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German Pages 250 Year 2013
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Sebastian Laukötter Zwischen Einmischung und Nothilfe
Quellen und Studien zur Philosophie
Herausgegeben von Jens Halfwassen, Dominik Perler, Michael Quante
Band 116
Sebastian Laukötter
Zwischen Einmischung und Nothilfe Das Problem der „humanitären Intervention“ aus ideengeschichtlicher Perspektive
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ISBN 978-3-11-033479-1 e-ISBN 978-3-11-033564-4 ISSN 0344-8142 Library of Congress Cataloging-in-Publication Data A CIP catalogue record for this book has been applied for at the Library of Congress Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet unter http://dnb.dnb.de abrufbar © 2014 Walter de Gruyter GmbH, 10785 Berlin/Boston Satz: Dörlemann Satz GmbH & Co. KG, Lemförde Druck und Bindung: Hubert & Co. GmbH & Co. KG, Göttingen ? Gedruckt auf säurefreiem Papier Printed in Germany www.degruyter.com
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Vorwort Dieses Buch ist die überarbeitete Fassung meiner Dissertationsschrift, die ich im Jahr 2010 an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster eingereicht habe. Dafür, dass aus einer Idee ein Buch werden konnte, schulde ich vielen Personen Dank. Auf meinem bisherigen akademischen Weg hatte ich immer das Glück einer wohlwollenden Unterstützung meiner Vorhaben. Besonders meiner Familie und meinem Doktorvater Ludwig Siep, der mich stets inspiriert und motiviert hat, bin ich zu großem Dank verpflichtet. Reinold Schmücker danke ich für das Zweitgutachten zur Dissertation und besonders für hilfreiche Hinweise und Diskussionen zum Thema. Sehr profitiert habe ich außerdem von Diskussionen mit und kritischen Kommentaren von meinen Kollegen Christian Thein und Andreas Vieth sowie den Teilnehmern des Doktorandenkolloquiums von Ludwig Siep. Darüber hinaus danke ich den Herausgebern der Reihe Quellen und Studien zur Philosophie für die Aufnahme meines Buches in die Reihe, besonders Michael Quante. Der Kolleg-Forschergruppe „Theoretische Grundfragen der Normenbegründung in Medizinethik und Biopolitik“ danke ich für die finanzielle Unterstützung bei der Drucklegung dieses Buches. Für die Durchsicht des Manuskriptes danke ich Alisa Hüske. Der Weg von der Idee zum Buch ist bekanntlich nicht nur bei Dissertationen lang. Geduld ist dabei nicht allein auf Seiten des Autors gefragt, sondern auch bei allen, die ihn auf diesem Weg begleiten. Meine Weggefährten waren geduldig. Den größten Dank für viel mehr als Geduld schulde ich Christina. Münster, im Mai 2013
Sebastian Laukötter
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Inhalt Vorwort fi V Einleitung fi 3 Teil I Ideengeschichte 1
Wurzeln in Antike und Mittelalter fi 21
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Das Interventionsproblem in der Kriegsethik der spanischen Spätscholastik fi 43 Einleitung fi 43 Francisco de Vitoria fi 46 De potestate civili fi 48 De bello fi 53 De indis fi 57 Die Disputation von Valladolid fi 78 Interventionsargumente im Anschluss an Vitoria fi 91 Fazit fi 115
2.1 2.2 2.2.1 2.2.2 2.2.3 2.3 2.4 2.5 3 3.1 3.2 3.3 3.4 3.5
Das Interventionsproblem vor dem Hintergrund der europäischen Religionskriege und der Herausbildung des modernen Staates fi 117 Jean Bodin fi 119 Albericus Gentilis fi 127 Hugo Grotius fi 131 Samuel von Pufendorf fi 144 Fazit fi 146
4
Exkurs: John Lockes Theorie des Widerstandsrechts fi 147
5 5.1 5.2 5.3 5.4
Das Interventionsproblem vor dem Hintergrund der Dominanz des Souveränitätsprinzips fi 152 Christian Wolff fi 153 Emer de Vattel fi 156 Immanuel Kant fi 159 Ausblick fi 166
6
Fazit: Typologie historischer Interventionsargumente fi 168
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Inhalt
Teil II Das Problem der „humanitären Intervention“ aus gegenwärtiger Perspektive 1
Einleitung fi 179
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Souveränität und Menschenrechte – Das Souveränitätsdilemma fi 188 Zur Auflösung des Souveränitätsdilemmas fi 188 Diskussion der Kriterien des ius ad bellum für Schutzinterventionen fi 206
