gallimard, 1958 (folio essais 400). Camus, Albert: Noces suivi de L’Eté, Paris: Gallimard, 1959. Camus, Albert: Carnets I, Paris: Gallimard, [1962] 1984. Camus, Albert: La culture indigène, la nouvelle culture méditerranéenne. Cadres de la conférence inaugurale faite à la „Maison de la Culture“ le 8 février 1937, in: ders.: Essais, éd. établie et annotée p. Roger Quilliot et Louis Faucon, Paris: Gallimard, 1984 (Bibliothèque de la Pléiade), S. 1321–1331. Carroll, David: Albert Camus, the Algerian. Colonialism, Terrorism, Justice, New York: Columbia UP, 2007. Chaulet-Achour, Christiane: Albert Camus, Alger, Biarritz: Atlantica, 1998. Djebar, Assia: L’Amour, la fantasia [1985], Paris: Albin Michel, 1995. Djebar, Assia: Camus, ‚Le Premier Homme‘ le dernier livre, in: dies.: Ces Voix qui m’assiègent, Paris: Albin Michel, 1999. Glissant, Edouard: Introduction à une poétique du divers, Paris: Gallimard, 1996. http://www.lemonde.fr/politique/article/2009/11/19/sarkozy-souhaite-faire-entrer-albert-camus-aupantheon_1269540_823448.html (08.05.2013). http://www.piednoir.net/guelma/culture/camuswagnernov07.html (08.05.2013).
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EUROPÄISCHE GEMEINSAMKEITEN UND NATIONAL-KULTURELLE SPEZIFIKA DES LITERARISCHEN BLICKS AUF AFRIKA: MÖGLICHKEITEN UND APORIEN DES VERGLEICHS VON AFRIKA-REISEBERICHTEN Sonja Malzner Im vorliegenden Beitrag wird der Frage nachgegangen, ob die Repräsentation von Afrikanerinnen und Afrikanern (im Folgenden wird das generische Maskulinum verwendet) in europäischen plurimedialen Reiseberichten der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts als eine gesamteuropäische bezeichnet werden kann oder ob es zur Ausformung national-kultureller Spezifika kommt. Den Ausgangspunkt der Untersuchung stellen Überlegungen von Jean-Marc Moura zu einer „culture coloniale européenne“ dar. Er geht davon aus, dass man bei der Wahrnehmung Afrikas zu Beginn des 20. Jahrhunderts wohl von einer gesamteuropäischen Wahrnehmung sprechen könne, die sich im Großen und Ganzen als relativ homogen präsentiere: Ces cadres demandent bien entendu à être précisés par l’examen de la spécificité des rythmes nationaux, mais les grandes structures entourant les évolutions particulières sont à chercher à l’échelle de ce que l’on pourrait presque appeler la culture coloniale européenne.1
Im Folgenden soll diese These an ausgewählten Fallbeispielen plurimedialer und illustrierter Reiseberichte über das Afrika südlich der Sahara aus dem frankophonen und dem deutschsprachigen Raum geprüft werden.2 Die Werke sind zwischen 1880 und 1960 erschienen, d. h. aus politischer Perspektive zwischen der ‚Teilung Afrikas‘ auf der Berliner Kongo-Konferenz (1884–1885) und der Dekolonisierung, die einem Großteil der afrikanischen Staaten die Unabhängigkeit verschaffte.3 Aus fototechnischer Perspektive stellt 1880 eine wesentliche Zäsur dar, da in diesem Jahr die handliche und einfach zu bedienende Kodak n°1 auf
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Moura, Jean-Marc: La Littérature des lointains. Histoire de l’exotisme européen au XXe siècle, Paris: Honoré Champion, 1998 (Bibliothèque de littérature générale et comparée 14), S. 13. Im vorliegenden Artikel werden Überlegungen aus meiner Dissertation ‚So sah ich Afrika‘. Die Repräsentation von Afrikanern in plurimedialen Reiseberichten europäischer Individualreisender der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts (Saarbrücken und Metz, Oktober 2012) übernommen. Vgl. Reinhard, Wolfgang: Kleine Geschichte des Kolonialismus, Stuttgart: Kröner, 1996; Gründer, Horst: Geschichte der deutschen Kolonien, Paderborn [u. a.]: Schöningh, 52004.
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den Markt kam, die der Amateur-Reisefotografie neue Impulse verschaffte.4 Diese neuen Möglichkeiten sowie technische Innovationen im Buchdruck stellen die Voraussetzungen für die Produktion plurimedialer und fotoillustrierter Reiseberichte dar, um die es im Folgenden primär gehen soll. Unter plurimedialen Reiseberichten werden hier Monografien verstanden, die dadurch gekennzeichnet sind, dass sich Text, Bild (im vorliegenden Fall zumeist Fotos) und das Trägermedium ‚Buch‘ die Aufgabe der Vermittlung von Informationen teilen. Die Funktion der Fotografien geht dabei über die der Illustration hinaus, indem sie selbst Träger eines differenzierten und eigenständigen Diskurses sind.5 Die vorliegende Untersuchung ist somit dem Forschungsfeld der Intermedialität zuzuordnen, die dem durch die Kombination mehrerer Medien entstehenden ‚Mehrwert‘ nachgeht.6 Der Begriff des ‚Blicks‘ bezieht sich demnach einerseits auf die mediale bzw. fotografische Komponente, da das visuelle Element in diesen Werken eine entscheidende Rolle bei der Vermittlung des Erlebten spielt. Des Weiteren verweist der Begriff auf die Tatsache, dass das Reisen zuallererst eine visuelle Angelegenheit ist. Im Hinblick auf die Untersuchung von Kulturtransfers ist der Blick darüber hinausgehend aber vor allem zu verstehen als eine Perspektive und der Reisebericht als „eine literarisierte Wahrnehmung des Anderen und Fremden“7. Das meint Friedrich Wolfzettel, wenn er die Geschichte des Reiseberichts als eine „Geschichte des Sehens“ bezeichnet.8 Der Begriff des Blicks bezieht sich also auf den der Repräsentation, was eine Sichtweise auf die Reisenden als Akteure mit einem mehr oder weniger großen Freiheitsspielraum im Hinblick auf die vorherrschenden Diskurse ihrer sozialen Gruppe bzw., im vorliegenden Fall, ihrer Nation impliziert.9 In den untersuchten Reiseberichten bestätigt sich in dieser Hinsicht zuerst die Annahme eines gesamteuropäischen Blicks auf Afrika: Afrikaner werden durchgängig mit von der zeitgenössischen doxa abgeleiteten Attributen wie ‚primitiv‘, ‚zurückgeblieben‘, ‚unzivilisiert‘ oder ‚anders‘ belegt, ungeachtet des Zeitpunkts der Veröffentlichung und des Erscheinungsortes des Reiseberichts. Es werden Stereotype und Topoi transportiert, die zu Beginn des 20. Jahrhunderts als euro-
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Vgl. Koetzle, Hans-Michael: Das Lexikon der Fotografen, 1900 bis heute, München: Knaur, 2002. Die explizite Unterscheidung zwischen den Begriffen ‚Bild‘ und ‚Illustration‘ ist im Folgenden demnach unerlässlich, impliziert der Begriff der ‚Illustration‘ doch die Abhängigkeit des Bildes vom Text. Bei den hier behandelten Reiseberichten handelt es sich um ‚Medienkombinationen‘, bei denen die verschiedenen Medien unmittelbar in ihrer eigenen Gestalt erscheinen. Vgl. Rajewsky, Irina O.: Intermedialität, Tübingen, Basel: Francke, 2002. Vgl. Wolfzettel, Friedrich: Reiseberichte und mythische Struktur. Romanistische Aufsätze 1983–2002, Stuttgart: Steiner, 2003, S. 10. Wolfzettel, Friedrich: Ce désir de vagabondage cosmopolite. Wege und Entwicklung des französischen Reiseberichts im 19. Jahrhundert, Tübingen: Niemeyer, 1986, S. 5. Vgl. Elias, Norbert: Die Gesellschaft der Individuen, Frankfurt/M.: Suhrkamp, 41999, S. 82– 85.
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päisch-transnational bezeichnet werden können, da sie aus einer gemeinsamen, großenteils christlich-bürgerlich geprägten Denktradition hervorgehen. Einer dieser europäischen Topoi ist das ‚wahre‘, ‚unberührte‘ Afrika, das in sämtlichen Reiseberichten, auf verbaler wie visueller Ebene, thematisiert wird; dieser Topos soll hier stellvertretend am Beispiel des schweizerischen Reiseberichts Afrikaflug dokumentiert werden. Auf verbaler Ebene wird in Afrikaflug, einem Band, der 1927 in Zürich erschien und ein Gemeinschaftswerk dreier Autoren bzw. Fotografen darstellt (Geograf Albert Heim, Pilot Walter Mittelholzer, Schriftsteller René Gouzy), bereits in der Wortwahl dieser Topos bedient: neben dem zeitgenössisch weit verbreiteten Gebrauch von ‚Neger‘10, ‚Eingeborener‘11 oder ‚Schwarzer‘12 zeugen vor allem Ausdrücke wie „primitive Menschen“ bzw. „Primitive“13 von einer eindeutigen Abgrenzung zum Fremden. Die Personen, die sich Elemente europäischer Lebensweise angeeignet haben,14 werden als „halbzivilisierte Eingeborene“15 benannt, ohne dass erklärt würde, worin denn dieses ‚Halbzivilisierte‘ bestehen soll. Arnold Heim, der Autor dieser Zeilen, geht demnach davon aus, dass jeder schweizerische Leser eine Vorstellung davon hat, was denn damit gemeint ist. Konnotiert ist der Begriff bei Heim jedenfalls negativ, da der Reisende im darauf folgenden Satz Freude darüber ausdrückt, einige Dörfer weiter „den ersten mehr oder weniger unverfälschten Eingeborenen vom Stamme der Kikuyu“ zu begegnen, denen die britische Regierung „besondere Reservationen zugedacht hat“, was er im Sinne der Aufrechterhaltung von ‚Authentizität‘ willkommen heißt.16 Für Heim ist das ‚unberührte‘, bisweilen museale Afrika das einzig wahre, dessen Bewohner er als „Naturmenschen“ sehen möchte, die in einem „kindlichen Naturzustand“ leben.17 Der damit eng verbundene Topos der ‚Entmenschlichung‘ der Afrikaner, der ebenfalls auf absolute Abgrenzung gegenüber dem Fremden zielt, ist ebenfalls als gesamteuropäisch einzustufen. Lediglich die Ausprägungsformen unterscheiden sich von Reisebericht zu Reisebericht. So wird in Afrikaflug auf den Kunstdiskurs zurückgegriffen, um die ‚Andersheit‘ der Afrikaner zu betonen:
10 Z. B.: „Neger“ (S. 125, 180), „Negerdorf“ (S. 172, 179), „Negerdörfer“ (S. 152), „Negersiedelung“ (S. 97), „Negerstamm“ (S. 128). 11 Z. B.: „Eingeborene“ (S. 100, 104, 121, 124), „dichte Eingeborenenmenge“ (S. 108). 12 Z. B.: „Schwarze“ (S. 112, 181), „bunt gekleidete Schwarze“ (S. 149), „schwarze Mütter“ (S. 149), „das schwarze Völklein“ (S. 170). 13 Mittelholzer, Walter/Gouzy, René/Heim, Albert: Afrikaflug. Im Wasserflugzeug „Switzerland“ von Zürich über den dunkeln Erdteil nach dem Kap der Guten Hoffnung, Zürich, Leipzig: Orell Füssli, 1927, S. 98. 14 Es handelt sich also um Kulturtransferprozesse. Bemerkt und negativ beurteilt wird von den Reisenden vor allem der Aneignungsprozess von westlichen Konsumgütern (Kleidung, Accessoires) durch die Kolonisierten. 15 Mittelholzer/Gouzy/Heim: Afrikaflug, S. 122. 16 Mittelholzer/Gouzy/Heim: Afrikaflug, S. 123. 17 Mittelholzer/Gouzy/Heim: Afrikaflug, S. 98.
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Sonja Malzner Als diese dunkle, völlig nackte Gestalt, noch etwas schüchtern, sich erhob, da erinnerte sie an eine Bronzefigur. Für uns aber war sie noch mehr: ein lebendiges Kunstwerk der Natur, auch in den Bewegungen von vollendeter Schönheit, wie sie die natürliche, von keiner Kleiderfessel eingeengte Lebensweise hervorgebracht hatte.18
Der in St. Petersburg geborene, später in Paris und New York lebende Modefotograf George Hoyningen-Huene reist zehn Jahre später, 1937, durch Zentralafrika. Er geht bei der Beschreibung der angetroffenen Menschen noch über den Topos des ‚Ursprünglichen‘ hinaus, indem er ihnen göttliche und animalische Züge zuschreibt: „Gods of dignity“19, „inhuman violence and gusto“, „dark, luminous gods. […] Their bodies the ultimate in perfection“20: der Text inszeniert einen Überschwang an Emotionen und schöpft das Potenzial an Klischees nahezu gänzlich aus. Der Autor erfindet sich sein Afrika.21 Auf visueller Ebene spielen hinsichtlich des Topos des ‚ursprünglichen‘ Afrika die Darstellungen von Tanzszenen die zentrale Rolle. Es gibt kaum einen illustrierten Reisebericht, der ohne Fotografien von Tanzszenen auskommt – sie stellen in gewisser Weise das Markenzeichen des idealtypischen illustrierten Reiseberichts dar. Dass die Vorführungen oft nur mehr für die Touristen und gegen Bezahlung veranstaltet werden, spielt für viele Reisende keine Rolle.22 Die Inszenierung der gesuchten ‚Natürlichkeit‘ geht dabei beispielsweise in Afrikaflug so weit, dass der Fotograf in die Bekleidungsgewohnheiten der Tänzer eingreift. So ist in den Tagebuchaufzeichnungen von Arnold Heim zu lesen, dass er die Tänzer anweist, ihre weißen Tennisschuhe und Strümpfe auszuziehen, bevor sie sich an den Tanz machen.23 Die vermeintlich wissenschaftliche Suche nach Authentizität führt so zur Perpetuierung von Stereotypen. Neben diesen europäischen Topoi in der Darstellung von Afrikanern kristallisieren sich in den illustrierten Reiseberichten weitere Gemeinsamkeiten heraus, die als spezifisch für die Gattung Reisebericht bezeichnet werden können. So drückt sich in allen untersuchten Werken eine grundsätzliche Neugier auf den ‚Anderen‘ aus, gleichzeitig wird das persönliche Reise-Abenteuer thematisiert, was mit einem unterschiedlich hohen Grad an Selbstinszenierung einhergeht. Ethnologische Wissensvermittlung kann ebenfalls als Hauptbestandteil aller vorliegenden Reiseberichte identifiziert werden. Exotik und Erotik sowie die Inszenierung Afrikas als Projektionsraum eigener Sehnsüchte stellen, wie obige Beispiele zeigen, weitere europäische Gemeinplätze der Repräsentation von Afrikanern in 18 Mittelholzer/Gouzy/Heim: Afrikaflug, S. 101. 19 Hoyningen-Huene, George: African Mirage: the Record of a Journey, illustrated from the author’s photographs, London: B. T. Batsford, 1938, S. 8. 20 Hoyningen-Huene: African Mirage, S. 25. 21 Vgl. Hoyningen-Huene: African Mirage, S. 41–42, 78–81. 22 Hoyningen-Huene notiert, dass er sich regelmäßig Tanzvorführungen erkauft (vgl. HoyningenHuene: African Mirage, S. 43–44). 23 Vgl. Gasser, Michael: Naturmenschen statt Wilde. Arnold Heims Blick auf Schwarzafrika als Teilnehmer an Walter Mittelholzers Afrikaflug von 1926/27, in: ETH-Bibliothek (Hg.): Forscher auf Reisen. Fotografien als wissenschaftliches Souvenir, Zürich: ETH-Bibliothek, 2008, S. 99–116, hier S. 107.
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illustrierten Reiseberichten dar. In dieser Hinsicht präsentiert sich das Bild, das von Afrika und den Afrikanern gezeichnet wird, als ein gesamteuropäisches, das sich aus einer gemeinsamen Kulturtradition speist, innerhalb derer die christliche Weltanschauung, der bürgerliche Humanismus, die Wissenschaftstradition und der Imperialismusgedanke maßgebend sind. Neben diesen transnationalen Einheiten werden jedoch auch nationalkulturelle Spezifika in der Darstellung der Afrikaner sichtbar, insbesondere auf kolonialund geopolitischer Diskursebene. Ab den 1930er Jahren machen sich zwischen Frankreich und Deutschland diesbezüglich deutliche Divergenzen bemerkbar. Die unterschiedlichen kolonialpolitischen Herangehensweisen der beiden Nationen (die mission civilisatrice auf der einen Seite, der auf Johann Gottfried Herder und in der Folge auf Leo Frobenius basierende Kulturrelativismus auf der anderen Seite des Rheins)24 sowie die Tatsache, dass Deutschland nach dem Ersten Weltkrieg die Kolonien verlor, führt zu unterschiedlichen Diskursentwicklungen in französischen und deutschen plurimedialen Reiseberichten.25 Obwohl in Frankreich die Antikolonialismus-Debatte schon seit Jahrzehnten geführt wurde und den Afrikanern auch auf institutioneller Ebene Zugeständnisse gemacht worden waren,26 drang eine kritische Infragestellung des politischen Status quo nicht in das populäre Genre des plurimedialen Reiseberichts durch. Trotz der Tatsache, dass auf wissenschaftlicher, politischer wie auch kultureller Ebene der Blick vieler durchaus in Richtung einer unabhängigen Zukunft Afrikas ging, konnten für den Zeitraum direkt vor, während und nach dem Zweiten Weltkrieg keine plurimedialen Reiseberichte eruiert werden, in denen eine solche kritische Sichtweise übernommen worden wäre. Vielmehr herrschen in diesen traditionelle gattungsspezifische Diskursformationen vor, wie beispielsweise bei Jacques Chegaray das eigene Reise-Abenteuer:27 bereits der Titel L’Afrique noire en auto-stop 24 Siehe dazu: Löchte, Anne: Johann Gottfried Herder. Kulturtheorie und Humanitätsidee der Ideen, Humanitätsbriefe und Adrastea, Würzburg: Königshausen & Neumann, 2005 (Epistemata, Reihe Literaturwissenschaft 540); Frobenius, Leo: Paideuma, Umrisse einer Kulturund Seelenlehre, München: Beck, 1921 (Veröffentlichung des Forschungsinstituts für Kulturmorphologie); Costantini, Dino: Mission civilisatrice: le rôle de l’histoire coloniale dans la construction de l’identité politique française, traduit de l’italien par Juliette Ferdinand, Paris: La Découverte, 2008 (Textes à l’appui: Etudes coloniales) (Original: Una malattia europea: il ‚nuovo discorso coloniale‘ francese e i suoi critici, Pisa: PLUS, 2006 (Methexis 8)). 25 Siehe dazu auch: Hofmann, Michael: Einführung: Deutsch-afrikanische Diskurse in Geschichte und Gegenwart. Literatur- und kulturwissenschaftliche Perspektiven, in: ders./Morien, Rita (Hg.): Deutsch-afrikanische Diskurse in Geschichte und Gegenwart: literatur- und kulturwissenschaftliche Perspektiven, Amsterdam, New York: Rodopi, 2012 (Amsterdamer Beiträge zur neueren Germanistik 80), S. 7–19. 26 Vgl. Sartre, Jean-Paul: Le colonialisme est un système [1956], in: ders.: Situations V: Colonialisme et néo-colonialisme, Paris: Gallimard, 1964, S. 25–48, hier S. 26–27; Césaire, Aimé: Discours sur le colonialisme, Paris: Réclame, 1950; Suremain, Marie-Albanne de: Histoire coloniale et/ou histoire de l’Afrique? Historiographies de l’Afrique subsaharienne, XIXe– XXIe siècles, in: Saaïdia, Oissila/Zerbini, Laurick (Hg.): La Construction du discours colonial, l’Empire français aux XIXe et XXe siècles, Paris: Karthala, 2009, S. 35–62, hier S. 35– 48. 27 Chegaray, Jacques: L’Afrique noire en auto-stop, Paris: Amiot-Dumont, 1951.
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des illustrierten Reiseberichts schließt an die Tradition der Abenteuerberichte über Afrika an.28 Im Zentrum des Interesses steht das reisende Individuum selbst, die von ihm zu bezwingenden Abenteuer und Erlebnisse mit den Einheimischen. Einen ähnlichen Schwerpunkt setzt der illustrierte Reisebericht L’Afrique en Jeep des Belgiers Joe Ceurvorst aus dem Jahr 1952. Hier wird allerdings sehr wohl der kolonialpolitische Diskurs miteinbezogen, der sich in Form einer „Wahrheitsrede“29 präsentiert. Es wird also erklärt, konstatiert und geurteilt – Zweifel werden nicht zugelassen.30 Zum Thema der politischen Entwicklungen in Afrika und dem Entstehen kommunistischer Verbindungen wird vor der Gefahr gewarnt, dass die ‚Lehrlinge der Zivilisation‘, die politisch völlig unreif seien, nur allzu leicht auf die trügerischsten und plumpsten Täuschungen ‚subversiver Theorien‘ hereinfallen würden.31 Einer genaueren Analyse des Problems verweigert sich der Autor. Das aufkommende Selbstbewusstsein der jungen afrikanischen Generation und das damit einhergehende Verlangen nach Selbstbestimmung werden vielmehr als Beweis für die Naivität der Afrikaner genommen, was deren Behandlung als grands enfants rechtfertigen soll.32 Das in der pädagogischen Reihe Terre et Hommes 1954 bei Fernand Nathan erschienene Büchlein Du Cameroun au Tchad von Jean-Paul Lebeuf setzt insbesondere auf die Vermittlung ethnologischen Wissens.33 Lebeuf expliziert dieses Ansinnen in der Einleitung: Ethnologie, so schreibt er, sei das Studium von Völkern, die die Technik noch nicht erreicht hat.34 Die bei solchen Völkern gemachten Beobachtungen erlaubten es, tief in Psychologien einzudringen, die, obwohl sie völlig anders seien als die eigene, nicht weniger fesselnd seien, da sie vergessene Stadien des menschlichen Denkens entdecken ließen.35 Diesem Ansatz entsprechend handelt es sich bei den 22 Seiten Text fast ausschließlich um Beschreibungen, die einem positivistischen Anthropologieverständnis verpflichtet sind, 28 Siehe auch: Mittelholzer/Gouzy/Heim: Afrikaflug. 29 Zum Begriff der ‚Wahrheitsrede‘ siehe: Bal, Mieke: Kulturanalyse, hg. und mit einem Nachw. vers. von Thomas Fechner-Smarsly und Sonja Neef, aus dem Engl. von Joachim Schulte, Frankfurt/M.: Suhrkamp, 2006, S. 83. „Wahrheitsrede“ definiert sie als jenen Diskurs, „der die Wahrheit, der sich der Betrachter unterwerfen soll, in Anspruch nimmt, indem er die bereitwillige Außerkraftsetzung des Zweifels, welche die Macht der Fiktion regiert, gutheißt“. 30 Vgl. Ceurvorst, Joe: L’Afrique en Jeep. Sahara – Niger – Congo – Nil, 35.000 Km, Paris: Hatier-Boivin, 1952. 31 Ceurvorst: L’Afrique en Jeep, S. 176. Zitat: „Dépourvus de toute maturité politique, ces apprentis civilisés se révèlent souvent aptes à succomber aisément aux mirages les plus trompeurs et les plus grossiers.“ 32 Vgl. „L’indigène reste essentiellement bon-enfant“ (S. 54); „Le Nègre, ce grand enfant jovial et gai“ (S. 159); „Les Nègres primitifs ont une mentalité d’enfant“ (S. 84); „Comme les enfants, ils ont en eux un potentiel de qualités et de défauts qu’il importe de développer ou de réprimer selon le cas, tâche complexe de longue haleine“ (S. 84). 33 Lebeuf, Jean-Paul: Du Cameroun au Tchad, avec l’aide de Geneviève Rouch, Paris: Fernand Nathan, 1954. 34 Vgl. Lebeuf: Du Cameroun au Tchad, S. 6. 35 Vgl. Lebeuf: Du Cameroun au Tchad, S. 6.
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das die Menschen ihrer Individualität beraubt, indem sie sie als anonyme Vertreter einer ‚Kategorie‘, d. h. einer Rasse, versteht.36 Auch die Legenden zu den Fotografien lenken den Blick des Betrachters immer auf ethnologische Besonderheiten der gezeigten Personen, indem sie ausschließlich den Plural, das ‚sie‘, verwenden. Neben diesem wissenschaftlichen Diskurs werden die Freundlichkeit, die Großzügigkeit und der Sinn für Eleganz der afrikanischen Bevölkerung hervorgehoben sowie auch das eigene vorbildliche Verhalten dieser gegenüber.37 Das vor allem die Jugend ansprechende Werk versteht sich also pädagogisch, sowohl hinsichtlich ethnologischer Wissensvermittlung als auch hinsichtlich eines paternalistischen, wohlwollenden Umgangs mit der afrikanischen Bevölkerung, die es zu beschützen gelte. Die Debatte um Unabhängigkeitsbestrebungen wird durch eine solche Wahrheitsrhetorik, die die beobachteten Lebensformen als statisch und ohne jeglichen Einfluss auf globale Prozesse darstellt, ausgeklammert.38 Derselbe ‚zivilisatorische‘ Blickwinkel findet sich in La Brousse sans pitié, 1954 von John L. Brom in Paris veröffentlicht. Auch hier wird das Verhältnis zwischen französischem Kolonisator und Kolonisierten als ein durch und durch harmonisches gepriesen, wobei den Europäern die Rolle der Lehrer zugesprochen wird: Ils [die Reisenden, S. M.] savaient qu’un blanc en Afrique avait, envers les hommes de couleur, des devoirs et des responsabilités. Ils essayaient d’être plus des éducateurs que des maîtres. C’est ainsi que naquit une belle harmonie entre les deux mondes […].39
36 Vgl. Theye, Thomas: Der geraubte Schatten. Die Photographie als ethnographisches Dokument, München, Luzern: Bucher, 1989, S. 18–20. Siehe dazu auch: Collier, John Jr.: Photography and Visual Anthropology, in: Hockins, Paul (Hg.): Principles of Visual Anthropology, Berlin, New York: Mouton de Gruyter, 1995, S. 235–254, hier S. 239. 37 Vgl. Lebeuf: Du Cameroun au Tchad, S. 17. Ein weiteres Reisebuch von Jean-Paul Lebeuf, das einem ähnlichen Schema folgt, ist Quand l’or était vivant. Aventures au Tchad, das bereits 1945 in Paris bei den Editions J. Susse in der Reihe „Voyages et aventures“ erschien. Als Zielsetzungen der Publikation werden zwei Aspekte angegeben: die Jugend anzusprechen und ihr die Afrikaner näher zu bringen. „Ce volume n’a aucune prétention scientifique ou littéraire. Il est écrit comme le carnet de route qui l’inspire. L’auteur s’est efforcé de ne relater que des faits exacts; il tâche d’exprimer des pensées qui furent les siennes dans un pays encore sans machinisme. Il n’a que deux intentions, bien simples: plaire à la jeunesse et à tous ceux qui sont épris d’air pur, faire aimer et comprendre des êtres qui ne nous paraissent étranges que parce que nous les connaissons mal“ (Titelseite). 38 Ähnliche Argumentationslinien finden sich in: Grevin, Emmanuel: Voyage au Hoggar. Tourisme au Sahara, Paris: Stock, 1936. Zur Rolle Frankreichs heißt es hier: „Sur cette immensité, la France règne, domine, travaille […]. La France est grande et belle, vue d’ici. Elle forme un tout, un bloc; les querelles partisanes s’évanouissent“ (S. 15). Siehe dazu auch folgenden (nicht-illustrierten) Reisebericht: Siegfried, André: Afrique du Sud. Notes de voyage, Paris: Armand Colin, 1949. (Der Geograf Siegfried berichtet im Auftrag von Le Monde aus Südafrika, insbesondere über die politischen Zustände in Südafrika, Rhodesien und BelgischKongo. Auch er vertritt eindeutig eine paternalistische Haltung gegenüber den Afrikanern.) 39 Brom, John L.: La Brousse sans pitié, Paris: Documents du monde, 1954, S. 205.
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Die genannten Beispiele plurimedialer französischer (sowie belgischer)40 Reiseberichte zeugen von einer Fokussierung auf Unterhaltung, ethnologischen Wissenstransfer und von der Aufrechterhaltung eines paternalistischen Diskurses in diesen populären Werken. Die gesellschaftspolitischen Veränderungen in Afrika (vor allem in den Küstenstädten) werden ausgeklammert41 oder in wenigen Sätzen als eine negative Entwicklung verurteilt, der der Kolonisator entgegenzuarbeiten hat. Obwohl auf literarischer, wissenschaftlicher und auch politischer Ebene offen über die unvermeidliche Dekolonisierung debattiert wurde, scheint es, als wollte man im populären Genre42 dem Trauma von 194043 und dem weiteren, bevorstehenden Trauma durch das Aufrechterhalten von Darstellungs- und Argumentationsmustern der Vorkriegszeit entgegenwirken. Französische plurimediale Reiseberichte präsentieren somit in den 1950er Jahren nach wie vor primär Afrikaner, die freundlich, bisweilen naiv, den Franzosen gewogen und in ihren Traditionen verhaftet sind. Der zentrale Begriff im deutschen Afrika-Diskurs hingegen ist der der Irritation, wie die Beispiele Rote Straßen – schwarze Menschen (1954) von Herbert Kaufmann und Wunderwege durch ein Wunderland (1938) von Gustav Adolf Gedat zeigen: Kaufmann konfrontiert den Leser bereits auf den ersten Seiten mit der Desillusion, die für den gesamten Reisebericht diskursbestimmend ist:
40 Hinsichtlich der Darstellung von Afrikanern in Kolonialausstellungen macht Hans-Jürgen Lüsebrink allerdings Unterschiede zwischen belgischen und französischen Repräsentationsformen aus. Vgl. Lüsebrink, Hans-Jürgen: Images de l’Afrique et mise en scène du Congo Belge dans les expositions coloniales françaises et belges (1889–1937), in: Halen, Pierre/ Riesz, János (Hg.): Images de l’Afrique et du Congo/Zaïre dans les lettres françaises de Belgique et alentour, actes du colloque international de Louvain-la-Neuve (4–6 février 1993), Bruxelles: Textyles/Kinshasa: Ed. du Trottoir, 1993, S. 75–88. 41 Siehe dazu auch: Bodart, Roger: Dialogues africains. Ornés de reproductions en noir et en couleurs d’œuvres de Pilipili Ilunga, Kayembe N’Kulu et Bela Sara M’Daye, [Bruxelles]: Editions des artistes, [1952]; Ripaud, Agnès: L’Afrique du Sud. Terre d’or et de diamant, Paris: Centurion, 1955 (34 Fotos). Ripaud positioniert sich bereits im Vorwort: „Cet ouvrage ayant pour seul but de présenter l’Union Sud-Africaine sous son jour pittoresque et touristique, aucun sujet racial ni politique ne sera abordé au cours de ses pages. De nombreux livres ont déjà traité ces questions, et notre seul désir est d’intéresser le lecteur aux coutumes et à la ‚couleur‘ de l’Afrique du Sud et de lui faire partager notre admiration pour ce merveilleux pays.“ 42 Hier ist eine Parallele zum französischen Nachkriegskino zu bemerken, für das Catherine Gaston-Mathé feststellt, dass dieses sämtliche Themen, die kontrovers diskutiert wurden, ausklammert: „Ainsi, les problèmes brûlants de la société française d’après-guerre sont-ils évacués du cinéma de l’époque qui n’évoque ni la contestation du capitalisme, ni le problème colonial et les conflits de décolonisation, ni la crise des institutions“. Vgl. Gaston-Mathé, Catherine: La Société française au miroir de son cinéma. De la débâcle à la décolonisation, Paris: Editions du Cerf, 2001, S. 79. 43 Vgl. Judt, Tony: Die Katastrophe – Die Niederlage Frankreichs 1940, in: ders.: Das vergessene 20. Jahrhundert. Die Rückkehr des politischen Intellektuellen, Bonn: Bundeszentrale für politische Bildung, 2010, S. 183–198. (Original: Reappraisals: Reflections on the Forgotten Twentieth Century, New York: Penguin Press, 2008.)
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Ich erwartete braune Araber in Fex und Turban, die das Schiff stürmen würden, um sich über das Gepäck der Passagiere zu zanken. Aber es kam niemand. Der Hafen von Algier lag tot in der Sonne […]. Wo die große Moschee stand, warteten Menschen in kleinen Gruppen auf irgendetwas […]. Während ich einem großen Araber mit weißem Bart nachschaute, bog ein langer Zug von Männern um die Ecke. Einige trugen rote Fahnen, andere hielten Transparente, auf denen in französischer Sprache stand ‚Frieden für die Vietminh‘, ‚Unterstützung für die Arbeitslosen‘.44
Die Zeit der ‚heilen afrikanischen Welt‘ ist für Kaufmann definitiv vorbei, auch in Bezug auf Afrika südlich der Sahara: „In der Stadt tanzen keine maskierten Jäger“, stellt er nüchtern fest, „sondern Arbeiter aus der Textilfabrik“.45 Gedat, dessen reich illustriertes Werk bereits 1938 erschien, sieht die Lage ähnlich. Indem er seinen Bericht mit einer Frage enden lässt, betont er seine eigene Irritation und fordert gleichzeitig den Leser zum Mitdenken auf: „Vor mir stehen im Geist die Millionen schwarzer Menschen“, schreibt er, „Sie wissen nicht, wohin der Weg geht; sie wissen nicht, was werden soll. Sie sehen uns an – uns Europäer, fordernd, mahnend, – anklagend: Was wird aus diesem Afrika?“46 Kaufmann bezieht in Rote Straßen – schwarze Menschen den Leser-Betrachter ebenfalls aktiv in dieses Nachdenken über das sich wandelnde Afrika mit ein. Nicht nur durch das konkrete Aufwerfen von Fragen im Text, sondern auch auf intermedialer Ebene, wie im Falle der Fotografie „Zulu aus dem Gebiet um Durban“ und der dazugehörigen Legende: Dieses Farbfoto (siehe Abb. 1) zeigt einen mit farbenprächtigem Kopf- und Brustschmuck ausgestatteten Zulu. Ein geradezu idealtypisches Reisebericht-Motiv, das, verstärkt durch die Farbaufnahme, vor Exotik nur so strotzt. Die dazugehörige Legende allerdings desillusioniert und holt den Betrachter in die ‚bittere‘ Realität zurück: „Der phantastische Kopf- und Brustschmuck wird nur getragen“, so der Kommentar, „um die Besucher dieses bedeutenden Hafen- und Badeortes auf die Rikschas aufmerksam zu machen, in denen diese Zulus die Fremden für einige Pennies über die Strandpromenade ziehen – ein charakteristisches Bild des sich wandelnden Kontinents.“47 Durch diese intermedial-rhetorische Strategie wird dem Betrachter zuerst ein vermeintlich authentisches Afrika im Sinne von Tradition und Zeitlosigkeit vorgesetzt, nur um ihn im Text sogleich auf den Boden der Tatsachen zurückzuholen. Seine eigenen Vorurteile werden ihm dadurch bewusst gemacht. Die Kombination von Text und Bild schafft hier also einen Mehrwert, der den vom Reisenden empfundenen ‚Wandel‘ ausdrückt und den Leser-Betrachter aktiv an der Sinnstiftung beteiligt.
44 Kaufmann, Herbert: Rote Straßen – schwarze Menschen. Reise durch das sich wandelnde Afrika, München: Nymphenburger Verlagshandlung, 1955, S. 9. 45 Kaufmann: Rote Straßen – schwarze Menschen, S. 41. 46 Gedat, Gustav Adolf: Wunderwege durch ein Wunderland. Ein Fahrtenbilderbuch, Stuttgart: Steinkopf, 1939, S. 182–183. 47 Kaufmann: Rote Straßen – schwarze Menschen, o. S. (gegenüber S. 128).
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Abb. 1: Kaufmann, Herbert: Rote Straßen – schwarze Menschen. Reise durch das sich wandelnde Afrika, München: Nymphenburger Verlagshandlung, 1955, o. S.
„Es ist fast zuviel Zukunft in der Luft. Das irritiert mich“, bemerkt auch Ernst Schnabel im (nicht-illustrierten) literarischen Reisebericht Großes Tamtam. Ansichten vom Kongo48 1952, und in Südlich der Sahara. Schwarz, Weiß und Braun in Afrika von Werner Krug geht es auch um den Aufbruch in ein neues, modernes Afrika.49 Der Schriftsteller Kasimir Edschmid gehört ebenfalls zu den Reisenden, die sich primär für Politik interessieren. In seinem 1951 neu aufgelegten (und umgearbeiteten) Reisebericht Afrika nackt und angezogen weisen bereits einige der Zitate, die als Motto dienen, auf die den Bericht strukturierende politische Debatte hin. So zitiert er den „Negerminister Kwame Nkruhma an der Goldküste 1950“: „Wache auf, schwarzes Volk! Vom Himmel aus wollen wir später einmal sehen, wie unsere Kinder ihre eigenen Flugzeuge führen und ihre eigenen Armeen kommandieren“, wie auch einen „schwarze[n] Agitator in Kenya 1948“: „Hinaus mit den Weißen!“50 Die deutschen Reisenden öffneten sich der neuen Realität. Das Ansinnen dieser Autoren ist es nicht, Antworten zu geben, sondern Fragen aufzuwerfen, was sie mit Paul Michael Lützeler zu Vorreitern eines „postkolonialen Blicks“ macht, da sie „Unsicherheiten, Irritationen, mögliche Irrtümer und die Begrenztheit ihrer Erfahrung“ eingestehen.51 Die Darstellung der Afrikaner in Wort und Bild oszilliert in den deutschen Reiseberichten dementsprechend zwischen einer, die deren Alterität betont und einer, die diese Menschen als potenzielle zukünftige Partner sieht. Die Trennlinie beginnt sich deshalb in diesen Wer48 Schnabel, Ernst: Großes Tamtam. Ansichten vom Kongo, Hamburg: Claassen, 1952, S. 68. 49 Krug, Werner G.: Südlich der Sahara. Schwarz, Weiß und Braun in Afrika, Hamburg: Hoffmann & Campe, 1954. 50 Edschmid, Kasimir: Afrika nackt und angezogen [1929], München: Desch, 1951, Motto. 51 Lützeler, Paul Michael: Einleitung: Postkolonialer Diskurs und deutsche Literatur, in ders. (Hg.): Schriftsteller und ‚Dritte Welt‘. Studien zum postkolonialen Blick, Tübingen: Stauffenburg, 1998 (Studien zur deutschsprachigen Gegenwartsliteratur 8), S. 7–30, hier S. 29.
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ken von ‚schwarz‘ vs. ‚weiß‘ hin zu ‚primitiver Landbevölkerung‘ vs. ‚gebildeter Stadtbevölkerung‘ zu verschieben. Das Pittoreske, das Schöne und das Exotische spielen nur mehr eine Nebenrolle. Es werden zwar ausführlich Lebensweise und Sozialstrukturen ländlicher Bevölkerungsgruppen dargestellt und eigene Sehnsüchte nach dem ‚wahren‘, ‚unberührten‘ Afrika thematisiert, jedoch stets durch Darstellungen aktueller Realitäten als Illusion entlarvt. Obwohl also auch in deutschen Publikationen Afrika kontinuierlich als Bühne für persönliche Abenteuer gilt,52 ist ab den 1930er Jahren eindeutig eine intensivere Auseinandersetzung mit globalpolitischen Fragen zu bemerken, die sich nicht auf die direkte Beziehung von Kolonisiertem und Kolonisator beschränkt. Der Verlust der Kolonien ruft im Deutschland der 1920er Jahre eine verstärkte nostalgisch und politisch geprägte Afrika-Reisebericht-Produktion hervor. Ab Mitte der 1930er Jahre akzentuiert sich im Zuge des Einsetzens eines Booms populärer geopolitischer Sachbücher in Hitlerdeutschland, der auf das eng verwandte Genre des plurimedialen Reiseberichts abfärbt, die Verschiebung hin zu einem politisch interessierten Objektivismus. Eine Tendenz, die bis in die 1950er Jahre hinein in Reiseberichten junger Autoren anhält, die Aleida Assmann als die „FlakhelferGeneration“ beschreibt, die einerseits vom Krieg und der darauf folgenden Niederlage traumatisiert war, der sich andererseits aber die Chance eines radikalen Neubeginns bot.53 Reiseberichte zu produzieren, ohne auf die globalpolitischen Verhältnisse einzugehen, schien für diese Generation undenkbar zu sein.54 Die Perspektive dieser Reisenden ist diejenige eines Außenstehenden, diese lässt in kolonial- und geopolitischen Fragen verständlicherweise eher Infragestellungen zu als die eines direkt Beteiligten. Für den „Helden“, der im „direkten Funktionszusammenhang“ mit dem Kolonialismus steht, gibt es „kaum eine andere Position als die des imperialen Eroberers und Herrschers“, stellt Struck in dieser Hinsicht in Bezug auf koloniale Fiktion fest. Gleichzeitig wirft er die Frage nach Möglichkeiten neuer Rollenmodelle im (ungewollt) postkolonialen Deutschland auf.55 Was die nicht-fiktionalen plurimedialen Reiseberichte betrifft, so kristallisieren sich dahingehend erste Antworten auf diese Frage heraus. Fazit: Im plurimedialen Reisebericht, dieser besonderen Ausprägungsform der Gattung Reisebericht, die dem Populären zugerechnet werden kann56 und sich 52 Vgl. z. B.: Schurhammer, Romy: Romy fährt nach Afrika. Ein Mädchen, ein Auto und 20 000 Kilometer, mit 36 Fotos der Verfasserin, Gütersloh: Bertelsmann, 1958. 53 Assmann, Aleida: Geschichte im Gedächtnis. Von der individuellen Erfahrung zur öffentlichen Inszenierung, München: Beck, 2007 (Krupp-Vorlesungen zu Politik und Geschichte am Kulturwissenschaftlichen Institut im Wissenschaftszentrum Nordrhein-Westfalen 6), S. 60. 54 Siehe dazu: Reif, Wolfgang: Exotismus im Reisebericht des frühen 20. Jahrhunderts, in: Brenner, Peter J. (Hg.): Der Reisebericht. Die Entwicklung einer Gattung in der deutschen Literatur, Frankfurt/M.: Suhrkamp, 1989, S. 434–462. 55 Struck, Wolfgang: Die Eroberung der Phantasie. Kolonialismus, Literatur und Film zwischen deutschem Kaiserreich und Weimarer Republik, Göttingen: V&R unipress, 2010 (Palaestra 333), S. 59. 56 Zum Begriff des Populären siehe: Agard, Olivier/Helmreich, Christian/Vinckel-Roisin, Hélène (Hg.): Das Populäre: Untersuchungen zu Interaktionen und Differenzierungsstrategien in Literatur, Kultur und Sprache, Göttingen: V&R Unipress, 2011.
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dementsprechend gut eignet, um Gesellschaftsdiskurse ins Auge zu fassen, kristallisieren sich sowohl europäische Gemeinsamkeiten als auch nationale Spezifika in der Darstellung von Afrikanern heraus. Die Konvergenzen im Blick auf Afrika sind geprägt von den großen wissenschaftlichen (Darwinismus, Ethnologie) und imperialistischen Diskursen im Europa des 19. Jahrhunderts sowie von christlichen Überzeugungen. Auch die generelle Neugier auf den ‚Anderen‘ gehört in diese Kategorie. Divergenzen werden vor allem hervorgerufen durch unterschiedliche politische Entwicklungen in Frankreich und Deutschland und das Kriegstrauma, das zu unterschiedlichen Reaktionen führt: im (kolonielosen) Nachkriegsdeutschland zu Infragestellungen herrschender Zustände, im Nachkriegsfrankreich zu einem Festhalten an der Kolonialideologie und dem damit verbundenen Paternalismus. Dies zeigt einmal mehr, wie in der Repräsentation des ‚Anderen‘ eigene gesellschaftliche Befindlichkeiten verhandelt werden.
LITERATURVERZEICHNIS Afrika-Reiseberichte Bodart, Roger: Dialogues africains. Ornés de reproductions en noir et en couleurs d’œuvres de Pilipili, Ilunga, Kayembe, N’Kulu et Bela Sara M’Daye, [Bruxelles]: Editions des artistes, [1952]. Brom, John L.: La Brousse sans pitié, Paris: Documents du monde, 1954. Ceurvorst, Joe: L’Afrique en Jeep. Sahara – Niger – Congo – Nil, 35.000 Km, Paris: HatierBoivin, 1952. Chegaray, Jacques: L’Afrique noire en auto-stop, Paris: Amiot-Dumont, 1951. Edschmid, Kasimir: Afrika nackt und angezogen [1929], München: Desch, 1951. Gedat, Gustav Adolf: Wunderwege durch ein Wunderland. Ein Fahrtenbilderbuch, Stuttgart: Steinkopf, 1939. Grevin, Emmanuel: Voyage au Hoggar. Tourisme au Sahara, Paris: Stock, 1936. Hoyningen-Huene, George: African Mirage: the Record of a Journey, illustrated from the author’s photographs, London: B. T. Batsford, 1938. Kaufmann, Herbert: Rote Straßen – schwarze Menschen. Reise durch das sich wandelnde Afrika, München: Nymphenburger Verlagshandlung, 1955. Krug, Werner G.: Südlich der Sahara. Schwarz, Weiß und Braun in Afrika, Hamburg: Hoffmann & Campe, 1954. Lebeuf, Jean-Paul: Quand l’or était vivant. Aventures au Tchad, Paris: J. Susse, 1945 (Voyages et aventures). Lebeuf, Jean-Paul: Du Cameroun au Tchad, avec l’aide de Geneviève Rouch, Paris: Fernand Nathan, 1954. Mittelholzer, Walter/Gouzy, René/Heim, Albert: Afrikaflug. Im Wasserflugzeug „Switzerland“ von Zürich über den dunkeln Erdteil nach dem Kap der Guten Hoffnung, Zürich, Leipzig: Orell Füssli, 1927. Ripaud, Agnès: L’Afrique du Sud. Terre d’or et de diamant, Paris: Centurion, 1955. Schnabel, Ernst: Großes Tamtam. Ansichten vom Kongo, Hamburg: Claassen, 1952. Schurhammer, Romy: Romy fährt nach Afrika. Ein Mädchen, ein Auto und 20 000 Kilometer, mit 36 Fotos der Verfasserin, Gütersloh: Bertelsmann, 1958. Siegfried, André: Afrique du Sud. Notes de voyage, Paris: Armand Colin, 1949.
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Sekundärliteratur Agard, Olivier/Helmreich, Christian/Vinckel-Roisin, Hélène (Hg.): Das Populäre: Untersuchungen zu Interaktionen und Differenzierungsstrategien in Literatur, Kultur und Sprache, Göttingen: V&R Unipress, 2011. Assmann, Aleida: Geschichte im Gedächtnis. Von der individuellen Erfahrung zur öffentlichen Inszenierung, München: Beck, 2007 (Krupp-Vorlesungen zu Politik und Geschichte am Kulturwissenschaftlichen Institut im Wissenschaftszentrum Nordrhein-Westfalen 6). Bal, Mieke: Kulturanalyse, hg. und mit einem Nachw. vers. von Thomas Fechner-Smarsly und Sonja Neef, aus dem Engl. von Joachim Schulte, Frankfurt/M.: Suhrkamp, 2006. Césaire, Aimé: Discours sur le colonialisme, Paris: Réclame, 1950. Collier, John Jr.: Photography and Visual Anthropology, in: Hockins, Paul (Hg.): Principles of Visual Anthropology, Berlin, New York: Mouton de Gruyter, 1995, S. 235–254. Costantini, Dino: Mission civilisatrice: le rôle de l’histoire coloniale dans la construction de l’identité politique française, traduit de l’italien par Juliette Ferdinand, Paris: La Découverte, 2008 (Textes à l’appui: Etudes coloniales). (Original: Una malattia europea: il ‚nuovo discorso coloniale‘ francese e i suoi critici, Pisa: PLUS, 2006 (Methexis 8).) Elias, Norbert: Die Gesellschaft der Individuen, Frankfurt/M.: Suhrkamp, 41999. Frobenius, Leo: Paideuma, Umrisse einer Kultur- und Seelenlehre, München: Beck, 1921 (Veröffentlichung des Forschungsinstituts für Kulturmorphologie). Gasser, Michael: Naturmenschen statt Wilde. Arnold Heims Blick auf Schwarzafrika als Teilnehmer an Walter Mittelholzers Afrikaflug von 1926/27, in: ETH-Bibliothek (Hg.): Forscher auf Reisen. Fotografien als wissenschaftliches Souvenir, Zürich: ETH-Bibliothek, 2008, S. 99– 116. Gaston-Mathé, Catherine: La Société française au miroir de son cinéma. De la débâcle à la décolonisation, Paris: Editions du Cerf, 2001. Gründer, Horst: Geschichte der deutschen Kolonien, Paderborn [u. a.]: Schöningh, 52004. Hofmann, Michael: Einführung: Deutsch-afrikanische Diskurse in Geschichte und Gegenwart. Literatur- und kulturwissenschaftliche Perspektiven, in: ders./Morien, Rita (Hg.): Deutschafrikanische Diskurse in Geschichte und Gegenwart: literatur- und kulturwissenschaftliche Perspektiven, Amsterdam, New York: Rodopi, 2012 (Amsterdamer Beiträge zur neueren Germanistik 80), S. 7–19. Judt, Tony: Die Katastrophe – Die Niederlage Frankreichs 1940, in: ders.: Das vergessene 20. Jahrhundert. Die Rückkehr des politischen Intellektuellen, Bonn: Bundeszentrale für politische Bildung, 2010, S. 183–198. (Original: Reappraisals: Reflections on the Forgotten Twentieth Century, New York: Penguin Press, 2008.) Koetzle, Hans-Michael: Das Lexikon der Fotografen, 1900 bis heute, München: Knaur, 2002. Löchte, Anne: Johann Gottfried Herder. Kulturtheorie und Humanitätsidee der Ideen, Humanitätsbriefe und Adrastea, Würzburg: Königshausen & Neumann, 2005 (Epistemata, Reihe Literaturwissenschaft 540). Lüsebrink, Hans-Jürgen: Images de l’Afrique et mise en scène du Congo Belge dans les expositions coloniales françaises et belges (1889–1937), in: Halen, Pierre/Riesz, János (Hg.): Images de l’Afrique et du Congo/Zaïre dans les lettres françaises de Belgique et alentour, actes du colloque international de Louvain-la-Neuve (4–6 février 1993), Bruxelles: Textyles/ Kinshasa: Ed. du Trottoir, 1993, S. 75–88. Lützeler, Paul Michael: Einleitung: Postkolonialer Diskurs und deutsche Literatur, in ders. (Hg.): Schriftsteller und ‚Dritte Welt‘. Studien zum postkolonialen Blick, Tübingen: Stauffenburg, 1998 (Studien zur deutschsprachigen Gegenwartsliteratur 8), S. 7–30. Moura, Jean-Marc: La Littérature des lointains. Histoire de l’exotisme européen au XXe siècle, Paris: Honoré Champion, 1998 (Bibliothèque de littérature générale et comparée 14). Rajewsky, Irina O.: Intermedialität, Tübingen, Basel: Francke, 2002.
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Reif, Wolfgang: Exotismus im Reisebericht des frühen 20. Jahrhunderts, in: Brenner, Peter J. (Hg.): Der Reisebericht. Die Entwicklung einer Gattung in der deutschen Literatur, Frankfurt/M.: Suhrkamp, 1989, S. 434–462. Reinhard, Wolfgang: Kleine Geschichte des Kolonialismus, Stuttgart: Kröner, 1996. Sartre, Jean-Paul: Le colonialisme est un système [1956], in: ders.: Situations V: Colonialisme et néo-colonialisme, Paris: Gallimard, 1964, S. 25–48. Struck, Wolfgang: Die Eroberung der Phantasie. Kolonialismus, Literatur und Film zwischen deutschem Kaiserreich und Weimarer Republik, Göttingen: V&R unipress, 2010 (Palaestra 333). Suremain, Marie-Albanne de: Histoire coloniale et/ou histoire de l’Afrique? Historiographies de l’Afrique subsaharienne, XIXe–XXIe siècles, in: Saaïdia, Oissila/Zerbini, Laurick (Hg.): La Construction du discours colonial, l’Empire français aux XIXe et XXe siècles, Paris: Karthala, 2009, S. 35–62. Theye, Thomas: Der geraubte Schatten. Die Photographie als ethnographisches Dokument, München: Stadtmuseum 1989. Wolfzettel, Friedrich: Ce désir de vagabondage cosmopolite. Wege und Entwicklung des französischen Reiseberichts im 19. Jahrhundert, Tübingen: Niemeyer, 1986. Wolfzettel, Friedrich: Reiseberichte und mythische Struktur. Romanistische Aufsätze 1983–2002, Stuttgart: Steiner, 2003.
RISIKEN UND CHANCEN TYPOLOGISCHEN VERGLEICHENS AM BEISPIEL DER ANALYSE ETHNISCHER UND POSTKOLONIALER KRIMINALLITERATUR Jeanne Ruffing
1. DIE KRISE DES VERGLEICHS: NEUE ASPEKTE EINER FUNDAMENTALEN DISKUSSION Obwohl die sogenannte Krise der Allgemeinen und Vergleichenden Literaturwissenschaft – die sich immer wieder auch als eine Krise des Vergleichs präsentierte und präsentiert1 – schon seit Jahrzehnten immer wieder diskutiert wird,2 sieht der Literaturwissenschaftler sich doch heute besonderen, neuen Herausforderungen gegenüber, wenn er nicht nur komparatistisch arbeiten möchte, sondern die Existenz eines spezifischen komparatistischen Erkenntnisinteresses und einer spezifischen Methodologie behauptet. Kritiker verwiesen zwar immer wieder darauf, dass natürlich auch die sogenannten Nationalphilologien vergleichen, wenn sie mehrere Texte untersuchen,3 und dass man sich fragen muss, ob wirklich jede Studie, in deren Korpus sich Werke aus mehreren Sprachen befinden, tatsächlich eine spezifische Methodik benötigt. Bei aller Disparität der komparatistischen Betätigungsfelder von der Einflussforschung über die Motivgeschichte bis zur Imagologie – und diese Disparität war immer wieder ein wesentliches Argument der Krisenpropheten – konnte sich die Vergleichende Literaturwissenschaft aber auf den ‚grenzüberschreitenden‘ Aspekt ihres Tuns berufen und daraus in der Konkurrenzsituation mit den sogenannten Nationalphilologien wie Germanistik, Anglistik, Romanistik, Slavistik etc. ihre spezifische Legitimität herleiten. Doch Grenzüberschreitung setzt Grenzziehung voraus, und mit der Aufweichung bislang als selbstverständlich geltender disziplinärer und nationaler Abgrenzungen muss sich auch die Komparatistik neu positionieren und darüber reflektieren, ob traditionelle Methoden und Fachdefinitionen überhaupt noch sinnvoll sind. 1 2 3
Siehe z. B. Pageaux, Daniel-Henri: La Littérature générale et comparée, Paris: Armand Colin, 1994, S. 5. Vgl. Weisstein, Urich: D’où venons-nous? Que sommes-nous? Où allons-nous?: The Permanent Crisis of Comparative Literature, in: Canadian Review of Comparative Literature/Revue canadienne de littérature comparée 11/2 (Juni 1984), S. 167–192. Vgl. Corbineau-Hoffmann, Angelika: Einführung in die Komparatistik, Berlin: Erich Schmidt, 22004, S. 92.
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Außerhalb der Komparatistik als Fach ist eine Vielzahl von neuen Ansätzen, Ideen und Fragestellungen entstanden, die grenzüberschreitende und interkulturelle ebenso wie interdisziplinäre Fragestellungen auf ganz eigene Art entwickeln. Längst haben die früheren Nationalphilologien das Grenzüberschreitende ihrer eigenen Gegenstände entdeckt: Sie befassen sich mit Migrantenliteratur, Multikulturalismus und postkolonialer Kritik, mit interkultureller Hermeneutik und littérature francophone von innerhalb und außerhalb Europas. Französische Germanisten und deutsche Romanisten arbeiten zusammen, um die intensive gegenseitige Beeinflussung scheinbar autonomer Nationalkulturen aufzuweisen und zu interpretieren. Ähnliches lässt sich auch in Bezug auf methodische Grenzüberschreitungen hin zu anderen Medien und Künsten, anderen Geistes- und Sozialwissenschaften konstatieren, die heute unter dem Begriff Kulturwissenschaft methodisches Allgemeingut geworden sind. Diese Entwicklung ist zwar aus komparatistischer Sicht sehr erfreulich, führt aber zu der Frage, ob und wie die Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft in der Lage ist, diese Vielzahl von Ansätzen methodisch reflektiert zu integrieren. Noch dringlicher als die Herausforderungen dieser neuen Vielfalt ist aber eine grundsätzlichere Kritik am Vergleich und damit an genuin komparatistischer Methodik, die die Frage stellt, ob der nationenübergreifende Vergleich als Methode überhaupt noch statthaft ist oder nicht selbst auf obsoleten Nationsbegriffen beruht. Der Vergleich zwischen Nationalkulturen als abgeschlossenen Räumen bestätige, so die Kritik, gerade die Grenzziehung, die er zu überschreiten vorgebe, er ignoriere sowohl die teils intensiven Wechselbeziehungen zwischen diesen Räumen, die das vermeintlich Nationenspezifische oft überhaupt erst konstituiert haben,4 als auch ihre interne Heterogenität.5 Einer der einflussreichsten Vertreter dieser Kritik, Michel Espagne, geht in seinem grundlegenden Werk Les Transferts culturels franco-allemands sogar so weit, die Untersuchung von Transfers in ein Konkurrenzverhältnis zur traditionellen (bei ihm hauptsächlich geschichtswissenschaftlichen) Komparatistik zu setzen, und erörtert in einem ganzen Kapitel dieses Werks ausführlich die Vorzüge der Transferforschung und die Gefahren des comparatisme.6 Espagnes Warnungen sind nicht ganz neu; einige seiner Argumente hatten die früheren Vertreter der sogenannten ‚französischen Schule‘ der Komparatistik bereits in der Zwischenkriegszeit und in der Nachkriegszeit vorgebracht.7 Damals schon zielte diese Kritik vor allem auf den typologischen Vergleich, der eben gerade nicht die grenzüberschreitenden Aspekte des Gegenstandes an sich nachvollzieht, sondern den grenzüberschreitenden Aspekt erst auf der Ebene des Untersuchungsdesigns, im Nebeneinanderstellen von je nationalen Gegenständen, einführt. Füh4 5 6 7
Vgl. z. B. Espagne, Michel: Les Transferts culturels franco-allemands, Paris: PUF, 1999 (Perspectives germaniques), S. 44. Vgl. Espagne: Les Transferts culturels, S. 29. Espagne, Michel: Au-delà du comparatisme, in: ders.: Les Transferts culturels, S. 35–49. Vgl. zu einer Deutung dieser Kontroverse Zima, Peter V.: Komparatistik, Tübingen, Basel: Francke, 22011, S. 19–47.
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rende französische Fachvertreter sahen die Aufgabe der littérature comparée ausschließlich in der Verfolgung von genetischen Verbindungslinien zwischen unterschiedlichen Sprachräumen8 und warnten vor den Gefahren jedes Abweichens vom strengen literaturhistorischen Positivismus. En réalité l’abandon généralisé de la méthode génétique risque surtout d’ouvrir la porte aux plus séduisantes hypothèses métaphysico-esthétiques ou à des théories subtilement quintessencées.9
Die allgemeine Literaturwissenschaft, wie man sie in den USA praktiziere, gerate mit ihrer Suche nach großen Tendenzen in die Gefahr, das Abstrakte, das Willkürliche und die Nomenklatur zu sehr zu betonen.10 Man erkennt hier schon deutlich die Grundzüge der Kritik von Espagne, wonach der (typologische) Vergleich unhistorisch sei und auf die Behauptung von Universalien hinauslaufe,11 wobei die heutige Kritik besonders dezidiert davor warnt, die Nationalkultur als eine solche metaphysische Universalie aufzufassen und die Historizität (und Interkulturalität) ihrer Konstitution zu unterschlagen. Doch setzt der typologische Vergleich tatsächlich eine methodisch obsolete Operation mit metaphysischen Universalien voraus? Oder kann er selbst zu einer Historisierung von Kategorien beitragen? Schließen sich die Untersuchung in sich interkultureller Gegenstände einerseits und der sprachraumübergreifende typologische Vergleich andererseits gegenseitig aus oder können sie sich sinnvoll ergänzen? Welche neuen Herausforderungen, welche methodischen Schwierigkeiten und welche Erträge könnte eine solche Vorgehensweise erbringen? Im Folgenden soll eine komparatistische Forschungsarbeit diskutiert werden (die Dissertation der Verfasserin)12, die die Interkulturalität des Gegenstandes selbst und eine ‚traditionelle‘ typologische – konkret: gattungstheoretische – Fragestellung miteinander verbindet.
8
Vgl. z. B. durchgängig in Van Tieghem, Paul: La Littérature comparée, Paris: Armand Colin, [1931] 31946, S. 6, 10, 21, 45, 88, 136; Carré, Jean-Marie: Avant-propos, in: Guyard, MariusFrançois: La Littérature comparée, Paris: PUF, 1951, S. 5–6, hier S. 5, genauso auch Guyard selbst in ders.: La Littérature comparée, S. 7 und passim. 9 Roddier, Henri: De l’emploi de la méthode génétique en littérature comparée, in: Friederich, Werner P. (Hg.): Comparative Literature. Proceedings of the Second Congress of the International Comparative Literature Association at the University of North Carolina, September 8–12, 1958, Chapel Hill: University of North Carolina Press, 1959 (UNC Studies in Comparative Literature 23), S. 113–124, hier S. 116. 10 Vgl. Carré: Avant-propos, S. 6. 11 Vgl. Espagne: Les Transferts culturels, S. 36–39. 12 Ruffing, Jeanne: Identität ermitteln. Ethnische und postkoloniale Kriminalromane zwischen Popularität und Subversion, Würzburg: Königshausen & Neumann, 2011 (Saarbrücker Beiträge zur vergleichenden Literatur- und Kulturwissenschaft 51).
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2. IDENTITÄTSKONZEPTE UND DIE POETIK DES KRIMINALROMANS Die hier vorgestellte Dissertation zur Konstruktion von Identität in ethnischer und postkolonialer Kriminalliteratur ist in dem Sinne doppelt komparatistisch, dass sie den interkulturellen Aspekt und den des typologischen Vergleichs verbindet: Sie vergleicht Texte aus unterschiedlichen Sprachräumen, die jeweils in sich schon ‚Grenzüberschreitungen‘ in den Mittelpunkt stellen, indem sie die Situation ethnischer Minderheiten und postkolonialer Gesellschaften thematisieren. In den hier behandelten Werken stehen Detektivfiguren im Mittelpunkt, die die Topoi der Kriminalliteratur dazu nutzen, um nicht nur einen Fall zu lösen, sondern auch das ‚Rätsel‘ partikularer Identitäten in einer globalen, postmodernen Welt in den Blickpunkt ihres Ermittelns zu nehmen. In jedem dieser Kriminalromane wird Interkulturalität thematisch und auch – durch die Funktionalisierung kriminalromantypischer Strukturmerkmale – strukturell relevant. Dieses Phänomen des ‚ethnischen Kriminalromans‘ an sich wurde seit Anfang des neuen Jahrtausends schon sehr gründlich untersucht. Doch fast alle existierenden Untersuchungen konzentrierten sich dabei auf eine einzelne ethnische Gruppe, auf einen nationalen Raum – etwa frankophone Kriminalromane aus Algerien – oder bestenfalls auf einen Sprachraum. Sprachraumübergreifende Untersuchungen gab es kaum, und wenn, waren sie meist eher anekdotisch, das heißt sie nannten eine Vielzahl von Werken, waren aber methodisch weniger anspruchsvoll als diejenigen, die sich mit einer sprachlich und/oder kulturell schärfer umrissenen Gruppe von Werken beschäftigen.13 Demgegenüber soll hier ein Ansatz erörtert werden, der das Phänomen ethnischer und postkolonialer Kriminalliteratur in einer großen Bandbreite abdeckt, indem er Texte aus sehr unterschiedlichen sprachlichen, nationalen und sozialen Kontexten einem Vergleich unterzieht, und zwar gerade im Hinblick auf die darin enthaltenen Identitätskonstruktionen und die Bedeutung der Kriminalromanstruktur. Es handelt sich hierbei um einen klassischen typologischen Vergleich, denn die herangezogenen Texte stehen in keinem direkten genetischen Zusammenhang – es gibt in den in der genannten Dissertation behandelten Fällen keinen direkten Einfluss von einem Autor auf den anderen. Vielmehr stehen alle diese Texte vor einem doppelten gemeinsamen Hintergrund: einerseits dem der europhonen Kriminalliteratur, die nicht nur in Europa und den USA, sondern zunehmend überall auf der Welt konsumiert und auch produziert wird; andererseits vor dem Hintergrund, dass nicht nur die Autoren, sondern auch die Leser, die journalistische Kritik und natürlich die Literaturwissenschaft der interkulturellen Thematik – auch in der Populärliteratur – immer mehr Aufmerksamkeit entgegenbringen. Durch dieses neue Interesse stellt die journalistische und wissenschaftliche Rezeption Texte in einen gemeinsamen Rahmen, die aus ganz unterschiedlichen Produktionskontexten stammen, etwa die Kriminalromane eines jüdisch-amerikanischen Autors der 1960er Jahre (Harry Kemelman), 13 Vgl. für eine ausführliche Diskussion des Forschungsstandes Ruffing: Identität ermitteln, S. 13–94.
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einer feministischen afroamerikanischen Schriftstellerin der 1990er Jahre (Barbara Neely), die Migrantenerfahrungen thematisierenden polars marseillais des italienischstämmigen Schriftstellers Jean-Claude Izzo, die Krimis des deutschen Autors Jakob Arjouni um einen deutsch-türkischen Privatdetektiv und schließlich die provokativ-ironischen Inspektor-Ali-Romane des großen marokkanischen Schriftstellers Driss Chraïbi.14 Diese Auswahl scheint auf den ersten Blick äußerst beliebig zu sein, ein Vorwurf, der schon manchem komparatistischen Forschungsdesign gemacht wurde: Warum genau fünf völlig verschiedene Texte auswählen, die in keinem genetischen Zusammenhang stehen, aus unterschiedlichen Nationen, unterschiedlichen politischen Konjunkturen, unterschiedlich identitären und literatursoziologischen Zusammenhängen stammen, die a priori nur sehr abstrakte Züge gemein haben? Welchen Erkenntnisgewinn verspricht ein solches Vorgehen überhaupt? Führt eine solche extreme Dekontextualisierung des einzelnen Textes nicht am Ende zu terminologischen und methodischen Scheingefechten, Übergeneralisierungen oder der Feststellung von reinen Platitüden? Zunächst einmal erweist sich die Abgrenzung, Benennung und Definition des Untersuchungsgegenstandes bei einem solchen typologischen Vergleich in der Tat als wesentlich voraussetzungsreicher. Dies gilt nicht nur für den ‚ethnischen‘, ‚postkolonialen‘ oder ‚interkulturellen‘ Gehalt, sondern schon für die gattungstheoretische Einordnung. Obwohl der Kriminalroman ein stark internationalisiertes Genre ist, eröffnet ein Blick auf die jeweiligen vorherrschenden Kriminalromantheorien etwa des deutsch-, des französisch- und des englischsprachigen Raums deutliche Unterschiede. Diese Unterschiede lassen sich nicht allein auf die Unterschiede der jeweiligen nationalen Korpora zurückführen – etwa in der Form, dass die deutsche Krimitheorie eben den deutschen Kriminalroman beschreibe, die angelsächsische hauptsächlich den britischen und US-amerikanischen etc., sodass man diese partikularen Gattungsgeschichten und -theorien nur noch zu einer universalen Theorie zusammensetzen müsste. Vielmehr zeigen sie häufig typische Verengungen, die selbst das jeweils zugrundegelegte Korpus sehr unterschiedlich und meist jeweils sehr einseitig interpretieren. In der deutschen Theoriediskussion z. B. galt lange Zeit der Rätselroman in der Manier von Agatha Christie als der Grundstein, von dem aus die gesamte Theorie und Geschichte der Gattung entwickelt wurde. Dagegen gilt der französischen wie der US-amerikanischen Kritik häufig der sogenannte roman noir oder hard-boiled mit einem zynischen, in Gewalt verstrickten Detektiv, der durch das großstädtische Chaos strauchelt, als Grundlage. Dass etwa der Rätselkrimi christiescher Prägung auch in den USA weiter einen großen Einfluss ausübte und ausübt – nicht nur Harry Kemelmans ab den 1960ern erschienene Rabbi-Small-Reihe, sondern auch noch Barbara 14 Konkret wurden hier herangezogen: Kemelman, Harry: Saturday the Rabbi Went Hungry, New York: Crown, 1966; Neely, Barbara: Blanche Passes Go, New York: Penguin, [2000] 2001; Izzo, Jean-Claude: Chourmo, Paris: Gallimard, [1996] 2001; Arjouni, Jakob: Ein Mann, ein Mord. Ein Kayankaya-Roman, Zürich: Diogenes, [1991] 1993; Chraïbi, Driss: L’Inspecteur Ali et la C. I. A., Paris: Denoël, 1997.
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Neelys Blanche-White-Romane sind davon geprägt – gerät hierbei aus dem Blick, ebenso wie die Tatsache, dass heutige Kriminalromane häufig Mischformen aus verschiedenen traditionsreichen Subgenres darstellen. Eine Lektüre in den Termini der herrschenden amerikanischen oder französischen Krimitheorie würde diese Kontinuitäten – und ebenso diese Brüche – verdunkeln. Es erweist sich also oft als sehr nützlich, Theorien und Gattungsgeschichten – ebenso wie Periodisierungen – aus unterschiedlichen literaturwissenschaftlichen Traditionen zu kennen und zurate zu ziehen, um über ein möglichst breites Panorama an Herangehensweisen zu verfügen. Hierbei wird dann auch deutlich, wie partikular sprachraumorientierte Philologien oft ein bestimmtes Phänomen konzeptualisieren, nicht nur, weil ihnen Beispiele (also literarische Texte) aus anderen Zusammenhängen fehlen, sondern auch, weil es nationale literaturwissenschaftliche Traditionen gibt, die sich über sehr lange Zeiträume perpetuieren und Ansätze aus anderen Wissenschaftsnationen und -räumen nur selektiv wahrnehmen. Im Rahmen der geschilderten Fragestellung gewinnen gattungsgeschichtliche und gattungstheoretische Fragestellungen besonders an Gewicht, weil davon ausgegangen wurde, dass der Umgang des Textes mit gattungstypischen Motivzusammenhängen, Strukturen und Lektüreerwartungen einen erheblichen Beitrag zur Repräsentation und Aushandlung von Identitätskonstrukten leistet. In den verschiedensten Varianten hat die Kriminalromanforschung seit den 1970er Jahren die These vertreten, der Kriminalroman sei durch nicht nur formale, sondern auch ideologische Abgeschlossenheit gekennzeichnet und bekräftige mit der fiktionalen Wiederherstellung von Recht und Ordnung massenliterarisch die herrschenden gesellschaftlichen Machtverhältnisse. Einige Theoretiker sprechen konsequenterweise feministischen, ethnischen und postkolonialen Kriminalromanen das Potenzial, die dominierende soziokulturelle Ordnung in Frage zu stellen und alternative Weltsichten glaubwürdig zu repräsentieren, rundweg ab;15 viele andere lösen das Dilemma, indem sie eine grundsätzliche formale Differenz ethnischer und postkolonialer Kriminalromane gegenüber der restlichen Krimiproduktion behaupten und in der Brechung der Form die eigentliche Leistung dieser Texte sehen, die somit den Rest der Gattung radikal infrage stellten: „Disrupting the ‚law and order‘ of the literary genre is a means to question accepted truths about ‚law and order‘ in the postcolonial society.“16 Ein breiterer Blick auf die Geschichte und gegenwärtige Entwicklung des Kriminalromans, der auch eine Vielzahl von jeweils national geprägten, jedoch im komparatistischen Blick einander widersprechenden gattungsgeschichtlichen Nar15 Vgl. z. B. für feministische Kriminalromane pointiert Ebert, Teresa L.: Ermittlung des Phallus. Autorität, Ideologie und die Produktion patriarchaler Agenten im Kriminalroman, in: Vogt, Jochen (Hg.): Der Kriminalroman. Poetik – Theorie – Geschichte, München: Fink, 1998, S. 461–485. [Original: Detecting the Phallus: Authority, Ideology, and the Production of Patriarchal Agents in Detective Fiction, in: Rethinking Marxism 5:3 (1992), S. 6–28]. 16 Knepper, Wendy: Confession, Autopsy and the Postcolonial Postmortems of Michael Ondaatje’s Anil’s Ghost, in: Matzke, Christine/Mühleisen, Susanne (Hg.): Postcolonial Postmortems. Crime Fiction from a Transcultural Perspective, Amsterdam, New York: Rodopi, 2006, S. 35–57, hier S. 36.
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rativen miteinander konfrontiert, relativiert jedoch recht schnell die Behauptung einer einheitlichen, ebenso formal wie ideologisch abgeschlossenen Form ‚Kriminalroman‘ und einer absoluten Differenz der ethnic detective fiction gegenüber anderen zeitgenössischen Krimiformen. Je breiter das Feld der literarischen Texte und der literaturwissenschaftlichen Theorien ist, das der einzelne Forscher in seine Überlegungen mit einbezieht, desto größer ist die Wahrscheinlichkeit, impliziten essenzialistischen Annahmen, die durch nationale literaturwissenschaftliche Diskurse über Jahre, manchmal Jahrzehnte hinweg unhinterfragt weitergetragen wurden, auf die Spur zu kommen. Im Rahmen der beschriebenen Studie ergab sich daraus die Schlussfolgerung, die Gattung Kriminalroman nicht als ein Gefängnis zu sehen, in dem der einzelne Text eingesperrt bleibt oder aus dem er ausbricht, sondern als ein Repertoire von Möglichkeiten, das der einzelne Autor und der einzelne Text sich selektiv aneignen, wobei diese Aneignung sowohl in der Imitation als auch in der kreativen Weiterentwicklung, réécriture, Parodie, Brechung von Erwartungen usw. bestehen kann, die aber für jedes angeeignete inhaltliche und strukturelle Element separat zu prüfen bleibt. So können sich drei Romane aus völlig unterschiedlichen politischen und historischen Kontexten auf die erwähnte Form des Agatha-ChristieKrimis beziehen;17 das Gewicht der Aneignung bzw. auch Infragestellung liegt aber auf ganz verschiedenen Aspekten dieser Form, was dann auch mit ganz unterschiedlichen politischen Akzentuierungen einhergeht. Eine Lektüre in der Dichotomie Formelliteratur/Formbrechung, affirmativ/subversiv verdunkelt diese Bandbreite. So zeigt sich z. B. sowohl bei Harry Kemelman als auch bei Barbara Neely eine partielle ‚Brechung‘ der strukturierenden Agatha-Christie-Rätselroman-Formel, die jedoch jeweils unterschiedliche Aspekte dieser Form betrifft, was dann auch unterschiedliche ideologische Implikationen dieser Formel in Frage stellt. Bei Driss Chraïbi ist eine bewusste Mischung eigentlich inkompatibler Krimitraditionen Teil der Strategie nicht nur formaler, sondern auch ideologischer Verunsicherung. Noch offensichtlicher wird diese Herausforderung – und der mögliche Nutzen – des typologischen Vergleichs am Beispiel der unterschiedlichen Arten, wie auf das kulturüberschreitende Element in den Texten Bezug genommen wird. Ethnicity z. B. ist ein in den angelsächsischen, vor allem US-amerikanischen Sozialund Kulturwissenschaften absolut gängiger, wenn natürlich auch nicht unhinterfragter Begriff. In den französischen Sozial- und Literaturwissenschaften dagegen wird dieser Begriff immer noch weithin sehr kritisch gesehen bzw. völlig vermieden, in der Berufung auf ein französisches Modell nationaler Identität, demzufolge partikulare ethnische Identitäten in der öffentlichen Diskussion keinen Raum haben.18 Ein im skizzierten Sinne typologisch arbeitender Komparatist kann 17 Kemelman: Saturday the Rabbi Went Hungry; Neely: Blanche Passes Go; Chraïbi: L’Inspecteur Ali et la C. I. A. 18 Zu diesem ‚französischen Modell‘ nationaler Identität vgl. u. a. Amselle, Jean-Loup: Vers un multiculturalisme français. L’empire de la coutume, [Paris]: Aubier, 1996, S. 31 f.; Noiriel, Gérard: Population, immigration et identité nationale en France, XIXe–XXe siècle, Paris: Ha-
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also nicht einfach Begriffe wie Ethnizität, Multikulturalismus, Postkolonialität, frankophone Literatur, Migration, Gastarbeiterliteratur usw. unhinterfragt von einem Sprachraum auf die anderen übertragen; er muss die unterschiedlichen Hintergründe in den einzelnen Gesellschaften kennen. Er muss sich aber auch darauf gefasst machen, dass die jeweils geschichtlich bedingten, manchmal auch ideologisch motivierten Konzeptualisierungen nicht nur eine jeweils wesentlich komplexere Wirklichkeit überdecken, sondern auch strukturell bedingte Gemeinsamkeiten (Deutschland und Frankreich sind auf ihre Art ebenso Einwanderungsländer, wie die USA es sind). Es kann also durchaus lohnend sein, ein typisch angelsächsisches Konzept wie ‚Ethnizität‘ (und den daraus gewonnenen Begriff des ethnischen Kriminalromans) einmal probeweise auf deutsche und französische Texte anzuwenden. Fragwürdig wäre es freilich – in dieser Hinsicht ist Michel Espagne voll zuzustimmen –, wollte man einen Begriff aus einem bestimmten Sprachraum einfach absolut setzen zur Beschreibung vergleichbarer Phänomene aus anderen Sprachräumen, die dort ganz anders konzeptualisiert werden, ohne zu prüfen, auf welcher Ebene diese Vergleichbarkeit überhaupt besteht. 3. BEISPIEL: SIGNIFYIN(G) – WAS HAT EINE AFROAMERIKANISCHE DISKURSFORM IN DER INTERPRETATION DEUTSCHER UND MAROKKANISCHER KRIMINALLITERATUR ZU SUCHEN? Ich möchte meine Ausführungen mit einem konkreten Beispiel abrunden. Die Forschung zur afroamerikanischen Kriminalliteratur hat intensiven Gebrauch gemacht vom Konzept des signifyin(g). Signifyin(g) bezeichnet in der afroamerikanischen Kultur eine Reihe von rituellen Kommunikationsformen, die mit Uneigentlichkeit und doppeldeutigen Botschaften spielen.19 Diese Form der Kommunikation kann verschiedensten Zwecken dienen: einfach dem lustvollen Spiel, dem Austragen sprachlicher Wettkämpfe, aber auch dem Widerstand gegen den herrschenden Diskurs. Das Konzept des signifyin(g) wurde wiederholt auf die chette, 1992, S. 9; Silverman, Maxim: Rassismus und Nation. Einwanderung und Krise des Nationalstaats in Frankreich, Hamburg: Argument, 1994, S. 29 (Original: Deconstructing the Nation: Immigration, Racism, and Citizenship in Modern France, London, New York: Routledge, 1992); für die Genese aus dem Konflikt um Elsass-Lothringen Kastoryano, Riva: La France, l’Allemagne et leurs immigrés: négocier l’identité, Paris: Armand Colin, 1996, S. 44 f. Für eine kritische Auseinandersetzung mit dem Multikulturalismus aus Sicht der französischen Sozialwissenschaft vgl. z. B. Wieviorka, Michel (Hg.): Une société fragmentée? Le multiculturalisme en débat, Paris: La Découverte, 1996. 19 Vgl. für die literaturwissenschaftliche Anwendung grundlegend Gates, Henry Louis, Jr.: The Signifying Monkey. A Theory of African-American Literary Criticism, New York, Oxford: Oxford UP, 1988, für die Anwendung auf ethnische Kriminalromane vor allem Soitos, Stephen F.: The Blues Detective. A Study of African American Detective Fiction, Amherst: University of Massachusetts Press, 1996, und für die linguistischen Aspekte z. B. Morgan, Marcyliena: More Than a Mood or an Attitude: Discourse and Verbal Genres in African-American Culture, in: Mufwene, Salikoko [u. a.] (Hg.): African American English. Structure, History, and Use, London, New York: Routledge, 1998, S. 251–281.
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Kriminalromane der afroamerikanischen Autorin Barbara Neely angewandt.20 Deren Protagonistin, eine schwarze Hausangestellte, muss sehr oft einen doppelten Diskurs pflegen; sie spielt damit ihren reichen, weißen, mächtigen Arbeitgebern ein Bild von Unterwerfung vor, das gleichzeitig für den eingeweihten Leser als nur vorgetäuscht erkennbar ist und es der Heldin somit erlaubt, ihre Würde und ihre Identität zu wahren. Kann dieses typisch afroamerikanische Konzept auch auf andere ethnische und postkoloniale Kriminalromane übertragen werden? In der Tat finden sich die gleichen Strategien eines doppelten Diskurses auch in Texten, die in keinem direkten Zusammenhang mit der afroamerikanischen Literaturtradition stehen, nämlich in Jakob Arjounis Kriminalromanen um den türkischen Privatdetektiv Kemal Kayankaya und in Driss Chraïbis Inspektor-Ali-Krimis. Insofern macht der Begriff des signifyin(g) auf strukturelle Elemente aufmerksam, die auch in anderen Texten von Bedeutung sind, und kann so das Analyseinstrumentarium auf nützliche Art erweitern, während sich andererseits dadurch die kritische Frage ergibt, ob das Konzept wirklich so typisch afroamerikanisch ist, wie es gemeinhin dargestellt wird. Zugleich ergibt sich aus dieser ‚illegitimen‘ Übertragung aber auch ein Spektrum an weiteren Beispielen des Einsatzes dieser Strategie im identitären Kriminalroman, das es ermöglicht, die Besonderheiten – und auch die Grenzen – des Einsatzes von signifyin(g) bei den einzelnen Autoren besser zu konturieren. Der ‚doppelte Diskurs‘ setzt nämlich auch eine geteilte Adressatenorientierung voraus und modelliert damit das Verhältnis des Textes zum Leser ebenso wie die sozialen Verhältnisse innerhalb der fiktionalen Welt: Der in das Sprachspiel Eingeweihte dekodiert die Botschaft korrekt als Widerstand gegen herrschende Repräsentationen, während der Nichteingeweihte den Doppelsinn nicht erfasst. In Neelys Kriminalromanen wird der Leser durch den Einsatz einer personalen Erzählstrategie, die ihm die Innenwelt der Protagonistin erschließt, selbst in den Kreis dieser Eingeweihten aufgenommen und quasi in die Innenansichten eines afroamerikanischen, feministischen politischen Bewusstseins, wie die Autorin es konzeptualisiert, eingeführt, während die ‚reichen Weißen‘ ausgeschlossen bleiben. Bei Arjouni degeneriert das Spiel mit ethnischen Stereotypen zur reinen Provokation, denn im Gegensatz zu Neelys afroamerikanischer Hausangestellter kann Arjounis souveräner Protagonist den Rassisten, mit denen er täglich zu tun hat, offen seine Meinung ins Gesicht sagen. Dies ist ein wichtiger Hinweis darauf, wie Arjouni die soziale Situation seines Helden konstruiert und welche Sichtweise er letztendlich von der Situation Türkischstämmiger in Deutschland hat. Bei Driss Chraïbi wiederum ist es dem Leser – auch bedingt durch den ständigen Wechsel zwischen reinen Außenansichten und partiellen, darum irreführenden Einsichten in das Bewusstsein der Figur – unmöglich zu entscheiden, welche 20 Vgl. u. a. Pepper, Andrew: The Contemporary American Crime Novel. Race, Ethnicity, Gender, Class, Edinburgh: Edinburgh UP, 2000, S. 86; Hathaway, Rosemary V.: The Signifyin(g) Detective: BarbaraNeely’s Blanche White, Undercover in Plain Sight, in: Critique 46:4 (Summer 2005), S. 320–332.
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seiner irritierenden Positionen etwa zu Folter und Vergewaltigung der Protagonist wirklich vertritt, wo er gegenüber den Repräsentanten des Westens den unlogischen, unzivilisierten Macho-Araber nur mimt (er nennt das faire l’arabe21) und wo er es wirklich ist. Chraïbi entzieht mit dieser Verunsicherung des Lesers seinen Protagonisten dem postkolonialen Zwang zur eindeutigen identitären Situierung entweder als Traditionalist, der vermeintlich islamische Authentizität bewahrt, oder als aufgeklärter, moderner Vorkämpfer von Gleichberechtigung und Menschenrechten – eine Strategie, die nicht zuletzt durch eine raffinierte Handhabung der Erzähltechnik umgesetzt wird und deren politische Relevanz man nicht unterschätzen sollte. Ist diese Anwendung des eindeutig aus der afroamerikanischen Kultur- und Wissenschaftstradition stammenden Begriffs signifyin(g) auf ganz andere Kontexte nun ein illegitimes Vergleichen,22 ein misreading oder ähnliches? Diese provokanten Begriffe sind vielleicht gar nicht nötig. Es geht vielmehr darum, einerseits typologische Kategorien zu historisieren, andererseits an konkreten Beispielen gewonnene Kategorien daraufhin zu befragen, inwieweit sie auch außerhalb ihres Ursprungskontextes angewandt werden können, und daraus neue Einsichten sowohl über die Kategorien selbst als auch über die Texte zu gewinnen. 4. VON DER DEKONTEXTUALISIERUNG ZUR REKONTEXTUALISIERUNG, VOM ILLEGITIMEN VERGLEICH ZUM ERTRAGREICHEN ERKENNTNISINSTRUMENT Welche allgemeinen Schlussfolgerungen lassen sich nun aus diesen Ausführungen ziehen? Zum einen die, dass der Versuch, Ansätze aus ganz unterschiedlichen literaturwissenschaftlichen Traditionen zu integrieren, weit hinausgeht über die bloße Konstitution eines multilingualen, multinationalen Korpus und somit eine eigene Ebene des angewandten Kulturtransfers darstellt. Ein solches Vorgehen zwingt zu einer sorgfältigen Reflexion der Möglichkeiten und Grenzen der angewandten Definitionen, Gegenstandskonstitutionen, Konzepte und Methoden. Die Legitimität des typologischen Vergleichs speist sich auch aus dem Anspruch literaturwissenschaftlicher Analysekategorien, die ja oft typologische Begriffe sind. Vor allem leitet sie auch hin zu einer Differenzierung zwischen typologischen und genetisch-historischen Ansätzen der Begriffsbildung. Definiere ich etwa den Kriminalroman nach typologischen Kriterien oder nach einer literarhistorischen Traditionslinie, die sich aus direkten und vermittelten Einflüssen speist? Und wenn ja, wie werden diese Einflüsse vermittelt? Das sind grundlegende Fragen der Poetologie, die man keinesfalls als irrelevante Haarspalterei abtun solle, sondern die auch wesentliche literatursoziologische (und wissenschaftssoziologische) Relevanz besitzen. 21 Vgl. Chraïbi: L’Inspecteur Ali et la C. I. A., S. 176. 22 Vgl. Lutz, Helga/Missfelder, Jan-Friedrich/Renz, Tilo (Hg.): Äpfel und Birnen. Illegitimes Vergleichen in den Kulturwissenschaften, Bielefeld: transcript, 2006.
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Der typologische Vergleich, und das kann man ihm vorwerfen, ist fast zwangsläufig dekontextualisierend. Er kann daher nicht auskommen ohne andere Forschungsansätze, die eben gerade die Einbettung eines Werks in den Kontext in den Mittelpunkt rücken – auf solche wurde im Rahmen der oben geschilderten Untersuchung intensiv zurückgegriffen. Er kann aber auch die mit dem Herkunftskontext assoziierten blinden Flecken der ‚nationalphilologischen‘ Herangehensweisen zu Tage treten lassen. Im Idealfall ermöglicht die vorübergehende Herauslösung aus dem scheinbar vertrauten Umfeld, die Konfrontation mit Konzepten aus anderen Bereichen schließlich eine umfassendere Rekontextualisierung, an die der ‚Nationalphilologe‘ manchmal gar nicht gedacht hat. Dazu kann der typologische Vergleich nicht bei der Feststellung von Gemeinsamkeiten stehen bleiben; er sollte zugleich auch die Unterschiede in den Vordergrund rücken und Gemeinsamkeiten wie Unterschiede aus der anekdotischen Beliebigkeit des bloß Vorgefundenen befreien zugunsten ihrer differenzierenden Interpretierbarkeit. Die Notwendigkeit eines differenzierenden Vergleichs wird von einer Reihe von Beiträgern dieses Bandes betont; die Tragweite dieser Forderung ist erheblich. In der Tat ist eines der hartnäckigsten Missverständnisse bezüglich des Vergleichs, dass Vergleichen Gleichsetzen bedeute.23 Als wissenschaftliche Methode setzt der Vergleich keinesfalls voraus – oder behauptet –, dass die verglichenen Gegenstände sich im Wesen gleich seien, ihre Unterschiede somit nur nebensächlich, oder dass man sie, wie Espagne sich ausdrückt, auf einen ‚gemeinsamen Nenner‘ bringen muss.24 Vielmehr geht es darum, Gemeinsamkeiten wie auch Unterschiede in ihren jeweiligen Zusammenhang einzubetten, d. h. aus jeweils gemeinsamen oder unterschiedlichen Kontextfaktoren zu erklären. Dafür ist es ausreichend, dass das tertium comparationis für alle verglichenen Gegenstände relevant ist; Art und Ausmaß der Relevanz können aber durchaus unterschiedlich sein. Man kann einen solchen Vergleich als ‚illegitim‘ bezeichnen und damit als besonders provokant adeln, doch der typologische Vergleich ist und war immer ein legitimes Erkenntnisinstrument, wenn er richtig eingesetzt wird. Espagne kritisiert mehrfach den Vergleich von zwei scheinbar ähnlichen Gegenständen diesseits und jenseits der Grenze, die aber in Wirklichkeit so unterschiedlich seien, dass ein Vergleich kaum möglich sei – etwa die Geschichte des Duells in Deutschland, Frankreich und England25 oder die Position der deutschen Volkskunde vs. der französischen ethnologie im jeweiligen nationalen Wissenschaftsfeld.26 Epistemologisch unmöglich wird der Vergleich aber nur dann, wenn zwei Gegenstände gar nichts miteinander zu tun haben. Das Aufzeigen von tiefgreifenden strukturellen Differenzen bei scheinbar ähnlichen Gegenständen gehört vielmehr zu den spannendsten Aufgaben des typologischen Vergleichs – genauso wie das Aufdecken von überraschenden Parallelen bei Gegenständen, die sehr un23 Zu den Hintergründen des Vergleichsverbots, das über traumatisierende Ereignisse verhängt wird, vgl. den Beitrag von Peter Herr in diesem Band. 24 Vgl. Espagne: Les Transferts culturels, S. 38. 25 Vgl. Espagne: Les Transferts culturels, S. 36. 26 Vgl. Espagne: Les Transferts culturels, S. 38.
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terschiedlichen Kontexten entstammen; „analyser les différences comme des pratiques contextualisés“27 kann durchaus auch der typologische Vergleich und nicht nur die Kulturtransferforschung! Letztlich ist es durchaus möglich, zwar oft schwierig, aber durchaus auch fruchtbar, die oben angesprochenen unterschiedlichen Ebenen der ‚Grenzüberschreitung‘ methodisch zu kombinieren. Das heißt einerseits aufmerksam zu sein für die multi-, inter- und transkulturellen Aspekte des Gegenstands selbst – jenseits der These einer Homogenität nationaler oder sprachlich bestimmter Räume; zweitens aber Fragen an den Gegenstand zu stellen, die in seinem Herkunftskontext noch nicht – oder nicht in diesem Ausmaß – gestellt wurden und sich erst aus der Konfrontation mit anderen Texten, aber auch mit anderen literaturwissenschaftlichen Methoden ergeben. Das bedeutet auch, die national, disziplinär oder wie auch immer abgegrenzten Methoden- und Kategorienverständnisse der kritischen Herausforderung durch fremde Gegenstände und fremde Methoden auszusetzen. Wenn man genauer hinschaut, entdeckt man in den hier anhand eines konkreten Beispiels entwickelten theoretischen Schlussfolgerungen viele Forderungen, die auch Michael Werner und Bénédicte Zimmermann mit dem von ihnen besonders prominent vertretenen Ansatz der histoire croisée entwickelt haben: Historisierung des Erkenntnisprozesses,28 Labilität der Kategorien, die historisch datiert sind und teilweise von den Problematiken strukturiert werden, die ihre Konstitution überhaupt erst bedingen29 und deren Konstruktion daher explizit gemacht werden muss, „l’expérience de la pluralité des cadres théoriques et des outils méthodologiques élaborés dans des traditions de recherche spécifiques“30. Doch sind sie teilweise immer noch – wie Espagne – dem Anliegen verpflichtet, vor den Gefahren des comparatisme zu warnen.31 Ohne auf den beiden Ansätzen (dem Konzept des Kulturtransfers wie der histoire croisée) gemeinsamen Hintergrund der geschichtswissenschaftlichen Komparatistik näher einzugehen,32 möchte ich aber speziell bezogen auf die literaturwissenschaftliche Komparatistik eine wich27 Espagne: Les Transferts culturels, S. 36. 28 Vgl. Werner, Michael/Zimmermann, Bénédicte: Vergleich, Transfer, Verflechtung. Der Ansatz der Histoire croisée und die Herausforderung des Transnationalen, in: Geschichte und Gesellschaft 28 (2002), S. 607–636, hier S. 609. 29 Vgl. Werner, Michael/Zimmermann, Bénédicte: Penser l’histoire croisée: entre empirie et réflexivité, in: dies. (Hg.): De la comparaison à l’histoire croisée, Paris [u. a.]: Seuil, 2004 (Le Genre humain 42), S. 15–49, hier S. 34; Werner/Zimmermann: Vergleich, Transfer, Verflechtung, S. 612. 30 Werner, Michael/Zimmermann, Bénédicte: Une réflexivité appliquée, in: dies. (Hg.): De la comparaison à l’histoire croisée, S. 179–180, hier S. 179. 31 Vgl. Werner/Zimmermann: Vergleich, Transfer, Verflechtung, S. 611, Werner/Zimmermann: Penser l’histoire croisée, S. 27, 29, 34, Werner/Zimmermann: Une réflexivité appliquée, S. 179 f.; Werner, Michael/Zimmermann, Bénédicte: Introduction, in: dies. (Hg.): De la comparaison à l’histoire croisée, S. 7–14, hier S. 12. 32 Mehr dazu findet sich in Kaelble, Hartmut/Schriewer, Jürgen (Hg.): Vergleich und Transfer. Komparatistik in den Sozial-, Geschichts- und Kulturwissenschaften, Frankfurt/M., New York: Campus, 2003.
Risiken und Chancen typologischen Vergleichens
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tige Akzentverschiebung anregen: Der typologische Vergleich – nicht nur von Texten, auch von Forschungstraditionen – ist, wie hoffentlich gezeigt wurde, kein nur mit Vorsicht zu handhabendes gefährliches Instrument, sondern vielmehr ein wichtiges, manchmal geradezu unabdingbares Korrektiv, um die falschen Verabsolutierungen und Universalisierungen ‚nationaler‘ Literaturtheorien – in meinem Fall vor allem ‚nationaler‘ Gattungstheorien – zu hinterfragen und durch reflektiertere Konzepte zu ersetzen. Es sollte deutlich geworden sein, dass überall dort, wo Espagne – und auch noch Werner und Zimmermann – vor Gefahren und Problemen warnen, die eigentlichen Erkenntnismöglichkeiten, die spezifischen Erträge der skizzierten komparatistischen Methode liegen. LITERATURVERZEICHNIS Amselle, Jean-Loup: Vers un multiculturalisme français. L’empire de la coutume, [Paris]: Aubier, 1996. Arjouni, Jakob: Ein Mann, ein Mord. Ein Kayankaya-Roman, Zürich: Diogenes, [1991] 1993. Carré, Jean-Marie: Avant-propos, in: Guyard, Marius-François: La Littérature comparée, Paris: PUF, 1951, S. 5–6. Chraïbi, Driss: L’Inspecteur Ali et la C. I. A., Paris: Denoël, 1997. Corbineau-Hoffmann, Angelika: Einführung in die Komparatistik, Berlin: Erich Schmidt, 22004. Ebert, Teresa L.: Ermittlung des Phallus. Autorität, Ideologie und die Produktion patriarchaler Agenten im Kriminalroman, in: Vogt, Jochen (Hg.): Der Kriminalroman. Poetik – Theorie – Geschichte, München: Fink, 1998, S. 461–485. [Original: Detecting the Phallus: Authority, Ideology, and the Production of Patriarchal Agents in Detective Fiction, in: Rethinking Marxism 5:3 (1992), S. 6–28]. Espagne, Michel: Les Transferts culturels franco-allemands, Paris: PUF, 1999 (Perspectives germaniques). Gates, Henry Louis, Jr.: The Signifying Monkey. A Theory of African-American Literary Criticism, New York, Oxford: Oxford UP, 1988. Guyard, Marius-François: La Littérature comparée, Paris: PUF, 1951. Hathaway, Rosemary V.: The Signifyin(g) Detective: BarbaraNeely’s Blanche White, Undercover in Plain Sight, in: Critique 46:4 (Summer 2005), S. 320–332. Izzo, Jean-Claude: Chourmo, Paris: Gallimard, [1996] 2001. Kaelble, Hartmut/Schriewer, Jürgen (Hg.): Vergleich und Transfer. Komparatistik in den Sozial-, Geschichts- und Kulturwissenschaften, Frankfurt/M., New York: Campus, 2003. Kastoryano, Riva: La France, l’Allemagne et leurs immigrés: négocier l’identité, Paris: Armand Colin, 1996. Kemelman, Harry: Saturday the Rabbi Went Hungry, New York: Crown, 1966. Knepper, Wendy: Confession, Autopsy and the Postcolonial Postmortems of Michael Ondaatje’s Anil’s Ghost, in: Matzke, Christine/Mühleisen, Susanne (Hg.): Postcolonial Postmortems. Crime Fiction from a Transcultural Perspective, Amsterdam, New York: Rodopi, 2006, S. 35–57. Lutz, Helga/Missfelder, Jan-Friedrich/Renz, Tilo (Hg.): Äpfel und Birnen. Illegitimes Vergleichen in den Kulturwissenschaften, Bielefeld: transcript, 2006. Morgan, Marcyliena: More Than a Mood or an Attitude: Discourse and Verbal Genres in AfricanAmerican Culture, in: Mufwene, Salikoko [u. a.] (Hg.): African American English. Structure, History, and Use, London, New York: Routledge, 1998, S. 251–281. Neely, Barbara: Blanche Passes Go, New York: Penguin, [2000] 2001.
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NOUVELLES PERSPECTIVES SUR L’INTERTEXTUALITE INTERCULTURELLE : « THEORIE DE LA REFERENCIALITE »1 ET « CRITIQUE SPATIALE »2 Louise-Hélène Filion La perspective des transferts culturels a permis, on le sait, de rompre avec un certain primat du texte, revalorisant d’autres supports culturels, notamment des « formes interactionnelles (fêtes, rituels, pratiques pédagogiques et institutionnelles) »3. Cependant, dès lors que l’on adopte un point de vue foncièrement littéraire, il est aisé de distinguer, selon l’hypothèse de Robert Dion, quatre grands types de transferts :4 les « traductions », le « discours d’accompagnement », l’« appropriation productive » et la « dissémination intertextuelle et interculturelle ». Cet article s’intéresse à la dissémination intertextuelle ; si l’on reconnaîtra aisément que l’intertextualité peut constituer une forme patente de transfert, que dire des marques précises d’intertextualité (allusion, référence, citation directe ou autres) qui semblent avoir pour fonction première d’introduire dans le texte second un rapprochement entre des cultures ou des littératures étrangères ? C’est qu’il arrive bien sûr qu’un écrivain s’intéresse à d’autres écrivains parce que ceuxci sont précisément étrangers ; une citation peut alors devenir l’occasion d’une interrogation mettant en lien les cultures d’appartenance de l’écrivain A et de l’écrivain B. Faire un tel usage de l’intertextualité, c’est sans doute se placer précisément entre le transfert et la comparaison ; c’est opter, en somme, pour une certaine position médiane.
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Samoyault, Tiphaine : L’Intertextualité. Mémoire de la littérature [2001], Paris : Armand Colin, 2008, p. 77–109. Rabau, Sophie : Introduction, ds. : idem (dir.) : L’Intertextualité. Introduction, choix de textes, commentaires, vade-mecum et bibliographie, Paris : Flammarion, 2002 (Corpus), p. 12–46, ici p. 34–46. Lüsebrink, Hans-Jürgen : De l’analyse de la réception littéraire à l’étude des transferts culturels, ds. : Discours social/Social Discourse 7/3–4 (été–automne 1995), p. 39–46, ici p. 42. Dion, Robert : L’Allemagne de Liberté : sur la germanophilie des intellectuels québécois, Ottawa : Les Presses de l’Université d’Ottawa/Würzburg : Königshausen & Neumann, 2007 (Transferts culturels/Saarbrücker Beiträge zur vergleichenden Literatur- und Kulturwissenschaft 37), p. 52.
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En 2004, la Canadian Review of Comparative Literature consacrait un numéro à la notion de cross-cultural intertextuality5. Dans son introduction au dossier, Douwe Fokkema écrit: In fact, there is no methodological difference between research into intercultural and into intra-cultural intertextuality […] For why should our method of examining, for instance, Edward Bond’s play Narrow Road to the Deep North (1968), partly a rewriting of Basho’s travel sketches published by Penguin under the same title, be different from our method of analyzing his play Lear (1971) which has King Lear as a pre-text? Certainly the English and Japanese cultures are different and understanding Bond’s rewriting of Basho’s travelogue requires expert knowledge of both cultures, but the research method will be the same as in the case of intra-cultural rewriting.6
Le point de vue de Fokkema paraît certes défendable : d’une part, nombreux sont les comparatistes qui ont suggéré que le concept d’intertextualité devrait avant tout demeurer associé à une théorie du texte littéraire, puisqu’il peut difficilement conduire à une réelle ‘méthode’ ;7 d’autre part, le flou définitionnel entourant la notion d’intertextualité pose nécessairement problème pour le travail comparatiste. Mais on est certes en droit de se demander si certaines méthodes se prêtent particulièrement bien à l’étude de filiations intertextuelles qui se présentent au premier chef comme interculturelles. On se rappellera que, dans un bilan critique sur les pratiques comparatistes, Daniel-Henri Pageaux distinguait en 1998 quatre grands types de lectures ʻclassiquesʼ. Pageaux décrivait ainsi la démarche typique du comparatiste qui adopte volontiers une lunette intertextuelle : [Il s’agit de] partir d’un seul texte, en s’appuyant sur le principe d’intertextualité (tout texte est « absorption » et « transformation » d’un autre ou d’autres textes, tout texte est un intertexte dans la perspective de Barthes, mais aussi de Bakhtine et de Genette). Cette co-présence d’une pluralité de textes dans un seul texte autorise une lecture « différentielle » qui essayerait de comprendre les mécanismes d’une assimilation désormais nommée intertextualité en fonction de quatre grands principes bien mis en lumière par Genette : la conservation (la citation), la suppression (ou problème de la trace), la modification ou transformation (problème des sources) ou le développement (problème de l’amplification).8
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Voir Fokkema, Douwe (dir.) : A New Concept of World Literature : Cross-Cultural Intertextuality, no thématique Canadian Review of Comparative Literature/Revue Canadienne de Littérature Comparée 31/1 (mars 2004), p. 5–76. Fokkema, Douwe : The Rise of Cross-cultural Intertextuality, ds.: idem (dir.) : A New Concept of World Literature, p. 5–10, ici p. 7–8. Voir notamment à ce propos Guillén, Claudio : The Challenge of Comparative Literature, traduit de l’espagnol par Cola Franzen, Cambridge (MA), London : Harvard UP, 1993, p. 247 (Original : Entre lo uno y lo diverso. Introducción a la literatura comparada, Barcelona : Ed. Crítica, 1985 (Filología 14)) : « The second difficulty, not far removed from the first, is practical and perhaps more serious. It would not be surprising if the idea of intertextuality were in fact reduced to a general conception of the poetic sign, a theory of the text, rather than to a method for the investigation of relations existing between different poems, essays, or novels. That would be a door opening onto a path of reading, rather than the path itself. » Pageaux, Daniel-Henri : Littérature comparée et comparaisons, ds. : Revue de littérature comparée 72/3 (juillet–septembre 1998), p. 285–307, ici p. 294.
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On constate aisément qu’une telle lecture privilégie d’une certaine façon le texte second ou l’hypertexte. Il ne s’agit bien sûr pas de disqualifier cette démarche si largement pratiquée, ni même de proposer une ʻméthodeʼ en bonne et due forme pour l’examen de l’intertextualité interculturelle ; dans une visée plus modeste, il paraît néanmoins important de songer à d’autres avenues qui permettraient d’étudier le travail des écrivains qui se placent entre transfert et comparaison. En parcourant quelques travaux consacrés à la complexe notion d’intertextualité, parus en France au cours des vingt dernières années et se présentant comme de véritables synthèses,9 on découvre rapidement que l’intertextualité interculturelle ou transculturelle n’est pas au cœur des interrogations de leurs auteurs ; néanmoins, il est possible d’adapter à notre problématique quelques-unes des réflexions menées dans les récents panoramas critiques de Tiphaine Samoyault et de Sophie Rabau. Leurs contributions sont stimulantes à deux points de vue : d’une part, Samoyault et Rabau réinvestissent le débat entre littérature référentielle et littérature non référentielle dans ses liens avec la notion d’intertextualité ;10 d’autre part, l’ouvrage de Sophie Rabau a le mérite de proposer une critique dite « spatiale » qui vient rompre avec une certaine logique chronologique et causale encore souvent privilégiée dans les études empiriques. Les deux ouvrages débouchent sur des perspectives plutôt neuves autour de la notion d’intertextualité ; l’objectif de cet article est de mesurer la viabilité des propositions de Samoyault et de Rabau pour le commentaire d’œuvres qui tendent à jumeler marques intertextuelles et réflexion ou rapprochement d’ordre interculturel. A cet égard, le roman Le Mal de Vienne de l’écrivain québécois Rober Racine11 constituera un terrain d’analyse privilégié : ménageant une place très importante aux œuvres de Thomas Bernhard, il offre également un portrait plus ou moins fictionnalisé de la figure de l’auteur réel de Wittgensteins Neffe12. Qui plus est, l’analyse de cette œuvre québécoise permettra de situer notre problématique dans le cadre particulier d’une mise en relation de traditions littéraires fort éloignées.
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Voir notamment Samoyault : L’Intertextualité ; Rabau (dir.) : L’Intertextualité et PiégayGros, Nathalie : Introduction à l’intertextualité, Paris : Dunod, 1996 (Lettres sup). 10 En ce sens, leurs réflexions rappellent le travail d’Antoine Compagnon. Dans Le Démon de la théorie, la section chapeautée par le sous-titre « Illusion référentielle et intertextualité » se révèle utile pour bien saisir les enjeux que décrivent Samoyault et Rabau. Voir Compagnon, Antoine : Le Démon de la théorie. Littérature et sens commun, Paris : Seuil, 1998 (La Couleur des idées), p. 115–120. 11 Racine, Rober : Le Mal de Vienne, roman, Montréal : Editions de l’Hexagone, 1992 (Fictions 65). 12 Bernhard, Thomas : Wittgensteins Neffe. Eine Freundschaft, Frankfurt/M. : Suhrkamp, 1982.
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1. L’INTERTEXTUALITE. MEMOIRE DE LA LITTERATURE, DE TIPHAINE SAMOYAULT D’entrée de jeu, la synthèse de Samoyault paraît se donner pour objectif principal de « penser l’intertextualité de manière unifiée, en rassemblant ses traits autour de l’idée de mémoire »13. On sait bien sûr qu’au structuralisme, qui faisait de l’intertextualité un moyen de soutenir la clôture du texte, a succédé le poststructuralisme qui a favorisé une certaine ouverture du texte par le biais de l’intertextualité ; néanmoins, il n’est sans doute pas inutile de rappeler, avec Antoine Compagnon, que l’ouverture à laquelle conviait le poststructuralisme demeurait pour l’essentiel ouverture « sur les livres, sur la bibliothèque »14. Or, si la notion d’intertextualité a fréquemment été associée au concept de ʻmémoireʼ, en quoi le travail de Tiphaine Samoyault paraît-il novateur ? C’est que la mémoire qu’elle décrit pourrait s’apparenter à quelque chose comme une ʻmémoire du réelʼ. Aux yeux de cette théoricienne, la notion d’intertextualité ne devrait plus servir l’idée d’une rupture fondamentale entre littérature et monde : L’intertextualité invite à bousculer quelque peu cette distinction en introduisant un troisième pôle, pour lequel nous proposons le néologisme de référencialité […] et qui correspondrait bien à une référence de la littérature au réel, mais médiée par la référence proprement intertextuelle. 15 Nous proposons ainsi d’identifier trois modalités grâce auxquelles la référence intertextuelle, tout en maintenant le discours dans les règles de l’énoncé littéraire, permet de faire signe du côté du monde : sans y conduire, elles ont une certaine manière de le rendre présent […].16
Des trois avenues associées à la théorie de la référencialité, l’‘intertextualité ouverte’ nous intéressera davantage : L’intertextualité ouverte permet de voir dans les textes, au-delà de leurs caractères propres, des signes du monde : sans être directement référentiels, ceux-ci renvoient au monde comme généralité, à l’histoire, au social. […] Si l’on s’en tient à une conception restreinte de l’intertextualité, la citation ou la reprise continuent d’ouvrir le texte au monde en référant, ne serait-ce que lointainement, à l’objet réel où l’énoncé emprunté est enregistré (le volume, la bibliothèque…).17
Permettant notamment d’examiner la « présence effective de la bibliothèque comme objet du monde »18, la seconde catégorie désignée par Samoyault met l’accent sur une certaine circulation des intertextes ; elle pourrait donc se révéler toute désignée pour l’étude de romans postmodernes, voire appartenant à l’ʻextrême contemporainʼ. Le Mal de Vienne fait partie de ces œuvres des années 1990 qui proposent une circulation effrénée des intertextes, comme s’il s’agissait 13 14 15 16 17 18
Samoyault : L’Intertextualité, p. 6. Compagnon : Le Démon de la théorie, p. 117. Samoyault : L’Intertextualité, p. 83. Samoyault : L’Intertextualité, p. 85. Samoyault : L’Intertextualité, p. 86–87. Samoyault : L’Intertextualité, p. 117.
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de saluer au passage un maximum d’œuvres. Ainsi, le roman témoigne de l’ampleur de la diversification et de l’internationalisation des sources d’emprunt favorisées par l’époque actuelle. Cette dynamique est d’abord rendue manifeste par la présence de Studd, un personnage dont la mission première consiste à archiver ou à conserver des textes. Fréquemment muni d’un dictaphone, Studd enregistre aussi bien les grands classiques de la littérature universelle que « les graffiti lus dans les toilettes publiques »19 ou « l’annonce des départs et arrivées dans les gares et aéroports »20. Mais Studd ne se contente pas d’enregistrer des contenus ; ventriloque notoire, il les enregistre en reproduisant à l’envi de multiples voix.21 L’érudit est également atteint d’une maladie rare, la « thomasbernhardovite »22: Studd « vit, pense et ressent ce que vivent, pensent et ressentent Thomas Bernhard et ses personnages »23. Cette hantise devient évidemment la source de multiples souffrances, Studd connaissant par exemple les affres de l’écriture. Afin de bien saisir les enjeux de l’intertextualité pour le moins débridée que présente le roman de Racine, la notion d’‘intertextualité ouverte’ telle qu’elle est définie par Tiphaine Samoyault paraît fort éclairante, notamment parce que le roman prend en charge diverses formes d’interactions médiatiques. D’une part, lors des multiples enregistrements de Studd, on fait parfois allusion à la bibliothèque ou aux livres dont les extraits consignés sont tirés ; d’autre part, on évoque la circulation ʻeffectiveʼ des intertextes jusqu’à ce qu’ils soient, pour ainsi dire, emmagasinés sur de petites cassettes. Lors de certains enregistrements, Studd peut également mettre des littératures étrangères en relation : Studd s’obstinait à retranscrire la page 99 de Béton. Uniquement parce qu’il la trouvait bâclée. Le et de la neuvième ligne était de trop selon lui : « On recopie toujours ce qu’on hait. Non pas par appropriation, mais par destruction. » A cela s’ajoute sa répulsion à l’écoute de sa mère lisant cette page : « Lorsqu’elle dit prednisolon deux fois en vingt secondes, je sens l’odeur d’un nid. Elle ne dit pas prednisolon, elle prononce prednyzolon. Quand j’entends pred, je vois dans sa bouche des bretzels qui sentent les pieds. Je vomis à chaque fois. « Pourquoi tu l’écoutes ? lui dis-je. – Parce qu’il le faut. Il le faut. » Studd voulut enregistrer ce détail avec la voix du narrateur de L’antiphonaire d’Hubert Aquin.24
Dans cette séquence, un ami de Studd se présente. Pour qui connaît l’œuvre de Thomas Bernhard, il est difficile de ne pas déceler dans les deux premières phrases entre guillemets – lesquelles rapportent les propos de Studd – une référence à l’œuvre de l’écrivain autrichien. En effet, les deux phrases rappellent de nombreux textes de Bernhard sur les plans syntaxique et sémantique : on songe 19 Racine : Le Mal de Vienne, p. 29. 20 Racine : Le Mal de Vienne, p. 29. 21 Studd est capable de contrefaire les voix d’hommes et de femmes célèbres, mais aussi celles d’illustres personnages fictifs tels que Grégoire Samsa, de même que celles de ses parents et amis. 22 Racine : Le Mal de Vienne, p. 11. 23 Racine : Le Mal de Vienne, p. 11. 24 Racine : Le Mal de Vienne, p. 19.
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en particulier au roman Korrektur25, dans lequel surgit l’idée d’une reprise ou d’une ʻcorrectionʼ qui irait jusqu’à la destruction. De nombreuses pages du roman sont consacrées à la description du labeur incessant du défunt Roithamer, lequel retouchait constamment l’étude qu’il a consacrée à Altensam.26 Le motif de la ʻdestructionʼ est si prégnant dans Korrektur que nous sommes tentée de voir dans les deux phrases du Mal de Vienne une allusion à ce roman de Bernhard. Quant à l’ouvrage Beton27 qui est explicitement mentionné dans l’extrait, il fait l’objet d’évocations fréquentes dans Le Mal de Vienne : notons que la mère de Studd se livre tous les dimanches à la lecture du roman sur les ondes de Radio-Canada, la radio d’Etat canadienne. L’extrait relevé divulgue que ces lectures hebdomadaires gênent Studd au plus haut point. Pour bien saisir le rapport qu’entretient Studd avec la figure et les écrits de Thomas Bernhard, il importe de préciser que le personnage dévoile à quelques reprises une réelle aversion à l’égard de la prose bernhardienne, bien qu’il recopie ou enregistre de larges pans des romans de l’écrivain autrichien. Dans la scène rapportée, l’ami de Studd s’interroge sur les motifs qui incitent son compagnon à écouter les lectures hebdomadaires de sa mère, qui lui inspirent pourtant une répulsion réelle. Studd répond : « Parce qu’il le faut. Il le faut. ». On note que l’agir de Studd est en quelque sorte conforme à ce que suggère l’allusion à Korrektur : il faut se heurter à ce que l’on déteste foncièrement, le confronter pour en triompher, en quelque sorte. En outre, cette séquence du Mal de Vienne accorde une place de choix à la thématique de la répétition, puisqu’il s’agit bien de recopier ou d’écouter ad nauseam, avec une disponibilité intellectuelle remarquable, voire obsessionnelle. La réflexion qui met fin à la discussion entre les deux comparses (« Parce qu’il le faut. Il le faut. ») paraît émaner ou découler directement de l’allusion à Korrektur. Or, Studd souhaite enregistrer cette réflexion non pas avec la voix de Bernhard ou avec celle d’un personnage de Bernhard – voix qui, rappelons-le, habitent constamment le ventriloque qui les adopte volontiers pour enregistrer d’autres contenus –, mais plutôt avec la voix du narrateur d’un roman québécois, L’Antiphonaire d’Hubert Aquin.28 Les attentes du lecteur se voient donc quelque peu déjouées : pourquoi cette œuvre surgit-elle ? Peut-être parce qu’elle met en scène une thésarde qui ressemble à plusieurs figures de proue bernhardiennes : elle tente de rédiger une thèse sur la médecine du seizième siècle mais n’y arrive tout simplement pas et en pâtit, à l’image notamment du Rudolf de Beton qui s’avère obsédé par son étude sur Mendelssohn Bartholdy dont il n’arrive pourtant pas même à entamer la rédaction.29 25 26 27 28 29
Bernhard, Thomas : Korrektur, Roman, Frankfurt/M. : Suhrkamp, 1975. Voir notamment Bernhard : Korrektur, p. 85–86. Bernhard, Thomas : Beton, Frankfurt/M. : Suhrkamp, [1982] 1988. Aquin, Hubert : L’Antiphonaire, roman, Montréal : le Cercle du livre de France, 1969. Dans l’œuvre de Bernhard, nombreux sont certes les personnages ascétiques qui aspirent à une concentration maximale constante dans leurs vastes projets intellectuels ou artistiques. Parmi ces personnages, plusieurs n’arrivent tout simplement pas à travailler, distraits par le moindre bruit ambiant ou parce que leur lieu de travail, pourtant choisi et aménagé précisé-
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D’autres raisons pourraient certes être à l’origine de ce rapprochement : mais il faut surtout souligner que Le Mal de Vienne mise sur une certaine superposition des voix. Dans le cas qui nous sollicite, l’idée d’enregistrer une réflexion pour ainsi dire issue de l’intertexte bernhardien, mais avec la voix d’un narrateur québécois, paraît certes étonnante. Il y a lieu d’évoquer ici l’‘intertextualité ouverte’ au sens où l’entend Samoyault, dans la mesure où le roman de Racine exhibe précisément les objets ou les supports qui accueillent les intertextes – livres ʻréelsʼ dont les extraits sont tirés, dictaphone qui permet d’enregistrer des textes, etc. Bien sûr, il s’agit là d’une mince référence au ʻmondeʼ ; mais certaines modalités que décrit Samoyault permettent d’envisager la « relation entre [la] littérature et [le] monde par le biais de l’intertexte »30 comme une véritable relation de « présence »31. Au-delà de cette ʻprésence au mondeʼ des intertextes, la théorie de Samoyault insiste sur la circulation des textes et des idées ; dans le roman qui nous intéresse, cette circulation peut avoir lieu dans le cadre d’un changement de médium. Certes, les citations ou allusions ʻenregistréesʼ ne pourront plus forcément répondre à l’appellation ʻintertexteʼ, enfin si l’on a une conception restreinte de ce qu’est un texte. Mais si Le Mal de Vienne tire profit de diverses interactions médiatiques, le roman met moins l’accent sur des effets de transformation du sens entraînés par ces interactions que sur la simple circulation des textes.32 Surtout, on remarque que c’est dans cette circulation ou dans ce mouvement qu’un certain horizon littéraire interculturel se voit inscrit ; d’où l’intérêt de prendre en considération les propositions de Samoyault dès lors que l’on s’attache à divers phénomènes intertextuels en tant que comparatiste. 2. L’INTERTEXTUALITE. INTRODUCTION, CHOIX DE TEXTES, COMMENTAIRES, VADE-MECUM ET BIBLIOGRAPHIE, DE SOPHIE RABAU Sophie Rabau suggère elle aussi que l’« intertextualité pose, plus qu’elle ne l’élimine, la question […] du monde »33. Mais ce n’est pas sur ce plan que ses propositions peuvent le plus justement servir la problématique qui nous intéresse : comme Samoyault, elle conçoit le travail de l’intertextualité en fonction d’une
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ment en fonction de la tâche à accomplir, leur apparaît soudainement des plus inadéquats. Le Konrad de Das Kalkwerk, qui tente sans succès de rédiger un essai sur l’ouïe, est indéniablement du lot : il a tenté de se mettre au travail dans des villes aussi diverses que Paris, Vienne, Londres, Mannheim ou Munich. Voir Bernhard, Thomas : Das Kalkwerk, Roman, Frankfurt/M. : Suhrkamp, [1970] 1973. Samoyault : L’Intertextualité, p. 117. Samoyault : L’Intertextualité, p. 117. Dans la typologie appuyant sa théorie de la ‘référencialité’, Samoyault dégage deux grands ensembles de relations possibles : des relations de « substitution » ou des relations de « présence » au monde. C’est pourquoi les propositions de Samoyault semblent pertinentes pour interpréter le roman de Racine, davantage qu’une perspective qui serait avant tout intermédiale. Rabau : Introduction, p. 27.
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herméneutique ;34 chez Rabau cependant, il s’agit d’une « herméneutique [qui] peut faire l’économie de l’histoire littéraire »35. Si Rabau choisit l’expression « critique spatiale », c’est donc sans doute pour indiquer son vœu de « parcour[ir] en tous sens la bibliothèque »36, plutôt que de la parcourir seulement en fonction du paramètre ʻtempsʼ. Il ne s’agit donc plus d’examiner uniquement comment un texte B s’inscrit dans le sillage ou est conçu à la suite d’un texte A, lequel permettrait d’interpréter le texte second. Contrairement à la lecture intertextuelle présentée par Daniel-Henri Pageaux, le type d’interprétation que Rabau met de l’avant accorde une importance pour ainsi dire égale aux hypotexte et hypertexte ;37 ce qui, par surcroît, autorise la chercheure à évacuer, mais dans une certaine mesure seulement, la notion d’ʻinfluenceʼ : Un texte est porteur de son passé qu’il détermine plus qu’il n’est déterminé par lui ; inversement un texte est porteur de son futur qu’il contient en puissance sinon en acte : la trace est trace du futur plus que du passé.38
Dans un premier temps, cette critique spatiale se pencherait sur l’« influence rétrospective »39, puisque Rabau s’intéresse aux pratiques intertextuelles en ce qu’elles peuvent rendre un texte antérieur ʻintelligibleʼ: Sur un plan axiologique, l’auteur du texte second renégocie l’autorité et la valeur du texte premier, soit qu’il lui donne le statut de texte fondateur, soit qu’il le rétrograde au rang de simple précurseur d’un chef-d’œuvre, soit encore qu’il rende risible le texte sacré ou renforce l’autorité d’un texte qui n’avait pas grande valeur culturelle. […] Sur le plan de la signification des œuvres, toute écriture intertextuelle détermine rétrospectivement le sens des textes précédents. […] Enfin, sur un plan quantitatif, le texte second met l’accent sur certains passages du texte premier et en passe d’autres sous silence. Tant par les relations de coprésence (choix d’une citation plus que d’une autre) que par les relations de dérivation (développement ou réduction d’un épisode), le texte second redistribue donc l’équilibre quantitatif du texte premier.40
Certes, nombreux sont les critiques qui se sont intéressés à la notion d’« influence rétrospective » : l’intérêt de cette notion pour le travail comparatiste reste toutefois indéniable, puisqu’elle permet d’examiner comment un texte est réinterprété ou reçu de manière productive dans divers contextes culturels et à différentes 34 35 36 37
Voir Rabau : Introduction, p. 34. Rabau : Introduction, p. 36. Rabau : Introduction, p. 46. Sophie Rabau se réfère à des relations intertextuelles qui s’inscrivent au sein d’un réel projet hypertextuel. Lorsque nous faisons allusion aux notions d’hypotexte et d’hypertexte, nous nous référons à la définition genettienne de l’hypertextualité ; pour Genette, est hypertextuelle « toute relation unissant un texte B ([…] hypertexte) à un texte antérieur A ([…] hypotexte) sur lequel il se greffe d’une manière qui n’est pas celle du commentaire. » (Genette, Gérard : Palimpsestes. La littérature au second degré, Paris : Seuil, 1982 (Collection Poétique), p. 11). On sait bien qu’aux yeux de Genette, l’hypertexte est un « texte au second degré » (ibid., p. 12), un « texte dérivé d’un texte antérieur par transformation simple ([…] transformation tout court) ou par transformation indirecte : […] imitation. » (ibid., p. 14). 38 Rabau : Introduction, p. 37. 39 Rabau : Introduction, p. 37–40. 40 Rabau : Introduction, p. 37–39.
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époques ; le concept permet de qualifier le ʻsortʼ que réserve l’hypertexte à l’hypotexte dont la tutelle, le prestige et/ou la signification se voient réévalués. Pour l’étude des filiations intertextuelles qui unissent des œuvres appartenant à des traditions littéraires dont la reconnaissance internationale est très inégale, la notion d’« influence rétrospective » demeure un outil précieux ; en effet, elle autorise le critique à rompre en définitive avec une vision statique de la source ou avec le postulat selon lequel l’écrivain ʻantérieurʼ, dont le travail s’inscrit au sein d’une tradition littéraire bien établie, aurait indéniablement influencé l’écrivain ʻsecondʼ, issu pour sa part d’une ʻpetiteʼ culture dans laquelle la pratique littéraire apparaît plus fragile. Mais Rabau ne s’en tient pas uniquement à la notion d’« influence rétrospective », souhaitant multiplier les points de vue et trajectoires ; c’est pourquoi son travail se révèle des plus intéressants. L’un des aspects les plus stimulants de cette critique spatiale est qu’elle s’avère également tendue vers une « poétique des possibles intertextuels » : […] cette interprétation sub specie aeternitatis se donnerait aussi comme tâche de calculer les possibles contenus dans chaque texte, d’annoncer les nouveaux textes dont il est porteur en puissance. Il reste à décrire l’espoir du futur après l’angoisse de l’influence, à reprendre Palimpsestes de Genette mais à l’envers, en allant de l’hypotexte à l’hypertexte, bref à réaliser une poétique des possibles intertextuels.41
Pour chaque texte antérieur A, le lecteur devrait donc chercher à identifier les traces ou les marques de sa « future intertextualité »42. Cette poétique de l’intertextualité possible devrait être attentive à trois « tendances »43, désignées par les notions de « manque »44, de « mise en relief »45 et de « potentiel »46. La notion de « manque » est particulièrement attrayante pour la problématique qui nous intéresse : selon Rabau, elle équivaut aux « marques d’inachèvement »47 ou aux « silences »48 du texte antérieur. Un autre exemple tiré du Mal de Vienne permet de réfléchir à l’usage concret et productif auquel peuvent conduire les suggestions de Rabau. Dans le Beton de Bernhard, la mort du mari de la jeune Härdtl est entourée d’un réel mystère : s’agit-il d’un suicide, d’une mort accidentelle, d’un meurtre ? Il n’est ainsi pas étonnant que de nombreux intertextes bernhardiens du Mal de Vienne soient justement liés à ce motif du suicide49 ; mais il n’y a pas que reprise, puisque Studd 41 42 43 44 45 46 47 48 49
Rabau : Introduction, p. 45. Rabau : Introduction, p. 43. Rabau : Introduction, p. 41. Rabau : Introduction, p. 41. Rabau : Introduction, p. 41. Rabau : Introduction, p. 41. Rabau : Introduction, p. 41. Rabau : Introduction, p. 41. La thématique du suicide est certes omniprésente dans l’œuvre de Bernhard. On songe par exemple à l’apologie du suicide que comporte le cycle autobiographique, livrée par le grandpère du narrateur, ou encore au suicide de la Joana dans Holzfällen (Holzfällen. Eine Erregung, Frankfurt/M. : Suhrkamp, 1984), à celui de Wertheimer dans Der Untergeher (Frank-
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et ses proches ont, en plus de se référer directement à Beton, une importante discussion relative à la place qu’occupe le suicide dans l’art contemporain. Aux yeux de Studd, « l’art actuel est suicidaire »50; il établit alors des parallèles entre l’œuvre de Bernhard et celle d’un artiste visuel canadien, tout en s’intéressant au suicide comme « donnée rentable »51 de l’art alors contemporain. On ne peut que constater que Le Mal de Vienne vient s’inscrire dans ce que Sophie Rabau nomme un « manque » du texte antérieur. Certes, le roman de Rober Racine fait allusion à certains extraits de Beton qui traitent de la problématique du suicide ; mais rappelons que dans le roman de Bernhard, le suicide du jeune époux Härdtl a pu avoir lieu mais ne peut jamais être identifié précisément comme tel, n’est pas présenté comme avéré. Le Mal de Vienne tire donc profit d’un certain ‘silence’ ou d’une certaine marque d’incomplétude du texte antérieur. Le comparatiste qui choisirait de travailler en fonction d’une « poétique des possibles intertextuels » devrait donc s’attarder d’abord à Beton. Au même titre que la notion d’« influence rétrospective », cette poétique des possibles intertextuels acquiert une pertinence d’autant plus manifeste si l’on tente de l’appliquer à des textes issus de traditions littéraires dont les statuts respectifs sont très différents. L’exemple choisi a en effet montré que Le Mal de Vienne propose un certain questionnement interculturel, lequel paraît tirer son origine des fêlures ou des absences du texte appartenant à la tradition littéraire la plus ʻcélébréeʼ. La « poétique des possibles intertextuels » que décrit Rabau pourrait également être attentive à d’autres indices. Nous ne les évoquons pas tous, mais souhaitons tout de même nous attarder à la catégorie de « potentiel » déjà mentionnée : Selon M. Charles, chaque texte littéraire s’écrit au prix d’un abandon d’autres textes possibles dont il porte parfois la marque :52 […] cette marque est souvent une anomalie sémantique que Charles nomme le dysfonctionnement. Par exemple, pourquoi dans l’Odyssée Athéna envoiet-elle Télémaque en quête de son père alors que les dieux viennent de décider son retour […] ? Mais alors que l’agrammaticalité de Riffaterre se résolvait par une quête rétrospective de l’intertexte, le dysfonctionnement se résout par une prospection des possibles, dans notre exemple par la présence d’un récit possible où Télémaque, jouant le rôle d’Oreste, venge son père mort. Or rien n’empêche de réécrire l’Odyssée en développant ce récit possible, en narrant la mort d’Ulysse et la gloire de Télémaque […] Le […] texte possible est objet d’étude pour la critique qui, repérant les textes possibles et abandonnés, étudie le futur de la littérature en relisant son passé : à lire dans l’Odyssée l’histoire d’un Télémaque-Oreste, je prévois ce texte, non encore écrit, où Télémaque tuera Ulysse pour enfin venger sa mort.53
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furt/M. : Suhrkamp, 1983) ou à ceux de Roithamer et de sa sœur dans Korrektur. Inutile de multiplier les exemples : il est plutôt intéressant de constater que dans Beton, le décès introduit le questionnement ou le doute, alors que de nombreuses œuvres de Bernhard s’attachent directement aux causes des trépas qu’elles évoquent. Racine : Le Mal de Vienne, p. 167. Racine : Le Mal de Vienne, p. 167. Charles, Michel : Introduction à l’étude des textes, Paris : Seuil, 1995 (Collection Poétique), p. 361–367, cité par Rabau : Introduction, p. 40. Rabau : Introduction, p. 40.
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Encore une fois, il s’agit bien de relever une certaine « future intertextualité » : pour un texte donné, Rabau propose d’« ébauche[r] une carte de ses hypertextes potentiels, notamment de ceux qui n’ont pas encore été réalisés »54 ; cette tâche, on le reconnaîtra, peut avoir quelque chose de délicat. Ce qui fonde peut-être l’originalité de la démarche de Rabau, c’est son souhait de « multiplier les trajets »55, de fonder une critique qui tienne à la fois compte de l’« influence rétrospective » et des « possibles intertextuels », « dans une perspective où présent et passé interagissent [constamment] l’un sur l’autre »56. En somme, la critique spatiale viserait à rompre avec un rapport de type ʻcause/conséquenceʼ : Dans le travail de l’intertextualité, le sens ne se donne pas à travers un mouvement qui va d’une cause à un résultat : le nouveau texte existe déjà en puissance dans les textes antérieurs qui eux-mêmes voient leur sens modifié par chaque nouveau texte. C’est d’une interaction non d’une réaction que naît le sens.57
Plutôt que de partir du seul texte second en fonction d’une démarche qui s’apparenterait à celle que décrit Daniel-Henri Pageaux ou de s’en tenir à la seule ʻactionʼ de l’hypertexte (« conservation », « suppression », « modification » ou « développement » du texte premier58), Rabau cherche à mesurer une réelle interdépendance des deux textes dans la construction du sens de l’intertextualité. De ce point de vue, la critique spatiale se révèle plus que prometteuse pour analyser des œuvres qui combinent marques intertextuelles et rapprochement(s) interculturel(s). Revenons au Mal de Vienne et à cette discussion déjà évoquée, qui a pour sujet la fonction du suicide dans l’esthétique bernhardienne. Quelques lignes tirées de cette discussion exposent que les intertextes bernhardiens introduisent parfois dans le roman de Racine des comparaisons entre les cultures : Si Bernhard vivait au Québec, il serait un auteur de seconde zone. Il marche fort en Autriche parce que les Autrichiens forment le peuple le plus scandalisable de la Terre. Bernhard en profite.59
Le roman évoque donc la réception de l’auteur autrichien dans son pays d’origine, en fonction d’attributs associés au peuple autrichien, lesquels sont présentés comme opposés aux attitudes qui gouverneraient les choix des Québécois en matière artistique. Or, on se souvient que le roman Beton appelle, en quelque sorte, une réflexion approfondie sur le suicide ; ce que Le Mal de Vienne propose, à partir notamment de renvois directs à Beton. Mais Le Mal de Vienne élargit la réflexion, questionnant les usages du suicide dans l’art contemporain et suggérant ultimement une comparaison entre les sensibilités québécoise et autrichienne. Si l’on souhaitait envisager ce questionnement interculturel à la lumière de la per54 55 56 57 58 59
Rabau : Introduction, p. 46. Rabau : Introduction, p. 46. Rabau : Introduction, p. 43. Rabau : Introduction, p. 43. Revoir la note 8 au sujet de ces principes présentés par Pageaux. Racine : Le Mal de Vienne, p. 168.
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spective spatiale, peut-être conviendrait-il de le situer précisément à la jonction des deux textes ; c’est-à-dire que l’on pourrait penser ce questionnement interculturel en fonction d’une certaine action bilatérale des deux textes. C’est parce que Rabau insiste sur le rôle du lecteur dans le décryptage du sens de l’intertextualité que nous nous considérons en droit de faire un tel postulat ; et puis, n’est-il pas séduisant que le questionnement interculturel naisse précisément lorsque l’on place l’hypotexte et l’hypertexte dans une certaine relation de dépendance réciproque, opérant des va-et-vient constants, distinguant la ʻréponseʼ dans la rencontre entre deux textes plutôt que de la percevoir du côté de l’un ou de l’autre ? 3. CONCLUSION Que retenir, au total, de ces perspectives ouvertes par Samoyault et Rabau ? D’une part, il faut reconnaître que le néologisme « référencialité » imaginé par Samoyault a quelque chose d’audacieux : on a parfois l’impression que la chercheure fait de l’intertexte le moyen par excellence permettant d’appuyer l’hypothèse d’un nœud, d’une attache entre la littérature et le réel. Quant à la démarche de Sophie Rabau, elle a peut-être quelque chose d’utopique, dans la mesure où les parcours qu’elle trace pourront être disséminés à l’infini. Mais à l’instar d’autres critiques contemporains comme Nathalie Piégay-Gros, les deux théoriciennes pensent l’intertextualité comme une réelle « forme de liaison »60, et non plus uniquement comme une « force de rupture »61 ou de « fragmentation »62 ; elles adoptent, presque à titre de valeurs fondamentales, les notions d’ʻinteractionʼ et d’ʻéchangeʼ. Qui plus est, leurs ouvrages offrent un éclairage neuf sur des concepts qui ont de tout temps préoccupé les comparatistes : le concept de ʻmémoireʼ brillamment réinvesti par Samoyault sous l’angle d’une ʻmémoire du réelʼ et le concept d’ʻinfluenceʼ que Rabau n’invalide pas entièrement, mais auquel elle refuse d’adjoindre un itinéraire qui serait simplement unidirectionnel. Pour toutes ces raisons, une critique attentive aux traits d’interculturalité naissant dans le prolongement de marques précises d’intertextualité aurait intérêt à s’appuyer sur les perspectives de Samoyault et de Rabau, qui nous placent entre le livre et le monde, entre le passé et le présent. BIBLIOGRAPHIE SELECTIVE Aquin, Hubert : L’Antiphonaire, roman, Montréal : le Cercle du livre de France, 1969. Bernhard, Thomas : Beton, Frankfurt/M. : Suhrkamp, [1982] 1988. Bernhard, Thomas : Holzfällen. Eine Erregung, Frankfurt/M. : Suhrkamp, 1984. Bernhard, Thomas : Das Kalkwerk, Roman, Frankfurt/M. : Suhrkamp, [1970] 1973. Bernhard, Thomas : Korrektur, Roman, Frankfurt/M. : Suhrkamp, 1975. 60 Piégay-Gros : Introduction à l’intertextualité, p. 41. 61 Piégay-Gros : Introduction à l’intertextualité, p. 41. 62 Piégay-Gros : Introduction à l’intertextualité, p. 41.
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Bernhard, Thomas : Der Untergeher, Frankfurt/M. : Suhrkamp, 1983. Bernhard, Thomas : Wittgensteins Neffe. Eine Freundschaft, Frankfurt/M. : Suhrkamp, 1982. Compagnon, Antoine : Le Démon de la théorie. Littérature et sens commun, Paris : Seuil, 1998 (La Couleur des idées). Dion, Robert : L’Allemagne de Liberté : sur la germanophilie des intellectuels québécois, Ottawa : Les Presses de l’Université d’Ottawa/Würzburg : Königshausen & Neumann, 2007 (Transferts culturels/Saarbrücker Beiträge zur vergleichenden Literatur- und Kulturwissenschaft 37). Fokkema, Douwe (dir.) : A New Concept of World Literature : Cross-Cultural Intertextuality, no thématique Canadian Review of Comparative Literature/Revue Canadienne de Littérature Comparée 31/1 (mars 2004), p. 5–76. Fokkema, Douwe : The Rise of Cross-cultural Intertextuality, ds.: idem (dir.) : A New Concept of World Literature, p. 5–10. Genette, Gérard : Palimpsestes. La littérature au second degré, Paris : Seuil, 1982 (Collection Poétique). Guillén, Claudio : The Challenge of Comparative Literature, traduit de l’espagnol par Cola Franzen, Cambridge (MA), London : Harvard UP, 1993 (Original : Entre lo uno y lo diverso. Introducción a la literatura comparada, Barcelona : Ed. Crítica, 1985 (Filología 14)). Lüsebrink, Hans-Jürgen : De l’analyse de la réception littéraire à l’étude des transferts culturels, ds. : Discours social/Social Discourse 7/3–4 (été–automne 1995), p. 39–46. Pageaux, Daniel-Henri : Littérature comparée et comparaisons, ds. : Revue de littérature comparée 72/3 (juillet–septembre 1998), p. 285–307. Piégay-Gros, Nathalie : Introduction à l’intertextualité, Paris : Dunod, 1996 (Lettres sup). Rabau, Sophie : Introduction, ds. : idem (dir.) : L’Intertextualité. Introduction, choix de textes, commentaires, vade-mecum et bibliographie, Paris : Flammarion, 2002 (Corpus), p. 12–46. Racine, Rober : Le Mal de Vienne, roman, Montréal : Editions de l’Hexagone, 1992 (Fictions 65). Samoyault, Tiphaine : L’Intertextualité. Mémoire de la littérature [2001], Paris : Armand Colin, 2008.
AMBIVALENZ STATT VERGLEICH UND TRANSFER Theoretische und methodologische Überlegungen zu kultureller Differenz und Hybridität bei Homi K. Bhabha Karen Struve
Ganz gleich, wie untadelig das Wissen über den Inhalt einer ‚anderen Kultur‘ sein mag, ganz gleich, wie antiethnozentrisch sie repräsentiert wird: ihre Verortung als Abschluß großer Theorien und die Forderung, daß sie in analytischer Hinsicht immer das gute Objekt der Erkenntnis, die gefügige Summe der Differenz zu sein hat, reproduzieren eine Beziehung der Herrschaft über sie und stellen somit die schwerwiegendste Anklage der institutionellen Macht der kritischen Theorie dar.1
So äußert sich der postkoloniale Literatur- und Kulturtheoretiker Homi K. Bhabha in seinem Aufsatz „Das theoretische Engagement“2 über die Problematik, Wissen über den Anderen zu produzieren. Wie können demzufolge dann aber überhaupt noch Aussagen über kulturelle Differenz, über Kulturvergleiche und Kulturtransfer gemacht werden, die weder autoritär noch naiv, weder eurozentristisch noch diasporisch, weder kulturrelativistisch noch universalistisch oder essenzialistisch daherkommen? Wie sähen Beschreibungen von Kulturbeziehungen aus, die dem Anderen nicht einen eindeutigen Ort zuweisen und die gleichzeitig das eigene Sprechen reflektieren? Im folgenden Beitrag möchte ich einige theoretische Überlegungen zur Anschlussfähigkeit und zur kritischen Fortschreibung der Kulturbeziehungsforschung mit Blick auf die Studien von Homi K. Bhabha präsentieren. Mir wird es dabei nicht darum gehen, Bhabhas Konzepte kultureller Austauschprozesse in Gänze nachzuzeichnen, wie etwa Mimikry, Dritter Raum oder Übersetzung.3 1 2 3
Bhabha, Homi K.: Die Verortung der Kultur, Tübingen: Stauffenburg, [1994] 2000, S. 48 (Original: The Location of Culture, London [u. a.]: Routledge, 1994). Bhabha, Homi K.: Das theoretische Engagement, in: ders.: Die Verortung der Kultur, S. 29– 58. Vgl. zur überblicksartigen Einführung in zentrale Konzepte und theoretische Einflüsse Anfeng, Sheng/Bhabha, Homi K.: Minoritization as a Global Measure in the Age of Global Postcoloniality: an Interview with Homi K. Bhabha, in: Ariel 40/1 (Jan 1, 2009), S. 161–180, http://www.thefreelibrary.com/Minoritization as a global measure in the age of global…a0210585177 (07.06.2013) und http://www.ariel.ucalgary.ca/ariel/index.php/ariel/article/ view/2635/2585 (07.06.13). Zur Einführung vgl. auch Bachmann-Medick, Doris: Postcolonial turn, in: dies. Cultural turns. Neuorientierungen in den Kulturwissenschaften, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt, 2006, S. 184–237; Castro Varela, María do Mar/Dhawan, Nikita: Homi K. Bhabha – Von Mimikry, Maskerade und Hybridität, in: dies.: Postkoloniale Theorie. Eine
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Mein Vorhaben ist um einiges bescheidener, denn ich beziehe mich nur auf das Konzept der kulturellen Differenz und der Hybridität. Allerdings ist mein Vorhaben auch um einiges gewagter, da es methodologisch interessiert ist. Mein Fokus liegt auf der Operationalisierbarkeit für kultur-, besonders aber für literaturwissenschaftliche Analysen.4 Gewagt ist dieses Unterfangen, weil die hier formulierten theoretisch-methodologischen Anregungen für die Kulturbeziehungsforschung bewusst gegen Bhabhas Intentionen und auch in gewissem Sinne ignorant gegenüber der dekonstruktivistischen Logik seines Denkens und Schreibens entwickelt werden. In einer ersten Lektüre eines Romans aus der französischen Gegenwartsliteratur werden diese methodologischen Ansätze zumindest schlaglichtartig erprobt und ihre Potenziale, aber auch ihre Grenzen ausgelotet. 1. AUSGANGSPUNKT: DIFFERENZ-DENKEN IN DER KULTURVERGLEICHS- UND KULTURTRANSFERFORSCHUNG Die Auseinandersetzung mit dem kulturell Anderen und die damit einhergehende Selbstpositionierung ist für die kulturwissenschaftliche Arbeit überhaupt, besonders aber für die Kulturvergleichs- und Kulturtransferforschung, eines der zentralen Themen.5 Die Kategorie der Differenz scheint dabei auf mehreren Ebenen basal zu sein: Sie dient der Konzeptualisierung von Kultur, sie spielt eine wichtige Rolle als Denkfigur für die Theorie, sie dient als Kriterium für die eigene wissenschaftliche Position und fungiert als Leitmotiv für das methodische Vorgehen. In der Kulturvergleichsforschung werden Kulturen unterschieden und es wird entlang klarer Differenzbildungen zwischen ihnen kontrastiert. Die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit Modellen von Kulturen als Entitäten erscheint auch zunächst nicht weiter problematisch, liegen, wie Jürgen Osterhammel darlegt, den
4
5
kritische Einführung, Bielefeld: transcript, 2005, S. 83–109, sowie Struve, Karen: Zur Aktualität von Homi K. Bhabha, Wiesbaden: VS Verlag (in Vorbereitung). Im Kontext von Kulturtransfer und -vergleich wäre besonders ein Blick auf das bhabhasche Konzept der (kulturellen) Übersetzung und damit der Transnationalität und Translationalität von Kulturen lohnenswert, vgl. Bhabha: Verortung der Kultur, S. 256 f. Vgl. dazu Wagner, Birgit: Kulturelle Übersetzung. Erkundungen über ein wanderndes Konzept, in: Kakanien revisited, http://www.kakanien.ac.at/beitr/postcol/BWagner2.pdf, 2009 [2008] (29.05.2013). Damit akzentuiere ich etwas anders die Überlegungen, die in der „Grazer Transfergruppe“ und besonders von Werner Suppanz bereits vorgelegt wurden, vgl. Suppanz, Werner: Transfer, Zirkulierung, Blockierung. Überlegungen zum kulturellen Transfer als Überschreiten signifikatorischer Grenzen, in: Celestini, Federico/Mitterbauer, Helga (Hg.): Ver-rückte Kulturen. Zur Dynamik kulturellen Transfers, Tübingen: Stauffenburg, 2003, S. 21–35. „Die Kulturwissenschaften“, so formuliert Osterhammel pointiert, „entstanden aus dem Geist kultureller Unterscheidung.“ Osterhammel, Jürgen: Die Vielfalt der Kulturen und die Methoden des Kulturvergleichs, in: Jaeger, Friedrich/Straub, Jürgen (Hg.): Handbuch der Kulturwissenschaften, Bd. 2: Paradigmen und Disziplinen, Stuttgart: Metzler, 2011, S. 50–65, hier: S. 56, Hervorhebung im Original.
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frühen Forschungsarbeiten doch unhinterfragt nationalstaatliche Vorstellungen von stabilen, homogenen, abgrenzbaren Kulturen zugrunde.6 Eine selbstkritische Sichtweise auf jene essenzialistischen Kulturmodelle in der Tradition Herders entlarvt nun diese Selbstverständlichkeiten als ethnozentrische, eurozentristische und oftmals kulturchauvinistische Perspektive auf andere Kulturen. Doch trotz aller Kritik: Die Grundproblematik kulturellen Vergleichens bleibt dieselbe. Denn für den Vergleich von Kulturen ist nicht nur die Differenz zwischen den comparata vonnöten. Es bedarf eines tertium comparationis, eines „Vergleichsrahmen[s]“ und damit eines objektiven „Beobachterstandpunkts“, der den Blick freigibt auf „binäre[…] imagologische[…] Repräsentationen nationaler Identität“7. Differenz wird folglich auch theoretisch-methodologisch relevant – und zwar zwischen der überlegenen, vermeintlich ‚objektiv-observatorischen‘ theoretischen Position und dem „gefügigen“ (so Bhabhas eingangs zitierte Formulierung), zu beforschenden Untersuchungsgegenstand. In dieser Logik steht auch der Königsweg kultureller Vergleichsforschung, der laut Osterhammel in der „Postulierung kausaler Relationen“ besteht, denn der „Kulturvergleich ist […] kein rhetorischer oder illustrativer Kunstgriff, sondern ein analytisch-explikatives Verfahren“8. Eine kritische Reflexion dieses Differenz-Denkens der Essenzialisierung und Homogenisierung hat die (deutsch-französische) Kulturtransferforschung bekanntlich vorgenommen, indem sie den Blick auf den Konstruktcharakter von Kulturen lenkt und die „Prozesse der interkulturellen Übertragung und Vermittlung kultureller Artefakte“9 zwischen den, aber auch innerhalb der Kulturen fokussiert. Hier geht es um vielfältige Prozesse der Rezeption, der Übersetzung oder Kulturvermittlung, die anhand bestimmter Mittlerfiguren konkretisiert und exemplifiziert werden. Doch auch diese Forschungsarbeiten argumentieren laut Thomas Keller weiterhin mit Konzepten wie Erst- und Zweitkontexten, sie konzipieren Rezeptionsmodelle im Blickwinkel von Original und Kopie und bleiben oftmals doch in einem nationalstaatlich fundierten Denken von Transferkontexten
6 7 8 9
Vgl. Osterhammel: Vielfalt der Kulturen, S. 61. Keller, Thomas: Kulturtransferforschung: Grenzgänge zwischen den Kulturen, in: Moebius, Stephan/Quadflieg, Dirk (Hg.): Kultur. Theorien der Gegenwart, Wiesbaden: VS Verlag, 2 2011, S. 106–119, hier S. 114. Osterhammel: Vielfalt der Kulturen, S. 61. Lüsebrink, Hans-Jürgen: Kulturraumstudien und Interkulturelle Kommunikation, in: Nünning, Ansgar/Nünning, Vera (Hg.): Konzepte der Kulturwissenschaften. Theoretische Grundlagen – Ansätze – Perspektiven, Stuttgart: Metzler, 2003, S. 307–328, hier, S. 318. Der Blick auf die Prozesse statt auf Gegenstände macht für Michael Werner und Bénédicte Zimmermann den zentralen Unterschied zwischen Kulturvergleichs- und Kulturtransferforschung aus: „Im Gegensatz zum Vergleich hat die Transfergeschichte per definitionem ausschließlich Prozesse zum Gegenstand.“ Werner, Michael/Zimmermann, Bénédicte: Vergleich, Transfer, Verflechtung. Der Ansatz der Histoire croisée und die Herausforderung des Transnationalen, in: Geschichte und Gesellschaft 28/4, (Okt.–Dez. 2002), S. 607–636.
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verhaftet.10 Zudem, so benennt Keller ein Desiderat der Kulturtransferforschung, fehlt die diskursanalytische und damit auch machtkritische Reflexionsebene.11 An dieser Stelle möchte ich die postkoloniale – und hier besonders die poststrukturalistisch inspirierte – Theorie ins Spiel bringen, die ebenfalls die antiessenzialistische und konstruktivistische Konzeptualisierung von Kulturen als diskursive Konstrukte in einer globalisierten Welt der Migration (und nicht nur der sogenannten Postmoderne) beschäftigt. Die postcolonial studies treibt dabei die Problematik des dialektischen Denkens ebenso um wie auch der Umgang mit der eigenen wissenschaftlichen Position. Nun scheint mir gerade im Werk Bhabhas eine Konzeption kultureller Differenz angelegt, die all diese Problematiken in spezifischer Weise berücksichtigt.12 2. DIFFERENZ-DENKEN IN DER THEORIE HOMI BHABHAS: AMBIVALENZ STATT DIVERSITÄT Das Paradigma der kulturellen Differenz stellt den Dreh- und Angelpunkt der bhabhaschen Theoriebildung dar. Bhabha dekonstruiert gleichermaßen den Unterschied zwischen Theorie und politischer Praxis wie zwischen Theorie und Untersuchungsgegenstand. Er installiert ein Differenz-Moment innerhalb der vermeintlich unumstößlichen Autorität (kolonialer) Macht und fokussiert unter dem Begriff ‚Hybridität‘ Phänomene der Vermischung, Übersetzung, Überblendung und Verflechtung innerhalb und an den Rändern der Kultur. Hybridität stellt für Bhabha ein Übergangsmoment dar, „in de[m] es einen Platz für Differenz ohne eine übernommene Hierarchie gibt“13. Mit seinem Differenz-Denken wendet er sich gegen einige Aspekte, die ich oben für die Kulturvergleichs- und Kulturtransferforschung skizziert habe. Bhabha betreibt bewusst keine klassische Einfluss- oder Rezeptionsforschung. Ihn interessiert weder die Rekonstruktion von Original und Kopie noch das Nachvollziehen von Resonanz oder Einfluss – auch nicht in Form der „kulturellen Ein10 Vgl. Keller: Kulturtransferforschung, S. 114. 11 Vgl. Keller: Kulturtransferforschung, S. 111. 12 Diese unterscheidet sich deutlich beispielsweise von den Typologisierungen kultureller Begegnungen, wie Urs Bitterli sie entwirft, vgl. Bitterli, Urs: Die Wilden und die Zivilisierten. Grundzüge einer Geistes- und Kulturgeschichte der europäisch-überseeischen Begegnung, München: Beck, [1976] 2004. Auch akzentuiert sie transkulturelle Phänomene anders als die Arbeit zum kulturellen Austausch von Peter Burke, der zwar von Transkulturation spricht, aber auch eine Rhetorik des „kulturellen Sickereffekts“ anschlägt, Burke, Peter: Kultureller Austausch, Frankfurt/M.: Suhrkamp, 2000, S. 10. Und schließlich ist Bhabhas dezidiert semiotisch-postrukturalistische und postkoloniale Anlage der Konzeption kultureller Differenz auch radikaler als das Denken von Transkulturalität, wie etwa Wolfgang Welsch es formuliert hat, vgl. beispielsweise Welsch, Wolfgang: Was ist eigentlich Transkulturalität?, in: Darowska, Lucyna/Lüttenberg, Thomas/Machold, Claudia (Hg.): Hochschule als transkultureller Raum? Kultur, Bildung und Differenz in der Universität, Bielefeld: transcript, 2010, S. 39–66. 13 Bhabha: Verortung der Kultur, S. 5.
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flussangst“ nach Michael Frank.14 Denn im Prozess kultureller Hybridität, so betont Bhabha, entsteht „something different, something new and unrecognisable”15. Für Bhabha stellt sich aber weder das Problem der Bilateralität oder Trilateralität, noch interessiert er sich für Vermittlerfiguren in Form von historischen Subjekten. Bhabha hat – kurz gesagt – nicht die Grenzgänger, sondern die Grenzgänge als semiotische Prozesse im Blick. Doch neben diesen Abgrenzungen lassen sich auch Anschlussmöglichkeiten ausmachen, auf deren Fruchtbarkeit für die Erforschung kultureller Transfers auch Suppanz hingewiesen hat.16 Bhabha setzt sich ja sehr wohl mit Prozessen des Kulturkontakts oder der kulturellen Durchdringung auseinander – wenn auch aus einer dezidiert semiotischen Perspektive. Kulturen ähneln sich ihm zufolge aufgrund ihrer strukturellen Gemeinsamkeit der Bedeutungsherstellung – nicht aufgrund ihrer Inhalte.17 Bhabhas Differenzbegriff betont nun jenen semiotischen, diskursiven und damit prozessualen Charakter von Kulturen. Bhabha akzentuiert Differenz dabei einerseits im Sinne von différance und andererseits im Sinne von Ambivalenz. Bhabhas Blick auf die Bedeutung herstellenden Prozesse ist geprägt von der derridaschen différance, denn sein Interesse gilt Bedeutungsverschiebungen, Zeichenverkettungen, dem Spiel von Verweisungen und Referenzen. Daraus folgt, dass Differenz und damit auch Hybridität für ihn einerseits als kulturinhärentes Moment der Bedeutungsproduktion funktioniert, das nicht zur Eindeutigkeit, sondern zur Ambivalenz, zur Gleichzeitigkeit widersprüchlicher Zeichen führt. Andererseits stellt es aber auch ein transkulturelles Moment zwischen Kulturen dar, das nicht dialektisch trennt, sondern eher eine Art ambivalentes Bindeglied ist. Damit meint Hybridität jedoch keine harmonischen Kulturamalgamisierungen, sondern beharrt auf einer differenziellen, ambivalenten Zwischenposition. In diesem Zusammenhang spricht sich Bhabha auch vehement gegen den Begriff der kulturellen Diversität aus, der für ihn für Kulturrelativismus und einen sehr machtvollen Multikulturalismusdiskurs steht.18 14 Frank, Michael C.: Kulturelle Einflussangst. Inszenierungen der Grenze in der Reiseliteratur des 19. Jahrhunderts, Bielefeld: transcript, 2006. 15 Bhabha, Homi K./Rutherford, Jonathan: The Third Space – Interview with Homi Bhabha, in: Rutherford, Jonathan (Hg.): Identity: Community, Culture, Difference, London: Lawrence & Wishart, 1990, S. 207–221, hier S. 211. 16 Vgl. Suppanz: Transfer, Zirkulierung, Blockierung, S. 21–35. 17 „[A]ll forms of culture are in some way related to each other, because culture is a signifying or symbolic activity. The articulation of cultures is possible not because of the familiarity or similarity of contents, but because all cultures are symbol-forming and subject-constituting, interpellative practices.“ Bhabha/Rutherford: The Third Space, S. 209 f. 18 Bhabha unterscheidet strikt zwischen kultureller Diversität und Differenz: „Kulturelle Diversität ist ein epistemologisches Objekt – Kultur als Objekt empirischen Wissens –, während kulturelle Differenz der Äußerungsprozeß von Kultur als etwas ‚Wissensfähigem‘ (‚knowledgeable‘), Autoritativem, zur Konstrukt von Epistemen kultureller Identifikation Geeignetem ist. Während kulturelle Diversität eine Kategorie der vergleichenden Ethik, Ästhetik oder Ethnologie ist, ist kulturelle Differenz ein Prozeß der Signifikation, durch den Aussagen der Kultur oder über Kultur die Produktion von Kraft-, Referenz-, Anwendungs- oder Fähigkeits-
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Mit diesem Denken von Ambivalenz im Zentrum und an der Peripherie von Kulturen schlägt man mit Bhabha also gleich zwei der Kulturvergleichs-, aber auch der Kulturtransferforschung lästige Fliegen auf einmal. Erstens lassen sich Kulturen als komplexe, hybride Konstruktionen und nicht mehr als homogene Entitäten beschreiben, da ihnen Differenz und Hybridität eingeschrieben sind. Diese Denkfigur ist insbesondere dann brisant, wenn Bhabha den scheinbar mächtigen, autoritären, weil eindeutigen Kolonialdiskurs als in sich brüchig und agonistisch (und nicht antagonistisch) beschreibt.19 Zweitens folgt daraus theoretisch-methodologisch, dass sich keine Binaritäten und keine multikulturelle Synthese, d. h. keine dialektischen Argumentationen mehr aufrecht erhalten lassen. Bhabha muss und will sich nicht mehr um Fragen nach Original und Kopie, nach Einwirkungen und Auswirkungen kümmern, da in seinem Hybriditätsverständnis gerade keine Spuren, keine Rekonstruktionen, kein Rest von Ausgangspositionen verfolgt werden, sondern der Blick auf die (stets ephemeren) Neukonstruktionen gerichtet ist. „Hybridität […] ist kein dritter Begriff, der die Spannung zwischen zwei Kulturen […] in einem dialektischen Spiel der ‚Erkenntnis‘ auflöst.“20 Diese Abwehr dialektischen Denkens ist für Bhabha sprachphilosophisch, aber auch diskursanalytisch und vor allem politisch motiviert. Hybride Phänomene interessieren Bhabha als veritable Widerstandsstrategien und zwar jenseits einer Ebene, die diese als affirmativ oder antagonistisch zu dem herrschenden (bei ihm meist kolonialen) Diskurs zu kategorisieren sucht. Seine Perspektive beleuchtet die Ambivalenz zwischen Affirmation und Negation – und fordert zu einem spezifischen methodischen Zugang heraus. 3. METHODOLOGISCHE KONSEQUENZEN – DIFFERENZ ALS LEITMOTIV WISSENSCHAFTLICHEN SCHREIBENS Auf der methodologischen Ebene realisiert Bhabha seine Überlegungen zur Hybridität auf stupende und stellenweise auch enervierende Weise. Die Berücksichtigung der Tatsache, dass kulturelle Differenz nicht vollkommen intelligibel ist und feldern differenzieren, diskriminieren oder autorisieren. Von kultureller Diversität zu sprechen beinhaltet die Anerkennung vorgegebener kultureller Inhalte und Bräuche, und als Position […] des Relativismus führte diese Anerkennung dann zu liberalen Begriffen wie Multikulturalismus, kulturellem Austausch oder der Kultur der Menschheit.“ Bhabha: Verortung der Kultur, S. 51 f. Prozesse des Transfers hingegen finden in Bhabhas Denken statt – allerdings nur semiotisch als Verschiebung von einem eindeutigen, machterhaltenden Symbol zu einem polysemen, nicht decodierbaren Zeichen. Besonders an den internen wie externen Grenzziehungen werden „Bedeutungen und Werte (miß)verstanden oder Zeichen aus ihrem Kontext gerissen.“ Bhabha: Verortung der Kultur, S. 52. 19 Vgl. Hárs, Endre: Hybridität als Denk- und Auslegungsfigur. Homi K. Bhabhas theoretisches Engagement, in: Kakanien revisited, http://www.kakanien.ac.at/beitr/theorie/EHars1.pdf, 2002 (29.05.2013), hier S. 3, sowie Bhabha, Homi K.: Zeichen als Wunder: Fragen der Ambivalenz und Autorität unter einem Baum bei Delhi im Mai 1817, in: ders.: Die Verortung der Kultur, S. 151–180. 20 Bhabha: Verortung der Kultur, S. 168.
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damit „ein unlösbares Problem“21 bleibt, einerseits und die Problematisierung der Dominanz über den untersuchten Gegenstand andererseits finden in Bhabhas Schreiben Eingang, indem er ganz bewusst keine kausal-logischen Zusammenhänge herstellt. Vielmehr geht er – ganz entgegen der von Osterhammel beschriebenen Methodologie des Kulturvergleichs – bewusst im Modus der Analogiebildung vor. Bhabhas Schreiben richtet sich so gegen eine eurozentristische, „den Transparenz-Idealen der europäischen Aufklärung geschuldete“ Darlegungsweise. Es ist, so formuliert es Birgit Wagner treffend, „intentional auf Unschärfe ausgelegt“22. Bhabha selbst beschreibt sein Vorgehen als ein „Lesen gegen den Strich“23, als „katachretische[n] Lektüre […], bei der ich zwischen den Zeilen lese und weder Bachtin bei seinem noch mich selbst gänzlich bei meinem Wort nehme“24, als eine „tendenziöse Rekonstruktion“25 der theoretischen wie literarischen Texte, die gerade nicht an eine etablierte literaturwissenschaftliche Methode anknüpft. In Bhabhas Textanalysen werden (frei assoziierte) kulturtheoretische Konzeptionen, intertextuelle wie intermediale Referenzen und durch die jeweilige Textpassage assoziierte Sprachspiele oder Metaphern miteinander kombiniert. Die Machtasymmetrie zwischen einer vorgängigen Theorie und einem nachgängigen Gegenstand dekonstruiert Bhabha ähnlich wie Roland Barthes und der für die postkoloniale Theorie wiederentdeckte Frantz Fanon, indem er theoretisches und literarisches Schreiben, also Objekt- und Metasprache, verquickt. Die Arbeit über Hybridität erfordert „hybridisierende[…] Lektüren“, so Endre Hárs,26 und ein hybridisiertes Schreiben. Eine solche hybridisierende Textlektüre ist folglich eine dezidierte Absage an konventionelle (literaturwissenschaftliche) Methodologien. 4. HYBRIDISIERENDE TEXTANALYSEN: ANNÄHERUNGEN AN EINE LITERATURWISSENSCHAFTLICHE METHODE Für eine solche hybridisierende Textanalyse möchte ich nun Bhabhas Lektüren wieder textzentrieren, d. h. in hybriden Textsignalen ihren Ausgang nehmen lassen. Die von mir vorgestellte Lesebrille für die Perspektive auf Prozesse kultureller Differenz und Hybridität schärft den Blick für jene Aussagen, die innerhalb des untersuchten Textes Eindeutigkeit behaupten, aber in irgendeiner Form verunsichert werden und verunsichernd wirken. Von Interesse sind Bedeutungen, die das Funktionieren kultureller Differenz in ihrer Ambivalenz von selbstverständlich und unverständlich entfalten.27 Indikatoren für solche ambivalenten Stör21 22 23 24 25 26 27
Bhabha: Verortung der Kultur, S. 51. Wagner: Kulturelle Übersetzung, S. 3. Bhabha: Verortung der Kultur, S. 260. Bhabha: Verortung der Kultur, S. 280. Bhabha: Verortung der Kultur, S. 194. Hárs: Hybridität als Denk- und Auslegungsfigur, S. 1. Es geht Bhabha darum, „den Kunstgriff zu verstehen, durch den Literatur mit bestimmten historischen Situationen zaubert, indem sie das Mittel psychischer Unsicherheit, die ästhetische
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momente können jegliche Formen von Bewegung, Veränderung oder aber vermeintliche Stabilität in Raum-, Zeit- oder Identitätskonstruktionen, jegliche Formen von Wiederholungen28 und stereotypen Formulierungen sein. Die Behauptung eines souveränen und narzisstischen Ichs ist dabei ebenso unter die Lupe zu nehmen wie schizophrene Figuren oder Doppelgänger. Die hybride Ambivalenz kann sich sogar in einem einzelnen Wort artikulieren, indem es als Konzept oder Metapher an andere literarische, aber durchaus auch literatur- oder kulturtheoretische Texte erinnert. Damit wird eine rhetorische Figur aus einem Text zur Denkfigur hybriden Analysierens und Schreibens. Für den deutsch-französischen Fokus der Kulturbeziehungsforschung möchte ich diese Ansatzpunkte für eine erste Analyse des Romans Parle-leur de batailles, de rois et d’éléphants von Mathias Enard konkretisieren.29 Der Roman erzählt vom Aufenthalt Michelangelos in Konstantinopel, der im Auftrag des Sultans eine Brücke über das Goldene Horn bauen soll. Kulturelle Differenz wird in diesem Roman beinahe durchgängig in Ambivalenz verwandelt. Michelangelo ist immer gleichzeitig in räumliche Ambivalenzen von Nähe und Ferne, Weite und Enge, Höhe und Tiefe,30 Fremde und Heimat eingebunden – er ist „perdu entre deux rives“31. Obwohl Michelangelos Aufenthalt (und schließlich im Epilog auch der Tod aller Figuren) den zeitlichen Rahmen der Erzählung klar aufspannt und eingrenzt, sind zahlreiche Ellipsen, Prolepsen, Brüche und Anspielungen an Vergangenheit und Gegenwart über die erzählte Zeit hinweg auszumachen.32 Und auch der Andere ist nicht in seiner eindeutigen Alterität konstruiert, sondern in seiner Ambivalenz als griechischer Dragoman, der ins Italienische übersetzt,33 als in Konstantinopel beheimateter Christ,34 als muslimischer Invasor (der Sultan von Konstantinopel als „Grand Turc“35), als spanische Jüdin,36 als bisexueller, in Michelangelo schwer verliebter Wegbegleiter,37 als androgyne Sklavin – affektiv aufgeladen als fremd und vertraut, begehrt und gefürchtet zugleich („cette forme mouvante, parfaite, autre, indéfinie“38). Narratologische und generische Ambivalenzen lassen sich ausmachen in der Erzählstimme, die gedoppelt ist und sich besonders im geflüsterten, scheherazadeschen „tu“ („tu ne peux échapper à ma voix“39) zwischen Oralität und Literarizität bewegt. Vermischungen von Brief, Roman und
28 29 30 31 32 33 34 35 36 37 38 39
Distanzierung, oder die obskuren Zeichen der Geistes-Welt, das Sublime und das Unbewußte, gebraucht.“ Bhabha: Verortung der Kultur, S. 18. Vgl. zur Wiederholung innerhalb des untersuchten Textes, aber auch als rhetorische Figur in Bhabhas Schreiben Hárs: Hybridität als Denk- und Auslegungsfigur. Enard, Mathias: Parle-leur de batailles, de rois et d’éléphants, Arles: Actes Sud, 2010. Vgl. Enard: Parle-leur de batailles, S. 82–85. Enard: Parle-leur de batailles, S. 142. Vgl. bspw. Enard: Parle-leur de batailles, S. 11 f. Vgl. Enard: Parle-leur de batailles, S. 11. Vgl. Enard: Parle-leur de batailles, S. 11. Enard: Parle-leur de batailles, S. 17. Vgl. Enard: Parle-leur de batailles, S. 30. Vgl. Enard: Parle-leur de batailles, S. 139 Enard: Parle-leur de batailles, S. 91. Enard: Parle-leur de batailles, S. 96.
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Novelle sprengen die Gattungsgrenzen ebenso wie die intermediale Integration von Abbildungen authentischer Warenlisten Michelangelos40 oder der Skizze einer Brücke von da Vinci, die sich über die Buchseiten spannt.41 Eine Metapher der kulturellen Differenz als Ambivalenz könnte diese Brücke sein, die Orient und Okzident verbinden soll, aber beide Kontinente in ihrer Differenz als Pfeiler braucht und keine Hierarchie zu formulieren vermag. Sie könnte in einer detaillierteren Textlektüre zum analytischen Begriff und damit von einer räumlichen zu einer epistemologischen Kategorie avancieren. Bhabha selbst nutzt den Begriff der Brücke mit Verweis auf die Metapher der Brücke bei Martin Heidegger;42 man könnte sie als „non-lieu“ nach Marc Augé43 verstehen oder mit dem Roman Die Brücke vom Goldenen Horn der deutsch-türkischen Autorin Emine Sevgi Özdamar in Verbindung bringen.44 Dieser Roman kann meines Erachtens plausibel machen, dass Kulturvergleiche problematisch werden, da die Kulturen nicht mehr als homogene Entitäten verortet werden können, und dass Ausgangskulturen zwar eine Rolle spielen als verlorene Heimat, als sehnsuchtsvoll geflüsterte Geschichten oder als Bedrohung, aber nicht mehr rekonstruierbar sind und sein wollen. Kulturelle Transfers sind nicht mehr unidirektional zurückzuführen auf die Transferquellen, sondern eher in einer Perspektive der Transferprozesse zu analysieren. Hier lassen sich konkrete wie metaphorische mediterrane Transferprozesse ausmachen, die sich in der Gestalt von Figuren, Erzählverfahren und von emblematischen Metaphern entfalten. 5. „THE OTHER TEXT“. KRITISCHE BEMERKUNGEN ZU BHABHAS THEORIE UND ZUM THEORETISCHEN ENGAGEMENT IN DER KULTURBEZIEHUNGSFORSCHUNG So fruchtbar mir Bhabhas postkoloniale Anstöße für die Kulturbeziehungsforschung im Hinblick auf eine konsequente Dekonstruktion dialektischer, machtbesetzter und diskursiv konstruierter Binaritäten auch erscheinen, so problematisch ist seine Theorie für die Analyse literarischer Texte doch in vielen Punkten. Die schärfste Kritik gilt wohl dem Schematismus: Wer überall Hybridität vermutet, findet sie auch. Kritik gilt weiterhin u. a. Bhabhas dekontextualisierendem Universalismus, den unterschwellig doch fortgeführten Dichotomien und der Problematik, seine Arbeiten als methodologisches oder rhetorisches Modell zu betrachten.45 Zudem ist es fraglich, ob die theoretische Situierung innerhalb des 40 41 42 43
Vgl. Enard: Parle-leur de batailles, S. 8. Vgl. Enard: Parle-leur de batailles, S. 142–143. Vgl. Bhabha: Verortung der Kultur, S. 7. Vgl. Augé, Marc: Non-Lieux. Introduction à une anthropologie de la surmodernité, Paris: Seuil, 1992. 44 Özdamar, Emine Sevgi: Die Brücke vom Goldenen Horn, Köln: Kiepenheuer & Witsch, 1998. 45 Vgl. zur Übersicht über die nahezu unüberschaubare kritische Rezeption Bhabhas das Kapitel „Bhabha im Kreuzfeuer der Kritik“ bei Castro Varela/Dhawan: Postkoloniale Theorie,
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französischen Poststrukturalismus und die hermetische, metatheoretische Diktion epistemische Machtasymmetrien tatsächlich auflösen können und im Sinne einer ‚Provinzialisierung Europas‘ nach Dipesh Chakrabarty46 akzeptabel sind. Gleichwohl möchte ich zu Bhabhas Ausgangsfrage zurückkehren und zu der Frage, wie nun eine Kulturbeziehungsforschung zu denken ist, die einer intra- und transkulturellen Hybridisierung Rechnung trägt und der anfangs zitierten Mahnung begegnet, den Anderen nicht einfach in die eigenen Diskurse einzuschließen.47 Mit Bhabha wäre der Blick auf die Ambivalenz der Hybridität einem Fokus von Vergleich oder Transfer vorzuziehen. Erst wenn man dem literarischen Text das Potenzial des Un-heimlichen und Fremdartigen zugesteht und überlässt, und wenn zudem das eigene, wissenschaftliche Schreiben von einem kontrollierenden zu einem interagierenden Text wird, – wenn also der „Text des Anderen“ zum „anderen Text“48 führt – könnten hybridisierende Lektüren für die Kulturbeziehungsforschung neue theoretische und methodologische Impulse liefern. LITERATURVERZEICHNIS Anfeng, Sheng/Bhabha, Homi K.: Minoritization as a Global Measure in the Age of Global Postcoloniality: an Interview with Homi K. Bhabha, in: Ariel 40/1 (Jan 1, 2009), S. 161–180, http://www.thefreelibrary.com/Minoritization as a global measure in the age of global…a0210585177 (07.06.2013) und http://www.ariel.ucalgary.ca/ariel/index.php/ariel/article/view/ 2635/2585 (07.06.2013). Augé, Marc: Non-Lieux. Introduction à une anthropologie de la surmodernité, Paris: Seuil, 1992. Bachmann-Medick, Doris: Postcolonial turn, in: dies. Cultural turns. Neuorientierungen in den Kulturwissenschaften, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt, 2006, S. 184–237. Bhabha, Homi K./Rutherford, Jonathan: The Third Space – Interview with Homi Bhabha, in: Rutherford, Jonathan (Hg.): Identity: Community, Culture, Difference, London: Lawrence & Wishart, 1990, S. 207–221. Bhabha, Homi K.: Die Verortung der Kultur, Tübingen: Stauffenburg, 2000 (Original: The Location of Culture, London [u. a.]: Routledge, 1994). Bhabha, Homi K.: Das theoretische Engagement, in: ders.: Die Verortung der Kultur, S. 29–58. S. 100–110. Eine äußerst hilfreiche, da kommentierte Bibliografie über Bhabhas Werk von 1983 bis 2005 und dessen Rezeption findet sich bei Huddart, David Paul: Homi K. Bhabha, London: Routledge, 2006, S. 171–183. 46 Chakrabarty, Dipesh: Europa provinzialisieren. Postkolonialiät und die Kritik der Geschichte, in: Conrad, Sebastian/Randeria, Shalini (Hg.): Jenseits des Eurozentrismus. Postkoloniale Perspektiven in den Geschichts- und Kulturwissenschaften, Frankfurt/M., New York: Campus, 2002, S. 283–312. Vgl. zu den Möglichkeiten, mit komparativen Methoden Europa zu ,provinzialisieren‘ und damit der eurozentristischen Suprematie zu berauben Loomba, Ania: Race and Possibilities of Comparative Critique, in: New Literary History 40 (2009), S. 501– 522. 47 Den Unterwerfungsmechanismus des Anderen erkennt Bhabha bei der Analyse des Anderen bei Montesquieu, Barthes, Julia Kristeva und Jacques Derrida ebenso wie bei Jean-François Lyotard; ihre Fremdenfiguren „sind Teil dieser Strategie der Eindämmung, die den anderen Text/den Text des Anderen (the Other text) auf ewig zum exegetischen Horizont der Differenz statt zur Quelle der Artikulation macht.“ Bhabha: Verortung der Kultur, S. 49. 48 Bhabha: Verortung der Kultur, S. 49.
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Bhabha, Homi K.: Zeichen als Wunder: Fragen der Ambivalenz und Autorität unter einem Baum bei Delhi im Mai 1817, in: ders.: Die Verortung der Kultur, S. 151–180. Bitterli, Urs: Die Wilden und die Zivilisierten. Grundzüge einer Geistes- und Kulturgeschichte der europäisch-überseeischen Begegnung, München: Beck, [1976] 2004. Burke, Peter: Kultureller Austausch, Frankfurt/M.: Suhrkamp, 2000. Castro Varela, María do Mar/Dhawan, Nikita: Homi K. Bhabha – Von Mimikry, Maskerade und Hybridität, in: dies.: Postkoloniale Theorie. Eine kritische Einführung, Bielefeld: transcript, 2005, S. 83–109. Chakrabarty, Dipesh: Europa provinzialisieren. Postkolonialiät und die Kritik der Geschichte, in: Conrad, Sebastian/Randeria, Shalini (Hg.): Jenseits des Eurozentrismus. Postkoloniale Perspektiven in den Geschichts- und Kulturwissenschaften, Frankfurt/M., New York: Campus, 2002, S. 283–312. Enard, Mathias: Parle-leur de batailles, de rois et d’éléphants, Arles: Actes Sud, 2010. Frank, Michael C.: Kulturelle Einflussangst. Inszenierungen der Grenze in der Reiseliteratur des 19. Jahrhunderts, Bielefeld: transcript, 2006. Hárs, Endre: Hybridität als Denk- und Auslegungsfigur. Homi K. Bhabha theoretisches Engagement, in: Kakanien revisited, http://www.kakanien.ac.at/beitr/theorie/EHars1.pdf, 2002 (21.05.2013). Keller, Thomas: Kulturtransferforschung: Grenzgänge zwischen den Kulturen, in: Moebius, Stephan/Quadflieg, Dirk (Hg.): Kultur. Theorien der Gegenwart, Wiesbaden: VS Verlag, 22011, S. 106–119. Lüsebrink, Hans-Jürgen: Kulturraumstudien und Interkulturelle Kommunikation, in: Nünning, Ansgar/Nünning, Vera (Hg.): Konzepte der Kulturwissenschaften. Theoretische Grundlagen – Ansätze – Perspektiven, Stuttgart: Metzler, 2003, S. 307–328. Osterhammel, Jürgen: Die Vielfalt der Kulturen und die Methoden des Kulturvergleichs, in: Jaeger, Friedrich/Straub, Jürgen (Hg.): Handbuch der Kulturwissenschaften, Bd. 2: Paradigmen und Disziplinen, Stuttgart: Metzler, 2011, S. 50–65. Özdamar, Emine Sevgi: Die Brücke vom Goldenen Horn, Köln: Kiepenheuer & Witsch, 1998. Struve, Karen: Zur Aktualität von Homi K. Bhabha, Wiesbaden: VS Verlag (in Vorbereitung). Suppanz, Werner: Transfer, Zirkulierung, Blockierung. Überlegungen zum kulturellen Transfer als Überschreiten signifikatorischer Grenzen, in: Celestini, Federico/Mitterbauer, Helga (Hg.): Ver-rückte Kulturen. Zur Dynamik kulturellen Transfers, Tübingen: Stauffenburg, 2003, S. 21–35. Wagner, Birgit: Kulturelle Übersetzung. Erkundungen über ein wanderndes Konzept, in: Kakanien revisited, http://www.kakanien.ac.at/beitr/postcol/BWagner2.pdf, 2009 [2008] (29.05.2013). Welsch, Wolfgang: Was ist eigentlich Transkulturalität?, in: Darowska, Lucyna/Lüttenberg, Thomas/Machold, Claudia (Hg.): Hochschule als transkultureller Raum? Kultur, Bildung und Differenz in der Universität, Bielefeld: transcript, 2010, S. 39–66. Werner, Michael/Zimmermann, Bénédicte: Vergleich, Transfer, Verflechtung. Der Ansatz der Histoire croisée und die Herausforderung des Transnationalen, in: Geschichte und Gesellschaft 28/4, (Okt.–Dez. 2002), S. 607–636.
III. (KULTUR-)TRANSFER Kulturbeziehungsforschung, Kulturkontaktforschung, Kulturtransferforschung
STEREOTYPENFORSCHUNG ALS BEITRAG ZUR ERFORSCHUNG VON KULTURVERGLEICH UND -TRANSFER Ruth Florack Auf den ersten Blick scheinen Stereotypen- und Kulturtransferforschung grundverschieden zu sein, ja geradezu unvereinbar in Blickwinkel und Fragestellung. Denn während die Erforschung des Kulturtransfers an Prozessen kulturellen Austauschs interessiert ist, konzentriert sich die Stereotypenforschung gerade auf das Unveränderliche, Starre, auf invariable Muster, die Grenzen markieren, also auf das, was Prozess und Austausch gerade entgegensteht. Derartige Grenzziehungen mittels Zuschreibungen von ‚fremd‘ und ‚eigen‘ gehören traditionell zum Forschungsgebiet der komparatistischen Imagologie, die Selbst- und Fremdbilder in der Literatur untersucht und damit zwangsläufig immer wieder auf (nationale) Stereotype stößt. In ihrer herkömmlichen Spielart geht sie von einer Reziprozität von Auto- und Heterostereotypen aus, wonach negative Heterostereotype in Fremdbildern auf positive Autostereotype in Selbstbildern schließen lassen sollen und umgekehrt. Dabei interpretiert die komparatistische Imagologie die Konjunkturen positiver und negativer Auto- bzw. Heterostereotype als Ausdruck der Beziehungen zwischen zwei Völkern bzw. Nationen.1 Demgegenüber gilt: Das Konzept des Kulturtransfers und die hiermit verknüpfte Forschungsrichtung zielen nicht auf die Analyse der Beziehungen zweier als statisch gedachter kultureller Systeme, sondern auf die kulturelle Dynamik des Kulturaustauschs.2
Kultur erscheint also als ein eher statisches System auf Seiten der Imagologen und als dynamischer Prozess auf Seiten der Transferforscher. Dennoch sind Überlegungen zu methodischen Fragen der Stereotypenforschung nützlich für das Thema ‚Transfer und Vergleich‘. Denn die Erforschung wechselseitiger, von Stereotypen geprägter Bilder, die in der Imagologie ursprünglich sehr eng mit der komparatistischen Erforschung deutsch-französischer Beziehungen verknüpft gewesen ist, hat in jüngerer Zeit ihre Fokussierung auf wechselseitige ‚Völker-Bilder‘ überwunden und ihr Interesse stattdessen auf die ‚Grammatik‘ des Stereotypgebrauchs gelenkt, sodass sich Verknüpfungsmöglichkeiten ergeben zur Untersuchung von Phänomenen des Kulturvergleichs oder -transfers, von der bloßen Information über eine andere Kultur bis hin zum 1 2
Siehe Schwarze, Michael: Imagologie, komparatistische, in: Nünning, Ansgar (Hg.): Metzler Lexikon Literatur- und Kulturtheorie. Ansätze – Personen – Grundbegriffe, Stuttgart, Weimar: Metzler, 42008, S. 314–316. Lüsebrink, Hans-Jürgen: Interkulturelle Kommunikation. Interaktion, Fremdwahrnehmung, Kulturtransfer, Stuttgart, Weimar: Metzler, 2005, S. 138.
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regelrechten Import aus dieser Kultur. Um die Leistung dieser Neuorientierung imagologischer Forschung genauer zu fassen, wird zunächst an Anspruch und Methode der traditionellen Imagologie erinnert, bevor aus literaturwissenschaftlicher Sicht eine (vorläufige) Antwort auf die Frage gegeben werden soll, welches Potenzial die Stereotypenforschung gegenwärtig für die Überwindung einer binationalen zu Gunsten einer globalen Perspektive bei der Erforschung von Kulturtransfer und -vergleich bereithält. 1. IMAGOLOGIE UND STEREOTYPENFORSCHUNG Nach dem Zweiten Weltkrieg waren es vor allem französische Komparatisten, die aus politischen Gründen die Bilder vom ‚Fremden‘ zum Gegenstand wissenschaftlicher Analyse erhoben. Im Anschluss an Jean-Marie Carrés These, die französischen Schriftsteller des 19. Jahrhunderts, allen voran Madame de Staël und die Romantiker, hätten durch ihr idealisiertes Bild vom träumerisch-tiefsinnigen Deutschen entscheidend dazu beigetragen, dass die Franzosen die Gefahr verkannten, die Preußens aggressiver Militarismus für Frankreich bedeutete, wollte die Vergleichende Literaturwissenschaft darüber aufklären, inwiefern eine Nationalliteratur Trug- oder Zerrbilder (mirages) von fremden Nationen entwirft,3 und so der Völkerverständigung dienen. Zwanzig Jahre später verschob der Aachener Komparatist Hugo Dyserinck das Interesse von der vermeintlichen Realität der Nationalcharaktere hin zur Rede über eben diese, wobei diese Rede als interessegeleiteter Ausdruck individueller und kollektiver Vorurteile aufgefasst wurde. In ideologiekritischer Absicht wurden nun auch die Auswahl der Texte, die aus einer Nationalsprache übersetzt wurden, sowie die Literaturkritik und selbst die Literaturwissenschaft als Produzenten ‚imagotyper Strukturen‘ ins Visier genommen.4 Im Zeichen der kulturwissenschaftlichen Wende des ausgehenden 20. Jahrhunderts fiel dann dieser Anspruch der komparatistischen Imagologie, Ursprung, Entwicklung und Wirkung nationaler Fremd- und Selbstbilder zu untersuchen, auf fruchtbaren Boden, zumal im Zuge der Globalisierung die Erforschung von Alterität und Identität zu einer zentralen Aufgabe der Geisteswissenschaften wurde. Und so lassen sich nicht nur in der interkulturellen Literaturwissenschaft, sondern
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Siehe Carré, Jean-Marie: Les Ecrivains français et le mirage allemand (1800–1940), Paris: Boivin, 1947. Siehe die rückblickende Darstellung bei Dyserinck, Hugo: Von Ethnopsychologie zu Ethnoimagologie, in: Neohelicon 29 (2002), S. 57–74. Maßgeblich für die Erforschung wechselseitiger Nationen-Bilder in der Geschichte der deutsch-französischen Beziehungen sind die Arbeiten von Gonthier-Louis Fink, so etwa: Vom Alamodestreit zur Frühaufklärung. Das wechselseitige deutsch-französische Spiegelbild 1648–1750, in: Recherches germaniques 21 (1991), S. 3–47, sowie ders.: Das Bild des Nachbarvolkes im Spiegel der deutschen und der französischen Hochaufklärung (1750–1789), in: Giesen, Bernhard (Hg.): Nationale und kulturelle Identität. Studien zur Entwicklung des kollektiven Bewußtseins in der Neuzeit, Frankfurt/M.: Suhrkamp, 1991, S. 453–492.
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auch in den ‚klassischen‘ Nationalphilologien inzwischen zahlreiche Studien zu Nationenbildern finden. Methodisch gesehen setzten sich derartige Arbeiten zum ‚Bild von Nation x in der Literatur von Nation y‘ allerdings einer dreifachen Kritik aus.5 Erstens wurde die Machart der medialen Vermittlung, wie sie etwa durch Gattungskonventionen bestimmt wurde, oft nicht hinreichend berücksichtigt. Beispielsweise verweist ein komischer Ausländer in einer Komödie innerhalb des Literatursystems zunächst einmal auf die Komödientradition, etwa auf die Figur des Capitano in der commedia dell’arte, und ist nicht als eine unmittelbare Aussage über das jeweilige ‚Ausland‘ zu verstehen; ebenso wenig würde man die Rolle der zänkischen Alten als bloßen Spiegel einer Einstellung gegenüber dem Alter missdeuten. Zweitens hat man von Bildern des Fremden in Texten auf Kollektivvorstellungen und auf Kollektiveinstellungen in einem nationalen Maßstab geschlossen – schließlich untersuchte man die deutsche Literatur als Material oder die französische, englische usw. –, obwohl doch das kohärente Bild vom Fremden in der Literatur oder anderen Medien von Imagologen erst eigentlich produziert wurde – nämlich als Resultat ihrer synthetisierenden Arbeitsweise, die sich an Nationalliteraturen orientierte und mediale sowie Gattungsspezifika weitgehend ignorierte. Drittens führte die Annahme von Fremd- und Selbstbildern in Untersuchungen der Art ‚das Bild von Nation x in der Literatur von Nation y‘ zu dichotomischen Konstruktionen, die gewollt oder ungewollt auf Seiten der vermeintlichen Bild-Produzenten am essenzialistischen Nationenverständnis festhielten, also von Quasi-Personen mit einer psychischen Tiefendimension oder Mentalität ausgingen. Dabei wurde aufgrund der binational vergleichenden Perspektive verkannt, dass die fraglichen ‚Bilder‘ des Fremden oft transnational oder richtiger pränational entstanden waren und grenzüberschreitend tradiert wurden. Als Beispiel: Das Stereotyp vom trinkfreudigen Deutschen geht letztlich auf die von den Humanisten wiederentdeckte Germania des Tacitus zurück und wurde in Deutschland ebenso wie im übrigen Europa als ein Element kollektiven Wissens über die Deutschen überliefert, ist also durchaus keine Erfindung ‚der‘ Franzosen oder irgendeines anderen Volkes über ‚die‘ Deutschen.6 Der entscheidende Anstoß zu einer grundlegenden Revision imagologischer Forschung kam aus der Geschichtswissenschaft: Aus der Erkenntnis, dass Nationen keine vorgegebenen, sondern vorgestellte Realitäten sind, „imagined communities“7, wie Benedict Anderson gesagt hat, also bloße, wenn auch sehr wirkmächtige Konstrukte, folgt, dass es im eigentlichen Sinne gar kein Selbstbild der Franzosen, Deutschen oder Chinesen geben kann. Denn ein Konstrukt hat weder eine Psyche noch ein Bewusstsein. Zu Beginn des 21. Jahrhunderts wird nun auch in 5 6 7
Zur Kritik an Prämissen und Methoden der traditionellen komparatistischen Imagologie siehe Florack, Ruth: Bekannte Fremde. Zu Herkunft und Funktion nationaler Stereotype in der Literatur, Tübingen: Niemeyer, 2007, S. 7–32. Siehe Florack, Ruth: Tiefsinnige Deutsche, frivole Franzosen. Nationale Stereotype in deutscher und französischer Literatur, Stuttgart, Weimar: Metzler, 2001. Anderson, Benedict: Imagined Communities. Reflections on the Origin and Spread of Nationalism, London: Verso, 1983.
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der Imagologie eine konstruktivistische Wende vollzogen, indem stärker als zuvor die nationalen (oder ethnischen) Stereotype als die weitgehend unveränderlichen Grundelemente der Bilder vom Eigenen und Fremden oder, anders gesagt, als die konstitutiven Merkmale des jeweils angenommenen ‚Nationalcharakters‘ in den Fokus der Aufmerksamkeit rücken. Untersucht werden die Funktionen dieser Zuschreibungen in diskursiven Konstellationen, die Alterität und Identität konstruieren und inszenieren – wie es Literatur und andere Medien mit den ihnen eigenen Mitteln tun –, aber auch in Frage stellen und neu verhandeln. Die Fixierung auf eine nationale Eingrenzung des Gegenstands wird dabei tendenziell überwunden – so beispielsweise, wenn „kulturelle Konstruktionen von Nördlichkeit in interdisziplinärer Perspektive“ untersucht werden.8 In den letzten Jahren weisen vor allem die Arbeiten des Amsterdamer Literaturwissenschaftlers Joep Leerssen der Imagologie einen vielversprechenden Weg aus ihrer traditionell national ausgerichteten und auf bilateralen Vergleich beschränkten Orientierung. Die grundlegenden Überlegungen, die Leerssen unter der Überschrift „Imagology: History and Method“ seinem gemeinsam mit Manfred Beller 2007 herausgegebenen Handbuch Imagology. The Cultural Construction and Literary Representation of National Characters9 vorangestellt hat, zeigen, dass die Imagologie heute anschlussfähig wird an aktuelle Diskussionen in den Nachbardisziplinen. So erlaubt sie etwa einen Brückenschlag zum Konzept des nation building in der Geschichtswissenschaft oder zu Fragen der Intertextualität oder der Narratologie in der Literaturwissenschaft. Leerssen zufolge ist die Imagologie modernen Typs folgenden methodologischen Grundannahmen verpflichtet: a) Es geht darum, Diskurse zu verstehen, nicht etwa die Gesellschaft selbst. Dabei stehen, so wäre zu ergänzen, solche Diskurse im Mittelpunkt des Interesses, in denen kulturelle Differenzen unter Rückgriff auf das Konzept vom Charakter als natürliche ausgegeben werden, d. h. in denen Nationalcharaktere konstruiert werden. b) Ausgehend von der Erkenntnis: „images do not reflect identities, but constitute possible identifications“10, kann die Imagologie zwar nicht zu einer Theorie kultureller oder nationaler Identität beitragen, sehr wohl aber zu einer Theorie kultureller oder nationaler Stereotype, die der Identitätskonstruktion dienen. c) Das Untersuchungsmaterial der Imagologie ist die Literatur, weil diese jahrhundertelang nationale Stereotype festgeschrieben und tradiert hat. In diesem Prozess spielen intertextuelle Bezüge eine herausragende Rolle und verdienen daher besonderes Interesse. Die Analyse der „intertextual tropicality“11 muss poetische Verfahren und narrative Strategien ebenso berücksichtigen wie die historischen Kontexte, in denen solche Stereotype stehen. d) Dabei soll die Imagologie eine pragmatisch-funktionalistische Perspektive einnehmen, d. h. die Rhe8
Arndt, Astrid [u .a.] (Hg.): Imagologie des Nordens. Kulturelle Konstruktionen von Nördlichkeit in interdisziplinärer Perspektive, Frankfurt/M. [u. a.]: Lang, 2004. 9 Leerssen, Joep: Imagology: History and Method, in: Beller, Manfred/ders. (Hg.): Imagology. The Cultural Construction and Literary Representation of National Characters. A Critical Survey, Amsterdam, New York: Rodopi, 2007, S. 17–32. 10 Leerssen: Imagology, S. 27. 11 Leerssen: Imagology, S. 26.
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torik der Texte, die sich nationaler Stereotype bedienen, in Hinblick auf Zielgruppe und Wirkungsabsicht untersuchen.12 In ausdrücklichem Anschluss an Leerssens Konzept der „Rhetoric of National Character“13 und seine Ansätze zur Überwindung einer vorwiegend strukturalistischen Analyse aufgreifend hat Birgit Neumann neuerdings die Methode einer „kulturhistorischen Imagologie“ entwickelt.14 Ihre Gießener Studie Die Rhetorik der Nation in britischer Literatur und anderen Medien des 18. Jahrhunderts untersucht die Konstruktion der Grenze zwischen ‚Eigenem‘ und ‚Fremdem‘, indem sie nationale Stereotype als zentrale Elemente im Prozess eines permanent reproduzierten und zugleich erneuerten Wissens über Nationalcharaktere begreift, das, historisch variabel, der Meinungsbildung dient. Bemerkenswert an diesem Ansatz ist zum einen die Dynamisierung des Konzepts vom Nationalcharakter in einer kulturgeschichtlichen Perspektive, zum anderen die konsequente Intermedialität: Neumann öffnet die Materialbasis über die Literatur hinaus auf andere Medien – wie etwa Druckgrafiken –, die als gleichberechtigte Bestandteile einer kulturellen Praxis interpretiert werden. In einer diachronen Sicht untersucht sie „Konjunkturen nationaler Images“ in Hinblick auf kontextspezifische „Veränderungen der Rhetorik der Nation“15 und bestimmt deren „funktionale Polyvalenz“16. Identitätskonstruktion17, ‚Selbstaffirmation‘18 und „patriotische Mobilisierung“ 19 gehören ebenso wie „Unterhaltung, Komik und Belehrung“20 zu den möglichen Wirkungsweisen. Außerdem erfüllt die „Rhetorik der Nation“ „kulturkritische und -legitimatorische Funktionen“: Wenn beispielsweise im England des 18. Jahrhunderts die Orientierung an französischen Moden als Bedrohung für „die britischen Ideale einer männlichen Bodenständigkeit, Aufrichtigkeit und Souveränität“ hingestellt wird, dienen „nationale Images wie die des extravaganten französischen Modegecken“ dazu, „den Kulturtransfer, also die Aneignung fremder Ideen oder Objekte, […] strategisch abzuwehren“21. Dies ist eine der möglichen Verbindungen von Stereotyp und Kulturtransfer, die im Folgenden systematischer in den Blick genommen werden sollen.
12 Siehe Leerssen: Imagology, S. 26–29. Leerssen entwickelt seine Thesen in 11 Punkten, die hier konzentriert wiedergegeben werden; sein Konzept des Imagems (S. 29) bedürfte einer kritischen Diskussion, die im Rahmen dieses Beitrags nicht geleistet werden kann. 13 Leerssen, Joep: The Rhetoric of National Character. A Programmatic Survey, in: Poetics Today 21/2 (2000), S. 267–292. 14 Neumann, Birgit: Die Rhetorik der Nation in britischer Literatur und anderen Medien des 18. Jahrhunderts, Trier: Wissenschaftlicher Verlag, 2009, S. 46–76: „Grundzüge einer kulturhistorischen Imagologie“; zur Positionierung gegenüber Leerssen siehe besonders S. 41–45. 15 Neumann: Die Rhetorik der Nation, S. 314. 16 Neumann: Die Rhetorik der Nation, S. 365. 17 Siehe Neumann: Die Rhetorik der Nation, S. 383–386. 18 Siehe Neumann: Die Rhetorik der Nation, S. 378–381. 19 Neumann: Die Rhetorik der Nation, S. 375–378, hier S. 375. 20 Neumann: Die Rhetorik der Nation, S. 369. 21 Neumann: Die Rhetorik der Nation, S. 370 f.
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2. ZUR ERFORSCHUNG VON STEREOTYPEN IM KULTURTRANSFER Ein Blick in die Begriffsgeschichte lehrt, dass den Bedeutungen des Begriffs ‚Stereotyp‘ in den unterschiedlichen Disziplinen – von der Kommunikationswissenschaft über Soziologie und Psychologie zu Linguistik und Literaturwissenschaft – gemeinsam ist, daß sie die semantischen Merkmale der schemen- oder schablonenhaften Vereinfachung, der Generalisierung oder Karikierung, der weitgehenden Erfahrungsunabhängigkeit, Vorgefaßtheit bzw. Voreingenommenheit, der starken Verfestigung und (Erfahrungs-)Resistenz bzw. Unveränderlichkeit, der häufigen Wiederholung, Habitualität […] im Gebrauch und der emotional gefärbten […] Wertung enthalten. […] Ihre Hauptfunktionen werden darin gesehen, daß sie Wahrnehmung vorprägen, Orientierung bieten, Komplexität ökonomisch verkürzen, soziale Identität und Kohäsion stiften bzw. Identifikation erheischen und ein bestimmtes Handeln bzw. Verhalten in sozialen Interaktionen (darunter auch soziale Diskriminierung) erleichtern und rechtfertigen.22
Wer aus literaturwissenschaftlicher Sicht nach Vorkommen und Funktion solcher Perzeptionsmuster in schriftlichen und bildlichen Medien fragt – in denen Stereotype durch intertextuelle Bezüge fest- und fortgeschrieben wurden und werden, selbst dann noch, wenn ihre Verwendung ironisch ist –, sollte denjenigen sozialpsychologischen Ansätzen folgen, die das Stereotyp vom Vorurteil unterscheiden: Während der Begriff ‚Vorurteil‘ sich demnach auf „affektive Prozesse der Abwertung“ bezieht, zielt der Begriff des ‚Stereotyps‘ auf „kognitive Prozesse der Unterscheidung und Verallgemeinerung“ ab.23 Wenn der bloße Gebrauch von Stereotypen noch kein hinreichender Beleg für eine vorurteilsvolle Einstellung ist und eine vorurteilsvolle Einstellung sich durchaus nicht im Gebrauch von Stereotypen manifestieren muss, ist bei der Analyse von Texten und Bildmedien das eine vom andern zu trennen. Für den Literaturwissenschaftler sind Stereotype in einem Text zweifellos leichter nachzuweisen als Vorurteile, zumal die sozialpsychologischen Erhebungsmethoden zur Einstellungsmessung bei Probanden sich selbstverständlich nicht auf Texte übertragen lassen. Zu betonen ist auch, dass Stereotype im Unterschied zu Vorurteilen nicht automatisch mit Wertungen einhergehen. Das Stereotyp ist daher als ein neutraler Begriff für verallgemeinernde, auf soziale Gruppen bezogene Zuschreibungen zu gebrauchen. Als „mentale Muster“24 bzw. „kognitive Schemata“ oder „sozial geteilte Wissensstrukturen“25 beschränken sich Stereotype nicht auf Angehörige einzelner Na-
22 Reisigl, Martin: Stereotyp. Ein ambiges Konzept zwischen verfestigter Denkökonomie, sprachlichem Schematismus und gefährlicher Handlungsdetermination [I], in: Archiv für Begriffsgeschichte 50 (2008), S. 231–253, hier S. 231, Hervorhebungen R.F. 23 Schäfer, Bernd: Entwicklungslinien der Stereotypen- und Vorurteilsforschung, in: ders./Petermann, Franz (Hg.): Vorurteile und Einstellungen. Sozialpsychologische Beiträge zum Problem sozialer Orientierung, Köln: Deutscher Instituts-Verlag, 1988, S. 11–65, hier S. 51. 24 Reisigl, Martin: Stereotyp. Ein ambiges Konzept zwischen verfestigter Denkökonomie, sprachlichem Schematismus und gefährlicher Handlungsdetermination [II], in: Archiv für Begriffsgeschichte 51 (2009), S. 105–125, hier S. 109.
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tionen oder Ethnien, vielmehr gibt es, anderen kulturellen Leitdifferenzen entsprechend, beispielsweise ebenso Geschlechter-, Standes- oder Berufsstereotype. Dies belegt die Tauglichkeit des Konzepts ‚Stereotyp‘ für die unterschiedlichsten Erscheinungsformen von Kultur(en) auch diesseits oder jenseits nationaler Grenzziehung oder quer dazu stehend – auch wenn für solche Transferprozesse, die im Rahmen unserer Fragestellung gemeint sind, in erster Linie nationale und ethnische Stereotype relevant sind. Gegenüber dem traditionell imagologischen Interesse an (mehr oder weniger komplexen) Bildern des Eigenen und des Fremden hat die Stereotypenforschung den methodischen Vorteil, sich auf Elemente zur Markierung kultureller Differenz zu konzentrieren. Bewusst ist hier nicht von ‚Fremdwahrnehmung‘ die Rede, denn ‚Fremdes‘ setzt automatisch ein ‚Eigenes‘ voraus und impliziert zwangsläufig Bipolarität und Vergleich. Weil jedoch nationale und ethnische Stereotype, als Resultate multipler – doch kaum exakt rekonstruierbarer – Austauschprozesse,26 Bestandteile eines kollektiven Wissens sind, das grenzüberschreitend geteilt wurde und wird, ist das Verständnis von Nationalstereotypen als ‚Markern‘ kultureller Differenz adäquater. Wenn von einem transnationalen Reservoir an Stereotypen ausgegangen wird, das ein Nebeneinander unterschiedlichster Zuschreibungen für Ethnien und Nationen bereithält, aus dem im je besonderen Fall eine Auswahl getroffen (und gegebenenfalls mit Wertungen versehen) wird, eröffnet dieses Verständnis zudem eine globale Untersuchungsperspektive. Gerade wenn es darum geht, Neues, Unbekanntes aus einer anderen Kultur zu vermitteln, liegt die Verwendung von Stereotypen nahe, erlauben sie doch einen Anschluss an das, was über eben diese Kultur allgemein bekannt ist und kein Spezialwissen verlangt. Da Stereotype durch Komplexitätsreduktion Ordnung stiften und Orientierung bieten, liefern sie eine allgemein verständliche Basis beim Kulturvergleich und vermögen das Irritationspotenzial, das jeder Kulturtransfer für die Zielkultur birgt, zu reduzieren. Unabhängig davon, ob es sich im konkreten Fall um Stereotype des Deutschen, des Franzosen, des Chinesen oder des ‚Wilden‘ handelt, ist es für die Kulturtransferforschung vielversprechend, nach Verwendungsmechanismen solcher Markierungen von kultureller Differenz zu fragen, die abhängig von Akteuren, Situationen und medialen Konventionen je selegiert, kombiniert und (gegebenenfalls) mit einer Wertung verknüpft werden. Weiterzuentwickeln wäre dafür das – auf die Untersuchung von Kulturvergleichen zugeschnittene – Konzept einer „grammar of cross-cultural representation“27, das Leerssen vorgeschlagen hat im Zusammenhang mit seiner Beobachtung, dass na25 Klauer, Karl Christoph: Soziale Kategorisierung und Stereotypisierung, in: Petersen, LarsEric/Six, Bernd (Hg.): Stereotype, Vorurteile und soziale Diskriminierung. Theorien, Befunde und Interventionen, Weinheim, Basel: Beltz, 2008, S. 23–32, hier S. 23. 26 Tacitus’ Germania beispielsweise verarbeitet schriftlich überlieferte und von Augenzeugen verbürgte Informationen der Römer über die Völker des Nordens und wird im Humanismus zu einem Objekt des Transfers zwischen Italien und Deutschland. 27 Leerssen, Joep: The Allochronic Periphery: Towards a Grammar of Cross-Cultural Representation, in: Barfoot, C. C. (Hg.): Beyond Pug’s Tour. National and Ethnic Stereotyping in Theory and Literary Practice, Amsterdam, Atlanta: Rodopi, 1997, S. 285–294.
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tionale Stereotype als bewegliche Elemente im je konkreten Fall in übergeordnete dichotomische Schemata (z. B. Stärke/Schwäche; Nord/Süd; Zentrum/Peripherie) eingebettet sein können, die zugleich soziale, moralische oder politische Differenzen vermitteln: Standes- oder Berufsunterschiede, den Unterschied zwischen Tugend und Dekadenz bzw. Korruption, den Gegensatz zwischen freiheitlich-liberaler und totalitärer Ordnung usw.28 Untersuchungen zu Transferphänomenen könnten hieran anschließen. Weil die unterschiedlichen Erscheinungsformen des Kulturtransfers ein fruchtbarer Boden für die Verwendung nationaler und ethnischer Stereotype sind, kann Stereotypenforschung der Transferforschung wertvolle Dienste leisten, wenn sie Selektion, Kombination, Wertung und Verknüpfung von Stereotypen im Kulturtransfer in je konkreten Fällen analysiert und auf Regelhaftigkeit hin prüft. Diese systematisch zu erfassen würde bedeuten, ihrer ‚Grammatik‘ auf die Spur zu kommen. Dazu seien hier erste Überlegungen formuliert: Nationale oder ethnische Stereotype als gemeinhin bekannte Marker kultureller Differenz oder kultureller Besonderheit können sowohl a) eine diskursive Voraussetzung für Kulturtransfer sein – so hat in Frankreich das Stereotyp vom verträumt-romantischen Deutschen seit Ende des 18. Jahrhunderts die Auswahl der Übersetzungen aus dem Deutschen beeinflusst29 –, als auch b) seine Begleiterscheinung. So rekurrieren Paratexte zu Übersetzungen, Vorworte und Kommentare, ebenso wie die Literaturkritik häufig auf Stereotype als Elemente vorgängigen Wissens über die Kultur, aus der übersetzt wird – französische Bücher und Filme werden beispielsweise in Deutschland gern unter dem Label ‚typisch französischer‘ Frivolität auf den Markt gebracht.30 Schließlich können Stereotype auch c) eine Folge von Kulturtransfer sein – so hat etwa die Bedeutung, die Galanterie als Verhaltensideal in der europaweit tonangebenden Elite Frankreichs im 17. Jahrhundert zukam, das Stereotyp vom galanten Franzosen derart geprägt, dass Jahrhunderte lang ‚galant‘ und ‚französisch‘ als quasi tautologisch aufgefasst wurden.31 Grundsätzlich kann die stereotype Etikettierung eines transferierten Objekts als kulturell different in ihrer Zuschreibung zutreffend oder unzutreffend sein. Als Beispiel für den zweiten Fall: Im 17. Jahrhundert wurde in der deutschen Oberschicht die vornehme Anmut der belle danse als typisch ‚französisch‘ wahrge-
28 Siehe Leersen: The Rhetoric of National Character, S. 275–278, sowie ders.: The Allochronic Periphery. 29 Siehe Nies, Fritz: Metaphysik versus Erotomanie. Wechselwirkungen zwischen Literaturaustausch und Nationalstereotypen, in: Süssmuth, Hans (Hg.): Deutschlandbilder in Dänemark und England, in Frankreich und den Niederlanden, Baden-Baden: Nomos, 1996, S. 337–349, hier S. 340–343. 30 Siehe Nies: Metaphysik versus Erotomanie, S. 343–345. 31 Siehe hierzu Habib, Claude: Galanterie française, Paris: Gallimard, 2006; Viala, Alain: La France galante. Essai historique sur une catégorie culturelle, de ses origines jusqu’à la Révolution, Paris: PUF, 2008.
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nommen, obwohl dieser Tanz eigentlich italienischer Herkunft war.32 Außerdem kann die Etikettierung mittels Stereotypen implizit oder explizit erfolgen. Auch dies lässt sich an dem französischen Modewort ‚galant‘ in deutschsprachigen Publikationen um 1700 nachweisen: Zahlreiche Schriften zur verfeinerten Lebensart, die sich an die ‚galante Welt‘ richten, verweisen in Form und/oder Inhalten unzweifelhaft auf französische Vorbilder, ohne dass jede Adaption ausdrücklich als französisch ausgewiesen würde. Anders verhält es sich dagegen bei der Kritik solchen Transfers in den ersten deutschen moralischen Wochenschriften: Da dienen dann Stereotype des Franzosen, wie ‚oberflächlich‘ und ‚frivol‘, in negativer Wertung der Abwehr des französischen Imports,33 selbst wenn das derart abgewehrte, vermeintlich französische Verhaltensmodell eigentlich italienischer oder spanischer Prägung ist, weil es auf Baldassare Castiglione oder Baltasar Gracián zurückgeht. Weil Stereotype neue Informationen an Altbekanntes anzuschließen erlauben, sei es affirmativ oder kontrastiv, können sie eine Vermittlungsfunktion erfüllen, und zwar auf unterschiedlichen Ebenen. Wenn beispielsweise um 1800 August von Kotzebue in seinem Stück Die Negersklaven die Missstände in den Kolonien anprangert, so bezieht er sich im Vorwort explizit auf Guillaume Thomas François Raynals Histoire philosophique et politique des deux Indes als Quelle seines Wissens und modelliert zugleich seine Figuren nach dem Stereotyp vom edlen Wilden, um den Leser zu Mitgefühl und Rührung zu bewegen – und damit zu einer Ablehnung des (vorgeführten) brutalen Umgangs mit den Sklaven.34 In einem solchen Fall lässt sich von einem Stereotyp als einem Vehikel des Kulturtransfers sprechen. Daneben gibt es Stereotype im Transfer – ein Phänomen, das dem Leser häufig bei der Übersetzung von Fiktion(en) begegnet, denn in der Literatur und im Film spielen soziale (und damit auch ethnische) Stereotype vor allem in der Figurenkonzeption eine wichtige Rolle, da sie als vermeintliche Charaktereigenschaften eines Kollektivs anschaulich sind und sich mithin zur (typisierenden) Figurenzeichnung und, davon ausgehend, zu Narrativierung und Dramatisierung eignen – der grobe Deutsche war und ist ein Beispiel dafür. Bei der Übersetzung können diese Muster stillschweigend übernommen, verändert oder auch getilgt werden; denkbar sind darüber hinaus explizite – erklärende, relativierende oder gar distanzierende – Kommentare zu der (möglicherweise die Rezipienten in der Zielkultur irritierenden) Figurenkonzeption. Und schließlich spielen Stereotype auf einer Meta-Ebene des Kulturtransfers eine nicht zu unterschätzende Rolle: 32 Siehe Mourey, Marie-Thérèse: Tanzen als Schule galanten Gebarens, in: Florack, Ruth/Singer, Rüdiger (Hg.): Die Kunst der Galanterie. Facetten eines Verhaltensmodells in der Literatur der Frühen Neuzeit, Berlin, Boston: De Gruyter, 2012, S. 275–299, hier S. 277. 33 Siehe Florack, Ruth: Im Namen der Vernunft – Galanterie-Kritik in deutschen Moralischen Wochenschriften, in: Heitz, Raymond [u. a.] (Hg.): Gallophilie und Gallophobie in der Literatur und den Medien in Deutschland und in Italien im 18. Jahrhundert, Heidelberg: Winter, 2011, S. 207–223. 34 Siehe Florack, Ruth: Europa und die Andern: Stereotype in Kotzebues Dramen, in: Mix, York-Gothart (Hg.): ‚Das Völkereintrachtshaus‘. Friedrich Rückert und der literarische Europadiskurs im 19. Jahrhundert, Würzburg: Ergon, 2012, S. 27–46, hier S. 41 f.
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nämlich in der Rede über den Transfer, also in der Beschreibung und Analyse von Transferphänomenen. Fazit: Über den Kulturvergleich hinaus ist es für die Erforschung des Kulturtransfers in einer globalen Perspektive lohnend, nationale und ethnische Stereotype als eigenes Forschungsfeld ernst zu nehmen und die jeweilige Leistung dieser Stereotype zu untersuchen. Es gilt, die Regularitäten aufzudecken, denen ihr Einsatz in Prozessen des Transfers unterliegt, und systematisch ihre Funktion – wie etwa Belehrung, Identitätsstiftung oder Kulturkritik – zu bestimmen. LITERATURVERZEICHNIS Anderson, Benedict: Imagined Communities. Reflections on the Origin and Spread of Nationalism, London: Verso, 1983. Arndt, Astrid [u. a.] (Hg.): Imagologie des Nordens. Kulturelle Konstruktionen von Nördlichkeit in interdisziplinärer Perspektive, Frankfurt/M. [u. a.]: Lang, 2004. Carré, Jean-Marie: Les Ecrivains français et le mirage allemand (1800–1940), Paris: Boivin, 1947. Dyserinck, Hugo: Von Ethnopsychologie zu Ethnoimagologie, in: Neohelicon 29 (2002), S. 57– 74. Fink, Gonthier-Louis: Vom Alamodestreit zur Frühaufklärung. Das wechselseitige deutsch-französische Spiegelbild 1648–1750, in: Recherches germaniques 21 (1991), S. 3–47. Fink, Gonthier-Louis: Das Bild des Nachbarvolkes im Spiegel der deutschen und der französischen Hochaufklärung (1750–1789), in: Giesen, Bernhard (Hg.): Nationale und kulturelle Identität. Studien zur Entwicklung des kollektiven Bewußtseins in der Neuzeit, Frankfurt/M.: Suhrkamp, 1991, S. 453–492. Florack, Ruth: Tiefsinnige Deutsche, frivole Franzosen. Nationale Stereotype in deutscher und französischer Literatur, Stuttgart, Weimar: Metzler, 2001. Florack, Ruth: Bekannte Fremde. Zu Herkunft und Funktion nationaler Stereotype in der Literatur, Tübingen: Niemeyer, 2007. Florack, Ruth: Im Namen der Vernunft – Galanterie-Kritik in deutschen Moralischen Wochenschriften, in: Heitz, Raymond [u. a.] (Hg.): Gallophilie und Gallophobie in der Literatur und den Medien in Deutschland und in Italien im 18. Jahrhundert, Heidelberg: Winter, 2011, S. 207–223. Florack, Ruth: Europa und die Andern: Stereotype in Kotzebues Dramen, in: Mix, York-Gothart (Hg.): ‚Das Völkereintrachtshaus‘. Friedrich Rückert und der literarische Europadiskurs im 19. Jahrhundert, Würzburg: Ergon, 2012, S. 27–46. Habib, Claude: Galanterie française, Paris: Gallimard, 2006. Klauer, Karl Christoph: Soziale Kategorisierung und Stereotypisierung, in: Petersen, Lars-Eric/ Six, Bernd (Hg.): Stereotype, Vorurteile und soziale Diskriminierung. Theorien, Befunde und Interventionen, Weinheim, Basel: Beltz, 2008, S. 23–32. Leerssen, Joep: The Allochronic Periphery: Towards a Grammar of Cross-Cultural Representation, in: Barfoot, C. C. (Hg.): Beyond Pug’s Tour. National and Ethnic Stereotyping in Theory and Literary Practice, Amsterdam, Atlanta: Rodopi, 1997, S. 285–294. Leerssen, Joep: The Rhetoric of National Character. A Programmatic Survey, in: Poetics Today 21/2 (2000), S. 267–292. Leerssen, Joep: Imagology: History and Method, in: Beller, Manfred/ders. (Hg.): Imagology. The Cultural Construction and Literary Representation of National Characters. A Critical Survey, Amsterdam, New York: Rodopi, 2007, S. 17–32.
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Lüsebrink, Hans-Jürgen: Interkulturelle Kommunikation. Interaktion, Fremdwahrnehmung, Kulturtransfer, Stuttgart, Weimar: Metzler, 2005. Mourey, Marie-Thérèse: Tanzen als Schule galanten Gebarens, in: Florack, Ruth/Singer, Rüdiger (Hg.): Die Kunst der Galanterie. Facetten eines Verhaltensmodells in der Literatur der Frühen Neuzeit, Berlin, Boston: De Gruyter, 2012, S. 275–299. Neumann, Birgit: Die Rhetorik der Nation in britischer Literatur und anderen Medien des 18. Jahrhunderts, Trier: Wissenschaftlicher Verlag, 2009. Nies, Fritz: Metaphysik versus Erotomanie. Wechselwirkungen zwischen Literaturaustausch und Nationalstereotypen, in: Süssmuth, Hans (Hg.): Deutschlandbilder in Dänemark und England, in Frankreich und den Niederlanden, Baden-Baden: Nomos, 1996, S. 337–349. Reisigl, Martin: Stereotyp. Ein ambiges Konzept zwischen verfestigter Denkökonomie, sprachlichem Schematismus und gefährlicher Handlungsdetermination, in: Archiv für Begriffsgeschichte 50 (2008), S. 231–253 [I], und 51 (2009), S. 105–125 [II]. Schäfer, Bernd: Entwicklungslinien der Stereotypen- und Vorurteilsforschung, in: ders./Petermann, Franz (Hg.): Vorurteile und Einstellungen. Sozialpsychologische Beiträge zum Problem sozialer Orientierung, Köln: Deutscher Instituts-Verlag, 1988, S. 11–65. Schwarze, Michael: Imagologie, komparatistische, in: Nünning, Ansgar (Hg.): Metzler Lexikon Literatur- und Kulturtheorie. Ansätze – Personen – Grundbegriffe, Stuttgart, Weimar: Metzler, 42008, S. 314–316. Viala, Alain: La France galante. Essai historique sur une catégorie culturelle, de ses origines jusqu’à la Révolution, Paris: PUF, 2008.
TRANSKULTURELLE DIFFERENZ BEI BARBARA CASSIN UND ALAIN BADIOU Neueste deutsch-französische Vergleiche und Transfers im Zeichen der Verstreuung Thomas Keller In jüngster Zeit nehmen Äußerungen zu, wonach sich nach dem Tod von Jacques Lacan, Roland Barthes, Michel Foucault, Gilles Deleuze, Jacques Derrida und Pierre Bourdieu deutsch-französische Vergleiche und Transfers nicht mehr lohnten.1 Solche Einschätzungen übersehen indes weiterhin kreatives Denken in Frankreich: Konzepte wie dasjenige des Quasi-Objekts nach Michel Serres und Bruno Latour und die konfliktfreudige Theorie des Politischen nach Jean-Luc Nancy, Jacques Rancière und Alain Badiou und anderen wie auch die ‚sophistische‘ Philosophie von Barbara Cassin. Deren Beiträge stehen vor allem für ein agonistisches Element im zeitgenössischen Denken, das mit der in Deutschland häufigeren Konsensorientierung, etwa der Diskursethik eines Jürgen Habermas, kontrastiert. Das Politische, zu unterscheiden von der Politik, stört oder unterbricht das Alltagsgeschäft, auch dasjenige der gegebenen politischen Beziehungen zwischen zwei Polen, darunter derjenigen zwischen Ländern; es beruft sich auf Differenz, die Normen einklagt oder auch abweichende soziale und/oder kulturelle Praxis sein kann. Damit beerbt es den revolutionären Impuls, ohne ihn einfach fortzuschreiben. Gerade in diesen Denkformen könnte man auch Anregungen für konfliktreiche Prozesse finden, die die deutsch-französische Routine stören. Unter dem Stichwort des ‚Politischen‘ wird Agonalität seit einigen Jahren von jüngeren Humanwissenschaftlern, insbesondere Sozialwissenschaftlern, in den deutschsprachigen Bereich retransferiert, gewöhnlich mit sorgfältiger Abhebung von Carl Schmitt und häufig in Verbindung mit einer Theorie, die von dyadischen Denkformen auf Tertiarität umstellt.2
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Ein Beispiel: „die generelle intellektuelle Mediokrisierung Frankreichs“, Sloterdijk, Peter: Theorie der Nachkriegszeiten. Bemerkungen zu den deutsch-französischen Beziehungen seit 1945, Frankfurt/M.: Suhrkamp, 2008, S. 48. Vgl. Bedorf, Thomas/Röttgers, Kurt (Hg.): Das Politische und die Politik, Berlin: Suhrkamp, 2010; Bröckling, Ulrich/Feustel, Robert (Hg.): Das Politische denken. Zeitgenössische Positionen, Bielefeld: transcript, 2010 (Sozialtheorie: Intro); Flügel, Oliver/Heil, Reinhard/Hetzel, Andreas (Hg.): Die Rückkehr des Politischen. Demokratietheorien heute, Darmstadt: WBG, 2004; Krause, Ralf/Rölli, Marc (Hg.): Macht. Begriff und Wirkung in der politischen Philosophie der Gegenwart, Bielefeld: transcript, 2008 (Edition Moderne Postmoderne); Marchart,
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Der Einspruch durch das Politische, sei es die Stiftung von Normen für die Politik, sei es das unvorhersehbare Ereignis, kann nur als Drittes erscheinen, das sich auch zwischen Deutsche und Franzosen, zwischen disziplinäre Landschaften beider Länder schiebt. In Disziplinen wie Politologie, Soziologie, Philosophie scheint die Dichotomie ‚Konsens versus Konflikt‘ zugleich einen deutsch-französischen Kontrast abzubilden. Stört oder unterbricht diese Differenz auch das deutsch-französische Zweiergeschäft? Oder kann sich diese Differenz auch als deutsch-französische manifestieren? Die Begriffe und Ansätze ‚Vergleich‘, ‚Transfer‘ und ‚Verflechtung‘ (histoire croisée) beanspruchen, Vergleiche nicht auf Kontrastierungen zu verengen und stattdessen parallele und gemeinsame Entwicklungen sowie Austauschprozesse zu beschreiben. Wenn die dyadische Interaktion zwischen Polen nur noch als routiniert und verstrickend empfunden wird oder kalt lässt, dann verflüchtigt sich die überkommene ständige Doppelreferenz. Was und wie können die Boten im Transfer übertragen, wenn die Pole und die Verhakung fehlen? Unterliegen Mittlerleistungen ganz der Tagespolitik, sind sie somit spezialisierte, professionelle Geschäfte oder gehen sie auf widerständige Differenz zurück? Vergleich und Transfer können nicht mehr wie gehabt Modi des Kontakts sein. Schwächt sich nicht nur das erotische, sondern auch das postalische Prinzip (Derrida) ab, so stellt sich dem Komparatisten und Transferforscher die Frage, was Vermittlung noch sein kann, wenn man weder auf Identität noch auf Differenz abhebt, wenn man weder auf Verständigung oder Zwist, weder auf Konsens noch auf Konflikt zwischen Polen, sondern auf Gemengelagen wie Grade der Ähnlichkeit, Spiegelungen, Tausch, Unschärfe-Relationen (auch fuzzy-Logik genannt), Auflösungen trifft. 1. VON POLITISCHER ZU TRANSKULTURELLER DIFFERENZ Seit einigen Jahren macht sich eine neue Unsicherheit breit, die bereits die Entzauberung des westlichen Triumphalismus verzeichnet, mit dem die Geschichte nach der Zeitenwende von 1989 auf die eine Welt zuzusteuern schien. Dies bedeutet, dass der Diskurs vom Ende der Geschichte, der eine Entsprechung in demjenigen vom Ende der Ideologien hat, herausgefordert wird. Während der westliche Triumphalismus konsensuelle Tendenzen herausbildet, sind konfliktuelle Orientierungen, die gegen ein solches Ende der Geschichte einschreiten, unabdingbar. Sie sind allerdings nicht mehr partikularistisch kodiert. Die prekäre Weltlage verstärkt plötzlich die Resonanz von älteren Denkern wie Badiou oder Rancière, die vorher im Schatten standen und heute von jüngeren aufgegriffen werden. Nach dem Zusammenbruch der Staaten des realen Sozialismus am Widerstand gegen die ‚kapitalo-demokratische‘ Vereinheitlichung (Badiou) festzuhalten, mag wie eine nur französische Verzweiflungsgeste und Veranstaltung erscheinen. Der Oliver: Die politische Differenz. Zum Denken des Politischen bei Nancy, Lefort, Badiou, Laclau und Agamben, Berlin: Suhrkamp, 2010.
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Impuls trat etwas anders bereits im Zuge des Mauerfalls zutage, als sich die mentale Beziehung zwischen Franzosen und Deutschen intensivierte3 und französische Autorinnen wie Sophie Calle, Régine Robin oder Cécile Wajsbrot sich für Ostdeutsche und alternative Berliner Soziotope, die von Westdeutschen vereinnahmt werden, stellvertretend einsetzten. Hier ist bis heute eine trianguläre Verhakung wirksam, sofern Franzosen den besiegten Deutschen gegen die westdeutschen Sieger zur Hilfe eilen. Die Auflösung der politischen, gesellschaftlichen und ökonomischen Bipolarität ist im Rückblick ein täuschendes Ereignis: Mauerfall und das Ende des Kalten Kriegs verheißen trügerisch das Ende der Konflikte in einer befriedeten Welt, mit Marktwirtschaft und Demokratie. Das zweite Ereignis ist die Entzauberung der Versprechen. Die mentale Verarbeitung der trüben weltpolitischen Stimmungslage sollte nicht den ewigen Widerständlern Galliens vorbehalten bleiben. Stellt man die neue Unsicherheit nach der Jahrtausendwende in Rechnung, weist das Differenzdenken in den Humanwissenschaften auf eine Gemengelage, in der ein brisantes Miteinander von Verschiedenheiten herrscht. Es setzt sich an die Stelle von Vorstellungen, sei es diejenige von Alexandre Kojève, sei es diejenige von Francis Fukuyama, wonach in einer dialektischen und linearen Dynamik der gegenseitigen Anerkennung von Herr und Knecht am Ende alle zu ihrem Recht kommen. Ein radikaler Perspektivismus, wonach sich das Objekt in unendlichen Differenzen entzieht, lässt Ähnlichkeit und Unähnlichkeit bestehen, sie sind aber nicht mehr sicher feststellbar. Damit aber verlieren auch einzelne Subjekte und kollektive Subjekte wie Nation oder Klasse ihre Herrschaft. Die neue Philosophie des Politischen, die im französischen Denken bereits in den 1980er Jahren beginnt, bekommt im Kontext der jüngsten Desillusionierungen eine eigene Evidenz und wird zu einer Denkform der Differenz, die als politische insbesondere im Maoismus von Badiou problematisch ist. Insofern sie als revolutionäre Fortschreibung auftritt, setzt sie den gewaltsamen Widerstandsgeist, einschließlich terroristischer Geschichtsphilosophien, fort. So ist es bezeichnend, dass kein namhafter etablierter deutschsprachiger Denker eine ähnliche extreme Position wie Badiou besetzt. Maoistische Tendenzen, von Kritikern wie François Laruelle oder Micha Brumlik als totalitär bezeichnet, unterscheiden Badiou auch von Toni Negri und Michael Hardt. Mit dem politischen Subjekt der Multitude nach Negri/Hardt teilt Badiou indes, dass es ohne horizontale Vermittlung steil zum Empire bzw. zur Politik steht. Nur Badiou allerdings beruft sich auf Seltenes, auf große Gestalten wie Jesus und Paulus4 und auf große, auch gewaltsame politische Ereignisse wie die Französische Revolution.5 Jesus und Paulus werden kraft 3 4 5
Hierzu für die Jahre nach 1989 die imagologische und diskursanalytische Studie von Erler, Katja: Deutschlandbilder in der französischen Literatur nach dem Fall der Berliner Mauer, Berlin: Erich Schmidt, 2004 (Studienreihe Romania 20). Vgl. Badiou, Alain: Saint Paul. La fondation de l’universalisme, Paris: PUF, 1997. Dt.: Paulus. Die Begründung des Universalismus. Aus dem Franz. von Heinz Jatho, Zürich, Berlin: Diaphanes, 2009. Vgl. Badiou, Alain: Das Jahrhundert. Aus dem Franz. von Heinz Jatho, Zürich, Berlin: Diaphanes, 2006 (Original: Le Siècle, Paris: Seuil, 2005).
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Leben und Botschaft zu Anführern universaler politischer Revolten, die zum Universalen öffnen. Genau hier liegt auch die Trennlinie zwischen einer lacanianischen (Badiou) und dekonstruktiven (Derrida, Nancy, Philippe Lacoue-Labarthe) Linie – Badiou setzt auf seltene eingreifende politische Ereignisse, die immer notwendig in Opposition zum Staat und zu politischen Kompromissen stehen.6 Beide Linien sind indes durch Heidegger-Anleihen verbunden. Die Berufung auf universale Gleichheit und Gerechtigkeit ist nun per se nicht mit französischer Revolutionsfeier gleichzusetzen. So hat die Anrufung einer politischen Differenz, die widerständig gegen die eine kapitalo-parlamentarische und mediale Welt und Wahrheit ist, an sich keine deutsch-französische Ausformulierung – außer jener, dass sie in Frankreich möglicher ist als in anderen Ländern und die angeblich stärkere Amerikanisierung der Deutschen von Franzosen beklagt wird. Rezipiert wird die Theorie des Politischen unter den deutschsprachigen Humanwissenschaften vor allem in Sozialanalysen in der Soziologie. Auffällig ist, wie erst die Position von außen, etwa aus dem deutschsprachigen Raum, den Blick für die gemeinsame Kategorie der politischen Differenz unter französischen Denkern schärft. Nun sind die Denker des Politischen Linksheideggerianer, sofern sie auf der ontologischen Dimension des Sozialen bestehen, auf ihrem unerwarteten Element, das die Unsicherheit sozialer Identität begründet. Die französischen Konflikttheoretiker, die Denker der Politischen Differenz, greifen weniger auf die Traditionslinie von Carl Schmitt und Hannah Arendt als auf die ontologische Differenz nach Martin Heidegger zurück.7 Damit übertragen sie ein Widerstandsmoment aus der Seinsphilosophie, ohne dass der Leser gleich mit der Keule kommen muss, nämlich eine Infizierung durch antihumanistisches deutsches Denken zu wittern. Zugleich ist mit der ontologischen Dimension des Sozialen ein Bereich erfasst, der Differenz auch im Kulturellen festmacht. Um die neuen deutsch-französischen Zustände zu begreifen, müsste die ontologische Differenz über die politische Differenz zu einer kulturellen Differenz verlängert werden, die verstreute Widerstände mit universalen Orientierungen verbindet. Dies geschieht in einer Vorstellung von Multitude, die sich dem Multikulti entgegensetzt und stattdessen festgestellte Identitäten auflöst. Hier ergibt sich die Möglichkeit, deutsch-französisch vorzugehen, indem der deutsch-französische Transfer in den französischen Theorien des Politischen aufgedeckt wird. Diese Theorien nehmen nun, abgesehen von ihrer linksheideggerianischen Wende, keine äußere Unterscheidung zwischen deutsch und französisch vor. Die gegenwärtige Phase der deutsch-französischen Beziehungen ist im Hinblick auf diese Unsicherheit bisher schwer zu konzeptualisieren. Die Anrufung des Politischen bringt eine Differenz ins Spiel, einen Einspruch gegen das herrschende Unheil. Er stellt sich quer zu der Tendenz supranationaler Verflechtung, ohne darauf setzen zu können, Widerstand in nationalen Kontexten oder in bi-natio6 7
Vgl. Marchart: Die politische Differenz, S. 174–177. Vgl. Marchart: Die politische Differenz, S. 14.
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nalen reziproken Vorgängen auffinden oder verwirklichen zu können. Insofern ist er keine partikularistische exception française und auch keine deutsch-französische Verhakungsagentur. Der Vergleich vergleicht eher jeweilige Reaktionsweisen auf Globalisierung und erfasst darin auch die größere Widerstandsneigung der französischen Humanwissenschaften. Die meisten bilateralen Austauschprozesse laufen parallel zueinander und nicht in einer deutsch-französischen Sonderbeziehung. Wie Differenz sich auch transkulturell manifestieren kann, wird in der Rede von der ‚veralteten Übersetzung‘ fühlbar. Anders als der Vorwurf einer untreuen Übersetzung erfasst das Attribut ‚veraltet‘ eine Verhaftung des Zweittextes im flüchtigen historischen und sozialen Alltag des Übersetzers, die dem Ersttext nicht eigen ist und zugleich dessen langfristige Chancen im Aufnahmekontext schmälert. Eine weitere Übersetzung kann versuchen, diese Spuren wieder rückgängig zu machen. Die Übersetzung orientiert sich so an einem potenziellen Text, der möglichst wenig von den Außenbedingungen der Übersetzung abhängt und die Übersetzung offenhält. Damit fällt der Übertragung als Medium und unvorhersehbarem Prozess eine entscheidende Rolle zu. Sie vereint Ähnlichkeit und Verschiedenheit, bildet ab und verschiebt. So stellt sich auch die Frage, inwieweit deutsch-französische Mediationen eine transkulturelle Differenz bilden können, ohne mit deutschen und französischen Wesenheiten zu operieren. Das Denken des Politischen kann einen Blick auf deutsch-französische Verhältnisse werfen, die unter kulturellen Mustern und Verhaltensweisen auch Widerständigkeit und Konflikt in Modernisierungsprozessen betreffen. Verrücken ohne zu verhaken heißt transkulturelle Hypertexte zu schaffen, die nicht mehr an den berühmten Brücken zwischen deutschen und französischen Kontexten bauen. Die Veränderung soll an zwei klassischen Komplexen sichtbar werden, die über viele Jahre Medien der deutsch-französischen Verhakung entlang einer Linie Provinz/Stadt bildeten: neben der Esskultur sind dies die jeweilige Konfliktbereitschaft (die unterschiedliche Widerstandsneigung, der revolutionäre Impetus) und die Liebesmodi (Erotik, Partnerschaft idealtypisch im Paar Sartre-de Beauvoir). Konzepte der Agonalität in politischer Philosophie, einst auch eine deutsche Domäne (Georg Simmel, Carl Schmitt), werden weiterhin aus deutschen Kontexten transferiert wie inzwischen aus französischen Kontexten retransferiert. Sie werden aber nicht auf das deutsch-französische Verhältnis als eine äußere Unterscheidung bezogen. Das Liebesmotiv im literarischen Text figuriert noch immer das deutschfranzösische Paar, aber die deutsch-französische Differenz ist höchstens noch ein Spiel. Dies sei an der Lektüre der Publikation von Heidegger, le nazisme, les femmes, la philosophie demonstriert. Badiou und Cassin verbinden in diesem Text politische Philosophie mit der Liebesthematik.
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2. KONFLIKTFREUDIGKEIT GEGEN REUEKULTUR Badiou und Cassin leiten bis 2007 bei Seuil die Reihe „L’Ordre Philosophique“, dann ab 2007 bei Fayard „Ouvertures“. Die sonderbare Zusammenarbeit eines Platonikers und einer Sophistin vollzieht sich im Namen einer Aneignung der antiken Philosophie und einer scharfen Kritik der zeitgenössischen Welt, die bei Badiou vor allem Kapitalismuskritik und bei Cassin auch Medienkritik ist. Badiou und Cassin bedenken die französische Kapitulation 1940, die Entwicklung der Volksfront zum Vichy-Regime, die auf Mai 68 folgende Restauration. Damit zeigen sie auf ein Bewusstsein eines Staatsbürgers, der seine Mehrheit den pétainistischen Kapitulationen verbunden weiß. Wie nun Badiou auf die dezisionistische Minderheit, die Avantgarde zu setzen, Lenin und Mao zu verteidigen – ein solcher Diskurs ist wohl nicht transferfähig. Indes denkt Badiou die Politik ohne Repräsentation, etwa einer Klasse, eines kollektiven Subjekts. Anders sieht es beim Linksheideggerianismus als Konflikttheorie aus. Die heideggersche Technikkritik ist umgemünzt in Kritik an Kapitalo-Parlamentarismus und Mediokratie. Barbara Cassin, Teilnehmerin am Heidegger-Seminar bei René Char in Le Thor Ende der 1960er Jahre, will dem Aufbruch von 68 treubleiben. Sie nimmt Abstand zu Heidegger und entnimmt Elemente seines Beitrags zum Widerständigen. Sie wertet die sophistische Tradition auf, in der das Sprechen gegen das Prinzip des widerspruchsfreien Denkens in Anschlag gebracht ist.8 Sie wendet sich gegen Globish, die Hegemonie eines armen Englisch auf Kosten anderer Sprachen.9 Der Austausch von Sprache verbindet Wahrheit mit Versöhnung. In der Welt des googlemoi10, die das vom Benutzer Eingegebene immer nur neu assoziiert, sei kein Ausgang aus dem Selbst möglich. Die Multitude-Philosophie, die Badiou und Barbara Cassin teilen, verbindet die Fortdauer des revolutionären Elans mit einer Konflikttheorie, die Vergleiche und Transfers enthält. Beide kritisieren, dass es nur eine Wahrheit, nur eine Politik, nur einen Algorithmus geben darf. Ihre Unterscheidungen lösen auch eine bestimmte deutsch-französische Binarität auf. Ihr Text Heidegger, le nazisme, la femme et la philosophie ist meist zusammen, einige Passagen sind getrennt verantwortet. Er war zunächst als Vorwort der französischen Ausgabe der Briefe Heideggers an seine Frau vorgesehen. Dies wurde rechtlich verhindert. Das Verbot des Textes verdankt sich der Alternative, entweder Heideggerfeind oder Heideggerfreund zu sein, was auch heißt: entweder den Mann und die Philosophie als nationalsozialistisch zu brandmarken (so Emmanuel Faye) oder den Mann und
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Unter den deutschen Philosophen wäre hier der verstorbene Rüdiger Bubner zu nennen, der die sophistische Eristik, das heißt die Kunst, den Streit mit Worten zu führen, hervorhebt, Antagonismen betont und gegen den Harmonie-Diskurs einschreitet, vgl. Bubner, Rüdiger: Von der Streitkunst der Sophistik zum modernen Kulturkonflikt, in: Pfetsch, Frank R. (Hg.): Konflikt, Berlin, Heidelberg: Springer, 2005 (Heidelberger Jahrbücher 48), S. 101–108. 9 Vgl. Cassin, Barbara: Vocabulaire européen des philosophies. Dictionnaire des intraduisibles, Paris: Le Robert, Seuil, 2004. 10 Cassin, Barbara: Google-moi, la deuxième mission de l’Amérique, Paris: Albin Michel, 2007.
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seine Philosophie freizusprechen (Jean Beaufret, François Fédier, François Vezin). Badiou und Cassin verweigern diese Alternative. Der Gegensatz von Résistant und Nazi ist bereits in Le Thor aufgebrochen durch die Seminar-Teilnehmer, die beiden, Char und Heidegger, anhängen, was Cassin damit bezahlt, dass sie von einer fremden Person bespuckt wird. Badiou und Cassin brechen in einer zweiten Operation auch die Alternative zwischen dem Nazi-Philosophen und dem freigesprochenen Nazi Heidegger auf. Die Drittposition lautet: Heidegger war ein gewöhnlicher kleiner Nazi und ein großer Philosoph.11 Weder ist Heideggers Denken rein nationalsozialistisch, noch ist es völlig rein vom Nationalsozialismus. Diese Position denkt die vielen vorangegangenen Transfers mit, die auf Krieg um Heidegger, auf Heideguerre hinausliefen. Dagegen will Cassin nicht deutsch und französisch als Kategorien einsetzen, wenn man Heidegger und Char hört.12 Das ist durchaus ungewöhnlich. Badiou und Cassin wenden sich gegen die Rituale der Reue in einer bestimmten Gedächtniskultur. Heidegger habe nach 1945 „seinen Ruf wiederhergestellt, mit der beständigen Hilfe vieler ‚französischer Freunde‘, wie er es nannte, und ganz gewiss auch seiner Ehefrau, die durch ihren Beistand in dieser schwierigen Lage, wie man vermuten darf, ihre Stellung gegenüber dem Eindringen des weiblichen Elements gefestigt hat, das durch das Schürzenjägerverhalten des Denkers ihrer Ehe eine ständige Bedrohung war.“13 Die offiziellen Rituale der Reue und Entschuldigung sind problematisch, wie bereits Spinoza gewusst habe, der Reue für keine Tugend hielt.14 Weder bei den Politikern westlicher Länder15 noch bei Renegaten des Kommunismus16 überzeugen wohlfeile Schuldbekenntnisse.
11 Vgl. Badiou, Alain/Cassin, Barbara: Heidegger. Der Nationalsozialismus, die Frauen, die Philosophie. Aus dem Franz. von Thomas Laugstien, Zürich: Diaphanes, 2011, S. 34; dies.: Heidegger, le nazisme, les femmes, la philosophie, Paris: Fayard, 2010, S. 58: „un grand philosophe et un nazi ordinaire“. Diese beiden Bände werden von hier ab zitiert als Heidegger dt. und Heidegger frz. 12 „Nicht einordnen, wenn man sie hört, in Nationalsozialismus und Résistance, deutsch und französisch…“ (Heidegger dt., S. 24). „Ne pas repartir en les entendant (Heidegger et Char) nazisme et résistance, allemand et français…“ (Heidegger frz., S. 39). 13 Heidegger dt., S. 22. Heidegger frz., S. 36: „Il a patiemment repris le dessus, reconstruit sa réputation, avec l’aide constante de nombreux ‚amis français‘, comme il disait, et à coup sûr celle de son épouse, dont on peut supposer qu’à l’accompagner dans cette sévère expérience elle a consolidé ses positions face à l’invasion féminine que le côté coureur de jupons du Penseur rendait à tout moment menaçante.“ (Heidegger frz., S. 36). 14 Vgl. Heidegger dt., S. 23. „Mais on peut penser, comme Spinoza – et c’est un de ses plus brillants théorèmes – et contre l’ambiance moralisante stupide qui s’est installée partout, avec des chefs d’Etat prononçant des ‚pardons‘ à la chaîne qui ne leur coûtent rien, et des ‚mémoires‘ officiellement entretenues, que ‚le repentir n’est pas une vertu‘.“ (Heidegger frz., S. 37). 15 Vgl. Heidegger dt., S. 30. „La vision de Chirac, Gordon Brown ou Obama demandant pardon qui aux juifs, qui aux homosexuels, qui aux Africains, l’aurait peut-être convaincu qu’à tout prendre mieux valait, au vu des crimes commis, ne pas user de ce genre de procédure paternaliste, vaine, et qui ne coûte rien.“ (Heidegger frz., S. 51).
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Damit ist ein bestimmter Gegensatz von deutschen Tätern und französischen Opfern bzw. Résistants aus den Angeln gehoben, allerdings nicht im dem Sinne, dass es diesen Unterschied gar nicht gäbe. Cassin setzt hier ihre Arbeit über Wahrheit und Versöhnung fort, die sie am Beispiel der Wahrheitskommissionen in Südafrika vorgenommen hatte.17 Damit keine Missverständnisse aufkommen: das Plädoyer für Amnestie bedeutet nicht, dass juristische Verfahren wie der Nürnberger Kriegsverbrecherprozess bloße Siegerjustiz oder überflüssig wären. Es geht um etwas anderes. In Prozessen werden die Opfer von den angeklagten Tätern niemals das bekommen, wonach sie am meisten verlangen – das Schuldeingeständnis, also die Übernahme der Verantwortung für die Tat, und die Bitte um Vergebung. Sie bekommen somit keine Wahrheit und keine Versöhnung. Der Angeklagte wird im juristischen Verfahren immer leugnen, allein um die Strafe nicht weiter zu erhöhen. In jüngerer Zeit konnte man in Berichten über den Barbie-Prozess in Lyon Bemerkungen hören wie ‚Barbie habe kalte Augen‘, es ging um die Darstellung eines Monsters. Klaus Barbie selbst verwies auf die angeblich in Kriegszeiten üblichen und unvermeidlichen Grausamkeiten und entzog sich. So sehr die späte, aber eben doch noch erfolgte Verurteilung Barbies und seine Inhaftierung bis zum Lebensende den Opfern eine Genugtuung waren, so sehr blieb den Opfern die Wahrheit und die Versöhnung vorenthalten. Die Weigerung, eine bestimmte moralische Position einzunehmen, kommt auch dem deutschen Nazi zugute. Badiou und Cassin wollen über Heidegger „ohne modischen Büßer-Look“18 sprechen. Dies ist eine Drittposition. Ihr HeideggerBezug entkommt der Anbetung und Verdammung. Die linksheideggerianische Wendung schreibt allerdings Heidegger auch um. Badiou behauptet, die „echten französischen Heideggerianer, Blanchot, Char, Lacoue-Labarthe, Nancy und viele andere“, hätten „auf Seiten der Emanzipation, der Résistance, des anti-stalinistischen Kommunismus und des Mai 68 gestanden“19. Nicht das Partikulare wie
16 Zu den reuigen Kommunisten: Heidegger dt., S. 30. „Leurs deux sources, la morale et la religion en ont une troisième: le retournement de veste des ‚révolutionnaires‘ quand ils s’aperçoivent que, en l’absence de la révolution, être un révolutionnaire ne vous rapporte que des ennuis.“ (Heidegger frz., S. 50 f.). „Tant de partisans violents du communisme crurent bon de faire l’exhibition publique vers la fin des années 70“ (Heidegger frz., S. 70). 17 Vgl. Cassin, Barbara/Cayla, Olivier/Salazar, Philippe-Joseph (Hg.): Vérité, Réconciliation, Réparation, Paris: Seuil, 2004 (Le Genre humain 43). Auf Deutsch Cassin, Barbara: Amnestie und Vergebung. Für eine Trennung von Ethik und Politik, in: Pfetsch (Hg.): Konflikt, S. 129–148. Als Anschauungsmaterial diente der Film Die Wahrheitskommission von André Van, gezeigt an der ENS am 11. Juni 2003, kommentiert unter anderen von Badiou. 18 Heidegger dt., S. 30. „En confessionnal new look“ (Heidegger frz., S. 52). 19 Heidegger dt., S. 26. „Les authentiques heideggériens français ont été du côté de l’émancipation universelle, de la Résistance, du communisme anti-stalinien et de Mai 68, qu’il s’agisse de Blanchot, de Char, de Lacoue-Labarthe, de Nancy et de bien d’autres.“ (Heidegger frz., S. 43).
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Blut und Rasse, sondern die Verteidigung universeller Werte wie Gleichheit und Gerechtigkeit habe die Rezeption Heideggers bestimmt.20 Dies ist sicherlich eine mögliche Einschätzung des Transfers. Als Deutung seines Schicksals („destin“) in der Rezeption, also doch als Heidegger-Interpretation, ist diese Vereinnahmung gewagt. Zu sehr sind widerständige Seinsformen in Vorstellungen des Partikularen und Ursprünglichen verankert. Die Linksheideggerianer haben indes die Tatsache auf ihrer Seite, dass Heideggers Differenzdenken auf das unvorhersehbare Ereignis setzt und festgestellte Identitäten auflöst. Die linksheideggerianische Wende urbanisiert zugleich den Philosophen der Provinz und der Heimatscholle, sie verschiebt sein Denken zum Egalitarismus. Diese ideologische Verschiebung ist in den deutsch-französischen Verhältnissen nicht unbekannt, man denke an die Rezeption Friedrich Schellings durch Pierre Leroux21 oder diejenige von Johann Gottlieb Fichte durch Xavier Léon22, deren Konzepte in ein eher linkes oder linksliberales ideologisches Feld verpflanzt werden. Im Zitat über die französische Heidegger-Rezeption ist die linksheideggerianische Wende der Konflikttheoretiker zusammengefasst. Die ontologische Differenz nach Heidegger ist die Garantie dafür, dass das bloß Seiende und das Sein (logos, Idee, Substanz, Wille, Gott) nicht endgültig zusammenfallen. Ereignis, Streit, Wahrheit, Freiheit halten den Zugang zum Reich der Differenzen, zum ontischen Reich allen Seienden offen.23 Linksheideggerianisch gewendet wird aus der ontologischen Differenz eine politische. Sie trennt die schnöde alltägliche Politik, das ist die Regierungspraxis, die Bürokratie und die Herrschaft der Eliten, vom Politischen, das ist der grundlose Grund, die Dissidenz. ‚Grundlos‘ setzt Marchart mit ‚postfundamentalistisch‘24 gleich. Die Anwälte der politischen Differenz führen Widerständiges nicht auf angebliche Ursprünge, auf Gründe wie Blut und Rasse zurück, sondern handeln im Namen universeller Gerechtigkeit widerständig. Dies tun sie undogmatisch, ohne Letztbegründung, sie setzen auf Kontingenz. Dies ist eine Ethik, wenn nicht eine negative Theologie: nur durch Abwesenheit ist die andere Demokratie anwesend. Deshalb sind gesellschaftliche Antagonismen zu begrüßen, die Fehlendes einklagen. Aber auch direkte Bezüge zum Aufbruch von 68 und anderen Widerstandsformen, die nicht mehr Subjekte wie die Klasse haben, beflügeln die Verteidiger der politischen Differenz. Bewahrt in dieser Verschiebung der ontologischen auf die politische Differenz ist die chiastische Anlage der Aussage, die für Heideggers Denken so charak-
20 Vgl. Heidegger dt., S. 26. „Le destin fondamental de Heidegger a été son appropriation, non pas du tout aux doctrines politiques de la particularité, du sang et de la race, mais à celles de l’universalité et de l’égalité.“ (Heidegger frz., S. 44). 21 Vgl. Frank, Manfred: Der kommende Gott. Vorlesungen über die Neue Mythologie, Frankfurt/M.: Suhrkamp, 1982, S. 341. 22 Vgl. Espagne, Michel: Die Rezeption der politischen Philosophie Fichtes in Frankreich, in: Fichte-Studien 2 (1990), S. 193–222. 23 Vgl. Marchart: Die politische Differenz, S. 26. 24 Vgl. Marchart: Die politische Differenz, S. 26.
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teristisch ist.25 Das Politische ist nicht einfach die Antithese zur Politik, sondern in einem bleibt etwas vom anderen erhalten. Sobald das unvorhersehbare Ereignis eintritt, stört und unterbricht das Politische die Politik, wie die Politik in das Politische überwechselt. Beide sind untrennbar verknüpft, bleiben verbunden und doch immer nicht-identisch. Die Unterscheidung von deutschen Tätern und französischen Opfern, deutschen Nazis und französischen Résistants ist nicht aufgehoben. Aber der umschreibende Transfer ist eine semantische Operation, die in Zeiten der Unsicherheit an Plausibilität gewinnt. Der angebliche Gegensatz von Reuekultur in Deutschland und unkritischem Widerstandsmythos in Frankreich wird von der Publikation dementiert. Ist das Politische überhaupt noch politisch? Entscheidend ist, dass ein Konflikt verbürgt bleibt, die Unsicherheit gedacht wird. Badiou und Cassin bereiten den deutsch-französischen Fall auch kulturell auf. 3. LIEBESPRAXIS : PAARE IN DEUTSCHLAND UND FRANKREICH Neben den abgedroschenen Brückenreden ist die Metapher vom Paar noch immer die beliebteste Repräsentation deutsch-französischer Verschränkung. Sofern die Teile eines Paars verschiedene Kulturen abbilden, stellt sich kulturanthropologisch und ethnologisch die Frage nach der alliance/mésalliance. Nur schwer können sich die beiden Partner der Funktion entziehen, wonach der deutsche Partner deutsche, der französische Partner französische Eigenheiten abbildet. Der sexuelle Kontakt sowie der Zeugungsakt, der krass biologistisch als eine Verschmelzung von französischem Sperma mit deutscher Eizelle (oder umgekehrt) gesehen werden kann, scheint einen körperlichen Vollzug kultureller Synthesen nahezulegen. Hier wird die binäre Diskursivierung ein wahres Zwangskorsett. Indes verbindet der Akt auch verschiedene Liebesdiskurse und -praktiken. Insofern das Denken der Differenz auf universalen Kategorien beharrt, hat sich die Forderung nach Gleichheit auch in den Geschlechterbeziehungen zu bewähren. Die Bewunderung des Paars Sartre-de Beauvoir gerade auch von deutschen Frankophilen hat inzwischen eine eigene Geschichte. Sie nährt sich aus dem Vergleich mit den engeren, spießigeren, provinzielleren Verhältnissen in Nachkriegsdeutschland. Danach ist die größere Gleichheit, die stärkere Emanzipation auf französischer Seite. Der Vergleich beinhaltet auch eine Dreierkonstellation – die Feier der Partnerschaft bei gegenseitigem Tolerieren der sexuellen Untreue, die Skepsis gegenüber Mutterschaft und bürgerlicher Familie. Dies nehmen Badiou und Cassin auf. Sie setzen ein tertium comparationis zwischen den Paaren Sartre-de Beauvoir und Martin und Elfride Heidegger. Das 25 Vgl. Mattéi, Jean-François: The Heideggerian Chiasmus or the Setting apart of Philosophy, in: Janicaud, Dominique/Mattéi, Jean-François: Heidegger. From Metaphysics to Thought. Translated by Michael Gendre, Albany: State University of New York Press, 1995 (SUNY Series in Contemporary Continental Philosophy), S. 39–68 (Original: La Métaphysique à la limite. 5 études sur Heidegger, Paris: PUF, 1983).
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Grundmotiv, das ist das Kleine als existenzielle Basis des Großen,26 spiegelt sich im Verhältnis zu Frauen. Bei Heidegger ist das Kleine das Vernaschen der Studentinnen, das Große die Heiligkeit seiner Ehe mit Elfride.27 Die Geliebte folgt der Logik der Muse,28 das Verhältnis ist aber zugleich körperlich-orgiastisch gewendet, als Epektasis, Sich-Ausstrecken, als letale Verzückung, so der Übersetzer Thomas Laugstien, der die Anspielung von Badiou und Cassin auf den Geistlichen Etienne Gilson aufschlüsselt: er starb in den Armen einer Prostituierten.29 Die anderen Frauen sind Mittel, um sich inspirieren zu lassen. Hier wären Brückenschläge zu Klaus Theweleits Buch der Könige möglich. Eine unerwartete Wendung nimmt die Reflexion über Dreiecksverhältnisse dadurch, dass Badiou und Cassin sie mit den Dreierverhältnissen von Sartre, Simone de Beauvoir und ihren zahlreichen Geliebten parallelisieren. Die Kapitelüberschrift lautet „Deutsche und französische Paare“30. Die Paare verbindet, dass das Kleine dem Großen Form verleiht. Sartre schreibt an seine Geliebte „Ma chère petite Polack“31 oder Heidegger an Elfride „Seelchen“. Nur die Beziehung zu Hannah Ahrendt ist von Heideggers „anzügliche[m] Paternalismus“32 ausgenommen. Vergleichbar ist die sexuelle Untreue aller Partner, auch der Frauen: Hermann ist nicht Heideggers leiblicher Sohn, Elfride zeugt ihn mit dem Arzt der Familie.33 So findet die Dissoziation von sexueller Übertragung und ehelicher Partnerschaft auch in diesem deutschen Paar statt. An die Stelle einer Dissoziation von Erotik und Mutterschaft tritt ein vielfältiges und bewegtes Gefühls- und Geschlechtsleben. „Die philosophische Sublimierung setzt dem Durchgang des Vielfältigen diese beständige Einheit entgegen.“ Im jeweiligen Jargon heißt dies: „Heidegger: Sinnlichkeit gleicht dem situationsbedingten Drang, nur die Heiligkeit der Gattin reicht an das vollendete Werk heran. Sartre: Die Frauen sind zufällig, nur Simone ist notwendig“34. In der Dreiecksbeziehung gewährt die legitime Frau der Eingedrungenen ihren Segen, die Eingedrungene wird die Eingeladene, „l’invitée“, wie de Beauvoir
26 Vgl. Heidegger dt., S. 35; „le Petit comme support existentiel du Grand“ (Heidegger frz., S. 59). 27 Vgl. Heidegger dt., S. 35. „Le coureur d’étudiantes et la spiritualité sainte du mariage“ (Heidegger frz., S. 59); Heidegger dt.: „Die Ehefrau ist ‚Hafen des Ausruhens‘, ist ‚Heimat‘“ (S. 40); „patrie mentale, […] Heimat éternelle où loger la discipline des extases“ (Heidegger frz., S. 63). 28 „logique de la muse“, Heidegger frz., S. 61. 29 Vgl. Heidegger dt., S. 39. 30 Heidegger dt., S. 51–56. „Couples de France et d’Allemagne“ (Heidegger frz., S. 84–92). 31 Heidegger dt., S. 41; Heidegger frz., S. 69. 32 Heidegger dt., S. 41; Heidegger frz., S. 69. 33 Vgl. Heidegger frz., S. 71. 34 Heidegger dt., S. 52. „Dans les deux cas, la sublimation philosophique oppose cette unité durable au passage du multiple. Heidegger dira: la sensualité amoureuse vaut comme élan circonstanciel, la sainteté du mariage est seule à la hauteur de l’œuvre accomplie. Et Sartre: les femmes sont contingentes, seule Simone est nécessaire.“ (Heidegger frz., S. 86).
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sagt.35 Umgekehrt inthronisieren die Geliebten der Männer die Dauerpartnerin, ob Elfride36 oder Simone. Dies veranlasst Badiou und Cassin zu der provokativen Frage, ob Heidegger mit seiner Frau ein „existentialistisches Paar“ gebildet habe, um sie zu bejahen.37 Es vollzieht sich „eine kontinuierliche Schaffung vielgestaltiger Einvernehmlichkeiten“38. Ein „neuer Umgang mit dem Gegensatz von Treue und Untreue“ bildet sich heraus.39 Aber es bleiben auch Unterschiede. Es ist nicht dasselbe, ob man die Frau seines Lebens Castor oder liebes Seelchen nennt.40 Nicht vergleichbar ist vor allem ein anderes Verhaltensmuster, das das französische Paar in ungünstiges Licht taucht: den Anspruch, alles zu sagen, löst Sartre so ein, dass er Details seiner amourösen Abenteuer in seinen Briefen an den Castor ausmalt. Badiou und Cassin bezeichnen dies als Psychotrick, damit die zusehende Beauvoir an die oberflächlichen Spiele des Zufalls glaubt. Manche Stellen des Briefwechsels seien schier „unerträglich“, ein „Anflug von Ekel“ überkommt Cassin, wenn Sartre von der mühsamen Entjungferung Tanias berichtet: „ich müsse sie wohl so lieben, wie ich sie liebe, dass ich mich für dieses schmutzige Geschäft hergebe?“41 So macht die aufgeteilte Einvernehmlichkeit die Frau und die Geliebte klein, Seele und Flamme werden austauschbar.42 Wer hätte das gedacht: Martin und Elfride kommen besser weg als Jean-Paul und Simone. Entscheidend ist die Aufschlüsselung der Briefe, des Mediums der Vermittlung in der Liebe. In ihnen zeigt sich Amor nicht als Götterbote, sondern er wirkt in horizontalen Übermittlungsketten, die bei den Urbanen mehr ins Schmähliche, ins Kleine führen als bei den Provinzlern. Der Kommentar, der auch ein Brief zwischen Cassin und Badiou ist, ist ein Paratext. Er verfälscht weniger die Erstbotschaft durch den neuen Kontext,43 als dass er ihr durch das zweite Paar eine neue Bedeutung abgewinnt. Hier
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42 43
Heidegger dt., S. 52; Heidegger frz., S. 87. „Elles intronisent la permanence d’Elfride“ (Heidegger frz., S. 87). „un couple de l’époque existentialiste? Oui, en un certain sens.“ (Heidegger frz., S. 89). Heidegger dt., S. 53; „complicités“ (Heidegger frz., S. 88). Heidegger dt., S. 53. „Une nouvelle régulation de la tension fidélité/infidélité“ (Heidegger frz., S. 89). Vgl. Heidegger dt., S. 54; Heidegger frz., S. 90. Heidegger dt., S. 54. „Une vulgarité volontaire se lit dans les lettres de Sartre, qui n’est pas forcément de meilleur aloi que la réserve allemande. La règle du ‚tout dire‘… outre qu’elle est à géométrie variable, n’évacue nullement les opérations psychologiques douteuses. […] Sartre raconte les détails de telle ou telle liaison dans le but de laisser penser à Simone de Beauvoir qu’en effet il n’y a là que contingence superficielle. […] il en résulte des passages vraiment pénibles. Qui peut lire sans une sorte de nausée, pour employer le lexique du maître, le récit fait au ‚charmant Castor‘ du dépucelage laborieux de Tania, qui se conclut par ‚je me prends à dire, avec emportement de temps en temps, qu’il faut que je l’aime comme je l’aime pour me livrer à cette besogne sordide?‘“ (Heidegger frz., S. 90 f.). Vgl. Heidegger dt., S. 55; Heidegger frz., S. 92. Vgl. Bourdieu, Pierre: Les conditions sociales de la circulation internationale des idées, in: Romanistische Zeitschrift für Literaturgeschichte/Cahiers d’histoire des littératures romanes 14/1–2 (1990), S. 1–10, hier S. 3–5, siehe den Beitrag von Joseph Jurt in diesem Band.