2.1 2.2
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3.1 3.2
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Das Problem der gerechten Durchführung von Interventionen zum Schutz vor Menschenrechtsverletzungen – Das Nothilfe-Dilemma fi 212 Diskussion des Nothilfe-Dilemmas fi 212 Diskussion der Kriterien des ius in bello für Schutzinterventionen fi 220 Fazit fi 223
Literaturverzeichnis fi 229 Sach- und Personenregister fi 241
… da es notwendig ist, die Menschenrechte durch die Herrschaft des Rechts zu schützen, damit der Mensch nicht gezwungen wird, als letztes Mittel zum Aufstand gegen Tyrannei und Unterdrückung zu greifen […] verkündet die Generalversammlung diese Allgemeine Erklärung der Menschenrechte … Allgemeine Erklärung der Menschenrechte 1948 … each individual state has the responsibility to protect its population from genocide, war crimes, ethnic cleansing and crimes against humanity … UN World Summit Outcome 2005
Einleitung
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Einleitung Die Menschenrechte stellen heute eine weithin anerkannte moralische und rechtliche Norm dar. Ihr Geltungsanspruch wird völkerrechtlich von nahezu allen Staaten anerkannt, und trotz unterschiedlicher Vorschläge zu ihrer Begründung herrscht auch unter Philosophen ein breiter Konsens über die Berechtigung dieses Anspruches.1 Nun ergeben sich offensichtlich aus den Rechten, die dem Menschen aufgrund seines Menschseins zugeschrieben werden, auch Pflichten, die diesen korrelieren. Menschenrechte sollen dort, wo sie noch nicht tatsächlich gelten, realisiert werden; dort, wo sie bedroht sind oder verletzt werden, verdienen sie einen besonderen Schutz. Doch es ist gerade dieser Anspruch auf den Schutz der Menschenrechte, der komplizierte philosophische und völkerrechtliche Fragen hinsichtlich seiner Reichweite aufwirft: Darf zum Schutz und zur Verteidigung der Menschenrechte als letztes Mittel auch militärische Gewalt eingesetzt werden? Der dieser Arbeit vorangestellte Auszug aus der Präambel der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte von 1948 verweist hinsichtlich dieser Frage auf die Auffassung, dass der Anspruch auf Schutz der Menschenrechte einem unterdrückten und tyrannisierten Volk als letztes Mittel gewaltsamen Widerstand gegen seine Unterdrücker erlaubt. Im Auszug aus dem Abschlussdokument des Weltgipfels der Vereinten Nationen aus dem Jahr 2005 wird deutlich, dass mit dem Anspruch auf staatliche Souveränität auch eine Verantwortung zum Schutz der Menschenrechte der eigenen Bürger eng verbunden ist. Aus dieser Schutzverantwortung der Staaten (responsibility to protect) wird in jüngerer Zeit auch eine Berechtigung zum Einsatz militärischer Gewalt zum Schutz der Bürger eines fremden Staates vor Verletzung ihrer grundlegenden Menschenrechte als letztes Mittel abgeleitet (vgl. ICISS 2001a; Schaller 2008).2
1 Wenig umstritten ist eine solche breite Anerkennung mit Blick auf den Kernbereich menschenrechtlicher Ansprüche. Darunter fallen die häufig als Menschenrechte erster Generation bezeichneten Rechte auf Leben, Freiheit und körperliche Unversehrtheit. Der Begründungsstatus der Menschenrechte, die außerhalb dieses Kernbereiches liegen, wird in der philosophischen Diskussion dagegen kontrovers diskutiert. Zu den verschiedenen Klassen von Menschenrechten vgl. Menke/Pollmann 2007, S. 113ff. Zur Begründung sozialer Menschenrechte vgl. Gosepath 1998. Zur weitergehenden rechtlichen Anerkennung eines Kernbereichs der Menschenrechte siehe Steiger 1999, S. 43. Zur übereinstimmenden Anerkennung eines Kernbereichs der Menschenrechte aus Sicht verschiedener philosophischer Begründungsstrategien siehe Brugger 1998, S. 183–188. 2 Bei der Rechtfertigung der Libyen-Intervention im Jahr 2011 wird die responsibility to protect in der Resolution 1973 des UN-Sicherheitsrates erstmals ausdrücklich als Interventionsgrund in Anspruch genommen (S/RES/1973 (2011)).