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ist eine Keimzelle für ein Spiel zwischen Ähnlichkeit und Unähnlichkeit der Paare in Frankreich und Deutschland. Ein Stück Lacan ist eingearbeitet, die These nämlich, dass ‚es keine Sexualbeziehung gibt‘44. Der Sexualakt unterliegt der Benommenheit, er ist keine Beziehung mit der Realität. Die Lust ist eine Beziehung mit sich selbst, erst die Liebe kann an die Stelle der Nicht-Beziehung treten. Der Sexualakt wird nicht nur von Fortpflanzung weggerückt, sondern auch von dyadischen Einheitsfantasien schlechthin. Badiou und Cassin sprengen eine sehr zähe Binarität auf, die an deutsch-französischer Differenz mitschrieb: der Gegensatz von Erotik und Mutterschaft, von intellektueller und biologischer Transmission, die einen Gutteil der Attraktivität französischer Lebensentwürfe und Emanzipation für an provinzieller Enge leidende Deutsche ausgemacht hatte. In den Formeln der Einvernehmlichkeiten, der Vielfalt der Beziehungen erkennen Badiou und Cassin zugleich die Suche nach universeller Emanzipation an. Gleichheit und Gerechtigkeit lassen sich so auf keinen Fall in eine deutsch-französische Differenz einpassen. In das Zeitalter der Unsicherheit passt das Fazit: der Komplex um Liebe, Erotik, Fortpflanzung, der vormals deutsch-französische Kontraste erzeugt hat, wird so umgestellt, dass sich die deutsch-französische Differenz nahezu auflöst. Zugleich wächst die Nachdrücklichkeit, mit der Lebensformen, somit eine kulturelle Differenz, als widerständige, die einen deutschen Transferanteil hat, behauptet wird. Wie stehen Badiou und Cassin zu Vergleich, Transfer und Verflechtung? Transferiert wird Heideggers Unterscheidung von ontisch und ontologisch. Die zentrale Denkfigur Heideggers ist radikal dekontextualisiert und erscheint wieder revitalisiert als politische und kulturelle Differenz. Es gibt auch einen Vergleich, denjenigen der Paare, er geht überraschend aus. Er unterliegt dem Verbot, deutsch und französisch als relata einzusetzen, und dreht die Gleichung provinziell gleich klein/urban gleich groß um. Beide Übertragungen haben eine ästhetische Dimension. Eine genauere Betrachtung erfasst rhetorisch die Inversion einer parallelen Ordnung, den Chiasmus. Die spiegelbildliche Anordnung von Worten bzw. Satzgliedern, ihre Überkreuzstellung, gewöhnlich benutzt zur Bildung eines Gegensatzes, verläuft quer zu Kontrast und Übereinstimmung, zur Widerspruchsfreiheit. Die chiastische Verknüpfung verbindet und trennt. Das Ereignis der Entzauberung ist einerseits historisch, wird sichtbar, andererseits verschieden von diesem Außen, seiner Ermöglichungsbedingung. Eine politische Differenz entzaubert die routinemäßige Reuekultur. Die Rituale der Entschuldigung treten inflationistisch in den Demokratien einige Jahrzehnte nach 1945 auf. Sie fallen auf die Seite des bloß Seienden. Das Ereignis, an das sie erinnert, weicht zurück. Wahrheit und Versöhnung, ihre Bedingung für Umkehr, können nicht stattfinden. Badiou und Cassin verweigern so die Gleichsetzung der Reuerituale mit Ethik. Sie nehmen sogar eine graduelle Inversion des 44 Vgl. Badiou, Alain/Cassin, Barbara: Il n’y a pas de rapport sexuel, deux leçons sur L’Etourdit de Lacan, Paris: Fayard, 2010.
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Paars in Deutschland und des Paars in Frankreich vor. Mögen die Widerstandshelden auch freie Beziehungen zwischen Mann und Frau vorführen, so sind die Beziehungen freier und ehrlicher bei den Belasteten aus der Provinz. Die Entzauberung wird durch die chiastische Anordnung auch als transkulturelle Differenz fühlbar. Entzaubert wird etwas in der Beziehung antibürgerlicher Lebensstile mit freien Beziehungen zwischen den Geschlechtern. Da, wo antibürgerlicher Widerstand gefeiert wird, können die Geschlechterbeziehungen unfreier und unehrlicher sein. Die chiastische Operation lautet: eine große Geste mag der sichtbare allgemeine Widerstand gegen Bürgerlichkeit sein, die unbürgerliche Untreue ist in den Psychotricks der Sartre-de Beauvoir auch klein. Damit wird die Regel aufgelockert, wonach da, wo antibürgerlicher Widerstand gefeiert wird, auch die Geschlechterbeziehungen frei werden; oder umgekehrt: da, wo Konsens und provinzielle Enge herrschen, Geschlechterbeziehungen unfrei werden. Zugleich verliert eine sehr alte Unterscheidung an Kraft, diejenige der Provinz (Spießigkeit, biologische Abstammung als Monopol) von der Stadt (Unbürgerlichkeit, Freiheit, Widerstand, freie Beziehungen zwischen Mann und Frau). Die Gegensatzbildung – ist ein Paar urban, ist es nicht treu (notwendige Dreierbeziehungen)/ist ein Paar provinziell, ist es treu (notwendige dyadische Beziehungen) – wird ersetzt durch die Multitude und die Vertauschung der Beziehungen im provinziellen und urbanen Paar, durch eine Gemengelage von dyadischen und Dreierbeziehungen. Das Aufbrechen der einen Wahrheit jenseits einer Verkehrung ins Gegenteil zu einer Multitude wird durch die chiastische Inversion möglich. Die Provinz mag kleiner als die Stadt sein, die Stadt kann in Liebesdingen kleiner als die Provinz sein. Oder: wie im Kleinen unkonventionelle Liebesbeziehungen blühen können, so können die unkonventionellen Liebesbeziehungen im Großen klein sein. Der Chiasmus vereinbart immer Vergleich und Transfer. Jeweils zwei miteinander verbundene Elemente werden miteinander verglichen, sie tauschen unter sich Elemente aus, transferieren also. Hier zeigt sich ein ästhetischer Aspekt von Kontingenz. Im Spiel von Übereinstimmung und Differenz werden binäre Unterscheidungen durchlässig. An ihre Stelle treten unerwartete Verschiebungen und Vertauschungen. Aus dem deutsch-französischen Fundus strömen Elemente in eine Differenz, die transkulturell wird: im Vergleich der Paare tritt kein deutschfranzösischer Kontrast zutage, sondern stärkere Defizite des einen Paars in Hinblick auf das Ziel der Emanzipation aller Partner. Allerdings trifft die Botschaft im Retransfer in deutschsprachige Kontexte auf Hindernisse. Badious Haltung erinnert an ältere antiwestliche Kulturkritik, wenngleich sie auch objektiv nachvollziehbare heutige Anlässe hat. Die steile Opposition zwischen dem seltenen Ereignis, das stört, und dem politischen Kompromiss wird etwa von Marchart in Frage gestellt.45 Dass die unbedingte Ablehnung der 45 „Aufgrund seiner radikalen Zurückweisung jeder Form der Vermittlung und Repräsentation in der Politik […] schließt sich jeder Raum für strategisches Handeln. Das Verhältnis von Politik und Staat wird von Badiou nicht als Differenzverhältnis theoretisiert, sondern als Ver-
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Tagespolitik und der Kompromisse von deutschen in französische Kontexte gewandert ist, lässt sich nicht ganz von der Hand weisen. Badiou kann darauf verweisen, dass er partikularistische gegen universelle Ideologeme getauscht hat. Das Bekenntnis zum revolutionären Bruch bleibt. Wie auch immer: Badiou ist gewissermaßen nicht chiastisch genug; seine steile Opposition zur Politik übernimmt doch mehr von Heidegger und auch von Carl Schmitt, als wünschenswert wäre. Seine Entscheidung, der Politik jegliche Repräsentation abzusprechen, macht ihn unfähig zu vermitteln. Dies unterscheidet ihn auch von Cassin, die etwa in ihrem Dictionnaire des intraduisibles gerade die Dimension der Vermittlung, der Übertragung und Bearbeitung hervorhebt. 4. SCHLUSS Im Gefolge des Zusammenbruchs der bipolaren Welt ist die diskursive Gemengelage in Bewegung geraten. Die Fukuyama-These eines Endes der Geschichte ist indes Illusion und kann keinen deutsch-französischen Konsens abgeben. Bereits nach 1989 mischen sich in Frankreich stellvertretende Positionen für Ostdeutsche in die Triumphgefühle des Westens. Eine neue postfundamentalistische Ausdifferenzierung setzt nach dem Ende des westlichen Triumphalismus mit den neuen Kriegen, der Finanzkrise usf. ein. Sie arbeitet die deutsch-französischen Bestände durch. Sie nimmt eine relative Universalisierung mit partikularistischen Resten vor. In der neuen Ära der Unsicherheit scheint die deutsch-französische Sonderbeziehung an ihr Ende zu kommen. Die einen, die Jüngeren, bleiben einfach weg, ihnen sagt die deutsch-französische Doppelreferenz nichts. Die anderen, die Älteren, stellen um. Das Denken der politischen Differenz ebnet deutsch-französische Differenzen ein. In die langlebigen Trennlinien, die den deutsch-französischen Vergleich und Transfer bestimmen, gehören die jeweilige Legitimation von Gewalt und das Verhältnis von sexueller Reproduktion und Erotik. Der Einspruch gegen die im Zeichen des globalen Markts befriedete Welt wird jetzt mit sexueller Freizügigkeit vereinbar. Es handelt sich nicht um eine Einebnung im Gefolge der Globalisierung, die ein Erlöschen kultureller Differenzen auslöst. Der hier vorgestellte Text ebnet den Unterschied zwischen Provinz und großer Welt, zwischen Land und Stadt, zwischen klein und groß ein. Damit stellt er sich quer zu einer deutsch-französischen Kontrastierung. Die Liebesexperimente sind nicht geeignet, um imagologisch Identitäten abzubilden. Die Pole deutsch und französisch fallen weg. Indes zirkulieren immer noch Informationen und Texte innerhalb von Transfers. Franzosen und Deutsche können Versatzstücke stellvertretend und vertauschend übernehmen. Die Autoren bedienen sich im kulturellen Archiv des jeweils Anderen, um Widerstand zu organisieren. Deutsche und französische Elemente hältnis strikter Opposition […]. Indem Badiou die politische Differenz zu einer bloßen Opposition reifiziert und nur deren ontologische Seite gelten lässt, bringt er das Spiel der ontologisch-politischen Differenz zum Stillstand.“ Marchart: Die politische Differenz, S. 177.
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bilden Differenz transkulturell ab, um in den Zeiten der Unsicherheit den Gang der Dinge, das Gegebene, zu stören, zu unterbrechen, mit Normen zu konfrontieren. Die Transfers gehen weiter, so der Heidegger-Transfer und der Retransfer des Denkens des Politischen in deutschsprachige Kontexte. Badiou und Cassin lehnen ein Gefälle zwischen unterschiedlichen Reuekulturen ab. Zugleich ist diese Differenz so steil, erhebt sich gegen den politischen Kompromiss, dass dieses Denken so im deutschsprachigen Publikum nicht vermittelbar ist. Dies zwingt den Retransfer zu Entschärfungen. Der Heideggertransfer sprengt den deutsch-französischen Vergleich auf. Die Verschiebung der ontologischen Differenz auf die politische und kulturelle Differenz strukturiert zwei traditionelle Felder neu: die Revolution und die Frauen können nicht mehr wie vorher deutsch-französische Unterscheidungen abbilden, aber ihre transkulturelle Anordnung bildet eine neuartige Differenz. Sie werden aufgerufen und chiastisch montiert. Der gewöhnliche Vergleich mit zwei Polen ist ersetzt durch ein Spiel mit Gemeinsamkeiten und Verschiedenheiten, durch Spiegelungen und Umkehrungen. Derartige Umformungen der ontologischen Differenz in eine transkulturelle wären einige Jahre früher undenkbar gewesen. Sie sind Resonanzkörper, die die neue Konstellation kennzeichnen. Im Prozess der Auflösung von diskursiven Gegensätzen und Polen spielen sich neue schöpferische Operationen ab. Die Globalisierungskritik kann offensichtlich nicht als deutsche vorgetragen werden, zu belastet ist das antiwestliche Ressentiment. Sofern ein Badiou dies unternimmt, und zwar mit deutschen Elementen, hat eine stellvertretende Vertauschung stattgefunden. Indes ist diese transkulturelle Operation keine deutsch-französische Differenz. Sie steht nicht nur für eine Verflachung, sondern auch für eine Verstreuung der deutsch-französischen Transkulturalität. LITERATURVERZEICHNIS Badiou, Alain: Das Jahrhundert. Aus dem Franz. von Heinz Jatho, Zürich, Berlin: Diaphanes, 2006 (Original: Le Siècle, Paris: Seuil, 2005). Badiou, Alain: Saint Paul. La fondation de l’universalisme, Paris: PUF, 1997. Dt.: Paulus. Die Begründung des Universalismus. Aus dem Franz. von Heinz Jatho, Zürich, Berlin: Diaphanes, 2009. Badiou, Alain/Cassin, Barbara: Il n’y a pas de rapport sexuel, deux leçons sur L’Etourdit de Lacan, Paris: Fayard, 2010. Badiou, Alain/Cassin, Barbara: Heidegger. Der Nationalsozialismus, die Frauen, die Philosophie. Aus dem Franz. von Thomas Laugstien, Zürich: Diaphanes, 2011 (Original: Heidegger, le nazisme, les femmes, la philosophie, Paris: Fayard, 2010). Bedorf, Thomas/Röttgers, Kurt (Hg.): Das Politische und die Politik, Berlin: Suhrkamp, 2010. Bourdieu, Pierre: Les conditions sociales de la circulation internationale des idées, in: Romanistische Zeitschrift für Literaturgeschichte/Cahiers d’histoire des littératures romanes 14/1–2 (1990), S. 1–10. Bröckling, Ulrich/Feustel, Robert (Hg.): Das Politische denken. Zeitgenössische Positionen, Bielefeld: transcript, 2010 (Sozialtheorie: Intro).
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ZUR ÜBERWINDUNG NATIONALER BEGRIFFSMODELLIERUNGEN DES INTELLEKTUELLEN Neukonzeptualisierungen in Frankreich und ihre deutschen Filiationen Hans Manfred Bock In den letzten drei Jahrzehnten hat sich die säkulare Polemik um die Intellektuellenfunktion zu einem Forschungsfeld sui generis fortgebildet. Seit den 1980er Jahren verdichtete sich die Diskussion über den Tod oder die Wandlungen der Intellektuellenfigur und generierte daraus Begriffe , die anfangs noch stark bestimmt waren von der nationalkulturellen Tradition der Kontroversen um diese Sozialfigur in den verschiedenen Ländern, in denen sie Profil gewann.1 Infolge transnationaler Vergleiche und Vernetzungen entstanden im Laufe dieser Diskussion Konzepte, Methodenpfade und Arbeitshypothesen, die nach wie vor vom Verlauf der jeweiligen nationalen Streittradition geprägt sind, jedoch darüber hinausreichen und auf die Objektivierung gemeinsamer Struktur- und Funktionsbestimmungen gerichtet sind. Diese Wissenschaftsdebatte, die in Frankreich, Deutschland und den angelsächsischen Ländern interdisziplinär angelegt ist, wird in und zwischen der Philosophie, der Soziologie und den Geschichtswissenschaften geführt. Sie ist ein prominentes Beispiel für den (nationale und disziplinäre) Grenzen überschreitenden soziokulturellen Austausch und ein Musterbeispiel für die analytischen Dimensionen des Transfers und des Vergleichs in den Kulturund Sozialwissenschaften. Das soll an einem Ausschnitt dieser Debatte, nämlich den ‚Transaktionen‘ zwischen der französischen und der deutschen Intellektuellen-Historiografie seit den 1980er Jahren anschaulich gemacht werden.2
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Vgl. Bock, Hans Manfred: Der Intellektuelle als Sozialfigur. Neuere vergleichende Forschungen zu ihren Formen, Funktionen und Wandlungen, in: Archiv für Sozialgeschichte 51 (2011), S. 591–643. Der ursprünglich der Finanztechnik entlehnte Begriff des ‚Transfers‘ gibt nicht die dynamische Wechselwirkung des Austauschs von symbolischen Gütern zwischen Nationen wieder. Das Konzept der ‚Transaktion‘ verweist auf die interagierenden Träger der Austauschvorgänge und auf die Dimensionen des intentionalen Handelns der Beteiligten, auf ihre Perzeptionsmuster und ihre Rezeptionsmotive. Siehe dazu Bock, Hans Manfred: Transaktion, Transfer, Netzwerkbildung. Konzepte einer Sozialgeschichte der transnationalen Kulturbeziehungen, in: ders. (Hg.): Französische Kultur im Berlin der Weimarer Republik. Kultureller Austausch und diplomatische Beziehungen, Tübingen: Narr, 2005 (Edition lendemains 1), S. 11–33.
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Hans Manfred Bock
1. POLITISCHE KULTUR UND INTELLEKTUELLENFUNKTION IN FRANKREICH UND DEUTSCHLAND Seit der Dreyfus-Affäre ist die Sozialfigur des Intellektuellen ein kontrovers beurteilter, aber fester Bestandteil der politischen Kultur Frankreichs. Anfänglich pejorativ gemeint und auf die Revisionisten in dieser Affäre gemünzt, machten die Befürworter der Republik sich diesen Begriff zu eigen und verliehen ihm die Bedeutung eines symbolträchtigen politischen Fahnenworts.3 In Deutschland – so hat Dietz Bering erst kürzlich wieder umfassend belegt4 – haftete dem Begriff die Funktion und Bedeutung eines Schimpfwortes an, da sich dort nur eine Minderheit der Kulturproduzenten mit republikanischen Traditionen identifizierte. Diese holzschnittartige Gegenüberstellung einer republikanisch fundierten politischen Kultur in Frankreich, die den Intellektuellen-Begriff zum Fahnenwort erhob, und einer antirepublikanisch grundierten politischen Kultur in Deutschland, die diesen Begriff zum Schimpfwort stilisierte, war immer schon eine grobe Vereinfachung, die den nationalen Identitätsdiskurs wiedergab und ihm verhaftet blieb. Die materielle Überprüfung dieser schlichten Dichotomie, d. h. der Ertrag zahlreicher Intellektuellenbiografien aus dem ersten Dreiviertel des 20. Jahrhunderts in beiden Ländern, hat inzwischen ergeben, dass diese nationalidentitäre Zuordnung interessegeleitet und vordergründig ist: Es gab im Frankreich der Dritten und Vierten Republik jederzeit öffentlich einflussreiche antirepublikanische Denker (die in den letzten zehn Jahren starkes Interesse französischer Historiker auf sich gezogen haben)5 und es gab in Deutschland mit Ausnahme der Zeit des Dritten Reichs beachtenswerte republikanische Schriftsteller und Wissenschaftler, die politisch intervenierten (und deren Wirken nicht nur in der Exilforschung, sondern auch in der Forschung zum Linksliberalismus und zur Arbeiterbewegung überschaubar gemacht worden ist)6. Vor allem aber: Es gab in beiden Ländern zahlreiche Intellektuelle, deren biografische Trajektorien Mischformen und Übergänge zwischen
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Vgl. Ory, Pascal/Sirinelli, Jean-François: Les Intellectuels en France de l’Affaire Dreyfus à nos jours, Paris: Armand Colin, 1986, S. 5–40. Vgl. Bering, Dietz: Die Epoche der Intellektuellen 1898–2001. Geburt, Begriff, Grabmal, Berlin: Berlin UP, 2010. Aus einer größeren Anzahl von Studien zur „Action française“ vgl. als Bsp. Leymarie, Michel/Prévotat, Jacques (Hg.): L’Action française. Culture, société, politique, Villeneuve d’Ascq: Septentrion, 2008, und Leymarie, Michel: L’Action française en France. Un état des lieux de la recherche, in: Dard, Olivier/Grunewald, Michel (Hg.): Charles Maurras et l’étranger. L’étranger et Charles Maurras. L’action française – culture, politique, société II, Bern [u. a.]: Lang, 2009 (Convergences 50), S. 11–28. Vgl. dazu die Fallstudien in Grunewald, Michel/Puschner, Uwe (Hg.): Das evangelische Intellektuellenmilieu in Deutschland. Seine Presse und seine Netzwerke (1871–1963)/Le milieu intellectuel protestant en Allemagne, sa presse et ses réseaux (1871–1963), Bern [u. a.]: Lang, 2008 (Convergences 47); Grunewald, Michel/Bock, Hans Manfred (Hg.): Le Milieu intellectuel de gauche en Allemagne. Sa presse et ses réseaux (1890–1960)/Das linke Intellektuellenmilieu in Deutschland, seine Presse und seine Netzwerke (1890–1960), Bern [u. a.]: Lang, 2002 (Convergences 24).
Zur Überwindung nationaler Begriffsmodellierungen des Intellektuellen
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dem republikanischen und dem antirepublikanischen Lager aufwiesen und die nicht umstandslos im Rechts-Links-Schema unterzubringen sind.7 Dergleichen taxonomische Unzulänglichkeiten und begriffliche Aporien gaben den Anlass für einen reflektierteren Umgang mit der Intellektuellenthematik, der in den 1980er Jahren einsetzte. Die Voraussetzungen für eine Neukonzeptualisierung der Intellektuellenfigur waren in beiden Ländern verschieden. In Frankreich hatte sich in der politischen Kultur unter dem Einfluss des Gulag-Schocks und der sich von ihm ableitenden Antitotalitarismus-Bewegung eine Wertverschiebung zuungunsten der traditionell linksorientierten Intellektuellen ergeben, die 1983 im „silence des intellectuels“ zum politischen Sieg Mitterrands ihren spektakulären Ausdruck fand.8 Diese Zurückhaltung im Verhältnis zur sozialistischen Reformpolitik war vorbereitet worden durch einen (vornehmlich von den nouveaux philosophes massenmedial verbreiteten) Totalitarismus-Verdacht gegenüber allen holistischen Welterklärungsansätzen. Mit der IntellektuellenDebatte des Jahres 1983 wurde das Thema von der wissenschaftlichen in die größere Medien-Öffentlichkeit gestellt, deren Interesse stimulierend zurückwirkte auf die philosophische, soziologische und historische Forschung, In Deutschland wurde fast zur selben Zeit, im Übergang von den 1970er zu den 1980er Jahren, die Traditionskette negativer Konnotation des Intellektuellen-Begriffs im öffentlichen Sprachgebrauch erstmals unterbrochen. Gemäß Berings begriffs- und sozialgeschichtlichen Forschungsergebnissen war im ‚Deutschen Herbst‘ der späten 1970er Jahre der Begriff ‚Intellektueller‘ in der Abwehr der ‚Sympathisanten‘Invektive am eindeutigsten zur akzeptierten Sammelbezeichnung geworden, und zwar bei den Bezeichneten ebenso wie bei den Bezeichnenden, den journalistischen Agenten der öffentlichen Meinung: Die deutsche Sprach- und Bewusstseinsgeschichte hatte den Stand der französischen von 1898 erreicht. Intellektueller war zu einem wichtigen, heiß umkämpften Hochwert-Wort geworden.9
Dies nicht zuletzt deshalb, weil auch die konservativen Exponenten im öffentlichen Streit dieses Etikett für sich zu reklamieren begannen. Wenngleich die Einsetzung als „Hochwert-Wort“ in der Bundesrepublik nicht von Dauer war, so datierte doch von dieser Schwelle ein unvoreingenommenerer Gebrauch des Begriffs, der den Weg freimachte nicht nur für das Studium der historischen Semantik, sondern auch der Sozialgeschichte der Intellektuellenfigur in Deutschland. Dafür gab es 7
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Vgl. Merlio, Gilbert (Hg.): Ni gauche ni droite: les chassés-croisés idéologiques des intellectuels français et allemands dans l’Entre-deux-guerres, Talence: Maison des Sciences de l’Homme de l’Aquitaine, 1995 (Publications de la M. S. H. A 194); Gangl, Manfred/Raulet, Gérard (Hg.): Intellektuellendiskurse in der Weimarer Republik. Zur politischen Kultur einer Gemengelage, Frankfurt/M., New York: Campus/Paris: Ed. de la Fondation Maison des Sciences de l’Homme, 1994. Suntrup, Jan Christoph: Formenwandel der französischen Intellektuellen. Eine Analyse ihrer gesellschaftlichen Debatten von der Libération bis zur Gegenwart, Berlin: LIT, 2010 (Gesellschaft und Kommunikation 9), S. 319–333. Bering: Die Epoche der Intellektuellen, S. 406–443, hier S. 443.
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substanzielle ältere Vorarbeiten in der Philosophie und Soziologie (Jürgen Habermas’ Heinrich-Heine-Aufsatz und sein Öffentlichkeits-Buch, Rainer M. Lepsius’ Antrittsvorlesung „Kritik als Beruf“ u. a.10), aber kaum einen kumulierenden Diskussions- und Kenntnisstand. Genau in dieser Konstellation, in der die (nicht mehr nur ablehnende) Aufmerksamkeit für das Intellektuellen-Thema in der Öffentlichkeit geweckt war, diesem Informationsbedürfnis jedoch kein befriedigendes wissenschaftliches Kenntnisangebot entsprach, begann der bis heute anhaltende Transfervorgang in der Intellektuellenforschung zwischen Frankreich und Deutschland, der wohl jetzt schon zu den inhaltlich und prozedural interessantesten Austauschbeispielen in den Kultur- und Sozialwissenschaften beider Länder gezählt werden kann. In diesem Transferexempel tritt eine Regel zutage, die generell in erfolg- und folgenreichen soziokulturellen Austauschverläufen zwischen Nationen zu beobachten ist: Diese sind umso wirksamer, je stärker sie in einem akuten Interesse im Nehmerland begründet sind und je bruchloser ihre Ergebnisse dort in ein schon vorhandenes Werte- und Erkenntnis-System eingefügt werden können. Im Fallbeispiel des französisch-deutschen Transfers in der Intellektuellenforschung, der im Feuilleton- und Wissenschaftsdiskurs ja weiterläuft,11 vermag man einige Neukonzeptualisierungsansätze in Frankreich, ihre Vermittlungswege nach Deutschland und ihre dortigen Rezeptionsspuren nachzuzeichnen. 2. SOZIOLOGISCHES KONZEPT: DAS INTELLEKTUELLE FELD UND SEINE STRUKTUREN Zu Beginn der 1980er Jahre deutete sich in Frankreich mit dem ‚Schweigen der Intellektuellen‘ ein philosophischer Paradigmenwechsel an, der oft als ‚poststrukturalistische‘ oder ‚postmoderne‘ Wende charakterisiert wird. Marcel Gauchet, ein Autor, der zugleich Beobachter und Befürworter dieser Wende ist, beschrieb 1988 im Rückblick auf die 1980er Jahre diesen philosophischen Umschwung als das Ende einer rigoros ideologiekritischen Ära („la pensée du soupçon“) marxistischer oder psychoanalytischer Provenienz und als Beginn der Wiederentdeckung der Macht der Ideen und Symbole für die Gesellschaftsanalyse. Mit dieser philosophischen Wende sei die Ablösung der Vorherrschaft der Soziologie und Ethnologie (die im Strukturalismus das Denken bestimmten) und die Mittelpunktstellung der Geschichtswissenschaft erfolgt. Es stehe nunmehr an: die vollständige Erneuerung der ‚Geschichte der Ideen‘, die künftig in die Gesellschaftsgeschichte einbezogen
10 Vgl. Habermas, Jürgen: Heinrich Heine und die Rolle des Intellektuellen in Deutschland, in: ders.: Kleine politische Schriften, Bd. 6: Eine Art Schadensabwicklung, Frankfurt/M.: Suhrkamp, 1987, S. 25–54; Lepsius, Rainer M.: Kritik als Beruf. Zur Soziologie der Intellektuellen, in: ders.: Interessen, Ideen und Institutionen, Opladen: Westdeutscher Verlag, 1990, S. 270–285. Vgl. auch Bock: Der Intellektuelle als Sozialfigur, S. 594 f. 11 Vgl. Jung, Thomas/Müller-Doohm, Stefan (Hg.): Fliegende Fische. Eine Soziologie des Intellektuellen in 20 Porträts, Frankfurt/M.: Fischer, 2009; Wenzel, Uwe Justus (Hg.): Der kritische Blick. Über intellektuelle Tätigkeiten und Tugenden, Frankfurt/M.: Fischer, 2002.
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und dort integraler Bestandteil werden müsse.12 Sieht man ab von der Kritik, die diese These vom Paradigmenwechsel in den Gesellschaftswissenschaften provoziert,13 so benannte sie doch einen deutlichen Bruch in der kulturellen Landschaft Frankreichs, der auch von anderen Autoren registriert wird.14 Diese Bruchlinie wurde auf epistemologischer Ebene zum Ansatzpunkt postmoderner Argumentation und auf forschungspragmatischer Ebene zum Startpunkt für die ‚Wiederkehr des Akteurs‘, der im Strukturalismus ganz in den Hintergrund gerückt war. Dieser Paradigmenwechsel trug nicht unwesentlich bei zur methodologischen Selbstfindung (und zum Erfolg) Pierre Bourdieus als Soziologe. Und von diesem Wechsel war das Erkenntnisprogramm der politisch-kulturellen Forschungskonjunktur in den Geschichtswissenschaften ganz unmittelbar inspiriert, die in den 1980er Jahren vor allem durch die Arbeiten des René-Rémond-Schülers Jean-François Sirinelli eingeleitet wurde. Beide Konzeptualisierungsansätze der neuen Intellektuellenforschung können hier nur stichwortförmig umrissen werden, da vorrangig deren Vermittlungswege und Rezeptionsspuren in Deutschland interessieren. Für Bourdieu war die bildungs- und kultursoziologische Thematik von den Héritiers (1964)15 bis zu den Règles de l’art (1992)16 eine gleichbleibende Herausforderung seiner Sozialtheorie. Innerhalb dieser wissenschaftlichen Thematik, aber auch im Rahmen seiner fortgesetzten persönlichen Selbstreflexion,17 nahm die Intellektuellenfunktion eine zentrale Stellung ein, die Anfangs- und Zielpunkt seiner soziologischen Begriffsableitung wurde. Seine Soziologie des Intellektuellen, die in den 1980er Jahren ausformuliert wurde, hatte mit der parallel laufenden politisch-kulturellen Intellektuellenforschung der Historiker gemeinsam, dass sie ihr Explikandum nicht mehr allein in den Kategorien fassen wollte, die dem Selbstverständnis der historischen Repräsentanten dieser Sozialfigur entnommen waren und die bis dahin die einschlägigen Analysen dominierten. Die neue soziologische und historische Intellektuellenforschung zielte vielmehr auf eine fortschreitende Objektivierung (Bourdieu) bzw. eine Art intellectuelogie (Granjon) dieser Sozialfigur, d. h. auf die Klärung ihrer Entstehungsbedingungen, Erschei-
12 Gauchet, Marcel: Changement de paradigme en Sciences sociales, in: Le Débat 50 (mai–août 1988), S. 165–170. 13 Cf. Anderson, Perry: La Pensée tiède. Un regard sur la culture française, traduit de l’anglais (Grande-Bretagne) par William Olivier Desmond, suivi de La pensée réchauffée. Réponse de Pierre Nora, [Paris]: Seuil, 2005; Lindenberg, Daniel: Le Rappel à l’ordre. Enquête sur les nouveaux réactionnaires, [Paris]: Seuil, 2002. 14 Z. B. Dosse, François: Le tournant interprétatif, in: ders.: Pierre Nora. Homo historicus, [Paris]: Perrin, 2011, S. 363–388; Angermüller, Johannes: Nach dem Strukturalismus. Theoriediskurs und intellektuelles Feld in Frankreich, Bielefeld: transcript, 2007. 15 Bourdieu, Pierre/Passeron, Jean-Claude: Les Héritiers. Les étudiants et la culture, Paris: Minuit, 1964 (Le sens commun). 16 Bourdieu, Pierre: Les Règles de l’art. Genèse et structure du champ littéraire, Paris: Seuil, 1992. 17 Bourdieu, Pierre: Ein soziologischer Selbstversuch. Aus dem Franz. v. Stephan Egger. Mit einem Nachw. v. Franz Schultheis, Frankfurt/M.: Suhrkamp, 2002 (Orig.: Esquisse pour une auto-analyse, Paris: Raisons d’Agir, 2004).
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nungsformen und Wirkungsweisen.18 Für diesen Zweck entwickelten die beiden Neuansätze der Intellektuellenforschung jedoch je besondere Rahmenkonzepte. Bourdieu basierte seine Analyse auf eine umfassende Theorie des kulturellen Kapitals und der symbolischen Formen. Er unterschied drei Felder, die sich nach außen mit zunehmendem Autonomieanspruch abgrenzen sowie intern durch Positionskämpfe bestimmt sind und die die mögliche Basis für politische Intervention darstellen: die Wissenschaften, die Literatur und die Bildenden Künste. Seine historisch und empirisch abgeleitete Definition des modernen Intellektuellen ist: Der Intellektuelle ist ein bi-dimensionales Wesen. Um den Namen Intellektueller zu verdienen, muss ein Kulturproduzent zwei Voraussetzungen erfüllen: zum einen muß er einer intellektuell autonomen, d. h. von religiösen, politischen, ökonomischen usf. Mächten unabhängigen Welt (einem Feld) angehören und deren besondere Gesetze respektieren; zum anderen muß er in eine politische Aktion, die in jedem Fall außerhalb des intellektuellen Feldes im engeren Sinn stattfindet, seine spezifische Kompetenz und Autorität einbringen, die er innerhalb des intellektuellen Feldes erworben hat.19
Bourdieus Konzeption ist also durch die Autonomisierung des intellektuellen Feldes, durch die Anerkennung und erfolgreiche Handhabung der Regeln dieses Feldes und durch die Investition der so erworbenen Autorität für politische Interventionen charakterisiert. Diese Konzeption entspricht der epistemologischen Wende der 1980er Jahre, indem sie in expliziter Kritik an Jean-Paul Sartres Auffassung vom „totalen Intellektuellen“ verfasst wurde, der dort prinzipiell als souveräner Gegenspieler der heteronomen Mächte gesehen wurde.20 Er trug den sozialstrukturellen Veränderungen Rechnung, die im angehenden 20. Jahrhundert aufgrund externer und interner Infragestellungen der Autonomie des intellektuellen Feldes das Leitbild des „totalen Intellektuellen“ obsolet machten. Er setzte an dessen Stelle das praxeologische Leitbild eines „corporatisme de l’universel“, das vorrangig vermittels transnationaler Vernetzung der Kulturproduzenten die Existenzund Wirkungsbedingungen des Intellektuellen sichern sollte.21 Dieser soziologische Neubegründungsversuch der Intellektuellenfigur setzte sich von der postmodernen Denkweise ab, die im Begriff war, das Regulativ der Vernunft in eine „Pluralität von Rationalitäten“ aufzulösen,22 indem er eine „Realpolitik de la Raison“ proklamierte. Damit hielt Bourdieu partiell an der Tradition des Aufklärungsdenkens von Emile Zola bis Sartre fest.
18 Granjon, Marie-Christine: Une enquête collective sur l’histoire comparée des intellectuels: synthèse et perspectives, in: Trebitsch, Michel/dies. (Hg.): Pour une histoire comparée des intellectuels, Paris, Bruxelles: Edition complexe, 1998, S. 19–38. 19 Bourdieu, Pierre: Die Intellektuellen und die Macht, hg. v. Irene Dölling, Hamburg: VSA, 1991, S. 42. 20 Bourdieu, Pierre: Die Erfindung des totalen Intellektuellen, in: Romanistische Zeitschrift für Literaturgeschichte/Cahiers d’histoire des littératures romanes 5 (1981), S. 385–391. 21 Vgl. Bourdieu: Die Intellektuellen und die Macht, S. 41–65, ders.: Pour un corporatisme de l’universel, in: ders.: Les Règles de l’art, S. 459–472. 22 Welsch, Wolfgang: Unsere postmoderne Moderne, Weinheim: VCH, Acta Humaniora, 3 1991, S. 277–294.
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Die auf die gegenwartsadäquate Neuformulierung der Intellektuellenfunktion gerichteten Überlegungen Bourdieus fanden seit den 1980er Jahren Aufmerksamkeit in Deutschland. Dieser Teil seines umfassenden Werkes stand dort lange Zeit im Mittelpunkt des Interesses,23 bevor ab Mitte der 1990er Jahre (in der Folge von La Misère du monde, 1993)24 die umfassendere soziologische Rezeption und die anhaltende Übersetzungswelle seiner Arbeiten einsetzte. Im Folgenden sollen nur die ersten Transferschritte seiner soziologischen Analyse der Intellektuellen nach Deutschland skizziert werden. Sie fanden hier eine bemerkenswert hohe Aufnahmebereitschaft, weil sich – gemäß Bering – erstmals ein erweitertes Verständnis des Intellektuellen-Begriffs anmeldete und (so etwa bei Hauke Brunkhorst, aber auch bei Jürgen Habermas)25 in der Auseinandersetzung mit der intellektuellen Neuen Rechten kontrovers diskutiert wurde. Es war vor allem Joseph Jurt, der seit den frühen 1980er Jahren Bourdieu in der romanistischen Fachöffentlichkeit bekannt machte, indem er auf das Innovationspotenzial seiner Theorie des literarischen Feldes hinwies und ihm ein Buch widmete, das 1995 in der Wissenschaftlichen Buchgesellschaft erschien.26 Die produktive Kooperation zwischen Bourdieu und Jurt wurde Ende des Jahrzehnts manifest bei der Eröffnung des Freiburger Frankreich-Zentrums (1989), zu dessen Errichtung Jurt wesentlich beigetragen hatte und zu dessen Eröffnung Bourdieu seinen (dann später vielzitierten) Vortrag über „Les conditions sociales de la circulation internationale des idées“ hielt.27 Ein Vortrag, der übrigens als Einstiegstext in den Fragenkomplex ‚Transfer und Vergleich‘ dienen könnte und der aus einem kontinuierlichen Engagement Bourdieus in den transnationalen Wissenschaftsbeziehungen generell und besonders in den französisch-deutschen Beziehungen entstand.28 Diese transnationale Dimension seines politischen Wirkens scheint mir eine neuartige Voraussetzung für die Transaktion symbolischer Güter zwischen Deutschland und Frankreich zu sein, die in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts kaum existierte29 und die Bourdieu 23 Vgl. z. B. Schwingel, Markus: Bourdieu zur Einführung, Hamburg: Junius, 1995 (Zur Einführung 115), S. 121–142. 24 Bourdieu, Pierre: La Misère du monde, Paris: Seuil, 1993. 25 Vgl. Brunkhorst, Hauke: Der entzauberte Intellektuelle. Über die neue Beliebigkeit des Denkens, Hamburg: Junius, 1990; Habermas, Jürgen: Der philosophische Diskurs der Moderne. Zwölf Vorlesungen, Frankfurt/M.: Suhrkamp, 1985. 26 Jurt, Joseph: Das literarische Feld. Das Konzept Pierre Bourdieus in Theorie und Praxis, Darmstadt: WBG, 1995. 27 Bourdieu, Pierre: Les conditions sociales de la circulation internationale des idées, in: Romanistische Zeitschrift für Literaturgeschichte/Cahiers d’histoire des littératures romanes 14/1– 2 (1990), S. 1–10. 28 Vgl. dazu den Bericht von Jurt, Joseph: Pierre Bourdieu und das Frankreich-Zentrum, in: Renner, Rolf Günter (Hg.): Deutsch-französische Berührungs- und Wendepunkte. Zwanzig Jahre Forschung, Lehre und öffentlicher Dialog am Frankreich-Zentrum, Freiburg i. B.: Frankreich-Zentrum, 2009, S. 97–104. 29 Vgl. Bock, Hans Manfred: Transnationalisierung als zeitdiagnostisches Kennwort und zeitgeschichtliches Konzept für die deutsch-französischen Beziehungen, in: Defrance, Corine/Kißener, Michael/Nordblom, Pia (Hg.): Wege der Verständigung zwischen Deutschen und Franzosen nach 1945. Zivilgesellschaftliche Annäherungen, Tübingen: Narr, 2010, S. 349–377.
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zum wahrscheinlich meistbeachteten französischen Soziologen in Deutschland gegen Ende diese Jahrhunderts werden ließ: Der gewollte (wenngleich mühsame) Aufbau institutionalisierter oder informeller wissenschaftlicher Netzwerke zwischen beiden Nationen.30 Diese transnationale Netzwerk-Arbeit war das wohl stärkste, zumindest aber konstanteste Motiv des Wissenschaftlers und Intellektuellen Bourdieu, das sich von der Mitgründung des Pariser Centre de sociologie européene (1968) bis zu seinen Initiativen der 1980er Jahre (Liber-Kulturzeitschriftenprojekt und Errichtung des Straßburger ‚Schriftstellerparlaments‘31) beobachten lässt und das gegenwärtig in dem Netzwerk „Pour un espace des sciences sociales européen“ (ESSE) fortgesetzt wird.32 Die hier kurz angesprochene transnationale Netzwerk-Dimension ist auch im zweiten Transferbeispiel, dem politisch-kulturellen Intellektuellenforschungsansatz und seiner Vermittlung nach Deutschland allenthalben nachweisbar. 3. GESCHICHTSWISSENSCHAFTLICHES KONZEPT: DER INTELLEKTUELLE ALS POLTISCH-KULTURELLER AKTEUR Die intellektuellensoziologische Konzeptualisierung Bourdieus ist gespickt mit historischen Fallbeispielen, die primären Bezug haben zu seinen wissenschaftstheoretischen Prämissen, die jedoch seltener mit historischem Quellenbezug ausgeführt werden.33 Dieser historisch-empirischen Aufgabe haben sich vor allem Christophe Charle, Anna Boschetti und Gisèle Sapiro gestellt,34 deren theoretische und empirische Denkergebnisse in dem Band L’Espace intellectuel en Europe (2009) programmatisch vorgetragen werden. Von der Bourdieu-Schule unabhängig, aber in (nicht konfliktfreier) Nachbarschaft zu ihr konstituierte sich die geschichtswissenschaftliche Intellektuellenforschung der 1980er Jahre. Sie setzte an bei der politischen Ideengeschichte, wie sie beispielgebend von Jean Touchard und René Rémond praktiziert worden war. Dieser quellenorientierte historiografische Ansatz, der in den letzten 25 Jahren zu einem der ertragreichsten zeitgeschichtlichen Forschungsterrains in Frankreich wurde,35 zielte darauf, eine soziologisch informierte Erneuerung der politischen Ideengeschichte hervorzubringen. 30 Zur Bourdieu-Rezeption in Deutschland vgl. Fröhlich, Gerhard/Rehbein, Boike (Hg.): Bourdieu-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung, Stuttgart, Weimar: Metzler, 2009, S. 381–386. 31 Vgl. Schwingel: Bourdieu zur Einführung, S. 135–142. 32 Vgl. dessen programmatische Selbstdarstellung in: Sapiro, Gisèle (Hg.): L’Espace intellectuel en Europe. De la formation des Etats-nations à la mondialisation XIXe–XXIe siècle, Paris: La Découverte, 2009. 33 Am stärksten diachronisch angelegt Bourdieu, Pierre/Passeron, Jean-Claude: Soziologie und Philosophie in Frankreich seit 1945. Tod und Wiederauferstehung einer Philosophie ohne Subjekt, in: Lepenies, Wolf (Hg.): Geschichte der Soziologie. Studien zur kognitiven, sozialen und historischen Identität einer Disziplin, Bd. 3, Frankfurt/M.: Suhrkamp, 1981, S. 496–551. 34 In dem unter anderem von ihnen verfassten Band Sapiro (Hg.): L’Espace intellectuel wird das theoretische und praktische Erbe Bourdieus fortgesetzt. 35 Ihre methodologischen Konturen zusammenfassend Dosse, François: La Marche des idées. Histoire des intellectuels – histoire intellectuelle, Paris: La Découverte, 2003, S. 43–106.
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Dieses Forschungsdesign fügte sich bruchlos ein in die poststrukturalistische Wende der 1980er Jahre, führte zu einer so nie dagewesenen Hausse von Einzelstudien (die mehr thematische als methodologische Gemeinsamkeiten aufwiesen) und blieb in Deutschland weit weniger bekannt als das soziologische Konzept der Intellektuellenforschung, da es primär frankreichzentriert blieb.36 Zum wahren Siegeszug dieser politisch-kulturellen Intellektuellen-Historie, der aus ihr einen kulturellen Exportartikel Frankreichs machte, trug entscheidend ihre Anschlussfähigkeit an die Kräfte bei, die in den 1980er Jahren die Abwendung von der „pensée du soupçon“ und die Hinwendung zur Erforschung der Eigendynamik der Ideen und Symbole propagierten. Marcel Gauchet, der dieses Programm exemplarisch formuliert hatte, brachte das neue geschichtspolitische Ziel auf den Punkt: Ce qui est en jeu, c’est un renouvellement entier de l’histoire des idées par son intégration dans l’histoire des sociétés, et un renouvellement symétrique de l’histoire tout court par l’incorporation systématique de l’histoire intellectuelle.37
Es ging im Kern darum, die Geschichte nicht mehr vorwiegend als das Ergebnis anonymer Kräfte und Strukturen, sondern gleichermaßen als das Werk bewussten Handelns der Akteure zu interpretieren. Es ging um den „retour de l’acteur“38. Das publizistische Laboratorium, in dem dieses geschichtspolitische Programm experimentell erprobt und entwickelt wurde, war die Zeitschrift Le Débat. Histoire, politique, société, die seit 1980 von Pierre Nora und von Marcel Gauchet als Chefredakteur herausgegeben wird.39 Die Debatte über die Intellektuellenfigur und ihre Historiografie, die in Le Débat seit nunmehr 30 Jahren geführt wird, wurde von nahezu allen geschichtswissenschaftlichen Autoren mitgestaltet (JeanFrançois Sirinelli, Pierre Nora, Jacques Julliard, Michel Winock, François Dosse u. a.), die von einem poststrukturalistischen (teilweise von einem postmodernen) Konsens ausgingen und auf dieser Basis der Frage nach dem ‚Tod des Intellektuellen‘ nachgingen, die von François Lyotard 1983 in die Diskussion eingeführt worden war.40 Von zwei der profilierten Autoren des Mitarbeiterkreises von Le Débat wurde die Planung und Verwirklichung des Dictionnaire des intellectuels français verantwortet, das 1996 als erste Summe der einschlägigen Forschungsergebnisse erschien.41 Neben (und teilweise auch in) dieser geschichtspolitischen Phalanx, die im Verlags- und Medienbereich stark vernetzt ist, wurde die quellenorientierte und konzeptuelle Arbeit an der Erneuerung der Intellektuellen36 Als (späten) Versuch, die eigenen Fragestellungen mit denen anderer Nationen zu konfrontieren s. Leymarie, Michel/Sirinelli, Jean-François (Hg.): L’Histoire des intellectuels aujourd’hui, Paris: PUF, 2003. 37 Gauchet: Changement de paradigme, S. 168. 38 Dosse: Pierre Nora, S. 363–415. 39 Als Abriss ihrer Entwicklung vgl. Dosse: Pierre Nora, S. 493–548. 40 Lyotard, François: Tombeau de l’intellectuel et autres papiers, Paris: Galilée, 1984. Übers.: Grabmal des Intellektuellen, Graz [u. a.]: Böhlau, 1985 (Edition Passagen 2). 41 Julliard, Jacques/Winock, Michel (Hg.): Dictionnaire des intellectuels français. Les personnes, les lieux, les moments, Paris: Seuil, 1996.
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forschung im wesentlichen im Umkreis der Groupe de recherches sur l’histoire des intellectuels (GRHI) geleistet. Diese Arbeitsgruppe wurde 1986 am Pariser Institut d’Histoire du Temps Présent (IHTP) von Jean-François Sirinelli ins Leben gerufen und nach dessen Berufung an die Universität Lille von 1988 bis 2002 tatkräftig weiter geleitet von Michel Trebitsch und Nicole Racine.42 Die Habilitationsschrift von Sirinelli, die 1988 als Buch erschien43, hatte am Beispiel einer Alterskohorte von ENS-Absolventen der Zwischenkriegszeit eine neue Fragestellung in die Intellektuellengeschichte eingeführt, die der Forderung nach der Einbeziehung gesellschaftswissenschaftlicher Erkenntnismöglichkeiten in die politische Ideengeschichte zu entsprechen versuchte: Dies waren u. a. die Begriffe der Generation, der Vergesellschaftungsformen („sociabilités“) von Intellektuellengruppen und der zeitgeschichtlich bedingte Lebensverlauf („itinéraire“) bzw. die langfristige Formung einzelner Intellektueller durch charismatisch wirkende Vordenker („éveilleurs“).44 Die Arbeitsgruppe GRHI nahm sich in der Folgezeit jedes dieser Konzepte (besonders den Generations- und den sociabilité-Begriff) vor, um dessen empirische Anwendbarkeit und heuristische Leistungsfähigkeit zu überprüfen.45 Vor allem aber war den Initiatoren der GRHI daran gelegen, diese Leitkonzepte dem Härtetest der internationalen Vergleichbarkeit auszusetzen, also die franko-französische Perspektive auf die Phänomene aufzubrechen, die mit diesem neuen Blick auf die zutiefst nationalgeschichtlich konditionierten Mikrokosmen der Intellektuellen ins Sichtfeld rückten. Diesem Zweck dienten vor allem die von 1994 bis 1998 abgehaltenen Arbeitsgruppen-Tagungen am IHTP, in denen unter der Leitung von Trebitsch und Racine die Bilanzierung der Intellektuellen-Historiografie anderer europäischer und außereuropäischer Länder in Angriff genommen wurde.46 Das hatte bis dahin allein Christophe Charle anhand der bourdieuschen Kategorien für 42 Vgl. zu Werk und Leben: Racine, Nicole: Michel Trebitsch historien, in: Martin, Laurent/Venayre, Sylvain (Hg.): L’Histoire culturelle du contemporain, [Paris]: Nouveau Monde, 2005, S. 221–234. S. auch die Nachrufe auf Michel Trebitsch von Nicole Racine und Wolfgang Asholt/Hans Manfred Bock und Reinhart Meyer-Kalkus: In memoriam Michel Trebitsch, in: Bulletin d’études Jean-Richard Bloch 12 (2006), S. 29–58, sowie in: Lendemains. Etudes comparées sur la France 116 (2004), S. 126–129. Zu Nicole Racine s. den Nachruf Asholt, Wolfgang/Bock, Hans Manfred: Nicole Racine 1940–2012, in: Lendemains 37/146–147 (2012), S. 290–292. 43 Vgl. Sirinelli, Jean-François: Génération intellectuelle. Khâgneux et Normaliens dans l’entredeux-guerres, Paris: Fayard, 1988. 44 S. das Forschungsprogramm Sirinelli, Jean-François: Le hasard ou la nécessité? Une histoire en chantier: l’histoire des intellectuels, in: Vingtième Siècle. Revue d’histoire 9 (1986), S. 97– 108. 45 Vgl. Sirinelli, Jean-François (Hg.): Générations intellectuelles. Effets d’âge et phénomènes de génération dans le milieu intellectuel français, Paris: IHTP, 1987 (Cahiers de l’Institut d’histoire du temps présent 6); Racine, Nicole/Trebitsch, Michel (Hg.): Sociabilités intellectuelles. Lieux, milieux, réseaux, Paris: Centre National de la Recherche Scientifique, 1992 (Cahiers de l’Institut d’Histoire du Temps Présent 20). 46 Vgl. Granjon, Marie-Christine/Racine, Nicole/Trebitsch, Michel (Hg.): Histoire comparée des intellectuels. Textes préparatoires à la journée d’études du 23 janvier 1997, Paris: CNRSIHTP, 1997; Trebitsch/Granjon (Hg.): Pour une histoire comparée.
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West-Europa versucht.47 Die komparatistischen IHTP-Tagungen ermöglichten über die deskriptive Erfassung der Besonderheiten nationaler Intellektuellengeschichte hinaus die prüfende Diskussion der neuen Leitbegriffe. Trebitsch verstand diese Veranstaltungsfolge als ein Versuchsfeld, eine „Histoire expérimentale“, die für die Weiterentwicklung der „histoire des intellectuels“ der jeweils anderen Länder neue Fragestellungen zu generieren vermochte.48 Charle benannte das methodologische Kernproblem vergleichender Intellektuellen-Historiografie in seinen Überlegungen zu deren „Transferts et comparaisons spécifiques“: Au lieu, comme le font la plupart des historiens, d’interroger l’histoire socio-culturelle des pays concernés au moyen d’une grille de lecture préconstruite tirée du plus petit commun dénominateur ou d’une problématique de sociologie théorique à l’anglo-saxonne, il s’agit d’explorer celle-ci à partir du questionnaire […] des autres pays. Pour que l’exercice soit totalement convaincant, il devrait être pratiqué de manière couplée par exemple pour une comparaison franco-allemande : un germanophone spécialiste de l’Allemagne prenant le cas français et vice-versa.49
Diese produktive transnationale Verschränkung und Vernetzung ist dann zwar nicht in wünschenswertem Umfang in der Intellektuellenforschung verwirklicht worden. Aber auch in diesem Fall sind die Rezeptions- bzw. Transaktionsspuren zwischen Frankreich und Deutschland nicht zu übersehen. Sie führten über die Relaisstationen des Arbeitskreises sozialwissenschaftliche deutsche Frankreichforschung, der sich zu Beginn der 1980er Jahre am Deutsch-Französischen Institut Ludwigsburg konstituiert hatte.50 Dort war 1987 die Jahrestagung dem Thema „Intellektuelle in der französischen Gesellschaft“ gewidmet und als Referenten nahmen Michel Winock und Michel Trebitsch teil.51 Die geschichtswissenschaftlichen Transaktionsimpulse waren eingeleitet worden durch eine andere bilaterale Kulturinstitution, blieben aber selektiv: Die Kontakte mit dem IHTP in Paris waren zustande gekommen in der Vorbereitung des großen CNRS-Kolloquiums über die deutsch-französischen Kulturbeziehungen der Zwischenkriegszeit, das die dortige Zweigstelle des Deutschen Akademischen Austauschdienstes (DAAD) angeregt und mit dem IHTP 1990 durchgeführt hatte.52 Aus dieser anregenden 47 Vgl. Charle, Christophe: Les Intellectuels en Europe au XIXe siècle. Essai d’histoire comparée, Paris: Seuil, 1996. 48 Trebitsch, Michel: L’histoire comparée des intellectuels comme histoire expérimentale, in: Trebitsch/Granjon (Hg.): Pour une histoire comparée, S. 61–78. 49 Vgl. Charle, Christophe: L’histoire comparée des intellectuels en Europe. Quelques points de méthode et propositions de recherche, in Trebitsch/Granjon (Hg.): Pour une histoire comparée, S. 39–59, hier S. 50. 50 Bock, Hans Manfred (Hg.): Projekt deutsch-französische Verständigung. Die Rolle der Zivilgesellschaft am Beispiel des Deutsch-Französischen Instituts in Ludwigsburg, Opladen: Leske und Budrich, 1998. 51 S. Deutsch-Französiches Institut (Hg.): Frankreich-Jahrbuch 1998. Politik, Wirtschaft, Gesellschaft, Geschichte, Kultur, Schwerpunkt: Intellektuelle in der französischen Gesellschaft, Opladen: Leske und Budrich, 1998, S. 35–170. 52 Vgl. Bock, Hans Manfred/Meyer-Kalkus, Reinhart/Trebitsch, Michel (Hg.): Entre Locarno et Vichy. Les relations culturelles franco-allemandes dans les années 1930, Paris: CNRS-Editions, 1993 (De l’Allemagne), 2 Bde.
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Begegnung mit den Protagonisten der GRHI entstand die andere deutsche Filiation der französischen Intellektuellenforschung, die mit meiner Beteiligung rund ein Jahrzehnt lang in der Zeitschrift Lendemains. Etudes comparées sur la France/Vergleichende Frankreichforschung eine Tribüne fand. Dort wurden die Konzepte der vergleichenden Intellektuellen-Historiografie an einer Reihe von Beispielen der deutsch-französischen Gesellschafts- und Kulturbeziehungen des 20. Jahrhunderts erprobt und in verschiedenen Themen-Dossiers zu den Intellektuellen (ihren Organisationen, Begegnungsorten und Zeitschriften) angewandt.53 Die andere Richtung der französischen Intellektuellenforschung, die postmodern und geschichtspolitisch orientierte Geschichtsschreibung, fand – abgesehen von Michel Winocks großem Fresko Das Jahrhundert des Intellektuellen54 (das sich auf deren literarische Spezies in Frankreich beschränkt) – keine direkte Anknüpfung auf der deutschen Seite. Mir scheint das die These zu bestätigen, dass in der kulturellen Interaktion über nationale Grenzen hinweg in der Regel nur diejenigen symbolischen Produkte eine Vermittlungschance haben, die im Zielland auf eine bereits vorhandene Sensibilität und Aufmerksamkeit stoßen und dort selbstständig weiterverarbeitet werden, um (im Bedarfsfalle) dann wieder reimportiert zu werden. LITERATURVERZEICHNIS Anderson, Perry: La Pensée tiède. Un regard sur la culture française, traduit de l’anglais (GrandeBretagne) par William Olivier Desmond, suivi de La pensée réchauffée. Réponse de Pierre Nora, [Paris]: Seuil, 2005. Angermüller, Johannes: Nach dem Strukturalismus. Theoriediskurs und intellektuelles Feld in Frankreich, Bielefeld: transcript, 2007. Asholt, Wolfgang/Bock, Hans Manfred: Nicole Racine 1940–2012, in: Lendemains 37/146–147 (2012), S. 290–292. Bering, Dietz: Die Epoche der Intellektuellen 1898–2001. Geburt, Begriff, Grabmal, Berlin: Berlin UP, 2010. Bock, Hans Manfred (Hg.): Projekt deutsch-französische Verständigung. Die Rolle der Zivilgesellschaft am Beispiel des Deutsch-Französischen Instituts in Ludwigsburg, Opladen: Leske und Budrich, 1998. Bock, Hans Manfred: Transnationalisierung als zeitdiagnostisches Kennwort und zeitgeschichtliches Konzept für die deutsch-französischen Beziehungen, in: Defrance, Corine/Kißener, Michael/Nordblom, Pia (Hg.): Wege der Verständigung zwischen Deutschen und Franzosen nach 1945. Zivilgesellschaftliche Annäherungen, Tübingen: Narr, 2010, S. 349–377. Bock, Hans Manfred: Der Intellektuelle als Sozialfigur. Neuere vergleichende Forschungen zu ihren Formen, Funktionen und Wandlungen, in: Archiv für Sozialgeschichte 51 (2011), S. 591–643.
53 So neben mehreren Überblicken über die laufende Intellektuellen-Historiografie in Frankreich eine größere Zahl von monografischen Studien zur Geschichte der französischen Intellektuellenassoziationen, an denen Joseph Jurt, Pierre Bourdieu, Nicole Racine, Michel Trebitsch, François Chaubet u. a. beteiligt waren. 54 Winock, Michel: Le Siècle des intellectuels, Paris: Seuil, 1997; ders.: Das Jahrhundert der Intellektuellen, Konstanz: UVK, 2003 (Edition Discours 28).
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Hans Manfred Bock
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Zur Überwindung nationaler Begriffsmodellierungen des Intellektuellen
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LYRIK-ÜBERSETZUNG ALS KULTURTRANSFER Carolin Fischer In verschiedenen Sprachen finden sich Wortspiele zum Thema Übersetzung. Am bekanntesten und negativsten ist vermutlich die italienische Paronomasie traduttore – traditore, der man das französische Begriffspaar traduction – tradition entgegensetzen kann. Im Deutschen hingegen wird der Über-Setzer gern mit einem Fährmann verglichen, ein Bild, das insofern ‚schief‘ erscheint, als die Waren oder Personen, die per Fähre einen Fluss überqueren, einmal auf dem anderen Ufer angekommen, doch eigentlich noch dieselben sind. Wenn man indes diese drei Topoi näher betrachtet, so stecken sie ziemlich genau das Feld ab, auf dem sich die diversen theoretischen Ansätze zum Übersetzen situieren. Auf die Lyrik bezogen könnte man erstens sagen, dass die Formel traduttore – traditore die Vorstellung der Unübersetzbarkeit von Lyrik kondensiert. Im Gegensatz dazu steht zweitens die jahrhunderte-, ja jahrtausendealte Praxis der Übersetzung von Dichtung, die man geradezu als eine Notwendigkeit betrachten kann, wenn es beispielsweise um die Überlieferung von Versen aus den sogenannten ‚toten‘ Sprachen geht; sie belegt, dass die tradition auf die traduction nicht verzichten kann. Was nun drittens die Tatsache angeht, dass ein über einen Fluss transportiertes Objekt sich per se nicht verändert, so zeigt der Beitrag von Patricia Oster in diesem Band, wie ein neues kulturelles Umfeld diesem Objekt durchaus eine grundsätzlich andere Bedeutung verleihen kann. Das Bild vom Übersetzer als Fährmann soll folglich in diesem Kontext dazu dienen, über Lyrikübersetzung als Kulturtransfer nachzudenken.1 Um die folgenden Überlegungen innerhalb der aktuellen Debatte zu verorten, erweist sich der Rückgriff auf neuere Publikationen zum Thema leider als wenig ergiebig, sodass man fast die Bibel zitieren möchte: „Es gibt nichts Neues unter der Sonne“.2 1
2
Der Band De la traduction et des transferts culturels, hg. v. Christine Lambez u. Rotraud von Kulessa, Paris: L’Harmattan, 2007, widmet sich verschiedenen literarischen Gattungen, nicht aber der Lyrik. Ähnliches gilt für Kultur übersetzen. Zur Wissenschaft des Übersetzens im deutsch-französischen Dialog/Traduire la culture. Le dialogue franco-allemand et la traduction, hg. v. Alberto Gil und Manfred Schmeling, Berlin: Akademie Verlag, 2009 (Vice Versa. Deutsch-französische Kulturstudien 2). Prediger 1,9. Die folgenden Titel bieten leider keine wesentlichen neuen Ansätze: Vincenzi, Giampaolo: Per una teoria della traduzione poetica, Macerata: EUM, 2009 (EUM x: Letterature comparate x traduzione); Lombardo, Giovanni: La traduzione della poesia. Studî e prove, Rom: Editori Riuniti University Press, 2009; Corona, René: Diachronie, poésie et traduction. D’une langue à l’autre: la poésie, pourquoi?, Torino: L’Harmattan Italia/Paris:
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Carolin Fischer
In seinem ‚Klassiker‘ Un art en crise zitiert bereits Efim Grigor’evič Ėtkind altbekannte, extreme Positionen, nämlich Novalis („Am Ende ist jede Poesie Übersetzung“) und Hamann („Reden ist übersetzen“).3 Überdies basiert jede Übersetzung auf einer Interpretation, nach Gadamer besteht darin sogar ihr Kern, denn sie bedeute lediglich eine größere „Fremdheitsstufe“ als die Auslegung, eine künstliche Übermittlung des Sinns: „Übersetzen oder gar Dolmetschen ‚ist eben noch ein Rest von lebendigem Gespräch, wenn auch vermittelt, gespalten, gebrochen‘ (Gadamer 1993g, 348)“4. 1. TRADUTTORE – TRADITORE, ODER DIE UNMÖGLICHKEIT, LYRIK ZU ÜBERSETZEN Eine der interessanteren Studien, die diverse – überwiegend anglo-amerikanische – Statements zur Lyrikübersetzung zusammenstellt, trägt bezeichnenderweise den Titel Poetry & Translation. The Art of the Impossible5. Einer der Kronzeugen des Autors Peter Robinson ist wenig überraschend Robert Frost, von dem die vernichtende Formulierung stammen soll: „Poetry is what is lost in translation.“6 Und damit keineswegs genug. An anderer Stelle erklärt der amerikanische Lyriker etwas ausführlicher: „no translation of poetry will do: practically any book in any but your own language or languages is a closed book“7. Und selbst dort, wo eine Übertragung des Orginals gelingt, „there should always be a lingering unhappiness in reading translations“8.
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L’Harmattan, 2009; Lyrikübersetzung, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 2006 (Nachrichten der Akademie der Wissenschaften zu Göttingen: Philologisch-Historische Klasse 2006, 5) (unter diesem vielversprechenden Titel finden sich leider nur zwei kurze Texte von insgesamt 23 Seiten); Appel, Mirjam: Lyrikübersetzen. Übersetzungswissenschaftliche und sprachwissenschaftliche Grundlagen für ein Rahmenmodell zur Übersetzungskritik, Frankfurt/M. [u. a.]: Lang, 2004 (TransÜD 4). Es handelt sich um eine Magisterarbeit zu den deutschen Übersetzungen von Anna Achmatova. Interessant ist die Studie von Jones, Francis R.: Poetry Translating as Expert Action. Processes, Priorities and Networks, Amsterdam, Philadelphia: Benjamins, 2011. Allerdings ist sie primär aus Sicht des Übersetzers verfasst und stark auf konkrete Beispiele konzentriert. Vgl. Ėtkind, Efim Grigor’evič: Un art en crise. Essai de poétique de la traduction poétique, traduit par Wladimir Troubetzkoy avec la collaboration de l’auteur, Lausanne: L’Age d’homme, 1982, S. 255. Di Cesare, Donatella: Das unendliche Gespräch. Sprache als Medium der hermeneutischen Erfahrung (GW 1, 387–441), in: Figal, Günter (Hg.): Hans-Georg Gadamer. Wahrheit und Methode, Berlin: Akademie Verlag, 2007 (Klassiker auslegen 30), S. 177–198, hier S. 192. Robinson, Peter: Poetry & Translation. The Art of the Impossible, Liverpool: Liverpool UP, 2010. Diese Äußerung, die Frost immer wieder zugeschrieben wird, kann allerdings nicht belegt werden. Frost, Robert: [Contribution to 25th Anniversary Bread Loaf Booklet], in: ders.: The Collected Prose of Robert Frost, hg. v. Mark Richardson, Cambridge (MA): Harvard UP, 2007, S. 143. Frost, Robert: [Poetry and School (1951)], in: ders.: The Collected Prose, S. 167.
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Genau diesen Standpunkt finden wir, theoretisch elaborierter formuliert, bei Peter V. Zima wieder, der dekretiert: „Dichtung ist unübersetzbar, weil in einer Übersetzung das dichterisch Wesentliche verloren geht, weil der dichterische Text seiner einmaligen unwiederholbaren Form entkleidet wird.“9 Damit greift er gewissermaßen die Aussage Gottfried Benns auf: „Aber die Form ist ja das Gedicht.“10 All diese Äußerungen erklären die Übersetzung von Lyrik zu einem Ding der Unmöglichkeit, wobei keine von ihnen auf einen ganz wesentlichen Aspekt eingeht, nämlich die klangliche Dimension, die in ihrer Eigenheit beim Wechsel von einer Sprache zu einer anderen in keinem Fall erhalten werden kann. Selbst dort, wo Reimschemata respektiert werden, klingen die neuen Reime der Übersetzung natürlich vollkommen anders. Dieses Argument gegen die Transposition von Dichtung in eine andere Sprache findet sich indirekt bereits bei Voltaire („La poésie est une espèce de musique: il faut l’entendre pour en juger“11), was ihn allerdings nicht davon abgehalten hat, eine französische Version von Shakespeares Versen vorzulegen (s. u.). In diesem Kontext zeigt sich einmal mehr, weshalb Ėtkinds Ausführungen bis heute Gewicht haben, da er die verschiedensten Elemente berücksichtigt: „La poésie, c’est l’union du sens et des sons, des images et de la composition, du fond et de la forme.“12 Die Aufgabe des Übersetzers wird damit nicht gerade einfacher… Wenn man den Topos der Unübersetzbarkeit von Lyrik genauer betrachtet und mit ihm das Diktum Robert Frosts („Poetry is what is lost in translation“), dann stellt sich die Frage, was genau der amerikanische Dichter mit „poetry“ meint. Die Antwort gibt er selbst, nämlich „the sound of sense“13. Diese Definition, die als Dichtung oder Lyrik eine spezifische Kombination von Klang und Bedeutung bezeichnet, lässt Frost in der Tat Recht behalten, denn sie geht in der Übersetzung unabwendbar verloren. 2. TRADUCTION – TRADITION, ODER DIE TATSACHE UND NOTWENDIGKEIT DER LYRIKÜBERSETZUNG Welche Argumente auch immer man gegen das Übersetzen von Lyrik – nicht unbedingt zu Unrecht – anführt, die Praxis widerlegt zumindest die These, dass es unmöglich sei. Ob es nun auch wünschenswert ist, mag umstritten bleiben, was indes nichts an der Tatsache ändert, die Christiane Nord wie folgt formuliert: 9 10 11 12 13
Zima, Peter V.: Komparatistik. Einführung in die vergleichende Literaturwissenschaft, Tübingen: Francke, 1992, S. 19. Benn, Gottfried: Probleme der Lyrik [1951], in: ders.: Gesammelte Werke in acht Bänden, hg. v. Dieter Wellershoff, Bd. 4: Reden und Vorträge, Wiesbaden: Limes, 1968, S. 1058–1096, hier S. 1071. Voltaire: Lettres philosophiques, hg. v. René Pomeau, Paris: Garnier-Flammarion, 1964, Brief 22, S. 142. Ėtkind: Un art en crise, S. XI. Frost, Robert: Collected Poems, Prose and Plays, hg. v. Richard Poirier und Mark Richardson, New York: Library of America, 1995 (The Library of America 81), S. 664.
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Carolin Fischer
„Durch die Translation wird eine kommunikative Handlung möglich, die ohne sie aufgrund vorhandener Sprach- und Kulturbarrieren nicht zustande gekommen wäre.“14 Dieser wohl unumstrittene Sachverhalt ließe sich auch dahingehend umformulieren oder erweitern, dass Weltliteratur ohne Übersetzung nicht denkbar wäre. Ein überzeugendes Beispiel expliziter Intertextualität sowie der inspirierenden Lektüre übersetzter Verse liefert Robinson in seinem Abschnitt über John Keats’ Gedicht aus dem Jahre 1816, das die realen Gegebenheiten seiner Entstehung partiell im Titel trägt: „On first looking into Chapman’s Homer“.15 Das Spannungsfeld zwischen Unübersetzbarkeit von Lyrik und der mitunter sogar produktiven Rezeption ihrer Übersetzungen – wie bei Keats – bringt W. H. Auden emphatisch zum Ausdruck. Er betont den Einfluss Cavafys auf seine eigene Dichtung, obwohl ihm die Originale sprachlich nicht zugänglich waren: […] C. P. Cavafy has remained an influence on my own writing; that is to say, I can think of poems which, if Cavafy were unknown to me, I should have written quite differently or perhaps not written at all. Yet I do not know a word of Modern Greek, so that my only access to Cavafy’s poetry has been through English and French translations. This perplexes and a little disturbs me. Like everybody else, I think, who writes poetry, I have always believed the essential difference between prose and poetry to be that prose can be translated into another tongue but poetry cannot. But if it is possible to be poetically influenced by work which one can read only in translation, this belief must be qualified.16 What, then, is it in Cavafy’s poems that survives translation and excites? Something I can only call, most inadequately, a tone of voice, a personal speech. I have read translations of Cavafy made by many different hands, but every one of them was immediately recognizable as a poem by Cavafy; nobody else could possibly have written it.17
Besonders interessant ist hierbei, dass es sich um Arbeiten verschiedener Übersetzer in unterschiedliche Sprachen (Französisch und Englisch) handelt, von denen erstere überdies eine Fremdsprache für Auden darstellt. Doch selbst diese doppelte Barriere hindert ihn nicht daran, die Eigenheit der Dichtung Cavafys in diesen verschiedensprachigen Fassungen klar ausmachen zu können, wenngleich es ihm nur bedingt gelingt, die Eigenheit präzise zu bezeichnen („a tone of voice, a personal speech“). Es ist evident, dass eine wortwörtliche Übersetzung gerade diesen ganz persönlichen Tonfall nicht wiederzugeben vermag. In diesem Sinne kommentiert 14 Nord, Christiane: Textanalyse und Übersetzen. Theoretische Grundlagen, Methode und didaktische Anwendung einer übersetzungsrelevanten Textanalyse, Heidelberg: Groos, 1991, S. 31. 15 Vgl. Robinson: Poetry & Translation, S. 1–5. 16 Auden, W. H.: C. P. Cavafy, in: ders.: Forewords and Afterwords, hg. v. Edward Mendelson, London: Faber & Faber, 1973, S. 333–344, hier S. 333 17 Auden: C. P. Cavafy, S. 335.
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Voltaire seine Version des Hamlet-Monologs, eine der ersten ‚Kostproben‘ Shakespeares für das französische Publikum: Ne croyez pas que j’aie rendu ici l’anglais mot pour mot ; malheur aux faiseurs de traductions littérales, qui en traduisant chaque parole énervent le sens ! C’est bien là qu’on peut dire que la lettre tue, et que l’esprit vivifie.18
Die Aussage bezüglich seiner eigenen Übersetzung erscheint aus heutiger Sicht als deutliche Untertreibung, denn Voltaire überträgt „To be, or not to be“ sehr frei, selbstverständlich in Alexandrinern, der einzigen für ihn möglichen Versform in einem Stück, das er, aller ‚Mängel‘ zum Trotz, für eine Tragödie hielt: Demeure, il faut choisir et passer à l’instant De la vie à la mort et de l’être au néant. Dieux cruels, s’il en est, éclairez mon courage. Faut-il vieillir courbé sous la main qui m’outrage, Supporter ou finir mon malheur et mon sort ? Qui suis-je ? qui m’arrête ? et qu’est-ce que la mort ?19
Gwenaëlle Boucher weist zu Recht daraufhin, dass die „Dieux cruels“, die grausamen Götter, sich in keiner Weise bei Shakespeare finden, sondern reinster Voltaire sind. Sie geht sogar soweit, vom ‚Hochverrat‘ zu sprechen: „il est clair que cette traduction prend ici des allures de haute trahison.“20 Um seine den Text entstellenden Freiheiten zu rechtfertigen, fügt Voltaire hinzu: mais il faut que le lecteur se ressouvienne toujours que ce sont ici des traductions libres de poètes anglais, et que la gêne de notre versification et les bienséances délicates de notre langue ne peuvent donner l’équivalent de la licence impétueuse du style anglais.21
Darin zeigt sich, dass dem Aufklärer durchaus bewusst war, dass es sich bei Übersetzungen um eine kulturelle Transfer-Leistung handelt, die den Eigenheiten der Zielkultur Rechnung tragen muss. Gleichzeitig wird deutlich, dass er – ungeachtet aller Hürden – von der Notwendigkeit der Übersetzung für die Vermittlung fremder Kulturen sowie für die Entwicklung der Kunst und des goût überzeugt war. Während sich für Voltaire die Frage nach der formalen Gestaltung der Verse nicht stellte oder bereits a priori beantwortet war, bilden Reime – neben anderen formalen Elementen – eine wesentliche Schwierigkeit bei der Übertragung von Lyrik, sodass sich an ihnen oftmals die Geister scheiden. Ein radikales Plädoyer für den Reim findet sich bei Efim Ėtkind: La poésie, c’est l’union du sens et des sons, des images et de la composition, du fond et de la forme. Si, en faisant passer le poème dans une autre langue, on ne conserve que le sens des 18 Voltaire: Lettres philosophiques, Brief 18, S. 122. 19 Voltaire: Lettres philosophiques, Brief 18, S. 122. 20 Boucher, Gwenaëlle: Poésie et traduction, in: Pascal, Jean-Noël (Hg.): Actes de la journée d’étude de la Société des Amis des Poètes Roucher & André Chénier organisée à Versailles le 25 novembre 2000 par Catriona Seth, Versailles 2002 (Cahiers Roucher – André Chénier 21/2002), S. 71–83, hier S. 74. 21 Voltaire: Lettres philosophiques, Brief 21, S. 136.
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Carolin Fischer mots et les images, si on laisse de côté les sons et la composition, il ne restera rien de ce poème. Absolument rien. Si un poème était une somme arithmétique d’idées et de sons, on pourrait, perdant une partie, conserver l’autre. Mais on n’a pas affaire à une somme, on a affaire à un organisme : si on perd une partie, on perd le tout. En croyant ne sacrifier que la forme, on exécute aussi le fond : un homme dont on a coupé la tête n’est pas simplement plus court d’une tête, il cesse d’exister.22
So überzeugend er einerseits seinen Standpunkt aus der Sache selbst begründet, so darf man andererseits unterstellen, dass sein kultureller Hintergrund nicht irrelevant ist. Ėtkind (1918–1999) war Russe, und der Reim ist in der russischen Lyrik in gleichem Maße selbstverständlich wie der Alexandriner in der klassischen französischen Tragödie – so selbstverständlich, dass selbst ungereimte Lyrik in der russischen Version oft gereimt ist. Während Ėtkind mit allem Nachdruck darauf hinweist, dass die verschiedenen Bestandteile eines Gedichts bei der Übertragung in eine andere Sprache Berücksichtigung finden müssen, und damit implizit philologisch genaue InterlinearÜbersetzungen als tot („un homme dont on a coupé la tête“) verdammt, gelingt La Harpe bereits knapp 200 Jahre zuvor eine überzeugende Beschreibung dessen, was eine gute Übersetzung im Idealfall („si le talent du traducteur est égal à celui de l’original“) ausmacht: En vers, du moins la traduction rend poésie pour poésie ; et si le talent du traducteur est égal à celui de l’original, l’idée qu’il en donnera à ses lecteurs pourra ne les pas tromper, parce qu’il remplacera l’harmonie par l’harmonie, les figures par les figures, les grâces poétiques par d’autres grâces poétiques, l’audacieuse énergie des expressions par d’autres hardiesses analogues au caractère de sa langue : c’est la même musique jouée sur un autre instrument.23
Mögen Begriffe wie „grâces poétiques“ wenig konkret sein, so wird dennoch deutlich, dass La Harpe hier am Ende des 18. Jahrhunderts bereits eine ziemlich genaue Vorstellung von dem hatte, was sehr viel später als ‚Wirkungsäquivalent‘ bezeichnet werden wird. Es geht ihm keineswegs um freie Nachdichtung, der „traducteur“ bleibt dem „original“ verpflichtet und soll eine möglichst genaue „idée“ von ihm vermitteln. Dies gelingt aber eben nicht mit einer platten Übertragung, sondern dank Analogien („hardiesses analogues“), wobei die Wiederholung von „d’autres“ sein Bewusstsein zum Ausdruck bringt, dass der Wechsel der Sprache eine Reihe anderer Veränderungen nach sich zieht. Wie schon Voltaire bedient sich La Harpe einer musikalischen Metapher, wenn er die Übersetzung von Lyrik abschließend mit der Transposition einer Melodie für ein anderes Instrument vergleicht. Obwohl es sich also um einen eindeutig anderen Klang handelt, wird damit der Wiedererkennungseffekt hervorgehoben, den auch Auden in Bezug auf Cavafy unterstreicht.
22 Ėtkind: Un art en crise, S. XI. 23 La Harpe, Jean-François de: Lycée, ou cours de littérature ancienne et moderne, Paris: Agasse, 1799, Bd. 1, S. 178.
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3. DER ÜBERSETZER ALS FÄHRMANN: LYRIKÜBERSETZUNG ALS KULTURTRANSFER In welchem Maße die sprachliche Transposition auch eine kulturelle ist, fasst ein Zeitgenosse La Harpes in deutliche Worte. Le Tourneur, dessen monumentaler Shakespeare, traduit de l’Anglois, dédié au Roi aus dem Jahre 1776 ein Meilenstein der französischen Shakespeare-Rezeption ist, schreibt in der Einleitung seiner Nuit d’Young: „Mon intention a été de tirer de l’Young Anglois, un Young François qui pût plaire à ma nation, et qu’on pût lire avec intérêt, sans songer s’il est original ou copie.“24 Die abschließende Formulierung steht im Kontrast zu Frosts Forderung nach der „lingering unhappiness in reading translations“. Im 18. Jahrhundert dominierte offensichtlich der Wunsch, fremde Autoren in Frankreich bekannt, wenn nicht sogar heimisch zu machen. Im Gegensatz dazu stehen die sprachskeptischen Theorien späterer Jahrhunderte, gerade auch in Folge von Walter Benjamins Aufsatz zur „Aufgabe des Übersetzers“, der eben bei seiner Tätigkeit vieles ‚aufgeben‘ müsse.25 Doch ging es Le Tourneur nicht um möglichst große Analogien oder gar Wirkungsäquivalenzen. „L’Young anglois“ dient ihm als Steinbruch, in dem er das Material für „un Young François“ findet. Sein Ziel ist ein Text, an dem seine Landsleute Gefallen finden, wobei er keinen Zweifel daran lässt, dass dazu wesentliche Veränderungen notwendig seien. Wenig später wird Madame de Staël genau dieser Position vehement widersprechen: Il ne faut pas, comme les Français, donner sa propre couleur à tout ce qu’on traduit ; quand même on devrait par là changer en or tout ce que l’on touche, il n’en résulterait pas moins que l’on ne pourrait pas s’en nourrir ; on n’y trouverait pas des aliments nouveaux pour sa pensée, et l’on reverrait toujours le même visage avec des parures à peine différentes.26
Damit steht sie zumindest partiell in der Tradition des von Marmontel verfassten Artikels „Traduction“ der Encyclopédie méthodique: [Certains] veulent retrouver dans la traduction, non seulement le caractère de l’écrivain original, mais le génie de sa langue, et s’il est permis de le dire, l’air du climat et le goût du terroir.27
Marmontel führt hier den Begriff „goût“ ins Feld, der auch für Voltaire und Le Tourneur die zentrale ästhetische Kategorie darstellt und folglich für ihre Vorstellung vom Übersetzen zentral ist: Die Übersetzung ist ihm in mindestens dem24 Le Tourneur, Pierre-Prime-Félicien: Discours préliminaire, in: Young, Edward: Les Nuits de Young, traduites de l’anglois par M. Le Tourneur, Paris: Lejay, 21769, Bd. I, S. i–lxxxvi, hier S. lxiii. 25 Benjamin, Walter: Die Aufgabe des Übersetzers, in: ders. Gesammelte Schriften, Bd. IV/1: Kleine Prosa. Baudelaire, hg. von Tillman Rexroth, Frankfurt/M. : Suhrkamp, 1972, S. 9–21. 26 Staël-Holstein, Germaine de: De l’esprit des traductions, in: dies.: Œuvres complètes, Paris: Firmin Didot, 1871, Bd. II, S. 294–297, hier S. 294, Sp. 2. 27 Encyclopédie méthodique ou par ordre de matières, par une société de gens de lettres, de savants et d’artistes, Bd. 3: Grammaire et Littérature, Paris: Panckoucke, 1786, S. 549, Sp. 1.
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selben Maße verpflichtet wie dem Original, wodurch die Dimension des Kulturtransfers hervorgehoben, aber – zumindest auf theoretischer Ebene – auf den Bereich der Sprache, des Stils und eben des ‚Geschmacks‘ beschränkt bleibt. Zum einen geht es nicht mehr allein darum, nur einzelne dramatische Effekte zu übertragen, wie Voltaire dies in seinen Dramen durch Rückgriffe auf Shakespeare versuchte. Dort, wo die Übersetzung zu einer ‚Bereicherung‘ der eigenen (National-) Literatur beitragen soll, wie es beispielsweise Madame de Staël erhofft, ist es selbstverständlich erforderlich, „l’air du climat et le goût du terroir“ möglichst unverändert in den neuen Kontext zu transportieren. Nun ist aber für die Übersetzung von Lyrik, wie für jede andere auch, oftmals ein doppelter Kulturtransfer erforderlich: einerseits der – nicht allein an die Sprache gebundene – räumliche, andererseits oftmals auch ein, der Epoche geschuldeter, zeitlicher. Diese Doppelung findet sich explizit am Ende der folgenden Äußerung Robert Lowells: Boris Pasternak has said that the usual reliable translator gets the literal meaning but misses the tone, and that in poetry tone is of course everything. I have been reckless with literal meaning, and laboured hard to get the tone. Most often that has been a tone, for the tone is something that will always more or less escape transference to another language and cultural moment. I have tried to write live English and to do what my authors might have done if they were writing their poems now [1961] and in America.28
Dieser Dichter ist sich als Übersetzer sehr wohl bewusst, dass der wesentliche Unterschied zwischen Original und Übersetzung gerade darin besteht, dass ersteres einzigartig, einmalig ist, wohingegen die Übersetzung oftmals nur eine von vielen und schnell überholt ist. Gleichzeitig beschränkt er seine Reflexion durchaus nicht auf das rein sprachliche Problem („to write live English“), sondern bezieht den kompletten historisch-kulturellen Kontext mit ein. Das Pendant zu dieser Position findet sich in folgendem Diskussionsbeitrag Claude Vigées: Que je traduise Rilke, Eliot, Goll, David Rokeah, D. Seter ou divers autres poètes étrangers, je pars toujours dans la lecture à haute voix, ensuite répétée en sourdine. Marmonnant les strophes d’un poème, je me laisse porter par le flux montant et décroissant des vocables originaux, vite remplacés par ceux que je leur substitue expérimentalement en français. Je réponds au rythme des vers comme un nageur qui fait imprudemment la planche sur les profondeurs houleuses de l’océan, sans se soucier d’autre chose que de cette dérive temporelle merveilleuse. Ainsi je réussis à capter le poème venu d’ailleurs et d’autrefois.29
Eine wesentliche Aufgabe des Lyrik-Übersetzers besteht nämlich neben allen Auseinandersetzungen mit Reim, Rhythmus, Klang, Metaphorik etc. genau darin, „le poème venu d’ailleurs et d’autrefois“ in ein sprachlich-kulturelles hic et nunc zu transponieren.
28 Lowell, Robert: Introduction, in: ders.: Imitations, New York: Farrar, Straus, and Giroux, 1961, S. xi–xiii, hier S. xi (Hervorhebungen von mir, C. F.) 29 Claude Vigée in: Traduire la poésie. Assises de la traduction littéraire, Arles 1991, Paris: Atlas/Arles: Actes Sud, 1992, S. 34 f.
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Überdies gilt zweifellos, was Peter Robinson schreibt: „The impact of a translation requires, and derives from, such combinations of the unexpectedly surprising and the fairly familiar.“30 Hier sind wir nicht weit vom jaußschen Erwartungshorizont entfernt, gleichzeitig ist die Formulierung, dass Übersetzungen eine Mischung aus Unerwartetem, Fremdem und halbwegs Vertrautem sind, zu vage, um auf ihr Axiome für die Praxis der Lyrikübersetzung aufbauen oder gar Theorien entwickeln zu können. Deshalb abschließend ein Blick auf die konkrete Praxis der Lyrikübersetzung, bei dem es nicht primär um die Gretchenfrage ‚Reim oder nicht Reim‘ geht.31 Vielmehr möchte ich die Aufmerksamkeit auf zwei Punkte richten, die m. E. bislang wenig beachtet wurden: – –
die semantische Ebene32 die kulturspezifischen Gattungsausprägungen
Gerade in Deutschland und hier in der deutschen Germanistik hat das Erbe des Idealismus wesentlich auf die Definition dessen, was Lyrik ist und wie man sie folglich analysiert, Einfluss genommen. Dies hat zu der problematischen Diskussion um das sogenannte ‚lyrische Ich‘ geführt, aber auch zu so fragwürdigen Behauptungen wie derjenigen, dass Gedichte keine ‚Handlung‘ hätten.33 In der Folge wurden eindeutig ‚erzählende‘ Gedichte wie Balladen nicht mehr als Lyrik (oder bestenfalls als „Sonderformen“) betrachtet.34 In modernerer Terminologie wird der Poesie weniger das Epische als die Fiktionalität – zumindest partiell – abgesprochen. Ob Lyrik überhaupt „als fiktionale Literatur anzusehen ist, ist in der Forschung strittig“35. Dies verstärkt den Effekt, dass die spezifischen Probleme der Lyrikübersetzung (wie die poetische Funktion, die klangliche Dimension oder die Vorrangstellung der Signifikanten-Ebene, wobei diese drei Faktoren weitgehend Schnittmengen bilden) die semantische Ebene des poetischen Textes in den Hintergrund 30 Robinson: Poetry & Translation, S. 6. 31 Vgl. hierzu: Fischer, Carolin: Traduire la rime? En guise d’introduction, in: dies/Nickel, Béatrice (Hg.): Lyrik-Übersetzung zwischen imitatio und poetischem Transfer: Sprachen, Räume, Medien/La Traduction de la poésie entre imitatio et transfert poétique: langues, espaces, médias, Stuttgart: Stauffenburg, 2012 (Stauffenburg-Colloquium 75), S. 7–18. 32 Auch hierin könnte man einen Auswirkung von Benjamins berühmten Aufsatz sehen: „Was ‚sagt‘ denn eine Dichtung? Was teilt sie mit? Sehr wenig dem, der sie versteht. Ihr Wesentliches ist nicht Mitteilung, nicht Aussage. Dennoch könnte diejenige Übersetzung, welche vermitteln will, nichts vermitteln als die Mitteilung – also Unwesentliches. Das ist denn auch ein Erkennungszeichen der schlechten Übersetzungen.“ Benjamin: Die Aufgabe des Übersetzers, S. 9. 33 Vgl. Hamburger, Käte: Die Logik der Dichtung, Stuttgart: Klett-Cotta, 41994, S. 187, sowie Schlaffer, Heinz: Die Aneignung von Gedichten. Grammatisches, rhetorisches und pragmatisches Ich in der Lyrik, in: Poetica 27 (1995), S. 38–57, hier S. 54 f. 34 Vgl. Hamburger: Die Logik der Dichtung, S. 233 ff. 35 Burdorf, Dieter: Einführung in die Gedichtanalyse, Stuttgart, Weimar: Metzler, 21997, S. 166. Dort und auf der folgenden Seite findet sich auch ein Überblick über diese Debatte.
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zumindest der Überlegungen drängen, also gerade die Ebene, die grundsätzlich im Vordergrund und Zentrum aller Übersetzungstätigkeit steht. Verschiedene deutsche Fassungen von Baudelaires „Parfum exotique“ belegen dies aufs Deutlichste. Über Geschmack lässt sich da trefflich streiten, doch es zeigt sich, dass auch in der Lyrik der traduttore zum traditore wird, wenn er Isotopien, Metaphern und andere semantische Einheiten ‚verrät‘. Im folgenden sind die beiden ersten Verse aus sechs deutschen Fassungen,36 die jeweils die Form des Sonetts respektieren, aufgelistet: Quand, les deux yeux fermés, en un soir chaud d’automne, Je respire l’odeur de ton sein chaleureux,37 Laß mich in heißer Nacht die Augen schließen Und atmen deines warmen Busens Duft, (Erich Meyer, 1898) Wenn sich mein auge schliesst am sommerabend Und deines heissen busens duft mich lezt (Stefan George, 1901) Enthaucht im Herbsttag mir, der müd sein Aug’ geschlossen, Dein Busen warmen Duft, so fühl ich mich entrafft (Wolf v. Kalckreuth, 1907) Wenn es dunkelt, sitzen wir und schweigen, Und ich lehne mich an deine Brüste; (Adolf Schirmer, 1919) Wenn ich geschlossenen Augs in lauer Nacht Im Dufte deines warmen Busens bade, (Monika Fahrenbach-Wachendorff, 1980) Wenn ich geschlossenen Augs in lauer Nacht Den Duft einatme Deiner warmen Brüste, (Monika Fahrenbach-Wachendorff, 2011)
36 Die Unterstreichungen in den Zitaten sind von mir, C. F. Baudelaire, Charles: Ohne Titel, in: Meyer, Erich: Die Entwicklung der französischen Literatur seit 1830, Gotha: Friedrich Andreas Perthes, 1898; ders.: Fremdländischer Duft, in: ders.: Die Blumen des Bösen, deutsch v. Stefan George, Berlin: G. Bondi, 1901; ders.: Fremdländischer Duft, in: ders.: Blumen des Bösen, deutsch v. Wolf v. Kalckreuth, Leipzig: Insel, 1907; ders.: Duft der Palmenländer, übersetzt v. Adolf Schirmer, in: Jugend: Münchner illustrierte Wochenschrift für Kunst und Leben 15/23 (1910), S. 486; ders.: Exotischer Duft, in: ders.: Les Fleurs du mal/Die Blumen des Bösen, übers. v. Monika Fahrenbach-Wachendorf, Stuttgart: Reclam, 1980; ders.: Exotischer Duft, in: ders.: Les Fleurs du mal/Die Blumen des Bösen, übers. v. Monika FahrenbachWachendorf, Stuttgart: Reclam, 2011. 37 Baudelaire, Charles: Œuvres complètes, hg. v. Claude Pichois, Bd. 1, Paris: Gallimard, 1975 (Bibliothèque de la Pléiade), S. 25 f.
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Wenn wir uns auf den Zeitpunkt des Geschehens konzentrieren, stellen wir fest, dass Kalkreuth den Abend zum Tage macht, wohingegen er bei Erich Meyer zur ‚heißen‘ und bei Monika Fahrenbach-Wachendorff zur ‚lauen‘ Nacht mutiert, wobei nicht vom Herbst die Rede ist, genauso wenig wie bei Adolf Schirmer, wo es schlicht „dunkelt“. Vermutlich sind die meisten dieser Veränderungen Konzessionen an das Vers- und Reimschema, was auch für George zutrifft, der die Wärme oder gar Hitze (im Französischen ist die Unterscheidung bekanntlich weniger klar als im Deutschen) eines Herbstabends auf den Terminus „sommerabend“ kontrahiert. Damit ist die evozierte Stimmung gleich zu Beginn sämtlicher Übersetzungen allein ob der Tages- oder Jahreszeiten-Angabe und der meteorologischen Präzisierung eine gänzlich andere als im Original, ganz zu schweigen davon, dass die Bezüge zu anderen Gedichten der Fleurs du Mal, vor allem zu dem „glorieux automne“ in Chant d’automne, verloren gehen. Dass ältere Übersetzungen nicht unbedingt schlechter oder ‚altertümlicher‘ sind, zeigt die erste deutsche Fassung des Gedichts von Erich Meyer. Wenn wir indes die beiden Versionen Fahrenbach-Wachendorffs vergleichen, so ist man versucht, der neueren den Vorzug zu geben, gerade so, als ob in ihr ein veralteter Sprachstand ‚modernisiert‘ worden wäre. Doch ist es vermutlich gewagt, das „Im Dufte deines warmen Busens bade“ für eine typische Formulierung der Zeit zu halten und im prosaischeren, aber wohl gelungeneren „Den Duft einatme Deiner warmen Brüste“ den Ausdruck des 21. Jahrhunderts erkennen zu wollen. Trotz evidenter semantischer Abweichungen haben sämtliche der hier zitierten Übersetzer/-innen sich an die Form des Sonetts gehalten, was für fast alle deutschsprachigen Fassungen der Fleurs du Mal gilt, sofern es sich nicht primär um Verständnishilfen in zweisprachigen Ausgaben handelt. So stand es auch für Georg Holzer außer Frage, dass die erste deutsche Übertragung der Amours Ronsards der Form des Originals grundsätzlich entsprechen musste. Das Gedicht als solches, in der Regel ein Sonett, stellt dabei kein Problem dar, wohl aber das Versmaß des Alexandriners im Second Livres des Amours. Der Alexandriner aber ist im Deutschen schon seit Jahrhunderten ein Problem. Deutsche Alexandriner sind schwerfällig und ohne Charme, ein Vers, der sich nach anfänglichen Versuchen im Barock aus guten Gründen nicht durchsetzen konnte. Ich habe also beschlossen, den sechshebigen Alexandriner in fünfhebige deutsche Jamben zu übersetzen.38
Dieses Zitat belegt, dass für Holzer das Wirkungsäquivalent im Vordergrund steht, und dies keineswegs nur auf formaler Ebene. Gerade in dieser Sammlung will Ronsard den Leser „verblüffen“39, was in Versen der Elegie à son Livre zum Ausdruck kommt, mit der das poetische Ich Petrarcas Liebe zu Laura kommentiert: „Ou bien il jouissait de sa Laurette, ou bien/ Il était un grand fat d’aimer sans
38 Holzer, Georg: Warum Lyrik übersetzen?, in: Fischer/Nickel (Hg.): Lyrik-Übersetzung, S. 33–41, hier S. 36. 39 Holzer: Warum Lyrik übersetzen?, S. 36.
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avoir rien.“40 Die extreme Respektlosigkeit war für die Zeitgenossen vermutlich schockierend, zumindest aber, dem heiteren Ton des Einleitungsgedichtes zum Trotz, überraschend. Um einen vergleichbaren Effekt auf die deutschsprachige Leserschaft des 21. Jahrhunderts auszuüben, optiert Georg Holzer für folgende Formulierung: „Entweder kriegt’ er seine Laura rum,/ Oder er kriegte nichts – dann war er dumm.“41 Er nimmt sich hier nicht unerhebliche Freiheiten, doch zeigt bereits dieses bescheidene Beispiel, dass jede Lyrik-Übersetzung die poetischen Traditionen der Epoche und des Kulturkreises genau kennen muss, um sowohl auf formaler als auch auf inhaltlicher Ebene ein angemessenes Äquivalent produzieren zu können, das auf jeden Fall auch einen Akt des Kulturtransfers darstellt. LITERATURVERZEICHNIS Appel, Mirjam: Lyrikübersetzen. Übersetzungswissenschaftliche und sprachwissenschaftliche Grundlagen für ein Rahmenmodell zur Übersetzungskritik, Frankfurt/M. [u. a.]: Lang, 2004 (TransÜD 4). Auden, W. H.: C. P. Cavafy, in: ders.: Forewords and Afterwords, hg. v. Edward Mendelson, London: Faber & Faber, 1973, S. 333–344. Baudelaire, Charles: Œuvres complètes, hg. v. Claude Pichois, Bd. 1, Paris: Gallimard, 1975 (Bibliothèque de la Pléiade). Baudelaire, Charles: Duft der Palmenländer, übers. v. Adolf Schirmer, in: Jugend: Münchner illustrierte Wochenschrift für Kunst und Leben 15/23 (1910), S. 486. Baudelaire, Charles: Exotischer Duft, in: ders.: Les Fleurs du mal/Die Blumen des Bösen, übers. v. Monika Fahrenbach-Wachendorf, Stuttgart: Reclam, 1980. Baudelaire, Charles: Exotischer Duft, in: ders.: Les Fleurs du mal/Die Blumen des Bösen, übers. v. Monika Fahrenbach-Wachendorf, Stuttgart: Reclam, 2011. Baudelaire, Charles: Fremdländischer Duft, in: ders.: Die Blumen des Bösen, deutsch v. Stefan George, Berlin: G. Bondi, 1901. Baudelaire, Charles: Fremdländischer Duft, in: ders.: Blumen des Bösen, deutsch v. Wolf v. Kalckreuth, Leipzig: Insel, 1907. Baudelaire, Charles: Ohne Titel, in: Meyer, Erich: Die Entwicklung der französischen Literatur seit 1830, Gotha: Friedrich Andreas Perthes, 1898. Benjamin, Walter: Die Aufgabe des Übersetzers, in: ders. Gesammelte Schriften, Bd. IV/1: Kleine Prosa. Baudelaire, hg. von Tillman Rexroth, Frankfurt/M. : Suhrkamp, 1972, S. 9–21. Benn, Gottfried: Probleme der Lyrik [1951], in: ders.: Gesammelte Werke in acht Bänden, hg. v. Dieter Wellershoff, Bd. 4: Reden und Vorträge, Wiesbaden: Limes, 1968, S. 1058–1096. Boucher, Gwenaëlle: Poésie et traduction, in: Pascal, Jean-Noël (Hg.): Actes de la journée d’étude de la Société des Amis des Poètes Roucher & André Chénier organisée à Versailles le 25 novembre 2000 par Catriona Seth, Versailles 2002 (Cahiers Roucher – André Chénier 21/2002), S. 71–83. Burdorf, Dieter: Einführung in die Gedichtanalyse, Stuttgart, Weimar: Metzler, 21997.
40 Ronsard, Pierre de: Le Second Livre des Amours/Amoren für Marie. Das zweite Buch der Amoren mit den Sonetten und Madrigalen für Astrée, französisch – deutsch, deutsch v. Georg Holzer, Kommentar und Nachwort v. Carolin Fischer, Berlin: Elfenbein, 2010, S. 8. 41 Ronsard: Le Second Livre des Amours, S. 9.
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TRAFIC ‘FRONTALIER’ ET TRADUCTION LITTERAIRE Nouvelles perspectives sur le transfert culturel et linguistique à l’exemple de Zazie dans le métro de Raymond Queneau Perrine Häfner Tel un moyen de transport qui permettrait de circuler d’une culture à l’autre, la traduction littéraire suppose non seulement un transfert linguistique mais aussi un transfert culturel.1 Or le trajet entre les cultures n’est jamais direct. Les tours et détours obligatoires entraînent un glissement de sens et une perte inévitable de mots et d’éléments qui restent sur la chaussée. Mais au-delà de la perte qu’elle engendre nécessairement, la traduction littéraire peut-elle constituer une forme d’enrichissement pour le texte d’origine ? C’est par le rapprochement de la traduction littéraire avec l’écriture sous contrainte que pratiquent les Oulipiens que je me proposerai de répondre à cette question. Dans un premier temps il sera question de la traduction littéraire en général, pour ensuite discuter les points communs entre la traduction littéraire et la pratique oulipienne de production de texte, sous le prisme de la question des pertes et des gains. Enfin, à travers la thématique du passage et du mouvement omniprésente dans le roman Zazie dans le métro de Raymond Queneau et la lecture d’un passage clé de celui-ci, nous verrons en quoi ce roman peut se lire comme métaphore du problème théorique de la traduction littéraire. 1. LA TRADUCTION LITTERAIRE COMME UN DEFI Condamné à traduire depuis la catastrophe de Babel, l’homme expérimente au quotidien le ‘brouillage de la communication’ dû à la diversité des langues. Dès lors, la traduction, seul moyen de contourner le châtiment divin, apparaît comme un défi.2 ‘Tu gagneras ton pain à la sueur de ton front’, ‘tu souffriras pour mettre au monde tes enfants’ et – tel pourrait être une sentence divine supplémentaire – ‘éternellement tu traduiras pour te faire entendre’. Aussi l’acte de traduire s’ac1 2
Voir la notion de translatio studii, concept clé du Moyen Age qui voit dans la traduction un transfert du savoir. Cf. Oustinoff, Michaël : Les ‘Translation Studies’ et le tournant traductologique, in : Hermès 49 (2007), p. 21–26, ici p. 22. François Ost donne un bel aperçu sur la traduction comme conséquence de la chute de Babel. Cf. Ost, François : Les détours de Babel. La traduction comme paradigme politique, ds. : Sueur, Jean-Jacques (dir.) : Interpréter et traduire. Actes du Colloque international des 25 et 26 novembre 2005, Bruxelles : Bruylant, 2007, p. 13–45.
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compagne-t-il nécessairement d’un sentiment de « résistance… »3 : « opération risquée », « épreuve », « drame »,4 nombreuses sont les expressions qui caractérisent cette entreprise dans les manuels de traductologie. Le traducteur en quête d’une bonne traduction doit faire face à l’angoisse qui l’empêche de commencer, puis il s’adonne à une lutte avec le texte pour enfin s’abîmer dans un sentiment d’insatisfaction à l’égard du travail terminé.5 Si l’on observe la définition du verbe ‘traduire’, le dilemme du traducteur apparaît clairement : « Faire que ce qui était énoncé dans une langue le soit dans une autre, en tendant à l’équivalence de sens et de valeur des deux énoncés »6. « [é]quivalence de sens » comme s’il existait un tiers texte entre le texte source et le texte d’arrivée, un tiers texte qui contiendrait l’essence de l’écrit, c’est-à-dire un sens identique présent dans chacune des versions.7 Equivalence de sens comme s’il existait une langue ‘parfaite’ ou langue ‘pure’ – pour reprendre les termes de Walter Benjamin8 – sorte d’« horizon messianique de l’acte de traduire », une langue vers laquelle convergent tous les idiomes « lorsqu’ ils sont portés au sommet de la créativité poétique ».9 C’est précisément de cette équivalence absolue, du tiers texte et de la langue ‘pure’ – fantôme de la langue universelle adamique ou d’un désir effréné de mondialisation – que le traducteur doit faire le deuil pour « trouver son bonheur » dans ce que Paul Ricœur appelle « l’hospitalité langagière ».10 La non-congruence des langues est un fait. Il n’existe pas de sens unique qu’il suffirait ensuite de ‘faire passer’ d’une langue à l’autre même si le verbe latin traducere le laisse entendre. En terme de mouvement, cela signifie qu’il n’y pas de transfert direct entre les langues et les cultures : les tours et détours sont au programme, le voyage s’annonce chargé et le trafic frontalier dense.
Antoine Berman parle du « … statut refoulé de la traduction et de l’ensemble des ‘résistances’ dont il témoigne », Berman, Antoine : L’Epreuve de l’étranger. Culture et traduction dans l’Allemagne romantique, Paris : Gallimard, 1984, p. 16. 4 « … la pratique de la traduction reste une opération risquée toujours en quête de sa théorie » (je souligne), Ricœur, Paul : Sur la traduction, Paris : Bayard, 2004, p. 26. « Le risque dont se paie le désir de traduire, et qui fait de la rencontre de l’étranger dans sa langue une épreuve, est insurmontable » (je souligne), Ricœur : Sur la traduction, p. 39–40. « Des plages d’intraduisibilité sont parsemées dans le texte qui font de la traduction un drame et du souhait de bonne traduction un pari » (je souligne), Ricœur : Sur la traduction, p. 11. 5 Cf. Ricœur : Sur la traduction, p. 15. 6 Traduire, ds. : Trésor de la Langue Française informatisé (http://www.cnrtl.fr/definition/) (04/01/2012). 7 Cf. Ricœur : Sur la traduction, p. 39–40. 8 Cf. Benjamin, Walter : Die Aufgabe des Übersetzers, ds. : Gesammelte Schriften, Bd. 10 : Kleine Prosa, Baudelaire-Übertragungen 4,1, Frankfurt/M. : Suhrkamp, 1980, p. 9–21. 9 Ricœur : Sur la traduction, p. 30. 10 Ricœur : Sur la traduction, p. 19. 3
Trafic ‘frontalier’ et traduction littéraire
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2. TRADUCTION ET OULIPO Or, dès lors que la traduction est abordée sous un autre angle, notamment celui de l’écriture sous contrainte, les difficultés semblent s’éclaircir. Car dans la pensée oulipienne, la difficulté première, les ralentissements et le resserrement de la voie sont voulus. L’écriture sous contrainte est l’activité de base de l’Oulipo, l’Ouvroir de Littérature potentielle anciennement Séminaire de Littérature Expérimentale. L’Oulipo n’est pas un mouvement littéraire mais un atelier de poètes et de mathématiciens fondé en 1960 par François Le Lionnais et Raymond Queneau. Qu’est-ce que la littérature potentielle ? […] Quel est le but de nos travaux ? Proposer aux écrivains de nouvelles « structures », de nature mathématique ou bien encore inventer de nouveaux procédés artificiels ou mécaniques, contribuant à l’activité littéraire : des soutiens de l’inspiration pour ainsi dire, ou bien encore, en quelque sorte, une aide à la créativité.11
Ces nouvelles structures sont appelées contraintes selon un vocabulaire que les Oulipiens ont emprunté à l’ancienne prosodie qui demandait aux poètes de se soumettre, selon l’expression classique, « aux contraintes du mètre et de la rime »12. Elles sont des restrictions consenties qui servent de support à la pensée et proposent des « moules nouveaux pour l’ inspiration des écrivains »13. Les contraintes sont on ne peut plus diverses, comme des recettes de cuisine, qui dépendent toujours de la créativité de celui qui les a imaginées. « S + 7 », par exemple, est une recette typiquement oulipienne dont le principe est le suivant : « extraire d’un texte donné tous les substantifs et les remplacer successivement par le 7e nom commun qui les suit dans un dictionnaire choisi »14. Les résultats sont surprenants, et d’autant plus troublants que le nouveau sens ainsi formé s’éloigne de celui du texte d’origine. En canalisant l’inspiration, ces nouvelles règles de composition poétique permettent d’une part de créer des œuvres nouvelles, et d’autre part de dégager les potentialités d’œuvres existantes. Ceci étant dit, les rapprochements entre la traduction littéraire et l’Oulipo se font presque automatiquement, notamment par une terminologie qui leur est commune, comme le constate Isabelle Collombat : parler de ‘contrainte’ ou de ‘servitude’ est monnaie courante en traduction ; quant au mot ‘traduction’, il apparaît de façon récurrente dans la terminologie oulipienne.15 En traduction, les contraintes sont multiples : il existe des contraintes dites « discursives » imposées au scripteur (servitudes linguistiques de la langue cible, grammaire et vocabulaire)
11 Queneau, Raymond : Bâtons, chiffres et lettres, Paris : Gallimard, 1965, p. 11. 12 Voir la définition de la contrainte chez Baetens, Jan/Schiavetta, Bernardo : Définir la contrainte ?, ds. : Le Goût de la forme en littérature. Ecritures et lectures à contraintes, Colloque de Cerisy, Noésis : Paris, 2004, p. 344–347. 13 Fournel, Paul : Clefs pour la littérature potentielle, Paris : Lettres Nouvelles, 1972, p. 24. 14 Fournel : Clefs pour la littérature potentielle, p. 47. 15 Cf. Collombat, Isabelle : L’Oulipo du traducteur, ds. : Semen 19 (2005), p. 1–15, ici p. 2.
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et des contraintes d’écriture qui représentent des « choix volontairement consentis »16. Autre similitude entre la traduction et la littérature oulipienne : toutes deux partent d’un texte préexistant et le transposent. Il s’agit donc de modes de transformation textuels, d’exercices de réécriture qui ne débutent pas par le baiser des muses mais par une contrainte, une combinaison de contraintes ou un texte donné. Si l’on en croit Gérard Genette, la différence entre la pratique de production de texte oulipienne et la traduction résiderait dans la fonction de la métamorphose textuelle : fonction ludique (avatar moderne de la parodie) pour la transformation de texte oulipienne, transformation sérieuse (ou transposition) pour la traduction.17 Raymond Queneau, Georges Perec, Jacques Roubaud, Jean Queval, Italo Calvino, est-ce parce que ces formes d’écriture sont à plusieurs égards interchangeables que l’on trouve autant de traducteurs dans les rangs de l’Oulipo ? Considérer la traduction littéraire comme une écriture sous contrainte, donc comme un jeu oulipien, c’est quitter l’obsession d’une perte de sens inévitable pour découvrir le possible de la traduction. 3. LA POTENTIALISATION DE LA LANGUE Qu’en est-il de la ‘potentialisation’, notion annoncée par le sigle Oulipo ? L’idée de potentialisation est centrale chez les Oulipiens car elle est la motivation première de leur activité littéraire. Alchimistes des temps modernes, les Oulipiens cherchent à fabriquer de la LIPO, une littérature potentielle et pluripotente, « susceptible… de se développer à partir d’elle…-même… et au-delà d’elle…même… »18 comme il est dit dans un texte-manifeste. De la littérature potentielle et exponentielle, « en quantité illimitée, potentiellement productible jusqu’à la fin des temps, en quantités énormes, infinies pour toutes fins pratiques »19. Or la notion de potentialisation existe également en traduction, où elle se réfère au tournant traductologique de l’Allemagne romantique. Si la traduction avait jusque là tendance à être considérée comme déficiente par rapport à l’original où « défective »20, les Romantiques allemands contribuèrent à l’aborder 16 Collombat : L’Oulipo du traducteur, p. 5. Elle s’appuie sur Reggiani, Christelle : Contrainte et littérarité, ds. : Formules 4 (2000), p. 10–19. 17 Cf. Genette, Gérard : Palimpsestes. La littérature au second degré, Paris : Seuil, 1982, p. 58 et 291. 18 « Ainsi aux temps des créations CREEES qui furent ceux des œuvres littéraires que nous connaissons, devrait succéder l’ère des créations CREANTES, susceptibles de se développer à partir d’elles-mêmes et au-delà d’elles-mêmes, d’une manière à la fois prévisible et inépuisablement imprévue », OULIPO : La Littérature potentielle : créations, re-créations, récréations, [Paris] : Gallimard, 1973, p. 42. 19 Roubaud, Jacques/Bénabou, Marcel : Qu’est-ce que l’Oulipo ? http://www.oulipo.net/oulipiens/O (22/05/2013). 20 Cf. Berman, Antoine : Pour une critique des traductions : John Donne, Paris : Gallimard, 1995, p. 57.
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positivement, du point de vue de sa fonction transformatrice.21 Selon Novalis « romantiser n’est rien d’autre qu’une potentialisation qual[itative] »22. Plus qu’une simple reproduction de l’original, la pratique de la traduction devient alors une production à part entière, ce qui change radicalement le statut de l’original. Le texte original n’est désormais plus l’unique dépositaire de l’œuvre, mais simplement une version que chaque traduction vient ‘potentialiser’ à son tour. Pour parler avec Berman : « … quelque chose de l’original apparaît qui n’apparaissait pas dans la langue de départ. La traduction fait pivoter l’œuvre, révèle d’elle un autre versant ».23 La traduction est donc certes une répétition de l’original, mais surtout une réécriture ‘potentialisante’ au sens où Gilles Deleuze dit que répéter ce n’est « pas ajouter une seconde et une troisième fois à la première, mais porter la première fois à la ‘nième’ puissance ».24 La traduction formule ainsi une variante de l’original, l’une des formes que ce texte prend au cours de son existence.25 Dans le processus de la traduction, la langue se manifeste en tant qu’energeia au sens aristotélien, c’est à dire comme une force dynamique qui se renouvelle sans cesse. Pour parler avec Humboldt, c’est précisément à travers la langue, qui n’est pas un ouvrage (Werk) mais une activité (Tätigkeit), que s’exprime une vision du monde (Weltansicht) propre à chaque culture.26 4. ZAZIE DANS LE METRO Pour évaluer la dimension potentialisante de la traduction littéraire, un texte oulipien semble s’imposer de lui-même : Zazie dans le métro du co-fondateur de l’Oulipo, Raymond Queneau. 21 D’abord tombée dans l’oubli au profit d’une conception ‘cibliste’ de la traduction tournée entièrement vers la langue cible (voir les propos de Norman Shapiro dans Kratz, Dennis : An Interview with Norman Shapiro, ds. : Translation Review 19 (1986), p. 27–28, ici p. 27), cette orientation est reprise un siècle plus tard par les translation studies qui ont su élargir le champ d’action à d’autres disciplines. Sur le tournant traductologique allemand voir Berman : L’Epreuve de l’étranger, et Oustinoff : Les ‘Translation Studies’ et le tournant traductologique, p. 21–26. 22 Novalis : Le Monde doit être romantisé, trad. par Olivier Schefer, Paris : Allia, 2002, p. 46. « Romantisieren ist nichts anderes als eine qualit[ative] Potenzierung », Novalis : Werke, Tagebücher und Briefe Friedrich von Hardenbergs, dir. par Hans-Joachim Mähl/Richard Samuel, t. II, Darmstadt : Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 1999, p. 334. 23 Berman : L’Epreuve de l’étranger, p. 20. 24 Deleuze, Gilles : Différence et répétition, Paris : PUF, 1968, p. 9. 25 Dans son article « Die Aufgabe des Übersetzers », Walter Benjamin souligne : « Übersetzung ist eine Form. Sie als solche zu erfassen, gilt es zurückzugehen auf das Original. Denn in ihm liegt deren Gesetz als in dessen Übersetzbarkeit beschlossen », Benjamin : Die Aufgabe des Übersetzers, p. 9. 26 « Sie die Sprache selbst ist kein Werk (Ergon), sondern eine Thätigkeit (Energeia) », Humboldt, Wilhelm von : Über die Verschiedenheit des menschlichen Sprachbaues. Über die Sprache, Wiesbaden : Fourier Verlag, 2003, p. 315.
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D’une part, parce que l’original peut être lu comme une métaphore du problème théorique de la traduction aussi bien au niveau linguistique qu’au niveau narratologique. Et d’autre part, parce que la traduction de ce roman en langue allemande permet de mesurer le pouvoir potentialisant du processus de la traduction littéraire. L’intrigue du roman est simple. Venue à Paris pour passer une journée sous la garde de son oncle Gabriel, Zazie n’a qu’une idée en tête : découvrir le métro. Mais la grève en cours en décide autrement. Tantôt seule, tantôt accompagnée, Zazie se lance alors dans une grande aventure à travers la ville et la vie, décidée de percer le mystère de l’« hormosessualité »27 (homosexualité). Pour l’accompagner, un cortège de personnages, tous plus grotesques les uns que les autres. Vingt-quatre heures plus tard la folle aventure s’achève sur le quai de la gare, rendant à sa mère une Zazie fatiguée et persuadée d’avoir vieilli. Si le roman fait souvent l’objet d’une approche linguistique,28 c’est parce que Queneau y réalise son néo-français, cette nouvelle langue vivante basée sur le français parlé qui vient bousculer le français écrit. Mais dans le Paris de Queneau, la diversité des registres et des langues s’étend au-delà du territoire français, notamment par l’intermédiaire du guide touristique et de ses voyageurs « xénophones » (Z 98) selon les termes de Queneau. Aux pieds de la Tour Eiffel, Tour de Babel moderne,29 la confusion des langues est à son comble : – Male bonas horas collocamus si non dicis isti puellae the reason why this man Charles went away intervient un voyageur désireux de mettre un terme à la discussion entre Zazie et Gabriel. – Mon petit vieux, lui répondit Gabriel, mêle-toi de tes cipolles. She knows why and she bothers me quite a lot. – Oh ! mais, s’écria Zazie, voilà maintenant que tu sais parler les langues forestières. … C’est alors que Fédor Balanovitch fit son apparition. – Allons grouillons ! Qu’il se mit à gueuler. Schnell ! Schnell ! remontons dans le car et que ça saute. – Where are we going now ? – A la Sainte-Chapelle, répondit Fédor Balanovitch. Un joyau de l’art gothique. Allons grouillons ! Schnell ! Schnell ! (Z 95/96)
27 Queneau, Raymond : Zazie dans le métro, Paris : Gallimard, [1959] 2003, p. 89. Les citations extraites de la version originale de Zazie seront marquées par la suite par l’agrégé « Z » suivi du numéro de la page. 28 Cf. Barthes, Roland : Zazie et la littérature, ds. : Essais Critiques, Paris : Editions du Seuil, 1964, p. 125–130 ; Langenbacher, Jutta : Das ‘néo-français’. Sprachkonzeption und kritische Auseinandersetzung Raymond Queneaus mit dem Französischen der Gegenwart, Frankfurt/M. : Lang, 1981, ou Armstrong, Marie-Sophie : ‘Zazie dans le métro’ and Neo-French, ds. : Modern Language Studies 22/3 (1992), p. 4–16. 29 Au temps de la construction de la Tour Eiffel en 1887, de nombreux artistes parisiens s’opposent à ce projet et la baptisent du nom de « Tour de Babel ». Cf. la lettre « Protestation des artistes contre la Tour Eiffel », publiée dans Le Temps du 14 février 1887.
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Sous ses airs de roman léger et divertissant, Zazie dans le métro conduit au niveau diégétique une interrogation complexe sur la confusion des langues et des genres dans un après-Babel moderne. Au niveau narratologique, le problème théorique de la traduction s’exprime cette fois-ci au travers de la contrainte d’écriture du roman. Quoique publié un an avant la création de l’Oulipo, le roman est nettement oulipien, et la contrainte si évidente qu’elle passerait presque inaperçue. Si le titre laisse entrevoir que Zazie voyagera en métro – et la fillette s’en réjouit –, Queneau en décide tout autrement. A l’entrée du métro, les grilles sont tirées et, découvrant une ardoise portant l’inscription « grève », Zazie se met à pleurer. La formule sur l’ardoise, c’est la contrainte oulipienne qui est à l’origine du roman : faire circuler des personnages dans Paris sans prendre le métro. Le plus court chemin d’un point à autre étant banni, les détours sont obligés. C’est alors que débute une folle odyssée à travers la ville, à pied, en bus, en taxi ou en voiture, aux trousses d’une fillette qui file comme l’éclair. Zazie trace des lignes brisées dans l’espace,30 « elle file droit devant elle en zigzag » (Z 59), tant la lettre Z conditionne son déplacement. La ligne droite de la trajectoire du métro et le zigzag de l’héroïne sont géométriquement inconciliables. Est-ce pour cela que Zazie ne prendra jamais le métro ?31 La question reste à élucider. Ce qui est clair, c’est qu’en terme de mouvement, Zazie dans le métro illustre exactement le problème de la traduction littéraire en tant que transfert indirect entre les cultures et en tant qu’écriture sous contraintes. Enfin, à défaut de prendre le métro, qui est en grève, Zazie fait la navette entre deux cultures par le fait même que le roman fait l’objet d’une traduction. Néologismes, « ortograf fonetik »32, syntaxe oralisante, nombreux sont les pièges tendus au traducteur de Zazie qui « font plus que jamais de la traduction un drame et du souhait de bonne traduction un pari »33. En 1960, le Sarrois Eugen Helmlé relève cependant ce défi et livre la seule traduction en langue allemande à ce jour de Zazie dans le métro. L’objet de la présente contribution ne sera pas de présenter les résultats d’une étude comparative du texte original et de sa traduction pour évaluer les gains et les pertes occasionnées par le transfert linguistique. Ce travail a déjà été fourni,34 sans pour autant générer de nouvelles tentatives de 30 « Elle prit la première rue à droite, puis la celle à gauche, et ainsi de suite jusqu’à ce qu’elle arrive à l’une des portes de la ville » (Z 45). 31 Cf. Bigot, Michel : ‘Zazie dans le métro’ de Raymond Queneau, Paris : Gallimard, 1994, p. 103–104. 32 Queneau, Raymond : Ecrit en 1937, ds. : idem : Bâtons, chiffles et lettres, p. 13–26, ici p. 26. 33 Ricœur : Sur la traduction, p. 11. 34 Cf. les études de Berger, Günter : Der Roman in der Romania. Neue Tendenzen nach 1945, Tübingen : Narr, 2005, p. 73–85 ; Blank, Andreas : Literarisierung von Mündlichkeit, Tübingen : Narr, 1991 ; Wodsak, Monika : ‘Un délire tapé à la machine par un romancier idiot’ ? Zum Problem der Übersetzung von Raymond Queneaus Zazie dans le métro, ds. : Krauß, Henning (dir.) : Offene Gefüge. Literatursystem und Lebenswirklichkeit, Tübingen : Narr, 1994, p. 295–316, et les critiques de Koeppen, Wolfgang : Das neue französische Wörterbuch, ds. : Die Zeit 53 (1960) ; Widmer, Walter : Ein geistreicher Autor wurde verhunzt, ds. : Die Zeit 31 (1964), et Hanimann, Joseph : Amélies freche Schwester, ds. : Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, 08.09.2007.
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traduction. Il s’agira de montrer comment, au delà de la question des gains et des pertes, la traduction d’Helmlé révèle la pluripotentialité intrinsèque à Zazie. Pour cela, la lecture d’un passage du roman s’impose. Le contexte est le suivant : Le prétendu « flicman » Trouscaillon pénètre par effraction dans l’appartement de Gabriel en son absence et tente violemment de séduire sa femme, la douce Marceline. Mais de fil en aiguille, la conversation dérive sur la conjugaison du verbe vêtir, dont certaines formes ressemblent dangereusement au verbe aller : – –
Je me vêts, répéta-t-il douloureusement. C’est français ça : je me vêts ? Je m’en vais, oui, mais : je me vêts ? Qu’est-ce que vous en pensez, ma toute belle ? Eh bien, allez-vous-en. (Z 167)
Puis c’est la conjugaison du verbe vêtir à la deuxième personne du pluriel qui pose problème : est-ce vétissez-vous ou vêtez vous ? Pour déterminer le bon usage du verbe, Trouscaillon est forcé de se reporter au dictionnaire. L’air méfiant, il alla prendre le livre sur une étagère en s’efforçant de ne pas perdre de vue Marceline. Puis, revenu avec le bouquin, il se mit à le consulter péniblement et s’absorba complètement dans ce travail. – Voyons voir… vésubie… vésuve… vetter… véturie, mère de Coriolan… ça y est pas. – C’est avant les feuilles roses qu’il faut regarder. – Et qu’est-ce qu’il y a dans les feuilles roses ? des cochonneries, je parie… j’avais pas tort, c’est en latin… « fèr’ ghiss ma-inn nich’t, veritas odium ponit, victis honos… », ça y est pas non plus. – Je vous ai dit : avant les feuilles roses. – Merde, c’est d’un compliqué… Ah ! enfin, des mots que tout le monde connaît… vestalat… vésulien… vétilleux… euse… ça y est ! Le voilà ! Et en haut d’une page encore. Vêtir. Y a même un accent circonchose. Oui : vêtir. Je vêts… là, vous voyez si je m’esprimais sic ! bien tout à l’heure. Tu vêts, il vêt, nous vêtons, vous vêtez… vous vêtez… c’est pourtant vrai… vous vêtez… marrant… positivement marrant… Tiens… Et dévêtir ?… regardons dévêtir… voyons voir… déversement… déversoir… dévêtir… Le vlà. Dévêtir vé té se conje comme vêtir. On dit donc dévêtez-vous. Eh bien, hurla-t-il brusquement, eh bien, ma toute belle, dévêtez-vous ! Et en vitesse ! A poil ! à poil ! Et ses yeux étaient injectés de sang. Et d’autant plus d’ailleurs que Marceline s’était totalement non moins que brusquement éclipsée. (Z 168/169)
L’effet comique de cet épisode est mis en œuvre par le retournement de situation imprévue : la supériorité linguistique l’emporte sur la force physique. En détournant son attention sur un problème grammatical touffu, Marceline parvient à se dérober de façon élégante des griffes de Trouscaillon. Or, la traduction allemande révèle un autre versant du texte, attirant notre attention cette fois-ci sur les conditions d’écriture de ce passage. Dans un premier temps, Helmlé choisit de traduire vêtir par bekleiden pour créer un jeu de sonorité semblable à celui avec le verbe aller. La forme je me vêts devient alors ich bekleide mich qui ressemble fort à ich begleite mich (je m’accompagne), ce qui fait
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dire à Marceline « Nun, dann begleiten Sie sich doch, aber hinaus »35. Puis le verbe bekleiden pose le problème de la particule : est-ce juste de dire ich bekleide mich, ou faut-il plutôt dire ich kleide mich an ? La suite du passage ne peut être traduite par le mot à mot (verbum pro verbo), ni même en rendant le sens par une petite infidélité.36 Obligé de répéter le geste de Trouscaillon, le traducteur se munit d’un dictionnaire – allemand et monolingue cette fois-ci ! – pour y chercher le mot bekleiden. Ici, le dictionnaire n’intervient plus comme l’instrument du traducteur, mais comme un outil de création littéraire éminemment oulipien. En effet, ce n’est pas en tant que traducteur qu’Helmlé se pose face au texte d’origine, mais en tant qu’Oulipien qui va transposer dans un contexte allemand le jeu littéraire imaginé par Queneau. Le passage de l’autre côté de la frontière fait apparaître des différences entre ces deux cultures qui pensent différemment la manière de classer et de catégoriser leur lexique. Dans le texte original, le dictionnaire de Trouscaillon est de toute évidence un Petit Larousse. Nous le reconnaissons grâce aux fameuses pages roses avec les locutions latines qui séparent les noms communs des noms propres. Pour la rédaction de ce passage, Queneau intègre à son texte aussi bien l’organisation du Petit Larousse en trois parties que les mots qui se trouvent aux emplacements présumés de vêtir dans les trois parties du dictionnaire. L’édition de 1951 en témoigne : on peut y lire « vestalat… vésulien… vétilleux… euse… »… (cf. illustration 1) et enfin vêtir qui se situe réellement « en haut d’une page » (cf. illustration 2).
Illustration 1 et 2 : Augé, Claude/Augé, Paul (dir.) : Le Petit Larousse illustré. Dictionnaire encyclopédique, Paris : Larousse, 1951
35 Queneau, Raymond : Zazie in der Metro (trad. de Eugen Helmlé), Frankfurt/M. : Suhrkamp, [1960] 1991, p. 131. Les citations extraites de la version allemande de Zazie seront marquées par la suite par l’agrégé « Z dt. » suivi du numéro de la page. 36 Pour les différentes formes de traductions, voir les chapitres II : Histoire de la traduction et III : Théorie de la traduction, ds : Oustinoff, Michaël : La Traduction, Paris : PUF, 2003, p. 27–65.
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Il en va de même pour dévêtir que l’on trouve effectivement à la suite de : « déversement… déversoir… ». Sachant que Queneau rédige ce passage de Zazie dictionnaire à l’appui, la mystérieuse phrase « Dévêtir vé té se conje comme vêtir » s’explique d’elle-même. Débutant en matière de dictionnaire, Trouscaillon ne connaît pas les abréviations usuelles qu’il prend pour des mots. Il aurait fallu lire : « verbe transitif se conjugue comme vêtir ». La transposition de ce passage en langue allemande dépendra donc directement de l’organisation de l’outil lexical utilisé par Helmlé. Et le texte allemand révèle qu’il s’agit du dictionnaire Duden, probablement de l’édition de 1954. Voici ce que dit le texte allemand : Mißtrauisch nahm er das Buch vom Bücherbrett, wobei er sich bemühte, Marceline nicht aus den Augen zu verlieren. Nachdem er dann mit dem Schmöker zurückgekommen war, blätterte er ihn mühsam durch und verlor sich vollkommen in dieser Arbeit. – Wollen mal sehn… Bekassine, Schnepfenart… bekehren… Bekehrung… Bekenntnis… beklagenswert… das ists nicht. – Sie müssen weiter hinten sehen. – Was steht denn weiter hinten? Ich wette, Schweinereien… hatte auch richtig getippt… Beklebung, bekleckern… das ists auch nicht. – Ich hab Ihnen doch gesagt: weiter hinten. – Scheiße ist das kompliziert… ah, ich habs. Und dabei stehts noch ganz oben auf der Seite. Ja: bekleiden. Hab mich also doch richtig ausgedrückt, vorhin. Mal weitersehen. Ein Amt bekleiden. ich sic! bekleide ein Amt, du bekleidest ein Amt… spaßig… ausgesprochen spaßig… Sieh mal an… Und entkleiden?… gucken wir mal bei entkleiden… Entität… Entkeimung… entkernen… entkleiden… da ists. Sich seiner Kleidung entledigen… Dann kann man also sagen, entkleiden Sie sich. Los denn, heulte er plötzlich, los denn, meine Schöne, entkleiden Sie sich! Und zwar schnell. Nackt gemacht! Nackt gemacht! (Z dt. 132/133)
Illustration 3 et 4 : Duden Rechtschreibung der deutschen Sprache und Fremdwörter, Mannheim : Bibliographisches Institut, 141954
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Plus de recherche vaine dans les ‘pages roses’ ni dans la partie ‘noms propres’ du dictionnaire. Le dictionnaire Duden se compose d’une seule partie, ce qui limite considérablement les risques d’une mauvaise manipulation du dictionnaire. Helmlé choisit de jouer sur l’impatience du personnage à déterminer l’emplacement exact du mot. Et pas question de traduire la suite de mots qui accroche le regard du policier français ; Helmlé recopie les termes qui se trouvent sur les pages de son propre dictionnaire (cf. illustrations 3 et 4). Par conséquent, le Trouscaillon allemand se dissocie de son homonyme français pour vivre sa propre expérience, guidé par un outil de référence profondément germanique. Mais en quoi consiste exactement le potentiel de cette traduction ? C’est peut-être d’ouvrir une porte vers un nouvel imaginaire par le biais d’associations nouvelles. Dans le texte français, la suite de mots peu usuels souligne d’une part la difficulté de la recherche lexicale d’un Trouscaillon « vétilleux » et affirme d’autre part la supériorité de la véturienne (« Véturie »)37 Marceline, « vestale » qui restera chaste. Dans la version allemande, cette scène de séduction se dote d’une connotation clairement sexuelle notamment par l’intermédiaire de « Schnepfe » (dans le sens de prostituée) et des termes « kleben » et « kleckern » – une connotation sexuelle que les messages moraux « Bekehrung » et « Bekenntnis » ne sauraient atténuer. Le texte de Queneau est donc profondément riche et ‘potentiel’ dans le sens oulipien du terme. Il autorise une quantité illimitée de versions dans d’autres langues, qui viennent à leur tour potentialiser l’œuvre originale, et révèlent d’elle un autre versant. Il s’agit certes d’un exemple d’infidélité lexicale, mais de haute fidélité dans l’esprit oulipien de l’œuvre. Ceci permettra peut-être de relativiser la question ‘fidélité versus trahison’ qui domine les débats en traduction.38 Contre toute attente, la traduction littéraire propose ainsi un véritable enrichissement pour le texte d’origine, au-delà de la perte qu’elle engendre nécessairement. En tant qu’écriture ‘sous contrainte’, la traduction s’apparente aux jeux littéraires que pratiquent les Oulipiens attachés à une exploration méthodique des potentialités de la littérature et de la langue. C’est par ‘la contrainte’ que constitue la nouvelle langue – c’est-à-dire dans le miroir de l’autre culture – que se manifeste paradoxalement la potentialité contenue dans l’œuvre originale. Zazie dans le métro en est la preuve. De la même manière que la grève du métro n’empêchera pas les personnages de découvrir la ville, la perturbation dans le transfert linguistique et culturel autorise – génère même ! – des traductions riches par le fait même qu’elles reconnaissent et acceptent cette gêne. Et je terminerai sur ces paroles encourageantes d’Antoine Berman qui repense la traduction comme un lieu permanent d’enrichissement des langues, des littéra37 « Véturie », en latin Veturia : matrone romaine du Ve siècle, mère du héros Coriolan, honorée pour son courage, son patriotisme et sa force de caractère. Cf. Valette, Emmanuelle : Les « discours » de Veturia, Valeria et Hersilia, ds. : Cahiers « Mondes anciens » 3 (2012), http://mondesanciens.revues.org/index782.html (22.05.2013). 38 Le célèbre adage italien ‘traduttore traditore’, qui rapproche le traducteur du traître, fait apparaître les deux pôles contraires de la traduction sans cesse débattus : la fidélité et la liberté. Cf. Guidère, Mathieu : La Fidèlité, ds. : idem : Introduction à la traductologie : Penser la traduction : hier, aujourd’hui, demain, Louvain la Neuve : De Boeck, 2008, p. 83–85.
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tures et des cultures : « La visée de la traduction est d’ ouvrir au niveau de l’écrit un certain rapport à l’Autre, de féconder le Propre par la médiation de l’Etranger. »39 BIBLIOGRAPHIE SELECTIVE Armstrong, Marie-Sophie : ‘Zazie dans le métro’ and Neo-French, ds. : Modern Language Studies 22/3 (1992), p. 4–16. Baetens, Jan/Schiavetta, Bernardo : Définir la contrainte ?, ds. : Le Goût de la forme en littérature. Ecritures et lectures à contraintes, Colloque de Cerisy, Paris : Noésis, 2004, p. 344–347. Barthes, Roland : Zazie et la littérature, ds. : Essais Critiques, Paris : Editions du Seuil, 1964, p. 125–130. Benjamin, Walter : Die Aufgabe des Übersetzers, ds. : Gesammelte Schriften, Bd. 10 : Kleine Prosa, Baudelaire-Übertragungen 4,1, Frankfurt/M. : Suhrkamp, 1980, p. 9–21. Berger, Günter : Der Roman in der Romania. Neue Tendenzen nach 1945, Tübingen : Narr, 2005. Berman, Antoine : L’Epreuve de l’étranger. Culture et traduction dans l’Allemagne romantique, Paris : Gallimard, 1984. Berman, Antoine : Pour une critique des traductions : John Donne, Paris : Gallimard, 1995. Bigot, Michel : ‘Zazie dans le métro’ de Raymond Queneau, Paris : Gallimard, 1994. Blank, Andreas : Literarisierung von Mündlichkeit, Tübingen : Narr, 1991. Collombat, Isabelle : L’Oulipo du traducteur, ds. : Semen 19 (2005), p. 1–15. Deleuze, Gilles : Différence et répétition, Paris : PUF, 1968. Fournel, Paul : Clefs pour la littérature potentielle, Paris : Lettres Nouvelles, 1972. Genette, Gérard : Palimpsestes. La littérature au second degré, Paris : Seuil, 1982. Guidère, Mathieu : La Fidèlité, ds. : idem : Introduction à la traductologie : Penser la traduction : hier, aujourd’hui, demain, Louvain la Neuve : De Boeck, 2008, p. 83–85. Hanimann, Joseph : Amélies freche Schwester, ds. : Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, 08.09.2007. Humboldt, Wilhelm von : Über die Verschiedenheit des menschlichen Sprachbaues. Über die Sprache, Wiesbaden : Fourier Verlag, 2003. Koeppen, Wolfgang : Das neue französische Wörterbuch, ds. : Die Zeit 53 (1960). Kratz, Dennis : An Interview with Norman Shapiro, ds. : Translation Review 19 (1986), p. 27–28. Langenbacher, Jutta : Das ‘néo-français’. Sprachkonzeption und kritische Auseinandersetzung Raymond Queneaus mit dem Französischen der Gegenwart, Frankfurt/M. : Lang, 1981. Novalis : Le Monde doit être romantisé, trad. par Olivier Schefer, Paris : Allia, 2002 (Original : Novalis : Werke, Tagebücher und Briefe Friedrich von Hardenbergs, dir. par Hans-Joachim Mähl/Richard Samuel, t. II, Darmstadt : Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 1999). Ost, François : Les détours de Babel. La traduction comme paradigme politique, ds. : Sueur, JeanJacques (dir.) : Interpréter et traduire. Actes du Colloque international des 25 et 26 novembre 2005, Bruxelles : Bruylant, 2007, p. 13–45. OULIPO : La Littérature potentielle : créations, re-créations, récréations, [Paris] : Gallimard, 1973. Oustinoff, Michaël : La Traduction, Paris : PUF, 2003. Oustinoff, Michaël : Les ‘Translation Studies’ et le tournant traductologique, ds. : Hermès 49 (2007), p. 21–26. Queneau, Raymond : Bâtons, Chiffres, et lettres, Paris : Gallimard, 1965. Queneau, Raymond : Ecrit en 1937, ds. : idem : Bâtons, chiffles et lettres, p. 13–26.
39 Berman : L’Epreuve de l’étranger, p. 16.
Trafic ‘frontalier’ et traduction littéraire
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LITERATURZIRKULATION UND FELDTHEORIE Joseph Jurt 1. PRODUKTIONS- UND REZEPTIONSFELD Ich brauche die Feldtheorie, wie sie Pierre Bourdieu entwickelt hat, nicht lange zu erklären. Felder der kulturellen Produktion wie das literarische oder das intellektuelle Feld sind ähnlich wie das religiöse oder das ökonomische Feld Resultat eines sozialen Differenzierungsprozesses. Was sie bestimmt, ist eine relative Autonomie. Die Oppositionen, die ein Feld prägen, sind die zwischen Autonomie und Heteronomie sowie diejenige zwischen den Herrschenden und den Beherrschten.1 Die Literaturkritik spielt auch eine spezifische Rolle innerhalb des literarischen Feldes. Pierre Bourdieu hat das literarische Werk als ‚symbolisches Gut‘ bezeichnet, das Ware und Bedeutung gleichzeitig ist, dessen symbolischer ‚Wert‘ sich nicht auf den ökonomischen reduzieren lässt, sondern seit dem Beginn des 19. Jahrhunderts zu diesem eher in Opposition steht. Die Literaturkritik ist eine Konsekrationsinstanz, die durch ihr Urteil dazu beiträgt, den sozialen Wert des Werkes zu schaffen. Pierre Bourdieu hat sich allerdings nicht intensiv mit den Rezeptionsprozessen befasst. In den Regeln der Kunst greift er auf einen Aufsatz aus dem Jahre 1977 zurück2 und analysiert die Reaktionen der Theaterkritiker. Hier postuliert er eine „strukturelle und funktionelle Homologie zwischen dem Raum der Autoren und dem Raum der Konsumenten (sowie Kritiker)“ und eine „Korrespondenz zwischen der gesellschaftlichen Struktur der Produktionsräume und den mentalen Strukturen, die Autoren, Kritiker und Konsumenten auf die (ihrerseits nach diesen Strukturen organisierten) Produkte anwenden […].“3 Es sei aber nicht eine bewusste Anpassung des Angebots an die Nachfrage, die die Harmonie zwischen den Produzenten und den Konsumenten kultureller Güter erkläre.
1 2 3
Vgl. Bourdieu, Pierre: Les Règles de l’art. Genèse et structure du champ littéraire, Paris: Seuil, 1992; Jurt, Joseph: Das literarische Feld. Das Konzept Pierre Bourdieus in Theorie und Praxis, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 1995. Bourdieu, Pierre: La production de la croyance. Contribution à une économie des biens symboliques, in: Actes de la recherche en sciences sociales 13 (1977), S. 3–43. Bourdieu, Pierre: Die Regeln der Kunst. Genese und Struktur des literarischen Feldes, Frankfurt/M.: Suhrkamp, 1999, S. 262.
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Joseph Jurt In diesem Sinne dienen die Kritiker ihrem Publikum auch nur deshalb so gut, weil die Homologie zwischen ihrer Position im intellektuellen Feld und der ihres Publikums im Macht-Feld Grundlage eines heimlichen Einverständnisses ist […], das bewirkt, dass sie die Interessen ihrer Klientel niemals ernsthafter, mithin auch wirksamer verteidigen als dann, wenn sie ihre eigenen Interessen gegen ihre Gegner – die im Feld der Produktion entgegengesetzte Positionen einnehmenden Kritiker – verteidigen.4
Wenn der Kritiker zunächst dem Raum der Konsumenten, dann dem der Produktion zugerechnet wird, dann erklärt sich das aus dessen Zugehörigkeit zu einem doppelten Kommunikationskreis; er ist Empfänger innerhalb eines primären Kommunikationsverhältnisses (Autor–Kritiker) und gleichzeitig Sendeinstanz eines sekundären Kommunikationsprozesses (Kritiker–Pressepublikum).5 Die Hypothese einer (unbewussten) Vorwegnahme der Positionen des jeweiligen Pressepublikums durch den Kritiker scheint mir durchaus interessant zu sein; trotzdem lässt sich fragen, ob man die These einer „Homologie zwischen Produktionsfeld und Konsumtionsfeld“6 als Regelfall gelten lassen kann und ob nicht auch eigenständige Interferenzen auf das Rezipientenfeld wirken. Pierre Bourdieu rekurrierte bei den genannten Beispielen vor allem auf die Pariser Theaterkritik im zentralistischen Kulturbetrieb Frankreichs. Wo sich die literarische Produktion und Rezeption, aber auch die Verlagshäuser und Zeitungsredaktionen vornehmlich auf die Hauptstadt konzentrieren, ist sicher eine starke Nähe der verschiedenen Akteure gegeben. Diese Nähe ist aber bei einem größeren geografischen oder zeitlichen Abstand nicht mehr evident. Die literarische Rezeption wurde vorzugsweise innerhalb eines homogenen nationalen Raumes analysiert.7 Die Untersuchung der Aufnahme literarischer Werke in einem anderen kulturellen Kontext, vor allem in einem anderen Sprachraum, war und ist ein klassischer Forschungsschwerpunkt der Komparatistik. Der Leitbegriff lautet hier, vor allem im französischen Bereich, influence. Es wird nach dem Einfluss eines Autors oder eines Werkes oder eines Werkensembles gefragt. Das literarische Werk, dessen Aufnahme verfolgt wird, wird gleichzeitig als Wert gesetzt. Es geht nicht nur darum, das Echo zu inventarisieren, sondern auch die Missdeutungen und die Missverständnisse, denen das Werk bzw. die Werke im fremden Kontext begegnet sind, zu ermitteln. Valorisiert wird so immer 4 5 6 7
Bourdieu: Die Regeln der Kunst, S. 263. Siehe dazu Jurt, Joseph: La Réception de la littérature par la critique journalistique. Lectures de Bernanos, 1926–1936, Paris: Jean-Michel Place, 1980 (Collection œuvres & critiques 3), S. 34–43. Bourdieu: Die Regeln der Kunst, S. 267. Das gilt beispielsweise auch für die Studien, die sich an der von mir in La Réception de la littérature par la critique journalistique vorgeschlagenen Analysemethode orientieren: Galster, Ingrid: Le Théâtre de Jean-Paul Sartre devant ses premiers critiques, Bd. 1: Les Pièces créées sous l’occupation allemande: „Les Mouches“ et „Huis clos“, Tübingen: Narr/ Paris: J.-M. Place, 1986 (Œuvres & critiques); Ahlstedt, Eva: André Gide et le débat sur l’homosexualité de ‚L’immoraliste‘ (1902) à ‚Si le grain ne meurt‘ (1926), Göteborg: Acta Universitatis Gothoburgensis, 1994 (Romanica Gothoburgensia 43); Arpin, Maurice: La Fortune littéraire de Paul Nizan. Une analyse des deux réceptions critiques de son œuvre, Bern [u. a.]: Lang, 1995.
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das sogenannte Original und damit auch die Ausgangskultur, deren Stellenwert sich an der internationalen Resonanz bemisst. 2. BOURDIEUS THEORIE-IMPORT AUS DEUTSCHLAND Bourdieu reflektierte in seinem Werk über die nationalen und transnationalen literarischen und wissenschaftlichen Austauschprozesse. Er war zunächst selber in einen solchen Prozess involviert. Bourdieu importiert in seinen Arbeiten theoretische Begriffe von anderen Denkern. Seit seiner Studienzeit setzte er sich gerade auch mit dem deutschen Geistesleben auseinander. Schon seine Diplomarbeit in Philosophie galt Leibniz als Kritiker von Descartes. Während dieser Zeit las er auch Edmund Husserl, vor allem dessen Werk Erfahrung und Urteil8 – im deutschen Originaltext. In einem Interview führte er aus, er habe für sein zentrales Buch Méditations pascaliennes9 auf seine damalige Übersetzung des HusserlTextes zurückgegriffen. In diesem Buch zitierte er oft den deutschen Philosophen, bei dem er schon den Begriff der Habitualität vorfand, mit dem eine Problematik benannt wurde, der er später durch seine Reflexionen über die Logik der Praxis nahezukommen suchte. Bei Husserl fand er auch Überlegungen zur Zeitlichkeit, die er fruchtbar weiterentwickeln sollte. Während seines Algerienaufenthaltes (1955–1960) war Bourdieu wiederum mit dem Problem der Zeitlichkeit konfrontiert, hier aber im Kontext einer vorkapitalistischen Gesellschaft. Das philosophische Interesse für Zeitstrukturen paarte sich nun mit einem ethnologisch-soziologischen Erkenntnisinteresse, das bei ihm immer mehr in den Vordergrund trat. Um diese spezifische Logik zu erkennen, rekurrierte Bourdieu auf die Soziologie. Max Weber wurde nun für ihn zentral. Er ließ sich dessen Protestantische Ethik10 schicken, von der er selbst einige Kapitel übersetzte. In der traditionalen Gesellschaft der algerischen Kabylei hatte er die relative Unabhängigkeit des Symbolischen (etwa der Ehre) entdeckt. Im Einklang mit Max Weber unterstrich Bourdieu die Eigenlogik des Symbolischen als Wahrnehmung, die gegenüber der ‚Objektivität‘ der Struktur ins Recht gesetzt wird, als eine Dimension, die nicht auf das Ökonomische (im engeren Sinne) reduziert werden kann. Bourdieu übernahm von Karl Marx die Theorie der Dynamik des Kapitals; er reduzierte aber den Begriff nicht bloß auf ökonomische Güter, sondern unterschied zwischen sozialem, kulturellem und symbolischem sowie ökonomischem Kapital. Bei der Konstruktion des Begriffs des kulturellen Kapitals, der vor allem für die bildungssoziologischen Analysen zentral wurde, griff Bourdieu auf Max Webers Unterscheidung von ‚Klassenlage‘ und ‚Klassenstand‘ zurück. 8
Husserl, Edmund: Erfahrung und Urteil. Untersuchungen zur Genealogie der Logik. Ausgearb. u. hg. v. Ludwig Landgrebe, Prag: Academia, 1939. 9 Bourdieu, Pierre: Méditations pascaliennes, Paris: Seuil, 1997. 10 Weber, Max: Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus, Tübingen: Mohr, 1934.
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Schließlich war Pierre Bourdieu auch gut vertraut mit den Vertretern der WarburgSchule. Das Interesse für die symbolischen Formen teilte er mit Ernst Cassirer. Seinen relationellen Ansatz, der sich dem Substantialismus widersetzt, begründete er immer wieder durch den Hinweis auf Cassirers Werk Substanzbegriff und Funktionsbegriff11, der diesen Ansatz als den Denkmodus der modernen Wissenschaft bezeichnet. Neben Max Weber und Cassirer war Erwin Panofsky ein weiterer wichtiger Inspirator von Pierre Bourdieu. 1967 hatte er in seiner Reihe „Le sens commun“ Panofskys Werk Architecture gothique et pensée scolastique12 erstmals in französischer Übersetzung mit einem bedeutenden Nachwort herausgegeben. Hier wird sichtbar, wie Panofskys Habitus-Begriff für Bourdieu wegweisend wurde. Die Entlehnungen oder Anregungen, auf die Bourdieu zurückgriff, waren indes nie beliebig; die Konzepte wurden von ihm auch re-interpretiert. Er sprach selber von einer „Realpolitik des Begriffs“, die nicht ohne eine theoretische Linie möglich sei, die vor dem baren Eklektizismus schütze.13 Bourdieu spricht darum von einem von den genannten Autoren gebildeten „Theorie-Raum“, der den Raum der Möglichkeiten darstellt, dessen man sich bewusst sein muss, um die eigene wissenschaftliche Praxis kontrollieren zu können. Wenn Bourdieu Konzepte von Sozial- und Kulturwissenschaftlern vielfach deutscher Provenienz übernahm, so setzte er sich andererseits auch kritisch mit Ansätzen auseinander, die der Philosophie verpflichtet waren. Bourdieu hat das vor allem versucht in seiner Analyse von Martin Heidegger, der als ‚reiner‘ Philosoph eine analoge Herausforderung darstellt wie der ‚reine‘ Schriftsteller Gustave Flaubert. Bourdieu war gegenüber dem deutschen Philosophen, der in Frankreich auf größte Resonanz stieß, relativ kritisch eingestellt und folgte hier nicht der – teilweise modischen – Rezeption.14 Im November 1975 hatte er in seiner Zeitschrift Actes de la recherche en sciences sociales einen umfangreichen Heidegger-Essay veröffentlicht, der 1976 beim Frankfurter SyndikatVerlag unter dem Titel Die politische Ontologie Martin Heideggers zusammen mit einem Anhang von Jean Bollack und Heinz Wismann als Buch erschien und 1988 in einer erweiterten Fassung in den Editions de Minuit im Gefolge der Hei-
11 Cassirer, Ernst: Substanzbegriff und Funktionsbegriff. Untersuchungen über die Grundfragen der Erkenntniskritik [1910], Darmstadt, Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 61990. 12 Panofsky, Erwin: Architecture gothique et pensée scolastique. Précédé de L’abbé Suger de Saint-Denis. Trad. et postface de Pierre Bourdieu, Paris: Minuit, 1967 (Original: Gothic Architecture and Scholasticism, Latrobe (PA): The Archabbey Press, 1951 (Wimmer Lecture 2, 1948). 13 Bourdieu, Pierre: „Der Kampf um die symbolische Ordnung“, Pierre Bourdieu im Gespräch mit Axel Honneth, Hermann Kocyba und Bernd Schwibs, in: Ästhetik und Kommunikation 16/61–62 (1986), S. 142–165, hier S. 158. 14 Siehe dazu Janicaud, Dominique: Heidegger en France, 2 Bde., Paris: Michel, 2001; Pettigrew, David/Raffoul, François (Hg.): French Interpretations of Heidegger: an Exceptional Reception, Albany (NY): State Univ. of New York Press, 2008 (SUNY Series in Contemporary French Thought).
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degger-Debatte neu aufgelegt wurde.15 Gegenüber vielen französischen Kollegen hatte Bourdieu den Vorteil, dass er Heidegger im Original lesen konnte; Deutsch war trotzdem eine Fremdsprache für ihn. Diese Distanz erlaubte ihm, sich vom sprachlichen Gestus Heideggers nicht beeindrucken zu lassen, sondern darin eine rhetorische Strategie zu sehen, die auf eine bestimmte Wirkung zielt.16 Heidegger gelinge es, in zwei Stimmlagen zu sprechen: der der gelehrten philosophischen Sprache und der Sprache des Alltags. Durch die Verwendung archaisch anmutender Neologismen versuche er eine Distanz zur Alltagssprache zu schaffen und gleichzeitig den Eindruck zu erwecken, den tieferen Sinn der Alltagserfahrung zu entschlüsseln.17 Heideggers philosophische Texte transportierten so einen politischen Diskurs, der jedoch euphemisiert, das heißt ontologisiert werde. Über eine sozialgeschichtliche Analyse der Philosophie Heideggers lehnt Bourdieu dessen kontext- und geschichtsvergessenen Standpunkt ab und versucht, die Texte im konkreten geschichtlichen Kontext zu verorten, einerseits im Kontext der konservativen Revolution, andererseits im Kontext der Aufsteiger-Biografie Heideggers. So erübrigt sich der denunziatorische Gestus gegenüber dem Individuum Heidegger. Bourdieu glaubt, er könnte in einem Heidegger-Prozess sogar die Rolle des Verteidigers übernehmen: Denn ich könnte wenigstens die mildernden Umstände nennen, im Unterschied zu den Philosophen: das Gesamt der sozialen, historischen Umstände, die bewirken, daß jemand etwas tut, was er nicht tun dürfte. Und dazu gehört das Umfeld: die soziale Herkunft, daß er ein Aufsteiger war, daß er von den Großbürgern in die Ecke gedrängt wurde und von den Linken als Bourgeois abgetan – er, der aus dem Volke kam. Aber der wichtigste mildernde Umstand (damit schockiere ich viele Philosophen) ist das, was die Philosophie selbst war zu jener Zeit: daß sie mit dem Ende des 19. Jahrhunderts in Deutschland und in Frankreich dazu gemacht war, gegen das Gewöhnliche zu kämpfen, gegen die Wissenschaft vom Menschen, gegen die Wissenschaft überhaupt, gegen die Instrumente der Erkenntnis.18
3. DIE REZEPTION BOURDIEUS IN DEUTSCHLAND Ein Autor ist in einem fremdsprachigen Land zunächst präsent im Medium der Übersetzungen. Ich würde einmal behaupten, dass nur eine verschwindend kleine Zahl auch von Intellektuellen in Deutschland in der Lage ist, Bourdieu im Origi15 Bourdieu, Pierre: Die politische Ontologie Martin Heideggers, Frankfurt/M.: Syndikat, 1976; frz.: L’Ontologie politique de Martin Heidegger, Paris: Minuit, 1988 (Le sens commun). 16 Bourdieu machte hier schon darauf aufmerksam, dass die Texte (Heideggers) bei der Rezeption ohne ihren Kontext zirkulieren und dass so die spezifische Konnotation (und damit auch ihre Verortung) nicht wahrgenommen werden. (Bourdieu: Die politische Ontologie Martin Heideggers, S. 18). 17 Vgl. Lücking, Stephan: Pierre Bourdieu ist tot. Ein Nachruf aus der Sicht eines Exegeten, in: Biblisches Forum. Zeitschrift für Theologie aus biblischer Perspektive 1 (2002), http://www. bibfor.de/archiv/02-1.luecking.pdf (14.08.2013). 18 Bourdieu, Pierre: „…ich glaube, ich wäre sein bester Verteidiger“. Ein Gespräch [von Harold Woetzel] mit Pierre Bourdieu über die Heidegger-Kontroverse, in: Das Argument 171 (Oktober 1988), S. 723–726, hier S. 726.
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nal zu lesen. Die Presse sprach von Bourdieus Werken in fast allen Fällen erst, als sie in deutscher Übertragung vorlagen. Bourdieus erstes Werk erschien 1958: Sociologie de l’Algérie19. Aber erst 1970 erschien erstmals ein Buch des Soziologen auf Deutsch: der Sammelband Zur Soziologie der symbolischen Formen20. In den 1960er Jahren hatte Bourdieu neun Werke veröffentlicht, die schon ins Englische oder Spanische übersetzt wurden, aber nicht ins Deutsche. Nach den bildungssoziologischen Sammelbänden der 1970er Jahre setzte eine konsequente Rezeption mit der Übersetzung von La Distinction21 1982 ein. Ab diesem Zeitpunkt wurden alle Werke Bourdieus übersetzt; viele Aufsätze erschienen auch in deutschen Zeitschriften. Was die Übersetzungsgeschwindigkeit betrifft, lassen sich sehr unterschiedliche Rhythmen feststellen.22 Die umfangreiche Untersuchung La Distinction wurde schon drei Jahre nach dem Erscheinen in Frankreich ins Deutsche übertragen, unmittelbar nach der englischen Ausgabe. Das war nun keineswegs die Regel. Von Ce que parler veut dire23 erschien die deutsche Übertragung erst nach der schwedischen, der spanischen, der rumänischen und der italienischen. Die deutsche Ausgabe der Règles de l’art erschien nach der holländischen, der spanischen, der englischen, der portugiesischen, der rumänischen, der arabischen und der koreanischen. Das sehr umfangreiche Buch La Misère du monde erschien jedoch als integrale Übersetzung zuerst auf Deutsch im Universitätsverlag Konstanz.24 In diesem Verlag erschienen, dank der Initiative von Franz Schultheis, mehrere Bände der Reihe „Contre-feux“ fast gleichzeitig auf Deutsch und Französisch.
19 Bourdieu, Pierre: Sociologie de l’Algérie, Paris: PUF, 1958. 20 Bourdieu, Pierre: Zur Soziologie der symbolischen Formen. Aus d. Franz. von Wolf H. Fietkau, Frankfurt/M.: Suhrkamp, 1970 (Theorie). Eine Bibliografie der deutschen Übersetzungen der Werke und Aufsätze von Bourdieu bis 2004 findet sich in: Bourdieu, Pierre: Forschen und Handeln/Recherche et Action. Vorträge am Frankreich-Zentrum der Albert-LudwigsUniversität Freiburg (1989–2000), hg., übers. und komm. von Joseph Jurt, Freiburg i. Br.: Rombach, 2004 (Rombach Wissenschaften: Reihe Litterae 125), S. 125–143. 21 Bourdieu, Pierre: La Distinction. Critique sociale du jugement, Paris: Minuit, 1979 (Le sens commun). 22 Le Métier de sociologue (Paris: Mouton, Bordas, 1968, zusammen mit Jean-Claude Chamboredon und Jean-Claude Passeron) und Algérie 60. Structures économiques et structures temporelles (Paris: Minuit, 1977) wurden 23 Jahre nach ihrer Originalausgabe veröffentlicht. Bei den beiden Übersetzungen handelt es sich zweifellos um einen Nachholeffekt. Un art moyen. Essai sur les usages sociaux de la photographie (hg. v. Pierre Bourdieu, Paris: Minuit, 1965 (Le sens commun)) musste 10 Jahre auf die Übersetzung warten und das kleine Bändchen Questions de sociologie (Paris: Minuit, 1980 (Documents)) 13 Jahre. Ab den 1980er Jahren betrug die durchschnittliche Übersetzungsdauer zwischen sieben Jahren (Les Règles de l’art) und einem Jahr (Les Raisons pratiques. Sur la théorie de l’action, Paris: Minuit, 1994). 23 Bourdieu, Pierre: Ce que parler veut dire, Paris: Fayard, 1982. 24 Bourdieu, Pierre [u. a.]: Das Elend der Welt. Zeugnisse und Diagnosen alltäglichen Leidens an der Gesellschaft, Konstanz: UVK Universitätsverlag Konstanz, 1997 (Edition discours 9) (Orig.: La Misère du monde, Paris: Seuil, 1993).
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Eine Besonderheit sind die Sammelbände mit Aufsätzen, die auf Deutsch erschienen, für die es keine vorgängige französische Erstausgabe gab.25 Der Sammelband Das religiöse Feld26 erschien 2000 auch als deutsche Erstausgabe, und schließlich wollte Pierre Bourdieu auch, wie Franz Schultheis schreibt, dass sein soziologischer Selbstversuch zunächst in deutschsprachiger Fassung erscheine, weil er „deutlich mehr Vertrauen in die deutsche Leserschaft und deren weniger voreingenommene Wahrnehmung seines Werkes [setzte]“27. In Deutschland wurden die Werke Bourdieus somit häufig mit einer gewissen Verzögerung übersetzt. 2003 war ein Drittel seiner Bücher noch nicht übersetzt. Nach seinem Tod (2002) intensivierte sich in Deutschland die Rezeption der Werke Bourdieus. Heute liegt die größte Anzahl der Übersetzungen von Werken von Bourdieu in deutscher Sprache vor, mehr als in englischer Sprache!28 Erwähnen kann man in diesem Zusammenhang die auf 14 Bände angelegte Gesamtausgabe von Bourdieus theoretischen Schriften und empirischen Studien, die unter der Leitung von Franz Schultheis und Stephan Egger vom Konstanzer Universitätsverlag und von Suhrkamp veranlasst wird und von der schon vier Bände vorliegen.29 In einer der ersten differenzierten Gesamtdarstellungen des Werkes des Soziologen unterstrich Markus Schwingel 1993, dass Bourdieu in einer ersten Rezeptionsphase in Deutschland vor allem unter nicht-soziologischen Aspekten zur Kenntnis genommen wurde.30 Durch die pädagogische und sozialisationstheoretische Fragestellung, die diese Rezeptionslinie kennzeichnete, wurden an Bourdieus Analysen Erwartungen geknüpft, die sie, zumindest primär, nicht erfüllen konnten und wollten. Neben den Erziehungswissenschaftlern hätten auch die His25 Es handelt sich immerhin um neun Bände, angefangen mit Soziologie der symbolischen Formen, dann Titel und Stelle. Über die Reproduktion sozialer Macht (Frankfurt/M.: Europäische Verl.-Anst., 1981), Satz und Gegensatz. Über die Verantwortung des Intellektuellen (aus d. Franz. von Ulrich Raulff u. Bernd Schwibs, Berlin: Wagenbach, 1989). Seit 1992 veröffentlicht Margareta Steinrücke im VSA-Verlag Hamburg eine eigene Reihe „Schriften zu Kultur & Politik“, in der fünf Sammelbände mit Artikeln von Pierre Bourdieu erschienen: Die verborgenen Mechanismen der Macht (1992), Der Tote packt den Lebenden (1997), Der Einzige und sein Eigenheim (1998), Wie die Kultur zum Bauern kommt. Über Bildung, Schule und Politik (2001), Unverbesserlicher Optimist (2012). 26 Bourdieu, Pierre: Das religiöse Feld. Texte zur Ökonomie des Heilsgeschehens, Konstanz: UVK, 2000 (Edition discours 11). 27 Schultheis, Franz: Nachwort, in: Bourdieu, Pierre: Ein soziologischer Selbstversuch. Aus dem Franz. v. Stephan Egger, Frankfurt/M.: Suhrkamp, 2002, S. 133–151, hier S. 135. 28 Vgl. Sapiro, Gisèle/Bustamante, Mauricio: Translation as a Measure of International Consecration: Mapping the World Distribution of Bourdieu’s Books in Translation, in: Sociologica 2–3 (2009), http://www.sociologica.mulino.it/doi/10.2383/31374 (14.08.2013). 29 Bourdieu, Pierre: Schriften, Konstanz: UVK, 2009 ff. Bd. 7: Schriften zur Politischen Ökonomie 2. Politik, 2010; Band 12.1: Schriften zur Kultursoziologie 4. Kunst und Kultur. Zur Ökonomie symbolischer Güter, 2011; Band 12.2: Schriften zur Kultursoziologie 4. Kunst und Kultur. Kunst und künstlerisches Feld, 2011; Band 13: Schriften zur Kultursoziologie 5. Religion, 2009. 30 Vgl. Schwingel, Markus: Analytik der Kämpfe. Macht und Herrschaft in der Soziologie Bourdieus, Hamburg: Argument-Verlag, 1993, S. 9.
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toriker Bourdieu, vor allem seine frühen ethnologischen Studien, zur Kenntnis genommen. Hier verlaufe aber die Rezeption weitgehend sporadisch und unsystematisch. Eine im eigentlichen Sinne soziologische Auseinandersetzung habe aber erst 1989 mit dem von Klaus Eder besorgten Materialienband zu Bourdieus Klassenund Kulturtheorie eingesetzt. Trotz der insgesamt recht breiten Rezeption, die stellenweise den Verdacht einer Übernahme einer von Paris ausgehenden intellektuellen Mode nahelege, habe sich zu Beginn der 1990er Jahre an der Qualität der Rezeption wenig geändert. Bourdieu hat darum im Nachwort zum erwähnten Materialienband „von einem hohen Grad an Missverständnis, wenn nicht vollständigem Unverständnis“31 gesprochen. Zweifellos hat sich hier in den 1990er Jahren in Deutschland vieles getan.32 Markus Schwingel erwähnt die literatursoziologische Rezeption Bourdieus in Deutschland, „die, weitgehend forschungs- und problemorientiert, mit Bourdieus Ansatz relativ unvoreingenommen umgeht.“33 Bourdieus Analyse von Literatur und Kunst scheint mir eine zentrale Bedeutung zuzukommen, selbst wenn dieser Aspekt in den zahlreichen Nachrufen, vor allem in Frankreich, sehr wenig gewürdigt wurde.34 Die Kategorie des Symbolischen, die Bourdieu in seinen soziologischen Recherchen in Algerien entdeckte, musste auch zu den Symbolsystemen der Literatur und der Kunst führen; so veröffentlichte Pierre Bourdieu schon in den 1960er Jahren kultursoziologische Arbeiten, über die Photographie35 sowie den Museumsbesuch36. In La Distinction wurde ebenfalls der Kulturkonsum analysiert. Eine systematische Beschäftigung mit der Literaturproduktion setzte 1966 ein.37 Es folgten in regelmäßigem Rhythmus literaturrelevante Aufsätze, die stets mit dem schon 1966 eingeführten Feldbegriff operierten. Diese Studien fanden 1992 ihren vorläufigen Abschluss in dem umfangreichen Werk Les Règles de l’art. Wie aber wurde nun diese wichtige Dimension des Schaffens von Pierre Bourdieu in Deutschland aufgegriffen? Der schon genannte Aufsatz, der in Les Temps Modernes 1966 veröffentlicht worden war, war 1970 im Sammelband Zur
31 Bourdieu, Pierre: Antworten auf einige Einwände, in: Eder, Klaus (Hg.): Lebensstil und kulturelle Praxis. Theoretische und empirische Beiträge zur Auseinandersetzung mit Pierre Bourdieus Klassentheorie, Frankfurt/M.: Suhrkamp, 1989, S. 395–410, hier S. 395. 32 Siehe dazu Fröhlich, Gerhard/Rehbein, Boike: Die Rezeption Bourdieus im deutschsprachigen Raum, in: dies. (Hg.): Bourdieu-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung, Stuttgart, Weimar: Metzler, 2009, S. 381–386. 33 Schwingel: Analytik der Kämpfe, S. 189. 34 Siehe dazu Jurt, Joseph: ‚L’unanimité de l’hommage posthume‘? Les réactions de la presse face à la mort de Pierre Bourdieu, in: lendemains 03/104 (2002), S. 238–257. 35 Vgl. Bourdieu (Hg.): Un art moyen. 36 Vgl. Bourdieu, Pierre/Darbel, Alain: L’Amour de l’art. Les musées et leur public, Paris: Minuit, 1966 (Le sens commun). 37 Vgl. Bourdieu, Pierre: Champ intellectuel et projet créateur, in: Les Temps Modernes 246 (nov. 1966), S. 865–906.
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Soziologie der symbolischen Formen38 greifbar; der Aufsatz wurde aber kaum in seiner systematischen Bedeutung erkannt, die erlaubte, den Autonomisierungsprozess der Literatur zu denken, diesen in seiner institutionellen Form als sozialen Prozess zu sehen und ihn nicht auf eine rein inhaltliche Autonomie zu reduzieren. Die Aufsätze im genannten Band wurden zwar öfters zitiert, aber mehr in Bezug auf den von Panofsky abgeleiteten Habitus-Begriff oder wegen der Weiterführung der weberschen Analyse zur Klassenstellung und Klassenlage. Häufig kam man auf den Aufsatz „Elemente zur einer soziologischen Theorie der Kunstwahrnehmung“ zu sprechen.39 Peter Bürger nahm schon früh Pierre Bourdieu wahr, reduzierte aber dessen Theorie des literarischen Feldes in einem Aufsatz von 1986 auf bewusstes strategisches Kalkül der Akteure.40 Auch Luhmann suchte Bourdieus Kunsttheorie da, wo sie nicht ist, wenn er schrieb, dass man mit Hilfe der Kriterien von Bourdieus Feinen Unterschieden „ein Kunstwerk nicht als Kunst [beobachtet], nicht im Hinblick auf das, was den Weltzugang über Kunst in sozialer Hinsicht auszeichnet“41. Der Vorwurf von Andreas Dörner und Ludgera Vogt,42 die an Luhmann anschließen, Bourdieus Ansatz vermöge das Spezifische der Kunst nicht zu erfassen, erklärt sich daher, dass er aus seinen Studien zum Kulturkonsum abgeleitet wird. Das Erkenntnisinteresse in den Feinen Unterschieden ist aber nicht die Kunst als solche, sondern es zielt auf die Lebensstile sozialer Gruppen und die jeweilige Instrumentalisierung von Literatur und Kunst als Mittel der gesellschaftlichen Distinktion. Das Spezifische von Kunst und Literatur untersucht Bourdieu in seinen Analysen zum literarischen Feld, namentlich in Les Règles de l’art. Innerhalb der Romanistik wurde Bourdieus Ansatz vor der Publikation der Regeln der Kunst kaum wahrgenommen. Die Analyse der Education sentimentale, die Bourdieu schon 1975 in seiner Zeitschrift Actes de la recherche en sciences sociales43 veröffentlicht hatte, wurde nicht einmal in den einschlägigen Bibliografien zur französischen Literaturwissenschaft erwähnt. Das lag wohl auch daran, dass die Romanisten literatursoziologische Ansätze vor allem bei Literaturwissenschaftlern mit sozialgeschichtlicher Ausrichtung wie Lucien Goldmann oder Erich Köhler suchten und weniger bei Soziologen wie Bourdieu.
38 Bourdieu, Pierre: Künstlerische Konzeption und intellektuelles Kräftefeld, in: ders.: Zur Soziologie der symbolischen Formen, S. 75–124. 39 Bourdieu, Pierre: Elemente zu einer soziologischen Theorie der Kunstwahrnehmung, in: Bürger, Peter (Hg.): Seminar: Literatur- und Kunstsoziologie, Frankfurt/M.: Suhrkamp, 1978, S. 418–457. 40 Vgl. Bürger, Peter: Adorno, Bourdieu and the Sociology of Literature, in: Stanford Literature Review 3/1 (Spring 1986), S. 75–90. 41 Luhmann, Niklas: Weltkunst, in: ders./Bunsen, Frederick D./Baecker, Dirk: Unbeobachtbare Welt. Über Kunst und Architektur, Bielefeld: Haux, 1990, S. 7–45, hier S. 21. 42 Vgl. Dörner, Andreas/Vogt, Ludgera: Literatursoziologie. Literatur, Gesellschaft, politische Kultur, Opladen: Westdt. Verl., 1994. 43 Bourdieu, Pierre: L’invention de la vie d’artiste, in: Actes de la recherche en sciences sociales 1/2 (mars 1975), S. 67–93.
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Systematisch vorgestellt wurde die Theorie des literarischen Feldes von Pierre Bourdieu wohl ein erstes Mal im Oktober 1979 beim Saarbrücker Romanistentag innerhalb der von Peter Bürger geleiteten Sektion „Science de la littérature et sciences sociales“, an der auch Jacques Dubois teilnahm. Erich Köhler war an dem Beitrag sehr interessiert und veröffentlichte ihn 1981 zusammen mit der deutschen Version von Bourdieus Text über Sartre als totalen Intellektuellen in seiner Romanistischen Zeitschrift für Literaturgeschichte.44 1984 erschien dann in der Berliner Zeitschrift lendemains ein Schwerpunkt zum Thema „Das literarische Feld. Eine literatursoziologische Kategorie in Theorie und Praxis“, an der sich neben Bourdieu vor allem französische Forscher beteiligten. Ein weiterer Schwerpunkt hatte sich in Hamburg gebildet. Hier untersuchten Germanisten auf der Basis der literatursoziologischen Kategorien von Bourdieu das literarische Leben in Hamburg nach 1945;45 1987 veröffentlichten die beiden verantwortlichen Wissenschaftler Ludwig Fischer und Klaas Jarchow eine Sondernummer der Zeitschrift Sprache im technischen Zeitalter zum Thema „Die soziale Logik der Felder und das Feld der Literatur“. Unbedingt erwähnen muss man auch den Sammelband Praxis und Ästhetik (1993).46 1999 erschienen dann endlich Die Regeln der Kunst in deutscher Übersetzung; das Buch wurde im Feuilleton durchaus besprochen, aber meistens von Interpreten, die dem Ansatz fern standen; so widmete Karlheinz Stierle, der mehr einer immanenten Literaturbetrachtung verpflichtet ist, dem Buch eine halbe Seite in der Zeit.47 Karlheinz Stierle glaubte zwar, dass die Kategorie des Feldes durchaus vermöge, als heuristische Kategorie komplexe Zusammenhänge zwischen Gesellschaft und ästhetischem Werk plausibel zu machen; die Idee der relativen Autonomie des intellektuellen Feldes habe in den 1960er Jahren eine wesentliche Differenzierung der marxistischen Lehre dargestellt; Stierle bemüht sich indes nicht, das Konzept des literarischen Feldes als ein relativ autonomes Universum zu begreifen, wenn er schreibt: So verschwimmen die Grenzen zwischen den Feldern der einzelnen Werke, der einzelnen Künstler, der einzelnen Medien, bis schließlich alle einmünden in das weite Feld von Bourdieus Soziologie.
44 Bourdieu, Pierre: Die Erfindung des totalen Intellektuellen, in: Romanistische Zeitschrift für Literaturgeschichte 4 (1981), S. 385–391. Vgl. Jurt, Joseph: Die Theorie des literarischen Feldes. Zu den literatursoziologischen Arbeiten Bourdieus und seiner Schule, in: Romanistische Zeitschrift für Literaturgeschichte 5/4 (1981), S. 454–479. 45 Vgl. Fischer, Ludwig [u. a.] (Hg.): ‚Dann waren die Sieger da‘. Studien zur literarischen Kultur in Hamburg 1945–1950, Hamburg: Dölling und Galitz, 1999 (Schriftenreihe der Hamburgischen Kulturstiftung 7). 46 Gebauer, Gunter/Wulf, Christoph (Hg.): Praxis und Ästhetik. Neue Perspektiven im Denken Pierre Bourdieus, Frankfurt/M.: Suhrkamp, 1993. 47 Stierle, Karlheinz: Glanz und Elend der Kunstsoziologie, in: Die Zeit, 19.08.1999.
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Vollends polemisch ist seine Eingangsthese: Jetzt wissen wir endlich, […] wie man einen Roman versteht, ohne ihn lesen zu müssen. Es ist doch ganz einfach: Man muss nur das Feld kennen, in dem das Werk statt eines Fähnchens steht.
Auch Florian Welle konstatiert in seinem Freibeuter-Artikel im Buch Bourdieus einen „Hang zur schematischen Konstruktion“: „Die Literatur, […] so ahnt der Leser, liefert nur noch den Vorwand, um die eigene soziologische Methode zu zelebrieren“48. Wenn derselbe Kritiker Bourdieu vorwirft, er stilisiere die Eroberung der Autonomie zu einer „Geschichte der großen Männer, Baudelaire, Flaubert und Zola“, dann verkennt er, dass gerade darin die Herausforderung einer Literatursoziologie bestand, die man sonst gern in die Analyse der Trivialliteratur abdrängt. Auch Jürgen Ritte verkennt die Originalität von Bourdieus Autonomisierungsthese, wenn er in der NZZ dem Soziologen Bourdieu vorhält, die Autonomie, die sich gesellschaftlichen und technologischen Bedingungen verdanke, habe ab dem 19. Jahrhundert zur ‚Entlassung‘ von Kunst und Literatur aus angestammten Steuerungsfunktionen geführt.49 Das Beispiel von Zola beweist eher das Gegenteil. Clemens Pornschlegel trivialisiert in der SZ das Konzept eines autonomen Feldes völlig, wenn er es so zusammenfasst: „Konkurrenten müssen überboten, überwunden, abserviert werden. So will es die ‚Dialektik der Distinktion‘“. Jürgen Ritte und Clemens Pornschlegel argumentieren aus einem deutschen Zusammenhang heraus, wenn sie die Diskussion der Ansätze von Adorno und Leo Löwenthal bei Bourdieu vermissen. Bourdieu „bringt es fertig, 552 Seiten literatursoziologische Fundamentalprozesse einschließlich einer Verstehenstheorie zu verfassen, ohne den Namen ‚Adorno‘ zu erwähnen. Frankfurter Schule, Dekonstruktion, New Historicism, sie kommen nicht vor.“50 Zum Glück gibt es neben dem Feuilleton ernsthafte junge Forscher in Deutschland, die in eindrücklicher Weise den Ansatz Bourdieus für ihre literaturgeschichtlichen Analysen fruchtbar machen. Der Romanist Michael Einfalt analysierte das französische Feld der Lyrik in der ersten Hälfte des Second Empire sowie das literarische Feld der 1920er Jahre in zwei Monografien.51 Ich erinnere an eine Gruppe von jungen Berliner Germanisten, die in schöpferischer Weise mit dem Feldbegriff Bourdieus arbeitet.52 48 Welle, Florian: Bourdieus Flaubert, in: Freibeuter 56 (1993), S. 147–150. 49 Vgl. Ritte, Jürgen: Ein weites Feld. Pierre Bourdieu als Landvermesser der Literatur, in: NZZ, 08.11.1999. 50 Vgl. Pornschlegel, Clemens: Hoch hinaus. Pierre Bourdieu analysiert die soziologischen ‚Regeln der Kunst‘, in: Süddeutsche Zeitung, 04./05.09.1999. 51 Einfalt, Michael: Nation, Gott und Modernität. Grenzen literarischer Autonomie in Frankreich 1919–1929, Tübingen: Niemeyer, 2001 (Mimesis 36); ders.: Zur Autonomie der Poesie. Literarische Debatten und Dichterstrategien in der ersten Hälfte des Second Empire, Tübingen: Niemeyer, 1992 (Mimesis 12). 52 Vgl. Wolf, Norbert Christian: Streitbare Ästhetik. Goethes kunst- und literaturtheoretische Schriften 1771–1789, Tübingen: Niemeyer, 2001 (Studien und Texte zur Sozialgeschichte der Literatur 81); Joch, Markus: Bruderkämpfe. Zum Streit um den intellektuellen Habitus in den
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Diese jungen Germanisten haben in Berlin 2004 eine Tagung ausgerichtet zum Thema: „Text und Feld. Literaturwissenschaftliche Praxis im Zeichen Bourdieus“53. Eine analoge Tagung folgte bald darauf.54 Der Ansatz der Sozioanalyse Bourdieus ist auch Norbert Christian Wolfs Habilitationsschrift über Musil verpflichtet, die schon auf beachtliche Resonanz gestoßen ist.55 Heribert Tommek organisierte zusammen mit Klaus-Michael Bogdal in Bielefeld eine Tagung zum deutschen literarischen Feld der Gegenwart56 und legt nun 2013 eine Habilitationsschrift zu diesem Thema vor.57 Diese Arbeiten junger Germanisten sind zweifellos ein sehr schöner Beleg der Fruchtbarkeit des Ansatzes von Bourdieu, welcher in diesen Arbeiten in kreativer Weise auf den deutschen Objektbereich angewandt wird. 4. DIE SOZIALEN BEDINGUNGEN DER TRANSNATIONALEN IDEEN- UND LITERATURZIRKULATION Pierre Bourdieu hat sich selber in systematischer Weise mit der transnationalen Ideenzirkulation auseinandergesetzt. Nachdem er die Kontext- und Geschichtsvergessenheit eines bestimmten philosophischen Diskurses angeprangert hatte, konnte er dem Mythos eines völlig freien Ideenflusses, der die Grenzen der Kulturräume spielend überschreite, wenig abgewinnen. In seinen Augen war die Zirkulation der Ideen an soziale Bedingungen geknüpft. Das betonte er explizit in seinem Artikel „Die gesellschaftlichen Bedingungen der internationalen Zirkulation der Ideen“58. Bourdieu rekurriert in dem genannten Aufsatz, der auf einen
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Fällen Heinrich Heine, Heinrich Mann und Hans Magnus Enzensberger, Heidelberg: Winter, 2000 (Probleme der Dichtung); Tommek, Heribert: J. M. R. Lenz. Sozioanalyse einer literarischen Laufbahn, Heidelberg: Synchron, Wiss.-Verl. der Autoren, 2003. Joch, Markus/Wolf, Norbert Christian (Hg.): Text und Feld. Bourdieu in der literaturwissenschaftlichen Praxis, Tübingen: Niemeyer, 2005 (Studien und Texte zur Sozialgeschichte der Literatur 108). Joch, Markus/Mix, York-Gothart/Wolf, Norbert Christian (Hg.): Mediale Erregungen? Autonomie und Aufmerksamkeit im Literatur- und Kulturbetrieb der Gegenwart, Tübingen: Niemeyer, 2009 (Studien und Texte zur Sozialgeschichte der Literatur 118). Wolf, Norbert Christian: Kakanien als Gesellschaftskonstruktion. Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts, Wien [u. a.]: Böhlau, 2011 (Literaturgeschichte in Studien und Quellen 20). Tommek, Heribert/Bogdal, Klaus-Michael (Hg.): Transformationen des literarischen Feldes in der Gegenwart. Sozialstruktur – Medien-Ökonomien – Autorpositionen, Heidelberg: Synchron, 2012 (Diskursivitäten 16). Tommek, Heribert: Der lange Weg in die Gegenwartsliteratur. Studien zur Geschichte des literarischen Feldes in Deutschland von 1960 bis 2000, Regensburg, Univ., Habilitationsschrift, 2013. Bourdieu, Pierre: Les conditions sociales de la circulation internationale des idées, in: Romanistische Zeitschrift für Literaturgeschichte/Cahiers d’histoire des littératures romanes 14/1– 2 (1990), S. 1–10; der Text wurde erneut publiziert in Actes de la recherche en sciences sociales 145 (Dezember 2002), S. 3–8. Der Text erschien auf Englisch: The Social Conditions of the International Circulation of Ideas, in: Shusterman, Richard (Hg.): Bourdieu. A Critical
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Vortrag zurückgeht, den er bei der Eröffnung des Freiburger Frankreich-Zentrums 1989 hielt, bewusst auf ein ökonomisches Vokabular – ähnlich wie die TransferForscher59 –, wenn er vom Import und Export der Ideen und der Werke spricht, um dadurch einer verklärenden Sicht zu entgehen. Er wendet sich gegen die Vorstellung, das intellektuelle Leben sei per se international. Auch hier herrschten, wie in den übrigen Bereichen des sozialen Lebens, Nationalismen und Imperialismen, die sich auf Vorurteile, Stereotypen, fixe Ideen und summarische Vorstellungen stützten. Der internationale Ideen- und Literaturaustausch wird (nach Bourdieu) durch eine gewisse Anzahl struktureller Faktoren bestimmt, die Missverständnisse hervorrufen können. Zunächst einmal würden die Texte oft ohne ihren Kontext zirkulieren. Wie die Transfer-Forscher stellt auch Bourdieu fest, dass die Texte zunächst gemäß der internen Logik des Aufnahmefeldes re-interpretiert werden: Die Tatsache, dass die Texte ohne ihren Kontext zirkulieren, dass sie nicht das Produktionsfeld – um meinen eigenen Jargon zu gebrauchen – mitimportieren, dessen Produkte sie sind, und dass die Rezipienten, die selber in einem anderen Produktionsfeld verankert sind, die Texte entsprechend der Struktur des Aufnahmefeldes re-interpretieren, bringt außerordentliche Missverständnisse hervor.60
Form und Funktion eines fremden Werkes werden so ebenso sehr oder noch mehr durch das Aufnahmefeld als durch das Ausgangsfeld bestimmt. Denn der Transfer wird durch eine ganze Reihe von sozialen Operationen geprägt: zuerst durch einen Selektionsprozess (Was wird übersetzt? Wer übersetzt? Welches Verlagshaus ediert den Text?), dann durch einen Prozess der Markierung (durch den Stellenwert des Verlagshauses, des Übersetzers, des Vorwortes), schließlich durch einen Prozess der Interpretation (da die Leser und die Kritiker das Werk mit den Problematiken und Wahrnehmungskriterien ihres eigenen Feldes interpretieren). Bourdieu zeigt hier auf, wie die Importe von Autoren aus einem anderen Land für eigene Zwecke instrumentalisiert werden. Die Lektüre auf der Basis der internen Bewertungskriterien könne so zu rein fiktiven Alteritäten oder Oppositionen füh-
Reader, Oxford, Malden (MA): Blackwell Publishers, 1999, S. 220–228, und auf Spanisch: Las condiciones sociales de la circulación de las ideas, in: Bourdieu, Pierre: Intelectuales, política y poder, Buenos Aires: Eudeba, 1999, S. 159–170. Die französische Fassung und die deutsche Übersetzung finden sich auch im Sammelband der Freiburger Vorträge Pierre Bourdieus: Bourdieu, Pierre: Les conditions sociales de la circulation internationale des idées/Die gesellschaftlichen Bedingungen der internationalen Zirkulation der Ideen, in: ders.: Forschen und Handeln/Recherche et Action, S. 21–48. 59 Vgl. Espagne, Michel/Werner, Michael: La construction d’une référence culturelle allemande en France. Genèse et histoire (1750–1914), in: Annales. Economies, sociétés, civilisations 42/4 (juillet–août 1987), S. 969–992; dazu auch Jurt, Joseph: Das wissenschaftliche Paradigma des Kulturtransfers, in: Berger, Günter/Sick, Franziska (Hg.): Französisch-deutscher Kulturtransfer im „Ancien Régime“, Tübingen: Stauffenburg, 2002 (Cahiers lendemains 3), S. 15–38. 60 Bourdieu: Les conditions sociales/Die gesellschaftlichen Bedingungen, S. 38.
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ren. Die nationalen Felder und ihre Kategorien hätten bei der Aufnahme die Funktion eines „entstellenden Prismas“61. Um die oft auch unbewussten Missverständnisse, Missdeutungen oder Instrumentalisierungen zu vermeiden, ist es, Bourdieu zufolge, eine vordringliche Aufgabe, in einer historischen Anamnese die Entstehung der eigenen Bewertungsund Interpretationskategorien aus der Geschichte des Bildungswesens und der wissenschaftlichen Disziplinen der jeweiligen Länder bewusst zu machen. Eine solche Arbeit der ‚Aufklärung‘ könne zur Überwindung eines (noch) real existierenden intellektuellen Nationalismus und zu einem Dialog beitragen, der nicht mehr vorrangig durch die Interessen des eigenen Feldes bestimmt wird. Um das Konzept des sozialen Subjekts zu denken, entwickelt Bourdieu Emile Durkheims Idee weiter, wonach die soziale Ordnung unser Denken und Handeln bestimmt, weil sie unsere Klassifikationssysteme modelliert. Diesen durkheimschen Ansatz hatte Bourdieu in einem 1967 veröffentlichten Artikel zu Unterrichtssystemen und Denksystemen weitergeführt.62 Denkschulen gehen ihm zufolge vom Denken der Schule aus; denn in Schriftkulturen werden die mentalen Strukturen, die grundlegenden Klassifikationsschemata durch das Schulsystem vermittelt und fungieren dann als kollektives Unbewusstes. Bourdieu rief darum immer wieder zur Bewusstmachung dieser Kategorien auf, die unsere Wahrnehmung bestimmen, ohne dass wir es merken. Durch das kulturelle Unbewusste, das sich beim Einzelnen in seiner intellektuellen Lernzeit und besonders durch seine Schulbildung entwickelt, hat ein Denken immer auch Anteil an seiner Gesellschaft und seiner Zeit. Das Bildungssystem ist einer der Orte, an denen in differenzierten Gesellschaften die Denksysteme produziert und reproduziert werden, unterstrich Bourdieu noch einmal 1989 in dem schon genannten Vortrag bei der Eröffnung des Freiburger Frankreich-Zentrums. Diese Denksysteme sind in seinen Augen das scheinbar verfeinerte Äquivalent der ‚primitiven Formen der Klassifizierung‘, deren Inventar Durkheim und Marcel Mauss für die Gesellschaften ohne Schrift erstellten. Den strukturierenden Oppositionen zwischen trocken und feucht, Osten und Westen, gekocht und roh, die in der Liste des archaischen Verständnisses aufgeführt werden, entsprechen in unseren Bildungssystemen die Gegensatzpaare von erklären und verstehen, von Quantität und Qualität usw. Diese Oppositionen enthalten nach Bourdieu auch nationale Variationen, oder anders gesagt, die in zwei Nationen – etwa Deutschland und Frankreich – dominanten Gegensatzpaare können die jeweils entgegengesetzten Begriffe beschreiben. Bourdieu erwähnte hier all die Oppositionen, die zumindest bis zum Zweiten Weltkrieg innerhalb des deutschen akademischen Diskurses so wichtig waren, etwa „die zwischen Kultur und Zivilisation, und die dazu dienen, die vornehme und authentische deutsche Tradition von der unechten, oberflächlichen französischen Tradition abzugrenzen: genau die Opposition zwischen tief (oder ernsthaft) und brillant (oder oberfläch61 Bourdieu: Les conditions sociales/Die gesellschaftlichen Bedingungen, S. 44. 62 Bourdieu, Pierre: Systèmes d’enseignement et système de pensée, in: Revue internationale des sciences sociales 19/3 (1967), S. 367–388.
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lich) oder die Opposition zwischen Inhalt und Form, zwischen Denken (oder Gefühl) und Stil (oder Esprit), zwischen Philosophie (oder Philologie) und Literatur usw. Oppositionen, die die dominante Tradition Frankreichs […] ihrerseits aufgriff, ihre Zeichen aber umpolte: Tiefe wurde Schwerfälligkeit, das Ernsthafte Schulfuchserei und das Oberflächliche französische Klarheit.“63 Das hier aufgeführte Beispiel zeigt, inwiefern unbewusste kollektive Vorstellungen das Denken der einzelnen Subjekte im Rahmen ihrer gesellschaftlichen Umwelt prägen; im sozialisierten Subjekt kommen immer Vorstellungen zum Ausdruck, die es seiner Sozialisation verdankt. Andererseits gibt es für Bourdieu keinen mechanischen Zwang zum Rückgriff auf dieses oder jenes Denk- oder Handlungsmuster. Diese Vorstellung, die eine subjektivistische Sicht ebenso überwinden will wie eine objektivistische, vertiefte Bourdieu im doppelten Sinn in seiner Kritik der theoretischen Vernunft und dem Entwurf einer Theorie der Praxis.64 5. DAS EUROPÄISCHE FORSCHUNGSPROJEKT ESSE Ausgehend von dem von Pierre Bourdieu in seinem Vortrag „Les conditions sociales de la circulation internationale des idées“ entwickelten Programm konstituierte sich 2003 unter der Federführung des Soziologie-Departements der Universität Genf (Professor Franz Schultheis) das Netzwerk ESSE. Pour un espace européen des sciences sociales, dessen Finanzierung von der EU für eine Dauer von vier Jahren bewilligt wurde (2004–2008). An diesem Netzwerk waren zehn Institutionen aus sieben Ländern beteiligt, unter anderem auch das Freiburger Frankreich-Zentrum. Das Netzwerk, das von Forschern getragen wurde, die sich am Ansatz von Pierre Bourdieu orientierten, setzte sich zum Ziel, die theoretischen und praktischen Bedingungen zu analysieren, die einen rationalen Austausch zwischen Forschern ermöglichen, die aus unterschiedlichen Traditionen und Disziplinen stammen.65 Die eigentliche theoretische Basis dieses Projekts war der schon erwähnte Vortrag „Les conditions sociales de la circulation internationale des idées“. Innerhalb des Netzwerkes ESSE haben sich zwei Sub-Gruppen gebildet; die erste besteht aus Literatursoziologen, die sich mit Austauschprozessen von Literatur und Kunst im europäischen Raum befassen; die zweite Gruppe, vor allem Sozialwissenschaftler, untersucht wissenschaftliche Transfer-Vorgänge.
63 Bourdieu: Les conditions sociales/Die gesellschaftlichen Bedingungen, S. 47. 64 Vgl. Bourdieu, Pierre: Esquisse d’une théorie de la pratique, précédé de trois études d’ethnologie kabyle, Genève: Droz, 1972 (Travaux de droit, d’économie, de sociologie et de sciences politiques 92); ders.: Méditations pascaliennes. 65 Siehe dazu Jurt, Joseph: Das Frankreich-Zentrum als Mitglied des Forschungsnetzwerkes „ESSE. Pour un espace européen des sciences sociales“, in: Bulletin des Frankreich-Zentrums 45 (November 2005), S. 2–3, auch unter http://www.fz.uni-freiburg.de/pdf/bulletin/ bulletin45.pdf (24.04.2013).
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Innerhalb dieser Forschungsgruppe wurden zahlreiche Kolloquien organisiert, deren Resultate mittlerweile (zwischen 2006 und 2010) in elf Sammelbänden publiziert wurden.66 Die bisherigen Resultate dieses Netzwerkes lassen sich grosso modo vier Themengebieten zuordnen. Zunächst wurden die allgemeinen Rahmenbedingungen der Literatur- und Ideenproduktion sowie Zirkulationsprozesse untersucht: so die Konstituierung von Nationalliteraturen in Galizien, Brasilien und Argentinien, dann das literarische Feld in Europa im Spannungsfeld der regionalen, nationalen und internationalen Dimension, die Desintegration und die Reintegration des intellektuellen Feldes in Europa sowie die nationalen und internationalen Tendenzen der aktuellen Sozialwissenschaften. Ein zweiter Schwerpunkt gilt den institutionellen Bedingungen des Literaturund Ideenaustausches im Kontext der Globalisierung: den Tendenzen des Buchmarktes und der Verlagsstrategien, den Übersetzungsprozessen. Gerade in den von Gisèle Sapiro betreuten Arbeiten wurden diese neueren Tendenzen untersucht. Es konnte so festgestellt werden, dass in den USA und in England nur etwa 4 % der produzierten Bücher Übersetzungen sind.67 Das belegt eine relativ geringe Offenheit gegenüber anderen Kulturwelten, während sich Frankreich hier in letzter Zeit sehr stark geöffnet hat. Im Zeitraum zwischen 1980 und 2004 wuchs der Anteil der übersetzen Bücher in Frankreich von 9,9 % auf 15,5 %; für den deutschsprachigen Bereich ging die Anzahl der Übersetzungen im selben Zeitraum von 17,1 % auf 6,6 % zurück und im englischsprachigen Bereich von 8,6 % auf 4,4 %. Nicht nur die Anzahl der Übersetzungen hat in Frankreich zugenommen, sondern auch die Zahl der Sprachen, aus denen übersetzt wird: innerhalb der letzten zehn Jahre von 25 auf 55 Sprachen. In den USA und in England nehmen die aus dem Französischen übersetzten Bücher den ersten Rang ein (vor denen aus dem Deutschen übertragenen). In vielen romanischsprachigen Ländern behaupten die Übersetzungen aus dem Französischen den zweiten Rang nach dem Engli66 Boschetti, Anna (Hg.): L’Espace culturel transnational, Paris: Nouveau Monde, 2010; Bourel, Dominique/Pinto, Louis (Hg.): Le Commerce des idées philosophiques, Bellecombe-enBauges: Ed. du Croquant, 2009 (Collection Champ social); Casanova, Pascale (Hg.): Des littératures combatives. L’internationale des nationalismes littéraires, Paris: Raisons d’agir, 2011 (Cours et travaux); Christin, Olivier (Hg.): Dictionnaire des concepts nomades en Sciences Humaines, Paris: Métailié, 2010; Clément, Fabrice [u. a.] (Hg.): L’Inconscient académique, Genève, Zürich: Seismo, 2006 (Pour un espace des sciences sociales européen); Jurt, Joseph (Hg.): Champ littéraire et nation. Actes d’une rencontre du reseau ESSE pour un espace des sciences sociales européen à l’Université Albert Ludwig de Fribourg, Freiburg i. Br.: Frankreich-Zentrum, 2007 (Journées d’étude/Frankreich-Zentrum der Albert-LudwigsUniversität Freiburg 7); Meizoz, Jérôme (Hg.): La Circulation internationale des littératures, Lausanne: Univ., Fac. des Lettres, 2006 (Etudes de lettres 1/2 (2006)); Sapiro, Gisèle (Hg.): Translatio. Le marché de la traduction en France à l’heure de la mondialisation, Paris: CNRS éd., 2008 (Collection „culture & société“); Sapiro, Gisèle (Hg.): L’Espace intellectuel en Europe. De la formation des Etats-nations à la mondialisation XIXe–XXIe siècle, Paris: La Découverte, 2009; Sapiro, Gisèle (Hg.): Les Contradictions de la globalisation éditoriale, Paris: Nouveau Monde, 2009. 67 Vgl. Sapiro (Hg.): Translatio, S. 30; Sapiro (Hg.): L’Espace intellectuel en Europe, S. 265.
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schen; in osteuropäischen Ländern nehmen sie den dritten Rang nach den Übersetzungen aus dem Englischen und dem Deutschen ein. Dieses gute Resultat der Übersetzungen aus dem und in das Französische verdankt sich auch wieder einer sehr aktiven staatlichen Übersetzungspolitik durch das Centre National du Livre (CNL). Ein dritter Bereich ist konkreten Rezeptionsprozessen gewidmet: so der Aufnahme von Immanuel Kant, Friedrich Nietzsche, Ludwig Wittgenstein, Georg Simmel in Frankreich sowie der Rezeption von Jane Austen oder der italienischen Literatur in Frankreich. Ein vierter Bereich ist den Aufnahmekategorien gewidmet, etwa der historischen Semantik des Weltliteraturbegriffs in der Komparatistik, den Diskussionsregeln der gelehrten Auseinandersetzung im 16. und 17. Jahrhundert, den Klassifikationsschemata in der Literatur- und Geschichtswissenschaft in Frankreich. In den genannten Kolloquien konnte die angesprochene Thematik keineswegs erschöpfend behandelt werden. Entscheidend war aber, dass das Netzwerk selber transnational angelegt war, dass es so zu einem transnationalen Austausch über die transnationale Literatur- und Ideenzirkulation und ihre sozialen Bedingungen kam. Fazit: Es bleibt noch viel zu tun… Sowohl Bourdieu wie die Transfer-Forscher unterstreichen die entscheidende Bedeutung des Aufnahmefeldes. Die Transfer-Forschung beschäftigt sich vor allem mit dem Zeitraum, der durch die Dominanz einer nationalen Konzeption der Kultur bestimmt war, grosso modo mit der Epoche von 1750 bis 1914, um aufzuzeigen, dass die behauptete nationale Homogenität nicht der Realität entspricht. Bourdieu wendet sich demgegenüber mehr den Austauschprozessen der Nachkriegszeit und der Gegenwart zu, weil er glaubt, dass der intellektuelle Nationalismus in der jüngeren Vergangenheit noch immer sehr ausgeprägt ist. Der funktionalistische Ansatz der Transfer-Forschung sucht die Umformulierungen von der Logik des Aufnahmesystems her zu verstehen und zu beschreiben. Bourdieu erklärt diese Reinterpretation ebenfalls von den Interessen des Aufnahmefeldes her; er wertet diese aber viel stärker als Missdeutungen und Instrumentalisierungen, die einen wirklichen internationalen intellektuellen Dialog erschweren oder verhindern. Bourdieu geht vor allem vom Austausch philosophischer und sozialgeschichtlicher Werke aus. Bei der Rezeption literarischer Werke ist der Begriff ‚Missdeutung‘ problematischer. Das würde ja auch heißen, dass das Ausgangsfeld über die (einzig) richtige Deutung verfügt. Beim grundsätzlich polysemisch angelegten literarischen Werk ist per se eine Vielzahl von Deutungen möglich, die das Werk bereichern.
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LITERATURVERZEICHNIS Ahlstedt, Eva: André Gide et le débat sur l’homosexualité de ‚L’immoraliste‘ (1902) à ‚Si le grain ne meurt‘ (1926), Göteborg: Acta Universitatis Gothoburgensis, 1994 (Romanica Gothoburgensia 43). Arpin, Maurice: La Fortune littéraire de Paul Nizan. Une analyse des deux réceptions critiques de son œuvre, Bern [u. a.]: Lang, 1995. Boschetti, Anna (Hg.): L’Espace culturel transnational, Paris: Nouveau Monde, 2010. Bourdieu, Pierre: Sociologie de l’Algérie, Paris: PUF, 1958. Bourdieu, Pierre (Hg.): Un art moyen. Essai sur les usages sociaux de la photographie, Paris: Minuit, 1965 (Le sens commun). Bourdieu, Pierre/Darbel, Alain: L’Amour de l’art. Les musées et leur public, Paris: Minuit, 1966 (Le sens commun). Bourdieu, Pierre: Champ intellectuel et projet créateur, in: Les Temps Modernes 246 (nov. 1966), S. 865–906. Bourdieu, Pierre: Systèmes d’enseignement et système de pensée, in: Revue internationale des sciences sociales 19/3 (1967), S. 367–388. Bourdieu, Pierre/Chamboredon, Jean-Claude/Passeron, Jean-Claude: Le Métier de sociologue, Paris: Mouton, Bordas, 1968. Bourdieu, Pierre: Zur Soziologie der symbolischen Formen. Aus d. Franz. von Wolf H. Fietkau, Frankfurt/M.: Suhrkamp, 1970 (Theorie). Bourdieu, Pierre: Künstlerische Konzeption und intellektuelles Kräftefeld, in: ders.: Zur Soziologie der symbolischen Formen, S. 75–124. Bourdieu, Pierre: Esquisse d’une théorie de la pratique, précédé de trois études d’ethnologie kabyle, Genève: Droz, 1972 (Travaux de droit, d’économie, de sociologie et de sciences politiques 92). Bourdieu, Pierre: L’invention de la vie d’artiste, in: Actes de la recherche en sciences sociales 1/2 (mars 1975), S. 67–93. Bourdieu, Pierre: Die politische Ontologie Martin Heideggers, Frankfurt/M.: Syndikat, 1976. Frz.: L’Ontologie politique de Martin Heidegger, Paris: Minuit, 1988 (Le sens commun). Bourdieu, Pierre: Algérie 60. Structures économiques et structures temporelles, Paris: Minuit, 1977. Bourdieu, Pierre: La production de la croyance. Contribution à une économie des biens symboliques, in: Actes de la recherche en sciences sociales 13 (1977), S. 3–43. Bourdieu, Pierre: Elemente zu einer soziologischen Theorie der Kunstwahrnehmung, in: Bürger, Peter (Hg.): Seminar: Literatur- und Kunstsoziologie, Frankfurt/M.: Suhrkamp, 1978, S. 418– 457. Bourdieu, Pierre: La Distinction. Critique sociale du jugement, Paris: Minuit, 1979 (Le sens commun). Bourdieu, Pierre: Questions de sociologie, Paris: Minuit, 1980 (Documents). Bourdieu, Pierre: Die Erfindung des totalen Intellektuellen, in: Romanistische Zeitschrift für Literaturgeschichte 4 (1981), S. 385–391. Bourdieu, Pierre: Titel und Stelle. Über die Reproduktion sozialer Macht, Frankfurt/M.: Europäische Verl.-Anst., 1981. Bourdieu, Pierre: Ce que parler veut dire, Paris: Fayard, 1982. Bourdieu, Pierre: „Der Kampf um die symbolische Ordnung“, Pierre Bourdieu im Gespräch mit Axel Honneth, Hermann Kocyba und Bernd Schwibs, in: Ästhetik und Kommunikation 16/61–62 (1986), S. 142–165. Bourdieu, Pierre: „…ich glaube, ich wäre sein bester Verteidiger“. Ein Gespräch [von Harold Woetzel] mit Pierre Bourdieu über die Heidegger-Kontroverse, in: Das Argument 171 (Oktober 1988), S. 723–726.
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TRANSFERT DE COMPARATISMES Michel Espagne Dans les sciences humaines et sociales, la notion de comparatisme exprime un souci de se libérer de catégories nationales ou ethniques pour développer des méthodes ou des thématiques, sinon universelles, du moins élargies. Le terme s’est d’abord développé dans le cadre de la linguistique pour pénétrer la science des religions, l’anthropologie, les études littéraires, l’histoire culturelle et sociale. D’autre part, le comparatisme a des sens différents selon les contextes dans lesquels il est envisagé. La mise en parallèle de motifs esthétiques semble s’être principalement développée dans un contexte francophone, selon le paradigme des chaires de littératures étrangères qui, au XIXe siècle, élargissaient l’espace littéraire français en intégrant quelques auteurs des littératures européennes. En Allemagne, le poids de la référence à la grammaire comparée des langues indoeuropéennes est certainement resté très fort. En Russie, la proximité de l’ethno-anthropologie et de l’analyse littéraire donne au comparatisme une dimension particulière. Chaque espace culturel a développé son comparatisme. Prenons un instant les pays du Nord. Un exemple de culture mixte et de rapprochement de la littérature française et allemande est fourni par le très connu Georg Brandes,1 incarnation d’un comparatisme qui vise moins à mettre en parallèle des écoles littéraires qu’à adopter le point de vue global d’une Weltliteratur où importent surtout les relations transversales. Brandes peut être considéré comme un prédécesseur de Joseph Texte et de Fernand Baldensperger dans une histoire du comparatisme français.2 En 1914, le principal traducteur de Friedrich Nietzsche en France, Henri Albert, publiait au Mercure de France des Essais choisis de Brandes, des portraits d’Ernest Renan, Hippolyte Taine, Nietzsche, Heinrich Heine, Alexander Kielland et Henrik Ibsen.3 Deux des références principales de Brandes étaient désignées dans cette suite de portraits, Taine et Nietzsche. Brandes s’est certes d’abord intéressé à la littérature française naturaliste mais il a fait connaître ses analyses en Allemagne et se nourrit lui aussi de deux traditions. Son principal ouvrage Les Grands Courants littéraires du XIXe siècle4 s’inscrit dans cette double filiation. A 1 2 3 4
Hertel, Hans/Møller Kristensen, Sven : The Activist Critic. A Symposium on the Political Ideas, Literary Methods and International Reception of Georg Brandes, Copenhagen : Munksgaard, 1980 (Orbis litterarum, Supplément 5). Baldensperger écrit sa notice nécrologique dans la Revue de littérature comparée en 1927. Brandes, Georg : Essais choisis : Renan, Taine, Nietzsche, Heine, Kielland, Ibsen, trad. p. S. Garling, avec une préface de Henri Albert, Paris : Mercure de France, 1914. Brandes, Georg : Hovedstrømninger i det 19. Århundredes Litteratur, Kjøbenhavn : Gyldendal, 1872–1890.
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vrai dire, il rencontra plus vite un écho en Allemagne où il parut sous le titre Die Hauptströmungen der Literatur des 19. Jahrhunderts dès 1872 dans une traduction effectuée par l’éditeur de Heinrich Heine, Adolf Strodtmann.5 Une version française partielle avec une introduction du protogermaniste Victor Basch ne parut qu’en 19026, bien après la traduction russe de 1881. Pourtant, malgré ces retards, Georg Brandes n’en reste pas moins l’un des médiateurs franco-allemands de la fin du XIXe siècle, apte à faire passer dans les deux sens des réflexions méthodologiques sur la manière d’aborder une littérature européenne globale. On ne saurait isoler les comparatismes nationaux sans tenir compte d’interactions et de transferts qui les modifient ou même simplement les constituent. Si l’on se concentre autour de l’avatar russe du comparatisme, d’Aleksandr Veselovskij à Vladimir Propp, on peut déterminer ce qui, dans son histoire, tient à des formes d’appropriation d’ouvrages ou de tendances élaborées à l’extérieur, notamment en Allemagne. En Russie, le comparatisme littéraire, profondément différent de la tradition française, entretient un lien étroit avec la discipline de la ‘poétique historique’ qui n’est rien d’autre qu’une tentative d’établir la chronologie des questions posées par l’esprit humain à travers une étude des textes dans lesquels s’est cristallisée la vie de la conscience et de leurs langues. Il dégage à cette fin des briques de construction littéraires et anthropologiques à la fois, les ‘motifs’ organisés en ‘sujets’. Veselovskij, l’initiateur de ce comparatisme fondateur des sciences humaines russes, a été renié en Union soviétique et complètement ignoré en Occident. S’il paraît utile de s’arrêter ici sur son cas, c’est parce qu’il est une figure fondatrice. Son œuvre étant considérable, on se contentera ici de quelques observations concernant son grand ouvrage théorique resté à l’état de projet avancé, la Poétique historique qui n’a pas connu de réédition intégrale entre 1913 et 20067. Aleksandr Nikolaevič Veselovskij (1838–1906)8 s’est formé principalement en Europe occidentale entre 1859 et 1869. Au cours de cette décennie passée en Occident, il fréquenta l’Université de Berlin (le médiéviste Karl Müllenhoff, l’historien de l’art Gustav Friedrich Waagen et surtout l’anthropolinguiste Heymann Steinthal) avant de parcourir l’Italie (1864–1869) qui allait devenir son domaine d’enquête privilégié. La première thèse de Veselovskij portait sur la vie pu5 6 7 8
Brandes, Georg : Die Hauptströmungen der Literatur des neunzehnten Jahrhunderts. Vorlesungen, gehalten an der Kopenhagener Universität, übers. u. eingeleitet v. Adolf Strodtmann, Berlin : Duncker, 1872–1876. Brandes, Georg : Les Grands Courants littéraires au XIXe siècle : L’école romantique en France, ouvrage traduit sur la 8e édition allemande p. A. Topin, précédé d’une introd. p. Victor Basch, Paris : Michalon, 1902. Veselovskij, Aleksandr Nikolaevič : Izbrannoe : istoričeskaâ poètika, Moskva : Rosspèn, 2006 (Rossijskie Propilei). Parmi les travaux consacrés à Veselovskij on renverra notamment à Gorskij, Ivan Konstantinovič : Aleksandr Veselovskij i sovremennost’, Moskva : Nauka, 1975, et plus récemment à l’ouvrage de Toporkov, Andrej L’vovič : Teorija mifa v russkoj filologičeskoj nauke XIX veka, Moskva : Indrik, 1997. A. L. Toporkov contextualise Veselovskij et montre notamment ses relations avec Fëdor Ivánovič Busláev (1818–1897).
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blique italienne au XIVe et XVe siècle, la seconde sur l’histoire des relations littéraires entre Orient et Occident. La formation acquise durant les années 1860 est extrêmement variée, et le nom de l’orientaliste Theodor Benfey revient parmi les références caractéristiques de cette époque de sa formation. Qui était Benfey ? Né en 1809 dans une famille juive des environs de Göttingen, Benfey est devenu sanskritiste et fait partie des orientalistes les plus notoires de sa génération. Mais l’Orient était aussi pour lui une clef facilitant la compréhension de l’histoire générale. C’est cette position, disons proto-comparatiste, qu’il défend dans sa revue Orient und Okzident ainsi que dans son texte méthodologique le plus connu, l’introduction à la traduction du Pantschatantra, antique recueil de fables indiennes.9 Cette introduction décrit un texte en cinq livres dont les versions sont si diverses et nombreuses qu’on peut à peine parler de variantes. Les croisements textuels sont si complexes que Benfey s’y perd, mais ses interrogations mêmes esquissent une méthode transposable :10 Les principaux médiateurs furent les Arabes et plus largement les musulmans car pour Benfey, la version arabe repose sur une très ancienne version persane perdue elle-même, plus fiable que les versions indiennes transmises. Certaines fables ont une connotation ésopique que Benfey met en relation avec l’existence de royaumes gréco-indiens en Bactriane. Mais Benfey accorde une grande importance à la diffusion par le bouddhisme. Elle permet d’accéder à la Chine, elle permet surtout de donner aux Mongols une fonction centrale dans la transmission vers l’Europe de moments de la littérature indienne. Dans la suite de l’introduction, Benfey va essayer pour chacun des textes de la version du Pantschatantra de suivre les voies de la dissémination des variantes, en privilégiant l’hypothèse d’un substrat bouddhique. A partir de 1872, Veselovskij enseigne à Saint-Pétersbourg et y fonde les sections d’études romanes et d’études germaniques. La réunion de ces deux domaines traditionnellement distincts, mais conciliables dans la perspective de la Russie, aboutit d’emblée à fonder les études littéraires sur des bases ethnoanthropologiques et comparatistes. Le plaidoyer de Veselovskij pour une forme de comparatisme anthropologique est antérieur de seize ans à la parution de la première revue allemande de littérature comparée, la Zeitschrift für vergleichende Literaturgeschichte de Max Koch (1886). Il a publié dans le Vestnik Evropy un long compte rendu de cet ouvrage. Il ne peut qu’approuver Max Koch lorsque celui-ci souligne qu’aucune littérature ne se développe en circuit fermé. Mais dans l’ensemble, il reproche à Max Koch de n’offrir rien de fondamentalement nouveau par rapport aux grands modèles en la matière que sont pour lui par exemple la revue Orient und Okzident de Theodor Benfey. Il semble que l’apparition d’une littérature comparée se désignant comme telle représente aux yeux de Veselovskij une sorte de régression par rapport à un 9
Voir Pantschatantra, fünf Bücher indischer Fabeln, Märchen und Erzählungen, aus dem Sanskrit übersetzt mit Einleitung und Anmerkungen von Theodor Benfey, Leipzig : Brockhaus, 1859, Theil 1 : Einleitung : Ueber das indische Grundwerk und dessen Ausflüsse, sowie über die Quellen und Verbreitung des Inhalts derselben. 10 Pantschatantra, p. 24.
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programme comparatiste plus ancien qui incluait notamment le folklore, l’orientalisme, la linguistique. Comme si Koch était passé à côté de la nature profonde d’une discipline revendiquant une sorte d’extraterritorialité et ayant recours selon les besoins à l’esthétique, à la philosophie, aux idées politiques et sociales pour saisir son véritable objet, le substrat culturel en circulation entre différentes traditions littéraires. Pour Veselovskij, la littérature est principalement une trace de la culture, et l’on ne peut distinguer les études littéraires d’une approche ethnoanthropologique des cultures. On peut se représenter son attitude comme celle d’un Jacob Grimm, dont il se réclame à l’occasion, et qui ne se contenterait pas de collectionner les récits et les éléments de mythologie propres à un espace national mais passerait d’un contexte à l’autre et chercherait à classifier ses trouvailles dans un système anthropologique. La littérature n’est pas une fin en soi, mais plutôt un outil. Ce sont moins les sources de Veselovskij qui méritent ici l’attention que son effort pour associer des esthétiques à un substrat ethno-anthropologique créant ainsi une perspective nouvelle. Il se réfère volontiers, dans son passage en revue des histoires littéraires explicitant l’émergence des genres, à cet hégélien dissident que fut Moriz Carrière qui, dans ses travaux Die Poesie : ihr Wesen und ihre Formen mit Grundzügen der vergleichenden Literaturgeschichte (1884)11 ou Die Kunst im Zusammenhang der Kulturentwicklung (1863–1873)12, tendait à faire dériver l’histoire littéraire du genre primordial de l’épopée. Le texte de Veselovskij n’est à la vérité qu’une sorte de creuset de fragments théoriques empruntés au contexte français et au contexte allemand et auxquels la recontextualisation dans une recherche sur le dépassement progressif et la dissimilation du syncrétisme des cultures primitives donne naturellement un sens différent de leur valeur originelle. Le philologue berlinois Wilhelm Scherer (1841–1886),13 considéré dans le contexte d’une histoire de la germanistique allemande comme le représentant par excellence du positivisme littéraire, retient un peu plus longuement l’attention de Veselovskij en raison de son attachement à la représentation du syncrétisme et d’un mélange récurrent de moments épiques et lyriques qui associent plus étroitement la nécessaire différenciation qu’implique l’histoire littéraire à ce tout culturel auquel doit se rattacher l’idée même de littérature. L’identification des éléments d’une littérature aux éléments d’une culture aboutit nécessairement à un formalisme esthétique, à une grammaire parallèle des formes ethniques et littéraires. La méthode développée par Veselovskij consiste à mettre en relation des productions littéraires des différents pays européens, essentiellement médiévales, avec un substrat ethnoanthropologique auxquelles elles renvoient et qui constitue 11 Carrière, Moriz : Die Poesie : ihr Wesen und ihre Formen mit Grundzügen der vergleichenden Literaturgeschichte, Leipzig : Brockhaus, 1884. 12 Carrière, Moriz : Die Kunst im Zusammenhang der Culturentwicklung und die Ideale der Menschheit, Leipzig : Brockhaus, 1863–1873. 13 Sur Scherer voir notamment Höppner, Wolfgang : Das « Ererbte, Erlebte und Erlernte » im Werk Wilhelm Scherers. Ein Beitrag zur Geschichte der Germanistik, Köln [etc.] : Böhlau, 1993 (Europäische Kulturstudien 5).
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aussi leur source. Ce rapprochement tend à favoriser une approche folklorique de la littérature qui trouve plus facilement à s’appliquer dans l’analyse des contes et des récits médiévaux. Pourtant, Veselovskij s’intéresse tout autant aux littératures antiques, gréco-latine et surtout indienne, ce qui donne à la poétique historique un champ très vaste. L’Inde est peut-être plus présente encore que la Grèce dans les investigations sur la culture comme substrat de la littérature. Elle sert particulièrement à éclairer diverses phases de son raisonnement. On rappellera tout d’abord que Veselovskij avait visiblement lu un certain nombre de grands indianistes allemands comme Benfey et Hermann Oldenberg qu’il cite volontiers. Pour lui, la découverte de l’Inde par les Allemands est un événement fondateur précédant leur découverte du Moyen Age. Elle permet ce que les travaux sur la culture grecque de Friedrich August Wolf ne permettaient pas d’atteindre : un élargissement des expériences, la possibilité de constituer des séries de faits qui ne sont plus limités à une seule culture considérée arbitrairement comme exemplaire.14 L’Inde sert aussi à conforter l’hypothèse selon laquelle les matériaux constitutifs des cultures ne doivent pas être nécessairement intégrés à une histoire. Comme chez les contemporains allemands ou français étudiant l’histoire des religions, l’Inde est pour lui un support dans la réflexion sur l’organisation sociale de ce fait collectif qu’est à ses yeux la littérature. Passons à un de ses principaux héritiers. Vladimir Propp est mondialement célébré pour la césure que représente dans l’histoire des études littéraires sa Morphologie du conte sans laquelle le structuralisme français aurait certainement eu une physionomie différente. Le travail sur les contes est une forme de comparatisme qui doit beaucoup à sa théorie des sujets et des motifs. Les deux comparatismes ont des racines allemandes. Mais pour engager une exploration de ces importations, il convient de dépasser le cadre d’un texte unique, La Morphologie du conte qui n’est au fond dans la production de Propp qu’un moment isolé, pour envisager de manière plus large une œuvre qui ne saurait s’y réduire. J’évoquerai notamment une thématique différente, celle du rire, à laquelle Propp a consacré plusieurs textes beaucoup moins connus mais susceptibles de montrer beaucoup plus exactement sa situation intellectuelle, les impulsions reçues de l’histoire des religions et de l’ethnoanthropologie allemande, son insertion dans deux traditions dont il incarne la rencontre. Le bref ouvrage sur La Morphologie du conte publié en 1928 est complété par un article qui élargit cette perspective structurale sur le récit à une étude des transformations, comme si Propp avait eu pour souci de compléter une approche synchronique d’un phénomène à la fois ethnographique et littéraire par une approche diachronique. La Morphologie du conte, sorte d’élément isolé dans une œuvre dont la complexité n’a été perçue que beaucoup plus tard, a donné lieu à d’innombrables commentaires et à un certain nombre de contresens ne tenant guère 14 Voir Veselovskij, Aleksandr Nikolaevič : Sobranìe sočinenìj Aleksandra Nikolaeviča Veselovskago, t. 2, vyp. 1, Poètika sûžetov, S.-Peterburg” : Izdanіe Otdělenìâ Russkago âzyka i slovesnosti IAN, 1913, p. 11.
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compte de son insertion dans la continuité d’une œuvre. On ne reviendra pas ici sur ce texte bien connu sinon pour noter l’importance d’une référence, au fond paradoxale, à l’épistémologie goethéenne et à la place qu’y tient la notion de morphologie. Les exergues sont dans ce texte des reconnaissances de dette. Il y a la citation de Goethe en exergue de la préface : La morphologie doit encore être légitimée comme science particulière, faisant son principal sujet de ce qui n’est traité dans les autres qu’à l’occasion et en passant, ramassant ce qui est en elles dispersé, établissant un nouveau point de vue qui permette d’examiner facilement et commodément les choses de la nature.15
C’est la réflexion de Goethe sur les plantes qui fournit le système de concepts à partir duquel Propp va étudier les contes russes.16 De même, Goethe fournit-il l’exergue du premier chapitre où il est question d’histoire des sciences, du sérieux des ancêtres qui ont posé les fondements de notre existence, une étrange manière de débuter une description structurale par un historique. Ajoutons que dans cet historique, Propp se réfère tout particulièrement à la Völkerpsychologie de Wilhelm Wundt, le psychologue de Leipzig dont il cite la tentative de typologie des contes. Après Wundt, c’est la poétique des sujets, élément central de l’œuvre théorique du comparatiste Veselovskij, que Propp évoque comme source d’inspiration. L’horizon comparatiste qui préside aux emprunts de Veselovskij se retrouve dans le formalisme de Propp. On sait que la première traduction française de Propp n’est parue qu’en 1965, que Claude Lévi-Strauss a lu ce texte dans une version anglaise qui, faisant l’économie des exergues de Goethe et de l’article complémentaire, rendait le propos de Propp difficilement compréhensible en l’écartant de son contexte. LéviStrauss interprète Propp comme une anticipation formaliste du structuralisme et cherche à établir une distinction entre les deux orientations. Propp, aux yeux de Claude Lévi-Strauss, ne serait pas assez ethnologue et n’utiliserait pas le matériel fourni par les mythes mais seulement des contes. Le formalisme de Propp pècherait par ignorance des contextes et ramènerait tout à des formes abstraites : Avant le formalisme nous ignorions, sans doute, ce que ces contes avaient en commun. Après lui, nous sommes privés de tout moyen de comprendre en quoi ils diffèrent. On a bien passé du concret à l’abstrait, mais on ne peut plus redescendre de l’abstrait au concret.17
L’idée selon laquelle la linguistique allemande du XIXe siècle, notamment l’Ecole des jeunes grammairiens, a marqué la réflexion des formalistes russes est largement admise. On commence aussi à avoir exploré la présence de références à la psychologie allemande, de Wundt à Johann Friedrich Herbart, une présence d’autant plus naturelle qu’elle avait déjà marqué en Allemagne la linguistique elle-même. Le cas de Propp est plus complexe en raison de sa culture proprement 15 Cité d’après Propp, Vladimir : Morphologie du conte, traductions de Marguerite Derrida, Tzvetan Todorov et Claude Kahn, Paris : Seuil, 1970, p. 6. 16 Sur l’utilisation littéraire de la morphologie de Goethe par Propp voir Steiner, Peter : Russian Formalism. A Metapoetics, Ithaca, London : Cornell UP, 1984. 17 Voir Lévi-Strauss, Claude : Anthropologie structurale, Paris : Plon, 1996, p. 159.
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allemande. Si la morphologie rappelle les catégories linguistiques, chez lui la notion renvoie plutôt, nous l’avons vu, à Goethe voire à Wundt, et à la médiation antérieure de Veselovskij. Une des caractéristiques de la référence allemande chez Propp, c’est la part que prend l’anthropologie ou la philologie dans ses extensions ethnoanthropologiques. Les pierres de construction du récit, épopée, conte ou mythe sont à la fois des objets littéraires, linguistiques et surtout des éléments de construction de structures sociales. Les documents publiés ces dernières années sur le Propp inconnu18 montrent clairement son identité allemande, paradoxale chez un représentant du formalisme russe. Né le 16 avril 1895, il a été baptisé à l’Eglise luthérienne de Saint-Pétersbourg sous le nom de Hermann Woldemar. Son père Johann Jakob Propp était originaire de la colonie allemande de Saratov, un Allemand de la Volga. Sa mère Elisabeth Beigel était également Allemande et elle mourut pendant le Blocus de Léningrad. Le milieu de son enfance était à vrai dire polyglotte puisque Propp parlait en allemand avec sa mère, en russe avec son père, en français avec la gouvernante. La domination de l’allemand se reconnaît néanmoins au fait qu’il avait commencé par étudier la littérature allemande en 1913, juste avant la Première Guerre mondiale, avant de passer à l’étude de la littérature russe. Dans la bibliothèque paternelle, l’enfant développe une préférence pour les biographies, notamment celles de Clemens Brentano, Christoph Martin Wieland, Ludwig Tieck, Novalis, Johann Gottfried Herder, Gotthold Ephraim Lessing, Friedrich Schiller, Joseph von Eichendorff. Pratiquant l’allemand comme sa langue maternelle, Propp, bien qu’il n’ait guère séjourné à l’étranger, est parfaitement informé de la production scientifique allemande et l’utilise régulièrement, se situant de plain-pied avec les recherches allemandes non seulement littéraires, mais aussi ethnologiques et philologiques. Prenons par exemple l’ouvrage sur les racines historiques du conte de fée dont la première édition date de 194619, époque assez tardive dans la biographie de Propp où l’on aurait pu penser que sa relation à l’Allemagne s’est distendue à la suite de la guerre. Or, on constate dans les renvois bibliographiques qui émaillent ce texte une familiarité évidente avec les travaux d’histoire et d’ethnologie religieuse émanant de l’école du philologue de Bonn Hermann Usener, fondateur de la science des religions. Outre l’étonnement que peut inspirer l’insistance avec laquelle Propp se réfère à cette école d’histoire des religions pour inspirer des textes russes relevant du folklore, il faut noter une sorte de déplacement disciplinaire lié au transfert d’éléments de la science allemande dans le contexte russe. L’étude des contes puise ses modèles et ses références dans une philologie elle-même élargie en ethnoanthropologie et en histoire de la religion. Une analyse de caractère plutôt 18 Propp, Vladimir Âkovlevič : Neizvestnyj V. Â. Propp, predislovie, sostavlenie A. N. Martynovoj, podgotovka teksta, kommentarij A. N. Martynovoj, N. A. Prozorovoj, Sankt-Peterburg : Aletejâ, 2002 (Peterburgskaâ seriâ). 19 Propp, Vladimir Âkovlevič : Istoričeskie korni volšebnoj skazki, Sankt-Peterburg : Izd-vo S.Peterburgskogo universiteta, 1996. (Original : Leningrad : Izdatel’stvo Leningr. universiteta, 1946.)
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formaliste fonde sa légitimité en important des travaux de caractère philologique. Pour cette raison, la culture allemande de Propp n’est pas un démarquage, une copie mais une recréation. L’ouvrage qu’entreprend Propp dans les années 1960, Problèmes du comique et du rire, ne sera publié qu’en 1976, après sa mort, et passera inaperçu aussi bien en Europe occidentale qu’en Russie, relégué notamment au second plan par les travaux de Mikhaïl Bakhtine sur Rabelais et le comique au XVIe siècle. La question de l’originalité du propos nous intéresse ici moins que l’importation d’approches théoriques allemandes qui s’y opère. Si les exemples de situations comiques sont essentiellement empruntés dans cet ouvrage à la littérature russe, les clefs interprétatives proviennent largement de références allemandes. Propp se réclame en principe d’une méthode inductive, c’est-à-dire partant de cas concrets pour s’élever au niveau de lois générales. Pourtant, on est frappé par le dense réseau de renvois à des esthétiques allemandes qui structure sa réflexion méthodologique. Au premier rang d’entre elles, il faut noter la présence des esthétiques psychologisantes dont celle de Johannes Volkelt (1848–1930)20 à qui l’on doit notamment le développement des esthétiques de l’intuition et qu’on peut mettre en relation avec les approches psychologiques de l’art comme celle de Wölfflin. C’est à Volkelt que renvoie Propp pour expliquer que, dans sa conception du phénomène, le comique n’est pas opposé au tragique et n’entre pas dans un système dichotomique simple. C’est Nicolai Hartmann (1882–1950) qui est mentionné pour représenter l’idée selon laquelle le comique serait lié à une exagération.21 C’est aussi à lui que fait appel Propp pour établir une distinction entre comique et humour. Hartmann enfin le convainc que la répétition amoindrit l’effet du procédé (priem) comique.22 Le comique a en effet partie liée avec le grotesque, et le compendium le plus complet des figures du grotesque reste l’ouvrage de Karl Friedrich Flögel (1729– 1788), Die Geschichte des Grotesk-Komischen, que Propp connaît bien et qu’il utilise volontiers.23 Le comique peut être cruel, et Propp cherche à le démontrer à partir de scènes particulièrement violentes empruntées à Max und Moritz de Wilhelm Busch.24 Dans l’esthétique de Friedrich Theodor Vischer (1807–1887), il puise la confirmation que le comique implique un certain relativisme des concepts moraux25. Loin de l’exubérance et du grand renversement de Bakhtine, la réflexion de Propp sur le comique ressemble, à certains égards, à un passage en revue de ce que la philosophie allemande peut apporter à la réflexion sur le comique. L’ouvrage posthume de Propp sur les problèmes du comique et du rire est annoncé et, d’une certaine manière, complété par un article de 1939, consacré au rire 20 Volkelt, Johannes : System der Ästhetik, 3 vol., München : Beck, 1905–1914. 21 Voir Propp, Vladimir Âkovlevič : Problemy komizma i smeha. Ritual’nyj smeh v fol’klore, Moskva : Labirint, 1999, p. 78. L’esthétique de Nicolai Hartmann a été publiée en 1953 (Hartmann, Nicolai : Ästhetik, Berlin : de Gruyter, 1953). 22 Voir Propp : Problemy komizma, p. 187. 23 Voir Propp : Problemy komizma, p. 79. 24 Voir Propp : Problemy komizma, p. 94. 25 Voir Propp : Problemy komizma, p. 165.
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rituel dans le folklore. Partant du conte de la princesse qui ne riait jamais, l’auteur s’engage dans une enquête sur la place du rire dans l’histoire des religions. La plupart de ses références sont allemandes et on a, une fois encore, affaire au passage d’une étude d’histoire religieuse à une étude comparée des traditions folkloriques, à un transfert d’un savoir ressortissant à la philologie et à l’histoire des religions à la science du folklore, à un transfert des sciences humaines allemandes aux sciences humaines russes. Certes, les virtualités ethnoanthropologiques de la science des religions sont déjà présentes chez les auteurs allemands auxquels se réfère Propp, mais elles sont largement développées dans le contexte russe qui y ajoute notamment la dimension de schématisation formelle, de quête d’une grammaire des formes qui marquait déjà le livre sur la morphologie. On est frappé par la liste des auteurs auxquels renvoie à ce propos Propp et qui englobe, en fait, toute l’école de Usener.26 Il y a aussi des allusions à Salomon Reinach, qui est certes français, mais incarne le même type d’approche de l’Antiquité qu’Usener et ses disciples. « Usener », écrit Propp, « identifie le rire à l’occasion de la mort et des enterrements aux lamentations et considère que le rire libère du chagrin. C’est pourquoi il faut se moquer de la personne en deuil ; c’est pourquoi à côté des pleureurs on peut observer des bouffons »27. La fonction vitale du rire est apparentée à la sexualité qui favorise les récoltes. Des textes antiques liés au culte de Déméter comme des récits de l’Edda transmis par Karl Simrock attestent de cette continuité entre le rire porteur de vie et la fécondation de la terre. Propp met alors en évidence un parallélisme entre Déméter et la princesse qui ne rit pas dans le conte russe. La tentative de comprendre le phénomène du rire sert de support à une translation de la philologie allemande dans le folklore russe. Le conte de la princesse qui ne riait pas invite à une exploration des religions antiques et du culte de Déméter. Le moyen terme entre la philologie et l’étude du folklore russe est encore fourni par l’ethnoanthropologie allemande, en particulier par Franz Boas qui était à l’évidence une référence importante pour Propp dans les années 1930. De la différenciation des genres littéraires à partir du syncrétisme originel à la théorie des motifs et des sujets, la poétique historique de Veselovskij, forme première du comparatisme russe, est une contribution à l’anthropologie culturelle tout autant qu’à l’histoire littéraire. En croisant les références françaises et allemandes, littéraires et anthropologiques, les exemples empruntés aux littératures médiévale, grecque ou sanskrite, elle aboutit à une nouvelle définition du concept de culture. Reposant sur les combinaisons variées de pierres de constructions sociales qu’on retrouve dans les divers contextes nationaux, cette conception de la culture est visiblement le résultat d’un transfert de productions scientifiques françaises et allemandes dans un contexte académique nouveau en voie de consti26 Usener avait écrit en 1904 un article intitulé « Klagen und Lachen », paru dans Rheinisches Museum für Philologie 59 (1904), p. 625–626, plus tard intégré à Usener, Hermann : Kleine Schriften, vol. 4 : Arbeiten zur Religionsgeschichte, Leipzig, Berlin : Teubner, 1913, p. 469– 470. 27 Propp, Vladimir Âkovlevič : Problemy komizma i smeha, p. 214. Traduction Michel Espagne.
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tution. Déterminant des orientations dans la longue durée, elle identifie l’histoire littéraire à un comparatisme d’un ordre très spécifique et constitue l’une des racines du formalisme. A ce titre, elle a une fonction de miroir des sciences humaines franco-allemandes de la fin du XIXe siècle et met en évidence leurs virtualités oubliées. Propp illustre la continuité de ce transfert de comparatismes. On connaît l’importance de la notion de morphologie dans les écrits scientifiques de Goethe. Si l’on adopte le fil directeur des écrits sur le rire et le comique, on s’aperçoit que Propp avait en chantier à sa mort une théorie du rire fondée sur une connaissance approfondie des traités allemands d’esthétique et puisant largement dans l’histoire allemande des religions. Propp n’est pas le seul représentant d’une forme de pensée formaliste à visée comparatiste à avoir importé et métamorphosé des impulsions obtenues dans la fréquentation des sciences humaines allemandes du XIXe siècle, linguistique, psychologie, philologie et anthropologie. Ces transformations constituent en elles-mêmes un objet de recherche dont l’intérêt est d’autant plus grand qu’il s’agit, dans le cas de Propp, d’observer le passage d’une approche comparatiste des sciences humaines à une autre forme de comparatisme qui tente de convertir l’héritage allemand en une morphologie des invariants. BIBLIOGRAPHIE SELECTIVE Brandes, Georg : Hovedstrømninger i det 19. Århundredes Litteratur, Kjøbenhavn : Gyldendal, 1872–1890. En allemand : Die Hauptströmungen der Literatur des neunzehnten Jahrhunderts. Vorlesungen, gehalten an der Kopenhagener Universität, übers. u. eingeleitet v. Adolf Strodtmann, Berlin : Duncker, 1872–1876. Version partielle française : Les Grands Courants littéraires au XIXe siècle : L’école romantique en France, ouvrage traduit sur la 8e édition allemande p. A. Topin, précédé d’une introd. p. Victor Basch, Paris : Michalon, 1902. Brandes, Georg : Essais choisis : Renan, Taine, Nietzsche, Heine, Kielland, Ibsen, trad. p. S. Garling, avec une préface de Henri Albert, Paris : Mercure de France, 1914. Carrière, Moriz : Die Kunst im Zusammenhang der Culturentwicklung und die Ideale der Menschheit, Leipzig : Brockhaus, 1863–1873. Carrière, Moriz : Die Poesie : ihr Wesen und ihre Formen mit Grundzügen der vergleichenden Literaturgeschichte, Leipzig : Brockhaus, 1884. Gorskij, Ivan Konstantinovič : Aleksandr Veselovskij i sovremennost’, Moskva : Nauka, 1975. Hartmann, Nicolai : Ästhetik, Berlin : de Gruyter, 1953. Hertel, Hans/Møller Kristensen, Sven : The Activist Critic. A Symposium on the Political Ideas, Literary Methods and International Reception of Georg Brandes, Copenhagen : Munksgaard, 1980 (Orbis litterarum, Supplément 5). Höppner, Wolfgang : Das « Ererbte, Erlebte und Erlernte » im Werk Wilhelm Scherers. Ein Beitrag zur Geschichte der Germanistik, Köln [etc.] : Böhlau, 1993 (Europäische Kulturstudien 5). Lévi-Strauss, Claude : Anthropologie structurale, Paris : Plon, 1996. Pantschatantra, fünf Bücher indischer Fabeln, Märchen und Erzählungen, aus dem Sanskrit übersetzt mit Einleitung und Anmerkungen von Theodor Benfey, Leipzig : Brockhaus, 1859, Theil 1 : Einleitung : Ueber das indische Grundwerk und dessen Ausflüsse, sowie über die Quellen und Verbreitung des Inhalts derselben. Propp, Vladimir : Morphologie du conte, traductions de Marguerite Derrida, Tzvetan Todorov et Claude Kahn, Paris : Seuil, 1970.
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Propp, Vladimir Âkovlevič : Istoričeskie korni volšebnoj skazki, Sankt-Peterburg : Izd-vo S.-Peterburgskogo universiteta, 1996. (Original : Leningrad : Izdatel’stvo Leningr. universiteta, 1946.) Propp, Vladimir Âkovlevič : Problemy komizma i smeha. Ritual’nyj smeh v fol’klore, Moskva : Labirint, 1999. Propp, Vladimir Âkovlevič : Neizvestnyj V. Â. Propp, predislovie, sostavlenie A. N. Martynovoj, podgotovka teksta, kommentarij A. N. Martynovoj, N. A. Prozorovoj, Sankt-Peterburg : Aletejâ, 2002 (Peterburgskaâ seriâ). Steiner, Peter : Russian Formalism. A Metapoetics, Ithaca, London : Cornell UP, 1984. Toporkov, Andrej L’vovič : Teorija mifa v russkoj filologičeskoj nauke XIX veka, Moskva : Indrik, 1997. Usener, Hermann : Klagen und Lachen, ds. : Rheinisches Museum für Philologie 59 (1904), p. 625–626, plus tard intégré à Usener, Hermann : Kleine Schriften, vol. 4 : Arbeiten zur Religionsgeschichte, Leipzig, Berlin : Teubner, 1913, p. 469–470. Veselovskij, Aleksandr Nikolaevič : Sobranìe sočinenìj Aleksandra Nikolaeviča Veselovskago, t. 2, vyp. 1, Poètika sûžetov, S.-Peterburg” : Izdanіe Otdělenìâ Russkago âzyka i slovesnosti IAN, 1913. Veselovskij, Aleksandr Nikolaevič : Izbrannoe : istoričeskaâ poètika, Moskva : Rosspèn, 2006 (Rossijskie Propilei). Volkelt, Johannes : System der Ästhetik, 3 vol., München : Beck, 1905–1914.
IV. (VERGLEICHS-)VERFAHREN Bilaterales, multilaterales und ‚illegitimes‘ Vergleichen
KÖRPER UND TEXTE Zur entstehungsgeschichtlichen Nähe von Komparatistik und vergleichender Anatomie Michael Eggers Dieser Beitrag vertritt die These, dass sich die Frage nach der methodischen Relevanz des Vergleichs für die Komparatistik mit rein theoretischen Argumenten nicht hinreichend beantworten lässt. Es bedarf eines historischen Blicks, um zu verstehen, weshalb die Komparatistik überhaupt eine vergleichende Wissenschaft ist und aus welchen Wissensbereichen die Methode eigentlich stammt. Genauer zu betrachten ist deshalb die Phase im frühen 19. Jahrhundert, in der sich die Vergleichsmethode fachübergreifend durchgesetzt hat, sodass sie die folgenden Jahrzehnte beherrschen konnte.1 Man muss also die Aufmerksamkeit auf den fachlichen Ausdifferenzierungsprozess zwischen den sich als solche erst etablierenden Sprach- und Literaturwissenschaften und den Naturwissenschaften um 1800 lenken. Denn in diesem Prozess spielt die Methode des Vergleichs eine tragende Rolle, da ja bekanntermaßen die ersten Ansätze einer literarischen Komparatistik eine nicht nur historiografische Ausrichtung haben, nicht nur frühe Literaturgeschichten unterschiedlicher Nationen schreiben, sondern unter der Bezeichnung littérature comparée bzw. ‚vergleichende Literaturgeschichte‘ an eine interdisziplinäre Entwicklung anknüpfen, in deren Zuge sich sehr viele heterogene Wissensbereiche als jeweils ihrerseits ‚vergleichende Wissenschaften‘ zu etablieren versuchen. Wenn im Folgenden nun konkret das Verhältnis zwischen der frühen littérature comparée und der vergleichenden Anatomie dargestellt wird, dann im Sinne eines doppelten methodischen Interesses an der interkulturellen Wissenschaftsgeschichte2: Es sind – ausgehend von Abel-François Villemain – punktuell die direkten Einflüsse der Akteure der jeweiligen Wissensgebiete aufeinander aufzeigen, um damit das epistemologische Verhältnis der Fachgebiete zueinander für den Untersuchungszeitraum zu charakterisieren. Es lässt sich historisch belegen, dass die Methode des Vergleichs zur expliziten fachlichen Bezeichnung eines Wissensbereichs zum ersten Mal in den Natur-
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Für einen Überblick vgl. Rothacker, Erich: Die vergleichende Methode in den Geisteswissenschaften, in: Zeitschrift für Rechtswissenschaften 60 (1957), S. 13–33. Vgl. Middell, Katharina/Middell, Matthias: Forschungen zum Kulturtransfer. Frankreich und Deutschland, in: Grenzgänge 1 (1994), S. 107–122, hier S. 119: „Die Wissenschaftsgeschichte ist ein Gebiet des Transfers par excellence“.
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wissenschaften zum Einsatz kommt. Seit dem späten 17. Jahrhundert entstehen in England erste Abhandlungen, die den Ausdruck comparative anatomy im Titel tragen.3 Gleichwohl fehlt ein wirklicher disziplinärer oder methodischer Zusammenhang des Fachs. Alexander Monro (primus) beklagt 1744 in seinem Essay on Comparative Anatomy das Fehlen eines wissenschaftlichen Systems, das einen Überblick über die wesentlichsten Unterschiede im Körperbau der Tiere geben könnte.4 Eine über Einzelstudien hinausgehende und die Methode selbst ausführlich reflektierende vergleichende Wissenschaft entwickelt sich erst seit den naturhistorischen Klassifikations- und Systematisierungsversuchen des 18. Jahrhunderts (Carl von Linné) – nachdem also die Wissensbestände erheblich erweitert worden sind und mit der Anwendung des Vergleichs auf empirische Daten eine Möglichkeit gefunden ist, Wissen zu ordnen und einzelne Deutungen und Erkenntnisse in ein übergreifendes System zu integrieren. Auf dieser Grundlage avanciert die vergleichende Anatomie dann aber um 1800 zu einer überaus öffentlichkeitswirksamen und einflussreichen Wissenschaft, die das Vergleichen zum Paradigma erhebt. Der institutionelle Beginn der Disziplin ist für das Jahr 1802 anzusetzen, in dem die Professur für die Anatomie der Tiere am Pariser Muséum d’histoire naturelle in eine Professur für vergleichende Anatomie umbenannt und Georges Cuvier als deren erster Inhaber berufen wird.5 Cuvier beginnt 1800 mit der Veröffentlichung seiner bahnbrechenden Leçons d’anatomie comparée, 1805 folgt Johann Friedrich Blumenbachs Handbuch der vergleichenden Anatomie, um nur wenige frühe Eckdaten zu nennen. Alle daraufhin in rascher Folge vor allem in Frankreich und Deutschland entstehenden vergleichenden Wissenschaften begeben sich in das Fahrwasser der naturhistorischen und biologischen Disziplinen. So unternimmt, noch vor der Adaption der Vergleichsformel durch die Literaturwissenschaften, Joseph Marie Degérando 1804 seine Histoire comparée des systèmes de philosophie, entwirft Carl Ritter seine vergleichende Geografie und begründen Friedrich Schlegel, Franz Bopp und Wilhelm von Humboldt die vergleichende Sprachwissenschaft. Worauf ist diese immense Ausstrahlung des vergleichenden Ansatzes seit seiner Anwendung in der Biologie zurückzuführen, und vor allem, lässt sich über die Fachbezeichnung hinaus auch ein methodischer Transfer von der Anatomie in die literaturwissenschaftliche Komparatistik feststellen? Die Geschichtsschreibung der Komparatistik hat die historische Nachbarschaft des eigenen Fachs zur vergleichenden Anatomie schon früh zur Kenntnis genommen, ohne der Frage nach einer methodischen Parallele oder epistemologi-
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Vgl. Cole, Francis J.: A History of Comparative Anatomy. From Aristotle to the 18. Century, London: MacMillan, 1944. „But no one author, as I know of, has given us a system of this science where we might have a summary View of the most material differences in the structure of animals.“ Monro, Alexander: An Essay on Comparative Anatomy, London: John Nourse, 1744, S. 20. Vgl. Cunningham, Andrew: The Anatomist Anatomis’d. An Experimental Discipline in Enlightenment Europe, Farnham, Surrey: Ashgate, 2010, S. 375 f.
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schen Nähe der Disziplinen gezielt nachzugehen. Zu groß erschien wohl im Rückblick der Graben, der sich seit dem späten 19. Jahrhundert zwischen Natur- und Geisteswissenschaften aufgetan hatte, als dass mehr als eine oberflächliche Anlehnung der Bezeichnung littérature comparée an die anatomie comparée denkbar gewesen wäre. So beschreibt Fernand Baldensperger 1921 den sich zu Beginn des 19. Jahrhunderts abspielenden Konstitutionsprozess der „sciences ‚comparatives‘ en biologie“6 als Inspiration für die Literaturgeschichte der damaligen Zeit, betont aber, dass methodische Anleihen nicht stattgefunden hätten: Sans qu’il pût s’agir assurément, pour l’histoire littéraire, d’emprunter aux sciences biologiques une méthode et des procédés, elle y trouvaient une tendance qui méritait d’animer à leur tour diverses études du passé.7
Auch Baldensperger selbst unternimmt keinen detaillierten Vergleich der Biologie mit den Anfängen der Literaturgeschichte, seine Andeutungen können jedoch im Hinblick auf das genealogisch und historisch ausgerichtete Erkenntnisinteresse der frühen vergleichenden Linguistik und Komparatistik ergänzt werden: Sowohl die Sprach- und Literaturwissenschaften als auch die Studien zur vergleichenden Anatomie stellen ihre Vergleiche in den Dienst einer Rekonstruktion der Vergangenheit und einer Suche nach den Ursprüngen und Kausalitäten der in den Blick genommenen Phänomene. Während die Anatomie seit Cuvier eine paläontologische Indiziensuche betreibt und die Entwicklungsgeschichte der Organismen durch den Vergleich lebender Arten mit Fossilien nachzuvollziehen versucht, geht es einer vergleichenden Literaturgeschichte darum, kulturelle Spezifika national zu definieren, „pour apercevoir, à l’origine, les littératures et le génie des principaux peuples de l’Europe“, so Abel-François Villemain.8 René Wellek und Austin Warren machen darauf aufmerksam, dass der französische Literaturhistoriker und Stichwortgeber einer littérature comparée Villemain sich in seiner Untersuchung der französischen, englischen, spanischen und italienischen Literatur offensichtlich an Cuviers anatomie comparée orientiert hat – auch Wellek/Warren belassen es aber bei der Feststellung einer solchen Namenspatenschaft der jeweiligen Wissensgebiete, ohne darin eine methodologische Dimension zu erkennen.9 Es scheint also, als sei die vergleichende Anatomie selbst bislang noch nicht herangezogen worden, um sie in ihrer Rolle als Stifterin oder Anregerin einer ver-
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Baldensperger, Fernand: Littérature comparée. Le mot et la chose, in: Revue de littérature comparée 1 (1921), S. 5–29, hier S. 13. Baldensperger: Littérature comparée, S. 14. Villemain, Abel-François: Cours de littérature française. Tableau de la littérature du moyen âge 1, tome VI, Bruxelles: Hauman, 1840, S. 3. Die Publikationsgeschichte dieses mehrbändigen Werks erstreckt sich von 1829 bis 1864. Vgl. Wellek, René/Warren, Austin: Theory of Literature, New York: Harcourt, Brace and Co., 1952, S. 38. Vgl. dazu auch Neubauer, John: Epigenetische Literaturgeschichten bei August Wilhelm und Friedrich Schlegel, in: Wegner, Reinhard (Hg.): Kunst – die andere Natur, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 2004, S. 211–227, hier S. 226.
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gleichenden Literaturwissenschaft zu beurteilen und auf evtl. methodische Parallelen hin zu befragen. Zieht man nun allerdings in Betracht, dass Villemain, der „Großmeister und exemplarische Vertreter der französischen Literaturkritik“ der 1820er und 1830er Jahre und berühmte Elogenschreiber,10 Cuvier nicht nur in den elitären und intellektuellen Zirkeln von Paris kennenlernt11 und nach dessen Tod 1832 eine Grabrede auf den Naturforscher hält,12 sondern sich in seiner Eigenschaft als Sekretär der Académie Française mit Naturwissenschaftlern wie Eugène Chevreul über die Möglichkeit einer allgemeinen Methodologie der Wissenschaften austauscht,13 so ahnt man, dass er mit der bewusst von ihm ins Spiel gebrachten terminologischen Parallele von littérature und anatomie comparée durchaus auf einen gemeinsamen epistemologischen Hintergrund spekuliert: Wenn er nämlich die Formel der ‚vergleichenden Wissenschaft‘ von Cuvier übernimmt, so gibt er damit zu erkennen, dass er eine gemeinsame, allgemeine Wissensund Verfahrensbasis der Mischung von Biologie und Paläontologie, wie Cuvier sie betreibt, und der von ihm selbst praktizierten Literaturgeschichte voraussetzt. Dies umso mehr, als die Anatomie aus französischer Sicht aufgrund ihrer eindrucksvollen Entdeckungen zu einer Leitdisziplin der Wissenschaften aufgestiegen ist: „l’anatomie comparée, la gloire de notre époque“14. Die Literaturgeschichtsschreibung Villemains, wie sie in seinem Hauptwerk, dem Cours de littérature française, nachzulesen ist, hat dabei allerdings etwas gänzlich Untheoretisches. Sie wird getragen von dem Glauben an das kreative Genie einzelner Autoren, deren monumentale Bedeutung die jeweilige Nationalliteratur maßgeblich prägt. Der Stil Villemains muss aus heutiger Sicht als eher feuilletonistisch gelten und seine Bedeutung bei den Zeitgenossen ist, so Erwin Koppen, weniger auf eine poetologische oder theoretische Weiterentwicklung des Diskussionsstands der Zeit als auf sein stilistisches und rhetorisches Talent und die entsprechend große öffentliche Wirkung seiner Vorlesungen zurückzuführen. Tragen diese Fähigkeiten nur zu Lebzeiten des Autors zu dessen Einfluss und Renommee bei, so ist es die komparatistische Ausrichtung des Cours, die Villemain noch heute einen Platz in der Geschichte der Literaturtheorie sichert und ihn als einen der Initiatoren der vergleichenden Literaturgeschichte auszeichnet. Was nun den Bezug zu den komparativen Fachrichtungen der Biologie angeht, so sei Koppens nüchterne Darstellung zitiert:
10 Vgl. Koppen, Erwin: Abel-François Villemain, in: Lange, Wolf-Dieter (Hg.): Französische Literatur des 19. Jahrhunderts, Heidelberg: Quelle & Meyer, 1979, S. 70–81, hier S. 70. 11 Vgl. Vauthier, Gabriel: Villemain 1790–1870. Essai sur sa vie, son rôle et ses ouvrages, Paris: Perrin et cie, 1913, S. 21. 12 Vgl. Villemain, Abel-François: Funérailles de M. le Baron Cuvier. Discours de M. Villemain… le mercredi 16 mars 1832, Paris: Didot, 1832. Siehe auch sein Lob Cuviers als ein ‚neuer Leibniz‘, in: ders.: Souvenirs contemporains d’histoire et de littérature, première Partie, Paris: Didier, 21854, S. 466 f. 13 Vgl. Chevreul, Eugène: Lettres adressées à M. Villemain sur la méthode en général et sur définition du mot Fait relativement aux sciences, aux lettres, Paris: Garnier, 1856. 14 Villemain: Cours, S. 288.
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Mit der Verwendung des Terminus ‚comparée‘ gab man sich hochaktuell: die vergleichende Methode, die mit Hilfe des exakten Vergleichs äußerlich verschiedenartiger Phänomene bisher unbeachtete Analoga, Parallelen oder Ähnlichkeiten feststellte und durch deren Analyse dann Kausalitäten, Genealogien, Entwicklungsgesetze usw. erschloß, um schließlich ganze (meist diachronische) Systeme zu beschreiben, hatte zu jener Zeit in bestimmten Wissenschaftszweigen (z. B. in der Anatomie und der Sprachwissenschaft) zu bemerkenswerten Ergebnissen geführt und galt als modern und heuristisch vielversprechend. Nur nebenbei sei bemerkt, daß – mit Ausnahme einiger positivistischer Seitenzweige – die Komparatistik nie in diesem Sinne eine ‚vergleichende‘ Wissenschaft war, sondern sich eher durch die internationale Ausdehnung des Gegenstandes denn durch eine spezifische Methode definierte. Auch Villemains Vorlesungen waren im methodischen Sinne keinesfalls ‚vergleichend‘, und […] auch nicht einmal als solche angekündigt. Erst in den Vorworten zu den später publizierten Mitschriften wies Villemain auf den komparatistischen Charakter seiner Vorlesungen hin oder bezeichnete sie gar expressis verbis als ‚vergleichend‘.15
Zunächst ist Koppen zuzustimmen. Methodisch gesehen gibt es in der Tat große, offensichtliche Unterschiede zwischen den Vergleichspraxen der Biologie und der Literaturgeschichte. Zwar verfolgen beide, wie erwähnt, ein diachronisches Interesse in der Darstellung ihres Gegenstandes: Die Naturgeschichte hofft schon seit dem von Villemain als Genie gepriesenen Georges-Louis Leclerc de Buffon und noch vor der Einführung der Evolutionstheorie, die verschiedenen Stadien der Geschichte der Erde und der Natur zu ermitteln, und die Literaturgeschichte wendet sich im ersten Drittel des 19. Jahrhunderts nicht mehr nur der Antike, sondern auch dem Mittelalter und der Entstehung der modernen Sprachen zu. Doch interessiert sich letztere eben nicht für die Identifikation der Gattungen und Arten und für die Fragen der Klassifikation, die im Mittelpunkt der vergleichenden Anatomie oder der Botanik stehen, sie hat auch keine Entsprechung zur anatomischen Bestimmung der Körperteile und Organe nach deren Zwecken und Funktionen. Ungeachtet seiner Anlehnung an Cuvier weist Villemains Literaturkritik und -geschichte, schon allein wegen der ihr abgehenden theoretischen Reflexionsebene, die ja zumindest eine gattungspoetologische Analyse exemplarischer Werke erlaubt hätte, kaum methodische Berührungspunkte zur Vergleichspraxis der Anatomie auf und ist ja auch, anders als diese, eine in der Abstraktion der Sprache verbleibende Wissenschaft ohne die Empirie des Labors, von der die zeitgenössische Anatomie ausgeht. Und dennoch würde man es sich zu leicht machen, wenn man das von Villemain benutzte Epitheton ,vergleichend‘ nur als modisches Beiwort verstehen würde. Denn Koppens Befund vernachlässigt zweierlei: die zeitgenössische Auffassung, der zufolge von einer, gemessen an der heutigen Sicht, sehr viel größeren Nähe der Gegenstandsbereiche von Literatur- und Naturgeschichte auszugehen ist, sowie die den Positionen Cuviers und Villemains unmittelbar vorausgehende intellektuelle und wissenschaftliche Entwicklung. Die Betrachtung beider Aspekte vermag deutlich zu machen, dass sich die Literaturgeschichte, und zwar gerade in ihrer komparatistischen Ausrichtung, erst allmählich aus einer zunächst recht engen
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epistemologischen Verwandtschaft zur Naturgeschichte entfernt. Zu diesem Zweck ist es nötig, den Blick von Villemain aus historisch rückwärts in die Vergangenheit zu richten. In der Literaturgeschichte Villemains ist die Entwicklung der literarischen Formen zum einen an das persönliche Genie einzelner großer Autoren, zum anderen an die Geschichte der Sprachen, ihre Vermischung, Verbreitung und jeweilige Dominanz in Europa zurückgebunden. Demnach haben vor allem Sprachwechsel und -wandel einen prägenden Einfluss auf Kultur und Literatur: Car l’esprit des hommes est tellement dominé par les formes du langage, que même des hommes nouveaux de race et d’esprit, s’ils prennent usage d’une vieille langue, perdront quelque chose de leur caractère natif, et que, si plusieurs races se mêlent, elles ne formeront un peuple que lorsqu’elles auront une langue commune et nouvelle.16
Villemain stützt sich mit sprachtheoretischen Ansichten wie dieser auf August Wilhelm Schlegel,17 der mit seiner Geschichte und Typologie der analytischen und synthetischen Sprachen wiederum an das sprachwissenschaftliche Schlüsselwerk seines Bruders Friedrich, Über die Sprache und Weisheit der Indier (1808), anschließt. Es ist die von Villemain dankbar aufgenommene Motivation der Schlegels, die modernen europäischen Sprachen als legitime Nachfolger der klassischen antiken Sprachen sowie des als gemeinsame Ursprache betrachteten Sanskrit ins Licht zu rücken, um damit deren besondere funktionale und ästhetische Qualität historisch zu belegen und argumentativ zu untermauern. Ganz im Sinne August Wilhelm Schlegels und mit dessen Terminologie beschreibt Villemain den historischen Prozess eines allmählichen Übergangs der antiken, sogenannten synthetischen zu den modernen analytischen Sprachen als eine natürliche Entwicklung mit eigener Antriebskraft. Während Villemain nun die Entwicklung der literarischen Formen auf das individuelle Genie Einzelner zurückführt, setzt er im Bereich der Sprache die Arbeit eines nicht an einzelne Subjekte gebundenen Geistes an dessen Stelle. Diese vom Einzelnen abstrahierte Tätigkeit des Geistes manifestiert sich im Wandel der Sprache, sie bezieht ihre Kraft also aus der beständigen Aktivität der Teilnehmer einer Sprachgemeinschaft, die beide Seiten, die Sprache und ihre Nutzer, verändert. „[I]l y a“, so Villemain, „dans les langues et dans l’esprit de l’homme un travail continu qui s’opère.”18 So wäre etwa die Entstehung der romanischen Sprachen aus der Verschmelzung verschiedener Schichten des Latein zu verstehen als ein „travail naturel de l’esprit, cherchant, à mesure qu’il se raffine, une plus grande précision, une plus grande clarté dans le langage“19, als Übergang also von einem für poetische und
16 Villemain: Cours, S. 6. 17 Siehe vor allem Villemain: Cours, S. 39–44. A. W. Schlegel entwirft seine Unterscheidung in den Observations sur la langue et la littérature provençales, in: ders.: Œuvres de M. AugusteGuillaume de Schlegel, écrites en français et publiées par Edouard Böcking, tome second, Leipzig: Weidmann, 1846, S. 149–250. 18 Villemain: Cours, S. 42. 19 Villemain: Cours, S. 44.