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Einleitung
Solchen Auffassungen, welche die Möglichkeit des Einsatzes militärischer Gewalt zum Schutz der Menschenrechte als letztes Mittel bejahen, stehen Positionen gegenüber, die den Einsatz militärischer Gewalt auch zum Schutz vor schweren Menschenrechtsverletzungen ablehnen. Vertreter solcher Positionen verweisen auf das völkerrechtliche Einmischungsverbot in die inneren Angelegenheiten eines souveränen Staates oder auf das moralische Argument, dass der Einsatz militärischer Gewalt – auch wenn sein Ziel der Schutz der Bürger eines Staates vor Verletzung ihrer grundlegenden Menschenrechte ist – immer auch zur Schädigung bis hin zur Tötung Unschuldiger führe und deshalb nicht erlaubt sein könne.3 Beide Typen von Positionen bringen widersprüchliche Intuitionen und Bewertungen hinsichtlich der Frage nach der Legitimität des Einsatzes militärischer Gewalt zum Schutz vor Menschenrechtsverletzungen zum Ausdruck. Die Interventionen bejahenden Positionen treffen die verbreitete Intuition, dass den Menschenrechten ein besonderer Schutz zukommen muss – auch gegenüber dem Staat.4 Dagegen treffen die Positionen, die Interventionen ablehnen, die Intuitionen, dass die Souveränität von Staaten ein in besonderer Weise schützenswertes Gut darstellt und dass die Schädigung und Tötung Unschuldiger moralisch hochgradig problematisch ist. Für eine Beantwortung der Frage nach der Möglichkeit einer Rechtfertigung des Einsatzes militärischer Gewalt zum Schutz vor schweren Menschenrechtsverletzungen innerhalb eines fremden Staates gilt es diese eigentümliche Spannung zwischen den Intuitionen und Wertungen mittels einer philosophischen Analyse aufzuzeigen und Möglichkeiten zu ihrer Auflösung zu entwickeln. Vor allem ausgelöst durch die Konflikte auf dem Balkan in den 1990er Jahren und beständig herausgefordert durch folgende Konflikte, wie etwa den im Sudan und zuletzt in Nordafrika und im Nahen Osten, wird seit einigen Jahren eine breite Debatte zum Problem der sogenannten ‚humanitären Intervention‘ geführt, in der über die Möglichkeit der Rechtfertigung des Einsatzes militärischer Gewalt zum Schutz vor Verletzungen grundlegender Menschenrechte gestritten wird.5
3 Diese Auffassung vertritt etwa Rüdiger Bittner. Vgl. dazu Bittner 2004. Abgelehnt werden Interventionen unter Rückgriff auf eine solche Argumentationsfigur auch von Merkel 2000b und Schramme 2001, die aber differenzierter als Bittner eine Intervention zwar für prinzipiell rechtfertigbar, aufgrund des Problems der Tötung Unschuldiger jedoch nicht für tatsächlich rechtfertigbar halten. 4 Gerade der Staat befindet sich hinsichtlich des Schutzes der Menschenrechte in einer doppelten Rolle, gleichsam als ihr Garant und ihr Bedroher, was Hannah Arendt besonders deutlich herausgestellt hat. Vgl. Arendt 2008, S. 559–564. 5 Es gab auch schon vorher einzelne Auseinandersetzungen mit der Frage nach der Möglichkeit der Rechtfertigung des Einsatzes militärischer Gewalt zum Schutz vor Menschenrechtsverletzun-
Einleitung