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rhetorische Zwecke geeigneten, synthetischen Latein zu den modernen analytischen Sprachen, die sich durch eine größere geistige Transparenz und Ordnung auszeichnen. Diese selbsttätige Antriebskraft, die die Sprache wandelt und die Villemain in einem kollektiven menschlichen Geist verortet, ist ein deutliches Echo der organischen Ausdrucksfähigkeit, die Friedrich Schlegel in den von ihm historisch bevorzugten antiken Sprachen erkennt. Sie lässt sich als Analogon einer in natürlichen Organismen tätigen Bildungskraft lesen, wie sie zeitgenössisch von den Befürwortern der biologischen Theorie der Epigenese angenommen wird. Wie natürliche Organismen wachsen, wie ein verletzter Körper sich im Heilungsprozess wiederherstellt und wie Pflanzen oder Tiere sich an eine veränderte Umgebung anpassen können, so würde demnach eine Sprache durch Anpassung und Aufnahme fremder Elemente ihre Gestalt verändern und an neuen Erfordernissen ausrichten können.20 Es stellt sich so, über die enge Bindung der Literaturgeschichte Villemains an die Sprachgeschichte und den Anschluss an die romantische Sprachwissenschaft, auch eine Verbindung zur Biologie des frühen 19. Jahrhunderts her. Belässt Villemain diesen Bezug der Wissensbereiche noch in Andeutungen, so hatte Friedrich Schlegel seine praktische Umsetzung zuvor schon für seine sprachgeschichtlichen Forschungen ganz explizit in Aussicht gestellt: Jener entscheidende Punkt aber, der hier alles aufhellen wird, ist die innere Struktur der Sprachen oder die vergleichende Grammatik, welche uns ganz neue Aufschlüsse über die Genealogie der Sprachen auf ähnliche Weise geben wird, wie die vergleichende Anatomie über die höhere Naturgeschichte Licht verbreitet hat.21
Es ist zu vermuten, dass auch Friedrich Schlegel, dessen Buch über die indische Sprache Studien in Paris während der ersten Jahre des 19. Jahrhunderts vorausgehen, bei seiner Formulierung an Cuvier gedacht hat. Er könnte allerdings auch einen deutschen Naturhistoriker im Sinn gehabt haben, nämlich Carl Friedrich Kielmeyer, der während der 1780er Jahre Naturwissenschaften, aber ab 1790 dann Zoologie an der Hohen Karlsschule in Stuttgart unterrichtete. In diese Eliteanstalt des Herzogs von Württemberg wird ab 1784 auch Georges Cuvier aufgenommen. Dort lernen sich beide kennen und Cuvier erhält seine erste Ausbildung in anatomischen Studien durch Kielmeyer, mit dem er bis zu dessen Tod im Briefwechsel steht und dessen Vorlesungsabschriften ihm auch nach seiner Stuttgarter Zeit nach
20 Vergleiche zu Schlegels Sprachtheorie in dieser Hinsicht Eggers, Michael: Von Pflanzen und Engeln. Friedrich Schlegels Sprachdenken im Kontext der frühen Biologie, in: Kleinschmidt, Erich (Hg.): Die Lesbarkeit der Romantik. Material, Medium, Diskurs, Berlin: de Gruyter, 2009, S. 159–183; zur Epigenese in der Linguistik Wilhelm von Humboldts vgl. MüllerSievers, Helmut: Epigenesis. Naturphilosophie im Sprachdenken Wilhelm von Humboldts, Paderborn: Schöningh, 1993 (Humboldt-Studien). 21 Schlegel, Friedrich: Über die Sprache und Weisheit der Indier, in: Behler, Ernst (Hg.): Kritische Friedrich-Schlegel-Ausgabe (im Folgenden: KFSA), Bd. 8, München [u. a.]: Schöningh, 1975, S. 105–433, hier S. 137.
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Frankreich geschickt werden.22 Die biologischen Prinzipien Kielmeyers beeinflussen Cuvier auf entscheidende Weise, wie Roselyne Rey nachgewiesen hat.23 Der kuriosen, bis heute nicht erklärten Zurückhaltung Kielmeyers hinsichtlich der schriftlichen Veröffentlichung seiner Forschungen ist es geschuldet, dass er zwar zeitgenössisch als einer der, zuweilen sogar als der entscheidende Begründer der vergleichenden Anatomie wahrgenommen wird,24 dieser Ruf aber schon bald im 19. Jahrhundert auf seinen sehr viel öffentlichkeitswirksamer agierenden Schüler Cuvier übergeht. In methodischer Hinsicht hält Kielmeyer den Vergleich für das entscheidende Instrument, von dem er sich die Erkenntnis einer vorausgesetzten Ordnung der Wesen in der Natur erwartet. Die spärlichen schriftlich überlieferten Quellen bezeugen das auf unübersehbare Weise: So gibt die 1840 von Gustav Wilhelm Münter unter eigenem Namen, also als Plagiat veröffentlichte25 Mitschrift einer Vorlesung Kielmeyers ihr methodisches Paradigma schon im Inhaltsverzeichnis zu erkennen: Jedes Kapitel bzw. jede Lektion behandelt je einen Vergleich organischer oder unorganischer Körper im Hinblick auf eine bestimmte Eigenschaft, sei es auf ihre Größe, ihr Volumen, ihre Masse oder Konsistenz oder auf die Veränderungen, die im Verlauf ihrer Existenz an ihnen zu beobachten sind: 22 Die direktesten Zeugnisse von Cuviers ‚Fernstudium‘ der Lehre Kielmeyers sind seine Briefe an Christoph Heinrich Pfaff: Cuvier, Georges: George Cuvier’s Briefe an C. H. Pfaff aus den Jahren 1788 bis 1792, naturhistorischen, politischen und literarischen Inhalts. Nebst einer biographischen Notiz über G. Cuvier von C. H. Pfaff, hg. von Dr. W. F. G. Behn, Kiel: Schwers, 1845. Siehe außerdem Kohlbrugge, Jacob Hermann Friedrich: G. Cuvier und K. F. Kielmeyer, in: Biologisches Zentralblatt 32 (1912), S. 291–295, hier S. 292; Schuhmacher, Ingrid: Karl Friedrich Kielmeyer, ein Wegbereiter neuer Ideen. Der Einfluß seiner Methode des Vergleichens auf die Biologie der Zeit, in: Medizinhistorisches Journal 14 (1979), S. 81– 99, hier S. 93; außerdem die Einleitung von Kai Torsten Kanz in: Kielmeyer, Carl Friedrich von: Ueber die Verhältnisse der organischen Kräfte unter einander in der Reihe der verschiedenen Organisationen, die Gesetze und Folgen dieser Verhältnisse, m. einer Einf. von Kai Torsten Kanz, Faks. der Ausg. Stuttgart, 1793, Marburg an der Lahn: Basilisken-Presse, 1993, S. 15 f. 23 Vgl. Rey, Roselyn: La circulation des idées scientifiques entre la France et l’Allemagne. Le cas Cuvier, in: Mondot, Jean/Valentin, Jean-Marie/Voss, Jürgen (Hg.): Deutsche in Frankreich, Franzosen in Deutschland 1715–1789. Institutionelle Verbindungen, soziale Gruppen, Stätten des Austauschs, Sigmaringen: Jan Thorbecke, 1992, S. 197–208. 24 Vgl. dazu Klüpfel, Karl August: Kielmeyer, Karl Friedrich von, in: Allgemeine Deutsche Biographie, hg. von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Bd. 15, Leipzig: Duncker & Humblot, 1882, S. 721–723; Bach, Thomas: Biologie und Philosophie bei C. F. Kielmeyer und F. W. J. Schelling, Stuttgart-Bad Cannstatt: Frommann-Holzboog, 2001, S. 65 f. 25 Vgl. Münter, Gustav Wilhelm: Allgemeine Zoologie oder Physik der organischen Körper, Halle: Schwetschke, 1840. Vgl. die Nachweise im Aufsatz von Jahn, Ilse: War Gustav Wilhelm Münter (1804–1870) ein ‚Plagiator‘ Kielmeyers? Zur Autorschaft der ‚Allgemeinen Zoologie oder Physik der organischen Körper‘ (Halle 1840), in: Kanz, Kai Torsten (Hg.): Philosophie des Organischen in der Goethezeit. Studien zu Werk und Wirkung des Naturforschers Carl Friedrich Kielmeyer (1765–1844), Stuttgart: Steiner, 1994, S. 174–193. Die Vorlesung Kielmeyers, die Münter hier plagiiert, stammt demnach vermutlich von 1807 (a. a. O., S. 175).
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Abb. 1: Inhaltsverzeichnis aus G. W. Münter [Kielmeyer]: Allgemeine Zoologie, 1840
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Abb. 2: Inhaltsverzeichnis aus G. W. Münter [Kielmeyer]: Allgemeine Zoologie, 1840
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Der Vorlesungsmitschrift entspricht ein komprimierter „Entwurf zu einer vergleichenden Zoologie“, der Kielmeyers Vorlesungen von 1790 bis 1793 zugrunde liegt und der 1814 veröffentlicht werden sollte, tatsächlich aber erst in der einzigen, einbändigen Werkausgabe 1938 gedruckt worden ist.26 Cuvier war diese Skizze bekannt. Auch hier ist die methodische Prominenz des Vergleichens zum Zweck der Beschreibung, Einordnung und kausalen Erklärung der Naturgegenstände unmittelbar ersichtlich. Im Hinblick auf dieses „bis ins kleinste durchdachte[…] Klassensystem aller möglichen Vergleichungen“27 kann man für Kielmeyer hier ohne Weiteres von einer Universalisierung des Vergleichens in der Naturforschung sprechen. Die Frage nach dem Bezug der Anfänge der Komparatistik zu diesem historisch unmittelbar vorangehenden Gründungsprozess der vergleichenden Anatomie und Paläontologie lässt sich nun am geeignetsten beantworten, indem man die gedankliche Kette um ein weiteres Glied, über die Biologie wieder zurück zur Literaturtheorie verfolgt. Auch in diesem Fall kann man sich zunächst mit der Methode der Einflussforschung begnügen, indem man nur einen Schritt hinter Kielmeyer zurückgeht. Dieser war nämlich nachweislich mit den Schriften Johann Gottfried Herders vertraut. Wie weit seine Kenntnisse Herders reichten, braucht kaum im Einzelnen geklärt zu werden, zumal die theoretischen Übereinstimmungen sich ohne Weiteres erkennen lassen. So sind die Grundzüge der spekulativen biologischen Theorie Herders aus seinen 1784–91 erschienenen Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit28 sowohl aus der wirkungsvollsten Schrift Kielmeyers, der Akademierede „Über die Verhältnisse der organischen Kräfte“, als auch aus den oben bereits genannten Texten deutlich ablesbar. Dieser Umstand ist bekannt und sowohl von der Herder- als auch von der Kielmeyer-Forschung belegt worden.29 Wenn es Kielmeyers Verdienst ist, das biogenetische Grundgesetz – also den Gedanken, dass die organische Entwicklung des Individuums die Entwicklung der gesamten Art in ihren verschiedenen Stadien noch einmal rekapituliert –, entscheidend vorbereitet zu haben,30 dann entspricht dies der Vorstellung einer Analogie von Mikro- und Makrokosmos, wie sie auch Herders Natur- und Schöpfungsgeschichte zugrunde liegt. So überrascht es auch nicht, dass Herder selbst bereits 1774 in seinem Entwurf einer Menschheitsgeschichte (Auch eine Philosophie der Geschichte zur Bildung der Menschheit) eine eigene historiografische, nicht bio-, aber kulturgenetische Version dieses Gesetzes formuliert, 26 Vgl. Kielmeyer, Carl Friedrich von: Entwurf zu einer vergleichenden Zoologie [1790/93], in: ders.: Gesammelte Schriften, [Werke], hg. v. Fritz-Heinz Holler/Julius Schuster, Berlin: Keiper, 1938, S. 13–29. 27 Bach: Biologie und Philosophie, S. 124. 28 Herder, Johann Gottfried: Werke in zehn Bänden, hg. von Günter Arnold [u. a.], Bd. 6: Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit, Frankfurt/M.: Deutscher Klassiker Verlag, 1989. Siehe vor allem der dritte Band, S. 77–95. 29 Wohl zuerst von Coleman, William: Carl Friedrich Kielmeyer, in: Gillispie, Charles Coulston (Hg.): Dictionary of Scientific Biography, Bd. 7, New York: Scribner, 1973, S. 366–369, mit Bezug auf die Herder-Stelle (S. 367): „Here was Kielmeyer’s program“. 30 Vgl. Bach: Biologie und Philosophie, S. 51–56.
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als eine analogische Entsprechung der Lebensabschnitte des einzelnen Menschen mit den historischen Entwicklungsstufen der ganzen Menschheit.31 Mit dem Mikro-Makrokosmos-Gedanken ist auch die Grundlage für eine methodische Argumentation gelegt, die konsequent vergleichend ist: Alle Bereiche der Schöpfung lassen sich miteinander vergleichen, weil sie einem Grundmodell entsprechen, nämlich der Idee, dass der Mensch eine Analogie der Natur und die Natur eine Analogie Gottes sei. Herders gesamtes Denken ist, auch das ist bekannt, durch und durch analogisch: Im Rahmen einer spinozistischen Auffassung von der Schöpfung sind all deren Teile per Analogie miteinander vergleichbar, und zwar nicht nur in einem sprachlich-metaphorischen, sondern in einem durchaus ontologischen Sinn. Kielmeyer kann diese grundlegenden Überzeugungen Herders sehr weitestgehend übernehmen.32 Was die wissenschaftliche Methodik angeht, so versucht er freilich die spekulativen Gedankengebäude, die bei Herder ausnahmslos einer rein theoretischen Rezeption und philosophischen Weiterentwicklung naturkundlicher Positionen entspringen, empirisch nachzuweisen, zu korrigieren und auszubauen. Kielmeyer steht insofern genau an der Wegscheide zwischen der deutschen Naturphilosophie, die sich, mit Baruch de Spinoza im Hintergrund und von Herder und Goethe ausgehend, vor allem über Friedrich Wilhelm Joseph Schelling entwickelt, und einer stärker an experimentellen und empirischen Verfahren orientierten Naturwissenschaft. Gemeinsam mit Cuvier wendet sich Kielmeyer dezidiert gegen die Naturphilosophie, auch wenn sich viele seiner eigenen Positionen im Rückblick den Glaubenssätzen dieser Schule als sehr nahe verwandt erweisen (so etwa seine Überzeugung, dass sich die organischen Kräfte als elektrische oder magnetische Kräfte verstehen und beschreiben lassen). Dass auch Cuvier sich von der Naturphilosophie abzusetzen bemüht, kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass seine naturhistorische Wissenschaft wegweisende Einflüsse von Kielmeyer und, über diesen, von Herder empfangen hat.33
31 Vgl. Herder, Johann Gottfried: Auch eine Philosophie der Geschichte zur Bildung der Menschheit, in: ders.: Werke in zehn Bänden, hg. von Günter Arnold [u. a.], Bd. 4: Schriften zu Philosophie, Literatur, Kunst und Altertum 1774–1787, hg. v. Jürgen Brummack und Martin Bollacher, Frankfurt/M.: Deutscher Klassiker Verlag, 1994, S. 19–32. 32 Zum Einfluss Herders auf Kielmeyer siehe Temkin, Owsei: German Concepts of Ontogeny and History around 1800, in: Bulletin of the History of Medecine 24 (1950), S. 221–246, sowie ausführlich Bach: Biologie und Philosophie, S. 150–163. Bach diskutiert auch überzeugend die im Detail abweichende Position von Wolfgang Pross: Herders Konzept der organischen Kräfte und die Wirkung der ‚Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit‘ auf Carl Friedrich Kielmeyer, in: Kanz (Hg.): Philosophie des Organischen in der Goethezeit, S. 81–99. 33 Temkin: German Concepts of Ontogeny and History, S. 241, Fn. 67: „Herder’s Ideen were the starting point for the whole biological movement around 1800 including not only Kielmeyer but also Goethe, Cuvier, and Pfaff.“
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Damit aber ist man bei einem der entscheidenden Vordenker der literaturwissenschaftlichen Komparatistik und, wie Claude Conter zuletzt gezeigt hat,34 des literarischen Kulturtransfers angelangt. Es ist allerdings unabdingbar, die literaturtheoretischen Ansichten Herders in engem Zusammenhang mit seiner Natur- und Schöpfungstheorie zu lesen. Herders Kulturtheorie steht und fällt mit seiner in der Tradition Montesquieus stehenden Überzeugung, dass die natürlichen, d. h. die geografischen und klimatischen Lebensbedingungen einer Volksgemeinschaft deren Kultur – und damit auch ihre Literatur – auf direkte Weise prägen, so wie analog die zum Überleben notwendigen natürlichen Bedingungen das Organsystem des Lebewesens in seiner jeweiligen Gestalt hervorrufen. Sprache und Kultur verschiedener Völker sind also Teil des großen, durch den Schöpfungsgedanken integralisierten Verweiszusammenhangs, dessen Komponenten sich per Analogie, und immer vermittelt über die Brennspiegel Mensch, Natur, Gott aufeinander beziehen lassen. Herder denkt Natur- und Kulturgeschichte in engstem Zusammenhang. Wenn sein Analogiedenken als eine der theoretischen Grundlagen der vergleichenden Anatomie, die er selbst in den Ideen ja entwickelt, gelten muss, so sollte nicht vergessen werden, dass auch seine Literaturtheorie sich aus dem Komplex seiner Natur- und Menschheitsgeschichte nicht lösen lässt. Wellek/Warrens Gedanke, Villemain habe sich für seine vergleichende Literaturgeschichte von Cuvier inspirieren lassen, lässt sich demnach durchaus historisch untermauern. Beschränken sich die Gemeinsamkeiten der Disziplinen bei Villemain selbst auf die parallelen Fachbezeichnungen, so zeigt der Blick auf die Wissenschaftsgeschichte die bis ins frühe 19. Jahrhundert hinein – bei Denkern wie den Schlegels oder Goethe – erkennbare enge Verwandtschaft von Literatur- und Naturgeschichte. Aus der Sicht der Zeitgenossen des frühen 19. Jahrhunderts dürfte denn auch der Gedanke einer Analogie zwischen beiden Bereichen ohne Weiteres seine Akzeptanz gefunden haben. Kielmeyer, und mit noch größer Konsequenz Cuvier, empirisieren die metaphysisch überformte Naturtheorie Herders und kürzen sie um die menschheits- und kulturgeschichtliche Dimension. Im Zuge der methodischen Weiterentwicklung und Umformung von Herder bis zu Cuvier wird die Analogie, die die Ähnlichkeiten und Gemeinsamkeiten der Vergleichstermini hervorhebt, um vom einen auf das andere zu schließen, in die Richtung des Vergleichs verschoben, der, in der Tradition von Logik und Rationalismus, durch die genaue Beobachtung der Gegenstände artspezifische Merkmale, differentia specifica, feststellt, um ein jeweiliges Klassifikationssystem erstellen zu können. Dessen ungeachtet werden beide eng miteinander verwandte Methoden, die Analogie, wie Herder sie einsetzt, und das Verfahren der frühen vergleichenden Anatomie, in den jeweiligen Wissensbereichen universalisiert. Die Analogie ist nicht nur das Bindeglied der Komponenten von Herders Natur- und Schöpfungsmodell, sondern strukturiert zugleich seine Geschichtsphilosophie und seine Erkenntnistheorie. Im Rahmen des biologischen Gegenstandsbereichs von 34 Conter, Claude D.: Kulturtransfer als Herausforderung nationaler Literaturgeschichtsschreibung bei Herder und den Brüdern Schlegel, in: Jahrbuch der Brüder Grimm-Gesellschaft XV–XVI (2005–2006), S. 19–48.
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Kielmeyers Naturgeschichte ist es der Vergleich, der allseitig und universell Zusammenhänge erkennbar macht und das resultierende System ordnet. Cuvier bricht dann schließlich mit dem ganzheitlichen Modell der Natur, das sein Pariser Gegenspieler Geoffroy St. Hilaire vertritt: Er verabschiedet die bis dahin weithin gültige, metaphysisch fundierte und tradierte Vorstellung einer unendlichen Kette der Wesen, der zufolge zwischen den Organismen kontinuierliche Übergänge, mithin nur minimale Unterschiede festzustellen seien, und trennt das Tierreich in vier weitgehend separat organisierte Großgruppen ein.35 Damit hat die Analogie als Ordnungsmuster einer nach göttlichem Plan perfekt eingerichteten Natur ausgedient. Als Paradigma wissenschaftlicher Erkenntnistheorie hält Cuvier gleichwohl am Vergleich und der an diesen gebundenen Klassifikationsmethode fest, ja, er empfiehlt letztere als ein Erfolg versprechendes, allgemein einsetzbares Instrument der Forschung – womit er an die Wissenschaftstheorie der Methode seit Platon und Aristoteles anknüpft: Cette habitude que l’on prend nécessairement en étudiant l’histoire naturelle, de classer dans son esprit un très-grand nombre d’idées, est l’un des avantages de cette science dont on a le moins parlé, et qui deviendra peut-être le principal, lorsqu’elle aura été généralement introduite dans l’éducation commune ; on s’exerce par-là dans cette partie de la logique qui se nomme la méthode […] par la raison que l’histoire naturelle est la science qui exige les méthodes les plus précises […]. Or cet art de la méthode, une fois qu’on le possède bien, s’applique avec un avantage infini aux études le plus étrangères à l’histoire naturelle. Toute discussion qui suppose un classement des faits, toute recherche qui exige une distribution de matières, se fait d’après les mêmes lois ; et tel jeune homme qui n’avait cru faire de cette science qu’un objet d’amusement, est surpris lui-même, à l’essai, de la facilité qu’elle lui a procurée pour débrouiller tous les genres d’affaires.36
Wenn also, so lässt sich dieser knapp gefasste historische Ausschnitt resümieren, das vergleichende Verfahren zu Beginn des 19. Jahrhunderts zu einem fachübergreifenden Orientierungspunkt wird, so resultiert diese Entwicklung wesentlich aus dem Erfolg der vergleichenden Anatomie seit Cuvier. Dieser war wiederum nur möglich in einer historischen Situation, die noch immer durch das Ideal einer république des lettres und eines selbstverständlichen Wissenstransfers, in diesem Fall zwischen Frankreich und Württemberg, geprägt war. Auf diesem Weg hat Cuvier zunächst in Stuttgart und dann im Briefkontakt mit seinen deutschen Kollegen die entscheidenden Anstöße erhalten. Über diese konkreten historischen Einflussverhältnisse hinaus lässt sich ein epistemologisches Netz beschreiben, das die vergleichende (genauer: analogisierende) Physiologie Herders, die Kräftetheorie Kielmeyers, die vergleichende Anatomie Cuviers und die Anfänge der vergleichenden Sprachwissenschaften umfasst. Auch die konzeptionellen Anfänge der literaturwissenschaftlichen Komparatistik berühren dieses Feld – die Bezeichnung 35 Vgl. die programmatischen Aussagen Cuviers hierzu an folgender Stelle: Cuvier, Georges: Le Règne animal distribué d’après son organisation: pour servir de la base à l’histoire naturelle des animaux et d’introduction à l’anatomie comparée, Paris: Deterville, 1817, S. XX f. Die ‚quatre embranchements‘ stellt Cuvier zuerst vor in: Sur un nouveau rapprochement à établir entre les classes qui composent le règne animal, in: Annales du Muséum 19 (1812), S. 73–78. 36 Cuvier: Le Règne animal, S. XVIII f.
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littérature comparée hat wohl jedem gebildeten Zeitgenossen die Verwandtschaft zur Anatomie unmissverständlich nahegelegt. Dass der einzige nachhaltige methodische Transfer aus dieser Konstellation in die Komparatistik im Vergleich nationaler Spezifika zu sehen ist, wie ihn die frühe Linguistik vorgemacht hatte, steht freilich auf einem anderen Blatt. Ungeachtet dessen bestätigt es die Erkenntnisabsichten der Komparatistik, die immer schon Züge einer Transferforschung getragen hat, dass die Geschichte der für sie konstitutiven Methode von interdisziplinären und interkulturellen Transferbewegungen geprägt ist. LITERATURVERZEICHNIS Bach, Thomas: Biologie und Philosophie bei C. F. Kielmeyer und F. W. J. Schelling, Stuttgart-Bad Cannstatt: Frommann-Holzboog, 2001. Baldensperger, Fernand: Littérature comparée. Le mot et la chose, in: Revue de littérature comparée 1 (1921), S. 5–29. Chevreul, Eugène: Lettres adressées à M. Villemain sur la méthode en général et sur définition du mot Fait relativement aux sciences, aux lettres, Paris: Garnier, 1856. Cole, Francis J.: A History of Comparative Anatomy. From Aristotle to the 18. Century, London: MacMillan, 1944. Coleman, William: Carl Friedrich Kielmeyer, in: Gillispie, Charles Coulston (Hg.): Dictionary of Scientific Biography, Bd. 7, New York: Scribner, 1973, S. 366–369. Conter, Claude D.: Kulturtransfer als Herausforderung nationaler Literaturgeschichtsschreibung bei Herder und den Brüdern Schlegel, in: Jahrbuch der Brüder Grimm-Gesellschaft XV–XVI (2005–2006), S. 19–48. Cunningham, Andrew: The Anatomist Anatomis’d. An Experimental Discipline in Enlightenment Europe, Farnham, Surrey: Ashgate, 2010. Cuvier, Georges: Sur un nouveau rapprochement à établir entre les classes qui composent le règne animal, in: Annales du Muséum 19 (1812), S. 73–78. Cuvier, Georges: Le Règne animal distribué d’après son organisation: pour servir de la base à l’histoire naturelle des animaux et d’introduction à l’anatomie comparée, Paris: Deterville, 1817. Cuvier, Georges: George Cuvier’s Briefe an C. H. Pfaff aus den Jahren 1788 bis 1792, naturhistorischen, politischen und literarischen Inhalts. Nebst einer biographischen Notiz über G. Cuvier von C. H. Pfaff, hg. von Dr. W. F. G. Behn, Kiel: Schwers, 1845. Eggers, Michael: Von Pflanzen und Engeln. Friedrich Schlegels Sprachdenken im Kontext der frühen Biologie, in: Kleinschmidt, Erich (Hg.): Die Lesbarkeit der Romantik. Material, Medium, Diskurs, Berlin: de Gruyter, 2009, S. 159–183. Herder, Johann Gottfried: Werke in zehn Bänden, hg. von Günter Arnold [u. a.], Bd. 6: Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit, Frankfurt/M.: Deutscher Klassiker Verlag, 1989. Herder, Johann Gottfried: Auch eine Philosophie der Geschichte zur Bildung der Menschheit, in: ders.: Werke in zehn Bänden, hg. von Günter Arnold [u. a.], Bd. 4: Schriften zu Philosophie, Literatur, Kunst und Altertum 1774–1787, hg. v. Jürgen Brummack und Martin Bollacher, Frankfurt/M.: Deutscher Klassiker Verlag, 1994. Jahn, Ilse: War Gustav Wilhelm Münter (1804–1870) ein ‚Plagiator‘ Kielmeyers? Zur Autorschaft der ‚Allgemeinen Zoologie oder Physik der organischen Körper‘ (Halle 1840), in: Kanz, Kai Torsten (Hg.): Philosophie des Organischen in der Goethezeit. Studien zu Werk und Wirkung des Naturforschers Carl Friedrich Kielmeyer (1765–1844), Stuttgart: Steiner, 1994, S. 174– 193.
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TOPISCHE GEDÄCHTNIS- UND WISSENSRÄUME Aktuelle Toposforschung im Kontext von Kulturvergleich und -transfer Margot Brink Ernst Robert Curtius et l’idée d’Europe lautet der Titel eines 1995 erschienenen Bandes, der sich mit der zentralen Stellung des Europa-Gedankens im Werk des Literaturwissenschaftlers Ernst Robert Curtius auseinandersetzt.1 Curtius hat bekanntlich in seinem bereits ab 1932 konzipierten, 1948 schließlich veröffentlichten Hauptwerk Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter den Versuch unternommen, die Einheit der europäischen Kultur und Literatur aufzuzeigen, indem er die gemeinsamen Traditionen und Bezüge über das lateinische Mittelalter zu Antike und Christentum nachzeichnet. Zu diesem Zweck entwarf er die Theorie und Methode der „historischen Topik“ mit der thematische und rhetorische Kontinuitäten und Traditionslinien rekonstruiert werden sollten.2 Nicht nur in dem eben erwähnten Sammelband wird diese Idee von Curtius kontrovers diskutiert.3 Überhaupt scheiden sich an Curtius und der Toposforschung von Beginn an die Geister, aber diese überaus umfangreiche wissenschaftliche Diskussion kann und soll im Folgenden nur am Rande erwähnt werden. Festhalten lässt sich zunächst einmal – allen divergierenden Einschätzungen zum Trotz –, dass Curtius mit seinem der europäischen Literatur gewidmeten Werk und der darin entwickelten Toposforschung nicht nur „en passant die histo1 2 3
Bem, Jeanne/Guyaux, André (Hg.): Ernst Robert Curtius et l’idée d’Europe. Actes du colloque de Mulhouse et Thann des 29, 30 et 31 janvier 1992, Paris: Champion, 1995 (Travaux et recherches des universités rhénanes 10). Vgl. Curtius, Ernst Robert: Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter [1948], Bern, München: Francke, 1965, sowie ders.: Begriff einer historischen Topik, in: Baeumer, Max L. (Hg.): Toposforschung, Darmstadt: Wiss. Buchgesellschaft, 1973, S. 1–18. Die Einschätzungen reichen hier vom geradezu enthusiastischen Lob des Europäers Curtius bei Earl Jeffrey Richards, der das offene Europa-Verständnis von Curtius hervorhebt (La conscience européene chez Curtius et chez ses détracteurs, in: Bem/Guyaux (Hg.): Ernst Robert Curtius, S. 257–286), bis hin zu sehr kritischen Darstellungen von Curtius als Intellektuellem. Joseph Jurt zufolge zeugt Curtius’ theoretisches Denken nicht von Europa- oder gar Demokratiebegeisterung, sondern ist vor allem als Ausdruck eines „aristocratisme culturel“ sowie als Flucht in ein politisch ungefährliches Forschungsterrain zu deuten: „L’aristocratisme culturel de Curtius lui a permis de ne pas se compromettre avec le nationalsocialisme; cet aristocratisme ne lui a cependant pas permis de s’affronter réellement à cette idéologie politique, mais seulement de se retirer dans les études sur le Moyen Age“ (Jurt, Joseph: Curtius et la position de l’intellectuel dans la société allemande, in: Bem/Guyaux (Hg.): Ernst Robert Curtius, S. 239–255, hier S. 254).
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rische Komparatistik begründet“4 hat, sondern zudem auch unbestritten in den Kontext der Theorien und Methoden des Literatur- und Kulturvergleichs gehört. Im ersten Kapitel von Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter schreibt Curtius programmatisch zu diesen Thema: Wie die europäische Literatur nur als Ganzheit gesehen werden kann, so kann ihre Erforschung nur historisch verfahren. Nicht in Form der Literaturgeschichte! Eine erzählende und aufzählende Geschichte gibt immer nur katalogartiges Tatsachenwissen. Sie lässt den Stoff in seiner zufälligen Gestalt bestehen. Geschichtliche Betrachtung aber hat ihn aufzuschließen und zu durchdringen. Sie hat analytische Methoden auszubilden, das heißt solche, die den Stoff „auflösen“ (wie die Chemie mit ihren Reagentien) und seine Strukturen sichtbar machen. Die Gesichtspunkte dafür können nur aus vergleichender Durchmusterung der Literaturen gewonnen, das heißt empirisch gefunden werden. Nur eine historisch und philologisch verfahrende Literaturwissenschaft kann der Aufgabe gerecht werden. Eine solche ‚Wissenschaft von der europäischen Literatur’ hat in dem spezialisierten Fächerwerk unserer Universitäten keinen Platz […]. Aber eines darf gesagt sein: ohne ein modernisiertes Studium der europäischen Literatur gibt es keine Pflege der europäischen Tradition.5
In diesem Zitat finden sich die zentralen Gedanken von Curtius, die dann in der Folgezeit so viele Nachahmer wie entschiedene Kritiker gefunden haben: die Idee einer Kontinuität, Traditionseinheit und damit auch einer vorausgesetzten Homogenität der europäischen Kultur, die es aufzuzeigen, zu untersuchen und zu bewahren gelte; die Kritik an einer Literaturwissenschaft, die sich als sammelnde Literaturgeschichte missversteht, statt historisch-philologisch, strukturiert zu analysieren; Curtius’ Abkehr von der Betrachtung der Werke einzelner Künstlerpersönlichkeiten hin zu einer überindividuellen Literaturgeschichte „ohne Namen“6; sein Entwurf einer historischen Topik, auf deren Methode im Zitat mit der Formulierung „vergleichender Durchmusterung der Literaturgeschichte“ verwiesen wird; die Anlehnung an die Naturwissenschaften als methodisches Vorbild; und nicht zuletzt das Plädoyer für eine „Europäisierung des Geschichtsbildes“ und der Literatur, die Curtius an anderer Stelle des Buches als politische Erfordernis der Gegenwart, als Gebot der Stunde gegen die „künstliche[…] Isolierung vom Standpunkt der nationalen Mythen und Ideologien“ auffasst.7 4 5 6
7
Berndt, Frauke: Topik-Forschung, in: Erll, Astrid/Nünning, Ansgar (Hg.): Gedächtniskonzepte der Literaturwissenschaft: theoretische Grundlegung und Anwendungsperspektiven, Berlin: de Gruyter, 2005, S. 31–52, hier S. 40. Vgl. Curtius: Europäische Literatur, S. 25, Hervorheb. M. B. „Ein Topos ist etwas Anonymes. Er fließt dem Autor in die Feder als literarische Reminiszenz. […] Die Toposforschung gleicht der ‚Kunstgeschichte ohne Namen‘ im Gegensatz zur Geschichte der einzelnen Meister“ (Curtius: Begriff einer historischen Topik, S. 14). Curtius spricht auch davon, dass es der Toposforschung darum gehe, „Strukturzusammenhänge“ (Curtius: Begriff einer historischen Topik, S. 14) zu untersuchen. Auf die sich hier abzeichnenden Verbindungen zur Intertextualitätstheorie komme ich später zurück. Curtius: Europäische Literatur, S. 16. Diesem Bekenntnis zu Europa zum Trotz ist mit Wolfgang Asholt daran zu erinnern, dass Curtius insbesondere mit seiner Schrift Deutscher Geist in Gefahr (1932) den „Nationalismus exklusiver denn je proklamiert“, obschon er in den 1920er Jahren und auch in seinem Hauptwerk die europäische Perspektive betont (Asholt,
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Ziel folgender Überlegungen kann und soll es natürlich nicht sein, diese theoretischen Ansätze von Curtius und seine spezifische Methode der Toposforschung grundsätzlich zu rehabilitieren. Zu stichhaltig sind die Argumente der Kritik, die mit den späten 1960er Jahren einsetzte und durchaus bis in die Gegenwart reicht: angefangen mit Peter Jehn, der 1972 das restaurative Kulturverständnis, die einseitige Betonung von Kontinuität, Tradition und Einheit bei Curtius kritisierte,8 bis hin zu Hans-Ulrich Gumbrecht, der noch jüngst v. a. Curtius’ „unhistorisches Verhältnis zur Geschichte“ in Bezug auf sein Hauptwerk problematisierte.9 Während Gumbrecht Curtius’ Toposforschung längst auf dem Friedhof der Theoriegeschichte angekommen sieht, gibt es gleichwohl innerhalb der aktuellen kulturwissenschaftlichen Forschung Ansätze, die an Konzepte von Topoi und Topik in kritischer Weise anknüpfen und diese produktiv weiterentwickeln.10 Ein Ziel des vorliegenden Beitrags ist es, diese kulturwissenschaftlichen Rekonzeptualisierungsversuche der Toposforschung vorzustellen. Da sich diese in kritischer Abgrenzung von Curtius’ Ansatz formiert haben, sei zunächst kurz an die grundlegenden Ideen der Historischen Topik erinnert. Im Anschluss soll dann das Potenzial einer über das Konzept des Gedächtnisses und des Wissens reformulierten Toposforschung an einem literarischen Beispiel, dem Topos der dame sans mercy als ein „Muster im Wandel“11, erprobt werden. Abschließend wird danach zu fragen sein, welche theoretisch-methodischen Konsequenzen sich aus den neuen Ansätzen einer kulturwissenschaftlichen Toposforschung für die Analyse von Prozessen des Literatur- und Kulturvergleichs bzw. -transfers12 ergeben. Wolfgang: Von der Philologie zur Philosophie des Über-Lebens. Die Literatur und das Leben des Geistes bei Ernst Robert Curtius, in: Ette, Ottmar (Hg.): Wissensformen und Wissensnormen des ZusammenLebens. Literatur – Kultur – Geschichte – Medien, Berlin, Boston: de Gruyter, 2012, S. 1–13, hier S. 12 f.). 8 Jehn, Peter: Ernst Robert Curtius. Toposforschung als Restauration, in: ders. (Hg.): Toposforschung. Eine Dokumentation, Frankfurt/M.: Athenäum, 1972, S. VII–LXIV. Vgl. zur Kritik an Curtius auch Baeumer, Max L. (Hg.): Toposforschung, Bornscheuer, Lothar: Topik. Zur Struktur der gesellschaftlichen Einbildungskraft, Frankfurt/M.: Suhrkamp, 1976, sowie den Band von Schirren, Thomas/Ueding, Gert (Hg.): Topik und Rhetorik. Ein interdisziplinäres Symposium, Tübingen: Niemeyer, 2000, der zusammen mit dem Beitrag von Berndt, Frauke: Topik-Forschung, in: Erll/Nünning: Gedächtniskonzepte, S. 31–52, einen guten Forschungsüberblick liefert. 9 Gumbrecht, Hans-Ulrich: „Zeitlosigkeit, die durchscheint in der Zeit“. Ernst Robert Curtius’ unhistorisches Verhältnis zur Geschichte, in: ders.: Vom Leben und Sterben der großen Romanisten. Biografische Skizzen von Carl Vossler, Ernst Robert Curtius, Leo Spitzer, Erich Auerbach, Werner Krauss, München, Wien: Hanser, 2002, S. 49–71, hier S. 50. 10 Und dies in deutlicher Abgrenzung zu den immer noch zahlreichen, zumeist unexpliziert bleibenden Bezugnahmen auf den Topos-Begriff, die diesen im Sinne einer Motivgeschichte auffassen. 11 Dickhut, Wolfgang/Manns, Stefan/Winkler, Norbert (Hg.): Muster im Wandel. Zur Dynamik topischer Wissensordnungen in Spätmittelalter und Früher Neuzeit, Göttingen: V&R unipress, 2008 (Berliner Mittelalter- und Frühneuzeitforschung 5). 12 Da die weitere Konzeptualisierung von Kulturvergleich und -transfer insgesamt Thema des vorliegenden Bandes ist, soll hier keine verkürzende Abgrenzung und Definition der beiden
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1. DAS KONZEPT DER HISTORISCHEN TOPIK BEI CURTIUS Von dem was einer weiß, soll er freigebig spenden; Wo nicht, so wird man’s ihm zu Schuld und Fehler wenden13
Wissen verpflichtet zur Mitteilung – dies ist ein Beispiel für die Topik des Texteingangs, die Curtius in Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter anführt, um die Kontinuitäten von der antiken Rhetorik über die Literatur des Mittelalters bis in die Frühe Neuzeit aufzuzeigen. Zum Beleg seiner These von der Ganzheit der europäischen Literatur behandelt er dabei so unterschiedliche Topoi wie die der Bescheidenheit, der Unsagbarkeit, die Exordial- und Schlusstopoi, aber auch topische Metaphern wie z. B. die vom Leben als Schifffahrt oder der Welt als Theater (theatrum mundi). Auch Landschaftstopoi wie den locus amoenus, traditionelle thematische Konfigurationen wie die von den Waffen und Wissenschaften (armas y letras), oxymorische Vorstellungen wie die vom Knaben als Greis (puer senex) oder Adynata wie die Vorstellung von der verkehrten Welt gehören in das Spektrum dessen, was Curtius unter Topos versteht.14 Seine Analyse dieser Topoi in diachroner Perspektive hat den literaturwissenschaftlichen Blick wesentlich für sich wiederholende rhetorische und thematische Muster in Texten, unabhängig von der Frage der Autorschaft, geschärft. Wie aber die Heterogenität der aufgezählten Beispiele verdeutlicht, bleibt der von Curtius verwendete Topos-Begriff unscharf. Diese Unschärfe ist dem Begriff allerdings von seinen Anfängen bis in die Gegenwart inhärent, sodass die aktuelle Toposforschung zumindest darin übereinstimmt, dass der Begriff bis heute nicht eindeutig definiert ist.15 Begriffsgeschichtlich stammt der Terminus ,Topos‘ (griech.: tópos; latein.: locus, locus communis; frz.: lieu, lieu commun; engl.: commonplace; dt.: Ort, (Fund-) Stelle, (All-) theoretischen Modelle gegeben werden. Die in diesem Beitrag vorgestellten kulturwissenschaftlichen Ansätze der Toposforschung lassen sich aus meiner Sicht sowohl für die Untersuchung konkreter kultureller Transferprozesse als auch für den Kulturvergleich fruchtbar machen. Insofern werden im Folgenden immer beide Begriffe gemeinsam genannt, in dem Bewusstsein, dass es sich um verschiedene theoretische Zugänge handelt. 13 Libro di Alixandre, Mitte des 13. Jahrhunderts, zit. n. Curtius: Europäische Literatur, S. 98. 14 Vgl. Topik/Toposforschung, in: Nünning, Ansgar (Hg.): Metzler Lexikon Literatur- und Kulturtheorie, Stuttgart, Weimar: Metzler, 42008, S. 722–723. 15 „Im Gegensatz zu den meisten Rhetorik-Begriffen ist der Topos-Begriff bis heute weder in der rhetorischen Theoriebildung noch in der wissenschaftlichen Diskussion zum eindeutig festgelegten Fachbegriff geworden. Auch die Abgrenzung von ‚Topos‘ als Sache, ursprünglich als Fundort in der rhetorischen Argumentation, zu Topik als rhetorisch-philosophischer Disziplin ist deswegen problematisch“ (Müller, Jan-Dirk (Hg.): Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft, Berlin, New York: de Gruyter, 2003, S. 649). Vergleichbare Einschätzungen finden sich in: Burgdorf, Dieter [u. a.] (Hg.): Metzler Literatur Lexikon, Weimar: Metzler, 32007; Schmidt-Biggemann, Wilhelm/Hallacker, Anja: Topik: Tradition und Erneuerung, in: Frank, Thomas/Kocher, Ursula/Tarnow, Ulrike (Hg.): Topik und Tradition. Prozesse der Neuordnung von Wissensüberlieferungen des 13. bis 17. Jahrhunderts, Göttingen: V&R unipress, 2007 (Berliner Mittelalter- und Frühneuzeitforschung 1), S. 15–27, hier bes. S. 15– 17 („Topik, ein unscharfer Begriff“).
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Gemeinplatz) aus der antiken Logik und Rhetorik, wo er als „Beweismittel in die inventio, die Lehre vom Finden der Argumente und Beweise“, gehört und als formal-logischer „,Fundort‘ für Beweise oder Argumente […], die man in einer Rede verwenden kann“16, fungiert. Dabei handelt es sich um allgemeine Topoi, die sich auf unterschiedliche Fälle und Situationen anwenden lassen, eben den locus communis. Im Laufe der Zeit aber hat sich die Bedeutung des Begriffs locus communis „für die Suchformel für ein Argument auf das Argument selbst verschoben“17, sodass mit diesem Begriff die inhaltlich-materialen Topoi und ihre Sammlungen bezeichnet wurden. Curtius rekonstruiert zwar ansatzweise die Begriffsgeschichte, verwendet den Topos-Begriffs aber dann in einem sehr eingeschränkten Sinne: Die topoi sind also ursprünglich Hilfsmittel für die Ausarbeitung von Reden. Sie sind […] ‚Fundgruben‘ für den Gedankengang […]. […] die im Laufe der Zeit in alle Literaturgattungen eindrangen. […] Sie werden Klischees, die literarisch allgemein verwendbar sind […]. Topoi sind feste Clichés oder Denk- und Ausdrucksschemata.18
Dieser Toposbegriff ist mindestens in Bezug auf folgende drei Aspekte problematisch: 1. Die Gleichsetzung mit dem Klischee reduziert den Topos-Begriff auf eine weitgehend sinnentleerte Formel. 2. Der Begriff changiert unreflektiert zwischen literarischen Motiven und rhetorischen Funktionen. Und 3. ist der curtiussche Topos-Begriff durch eine analytische Fixierung auf die Stabilität der Topoi gekennzeichnet, sodass Momente des Wandels ebenso wie die konkreten Prozesse des Kultur- und Literaturtransfers ausgeblendet werden. Die spätere literaturwissenschaftliche Toposforschung hat hier wichtige Korrekturen vorgenommen, insbesondere indem sie den geschichtlichen Funktionswandel und damit die Dynamik der Topoi akzentuierte.19 Außerdem wurde der Topos deutlicher vom Klischee und Motiv abgegrenzt, so z. B. bei Obermayer, der den Topos als intentional verwendetes „Vorstellungsmodell“20 von Welt und „Weltbewältigung“21 auffasst oder auch bei Mertner, der v. a. auf die dem Topos zugrunde liegende Logik als common place verweist: Das Prinzip des Topos sei in der Verbindlichkeit des common sense, also in einer von den Mitgliedern der Sprach- und Kulturgemeinschaft geteilten Auffassung von Welt zu finden.22 Insbesondere der kommunikationstheoretische Ansatz von Lothar Bornscheuer ist hier ebenfalls zu erwähnen, der den Topos als (phasenweise durchaus umkämpfte) 16 17 18 19 20
Nünning (Hg.): Metzler Lexikon Literatur- und Kulturtheorie, S. 722. Nünning (Hg.): Metzler Lexikon Literatur- und Kulturtheorie, S. 722. Curtius: Europäische Literatur, S. 79. Vgl. Fußnote 8. Obermayer definiert Topos als „eine Weise des Denkens und Formens von Sein und Welt, die sich zu einer feststehenden sprachlichen Form kristallisieren kann, jedoch nicht notwendigerweise muss, und literarisch wirksam wird“ (Obermayer, August: Zum Toposbegriff der modernen Literaturwissenschaft, in: Baeumer: Toposforschung, S. 252–268, hier S. 262). Topos in diesem Sinne ist mehr als ein Begriff, ein Denkschema oder gar ein Klischee ohne eigenen Aussagecharakter und philosophische Bindung. 21 Obermayer: Zum Toposbegriff der modernen Literaturwissenschaft, S. 257. 22 Vgl. Mertner, Edgar: Topos and Commonplace, in: Jehn (Hg.): Toposforschung, S. 20–68.
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Schnittstelle zwischen Individuum und Gesellschaft, Innovation und Tradition, Konvention und Kreativität, Bewusstsein und Unbewusstem auffasst.23 Topoi seien durch ihre Potenzialität, Symbolizität, Intentionalität und insbesondere Habitualität bestimmt, und zwar als „Standard des von einer Gesellschaft jeweils internalisierten Bewussteins-, Sprach- und/oder Verhaltenshabitus“24. Dieses weite, aus gesellschafts- und literaturwissenschaftlicher Perspektive formulierte Toposverständnis von Bornscheuer ist, Anz zufolge, noch „nicht ausgeschöpft“25. Ein Bruch in der kritischen Auseinandersetzung mit der Historischen Toposforschung lässt sich in den 1980er Jahren verzeichnen, wo der Ansatz zwar nicht auf forschungspraktischer, aber auf theoretischer Ebene durch das Konzept der Intertextualität zunächst weitgehend abgelöst wurde. Aktuell gibt es jedoch durchaus interessante Forschungsansätze, die in kritischer Auseinandersetzung oder Abgrenzung von Curtius die Konzepte von Topoi und Topik mit kulturwissenschaftlichen Fragestellungen gewinnbringend verbinden: zum einen im Bereich von Kultursemiotik, Intertextualität und den damit verknüpften memory studies, zum anderen im Spektrum der interdisziplinären Untersuchung der Funktion von Topoi und Topik für die Tradierung und den Wandel von Wissen(schaft)sdiskursen. 2. TOPOS UND TOPIK IM KONTEXT VON GEDÄCHTNISFORSCHUNG UND INTERTEXTUALITÄT Eine enge Verbindung von Topik/Topoi, Literatur und kulturellem Gedächtnis26 lässt sich, nach Berndt, schon in den antiken Quellen ausmachen. Topik werde nicht allein material-sprachlich dem Bereich der Rhetorik und Stilistik zugeord-
23 Vgl. die ausführlichere Rekonstruktion des Ansatzes von Bornscheuer bei Berndt: TopikForschung, S. 42. 24 Bornscheuer, S. 9, hier zit. n. Berndt: Topikforschung, S. 42. 25 Anz, Thomas (Hg.): Handbuch Literaturwissenschaft, 3 Bde., Bd.1: Gegenstände und Grundbegriffe, Stuttgart, Weimar: Metzler, 2007, S. 445 (Abschnitt „Historische Topik“). Lothar Bornscheuer greife ganz bewusst auf jenen vor-technischen und vor-wissenschaftlichen Status methodischer und begrifflicher ‚Unschärfe‘ zurück, den der Toposbegriff in der antiken Rhetorikdebatte hatte, wo er sowohl inhaltliche als auch formale Aspekte einschloss. Nach Anz stellt dieses weite Toposverständnis von Bornscheuer eine überaus produktive Weiterentwicklung der bisherigen Toposforschung dar. 26 Das auf Maurice Halbwachs und Jacques Le Goff zurückgehende sowie von Aleida und Jan Assmann in den 1980er Jahre weiterentwickelte Konzept des kulturellen Gedächtnisses wird hier mit Jan Assmann als Sammelbegriff für „den jeder Gesellschaft und jeder Epoche eigentümlichen Bestand an Widergebrauchs-Texten, -Bildern und -Riten […], in deren ‚Pflege‘ sie ihr Selbstbild stabilisiert und vermittelt, ein kollektiv geteiltes Wissen vorzugsweise (aber nicht ausschließlich) über die Vergangenheit, auf das eine Gruppe ihr Bewusstsein von Einheit und Eigenart stützt“, aufgefasst (Assmann, Jan: Kollektives Gedächtnis und kulturelle Identität, in: ders./Hölscher, Tonio (Hg.): Kultur und Gedächtnis, Frankfurt/M.: Suhrkamp, 1988, S. 9–19, hier S. 15).
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net, sondern zugleich mnemotechnisch-gegenständlich als Konzept der Gedächtnistheorie verstanden: Es ist die Rhetorik selbst, die in den einschlägigen Lehrbüchern die kulturelle Praxis toposgesteuerten (ver-)Textens auf das kollektive Gedächtnis und dieses vice versa auf jenes bezieht. Diese Spannung zwischen Textverfahren und Kulturmodell übersteigt den Horizont der geistesgeschichtlichen, auf Traditionsbezüge konzentrierten literaturwissenschaftlichen Toposforschung […] ebenso wie diejenigen ihrer ideologiekritischen Variante in Peter Jehns Robert Curtius’ Toposforschung als Restauration (1972) […].27
Diese schon in der antiken Rhetorik beschriebene Verbindung von kollektivem Gedächtnis und Topoi wird gegenwärtig im Theoriekontext von Kultur/Literatur und Gedächtnis erneut reflektiert. Versucht man, aus einer literaturwissenschaftlichen Perspektive nun die verschiedenen Relationen von Literatur und Gedächtnis zu beschreiben, so lassen sich, Erll und Nünning zufolge, zumindest analytisch drei zentrale Verbindungsachsen unterscheiden. 1. Gedächtnis in der Literatur; 2. Literatur als Medium des Gedächtnisses; 3. Gedächtnis der Literatur (als Symbolund Sozialsystem).28 Während die erste Achse die inhaltliche und ästhetische Darstellung von Erinnerung und Gedächtnis in der Literatur bezeichnet, wird mit der zweiten Achse die „,Gedächtnismedialität‘ von Literatur“29 in den Blick genommen. Innerhalb der dritten Achse, die im Anschluss an Lachmann als „Gedächtnis der Literatur“ bezeichnet wird, ist die Verbindung zu Topos und Topik am deutlichsten ausgeprägt: Das Gedächtnis der Literatur als Symbolsystem wird hier vermittelt über Intertexte, Topiken oder auch Gattungen. Damit sind Topoi zugleich ein wichtiges Element des Gedächtnisses einer Kultur, an deren Konstruktion sie aber zugleich einen wesentlichen Anteil haben. Der Vorstellung vom „Gedächtnis der Literatur“ liegt dabei eine semiotische Auffassung von Kultur als Zeichensystem zugrunde, ein Zeichensystem, das sich über einen unabschließbaren Dialog der Texte konstituiert. Lachmann weist der Intertextualität die zentrale Rolle im Prozess der literarischen memoria zu: „Das Gedächtnis der Literatur ist seine Intertextualität“30, und weiter: Texte, in denen die Kultur sich realisiert, fungieren als nicht-personale Träger des Gedächtnisses, indem sie zum einen als ‚Akkumulatoren‘ kulturellen Sinns und zum anderen als dessen ‚Generatoren‘ auftreten.31
Intertextuelle Bezüge, und hierzu gehören ganz wesentlich auch die Topoi, werden als „,Erinnerungsakte‘“32 aufgefasst, die eine speichernde und zugleich projektive Funktion haben. Topoi stellen aus dieser kultursemiotisch- intertextuellen Perspektive also keineswegs weitgehend sinnentleerte Klischees dar, sie sind viel27 28 29 30
Berndt: Topik-Forschung, S. 33. Vgl. Erll/Nünning: Gedächtniskonzepte, S. 2 f. Vgl. Erll/Nünning: Gedächtniskonzepte, S. 5. Lachmann, Renate: Gedächtnis und Literatur: Intertextualität in der russischen Moderne, Frankfurt/M.: Suhrkamp, 1990, S. 35. 31 Lachmann, Renate: Kultursemiotischer Prospekt, in: Haverkamp, Anselm/Lachmann, Renate (Hg.): Memoria. Vergessen und Erinnern, München: Fink, 1993, S. XVII. 32 Erll/Nünning: Gedächtniskonzepte, S. 2.
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mehr ein produktiver Teil des kulturellen und damit auch des überindividuellen, kollektiven Gedächtnisses. 3. TOPOS UND TOPIK IM PROZESS VON WISSENSKONSTITUTION UND -ORGANISATION Insbesondere in der Enzyklopädieforschung ist seit der Jahrtausendwende ein besonderes Interesse an der Topik als Element der Organisation und damit auch der Konstruktion von Wissen zu verzeichnen.33 In Bezug auf die Frage nach einer Rekonzeptualisierung der Toposforschung im Kontext von Theorien und Methoden des Literatur- und Kulturvergleichs bzw. -transfers ergibt sich eine besonders interessante Perspektive aus dem Ansatz und den Ergebnissen des interdisziplinären Forschungsprojektes „Topik und Tradition – Prozesse der Neuordnung von Wissensüberlieferungen des 13. bis 17. Jahrhunderts“.34 Die Ausgangsthese ist, dass die Ordnung des Wissens, d. h. die Wissenstradierung und -dynamik in dem spezifischen Zeitraum vom Spätmittelalter bis in die Frühe Neuzeit wesentlich durch Topoi und Topik bestimmt ist, und dies nicht nur im Bereich der Enzyklopädik.35 Topoi und Topik werden als das „in diesem Zeitraum […] zugrunde liegende Muster des Aufbrechens von Traditionen, der Fragmentierung und Neuordnung der Wissensbestände und damit der Generierung und Tradierung des Wissens“36 aufgefasst. Während in der bisherigen Forschung das statische und konservative Moment der Topoi im Vordergrund stand, gilt das Forschungsinteresse hier besonders dem Spannungsverhältnis von Wissenstradierung und -dynamik. Topik kommt dabei vor allem die Funktion zu, Wissen zu organisieren und bereitzuhalten: Topik verwaltet Wissensfülle, um sie argumentativ anwendbar zu machen. Worin besteht die Wissensfülle? In Topoi. Ein Topos kann mehrerlei sein, ein Klischee, eine Sehgewohnheit, ein Bild- und Handlungsmotiv, ein intellektueller Habitus, ein Leitbegriff, ein Klassifikationsvorschlag, ein Sprichwort, ein Zitat, eine Illusion, eine Geschichte, kurz das, was sozusagen zum gebildeten Fundus gehört.37
33 Vgl. hierzu Frauke Berndt, die auf etliche in diesem Zusammenhang stehende Sonderforschungsbereiche für diesen Zeitraum verweist (Topik-Forschung, S. 46). Grundlegend für die Thematik ist die Untersuchung von Wilhelm Schmidt-Biggemann: Topica universalis. Eine Modellgeschichte humanistischer und barocker Wissenschaft, Hamburg: Meiner, 1983. 34 Dabei handelt es sich um eine DFG-Forschergruppe an der FU Berlin, die von 2005 bis 2012 unter der Leitung von Wilhelm Schmidt-Biggemann arbeitete. 35 Vgl. hierzu die Darstellung des Forschungsprojektes auf den Internetseiten der FU Berlin (http://www.geisteswissenschaften.fu-berlin.de/izma/forschung/laufend/topik/index.html, 25.01.2013) sowie folgende aus dem Forschungsprojekt hervorgegangenen Gemeinschaftspublikationen: Frank/Kocher/Tarnow (Hg.): Topik und Tradition, und Dickhut/Manns/Winkler: Muster im Wandel. 36 Vgl. die genannte Homepage der Forschergruppe Topik und Tradition. 37 Schmidt-Biggemann/Hallacker: Topik, S. 17.
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Topik zentriert Wissen nach Sachgesichtspunkten, durch Schlüsselworte, und hält es durch Lexik abrufbar: „Jedes Schlüsselwort ist sozusagen das Etikett eines Topos. Anhand von Schlüsselwörtern können Topoi identifiziert und entfaltet werden“38. Der Zeitraum vom Spätmittelalter bis zur Frühen Neuzeit wird dabei als eine Phase des beschleunigten Wissenstransfers beschrieben, in der die gesellschaftlichen und/oder die diskursiv-medialen Voraussetzungen für das durch Topik tradierte Wissen in Bewegung geraten, wodurch die topische Organisation des überlieferten Wissens dynamisiert wird. Die Topoi unterliegen in solchen ‚Beschleunigungsphasen‘ einem „Prozess der Fragmentierung und Neuordnung von traditionellen Wissensbeständen“, der zugleich auch der „Generierung von neuem Wissen“ dient.39 Aus den Bindungen traditioneller Wissensformationen entlassen und für einen flüchtigen Moment sozusagen freigesetzt, werden die Topoi zum historischen Spielmaterial neuer Arrangements, die entweder in eine neue Stabilität münden oder zum Zwecke des weiteren Experimentierens erneut fragmentiert werden. […] Topoi sind in diesem Sinne einerseits Erfahrungsschemata, die Vergangenheit verwalten, sie sind andererseits Erwartungsschemata und damit zukunftsorientiert.40
Die Idee, dass Topoi eine besondere Funktion in der Wissensorganisation und im Wissenswandel insbesondere in der Vormoderne besitzen, sowie die Vorstellung, dass Topoi sich nicht im Klischee erschöpfen, sondern im Sinne des common sense als das von der (gebildeten) Gemeinschaft geteilte Wissen betrachtet werden können, gehen in der Tat über den curtiusschen Toposbegriff hinaus. Zwar führt dieser theoretische Rahmen durch die Vielzahl der Bestimmungen dessen, was ein Topos sein kann, nicht zu einer definitorischen Schärfung des Toposbegriffs. Gleichwohl ist der Gedanke fruchtbar, dass topische Strukturen in der Vertextung von Kultur und Literatur wichtige Erkenntnisse über die Wissensformationen und -transformationen liefern können, und dies eben insbesondere in Bezug auf das Spätmittelalter und die Frühe Neuzeit.41
38 39 40 41
Schmidt-Biggemann/Hallacker: Topik, S. 17. Schmidt-Biggemann/Hallacker: Topik, S. 17. Schmidt-Biggemann/Hallacker: Topik, S. 17. Einen kulturwissenschaftlich reformulierten Topos-Begriff verwenden zwar auch die Herausgeber des interessanten Bandes Elm, Dorothee [u. a.]: Alterstopoi: Das Wissen von den Lebensaltern in Literatur, Kunst und Theologie, Berlin: de Gruyter, 2009, allerdings wird hier nicht die spezifische historische Dimension von Topoi/Topik für die Wissensorganisation reflektiert. Die Alterstopoi werden in den Beiträgen diachron bis in die Gegenwart untersucht.
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4. ANWENDUNGSBEISPIEL: DER TOPOS DER DAME SANS MERCY ALS ERINNERUNGSMUSTER IM WANDEL Denke daran, meine Nymphe! Sei doch länger nicht spröd: mit dem Liebenden feire die Hochzeit! (Ovid, Metamorphosen, ca. 3–8 n. Chr.)42
Als Beispiel für einen Topos als ein Muster im Wandel zwischen Stabilität und frühneuzeitlichen Resignifikationsprozessen soll im Folgenden der Topos der dame sans mercy vorgestellt werden, der in der Literatur, der Philosophie und den Moraldidaxen des Spätmittelalters und der Frühen Neuzeit immer wieder zu finden ist.43 Alain Chartiers La Belle Dame sans Mercy (1424) verlieh dabei jener spezifischen Deutung weiblicher Liebesverweigerung als Grausamkeit und Verstoß gegen die Gesetze Amors ihren prägenden Namen. Doch der Topos ist in der Tat ein – freilich variantenreiches – Vorstellungsmuster der longue durée und gehört damit zum allgemein geteilten Wissensbestand. Ein locus communis, der in den Liebes- und Ehediskursen der europäischen Literaturen tradiert und immer wieder bearbeitet wird. Das narrative und argumentative Grundmuster dieser topischen Texte, die mit aus heutiger Perspektive erstaunlicher Vehemenz und drastischer Bildlichkeit das offensichtlich bedrohliche Moment weiblicher Liebesunwilligkeit thematisieren und es durch die abschreckende Inszenierung von Gewalt und Strafen zu unterbinden versuchen, findet man schon in der Antike, exemplarisch bei Ovid. In den Metamorphosen findet sich mit der exemplarischen Erzählung von „Pomona und Vertumnus“ eine prototypische Plotstruktur für die Behandlung des Themas. Der als Greisin verkleidete Vertumnus warnt die liebesunwillige Pomona vor der Rache der Götter und führt ihr anhand einer Erzählung die tragischen Folgen der Liebesverweigerung vor Augen: Jene [die Frau, M. B.], so bös wie die See, die sich hebt, wenn die Böcklein vom Himmel Schwinden, so hart wie der Stahl, der in norischem Feuer geglüht ist, Hart wie der lebende Fels, der im Boden noch wurzelt, verachtet Und verlacht den Verliebten; sie fügt zu dem schnöden Gehaben Stolzes Gerede, die Schlimme, und raubt ihm zuletzt noch die Hoffnung.44
Der Verschmähte, so erzählt Vertumnus weiter, geht schließlich an der Grausamkeit seiner Geliebten zugrunde und erhängt sich. Als die Liebesverweigerin aber den Toten erblickt, erstarrt sie und wird, ihrer inneren Haltung entsprechend, wie der Text suggeriert, in kalten Fels verwandelt. „Glaube mitnichten, es sei nur er-
42 Publius Ovidius Naso: Pomono und Vertumnus, in: ders.: Metamorphosen, übers. u. hg. von Hermann Breitenbach, Stuttgart: Reclam, 1971, 14. Buch, Vers 761. 43 Im Folgenden fasse ich einige Überlegungen zusammen, die ich in einer Untersuchung über Topoi der EntSagung: Konzepte, Schreibweisen und Räume der Liebes- und Eheverweigerung in der romanischen Literatur des 17. Jahrhunderts ausführlicher dargestellt habe und deren Publikation in Vorbereitung ist. 44 Ovid: Pomono und Vertumnus, S. 472, Vers 711–715.
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funden“45 – warnt daraufhin Vertumnus die von ihm begehrte Nymphe, die sich angesichts des drastischen Exempels nun zur Liebe bekehren lässt. Das Handlungsmuster, das der Erzählung zugrunde liegt, ist folgendes: Ein junger Mann verliebt sich leidenschaftlich-schicksalhaft in eine edle Dame, die zunächst die Liebe verweigert, dann aber durch Strafandrohung umgestimmt wird. Das Vorstellungsmuster ist: Liebesverweigerung stellt ein göttliches Gebot in Frage und verdient Bestrafung. Dieses Vorstellungs- und Handlungsmuster kehrt nun in Variationen in zahlreichen Texten vom Mittelalter bis in die Frühe Neuzeit wieder. Die topische Form der Auseinandersetzung mit diesem Modell lässt sich anhand einer Vielzahl von Texten belegen: über das von Ovid inspirierte, einflussreiche Werk De amore von Andreas Capellanus (um 1174), über Teile des Roman de la Rose, Giovanni Boccaccios Decamerone (1349–53) und Alain Chartiers Dame sans mercy bis zur petrarkistischen Lyrik des 16. Jahrhunderts. So wird über den Schlüsselbegriff – die dominante, aber nicht exklusive Lexik der dame sans mercy – nicht etwa nur ein Klischee fortgeschrieben, sondern es werden im Sinne einer topischen Tradierung normierende Vorstellungsmuster über die Gefühls- und Geschlechterbeziehungen in überlieferbare Form gebracht, verfügbar gehalten und damit projektiv der möglichen Fortschreibung bzw. Transformation ausgesetzt. Gerade an dem geschlechterspezifischen Diskurs in der Literatur, der Philosophie und den moraldidaktischen Schriften lässt sich der topische Charakter des Gender-Wissens und -Wissenswandels sehr deutlich ablesen. Daran erinnert in besonders prägnanter Weise der Titel eines von Friederike Haussauer herausgegebenen Bandes zum Thema: Heißer Streit und kalte Ordnung. Epochen der Querelle des femmes zwischen Mittelalter und Gegenwart46 – die kalte Ordnung, das ist der topische Kern des Wissens, um den dann zeitspezifisch durchaus heiße Debatten geführt werden, die zur Umdeutung des Topos führen können – wie dies auch hinsichtlich der dame sans mercy in der Frühen Neuzeit geschieht. Es lässt sich nämlich beobachten, dass die Transformation des Topos im 16. und 17. Jahrhundert wesentlich an Dynamik gewinnt. Gründe hierfür sind, verkürzt gesagt, im vermehrten Zugang von Frauen zu Kultur und Bildung sowie allgemein in den frühneuzeitlichen Debatten um ein neues Menschenbild zu sehen.47 In der Frühen Neuzeit rückt das Thema der Ablehnung von Liebe und Ehe vom Rand mehr und mehr ins Zentrum der literarischen und philosophischen Debatten. Insbesondere die weiblichen Stimmen der Liebes- und Eheverweigerung werden in diesem Zeitraum so zahlreich, dass sich für das 17. Jahrhundert in 45 Ovid: Pomono und Vertumnus, S. 474, Vers 758. 46 Hassauer, Friederike (Hg.): Heißer Streit und kalte Ordnung. Epochen der Querelle des femmes zwischen Mittelalter und Gegenwart, Göttingen: Wallstein, 2008. 47 Vgl. Tietz, Manfred: Zur Frage der Legitimität der Literatur im Siglo de Oro. Die Thematisierung der Leidenschaften in religiösen und profanen Texten, in: Matzat, Wolfgang/Teuber, Bernhard (Hg.): Welterfahrung und Selbsterfahrung. Konstruktion und Verhandlung von Subjektivität in der spanischen Literatur der frühen Neuzeit, Tübingen: Niemeyer, 2000, S. 267–292, hier S. 271.
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Frankreich, insbesondere im Bereich der Romanliteratur, mit Nathalie Grande gar von einer Strömung sprechen lässt.48 Eine Strömung, die über Frankreich hinaus auch in Italien und Spanien, allerdings in abgeschwächter Form, auszumachen ist, wie z. B. die Schriften von Moderata Fonte oder María de Zayas y Sotomayor belegen. Der refus der Princesse de Clèves (1678) von Marie-Madeleine de Lafayette, diese zum Modell gewordene Verweigerungsgeste der gleichnamigen Protagonistin – die nach dem Tod ihres Mannes nun ihren adeligen Geliebten Nemours ungestraft heiraten könnte, dies aber ablehnt und sich stattdessen vom höfischen Leben zurückzieht, um einen Teil des Jahres auf ihrem Landsitz und den anderen Teil der Zeit in einem frei gewählten Kloster zu verbringen – ist also alles andere als ein marginales Phänomen in der Literatur der Frühen Neuzeit. Vielmehr lässt es sich als Transformation des Topos – vergleichend über die Grenzen der Sprachen und Kulturen hinweg – beobachten. Geht man von der topischen Organisation des Wissens in der Frühen Neuzeit aus, so lassen sich die eben genannten Texte als dezidierte Interventionen in den Wissensdiskurs über die Gefühls- und Geschlechterbeziehungen der Zeit deuten. Auf inhaltlicher Ebene führen diese literarischen Interventionen zu einer kritischen Revision der Geschlechter- und Liebesbeziehungen, die von der partiellen Umdeutung bis zur gänzlichen Umkehrung des Topos reicht. Dieses Muster wandelt sich im Laufe des 17. Jahrhunderts dann im Extremfall so sehr, dass nicht mehr die Liebesunwillige als hartherzig gilt, sondern es vielmehr die existierenden Formen von Liebe, Passion und Ehe sind, in die sich die Frau fügen soll, die mal tragisch, mal humorvoll als ‚gnadenlos‘ bewertet werden.49 So wandelt sich die dame sans mercy über viele textliche Etappen hinweg vom abschreckenden Beispiel hin zum Vorbild für andere Lebensformen und gefühlskulturelle Konzepte. An diesen Wissenswandel, der auf der Transformation topischer Muster und damit auf zahlreichen intertextuellen Bezügen basiert, schließt die Philosophin Gabrielle Suchon um 1700 an, wenn sie den Lebensentwurf von ‚solch grausamen‘ Frauen, die jenseits von Liebe, Ehe und Kloster ein intellektuelles Leben führen, selbstbewusst mit folgenden Worten legitimiert: Enfin leur cœur est libre de l’amour des hommes, & des empressemens qui l’accompagnent toûjours.50
48 „[…] il [die weibliche Liebes- und Eheverweigerung, M. B.] s’inscrit dans un courant que l’on retrouve chez d’autres romancières, et d’ailleurs chez Mme de Lafayette elle-même dans Zaïde“ (Grande, Nathalie: Stratégies des romancières. De ‚Clélie‘ à ‚La Princesse de Clèves‘ (1654–1678), Paris: Champion, 1999, S. 74, Hervorheb. M. B.). 49 So wird in dem von der Schriftstellerin, salonnière und Humanistin Catherine des Roches verfassten allegorischen Dialogue d’Amour, de Beauté et de Physis (1578) die Liebesverweigerung als legitimer „refus de l’amoureux servage“ gedeutet und damit auch die Haltung der dame sans mercy gerechtfertigt (Roches, Madeleine et Catherine des: Les Œuvres, hg. v. Larsen, Anne R., Genève: Droz, 1993, S. 51). 50 Suchon, Gabrielle: Du Celibat volontaire ou la vie sans engagement, 2 Bde., Paris: Jean & Michel Guignard, 1700, Bd. 2, S. 264.
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Elles aiment cet état [de liberté, M. B.] autant par raison, que par inclination ; & estiment que c’est une chose juste d’inventer de nouvelles manieres de bien vivre […].51
5. TOPISCHE GEDÄCHTNIS- UND WISSENSRÄUME IM KONTEXT VON KULTURVERGLEICH UND -TRANSFER? Mit den vorgestellten kulturwissenschaftlich reformulierten Toposkonzepten lassen sich Topoi als intertextuell vermittelte Wissens- und Gedächtnisräume begreifen. In Abgrenzung zu Curtius und seiner Methode der „vergleichenden Durchmusterung“ der Literatur, durch die der wissenschaftliche Blick auf das Sterotype als Ausweis einer Kontinuität der europäischen Kultur gelenkt wurde, setzt die neuere Toposforschung entschieden andere Akzente: Topoi und Topik werden aus wissensgeschichtlicher Perspektive historisiert und als grundlegende Elemente von Wissensorganisation und -wandel in einem spezifischen Zeitraum, nämlich insbesondere vom Spätmittelalter bis in die Frühe Neuzeit, aufgefasst. Die Untersuchung der topischen Muster (nicht nur in literarischen Texten), die als habituell, konsensuell, intentional, tradiert und projektiv zugleich verstanden werden, zielt dabei darauf ab, die Konstitutionsdynamik kultureller Prozesse besser zu verstehen. Insofern Topoi stabil, jedoch nicht starr sind, eignen sie sich besonders zur Analyse der Logik und der Prozesse der Entwicklung des kulturellen Gedächtnisses. Teilt man die Auffassung, dass topische Textmuster insbesondere im Zeitraum vom Spätmittelalter bis in die Frühe Neuzeit, in dem sich kulturelles Wissen und Gedächtnis in erster Linie über ein humanistisches und internationales Gelehrtennetzwerk vermittelt und Konzepte wie Imitation, Tradierung und Poetik dominieren (wogegen sich spätestens im 18. Jahrhundert bekanntlich die Normen von Genialität, Innovation und Ästhetik durchsetzen werden), dann wäre im Zuge von Verfahren des Literatur- und Kulturvergleichs bzw. -transfers zweierlei geboten: 1. Topische Muster sollten nicht länger auf Motivgeschichten oder Stereotype verkürzt werden, vielmehr gilt es, ihre Verbindung zu Wissen und Gedächtnis in den Blick zu nehmen, um diese ihnen inhärente Dimension zum Verständnis kultureller Prozesse zu nutzen. 2. Wenn Intertextualität das „Gedächtnis der Literatur“ (Lachmann) ist und hierbei auch den Topoi eine wichtige Bedeutung zukommt, so ist angesichts der eben dargestellten historischen Spezifik des Bezugs auf topische Muster der ahistorische Textbegriff, der der Kultursemiotik insgesamt unterliegt, problematisch.52 Hinsichtlich der topischen Form der Wissens- und Diskursorganisation, wie sie bis in die Frühe Neuzeit existierte, wäre mit Neuber auf einer 51 Suchon: Du Celibat volontaire ou la vie sans engagement, Bd. 1, S. 32. 52 Diese Kritik formuliert neben Wolfgang Neuber: Topik und Intertextualität, in: Kühlmann, Wilhelm/ders. (Hg.): Intertextualität in der Frühen Neuzeit. Studien zu ihren theoretischen und praktischen Perspektiven, Frankfurt/M.: Lang, 1994, S. 253–277, hier S. 254, auch Oliver Scheiding: Intertextualität, in: Erll/Nünning: Gedächtniskonzepte, S. 53–72.
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Historisierung des Intertextualitätskonzeptes zu insistieren. Denn Texte der Frühen Neuzeit sind in sehr hohem Maße, und dies auch gerade über die Topik, „intentionale Bündel bekannter Diskurse“ und insofern als absichtsvolle Kombinatorik bestehender Schreib- und Denktraditionen anzusehen,53 was sie von Texten der Moderne unterscheidet. Topik kann insofern als „Nahtstelle für intertextuelle Prozesse“ betrachtet werden.54 Dies sollte am Beispiel des topischen Musters der dame sans mercy (hier notgedrungen in aller Kürze) gezeigt werden. Toposforschung, Intertextualität (als Teil der memory studies) und die Analyse von (Wissens-)Diskursen lassen sich also durchaus gewinnbringend verbinden und für Untersuchungen zum Kulturvergleich bzw. -transfer nutzbar machen.55 Betrachtet man Topoi nicht als weitgehend sinnentleerte Formeln, sondern als historisch gebundene Textmuster, die zur Formierung des kulturellen und damit auch des kollektiven Gedächtnisses beitragen und die Wissen, das von einer Allgemeinheit geteilt wird, verfügbar halten, intentional, textsortenspezifisch einsetzen und es zugleich zur Disposition stellen, dann lässt sich an einem topischen Textmuster wie z. B. dem der dame sans mercy anderes als die von Curtius fokussierte Kontinuität der europäischen Literatur und Kultur ablesen. Erkennbar wird dann insbesondere an den Resignifikationsprozessen, denen der Topos in der Frühen Neuzeit unterliegt und der ihn über die nationalen Grenzen hinweg vom abschreckenden Beispiel zum Vorbild für andere Lebensformen und gefühlskulturelle Konzepte werden lässt, dass es sich um ein zentrales topisches Konzept handelt, das wesentliche und nachhaltige diskursive Impulse für neue Lebensmodelle und gefühlskulturelle Vorstellungen im Übergang zur Moderne geschaffen hat. Eine derart kulturwissenschaftlich reformulierte Toposforschung stellt insofern einen erkenntnisfördernden und -bereichernden Ansatz für das Theorie- und Methodenrepertoire der Vergleichs- und Transferforschung dar. LITERATURVERZEICHNIS Anz, Thomas (Hg.): Handbuch Literaturwissenschaft, 3 Bde., Bd.1: Gegenstände und Grundbegriffe, Stuttgart, Weimar: Metzler, 2007. Asholt, Wolfgang: Von der Philologie zur Philosophie des Über-Lebens. Die Literatur und das Leben des Geistes bei Ernst Robert Curtius, in: Ette, Ottmar (Hg.): Wissensformen und Wissensnormen des ZusammenLebens. Literatur – Kultur – Geschichte – Medien, Berlin, Boston: de Gruyter, 2012, S. 1–13. Assmann, Jan: Kollektives Gedächtnis und kulturelle Identität, in: ders./Hölscher, Tonio (Hg.): Kultur und Gedächtnis, Frankfurt/M.: Suhrkamp, 1988, S. 9–19. Baeumer, Max L. (Hg.): Toposforschung, Darmstadt: Wiss. Buchgesellschaft, 1973. 53 Scheiding: Intertextualität, S. 254. 54 Scheiding: Intertextualität, S. 254. 55 Neuber formuliert programmatisch hierzu: „[…] Intertextualität als analytisches Konzept frühneuzeitlicher Texte hat demnach als topisch geleitete Diskursanalyse verstanden zu werden […]“, vgl. Neuber: Topik und Intertextualität, S. 254.
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Tietz, Manfred: Zur Frage der Legitimität der Literatur im Siglo de Oro. Die Thematisierung der Leidenschaften in religiösen und profanen Texten, in: Matzat, Wolfgang/Teuber, Bernhard (Hg.): Welterfahrung und Selbsterfahrung. Konstruktion und Verhandlung von Subjektivität in der spanischen Literatur der frühen Neuzeit, Tübingen: Niemeyer, 2000, S. 267–292.
(UN-)VERGLEICHBARKEIT DER SHO’AH? HERAUSFORDERUNGEN FÜR DEN VERGLEICH ALS METHODE Peter Herr „How dare they protest with a yellow badge within Israel?“ So empört sich Elie Wiesel über die „vile sight“, die für ihn eine Kundgebung von Haredim am Neujahrstag in Jerusalem bot.1 Um gegen die angeblich antireligiöse Politik der israelischen Regierung zu protestieren, trugen die Strenggläubigen dabei schwarz-weiß gestreifte Häftlingskleidung und gelbe Sterne mit der Aufschrift ‚Jude‘. Dieser Holocaust-Vergleich provozierte breite Ablehnung in der israelischen Öffentlichkeit und führte zu einem Gesetzesentwurf, der die Verwendung von Holocaustsymbolen bei Demonstrationen unter Strafe stellen soll. Man sieht, wie sensibel ein Vergleich mit der Sho’ah ist. Dieses Beispiel verweist aber auch auf zwei in der Theorie des Vergleichs unterbelichtete Aspekte: Pragmatik und Ästhetik. Offensichtlich dient der Vergleich einem politischen Ziel und nutzt eine bestimmte Ästhetik. Dieser Artikel dokumentiert meinen Versuch, die Sho’ah als Grenze des Vergleichs für die Vergleichstheorie zu nutzen. Die Ergebnisse dazu finden sich einerseits im ersten Teil zur Theorie, andererseits auch in den weiteren Teilen zu Praxis und Ästhetik. In dieser Aufteilung spiegelt sich meine These wieder: Der Vergleich sollte nicht verengt betrachtet werden. Das bedeutet zum einen, ihn in allen seinen Aspekten zu analysieren, also theoretisch, praktisch und ästhetisch. Zudem bedeutet es, dass die Dialektik von Gemeinsamkeiten und Unterschieden nicht stillgestellt werden darf. Nur so kann sich ihre inhärente Ethik voll entfalten. 1. THEORIE Eine allgemeine Theorie des Vergleichs fehlt, ebenso eine ausgearbeitete Methodologie. Das beklagt im Chor mit vielen Carsten Zelle.2 Dieser theoretische Teil formuliert meine Erwartungen an eine solche Theorie. Er enthält also eher Bruch1 2
Shamir, Shlomo: Elie Wiesel: Haredi ‚Holocaust‘ protest in Israel was a ‚vile sight‘, in: Haaretz, 03.01.2012, S. 16, auch unter http://www.haaretz.com/jewish-world/elie-wiesel-harediholocaust-protest-in-israel-was-a-vile-sight-1.405290 (12.03.2013). Zelle, Carsten: Komparatistik und comparatio – der Vergleich in der Vergleichenden Literaturwissenschaft. Skizze einer Bestandsaufnahme, in: Komparatistik. Jahrbuch der DGAVL 2004/2005, S. 13–33.
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stücke als eine ausformulierte Theorie, deutet in eine Richtung, ohne am Ziel anzukommen. Der Vergleich kanalisiert die Dialektik von Ähnlichkeit und Differenz. Er ist „a double process of equating and differentiating things, seeing them as similar or the same, on the one hand, and as distinct or different on the other“.3 Er geht dabei über das bloße Finden von Gleichem und Ungleichem hinaus und produziert dreifach Mehrwert: Erkenntnis, praktischen Nutzen und ästhetischen Effekt. Ich unterscheide deswegen theoretische, praktische und ästhetische Dialektik von Gleich und Ungleich und damit drei Idealtypen des Vergleichs: wissenschaftlicher, pragmatischer (besonders politisch-ethischer) und ästhetischer Vergleich. Beim ersten geht es darum zu erkennen, beim zweiten zu verändern und beim dritten auszudrücken. Vergleichen erschließt die Welt. Analysiert man vor dem Hintergrund von Habermas‘ Handlungstheorie, so überrascht es nicht, dass Vergleichen, wie jedes kommunikative Handeln, immer auf drei Welten (die objektive, die soziale und die Innenwelt) zugreift, sich in Bezug auf diese Welt kritisieren lässt und damit rationalisierbar ist. Mit einem derartigen, nicht verengten Handlungs- und Rationalitätsbegriff ist comparaison eben doch raison. Andeutungen dieser Erkenntnis finden sich bei Zelle, wenn er auf „die Vielfalt von para-raisons, d. h. Formen von Nebenvernunft“4, hinweist, die der Vergleich vermittelt und die eine komparatistische Ethik begründen. Damit ist ein Aspekt des pragmatischen Vergleichs benannt, der sich auf die soziale Welt bezieht. Der wissenschaftliche Vergleich erhebt Geltungsansprüche in Bezug auf die objektive Welt und der ästhetische Vergleich lässt sich als Teil ästhetischer Diskurse über die Innenwelt kritisieren. Handlungen und auch jedes konkrete Vergleichen nehmen immer auf alle drei Welten Bezug. Die verschiedenen Typen von Vergleichen unterscheiden sich darin, welche Rolle der jeweilige Weltbezug spielt bzw. welche Rolle ihm zugewiesen wird, also z. B. danach, was den Vergleichenden gerade interessiert. Meine idealtypische Differenzierung zielt darauf, die Komplexität des Vergleichens sicht- und handhabbar zu machen. Quer zu meinen analytischen Schnitten weist die Operation ‚Vergleich‘ eine einheitliche Struktur mit vier Elementen auf: den Vergleichsgliedern (comparata), der Vergleichshinsicht (tertium comparationis) sowie dem Kontext der Glieder und dem Kontext der Hinsicht;5 auch arbeitet in jedem der drei Typen die Dialektik von Gemeinsamkeiten und Unterschieden.
3 4 5
Mitchell, W. J. T.: Why Comparisons Are Odious, in: World Literature Today 70/2 (Spring 1996), S. 321–324. Zelle, Carsten: Comparaison/Vergleichung. Zur Geschichte und Ethik eines komparatistischen Genres, in: ders. (Hg.): Allgemeine Literaturwissenschaft. Konturen und Profile im Pluralismus, Opladen: Westdt. Verl., 1999, S. 33–58, hier S. 56–57. Sass, Hartmut von: Vergleiche(n). Ein hermeneutischer Rund- und Sinkflug, in: Mauz, Andreas/ders. (Hg.): Hermeneutik des Vergleichs. Strukturen, Anwendungen und Grenzen komparativer Verfahren, Würzburg: Königshausen & Neumann, 2011 (Interpretation Interdisziplinär 8), S. 25–47, hier S. 28.
(Un-)Vergleichbarkeit der Sho’ah?
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Der wissenschaftliche Vergleich dient der Ordnung, Klassifizierung und Begriffsbildung. Über geteilte Eigenschaften können Klassen gebildet und über Unterschiede kann differenziert werden. Was zusammengefasst und was getrennt wird, hängt ab von der Fragestellung, die sich in der Vergleichshinsicht niederschlägt. Die Sinnhaftigkeit eines Vergleichs ergibt sich also nicht aus der Ähnlichkeit der comparata, sondern aus der Hinsicht bzw. ihrem Kontext.6 Interessiert man sich z. B. dafür, wie das Ermorden großer Bevölkerungsgruppen historisch ablief, so ist es durchaus sinnvoll und angebracht, die Sho’ah und den Aghet, den Völkermord an den Armeniern, als Genozide zu vergleichen und so Unterschiede und Gemeinsamkeiten herauszuarbeiten. Beide bleiben dabei distinkte Ereignisse. Distinkte Ereignisse bleiben sie in der Theorie, aber was passiert in der Praxis? Aus der Metapherntheorie überträgt Zelle auf den Vergleich als rhetorische Figur die Einsicht, dass zwischen den comparata „eine Übertragung bzw. ein Austausch semantischen Materials stattfindet“7. Dieser Transfer begründet die praktische Macht des Vergleichs. Bringt man zwei Vergleichsglieder zusammen, so fusionieren auch die jeweiligen Kontexte. In der Dialektik von Kontextverschmelzung und Migration von Kontext zu Kontext verändern sich die comparata, es findet eine Ansteckung, ein Transfer von Eigenschaften statt. Im pragmatischen Vergleich geht es um diese Angleichung. Die Gefahr der Nivellierung steht dabei im Raum. Aus der Perspektive des wissenschaftlichen Vergleichs erscheint die Angleichung als Verunreinigung durch den Vergleichsprozess und muss minimiert werden. Andererseits sind für jedes Erkennen von Gemeinsamkeiten Abstraktionen nötig. Das heißt, man muss von Unterschieden temporär absehen, um ein tertium comparationis zu konstruieren, womit wiederum die Interessen durchschlagen. So gelingt es, mit pragmatischen Vergleichen politische, moralische oder andere Ziele anzustreben. Ein Vergleich des Aghet mit der Sho’ah transferiert beispielsweise moralisches Kapital auf die armenischen Opfer, unterstützt sie im Kampf um Anerkennung und ermöglicht Gesetze gegen die Leugnung von Genoziden wie 2011 in Frankreich. Die Unterscheidung zwischen Kontakt- und typologischen Studien erscheint aus dieser Perspektive als Binnendifferenzierung des theoretischen Vergleichs oder, wie es Zelle formuliert, als „Typologie unterschiedlicher komparatistischer Forschungspraktiken“8. Kontaktstudien nutzen eine (z. B. genetische) Beziehung zwischen den comparata als (Kontext der) Vergleichshinsicht. Dass die Grenze zwischen an sich bestehender Beziehung und durch den Vergleich und damit durch Übertragung und Ausgleich geschaffener Verbindung nicht immer unstrittig gezogen werden kann, zeigen die Debatten um den Weg von Windhuk nach Auschwitz:9 Gibt es eine genetische Verbindung zwischen dem Völkermord an den Herero und Nama zu Beginn des 20. Jahrhunderts und der Sho’ah? Oder handelt 6 7 8 9
Sass: Vergleiche(n), S. 28. Zelle: Komparatistik und comparatio, S. 24. Zelle: Komparatistik und comparatio, S. 20. Zimmerer, Jürgen: Von Windhuk nach Auschwitz? Beiträge zum Verhältnis von Kolonialismus und Holocaust, Berlin, Münster: Lit, 2011 (Periplus-Studien 15).
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es sich bei der Gegenüberstellung beider Ereignisse um einen rein typologischen Vergleich? Die Differenz zwischen Kontakt- und typologischen Untersuchungen lässt sich in Begriffen der Rhetorik als Unterschied zwischen Metonymie und Metapher verdeutlichen. Als Nachbarschaftstrope beutet die Metonymie Kontiguität aus, wohingegen die Sprungtrope Metapher zwei unabhängige Bildbereiche verbindet, indem sie sie kurzschließt. Sie verwirklicht damit am radikalsten die Dialektik von Gemeinsamkeiten und Unterschieden, was die Metapher zum paradigmatischen Tropus des ästhetischen Vergleichs macht. Sie lässt den Funken überspringen, der den Vergleich zündet. In ihr äußert sich unser Wille, Gemeinsamkeiten wahrzunehmen und dadurch das Chaos individueller Erscheinungen zu ordnen. Dieser Funke ist blitzgefährlich: vor Gleichsetzen und Gleichmachen sei gewarnt! Aber ist die Metapher deswegen unvernünftig? Nicht unbedingt. Liest man sie als Ausdruck unserer Position in der Welt, also über ihren Geltungsanspruch bezüglich der Innenwelt, so offenbart sich das Rationalisierungspotenzial der Metapher und somit des ästhetischen Vergleichs. Die anderen Analogietropen sind nicht so radikal und nicht so gefährlich wie die Metapher. So wirkt der rhetorische Vergleich (Simile) wie der Versuch, den Kurzschluss der Metapher durch das Wörtchen ‚Wie‘ zu isolieren. Die Wissenschaft duldet ihn leichter als seine wildere Schwester. Doch die Metapher lässt sich nicht verbannen, bestenfalls vergessen. Weder in der Praxis noch in der Theorie kommt man ohne den ästhetischen Vergleich aus. So nutzt der pragmatische Vergleich die Metapher zum Verschieben von Eigenschaften und das ‚Wie‘ des Similes als Übertragungskanal. Neben dem Verpacken von Gedanken übernehmen ästhetische Vergleiche auch – das macht sie für den wissenschaftlichen Vergleich attraktiv – heuristische Funktion: Sie schaffen neue Vergleichbarkeiten und ermöglichen so Erkenntnis. Der ästhetische Vergleich verschiebt die Grenzen des Vergleichs und „teaches us to compare apples and oranges“10. Und nebenbei vergnügt es uns, (überraschende) Gemeinsamkeiten zu erkennen. In jedem der drei Vergleichstypen wirkt die Dialektik der Komparation, die sich als Zusammenspiel von Witz und Scharfsinn fassen lässt. Mit Witz bezeichne ich (u. a. in der Tradition von John Locke und Alexander Gottlieb Baumgarten) die Fähigkeit, Übereinstimmungen zu erkennen und folglich auch Begriffe zu bilden; Scharfsinn ermöglicht es, Unterschiede wahrzunehmen. Ich teile allerdings nicht das szientistische Vorurteil gegen den Witz, das sich z. B. auch bei Hartmut von Sass hält. Schon bei Locke wird der Witz in die Ästhetik abgeschoben und als Leichtfertigkeit und Gefahr für sichere Erkenntnis diskreditiert. Damit herrscht der Scharfsinn scheinbar unangefochten in der Wissenschaft. Folge dieser Perspektive ist bei von Sass eine weitgehende Stilllegung der Dialektik von Gemeinsamkeiten und Differenzen, weswegen er für die Wissenschaftstheorie des Vergleichs die Begriffsbildung, also die synthetische Kraft des Witzes ausblendet. Eine homologe Variante des Vorurteils ist die abwertende Assoziation von Witz mit Gleichsetzung bzw. Nivellierung. Witz lässt sich nicht (mehr) abspalten vom 10 Mitchell: Why Comparisons Are Odious, S. 323.
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gleichnamigen komischen Verfahren, sodass die Assoziation mit fehlender Ernsthaftigkeit bestehen bleibt. Diese Konstellation lässt sich mit Jean Paul und Friedrich Theodor Vischer zusammenfassen, indem man im Witz den verkleideten Priester sieht, der am liebsten die Paare traut, deren Liebe die Familien ablehnen. Dieses Amt übt er nicht nur im Ästhetischen aus. Es wäre also aus meiner Sicht verfehlt, einseitig den Scharfsinn mit dem wissenschaftlichen Vergleich und den Witz mit dem ästhetischen Vergleich zu assoziieren und zudem den pragmatischen Vergleich als nivellierende Pathologie der reinen Theorie aufzufassen. Vielmehr arbeitet die Dialektik von Witz und Scharfsinn in allen drei Typen, allerdings mit unterschiedlichen Schwerpunkten. Erst durch Witz und Scharfsinn werden Eigenschaften zu Unterschieden und Ähnlichkeiten. Nur was man zusammenbringt, lässt sich unterscheiden. Ohne Witz hätte der Scharfsinn nichts, woran er arbeiten könnte, und ohne Scharfsinn der Witz nichts zu lachen. Vergleich geht in allen drei Varianten oft einher mit Werten bzw. Abwägen. Schon in der Rhetorik der griechischen Antike stand die Synkrisis im Zeichen des Agon.11 Der Vergleich sollte den Besten küren. Im Enkomion dienten dann Vergleichsfiguren dem Lob und der Aufwertung. Über höfische Enkomiastik und staatsmännische Rhetorik findet der Vergleich seinen Platz in der politischen Arena. Der Transfer von positiven Eigenschaften dient dazu, eine Position bzw. Argumentation in (öffentlichen) Auseinandersetzungen zu stärken. Ein solcher Streit muss nicht mit dem Sieg einer Position enden, er kann auch im Ausgleich münden. Zelle sieht hier eine komparative Ethik am Werk, die er am literaturkritischen Genre der Comparaison exemplifiziert. Diese „führt zur Para-Raison, der Vergleich zum Ausgleich: zur Anerkennung der Vernunft des Anderen und des Fremden.“12 Im (literatur-)wissenschaftlichen Vergleich tritt die Wertung zunehmend zurück – auch dank des Einflusses der Naturwissenschaften. Diese werten zwar nicht, jedoch spielt für sie der quantitative Vergleich in Form des Messens eine zentrale Rolle. Und auch Historiker können auf Zahlen und Größenverhältnisse nicht verzichten. Sie überlegen: Ist der Holocaust einzigartig wegen der immensen Zahl an Toten? Tritt diese Frage in die öffentliche Arena, kommt es leicht zur Konkurrenz der Opfer kombiniert mit einer Arithmetik des Leidens. Solche Debatten beziehen auch Kunst und Literatur mit ein, dabei drängt sich die Frage der Wertung traditionell auf. Redet man bei ästhetischen Werken von Einzigartigkeit, so ist die äußerst positive Konnotation als herausragend im Sinne von ‚besonders gut‘ offensichtlich. Sie verfliegt nicht, wenn Wissenschaftler oder Politiker den Begriff benutzen, auch nicht, wenn sie von einzigartigem Völkermord reden. Vielmehr werden die Konnotationen transferiert, gerade wenn man sich dessen nicht bewusst ist. Kein Wunder, dass auch wissenschaftliche Kontroversen erbittert geführt werden.
11 Focke, Friedrich: Synkrisis, in: Hermes 58/3 (1923), S. 327–368. 12 Zelle: Comparaison/Vergleichung, S. 33.
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2. PRAXIS In den USA kulminiert die breite gesellschaftliche Debatte um die Einzigartigkeit der Sho’ah in den 1990er Jahren. Jüdisches Denken kombinierte schon früh die Idee der Singularität mit dem Ereignis Holocaust.13 Solange sich kaum jemand für die Sho’ah interessierte, blieb die Einzigartigkeit weitgehend unhinterfragt. Wie kam es zu einer immer breiteren und schärferen Debatte? Rosenfeld macht zwei Entwicklungen aus: die Historisierung und die Politisierung des Holocaust.14 Mit Historisierung, besser Historiografisierung, meint er den Prozess, mit dem sich die Geschichtswissenschaft nach anfänglicher Zurückhaltung die Sho’ah erschließt und sie über unterschiedliche Theorien (Totalitarismus-, Faschismus-, Funktionalismus-, Moderne- und Genozid-Theorie) in die Geschichte integriert. The ‘politicization’ of the Holocaust refers to a process of appropriation and distortion that, beginning in the late 1960s and rapidly gaining momentum in the 1970s and 1980s, manifested itself in numerous different forms.15
All diese Formen (‚dejudaizing‘, ‚Americanizing‘, ‚stealing‘, ‚denying‘, ‚normalizing‘) verwirklichen politische Ziele, indem sie den jüdischen Charakter des Holocaust minimieren. Auch in Europa werden ähnliche Debatten geführt, wobei z. B. in Frankreich, Deutschland oder den postsowjetischen Staaten Totalitarismus-Vergleiche – und später auch Kolonialismus-Vergleiche – im Vordergrund stehen. Auch die Funktion des Einzigartigkeitsparadigmas ist nicht überall gleich. Ist gerade seine Zerschlagung bzw. Verteidigung in den USA Gegenstand der Konfrontation, so diente es deutschen Historikern zur Überbrückung methodologischer und philosophischer Differenzen, wurde aber nach dem Historikerstreit bald wieder aufgegeben.16 Liest man Rosenfelds und Kansteiners Rekonstruktionen der Debatten, so kann man erahnen, welche wichtige Rolle die Mediatisierung des Holocaust spielte. Umso mehr überrascht es, dass beide der zunehmenden Verarbeitung der Sho’ah in Kunst, Literatur, Kino und Fernsehen nicht ähnliche Bedeutung beimessen wie der Historiografisierung und Politisierung. Die massenhafte Verbreitung von Repräsentationen – z. B. in Form der NBC-Miniserie Holocaust – wirkt sich auf den vermeintlichen Wert des Dargestellten aus. Allenfalls die Bastionen der Hochkultur scheinen die Einzigartigkeit genügend zu schützen. Ein ausgeprägtes Bewusstsein für diesen Zusammenhang zeigt Elie Wiesel in seinem Ver13 Rosenberg, Alan/Silverman, Evelyn: The Issue of the Holocaust as a Unique Event, in: Dobkowski, Michael N./Wallimann, Isidor (Hg.): Genocide in Our Time. An Annotated Bibliography with Analytical Introductions, Ann Arbor: Pierian Press, 1992, S. 47–65, hier S. 49. 14 Rosenfeld, Gavriel David: The Politics of Uniqueness. Reflections on the Recent Polemical Turn in Holocaust and Genocide Scholarship, in: Holocaust and Genocide Studies 13/1 (1999), S. 28–61. 15 Rosenfeld: The Politics of Uniqueness, S. 33. 16 Kansteiner, Wulf: The Rise and Fall of Metaphor: German Historians and the Uniqueness of the Holocaust, in: Rosenbaum, Alan S. (Hg.): Is the Holocaust Unique? Perspectives on Comparative Genocide, Boulder (CO), Oxford: Westview Press, 22001, S. 221–244.
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riss der Fernsehserie.17 Darin wendet er sich in erster Linie gegen die Mediatisierung, die er mit Trivialisierung gleichsetzt. Aber auch der Zugang über die historischen Fakten reicht für Wiesel nicht aus, das Ereignis zu erfassen, denn: „the Holocaust transcends history“. Als „the ultimate event, the ultimate mystery, never to be comprehended or transmitted“ ist der Holocaust nur den Zeugen zugänglich und somit jede Historiografisierung und Politisierung im Sinne von Rosenfeld als Enteignung der jüdischen Opfer ausgeschlossen. Die Kontroversen unter Historikern sind Teil öffentlicher Debatten, insbesondere wenn sie so wie im Falle der Sho’ah von den Experten auch in den allgemeinen Medien geführt werden. Dabei lässt sich die Eindeutigkeit der Begriffe nicht bewahren. Und so überraschen auch Kansteiners und Rosenfelds Konsequenzen nicht. Beide sprechen dem Begriff Einzigartigkeit aufgrund seiner Ambivalenz jeglichen wissenschaftlichen Nutzen ab. Neben den kaum zu unterdrückenden positiven Konnotationen des Begriffs ist nicht klar, was er bedeuten soll. Meint man mit ‚einzigartig‘ beispiellos, nicht wiederholbar, besonders, singulär, absolut einzigartig oder einzigartig in Bezug auf jüdische Geschichte, europäische Geschichte oder die Moderne? Oder meint man damit unvergleichbar? Aus theoretischer Perspektive ist der Vergleich nicht stillzustellen.18 Zudem offenbaren die Argumente für die Einzigartigkeit, wie sehr sie auf Vergleichen beruhen. Yehuda Bauer sieht die Singularität der Sho’ah in der Kombination von „planned total annihilation of a national or ethnic group, and the quasi-religious, apocalyptic ideology that motivated the murder“19. Er gibt damit eine differentia specifica an, die Ergebnis eines Vergleichs ist und die die Sho’ah von anderen ähnlichen Ereignissen (Genozide, Verbrechen gegen die Menschlichkeit …) positiv unterscheidet. Wissenschaftlich ist der Vergleich also nicht zu unterbinden. Hat man ein starkes (ethisches, religiöses, politisches …) Bedürfnis, sich den Relativierungen entgegenzustellen, so erlaubt es ein vieldeutiger Begriff wie Einzigartigkeit, diese Abhängigkeit vom Vergleich zu verschleiern, und sei es nur, um Ansteckung und Nivellierung zu verhindern. In seiner Ambiguität liegt ein Teil seiner Attraktivität verborgen. Die Relativierung und der Vergleich ließen und lassen sich damit aber nicht aufhalten. Elie Wiesel findet eine andere Lösung. Er bestreitet nicht die Wahrheit von Vergleichen, das würde nicht weit führen, da Vergleiche im Prinzip immer wahr sind.20 Stattdessen spricht er Holocaustvergleichen ab, sozial richtig zu sein, indem er die Sho’ah theologisiert. Damit nutzt Wiesel den einzigen Fluchtweg aus dem Reich des Vergleichs, den auch von Sass anerkennt.21 Als kontrafaktische Interpretation der Unvergleichbarkeit sieht von Sass hier die Aporie jedes Denkens 17 Wiesel, Elie: Trivializing the Holocaust Semi-Fact and Semi-Fiction, in: New York Times, April 16, 1978, S. 1 und 29. 18 Vgl. Sass: Vergleiche(n), S. 44. 19 Bauer, Yehuda: Whose Holocaust?, in: Midstream 26/9 (November 1980), S. 42–46, hier S. 45. 20 Davidson, Donald: Wahrheit und Interpretation, Frankfurt/M.: Suhrkamp, 1990, S. 360. (Original: Inquiries into Truth and Interpretation, Oxford: Clarendon Press, 1984.) 21 Sass: Vergleiche(n), S. 46.
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über Gott am Werk. Der pragmatische Vergleich stellt Geltungsansprüche bezüglich der sozialen Welt auf, also z. B. den Anspruch, Sho’ah und Porrajmos vergleichen zu dürfen. Theologisierung kritisiert diesen Anspruch; sie entzieht die Sho’ah als (negativ) heilig dem Zugriff der profanen Welt und damit auch der Wissenschaft und dem Vergleich. Sie darf nicht verunreinigt werden oder auch nur in Berührung mit dem Weltlichen kommen. So sieht es auch Lanzmann: „L’Holocauste est d’abord unique en ceci qu’il édifie autour de lui, en un cercle de flamme, la limite à ne pas franchir.“22 Das ultimative Ereignis, das die Geschichte und damit die menschliche Existenz transzendiert, ist nur (positiv oder negativ) Auserwählten zugänglich: „Only those who were there know what it was; the others will never know.“23 Wiesels partikulare Position scheint in einer globalisierten Welt nicht mehrheitsfähig und für die Auseinandersetzungen, die die Einzigartigkeitsdebatte in den USA befeuern, scheint sie nichts zu nützen. Ich unterscheide drei Konfliktfelder, die jeweils mit einem der antreibenden Prozesse eng verbunden sind. Im Rahmen der Holocaustgeschichtsschreibung geht es u. a. darum, die Sho’ah von anderen Nazi-Gräueln abzugrenzen. Sinti und Roma, Homosexuelle und Opfer der Euthanasie kämpfen um Anerkennung ihres Leidens und ihres Status als Opfer sowie um Entschädigungen. Die Mediatisierung ist zum großen Teil auch Amerikanisierung und diese wiederum gekennzeichnet durch Universalisierung. Die Sho’ah-Repräsentation liegt in der Folge immer seltener in den Händen der Überlebenden. Verstärkt wird diese Entwicklung dadurch, dass nach und nach die Zeugen sterben und damit das Erinnern auf spätere Generationen übergeht. Durch die Inkorporation der Sho’ah in das kollektive US-Gedächtnis kann in politischen Debatten leicht darauf zurückgegriffen werden. So ist z. B. der Vergleich mit der Sho’ah für African Americans oder Native Americans eine Chance, ihre Traumata sichtbar zu machen, an lange verdrängte Verbrechen zu erinnern und damit den eigenen Platz im Gedächtnis der Nation zu reklamieren. All diese Kämpfe werden nicht nur in der Wissenschaft bzw. in der politischen Arena geführt. Sie schlagen sich auch in ästhetischen Texten nieder. Soweit stand Einzigartigkeit pragmatisch im Blick, sei es als Kampfplatz für den Streit um die Vergleichbarkeit, insbesondere Ansteckungsgefahr durch den Vergleich, sei es als kleinster gemeinsamer Nenner bei methodologischen oder philosophischen Differenzen. Sie steht, wie Kansteiner herausarbeitet, für einen strukturellen Skandal, der in ihrer Ästhetisierung, hier in der Metaphorisierung des historiografischen Diskurses liegt. The temporary acceptance of the negative simile, that the Holocaust is unlike any other event in history, […] marked the disturbing intrusion of metaphor into a decidedly metonymical discursive environment.24
22 Lanzmann, Claude: Holocauste, la représentation impossible, in: Le Monde, 03.03.1994, S. 1 und 7. 23 Wiesel: Trivializing the Holocaust, S. 29. 24 Kansteiner: The Rise and Fall of Metaphor, S. 223.
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Der traditionell rein metonymische, durch echte oder zumindest scheinbare Kontiguität motivierte Schreibstil deutscher Historiker war angesichts der Sho’ah in eine tiefe Krise geraten, wofür das Ausweichen auf ein, wenn auch rein negatives, Similaritätsdenken bezeichnend ist. Mit dem wissenschaftlichen Anspruch, alles vergleichen zu können, und der metaphysisch-religiösen Schranke, die das Heilige schützt, ist die Aporie des Holocaust-Vergleichs abgesteckt. Um beides kurzzuschließen, bedarf es eines starken Ausdrucks: Vielleicht kann ein Witz helfen. 3. ÄSTHETIK In Radu Mihaileanus Filmkomödie Train de vie flieht ein Stetl getarnt als Deportationszug vor den Nazis. Dafür verkleidet sich ein Teil der Juden als SSLeute, die den Zug eskortieren und in Pullman-Wagen untergebracht sind, während die Mehrzahl der Flüchtenden in Viehwagons die vermeintlichen Deportierten mimt. Gegen Ende des Films stellen die Deutschen die Flüchtenden25 und zwingen die Juden mit Gewehr im Anschlag zum Aussteigen. Als Mordechai, der den Kommandanten des Zuges spielt, sich durch seinen Akzent verrät, scheint alles verloren. In letzter Minute entfaltet der Witz als Kurzschluss und Anagnorisis seine Kraft: Zwei Narren erkennen und umarmen sich und offenbaren damit, dass es sich bei den ‚echten Deutschen‘ um Roma handelt, die die gleiche Idee zur Flucht hatten wie die Juden. Was sich kurzzeitig als Konkurrenz zwischen den Opfern um den Fluchtzug andeutet, löst sich auf in Verbrüderung. In der Folge setzen beide Gruppen ihre Flucht gemeinsam fort und erreichen chiastisch vermischt ihr Ziel: Die Juden retten sich nach Indien, die Roma finden Zuflucht in Palästina. Die Vermischung und Gleichsetzung der beiden Gruppen geht tief. Der Witz vermählt die Jüdin Esther mit dem Rom Miron, auch wenn sich der Vater dagegen sträubt. Noch weitere Paare finden zusammen und ein wildes Fest festigt die Union der Flüchtenden. Selbst kleine Sticheleien, die wechselseitig Stereotype ausweiden, schaden nicht, eskalieren aber in einem Wettstreit der Musikanten und Tänzer. Der Agon wird immer lauter und hitziger und mischt schließlich alle Juden und Roma im Tanz am Lagerfeuer. Die Gegensätze bleiben also nicht stehen in der Konfrontation, sondern führen zum (ästhetischen) Ausgleich; so realisiert der Film die Ethik des Vergleichs. Selbst religiöse Gebote verlieren ihre Absolutheit. Der Rabbi sieht wiederholt hinweg über die Schweine, die die Roma mitbringen: „Dieu comprendra!“26 Indem man den Roma gestattet, am neuzeitlichen Zug Moses‘ ins gelobte Land teilzunehmen, wird die Gemeinschaft der auserwählten Opfer erweitert. Sie wird diversifiziert und ihre theologische Singularität wird mit einem Schulterzucken beiseitegeschoben. Das mit den Roma geteilte
25 Mihaileanu, Radu: Zug des Lebens, Spielfilm, Sunfilm Entertainment, 1998, ab 1:17. 26 Mihaileanu: Zug des Lebens, 1:21.
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Leid lässt sich anerkennen und ein Vergleich von Porrajmos und Sho’ah wird möglich, ohne Unterschiede zu leugnen. Damit hat der Witz einiges erreicht. Das Zusammenbringen birgt aber auch Gefahren. Wenn ein Teil der Juden deutsche Uniformen überstreift, so bleiben sie davon nicht unberührt. Es entstehen Spannungen, kommunistische Widerstandsgruppen unter den Stetl-Bewohnern wehren sich dagegen, herumkommandiert und in Viehwaggons gesperrt zu werden. Das gipfelt in einem Fluchtversuch der vermeintlich gefangenen Juden aus dem vermeintlichen Deportationszug, wobei der kurzsichtige Schneider in die Arme der echten Nazis fällt. Die Unschärfe in der Unterscheidung zwischen Tätern und Opfern, die die Sho’ah zu einem Räuberund-Gendarm-Spiel verharmlosen könnte, eröffnet Denkräume: Die Selbstdeportation parodiert nicht nur den Exodus, sondern ist zugleich Satire auf die Rolle der Judenräte während der Sho’ah.27 Die Rede von den auserwählten Opfern ist eine theologisierte Variante der These, die die Einzigartigkeit der Sho’ah in der Kombination aus Intention und Ideologie, also in der ideologisch motivierten Vernichtungsabsicht der Nazis sieht. Sie ist nicht ohne Kritik geblieben.28 Trotzdem wurde mit ihr – ebenso wie mit der wissenschaftlichen Variante – erfolgreich gegen eine Würdigung des Porrajmos im United States Holocaust Memorial Museum (USHMM) argumentiert.29 Dieses Museums-Projekt war ein Brennpunkt in den Debatten um die Einzigartigkeit. Die Eröffnung des Museums an der Mall in Washington schrieb 1993 den Holocaust endgültig in das kollektive Gedächtnis Amerikas ein. Eine solche Amerikanisierung widerfuhr dem Porrajmos nicht. Auch für Schwarze war lange kein Platz in der kollektiven Erinnerung der USA. Es fehlte ein Ort des Gedenkens an die Sklaverei; es gab weder ein Nationales Museum noch eine kleine bench by the road.30 Solch einen Raum konnte die Literatur bereitstellen, u. a. mit Toni Morrisons Roman Beloved. Zwei Mottos führen die Leser in den Roman. „Sixty Million and more“31 überbietet die sechs Millionen jüdischer Opfer der Sho’ah, während der zweite Leitgedanke den Status des auserwählten Opfers reklamiert: I will call them my people, which were not my people; and her beloved, which was not beloved.32
27 Kortmann, Géraldine: Das Absurde als Element der Komik. Anmerkungen zum Film Train de vie von Radu Mihaileanu, in: Fröhlich, Margrit/Loewy, Hanno/Steinert, Heinz (Hg.): Lachen über Hitler – Auschwitz-Gelächter? Filmkomödie, Satire und Holocaust, München: edition text + kritik, 2003 (Schriftenreihe des Fritz Bauer Instituts 19), S. 293–313, hier S. 304. 28 Chaumont, Jean-Michel: La Concurrence des victimes. Génocide, identité, reconnaissance, Paris: Ed. La Découverte, 1997. 29 Wippermann, Wolfgang: Auserwählte Opfer? Shoah und Porrajmos im Vergleich. Eine Kontroverse, Berlin: Frank & Timme, 2005 (Geschichtswissenschaft 2), S. 8. 30 Morrison, Toni: A Bench by the Road, in World 3/1 (1989), S. 4–5, 37–41. 31 Morrison, Toni: Beloved. A Novel, New York: Knopf, 1987, S. V. 32 Morrison: Beloved, S. VII.
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Mit diesem Zitat aus dem Römerbrief wird eine Bibelstelle aufgerufen, die das Verhältnis von Christen und Juden thematisiert und nach der Sho’ah besonders intensiv gelesen wurde. Umstritten ist in den Auslegungen, ob die Juden grundsätzlich neben den Christen auserwähltes Volk bleiben (moderne Interpretationen) oder nur die Juden, die sich zu Jesus bekennen (traditionelle Interpretation).33 Der Auslegung anheimgestellt bleibt also, ob das Pauluszitat die Konkurrenz der Opfer im ersten Motto verschärft oder ob es einen Ausweg daraus weist. Am Schnittpunkt von Bibel und Holocaust steht Abraham. Elie Wiesel entnimmt die Bezeichnung für den Genozid an den Juden Genesis 22:3 und macht die Akedah zu einer zentralen Metapher für das Überleben der Sho’ah.34 Zudem steht die Opferung Isaaks für den Bund mit Gott und in typologischer Auslegung für die Erfüllung durch das Opfer Jesu am Kreuz. J. Hillis Miller vergleicht Sethe, die entflohene Sklavin, die in Beloved ihr Kind tötet, um es vor der Sklaverei zu bewahren, mit Abraham.35 Er listet Unterschiede und Gemeinsamkeiten, hütet sich aber davor, Sethe zu sehr mit Abraham zu identifizieren. Sein Ansatz lässt sich radikalisieren und damit liest sich Sethes Geschichte nicht nur als weibliche Variante der Akedah, sondern auch in Bezug auf die Kreuzigung. Sethe vergießt tatsächlich das Blut ihrer Tochter, so wie Gott seinen Sohn am Kreuz opfert. Isaak, den Wiesel als prototypischen Holocaust-Überlebenden interpretiert, wird durch den Holocaust am namenlosen Kind christlich überboten. Ähnlich wie mit dem Exodus-Begriff geschehen, überträgt der intertextuelle Vergleich den Holocaust-Begriff aus dem biblisch-jüdischen Zusammenhang in den (christlich-)politischen Kontext des Kampfes gegen die Sklaverei. Ob man darin eine Enteignung des Begriffes, seine Verunreinigung oder legitimen Gebrauch sehen soll, lässt sich aus dem Roman heraus nicht entscheiden. Diese Entscheidung ist auch schwer zu treffen bei einem weiteren intertextuellen Bezug: William Styrons Roman Sophie’s Choice, der eine weibliche Akedah-Variante mit christlich/universalistischem Unterton liefert. Die Katholikin Sophie wird bei ihrer Ankunft in Auschwitz gezwungen, zu entscheiden, welches ihrer beiden Kinder den unmittelbaren Weg ins Gas gehen soll und welches mit der Mutter im Lager leben darf. Ähnlich wie Sethe steht Sophie vor einer unmöglichen Entscheidung, wie Sethe trifft sie sie. Ist die Entscheidung gerecht(fertigt)? Miller erkennt in Sethes Opfer einen einzigartigen ethischen Akt: Sethe’s act provides a model for the solitude and uniqueness, the singularity, the incommensurability with moral law, the terrifying invidiousness, of every true ethical decision and act. She does the right thing, even though she has no right to do it.36
33 Wengst, Klaus: „Freut euch, ihr Völker, mit Gottes Volk!“ Israel und die Völker als Thema des Paulus – ein Gang durch den Römerbrief, Stuttgart: Kohlhammer, 2008. 34 Wiesel, Elie: Die Opferung Isaaks. Geschichte des Überlebenden, in: ders.: Adam oder das Geheimnis des Anfangs. Brüderliche Urgestalten, Freiburg [u. a.]: Herder, 1980, S. 75–105. (Original: Célébration biblique. Portraits et légendes, Paris: Seuil, 1975.) 35 Miller, J. Hillis: The Conflagration of Community. Fiction before and after Auschwitz, Chicago, London: University of Chicago Press, 2011, S. 245. 36 Miller: The Conflagration of Community, S. 267.
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Zwei Vergleiche führen Miller zu dieser Erkenntnis. Zum einen der ästhetische Vergleich zwischen Abraham und Sethe, den der Literaturwissenschaftler aus Morrisons Text gewinnt, zum anderen die Lektüre fiktionaler Texte vor und nach Auschwitz. Der Vergleich von Franz Kafka, Thomas Keneally, Ian McEwan, Art Spiegelman, Imre Kertész und Morrison lässt ihn das Erbe der Sho’ah in „our perpetual responsibility to make impossible decisions“37 erkennen. Nicht nur im Zusammenspiel von Ästhetik und Theorie erweist sich die Kraft des Vergleichs, auch in der Praxis eröffnet er einen ausgleichenden Weg aus dem Agon der Singularitätsdebatte. Mit Sethes unentscheidbarer Entscheidung, die der von Abraham und Sophie in ihrer Einzigartigkeit jenseits aller Ethik entspricht, wird die Distinktivität jedes Holocausts supplementiert durch diese geteilte Einzigartigkeit. Ethik nach Auschwitz muss aus dieser Unentscheidbarkeit erwachsen. Sie muss beruhen auf der Inkommensurabilität jener echten ethischen Entscheidungen, wie sie Abraham, Sophie, Sethe, die Judenräte oder auch die jüdischen Arbeiter in den Krematorien der Vernichtungslager treffen mussten. Sie muss erstehen aus dem Ende der Ethik, aus dem Opfer der Ethik, von dem Jacques Derrida in seiner Abraham-Lektüre spricht.38 Auch Giorgio Agamben fragt nach solch einer Ethik und findet tief in Auschwitz la pietra di paragone [sic!] che giudica e misura ogni morale e ogni dignità. Il musulmano, che ne è la formulazione più estrema, è il guardiano della soglia di un’etica, di una forma di vita che cominciano dove finisce la dignità.39 den Prüfstein jeder Moral und jeder Würde. Der Muselmann, in dem sie ihre extreme Formulierung findet, ist der Wächter an der Schwelle einer Ethik, einer Lebensform, die dort beginnt, wo die Würde endet.40
Als ‚Muselmann‘ wurden im Lager diejenigen bezeichnet, die jeden (Lebens-) Willen verloren hatten und als wandelnder Leichnam die grauenhafte Frage provozieren: Ist das ein Mensch? Sethe und die Muselmänner in ihrer millionenfachen Einzigartigkeit führen an die Grenze des Mensch-Seins. Sie fordern die Anerkennung des radikal und schrecklich Anderen, das über jedes Gesetz der Ethik hinausgeht, das kein Mensch mehr zu sein scheint. Sie verlangen nach einer radikalen komparatistischen Ethik. Wenn der theoretische, praktische und ästhetische Vergleich als lebendige Dialektik von Gemeinsamkeiten und Unterschieden bzw. von Witz und Scharf37 Miller: The Conflagration of Community, S. 271. 38 Derrida, Jacques: The Gift of Death, Chicago, London: University of Chicago Press, 1995, S. 68. (Original: Donner la mort. L’éthique du don. Jacques Derrida et la pensée du don. Colloque de Royaumont décembre 1990. Essais réunis par Jean-Michel Rabaté et Michael Wetzel, Paris: Métailié-Transition, 1992.) 39 Agamben, Giorgio: Homo sacer, Bd. 3: Quel che resta di Auschwitz. L’archivio e il testimone, Torino: Bollati Boringhieri, 1998 (Themi 80), S. 63. 40 Agamben, Giorgio: Homo sacer, Bd. 3: Was von Auschwitz bleibt. Das Archiv und der Zeuge. Aus dem Italienischen von Stefan Monhardt, Frankfurt/M.: Suhrkamp, 2003, S. 60.
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sinn einen Weg in Richtung dieser Anerkennung eröffnet, dann wäre mehr erreicht, als möglich scheint. LITERATURVERZEICHNIS Agamben, Giorgio: Homo sacer, Bd. 3: Quel che resta di Auschwitz. L’archivio e il testimone, Torino: Bollati Boringhieri, 1998 (Themi 80). Agamben, Giorgio: Homo sacer, Bd. 3: Was von Auschwitz bleibt. Das Archiv und der Zeuge. Aus dem Italienischen von Stefan Monhardt, Frankfurt/M.: Suhrkamp, 2003. Bauer, Yehuda: Whose Holocaust?, in: Midstream 26/9 (November 1980), S. 42–46. Chaumont, Jean-Michel: La Concurrence des victimes. Génocide, identité, reconnaissance, Paris: Ed. La Découverte, 1997. Davidson, Donald: Wahrheit und Interpretation, Frankfurt/M.: Suhrkamp, 1990. (Original: Inquiries into Truth and Interpretation, Oxford: Clarendon Press, 1984.) Derrida, Jacques: The Gift of Death, Chicago, London: University of Chicago Press, 1995. (Original: Donner la mort. L’éthique du don. Jacques Derrida et la pensée du don. Colloque de Royaumont décembre 1990. Essais réunis par Jean-Michel Rabaté et Michael Wetzel, Paris: Métailié-Transition, 1992.) Focke, Friedrich: Synkrisis, in: Hermes 58/3 (1923), S. 327–368. Kansteiner, Wulf: The Rise and Fall of Metaphor: German Historians and the Uniqueness of the Holocaust, in: Rosenbaum, Alan S. (Hg.): Is the Holocaust Unique? Perspectives on Comparative Genocide, Boulder (CO), Oxford: Westview Press, 22001, S. 221–244. Kortmann, Géraldine: Das Absurde als Element der Komik. Anmerkungen zum Film Train de vie von Radu Mihaileanu, in: Fröhlich, Margrit/Loewy, Hanno/Steinert, Heinz (Hg.): Lachen über Hitler – Auschwitz-Gelächter? Filmkomödie, Satire und Holocaust, München: edition text + kritik, 2003 (Schriftenreihe des Fritz Bauer Instituts 19), S. 293–313. Lanzmann, Claude: Holocauste, la représentation impossible, in: Le Monde, 03.03.1994, S. 1 und 7. Mihaileanu, Radu: Zug des Lebens, Spielfilm, Sunfilm Entertainment, 1998. Miller, J. Hillis: The Conflagration of Community. Fiction before and after Auschwitz, Chicago, London: University of Chicago Press, 2011. Mitchell, W. J. T.: Why Comparisons Are Odious, in: World Literature Today 70/2 (Spring 1996), S. 321–324. Morrison, Toni: Beloved. A Novel, New York: Knopf, 1987. Morrison, Toni: A Bench by the Road, in World 3/1 (1989), S. 4–5, 37–41. Rosenberg, Alan/Silverman, Evelyn: The Issue of the Holocaust as a Unique Event, in: Dobkowski, Michael N./Wallimann, Isidor (Hg.): Genocide in Our Time. An Annotated Bibliography with Analytical Introductions, Ann Arbor: Pierian Press, 1992, S. 47–65. Rosenfeld, Gavriel David: The Politics of Uniqueness. Reflections on the Recent Polemical Turn in Holocaust and Genocide Scholarship, in: Holocaust and Genocide Studies 13/1 (1999), S. 28–61. Sass, Hartmut von: Vergleiche(n). Ein hermeneutischer Rund- und Sinkflug, in: Mauz, Andreas/ ders. (Hg.): Hermeneutik des Vergleichs. Strukturen, Anwendungen und Grenzen komparativer Verfahren, Würzburg: Königshausen & Neumann, 2011 (Interpretation Interdisziplinär 8), S. 25–47. Shamir, Shlomo: Elie Wiesel: Haredi ‚Holocaust‘ protest in Israel was a ‚vile sight‘, in: Haaretz 03.01.2012, S. 16, auch unter http://www.haaretz.com/jewish-world/elie-wiesel-haredi-holocaustprotest-in-israel-was-a-vile-sight-1.405290 (12.03.2013). Wengst, Klaus: „Freut euch, ihr Völker, mit Gottes Volk!“ Israel und die Völker als Thema des Paulus – ein Gang durch den Römerbrief, Stuttgart: Kohlhammer, 2008.
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Wiesel, Elie: Trivializing the Holocaust Semi-Fact and Semi-Fiction, in: New York Times, April 16, 1978, S. 1 und 29. Wiesel, Elie: Die Opferung Isaaks. Geschichte des Überlebenden, in: ders.: Adam oder das Geheimnis des Anfangs. Brüderliche Urgestalten, Freiburg [u. a.]: Herder, 1980, S. 75–105. (Original: Célébration biblique. Portraits et légendes, Paris: Seuil, 1975.) Wippermann, Wolfgang: Auserwählte Opfer? Shoah und Porrajmos im Vergleich. Eine Kontroverse, Berlin: Frank & Timme, 2005 (Geschichtswissenschaft 2). Zelle, Carsten: Comparaison/Vergleichung. Zur Geschichte und Ethik eines komparatistischen Genres, in: ders. (Hg.): Allgemeine Literaturwissenschaft. Konturen und Profile im Pluralismus, Opladen: Westdt. Verl., 1999, S. 33–58. Zelle, Carsten: Komparatistik und comparatio – der Vergleich in der Vergleichenden Literaturwissenschaft. Skizze einer Bestandsaufnahme, in: Komparatistik. Jahrbuch der DGAVL 2004/2005, S. 13–33. Zimmerer, Jürgen: Von Windhuk nach Auschwitz? Beiträge zum Verhältnis von Kolonialismus und Holocaust, Berlin, Münster: Lit, 2011 (Periplus-Studien 15).
GATTUNGSLANDSCHAFTEN Probleme des generologischen Kulturvergleiches Rüdiger Zymner In der modernen gattungstheoretischen Diskussion werden Gattungen als kulturell und historisch variable Kategorisierungen aufgefasst, die in spezifischen Kommunikationskontexten als Normen der Kommunikation eingeführt werden, sich in spezifischen Kommunikationskontexten etablieren und erhalten können oder aber ihre normative Kraft verlieren, sodass Gattungen, wie es die verbreitete metaphorische Redeweise will, entstehen, blühen und vergehen. Dabei verschränken sich im Konzept einer Gattung jeweils unterschiedliche Dimensionen – nicht nur eine textuelle Dimension, sondern auch eine funktionale, eine kulturell-historische und eine individuell-kognitive Dimension. Einzelne Gattungskonzepte erhalten ihr besonderes Profil überdies erst durch ihre besondere Positionierung innerhalb ebenfalls kulturell und historisch variabler ‚Gattungslandschaften‘, die spätestens seit der Frühen Neuzeit, aber im Grunde schon seit der Unterscheidung zwischen phonisch repräsentierter und grafisch repräsentierter Sprache, zwischen mündlicher und schriftlicher Dichtung auch medial diversifiziert und daher zugleich als ‚Medienlandschaften‘ anzusprechen sind. Die Mehrdimensionalität von Gattungskonzepten und ihre historisch-kulturelle Variabilität lassen sie nun als geeignete Gegenstände erscheinen, um Theorien der Literatur- und Kulturbeziehung zu reflektieren und methodische Optionen (z. B. Funktion und Struktur des Vergleichens) zu überprüfen. Dies soll hier besonders mit Blick auf das Beispiel der generischen Gruppe der Lyrik in der französischen und in der deutschen Literatur geschehen.1 Dabei kann es sich im Rahmen dieses Beitrages allerdings um nicht mehr als erste und selbstverständlich noch sehr lückenhafte Überlegungen handeln, die immerhin einen generologisch akzentuierten Versuch in seinen Grundzügen andeuten sollen, ‚Kulturen der Dichtung‘ miteinander zu vergleichen und ebenso Bedingungen und Möglichkeiten des Kulturtransfers zu beschreiben. Dies gilt umso mehr, als es bislang weder eine Theorie des generischen Kulturtransfers noch grundlegende empirische Untersuchungen dazu gibt. Nach wie vor gilt, was der Romanist Fritz Nies vor fast 30 Jahren in Bezug auf den Import italienischer lyrischer Gattungskonzepte in die französische Dichtung formuliert hat, dass wir nämlich bezüglich der Faktoren,
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Siehe hierzu auch Zymner, Rüdiger: Lyrik. Umriss und Begriff, Paderborn: mentis, 2009.
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die eine „Teilosmose“, wie Nies das nennt, begünstigten, vorerst auf – vielleicht sogar gewagte – Vermutungen angewiesen bleiben.2 Eine nicht besonders gewagte Vermutung scheint mir nun zu sein, dass man in unterschiedlichen Kulturen der Dichtung und hier wiederum im historischen Längsschnitt variable ‚Gattungslandschaften‘3 feststellen kann. Mit diesem Ausdruck bezeichnet man neuerdings häufiger das, was Nies in einer Arbeit über Auflösungs- und Neugruppierungsphänomene im Gattungssystem der französischen Dichtung und genauer im Gattungssystem der Dichtung Frankreichs um 1800 auch – und vielleicht sogar sprechender, weil die Anschließbarkeit an sozialgeschichtliche Theorien der Literatur stärker signalisierend – als „Gattungsfeld“ bezeichnet,4 ohne jedoch eine begriffliche und damit theoretisch-konzeptionelle Schärfung des Terminus vorzunehmen. Dies geschieht, so weit ich sehe, auch bislang nicht im Hinblick auf den Ausdruck ‚Gattungslandschaft‘ und soll daher hier versucht werden. Bezeichnet wird mit beiden Ausdrücken, so zeigt eine systematischere Zusammenstellung der Verwendungen, eine in einer bestimmten Gesellschaft oder Gemeinschaft und in einem bestimmten Zeitraum innerhalb jener bestimmten Gesellschaft oder Gemeinschaft benutzte, mit bestimmten Erwartungen und Funktionen verbundene und auch insofern normierte Gruppe von poetischen oder dichterischen Gattungen. Als Gattungslandschaft oder -feld handelt es sich bei dieser sozialhistorisch kontextualisierten Gruppe darüber hinaus jeweils um ein historisches Gefüge, in dem jede der Gattungen ihre spezifische Position, ihre Funktion und ihren Sinn auch in Abgrenzung von und im Zusammenspiel mit den anderen Gattungen des sozialhistorisch bestimmten Gefüges gewinnt. Verschiebungen oder Transfers einzelner Gattungen in andere, historisch gewandelte oder kulturell andersartige sozialhistorische Gefüge sollten demnach also auch Verän2
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Nies, Fritz: „A la façon Italienne“. Import italienischer Gattungskonzepte als aktuelles Forschungsproblem, in: Hirdt, Willi/Klesczewski, Reinhard (Hg.): Italia viva. Studien zur Sprache und Literatur Italiens. Festschrift für Hans Ludwig Scheel, Tübingen: Narr, 1983 (Tübinger Beiträge zur Linguistik 220), S. 303–315, hier S. 314. Der Ausdruck wird verwendet z. B. von Wenzel, Peter: Gattungsgeschichte, in: Nünning, Ansgar (Hg.): Metzler Lexikon Literatur- und Kulturtheorie, Stuttgart, Weimar: Metzler, 4 2008, S. 231–232, hier S. 231; Wassmann, Elena: Die Novelle als Gegenwartsliteratur. Intertextualität, Intermedialität und Selbstreferentialität bei Martin Walser, Friedrich Dürrenmatt, Patrick Süskind und Günter Grass, St. Ingbert: Röhrig, 2009 (Mannheimer Studien zur Literatur- und Kulturwissenschaft 46), S. 26; siehe auch Zymner, Rüdiger (Hg.): Handbuch Gattungstheorie, Stuttgart, Weimar: Metzler, 2010, S. 140 f., 144, 147 f., 150, 154, 156 f. Nies, Fritz: Auflösung oder Starrheit? Entwicklungsprozesse im Gattungssystem, in: Krauß, Henning (Hg.): Literatur der Französischen Revolution. Eine Einführung, Stuttgart: Metzler, 1988, S. 1–35, hier S. 13; Nies, Fritz: Im „Meer“ der „Bagatelles“ und „Petit Vers“. Das Gattungsfeld der kurzen Verstexte seit Beginn des 16. Jahrhunderts, in: Janik, Dieter (Hg.): Die Französische Lyrik, Darmstadt: WBG, 1987 (Grundriss der Literaturgeschichten nach Gattungen), S. 481–518; ebenso z. B. Ackermann, Kathrin: Von der philosophisch-moralischen Erzählung zur modernen Novelle. Contes und nouvelles von 1760 bis 1830, Frankfurt/M.: Klostermann, 2004 (Analecta Romanica 70); Enenkel, Karl E. A.: Die Erfindung des Menschen. Die Autobiographik des frühneuzeitlichen Humanismus von Petrarca bis Lipsius, Berlin, New York: de Gruyter, 2008, S. 397.
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derungen der Gattung selbst zur Folge haben – mindestens insofern, als eben die Position in der Gattungslandschaft durch neue Abgrenzungen und neue Zusammenhänge eine andere wird. Gattungslandschaften als historische Konstellationen von Gattungen sind nicht zu verwechseln mit historischen Gattungssystematisierungen, die zumeist nur Ausschnitte historischer Gattungslandschaften aus jeweils selbst normativer Perspektive erfassen. So kann man beispielsweise sagen, dass der Roman in Johann Christoph Gottscheds ‚Critischer Dichtkunst‘ von 1731 nicht zum Gattungssystem der deutschen Dichtung gehörte, aber seit geraumer Zeit zu ihrer historisch rekonstruierbaren Gattungslandschaft. Die Rede von einem jeweils ‚bestimmten‘ sozialhistorischen Kontext deutet darauf hin, dass es sich dabei jeweils um interesse-, zweck- und paradigmengeleitete Perspektivierungen oder Festsetzungen des Forschers oder der koordinierten Forschung und eben nicht um quasinatürlich Gegebenes handelt; und die Möglichkeit der Überführung einer Gattung von einem sozialhistorischen Kontext in einen anderen oder auch ihrer ‚Osmose‘ von einem kulturellen Kontext in einen anderen deutet darauf hin, dass es sich bei der Erfassung und Beschreibung von Gattungslandschaften zunächst einmal um statische Momentaufnahmen handelt, die erst durch die narrative Verbindung im Rahmen der Gattungshistoriografie so etwas wie eine historische Dynamik gewinnen können. Epistemische Perspektivierung, Konstruktcharakter und Dynamisierung der Gattungslandschaften durch historiografische Narrativität lassen sich gut an einer literaturgeschichtlichen Darstellung nach Gattungen ablesen, die von Dieter Janik herausgegeben wurde und die der französischen Lyrik gilt.5 Diese Darstellung folgt in mehreren umfangreichen Kapiteln mehr oder weniger deutlich einer fachhistoriografisch tradierten historischen Abfolge von Zeitabschnitten, Perioden oder Epochen der französischsprachigen Dichtung Frankreichs. Die Gattungslandschaften sind also von vornherein auf einen geografischen Kulturraum und auf ein bestimmtes sprachliches Segment dessen, was insgesamt als Dichtung dieses Kulturraumes bezeichnet werden kann, bezogen: Es sind im Prinzip Gattungslandschaften der französischen ‚Nationalliteratur‘, und zwar in einer akademisch eingeführten und fachhistoriografisch etablierten Abfolge, die freilich bei einem anderen historiografischen Zugriff, der beispielsweise auf die Eigendynamik der generisch bestimmten literarischen Reihe abhöbe und sich weniger an allgemeinoder geistesgeschichtlichen Rhythmisierungen orientierte, auch ganz anders ausfallen könnte.6 Bei Janik folgt nun auf die Darstellung der Trobadorlyrik und der Dichtung der Trouvères die französische Lyrik des 14. und 15. Jahrhunderts, sodann diejenige des 16. Jahrhunderts, als nächstes die zwischen 1610 und 1680, bevor der Band zur französischen Lyrik im 18. Jahrhundert als einer eigenen Gattungslandschaft und zur romantischen Lyrik als einer weiteren übergeht. Es folgen die lyri5 6
Vgl. Janik (Hg.): Die französische Lyrik. Erprobt habe ich dies z. B. in Zymner, Rüdiger: Uneigentlichkeit. Studien zu Semantik und Geschichte der Parabel, Paderborn [u. a.]: Schöningh, 1991 (Explicatio).
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schen Gattungen in der Mitte des 19. Jahrhunderts ‚zwischen Hugo und Mallarmé‘ sowie abschließend eine Darstellung der Gattungslandschaft im Zeitalter der Avantgarde. Als Coda außerhalb der Abfolge der Gattungslandschaften, den Zeitraum zwischen dem 16. Jahrhundert und dem ausgehenden 20. Jahrhundert übergreifend, wird sodann noch eine Darstellung des Gattungsfeldes der kurzen Verstexte geboten. So erfährt man etwa bei dieser generisch akzentuierten Reise durch die Lyriklandschaften, dass die Gattungslandschaft der Trouvèrelyrik zwischen ca. 1160 und 1280 von dem Rondeau, dem chanson de toile, dem chanson de mal-mariée, dem chanson de femme, den pastourelles und dem chanson d’aube sowie dem grant chant courtois geprägt wurde; oder man erfährt, dass für die lyrische Poesie des 16. Jahrhunderts demgegenüber Ballade, chant royal, blason, sonnet, Ode, Hymne, stance und andere Genres landschaftsprägend waren. Die lyrische Landschaft in der Mitte des 19. Jahrhunderts war sodann zunächst von einem Fortbestehen traditioneller, bereits durch Romantik und Parnasse erprobter Formen der ‚poèmes traditionnels à forme fixe‘ wie namentlich Sonett und Ode geprägt, und sei es in ihrer Parodie, wie häufiger bei Mallarmé. Die Tendenz zu einer Auflösung und Ablösung dieses lyrischen Gattungsgefüges deutet sich aber an – nicht allein im poème en prose Charles Baudelaires und anderer, auch im vers impair Paul Verlaines und anderer und im Übergang zum vers libre und allgemein zum ‚Formbruch als Formprinzip‘, d. h. vor allem: dem Bruch mit den Formtraditionen der grafisch repräsentierten Leselyrik als einer subjektexpressiven Einzelrede in Versen in der Lyrik der Avantgarde. Bei dieser Reise durch die französischen Lyriklandschaften fällt nun viererlei auf: Erstens sind die Übergänge zwischen den einzelnen Gattungslandschaften ‚weich‘ dargestellt – es finden sich sozusagen prototypische generische Fixpunkte und an den historischen Rändern sozusagen verschwimmende, nämlich vorsichtig und eher tastend dargestellte Übergänge von einer Gattungslandschaft zur nächsten. Gelegentlich werden scharfe Brüche markiert, wie etwa derjenige zwischen der Lyrik der Pléiade und der vorangehenden Lyrik, oder auch derjenige zwischen der Avantgarde und der ihr vorangehenden Lyrik, aber überwiegend gibt es doch keine scharfen Grenzen zwischen den Gattungslandschaften. Diese Vorsicht scheint mir historisch und historiografisch angemessen und methodisch generell für die Rekonstruktion von Gattungslandschaften angezeigt zu sein. Es wird zweitens eigentlich nicht wirklich eine Gattungslandschaft als ganze in Augenschein genommen, sondern lediglich ein ausgewählter Zug innerhalb der anvisierten Gattungslandschaften. Zur Untersuchung von Gattungslandschaften würde doch wohl auch die Berücksichtigung der Gattungen neben den lyrischen Genera gehören, denn die lyrischen Genres bilden ja nicht nur untereinander eine spezifische generische Konstellation, zu der beispielsweise schon das Sonett, aber nicht mehr die pastourelle und noch nicht das Prosagedicht gehören, sondern die Genres der Lyrik stehen ja auch als Lyrik in einem spezifischen und möglicherweise sozialhistorisch und kulturell variablen Verhältnis zur Nicht-Lyrik und den hier gekannten und benutzten Genres. Die Rekonstruktion einer Gattungsland-
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schaft oder eines Gattungsfeldes erfordert also über den Blick auf einzelne seiner Teile hinaus im Prinzip einen Blick auf den Gesamtbestand. Drittens fällt auf, dass selbst die Fokussierung auf einen Zug jener Gattungslandschaft wie eben auf die Sammelkategorie Lyrik eines geklärten metatheoretischen Begriffs von Lyrik bedarf,7 der es unter anderem erlaubt, aus der literaturwissenschaftlichen Perspektive Formen der phonischen, grafischen oder sonstigen Repräsentation von Sprache als Lyrik kategorisieren zu können, selbst wenn es für den betreffenden Zeitraum oder in der betreffenden Kultur, aus der jene Repräsentationen von Sprache stammen, noch kein oder nur ein beschränktes Lyrikkonzept gibt. Die Notwendigkeit einer derartigen Klärung wird in der Darstellung der französischen Lyrik nach Gattungen zum einen deutlich an den Schwankungen des Lyrikbegriffes von Darstellung zu Darstellung und von Gattungslandschaft zu Gattungslandschaft, zum anderen aber auch an der zirkulären Argumentation, die sich in den vorangestellten Leitgedanken der Darstellung findet. So heißt es dort: Der Begriff ‚Lyrik‘ ist bei streng historischer Einstellung nicht dazu geeignet, die jeweilige Gesamtheit und die diachronisch feststellbaren Verbindungen der dichterischen Texte hinreichend zu kennzeichnen, die sich in einzelnen historischen Phasen als Exemplar grundverwandter Textgattungen zu erkennen geben. Dieser Begriff ist als literaturwissenschaftliche Kategorie zu allgemein oder, wenn man an die Geschichte des Wortes und der Bezeichnung in der französischen Sprache und Literaturkritik denkt, wiederum zu eng und zu stark historisch vorbelastet. Wenn im Titel des vorgelegten Bandes und in einzelnen Beiträgen von französischer Lyrik die Rede ist, dann bloß in dem Sinne eines literaturwissenschaftlichen Orientierungs- und Ordnungsbegriffs hoher Allgemeinheit. Die Präzisierung des Begriffs ‚Lyrik‘ in bezug auf konkrete Werke – Gedichtbände oder Einzeltexte – der französischen Literatur soll hier gerade über die Aufklärung der Gattungshaftigkeit und der Gattungsbindung der einzelnen Texte geleistet werden.8
Mit anderen Worten: Lyrik ist allgemein das, was man jeweils dafür hält bzw. so oder so ähnlich bezeichnet, und damit mindestens ‚von Epoche zu Epoche‘ immer etwas anderes, und die Gattungen der Lyrik präzisieren, was Lyrik ist, während davon, was Lyrik ist, abhängt, was als lyrische Gattungen betrachtet werden kann. Methodisch scheint mir das schon sehr nah bei dem von Klaus W. Hempfer gerügten Grundfehler mancher Gattungsforschung zu liegen, die Unübersichtlichkeit des Objektbereiches für die Unordnung des literaturwissenschaftlichen Metabereiches verantwortlich machen zu wollen.9 Dies aber sollte und kann man vermeiden. Viertens aber ist in den Darstellungen der Gattungslandschaften eine gewisse Unsicherheit im Umgang mit der Kategorie ‚Literatur‘ zu bemerken, denn die Gegenstände, die in den Darstellungen erfasst oder thematisiert werden sollen, sind nicht immer Literatur in einem das Symbolsystem und das Sozialsystem in spezifischer Weise miteinander verknüpfenden modernen, akademischen und lite7 8 9
Siehe hierzu meinen Vorschlag in Zymner: Lyrik. Janik, Dieter: Die französische Lyrik aus gattungsgeschichtlicher Perspektive. Vorwort, in: ders. (Hg.): Die französische Lyrik, S. VII–XIII, hier S. XI. Hempfer, Klaus W.: Gattungstheorie. Information und Synthese, München: Fink, 1973, S. 221.
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raturkritischen Sinn, sondern es handelt sich in vielen Fällen eben um ‚Literatur vor der Literatur‘ (wie selbst noch im Falle der Lyrik des 16. und 17. Jahrhunderts) oder aber (auch) um lyrische Dichtung außerhalb der Literatur, wie im Fall phonisch repräsentierter lyrischer Formen oder vieler Gelegenheitsgedichte (Spottverse, Tanzlieder, bouquets etc.) im Gattungsfeld der kurzen Verstexte. Dies aber deutet darauf hin, dass es vielleicht methodisch besser ist, die Rekonstruktion von Gattungslandschaften von vornherein nicht an ein seinerseits erkennbar determiniertes Konzept von Literatur zu knüpfen (auch wenn wir eben jeweils als Literaturwissenschaftler agieren), sondern sich allgemeiner auf Gattungskonstellationen desjenigen Typus sprachlichen making specials zu fokussieren, den man mit einem metatheoretischen Begriff als ‚Lyrik‘ bezeichnen kann.10 In jedem Fall wird an diesen wenigen Beobachtungen zu Versuchen, Gattungslandschaften im Bereich der französischsprachigen Lyrik Frankreichs zu rekonstruieren und im historiografischen Längsschnitt miteinander zu verbinden, deutlich, dass es sich bei Gattungslandschaften oder Gattungsfeldern um wissenschaftlich konstituierte Objekte handelt, deren Gestalt in mehrerlei Hinsicht von möglichst gut begründeten, aber immer auch interesse- und zweckgeleiteten Entscheidungen abhängt – beispielsweise Entscheidungen darüber, was man überhaupt als Gattungen betrachtet, was man überhaupt als Lyrik bezeichnet und ob man sich lediglich mit Gattungen der Literatur oder überhaupt mit Gattungen besonderer Sprachverwendung oder als besonders betrachteter Sprachverwendung befassen möchte, und nicht zuletzt auch Entscheidungen darüber, wie die soziohistorische Rahmung der jeweiligen Gattungslandschaft bestimmt wird, wie die Extension und die Intension des jeweiligen Kulturraumes umrissen wird. Ungeachtet dieser Probleme, für die sich jeweils gute argumentative Lösungen finden lassen, kann man jedenfalls prinzipiell und mit kulturhistorischem Gewinn unterschiedliche Gattungslandschaften durchaus miteinander vergleichen und unterschiedliche Typen des generischen und damit auch des kulturellen Transfers zwischen Gattungslandschaften rekonstruieren. Dies gilt intralingual und intrakulturell (also in einer Konstellation unterschiedlicher Gattungslandschaften einer Sprach- und Dichtungskultur), aber auch interlingual und interkulturell (also in einer Konstellation unterschiedlicher Gattungslandschaften in zwei oder mehr verschiedenen Sprach- und Dichtungskulturen). Dabei ist und bleibt der Vergleich (neben Analysis, Synthese, Induktion und Deduktion) eine von mehreren hermeneutisch relevanten kognitiven Grundoperationen, die eben auch bei der komparatistischen Beschäftigung mit Gattungslandschaften eine methodisch unhintergehbare Rolle spielt, und zwar auf unterschiedlichen Niveaus und bei unterschiedlichen Perspektivierungen der komparatistischen Gattungsfeldforschung. Ich unterscheide im Folgenden versuchsweise Typen der vergleichenden Gattungsfeldfoschung.
10 Siehe hierzu zuletzt Zymner, Rüdiger: Literatur und andere Dichtung, in: Knaller, Susanne (Hg.): Literaturwissenschaft heute – Gegenstände, Positionen und Probleme [im Druck].
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Zunächst müßte wohl das angeführt werden, was man (1) als reinen Systemvergleich von Gattungslandschaften bezeichnen könnte. Hierbei würde man also die Beschaffenheit zweier oder mehrerer Gattungslandschaften unterschiedlicher Kulturräume bzw. Sprachkulturen beschreiben, sodann miteinander vergleichen und Analogien ebenso wie Unterschiede zwischen den Gattungslandschaften zu erklären versuchen – etwa auf dem Wege einer hermeneutischen Optimierung der Erklärung durch Rückgriffe auf die je unterscheidenden oder aber analogen soziohistorischen Kontexte, sodass die generologische Bestandsaufnahme schließlich den Vergleich von Kulturen oder Situationen einzelner Kulturen ermöglichte. Dieser reine Systemvergleich ist als (1a) synchroner, aber auch als (1b) diachroner Systemvergleich denkbar. Bei einem synchronen Systemvergleich würde man unterschiedliche Gattungslandschaften in einem gleichen Zeitrahmen untersuchen. Hier könnte man beispielsweise feststellen, dass in der französischen Lyrik des 13. Jahrhunderts neben anderen Genres das Rondeau mit ganz spezifischen kulturellen Funktionen zur lyrischen Gattungslandschaft gehörte, in der deutschen Literatur hingegen so etwas wie die Gattung Rondeau noch überhaupt nicht vorkam. Dort taucht es erst im 16. und stärker im 17. Jahrhundert auf. Oder man könnte zeigen, dass das Sonett seit dem Beginn des 16. Jahrhunderts (nämlich mit der von Etienne Dolet 1538 herausgegebenen Ausgabe der Werke Clément Marots) ein Element der Gattungslandschaft der französischen Lyrik wurde, während das Sonett in der Gattungslandschaft der deutschen Lyrik erst gegen Ende des 16. Jahrhunderts (mit der Nachdichtung Christof Wirsungs und den Sonetten Johann Fischarts) auftaucht – beide Male allerdings in Abhebung von einer petrarkischen oder petrarkistischen Sonettistik (also einer Liebessonettistik), wie sie sich in beiden lyrischen Landschaften erst später durchsetzte, in Frankreich schon im 16. Jahrhundert (etwa bei Pierre de Ronsard), in der deutschen Dichtung erst im 17. Jahrhundert (im Wesentlichen seit Martin Opitz). Ein diachroner Systemvergleich könnte demgegenüber zwischen Gattungslandschaften unterschiedlicher Zeitrahmen erfolgen – etwa, wenn man sich einerseits die lyrische Gattungslandschaft des 13. Jahrhunderts in der französischen Dichtung ansieht und feststellt, unter welchen Bedingungen und in welchem Kontext das Rondeau hier vorkommt, und andererseits die lyrische Gattungslandschaft des 17. Jahrhunderts in der deutschen Dichtung untersucht und feststellt, unter welchen anderen Bedingungen und in welchem Kontext das Rondeau dort vorkommt. Dabei können sich beide Vergleiche selbstverständlich auf alle konstitutiven Komponenten der Gattungslandschaften richten, nicht allein auf die generische Gestaltung einzelner Texte und nicht allein auf die spezifische generische
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Konstellation, in der die Gattung jeweils steht, sondern natürlich auch auf alle Aspekte der Produktion, Distribution und Rezeption eben jener Gattung in ihren jeweiligen Gattungslandschaften. Spielt für die reinen Systemvergleiche der Umstand eine Rolle, dass ‚TransferVorgänge‘ zwischen den unterschiedlichen Gattungslandschaften nicht von Belang sind, so wäre der generische Kulturtransfer gerade für einen anderen Typus des Vergleiches von Gattungslandschaften interessant. Man könnte ihn vielleicht (2) Kontaktvergleich von Gattungslandschaften nennen und hiermit wiederum die Beschreibung zweier oder mehrerer Gattungslandschaften innerhalb eines (2a) synchronen Zeitrahmens bezeichnen, bei denen Unterschiede und besonders Analogien durch irgendwelche Formen des Transfers (Übersetzung, Nachdichtung, Nachahmung etc.) erklärt werden können, oder aber die Beschreibung zweier oder mehrerer Gattungslandschaften innerhalb (2b) diachroner Zeitrahmen, bei denen Unterschiede und besonders Analogien durch irgendwelche Formen des Transfers (Übersetzung, Nachdichtung, Nachahmung etc.) erklärt werden können. In beiden Fällen ist darüber hinaus denkbar, dass der Transfervorgang in beide Richtungen festzustellen ist, aber es ist natürlich auch möglich und die wahrscheinlichere Variante, dass ein Transfer nur einseitig, von der einen Gattungslandschaft in eine andere vollzogen wird. Als ein jüngeres Beispiel könnte man vielleicht die von Raymond Queneau erfundene lyrische Gattung der Morale élementaire nennen, die dann – wenn auch vorsichtig – von deutschsprachigen Oulipo-Dichtern übernommen und so in die Gattungslandschaft der deutschen Lyrik eingeführt wird, als ein nun schon etwas älteres Beispiel könnte man schließlich vielleicht das inhaltlich (‚strukturell‘) moderne lyrische Gedicht anführen, dessen erste Beispiele wir bei Baudelaire, Stéphane Mallarmé oder auch Verlaine antreffen und das als lyrische Möglichkeit und tatsächliche Veränderung der Gattungskonstellation von Lyrikern wie vor allem Stefan George in die deutsche lyrische Gattungslandschaft eingeführt wurde.11 ‚Transfer‘ zwischen Gattungslandschaften würde dabei in jedem Fall nicht nur die einseitige oder wechselseitige Einführung von zunächst einmal ‚fremden‘ Genres in eine neue Gattungslandschaft bedeuten, sondern natürlich auch eine Veränderung der Gattungslandschaften selbst, insofern produktionsseitig wie in 11 Siehe hierzu Lamping, Dieter: Das lyrische Gedicht. Definitionen zu Theorie und Geschichte der Gattung, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 32000, S. 148–155.
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Distribution und Rezeption neue generische Normen der Kommunikation etabliert werden, neue generische Ausrucksmöglichkeiten das kommunikative Repertoire erweitern (und dafür andere eventuell verdrängen) und nicht zuletzt unter Umständen Kulturen der Dichtung einander angeglichen werden. Ob indes im Kontext der ‚Globalisierung‘ inzwischen nicht allein von einer Weltsprache der modernen Poesie, sondern darüber hinaus auch von einer Verwandlung der lyrischen Gattungslandschaften zu standardisierten Reihenhausvorgärten zu sprechen ist, wäre schließlich eine weitere Frage der komparatistischen Gattungsfeldforschung, die ich hier und heute allerdings nicht beantworten kann. LITERATURVERZEICHNIS Ackermann, Kathrin: Von der philosophisch-moralischen Erzählung zur modernen Novelle. Contes und nouvelles von 1760 bis 1830, Frankfurt/M.: Klostermann, 2004 (Analecta Romanica 70). Enenkel, Karl E. A.: Die Erfindung des Menschen. Die Autobiographik des frühneuzeitlichen Humanismus von Petrarca bis Lipsius, Berlin, New York: de Gruyter, 2008. Hempfer, Klaus W.: Gattungstheorie. Information und Synthese, München: Fink, 1973. Janik, Dieter: Die französische Lyrik aus gattungsgeschichtlicher Perspektive. Vorwort, in: ders. (Hg.): Die französische Lyrik, S. VII–XIII. Lamping, Dieter: Das lyrische Gedicht. Definitionen zu Theorie und Geschichte der Gattung, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 32000. Nies, Fritz: „A la façon Italienne“. Import italienischer Gattungskonzepte als aktuelles Forschungsproblem, in: Hirdt, Willi/Klesczewski, Reinhard (Hg.): Italia viva. Studien zur Sprache und Literatur Italiens. Festschrift für Hans Ludwig Scheel, Tübingen: Narr, 1983 (Tübinger Beiträge zur Linguistik 220), S. 303–315. Nies, Fritz: Im „Meer“ der „Bagatelles“ und „Petit Vers“. Das Gattungsfeld der kurzen Verstexte seit Beginn des 16. Jahrhunderts, in: Janik, Dieter (Hg.): Die Französische Lyrik, Darmstadt: WBG, 1987 (Grundriss der Literaturgeschichten nach Gattungen), S. 481–518. Nies, Fritz: Auflösung oder Starrheit? Entwicklungsprozesse im Gattungssystem, in: Krauß, Henning (Hg.): Literatur der Französischen Revolution. Eine Einführung, Stuttgart: Metzler, 1988, S. 1–35. Wassmann, Elena: Die Novelle als Gegenwartsliteratur. Intertextualität, Intermedialität und Selbstreferentialität bei Martin Walser, Friedrich Dürrenmatt, Patrick Süskind und Günter Grass, St. Ingbert: Röhrig, 2009 (Mannheimer Studien zur Literatur- und Kulturwissenschaft 46). Wenzel, Peter: Gattungsgeschichte, in: Nünning, Ansgar (Hg.): Metzler Lexikon Literatur- und Kulturtheorie, Stuttgart, Weimar: Metzler, 42008, S. 231–232. Zymner, Rüdiger: Uneigentlichkeit. Studien zu Semantik und Geschichte der Parabel, Paderborn [u. a.]: Schöningh, 1991 (Explicatio). Zymner, Rüdiger: Lyrik. Umriss und Begriff, Paderborn: mentis, 2009. Zymner, Rüdiger (Hg.): Handbuch Gattungstheorie, Stuttgart, Weimar: Metzler, 2010. Zymner, Rüdiger: Literatur und andere Dichtung, in: Knaller, Susanne (Hg.): Literaturwissenschaft heute – Gegenstände, Positionen und Probleme [im Druck].
« LA DIFFERENCE, CE N’EST PAS CE QUI NOUS SEPARE » Pour une analyse différentielle des relations littéraires et culturelles Ute Heidmann « La différence, ce n’est pas ce qui nous sépare », écrit Edouard Glissant : « C’est la particule élémentaire de toute relation. C’est par la différence que fonctionne ce que j’appelle la Relation avec un grand R ».1 Prolongeant cet énoncé, je dirai que les langues, littératures et cultures2 du monde se sont formées, se forment et évoluent dans un processus continu de ‘différenciation’3. Le catalan, le français, le roumain, l’italien (pour ne nommer qu’eux) sont autant de façons de se différencier du latin comme les multiples formes de créole sont autant de façons de se distinguer des langues des colonisateurs. Ces nouvelles langues et cultures nées de la différenciation créent de nouvelles formes génériques et de nouvelles façons de dire, de voir et de penser le monde. Ce processus de différenciation relève, à mon sens, de ce que les écrivains des Caraïbes appellent la « diversalité », néologisme qui s’oppose à l’idée d’universalité dont il dénonce la prétention. Dans cette optique, Patrick Chamoiseau se réclame d’une « parole de rire amer contre l’Unique et le Même », une parole « tranquillement diverselle contre l’universel »4. La différenciation n’est pas seulement un principe de genèse et d’interaction des cultures, mais aussi un principe fondamental de la création artistique et plus spécifiquement littéraire. L’écriture littéraire tire sa capacité de créer des effets de sens 1 2
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Glissant, Edouard : L’Imaginaire des langues. Entretiens avec Lise Gauvin, 1991–2009, [Paris] : Gallimard, 2010, p. 91. Je précise que je me fonde sur une appréhension de la notion de culture qui correspond à la première des trois définitions proposées par Hans-Jürgen Lüsebrink, à savoir « der intellektuellästhetische Kulturbegriff » désignant la production intellectuelle et esthétique d’une communauté. En tant que telle, elle se distingue selon lui d’une appréhension ‘matérielle’ (« der materielle Kulturbegriff ») (provenant de agricultura) et d’une appréhension plus généralement ‘anthropologique’ (« der anthropologische Kulturbegriff »). Voir Lüsebrink, Hans-Jürgen : Interkulturelle Kommunikation. Interaktion, Fremdwahrnehmung, Kulturtransfer, Stuttgart, Weimar: Metzler, 22008, p. 10. Le radical de différenciation a permis à Ferdinand de Saussure de former différenciateur (1916) et le quasi-synomyme différenciatif (1953). Jacques Derrida a proposé la graphie différance d’après le participe présent de différer « pour désigner le dynamisme, l’action séparatrice qui crée l’écart », voir l’entrée Rey, Alain [et al.] : Différence, ds. : idem (dir.) : Dictionnaire historique de la langue française, Paris : Dictionnaires Le Robert, 1995, p. 602– 603. Chamoiseau, Patrick : Une enfance créole, t. II : Chemin-d’école, [Paris] : Gallimard, [1994] 1996, dédicace, s. p.
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toujours nouveaux et nouvellement pertinents de sa façon de se différencier des voix et des façons de dire déjà existantes. Pour explorer ce processus de différenciation dans sa fonction d’antidote contre « l’Unique et le Même », je me suis attachée à élaborer une méthode d’analyse comparative qui se fonde, elle aussi, sur l’action de ‘différencier’. J’ai proposé de la désigner par le terme de ‘comparaison différentielle’5. Les recherches que je mène dans cette optique depuis une quinzaine d’années s’attachent à rendre ce type de comparaison opératoire pour l’analyse des pratiques littéraires et plus généralement culturelles qui sont particulièrement sujettes à une réception universalisante et à un usage qui tend à les uniformiser. A l’encontre de ces tendances productrices de stéréotypes, il m’importe de donner à voir l’extraordinaire travail de différenciation accompli dans ces pratiques et dans les œuvres qui en résultent. 1. DIFFERENCIER AU LIEU D’UNIVERSALISER : MYTHES ET CONTES Une des pratiques littéraires et plus généralement culturelles que j’ai analysées dans cette optique est celle qui consiste à (re)configurer ces ‘vieilles histoires hellènes’ (ta arkaîa) que nous appelons communément les mythes grecs.6 Mise en œuvre dans les arts plastiques et iconiques depuis l’époque archaïque, élaborée comme ‘(r)écriture’7 par Homère et Hésiode dès le début de l’écriture, cette pratique s’est réalisée et continue à se réaliser dans des formes et des médias les plus divers. Les créations qui en résultent revêtent une importance constitutive pour l’histoire des littératures et des cultures du monde occidental et, par le biais du transfert culturel, aussi pour d’autres cultures.8 Dans l’histoire millénaire de leur exégèse, on a pris l’habitude d’attribuer à ces mythes grecs et à leurs multiples
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J’ai élaboré ce concept en comparant des écritures et récritures anciennes et modernes des mythes grecs (cf. note 6), des textes et de leurs traductions (cf. note 17), des contes et nouvelles latins, italiens, français, anglais, allemands et danois (cf. note 10 et 23), des formes et genres de l’écriture de soi et plus récemment des œuvres littéraires et de leurs ‘reconfigurations’ pour jeunes lecteurs (2012). Un livre à paraître aux Editions Classiques Garnier intitulé Pour une comparaison différentielle présentera l’ensemble de mes propositions méthodologiques et des résultats obtenus. Je me permettrai de renvoyer à ces travaux pour le détail des analyses que l’espace restreint de la présente publication ne me permet pas de donner ici. Pour la définition de ces concepts et pour l’exemplification de ce type d’analyse, je me permets de renvoyer à mon étude Heidmann, Ute : Comment comparer les (r)écritures anciennes et modernes des mythes grecs ? Propositions pour une méthode d’analyse (inter)textuelle et différentielle, ds. : Parizet, Sylvie (dir.) : Mythe et Littérature, Paris : Société Française de Littérature générale et comparée/[Nîmes] : Lucie éd., 2008 (Collection Poétiques comparatistes), p. 143–160. Par cette graphie, je veux signaler le caractère inséparable de l’écriture et de la réécriture des mythes. Ainsi trouve-t-on aujourd’hui des mythes grecs couramment représentés et reconfigurés dans les mangas japonais.
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(r)écritures des significations prétendument universelles.9 L’usage idéologique parvient sans peine à transformer ces prétendus universaux en stéréotypes. A l’encontre d’un tel usage, la comparaison différentielle s’attache à montrer que les reconfigurations artistiques des mythes grecs ne se limitent pas à reproduire un tel sens supposé universel ou ‘archétypal’ et qu’ils ne sont pas réductibles à des stéréotypes. Elle met en évidence le fait que les (r)écritures créent, au contraire, des effets de sens différents et nouvellement pertinents par leurs façons souvent très complexes et inventives d’entrer en dialogue avec ces ‘vieilles histoires’ hellènes, de les reconfigurer en les référant aux préoccupations d’autres époques et d’autres cultures. Le présupposé d’une ‘substance’ ou d’un sens universel intrinsèque au mythe a pour conséquence l’oubli du fait que les écritures et récritures des mythes doivent leur impact sur les cultures européennes et transeuropéennes à leur caractère fondamentalement intertextuel et interculturel. L’analyse comparative des écritures tragiques de certains mythes par Sophocle et Euripide montre que cellesci constituent déjà des réponses intertextuelles aux œuvres d’Homère et d’Eschyle. Ce dialogisme intertextuel interne à la culture hellène devient interculturel lorsque les auteurs latins, véritables virtuoses de l’intertextualité, s’emparent des textes grecs. En reprenant les ‘vielles histoires hellènes’ par le biais des œuvres tragiques, narratives et lyriques des auteurs grecs, Virgile, Ovide, Sénèque et Apulée, pour ne nommer qu’eux, instaurent ce que nous pouvons concevoir comme un dialogisme intertextuel fondateur des cultures qui s’expriment dans les langues européennes. Ce dialogue fondateur a donné et continue à donner lieu à autant d’autres dialogues intertextuels et interculturels. Toutes les (r)écritures et reconfigurations des mythes, jusqu’aux plus récentes, s’inscrivent dans ce palimpseste complexe aux inépuisables potentialités sémantiques. Au lieu de les considérer comme reliques d’une nébuleuse substance mythique, nous gagnons, à mon sens, à les examiner comme des créations intertextuelles et interculturelles très élaborées et hautement signifiantes. Une autre pratique littéraire et plus généralement culturelle que j’ai mise à l’épreuve d’une comparaison différentielle relève de la production et de la réception des contes que les Anglo-Saxons appellent les classical ou canonical fairy tales (comme La Belle au bois dormant, Le Petit Chaperon rouge ou Cendrillon). Selon la doxa des folkoristes, relayée par l’opinion commune, ces contes auraient émergé d’un imaginaire ‘populaire’ prétendument universel qui aurait trouvé ses réalisations authentiques dans des ‘terroirs’ nationaux. C’est dans ces terroirs que les auteurs des recueils (notamment Giambattista Basile, Charles Perrault, les frères Jacob et Wilhelm Grimm et Hans Christian Andersen) , dont nous tenons la majorité de nos contes devenus canoniques , les auraient trouvés, collectés et plus ou moins fidèlement transcrits.10 Les analyses que j’ai menées sur ce corpus selon 9
Voir à ce sujet Graevenitz, Gerhardt von : Mythos. Zur Geschichte einer Denkgewohnheit, Stuttgart : Metzler, 1987. 10 Au sujet des problèmes épistémologiques posés par l’approche des folkloristes, je me permets de renvoyer à mon étude Heidmann, Ute : Enjeux d’une comparaison différentielle et discur-
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les principes épistémologiques et méthodologiques d’une comparaison différentielle infirment cette opinion commune encore largement relayée dans les travaux de recherche sur ces contes. Elles montrent que nos contes canoniques relèvent, tout au contraire, d’un dialogue fondamentalement international, intertextuel et interculturel. Je reviendrai à l’exemple des contes par la suite. Les résultats des analyses différentielles menées dans ces domaines de recherche renversent les dogmes universalistes convenus et démontrent la pertinence du constat de Glissant cité plus haut. L’analyse du différentiel ne mène pas au constat d’irréductibles différences : elle permet de découvrir, tout au contraire, que la différence, selon Glissant, « est la particule élémentaire de toute relation », que les littératures et cultures se constituent essentiellement dans et par leurs relations à d’autres langues, littératures et cultures, qu’elles sont, pour ainsi dire, interculturelles par nature. En cela, ces résultats confirment l’hypothèse qui sous-tend le premier volume de la collection Vice Versa consacré à la ‘mémoire culturelle’11 en s’inscrivant pleinement dans le programme de recherche défini par Manfred Schmeling et Alberto Gil dans l’introduction au second volume Kultur übersetzen : Es ist eine theoretische und praktische Herausforderung, darüber nachzudenken, ob das kulturelle Gedächtnis, das sich im Wechselverhältnis zwischen Produktion und Rezeption konkretisiert, nicht immer auch ein interkulturelles ist. Denn kulturelle Entwicklung bedeutet nicht zuletzt kulturelle Grenzüberschreitung.12
Je m’attacherai par la suite à présenter les enjeux épistémologiques et méthodologiques d’une telle analyse différentielle et à en expliciter les présupposés13 dans le souci de l’inscrire dans le dialogue scientifique recherché par les éditeurs du présent ouvrage. On verra qu’elle partage nombre de présupposés avec les études sur les transferts culturels et la communication interculturelle menées par HansJürgen Lüsebrink, Roger Chartier et Michel Espagne. Par l’attention particulière qu’une telle comparaison différentielle voue au dialogisme intertextuel et interdiscursif, elle est également proche des travaux menés par Manfred Schmeling et Peter V. Zima. Les propositions théoriques et méthodologiques présentées ici relèvent d’une approche qui croise divers paradigmes des cultures scientifiques sive. L’exemple de l’analyse des contes, ds. : Roland, Hubert/Vanasten, Stéphanie (dir.) : Les Nouvelles Voies du comparatisme, Gent : Ginko Academia Press, 2010 (Cahiers voor literaturwetenschap 2 (2010)), p. 27–40. 11 Dewes, Eva/Duhem, Sandra (dir.) : Kulturelles Gedächtnis und interkulturelle Rezeption im europäischen Kontext, Berlin : Akademie Verlag, 2008 (Vice Versa. Deutsch-französische Kulturstudien 1). 12 Gil, Alberto/Schmeling, Manfred : Vorwort, ds. : idem (dir.) : Kultur übersetzen. Zur Wissenschaft des Übersetzens im deutsch-französischen Dialog/Traduire la culture. Le dialogue franco-allemand et la traduction, Berlin : Akademie Verlag, 2009 (Vice Versa. Deutsch-französische Kulturstudien 2), p. IX–XII, ici p. X. 13 Peter V. Zima explique la nécessité d’une telle explicitation dans Zima, Peter V. : Le concept de théorie en sciences humaines. La théorie comme discours et sociolecte, ds. : Adam, JeanMichel/Heidmann, Ute (dir.) : Sciences du texte et analyse de discours. Enjeux d’une interdisciplinarité, Genève : Slatkine Erudition, p. 21–34, ici p. 29–30.
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française et allemande dans une perspective discursive (définissant ‘discours’ comme l’inclusion d’un texte dans son contexte), dans la prolongation des travaux de Wilhelm von Humboldt, Mikhail Bakhtine, Tzvetan Todorov, Harald Weinrich, Henri Meschonnic et Dominique Maingueneau. 2. L’IMPORTANCE DE LA LANGUE ET DES LANGUES Avec Silvana Borutti, qui fonde son épistémologie des sciences humaines sur le constat que l’« on ne peut pas s’écarter de la langue », j’accorde une importance cruciale à la langue dans l’analyse des relations littéraires et culturelles.14 Je considère en effet que les procédés liées aux modalités du dire sont constitutifs des effets de sens de ce qui est dit. On ne peut ignorer l’importance de la langue en général et des langues singulières qu’au prix d’une appréhension stéréotypée et superficielle des littératures et cultures qui prête le flanc à leur exploitation idéologique et à l’emprise totalitaire de l’Unique et du Même,15 contre laquelle mettent en garde Chamoiseau et Glissant. Cette exigence est partagée par HansJürgen Lüsebrink pour qui la prise en compte systématique de la dimension langagière et des compétences interculturelles liées à celle-ci constitue « une dimension de profondeur décisive des sciences culturelles, sans laquelle la compréhension culturelle et surtout interculturelle reste à la surface ».16 Pour contrer ce danger de ‘rester à la surface’, il importe d’analyser les créations culturelles à partir des langues et des contextes discursifs dans lesquels elles ont été réalisées. Si le recours à la langue d’origine des œuvres allait longtemps de soi dans les études littéraires, ce n’est plus le cas aujourd’hui dans les études plus généralement culturelles et sous l’impact de la globalisation. Cette réduction des exigences comporte le risque de produire un point de vue stéréotypé des littératures et cultures. La nécessité de prendre en compte le contexte langagier et discursif dont émane une création culturelle inclut celle de l’analyse comparative des traductions. Le fait de comparer les traductions avec l’œuvre originale et de comparer les traductions entre elles met en évidence les différences significatives entre une œuvre et ses ‘ré-énonciations’ en d’autres langues et cultures. Au lieu de taire ces différences et d’insinuer que la traduction se substitue sans écart significatif à l’œuvre dans sa langue d’origine (attitude qui sert les stratégies commerciales), il 14 « On ne peut pas s’écarter de la langue, on habite radicalement sa langue, ses jeux linguistiques, ses théories, et l’on porte en soi les réifications, les ontologies, les formes de construction du monde » (Borutti, Silvana : Théorie et interprétation. Pour une épistémologie des sciences humaines, Lausanne : Payot, 2001, p. 80). 15 Voir Chamoiseau : Chemin-d’école, dédicace, s. p. 16 « Ohne sie fehlt der Kulturwissenschaft eine entscheidende Tiefendimension, ohne die kulturelles und vor allem auch interkulturelles Verstehen lediglich an der Oberfläche bleibt. » Lüsebrink, Hans-Jürgen: Kulturwissenschaft – Teildisziplin oder Metadiskurs ?, ds. : Gipper, Andreas/Klengel, Susanne (dir.): Kultur, Übersetzung, Lebenswelten. Beiträge zu aktuellen Paradigmen der Kulturwissenschaften, Würzburg: Königshausen & Neumann, 2008, p. 15– 28, ici p. 27.
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convient, dans l’approche préconisée ici, d’expliciter et d’examiner ces différences qui révèlent justement le travail de différenciation et de singularisation accompli dans le transfert culturel.17 C’est l’impossible synonymie des langues qui oblige les traducteurs à inventer, comme les écrivains, d’autres façons de dire et un mode cohérent de dire autrement, d’élaborer ce qu’Henri Meschonnic appelle une ‘poétique du traduire’18. La nécessité de prendre en compte le contexte langagier et discursif spécifique d’une œuvre culturelle et de considérer ses traductions dans d’autres langues et cultures comme autant de ré-énonciations dans des contextes différents produisant des effets de sens significativement différents ne concerne pas seulement les créations littéraires proprement dites. Elle s’impose aussi pour l’analyse des productions culturelles globalisées. Les effets de sens produits par un film comme Sleeping Beauty produit en 1959 dans les Studios Disney en langue américaine ne sont pas les mêmes lorsque ce film est traduit et diffusé en français ou en d’autres langues par la suite. Les traducteurs français réintroduisent des connotations et des effets de sens qui relèvent de leur familiarité avec la langue de La Belle au bois dormant, conte de Perrault conçu pour un manuscrit d’apparat dédié à la nièce de Louis XIV en 1695 et imprimé en 1697. Les producteurs du film américain prétendent se référer au conte de Perrault, mais ils en modifient fondamentalement l’intrigue. Ils font du prince passif de Perrault un héros bien plus entreprenant, qui a décidé de combattre les ‘forces du Mal’ incarnées dans la méchante fée en mobilisant tous les clichés des films américains de la période de la Guerre froide mêlés à ceux des romans de chevalerie. Il incombe aux sciences littéraires et culturelles de prêter une plus grande attention aux différences introduites par les adaptations parce qu’elles sont significatives des cultures et des époques dont elles émanent et elles sont, de ce point de vue, d’un grand intérêt pour l’étude des relations interculturelles. Si nous comparons les mangas japonais si prisés par les jeunes lecteurs d’aujourd’hui avec leurs traductions et éditions dans les langues occidentales, nous réalisons que ce n’est pas le même livre que lisent les jeunes lecteurs japonais et occidentaux. Leur comparaison montre que les traductions relèvent du dialogue intertextuel et interculturel complexe que les traducteurs occidentaux ont mené en amont avec la culture et la langue japonaise. L’analyse différentielle s’attache à montrer le potentiel créateur de nouveaux effets de sens de ce dialogisme entre textes, genres et cultures que met en acte le travail même du traduire. Vue l’importance croissante des relations entre les cultures asiatiques et occidentales pour les générations futures, il paraît opportun de mettre en évidence ce potentiel créateur et relationnel. La comparaison différentielle vise ainsi à transformer la différence culturelle en relation constructive (en Relation « avec un grand R » selon Glissant) afin d’éviter qu’elle se fige en stéréotypes générateurs de conflits. 17 Dans notre livre commun (Borutti, Silvana/Heidmann, Ute : La Babele in cui viviamo. Traduzioni, riscritture, culture, Torino : Bollati Boringhieri, 2012), nous théorisons et exemplifions une telle approche comparative et différentielle du traduire. 18 Voir Meschonnic, Henri : Poétique du traduire, Lagrasse : Verdier, 1999.
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Le phénomène même de la globalisation rend l’élaboration de telles analyses différentielles plus nécessaire que jamais. Car si la globalisation accélère le rapprochement entre les communautés discursives et culturelles les plus éloignées, elle entraîne aussi un processus de stéréotypisation qui tend à effacer ces différences qui constituent, comme je le postule ici avec Glissant, l’impulsion fondamentale des relations interculturelles. L’effacement des différences culturelles en faveur de stéréotypes fait partie intégrante de la logique et de la quête de profit qui soustend la globalisation des marchés et des médias. Il est en effet plus facile de vendre les mêmes produits dans le monde entier si les consommateurs visés sont d’une ‘même sorte’ et si l’on peut s’adresser à eux au moyen d’un langage unique calibré sur des besoins prétendument universels. Un tel nivellement des différences et des particularités culturelles et linguistiques s’opère notamment par le biais de l’anglais rudimentaire chargé d’idéologie commerciale désormais désigné par le terme de Globish (mot valise composé de global et english). « Langue de service », dénotative par excellence, cet idiome efface la complexité connotative des « langues de culture »19. Le fait de traduire des énoncés d’une langue de culture vers une autre active au contraire le potentiel différentiel et par conséquent relationnel des langues que la comparaison différentielle a pour objectif de mettre en évidence. Si elle parvient à remplir cette fonction, on peut dire que les comparaisons, qu’elles soient bilatérales ou multilatérales, restent toujours viables d’un point de vue scientifique face à la structure transculturelle croissante des sociétés postmodernes.20 3. L’ŒUVRE AU MOMENT DE SON EMERGENCE … ET PAR LA SUITE A la différence des études en quête d’universaux, l’analyse différentielle opère au plus près des œuvres considérées au moment de leur émergence dans des contextes langagiers, discursifs, socio-culturels et historiques spécifiques. Je considère en effet qu’une œuvre littéraire (de même qu’un film ou un essai philosophique) construit ses effets de sens en se référant de façon significative aux données du contexte discursif dans lequel elle est réalisée. Lorsque cette œuvre est réécrite, rééditée, traduite ou autrement ré-énoncée ou reconfigurée par la suite, soit par son auteur lui-même soit par d’autres créateurs qui s’y réfèrent intertextuellement ou encore par ses éditeurs, traducteurs, metteurs en scène, cinéastes, etc., elle construit à son tour des effets de sens en relation avec le contexte discursif dans lequel elle est ainsi nouvellement et ‘autrement’ réalisée. Les effets de sens produits ultérieurement diffèrent ainsi significativement de ceux produits par l’œuvre au
19 Au sujet de la définition de termes « langues de service » et « langues de culture », cf. Judet de la Combe, Pierre/Wismann, Heinz : L’Avenir des langues. Repenser les Humanités, Paris : Les Editions du Cerf, 2004 (Passages). 20 Voir l’introduction des éditeurs dans le présent volume, p. 9–19.
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moment de sa première émergence.21 Il s’agit alors de comparer les œuvres par rapport à leurs façons respectives de créer des effets de sens en relation avec les contextes de leur émergence et de leurs reconfigurations et réceptions successives. En cela, ce procédé diffère fondamentalement des approches qui comparent les œuvres par rapport à des significations supposées inhérentes aux œuvres ellesmêmes. Dans l’optique de l’analyse différentielle des créations verbales, il convient de porter une attention particulière aux différents états des œuvres en question, à leur genèse aussi bien qu’à leur « trajectoire éditoriale », pour reprendre l’heureuse formule de Roger Chartier qui rappelle, lui aussi, que « l’écart est parfois considérable (à la fois chronologique, social, culturel, etc.) entre le contexte de production du texte et ses horizons de réception ; parce que toujours une distance sépare ce que propose le texte et ce qu’en fait son lecteur »22. Les contes devenus canoniques comme La Belle au bois dormant, Le Petit Chaperon rouge ou La Barbe bleue présentent, dans cette perspective, un défi particulier, parce qu’ils ont été, au cours de leur réception ‘universalisante’, non seulement fondamentalement dé-textualisés, mais aussi dé-contextualisés, c’est-àdire coupés des contextes de leur première énonciation et de leurs ré-énonciations successives. Pour saisir le processus de différenciation interculturelle, il importe de commencer par l’analyse des premières éditions de ces contes et même, si elles sont attestées, des écritures manuscrites qui les précèdent. Un manuscrit est lié à une situation énonciative antérieure et, de ce fait, parfois significativement différent du texte imprimé ultérieurement, comme le montre la comparaison du manuscrit d’apparat de 1695 avec le recueil intitulé Histoires ou contes du temps passé. Avec des Moralitéz que Charles Perrault a fait imprimer chez Barbin en 1697, ou encore la comparaison des réécritures successives des Kinder- und Hausmärchen par les Grimm au gré des éditions publiées entre 1812 et 1857. Les innombrables éditions, traductions, adaptations et réécritures successives des contes23 amputent le plus souvent les premières éditions de leurs préfaces, moralités, illustrations d’origine afin de les adapter aux conceptions du genre qui changent d’une époque et d’une culture et d’un usage culturel à l’autre. Dans la perspective proposée ici, on peut les considérer comme des ‘ré-énonciations’ ou ‘reconfigurations’ prises en charge par des éditeurs, traducteurs, colporteurs, écrivains, cinéastes, etc. En tant que telles, elles se lient de façon significative à leurs contextes énonciatifs nouveaux en produisant des effets de sens significativement différents et constituent des objets d’étude tout aussi intéressants que les œuvres qui ont donné lieu à ce processus. 21 Cela vaut pour le processus de production autant que de réception. Le récepteur construit les effets de sens qu’il attribue à cette œuvre en se référant au contexte discursif et socio-culturel qui est le sien. 22 Chartier, Roger : Introduction. Librairie de colportage et lecteurs « populaires », ds. : idem/ Lüsebrink, Hans-Jürgen (dir.) : Colportage et lecture populaire. Imprimés de large circulation en Europe. XVIe–XIXe siècles. Actes du colloque des 21–24 avril 1991, Wolfenbüttel, Paris : IMEC Ed., Ed. de la Maison des sciences de l’homme, 1996, p. 11–18, ici p. 12–13. 23 Parmi lesquelles figurent aussi celles de la « librairie du colportage » dont parle Roger Chartier dans l’ouvrage cité plus haut.
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Toutes les particularités de leur mise en texte et en recueil participent de cette construction de sens : les titres, frontispices, épîtres et préfaces, vignettes et illustrations, les Moralités, l’ordre des contes (leur ‘co-textualité’), etc. Tous ces paramètres textuels, péri-textuels et co-textuels se sont avérés être des plans d’analyse féconds pour la comparaison différentielle des recueils de Basile, Perrault, Grimm et Andersen dont proviennent la plupart de nos contes devenus canoniques.24 L’attention ainsi portée à la trajectoire historique des formes d’apparition des œuvres (que la comparaison différentielle partage avec les études sur les transferts culturels, l’histoire des livres et des médias et une philologie moderne) permet de faire des découvertes surprenantes dont je ne donne ici qu’un exemple assez amusant, analysé plus en détail ailleurs.25 Les vignettes dessinées à la main dans le manuscrit de 1695 (gravées sur bois dans l’édition imprimée de 1697) qui surplombent respectivement les trois premiers contes du recueil, La Belle au Bois dormant, Le Petit Chaperon rouge et La Barbe bleue de Perrault, s’inscrivent dans une continuité frappante à laquelle la critique n’a pas prêté suffisamment d’attention. La première vignette montre un soupirant assis sur une chaise face à une Belle à peine réveillée étendue dans son lit à baldaquin qui lui tend la main. La deuxième vignette montre une scène tout à fait semblable, mais elle remplace le soupirant princier de La Belle au bois dormant par un loup ‘doucereux’ à moitié monté sur le lit d’une jeune et belle femme. La coiffure de celle-ci est ornée d’une bande de tissu rouge (appelé ‘chaperon’ et porté jadis par les femmes en signe de leur origine non noble) et elle caresse le museau du loup sans le moindre signe de peur.26 La troisième vignette représente également un couple, mais ce n’est plus le moment de la séduction amoureuse qui marque les deux scènes ‘de ruelle’ des premières vignettes. Elle illustre l’affrontement et le danger mortel qui peut en résulter : nous y voyons Barbe bleue sur le point de décapiter sa femme. Le lecteur qui tient en main ce recueil n’a donc pas besoin d’attendre la Moralité pour comprendre que le ‘petit chaperon’ séduisant n’est pas une petite fille et qu’elle manque d’un ‘Grand Chaperon’, terme vieilli désignant la duègne censée protéger l’honneur des jeunes filles. L’image ne laisse pas de doute sur le fait qu’il s’agit ici du danger de la séduction sexuelle par un prétendant en ‘Loup dou24 Pour ces analyses, voir Heidmann, Ute : Expérimentation générique et dialogisme intertextuel : Perrault, La Fontaine, Apulée, Straparola, Basile, ds. : Féeries 8 (2011), p. 45–69, ainsi que la première partie intitulée « Intertextualité et dialogicité des contes » ds. : Heidmann, Ute/Adam, Jean-Michel : Textualité et intertextualité des contes : Perrault, Apulée, La Fontaine, Lhéritier…, Paris : Classiques Garnier, 2010 (Lire le XVIIe siècle 2), p. 33–152, ainsi que Heidmann, Ute : Raconter autrement. Vers une poétique de la différence dans les Contes racontés aux enfants de Hans Christian Andersen, ds. : Auchet, Marc (dir.) : (Re)lire Andersen. Modernité de l’œuvre, Paris : Klincksieck, 2007 (Collection circare 1), p. 103–121. 25 Voir Heidmann/Adam : Textualité et intertextualité des contes, p. 81–91. 26 Une reproduction en couleur des vignettes de 1695 se trouve dans le catalogue de la BNF : Piffault, Olivier (dir.) : Il était une fois … : les contes de fées, Paris : Seuil, Bibliothèque nationale de France, 2001, p. 100. Je propose une analyse de la deuxième vignette dans Heidmann/Adam : Textualité et intertextualité des contes, p. 86–91.
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cereux’. La mère n’a pas mis en garde sa fille (« la pauvre enfant qui ne sçavoit pas qu’il est dangereux de s’arrester à écouter un Loup »)27 et sa Mère-grand l’a encore exposée davantage en la dotant d’un petit chaperon coquet de couleur voyante qui fait d’elle « une petite fille de Village », « la plus jolie fille qu’on eut sçû voir ».28 La Moralité accuse ce comportement des mères à l’égard de leurs filles dans la société hypocrite de l’Ancien Régime par cette question rhétorique : « Mais hélas ! qui ne sçait que ces Loups les plus doucereux/ De tous les Loups sont les plus dangereux ».29 La fin de l’histoire évoque les conséquences de cette omission d’une façon ironique qui ne laisse pas de doute sur que ce signifie cet acte et le changement subtil du pronom du « le » en « la » opéré dans la phrase finale : « Et en disant ces mots, ce méchant Loup se jetta sur le petit chaperon rouge, & la mangea ».30 Les éditions successives des contes de Perrault, dont Le Cabinet des fées, suppriment ces vignettes si parlantes ; d’autres en suppriment les Moralités, jugées trop compliquées et ironiques pour les enfants dont les éditeurs font les nouveaux destinataires des contes que l’académicien avait destinés aux jeunes gens de la société de cour en âge de se marier. Sans vignettes, amputés de leurs Moralités et Autres Moralités, les Histoires ou contes du temps passé de Perrault et leurs protagonistes peuvent commencer de nouvelles carrières. La jeune femme séduisante au petit chaperon rouge de la vignette du manuscrit peut alors devenir une vraie petite fille qui va dans la forêt et qui rencontre un vrai loup à l’instar du petit Rotkäppchen des Grimm qui reconfigurent le conte de Perrault pour l’inscrire dans le contexte d’une idéologie familiale radicalement différente de celle de l’Ancien Régime. Mais l’histoire devient alors une autre histoire. Elle devient autre par le biais d’une nouvelle mise en texte, en livre et en recueil et d’une conception très différente du genre conte. 4. RENONCER AUX PRECONSTRUITS ET CONSTRUIRE LES COMPARABLES D’EGALE PERTINENCE Ce sont ces différences qui font apparaître le conditionnement historique et culturel des créations artistiques. Si nous utilisons la notion de ‘conte de fées’ indifféremment pour parler des Histoires ou contes du temps passé de Perrault et des Kinder- und Hausmärchen des Grimm, nous dissimulons les différences fondamentales des formes génériques auxquelles recourent ces auteurs, précisément pour se différencier les uns des autres. Il convient dans une perspective intercultu27 Toutes les citations sont tirées de l’édition facsimilé du second tirage de l’édition Barbin, Perrault, Charles : Contes de Perrault, t. II : Histoires ou contes du temps passé, réimpression en fac-similé des éditions de 1695 et 1697, Paris : Firmin Didot, 1929 ; également Contes de Perrault, avec une préf. de Jacques Barchilon, facs. de l’éd. orig. de 1695–1697, Genève : Slatkine Reprints, 1980, ici p. 49. 28 Perrault : Contes de Perrault, p. 47. 29 Perrault : Contes de Perrault, p. 56. 30 Perrault : Contes de Perrault, p. 55. Italiques ajoutées par U. H.
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relle d’élaborer des concepts et des critères de comparaison d’égale pertinence qui ne privilégient ni l’une, ni l’autre œuvre, ni encore l’une ou l’autre aire linguistique et culturelle dont ils émanent. Car si nous renonçons à attribuer la même importance aux œuvres à comparer pour privilégier d’emblée l’une ou l’autre, nous ne sommes plus dans une démarche de comparaison à objectif heuristique, mais dans une démarche hiérarchisante. Nous gagnons en effet à abandonner ou à déconstruire certaines hiérarchies qui se sont établies dans les études littéraires comme allant de soi. Par exemple, les hiérarchies imposées par les langues les plus parlées ou politiquement les plus imposantes ou les hiérarchies couramment établies entre œuvres, genres ou écrivains classés comme ‘majeurs’ ou ‘mineurs’ par le biais de préjugés et de dogmes établis. De telles hiérarchies risquent non seulement d’importer des universaux préconstruits, mais aussi les paradigmes, valeurs et dogmes nationaux, hégémoniques, euro-centristes, sexistes, etc., dont il s’agit précisément de se libérer dans l’approche comparative et différentielle proposée ici. L’option de renoncer à des hiérarchies préétablies a des conséquences importantes aussi pour le choix du corpus des textes et œuvres à analyser et à comparer. Nous ne pouvons plus restreindre notre choix au canon littéraire établi. Le corpus des textes et œuvres à examiner gagne à être défini en fonction des objectifs heuristiques de la recherche à mener et non en fonction de critères convenus et préétablis qui servent généralement à conforter des pratiques et méthodes institutionnellement établies. Il importe donc d’inclure dans le corpus aussi d’autres types de textes et d’autres types de discours que ceux qui possèdent déjà le label ‘littéraire’. Car, comme le dit Todorov : « Chaque type de discours qualifié habituellement de littéraire a des ‘parents’ non littéraires qui lui sont plus proches que tout autre type de discours ‘littéraire’ ».31 Par cette option aussi, une comparaison différentielle est proche des études des transferts culturels. 5. POUR CONCLURE Pour résumer les résultats obtenus par le biais d’une comparaison différentielle, on peut dire que le souci d’explorer ce qui est ‘différentiel’ ne mène pas au constat d’irréductibles différences, mais permet de comprendre que les œuvres littéraires et culturelles évoluent en réponse les unes aux autres, dans un processus continu de relance, d’adaptation et de variation, de proposition de sens et de contre-proposition. La comparaison montre que ce processus dialogique et différentiel est créateur d’effets de sens toujours nouveaux et qu’il constitue le potentiel sémantique inépuisable non seulement de l’écriture littéraire, mais de toute création culturelle. Une comparaison différentielle donne en effet à voir que les langues, littératures et cultures doivent leur capacité de créer du sens nouveau et nouvellement pertinent aux dialogues complexes qu’elles établissent les unes avec les autres. 31 Todorov, Tzvetan : Les Genres du discours, Paris : Seuil, 1978, p. 25.
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L’analyse du différentiel permet de discerner ce qui s’avère être un dialogisme constitutif entre les langues et cultures. Elle nous rend ainsi capables de (re)mettre en relation les littératures et cultures que les paradigmes nationaux et les cloisonnements disciplinaires isolent les unes des autres. Elle nous amène à découvrir des relations interculturelles et intertextuelles qui sont restées inaperçues dans ces optiques cloisonnées et nous permettent d’accéder à de nouvelles dimensions et effets de sens créés dans et par ces dialogues interculturels et interlinguistiques. L’analyse différentielle permet de comprendre que le fait d’isoler et de cloisonner les cultures et littératures ainsi que la tendance à les ‘universaliser’ et à les uniformiser ou encore à les ‘nationaliser’ revient à dissimuler le potentiel sémantique inépuisable de ce dialogisme interculturel et intertextuel fondamental, creuset d’inventions et de nouvelles façons de dire et de penser un monde en perpétuel changement. BIBLIOGRAPHIE SELECTIVE Borutti, Silvana : Théorie et interprétation. Pour une épistémologie des sciences humaines, Lausanne : Payot, 2001. Borutti, Silvana/Heidmann, Ute : La Babele in cui viviamo. Traduzioni, riscritture, culture, Torino : Bollati Boringhieri, 2012. Chamoiseau, Patrick : Une enfance créole, t. II : Chemin-d’école, [Paris] : Gallimard, [1994] 1996. Chartier, Roger : Introduction. Librairie de colportage et lecteurs « populaires », ds. : idem/Lüsebrink, Hans-Jürgen (dir.) : Colportage et lecture populaire. Imprimés de large circulation en Europe. XVIe–XIXe siècles. Actes du colloque des 21–24 avril 1991, Wolfenbüttel, Paris : IMEC Ed., Ed. de la Maison des sciences de l’homme, 1996, p. 11–18. Dewes, Eva/Duhem, Sandra (dir.) : Kulturelles Gedächtnis und interkulturelle Rezeption im europäischen Kontext, Berlin : Akademie Verlag, 2008 (Vice Versa. Deutsch-französische Kulturstudien 1). Gil, Alberto/Schmeling, Manfred : Vorwort, ds. : idem (dir.) : Kultur übersetzen. Zur Wissenschaft des Übersetzens im deutsch-französischen Dialog/Traduire la culture. Le dialogue francoallemand et la traduction, Berlin : Akademie Verlag, 2009 (Vice Versa. Deutsch-französische Kulturstudien 2), p. IX–XII. Glissant, Edouard : L’Imaginaire des langues. Entretiens avec Lise Gauvin, 1991–2009, [Paris] : Gallimard, 2010. Graevenitz, Gerhardt von : Mythos. Zur Geschichte einer Denkgewohnheit, Stuttgart : Metzler, 1987. Heidmann, Ute : Raconter autrement. Vers une poétique de la différence dans les Contes racontés aux enfants de Hans Christian Andersen, ds. : Auchet, Marc (dir.) : (Re)lire Andersen. Modernité de l’œuvre, Paris : Klincksieck, 2007 (Collection circare 1), p. 103–121. Heidmann, Ute : Comment comparer les (r)écritures anciennes et modernes des mythes grecs ? Propositions pour une méthode d’analyse (inter)textuelle et différentielle, ds. : Parizet, Sylvie (dir.) : Mythe et Littérature, Paris : Société Française de Littérature générale et comparée/ [Nîmes] : Lucie éd., 2008 (Collection Poétiques comparatistes), p. 143–160. Heidmann, Ute : Enjeux d’une comparaison différentielle et discursive. L’exemple de l’analyse des contes, ds. : Roland, Hubert/Vanasten, Stéphanie (dir.) : Les Nouvelles Voies du comparatisme, Gent : Ginko Academia Press, 2010 (Cahiers voor literaturwetenschap 2 (2010)), p. 27–40.
« La différence, ce n’est pas ce qui nous sépare »
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FRANZÖSISCHE NIETZSCHE-REZEPTIONEN Zum interkulturellen Bedeutungswandel eines ambivalenten Werks Peter V. Zima Die Erkenntnis, dass nicht nur literarische, sondern auch philosophische Werke interpretierbar sind und einem historischen Bedeutungswandel unterliegen, ist seit langem ein Gemeinplatz der Geisteswissenschaften. Seit Jahrhunderten geben philosophische Texte Anlass zu widersprüchlichen Deutungen und Kontroversen, die häufig mit der Aktualisierung oder Wiederentdeckung eines Werks einhergehen. Man denke an die Rolle der Frühschriften von Karl Marx im Neomarxismus und im Existenzialismus der 1950er und 1960er Jahre;1 man denke auch an die Neubewertung von Immanuel Kants Kritik der Urteilskraft durch den späten Jean-François Lyotard – vor allem in dessen Leçons sur l’Analytique du sublime2. Kein Philosoph ist jedoch so widersprüchlich interpretiert und beurteilt worden wie Friedrich Nietzsche, der sowohl für den Humanismus als auch für den Antihumanismus und das Herrschaftsdenken, sowohl für die Kritik der Metaphysik als auch für die metaphysische Prophetie reklamiert wurde. Im Folgenden möchte ich anhand einiger Beispiele aus der französischsprachigen Rezeption zeigen, wie sehr im französischen Sprachbereich widersprüchliche Nietzsche-Deutungen aus der Ambivalenz der Begriffe ‚Natur‘, ‚Leben‘ und ‚Rhetorik‘ hervorgehen. Der Mensch als Natur und Körper kann sowohl mit einem humanitären Lebensprinzip als auch mit dem Herrschaftsprinzip als ‚Wille zur Macht‘ verknüpft werden. Von Albert Camus bis André Gide spielt das Natur- und Lebensprinzip eine entscheidende Rolle, aber ‚Leben‘ kann sowohl Solidarität mit dem anderen als auch Selbstbehauptung im Sinne des Machtprinzips bedeuten. Diese Ambivalenz, die bei Roland Barthes, Jacques Derrida und Gilles Deleuze bis in den sprachlichen und rhetorischen Bereich hineinwirkt, bestimmt die Dynamik der französischen Nietzsche-Rezeption über weite Strecken.
1 2
Vgl. Schaff, Adam: Marx oder Sartre? Versuch einer Philosophie des Menschen, aus d. Poln. übers. von Erna Reifer, Frankfurt/M. [u. a.]: Fischer, 1966. (Original: Filozofia człowieka: marksizm a egzystencjalizm, Warszawa: Książka i Wiedza, 1962.) Lyotard, Jean-François: Leçons sur l’Analytique du sublime (Kant, Critique de la faculté de juger, §§ 23–29), [Paris]: Galilée, 1991.
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1. NIETZSCHE UND CAMUS: DIE AMBIVALENZ DES LEBENSPRINZIPS Nietzsche scheint an Max Stirners egozentrische Philosophie, die er gut kannte, anzuknüpfen, wenn er in Ecce Homo Leib und Leben den metaphysischen Begriffen ‚Seele‘ und ‚Geist‘ gegenüber aufwertet. Dort behauptet er bekanntlich, [d]aß man die allerersten Instinkte des Lebens verachten lehrte; daß man eine „Seele“, einen „Geist“ erlog, um den Leib zuschanden zu machen, daß man in der Voraussetzung des Lebens, in der Geschlechtlichkeit, etwas Unreines empfinden lehrt; daß man in der tiefsten Notwendigkeit zum Gedeihen, in der strengen Selbstsucht (– das Wort schon ist verleumderisch! –) das böse Prinzip sucht; daß man umgekehrt in den typischen Abzeichen des Niedergangs und der Instinkt-Widersprüchlichkeit, im „Selbstlosen“, im Verlust an Schwergewicht, in der „Entpersönlichung“ und „Nächstenliebe“ (– Nächstensucht!) den höheren Wert, was sage ich! den Wert an sich sieht!…3
Schon in dieser oft zitierten Passage ist die Ambivalenz von Nietzsches LebensBegriff angelegt: Der Text ist einerseits eine Apologie der menschlichen Natur als Körperlichkeit und Geschlechtlichkeit, eine Apologie, die zur Emanzipation von einer repressiven, asketischen Moral einlädt; er ist andererseits als Aufruf zu Egozentrik und Egoismus im Sinne von Stirners Der Einzige und sein Eigenthum4 zu lesen. Welche der beiden Tendenzen sich durchsetzt, hängt weitgehend von den Relevanzkriterien und Selektionen des Rezipienten ab, der – wie die historische Nietzsche-Rezeption zeigt – bald die emanzipatorischen, bald die herrschaftsbezogenen Aspekte in den Vordergrund treten lassen kann. Über die geistige Verwandtschaft von Camus und Nietzsche schreibt Bianca Rosenthal: „Beider Denken ist auf das Diesseits gerichtet, das Leben selbst ist für sie höchster Wert […].“5 Allerdings ist dieser Wert so ambivalent, dass er bei Camus sowohl die Solidarität der Menschen vor dem Tod als auch den Mord rechtfertigen kann. Camus’ persönliche Einstellung zu Nietzsches Natur- und Lebensphilosophie ist über allen Zweifel erhaben. Vor allem in seinen „Réflexions sur la guillotine“6 wird deutlich, dass er das ‚Leben‘ als obersten Wert im Sinne einer menschlichen Solidarität vor dem Tod auffasst: Das Leben, das Dasein ist ihm mehr wert als alle gesellschaftlichen Werte, die zu seiner Rechtfertigung angerufen werden. Der Autor von L’Etranger und La Peste will nur eine Art von menschlicher Solidarität anerkennen: die Solidarität der Lebenden im Angesicht des Todes. L’Etranger ist so konstruiert, dass der Leser kaum umhin kann, sich mit dem mitten im Leben stehenden, aber zum Tode verurteilten Meursault zu solidarisieren. In La Peste gewinnt Dr. Rieux die Sympathien der Leser, weil er als Arzt für das Leben 3 4 5 6
Nietzsche, Friedrich: Ecce Homo, in: ders.: Werke in sechs Bänden, hg. v. Karl Schlechta, Bd. IV, München [u. a.]: Hanser, 1980, S. 1063–1159, hier S. 1157–1158. Stirner, Max: Der Einzige und sein Eigenthum, Leipzig: Wigand, 1845. Rosenthal, Bianca: Die Idee des Absurden: Friedrich Nietzsche und Albert Camus, Bonn: Bouvier, 1977 (Studien zur Germanistik, Anglistik, und Komparatistik 55), S. 16. Vgl. Camus, Albert: Réflexion sur la guillotine, in: ders.: Essais, édition établie et annotée par Roger Quilliot et Louis Faucon, [Paris]: Gallimard, 1965 (Bibliothèque de la Pléiade 183), S. 1019–1064.
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kämpft – und zugleich gegen das von der Kirche verbreitete Vorurteil, dass Krankheit und Tod gerechte Strafen sind. Doch diese zugleich persönliche und literarische Deutung von Nietzsches Lebensprinzip hebt dessen Ambivalenz keineswegs auf. Das wird vor allem in Camus’ Romanfragment La Mort heureuse deutlich, dessen Held einen reichen Invaliden tötet, um sich unbehelligt von Geldnöten entfalten zu können. Durch die von ihm selbst hergestellte Beziehung zwischen Natur (Leben) und Geld (als Tauschwert) verurteilt sich der Invalide Zagreus selbst zum Tod: „Le temps s’achète. Tout s’achète. Etre ou devenir riche, c’est avoir du temps pour être heureux quand on est digne de l’être.“7 Um sich das glückliche Leben zu sichern, auf das er (nach Nietzsche?) als physisch gesunder Mensch Anspruch hat, tötet Patrice Mersault den reichen Invaliden und raubt ihm sein Geld. In diesem Fall fällt dem Leser die Bejahung des Lebensprinzips wesentlich schwerer als in L’Etranger, wo es auch um die Todesstrafe geht, oder in La Peste. Denn das ‚Lebensprinzip‘ geht hier mit einer Rücksichtslosigkeit einher, die an Max Stirners Egoismus erinnert und der ein ‚Wille zur Macht‘ innewohnt, der weit über den Selbsterhaltungstrieb als einen allen Menschen eigenen ‚Willen zum Leben‘ hinausgeht. Die Ambivalenz des Natur- und Lebensprinzips tritt in Camus’ Drama Caligula (1944) in den Vordergrund, wo ‚Leben‘ einerseits als ‚Wille zur Macht‘, andererseits als Lebensbejahung im Sinne einer Solidarität vor dem Tod erscheint. Das Drama kann als eine Reaktion auf die Austauschbarkeit der Werte und den Wertrelativismus in der spätmodernen Gesellschaft gelesen werden. Diese Äquivalenz der Werte als Indifferenz lässt zwei Schlüsse zu, die zugleich die beiden Pole bezeichnen, zwischen denen Camus’ Denken oszilliert: den ‚Willen zur Macht‘ und die Mäßigung als Lebensprinzip. Vom ersten Pol geht Caligulas unmenschliche Weisheit aus, die sich auf Fëdor Mihajlovič Dostoevskijs lapidare Bemerkung stützt: ‚Gott ist tot, alles ist erlaubt‘. Kaiser Caligula führt die sich widersprechenden Werte zusammen und hebt ihre Differenz in der alle Unterschiede tilgenden Indifferenz auf: „Je veux mêler le ciel à la mer, confondre laideur et beauté, faire jaillir le rire de la souffrance.“8 Caesonia, die sich vor ihm aufrichtet und für die Permanenz der Unterschiede plädiert, antwortet er: „Ma volonté est de le changer. Je ferai à ce siècle le don de l’égalité.“9 Der ‚inhumanen Lyrik‘ Caligulas begegnet schließlich der römische Senator Cherea mit dem folgenden Argument:
7 8 9
Camus, Albert: La Mort heureuse, introd. et notes de Jean Sarocchi, [Paris]: Gallimard, 1971 (Cahiers Albert Camus 1), S. 76. Camus, Albert: Caligula, in: ders.: Théâtre, récits, nouvelles, préface par Jean Grenier, textes établis et annotés par Roger Quilliot, [Paris]: Gallimard, 1962 (Bibliothèque de la Pléiade 161), S. 3–108, hier S. 27. Camus: Caligula, S. 27.
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Peter V. Zima C’est pour lutter contre une grande idée dont la victoire signifierait la fin du monde. […] Ce n’est pas l’ambition qui me fait agir, mais une peur raisonnable, la peur de ce lyrisme inhumain auprès de quoi ma vie n’est rien.10
Camus folgt zwar Nietzsche, wenn es gilt, die menschliche Natur von den Zwängen historisch-metaphysischer Teleologien und der christlichen Moral zu befreien; er widersetzt sich aber der ‚inhumanen Lyrik‘ des Übermenschen Caligula, der alle Wertsetzungen seiner Gesellschaft negiert. ‚Der Natur gehorchen‘ kann folglich zweierlei bedeuten: alle moralischen Grenzziehungen für willkürlich und nichtig erklären oder das menschliche Leben als solches zum obersten Wert erheben. Camus entscheidet sich recht eindeutig für die ‚menschliche‘ Lösung und einen ‚humanen‘ Nietzsche – aber die inhumane Tendenz wirft immer wieder Schatten auf sein Werk. Zum Gegensatz zwischen Nietzsche und Marx heißt es in L’Homme révolté: „Pour Marx, la nature est ce qu’on subjugue pour obéir à l’histoire, pour Nietzsche ce à quoi on obéit, pour subjuguer l’histoire.“11 Was aber bedeutet der Ausdruck ‚der Natur gehorchen‘? Er kann die Emanzipation von einer repressiven Moral und die Entdeckung der menschlichen Natur als Körperlichkeit bedeuten. Diese Emanzipation des Ichs kann aber auch mit der Unterdrückung oder gar Vernichtung des anderen einhergehen. Im Extremfall kann sie in eine schrankenlose, übermenschliche Lyrik im Sinne von Caligula münden. In seinem Plädoyer für Mäßigung und eine menschliche pensée de midi hat Camus die von Nietzsche geerbte Ambivalenz auf eine ihrer Komponenten reduziert: auf die Vorstellung von einem ‚humanen Leben‘, das auf die Solidarität aller vor dem Tod ausgerichtet ist. 2. VON NIETZSCHE ZU GIDE: ENTFALTUNG DES LEBENS UND MACHTENTFALTUNG Ein ähnliches Dilemma ist bei André Gide feststellbar, der seine Erfahrungen mit Nietzsches Philosophie in verschiedenen Publikationen, vor allem aber in Les Nourritures terrestres (1897) und in L’Immoraliste (1902) verarbeitet. Im ersten Fall besingt der Erzähler in lyrischen Tönen die Befreiung des Subjekts in der Natur; im zweiten Fall zeigt sich, dass diese Befreiung auch auf Kosten des anderen verwirklicht werden kann. In seinen Reden und Briefen an seinen Schüler Nathanaël stellt der Erzähler im nietzscheanischen Sprachduktus fest: „Nathanaël, je ne crois plus au péché.“12 Jenseits von Religion, Sünde und Moral entdeckt er die ihn berauschende Natur: „L’aigle se grise de son vol. Le rossignol s’enivre des nuits d’été.“13 Man mag
10 11 12 13
Camus: Caligula, S. 34–35. Camus, Albert: L’Homme révolté, in: ders.: Essais, S. 407–709, hier S. 488. Gide, André: Les Nourritures terrestres, [Paris]: Gallimard, 1917–1936, S. 44. Gide: Les Nourritures terrestres, S. 38.
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hier an den Satz aus Nietzsches Zarathustra denken: „Mein Adler ist wach und ehrt gleich mir die Sonne.“14 Die Nourritures sind nach Gides langwieriger Gesundung entstanden, die auch eine Gesundung von der ihn erdrückenden Moral war, und nach zwei Reisen durch Nordafrika, während denen ihm die Natur als Wüste begegnet. Der angesprochene Nathanaël erscheint immer wieder als der sich von einer repressiven religiösen Erziehung und dem aus ihr hervorgehenden schlechten Gewissen befreiende junge Dichter, der wie Nietzsche nach einer in der Natur verankerten neuen Moral sucht. Fünf Jahre nach Les Nourritures terrestres erscheint Gides Roman L’Immoraliste, in dem gezeigt wird, wie schwierig es ist, die persönliche Gesundung im Sinne von Nietzsche, die mit einer Befreiung von der religiösen Moral und ihrem Sündenbewusstsein einhergeht, vom ‚Willen zur Macht‘ zu trennen. Obwohl der Roman von derselben Substanz zehrt wie die Nourritures, lässt er – wie Camus’ Caligula – die zweite Dimension von Nietzsches ambivalenter Philosophie erkennen: die naturwüchsige Selbstbehauptung als Unterdrückung, ja als Negation des anderen. Während der an Tuberkulose erkrankte Held Michel auf einer Reise durch Nordafrika allmählich seine Gesundheit in der Wüstennatur wiederfindet und zu neuem Leben erwacht, fällt seine tief religiöse Frau Marceline der tödlichen Krankheit zum Opfer. Doch nicht der schlichte Ablauf der Ereignisse macht die eigentliche Bedeutung des Romans aus, sondern die symbolischen Konnotationen, die Ereignisse und Handlungen begleiten. Michel legt allergrößten Wert auf die Feststellung, dass nicht Marcelines Gebete und Fürbitten seine Gesundung herbeigeführt haben, sondern sein Wille zum Leben inmitten einer Wüstennatur, die ihm half, die Krankheit zu bezwingen. Im Gegensatz zur schwächer werdenden Marceline, die meint, sich auf die Hilfe Gottes verlassen zu können, beharrt Michel auf seiner Eigenständigkeit: „J’ai bien guéri tout seul“ – antwortet er seiner Begleiterin auf recht unwirsche Art. Sie gibt nicht auf, versucht es noch einmal: „J’ai tant prié pour toi, répond-elle.“ Der Erzähler fügt hinzu: „Elle dit cela tendrement, tristement; je sens dans son regard une anxiété suppliante…“15 Michel vermag Marcelines christliche Liebe nicht zu erwidern und verlässt die schwächer werdende Kranke. Das Paar kehrt zeitweise in die Normandie zurück, wo Michel zwei Bauernhäuser erworben hat, die er bald wieder verkauft, und reist weiter in die Schweiz und nach Italien, um schließlich in die Wüste von Tuggurt zurückzukehren, wo Marceline an der Tuberkulose stirbt. Sie findet dort den Tod, wo Michel zum Leben zurückfand. Sie stirbt nicht bloß an ihrer Krankheit, mit der sie Michel möglicherweise infiziert hat, sondern auch – und auf symbolischer Ebene vor allem – an der Lieblosigkeit ihres Begleiters, dessen Entdeckung der Natur (als Wüste) mit einem 14 Nietzsche, Friedrich: Also sprach Zarathustra, in: ders.: Werke, Bd. III, 1980, S. 275–561, hier S. 559. 15 Gide, André: L’Immoraliste, Paris: Mercure de France, 1902, S. 130.
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sich durchsetzenden ‚Willen zur Macht‘ einhergeht. Denn nietzscheanisch muten die Bemerkungen des Ich-Erzählers Michel gegen Ende des Romans an, als deutlich wird, dass Marceline ihren Kampf gegen die tödliche Krankheit verliert: „J’ai horreur de la sympathie; toutes les contagions s’y cachent; on ne devrait sympathiser qu’avec les forts.“16 In diesem Kontext ist auch Lafcadios acte gratuit in Les Caves du Vatican (1914) zu betrachten: Lafcadio wirft den gläubigen Christen Fleurissoire aus dem fahrenden Express-Zug, um einen nietzscheanischen Machtinstinkt zu befriedigen. Er wird jedoch nicht von einer gerechten Strafe ereilt, sondern von der jungfräulichen Geneviève mit sinnlicher Liebe belohnt. Ein Vergleich mit Camus, der Nietzsche vor allem als einen Philosophen des Lebens und der menschlichen Natur liest, zeigt, dass sich bei Gide beide Tendenzen, die Nietzsches ambivalente Philosophie durchwirken, zeitweise durchsetzen. Während in Les Nourritures terrestres die vom Naturinstinkt gesteuerte Befreiung von der christlichen Askese im Vordergrund steht, wird in L’Immoraliste deutlich, dass aus dieser Befreiung in der Natur der ‚Wille zur Macht‘ hervorgehen kann, der dem Schwächeren – zumindest indirekt – das Daseinsrecht abspricht. Diese Tendenz setzt sich schließlich in Les Caves du Vatican durch, wo der schwache Fleurissoire der ‚inhumanen Lyrik‘ des Nietzscheaners Lafcadio geopfert wird. In diesem Zusammenhang stellt sich die Frage, ob es innerhalb eines Rezeptions- oder Interpretationsmodus gelingen könnte, die Ambivalenz von Nietzsches Philosophie zu bändigen und die Befreiung des Einzelsubjekts in der Natur zu bejahen, ohne den – mit ihr einhergehenden – ‚Willen zur Macht‘ in Kauf zu nehmen. Camus’ Lösung ist deshalb nicht überzeugend, weil Camus der Befreiung in der Natur als Leben und Körperlichkeit das Wort redet, ohne auf die entscheidende Frage zu antworten, welche gesellschaftlich fundierte Ethik den Einzelnen daran hindern soll, auf Kosten der anderen glücklich zu werden – wie der Held von La Mort heureuse. Das von Nietzsche, Camus und Gide einträchtig verworfene Christentum hatte eine Antwort auf diese Frage. Aber nicht um diese Art von Ethik geht es hier, sondern um die Frage, wie die (französischen) Rezipienten und Interpreten mit Nietzsches ambivalenter Philosophie, die einerseits für Befreiung von religiöser Herrschaft und Metaphysik, andererseits für zügellose, naturwüchsige Machtausübung plädiert, fertig werden. Im letzten Teil meiner Darstellung möchte ich zeigen, dass Barthes, Derrida und Deleuze Nietzsches Sprachtheorie recht einseitig als rhetorische Subversion der Metaphysik auffassen und dabei die gebieterische Geste, die Nietzsches persuasiver, prophetischer Rhetorik innewohnt, übergehen.
16 Gide: L’Immoraliste, S. 160.
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3. NIETZSCHES SPRACHTHEORIE ZWISCHEN PROPHETIE UND DEKONSTRUKTION Ähnlich wie Camus scheinen Barthes und Derrida den Nietzsche des ‚Willens zu Macht‘, den sie sehr wohl kennen, nicht wahrhaben zu wollen. Um welchen Nietzsche geht es? Es geht um den Rhetoriker und Überredungskünstler Nietzsche: nicht um den Sprachkritiker, der metaphysische Wahrheiten dekonstruiert, sondern um den Propheten, der versucht, Jünger um sich zu scharen. Diesen Propheten hat vor einigen Jahren überzeugend und mit beredten Worten Heinz Schlaffer in seinem Buch Das entfesselte Wort porträtiert. Nicht Subversion sprachlicher Konventionen steht bei Schlaffer im Mittelpunkt, sondern der apodiktische, gebieterische Spruch: „Der ‚Spruch‘, das Ideal von Nietzsches Sprache, bestimmt sie bis in scheinbar unwichtige Einzelheiten, bis zum Gebrauch der Hilfsverben.“17 Schlaffer erklärt: „Der gelungene Spruch schließt jegliche andere Diskussion aus; gegen das Vollkommene läßt sich nur schwer protestieren.“18 Aus Schlaffers Sicht trägt Nietzsches autoritärer Sprachduktus wesentlich dazu bei, dass der Autor des Zarathustra zum Vorbild spätmoderner Führergestalten wird: „Alle, die im 20. Jahrhundert Führer sein und heißen wollten, beriefen sich auf Nietzsche, weil er als erster von dieser Idee ein Bild entworfen hatte.“19 Auf sprachlicher und sprachkritischer Ebene bleibt von dieser Idee in der französischen Postmoderne wenig übrig. Denn Autoren wie Roland Barthes und Jacques Derrida, denen Nietzsches autoritäres und prophetisches Gehabe keineswegs entgangen sein dürfte, lassen den Kritiker Nietzsche in den Vordergrund treten, der metaphysische Begriffe wie ‚Subjekt‘ und ‚Wahrheit‘ radikal in Frage stellt. Wie Camus – und in Spanien Pío Baroja20 – heben sie die emanzipatorischen Impulse in Nietzsches Denken hervor, die gegen die metaphysisch-theologische Zwangsjacke aufbegehren, von der sie behaupten, dass sie die menschliche Subjektivität bildet. Der späte Barthes richtet seine Semiotik auf den Signifikanten als ‚Sprachkörper‘ aus und ersetzt – wohl ganz bewusst – Nietzsches sprachlichen ‚Willen zur Macht‘ durch eine „volonté de jouissance“21, die dem ‚lesbaren‘ Text innewohnt. Seine Sprach- und Textauffassung ist durchaus nietzscheanisch, ‚dionysisch‘ sogar, aber in einem dekonstruktivistischen, spielerischen Sinn. Ihr entspricht eine nietzscheanische Auffassung der Interpretation:
17 Schlaffer, Heinz: Das entfesselte Wort. Nietzsches Stil und seine Folgen, München: Hanser, 2007, S. 92. 18 Schlaffer: Das entfesselte Wort, S. 90. 19 Schlaffer: Das entfesselte Wort, S. 142. 20 Zum Vergleich von Camus und Baroja im Hinblick auf Nietzsches Einfluss vgl. Zima, Peter V.: Komparatistik. Einführung in die Vergleichende Literaturwissenschaft, Tübingen, Basel: Francke, 22011, Kap. IV. 21 Barthes, Roland: Le Plaisir du texte, Paris: Seuil, 1973 (Tel Quel), S. 25.
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Peter V. Zima Cette nouvelle opération est l’interprétation (au sens que Nietzsche donnait à ce mot). Interpréter un texte, ce n’est pas lui donner un sens (plus ou moins fondé, plus ou moins libre), c’est au contraire apprécier de quel pluriel il est fait.22
Auf dieser Ebene wird Nietzsches Sprachphilosophie auch von Derrida und den Dekonstruktivisten von Yale gedeutet: Nicht Nietzsches apodiktischer Spruch als autoritäre Geste des spätmodernen Propheten interessiert sie, sondern seine subversive Rhetorik der Tropen, die den Signifikanten dem Signifikat gegenüber aufwertet und die sowohl Derridas Begriff der différance als auch dem der itérabilité innewohnt.23 Wie Barthes stellt Derrida Nietzsches Kritik der Metaphysik und der Wahrheit in den Vordergrund sowie seine Kritik „an den Begriffen des Seins und der Wahrheit […], die er [Nietzsche] durch die Begriffe des Spiels, der Interpretation und des Zeichens (des jeglicher präsenten Wahrheit baren Zeichens) ersetzt hat“.24 Nietzsche als Vorläufer der Dekonstruktion: Dies ist sicherlich die Kehrseite der autoritären Prophetie, die Heinz Schlaffer – ebenfalls recht einseitig – in ihrer sprachlichen Gestalt analysiert hat. Dazu bemerkt Ernst Behler, dessen NietzscheKommentar als Pendant zu dem Schlaffers gelesen werden sollte: An dieser Stelle weiß man freilich auch, daß der Nietzsche, um den es sich hier handelt, nicht jenes systematische Schema ist, das Heidegger in seinen Vorlesungen konstruiert hatte, sondern ein Nietzsche von bislang nicht dagewesener dekonstruktiver Kapazität.25
Welcher Nietzsche ist nun der richtige? Die Antwort muss wohl lauten: beide – und es kommen vielleicht noch weitere hinzu. Denn wir haben es bei Schlaffer und Derrida mit zwei gegensätzlichen Rhetorik-Begriffen zu tun: mit der Rhetorik als persuasiver, prophetischer Machtausübung und mit der Rhetorik als subversiver, metaphysikfeindlicher Sprachkritik. Zweifellos sind beide Rhetorik-Begriffe in Nietzsches Werk enthalten: Während die Rhetorik als Überredungskunst und Prophetie dem ‚Willen zur Macht‘ dient, entspricht die subversive Rhetorik der Tropen dem ‚Willen zur Befreiung‘ von allen metaphysischen Zwangsjacken. Wie Camus neigen Barthes und Derrida dazu, Nietzsches Ambivalenz, die zwischen subversiver Kritik und autoritärer Geste oszilliert, auf eine ihrer Komponenten zu reduzieren, indem sie die subversive Tendenz in Nietzsches Werk in den Vordergrund treten lassen. In dieser Hinsicht sind sie sich mit dem postmodernen Gilles Deleuze einig, der in den 1960er und 1970er Jahren versuchte, Nietzsches Denken gegen den Rationalismus, den Hegelianismus und den Mar-
22 Barthes, Roland: S/Z, Paris: Seuil, 1970 (Tel Quel), S. 11. 23 Vgl. Zima, Peter V.: Die Dekonstruktion. Einführung und Kritik, Tübingen, Basel: Francke, 1994, S. 46–66. 24 Derrida, Jacques: Die Schrift und die Differenz, übers. von Rodolphe Gasché, Frankfurt/M.: Suhrkamp, [1972] 1976, S. 425 (Original: L’Ecriture et la différence, Paris: Seuil, 1967 (Tel Quel)). 25 Behler, Ernst: Derrida – Nietzsche. Nietzsche – Derrida, München [u. a.]: Schöningh, 1988, S. 60.
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xismus zu wenden, indem er dieses Denken als ein Plädoyer für Vielfalt, Zufall und Spiel deutete. 4. NIETZSCHE ALS DENKER DER VIELFALT UND DER KONTINGENZ: GILLES DELEUZE Postmoderne Philosophen wie Lyotard, Gianni Vattimo und Deleuze stellen die großen historischen ‚Metaerzählungen‘ (Lyotard) im Sinne von Auguste Comte, Georg Wilhelm Friedrich Hegel und Marx in Frage, indem sie an der von diesen Autoren vorausgesetzten Notwendigkeit, Kohärenz und Zielgerichtetheit der gesellschaftlichen Ereignisse zweifeln. Dabei ersetzen sie die Notwendigkeit durch Kontingenz, die Kohärenz durch Vielfalt oder Sinnzerfall und die Teleologie durch die ewige Wiederkehr und das Spiel. In diesem Kontext erweist sich Deleuze als ein Philosoph der Kontingenz im Sinne von Nietzsche. Er macht sich Nietzsches Einsicht zu eigen (die der deutsche Philosoph möglicherweise den Junghegelianern verdankt), „wie wenig Vernunft, wie sehr der Zufall unter den Menschen herrscht“.26 Im Anschluss an diese Überlegungen wertet Deleuze den Zufall der Notwendigkeit gegenüber auf, insistiert auf der Notwendigkeit des Zufalls und leitet aus diesem die Vielfalt der Wirklichkeit ab. In einem Kommentar zu Mallarmés Un coup de dés ruft er mit Nietzsche zu einer Bejahung des Zufalls auf: Denn ebensowenig wie das Eine das Viele unterdrückt oder verneint, unterdrückt oder hebt die Notwendigkeit den Zufall auf. Nietzsche identifiziert den Zufall mit dem Vielen, den Fragmenten, den Gliedern, dem Chaos: dem Chaos der Würfel, die man schüttelt und wirft. Nietzsche macht aus dem Zufall eine Bestätigung, eine Bejahung.27
Ergänzend heißt es in Deleuzes Nietzsche-Buch: Oder man behauptet, wie Nietzsche sagt, die Notwendigkeit des Zufalls. Dionysos ist Spieler. Der wahre Spieler macht aus dem Zufall einen Gegenstand der Bejahung […].28
Begriffe wie ‚Zufall‘, ‚Spiel‘, ‚Fragment‘, ‚Vielheit‘ kündigen ein neues Denken an, das sich in einer stark pluralisierten und fragmentierten postmodernen Gesellschaft von den Systemen des Rationalismus, des Hegelianismus und des Marxismus abwendet. Im Gegensatz zu den Vertretern dieser Systeme, die sich dem Wesen und der Wahrheit verpflichtet fühlen, knüpfen postmoderne Denker wie Deleuze und Derrida an Nietzsches rhetorische Kritik der Wahrheit in „Über Wahrheit und Lüge 26 Nietzsche, Friedrich: Wir Philologen, in: ders.: Werke in sechs Bänden, Bd. V, 1980, S. 323– 332, hier S. 323. 27 Deleuze, Gilles: Nietzsche und die Philosophie, aus dem Franz. von Bernd Schwibs, Hamburg: Europäische Verlagsanstalt, 1991, S. 32. (Original: Nietzsche et la philosophie, Paris: PUF, 1962.) 28 Deleuze, Gilles: Nietzsche, Paris: PUF, 91992, S. 36.
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im außermoralischen Sinn“29 an. Wie Nietzsche lässt Deleuze „Wahrheit“ und „Schein“ letztlich zusammenfallen, wenn er apodiktisch feststellt: „Wahrheit ist Schein.“30 Bei ihm zerfällt die metaphysische Wahrheit in zahllose partikulare Wahrheiten, die je nach Kontext und Einstellung variieren können: „Wir haben die Wahrheiten, die wir verdienen, je nach dem, wo wir uns aufhalten, zu welcher Stunde wir wachen, in welchem Element wir uns befinden.“31 In diesem postmodernen Kontext, der nicht mehr von den metaphysisch-ideologischen ‚Metaerzählungen‘ eingefasst und zusammengehalten wird, gibt es keine allgemein gültigen Wahrheiten im Sinne von Plato, Kant oder Hegel mehr, sondern nur kontingente Wahrheiten, deren zeitliche und räumliche Relativität von Autoren wie Deleuze, Lyotard und Richard Rorty immer wieder hervorgehoben wird. Deleuze erscheint die Vielfalt dieser Wahrheiten, deren Konstellation sich unablässig ändert, als bejahenswert. Die Vielfalt als solche wird von ihm ohne Vorbehalte mit euphorischen Konnotationen versehen und mit dem Dionysischen im Sinne von Nietzsche verknüpft: „Dionysos bejaht alles, was in Erscheinung tritt, ‚noch das herbste Leiden‘, und erscheint in allem, das bejaht wird. Die vielfältige, pluralistische Bejahung ist das Wesen des Tragischen.“32 An dieser Stelle bricht allerdings wieder die schon bei Camus und Gide beobachtbare Zweideutigkeit hervor: Wird zusammen mit dem Tragischen auch das „herbste Leiden“ bejaht, nähert sich die Argumentation dem dionysischen Standpunkt des Kaisers Caligula, den Camus in seinem Theaterstück sagen lässt: „Je veux mêler le ciel à la mer, confondre laideur et beauté, faire jaillir le rire de la souffrance.“ Ist das nicht auch eine ‚dionysische‘ Einstellung, der schließlich jede Art von Rücksichtnahme und Menschlichkeit zum Opfer fallen kann? Der andere Nietzsche, der Theoretiker der Machtausübung, des Übermenschen und der übermenschlichen Willkür, die sich auch als Spiel gebärden kann, ist anscheinend nicht ohne weiteres auszublenden oder totzuschweigen. Bei Deleuze kehrt er – wenn auch unauffällig – in den euphorischen Darstellungen des Dionysischen wieder, die zeigen, dass das nietzscheanische Spiel mit Sprache, Wahrheit und Leben auch seine grausamen Seiten hat. Insgesamt macht die neuere französische Nietzsche-Rezeption deutlich, dass ein ambivalentes und vieldeutiges Werk widersprüchliche Rezeptionen nicht nur zulässt, sondern geradezu ermutigt. Dabei wird jede Rezeption von bestimmten Wertvorstellungen gesteuert, die der Ideologie der Rezipienten zugrunde liegen: Während Camus einem humanen Existenzialismus als pensée de midi das Wort redet und aus diesem Grunde dazu neigt, die inhumanen und dionysischen Aspekte von Nietzsches Philosophie auszublenden, erhält Gide das Spannungsverhältnis zwischen einer Philosophie des Lebens und dem sie sporadisch negie29 Nietzsche, Friedrich: Über Wahrheit und Lüge im außermoralischen Sinn, in: ders.: Werke in sechs Bänden, Bd. V, S. 309–322. 30 Deleuze: Nietzsche und die Philosophie, S. 113. 31 Deleuze: Nietzsche und die Philosophie, S. 125. 32 Deleuze: Nietzsche und die Philosophie, S. 22.
Französische Nietzsche-Rezeptionen
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renden Herrschaftsanspruch, der sich über das Leben des anderen hinwegsetzt. Postmoderne Autoren wie Barthes, Derrida und Deleuze entwerfen hingegen ein recht einseitiges Nietzsche-Bild, das von der sprachlich-gesellschaftlichen Subversion beherrscht wird und die Gegenwart des von Schlaffer porträtierten FührerPhilosophen bestenfalls erahnen lässt. Die kurze Rezeptionsanalyse lässt zugleich die Bedeutung der literarischen Komparatistik für die Philosophie erkennen: Die Ambivalenzen und Widersprüche eines philosophischen Werks nehmen in den einander widersprechenden und ergänzenden französischen Deutungen klare Konturen an. Die Vereinfachungen, Übertreibungen und Innovationen, die alle von der anderen Sprache und Kultur ermöglicht werden, lassen einen verfremdeten und doch wahren Nietzsche erkennen, der im Ursprungsland, in dem ganz andere Diskurse und Ideologien herrschen, kaum hätte entstehen können. LITERATURVERZEICHNIS Barthes, Roland: S/Z, Paris: Seuil, 1970 (Tel Quel). Barthes, Roland: Le Plaisir du texte, Paris: Seuil, 1973 (Tel Quel). Behler, Ernst: Derrida – Nietzsche. Nietzsche – Derrida, München [u. a.]: Schöningh, 1988. Camus, Albert: Caligula, in: ders.: Théâtre, récits, nouvelles, préface par Jean Grenier, textes établis et annotés par Roger Quilliot, [Paris]: Gallimard, 1962 (Bibliothèque de la Pléiade 161), S. 3–108. Camus, Albert: L’Homme révolté, in: ders.: Essais, édition établie et annotée par Roger Quilliot et Louis Faucon, [Paris]: Gallimard, 1965 (Bibliothèque de la Pléiade 183), S. 407–709. Camus, Albert: Réflexion sur la guillotine, in: ders.: Essais, S. 1019–1064. Camus, Albert: La Mort heureuse, introd. et notes de Jean Sarocchi, [Paris]: Gallimard, 1971 (Cahiers Albert Camus 1). Deleuze, Gilles: Nietzsche und die Philosophie, aus dem Franz. von Bernd Schwibs, Hamburg: Europäische Verlagsanstalt, 1991. (Original: Nietzsche et la philosophie, Paris: PUF, 1962.) Deleuze, Gilles: Nietzsche, Paris: PUF, 91992. Derrida, Jacques: Die Schrift und die Differenz, übers. von Rodolphe Gasché, Frankfurt/M.: Suhrkamp, [1972] 1976 (Original: L’Ecriture et la différence, Paris: Seuil, 1967 (Tel Quel)). Gide, André: L’Immoraliste, Paris: Mercure de France, 1902. Gide, André: Les Nourritures terrestres, [Paris]: Gallimard, 1917–1936. Lyotard, Jean-François: Leçons sur l’Analytique du sublime (Kant, Critique de la faculté de juger, §§ 23–29), [Paris]: Galilée, 1991. Nietzsche, Friedrich: Also sprach Zarathustra, in: ders.: Werke, hg. v. Karl Schlechta, Bd. III, München [u. a.]: Hanser, 1980, S. 275–561. Nietzsche, Friedrich: Ecce Homo, in: ders.: Werke in sechs Bänden, , Bd. IV, 1980, S. 1063–1159. Nietzsche, Friedrich: Über Wahrheit und Lüge im außermoralischen Sinn, in: ders.: Werke in sechs Bänden, Bd. V, 1980, S. 309–322. Nietzsche, Friedrich: Wir Philologen, in: ders.: Werke in sechs Bänden, Bd. V, 1980, S. 323–332. Rosenthal, Bianca: Die Idee des Absurden: Friedrich Nietzsche und Albert Camus, Bonn: Bouvier, 1977 (Studien zur Germanistik, Anglistik, und Komparatistik 55). Schaff, Adam: Marx oder Sartre? Versuch einer Philosophie des Menschen, aus d. Poln. übers. von Erna Reifer, Frankfurt/M. [u. a.]: Fischer, 1966. (Original: Filozofia człowieka: marksizm a egzystencjalizm, Warszawa: Książka i Wiedza, 1962.) Schlaffer, Heinz: Das entfesselte Wort. Nietzsches Stil und seine Folgen, München: Hanser, 2007.
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Peter V. Zima
Zima, Peter V.: Die Dekonstruktion. Einführung und Kritik, Tübingen, Basel: Francke, 1994. Zima, Peter V.: Komparatistik. Einführung in die Vergleichende Literaturwissenschaft, Tübingen, Basel: Francke, 22011.
VERTEIDIGUNG DES VERGLEICHS – PRIORITÄT DER DICHTUNG: IMPULSE AUS DER LYRIK VON MICHEL DEGUY Stéphane Michaud
Je suis dévoré de comparaisons, comme on l’est de poux, et je ne passe mon temps qu’à les écraser ; mes phrases en grouillent.1 Le critique auquel je songe […] est poète lui-même, sous peine de n’être pas.2
Der Freiraum, den die Veranstalter des Symposions und Herausgeber dieses Sammelbandes schon durch die Formulierung des zur Debatte stehenden Themas „Zwischen Transfer und Vergleich“ eröffnen, soll hier voll ausgenutzt werden, insofern er aus der Aporie, vor welcher die heutige Komparatistik steht, heraushilft. Wie manche Beiträge es schon zu verstehen gaben, stehen weniger die jeweiligen Begriffe Transfer und Vergleich in scharfem Gegensatz zueinander, da sie sich, sofern die Dichtung die Führung hat, sinnvoll ergänzen. Wie gestaltet sich aber diese Zusammenarbeit? Auf diese Frage soll eine präzise Antwort gegeben werden, die die Wege der kreativen Kooperation umreißt. Freuds Beispiel mag zur Orientierung dienen. Ich darf daran erinnern, dass Freud das Unbewusste und das Seelenleben als ein „Zwischenreich“ bezeichnete. „There are more things in heaven and earth, Horatio,/ Than can be dreamt of in your philosophy “, heißt es bei Shakespeare (Hamlet, I, 5), ein Lieblingszitat von Freud, das er merkwürdig genug mit folgenden Worten übersetzt: „Es gibt mehr Dinge, Horatio, zwischen Himmel und Erde, als unsere Schulphilosophie davon träumen mag“. Die Akzentverschiebung von ‚im Himmel und auf Erden‘ auf ‚zwischen Himmel und Erde‘ reizt zum Weiterdenken. Die Erforschung dieses beinahe grenzenlosen Zwischenreiches, das, laut Freud, das ganze Gebiet des Menschlichen vom Seelenleben bis zur Kunst und Dichtung umfasst, ist nicht nur die Sache des Psychoanalytikers, sondern wohl auch – über das besondere Thema dieses Bandes hinaus – die des Kunst- und Literaturwissenschaftlers, insofern Freud selbst der Dichtung einen Vorsprung vor der Wissenschaft zuerkennt: Jene,
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Flaubert an Louise Colet, den 27.12.1852, in: Flaubert, Gustave: Correspondance, hg. von Jean Bruneau, Paris: Gallimard, 5 Bde, 1973–2007 (Bibliothèque de la Pléiade), Bd. 2: Juillet 1851–décembre 1858, 1980, S. 220. Saint-John Perse an Jacques Rivière, 21.10.1910, in: Saint-John Perse: Œuvres complètes, Paris: Gallimard, 1972 (Bibliothèque de la Pléiade), S. 677.
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so sagt er, geht dieser vor und weist ihr den Weg.3 Wenn schon manche Dichter und Lyriker des 20. Jahrhunderts von André Breton und Saint-John Perse bis hin zu Yves Bonnefoy aus dem Unbewussten schöpfen, wieso sollte nicht eine Anlehnung der Literaturwissenschaft an die Lyrik zur Priorität werden, zumal die Lyrik selbst über die engen Grenzen einer Gattung hinausgreift? Somit vertiefe ich hier die These, die ich in der Festschrift für Manfred Schmeling, Komparatistik als Humanwissenschaft, unter dem Titel „Deguy comme un Orient“ vertrat.4 Sonderbar und kühn genug – aber im Sog von Charles Baudelaire steht bei manchen zeitgenössischen Dichtern die Lyrik im Mittelpunkt der Dichtung – gab der Lyriker Michel Deguy den Impuls: Ihm entnahm ich die Auffassung, dass sich die Vergleichende Literaturwissenschaft, die ihren Namen vom Vergleich hat, an der Lyrik orientieren darf. Ein Neuanfang sei da zu erwarten, wenn das Fach sich auf all die Versprechen des Vergleichs zurückbesinnt und sie einlöst, d. h. wenn es methodisch streng (doch nicht starr) verfährt und das Wagnis des Vergleichs unternimmt. Allerdings erhebt bei Deguy die Lyrik keineswegs einen Alleinvertretungsanspruch: Sie geht gemeinsamen Weges mit der Philosophie, der Rhetorik, der Poetik (im aristotelischen Sinne) und den schönen Künsten. Insofern bieten hier die Altertumswissenschaft, die mit gutem Recht als treue Bundesgenossin gilt, mehr noch die Sinologie, wie sie Anne Cheng, Professorin am Collège de France, vertritt, eine aktuelle Unterstützung. Anne Cheng wies jüngst in ihrer Antrittsvorlesung der Komparatistik eine schärfer umrissene Problematik zu, insofern die tradierten Gegensätze (etwa zwischen Orient und Okzident oder China und Europa), mit welchen sie zu arbeiten pflegt und damit meist pauschale Fragen stellt, der Forschung im Wege stehen. Schon innerhalb der Sinologie, so plädierte sie, sei Platz genug für die Komparatistik, da China als differenziertes historisches Ganzes keine unbewegliche Einheit bildet. Die methodische Zurückbesinnung, zu der die Sinologie auffordert, ist umso willkommener, als die Komparatistik öfter des Eurozentrismus bezichtigt wird. „Comparer“, so behauptet etwa Anne Cheng, sei nicht „compartimenter“5. Der Vergleich als Methode – das wissen wir längst – ist weder ein Selbstverständ3
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Zum Terminus „Zwischenreich“, der zum ersten Mal bei Freud in einem Brief an Wilhelm Fließ (16.04.1896) auftritt, und zu seinen Verwendungen vgl. Freud, Sigmund: Briefe an Wilhelm Fließ, 1887–1904, hg. v. Jeffrey Moussaief Masson, dt. Fassung von Michael Schröter, Transkription von Gerhard Fichtner, Frankfurt/M.: Fischer, 1986, S. 191; ders.: Gesammelte Werke, chronologisch geordnet, Frankfurt/M.: Fischer, 1999, 18 Bde. + 1 Nachtragsband, Bd. 10: Werke aus den Jahren 1913–1917, S. 135, Bd. 8: Werke aus den Jahren 1909–1913, S. 417. Zu Freuds Stellungnahme zur Dichtung s. Gesammelte Werke, Bd. 7: Werke aus den Jahren 1906–1909, S. 33. Die Beziehung zwischen Freud und William Shakespeare untersucht: Michaud, Henriette: Les Revenants de la mémoire. Freud et Shakespeare, Paris: PUF, 2011. Siehe meinen Beitrag Michaud, Stéphane: Deguy comme un Orient, in: Schmitz-Emans, Monika/Schmitt, Claudia/Winterhalter, Christian (Hg.): Komparatistik als Humanwissenschaft. Festschrift zum 65. Geburtstag von Manfred Schmeling, Würzburg: Königshausen & Neumann, 2008, S. 315–323. Cheng, Anne: La Chine pense-t-elle?, [Paris]: Collège de France, Fayard, 2009 (Leçons inaugurales du Collège de France 201), S. 38–42. A. Cheng warnt ausdrücklich vor der Gefahr,
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liches noch ein problemfreies Faktum. Aber aus welcher Dynamik behauptet er seine Rechte nicht gegen die anderen Methoden, sondern im Einklang mit diesen, indem er neue Brücken schlägt? Wenn er entdeckungslustig und erfolgreich wirkt, darf sich seine Freiheit nicht etwa dazu erweitern, ein Stück Willkür mit ins Spiel zu bringen? Anne Chengs Warnung und Distanzierung von den Mängeln der tradierten Komparatistik lässt sich so formulieren: Vergleichen sei keineswegs mit Verzetteln identisch. In die gleiche Richtung plädierte schon Claude Lévi-Strauss, von dem ich hier zwei Zitate in Erinnerung rufen möchte. Das erste Zitat entnehme ich seinem Buch Tristes Tropiques, das seinen geistigen Werdegang als Ethnologe und Anthropologe schildert. Lévi-Strauss beschreibt zum einen die Leere einer frivolen und bodenlosen Methodik, die er in den classes préparatoires vorgezeichnet bekommt und die er schnell loswird. Zum anderen aber und im Gegensatz dazu rühmt er ein paar Zeilen weiter das Ertragreiche einer echten und übergreifenden Methodik, die die engen Grenzen sprengt, das Leben neu blühen lässt, sodass sie beinahe wie ein Wunder wirkt: … j’apprenais que les antinomies statiques autour desquelles on nous conseillait de construire nos dissertations philosophiques et plus tard nos leçons […] se ramenaient à un jeu gratuit. […] Que le miracle se produise […], soudain l’espace et le temps se confondent, la diversité vivante de l’instant juxtapose et perpétue les âges. La pensée et la sensibilité accèdent à une dimension nouvelle […]. Je me sens baigné dans une intelligibilité plus dense, au sein de laquelle les siècles et les lieux se répondent et parlent des langages enfin réconciliés.6
Den Komparatisten erteilt er eine nützliche Lehre, wenn er folgenden Satz Platos zitiert: „Car c’est le plus contraire qui est au plus haut point ami de ce qui lui est le plus contraire.“7 Vor den Gegensätzen, vor dem Wagnis der Dichtung und im Besonderen der Lyrik sollen wir also nicht zurückschrecken. Damit bin ich zu meiner Hauptthese gelangt: Von der zugespitzten Formel von Michel Espagne, dass „le comparatisme débouche sur l’étude des transferts culturels“, wie er im Abstract zu dem Tagungsbeitrag schrieb, der diesem Band zugrunde liegt, darf ich Abstand nehmen und meinen, dass es in der Literaturwissenschaft (wenn nicht in den Kulturwissenschaften überhaupt) an der Zeit ist, der Dichtung selbst und den schönen Künsten wieder den Vorrang vor den Natur- und Geisteswissenschaften im Allgemeinen zu geben. Den reichen Möglichkeiten, die im Wort ‚Vergleich‘ enthalten sind, soll voll freier Lauf gelassen werden, sodass innerhalb der Literaturwissenschaften die Komparatistik im Einklang mit einer nuancierten, differenzierten
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die von den sogenannten wissenschaftlichen Etiketten und Kategorien ausgeht, da sie die bewegliche Kulturlandschaft erstarrt sehen und deren bunte und lebendige Elemente ignorieren. Den Begriff des Dialogs mit seinen notwendigen Kontinuitäten, aber auch mit seinen Brüchen, hebt sie als richtungweisend hervor. Lévi-Strauss, Claude: Tristes Tropiques, Paris: Plon, 2009, S. 58, 59. Plato: Lysis 215 e, zitiert von Lévi-Strauss, Claude: L’Autre face de la lune. Ecrits sur le Japon, Paris: Seuil, 2011 (La Librairie du XXIe siècle), S. 127.
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Transfer-Methodik ihre Position würdig vertritt und kreativer wirkt. Erst in diesem breiteren Rahmen, der der Poesie den Vorrang sichert, blüht die TransferForschung. Eine etwas provokative Frage sei mir erlaubt: Sind die Komparatisten inzwischen so sehr des Vergleichs überdrüssig, dass sie Gustave Flaubert und Paul Celan zustimmen, die beide den Vergleich gering schätzen? Dem flaubertschen Eingangsmotto aus einem Brief von Flaubert an Louise Colet („Ich werde von den Vergleichen wie von Läusen zerfressen und meine ganze Zeit vergeude ich damit, sie zerplatzen zu lassen […]“8) stelle ich Celans Klage an die Seite, als er sich einmal über einen schwachen Kritiker beklagt, der ihn „komparatistisch“ behandelt habe. In dem besonderen Fall sei er im Hinblick auf „die unlösliche Tragik, die über dieser Dichtung und der in ihr deutschsprachig vollzogenen jüdischchristlichen Einung liegt“, kritisiert worden.9 Beide Dichterstimmen sind so bedeutend, dass man nicht umhin kann, die Aussagen jeweils genau zu betrachten. Sehen wir uns nun die flaubertsche Aussage näher an: Sie bezieht sich nicht auf den Vergleich als Methode, wohl aber auf die Metapher, insofern der Stil in Madame Bovary, so klagt der Dichter, allzu ‚romantisch‘ blühend, zu reich an Bildern sei. Dies verurteilt er als eine Schwäche, gegen die er mit aller Kraft zu Felde ziehen müsse. Und das, was Celan seinerseits dem Kritiker vorwirft, ist ein Mangel an Schärfe, an Präzision, sodass das Eigene, das Eigentlichste seiner Kunst über einer problematischen christlich-jüdischen Einung vergessen würde. Flauberts Aussage erlaubt es keineswegs, so missdeutet zu werden, dass wir aus dem Romancier einen Feind der Komparatistik machen. Umgekehrt stimmen wir mit Celan überein, dass die vergleichende Methode – mit Friedrich Nietzsche gesprochen – zu keinem billigen Leistungsdienst der Mittelmäßigkeit oder irgendwelcher geistigen Verwässerungsarbeit führen darf. Die Schwächen, zu welchen ein Missbrauch des Vergleichs, also eine Entgleisung der Komparatistik führt, sind bekanntlich nichts anderes als die Kehrseite der Medaille: Sie erlauben es keineswegs, das Kind mit dem Bade auszuschütten. Halten wir uns kurz auf dem Feld der Polemik auf, dann darf die Warnung von Paul Celan nicht unterschätzt werden: „Gedichte“, so behauptet er, „sind nicht Kultur – sie führen ein unterirdisches, subversives Dasein“. Kurz davor erklärt er: „Ich werde ziemlich oft des Surrealismus bezichtigt – das ist natürlich Unsinn“10. 8 9
Meine Übersetzung. Brief von Paul Celan an seine Tante Berta Antschel, 17.01.1965, in Bezug auf den Beitrag von Kurt Oppens im Januar-Heft des Merkur: „Oppens ist, wenn ich nicht irre, ein an einer amerikanischen Hochschule unterrichtender Deutscher, der schon einmal im „Merkur“ (Februar 1963) über mich geschrieben hat, ebenfalls „komparatistisch“; damals hieß es u. a. von mir, ich hätte mit dem Entsetzen zwar keinen Scherz, aber Magie getrieben…“ (Celan, Paul/ Celan-Lestrange, Gisèle: Briefwechsel. Mit einer Auswahl von Briefen Paul Celans an seinen Sohn Eric, aus dem Französischen v. Eugen Helmlé, hg. u. komm. v. Bertrand Badiou in Verbindung m. Eric Celan, Anm. übers. u. für die dt. Ausgabe eingerichtet v. Barbara Wiedemann, Frankfurt/M.: Suhrkamp, 2001, 2 Bde., Nr. 196, Anmerkung). 10 Celan im Gespräch mit Neumann, Harry: Wir sprachen mit Preisträger Celan, in: Die Welt, 27.01.1958, zitiert nach Celan/Celan-Lestrange: Briefwechsel, Nr. 94, Anmerkungen.
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Der Kulturtransfer kommt darin schon an seine Grenzen, dass er den Reisenden, Wissenschaftlern und Gelehrten, so wichtig sie auch seien, so viel Bedeutung zumisst, dass darüber das Poetische und die Dichtung selbst Gefahr laufen, in den Hintergrund zu treten. Eine an sich überraschende Konsequenz, da Michel Espagne doch in Frankreich zwei germanistische Reihen herausgibt, die sich hauptsächlich mit Dichtung und Lyrik befassen. Daher gehe ich nun auf Celans Pfad ein Stück weiter und übernehme von ihm das, was er als das schönste und treffendste Wort aus dem Munde Goethes bezeichnet: die Notiz über den Stilisten Georg Christoph Lichtenberg: „Ihm stand eine ganze Welt von Wissen und Verhältnissen zu Gebote, um sie wie Karten zu mischen und nach Belieben schalkhaft auszuspielen.“11 Die Aussage kann als Programm für die heutige Komparatistik gelten, wenn auch ein wenig Humor, im Sinne Lichtenbergs, Denis Diderots und Goethes mitklingt. Die Methode des Vergleichs soll zwar streng wissenschaftlich bleiben, dennoch nach Erfindungsreichtum und Kreativität in der Deutung bestrebt sein. Wenn die Komparatisten keine Dichter sind, so dürfen sie doch wohl solche Wissenschaftler sein, die bei den Dichtern in die Schule gehen. In dieser Richtung möchte ich im Folgenden in die Fußstapfen des französischen zeitgenössischen Lyrikers und Theoretikers Michel Deguy treten und eine Art „Discours de la méthode“ im cartesianischen Sinne bieten. 1. MICHEL DEGUY ODER DAS WORT AUF DEM SPRUNG La comparaison entretient l’incomparable La distinction des choses entre elles Poésie interdit l’identification Pour la douceur du comme rigoureuse.12
Wenn ich Deguy als Modell vorschlage, so darf der Dichter und Essayist kurz vorgestellt werden. Michel Deguy ist einer der wichtigsten Vertreter der zeitgenössischen französischen Poesie. Er ist Autor eines umfangreichen dichterischen Werks, das in der Taschenbuchreihe „Poésie“ bei Gallimard leicht greifbar ist, und Herausgeber der Zeitschrift Po&sie, die seit über 30 Jahren französische und internationale Dichtung versammelt. Wie kommt es, dass dieser Schriftsteller in Deutschland fast unbekannt geblieben ist, wenn man einmal von einer in Wien 2008 herausgegebenen Anthologie (mit dem etwas unglücklichen Titel Gegebend) und einem einzigen in Lettre international (2008) abgedruckten Gedicht absieht?13 Ein Autor, dessen Rang immerhin ein Paul Celan anerkannte, der nicht 11 Celan/Celan-Lestrange: Briefwechsel, Nr. 228, Anmerkungen. 12 Deguy, Michel: Gisants. Poèmes III, 1980–1995, [Paris]: Gallimard, 1999 (Collection Poésie 331), S. 122. 13 Deguy, Michel: Gegebend, aus dem Franz. übers. und mit einem Vorw. vers. von Leopold Federmair. Mit einem Text von Andrea Zanzotto, Wien, Bozen: Folioverlag, 2009 (Transfer 80). Die meisten Gedichte des Bandes stammen aus Deguy, Michel: Donnant donnant.
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zögerte, sich in der ‚Meridian‘-Rede auf seine Reflexionen über die dichterische Sprache zu beziehen. Obwohl er den französischen jüngeren Dichter nur in seinen Arbeitsnotizen beim Namen nennt, zehrt Celan von dessen Auffassung der allgemeinen Metaphorizität der poetischen Sprache, in welcher „das Fleisch eines Wortes Metapher seines Sinns“ sei und alle Komponenten (Laute, Silben usw.) dem gemeinsamen Ziel einer verdichteten, existenziell wirkenden Sprache zustreben.14 Vielleicht ist es gerade die genuine Beweglichkeit dieses Denkens ‚auf dem Sprung‘, dieser Sprache, deren Energie auf alle Bereiche der Kunst und des Lebens ausstrahlt, die seine Rezeption in Deutschland blockiert. Gerade weil dieses Werk aus dem ständigen Dialog mit der Weltpoesie lebt und deren Echos auffängt, die Übertragung im weitesten Sinn als eine seiner Hauptpflichten erachtet, doch diese zugleich als ein unerreichbares Ziel versteht, mag sie mit dem Prinzip Hoffnung gleichzusetzen sein und einen Weg ins Freie bedeuten. Es gibt für den Leser eine eigentümliche und dennoch richtige Weise, in die poetische Werkstatt Deguys vorzudringen: Sich von der Lust des Abhorchens des Vokabulars tragen zu lassen. Denn die Worte sind bei Deguy immer eingreifend. Sie heben alle Schwere auf, indem sie die der Sprache eigenen Ressourcen von Rhythmus, Musik, Bildlichkeit und Stil aktivieren. Poesie ist für Deguy ein Hebel, geeignet, das Gewicht der Welt aufzuheben, darin geistesverwandt mit Friedrich Hölderlin und dessen romantischen Zeitgenossen. Mit einem Wort seines Freundes Wulf Kirsten könnte man Deguy einen „Wort-Arbeiter“ nennen.15 Die Poesie steht für Deguy im Dienst eines veränderten Zusammenlebens von Menschen und Kulturen. Indem sie als Gabe an Generosität und Gastlichkeit appelliert, möchte sie die Welt bewohnbarer machen. Vielleicht besteht eine ihrer größten Leistungen darin, die getrennten Welten von Kunst und Philosophie miteinander zu verbinden und dauerhafte Übergänge zwischen ihnen zu etablieren. In der Freundschaft, die Deguy lange Jahre mit Jacques Derrida bis zu dessen Tod im Jahre 2004 verband, lebte etwas von dem romantischen Ideal von ‚Sym-philosophie‘ und ‚Sympoesie‘. Nicht ganz unabhängig von diesem Austausch hat es in den USA seit 1983 wiederholt Versuche gegeben, Deguys Werke zu übersetzen. Auch in Italien und in osteuropäischen Ländern, ja selbst in Japan, wo man ihm im vergangenen Jahr ein Kolloquium widmete, findet sein Werk inzwischen Resonanzen. Sprachliche und kulturelle Grenzen scheint es leicht zu überschreiten – Poèmes 1960–1980, [Paris]: Gallimard, 2006 (Collection Poésie 423). Von Federmair stammt auch die Übertragung Wär nicht das Herz/N’était le cœur, in: Lettre international 81 (Sommer 2008), S. 142. 14 Celan, Paul: ‚Mikrolithen sinds, Steinchen‘. Die Prosa aus dem Nachlaß. Kritische Ausgabe, hg. u. komm. v. Barbara Wiedemann u. Bertrand Badiou, Frankfurt/M.: Suhrkamp, 2005, S. 127. 15 Kirsten, Wulf: Ein geübter Selbstdenker und besessener Wort-Arbeiter. Eberhard Haufe zum 75. Geburtstag (2006), in ders.: Gegenbilder des Zeitgeists. Thüringische Reminiszenzen, Weimar: Wartburg, 2009 (Edition Muschelkalk der Literarischen Gesellschaft Thüringen e. V., 30), S. 55–61. „Wort-Arbeit“ ist ein geläufiger Terminus bei Kirsten. Siehe Kirsten, Wulf: Textur. Reden und Aufsätze, Zürich: Ammann, 1998, S. 36.
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nur eben nicht im deutschen Sprachbereich. Ich darf zu seiner Entdeckung auch hier aufrufen: Es handelt sich um einen Autor, der mit seinem Anspruch an die Poesie als einer alle Kompromisse und falschen Einverständnisse aufkündigenden Kraft den Hölderlin-Traditionen dichterischen Sprechens näher steht, als wir dies vermuten. Aus der Vielfalt der stilistischen Figuren, auf die Deguys Poetik setzt, soll hier die der Metapher, des Vergleichs hervorgehoben werden. Der Lyriker-Essayist holt aus dieser eine selbst Stefan Zweig, der doch dem Vergleich huldigte, unbekannte plastische Kraft. Vergleich scheint mir immer ein förderndes, ja ein gestaltendes Element, und ich liebe ihn als Methode, weil er ohne Gewaltsamkeit angewendet werden kann. Er bereichert in gleichem Maße, als die Formel verarmt, er erhöht alle Werte, indem er Erhellungen durch unerwartete Reflexe schafft und eine Tiefe des Raums wie einen Rahmen um das abgelöste Bildnis schafft.16
Deguy will nicht nur Sprache in Bewegung setzen, er arbeitet in Richtung Verfremdung.17 Das nachfolgende kurze Gedicht sagt es offen: Contenance Le projet disposerait côte à côte aux quinconces des pages ces figures entrelacées qui chiffrent les lettres restantes, et l’art de la poésie qui décontenance les poèmes.18 Fassung Das Projekt würde im Schachbrettmuster der Seiten der Reihe nach diese einander umschlingenden Figuren aufstellen, welche die verbleibenden Buchstaben beziffern, die Dichtkunst, die die Gedichte aus der Fassung bringt.19
Die Dichtkunst bringt nach Deguy die Gedichte aus der Fassung. Doch verfährt bei ihm la comparaison (der Vergleich) keineswegs ziel- oder zügellos. Dem gängigen Wort „comparaison“ gewinnt er nicht nur ein Mehr an Bedeutung, sondern eine strenge Methode ab, indem er es als Zusammensetzung aus „Compas“ (Kompass) und „Raison“ (Vernunft) deklariert. Radikaler noch als Rainer Maria Rilke, der Malte Laurids Brigge als einen Feind des Ungefähren und einen Anhänger der Genauigkeit darstellte, führt Deguy eine strenge Rationalität in die Dichtung ein. Diese beruht bei ihm auf einer technè, deren Mittel in den rhetorischen Traktaten aufgelistet sind. Deguy schreckt keineswegs davor zurück, sich als einen „rhéteur-poète“ (Rhetor-Dichter) zu bezeichnen.20 16 Zweig, Stefan: Die Baumeister der Welt: Versuch einer Typologie des Geistes, Bd. 2: Der Kampf mit dem Dämon: Hölderlin, Kleist, Nietzsche, Leipzig: Insel, 1925, S. 7 (meine Hervorhebung). 17 Ich berufe mich im Folgenden auf meinen Beitrag: Michaud, Stéphane: Lyrik als Verdichtung und Transparenz. Zur Rezeption von Yves Bonnefoy und Michel Deguy in Deutschland, in: Arcadia 46/1 (2011), S. 177–198, von dem ich einige Zitate und Analysen übernehme. 18 Deguy: Gisants, S. 63. 19 Deguy: Gegebend, S. 90. 20 Deguy: Rhétorique, in: ders.: Gisants, S. 111–115, hier S. 115.