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Sichtbar wirksam werden Überlegungen, die im Rahmen dieser Debatte formuliert wurden, mittlerweile in den Bestrebungen der Vereinten Nationen, den Menschenrechtsschutz im Völkerrecht besser zu regeln. Hier wurde im Anschluss an die Erfahrung mit jüngeren Konflikten, in denen der Schutz der Menschenrechte ein zentrales Problem darstellte, das Konzept der Responsibility to Protect formuliert, das den Staaten und der Staatengemeinschaft eine Verpflichtung zum Schutz der Menschenrechte attestiert und die Berechtigung des Anspruches eines Staates auf Achtung seiner Souveränität von außen an die Erfüllung dieser Verpflichtung bindet. Doch die theoretische Diskussion von Fragen nach der Legitimität einer gewaltsamen Einmischung von außen zum Schutz der Bürger eines Staates vor ihrer Regierung ist kein gänzlich neues Phänomen. Vielmehr ist diese Frage – was bislang nur selten gesehen wurde – in der politischen Philosophie und in der Theorie des Völkerrechts immer wieder, meist motiviert durch konkrete politische Herausforderungen, zum Gegenstand theoretischer Reflexion geworden.6 Ziel der vorliegenden Studie ist es, eben diese historischen Überlegungen zur Rechtfertigung von Interventionen vor dem Hintergrund der gegenwärtigen Diskussion in den Blick zu nehmen. Ihr Beitrag zur gegenwärtigen Debatte um Interventionen soll in einer Ergänzung derselben um eine historische Perspektive bestehen, wobei die Untersuchung theoriegeschichtlicher Konzepte der politischen Philosophie und der Theorie des Völkerrechts, in denen die Interventionsfrage behandelt wird, zu einem differenzierteren Verständnis der Probleme und Spannungen der gegenwärtigen Interventionsdebatte führen soll. Neben dem theoriegeschichtlichen Interesse an einer Aufarbeitung historischer Positionen zur Interventionsfrage geht es dabei auch um eine Klärung der Semantik der zentralen Begriffe der Interventionsdebatte und um eine Offenlegung der den zentralen Konzepten zugrundeliegenden Wertungen und damit letztlich auch um eine Klärung der widersprüchlichen Intuitionen, die sich in einer ersten Beurteilung der
gen – etwa in Walzers Klassiker zur modernen Theorie des gerechten Krieges Just and Unjust Wars, der erstmals 1977 erschien (vgl. hier Walzer 2007), aber erst in den 90er Jahren wurde die Frage zum Gegenstand einer breiten interdisziplinären Debatte. Darauf, dass es in Deutschland bis dahin lange keine Auseinandersetzung mit dem Problem des gerechten Krieges überhaupt gab, verweist Quante: „Der gerechte Krieg war nicht nur juristisch und ethisch diskreditiert, er war auch philosophisch kein Thema“ (Quante 2003, S. 8). 6 Bei der Frage nach der Legitimität von Interventionen geht es um ihre Erlaubtheit von einem überpositiven oder moralischen Standpunkt aus betrachtet. Unterschieden werden muss sie von der Frage nach der Legalität von Interventionen, bei der es um deren völkerrechtliche Zulässigkeit geht. Die Spannung zwischen diesen beiden Ebenen wird in den Sammelbänden Lutz 1999 und Merkel 2000a ausführlich diskutiert. Siehe dazu außerdem Ladwig 2000.