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Stéphane Michaud Compas-Raison Comparaison de la comparaison et du levier. Dos poû stô. Sur quel point du monde hors du monde s’appuie le levier ? Le point d’appui, ou « comme », ne peut avoir lieu d’être ailleurs que dans l’entente pensive du langage poétique. Le levier ne transporte pas le monde ailleurs, en utopie réalisable, mais transporte le sujet dans sa liberté possible – de tenir à distance respectueuse (on dit : préférer, déférer, référer, différer, proférer …), se tenant à égale distance des choses qu’elle compare, les choses qui se comparent.21 Kompass/Vernunft/Vergleich Vergleich des Vergleichs mit dem Hebel. Dos poû stô. An welchem Punkt außerhalb der Welt wird der Hebel angesetzt? Der Ansatzpunkt, oder das „wie“, kann nur innerhalb der aktiven Denkkraft, die der poetischen Sprache eigen ist, seinen Platz haben. Der Hebel setzt nicht die Welt irgendwohin über, in die realisierbare Utopie, er setzt das Subjekt in seine mögliche Freiheit über – die die zu vergleichenden Objekte vorsichtig fern von sich hält (man sagt: préférer, déférer, référer, différer, proférer …), da sie die Objekte, die sie vergleicht, gleich fern von sich hält.22
Ziel der Poesie ist gleichermaßen Widerspruch und Annäherung: La poésie et rapproche, selon son savoir-faire, et refait de la différence, ou pour citer Heidegger, recreuse l’abîme entre les voisins.23 Die Dichtung bringt zugleich ihrem Können gemäß näher und schafft erneute Differenz oder, mit Heidegger zu reden, gräbt von neuem den Abgrund zwischen den Nachbarn.24
Ihre „artifices“ (Kunstgriffe) machen aus dem Lyriker einen „artificier“, einen, der mit Sprengstoffen hantiert und womöglich an Bomben bastelt. Der Leser soll mit dem Dichter eine menschliche Gesellschaft stiften helfen, die auf der Aufnahme des Anderen, des Fremden beruht. Dichter und Leser haben gemeinsam Anteil an der Gestaltung des Sinns (le sens). „La pensée poétique“, behauptet Deguy, „précieuse, endure le déchirant, comme les fous de Shakespeare, en le portant aux extrêmes: paroxysme d’oxymores“/„Das dichterische wertvolle Denken hält das Herzzerreißende aus, indem es das Zerreißende, den Narren Shakespeares gleich, bis an die äußerste Grenze treibt: Paroxysmus von Oxymora“25. Somit gehört die Literaturkritik selbst zur Literatur oder, besser gesagt, die Literatur kehrt zu ihrem formellen, poetischen Ursprung im Sinne von Aristoteles und seinen Nachfolgern, etwa Paul Valéry, zurück. Verbindungen und Knoten knüpfen, aber auch lösen, im Sinne Nietzsches, mag das große Losungswort sein. Dazu gehört aber auch Mut – Freud erinnert uns daran, als er seinem Lehrer Josef Breuer vorwirft, den Schlüssel, der zu den Müttern hätte führen können, aus den Händen fallen gelassen zu haben. In Sachen literarische Gattungen gebührt dem 21 22 23 24 25
Deguy: Gisants, S. 109. Meine Übertragung. Deguy: Donnant Donnant, Vorwort, S. 16. Meine Übersetzung. Deguy, Michel: Le Sens de la visite, Paris: Stock, 2006, S. 76 (meine Übersetzung).
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Aphorismus der Vorrang, da er die Kette der Kausalität bricht und neue Bahnen eröffnet. Rebellisch lässt er Unerwartetes, Ungehöriges zu Wort kommen, baut er an einer – mit Celan und Wulf Kirsten zu reden – „Gegensprache“26. Über die Grenzen und Gräben hinweg schlägt er Brücken. Freuds Geniestreich oder Meisterstück, so Jean-Bertrand Pontalis, liegt in seiner Fähigkeit zu binden und zu lösen. Der Begründer der Psychoanalyse, schreibt Pontalis, fera des rêves – et d’abord de ses rêves à lui – plus que du « rêver », son objet d’investigation passionnée. Il les prendra comme objets pour se déprendre de leur attrait, il les interprétera pour s’arracher à leur envoûtement.27
Vergleichen entspricht dem natürlichen Gedankengang des Wissenschaftlers. Daran erinnern zwei führende Komparatisten, Peter Brockmeier und Gerhard R. Kaiser, denen ich verpflichtet bin. Man braucht sich nicht ausdrücklich auf Winckelmann zu berufen.28 Aber nur insofern der Vergleich vom Gefühl des unique, des Unvergleichlichen zehrt, kann er der Poesie Gerechtigkeit widerfahren lassen, über sie ein ausgewogenes Urteil (une juste pesée) fällen. 2. EIN ‚BESCHWINGTER‘ VERGLEICH Was wären nun „des comparaisons sans vibration“, darf ich zusammenfassend in Anlehnung an Bonnefoy fragen?29 Aus dem ratlosen Zustand heraus rettet uns Bonnefoy selbst, wenn er bei seinem geschätzten Dichter-Freund Louis-René des Forêts, dem Verfasser des Romans Le Bavard/Der Geschwätzige30, die jähe Wende positiv hervorhebt, die „un fait extraordinaire“ in der seelischen Verfassung des Ich-Erzählers und im Erzählduktus verursacht: Der Titelheld, der Geschwätzige, nimmt in der tiefsten seelischen Krise den Klang eines wunderbaren Chorgesangs wahr. Das ergreifende Erlebnis einer wie aus der Kindheit herüberklingenden Musik führt zu einem neuen Duktus der Erzählung. Blieb bislang der Grundton der Ich-Erzählung absichtlich flach und entsprach so mit seinen „expressions stéréotypées“ und seinen „comparaisons sans vibrations“/„Vergleichen ohne Schwingung“ der Erfahrung einer verzweifelten, sinnlosen Welt, einer „parole éclatée“/einem „aus jeglichem Zusammenhang gerissenen Wort“, so dringt 26 Kirsten, Wulf: Brückengang, Zürich: Ammann, 2009, S. 52, 65, 105, 119. 27 Pontalis, Jean-Bertrand: La Force d’attraction, Paris: Seuil, 1990 (La Librairie du XXe siècle), S. 26. 28 Siehe etwa folgende Aussage von Winckelmann: „Da alle Kenntnisse auf Vergleichsbegriffen beruhen, vollkommene Schönheit aber unvergleichlich sei, bleibe der Begriff einer allgemeinen vollkommenen Schönheit notwendig unbestimmt“ (zitiert nach Geimer, Peter: Winckelmann, Johann Joachim, in: Nida-Rümelin, Julian/Betzler, Monika (Hg.): Ästhetik und Kunstphilosophie von der Antike bis zur Gegenwart, Stuttgart: Kröner, 1998, S. 815–821, hier S. 817). 29 Bonnefoy, Yves: Une écriture de notre temps, in: La Vérité de parole et autres essais, [Paris]: Gallimard, 1995, S. 123–279, hier S. 152. 30 Forêts, Louis-René des: Le Bavard, [Paris]: Gallimard, 1946. Meine Übersetzung.
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auf einmal die Musik „claire comme une nuit de gel, rafraîchissante comme une bolée d’eau de source“/„klar wie eine Frostnacht, erfrischend wie ein Becher Quellwassers“ dem Erzähler in die Seele. „Elle suggère l’idée d’un monde harmonieux“/„Sie bringt die Idee einer harmonischen Welt nahe“, fährt des Forêts fort. Bonnefoy akzentuiert also feinfühlig die radikale Stilwende. Die Sprache, so kommentiert er die Passage mit des Forêts eigenen Worten, wird „incantation pure, secrète, en marge du monde lourd et fade que nous portons en nous“31. Beinahe möchte man behaupten, dass mit der wieder errungenen Kraft des Vergleichs die Welt zu ihrer ursprünglichen Integrität zurückfindet. Aus den angeführten Beispielen von Saint-John Perse, Deguy, des Forêts und Bonnefoy gehen Energie, Beweglichkeit und Tiefe hervor, die eine an Lyrik orientierte Komparatistik der Dichtung abzugewinnen vermag. Präzisiere ich, welche Entwicklung das Wort ‚Kulturtransfer‘ mit den Jahren genommen hat, dann kann ich nicht umhin zu bemerken, dass inzwischen bei vielen Wissenschaftler/-innen, angefangen vom Erfinder des Wortes, Michel Espagne, bis hin zu manchen Beiträgern zu diesem Sammelband (Ute Heidmann und Patricia Oster z. B.), der Hauptakzent auf die Formensprache, also auf das Eigentlichste der Dichtkunst und Kreativität (die Stilfeinheiten usw.) – auf all das, was keineswegs ‚überführt‘ werden kann, gelegt wurde. Hauptanliegen der Literaturwissenschaft bleibt es, sofern das überhaupt geht, unmittelbar in die Werkstatt der Dichter zu treten. Kunst darf in dieser Hinsicht oft genug (mit Celan, Kirsten oder Deguy zu reden) als „Gegensprache“ gelten. Sie bedeutet einen Aufruhr gegen das Ambiente, die prosaische Umwelt, die es zu bekämpfen gilt, selbst wenn die Kunst vom Dialog mit dem Früheren, den tradierten Formen zehrt. Wenn der Hauptakzent auf der Kreativität der Dichter und Künstler liegt, wo bleibt der Unterschied zwischen Vergleich und Transfer? Ersterer hat zur Freude des Literaturwissenschaftlers die Oberhand gewonnen.32 LITERATURVERZEICHNIS Bonnefoy, Yves: Une écriture de notre temps, in: La Vérité de parole et autres essais, [Paris]: Gallimard, 1995, S. 123–279. Celan, Paul/Celan-Lestrange, Gisèle: Briefwechsel. Mit einer Auswahl von Briefen Paul Celans an seinen Sohn Eric, aus dem Französischen v. Eugen Helmlé, hg. u. komm. v. Bertrand Badiou in Verbindung m. Eric Celan, Anm. übers. u. für die dt. Ausgabe eingerichtet v. Barbara Wiedemann, Frankfurt/M.: Suhrkamp, 2001, 2 Bde. Celan, Paul: ‚Mikrolithen sinds, Steinchen‘. Die Prosa aus dem Nachlaß. Kritische Ausgabe, hg. u. komm. v. Barbara Wiedemann u. Bertrand Badiou, Frankfurt/M.: Suhrkamp, 2005. Cheng, Anne: La Chine pense-t-elle?, [Paris]: Collège de France, Fayard, 2009 (Leçons inaugurales du Collège de France 201). Deguy, Michel: Gisants. Poèmes III, 1980–1995, [Paris]: Gallimard, 1999 (Collection Poésie 331). 31 Bonnefoy: Une écriture de notre temps, S. 152. Bonnefoy zitiert wörtlich aus Forêts: Le Bavard [1946], [Paris]: Gallimard, 1978 (L’Imaginaire 32), S. 121. 32 Gerhard Sauder (Saarbrücken) bin ich für das sprachliche Durchgehen des Beitrags zu Dank verpflichtet.
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Deguy: Rhétorique, in: ders.: Gisants, S. 111–115. Deguy, Michel: Donnant donnant. Poèmes 1960–1980, [Paris]: Gallimard, 2006 (Collection Poésie 423). Deguy, Michel: Le Sens de la visite, Paris: Stock, 2006. Deguy, Michel: Wär nicht das Herz/N’était le cœur, in: Lettre international 81 (Sommer 2008), S. 142. Deguy, Michel: Gegebend, aus dem Franz. übers. und mit einem Vorw. vers. von Leopold Federmair. Mit einem Text von Andrea Zanzotto, Wien, Bozen: Folioverlag, 2009 (Transfer 80). Deguy, Michel: Comme si comme ça. Poèmes, 1980–2007, [Paris]: Gallimard, 2012 (Collection Poésie 478). Flaubert, Gustave: Correspondance, hg. von Jean Bruneau, Paris: Gallimard, 5 Bde, 1973–2007 (Bibliothèque de la Pléiade), Bd. 2: Juillet 1851–décembre 1858, 1980. Forêts, Louis-René des: Le Bavard, [Paris]: Gallimard, 1946. Freud, Sigmund: Briefe an Wilhelm Fließ, 1887–1904, hg. v. Jeffrey Moussaief Masson, dt. Fassung von Michael Schröter, Transkription von Gerhard Fichtner, Frankfurt/M.: Fischer, 1986. Freud, Sigmund: Gesammelte Werke, chronologisch geordnet, Frankfurt/M.: Fischer, 1999, 18 Bde. + 1 Nachtragsband. Geimer, Peter: Winckelmann, Johann Joachim, in: Nida-Rümelin, Julian/Betzler, Monika (Hg.): Ästhetik und Kunstphilosophie von der Antike bis zur Gegenwart, Stuttgart: Kröner, 1998, S. 815–821. Kirsten, Wulf: Textur. Reden und Aufsätze, Zürich: Ammann, 1998. Kirsten, Wulf: Brückengang, Zürich: Ammann, 2009. Kirsten, Wulf: Ein geübter Selbstdenker und besessener Wort-Arbeiter. Eberhard Haufe zum 75. Geburtstag (2006), in ders.: Gegenbilder des Zeitgeists. Thüringische Reminiszenzen, Weimar: Wartburg, 2009 (Edition Muschelkalk der Literarischen Gesellschaft Thüringen e. V., 30), S. 55–61. Lévi-Strauss, Claude: Tristes Tropiques, Paris: Plon, 2009. Lévi-Strauss, Claude: L’Autre face de la lune. Ecrits sur le Japon, Paris: Seuil, 2011 (La Librairie du XXIe siècle). Michaud, Henriette: Les Revenants de la mémoire. Freud et Shakespeare, Paris: PUF, 2011. Michaud, Stéphane: Deguy comme un Orient, in: Schmitz-Emans, Monika/Schmitt, Claudia/Winterhalter, Christian (Hg.): Komparatistik als Humanwissenschaft. Festschrift zum 65. Geburtstag von Manfred Schmeling, Würzburg: Königshausen & Neumann, 2008, S. 315–323. Michaud, Stéphane: Lyrik als Verdichtung und Transparenz. Zur Rezeption von Yves Bonnefoy und Michel Deguy in Deutschland, in: Arcadia 46/1 (2011), S. 177–198. Pontalis, Jean-Bertrand: La Force d’attraction, Paris: Seuil, 1990 (La Librairie du XXe siècle). Saint-John Perse: Œuvres complètes, Paris: Gallimard, 1972 (Bibliothèque de la Pléiade). Zweig, Stefan: Die Baumeister der Welt: Versuch einer Typologie des Geistes, Bd. 2: Der Kampf mit dem Dämon: Hölderlin, Kleist, Nietzsche, Leipzig: Insel, 1925.
V. (TEXT-)ENTGRENZUNGEN Intertextualität und Intermedialität
DAS ANDERE SCHREIBEN DER LITERATUR Begegnung und Interferenzen der Bilder als Beitrag zur Darstellung und Erkenntnis des kulturell Differenten Monika Schmitz-Emans Lange Zeit spielte die nicht-westliche Kunst in der westlichen Kunstgeschichte eine eher marginale Rolle. Methodisch reflektierte Vertreter des Fachs bedauerten dies, hoben aber zugleich die Schwierigkeiten hervor, die sich einem angemessenen Beschreiben fremdkultureller Kunst entgegenstellten, insofern deren Bildprogramme ja einem Denk-, Imaginations- und Glaubenshorizont verpflichtet waren, der sich dem westlichen Betrachter nicht selbstverständlich erschließt.1 Der Kulturvergleich als Vergleich von Sehweisen und Darstellungsformaten hat in der gegenwärtigen Kunstwissenschaft an Bedeutung gewonnen, wie exemplarisch Hans Beltings Studie Florenz und Bagdad zeigt, welche die Bildprogramme der christlich-abendländischen und der islamischen Kunst in ihren jeweiligen Wechselwirkungen erörtert. Beltings transkulturell-vergleichende Perspektive ist maßgeblich mitbedingt durch die generelle Aufwertung der für kulturelle ‚Welten‘ konstitutiven Funktion von Bildern, Bildprogrammen und Sehprozessen. Und sie führt in der Auseinandersetzung mit konkreten Gegenständen zur Revision verfestigter Meinungen und Selbstauslegungen. So wird deutlich, dass die Zentralperspektive als Darstellungsdispositiv keine genuin westliche Erfindung ist – eine auch für kultur- und literaturwissenschaftliche Untersuchungen wichtige Einsicht. Für die mit der Renaissance vollzogene Wende in der Geschichte des Sehens sind Beltings Analyse zufolge mittelalterlich-arabische Einflüsse maßgeblich gewesen: Ibn al-Haitham (Alhazen, 965–1049) entwickelte eine mathematische Theorie des Sehens, die vor allem dadurch wegweisend für die Renaissance wurde, dass sie die Auseinandersetzung mit dem ‚Was‘ (dem Gegenstand) des Sehens mit der Frage nach dem ‚Wie‘ des Sehens verband. Bildhafte Umsetzung erfuhr diese Akzentuierung der Modalität des Sehens durch die Zentralperspektive, in der das ‚Was‘ und das ‚Wie‘ in ihrer wechselseitigen Bedingtheit sinnfällig werden. Das Blickfeld ist in der zentralperspektivischen Darstellung auf den jeweils spezifischen Betrachter ausgerichtet. Die durch Alhazens mathematisch-optische Studien stimulierte Neumodellierung des Blicks als perspektivisch und subjektbezogen vollzog sich in engem Zusammenhang mit einer (im Folgenden als neuzeitspezifisch gedeuteten) Re-Konzeptualisierung des Subjekts. Das neuzeitliche Subjekt 1
Vgl. dazu Sourdel-Thomine, Janine: Vorwort, in: dies./Spuler, Bertold (Hg.): Propyläen Kunstgeschichte, Bd. 4: Die Kunst des Islam, Berlin: Propyläen, 1990, S. 11–15, hier S. 12.
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ist vor allem ein blickendes Subjekt;2 von seinem Standpunkt her ‚überblickt‘ und beherrscht es die Dinge; die Welt ist auf diesen Subjekt-Standpunkt hin organisiert, assimiliert sich seinem Ordnungsvermögen. Nicht nur für die Geschichte der Kunst war diese ‚westliche‘ Subjektkonzeption im Folgenden prägend. Diskursund ideologiekritische Auslegungen betonen zudem ihre Bedeutung als Dispositiv der Weltbemächtigung und der auch praktisch ausgeübten Macht – und damit ihre indirekten politischen Folgen. Als Konzept der physikalischen Optik und als Format wissenschaftlicher Darstellung verliert die Perspektivik ihre Bedeutung zwar schon mit der Wende zur modernen Wissenschaft. Aber sie erlebt im Zeitalter der Fotografie als Organisationsprinzip von Bildern eine neue Karriere – was dann wiederum zur Konsolidierung ‚zentralistischer‘ Interpretationsweisen innerhalb der kulturellen und politischen Welt führt und so u. a. dem Kolonialismus Zuträgerdienste leistet.3 Beltings Befunde und Thesen illustrieren beispielhaft die Ausweitung kunsthistorischer Forschung im engeren Sinn zu einer wissensgeschichtlich fundierten bzw. als Wissensgeschichte konfigurierten Bildwissenschaft. Sie verdeutlichen auch, dass die Differenzierung zwischen ‚westlichen‘ und ‚islamischen‘ Bildprogrammen, so wichtig sie für die Wahrnehmung kulturspezifischer Unterschiede ist, aus diachroner Sicht der Relativierung bedarf – zu relativieren sind dabei nicht nur die jeweils eingebürgerten ‚Differenz‘-Befunde, sondern die Differenzierung ‚West‘-‚Ost‘ als solche. Die Tendenz, auf reflektierte Weise im Spannungsfeld zwischen Differenzierungen und Entdifferenzierungen zu operieren, bestätigt sich anlässlich von rezenten Auseinandersetzungen mit hybriden Kunststilen sowie den mit diesen verbundenen Selbst- und Fremdbildern. Diese werden nicht nur zum Ausgangspunkt, verfestigte Auffassungen über ‚westliche‘ und ‚nichtwestliche‘ Darstellungen kritisch zu modifizieren, sie werden im Zusammenhang damit auch zur kritischen Revision (sich als ideologiekritisch verstehender, selbst aber ideologischer) Konzeptionen wie der des ‚Orientalismus‘ genutzt. Dies gilt für eine Ausstellung mit dem Titel „Das fremde Abendland? Orient begegnet Okzident von 1800 bis heute“, die 2010 in Karlsruhe gezeigt wurde; der begleitende Katalog enthält thematisch einschlägige wissenschaftliche Beiträge.4 Die Ausstellungskuratoren und Katalogherausgeber verwenden in Anspielung auf Edward Saids Konzept des ‚Orientalismus‘ den Begriff des ‚Okzidentalismus‘, um – komplementär zu den von Said erörterten Bildern, die sich der ‚Westen‘ vom ‚Osten‘ macht – Bilder, Bildprogramme und Bildmedien vorzustellen, in denen sich die Wahrnehmung des ‚Westens‘ durch den ‚Osten‘ zeigt. Solcher Okzidentalismus besteht – worauf hier Bezug genommen wird – schon seit langem, seit dem 19. Jahrhunderts auch in latent anti-westlichen Spielarten. In mindestens zweierlei Hinsicht verbindet 2 3 4
Vgl. etwa Belting, Hans: Florenz und Bagdad. Eine westöstliche Geschichte des Blicks, München: Beck, 2008, S. 12. Vgl. Belting: Florenz und Bagdad, S. 23–25. Mostafawy, Schoole/Siebenmorgen, Harald (Hg.): Das fremde Abendland? Orient begegnet Okzident von 1800 bis heute [aus Anlaß der Sonderausstellung „Das Fremde Abendland? Orient begegnet Okzident von 1800 bis heute“ im Museum beim Markt, Karlsruhe (14.8.2010–9.1.2011)], Stuttgart: Belser, 2010.
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sich mit dem Stichwort ‚Okzidentalismus‘ eine kritische Distanzierung von Saids Ansatz: Erstens sollen sowohl ‚okzidentalistische‘ als auch ‚orientalistische‘ Phänomene nicht einseitig, ja nicht einmal primär negativ akzentuiert werden – nicht nur und nicht vorrangig als Produkte der Bemächtigung und Kolonialisierung, sondern komplementär dazu als Objekte der Faszination und der Anteilnahme. Zweitens – und grundlegender – wird mit der Betonung des Hybridkulturellen an Selbst- und Fremd-Bildern schon mit der den älteren ‚Orientalismus‘-Diskurs prägenden Differenzierung zwischen zwei fundamental unterschiedlich verstandenen Relaten gebrochen. Wenn die bildgestaltende Bezugnahme auf die jeweils ‚andere‘ Kultur unter anderem dazu dient, sich mit sich selbst auseinanderzusetzen, wenn das Eigene und das Andere stets im Verbund bebildert und verhandelt werden, dann ist das Andere ja kein völlig Fremdes, sondern etwas, das bei der Darstellung des Eigenen hilft. Anders gesagt: das Eigene ist kein gänzlich ‚Eigenes‘, sondern etwas, das nicht zuletzt durch die Vermittlung von Bildern des Anderen Gestalt angenommen hat. (So nehmen in Bildern des exotischen Orients ja Wunschträume der sie produzierenden Kultur Gestalt an, und dies geschieht in der Kunst durchaus bewusst.) Der ‚Westen‘ und der ‚Orient‘ stehen einander nicht durchgängig als kolonisierende und kolonisierte Welten gegenüber, sondern als zwei Räume, aus denen heraus jeweils auf den anderen geblickt wird, sodass das Blickfeld einen Zwischen- und Übergangsraum abdeckt. Prozesse der wechselseitigen Wahrnehmung und Darstellung im Medium der Bilder sind – was man in mehr als einer Hinsicht anlässlich des Konzepts und der Geschichte der Perspektive begründen könnte – nicht angemessen beschreibbar, wenn dabei zwischen Subjekt- und Objektsphäre kategorial geschieden wird. Das Konstrukt eines Okzidents, der den Orient zum Objekt macht, erscheint insofern reduktiv. 1. LITERARISCHE BEITRÄGE ZUR BILD-KULTUR-THEMATIK I: NEUE AUFGABEN FÜR DEN MALERROMAN Die reflexive Auseinandersetzung mit Bildern lenkt fast automatisch den Blick auf diejenigen, die Bilder machen. Und so erschließen sich für den traditionsreichen Malerroman neue Gegenstandsfelder und thematische Herausforderungen, einerseits vor dem Hintergrund kulturvergleichender, bildwissenschaftlicher und kunsthistorischer Auseinandersetzung mit Bildtypen, Bildprogrammen und Bilderzeugungsverfahren in ihrer jeweiligen Kulturspezifik, aber auch unter dem Aspekt des mittels ihrer möglichen (und historisch vollzogenen) Kulturtransfers. Die Geschichte zentralperspektivischer Darstellung, die als Geschichte des Blicks und damit des die Welt betrachtenden Subjekts (nach-)erzählt werden kann, erweist sich hier als ergiebiger Stoff. Ein erstes Beispiel dafür bietet Tilman Spenglers Malerroman Der Maler von Peking5, in dem die zentralperspektivisch organisierte Malerei als ein nicht nur ästhetisch folgenreicher Kulturexport aus dem barocken Europa nach China the5
Spengler, Tilman: Der Maler von Peking. Roman, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt, 1993.
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matisiert wird. Er lässt seine Geschichte im Zeitalter der Jesuitenmission spielen und verbindet mit der Darstellung kultureller Differenzen und differenter Kunststile grundsätzliche Reflexionen zum Thema möglichen Fremdverstehens und Kulturtransfers. Ein italienisch-portugiesischer Maler – nach China entsandt, um dort den kaiserlichen Hof mit zentralperspektivischer Bildgestaltung vertraut zu machen – setzt sich mit den differenten Bildprogrammen beider Kulturkreise auseinander. Die interkulturellen Kontakte geben verschiedenen Figuren Anlass zur Auseinandersetzung mit fremdkulturellen Stilen und deren sozialen und politischen Implikationen. Die Geschichte ist erfunden, bezieht sich aber auf tatsächliche historische und kunsthistorische Gegebenheiten. Die Chinesen des frühen 17. Jahrhunderts, die vor allem durch jesuitische Kulturvermittlungsbemühungen an westliche Kunst und Bildprogramme herangeführt wurden, waren von den europäischen zentralperspektivischen Darstellungen, die sie dabei kennenlernten, zeitgenössischen Berichten zufolge offenbar irritiert. Hans Belting berichtet von der Einrichtung einer Bibliothek in Peking 1601, in der die Jesuiten auch Werke zur Perspektive präsentierten.6 Die Chinesen ließen sich insgesamt von der Zentralperspektive aber wohl wenig beeindrucken.7 Der Sinologe Spengler erzählt nicht nur von der Reserve des chinesischen Kaisers gegenüber der westlichen Kunst, sondern er verdeutlicht die kulturkolonialistischen Hoffnungen, die die Jesuiten mit ihrem Bildungsprogramm verbanden. Nicht nur darum ist der Roman auch eine Auseinandersetzung mit abendländischer Mentalität; er thematisiert innereuropäische Konflikte zwischen einem theozentrischen und einem anthropozentrischen Weltbild, wie sie sich an miteinander konfligierende Auslegungen der Zentralperspektive knüpften. Evident erscheint die Korrespondenz zwischen europäischem Blick auf die Welt und zentralistischen Bildkonzepten, aber unter den Europäern selbst besteht ein Dissens darüber, ob die zentralperspektivisch wiedergegebene Sicht nun die des christlichen Gottes oder vielmehr die des Menschen sinnfällig macht. Ein jesuitischer Prior vertritt explizit die These, zentralperspektivische Kunst veranschauliche die Zentriertheit der Welt auf Gott, von dem aus alles Seiende her zu denken und zu deuten wäre. Den Polyzentrismus der chinesischen Bilder kritisiert er kontrastiv als Ausdruck eines inferioren Polytheismus und verspricht sich von einer Verwestlichung des Blicks eine ästhetische Erziehung der Chinesen zur einen und ungeteilten Wahrheit. Ob er an das glaubt, was er sagt, oder nur eine europäische Kolonisierungsstrategie beschönigt, bleibt allerdings offen.8 Spengler konfrontiert westlichen und chinesischen Seh- und Denkstil aber nicht nur, er verweist auch auf Formen der Hybridisierung der differenten Stile. Eine Schlüsselrolle im Roman spielen dabei die Bilder eines anderen westlichen Künstlers, der zum Unbehagen der Traditionalisten den ästhetischen Geschmack des kunstsinnigen Kaisers sowie anderer chinesischer Kunstkenner beeinflusst hat, indem er chinesische Sujets auf eine europäisch geschulte Weise darstellte: 6 7 8
Vgl. Belting: Florenz und Bagdad, S. 54. Vgl. Berger, Willy Richard: China-Bild und China-Mode im Europa der Aufklärung, Köln, Wien: Böhlau, 1990 (Literatur und Leben N. F., 41), S. 6. Vgl. Spengler: Der Maler von Peking, S. 45.
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Auf seinen Gemälden sind die Schatten der Dinge sehr deutlich dargestellt, und die Bilder wirken darum ausnehmend plastisch. Als Dokument westlicher Infiltration wird etwa das harmlos wirkende Bild eines Entenpärchens zum kultur- und machtpolitischen Sprengstoff. Auch in Orhan Pamuks Malerroman Rot ist mein Name wird die zentralperspektivische Malerei als ein Import aus der westlichen Malerei Venedigs ins osmanische Istanbul dargestellt.9 Und wiederum verknüpft sich damit die Reflexion über eine auf das menschliche Subjekt zentrierte Perspektive der Weltwahrnehmung; die Zentralperspektive erscheint als Individual-Perspektive, als künstlerischer Ausdruck programmatischer Selbstermächtigung des Individuums gegenüber den Dingen. Die Geschichte spielt gegen Ende des 16. Jahrhunderts im Osmanischen Reich – im Umfeld einer Gruppe von Malern und Kunstkennern, die teils mit westlichen Gemälden vertraut sind, vor allem mit venezianischen Porträts. Beltings Florenz und Bagdad beleuchtet die kultur- und kunsthistorischen Hintergründe, auf die Pamuk Bezug nimmt: einen historischen Bilderstreit im Osmanischen Reich. Sultan Mehmet II., der Konstantinopel 1453 erobert hatte, hatte seinen Hof für die Kunst des Westens öffnen wollen. Doch nach seinem Tod 1481 hatte sein orthodoxer Sohn einen rückläufigen Kurs befohlen. Die historischen Auseinandersetzungen um künstlerische Praktiken verdeutlichen das schon damals ausgeprägte Bewusstsein für die ideologisch-weltanschaulichen Implikationen von Malstilen und Sehverfahren, für die kulturspezifischen Bedingungszusammenhänge zwischen Kunst-Stilen und Welt-Bildern – und stehen ganz konkret natürlich in Bezug zu politischen Auseinandersetzungen im Kontext der Türkenkriege. In Pamuks Roman wird die westliche Malerei als umstrittener potenzieller Kulturimport zum Stein des Anstoßes, ja zum Anlass eines Mordes. Die individualisierende Darstellung des Einzelnen im Porträt erscheint als eine ästhetische Legimitation des Besonderen, die der Einschätzung religiöser Traditionalisten zufolge die Fundamente islamischen Glaubens unterläuft. Das auf Naturtreue abzielende Bild des Menschen erscheint auch theologisch verdächtig, stimuliert es doch dazu, dem Porträtierten in die Augen zu schauen, mit ihm Blicke zu wechseln. Ein totes Artefakt wird so in den Rang eines lebendigen Geschöpfs erhoben.10 Zu den wichtigsten Eigenarten der naturalistisch-plastisch wirkenden westlichen Malerei gehört die auch bei Spengler schon thematisierte Verwendung von Schatten. Aus osmanischer Sicht ist die Darstellung des wesenlosen Schattens (und die Verwendung schattierender Farbabstufungen) überflüssig, weil sie etwas Nichtigem gilt, und letztlich ein Sakrileg.11 Während einzelne osmanische Maler sich von der neuartigen Darstellungsweise sehr angezogen fühlen und sie zu adaptieren versuchen, betrachtet eine konservative Gruppe dies als Verrat. Das illusionistische Porträt erscheint den verstörten Anhängern der osmanischen Traditionen als die Kunstgattung, mit welcher der Westen den Islam zu kolonialisie9
Pamuk, Orhan: Rot ist mein Name, dt. von Ingrid Iren, München, Wien: Hanser, 2001. (Orig.: Benim adım kırmızı, İstanbul: İletişim, 1998.) 10 Vgl. Belting: Florenz und Bagdad, S. 68. 11 Vgl. Pamuk: Rot ist mein Name, S. 253.
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ren und zu überwinden versucht. Die ungläubigen ,fränkischen‘ Maler stehen aber insbesondere für eine mit dem osmanischen Glauben nicht zu vereinbarende Weltauffassung, die den Menschen ins Zentrum der Dinge rücken lässt. Und doch ist es gerade die Sehnsucht nach dem Porträt bzw. nach dem Selbstporträt, die mehrere der osmanischen Maler umtreibt. Wie das Genre der Porträtmalerei, so steht auch das Dispositiv der Zentralperspektive im Zentrum der Interessen der teils an westlichen Kulturimporten interessierten, sie teils rigoros ablehnenden osmanischen Welt. Wie es heißt, ist die genuin osmanische Malerei dadurch charakterisiert, dass sie mit Allah die Welt von oben sieht, während die westlichen Künstler und ihre osmanischen Nachahmer in der osmanischen Welt alles von einem individuellen Beobachterstandpunkt aus darstellen: „Sie malen, was sie sehen, wir aber, was wir anschauen.“12 Innerhalb der westlich orientierten Kunst wird beispielsweise eine Moschee deshalb, weil sie vom (menschlichen) Betrachterstandpunkt entfernt ist, insektenhaft klein gemalt – was sie aber doch gar nicht ist! Die Wahrheit ist den osmanischen Traditionalisten zufolge nicht auf Seiten des empirischen Blicks, sondern auf der des Wissens – eines Wissens, das in Allah verbürgt ist. Darum sollte ein Maler von oben auf die Dinge sehen, statt sie standortbezogen zu vergrößern und zu verkleinern. Verzichtet die Malerei auf die Perspektive ‚von oben‘, dann begibt sie sich aus Sicht der Traditionalisten auf das Niveau von Straßenhunden. Vor diesem Hintergrund des bei Pamuk rekonstruierten Konflikts zwischen osmanischen Traditionalisten und westlichen Einflüssen erscheint der von Belting herausgearbeitete Beitrag mittelalterlich-arabischer Optik zur Entwicklung der dann als ‚westlich-neuzeitlich‘ interpretierten Zentralperspektive besonders bemerkenswert. Pamuks Roman spielt Jahrhunderte später; den Repräsentanten der islamischen Welt ist gar nicht bewusst, auf welche Impulse die Renaissancemalerei Italiens zurückgegriffen hat. Einerseits kommt es in Pamuks Malerroman zu einer Gegenüberstellung differenter kultureller Grundannahmen, wie sie sich in differenten Malstilen artikulieren: Die westliche Kunst tendiert in der Akzentuierung des Romans demnach dazu, auf letztlich relativistische Weise den Blick des einzelnen Menschen auf die Dinge zu inszenieren, während für die islamischen Maler der Blick Allahs als Referenzhorizont erscheint. In der Gegenüberstellung der entsprechenden religiöskulturellen Basisannahmen und Malstile erweisen diese sich andererseits aber ja selbst als ‚perspektivisch‘, was insgesamt die Balance zugunsten der (Kultur-) Perspektivisten verschiebt; einen absolut gültigen Standpunkt gibt es gegenüber der Diversität kultureller und historischer Phänomene nicht. Zudem ist der Roman auf eine Weise erzählt, die verschiedenen Erzählerinstanzen ganz ostentativ jeweils eine perspektivische Darstellung in den Mund legt: Eine Gruppe handlungsrelevanter Figuren erzählt die Ereignisse, die sich um den Mord an einem Maler ranken, aus jeweils eigenem persönlichem Blickwinkel.13 Verglichen mit Speng12 Pamuk: Rot ist mein Name, S. 230. 13 Die Figur, die zu Romanbeginn einen Maler ermordet, spricht dabei sogar mit zwei verschiedenen Stimmen, als Mörder und als Malerkollege – sodass erst zuletzt die Identität beider enthüllt wird. Dies deutet darauf hin, dass selbst der Einzelne mehrere Sehweisen haben kann.
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lers Roman ist der Pamuks raffinierter konstruiert, thematisch aber ähnlich situiert: Es geht um den Zusammenhang zwischen Sehweisen und Bildstilen, um die Abhängigkeit aller Bilder und der ‚Welt-Ansichten‘ von kulturell differenten, historischen und insofern kontingenten Perspektiven. Dem Problem der Beschreibungssprache für different-kulturelle Gegenstände und Anschauungen wird hier wie dort durch eine dezidiert subjektiv-standortabhängige Sichtweise der beteiligten Figuren Rechnung getragen: Kulturell differente Perspektiven sowie Hybrid-Perspektiven werden auf einzelne romaninterne Figuren verteilt. Vor allem Pamuk nimmt das Prinzip der Polyphonie (das seit Michail Michajlovič Bachtin als prägend für den neuzeitlichen europäischen Roman gilt) in den Dienst der Bildkulturen-Thematik. Dem Roman stehen – wie damit gezeigt wird – im Umgang mit Kulturdifferenzen und Kulturtransfers andere Möglichkeiten zu Gebote als der kunsthistorischen Abhandlung. Er kann als polyphoner Roman die Abhängigkeit auch von Beschreibungsverfahren, von Perspektiven und Standpunkten als solche, gleichsam performativ, darstellen, kann hybridkulturelle Sehweisen in Sprechweisen zum Ausdruck bringen – er kann durch seine polyphone Struktur etwas zeigen, was sich nicht ‚sagen‘ (im Sinne von: in Begriffe auflösen) lässt. Besondere Vorteile bieten dabei Romanfiguren (inklusive Erzähler), die über Kunst, eigen-, fremd- oder hybridkulturelle Werke, sprechen. Deren Diskurse sind, anders als ‚echte‘ Kunsthistoriker, keinem Leitbild wissenschaftlicher Objektivität verpflichtet, sondern als involvierte und betroffene Figuren dürfen sie subjektiv-perspektivisch argumentieren. Um überzeugende Romanfiguren zu sein, sollten sie sogar die zeit- und kulturspezifisch beschränkten Betrachtungsweisen repräsentieren, die ihre jeweilige Sphäre charakterisieren. Dabei kann gerade die Standortabhängigkeit des Blicks auf Bilder etwas vermitteln, worauf die um Objektivierung bemühte Beschreibungssprache des Kunst- und Kulturhistorikers nicht abzielt: eine Perspektivik des Blicks auf Perspektiven. Einfach gesagt: Wo es um Perspektiven geht, ist perspektivisches Sprechen von ‚zeigender‘ Qualität. Neue Herausforderungen für den guten alten Malerroman also. Spenglers und Pamuks Beispiele zeigen, dass ein traditionsreiches literarisches Genre und eine genuin literarische Darstellungsweise (Polyphonie) im Horizont der Diskurse über Kulturdifferenzen und Hybridkulturen neue Aufgaben übernehmen. Als wichtiges malerisches Äquivalent polyphonen Schreibens erscheint eine stilistisch hybride Kunst. Ein Maler Pamuks überträgt westlich-fränkische Darstellungsweisen in die osmanische Buchmalerei und verschmilzt meisterhaft Heterogenes – ähnlich wie der Maler Lazzo bei Spengler.14 Seine Schüler erkennen die (Auch die Toten und der Tod gehören übrigens zu den Erzählerstimmen – und ein gemaltes Pferd, das, wie der Roman suggeriert, durch die kunstvolle Art seiner Darstellung ,lebendig‘ geworden ist.) 14 Vgl. Belting über das historische Vorbild dieses Malers (Nakkas Osman, der unter Orientierung an venezianischen Porträts ein Bild von Sultan Selim II geschaffen hat): „In der Miniatur des Hofmalers Osman liegt das Besondere darin, dass sie bereits in Kenntnis der Perspektive entstanden ist, aber bewusst eine Gegenstrategie verfolgt, welche ganz in der Flächenordnung aufgeht.“ (Belting: Florenz und Bagdad, S. 66) Nakkas Osman bedient sich subtiler Farbgebungen, unterstützt damit aber das ornamentale Moment, womit er sich trotz erkennbarer
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Brisanz des Unternehmens und versuchen den Meister zu töten, um sich dessen Errungenschaft anzueignen. 2. LITERARISCHE BEITRÄGE ZUR BILD-KULTUR-THEMATIK II: DAS LITERARISCHE WERK ALS MUSEUM MIT BILDERN Pamuk hat als Heranwachsender selbst gemalt und eine Malerlaufbahn erwogen. Dies und die intensive Auseinandersetzung mit dem hybridkulturell geprägten Istanbul sensibilisieren ihn für Fragen der Differenz und Strategien der Hybridisierung von Bildmedien und Bildstilen. Dies zeigt auch die Jugend-Autobiografie Istanbul15, die dem Kontext des Themas Bildwelten und Bildkulturen in mehrfacher Hinsicht verbunden ist: Erstens ist die Auseinandersetzung mit Istanbul für den Erzähler zu weiten Teilen eine Auseinandersetzung mit Istanbul-Bildern (eigenen und fremden), zweitens ist das Buch selbst bebildert. Mit Fotos und fotografischen Reproduktionen historischer Stiche ausgestattet, kann es als Museum in Buchform betrachtet werden, und als solches ist es eine Darstellung der vielschichtigen Bezüge zwischen kulturell differenten Welten und ihren Hybridisierungen, einer hybridkulturellen Stadt, einer hybridkulturellen Türkei und ihren Bildern.16 Istanbul ist u. a. eine Hommage an einen westlichen Künstler, der die Stadt mit den Mitteln westlicher Kunst, dabei aber in intensiver Auseinandersetzung mit vielfältigen Details der osmanischen Welt und mit deren Bildsprache dargestellt und insofern kulturell hybride Istanbul-Bilder geschaffen hat: an den Lithografen Anton Ignaz Melling.17 Und er betont den hohen Identifikationswert, den diese Bilder für einen Istanbuler wie ihn haben, weil sich Melling von einengenden Orientalismus-Klischees gelöst und der Stadt selbst zugewandt habe. Schoole Mostafawy nimmt unter die Katalogexponate zum Thema Okzidentalismus/Orientalismus auch Mellings Konstantinopel-Bilder auf und verweist dabei explizit auf Pamuks Istanbul-Buch als Rückspiegelung von Mellings Istanbul-Bildern durch einen Istanbuler Autor: als türkisches Bild eines westlichen Künstlers, der die türkische Welt dargestellt hat. Pamuk verfasse einen „beispiellosen Lobgesang auf einen Bezugnahme auf die westliche Kunst von deren Realismus auch wieder abhebt (vgl. Belting: Florenz und Bagdad, S. 66). 15 Pamuk, Orhan: Istanbul. Erinnerungen an eine Stadt, dt. von Gerhard Meier, München: Hanser, 2006 (Orig. İstanbul, hatıralar ve şehir, İstanbul: YKY, 2003.) 16 Vgl. dazu Peter Sloterdijk: „Das Museum ist eine Form der Xenologie.“ (Sloterdijk, Peter: Der ästhetische Imperativ. Schriften zur Kunst, hg. von Peter Weibel, Hamburg: Philo & Philo Fine Arts 2007, S. 357). 17 Melling, geboren 1763 als Deutscher mit französischen und italienischen Vorfahren, „ein wahrer Europäer“ (Pamuk: Istanbul, S. 78), war als junger Mann nach Istanbul gekommen, wo er achtzehn Jahre verbrachte. U. a. arbeitete er für die Schwester des Sultans Selim III, Hatice Sultan, bis er in Ungnade fiel. Um den Einkunftsverlust zu kompensieren, schuf er die Stiche, die in Pamuks Buch nun teilweise verkleinert reproduziert und als Ensemble gewürdigt werden.
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fremden Maler seiner Heimatstadt“.18 Es sind nicht nur Einzelmotive Mellings, es ist der Stil dieser Bilder, den Pamuk als grenzüberschreitend wahrnimmt, ein Stil, der sich in Istanbul herausgebildet hat. Die Bilder des Europäers machen dem Istanbuler Betrachter die Durchdringung von Gegenwärtigem, Vergangenem und Imaginärem bewusst: Bilder Istanbuls – das sind nicht nur Bilder dessen, was man physisch sehen, empirisch überprüfen kann, sondern auch bildhafte Vorstellungen, die sich mit dem Namen der Stadt und den vielen an sie geknüpften Geschichten verbinden. Das imaginäre Istanbul – auf seine Weise durchaus auch ein Istanbul der Istanbuler – findet auf Bildern oft zur wirkungsvollen Darstellung, gerade auf westlichen. Nur dass die westlichen Künstler die Vielschichtigkeit und Rätselhaftigkeit der Stadt noch stärker betonen, als es der türkischen Haltung entspricht. Gerade die Fotografie ist seit dem 19. Jahrhundert für ‚orientalistische‘ Bilder westlicher Provenienz wichtig geworden. Wie viele Maler haben viele Fotografen sich an der Produktion (oft erotisch konnotierter) Bild-,Orientalismen‘ beteiligt. Dies illustrieren etwa Aufnahmen des Fotografen Rudolf Franz Lehnert und des Geschäftsmanns Ernst Landtrock, die sich 1904 zusammentaten; sie vermarkteten Lehnerts Wüstenfotos, aber auch Darstellungen junger Frauen (orientalistische Pin-ups).19 Westliche Fotos vom ‚Orient‘ setzen diesen so einfallsreich wie artifiziell in Szene und nutzen dabei implizit eine diskurs- und kulturgeschichtliche Besonderheit aus: Das scheinbar so realitätsnahe Bildmedium Fotografie hat eben wegen seiner suggerierten Realitätsnähe (Naturtreue) von jeher zur Konstruktion kultureller Identitäten nachhaltig beigetragen. (Inszenierungen ‚typisch‘ türkischer Identität auf frühen Fotos sind dabei wohl stark durch das geprägt, was der westliche Blick als ‚typisch türkisch‘ zu betrachten pflegte.20) Gerade westlich-fotografische ‚Orient‘-Bildbestände sind zudem von orientalischen Betrachtern gelegentlich als Medien des Selbstentwurfs funktionalisiert worden. Boten die ‚orientalistischen‘ Bilder doch suggestive Projektionsflächen für die diskursive Erfindung eines ‚charakteristischen‘ Orients. Aber nicht nur die fotografische ‚Bestätigung‘ des vom Westen abstechenden ‚Orients‘ spielte in einschlägigen foto-gestützten Identitätsentwürfen eine Rolle, sondern auch (und mindestens ebenso nachhaltig) die Dokumentation der ‚Modernisierung‘ als einer ‚Verwestlichung‘. Sie steht in der Türkei vor allem im Kontext der diskursiven Konstruktion nationaler Identität, wie sie im 20. Jahrhundert gravierende kulturelle, politische und lebenspraktische Neuerungen mit sich bringt. Pamuks Istanbul-Buch handelt nicht zuletzt von dieser kulturellen Selbsterfindung der Türkei, von der Bedeutung, die für die Vertreter der jüngeren Generationen dabei die Orientierung am Westen besaß, von der Rolle, die ‚westlich‘ aussehende Fotos als Orientierungshilfen und Produkte der Selbstdarstellung besaßen – und er zeigt 18 Vgl. Mostafawy, Schoole: Wenn sich im Gemüt des Istanbulers hüzün regt, in: ders./Siebenmorgen (Hg.): Das fremde Abendland, S. 40. 19 Vgl. Siebenmorgen, Harald: Orientalismus – Okzidentalismus. Interkulturelle Spannungsfelder, in: Mostafawy/ders. (Hg.): Das fremde Abendland?, S. 12–26, hier S. 13 f. 20 Vgl. Mostafawy, Schoole: Einführung, in: ders./Siebenmorgen (Hg.): Das fremde Abendland, S. 27–29, hier S. 29.
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eine ganze Reihe von Fotos eines nicht nur vorgespiegelten, sondern gelebten ‚westlichen‘ Lebens in Istanbul: Es sind Fotos aus dem eigenen Familienalbum. Zweierlei vor allem macht Pamuks Istanbul-Buch zu einem Buch über Fotos: Zum einen wird im Rekurs auf die Fotografie als ein Bilderzeugungsverfahren, das sich wegen der ihm zugeschriebenen Realitätsnähe für die Erfindung von Realitäten nutzen lässt, von der Erfindung einer ‚türkischen‘ Identität gesprochen, die in analoger Weise zwischen der Fundierung in ‚Realien‘ und Konstruktion changiert, einer Konstruktion, die per se hybrid ist, weil der Diskurs über ‚Nationen‘ ein Kulturimport ist. Zum anderen kommt für Pamuk das Hybride an Istanbul als einer Konstruktion zwischen erlebter Realität und Imaginärem besonders prägnant in der Reduktion auf die beiden Farben älterer Fotos, auf Schwarz und Weiß nebst Grautönen, zum Ausdruck. Während es von Istanbul wahrnehmungsprägende schwarzweiße Abbildungen gibt, fehlt – so Pamuk – eine Tradition der farbigen Bilddarstellung. Sein Rückblick auf die Bildtraditionen der Stadt selbst korrespondiert teilweise mit den kunsthistorischen Befunden, die dem Malerroman Rot ist mein Name zugrunde liegen, vor allem bezogen auf Mittel, die in der osmanischen Kunst nicht angewendet wurden. Und wie im Roman wird die kompensatorische Funktion von Bildern westlicher Provenienz angesichts solcher Enthaltsamkeit betont. Westliche Bildkulturimporte erscheinen damit weniger als Dokumente der Kolonialisierung denn als wichtige Bestandteile einer mit eigenen Mitteln nicht leistbaren Bebilderung der türkischen Welt. Als fotografisch bebilderter Text ist Istanbul ein Istanbul-Museum – und es stellt, wie ein ‚echtes‘ Museum Gegenwärtiges und Vergangenes in ihrer Durchdringung dar. Und wie Museen wiederum zwischen Realitätsfundierung und ‚Authentizität‘ einerseits, Konstruktion und ästhetischem Arrangement andererseits changieren (nicht nur, aber auch, insofern es um Museen über fremdkulturelle Themen geht), so ist Pamuks Buch gleichermaßen eine Hommage an ein wirkliches, historisches, erlebtes Istanbul – und an ein vor allem bildgestütztes Phantasma. Hybrides dominiert auch im Bereich der dem Roman selbst beigefügten Fotos; sie illustrieren exemplarisch das Zusammenwirken türkischer und westlicher Bildproduktionsverfahren. Die Seiten 326–329 (zwei Doppelseiten) werden jeweils fast zur Hälfte von der Wiedergabe eines Panoramas von Istanbul eingenommen. Nach Angaben des Bildnachweises21 handelt es sich um Reproduktionen eines Panoramas aus der Werkstatt des Ansichtskartenherstellers Max Fruchtermann, aus der auch diverse Ansichtskarten verwendet werden. Wie Pamuk anmerkt, hat er bei Recherchen bemerkt, dass Fruchtermann gelegentlich Fotos der Brüder Abdullah als Vorlage verwendet habe; diese betrieben im letzten Viertel des 19. Jahrhunderts ein Fotostudio in Istanbul.22 Der Text Pamuks wird also begleitet von der Reproduktion einer Bildvorlage eher westlicher Provenienz – das Panorama war damals in Mode, wie er anmerkt –, die aber ihrerseits auf Bildvorlagen türkischer Hersteller zurückgehen könnte, welche allerdings dann wohl wieder einen westlich geprägten Geschmack bedienen. Wem also sollten diese 21 Pamuk: Istanbul, S. 420. 22 Pamuk: Istanbul, S. 420.
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Bilder wohl ‚gehören‘? Als hybridkultureller Diskurs- und Bildraum ist das Buch selbst ein Modell des hybridkulturellen Raums Istanbul. Das letzte Bild im Buch – auf der Seite, wo es um den Entschluss geht, statt Maler Schriftsteller zu werden – zeigt eine nächtliche städtische Straßenszene, erhellt nur von Straßenlampen und Lichtreklamen, die auf den ersten Blick fast überall aufgenommen sein könnte. Die optisch auffälligste Leuchtreklamenschrift wirbt für „LONDRA Bar Maryete“, eine kleinere lautet „Alman“. Versuch einer Bilanz: Bilder und Bildprogramme sind für die Analyse und Modellierung von kulturell differenten Sehweisen, Welt-‚Bildern‘ und Darstellungsformen ein besonders ergiebiger Gegenstand; Analoges gilt für die Auseinandersetzung mit Prozessen des Transfers kulturspezifischer Phänomene und Weltauslegungsverfahren. Denn die Produktion von Bildern verhält sich zu all dem nicht bloß illustrierend, sie liegt ihm vielmehr zugrunde, und ihre Ausdifferenzierungen und Spielformen bilden neben sprachlichen Gegebenheiten die (im kantisch-idealistischen Sinn) transzendentale Basis, auf der Kulturen sich konfigurieren, sich voneinander abgrenzen, miteinander kommunizieren, einander beeinflussen, miteinander verschmelzen. In letzter Zeit haben sich Kultur- und Bildwissenschaft diesem Themenfeld verstärkt zugewandt und dabei kulturelle Gegensätze ebenso wie Hybridisierungstendenzen beobachtet. Die vorgestellten Texte zeigen beispielhaft, wie diese Auseinandersetzung mit Bildern auch zum literarischen Thema wird, und sie repräsentieren ein Spektrum möglicher konkreter Umgangsformen mit Bildern von Differentiellem und Hybridem bzw. mit der Differenz und Hybridität von Bildern. Zwei einander oft ergänzende Strategien sind das Sprechen über und Erzählen von Bildern auf der einen Seite, die Integration von Bildern auf der anderen. Gerade anhand von Bildern, Bildprogrammen und Bildtheorien setzen sich literarische Texte mit Fragen kultureller Identität, Ausdifferenzierung und Hybridisierung auseinander. Sie profitieren dabei teilweise erkennbar von wissenschaftlichen und theoretischen Diskursen, machen insbesondere kunst- und bildgeschichtliche Befunde für die Darstellung fruchtbar und beziehen bildkulturhistorische Tatsachen als Ausgangssubstrate literarischer Fiktionen ein. Gleichwohl verhalten sich Texte wie der Spenglers und die Pamuks nicht einfach nur illustrativ zu wissenschaftlichen und historischen Gegebenheiten. Sie tragen durch spezifisch literarische Darstellungsmittel zur Auseinandersetzung mit den fraglichen Themen bei. Polyperspektivik, Polyphonie, Entdifferenzierung zwischen Faktualem und Fiktionalem wären als solche Strategien zu nennen; ferner das Dispositiv des Genres Malerroman, das der Autobiografie und das des Reiseberichts. Beispielhaft zeigen die genannten Beispiele aber auch, wie sich in Auseinandersetzung mit kulturellen Mustern im Zeichen literarischer Metaphorisierung von Bildtypen, Bildeigenschaften und Bildprogrammen Bilderzeugungsverfahren vollziehen, welche die Welt der kulturellen Konstrukte zugleich mitbegründen und bespiegeln. Die den individuellen Blickpunkt betonende Zentralperspektive und die nivellierende Perspektive ‚von oben‘, das Porträt und die Vedute, die Erzeugung plastischer Suggestionen durch die Darstellung von Schatten, die Treue zum Bilddetail und andere malerische Dispositive und Verfahren sind mehr als nur kunsthistorisch relevante Gegenteile; sie sind Ausdruck
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und Spiegel von Mentalitäten, Weisen der Weltbetrachtung und der Welterzeugung. Als solche sind sie metaphorisch semantisierbar. Pamuk fügt den genannten Mitteln insbesondere die Schwarz-Weiß-Bildsprache hinzu. Sein Istanbul-Buch ist um das Konzept des ‚Schwarz-Weißen‘ herum organisiert, das auf die Farben der frühen Fotografie wie auf die des gedruckten Textes verweist – und exemplarisch illustriert, dass Erzähler Schöpfer von multifunktionalen Metaphern sind, die sie besonders gern aus der Welt der Bilder entlehnen. Der Foto-Diskurs ist schwerpunktmäßig ein westlicher Bilddiskurs. Nicht nur die fotografischen Bilder als solche, sondern auch ihre Semantisierung ist also ein Dispositiv, das Pamuk bewusst aus dem Westen entlehnt, um ‚Istanbul‘ zu modellieren. In ihrer Rolle als Konstituenten von kultureller ‚Identität‘ sind die Bilder unhintergehbar, und in dieser Rolle respektiert sie gerade die Literatur. Insofern ist gerade die Auseinandersetzung mit Bildern, Bildprogrammen und ihren Geschichten dazu angetan, Reinheitsdiskurse, kategorische Grenzziehungen, substantialistische Identitätsmodelle und die dementsprechenden Ideologien zu unterlaufen. Das ist die politische (weil zumindest latent ideologiekritische) Dimension des Themas ‚Begegnung und Interferenzen der Bilder‘. LITERATURVERZEICHNIS Belting, Hans: Florenz und Bagdad. Eine westöstliche Geschichte des Blicks, München: Beck, 2008. Berger, Willy Richard: China-Bild und China-Mode im Europa der Aufklärung, Köln, Wien: Böhlau, 1990 (Literatur und Leben N. F., 41). Mostafawy, Schoole/Siebenmorgen, Harald (Hg.): Das fremde Abendland? Orient begegnet Okzident von 1800 bis heute [aus Anlaß der Sonderausstellung „Das Fremde Abendland? Orient Begegnet Okzident von 1800 bis heute“ im Museum beim Markt, Karlsruhe (14.8.2010– 9.1.2011)], Stuttgart: Belser, 2010. Mostafawy, Schoole: Einführung, in: ders./Siebenmorgen (Hg.): Das fremde Abendland, S. 27–29. Mostafawy, Schoole: Wenn sich im Gemüt des Istanbulers hüzün regt, in: ders./Siebenmorgen (Hg.): Das fremde Abendland, S. 40. Pamuk, Orhan: Rot ist mein Name, dt. von Ingrid Iren, München, Wien: Hanser, 2001. (Orig.: Benim adım kırmızı, İstanbul: İletişim, 1998.) Pamuk, Orhan: Istanbul. Erinnerungen an eine Stadt, dt. von Gerhard Meier, München: Hanser, 2006 (Orig. İstanbul, hatıralar ve şehir, İstanbul: YKY, 2003.) Siebenmorgen, Harald: Orientalismus – Okzidentalismus. Interkulturelle Spannungsfelder, in: Mostafawy/ders. (Hg.): Das fremde Abendland?, S. 12–26. Sloterdijk, Peter: Der ästhetische Imperativ. Schriften zur Kunst, hg. von Peter Weibel, Hamburg: Philo & Philo Fine Arts 2007. Sourdel-Thomine, Janine: Vorwort, in: dies./Spuler, Bertold (Hg.): Propyläen Kunstgeschichte, Bd. 4: Die Kunst des Islam, Berlin: Propyläen, 1990, S. 11–15. Spengler, Tilman: Der Maler von Peking. Roman, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt, 1993.
KUNST ALS MEDIUM DES KULTURTRANSFERS Methodische Reflexionen am Beispiel von Cécile Wajsbrots Berlinromanen Patricia Oster Der Unterschied zwischen Vergleich und Transfer entspricht dem Unterschied zwischen den Denkfiguren Metapher und Metonymie. Während der Kulturvergleich zwei Kulturräume gegeneinander abgrenzt und wie die Metapher eines tertium comparationis bedarf, um Gemeinsamkeiten und Unterschiede herauszuarbeiten, lenkt die Kulturtransferforschung den Blick auf eine metonymische Relation, auf die konkrete Dynamik von Rezeption und Aneignung, auf das UmBedeuten und Zu-eigen-Machen fremdkultureller Phänomene in der Zielkultur. So heißt es bei Michel Espagne: Le terme de transfert culturel marque un souci de parler simultanément de plusieurs espaces nationaux, de leurs éléments communs […] Il signale le désir de mettre en évidence des formes de métissage souvent négligées au profit de la recherche d’identités, d’une recherche qui vise naturellement à occulter ces métissages, même lorsque les identités en résultent.1
Aber was steht zwischen Transfer und Vergleich, um den Titel dieses Bandes aufzugreifen? Ich denke, es ist das Objekt des Transfers selbst. Wie verhält sich das Transferelement im Transferprozess? Welche Veränderung hat es erfahren? Versteht man die Ausgangskultur mit Luhmann als ein System,2 so ist das Transferelement einem Teilsystem der Ausgangskultur zuzuordnen und hat seinen funktionalen Ort in diesem Sinnsystem. Durch die Isolierung aus seinem ursprünglichen Kontext wird es vielfältig verwendbar, es lädt sich gleichsam auf mit Virtualität und wird disponibel für neue Kontextualisierungen. Claude Lévi-Strauss hat die Frage des Übergangs von einem System ins andere in La Pensée sauvage am Beispiel des Mythos verfolgt und in diesem Zusammenhang den Begriff des bricolage geprägt. Für ihn ist bricolage die nicht vordefinierte Reorganisation von unmittelbar zur Verfügung stehenden Zeichen bzw. Ereignissen zu neuen Strukturen: 1
2
Espagne, Michel: Les Transferts culturels franco-allemands, Paris: PUF, 1999, S. 1. Vgl. in diesem Zusammenhang auch Espagne, Michel/Werner, Michael: Deutsch-französischer Kulturtransfer als Forschungsgegenstand. Eine Problemskizze, in: dies. (Hg.): Transferts. Les relations interculturelles dans l’espace franco-allemand (XVIIe et XIXe siècle), Paris: Editions Recherche sur les Civilisations, 1988, S. 11–34, und Lüsebrink, Hans-Jürgen: Kulturtransfer, in: ders.: Interkulturelle Kommunikation. Interaktion – Fremdwahrnehmung – Kulturtransfer, Stuttgart, Weimar: Metzler, 2005, S. 129–170. Vgl. Luhmann, Niklas: Soziale Systeme. Grundriß einer allgemeinen Theorie, Frankfurt/M.: Suhrkamp, 1984, Neuauflage 2001.
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Patricia Oster La pensée mythique dispose d’un trésor d’images accumulées par l’observation du monde naturel : animaux, plantes avec leurs habitats, leurs caractères distinctifs, leurs emplois dans une culture déterminée. Elle combine ces éléments pour construire un sens, comme le bricoleur, confronté à une tâche, utilise les matériaux pour leur donner une autre signification, si je puis dire, que celle qu’ils tenaient de leur première destination.3
Der bricoleur im Sinne von Lévi-Strauss setzt keinen radikalen Anfang, sondern er transformiert das Bestehende, indem er es auf originelle Art und Weise neu zusammensetzt. Man kann den Kulturtransfer als eine besondere Form des bricolage, der Verflechtungsgeschichten und histoires croisés verstehen.4 Wenn das kulturelle Transferelement in einen neuen Kontext eintritt, gibt es verschiedene Möglichkeiten der Aufnahme in das System der Zielkultur: Es wird als fremd und systemunverträglich ausgeschieden, es wird aufgesogen und verhält sich systemkonform, es kann aber auch durch das neue System transformiert werden oder selbst an die Spitze einer Innovationsdynamik treten, die das ganze System der Zielkultur verändert. Die Kunst als Medium des Kulturtransfers soll im Folgenden im Mittelpunkt der Reflexion stehen. Kunst ist insofern ein interessantes Transferelement, als das Kunstwerk per se auf Dauer gestellt ist und sich deshalb als Kunstobjekt selbst bewahrt, wenn es eine fremde Aneignung erfährt. Von besonderem Interesse sind dabei die Statuen im öffentlichen Raum, weil ihnen in der Ausgangskultur häufig eine konkrete politische Funktion zukommt, die sich im Transferprozess verändert, ohne dass das Kunstwerk selbst in Frage gestellt würde. Ich möchte dies einführend an einem besonders prägnanten Beispiel verfolgen, das Karlheinz Stierle im Zusammenhang mit der Begriffsgeschichte von ‚Renaissance‘ thematisiert hat,5 dem hoch komplexen deutsch-französischen Transferprozess der Quadriga auf dem Brandenburger Tor. Die von Johann Gottfried Schadow gefertigte Quadriga im frühklassizistischen Stil ist selbst bereits Resultat eines Transferprozesses, weil sie sich an dem antiken Vorbild des Streitwagens orientiert. Rémi Brague spricht in seinem Buch Europe. La Voie romaine von der ‚kulturellen Sekundarität‘, die die europäische Identität charakterisiere: Cette attitude « romaine » permet de formuler ce qui me semble constituer une particularité de la civilisation européenne. Je veux parler d’un certain rapport à la sécondarité culturelle. J’entends par ce dernier terme, en premier lieu, cette évidence banale que toute culture est seconde. Il en est ainsi au niveau de chacun de ceux qui en portent l’empreinte : même si elle est acquise dans la petite enfance, ce qui la fait paraître « toute naturelle », la culture est aquise, et jamais innée. Par ailleurs, au niveau collectif, toute culture est l’héritière de celle ou 3 4
5
Lévi-Strauss, Claude: La Pensée sauvage, Paris: Plon, 1962, S. 25. Vgl. Werner, Michael/Zimmermann, Bénédicte: Vergleich, Transfer, Verflechtung. Der Ansatz der Histoire croisée und die Herausforderung des Transnationalen, in: Geschichte und Gesellschaft 28 (2002), S. 607–636, und dies.: Penser l’histoire croisée: entre empirie et réflexivité, in dies. (Hg.): De la comparaison à l’histoire croisée, Paris: Seuil, 2004 (Le Genre humain 42), S. 15–49. Vgl. Stierle, Karlheinz: Renaissance – Die Entstehung eines Epochenbegriffs aus dem Geist des 19. Jahrhunderts, in: Herzog, Reinhart/Kosellek, Reinhart (Hg.): Epochenschwelle und Epochenbewußtsein, München: Fink, 1987 (Poetik und Hermeneutik 12), S. 453–493, hier S. 466–468.
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celles qui l’a ou l’ont précédée(s). En ce sens, toute culture est terre d’immigration. Mais il y a plus : la secondarité culturelle me semble avoir, dans le cas de l’Europe et d’elle seule, une dimension supplémentaire. L’Europe a en effet cette particularité d’être, pour ainsi dire, immigrée à elle-même. Je veux dire par là que le caractère secondaire de la culture y est non seulement présenté comme un fait, mais explicitement su et délibérément voulu.6
Das Bewusstsein einer kulturellen Sekundarität bestehe in dem Wissen, nicht ursprünglich zu sein, sondern vor sich Anderes, Früheres zu haben – kulturell die griechische Antike, religiös das Judentum. Die Kunst des Klassizisten Schadow zeichnet sich also im Sinne Bragues durch kulturelle Sekundarität aus. Er rekurriert auf die griechische Antike und stellt sein Kunstwerk zugleich in den Dienst eines preußischen Projekts. Der antike Streitwagen, der häufig bei Wagenrennen oder Triumphzügen eingesetzt und oft von der Siegesgöttin Viktoria gelenkt wurde, wird aus seinem ursprünglichen Kontext gelöst und in einen neuen architektonischen Kontext versetzt. Denn die Quadriga auf dem Brandenburger Tor ist zunächst materielles Element eines ganzen Sinnsystems, in dem sich die Macht des preußischen Königs zum Ausdruck brachte. Sie wurde in Blickrichtung der Straße Unter den Linden aufgestellt, wo nach dem Regierungsantritt Friedrichs II. ab 1741 mit dem Forum Fridericianum ein neues Wissenschaftszentrum und der künstlerische Mittelpunkt des preußischen Königreiches entstehen sollten. Bei Schadow lenkt keine Siegesgöttin den Wagen, sondern er wollte die griechische Nike in einer Person mit Eirene als Friedensgöttin darstellen. Nach dem Einzug Napoleons in Berlin fiel die Berliner Quadriga jedoch einem Kulturtransfer der besonderen Art zum Opfer, sie wurde 1806 demontiert und als Beutegut nach Paris transportiert. Jetzt verändert sich ihre Funktion grundlegend, sie ist Zeichen des Triumphs über Preußen und zugleich wird sie als ein Kunstwerk wahrgenommen, das Teil eines Kunstmuseums werden soll, mit dem Napoleon Paris zur künstlerischen Hauptstadt des Kontinents machen will. Doch bevor die Quadriga ihre neue Funktion erhält, wird Napoleon 1814 besiegt. Die Preußen bereiten sofort den triumphalen Rücktransport der Quadriga nach Berlin vor, um sie wieder in das ursprüngliche preußische Machtsystem zu integrieren. Doch zwischen ihrer Funktion als Beutekunst in Paris und ihrer neuen Funktion als Symbol des Siegs der Preußen über Napoleon fällt sie – in Kisten verpackt – für kurze Zeit aus jedem Sinnsystem und wird disponibel für neue Bedeutungszuweisungen. Durch die Isolierung aus dem ursprünglichen Kontext des Brandenburger Tors lädt sie sich mit Virtualität auf, sie ist ein in unterschiedliche Kisten verpacktes Kunstwerk, ja jede Kiste birgt ein eigenes Kunstwerk, einen Streitwagen und vier voneinander getrennt verpackte prachtvolle Pferde. Eines dieser Pferde wird in seiner referenziellen Funktion als Pferd die Aufmerksamkeit auf sich ziehen. War es als Teil der Quadriga in einer Kiste vorhanden, so ist es jetzt zuhanden, um mit Heidegger zu sprechen.7 Denn ein stattliches Pferd wird 1814 in Paris dringend für das Reiter6 7
Brague, Rémi: Europe, la voie romaine, Paris: Criterion, 1992, S. 157. So heißt es in Sein und Zeit: „Je dringlicher das Fehlende gebraucht wird, je eigentlicher es in seiner Unzuhandenheit begegnet, um so aufdringlicher wird das Zuhandene, so zwar, daß es den Charakter der Zuhandenheit zu verlieren scheint. Es enthüllt sich als nur noch Vorhandenes, das ohne das Fehlende nicht von der Stelle gebracht werden kann. Das ratlose Davor-
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standbild des Henri IV gebraucht, das während der Revolution zerstört worden war und nun eilends wieder am Pont Neuf errichtet werden soll, um den neuen König Louis XVIII zu empfangen, der sich in der Nachfolge des Henri IV stilisiert.8 Die Göttingischen gelehrten Anzeigen vom 16. Dezember 1822 berichten von dieser abenteuerlichen Kombinatorik, im wahrsten Sinne des Wortes ein bricolage: Zugleich ward der Wunsch laut, die Statue Henri IV wider hergestellt zu sehen und wenn es möglich wäre, durch deren Anblick den König, bei seinem Einzug den 3ten Mai, angenehm zu überraschen und zu rühren. Aber solche Statuen von Erz lassen sich nicht aus dem Stegreif machen, sie erfordern Jahre. Man beschloß daher den 18. April eine provisorische Statue von Gyps zu veranstalten. Man hatte von der zerstörten Statue Zeichnungen, auch noch ein sehr ähnliches Brustbild von Henri IV; nur das Modellieren des Pferdes im Großen konnte Schwierigkeiten und Aufenthalt verursachen. Zum Glück war die Berliner Quadriga, zwar eingekistet, aber noch nicht abgefahren, und man erhielt von Seiner Majestät, dem König von Preußen die Erlaubnis, eines dieser Pferde wieder auszupacken und es während 3 Tage zu den Gypsformen zu gebrauchen. Dies geschah; und in drey Tagen ward das Pferd wieder zurück gegeben und ging mit den übrigen dryen nach Berlin ab. Bildhauer, Gypser, Zimmerleute und Schmiede wurden nun theilweise bey dem Roß, bey dem Reiter, dem Reitgeschirr und bey dem Postement von Holz in Arbeit gesetzt; den 3. May gegen Mittag waren alle Gerüste und Plankenwände weggeräumt, und die Statue stand zu Jedermanns Erstaunen vollendet da.9
Etienne Jouy vergegenwärtigt 1814 das große Ereignis: Lorsque la voiture royale s’arrrêta devant la statue de Henri IV, qui semblait avoir été replacée là par enchantement, un concert mélodieux fit entendre les airs chéris du peuple. Tous les yeux, tous les cœurs, se portaient alternativement de Louis XVIII à Henri IV, dont les traits semblaient revivre sous le plâtre.10
1818 wurde diese provisorische Gipsstatue durch eine Bronzestatue ersetzt, deren Material man durch das Einschmelzen der Napoleon-Statue auf der Place Vendôme gewonnen hatte. Das Standbild aus Gips verlor umgehend seine Funktion. Es wurde in den Louvre gestellt, wo es als eigentümlich erratisches Kunstwerk in einer Industrieausstellung von 1819 inmitten von 6 000 Exponaten abgebildet ist. Keiner der Besucher der Ausstellung würdigte die Statue eines Blicks.11 stehen entdeckt als defizienter Modus eines Besorgens das Nur-noch-vorhandensein eines Zuhandenen.“ Heidegger, Martin: Sein und Zeit, Tübingen: Niemeyer, 1957, S. 73. 8 Vgl. in diesem Zusammenhang die ausführliche Darstellung des „Pariser Exils, das die Pferde und die Siegesgöttin aus Berlin über sich ergehen lassen mussten“, von Bénédicte Savoy in ihrem Buch Kunstraub. Napoleons Konfiszierungen in Deutschland und die europäischen Folgen, mit einem Katalog der Kunstwerke aus deutschen Sammlungen im Musée Napoléon, Wien [u. a.]: Böhlau, 2011, S. 163 f. und S. 274–379, hier S. 374. (Orig.: Patrimoine annexé. Les biens culturels saisis par la France en Allemagne autour de 1800, Paris: Editions de la Maison des sciences de l’homme, 2003 (Passagen 5), 2 Bde.) 9 [Autor unbekannt]: Ebendaselbst, in: Göttingische gelehrte Anzeigen, 1822, 200. Stück, 16. Dezember 1822, S. 1995–2000, hier S. 1997 f. 10 Jouy, Etienne: Le Franc Parleur, no II (14. Mai 1814), in: ders.: Œuvres complètes, Paris: Didot, 1823, Bd. 4, S. 31. 11 Vgl. die Abbildung der Ansicht der Galerie Henri IV bei der Ausstellung von Erzeugnissen der französischen Industrie 1819 im Louvre, Lithografie von F. Villain, Paris: Bibliothèque
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Abb. 1: Hippolyte Lecompte: Einweihung des Reiterstandbildes Heinrichs IV. am Pont-Neuf am 25. August 1818
Die Episode macht deutlich, wie sich das Transferelement in seiner Virtualität freisetzt, wenn es aus seinem alten Sinnsystem gelöst wird. So erhält das dem griechischen Pferd in einem antiken Streitwagen nachempfundene preußische Pferd eine neue Funktion in dem Reiterstandbild des Henri IV, der dem französischen König Louis XVIII als Legitimation dient. Doch damit hat diese Geschichte des Kulturtransfers ihr Ende nicht erreicht. Die Quadriga wurde 1814 von den Truppen Generalfeldmarschall von Blüchers nach Berlin zurückgebracht, für diesen Kulturtransfer in umgekehrter Richtung erfanden die Berliner den amüsanten Ausdruck „Retourkutsche“.12 Die Quadriga tritt sogleich in ein neues Sinnsystem ein. Karl Friedrich Schinkel ersetzte die Lorbeerkranztrophäe der schadowschen Wagenlenkerin durch ein eichenlaubumkränztes und von einem Adler bekröntes Eisernes Kreuz und verwandelte so die Friedensbringerin in die Siegesgöttin Viktoria, um die Rückkehr der nach Paris verschleppten Plastik nach Berlin und den Sieg über die napoleonischen Truppen zu feiern. Der Raub der Quadriga und ihre triumphale Rückführung nach dem Sieg über Napoleon ließ die Quadriga – und damit auch das Brandenburger Tor – zum politischen Symbol für nationale Einheits- und Freiheitsbestrebungen werden. Während des Zweiten Weltkriegs wurde das Brandenburger Tor schwer beschädigt und die Quadriga bis auf einen Pferdekopf total zerstört. Es gab allerdings einen Gipsabdruck, sodass sie nach dem Krieg wiederhergestellt werden konnte. So sehr war sie inzwischen zu einem politischen Symbol geworden, dass sich Senat und Magistratsrat Mitte der 1950er Jahre trotz der enormen Spannungen nach dem Krieg in der Vier-Sektoren-Stadt Berlin auf eine gemeinsame Wiederherstellung des Brandenburger Tores einigten. nationale de France, département des estampes et de la photographie, Inv. Va 218 1; A 16365, die Bénédicte Savoy in ihrem Buch Kunstraub abgebildet hat, hier S. 379. 12 Vgl. Weber-Kellermann, Ingeborg: Der Berliner. Versuch einer Großstadtvolkskunde und Stammescharakteristik, in: Hessische Blätter für Volkskunde 56 (1965), S. 9–30, hier S. 21.
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Im Westteil Berlins fertigte man von den erhaltenen Gipsabdrücken eine neue Quadriga an, die 1958 wieder auf das Brandenburger Tor gesetzt wurde, sie war nach Osten gerichtet – allerdings fehlten die preußischen Symbole. Die bis dahin dort angebrachte rote russische Fahne wurde abgenommen. Das Brandenburger Tor und damit auch die Quadriga waren nicht mehr Inbegriff des preußischen Machtanspruchs, sondern markierten nunmehr die Grenze zwischen Ost- und West-Berlin und damit die Grenze zwischen den Staaten des Warschauer Paktes und der NATO. Bis zur Wiedervereinigung Deutschlands war das Brandenburger Tor Symbol des Kalten Krieges und nach 1990 wurde es zum Symbol der Wiedervereinigung Deutschlands und Europas. So konnte das Brandenburger Tor nach dem Fall der Mauer als Teil eines neuen Sinnsystems zum Inbegriff eines vereinten Deutschland werden.13 Am Beispiel der Quadriga auf dem Brandenburger Tor lässt sich verfolgen, wie das Transferelement im Transferprozess immer wieder von Neuem in seiner Virtualität freigesetzt wird und in neue Sinnzusammenhänge eintritt. In unserer Darstellung stand weder die Ziel- noch die Ausgangskultur, sondern das Objekt des Transfers selbst im Fokus. In ganz ähnlicher Weise versucht die französische Autorin Cécile Wajsbrot Statuen in Berlin und Paris aus ihrer Objekthaftigkeit zu lösen und sie zu Subjekten des Diskurses zu machen.14 Ihr Roman L’Ile aux musées setzt mit einem Porträt ein: „C’est un homme seul dans l’avenue monumentale qui traverse le parc, Tiergarten, et mène à la porte de Brandebourg.“15 Der einsame Mann ist jedoch kein Mensch, schon im zweiten Satz wird deutlich, dass es sich um eine Plastik handeln muss, die nunmehr zum Gegensand einer poetischen Reflexion wird: Là, entre la colonne de la Victoire et la porte […], au milieu des voitures rapidement garées, sa forme harmonieuse s’élève d’un socle de marbre. Au milieu de l’agitation, du chaos, il invite au silence de la contemplation et attire le regard par sa simplicité – nul artifice, nulle décoration ne vient distraire […]. Le visage rond des statues romaines.
13 Vgl. Jurt, Joseph: La nouvelle Allemagne: Quels symboles?, in: Actes de la Recherche en Sciences Sociales 98 (juin 1993), S. 45–58, zur Symbolik des Brandenburger Tors insb. S. 51. 14 Cécile Wajsbrot hat einen neuen Stadtdiskurs erfunden, der in ganz eigener Form die Stadt als Palimpsest der Erinnerung reflektiert. In ihren Romanen Nation par Barbès (Cadeilhan: Zulma, 2001), Caspar Friedrich Strasse (Cadeilhan: Zulma, 2002), Fugue (Blandain: Estuaire, 2005) und L’Ile aux musées (Paris: Denoël, 2008) stehen die Großstädte Paris und Berlin im Zentrum einer Erfahrung von Selbstfindung und Selbstverlust, die ihre Protagonisten durchlaufen. Vgl. Oster, Patricia: ‚Transfuges‘ entre Paris et Berlin. Stadterfahrung und Stadtdiskurs bei Cécile Wajsbrot, in: Böhm, Roswitha/Bung, Stephanie/Grewe, Andrea (Hg.): Observatoire de l’extrême contemporain. Studien zur französischsprachigen Gegenwartsliteratur, Tübingen: Narr, 2009 (edition lendemains 12), S. 237–256. Zu Cécile Wajsbrot vgl. Böhm, Roswitha/Zimmermann, Margarete (Hg.): Du silence à la voix. Studien zum Werk der Cécile Wajsbrot, Göttingen: V&R unipress, 2010 (Formen der Erinnerung 37). 15 Wajsbrot: L’Ile aux musées, S. 7. Valeria Gramigna ist der Stadterfahrung auf den Spuren Benjamins in dem Roman Fugue in ihrer Studie „Dans la ville. Cathrine, Clerc, Haenel, Mestre, Wajsbrot“ nachgegangen, in: Jacquet, Marie-Thérèse (Hg.): Papier-villes, Bari: Edizioni B. A. Graphis, 2008 (Marges critiques 13), S. 5–18, hier S. 13–18.
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Les deux bras sont levés et les mains repliées en porte-voix entourent une bouche grande ouverte dont le cercle décrit la courbe d’une parole lancée au loin. Il n’a pas de nom, seulement une fonction, il est celui qui appelle, der Rufer, mais le cri, loin de déformer son visage, montre la force du mot, sa portée.16
Abb. 2: Gerhard Marcks: Der Rufer (1967)
Dass der Roman mit dem Bild des Rufers einsetzt, ist programmatisch. Hier tritt eine Plastik in den Mittelpunkt des Interesses, die sich einem komplexen kulturellen Transferprozess verdankt, den die Autorin explizit macht. Wie die Quadriga auf dem Brandenburger Tor hat auch der Rufer vor dem Brandenburger Tor teil an der kulturellen Sekundarität – im Sinne Rémi Bragues. Denn das Motiv des Rufers rekurriert auf die antike Gestalt des Stentor, dessen Stimme so laut war wie die von 50 Männern. In der Ilias wird berichtet, dass Hera seine Gestalt annahm, um die Griechen vor Troja mit seiner kraftvollen Stimme in die Schlacht zu führen. Stand die ungeheure Lautstärke und Kraft seiner Stimme im antiken Sinnsystem im Vordergrund, so verändert sich seine Funktion im Kontext des Kunstwerks von Gerhard Marcks. Besonders deutlich wird diese Differenz in der meditativen Stille, die den Rufer zu umgeben scheint und die von Cécile Wajsbrot eigens hervorgehoben wird. Der stimmgewaltige Stentor wird im Medium der modernen Plastik zur suggestiven Geste, zum namenlosen Rufer. Das „visage rond des statues romaines“ hält jedoch – zumindest in der Perspektive Cécile Wajsbrots – den antiken Kontext präsent. Die antike Gestalt des Stentor wird gleichsam in dem neuen Medium und in dem neuen Sinnzusammenhang eines 1967 an Gerhard Marcks ergangenen Auftrags von Radio Bremen disponibel für neue Funktionen. Gerhard Marcks sah in seinem Rufer die Verkörperung des Rechts auf Meinungsfreiheit. Cécile Wajsbrot hebt in ihrem Hinweis auf Marcks hervor, dass er als entarteter Künstler gegolten habe: „C’était en 1967 […]. Le sculpteur Gerhard Marcks, dont le travail avait été qualifié d’art dégénéré sous le nazisme, était devenu 16 Wajsbrot: L’Ile aux musées, S. 7.
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un spécialiste des œuvres dénonçant le totalitarisme“17. In dem Sinnsystem des Künstlers Marcks wird aus der lauten eine freie Stimme. Anlässlich des 100. Geburtstags des Bildhauers wurde 1989 ein drei Meter hoher Bronze-Nachguss der Plastik in Sichtweite der Berliner Mauer und des Brandenburger Tors aufgestellt, finanziert von einer privaten Stiftung von Banken und dem Axel-Springer-Verlag. Der Standort des Nachgusses unmittelbar vor der Mauer stellt einen neuen politischen Bezugsrahmen her, auf den auch Cécile Wajsbrot eingeht: En mai 1989, à l’occasion du centenaire de la naissance de l’artiste, Celui qui appelle fut installé sur un socle au milieu de l’avenue qui, à l’époque, s’achevait en impasse, bloquée par le mur gris, impressionnant, devenu presque symbole de la ville – derrière lequel on apercevait le haut de la porte de Brandebourg et le quadrige tourné vers l’est, l’avenir radieux.18
Die Plastik des Rufers ließ sich besonders leicht in ein neues Sinnsystem überführen, weil der lautlose Ruf immer neue Interpretationen erfahren konnte. Ihre eigene Interpretation meißelten die Sponsoren in das dreistufige Granitplateau. Doch auch sie sprachen nicht mit eigener Stimme, sondern sie rekurrierten ihrerseits auf ein Sinnsystem aus dem Trecento, auf ein Zitat des Dichters Petrarca, der sich im Bürgerkrieg zwischen den Stadtstaaten Norditaliens nach Frieden sehnt: Sur le socle on inscrivit le vers de Pétrarque qui conclut le long poème Italia mia, écrit à la gloire de la patrie pour déplorer les guerres incessantes que se livrent les princes – I’vo gridando : pace, pace, pace.19
Stentor, der zunächst nur eine laute Stimme besaß, werden gleichsam immer neue Rufe in den Mund gelegt. Die Freiheit des Rufs wird jetzt durch den Ruf nach Frieden ersetzt. Cécile Wajsbrot lässt es mit diesen kulturellen Transferprozessen, die von Griechenland über Italien nach Berlin führen, jedoch nicht bewenden. Sie scheint dem Rufer an der Berliner Mauer gleichsam ihrerseits eine Stimme und eine eigene Kraft zu verleihen, indem sie suggeriert, dass sein Ruf die Mauer zum Fallen brachte: „Six mois après l’installation de l’homme éternellement immobile à la bouche éternellement ouverte, le mur de Berlin tombait.“20 In dem Roman Wajsbrots hat der Rufer die Funktion eines Prologs. Sein Ruf öffnet den Raum für den stummen Ruf eines Kollektivs von Statuen zwischen Berlin und Paris, deren Stimmen die Autorin laut werden lässt: Nous montons la garde, même si personne ne nous prête attention – et peut-être est-il plus facile de veiller quand personne ne regarde. […] […] Nous sommes en pierre, en bronze, nous sommes en granit ou en marbre, nous sommes sur les ponts, en haut des édifices ou devant les musées, nous sommes dans les jardins […] – mais immobiles, le regard fixe.21
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Wajsbrot: L’Ile aux musées, S. 8. Wajsbrot: L’Ile aux musées, S. 9. Wajsbrot: L’Ile aux musées, S. 9. Wajsbrot: L’Ile aux musées, S. 9. Wajsbrot: L’Ile aux musées, S. 10.
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Die Komplexität dieses in der Tradition des nouveau roman stehenden Werks besteht in der Verwischung der Differenz zwischen den lebendigen und den steinernen Protagonisten des Romans. Wird auf der einen Ebene die Geschichte von einer Französin und einem Franzosen erzählt, die beide aufgrund von unterschiedlichen Partnerschaftsproblemen Paris verlassen und über Ostern die Museumsinsel in Berlin besuchen, wo sie sich begegnen, so evoziert der Text auf einer zweiten Ebene den Diskurs der Statuen auf der Museumsinsel, die ihre eigene Existenz reflektieren und zugleich das Paar beobachten. Cécile Wajsbrot inszeniert dabei regards croisés zwischen Mensch und Statue. Die Menschen betrachten die Kunstwerke im Museum, die aber ihrerseits auch die französischen Touristen im Blick haben und ihr Verhalten kommentieren. Dabei unterscheidet der Text nicht zwischen den verschiedenen Diskursen, sodass der Leser gezwungen ist, selbst immer wieder auf die Differenz zwischen den verschiedenen Stimmen zu achten. Bleiben die Statuen im öffentlichen Raum gewöhnlich am Horizont der Wahrnehmung, so werden sie hier zum Thema gemacht und behaupten hartnäckig ihre Präsenz im Text. Parallel zu der Geschichte des Paares auf der Museumsinsel in Berlin wird die Geschichte der zurückgebliebenen Partner in Paris erzählt. Auch hier vermischt sich der Diskurs der Protagonisten mit dem Diskurs der Statuen auf den Plätzen und in den Parks von Paris, die das Geschehen kommentieren. Zwischen den Statuen in Frankreich und Deutschland gibt es scheinbar keine Differenz, das Sinnsystem des Museums suggeriert ein zeitloses terrain vague. So konstatiert die französische Touristin im Pergamonmuseum: „Ici, on a n’a aucune idée du temps, on est sans territoire. On pourrait aussi bien être au Louvre.“22 Die Statuen teilen das gleiche, über nationale Grenzen hinausweisende Schicksal. Ja, sie erscheinen im Text als stumme Zeugen, oftmals Opfer von Transferprozessen und Zerstörung. Aus der Perspektive der Figuren auf dem Fries des Pergamonaltars erscheint der von Forschungsinteressen bestimmte Kunsttransfer als reine Willkür: Vous nous observez, nous restaurez, vous nous exposez, nous étudiez, vous nous copiez depuis des siècles mais ce que nous sommes vraiment, ce que nous avons vu, d’où nous sommes nées, vous ne le savez pas.23 Vous nous avez dégagées de la terre où nous dormions. Par blocs entiers vous nous avez transportées, nettoyées – puis identifiées, tentant de nous assembler, de reconstituer ce gigantesque puzzle que vous appelez le grand autel de Pergame. Les frises que vous avez reclassées selon les quatre points cardinaux.24
Cécile Wajsbrot begabt die sprechenden, das Geschehen kommentierenden und reflektierenden Statuen mit einem absoluten Gedächtnis. So kann sie das Sinnsystem, dem sie entspringen, mit dem sie gegenwärtig umgebenden Sinnsystem konfrontieren. Landkarten, politische Systeme, Namen haben sich verändert, jeder 22 Wajsbrot: L’Ile aux musées, S. 41. 23 Wajsbrot: L’Ile aux musées, S. 30. 24 Wajsbrot: L’Ile aux musées, S. 32.
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Versuch einer Rekonstruktion birgt die Gefahr einer Überschreibung der noch im Gedächtnis der Statuen vorhandenen Spuren: Nous sommes là depuis longtemps, plus longtemps que vous ne croyez mais loin, si loin de nos villes d’origine. Nos cartes ne coïncident pas avec les vôtres ni les frontières ni les noms de pays et parfois, s’il est resté quelque chose, une trace de nos époques, votre nom a recouvert le nôtre.25
Ganz im Sinne von Rémi Brague wird als Folge des Kunsttransfers das Phänomen einer bewussten Sekundariät herausgestellt: Imitatio, interpretatio, aemulatio – tels étaient les principes de l’art romain. A chaque bataille gagnée, ils ramenaient des statues. Conscients de leur infériorité, ils copiaient, et en copiant, ils interprétaient et s’éloignaient un peu de leur modèle, leur imagination, leur force de création s’en trouvait stimulée et ils pouvaient à leur tour inventer.26
Die geraubten Statuen werden aus ihrem ursprünglichen Kontext freigesetzt und dienen in einem neuen Sinnsystem als Ausgangspunkt für Innovation. Haben die ehemals transferierten Statuen im Roman von Cécile Wajsbrot einerseits teil an einem gemeinsamen antiken europäischen Erbe, so unterscheiden sich ihre Erinnerungen vom Zeitpunkt ihres Transfers nach Berlin oder Paris jedoch maßgeblich, ja die Statuen dienen als Medium, um die deutsch-französische Geschichte in verfremdender Perspektive als regards croisés zu inszenieren. So erinnern sich die Statuen auf der Museumsinsel an das Projekt des Museumskomplexes als Folge der Rückführung der von Napoleon geraubten Kunstschätze, sie wurden Zeugen der Bücherverbrennungen 1933 und der Gräueltaten im Dritten Reich, sie haben die Bombardierung Berlins erlebt, die Zeit der Mauer mit der Aufteilung der Kunstwerke und die Rückführung aller Kunstschätze in die nunmehr restaurierten Museen auf der Museumsinsel nach der Wende, der auch viele Lenin-Statuen zum Opfer fielen. Am Beispiel der Marmorbüste des Acellino Salvago von Antonio Tamagnino lässt sich ein literarischer Kulturtransfer verfolgen, in dessen Verlauf die Büste eines stolzen Renaissancefürsten, die in einem Museum in Berlin ihren Ort gefunden hatte und während des Krieges einem Brand zum Opfer gefallen war, nunmehr im Kontext eines neuen Sinnsystems zum Inbegriff der von Krieg und Deportation gezeichneten Menschen wird. Salvagos Schicksal wird in dem Text Cécile Wajsbrots von den andern Statuen evoziert: Le marbre du buste était parfait et la ressemblance étonnante – la ressemblance avec la vie car personne ne sait plus quelle allure avait cet aristocrate italien. Il est sur le point de parler, disiez-vous, on a l’impression qu’il va s’adresser à nous. Il regarde au loin, on a l’impression qu’il surveille, disiez-vous, l’arrivée de l’ennemi ou d’un personnage important. Maintenant il reste une partie du visage, un œil, et à peine une oreille, un peu du front et la moitié du crâne. Il reste la forme du visage.
25 Wajsbrot: L’Ile aux musées, S. 30. 26 Wajsbrot: L’Ile aux musées, S. 76.
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L’autre œil n’est plus qu’une orbite, la bouche, une cavité. Il n’y a plus de nez, le cou est décharné, le col, arraché, et le haut de la toge, les premiers plis… Il n’y a plus d’expression, plus rien. Le buste était avec nous, dans un bunker du parc pour échapper à votre guerre. […] Mais une nuit […] une lumière vive – un incendie. La plupart d’entre nous ont péri, attaquées par les flammes, carbonisées, déintégrées.27
Abb. 3: Antonio Tamagnino: Büste des Acellino Salvago
Viele moderne Kunstwerke werden beschrieben, die an das Schicksal der jüdischen Bevölkerung erinnern, wie die 1988 in Erinnerung an die Reichskristallnacht entstandene Installation von Karl Biederman, Das verlassene Zimmer: ein überdimensionaler Tisch und zwei Stühle, von denen einer umgekippt ist, in einem Park: Sur une petite place d’allure presque champêtre que viennent faire cette table et ces chaises ? Quelqu’un d’une maison avoisinante est-il en train de déménager? A-t-il posé ses meubles en attendant le camion qui viendra les prendre ? Ou veut-il s’en débarrasser, les donner à une association caritative ? Mais le bureau n’est pas en bois, son plateau n’est pas recouvert de cuir comme on pourrait le croire, il est en bronze, comme les chaises, comme le motif de parquet dessiné au sol. Il s’agit d’une sculpture – il faut tout reconsidérer. […] 27 Wajsbrot: L’Ile aux musées, S. 203 f.
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Patricia Oster Une chaise rangée derrière un bureau ou une table au tiroir fermé, une autre renversée. Renversée dans la bousculade par ceux qui durent fuir précipitamment ? Renversée par des agresseurs ? Les passants arrivent trop tard pour sauver quoi que ce soit. Les gens sont partis, ils viennent de partir ou d’être emmenés et voilà fixé le moment qu’on ne voit jamais – l’instant d’après. L’appartement vide après qu’on l’a quitté, l’expression de quelqu’un après un au revoir, ce qu’on laisse définitivement quand on part sans se retourner.28
Abb. 4: Karl Biedermann: Der verlassene Raum (1988)
Die Statuen in Paris erinnern sich hingegen an Caterina de’ Medicis Projekt der Tuilerien, an die blutigen Wirren der Französischen Revolution, an die Kämpfe auf den Straßen von Paris im Zweiten Weltkrieg und die Evakuierung der Gemälde des Louvre in das Schloss Chambord, an die deutsche Besatzungszeit, die Ansammlung der Werke der sogenannten entarteten Kunst im Jeu de Paume und an die Verbrennung vieler dieser Kunstwerke im Garten der Tuilerien. Auch von der langwierigen Rückführung der der jüdischen Bevölkerung geraubten Kunstwerke, die zum Teil ihre Besitzer nie wieder sahen, erzählen die Statuen aus Paris. Gehen die Diskurse von Menschen und Statuen auf der Ebene des Textes immer wieder unvermittelt ineinander über, so wird auf der Ebene der histoire gerade diese kategoriale Übergänglichkeit genutzt, um das menschliche Schicksal hinter der Geschichte der Statuen in den Vordergrund zu rücken. So berichten die Statuen in Paris scheinbar neutral von der Rettung vieler Kunstwerke durch eine Gruppe von Widerstandskämpfern, die den folgenden Zug mit deportierten Menschen jedoch nicht aufhalten: Vous l’appelez le train d’Aulnay parce qu’il fut arrêté en gare d’Aulnay par un groupe de résistants.
28 Wajsbrot: L’Ile aux musées, S. 121 f.
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Tous les tableaux qu’il contenait furent recupérés, Picasso, Braque, Bonnard – des impressionistes aussi. Le dernier convoi de déportés – puisque c’est votre mot – partit après le dernier convoi d’œuvres d’art. Et personne n’essaya de l’arrêter.29
An dieser Stelle wird besonders deutlich, dass die Statuen, die sich an dieser Stelle explizit vom Diskurs der Menschen distanzieren, bei Cécile Wajsbrot auch zu Projektionsfiguren für das jüdische Schicksal werden. Zugleich ist gerade in diesem Zusammenhang auffallend, dass hier nicht in entscheidender Form zwischen Deutschland und Frankreich differenziert wird. Die Statuen erinnern sich an andere Geschichten, aber Zerstörung und Grauen gibt es auch in Paris, ja der Zug in die Konzentrationslager nimmt seinen Weg von Paris und französische Widerstandskämpfer halten ihn nicht auf. Fraglos geht es auch um eine Auseinandersetzung mit dem in Frankreich lange nicht zur Sprache gekommenen Phänomen der Kollaboration. Cécile Wajsbrot, die als Jüdin in Frankreich diese Stille empfindlich wahrnahm, gibt den stummen Statuen auch eine Stimme, um über eine deutsch-französische Verstrickungsgeschichte zu sprechen. Ihr Roman übernimmt gleichsam die Aufgabe des Rufers, der damit einmal mehr in ein neues Sinnsystem eintritt. Der Roman verleiht einerseits der Kunst bzw. den Statuen in Paris und Berlin eine Stimme, um die Dynamik von Transferprozessen aus der Perspektive kultureller Transferelemente zu reflektieren. Zugleich werden die Statuen aber mit Hilfe der Konfrontation von deutscher und französischer Geschichte aus dem Kontext des Museums in ein anderes Sinnsystem überführt, in welchem sie zu einer Projektionsfläche für das jüdische Schicksal werden können. LITERATURVERZEICHNIS [Autor unbekannt]: Ebendaselbst, in: Göttingische gelehrte Anzeigen, 1822, 200. Stück, 16. Dezember 1822, S. 1995–2000. Böhm, Roswitha/Zimmermann, Margarete (Hg.): Du silence à la voix. Studien zum Werk der Cécile Wajsbrot, Göttingen: V&R unipress, 2010 (Formen der Erinnerung 37). Brague, Rémi: Europe, la voie romaine, Paris: Criterion, 1992. Espagne, Michel: Les Transferts culturels franco-allemands, Paris: PUF, 1999. Espagne, Michel/Werner, Michael: Deutsch-französischer Kulturtransfer als Forschungsgegenstand. Eine Problemskizze, in: dies. (Hg.): Transferts. Les relations interculturelles dans l’espace franco-allemand (XVIIe et XIXe siècle), Paris: Editions Recherche sur les Civilisations, 1988. Gramigna, Valeria: Dans la ville. Cathrine, Clerc, Haenel, Mestre, Wajsbrot, in: Jacquet, MarieThérèse (Hg.): Papier-villes, Bari: Edizioni B. A. Graphis, 2008 (Marges critiques 13), S. 5– 18. Heidegger, Martin: Sein und Zeit, Tübingen: Niemeyer, 1957. Jouy, Etienne: Le Franc Parleur, no II (14. Mai 1814), in: ders.: Œuvres complètes, Paris: Didot, 1823, Bd. 4, S. 31. 29 Wajsbrot: L’Ile aux musées, S. 144.
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Jurt, Joseph: La nouvelle Allemagne: Quels symboles?, in: Actes de la Recherche en Sciences Sociales 98 (juin 1993), S. 45–58. Lévi-Strauss, Claude: La Pensée sauvage, Paris: Plon, 1962. Luhmann, Niklas: Soziale Systeme. Grundriß einer allgemeinen Theorie, Frankfurt/M.: Suhrkamp, 1984, Neuauflage 2001. Lüsebrink, Hans-Jürgen: Kulturtransfer, in: ders.: Interkulturelle Kommunikation. Interaktion – Fremdwahrnehmung – Kulturtransfer, Stuttgart, Weimar: Metzler, 2005. Oster, Patricia: ‚Transfuges‘ entre Paris et Berlin. Stadterfahrung und Stadtdiskurs bei Cécile Wajsbrot, in: Böhm, Roswitha/Bung, Stephanie/Grewe, Andrea (Hg.): Observatoire de l’extrême contemporain. Studien zur französischsprachigen Gegenwartsliteratur, Tübingen: Narr, 2009 (edition lendemains 12), S. 237–256. Savoy, Bénédicte: Kunstraub. Napoleons Konfiszierungen in Deutschland und die europäischen Folgen, mit einem Katalog der Kunstwerke aus deutschen Sammlungen im Musée Napoléon, Wien [u. a.]: Böhlau, 2011. (Orig.: Patrimoine annexé. Les biens culturels saisis par la France en Allemagne autour de 1800, Paris: Editions de la Maison des sciences de l’homme, 2003 (Passagen 5), 2 Bde.) Stierle, Karlheinz: Renaissance – Die Entstehung eines Epochenbegriffs aus dem Geist des 19. Jahrhunderts, in: Herzog, Reinhart/Kosellek, Reinhart (Hg.): Epochenschwelle und Epochenbewußtsein, München: Fink, 1987 (Poetik und Hermeneutik 12), S. 453–493. Wajsbrot, Cécile: Nation par Barbès, Cadeilhan: Zulma, 2001. Wajsbrot, Cécile: Caspar Friedrich Strasse, Cadeilhan: Zulma, 2002. Wajsbrot, Cécile: Fugue, Blandain: Estuaire, 2005. Wajsbrot, Cécile: L’Ile aux musées, Paris: Denoël, 2008. Weber-Kellermann, Ingeborg: Der Berliner. Versuch einer Großstadtvolkskunde und Stammescharakteristik, in: Hessische Blätter für Volkskunde 56 (1965), S. 9–30. Werner, Michael/Zimmermann, Bénédicte: Vergleich, Transfer, Verflechtung. Der Ansatz der Histoire croisée und die Herausforderung des Transnationalen, in: Geschichte und Gesellschaft 28 (2002), S. 607–636. Werner, Michael/Zimmermann, Bénédicte: Penser l’histoire croisée: entre empirie et réflexivité, in dies. (Hg.): De la comparaison à l’histoire croisée, Paris: Seuil, 2004 (Le Genre humain 42), S. 15–49.
INTERMEDIALITÄT – UNE AFFAIRE ALLEMANDE? Interkulturelle Annäherungen an die Intermedialitätsforschung in Deutschland und Frankreich Christoph Vatter Transfer und Vergleich, die beiden titelgebenden Konzepte dieses Bandes, stehen auch im Kern des Ansatzes der Intermedialität, der sich seit den 1990er Jahren zu einem der Schlüsselbegriffe medien- und kulturwissenschaftlicher Forschung entwickelt hat. Insbesondere seitens der Literaturwissenschaft und der Philologien steht der Intermedialitätsbegriff häufig paradigmatisch für die Erweiterung der traditionellen Gegenstandsbereiche auf andere Medien, insbesondere den (Spiel-) Film, für die Umsetzung eines erweiterten Textbegriffes sowie für eine gewisse Praxisorientierung dieser Fächer, die sich beispielsweise in dem Anspruch der Vermittlung von Medienkompetenz und Orientierungswissen manifestiert. Intermedialität impliziert den Vergleich verschiedener Mediensysteme, ist an ihrem jeweils spezifischen Leistungsvermögen und den Materialitäten von Kommunikation interessiert und fokussiert, insbesondere in ihrer Anwendung im Kontext der Literaturwissenschaften, auf den Transfer von einem Medium in ein anderes, beispielsweise in Untersuchungen zu Literaturverfilmungen. Das Konzept der Intermedialität kann so einerseits zur Beschreibung von Phänomenen der Medienkonkurrenz, des Konflikts und des Vergleichs zwischen Mediensystemen verstanden werden, andererseits aber auch als Modell der Beschreibung von Medienintegration, Vermischungs- und Transferprozessen. Die konfliktuelle Dimension von Intermedialität und auch Interkulturalität im Medienkontext unterstreicht beispielsweise der belgische Kommunikationswissenschaftler Marc Lits1. Dabei nennt er im Einzelnen den Konflikt zwischen Medien, die um Aufmerksamkeit im öffentlichen Raum und um Marktanteile konkurrieren, sowie die interkulturellen Herausforderungen innerhalb eines Kulturraums (z. B. zwischen Populär- und Elitenkultur), zwischen Medien unterschiedlicher (national-)kultureller Herkunft (z. B. Hollywood-Filme vs. französisches Autorenkino) sowie potenzielle Konfliktlinien zwischen verschiedenen Untergruppen einer fragmentierten Öffentlichkeit im Sinne des französischen Begriffs publics. 1
Lits, Marc: La culture de masse: un objet migrant intermédiatique et interculturel, in: Garneau, Michèle/Lüsebrink, Hans-Jürgen/Moser, Walter (Hg.): Enjeux interculturels des médias: altérités, transferts et violences, Ottawa: Presses de l’Université d’Ottawa, 2011 (Collection transferts culturels), S. 19–36.
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Auf der anderen Seite können die Herausforderungen der Mediengesellschaft mit einer Ko-Präsenz verschiedener Medien, die um die Aufmerksamkeit der Konsumenten buhlen, nicht nur im Sinne von Auseinandersetzungen und Konflikten gedacht werden; vielmehr können die Charakteristika der aktuellen Medienkonfigurationen auch in einem friedlicheren, integrativen Sinne als intermediales und interkulturelles Miteinander und Zusammenspiel beschrieben werden. Betrachtet man beispielsweise ein Medienangebot wie die populäre Casting-Show Deutschland sucht den Superstar, so kann dieses nur unter Berücksichtigung der damit verknüpften interkulturellen und intermedialen Verflechtungen erfasst werden. Der Fernsehgesangswettbewerb ist zunächst das Ergebnis eines Kulturtransferprozesses, in dessen Verlauf das 2001 bis 2003 in Großbritannien ausgestrahlte Mutterformat Pop Idol des britischen Produzenten Simon Fuller vom deutschen Privatsender RTL übernommen und adaptiert wurde. Deutschland sucht den Superstar ist somit eine von weltweit über 40 lokalen Varianten des britischen Modells, deren Gemeinsamkeiten neben dem Grundprinzip der Sendung vor allem die Gestaltung des Logos und die Titelmusik bilden. Bei einem näheren Blick auf die Sendung zeigt sich außerdem, dass ihre Analyse als ‚Werk‘ oder Einzelfilm dem Phänomen kaum gerecht werden kann (vgl. Abb. 1). Denn die Fernsehsendung beschränkt sich nicht auf die in einer Staffel als Fernsehdokumentation über die landesweiten Massen-Castings und den Auswahlprozess der Kandidaten oder als ‚Motto-Show‘ ausgestrahlten Folgen, die sich ihrerseits ebenfalls bereits intermedial konstituieren, sondern muss, wie in der tabellarischen Aufstellung skizziert, im Zusammenspiel mit anderen Medien gesehen werden, wie der Begleitzeitschrift und vor allem den Online-Angeboten, die neben der Homepage mit Videos und Texten auch zahlreiche Interaktionsmöglichkeiten umfassen, sowie mit von Anhängern der Sendung erstellten Kommentaren und Medienangeboten wie z. B. Fanpages. Die Sendung Deutschland sucht den Superstar kann also beispielhaft für intermediale und interkulturelle Verflechtungen gelten, die nicht nur das Fernsehen, sondern auch andere Medien wie Film, Theater, Literatur oder Internetanwendungen betreffen. Damit wird deutlich, dass sich auch viele traditionelle Gegenstandsbereiche der Geisteswissenschaften nicht mehr mit den herkömmlichen Werkzeugen adäquat beschreiben und analysieren lassen, sondern die Analysemethoden und theoretisch-methodischen Zugriffe entsprechend angepasst und erweitert werden müssen, wie dies beispielsweise im Falle des Theaters durch die Hinwendung zu performativen Aspekten und die Ergänzung der Textanalyse durch die Aufführungsanalyse erfolgte.2 Diese medialen und interkulturellen Herausforderungen bilden den Hintergrund für die folgenden Überlegungen zur Intermedialitätsforschung in Deutschland und Frankreich. Dazu werden zunächst die Wurzeln der Forschung zur Intermedialität in verschiedenen Disziplinen und die damit verbundenen Grundbegriffe in einer knappen Überblicksdarstellung diskutiert. In einem zweiten Schritt soll 2
Vgl. Fischer-Lichte, Erika: Semiotik des Theaters. Eine Einführung, Bd. 3: Die Aufführung als Text, Tübingen: Narr, 52009.
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eine vergleichende Betrachtung der vorliegenden Arbeiten zur Intermedialität in Deutschland und Frankreich erfolgen. Ausgehend von der Feststellung eines frappierenden Ungleichgewichts in der Anzahl der vorliegenden Veröffentlichungen soll der Entwicklung der frankophonen Intermedialitätsforschung nachgegangen werden. Hierbei stehen insbesondere Prozesse eines Kultur- und Wissenstransfers vom deutschsprachigen in den frankophonen Wissenschaftskontext im Fokus. Abschließend sollen Perspektiven hinsichtlich der Tragweite des Konzepts der Intermedialität diskutiert werden, insbesondere im interkulturellen Kontext.
Produkt
Gattungen
Einzelelemente
Fernsehsendung
Plateau-Sendung
Gespräche, ‚Talk-Show‘, Komik
Musik/Variété/Show
Gesang, Auftritte, Publikum
Reportage/Magazin
Vorstellung der Kandidaten, Castings
Film/Trickfilm/Video
Ironie, Meta-Kommentare (Zeitlupe, Einblendungen, SplitScreen…)
Dokumentarfilm
Orte des Geschehens, Reality-TVElemente, Berichte über Alltag Außerdem: intermediale Bezüge im Dialog, Verweise auf Homepage und Apps, dialogisch-interaktive Elemente durch Telefon-Gewinnspiel und Wahl…
Deutschland sucht den Superstar – Das offizielle Magazin
Zeitschrift
www.dsds.de
Homepage, App
Text, Bild, TV… Verweise auf andere Medien
Video Texte … Social Media, user generated content
Facebook, Youtube, Fanpages, Blogs…
Berichterstattung
Presse, Radio, Fernsehen, Online-Medien…
Abb. 1: Intermediale Konfigurationen am Beispiel von Deutschland sucht den Superstar
400
Christoph Vatter
1. INTERMEDIALITÄT, EIN „TERMINE OMBRELLO(NE)“, DER „IN“ IST – GESCHICHTE UND AKTUELLE ENTWICKLUNGEN „Intermedialität ist ‚in‘“3, lautet das von Joachim Paech lancierte, häufig als Slogan aufgegriffene Diktum aus den späten 1990er Jahren, das so sicherlich auch heute noch Gültigkeit besitzt. Ein Grund dafür mag unter anderem die Breite und eine gewisse Unbestimmtheit des Begriffs sein, die trotz zahlreicher Arbeiten und Präzisierungen immer noch festzustellen ist, sodass Intermedialität mit Irina Rajewski, die sich auf Umberto Eco bezieht, wohl immer noch als „termine ombrello(ne)“ (umfassendes ‚Regenschirm-Konzept‘) bezeichnet werden kann.4 Die Popularität des Intermedialitätsbegriffs seit Mitte der 1990er Jahre ist zwar sicherlich direkt mit den Veränderungen der Medienlandschaft in Beziehung zu setzen, dennoch soll hier – gemeinsam mit zahlreichen Vertretern der Intermedialitätsforschung – darauf verwiesen werden, dass sich dahinter nichts fundamental Neues verbirgt. Manche, wie Jürgen E. Müller, führen bereits Beispiele aus der Antike an, in denen Wechselbeziehungen zwischen verschiedenen Künsten beschrieben werden, wie z. B. im Falle von Poesie und Musik bei Aristoteles.5 Die meisten Autoren stimmen aber dahin überein, dass trotz einer Reihe von Vorläufern die im Laufe der Kulturgeschichte erfolgte Ausdifferenzierung der Künste und der mit ihnen befassten wissenschaftlichen Disziplinen den Blick auf Zusammenhänge und Wechselwirkungen zwischen ihnen lange verstellt hat. Medientheoretische Versuche, das ‚Wesen‘ eines Mediums sowie seine spezifischen Leistungsmerkmale und -potenziale zu ergründen, wie z. B. in den filmtheoretischen Überlegungen Siegfried Kracauers,6 haben sicherlich ihr Übriges dazu beigetragen. Dennoch soll wenigstens knapp auf die lange Reihe von älteren Ansätzen als Vorläufer der Intermedialitätsforschung verwiesen werden, die sich mit den Beziehungen und wechselseitigen Befruchtungen der Künste befassten. Zu nennen wären beispielsweise Richard Wagners Konzept des ‚Gesamtkunstwerks‘ oder auch die Arbeiten einiger französischer Film- und Medientheoretiker. Dazu zählen etwa Christian Metz7, der sich insbesondere mit dem Verhältnis von Bild, Ton und Musik im Film befasste, sowie André Bazin, vor allem mit seinen Überlegungen zu Literaturadaptionen (cinéma impur) sowie den Beziehungen des Films mit
3 4 5 6
7
Paech, Joachim: Intermedialität, in: Albersmeier, Franz-Josef (Hg.): Texte zur Theorie des Films, Stuttgart: Reclam, 31998, S. 447–475. Vgl. Rajewsky, Irina O.: Intermedialität, Tübingen, Basel: Francke, 2002, S. 6. Müller, Jürgen E.: L’intermédialité, une nouvelle approche interdisciplinaire: perspectives théoriques et pratiques à l’exemple de la vision de la télévision, in: Cinémas 10/2–3 (printemps 2000), S. 105–134. Vgl. Kracauer, Siegfried: Werke, hg. von Inka Mülder-Bach und Ingrid Belke, Bd. 3: Theorie des Films. Die Errettung der äußeren Wirklichkeit. Mit einem Anhang „Marseiller Entwurf“ zu einer Theorie des Films, Frankfurt/M.: Suhrkamp, 2005. [Orig.: Theory of Film: the Redemption of Physical Reality, London [u. a.]: Oxford UP, 1960.] Metz, Christian: Langage et Cinéma, Paris: Larousse, 1971.
Intermedialität – une affaire allemande?
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anderen Künsten, oder etwas später auch der Filmwissenschaftler Jacques Aumont und der Medien- und Kommunikationswissenschaftler François Jost.8 Der Begriff ‚Intermedialität‘ selbst wird häufig auf den britischen Dichter Samuel Taylor Coleridge zurückgeführt, der bereits 1812 von intermedium gesprochen hat, allerdings im Zusammenhang mit Charakteristika der Allegorie. Im modernen Sinne geht das Konzept auf den Fluxus-Künstler Dick Higgins zurück, der 1984 sein Werk Horizons. The Poetics and Theory of the Intermedia veröffentlichte.9 Wissenschaftshistorisch kann man zwei parallele Entwicklungslinien der jüngeren Intermedialitätsforschung unterscheiden: einerseits die komparatistische Tradition der interart studies, andererseits eine medien- und filmwissenschaftlich inspirierte Tendenz, die sich häufig mit Transferphänomenen befasst und im deutsch-französischen Kontext besonders relevant ist. Denn diese filmwissenschaftlichen Ansätze, z. B. der französischen filmologie von André Bazin, Christian Metz oder Jacques Aumont, wurden ab den 1970er Jahren auch von der deutschen literaturwissenschaftlichen Forschung aufgegriffen – sicherlich unter Beeinflussung der Rezeption des Intertextualitätsbegriffs nach Julia Kristeva. Diese Strömung ist auch in der deutschen Romanistik bis heute die dominanteste. Analysiert man die aktuelle Debatte um die Intermedialitätsforschung,10 so kann man mit Irina Rajewsky, deren Operationalisierung von Intermedialität11 nicht nur im deutschsprachigen Raum breit rezipiert wurde, diese beiden jeweils unterschiedlich verankerten Ansätze auch hinsichtlich ihrer jeweiligen Schwerpunkte in Erkenntnisinteresse, Definitionen und Theoriebildung charakterisieren.12 Sowohl die eher medienwissenschaftlich orientierten als auch die eher literaturund kunstwissenschaftlichen Konzeptionen von Intermedialität berücksichtigen
8
Vgl. Müller: L’intermédialité, une nouvelle approche interdisciplinaire, S. 112. Siehe auch Jost, François/Gaudreault, André (Hg.): La Croisée des médias, Themenheft Sociétés et Représentations 9 (avril 2000). 9 Higgins, Dick: Horizons: The Poetics and Theory of the Intermedia, Carbondale (IL) [u. a.]: Southern Illinois UP, 1984; ders.: Intermedia, in: Something Else Newsletter 1/1 (February 1966). 10 Vgl. auch den Forschungsüberblick von Hagen, Kirsten von: Intermedialität als neues Forschungsparadigma der Romanistik, in: Grenzgänge 14/27 (2007), S. 136–166. 11 Rajewskys Modell, das im Kontext ihrer Arbeit über italienische zeitgenössische Literatur entwickelt wurde, unterscheidet zunächst zwischen Transmedialität, Intra- und Intermedialität. Mit Transmedialität bezeichnet sie medienunspezifische Phänomene, wie z. B. die Präsenz gleicher Stoffe in verschiedenen Medien; Intramedialität beschreibt Bezugnahmen innerhalb des gleichen Systems, d. h. z. B. Intertextualität oder Filmzitate im Film. Mit Intermedialität, die sie auch weiter ausdifferenziert, beschreibt sie schließlich Bezugnahmen und Wechselbeziehungen zwischen verschiedenen Mediensystemen, die auch als solche markiert sind. Vgl. Rajewsky: Intermedialität. 12 Vgl. zum Folgenden Rajewsky, Irina O.: Intermedialität und remediation. Überlegungen zu einigen Problemfeldern der jüngeren Intermedialitätsforschung, in: Paech, Joachim/Schröter, Jens (Hg.): Intermedialität – Analog/Digital. Theorien, Methoden, Analysen, Paderborn: Fink, 2008, S. 47–60, hier insb. S. 49 f.
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trotz einer Reihe von Gemeinsamkeiten und Konvergenzen die jeweils andere Tradition in vielen Publikationen nur wenig. Aus literatur- und kunstwissenschaftlicher Sicht stellt Intermedialität in erster Linie eine Kategorie zur Analyse von Medienkonfigurationen dar; Ausgangspunkt ist hier meist ein gegebenes Werk, innerhalb dessen intermediale Bezugnahmen und ihre Funktionen untersucht werden. Die medienwissenschaftliche Tradition, die auch auf dem nordamerikanischen Kontinent den Kern intermedialer Forschung bildet,13 verfolgt dagegen die Zielsetzung, Aussagen über Medien und ihre Eigenschaften im Allgemeinen zu treffen. Ihre Vertreter verstehen Intermedialität daher „als ein kulturelles bzw. mediales Basisphänomen“14, das genuin für jedes Medium ist. Der Begriff der remediation nach Bolter/Grusin15 steht für diese Entwicklungslinie. Sie bezeichnen damit allgemein die Repräsentation eines Mediums in einem anderen. Aus der Feststellung, dass jede Form medialer Vermittlung (mediation) Spuren anderer Medien beinhaltet und sich deren Techniken und ästhetischen Darstellungsformen aneignet, leiten sie ihre Mediendefinition ab, nach der sich Medien erst durch remediation charakterisieren. Sie beschreiben so ein allgemeines Prinzip, das insbesondere für die Beschreibung neuer Mediengattungen häufig Anwendung findet, da diese sich direkt oder indirekt auf Vorläufer beziehen, wie z. B. Web-Videos auf Fernsehen oder auch Home-Videos, der Computer-Desktop auf den Schreibtisch des Arbeitszimmers oder auch Verlinkungen auf Querverweise in Nachschlagewerken oder auch Fußnoten in der wissenschaftlichen Literatur. Für die Analyse von einzelnen Werken ist der Begriff dagegen weniger hilfreich, da er den Blick auf die Spezifika einzelner intermedialer Konfigurationen und Verfahrensweisen verstellt, die aber im Zentrum der literatur- und kunstwissenschaftlichen Ansätze stehen. Umgekehrt birgt die Analyse von intermedialen Phänomenen in einem literarischen oder filmischen Werk die Gefahr, die Inventarisierung von Referenzen und intermedialen Bezügen zum Selbstzweck werden zu lassen und eine übergeordnete Ebene der medialen Prozesse aus den Augen zu verlieren. Bei dem Bestreben, einen Überblick über die Forschungslandschaft zu gewinnen, fällt auf, dass die Debatte um das Konzept der Intermedialität sehr stark von deutschen Wissenschaftlern geprägt zu sein scheint, unter denen auch Romanisten wie Volker Roloff oder Franz-Josef Albersmeier prominent vertreten sind.16 Be13 Vgl. den Hinweis auf die Bedeutung der „visual ou media studies“ für die nordamerikanische Forschungstradition im Gegensatz zur dominant literaturwissenschaftlichen Intermedialitätsforschung im europäischen und deutschen Kontext von Philippe Despoix (Despoix, Philippe/ Spielmann, Yvonne: Présentation, in: Intermédialités: histoire et théorie des arts, des lettres et des techniques/Intermediality: History and Theory of the Arts, Literature and Technologies 6 (automne 2005), Themenheft Remédier/Remediation, S. 9–11, hier S. 10). 14 Rajewsky: Intermedialität und remediation, S. 50. 15 Bolter, Jay David/Grusin, Richard: Remediation: Understanding New Media, Cambridge (MA), London: MIT Press, [1999] 2000. 16 Vgl. z. B. Mecke, Jochen/Roloff, Volker (Hg.): Kino-/(Ro)Mania. Intermedialität zwischen Film und Literatur, Tübingen: Stauffenburg, 1999 (Siegener Forschungen zur romanischen Literatur- und Medienwissenschaft 1); Felten, Uta/Roloff, Volker (Hg.): Spielformen der In-
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sonders augenfällig ist weiterhin, dass sich nur sehr wenige Werke der frankophonen Forschungsliteratur mit dem Begriff Intermedialität bzw. intermédialité zu befassen scheinen. Daher soll im Folgenden dieser deutsch-französischen Dimension in der Erforschung von Intermedialität nachgegangen werden. Nach einigen Annäherungsversuchen an das zu konstatierende deutsch-französische Ungleichgewicht in der Intermedialitätsforschung sollen Phänomene des Wissens- und Kulturtransfers zwischen beiden Wissenschaftskulturen näher beleuchtet und schließlich mögliche Gründe für diese Divergenzen in den Forschungslandschaften aufgezeigt werden. 2. DEUTSCH-FRANZÖSISCHE ANNÄHERUNGEN ODER: INTERMEDIALITÄT – UNE AFFAIRE ALLEMANDE? Eine bibliografische Recherche zur deutschen und französischen Intermedialitätsforschung führt zu teilweise sehr überraschenden Ergebnissen. So verzeichnet die romanistische Standardbibliografie der französischen Literaturwissenschaft, der Klapp, für die letzten 25 Jahre lediglich acht Einträge unter dem Stichwort Intermedialität.17 Daraus lässt sich zwar nicht ableiten, dass es keine intermediale Forschung in der deutschen Frankoromanistik gab, der Befund stellt aber ein Indiz dafür dar, dass die terminologische und theoretische Debatte andernorts stattgefunden hat und der Terminus nicht unbedingt von Anfang an als Stichwort erfasst worden ist; weiterhin mag der literaturwissenschaftliche Fokus des Klapp dazu beigetragen haben, dass die seit den 1980er Jahren veröffentlichten Arbeiten mit filmwissenschaftlichem Schwerpunkt hier noch nicht Eingang gefunden haben und sich die Öffnung der Romanistik zu medienwissenschaftlichen und insbesondere filmphilologischen Gegenstandsbereichen erst in jüngeren Jahren auch dort niedergeschlagen hat. Ein großer Teil der einschlägigen Literatur, insbesondere zur Konsolidierung und terminologischen Präzisierung der Intermedialitätsforschung und zur Entwicklung eines Forschungsprogramms, ist in der Tat in Sammelbänden und Kongressakten mit interdisziplinärer Ausrichtung geführt worden, das aber sehr intensiv. Diese rege Publikationstätigkeit zur Intermedialität zeigt sich besonders eindrücklich in der vergleichenden Gegenüberstellung der Anzahl deutscher und französischer Publikationen zum Thema. termedialität im spanischen und lateinamerikanischen Surrealismus, Bielefeld: transcript, 2004 (Medienumbrüche 4); Albersmeier, Franz-Josef: Theater, Film und Literatur in Frankreich. Medienwechsel und Intermedialität, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 1992; vgl. hierzu auch den einschlägig ausgerichteten Forschungsbericht von von Hagen: Intermedialität als neues Forschungsparadigma der Romanistik. 17 Klapp-Lehrmann, Astrid (Hg.): Bibliographie der französischen Literaturwissenschaft/Bibliographie d’histoire littéraire française, begr. von Otto Klapp, Frankfurt/M.: Klostermann, 1960 ff. Untersucht wurden die Jahrgänge 1985 bis 2010. 2000, 2003 und 2008 findet sich jeweils ein Eintrag; für 2010 sind fünf Werke unter dem Stichwort Intermedialität verzeichnet.
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Frankreich
Amazon-Trefferliste
374
12
DNB/BNF
486
74
303 000
65 200
Google (Seiten auf dt./frz.)
Abb. 2: Publikationen zu Intermedialität in Deutschland und Frankreich (Stand: März 2013)
Ein Vergleich der Trefferlisten beim Schlagwort „Intermedialität/intermédialité“ beim Online-Buchhändler Amazon bestätigt eine frappierende Diskrepanz publizierter Bücher zum Thema: Während amazon.de 374 deutsche Bücher zum Schlagwort „Intermedialität“ führt, listet amazon.fr zu „intermédialité“ lediglich zwölf Werke auf.18 Eine genauere Betrachtung dieser zwölf Titel zeigt, dass davon einer portugiesischer Herkunft ist, zwei aus Deutschland stammen, darunter eine als Book-on-Demand veröffentlichte romanistische Hauptseminararbeit zu Jacques Prévert, und drei weitere kanadischer Provenienz sind. Eine Suche in den Katalogen der Bibliothèque Nationale de France (BNF) bzw. der Deutschen Nationalbibliothek in Frankfurt/Main und Leipzig unterstreicht das frappierende Missverhältnis zwischen deutsch- und französischsprachigen Publikationen zur Intermedialität: Die Deutsche Nationalbibliothek kann auf 486 Veröffentlichungen zum Thema verweisen, während ihr französisches Pendant lediglich 74 Treffer anzeigt.19 Auf einer allgemeineren Ebene lassen sich diese Befunde bekräftigen, denn auch eine Recherche mit der Internetsuchmaschine Google fördert ein sehr deutliches deutsch-französisches Ungleichgewicht zutage: Die Suche in deutscher Sprache führt zu 303 000 Treffern, während die Eingrenzung auf französischsprachige Seiten lediglich 65 200 Ergebnisse liefert. CRI „Publications pertinentes sur l’intermédialité“
Bücher
Deutsch
17
7
Französisch
12
6
Englisch
10
9
6
–
Andere (NL, I)
Artikel
Abb. 3: Verteilung der Literaturempfehlungen des CRI nach Sprachen
18 Stand März 2013. 19 Stand März 2013. Von Februar 2012 bis März 2013 ist ein deutlicher Anstieg auf beiden Seiten (von 375 auf 486 in Deutschland sowie von 54 auf 74 in Frankreich) zu verzeichnen, der jedoch an der grundsätzlichen Diskrepanz nichts ändert. Die fast um die Hälfte gestiegene Anzahl französischer Publikationen zum Thema verweist auf einen Trend der zunehmenden wissenschaftlichen Beschäftigung mit dem Phänomen der Intermedialität in Frankreich, die sich auch durch eine Reihe von geplanten Kolloquien und Sammelbänden manifestiert.
Intermedialität – une affaire allemande?
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Diese grundlegenden Tendenzen lassen sich auch bei einem genaueren Blick in die frankophone Forschung auf diesem Gebiet aufrechterhalten. Die zentrale wissenschaftliche Institution in der frankophonen Intermedialitätsforschung ist das an der Université de Montréal in Québec (Kanada) angesiedelte CRI – Centre de recherche sur l’intermédialité, das auch die Zeitschrift Intermédialités herausgibt.20 In der dort als „publications pertinentes sur l’intermédialité“21 bezeichneten Bibliografie mit empfohlenen Grundlagenwerken zur Intermedialität bestätigt sich, dass das Zentrum ein Ort intensiven interkulturellen wissenschaftlichen Austauschs in der Intermedialitätsforschung ist. Die Provenienz der dort verzeichneten Werke kann als Annäherung an das internationale Netzwerk des Zentrums herangezogen werden. Unter den 44 aufgeführten selbstständigen Publikationen bilden die 17 deutschen Bücher den größten Anteil, gefolgt von zwölf frankophonen, zehn englischsprachigen und sechs Werken aus anderen Ländern. Etwas ausgewogener ist das Verhältnis bei den vom CRI empfohlenen Aufsätzen: von den insgesamt 22 Texten stammen sieben aus der Feder deutschsprachiger Autoren, sechs Aufsätze sind in französischer und neun in englischer Sprache verfasst. Die Aufstellung zeigt, dass das Centre de recherche sur l’intermédialité gerade mit Deutschland einen intensiven wissenschaftlichen Austausch zu betreiben scheint. Dabei ist es sicherlich kein Zufall, dass sich unter den zitierten Autoren eine ganze Reihe von Romanisten und Québec-Forschern, wie z. B. der Medienwissenschaftler Jürgen E. Müller, finden, deren Sprachkompetenzen im Französischen für den Austausch und Transfer zweifelsohne förderlich sind und die Teilnahme an Kongressen sowie an der Publikation der Ergebnisse, Gastvorträge oder Forschungsaufenthalte sowie gemeinsame Forschungsarbeiten erst möglich machten. Zu den französischsprachigen Literaturempfehlungen des CRI zur Intermedialität ist anzumerken, dass es sich dabei in erster Linie um Publikationen von Québecer Wissenschaftlern handelt, darunter auch sechs Ausgaben der eigenen Zeitschrift des Zentrums, Intermédialités. Als letztes Beispiel soll ein frankophoner Sammelband zum Thema analysiert werden, der in Frankreich die Verkaufszahlen des Online-Buchhandels zum Stichwort Intermedialität anführt. Der u. a. von Louis Hébert und Lucie Guillemette 2009 herausgegebene Sammelband mit dem Titel Intertextualité, interdiscursivité et intermédialité22 enthält auf 495 Textseiten 30 Beiträge. Von den Autorinnen und Autoren kommen 15 aus Kanada, vor allem aus Québec, zehn aus Frankreich und je ein Aufsatz stammt aus Italien, Dänemark, Belgien, Korea sowie den USA. Unersucht man die in den Artikeln des Bandes zitierte Sekundärliteratur aus Fußnoten und Bibliografien, lassen sich lediglich neun Belegstellen finden, die den
20 http://cri.histart.umontreal.ca/cri/fr/vitrine/default.asp (20.04.2013). In Frankreich konnte kein einschlägiges Forschungszentrum zur Intermedialität recherchiert werden; stattdessen wird auch dort häufig auf das CRI verwiesen. 21 http://cri.histart.umontreal.ca/cri/fr/cdoc/SurgAutresRealisRefDu.asp?AutreRealisationID=114 (20.04.2013). 22 Hébert, Louis/Guillemette, Lucie (Hg.): Intertextualité, interdiscursivité et intermédialité, Québec: PUL, 2009.
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Begriff „intermédialité“ nennen.23 Von diesen verweisen wiederum sieben auf die Zeitschrift Intermédialités des CRI; davon beziehen sich allein drei auf die knappe „Présentation“ der Zeitschrift auf ihrer Homepage, die von Eric Méchoulan verfasst wurde und lediglich vier kurze Absätze umfasst.24 Diese kurze Betrachtung des Sammelbandes von Hébert u. a. untermauert eindringlich die herausragende Bedeutung des CRI und vor allem seiner Zeitschrift in der frankophonen Forschung zur Intermedialität und die dominierende Stellung der deutschsprachigen Wissenschaft auf diesem Gebiet. Daneben zeigen der Titel des Buchs, Intertextualité, interdiscursivité et intermédialité, sowie die lediglich sporadische Konsultation einschlägiger theoretischer Werke zum Thema, dass in der frankophonen Forschung eine ganze Reihe von alternativen Begriffen Verwendung findet25 und eine Mitwirkung an weiteren Begriffsbestimmungen und -abgrenzungen nicht im Zentrum des Interesses der Autorinnen und Autoren des Bandes steht. Welche Erklärungsmuster kann man schließlich für die konstatierte Dominanz deutscher Arbeiten zur Intermedialität finden? Hans Ulrich Gumbrecht argumentiert in seinem kritisch-polemischen Aufsatz „Why Intermediality – if at all“ vor allem mit wissenschafts- und mentalitätshistorischen Gründen, die für das große Interesse deutscher Forscherinnen und Forscher an Intermedialität verantwortlich seien.26 Der Romanist und Komparatist führt zum einen die traditionelle Fächerstruktur der deutschen Universität nach Wilhelm Dilthey an, durch die die verschiedenen geisteswissenschaftlichen Disziplinen über die Hermeneutik miteinander verbunden sind, und spricht zum anderen polemisch von einer „Germanoacademic fascination with media and materialities of communication“27. Zur Intermedialitätsdebatte vermerkt Gumbrecht weiterhin, dass sie in sehr viel stärkerem Maße ein spezifisch deutsches Phänomen zu sein scheint, als sich die deutschen Wissenschaftler selbst vorstellen könnten.28 Diese Feststellung scheint mir allerdings weniger auf die Erforschung intermedialer Phänomene im Allgemeinen zuzutreffen, für die es auch in den frankophonen Kulturen zahlreiche Beispiele gibt, sondern vielmehr auf die theoretische Debatte und die Bemühungen um die Erarbeitung eines ausdifferenzierten begrifflichen Instrumentariums zur Analyse von intermedialen Konfigurationen. Ohne zu sehr in kulturelle Stereotype über kommunikative Stile in verschiedenen Kulturen zu verfallen, wie sie beispielsweise von Johan Galtung populari-
23 Übersetzungen in andere Sprachen inbegriffen. 24 Vgl. Méchoulan, Eric: Présentation, http://cri.histart.umontreal.ca/cri/fr/intermedialites/ (20.04.13). 25 Neben den genannten wären beispielsweise auch interréférencialité oder iconotextualité als verwandte Konzepte zu nennen. 26 Gumbrecht, Hans-Ulrich: Why Intermediality – if at all, in: Intermédialités 2 (automne 2003), S. 173–178, auch unter http://cri.histart.umontreal.ca/cri/fr/intermedialites/p2/pdfs/p2_gumbrecht. pdf (20.04.2013). 27 Gumbrecht: Why Intermediality, S. 177. 28 Gumbrecht: Why Intermediality, S. 177.
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siert wurden,29 und einen ‚teutonischen‘, nüchternen Stil mit Interesse an abstrakter Theorie, Wahrheit und deduktivem Denken gegen einen ‚gallischen‘, eleganten Stil mit Interesse an Argumentation und Verankerung in sozialer Realität abzugrenzen, vermögen die Ausführungen von Stefanie Averbeck-Lietz ein plausibles Erklärungsmuster in dieser Richtung anzubieten. Am Beispiel der Theoriebildung im Bereich der Kommunikationswissenschaften in Deutschland und Frankreich stellt sie in ihrer Habilitationsschrift für Deutschland ein großes Interesse an einer Makroperspektive als charakteristisch fest, dem ein eher an einer Mikroebene interessierter gallischer Stil entgegenstehe. Dies ließe sich beispielsweise anhand der Bedeutung der Mediensemiotik illustrieren, die in Frankreich im Kern der Informations- und Kommunikationswissenschaft stehe, während sie in Deutschland eher ein Randdasein fristet.30 Auch die breitere Rezeption von Jürgen Habermas’ Theorie des kommunikativen Handelns in Frankreich im Gegensatz zur abstrakteren Makroperspektive der Systemtheorie Niklas Luhmanns entspricht diesem Erklärungsmodell.31 Analog ließe sich für den Bereich der Intermedialität anführen, dass es in der frankophonen Forschung zwar eine Vielzahl von Arbeiten zu intermedialen Phänomenen gibt, diese aber auch unter einer Reihe von Ersatzbegriffen fungieren und weniger an einer systematischen Begriffsbildung arbeiten. Eine sicherlich vielversprechende Hypothese zur Erklärung der deutsch-französischen Diskrepanzen liegt in der historischen Entwicklung der Medienwissenschaften selbst. Denn die französischen Informations- und Kommunikationswissenschaften (sciences de l’information et de la communication) haben sich schwerpunktmäßig aus der Literaturwissenschaft heraus entwickelt, während sich ihr deutsches Pendant eher einer sozialwissenschaftlichen Tradition (Soziologie, Geschichte, Nationalökonomie) verpflichtet sieht.32 Diese unterschiedlichen Entwicklungslinien der Medienwissenschaften in beiden Ländern könnten auch ein Erklärungsmuster dafür sein, dass die produktive deutsch-französische Forschungskooperation zur Intermedialität, wie sie sich beispielsweise in Sammelbänden oder Zeitschriften, aber auch in Aktivitäten des kanadischen CRI manifestiert, sehr häufig französische Medienwissenschaftler aus den sciences de l’information et de la communication mit eher in der Literaturwissenschaft angesiedelten deutschen Kollegen zusammenbringt. Selbstverständnis und Fachstruktur der französischen Literaturwissenschaft mit ihrer Orientierung an Epochen und dem Kanon mögen auch mit zur Erklärung beitragen, dass sie weniger aktiv an der Konturierung der Intermedialitätsforschung beteiligt ist. Schließlich leisten sicherlich die spezifischen Strukturen des Wissenschaftsbetriebs in 29 Vgl. Galtung, Johan: Struktur, Kultur und intellektueller Stil. Ein vergleichender Essay über sachsonische, teutonische, gallische und nipponische Wissenschaft, in: Wierlacher, Alois (Hg.): Das Fremde und das Eigene: Prolegomena zu einer interkulturellen Germanistik, München: Iudicium, 1985, S. 151–196. 30 Averbeck-Lietz, Stefanie: Kommunikationstheorien in Frankreich. Der epistemologische Diskurs der Sciences de l’information et de la communication (SIC) 1975–2005, Berlin: Avinus, 2010, hier S. 80. 31 Averbeck-Lietz: Kommunikationstheorien in Frankreich, S. 80. 32 Vgl. Averbeck-Lietz: Kommunikationstheorien in Frankreich, S. 82.
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Deutschland und Kanada einerseits sowie in Frankreich andererseits einen Beitrag zur Erklärung der festgestellten Diskrepanzen bei. Denn während in Deutschland und Kanada die Förderstrukturen den Zusammenschluss von Forschergruppen und damit auch die interdisziplinäre Vernetzung in den Geisteswissenschaften eher unterstützen, ist dies in der französischen Forschungslandschaft noch ein neueres Phänomen und weniger ausgeprägt. 3. INTERKULTURELLE PERSPEKTIVEN Abschließend ist zu betonen, dass Intermedialität sich trotz der geschilderten unterschiedlich gelagerten Forschungstraditionen als ein im interkulturellen Forschungskontext besonders produktives Konzept erweisen könnte. Hans Ulrich Gumbrecht polemisiert im zitierten Aufsatz zwar weitgehend gegen den Begriff der Intermedialität, plädiert aber dennoch für detaillierte empirische Recherchen auf diesem Gebiet, gerade um kulturspezifische Konstellationen von Intermedialität zu untersuchen.33 Diese Perspektiven erscheinen vor allem im Hinblick auf kulturspezifische Medienkonfigurationen und ihr intermediales Zusammenspiel, die sich nur im interkulturellen Vergleich erschließen, besonders fruchtbar, wie auch Hans-Jürgen Lüsebrink für die frankophonen Kulturen außerhalb Europas unterstreicht: Der Einfluss von Internet, Fernsehen und Videokultur ist vor allem in vielen außereuropäischen Literaturen, etwa den Literaturen des subsaharischen Afrika, noch deutlicher und nachhaltiger zu spüren als in den okzidentalen Literaturen, da hier der Übergang von den traditionellen, von mündlichen Kommunikationsstrukturen geprägten vorkolonialen Kulturen zur postkolonialen und postmodernen Mediengesellschaft ohne jene lange und mental prägende Phase der uneingeschränkten Dominanz von Schrift- und Buchkultur erfolgte, die die Kulturen okzidentaler Gesellschaften zwischen dem ausgehenden 15. Jahrhundert und der Mitte des 20. Jahrhunderts kennzeichnete.34
LITERATURVERZEICHNIS Albersmeier, Franz-Josef: Theater, Film und Literatur in Frankreich. Medienwechsel und Intermedialität, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 1992. Averbeck-Lietz, Stefanie: Kommunikationstheorien in Frankreich. Der epistemologische Diskurs der Sciences de l’information et de la communication (SIC) 1975–2005, Berlin: Avinus, 2010.
33 Vgl. Gumbrecht: Why Intermediality, S. 178. 34 Lüsebrink, Hans-Jürgen: Literarische Darstellungsformen der audiovisuellen Globalisierung – autobiographische Texte von J.-M. Le Clézio (Frankreich), Mehdi Charef (Frankreich/Algerien) und Michel Tremblay (Québec/Canada) in interkultureller Perspektive, in: Fäcke, Christiane/ Hülk, Walburga/Klein, Franz-Josef (Hg.): Multiethnizität, Migration und Mehrsprachigkeit. Festschrift zum 65. Geburtstag von Adelheid Schumann, Stuttgart: Ibidem-Verlag, 2008 (Romanische Sprachen und ihre Didaktik 14), S. 325–340, hier S. 326.
Intermedialität – une affaire allemande?
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ANHANG
ZUSAMMENFASSUNGEN Hans Manfred Bock Zur Überwindung nationaler Begriffsmodellierung des Intellektuellen. Neukonzeptualisierungen in Frankreich und ihre deutschen Filiationen Am Beispiel der Intellektuellen-Forschung in Frankreich und Deutschland können die Antriebe und Verlaufsbahnen transnationalen Kulturtransfers paradigmatisch dargestellt werden. Während in Frankreich der Intellektuellen-Begriff seit der Dreyfus-Affäre vorherrschend positiv konnotiert war, weil er Bestandteil des republikanischen Politikverständnisses wurde, konnte sich in Deutschland diese Bezeichnung für politisch intervenierende Kulturproduzenten lange Zeit nicht durchsetzen, da die republikanischen Werte dort im politischen Leben minoritär blieben oder (im Dritten Reich) unterdrückt wurden. Im Übergang von den 1970er zu den 1980er Jahren begann gleichzeitig in Frankreich nach dem Gulag-Schock die Infragestellung der klassischen Figur des Intellektuellen und in Deutschland im ‚Deutschen Herbst‘ die Aufwertung bzw. Neutralisierung des IntellektuellenBegriffs. Dieser wird entsprechend diesen Maßgaben seitdem in beiden Ländern intensiv diskutiert und hat inzwischen eine Flut von kultur- und sozialwissenschaftlichen Studien veranlasst. Die Rezeption der soziologischen und der historiografischen Linie der französischen Intellektuellen-Forschung verlief in der Folgezeit über präzise benennbare Institutionen der bilateralen Forschungskooperation, die in den vorangegangenen Jahrzehnten aufgebaut worden waren, und führt gegenwärtig an die Schwelle wechselseitigen Methodenaustauschs. In diesem Transfervorgang zeichnet sich als generelle Regel transnationalen Kulturaustauschs die Feststellung ab, dass vorzugsweise die Elemente vom anderen Land übernommen und angeeignet werden, für die im eigenen Land eine Prädisposition (gesellschaftliches Interesse und individueller Sinndeutungsbedarf) bereits existiert. Anke Bosse Interkulturalität – von ‚Transfer‘ zu ‚Vernetzung‘ Ausgehend von der Etymologie des Begriffs ‚Transfer‘ zeigt der Artikel auf, inwiefern die Praktikabilität dieses Begriffs in der Kulturtransfer-Forschung begrenzt ist, etwa aufgrund seiner Unilinearität, seines binären Sender-EmpfängerModells, seiner Widersprüchlichkeit (der aktive Transfer von A nach B steht der von B, der sogenannten Empfängerkultur, ausgehenden Untersuchungsrichtung entgegen). Nachgezeichnet wird die entsprechende Ausweitung von ‚Transfer‘ zu ‚Transferprozessen‘, dann zu ‚Vernetzung‘ – auch in der Kulturtransfer-Forschung selbst, wodurch die eigene Label-Bezeichnung fragwürdig wird.
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Weiterhin wird die Dynamik der Distanz zwischen Eigenem und Anderem sowie die Dynamik der Differenz zwischen Vertrautem und Fremdem erläutert und damit eine weitere begriffliche Klärung vorgenommen. Ihr folgt eine Problematisierung der Begriffe von Interkulturalität und Transkulturalität (insbesondere der Vereinseitigung durch W. Welsch) sowie der Rede von ‚Kulturen‘. Letztere ist einerseits heuristisch unverzichtbar, setzt aber andererseits eine Differenzierbarkeit voraus, die den realen komplexen Vermischungen, Verdichtungen, Dynamiken gerade nicht entspricht. Dies wird abschließend an einem ‚Orient‘-‚Okzident‘Beispiel vorgeführt. Margot Brink Topische Gedächtnis- und Wissensräume. Aktuelle Toposforschung im Kontext von Kulturvergleich und -transfer Die von Ernst Robert Curtius eingeführte und für die Entwicklung der historischen Komparatistik grundlegende Toposforschung wurde nach einer Phase der intensiven Kritik in den 1970er Jahren im darauf folgenden Jahrzehnt von der Intertextualitätstheorie weitgehend abgelöst. Gegenwärtig lässt sich jedoch ein erneutes Interesse an einer allerdings grundlegend reformulierten Toposforschung ausmachen. Es handelt sich um Ansätze, die in kritischer Auseinandersetzung mit Curtius die Konzepte von Topoi und Topik mit kulturwissenschaftlichen Fragestellungen gewinnbringend verbinden: zum einen im Bereich der Kultursemiotik, der Intertextualität und der damit verknüpften memory studies, zum anderen im Spektrum der interdisziplinären Untersuchung der Funktion von Topoi und Topik für die Tradierung und den Wandel von Wissen(schaft)sdiskursen. Der Beitrag stellt diese aktualisierte Toposforschung vor und zeigt an einem literarischen Beispiel, dem Topos der dame sans mercy als einem Muster im frühneuzeitlichen Wandel, dass die Analyse eines solchen Topos Erkenntnisse über gefühlskulturelle Modelle und Transformationen zu geben vermag. Abschließend werden die theoretisch-methodischen Konsequenzen, die sich aus den Ansätzen einer kulturwissenschaftlich reformulierten Toposforschung für die Analyse von Prozessen des Literatur- und Kulturvergleichs bzw. -transfers ergeben, erörtert. Dies geschieht insbesondere mit Blick auf eine notwendig erscheinende Historisierung von Textbegriffen und Intertextualitätskonzepten. Kambiz Djalali Übersetzung und trilateraler Kulturtransfer. Deutsch-französische Konfigurationen am Beispiel der Rezeption persischer Dichtung Für die Thematik und Problemstellung des vorliegenden Beitrags ist die deutschfranzösische Orientalistik, die Instrumentarien für die systematische Beschäftigung mit klassischer persischer Dichtung zur Verfügung stellte, zentral. Zunächst
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wird die Funktion von Übersetzungen aus dem Persischen im deutsch-französischen Raum bestimmt. Daraufhin werden die kulturellen Auswirkungen des Imports klassischer persischer Dichtung diesseits und jenseits des Rheins betrachtet. Die Anwendung des Kulturtransfer-Ansatzes auf den persischen Sprachraum führt dazu, dass konstruierte kulturelle Dichotomien aufgebrochen werden. Michael Eggers Körper und Texte. Zur entstehungsgeschichtlichen Nähe von Komparatistik und vergleichender Anatomie Die Frage nach der Relevanz des Vergleichs für die Komparatistik kann mit rein theoretischen Argumenten nicht hinreichend beantwortet werden, es bedarf eines ergänzenden historischen Blickwinkels. Das vergleichende Verfahren wird zu Beginn des 19. Jahrhunderts zu einem fachübergreifenden Orientierungspunkt, ein Umstand, der wesentlich aus dem Erfolg der vergleichenden Anatomie seit Georges Cuvier resultiert und Auswirkungen auf die Entstehung der vergleichenden Literaturgeschichte hat. Dies war nur möglich in einer historischen Situation, die noch immer durch das Ideal einer république des lettres und eines selbstverständlichen Wissenstransfers, in diesem Fall zwischen Frankreich und Württemberg, geprägt war. Auf diesem Weg hat Cuvier zunächst in Stuttgart und dann im Briefkontakt mit seinen deutschen Kollegen die entscheidenden Anstöße erhalten. Über die Darstellung weiterer historischer Einflussverhältnisse lässt sich ein epistemologisches Netz beschreiben, das die vergleichende Physiologie Johann Gottfried Herders, die Kräftetheorie Carl Friedrich Kielmeyers, die vergleichende Anatomie Cuviers und die Anfänge der vergleichenden Sprachwissenschaften umfasst. Auch die konzeptionellen Anfänge der literaturwissenschaftlichen Komparatistik, als deren Vordenker Herder und der Begründer der vergleichenden Sprachwissenschaft, Friedrich Schlegel, anzusehen sind, berühren dieses Feld. So lässt sich die seit Längerem in der Komparatistik diskutierte These, der Stichwortgeber der Fachbezeichnung littérature comparée, Abel-François Villemain, habe sich für seine begriffliche Prägung an der vergleichenden Anatomie orientiert, bestätigen. Michel Espagne Komparatistik im Transfer Der Begriff der Komparatistik kann unterschiedliche Bedeutungen annehmen, je nachdem in welchen Kontexten er betrachtet wird. Der Vergleich ästhetischer Motive scheint sich vor allem in einem französischsprachigen Kontext entwickelt zu haben. In Deutschland war die vergleichende Grammatik der indoeuropäischen Sprachen immer ein wichtiger Bezugspunkt. In Russland ist es die Nähe zwischen Ethnoanthropologie und Literaturanalyse, die der Komparatistik ein besonderes Relief verleiht. Man kann also die nationalen Spielarten der Komparatistik nicht
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voneinander trennen, ohne Interaktionen und Transfers zu berücksichtigen, die auf sie einwirken oder sie überhaupt erst hervorbringen. Der vorliegende Artikel untersucht die Transferbeziehungen zwischen den Komparatistiken anhand des Beispiels Russland und speziell anhand der Werke von Aleksandr Nikolaevič Veselovskij und Vladimir Âkovlevič Propp. Louise-Hélène Filion Neue Perspektiven auf die interkulturelle Intertextualität: théorie de la référencialité und critique spatiale Dieser Artikel untersucht einen spezifischen Typus der intertextuellen Weiterverbreitung: sein Ziel ist, einige fruchtbare theoretische Perspektiven zur Analyse des Werks von Schriftstellern zu entwickeln, welche sich dezidiert zwischen ‚Transfer‘ und ‚Vergleich‘ situieren, indem sie präzise und direkte Intertextualitätsmarker mit interkulturellen Gegenüberstellungen oder Fragestellungen verbinden. Der Artikel stützt sich auf die Arbeiten zweier französischer Theoretikerinnen, die in letzter Zeit dem komplexen Begriff der Intertextualität wichtige Überblickswerke gewidmet haben. Auch wenn die inter- oder transkulturelle Intertextualität nicht den Schwerpunkt der von Tiphaine Samoyault und Sophie Rabau behandelten Fragestellungen bildet, so scheint es doch sinnvoll, einige ihrer Überlegungen aus diesen Überblickswerken auf die hier vorgestellte Problematik anzuwenden. Konkrete Analysebeispiele liefern dabei der Roman Le Mal de Vienne des Quebecer Schriftstellers Rober Racine sowie einige Romane von Thomas Bernhard, mit denen Racines Roman in Dialog tritt. Carolin Fischer Lyrik-Übersetzung als Kulturtransfer In diesem Beitrag werden drei Topoi zum Thema Lyrik-Übersetzung näher beleuchtet. In einem ersten Abschnitt wird der Auffassung der Unmöglichkeit, Poesie in eine andere Sprache zu übertragen, die entsprechende, jahrtausendealte Praxis entgegengesetzt, eine Praxis, in der selbst übersetzte Lyrik an Prozessen produktiver Rezeption teilhat. Anschließend werden unter dem Stichwort traduction-tradition verschiedene theoretische Standpunkte seit dem 18. Jahrhundert einander gegenübergestellt. Dabei zeigt sich, dass die Kontroverse zwischen sourciers und ciblistes (JeanRené Ladmiral), d. h. die Debatte, ob eine Übersetzung stärker dem Original oder dem Zielpublikum verpflichtet ist, bereits im Zeitalter der Aufklärung geführt wurde. Daraus ergibt sich, dass jede Übersetzung Ergebnis eines sprachlichen, räumlichen und oft auch zeitlichen Kulturtransfers darstellt, wobei in der Lyrik die spezifische Gattungsausprägung zusätzliche Probleme bereitet und die semantische Ebene häufig zugunsten der Form vernachlässigt wird, was einige Beispiele abschließend illustrieren.
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Ruth Florack Stereotypenforschung als Beitrag zur Erforschung von Kulturvergleich und -transfer Während sich die traditionelle komparatistische Imagologie deutsch-französischer Provenienz bei ihrer Frage nach Fremd- und Selbstbildern immer wieder mit nationalen bzw. ethnischen Stereotypen als Problem konfrontiert sah, hat die jüngere – eher global denn bilateral orientierte – imagologische Forschung diese Muster selbst ins Zentrum ihres Interesses gerückt, so etwa durch deren Vertreter Joep Leerssen (Amsterdam) mit seinem Postulat einer „grammar of cross-cultural representation“. Im Anschluss an diese Wende plädiert der Beitrag aus literaturwissenschaftlicher Sicht für ein neutrales Verständnis von Stereotypen als denkökonomischen, komplexitätsreduzierenden Wahrnehmungsmustern. Texte, die einen Kulturvergleich leisten oder einen Transfer fremdkultureller Gegebenheiten vermitteln (von konkret materiellen Objekten bis zu abstrakten Konzepten, in der Literatur ebenso wie im Film), greifen häufig auf etablierte Schemata zurück, in denen nationale und ethnische Stereotype eine zentrale Rolle spielen. Ausgehend von dieser Beobachtung werden methodologische Überlegungen für die Erforschung von Regularitäten und Funktionen dieser Stereotype im Kontext von Kulturvergleich und -transfer angestellt. Perrine Häfner Grenzverkehr und literarische Übersetzung: Neue Perspektiven zum Kultur- und Sprachtransfer am Beispiel von Raymond Queneaus Zazie dans le métro Die literarische Übersetzung als Vehikel, das es ermöglicht, durch verschiedene Kulturen zu reisen, setzt nicht nur einen Sprachtransfer, sondern auch einen Kulturtransfer voraus. Der Weg zwischen den Kulturen ist dabei jedoch niemals direkt. Die notwendigen Wege und Umwege verursachen Bedeutungsverschiebungen und den unvermeidlichen Verlust von Wörtern und Elementen, die auf dem Weg zurückbleiben. Entgegen jeder Erwartung kann die literarische Übersetzung, neben dem Verlust, den sie bisweilen verursacht, auch eine ausgesprochene Bereicherung für den Ausgangstext sein. Da die Übersetzung den Vorgaben des Originaltextes folgen muss, steht sie letztlich genauso ‚unter Zwang‘ (sous contrainte) wie die Sprachspiele der Oulipiens, die sich der methodischen Erkundung des Potenzials von Literatur und Sprache verschrieben haben. Durch die contrainte, die mit der Übersetzung einhergeht, also im Spiegelbild der anderen Kultur, manifestiert sich paradoxerweise das unterdrückte Potenzial des Originalwerks. Ziel des Beitrages ist es, die Schwierigkeiten des Transfers von einer in die andere Sprache, die im Rahmen der literarischen Übersetzung auftreten, mit den Theorien von Oulipo und der Thematik der Durchreise und Bewegung in Raymond Queneaus Roman Zazie dans le métro in Beziehung zu setzen.
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In der Tat lässt sich Zazie dans le métro metaphorisch als theoretische Problematisierung der literarischen Übersetzung lesen, als eine verrückte Odyssee durch den Raum der Stadt und den der französischen Sprache. Anstatt die Metro zu nehmen, die gerade bestreikt wird – was die direkte Übersetzung unmöglich macht –, pendelt Zazie zwischen zwei Kulturen, eben aufgrund der Tatsache, dass der Roman selbst auch übersetzt wurde. Ferner ermöglicht der Vergleich des Originaltextes mit seiner deutschen Übersetzung von Eugen Helmlé, den möglichen Zugewinn durch die literarische Übersetzung zu bemessen. Ute Heidmann „La différence, ce n’est pas ce qui nous sépare“. Plädoyer für einen ,Differenzierungsvergleich‘ in den Literatur- und Kulturwissenschaften Dieser Beitrag erläutert die epistemologischen und methodischen Grundlagen einer Vergleichsmethode, die man als comparaison différentielle oder ,Differenzierungsvergleich‘ bezeichnen kann. Diese Vergleichsmethode teilt zahlreiche erkenntnistheoretische Voraussetzungen mit den Studien zum Kulturtransfer und zur interkulturellen Kommunikation von Hans-Jürgen Lüsebrink, Roger Chartier und Michel Espagne, aber durch die besondere Bedeutung, die sie dem Phänomen der Intertextualität und Dialogizität zuerkennt, auch mit den Arbeiten von Manfred Schmeling und Peter V. Zima. Ausgehend von Edouard Glissants Postulat, dass Unterschiede uns nicht trennen, sondern im Gegenteil elementare Bestandteile jeglicher Beziehung sind („La différence, ce n’est pas ce qui nous sépare“), zeigt die hier vorgestellte Analysemethode, dass auch die Wechselbeziehungen zwischen den Literaturen und Kulturen wesentlich von einem dialogischen Differenzierungsprozess bestimmt sind. Die erkenntnistheoretische Effizienz der vorgeschlagenen Vergleichsmethode zeigt die vorliegende Studie anhand der Umgestaltung und Umarbeitung einerseits dessen, was wir gemeinhin als ,griechische Mythen‘ bezeichnen, andererseits der ,kanonisierten‘ Märchen (z. B. Rotkäppchen). Der differenzierende Vergleich dieser Werke misst ihren sprachlichen, textuellen, intertextuellen, diskursiven und medienspezifischen Verfahren sinnschaffende Bedeutung zu. Solche Vergleiche zeigen, dass die Mythen- und Märchenbearbeitungen weder auf sogenannte Archetypen oder Prototypen noch auf rein nationale Paradigmen reduziert werden können, sondern ihre ganz verschiedenen und kulturspezifischen Bedeutungen einer weitgreifenden intertextuellen oder intermedialen, internationalen und interkulturellen Dialogizität verdanken. Die Erforschung des ,Differentiellen‘ führt demnach nicht zur Diagnose unüberwindbarer Unterschiede, sondern ermöglicht es, konkret deutlich zu machen, dass Kulturentwicklung schlechthin in einem interkulturellen Prozess von Frage und Antwort, Adaptation und Variation, Sinnvorschlag und Gegenvorschlag verläuft.
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Peter Herr (Un-)Vergleichbarkeit der Sho’ah? Herausforderungen für den Vergleich als Methode Anhand von Überlegungen zum Holocaust-Vergleich lassen sich Ansprüche an eine allgemeine Theorie des Vergleichs formulieren. Diese Überlegungen führen zu der Forderung, den Vergleich nicht verengt zu betrachten, sondern ihn theoretisch, praktisch und ästhetisch in den Blick zu nehmen, so dass sich seine Dialektik von Unterschieden und Gemeinsamkeiten auf ganzer Breite entfalten kann. Um diese Forderung einzulösen, sollen im Anschluss an theoretische Überlegungen zum Vergleich einerseits öffentliche Debatten in den USA um die Einzigartigkeit der Sho’ah und andererseits ästhetische Holocaust-Vergleiche in Radu Mihaileanus Spielfilm Train de vie sowie in Toni Morrisons Roman Beloved untersucht werden. Dadurch öffnet sich schließlich der Blick hin zu einer radikal komparatistischen Ethik. Joseph Jurt Literaturzirkulation und Feldtheorie Die von Pierre Bourdieu entwickelte Theorie des literarischen Feldes ist vor allem eine Theorie der literarischen Produktion. Ausgegangen wird von einem historischen Autonomisierungsprozess der einzelnen Felder; Autonomie und Heteronomie sind so deren bestimmende Merkmale. Die Formen der literarischen Werke und Stellungnahmen der Autoren erklären sich aus der (dominanten oder dominierten) Position der Autoren im Feld und nicht durch die Zurechnung zu einer sozialen Klasse oder Gruppe. Bourdieu postuliert eine Homologie zwischen dem literarischen Produktionsfeld und dem Konsumtionsfeld. Wenn Rezeptionsprozesse nicht im Zentrum seiner Arbeiten standen, so legte er doch mit seinem Vortrag „Die gesellschaftlichen Bedingungen der internationalen Zirkulation der Ideen“ von 1989 ein Forschungsprogramm für die Transfer-Analyse vor. Wie die Transferforscher geht er von der Priorität des Aufnahmefeldes aus. Er stellt fest, dass die Kriterien der Interpretation von Ideen und Werken aus einer anderen kulturellen Sphäre noch sehr stark von der Logik des nationalen Aufnahmefeldes bestimmt sind. Diese Logik wirkt oft unbewusst, weil sie durch den Habitus beeinflusst wird, der wiederum durch die Sozialisation und das Bildungssystem erworben wurde. Die Thesen von Bourdieu bildeten die Basis eines Forschungsnetzwerkes (ESSE), das durch die EU finanziert wurde und in dessen Rahmen die Hypothesen von Bourdieu durch konkrete empirische Studien überprüft wurden.
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Thomas Keller Transkulturelle Differenz bei Barbara Cassin und Alain Badiou. Neueste deutsch-französische Vergleiche und Transfers im Zeichen der Verstreuung Ausgangspunkt der Überlegungen ist die stärkere Konfliktorientierung der Humanwissenschaften in Frankreich, die das deutsch-französische Gespräch erschwert. Dafür steht die Konjunktur des Begriffs le politique, der eine widerständige politische Differenz einklagt. Mit dem Begriff ‚transkulturelle Differenz‘ soll eine deutsch-französische Konkretion sichtbar werden. Die französischen Philosophen Barbara Cassin und Alain Badiou rücken die Rezeption Heideggers aus der ‚Reuekultur‘ weg und verschieben die ontologische Differenz zu einem postfundamentalistischen Denken, das im Unvorhersehbaren auf Widerstand gegen bloße Marktmechanismen stößt. In einer weiteren Operation setzen Cassin und Badiou die Paare Sartre/de Beauvoir und Martin und Elfride Heidegger in Bezug. Sie lösen den klassischen Gegensatz von erotischintellektueller Bindung und biologischem Mutterschaftsdenken in Deutschland auf. Beide Paare integrieren sexuelle Untreue, wobei das Heideggerpaar überraschenderweise überzeugender ist. Hans-Jürgen Lüsebrink Der Kulturtransferansatz Der Kulturtransferansatz möchte im Bereich der Kulturbeziehungs-, Kulturaustausch- und Kulturkontaktforschung eine theoretische Fundierung und methodologische Instrumente liefern, die eine präzisere Analyse der Prozesse und Modalitäten der Übertragung kultureller Artefakte zwischen verschiedenen Sprach- und Kulturräumen erlauben. Der vorliegende Beitrag beleuchtet, in welcher Weise der Kulturtransferansatz, der in den 1980er Jahren in Frankreich von Forschern wie vor allem Michel Espagne und Michael Werner entwickelt wurde, heute als effizientes heuristisches Instrument dienen kann, um Kulturaustauschprozesse zu untersuchen und zu analysieren. Zugleich werden Unterschiede und Verbindungen des Kulturtransferansatzes zu komparatistischen, medienwissenschaftlichen oder interkulturellen Ansätzen und Konzepten (wie métissage und Hybridität) dargelegt und kritisch diskutiert Sonja Malzner Europäische Gemeinsamkeiten und national-kulturelle Spezifika des literarischen Blicks auf Afrika: Möglichkeiten und Aporien des Vergleichs von Afrika-Reiseberichten Der vorliegende Beitrag analysiert Formen der Repräsentation von Afrikanern in europäischen plurimedialen Reiseberichten (Text und Fotografie) der ersten
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Hälfte des 20. Jahrhunderts und geht der Frage nach, inwieweit ein Vergleich bei der Analyse dieser Repräsentationsformen fruchtbar gemacht werden kann. Dabei wird dem Konzept einer „culture coloniale européenne“ (Marc Moura, 1998) das des Vergleichs auf nationaler Ebene gegenübergestellt. Gezeigt wird anhand von deutsch- und französischsprachigen Beispielen, dass im plurimedialen Reisebericht als besonderer – populärer – Ausprägungsform des Genres Reisebericht hinsichtlich der Darstellung von Afrikanern sowohl transnationale, d. h. europäische, Diskurse zum Tragen kommen als auch nationalspezifische, die vor allem auf die unterschiedlichen politischen Entwicklungen in den beiden untersuchten Ländern, Deutschland und Frankreich, zurückzuführen sind. Stéphane Michaud Verteidigung des Vergleichs – Priorität der Dichtung: Impulse aus der Lyrik von Michel Deguy So fruchtbar und produktiv die Transferstudien auch einstmals waren – damals erschütterten sie manche geistige Unbeweglichkeit und rüttelten manchen Konformismus auf –, heute setzen sie die Literatur- und Kunstwissenschaften einem erheblichen Risiko aus, nämlich der Gefahr, sich in sich selbst zu verschließen und die schöpferische Dimension des Werkes aus dem Auge zu verlieren. Es ist Zeit, den ‚Vergleich‘ als echte Methode wieder zu Ehren zu bringen, dabei aber noch anspruchsvoller vorzugehen als andere Wissenschafts- und Wissenszweige. Die zeitgenössische Poesie von Michel Deguy zeichnet nicht ohne Stolz den Weg einer Erneuerung vor: Sie eröffnet das gesamte Feld der Hermeneutik, der Philosophie und der Geistes- und Kulturwissenschaften, dabei gründet sich ihre Kühnheit zuallererst auf die erkundende Kraft der Sprache, auf ihre spezifischen Ressourcen – genau das, was man von den Vorsokratikern bis zu Friedrich Hölderlin und Paul Celan als Dichtung bezeichnete. Patricia Oster Kunst als Medium des Kulturtransfers. Methodische Reflexionen am Beispiel von Cécile Wajsbrots Berlinromanen Im Mittelpunkt der Fragestellung steht die Kunst als Medium des Kulturtransfers. Das Kunstwerk ist per se auf Dauer gestellt und bewahrt sich deshalb als Kunstobjekt selbst, wenn es eine fremde Aneignung erfährt. Von besonderem Interesse sind dabei die Statuen im öffentlichen Raum, weil ihnen in der Ausgangskultur häufig eine konkrete politische Funktion zukommt, die sich im Transferprozess verändert, ohne dass das Kunstwerk selbst in Frage gestellt würde. In einem ersten Schritt wird deshalb am Beispiel des hochkomplexen deutsch-französischen Transferprozesses der Quadriga auf dem Brandenburger Tor, der in Paris in einem neuen Sinnsystem eine neue Aufgabe zuteil wurde, verfolgt, wie sich das Transferelement in seiner Virtualität freisetzt. In einem zweiten Schritt erfolgt die
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Analyse des 2008 erschienenen Romans L’Ile aux musées der französischen Autorin Cécile Wajsbrot. Hier stehen komplexe Transferprozesse öffentlicher Plastiken in Berlin und Paris im Mittelpunkt des literarischen Diskurses. Elke Richter Albert Camus: Kultur-Kontakte im Mittelmeerraum In den letzten zehn Jahren ist ein Perspektivenwechsel in der Camus-Forschung zu beobachten, der die nationale Verortung des Autors betrifft: Man entdeckt Camus als Algerier neu bzw. macht die spezifische algérianité seines Werks aus. Der Beitrag setzt sich kritisch mit dem Versuch einer derart nationalen Verortung Camus’ – sei diese französisch, sei diese algerisch – auseinander, und zwar in zweierlei Hinsicht. Erstens zeigt eine Analyse von Camus’ essayistischem Werk, dass Camus’ Zugehörigkeit weniger in nationalen Zusammenhängen als in einem Mittelmeerraum zu finden ist, der in Begriffen rezenter Kulturtheorien als interkultureller Raum beschrieben werden kann. Das Bild, das Camus von diesem Raum zeichnet, ist durch Pluralität und Diversität der Kulturen bestimmt bzw. durch eine Einheit, die in den geografisch-klimatischen Gegebenheiten des Raums zu finden ist, nicht aber im Begriff der Nation, den Camus als abstrakt verwirft. Die Untersuchung zweier Novellen aus dem Jahr 1957 unterstreicht diese Interpretationsrichtung. Anhand einer kontrapunktischen Lektüre, die Figuren, Perspektiven und Fragen des Raums genauer in den Blick nimmt, wird aufgezeigt, dass aus Camus’ fiktionalen Texten weder eine koloniale noch eine antikoloniale Haltung herauszulesen ist, sondern dass diese vielmehr Ambivalenz und Uneindeutigkeit dem Kolonialgeschehen gegenüber eröffnen. Damit wird einer gängigen, im Rahmen der postcolonial studies z. B. auch von Edward Said aufgestellten These widersprochen, Camus’ fiktionale Texte seien lediglich Ausdruck eines europäischen kolonial-imperialen Diskurses, der Autor selbst eine „späte imperiale Gestalt“ (Said). Jeanne Ruffing Risiken und Chancen typologischen Vergleichens am Beispiel der Analyse ethnischer und postkolonialer Kriminalliteratur Der nationenübergreifende typologische Vergleich als ein Vergleich von Gegenständen, die nicht durch direkte Transferbeziehungen verbunden sind, steht im Mittelpunkt der Kritik am comparatisme, wie ihn die Kulturtransferforschung mit besonderem Nachdruck vorgebracht hat. Er berge das Risiko, die vermeintliche Autonomie und Homogenität einer Nationalkultur zu überschätzen und somit eben gerade nicht zur Dekonstruktion nationaler Paradigmen beizutragen. Im Fokus des vorliegenden Beitrags steht demgegenüber eine konkrete komparatistische Forschungsarbeit zu ethnischer und postkolonialer Kriminalliteratur, die bewusst die Interkulturalität des Gegenstandes selbst und eine ‚traditionelle‘
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typologische – konkret: gattungstheoretische – Fragestellung miteinander verbindet. Anhand dieser Problemstellung soll gezeigt werden, dass ein solcher Vergleich nicht zur Essentialisierung führen muss, sondern gerade zur Historisierung und Kulturalisierung abstrakter Analysekategorien wie ‚Kriminalroman‘ oder ‚Ethnizität/Postkolonialität‘ dienen kann. Am Beispiel des der afroamerikanischen Literaturwissenschaft entlehnten Konzepts des signifyin(g) und seiner Anwendbarkeit auf Texte, die nicht in Zusammenhang mit der afroamerikanischen Literaturtradition stehen, wird deutlich, dass aus einer solchen produktiven Verschiebung von Analysekategorien in Bereiche jenseits ihres Ursprungskontextes neue Einsichten sowohl über die Kategorien selbst als auch über die Texte zu gewinnen sind. Manfred Schmeling Komparatistik als Beziehungswissenschaft Der Beitrag reflektiert über die kultur- bzw. literaturwissenschaftlichen Prozesse von Transfer und Vergleich unter dem Aspekt der ‚Beziehung‘. Welche Bedeutung gewinnen Beziehungen im Denken allgemein und welche Funktion haben sie für komparatistische Verfahren? Der Verfasser möchte – in begrifflicher Anlehnung an Edouard Glissants „Poétique de la Relation“ – zum einen zeigen, dass zentrale analytische Kategorien wie ‚Einfluss‘, regard croisé, ‚Hybridisierung‘ etc. auf bestimmten Relationskonzepten basieren und zu unterschiedlichen methodischen Vorgehensweisen anregen. Zum anderen wird deutlich gemacht, dass die Literatur selber solche Relationen mit Hilfe poetologischer Strategien herstellt: der Gegenstand bestimmt die Methode. Typisches Beispiel hierfür ist die Metaphorisierung interkultureller Prozesse, ein Phänomen, das man bereits auf der Ebene des politischen Diskurses (und seiner Klischees) beobachten kann, u. a. wenn vom deutsch-französischen ‚Tandem‘ die Rede ist. Monika Schmitz-Emans Das andere Schreiben der Literatur. Begegnung und Interferenzen der Bilder als Beitrag zur Darstellung und Erkenntnis des kulturell Differenten Im Zeichen der Begegnung und des Vergleichs differenter Kulturen wachsen dem traditionsreichen Malerroman neue Aufgaben zu. Dies illustrieren exemplarisch Tilman Spenglers Roman Der Maler von Peking (1993) und Orhan Pamuks Roman Rot ist mein Name (1998): In beiden geht es um die Entwicklung, Wahrnehmung und Anwendung kulturell differenter Malstile durch malende Protagonisten; in beiden wird vor allem die in der europäischen Malerei seit der Renaissance prägende Zentralperspektive zum wichtigen Thema – als kultureller Export in außereuropäische Länder. Die mit dem westlich-zentralperspektivischen Stil kontrastierenden Malstile des osmanischen Reichs (Pamuk) und Chinas (Spengler) stehen – wie auch die Zentralperspektivik selbst – in enger Beziehung zur jeweiligen Kultur
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und ihren Leitideen. In den Romanen werden anlässlich der Differenzen auch Formen und Effekte der Hybridisierung von Stilen und Denkweisen reflektiert. Letztlich sind eindeutige kulturelle Zuordnungen von Bildprogrammen und Bildstilen ohnehin problematisch. Den Befunden Hans Beltings zufolge werden etwa die Voraussetzungen des zentralperspektivischen Darstellungsstils in der arabischen Welt geschaffen. Und Orhan Pamuk verdeutlicht, in welchem Maße westliche Bildprogramme und Sehweisen die Selbstbilder der Türkei geprägt haben. Christiane Solte-Gresser Potenziale und Grenzen des Vergleichs. Versuch einer literatur- und kulturwissenschaftlichen Systematik Nach wie vor ist die Kluft zwischen Theorie und Praxis des Vergleichs eklatant und das Bedürfnis nach einer Systematisierung seiner Potenziale und Grenzen entsprechend groß. Dieser Beitrag setzt sich zum Ziel, aus dem breiten Feld der bisherigen Überlegungen zum Vergleich einige programmatische Positionen auszuwählen und diese im Hinblick auf die Gemeinsamkeiten und Unterschiede ihrer Voraussetzungen und ihrer jeweiligen Erkenntnisinteressen zu kategorisieren. Es geht also weniger um bestimmte vergleichende Methoden als vielmehr um das theoretische Spektrum dieses Tuns, das sich anhand folgender Fragen systematisieren lässt: Wie bewerten wir das Verfahren des Vergleichs, welche Intention verfolgen wir damit, von welchen Grundannahmen gehen wir dabei aus und innerhalb welches Denkhorizontes bewegen wir uns jeweils? Wenn der Vergleich eine diskursive Konstruktion ist, die Ähnlichkeit herstellt, zugleich aber ein kritisches, auf Differenz hin ausgerichtetes Erkenntnispotenzial birgt, dann bedeutet dies, dass er eine paradoxe Struktur besitzt. Diese ist untrennbar verflochten mit der Frage nach dem eigenen Standpunkt und damit nach den hierarchischen Strukturen, die dem Vergleichen innewohnen. Das Problem der Hierarchie stellt eine der größten Herausforderungen für den Vergleich als wissenschaftliches Verfahren dar und hat ganz unterschiedliche Umgangsweisen mit dem beschriebenen Paradox zur Folge. Vier solcher Konzeptionen sollen anhand repräsentativer Denkansätze fokussiert und zueinander in Beziehung gesetzt werden: Der Vergleich kann erstens die Differenz betonen und damit das Grenzüberschreitende positiv in den Vordergrund rücken. Er kann zweitens auf der Ähnlichkeit bestehen und so die Möglichkeit der Wahrnehmung und Erfahrung von Alterität kritisierend in Frage stellen. Er kann drittens versuchen, das Paradox dialektisch aufzulösen und in eine Synthese zu überführen, und er kann viertens das Paradox als eine provozierende Herausforderung begreifen und den Versuch unternehmen, dieses zu subvertieren oder gar zu potenzieren. Mit all diesen Vergleichskonzepten sind wichtige Konsequenzen für die Auseinandersetzung mit literarischen oder anderen ästhetischen Werken verbunden. Diese zumindest anzudeuten ist ebenfalls Ziel des vorliegenden Beitrages.
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Karen Struve Ambivalenz statt Vergleich und Transfer. Theoretische und methodologische Überlegungen zu kultureller Differenz und Hybridität bei Homi K. Bhabha Der vorliegende Beitrag präsentiert kritische Überlegungen zu möglichen Impulsen der Arbeiten Homi K. Bhabhas für die Kulturbeziehungsforschung. Für theoretische und methodologische Fragen der Vergleichbarkeit und des Transfers von Kulturen entwickelt Bhabha eine spezifische Perspektive kultureller Differenz und Hybridität, die sich jeglicher Dialektik, jeglichen Essenzialismen und Multikulturalitätsvorstellungen verwehrt. Nach einer Rekonstruktion des Differenz-Denkens in der Kulturvergleichs- und Kulturtransferforschung werden dieser besondere bhabhasche Zugang erläutert und Abgrenzungs- sowie Anschlussmöglichkeiten skizziert. Danach werden methodologische Konsequenzen für die literaturwissenschaftliche Analyse diskutiert und eine kursorische Lektüre von Mathias Enards Parle-leur de batailles, de rois et d’éléphants (2010) vorgestellt. Abschließend werden diese Ergebnisse als kritische Fortschreibung der Kulturbeziehungsforschung reflektiert. Christoph Vatter Intermedialität – une affaire allemande? Interkulturelle Annäherungen an die Intermedialitätsforschung in Deutschland und Frankreich Transfer und Vergleich stehen im Zentrum des Ansatzes der Intermedialität, der sich seit den 1990er Jahren zu einem der Schlüsselbegriffe medien- und kulturwissenschaftlicher Forschung entwickelt hat und auf die Analyse von Wechselwirkungen und Transferprozessen zwischen verschiedenen Mediensystemen abzielt. Ausgehend von einem frappierenden Ungleichgewicht zwischen deutsch- und französischsprachigen Forschungsarbeiten zur Intermedialität untersucht der vorliegende Beitrag die Entwicklung der frankophonen Intermedialitätsforschung. Im Zentrum der Überlegungen stehen Prozesse eines Kultur- und Wissenstransfers, vor allem vom deutsch- in den französischsprachigen Raum. Die frankophone kanadische Provinz Québec als interkultureller Interferenzraum nimmt dabei eine Schlüsselrolle für die Etablierung der frankophonen Intermedialitätsforschung ein. Peter V. Zima Französische Nietzsche-Rezeptionen. Zum interkulturellen Bedeutungswandel eines ambivalenten Werks Dieser Beitrag zeigt, wie sehr im französischen Sprachbereich widersprüchliche Nietzsche-Deutungen aus der Ambivalenz der Begriffe ‚Natur‘, ‚Leben‘ und ‚Rhetorik‘ hervorgehen. Der Mensch als Naturwesen kann sowohl mit einem humanitären Lebensprinzip als auch mit dem Herrschaftsprinzip als ‚Wille zur Macht‘ verknüpft werden. Von Albert Camus bis André Gide spielt das Natur-
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und Lebensprinzip eine entscheidende Rolle, aber ‚Leben‘ kann sowohl ‚Solidarität mit den anderen‘ als auch ‚Selbstbehauptung‘ im Sinne des Machtanspruchs bedeuten. Diese Ambivalenz, die bei Roland Barthes, Jacques Derrida und Gilles Deleuze bis in den sprachlich-rhetorischen Bereich hineinreicht, bestimmt die Dynamik der französischen Nietzsche-Rezeption über weite Strecken. Rüdiger Zymner Gattungslandschaften. Probleme des generologischen Kulturvergleiches Der Beitrag befasst sich mit Gattungen als Normen der Kommunikation, die in spezifischen Kontexten eingeführt werden, historisch und kulturell variabel sind und durch einzelne Texte exemplifiziert werden. Ein besonderes Profil erhalten Gattungen durch ihre Positionierung innerhalb ebenfalls kulturell und historisch variabler ‚Gattungslandschaften‘. Diese Mehrdimensionalität von Gattungen und ihre historisch-kulturelle Variabilität lassen sie als geeignete Gegenstände erscheinen, um Theorien der Literatur- und Kulturbeziehung zu reflektieren und methodische Optionen (insbesondere Funktion und Struktur des Vergleichens) zu überprüfen. Dies geschieht im vorliegenden Beitrag mit Blick auf das Beispiel der generischen Gruppe der Lyrik in der französischen und in der deutschen Literatur.
RESUMES Hans Manfred Bock Vers un dépassement des modèles nationaux du concept d’intellectuel. Reconceptualisations françaises et filiations allemandes L’exemple de la recherche sur les intellectuels en France et en Allemagne illustre, de façon paradigmatique, les initiatives et les voies des transferts culturels transnationaux, en général. Tandis qu’en France le concept d’intellectuel est connoté de façon majoritairement positive depuis l’affaire Dreyfus, où il devint partie intégrante de la conception républicaine, cette appellation désignant des acteurs culturels intervenant en politique a tardé à s’imposer en Allemagne, où les valeurs républicaines demeuraient minoritaires ou réprimées (pendant le Troisième Reich) dans la vie politique. Au tournant des années 1970 et 1980 commencèrent simultanément la remise en cause de la figure classique de l’intellectuel en France, suite au choc du goulag, et la valorisation ou la neutralisation du concept d’intellectuel dans l’Allemagne de l’‘automne allemand’. C’est selon ces deux traditions divergentes que ce concept a suscité, depuis lors, un vif débat dans les deux pays, entraînant un déferlement d’études en sciences sociales et culturelles. Des institutions de coopération universitaire bilatérale, créés au cours des dernières décennies et bien rodées, ont facilité la réception des apports historiographiques et sociologiques de la recherche française sur les intellectuels, réception qui conduit actuellement à un début d’échanges méthodologiques dans les deux sens. A travers ce processus de transfert transparaît le constat, fréquemment discernable à l’occasion des échanges culturels transnationaux, que les éléments de l’autre pays qui sont repris et adoptés par l’autre, sont, de préférence, ceux pour lesquels une prédisposition résultant d’intérêts sociétaux ou individuels existait déjà dans le pays d’accueil. Anke Bosse Interculturalité – du ‘transfert’ à la ‘mise en réseau’ Partant de l’étymologie du concept de ‘transfert’, cet article montrera combien les applications pratiques de ce dernier sont limitées dans le domaine de l’étude des transferts culturels, notamment du fait de son unilinéarité, de son modèle émetteurrécepteur binaire, de ses contradictions (le transfert actif de A vers B s’oppose aux études se donnant B, la culture dite de la réception, pour point de départ). Il s’agira de décrire l’élargissement du ‘transfert’ aux ‘processus de transfert’, puis à la ‘mise en réseau’ – aussi au sein de l’étude des transferts culturels elle-même, cet élargissement ayant pour effet de relativiser cette dénomination.
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Il conviendra ensuite d’expliquer la dynamique de la distance qui sépare le même de l’autre, ainsi que celle de la différence qui distingue le familier et l’étranger, procédant ainsi à un éclaircissement des concepts. Il en résulte une problématisation des concepts d’interculturalité et de transculturalité (notamment de leur définition réductrice par W. Welsch) ainsi que de l’expression de ‘cultures’. Indispensable d’un point de vue heuristique, ce dernier terme n’en postule pas moins la possibilité d’une différenciation qui ne correspond justement pas aux réalités de ces imbrications, condensations et dynamiques complexes. Un exemple opposant Orient et Occident viendra étayer cette hypothèse. Margot Brink Espaces topiques de la mémoire et du savoir. L’actualité de la topologie littéraire dans le contexte de la comparaison et du transfert culturels Après une phase de critique virulente dans les années 1970, la topologie littéraire qui fut initiée par Ernst Robert Curtius et posa les fondements du développement des études comparées historiques a largement fait place à la théorie de l’intertextualité au cours des décennies qui ont suivi. Il n’empêche qu’on constate aujourd’hui un regain d’intérêt pour une topologie littéraire ayant subi une refonte fondamentale. Des approches critiques de Curtius établissent des relations fructueuses entre les concepts de topoi, de topique et les problématiques des sciences culturelles : c’est le cas dans le domaine de la sémiotique de la culture, de l’intertextualité et des memory studies qui s’y rattachent, mais aussi dans le paysage de l’analyse interdisciplinaire des fonctions qu’assurent topoi et topiques pour la transmission et l’évolution des discours de la connaissance et des sciences. Cette contribution présente donc la topologie littéraire actualisée et montre, à la faveur d’un exemple littéraire, le topos de la ‘dame sans mercy’, un motif de l’époque moderne antérieure en mutation, que l’analyse d’un tel topos peut mettre en lumière les modèles culturels et émotionnels ainsi que leurs transformations. Enfin, on explorera les conséquences théorico-méthodiques qu’entraîne la mise en œuvre d’une topologie littéraire reformulée et tirant profit des sciences culturelles pour l’analyse des comparaisons littéraires et culturelles. On peut citer notamment la nécessité d’historiciser des concepts du texte et de l’intertextualité. Kambiz Djalali Traduction et transfert culturel trilatéral. Configurations franco-allemandes à l’exemple de la réception de la poésie persane Les études orientales franco-allemandes, qui ont mis à disposition des instruments d’analyse systématique de la poésie persane classique, sont primordiales pour la thématique et la problématique de cette contribution. La fonction qu’assurent les traductions du persan dans l’espace franco-allemand sera d’abord analysée. Les retombées culturelles de l’importation de la poésie persane classique de part et
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d’autre du Rhin seront ensuite évoquées. Appliquer l’approche des transferts culturels à l’espace persanophone entraîne une révision de dichotomies culturelles artificielles. Michael Eggers Corps et textes. De la proximité des conditions d’émergence historiques des études comparatives et de l’anatomie comparée Répondre à la question de la pertinence de la comparaison en études comparatives par des arguments purement théoriques ne suffit pas ; il faut y apporter en outre un aperçu historique complémentaire. Au début du XIXe siècle, le procédé de la comparaison se généralise au point de devenir une référence dépassant les disciplines particulières. Cette diffusion de la comparaison résulte essentiellement du succès de l’anatomie comparée inaugurée par Georges Cuvier et joue un rôle non négligeable dans l’apparition de l’histoire littéraire comparée. Cette évolution fut favorisée par la situation historique, qui restait marquée par l’idéal de la ‘république des lettres’ et par une évidente circulation des savoirs, en l’occurrence entre la France et le Bade-Wurtemberg. Ainsi, c’est d’abord à Stuttgart, puis lors de sa correspondance avec ses collègues allemands que Cuvier reçut des impulsions déterminantes. Représenter les influences historiques ultérieures permet de tisser un réseau épistémologique englobant la physiologie comparée de Johann Gottfried Herder, la théorie des forces de Carl Friedrich Kielmeyer, l’anatomie comparée de Cuvier ainsi que les débuts de la linguistique comparée. La première phase de conception de la littérature comparée, dont les précurseurs furent Herder et Friedrich Schlegel, fondateur de la linguistique comparée, participe également à ce réseau. Aussi la thèse longuement débattue en études comparatives soutenant que l’anatomie comparée ait incité l’inventeur de la dénomination de littérature comparée, Abel-François Villemain, à forger ce concept s’en trouve-t-elle confirmée. Michel Espagne Transfert de comparatismes Le comparatisme a des sens différents selon les contextes dans lesquels il est envisagé. La mise en parallèle de motifs esthétiques semble s’être principalement développée dans un contexte francophone. En Allemagne, le poids de la référence à la grammaire comparée des langues indoeuropéennes est toujours resté très fort. Mais le Danois Georg Brandes peut être considéré comme un prédécesseur de Joseph Texte et de Fernand Baldensperger dans une histoire du comparatisme français. En Russie, la proximité de l’ethno-anthropologie et de l’analyse littéraire donne au comparatisme une dimension particulière. On ne saurait isoler les comparatismes nationaux sans tenir compte d’interactions et de transferts qui les modifient ou même simplement les constituent. En se concentrant sur le cas russe et
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sur les œuvres de Aleksandr Nikolaevič Veselovskij et de Vladimir Âkovlevič Propp, l’article propose une étude des transferts entre comparatismes. Louise-Hélène Filion Nouvelles perspectives sur l’intertextualité interculturelle : « théorie de la référencialité » et « critique spatiale » Cet article examine un type précis de dissémination intertextuelle : il a pour objectif d’indiquer quelques perspectives théoriques fécondes pour analyser le travail des écrivains qui se placent résolument entre ʻtransfertʼ et ʻcomparaisonʼ, jumelant marques précises ou directes d’intertextualité et rapprochement ou questionnement d’ordre interculturel. Nous nous appuyons sur les propositions de deux théoriciennes françaises qui ont récemment consacré des synthèses à la complexe notion d’intertextualité ; si l’intertextualité interculturelle ou transculturelle n’est pas au cœur des interrogations de Tiphaine Samoyault et de Sophie Rabau, il paraît néanmoins fructueux d’adapter à notre problématique quelquesunes des réflexions menées dans leurs récents panoramas critiques. Afin d’identifier des exemples concrets d’analyse auxquels pourraient conduire les perspectives de Samoyault et de Rabau, nous nous référons au roman Le Mal de Vienne de l’écrivain québécois Rober Racine, ainsi qu’à quelques œuvres de Thomas Bernhard avec lesquelles ce roman entre en dialogue. Carolin Fischer La traduction poétique comme transfert culturel Cette contribution met en lumière trois topoi propres à la traduction poétique. Dans une première partie, on opposera à la conception de l’impossibilité de transposer la poésie dans une autre langue la pratique millénaire de la traduction poétique, pratique dans laquelle même la poésie traduite participe à des processus de réception productive. Différents points de vue portant sur la notion de ‘traduction-tradition’ depuis le XVIIIe siècle seront ensuite présentés de manière contrastive. Il s’avère alors que la controverse entre sourciers et ciblistes (Jean-René Ladmiral), c’est-à-dire la question de savoir si une traduction doit rester plutôt fidèle au texte original ou s’adapter au public cible, avait déjà cours à l’époque des Lumières. Il en résulte que chaque traduction apparaît comme le résultat d’un transfert culturel, linguistique, spatial et aussi fréquemment temporel, cependant que les spécificités du genre poétique posent des problèmes supplémentaires et que le niveau sémantique est souvent négligé au profit de la forme, ce qu’illustrent des exemples en conclusion.
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Ruth Florack L’étude des stéréotypes comme contribution à l’exploration des comparaisons et transferts culturels Tandis que l’imagologie comparatiste traditionnelle d’origine franco-allemande se voyait, dans son étude des images de soi et de l’autre, sans cesse confrontée au problème des stéréotypes nationaux et ethniques, la recherche imagologique récente – de dimension davantage internationale que bilatérale – fait preuve d’un intérêt nouveau pour ces motifs, à l’instar notamment de leur représentant Joep Leerssen (Amsterdam) qui postule l’existence d’une « grammar of cross-cultural representation ». S’inscrivant dans ce tournant, cette contribution plaide d’un point de vue littéraire pour une appréciation neutre des stéréotypes comme modèles de perception économiques pour la pensée et réduisant la complexité. Les textes qui réalisent une comparaison entre cultures ou effectuent un transfert de réalités propres à une culture étrangère (allant d’objets matériels concrets aux concepts abstraits, dans la littérature comme au cinéma) ont fréquemment recours à ces schémas préétablis, pour lesquels des stéréotypes nationaux et ethniques jouent un rôle primordial. Partant de cette observation, on formulera des réflexions méthodologiques relatives à l’exploration des régularités et des fonctions qu’assurent ces stéréotypes dans le contexte de comparaisons et de transferts entre les cultures. Perrine Häfner Trafic ‘frontalier’ et traduction littéraire : Nouvelles perspectives sur le transfert culturel et linguistique à l’exemple de Zazie dans le métro de Raymond Queneau Tel un moyen de transport qui permettrait de circuler d’une culture à l’autre, la traduction littéraire suppose non seulement un transfert linguistique mais aussi un transfert culturel. Or le trajet entres les cultures n’est jamais direct. Les tours et détours obligatoires entraînent un glissement de sens et une perte inévitable de mots et d’éléments qui restent sur la chaussée. Mais contre toute attente, au-delà de la perte qu’elle engendre, la traduction littéraire propose également un véritable enrichissement pour le texte d’origine. En tant qu’écriture ‘sous contrainte’, la traduction s’apparente aux jeux littéraires que pratiquent les oulipiens attachés à une exploration méthodique des potentialités de la littérature et de la langue. C’est par ‘la contrainte’ que constitue la traduction – c’est-à-dire dans le miroir de l’autre culture – que se manifeste paradoxalement la potentialité contenue dans l’œuvre originale. L’objectif de cette contribution est de mettre en perspective les difficultés du transfert d’une langue à l’autre rencontrées lors de la traduction littéraire avec les théories de l’Oulipo et la thématique du passage et du mouvement dans le roman Zazie dans le métro de Raymond Queneau. En effet, Zazie dans le métro peut se lire comme métaphore du problème théorique de la traduction littéraire, comme une folle odyssée à travers l’espace de
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la ville et celui de la langue française. A défaut de prendre le métro, qui est en grève – la traduction directe étant impossible –, Zazie fait la navette entre deux cultures par le fait même que le roman fait l’objet d’une traduction. Aussi, une comparaison du texte original avec sa traduction en langue allemande d’Eugen Helmlé permettra d’évaluer le gain possible que représente la traduction littéraire. Ute Heidmann « La différence, ce n’est pas ce qui nous sépare ». Pour une analyse différentielle des relations littéraires et culturelles Cette contribution présente les enjeux épistémologiques et méthodologiques d’un type de comparaison désignée comme ‘différentielle’. Cette approche partage nombre de présupposés avec les études sur les transferts culturels et la communication interculturelle menées par Hans-Jürgen Lüsebrink, Roger Chartier et Michel Espagne mais, par l’attention particulière qu’elle voue à l’intertextualité et au dialogisme, aussi des travaux menés par Manfred Schmeling et Peter V. Zima. Postulant avec Edouard Glissant que « la différence, ce n’est pas ce qui nous sépare », mais « la particule élémentaire de toute relation », elle montre que la différenciation est un principe fondamental de l’interaction des cultures et des littératures. L’étude illustre l’efficacité heuristique de la comparaison différentielle par l’analyse des créations littéraires et culturelles qui ont trait aux mythes grecs d’une part et aux contes canoniques (comme Le Petit Chaperon rouge) de l’autre. Accordant une grande importance aux particularités langagières, énonciatives, textuelles et discursives de ces œuvres, l’analyse différentielle montre qu’elles ne relèvent ni de prétendus ‘universaux’ ni de paradigmes nationaux, mais d’un dialogisme intertextuel, international et interculturel. Le souci d’explorer ce qui est ‘différentiel’ ne mène donc pas au constat d’irréductibles différences, mais permet de comprendre que les œuvres littéraires et culturelles évoluent en réponse les unes aux autres, dans un processus continu de relance, d’adaptation et de variation, de proposition de sens et de contre-proposition. Peter Herr L’(in)comparable Shoah comme défi pour la méthode comparative Partant de réflexions sur la comparaison de l’Holocauste, il est possible de formuler des exigences pour une théorie globale de la comparaison. Ces réflexions entraînent la nécessité de comprendre la comparaison dans un sens large et de la considérer sous ses aspects théoriques, pratiques et esthétiques, de façon à ce qu’une dialectique des différences et des points communs puisse se développer pleinement. Afin d’être à la hauteur de cette aspiration, ces réflexions théoriques déboucheront sur une analyse des débats publics aux Etats-Unis sur le caractère
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unique de la Shoah d’une part, et des comparaisons esthétiques de l’Holocauste dans le long-métrage de Radu Mihaileanu, Train de vie, ainsi que dans le roman de Toni Morrison, Beloved. Ainsi des perspectives favorables à une éthique comparatiste radicale s’ouvrent enfin. Joseph Jurt Circulation littéraire et théorie des champs La théorie du champ littéraire élaborée par Pierre Bourdieu est avant tout une théorie de la production littéraire. Celle-ci présuppose un processus historique d’autonomisation de chaque champ ; aussi, autonomie et hétéronomie sont-elles ses caractéristiques déterminantes. Les formes que revêtent les œuvres littéraires et les positions des auteurs s’expliquent non pas par l’appartenance à une classe sociale ou à un groupe, mais par la position (dominante ou dominée) des auteurs dans le champ littéraire. Bourdieu postule une homologie entre le champ de production et le champ de consommation littéraires. Si les processus de réception n’ont jamais été au centre de ses travaux, sa communication intitulée « Les conditions sociales de la circulation internationale des idées » de 1989 n’en constitue pas moins un programme de recherche pour l’analyse des transferts. Comme les spécialistes du transfert, il y affirme la priorité du champ de réception. Il constate que les critères d’interprétation des idées et des œuvres issues d’une autre sphère culturelle demeurent très fortement déterminés par la logique du champ de réception national. Cette logique agit souvent inconsciemment, dans la mesure où elle est influencée par l’habitus, lui-même résultat de la socialisation et du système d’éducation. Les thèses de Bourdieu sont au fondement de la création d’un réseau de recherche (ESSE) financé par l’UE dans le but de vérifier les hypothèses de Bourdieu à l’aune d’études empiriques concrètes. Thomas Keller La différence transculturelle selon Barbara Cassin et Alain Badiou. Comparaisons et transferts franco-allemands récents sous le signe de la dispersion Le point de départ de ces réflexions est la prédilection plus marquée des sciences humaines françaises pour le conflit, qui rend le dialogue franco-allemand difficile. En témoigne l’engouement pour le concept du politique, qui clame l’existence d’une différence politique tenace. Le concept de ‘différence transculturelle’ doit rendre visible une concrétisation franco-allemande. Les philosophes français Barbara Cassin et Alain Badiou dissocient la réception d’Heidegger d’une ‘culture du remords’ et déplacent la différence ontologique vers une pensée post-fondamentaliste qui trouve dans l’imprévisibilité une résistance aux simples mécanismes du marché. Dans une autre opération, Cassin et Badiou mettent en parallèle les couples Sartre/Beauvoir et Martin et Elfride Heidegger. Ils dissolvent l’opposition classique entre lien érotico-intellectuel et
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pensée biologiste de la maternité en Allemagne. Si les deux couples intègrent l’infidélité sexuelle, le couple Heidegger se révèle, de façon surprenante, plus convaincant. Hans-Jürgen Lüsebrink L’approche des transferts culturels L’approche des transferts culturels vise à apporter, dans le domaine des relations, des échanges et contacts culturels, un fondement théorique et des outils méthodologiques permettant une analyse plus précise des processus et modalités de la traduction d’artefacts culturels entre différents espaces linguistiques et culturels. Cette contribution met en lumière la façon dont l’approche théorique des transferts culturels, amorcée en France dans les années 1980 par des chercheurs comme notamment Michel Espagne et Michael Werner, peut constituer aujourd’hui un instrument heuristique très efficace pour mieux éclairer et analyser les processus d’échanges culturels. D’autre part, cette réflexion expose et discute les liens et différences observables entre l’approche des transferts culturels, les approches et concepts de l’analyse comparatiste et interculturelle, et enfin ceux de l’analyse médiatique (comme ‘métissage’ et ‘hybridité’). Sonja Malzner Points communs européens et spécificités culturelles nationales du regard littéraire sur l’Afrique: Possibilités et apories de la comparaison entre récits de voyage sur l’Afrique Cette contribution analyse diverses représentations des Africains dans des récits de voyage européens plurimédiatiques (texte et photographie) de la première moitié du XXe siècle et explore la question de savoir dans quelle mesure une analyse comparative de ces représentations peut s’avérer fertile. Dans ce but, on opposera au modèle de « culture coloniale européenne » (Marc Moura, 1998) celui de la comparaison à l’échelle nationale. Au moyen d’exemples germanophones et francophones, il conviendra de montrer que le récit de voyage plurimédiatique, expression – populaire – particulière du genre du récit de voyage, laisse affleurer à travers de sa représentation des Africains des discours tant transnationaux, c’est-àdire européens, que nationaux, lesquels peuvent être attribués aux différentes évolutions politiques observables dans les deux pays analysés, l’Allemagne et la France.
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Stéphane Michaud Libérer les énergies de la comparaison : Michel Deguy et les propositions de la poésie Fécondes et productrices, dans la mesure où elles ont à une époque donnée secoué les paresses et débusqué les conformismes, les études de transfert exposent aujourd’hui les études littéraires et artistiques à un risque grave : se refermer sur elles-mêmes et perdre de vue l’œuvre dans sa dimension créatrice. Il est temps de remettre à l’honneur la ‘comparaison’ comme méthode authentique, mais sur des bases plus exigeantes encore que celles dont se réclament d’autres domaines de la science et de la connaissance. A la pointe de l’extrême contemporain, la poésie de Michel Deguy désigne fièrement les voies d’un renouveau : si elle ouvre tout le champ de l’herméneutique, de la philosophie et des sciences humaines, son audace se fonde d’abord sur la vigueur exploratoire du langage, ses ressources propres – ce que, des présocratiques à Friedrich Hölderlin et Paul Celan, on appelle la poésie. Patricia Oster L’art comme médium du transfert culturel. Réflexions méthodiques à l’exemple des romans berlinois de Cécile Wajsbrot L’art est un médium de transferts culturels par excellence. Comme l’œuvre d’art est intrinsèquement durable, elle ne perd pas sa qualité d’objet d’art, même lors d’une appropriation étrangère. Dans ce cadre, les statues de l’espace public revêtent un intérêt particulier, puisqu’elles assument souvent, dans la culture d’origine, une fonction politique concrète, susceptible de se transformer pendant un processus de transfert, sans que l’œuvre fasse elle-même l’objet d’une remise en cause. Le processus de transfert franco-allemand qui a conduit le Quadrige de la Porte de Brandebourg à Paris, et auquel on attribuait en France une tâche bien différente dans un système de significations renouvelé, peut révéler l’objet de transfert dans toute sa virtualité. L’analyse du roman L’Ile aux musées de l’écrivain français Cécile Wajsbrot paru en 2008 place dans un deuxième temps les processus de transfert complexes que suscitent les sculptures publiques à Berlin et à Paris au centre du discours littéraire. Elke Richter Albert Camus : Contacts culturels dans l’espace méditerranéen Ces dix dernières années, on observe un changement de perspective dans la recherche camusienne concernant l’ancrage national de cet auteur : on redécouvre Camus l’Algérien, ou plutôt on identifie l’‘algérianité’ spécifique de son œuvre. Cette contribution propose une analyse critique de cette tentative de situer Camus dans un cadre national – qu’il soit français ou algérien – à deux égards. Un
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examen des essais de Camus démontre d’abord que l’auteur appartient moins à un contexte national qu’à l’espace méditerranéen, espace interculturel suivant des théories culturelles récentes. Le tableau que Camus dresse de cet espace se caractérise par la pluralité et la diversité des cultures, ou encore par une unité identifiable dans ses réalités géographico-climatiques, et non par le concept de nation, que Camus rejette comme abstrait. L’étude de deux nouvelles de l’année 1957 va dans le même sens. Une lecture à rebours (contrapuntal reading) s’attachant aux personnages, aux points de vue et à l’espace démontre qu’il est impossible de lire une position soit coloniale soit anti-coloniale dans les textes fictionnels de Camus qui jettent plutôt un regard ambivalent et ambigu sur la réalité coloniale. Aussi peut-on réfuter la thèse répandue dans le cadre des études postcoloniales, énoncée par exemple par Edward Said, qui voit dans les textes fictionnels de Camus la simple expression d’un discours colonial et impérial européen, et dans l’auteur une « figure impériale tardive » (Edward Said). Jeanne Ruffing Risques et profits de la comparaison typologique à l’exemple de l’analyse de la littérature policière ethnique et postcoloniale Une des critiques principales adressées au comparatisme, que l’étude des transferts culturels formule avec une virulence particulière, a trait à la comparaison typologique transnationale en tant qu’elle compare des objets qui ne sont pas directement liés par des relations de transfert. Selon ses détracteurs, ce type de comparaison comporte le risque de surestimer l’autonomie et l’homogénéité d’une culture nationale et ainsi de ne justement pas contribuer à la déconstruction des paradigmes nationaux. A l’inverse, cette contribution portera principalement sur un travail de recherche comparatiste concret sur la littérature policière ethnique et postcoloniale, qui établit délibérément un lien entre l’interculturalité de l’objet et une problématique typologique ‘traditionnelle’ – plus concrètement : relative à la théorie des genres littéraires. Ce questionnement permet de démontrer qu’une telle comparaison n’aboutit pas nécessairement à l’essentialisation, mais peut plutôt favoriser l’historicisation et la culturalisation de catégories d’analyse abstraites telles que ‘roman policier’ ou ‘ethnicité/postcolonialité’. L’exemple du concept de signifyin(g), issu des lettres afro-américaines et applicable à des textes sans rapport avec la tradition littéraire afro-américaine, révèle qu’un tel déplacement productif des catégories d’analyse hors de leur contexte d’origine peut engendrer une nouvelle compréhension de ces catégories mêmes et de ces textes.
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Manfred Schmeling Les études comparatives comme science relationnelle Cette contribution propose une réflexion sur les processus de transfert et de comparaison en lettres et en sciences culturelles se concentrant sur la notion de « relation ». Quel rôle jouent les relations dans la pensée en général et quelles fonctions revêtent-elles pour le procédé de la comparaison ? L’auteur souhaite montrer – en référence à la « Poétique de la Relation» d’Edouard Glissant – d’une part que des catégories d’analyse centrales telles que l’‘influence’, le regard croisé, l’‘hybridation’, etc. reposent sur certains modèles relationnels et suscitent diverses approches méthodiques. D’autre part, il démontre que la littérature engendre elle-même de telles relations au moyen de stratégies poétologiques : l’objet détermine la méthode. Un exemple typique en est la métaphorisation de processus interculturels, phénomène que l’on observe déjà dans le discours politique (et ses clichés), notamment quand il est question du ‘tandem’ franco-allemand. Monika Schmitz-Emans L’autre écriture de la littérature. Rencontres et interférences des images comme contribution à la représentation et à la connaissance de la différence culturelle A la faveur de la rencontre et de la comparaison entre cultures différentes, de nouvelles tâches reviennent au roman pictural qui présente une tradition très riche. C’est ce qu’illustrent de façon emblématique les romans Le Peintre de Pékin (Der Maler von Peking) (1993) de Tilman Spengler et Mon nom est Rouge (1998) d’Orhan Pamuk. Ces deux œuvres mettent en scène le développement, la perception et l’emploi de deux styles picturaux culturellement différents par des protagonistes peintres ; ces deux œuvres se donnent pour sujet principal la perspective centrale, qui domine la peinture européenne depuis la Renaissance – en tant qu’export culturel dans les pays extra-européens. Contrastant avec le style occidental qui exige une perspective centrale, les styles picturaux de l’empire ottoman (Pamuk) et de la Chine (Spengler) entretiennent – à l’instar de la perspective centrale – une relation étroite avec chaque culture et ses idées directrices. Dans ces romans, ces différences sont l’occasion de réfléchir aussi aux formes et aux effets de l’hybridation des styles et des modes de pensée. Enfin, la classification culturelle catégorique des programmes iconographiques et des styles picturaux se révèle pour le moins problématique. Les travaux de Hans Belting ont démontré le rôle fondamental du monde arabe dans l’évolution de la perspective centrale. Et Orhan Pamuk explique la façon dont les programmes picturaux et les visions des Occidentaux ont marqué l’image que la Turquie a d’elle-même.
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Christiane Solte-Gresser Potentiels et limites de la comparaison. Tentative de classification pour les lettres et sciences culturelles Le fossé entre théorie et pratique de la comparaison demeure éclatant et le besoin de systématiser ses potentialités et ses limites s’avère donc également primordial. Cette contribution se donne pour objectif de sélectionner, dans le vaste champ des réflexions qui ont cours sur la comparaison, certaines positions programmatiques et de les catégoriser en fonction des points communs et des différences de leurs présupposés et de leurs centres d’intérêt. Il s’agit donc moins de méthodes comparatives particulières que du spectre théorique de cette action, qui se laisse systématiser au moyen des questions suivantes : comment évaluons-nous le procédé de la comparaison, quelles intentions nous guident alors, sur quelles prémisses nous basons-nous et dans quel horizon de pensée évoluons-nous ? Si la comparaison est une construction discursive qui produit de la ressemblance tout en recelant un potentiel herméneutique critique et axé sur la différence, cela signifie qu’elle présente une structure paradoxale. Cette dernière est indissociablement liée à la question du point de vue subjectif et donc à celle des structures hiérarchiques qui sous-tendent toute comparaison. Le problème de la hiérarchie représente un des plus grands défis que pose la comparaison en tant que procédé scientifique et entraîne diverses façons de traiter le paradoxe décrit précédemment. Suivant une approche représentative, quatre de ces conceptions seront présentées et mises en relation : la comparaison peut d’abord souligner la différence et valoriser le passage des frontières. Elle peut insister dans un deuxième temps sur la ressemblance et questionne donc de façon critique la possible perception et expérience de l’altérité. Troisièmement, elle peut essayer de résoudre le paradoxe de façon dialectique en réalisant une synthèse, ou quatrièmement comprendre enfin ce paradoxe comme un défi provocateur et entreprendre de le subvertir ou de l’accentuer. Toutes ces conceptions de la comparaison ont d’importantes conséquences sur notre compréhension d’œuvres littéraires ou esthétiques. Evoquer ces conséquences est également l’objectif de cette contribution. Karen Struve L’ambivalence plutôt que la comparaison et le transfert. Réflexions théoriques et méthodologiques sur la différence culturelle et l’hybridité dans l’œuvre de Homi K. Bhabha Cette contribution présente des réflexions critiques sur les possibles impulsions des travaux de Homi K. Bhabha pour l’étude des relations culturelles. En ce qui concerne les questions théoriques et méthodologiques de la comparabilité et du transfert des cultures, Bhabha développe une perspective spécifique partant de la différence culturelle et de l’hybridité qui se défend de toute dialectique, de tout essentialisme et de toutes représentations multiculturalistes. Après avoir reconstruit
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cette pensée de la différence dans l’étude de la comparaison et des transferts entre cultures, l’article mettra en lumière l’approche particulière de Bhabha et esquissera les possibles démarcations et convergences. Ses conséquences méthodologiques pour l’analyse littéraire feront l’objet d’un débat à la lumière d’une lecture cursive du roman de Mathias Enard, Parle-leur de batailles, de rois et d’éléphants (2010). Ces résultats seront enfin interrogés en tant que continuité critique de l’étude des relations culturelles. Christoph Vatter L’intermédialité – une affaire allemande ? Approches interculturelles des études intermédiales en France et en Allemagne Transfert et comparaison forment le centre du concept d’intermédialité, qui depuis les années 1990 est devenu une des notions clés de la recherche dans le domaine des médias et de la culture et vise à analyser les interactions et processus de transfert entre divers systèmes médiatiques. Partant d’un déséquilibre frappant entre travaux de recherche menés sur l’intermédialité en France et en Allemagne, cette contribution analyse le développement de la recherche intermédiale francophone. Les évolutions d’un transfert culturel et scientifique, provenant surtout de l’espace germanophone vers l’espace francophone, constitueront le cœur de ces considérations. La province canadienne francophone du Québec, qui fait figure d’espace d’interférences interculturel, assure à cet égard un rôle clé pour l’établissement d’une recherche intermédiale francophone. Peter V. Zima Réceptions françaises de Nietzsche. Sur les changements interculturels de la signification d’une œuvre ambivalente Cette contribution montre combien l’ambivalence des concepts ‘nature’, ‘vie’ et ‘rhétorique’ donne lieu à des interprétations contradictoires de Nietzsche dans l’espace francophone. L’homme en tant qu’être vivant peut aussi bien être associé à un principe de vie humaniste qu’au principe de domination de la ‘volonté de puissance’. D’Albert Camus à André Gide, le principe de vie et de nature joue un rôle décisif, mais la vie peut aussi bien signifier ‘solidarité vis-à-vis des autres’ qu’‘affirmation de soi’ au sens d’une prétention au pouvoir. Cette ambivalence, qui se retrouve chez Roland Barthes, Jacques Derrida et Gilles Deleuze et s’étend jusqu’au domaine linguistico-rhétorique, détermine largement la dynamique de la réception française de Nietzsche.
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Rüdiger Zymner Paysages de genres. Problèmes relatifs à la comparaison générique des cultures Cette contribution est consacrée aux genres en tant que normes de la communication qui se voient introduites dans des contextes spécifiques, varient suivant les périodes et les cultures et s’incarnent dans des textes particuliers. Leur profil se précise par leur positionnement au sein des ‘paysages de genres’, qui varient également en fonction des cultures et des périodes historiques. La pluridimensionnalité des genres et leur variabilité historico-culturelle les font apparaître comme des objets appropriés pour mener une réflexion sur les théories des relations littéraires et culturelles et vérifier des options méthodiques (notamment la fonction et la structure de la comparaison). Cette contribution déploiera cette hypothèse à l’exemple du groupe générique de la poésie dans la littérature française et allemande.
AUTORENVERZEICHNIS HANS MANFRED BOCK Studium der Politikwissenschaft, Germanistik und Romanistik in Marburg und Paris. 1966 Wiss. Staatsexamen, 1967 Promotion in Marburg mit einer Arbeit zur Sozial- und Ideengeschichte der Weimarer Republik („Syndikalismus und Linkskommunismus von 1918 bis 1923“). 1968 bis 1972 Lektor und Apl. Professor an der Universität Paris-Sorbonne. Ab 1972 Professor für Politikwissenschaft (Politische Soziologie) und Komparatistik in Kassel sowie Gastprofessor am Institut d’Allemand d’Asnières (Paris), an der Ecole des Hautes Etudes en Sciences Sociales und in den USA (Vermont). (Mit-)Herausgeber des „Frankreich-Jahrbuchs“ von 1991 bis 2005, von „Lendemains. Etudes comparées sur la France. Vergleichende Frankreichforschung“ seit 1988 und der Buchreihe „édition lendemains“. Veröffentlichungen u. a.: Geschichte des „linken Radikalismus“ in Deutschland. Ein Versuch, Frankfurt/M. 1976; Syndikalismus und Linkskommunismus 1918 bis 1923. Ein Beitrag zur Sozial- und Ideengeschichte der frühen Weimarer Republik, Darmstadt 21993; Kulturelle Wegbereiter politischer Konfliktlösung. Mittler zwischen Deutschland und Frankreich in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, Tübingen 2005; Topographie deutscher Kulturvertretung im Paris des 20. Jahrhunderts, Tübingen 2010; Versöhnung oder Subversion? Deutsch-französische Verständigungs-Organisationen und -Netzwerke der Zwischenkriegszeit (im Druck). ANKE BOSSE Studium der Germanistik, Romanistik und Komparatistik in Göttingen und München. 1988–1991 Wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Universität München. 1992/93 Stipendiatin der Studienstiftung des deutschen Volkes, seither Alumna. 1990–1999 Mitarbeit an den Neuausgaben von Goethes West-östlichem Divan im Rahmen der Frankfurter und der Münchner Goethe-Gesamtausgabe. 1993–1997 Assistentin an der Universität Genf (Schweiz). 1996 Thèse d’état summa cum laude an der Universität Genf. Seit 1997 Professorin, seit Sept. 2008 Ordinaria an der Universität Namur (Belgien). 1998–2010 Direktorin der dortigen Abteilung für Germanistik. 2005/06 Gastprofessorin an der Universität Antwerpen (Belgien). 2010 Berufung in die wissenschaftliche Kommission SHS 3 des Belgischen Nationalfonds (F. R. S.-FNRS). Veröffentlichungen u. a.: „Meine Schatzkammer füllt sich täglich …“. Die Nachlaßstücke zu Goethes ‚West-östlichem Divan‘. Dokumentation – Kommentar, 2 Bde., Göttingen 1999. Mit-Hg.: Spuren, Signaturen, Spiegelungen. Zur Goethe-
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Rezeption in Europa, Köln [u. a.] 2000; Periphere Identitäten in der deutschsprachigen Literatur nach 1945, Brüssel 2002; Schnittpunkt Kulturwissenschaft, Themenheft Germanistische Mitteilungen 65 (2007). Hg.: Plurimedialität. Theaterformen der Moderne und der Avantgarden in Europa, Paris 2011. Aufsätze zur Literatur der Goethezeit, zur Editionsphilologie, critique génétique und zum literarischen Schreiben, zur Literatur der Jahrhundertwende (1900), zum Theater und Theaterdiskurs der Moderne und der Avantgarden, zur Literaturgeschichtsschreibung, zur deutschsprachigen Gegenwartsliteratur, zu Intertextualität, Interkulturalität, Intermedialität. MARGOT BRINK Studium der Kulturwissenschaften und Romanistik, 1994–1997 wissenschaftliche Mitarbeiterin in Bremen. Dort auch Promotion mit einer Untersuchung zum Thema Ich schreibe, also werde ich. Nichtigkeitserfahrung und Selbstschöpfung in den Tagebüchern von Marie Bashkirtseff, Marie Lenéru und Catherine Pozzi (Frankfurt/M. 1999) im Rahmen des Forschungsprojektes „Subjektivität und Moderne“. 1998–2007 wissenschaftliche Assistentin und Habilitationsstipendiatin in Bremen. Seit 2007 Mitarbeiterin, Lehrbeauftragte, Vertretungen an den Universitäten Osnabrück und Paris VIII, derzeit Privatdozentin in Berlin. 2011 Habilitation an der Humboldt-Universität zu Berlin mit der Schrift Topoi der EntSagung: Konzepte, Schreibweisen und Räume der Liebes- und Eheverweigerung in der romanischen Literatur des 17. Jahrhunderts. Veröffentlichungen u. a.: Gemeinschaft in der Literatur – Mythos oder Möglichkeit? Zur Aktualität poetisch-politischer Interventionen, Würzburg 2013 (hg. mit S. Pritsch); Le motif du regard (Laure, Sartre et Bataille), in: Cahiers Laure 1/2013, S. 62–72; Ecritures. Denk- und Schreibweisen jenseits der Grenzen von Literatur und Philosophie, Tübingen 2004 (hg. mit Ch. Solte-Gresser). KAMBIZ DJALALI 1995–2005 Studium der Fächer Französisch, Geschichte, Germanistik und Erziehungswissenschaften in Göttingen, Paris und Bonn. 1998–1999 Fremdsprachenassistent an den Gymnasien von Thiais und Fresnes (Paris), 2003–2005 Deutschlektor an der Universität Paris 8, 2005–2006 Fremdsprachenassistent am IUFM von Paris. 2008–2012 Binationale Promotion bei Michel Espagne (Paris, ENS/CNRS) und Hans-Jürgen Lüsebrink (Universität des Saarlandes), die Dissertation Das Fremde ist dem Eigenen zu eigen – Die klassische persische Dichtung im deutsch-französischen Raum des 19. Jahrhunderts wurde am 18. Januar 2012 verteidigt und wird in der wissenschaftlichen Reihe „Saarbrücker Beiträge“ bei Königshausen & Neumann veröffentlicht. Sekundarstufenlehrer I und II für die Fächer Französisch und Geschichte in Hannover.
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Veröffentlichungen: Le Livre des Rois de Ferdowsi et ses traductions dans la philologie et la littérature françaises et allemandes, in: Revue germanique internationale 7 (2008), S. 125–137; Chatterjee u. a. (Hrsg.): Europe observed. Multiple Gazes in Early Modern Encounters. Lewisburg, PA 2008 [Rezension], http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/id=12526. MICHAEL EGGERS Studium der Germanistik und Anglistik in Köln und London. Promotionsstipendium der Graduiertenförderung NRW. 2002 Promotion an der Universität zu Köln. Postdoktorandenstipendium des Graduiertenkollegs „Interkulturelle Kommunikation in kulturwissenschaftlicher Perspektive“ der Universität des Saarlandes für ein Forschungsprojekt über Ingeborg Bachmann und James Joyce. 2002– 2004 Koordinator des Zentrums für Moderneforschung der Universität zu Köln. 2004–2006 und 2007–2013 wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für deutsche Sprache und Literatur I der Universität zu Köln. 2005 Offermann-HergartenPreis der Philosophischen Fakultät der Universität zu Köln für die Dissertationsschrift. 2006 Sylvia Naish Research Fellow, Institute of Germanic and Romance Studies, London. 2007–2009 „Eigene Stelle“ (DFG) am Institut für deutsche Sprache und Literatur I der Universität zu Köln, mit dem Projekt „Wissensgeschichte des Vergleichs. Zur Genealogie der Trennung von Geistes- und Naturwissenschaften“. Seit 2013 Akademischer Rat auf Zeit ebenda. 2013 Habilitation (Venia Legendi: Neuere deutsche Literaturwissenschaft und Vergleichende Literaturwissenschaft). Veröffentlichungen u. a.: Texte, die alles sagen. Erzählende Literatur des 18. und 19. Jahrhunderts und Theorien der Stimme, Würzburg 2003. Mit-Hg.: Wissenschaftsgeschichte als Begriffsgeschichte. Terminologische Umbrüche im Entstehungsprozess der modernen Wissenschaften, Bielefeld 2009. Hg.: Von Ähnlichkeiten und Unterschieden. Vergleich, Analogie, Klassifikation in Wissenschaft und Literatur (18./19. Jahrhundert), Heidelberg 2011; Artikel „Vergleich“, „Honoré de Balzac: Comédie Humaine – Préface“, in: Borgards, Roland [u. a.]: Metzler Handbuch Literatur und Wissen, Stuttgart, Weimar 2013. MICHEL ESPAGNE Né en 1952, ancien élève de l’ENS-Ulm, études à Tübingen, Cologne, agrégé d’allemand, 1977 thèse de IIIe cycle sur Robert Musil et Hermann Broch (Paris IV), 1985 doctorat d’Etat sur Heinrich Heine, directeur de recherche au CNRS depuis 1988, directeur de l’UMR « Pays germaniques : histoire, culture, philosophie » et du Laboratoire d’excellence (LabEx) « TransferS ». Parmi les publications : Federstriche. Die Konstruktion des Pantheismus in Heines Arbeitshandschriften, Hamburg 1991 ; Le Paradigme de l’étranger. Les chaires de Littérature étrangère au XIXe siècle, Paris 1993 ; Les Juifs allemands
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de Paris à l’époque de Heine. La translation ashkénaze, Paris 1996 ; Les Transferts culturels franco-allemands, Paris 1999 ; Le Creuset allemand. Histoire interculturelle de la Saxe, XVIIIe et XIXe siècles, Paris 2000 ; En deçà du Rhin. L’Allemagne des philosophes français au XIXe siècle, Paris 2004. Co-éd. : Philologiques IV. Transferts culturels triangulaires France-Allemagne-Russie, Paris 1996 (avec E. Dmitrieva) ; Dictionnaire du monde germanique, Paris 2007 (avec E. Décultot et J. Le Rider). LOUISE-HELENE FILION Louise-Hélène Filion a étudié les littératures de langue française et l’allemand à l’Université de Montréal, à l’Université Paris VII/Paris Diderot et en Allemagne. Doctorante en études littéraires à l’Université du Québec à Montréal et à l’Université de la Sarre dans le cadre d’une co-tutelle internationale de thèse, elle s’intéresse aux relations littéraires Québec–Allemagne et Québec–Autriche. Sa thèse porte sur la réception productive de Thomas Bernhard et de Peter Handke au Québec, chez de nombreux romanciers, poètes et essayistes dont les œuvres sont parues depuis le début des années 1980. Louise-Hélène Filion a notamment collaboré au projet de recherche « Perceptions de l’Allemagne nazie au Québec dans la littérature et les médias de 1933 à nos jours », mené par Robert Dion (Université du Québec à Montréal) et Hans-Jürgen Lüsebrink (Université de la Sarre). Pour ses recherches doctorales, elle bénéficie d’une bourse du Conseil de recherches en sciences humaines du Canada/Social Sciences and Humanities Research Council of Canada. CAROLIN FISCHER Studium der Romanistik und Komparatistik in Hamburg, Paris III (licence) und Berlin. Wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Universität Essen, der FU Berlin (Promotion 1993; Education érotique. Pietro Aretinos Ragionamenti im libertinen Roman Frankreichs, Stuttgart 1994), der Humboldt-Universität sowie der Universität Potsdam (Habilitation 2005; Der poetische Pakt. Rolle und Funktion des poetischen Ich in der Liebeslyrik bei Ovid, Petrarca, Ronsard, Shakespeare und Baudelaire, Heidelberg 2007). 2007 Qualification aux fonctions de professeur des universités (CNU 10). 2006–2009 Vertretungsprofessorin an der Universität Hamburg für Französische und Italienische Literaturwissenschaft. Seit 2009 Professorin für Littérature générale et comparée an der Université de Pau et des Pays de l’Adour. Leitung eines trilateralen Vigoni-Projektes Konzepte der Rezeption; Rezensentin französischer Literatur für Deutschlandradio Kultur. Veröffentlichungen u. a.: Gärten der Lust. Eine Geschichte erregender Lektüren, Stuttgart, Weimar 1997. Hg. der ersten deutschen Übersetzung von Ronsards Amours (Amoren für Cassandre/Le premier livre des amour, französisch – deutsch, deutsch v. Georg Holzer, Berlin 2006, Prix André Gide 2008; Le Second
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Livre des Amours/Amoren für Marie, französisch – deutsch, deutsch v. Georg Holzer, Berlin 2010) sowie einer französischen Neuedition der Liaisons dangereuses (Garnier 2010). Mit-Hg.: Identität und Diversität: Eine interdisziplinäre Bilanz der Interkulturalitätsforschung in Deutschland und Frankreich/Identité et diversité. Etat des lieux interdisciplinaire de la recherche sur l’interculturalité en France et en Allemagne, Berlin 2005; Französische und frankophone Literatur in Deutschland (1945–2010). Rezeption, Übersetzung, Kulturtransfer, Frankfurt/M. [u. a.] 2012; Lyrik-Übersetzung zwischen imitatio und poetischem Transfer: Sprachen, Räume, Medien/La traduction de la poésie entre imitatio et transfert poétique : langues, espaces, médias, Tübingen 2012. RUTH FLORACK Studium der Germanistik, Romanistik und Erziehungswissenschaft an den Universitäten Münster und Toulouse (DAAD-Stipendium). Nach dem Staatsexamen 1987–1988 Assistante d’allemand an einem Gymnasium in Arcachon. 1989–1993 DAAD-Lektorin für Deutsche Sprache, Literatur und Landeskunde an der Université de Rouen. 1994 Promotion an der Universität Stuttgart mit einer Arbeit über Frank Wedekinds ‚Lulu‘-Dramen (Fassungsvergleich unter Berücksichtigung bislang unbekannter französischer Quellen). 1995–1998 Wissenschaftliche Mitarbeiterin im Rahmen eines eigenen Drittmittelprojekts zu nationalen Stereotypen in deutscher und französischer Literatur, gefördert von der Volkswagen Stiftung in ihrem Programm „Das Fremde und das Eigene“. 1998 Prof.-Dr.-Robert-MinderPreis der Johann-Wolfgang-von-Goethe-Stiftung Basel für die Arbeiten auf dem Gebiet der deutsch-französischen Imagologie. 1998–2004 Wissenschaftliche Assistentin am Institut für Literaturwissenschaft der Universität Stuttgart (Lehrstuhl Prof. Dr. Horst Thomé) im Rahmen des Margarete-von-Wrangell-Habilitationsprogramms des Landes Baden-Württemberg. 2004 Habilitation in den Fachgebieten Neuere Deutsche Literaturwissenschaft und Vergleichende Literaturwissenschaft an der Universität Stuttgart mit einer Studie zu Herkunft und Funktion nationaler Stereotype in der Literatur. Seit 2005 Professorin für Deutsche Philologie/Neuere deutsche Literatur an der Universität Göttingen. Veröffentlichungen u. a.: Wedekinds ,Lulu‘. Zerrbild der Sinnlichkeit, Tübingen 1995; (Gastred.) Frank Wedekind. Text + Kritik 131/132 (1996). Hg.: Nation als Stereotyp. Fremdwahrnehmung und Identität in deutscher und französischer Literatur, Tübingen 2000; Tiefsinnige Deutsche, frivole Franzosen. Nationale Stereotype in deutscher und französischer Literatur, Stuttgart [u. a.] 2001; Bekannte Fremde. Zu Herkunft und Funktion nationaler Stereotype in der Literatur, Tübingen 2007; (hg. mit Rüdiger Singer) Die Kunst der Galanterie. Facetten eines Verhaltensmodells in der Literatur der Frühen Neuzeit, Berlin [u. a.] 2012.
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PERRINE HÄFNER Studium der spanischen Philologie, der französischen Philologie und der Vergleichenden Literaturwissenschaft an der Universität des Saarlandes. Seit 2009 Hilfsund Lehrkraft am Lehrstuhl für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft der Universität des Saarlandes. Seit April 2011 Stipendiatin der Landesgraduiertenförderung und Promotion am Lehrstuhl für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft über die Raumdarstellung in modernen und postmodernen Stadttexten von Miguel de Unamuno, Raymond Queneau und Paul Auster. Forschungsschwerpunkte: Griechisch-römische Mythologie, Frauenbilder in der Literatur des 19. Jahrhunderts, moderne und postmoderne Stadtliteratur, Avantgarden und Surrealismus. UTE HEIDMANN Ute Heidmann, ancienne boursière de la Studienstiftung des deutschen Volkes, est professeure titulaire de la chaire de Littérature comparée à l’Université de Lausanne en Suisse où elle a fondé et dirige le Centre de recherche en Langues et littératures européennes comparées (CLE). Après des études comparatistes à l’Université de la Sarre, des séjours d’études à Jérusalem, Florence et aux USA et une thèse de doctorat à l’Université de Genève, elle a enseigné aux Universités de Genève (Institut européen), de Fribourg et de Neuchâtel. Régulièrement professeure invitée en Italie et au Brésil et en automne 2014 à l’EHESS à Paris, elle est aussi membre du comité exécutif de l’ICLA. Ses enseignements, recherches et publications portent sur l’épistémologie de la comparaison, de l’interdisciplinarité et du traduire, l’analyse comparative et discursive des genres littéraires et non littéraires, des récits de voyage, des (r)écritures des mythes grecs, des contes européens, des textes littéraires reconfigurés pour jeunes lecteurs. Elle est auteure ou co-auteure de plusieurs ouvrages dont Die eigene Art zu sehen. Zur Reisebeschreibung des späten achtzehnten Jahrhunderts am Beispiel von Karl Philipp Moritz und anderen Englandreisenden, Bern [etc.] 1993 ; Le Texte littéraire. Pour une approche interdisciplinaire, Louvain-La-Neuve 2009 ; Textualité et intertextualité des contes : Perrault, Apulée, La Fontaine, Lhéritier…, Paris 2010 ; La Babele in cui viviamo. Traduzioni, riscritture, culture, Torino 2012. Plusieurs livres écrits en collaboration avec Jean-Michel Adam ont été traduits et édités au Brésil. Pour la bibliographie des éditions d’ouvrages collectifs, articles et chapitres d’ouvrage voir http://www.unil.ch/lleuc. PETER HERR Peter Herr studierte Romanistik, Polonistik und Philosophie an der Universität Bremen. Seit Oktober 2009 arbeitet er als wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft an der Universität
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des Saarlandes. Er promoviert unter dem Titel „Inkongruenz von Komödie und Sho’ah“ zur Auseinandersetzung mit der Sho’ah in Filmkomödien. Veröffentlichungen u. a.: Der doppelte Diktator. Doppelgänger und Ambivalenz in Chaplins The Great Dictator, in: Hoffstadt, Christian/Müller, Sabine (Hg.): Doppelgänger, Polygänger, Alter Egos, Bochum [u. a.] 2012, S. 67–77; Gespenster im Comic und in der Holocaust(re)präsentation, in: Grünewald, Dietrich (Hg.): Reportagecomics, Dokumentarische Comics, Comicbiographien [im Druck]. JOSEPH JURT Geb. 1940 in Willisau (Schweiz). Studium der Romanistik und der Geschichte an der Universität Fribourg und an der Sorbonne. 1966 Promotion in Fribourg mit einer Arbeit über das politische Denken von Georges Bernanos. 1966–1970 Dozent am Lehrerseminar des Kantons Luzern. 1970–1973 Forschungsstipendium in Paris und Elève titulaire der EHESS. 1974–1980 Assistent und Akademischer Rat an der Universität Regensburg. 1978 Habilitation mit einer rezeptionssoziologischen Arbeit. 1980 Professor an der Universität Regensburg. 1981–2005 Professor für Französische Literaturwissenschaft an der Universität Freiburg i. Br. MitGründer und Vorsitzender des Frankreich-Zentrums der Universität Freiburg (1993–2000). Gastdozenturen an der Ecole des Haute Etudes en Sciences Sociales (Paris), an der Sorbonne Nouvelle, an der Bundes-Universität Rio de Janeiro. Ab 2006 Lehraufträge an der PHZ Luzern, den Universitäten Basel und St. Gallen. Mitglied des Deutsch-Französischen Kulturrates (1997–2000). Mitglied und dann Vizepräsident des Schweizerischen Wissenschaftsrates (SWTR) (2000–2007). Neuere Veröffentlichungen: Das literarische Feld. Das Konzept Pierre Bourdieus in Theorie und Praxis, Darmstadt 1995. Bourdieu, Stuttgart 2008 (Grundwissen Philosophie); Frankreichs engagierte Intellektuelle. Von Zola bis Bourdieu, Göttingen 2012. Hg.: Absolute Pierre Bourdieu, Freiburg i. Br. 2003, 2007; Unterwegs zur Moderne. Arbeiten aus dem Graduiertenkolleg „Modernität und Tradition in Frankreich und Deutschland“, Freiburg i. Br. 2004; Intellektuelle – Elite – Führungskräfte und Bildungswesen in Frankreich und Deutschland, Freiburg i. Br. 2004; Die Literatur und die Erinnerung an die Shoah, Freiburg i. Br. 2005; Champ littéraire et nation, Freiburg i. Br. 2007. THOMAS KELLER Geb. 1954 in Osnabrück, seit 1999 Professor für deutsch-französische Kulturwissenschaft an der Universität Aix-Marseille, vorher in Straßburg und Limoges, verantwortlich für den integrierten Studiengang Aire interculturelle franco-allemande, das Deutsch-Französische Doktorandenkolleg Konfliktkulturen/Kulturkonflikte (Aix-Tübingen) und die Forschungsgruppe ECHANGES.
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Forschungsfelder: nonkonformistische Denkformen, transkulturelle Biografien, Anthropologie und Ethnologie in Frankreich und Deutschland, Kulturtransfers, deutsch-französische Gedächtnisorte. Veröffentlichungen u. a.: Deutsch-Französische Dritte-Weg-Diskurse. Personalistische Intellektuellendebatten der Zwischenkriegszeit, München 2001. MitHg.: Leben und Geschichte. Anthropologische und ethnologische Diskurse der Zwischenkriegszeit (mit Wolfgang Eßbach), Paderborn, München 2006; Lebensgeschichten, Exil, Migration/Récits de vie, exil, migration, Berlin 2006 (mit Freddy Raphaël). Hg.: Lieux de migration/lieux de mémoire franco-allemands, Themenheft Cahiers d’Etudes Germaniques 53/2 (2007); ‚Vrais‘ et ‚faux‘ médiateurs, Themenheft Cahiers d’Etudes Germaniques 60/1 (2011). HANS-JÜRGEN LÜSEBRINK Studium der Romanistik und der Geschichtswissenschaft in Mainz, Tours und Paris; 1981 Promotion an der Universität Bayreuth in Romanischer Philologie; 1984 Promotion im Fach Geschichtswissenschaft an der Ecole des Hautes Etudes en Sciences Sociales (EHESS) in Paris; 1987 Habilitation in Romanischer Philologie an der Universität Bayreuth. Inhaber des Lehrstuhls für Romanische Kulturwissenschaft und Interkulturelle Kommunikation an der Universität Saarbrücken. Gastprofessuren u. a. an der Universität Laval (Québec), der EHESS (Paris), der ENS (Paris), der EPHE (Paris), der Northwestern University (Evanston) und der University of California Los Angeles (UCLA). 2001 Diefenbaker-Preisträger des Conseil des Arts du Canada, 2005 Ernennung zum Officier dans l’Ordre des Palmes Académiques. Mit York-Gothart Mix (Marburg) und Christophe Charle (Paris) Leiter des binationalen ANR-DFG-Forschungsprojekts „Die Transkulturalität nationaler Räume. Prozesse, Vermittler- und Übersetzerfiguren sowie soziokulturelle Wirkungen des literarischen Kulturtransfers in Europa (1750–1900)“ (2012–2015). Stellvertretender Sprecher des Internationalen Graduiertenkollegs GRK 1864, „Diversity. Mediating Difference in Transcultural Spaces“ der Universitäten Montréal, Trier und Saarbrücken (DFG/Conseil de Recherche en Sciences Humaines du Canada, 2013–2017). Forschungsschwerpunkte: Europäisch-außereuropäische Literatur- und Kulturbeziehungen 18.–20. Jahrhundert; Kulturtransfer Deutschland-Frankreich; frankophone Literaturen und Kulturen außerhalb Europas mit Schwerpunkt Afrika und Québec; Theorie der Interkulturellen Kommunikation mit Schwerpunkt Kulturtransfer. Buchveröffentlichungen u. a.: Einführung in die Landeskunde Frankreichs. Wirtschaft – Gesellschaft – Staat – Kultur – Mentalitäten, Stuttgart 2000, 22003; Interkulturelle Kommunikation. Interaktion – Kulturtransfer – Fremdwahrnehmung, Stuttgart, Weimar 2005, erw. Neuaufl. 2008, 32012; Französische Kulturund Medienwissenschaft: eine Einführung, Tübingen 2004 (Mitautor). Hg.: Die französische Kultur – interdisziplinäre Annäherungen, St. Ingbert 1999; Das Europa der Aufklärung und die außereuropäische koloniale Welt, Göt-
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tingen 2006; Mithg.: Konzepte der Interkulturellen Kommunikation: Theorieansätze und Praxisbezüge in interdisziplinärer Perspektive, St. Ingbert 2004; Vies en récit. Formes littéraires et médiatiques de la biographie et de l’autobiographie, Québec 2007; Am Wendepunkt. Deutschland und Frankreich um 1945 – zur Dynamik eines ‚transnationalen‘ kulturellen Feldes, Bielefeld 2008; Städtischer Raum im Wandel. Modernität – Mobilität – Repräsentationen/Espaces urbains en mutation. Modernités – mobilités – représentations, Berlin 2011. SONJA MALZNER Studium der Germanistik und Romanistik (Französisch) in Salzburg, Debrecen und Aix-en-Provence. Lektorin an den Universitäten Antwerpen und Caen, danach ATER an der Université Paris IV-Sorbonne. 2012/2013 an der Université de Lorraine-Metz. Im Oktober 2012 Verteidigung der Dissertation zum Thema der Repräsentation von Afrikanern in plurimedialen Reiseberichten im Rahmen einer co-tutelle de thèse (Universität des Saarlandes/Université de Lorraine-Metz). 2013 Agrégation d’Allemand, seit 2013 Lektorin an der Université de Rouen. Veröffentlichungen und Vorträge zur österreichischen Literatur und Landeskunde und zum illustrierten Reisebericht. STEPHANE MICHAUD Professor für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft an der Université Sorbonne Nouvelle, Paris III. Stéphane Michaud widmete einen Großteil seiner Forschung der Ergründung der Komparatistik als Hermeneutik. Er erweiterte ihren Raum bis an die Grenzen der Geschichte und der Psychoanalyse, bezog entscheidende Impulse aus der europäischen Lyrik und beschäftigte sich außerdem mit dem zeitgenössischen Roman (Mario Vargas Llosa im Besonderen). Er edierte in Verbindung mit Dorothee Pfeiffer das Russlandtagebuch von Lou AndreasSalomé (Rußland mit Rainer 1900, Marbach 1999) und übertrug eine Reihe von Werken dieser Schriftstellerin und Mitstreiterin Freuds ins Französische. Michaud ist der französische Übersetzer von Wulf Kirsten. Veröffentlichungen u. a: Muse et Madone. Visages de la femme de la Révolution française aux apparitions de Lourdes, Paris 1985; Lou Andreas-Salomé, l’alliée de la vie [Biografie], Paris 2000; Dichtung und Authentizität. Ansätze zu einer heutigen Komparatistik, Jena [u. a.] 2000. Mit-Hg.: Rilke et son amie Lou Andreas-Salomé à Paris, Paris 2001. Hg.: Correspondances de Freud, Paris 2007; Quatre poètes dans l’Europe-monde: Yves Bonnefoy, Michel Deguy, Márton Kalász, Wulf Kirsten, Paris 2009.
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PATRICIA OSTER Studium der Romanistik, Vergleichenden Literaturwissenschaft und Germanistik in Bonn, Toulouse und Harvard. Promotion 1991 in Bochum mit einer Studie über Marivaux. Mitarbeiterstelle in der Konstanzer Forschergruppe „Konstitution und Funktion fiktionaler Texte“. Habilitation 1999 an der Universität Tübingen mit einer Arbeit über die Anschauungsform des Schleiers. Seit 2003 Inhaberin des Lehrstuhls für Romanische Literaturwissenschaft an der Universität des Saarlandes. Von 2005–2012 Vizepräsidentin der Universität des Saarlandes. 2008–2012 Präsidentin des Franko-Romanistenverbands. Seit 2013 Vizepräsidentin der DeutschFranzösischen Hochschule. Aktuelle Arbeitsbereiche und Forschungsinteressen: Literarische Anschauungsformen und Vergleichende Medienwissenschaft. Veröffentlichungen u. a.: Marivaux und das Ende der Tragödie, München: Fink 1992; Der Schleier im Text. Funktionsgeschichte eines Bildes für die neuzeitliche Erfahrung des Imaginären, München 2002; Marcel Proust. Die Legende der Zeiten im Kunstwerk der Erinnerung, Frankfurt/M., Leipzig 2007 (hg. mit Karlheinz Stierle); Am Wendepunkt. Deutschland und Frankreich um 1945 – zur Dynamik eines ‚transnationalen‘ kulturellen Feldes/Dynamiques d’un champ culturel ‚transnational‘ – L’Allemagne et la France vers 1945, Bielefeld 2008 (hg. mit Hans-Jürgen Lüsebrink); Legenden der Berufung, Heidelberg 2012 (hg. mit Karlheinz Stierle). ELKE RICHTER Promotion an den Universitäten von Göttingen und Montpellier im Rahmen eines binationalen Verfahrens zum Werk der algerischen Autorin Assia Djebar. Forschungsschwerpunkte: Frankophone Literaturen (Maghreb und Karibik), postkoloniale Literatur- und Kulturtheorien, Theorien des Transkulturellen bzw. Fragen nach einer ‚Neuen Weltliteratur‘, dem Mittelmeerraum als transkulturellem literarischem Raum, Fragen nach literarischen Erinnerungsrepräsentationen (Geschichte und Autobiografie) sowie Theorien der Narratologie. Aktuelles Habilitationsprojekt an der Universität Bremen, welches sich mit der ,Spur‘ als Figur der literarischen Rekonstruktion von Vergangenheit und Erinnerung in frankophonen und hispanophonen Literaturen der Karibik auseinandersetzt. Veröffentlichungen u. a. : Ich-Entwürfe im hybriden Raum: Das Algerische Quartett von Assia Djebar, Frankfurt/M. 2007; Mit-Hg.: Balzac und die Literaturtheorie. 12 Modellanalysen, Stuttgart 2011; La Méditerranée: représentations littéraires et cinématographiques. Frankfurt/M. 2010.
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JEANNE RUFFING Studium der Französischen Philologie, der Französischen Kulturwissenschaft und Interkulturellen Kommunikation und der Allgemeinen und Vergleichenden Literaturwissenschaft in Saarbrücken und Lille. 2011 Promotion im Rahmen einer cotutelle de thèse zwischen der Universität des Saarlandes und der Université de Provence (heute Aix-Marseille Université) mit einer Arbeit zu ethnischer und postkolonialer Kriminalliteratur, betreut von Manfred Schmeling (Saarbrücken) und Fridrun Rinner (Aix-en-Provence). Zurzeit wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Französische Literatur im europäischen Kontext und am Frankreichzentrum der Universität des Saarlandes. Publikationen u. a.: Identität ermitteln. Ethnische und postkoloniale Kriminalromane zwischen Popularität und Subversion, Würzburg: Königshausen & Neumann, 2011. MANFRED SCHMELING Studium der Romanistik und Germanistik in Braunschweig, Caen, Paris und Saarbrücken, Erstes Staatsexamen, Promotion und Habilitation. 1991–2009 Professor für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft an der Universität des Saarlandes. 1996–2008 im Vorstand des Frankreichzentrums der Universität des Saarlandes, z. T. als Leiter. 1996–2003 Mitglied im Graduiertenkolleg „Interkulturelle Kommunikation in kulturwissenschaftlicher Perspektive“. 2006: Gastprofessor an der Université de la Sorbonne Nouvelle, Paris III, Département de Littérature Générale et Comparée. 2007–2010 Präsident der AILC/ICLA (Association Internationale de Littérature Comparée/International Comparative Literature Association). 2001 Chevalier dans l’Ordre des Palmes Académiques; 2004 Officier dans l’Ordre National du Mérite. Wissenschaftliche Arbeitsgebiete: Literaturgeschichte und Poetik des 20. Jahrhunderts, Narratologie, Theorie der vergleichenden Literaturwissenschaft, deutsch‐ französische Kultur- und Literaturbeziehungen, literarische Fremdhermeneutik, literarische Übersetzung und Text‐Bild‐Beziehungen. Veröffentlichungen u. a.: Métathéâtre et intertexte. Aspects du théâtre dans le théâtre, Paris 1982; Der labyrinthische Diskurs. Vom Mythos zum Erzählmodell, Frankfurt/M. 1987. Hg.: Weltliteratur heute – Konzepte und Perspektiven, Würzburg 1995. Mithg.: Heinrich et Thomas Mann – Européens. Themenband der Pariser Zeitschrift Revue de Littérature Comparée 4 (1998); Das visuelle Gedächtnis der Literatur, Würzburg 1999; Literatur im Zeitalter der Globalisierung, Würzburg 2000; Littérature – Modernité – Réflexivité, Paris 2002; Multilinguale Literatur im 20. Jahrhundert, Würzburg 2002; Unheimliche Ähnlichkeiten. Gesellschaft und Identität in Frankreich und Deutschland, Opladen 2002; Sprache und Identität in frankophonen Kulturen, Opladen 2003; Universitäten in europäischen Grenzräumen. Konzepte und Praxisfelder, Bielefeld 2005; Die Zeitschrift – Me-
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dium der Moderne. Deutschland und Frankreich im Vergleich, Bielefeld 2006; Die ‚Nation‘ auf dem Prüfstand/La ‚Nation‘ en question/Questioning the ‚Nation‘, Berlin 2009; Poetiken. Autoren – Texte – Begriffe, Berlin 2009, 22011; From Ritual to Romance and Beyond. Comparative Literature and Comparative Religious Studies, Würzburg 2011. Hg. der Reihe Vice Versa. Deutsch-französische Kulturstudien des Frankreichzentrums der Universität des Saarlandes und Mitherausgeber der Reihe Saarbrücker Beiträge zur Vergleichenden Literatur- und Kulturwissenschaft. MONIKA SCHMITZ-EMANS Studium der Germanistik, Philosophie, Italianistik und Pädagogik in Bonn. 1984 Promotion in Germanistik zu Jean Pauls Ansätzen zu einer Theorie der Sprache. 1983–1989 Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Germanistischen Seminar der Universität Bonn. 1989–1994 Lehraufträge an den Universitäten in Bonn, Essen und Jena. 1992 Habilitation zur Poetik der Entzifferung und des Schreibens in Bonn. 1992 Professur für Europäische Literatur der Neuzeit an der Fern-Universität Hagen. Seit 1995 Professur für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft an der Ruhr-Universität Bochum. 1999–2005 Vorsitzende der Deutschen Gesellschaft für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft. 2002 Max Kade Distinguished Visiting Professor an der University of Notre-Dame, Indiana (USA). Seit 2007 Präsidentin der Jean-Paul-Gesellschaft. 2009 Tateshina Gastdozentur des Japanischen Germanistenverbandes. 2011 Max Kade Distinguished Visiting Professor an der University of Wisconsin-Madison, Madison (USA). Veröffentlichungen u. a.: Poesie als Dialog. Vergleichende Studien zu Paul Celan und seinem literarischen Umfeld, Heidelberg 1993; Die Literatur, die Bilder und das Unsichtbare. Spielformen literarischer Bildinterpretation vom 18. bis zum 20. Jahrhundert, Würzburg 1999; Seetiefen und Seelentiefen. Literarische Spiegelungen innerer und äußerer Fremde, Würzburg 2003; Poetiken der Verwandlung, Innsbruck [u. a.] 2008; Literatur-Comics. Adaptationen und Transformationen der Weltliteratur (mit Christian A. Bachmann), Berlin [u. a.] 2012. CHRISTIANE SOLTE-GRESSER 1987–1990 Ausbildung zur Buchhändlerin, 1990–1996 Studium der Germanistik und Romanistik in Bremen und Paris. 1997–2000 Wissenschaftliche Mitarbeiterin für französische Literaturwissenschaft an der Universität Bremen, 1999 dort Promotion. 2001–2008 Wissenschaftliche Assistentin für Germanistik und Romanistik an der Universität Bremen; 2007 dort Habilitation, Venia Legendi: Vergleichende Literaturwissenschaft (Romanistik und Germanistik). 2008 Gastprofessorin am Département d’Allemand der Université de Provence, Aix-Marseille I. 2008–2009 Vertretungsprofessorin für französische und italienische Literatur an der Goethe-
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Universität Frankfurt/Main. Seit 2009 Professorin für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft an der Universität des Saarlandes. Forschungsschwerpunkte: Französische, italienische und deutschsprachige Literatur der Klassischen Moderne, Literaturtheorien und Methoden (Narratologie, Intertextualität, Psychoanalytische Literaturtheorie, gender studies), Beziehungen zwischen Literatur und Philosophie, Theorie und Geschichte des Subjekts, TextBild-Relationen, Literatur des siècle classique. Publikationen u. a.: Leben im Dialog. Wege der Selbstvergewisserung in den Briefen von Marie de Sévigné und Isabelle de Charrière, Königstein/Ts. 2000; Spielräume des Alltags. Literarische Gestaltung von Alltäglichkeit in deutscher, französischer und italienischer Erzählprosa 1929–1949, Würzburg 2010. Mit-Hg.: Ecritures. Denk- und Schreibweisen jenseits der Grenzen von Literatur und Philosophie, Tübingen 2004; Von der Wirklichkeit zur Wissenschaft. Aktuelle Forschungsmethoden in den Sprach-, Literatur- und Kulturwissenschaften, Münster 2005; Eros und Literatur. Liebe in Texten von der Antike bis zum Cyberspace. Festschrift für Gert Sautermeister, Bremen 2005; Mittelmeerdiskurse in Literatur und Film/La Méditerranée: représentations littéraires et cinématographiques, Frankfurt/M. [u. a.] 2010; Relire Madeleine Bourdouxhe. Regards croisés sur son œuvre littéraire, Bruxelles 2011. Mitherausgeberin der Reihen Saarbrücker Beiträge zur Vergleichenden Literatur- und Kulturwissenschaft und FOLIES. Forum Literaturen Europas. KAREN STRUVE Studium der Romanistik und Kulturwissenschaften an der Universität Bremen. 2004–2007 Stipendiatin im interdisziplinären Doktorandenkolleg „Prozessualität in transkulturellen Kontexten: Dynamik und Resistenz“ an der Universität Bremen. 2007 Promotion in Bremen mit einer Studie zu Identitätskonstruktionen und einer spezifischen transkulturellen écriture beur in der franko-maghrebinischen Gegenwartsliteratur. 2008 Auszeichnung der Dissertationsschrift mit dem Prix Germaine de Staël. 2008–2009 Tätigkeit als freie Autorin, Lektorin und Wissenschaftscoach. Seit 2009 Postdoktorandin mit einem Forschungsstipendium der Universität Bremen. Forschungsschwerpunkte: Poststrukturalistische und postkoloniale Literaturund Kulturtheorien, frankophone Gegenwartsliteraturen (20.–21. Jh.), französische Literaturen des 18.–19. Jahrhunderts, Raum-, Geschichts- und Identitätskonstruktionen in der Literatur. Aktuelles Habilitationsprojekt zu Alteritätskonstruktionen als Wissensformationen in der Encyclopédie von Diderot und d’Alembert. Veröffentlichungen u. a.: „Les artistes de l’intime“. Erotische Körper im Spannungsfeld zwischen Öffentlichkeit und Intimität bei Christine Angot, Catherine Millet und Annie Ernaux, Hamburg 2005; Ecriture transculturelle beur. Die Beur-Literatur als Laboratorium transkultureller Identitätsfiktionen, Tübingen 2009; Zur Aktualität von Homi K. Bhabha. Einleitung in sein Werk, Wiesbaden 2013. Mit-Hg.: Von der Wirklichkeit zur Wissenschaft. Forschungsmethoden in
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den Sprach-, Literatur- und Kulturwissenschaften, Hamburg 2005; Willkürliche Grenzen. Das Werk Pierre Bourdieus in interdisziplinärer Anwendung, Bielefeld 2006; Ecritures transculturelles. Kulturelle Differenz und Geschlechterdifferenz im französischsprachigen Gegenwartsroman, Tübingen 2007; Balzacs „Sarrasine“ und die Literaturtheorie. Zwölf Modellanalysen, Stuttgart 2011; Stadtkonstruktionen in der französischen Literatur vom Mittelalter bis zur Romantik. Themenheft lendemains 142/143 (2011), S. 96–198. CHRISTOPH VATTER Studium der Fächer Romanische Kulturwissenschaft und Interkulturelle Kommunikation, Deutsch als Fremdsprache und Französische Sprach- und Literaturwissenschaften an der Universität des Saarlandes und der Université Laval (Québec, Kanada). 2008 Promotion im Rahmen einer deutsch-französischen co-tutelle de thèse in Romanistik und Sciences de l’information et de la communication an der Universität Paul Verlaine-Metz und der Universität des Saarlandes; seit 2010 Inhaber der Juniorprofessur für Interkulturelle Kommunikation in der Fachrichtung Romanistik der Universität des Saarlandes. Forschungsschwerpunkte: Interkulturelle Kommunikation und interkulturelles Lernen, französische Kultur- und Medienwissenschaft, Gedächtnis und Erinnerungskultur, frankophones Kanada. Veröffentlichungen u. a.: Gedächtnismedium Film. Holocaust und Kollaboration in deutschen und französischen Spielfilmen seit 1945, Würzburg 2009. Mitautor: Französische Kultur- und Medienwissenschaft: eine Einführung, Tübingen 2004; Interkulturelle Kompetenz. Erkennen – verstehen – handeln. Französisch, Stuttgart [u. a.] 2012. Hg.: Interkulturelles Lernen im interregionalen Schüleraustausch zwischen Deutschland und Frankreich. Evaluationsergebnisse und didaktische Materialien des COMENIUS-Regio-Projekts ILIS, St. Ingbert 2011. Mithg.: Francophonie et globalisation culturelle. Politiques, Médias, Littératures, Frankfurt/M. 2007; Le Cyberespace francophone. Perspectives culturelles et médiatiques, Tübingen 2011; Interkulturelle Kommunikation in der frankophonen Welt. Literatur, Medien, Kulturtransfer. Festschrift zum 60. Geburtstag von Hans-Jürgen Lüsebrink/La communication interculturelle dans le monde francophone. Transferts culturels, littéraires et médiatiques. Mélanges offerts à HansJürgen Lüsebrink à l’occasion de son 60e anniversaire, St. Ingbert 2012. PETER V. ZIMA Peter V. Zima ist ordentlicher Professor für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft an der Alpen-Adria-Universität Klagenfurt. Er ist seit 1998 korrespondierendes Mitglied der Österreichischen Akademie der Wissenschaften in Wien und seit 2010 Mitglied der Academia Europaea in London.
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Neueste Veröffentlichungen: Modern/Postmodern. Society, Philosophy, Literature, London 2010; Komparatistik. Einführung in die Vergleichende Literaturwissenschaft, Tübingen, Basel 22011; Komparatistische Perspektiven. Zur Theorie der Vergleichenden Literaturwissenschaft, Tübingen 2011; Texte et société. Perspectives sociocritiques, Paris 2011; Essay/Essayismus. Zum theoretischen Potenzial des Essays: Von Montaigne bis zur Postmoderne, Würzburg 2012. RÜDIGER ZYMNER Studium der Mittleren und Neueren Geschichte, Neueren deutschen Literatur, Mediävistik, Renaissancephilologie und Deutschen Sprache in Göttingen. 1986 Assistent in Fribourg (Schweiz). 1989 Promotion (Uneigentlichkeit. Studien zu Semantik und Geschichte der Parabel, Paderborn [u. a.] 1991), 1993 Habilitation (Manierismus. Zur poetischen Artistik bei Johann Fischart, Jean Paul und Arno Schmidt, Paderborn [u. a.] 1995). Seit 1997 Professor für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft an der Bergischen Universität Wuppertal. Veröffentlichungen u. a.: Friedrich Schiller. Dramen, Berlin 2002; Gattungstheorie. Probleme und Positionen der Literaturwissenschaft, Paderborn 2003; Lyrik. Umriss und Begriff, Paderborn 2009. Mit-Hg.: Anthropologie der Literatur. Poetogene Strukturen und ästhetisch-soziale Handlungsfelder, Paderborn 2004; Im Rücken der Kulturen, Paderborn 2007. Hg.: Handbuch Gattungstheorie, Stuttgart, Weimar 2010.
BILDNACHWEIS EGGERS Abb. 1–2: Inhaltsverzeichnis aus Münter, Gustav Wilhelm: Allgemeine Zoologie oder Physik der organischen Körper, Halle: Schwetschke, 1840. HÄFNER Abb. 1–2: Augé, Claude/Augé, Paul (dir.) : Le Petit Larousse illustré. Dictionnaire encyclopédique, Paris: Larousse, 1951, S. 1090 f. Abb. 3–4: Duden Rechtschreibung der deutschen Sprache und Fremdwörter, Mannheim: Bibliographisches Institut, 141954, S. 151. MALZNER Abb. 1: Kaufmann, Herbert: Rote Straßen – schwarze Menschen. Reise durch das sich wandelnde Afrika, München: Nymphenburger Verlagshandlung, 1955, o. S. OSTER Abb. 1: Hippolyte Lecompte: Einweihung des Reiterstandbildes Heinrichs IV. am Pont-Neuf am 25. August 1818, ©bpk/RMN – Grand Palais/Daniel Amaudet. Abb. 2: Gerhard Marcks: Der Rufer (1967). Foto: Patricia Oster. Abb. 3: Antonio Tamagnino: Büste des Acellino Salvago, Berlin, Staatliche Museen zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz – Skulpturensammlung. Foto: Patricia Oster. Abb. 4: Karl Biedermann: Der verlassene Raum (1988). Foto: Patricia Oster.
ISBN 978-3-515-10634-4
www.steiner-verlag.de Franz Steiner Verlag
Die Paradigmen der Kulturbeziehungsund Kulturkontaktforschung haben sich in den letzten Jahren beständig erweitert. Die deutsch-französischen Kulturbeziehungen stellen gerade auch aufgrund ihrer Differenzen und Konfliktpotenziale ein privilegiertes Feld dar, um entsprechende Theorien und Methoden auf ihre heuristische Aktualität zu prüfen und Perspektiven ihrer Weiterentwicklung aufzuzeigen. Dieser Band konzentriert sich auf die
Auseinandersetzung mit zwei grundlegenden Analysekategorien – Vergleich und Transfer –, die in erster Linie im deutsch-französischen Wissenschaftskontext entwickelt wurden und zurzeit besonders kontrovers diskutiert werden. Wissenschaftler aus unterschiedlichen Disziplinen untersuchen anhand von vielfältigen Textsorten, Medien und soziokulturellen Kontexten die methodischen Herausforderungen dieser beiden Ansätze.