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Einleitung
Frage nach der Legitimität des Einsatzes militärischer Gewalt zum Schutz der Menschenrechte zeigen. Für eine solche Klärung der Semantik der Begriffe und Wertungen kommt es nicht allein darauf an, wie diese Konzepte in der Praxis einer Gemeinschaft gegenwärtig verwendet werden, sondern auch darauf, wie sie sich geschichtlich entwickelt haben (vgl. Siep 2004, S. 160–173). Methodisch bedient sich diese Arbeit dazu einer theoriegeschichtlichen Hermeneutik. Dabei geht es im ersten Teil der Arbeit um eine Rekonstruktion der historischen Positionen. Im zweiten Teil der Arbeit wird diese dann in eine Diskussion der Spannungen der gegenwärtigen Interventionsdebatte einbezogen. Eine solche theoriegeschichtliche Hermeneutik der Begriffe und Wertungen, die in unserer Praxis wirken, kann durchaus normative Kraft entfalten und einen Beitrag zur Beantwortung offener Fragen der gegenwärtigen Diskussion leisten – beispielsweise indem sie aufzeigt, dass das Prinzip der responsibility to protect als wohlbegründet gelten kann und zwar auch und gerade vor dem Hintergrund eines historisch gewachsenen Verständnisses von Begriffen und Wertungen. Diese ideengeschichtliche Auseinandersetzung findet statt vor dem Hintergrund einer systematischen Frage: Dies ist die Frage, ob es erlaubt ist, zum Schutz der Bürger eines fremden Staates vor Verletzung ihrer grundlegenden Menschenrechte von außen als letztes Mittel militärische Gewalt einzusetzen und zwar dann, wenn ihre Menschenrechte durch die Regierung oder ihre Vertreter massiv und systematisch verletzt werden oder wenn die Regierung solchen Menschenrechtsverletzungen keinen Einhalt gebietet oder gebieten kann. Dabei bezieht sich die Diskussion auf einen Kernbereich grundlegender Menschenrechte, der das Recht auf Leben, körperliche Unversehrtheit und grundlegende Freiheiten umfasst. Diese Fragestellung markiert das Problem der sogenannten ‚humanitären Intervention‘, oder wie es stellenweise präziser formuliert wird, das Problem der ‚humanitären militärischen Intervention‘.7 Dabei verweist der Terminus ‚Intervention‘ auf den Eingriff von außen, während der Terminus ‚humanitär‘ anzeigen soll, dass das Ziel dieses Eingriffes der Schutz der Menschenrechte bzw. der Schutz der Bürger eines Staates vor einer Verletzung ihrer grundlegenden Menschenrechte ist. Glücklich ist diese Begriffswahl nicht, da sie den Einsatz militärischer Gewalt begrifflich nah an gewaltfreie Aktionen wie die Versorgung von Flüchtlingen mit Hilfsgütern rückt, die klassischerweise als ‚humanitäre Aktionen‘ bezeichnet werden. Problematisch wird sie durch die Entstehung eines Missbrauchspotentials der Rechtfertigungsfigur ‚humanitäre Intervention‘ in politischen Rechtfertigungskontexten. Zur Vermeidung der rhetorischen Instrumentalisierung einer Rechtfertigungsfigur für den Einsatz militärischer Gewalt müs-
7 Von humanitärer militärischer Intervention sprechen etwa Hinsch/Janssen 2006, S. 30.
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sen Zweideutigkeiten in der Sprache vermieden werden. Deshalb wird hier im Folgenden weitgehend von militärischen Interventionen zum Schutz der Bürger eines Staates vor einer Verletzung ihrer grundlegenden Menschenrechte bzw. von Schutzinterventionen gesprochen – der Terminus ‚humanitäre Intervention‘, auf den aufgrund seiner Gebräuchlichkeit in der Debatte nicht völlig verzichtet werden kann, soll im Folgenden in diesem Sinne verstanden werden.8 Eine Untersuchung des Problems der militärischen Intervention zum Schutz vor Menschenrechtsverletzungen aus philosophischer Perspektive drängt sich besonders mit Blick auf gegenwärtige Spannungen im positiven Völkerrecht auf, denn hier führt die Frage nach dem Einsatz militärischer Gewalt zum Schutz der Menschenrechte gegen den Willen einer Regierung in ein Dilemma. Sowohl das völkerrechtliche Prinzip staatlicher Souveränität, das jede gewaltsame Einmischung in die ‚inneren Angelegenheiten‘ eines Staates von außen verbietet, als auch das Prinzip des Menschenrechtsschutzes haben den völkerrechtlichen Verbindlichkeitsstatus eines ius cogens, gelten also als zwingendes Völkerrecht (vgl. Kokott 1999, S. 182f.). Damit liegt auf der Hand, dass beide Prinzipien in Konflikt miteinander geraten, wenn der Einsatz militärischer Gewalt von außen das letzte Mittel zum Schutz der Bürger eines Staates vor Verletzungen ihrer grundlegenden Menschenrechte darstellt. Entweder muss im Falle massiver und systematischer Menschenrechtsverletzungen innerhalb eines Staates im Rahmen einer solchen Intervention eine Verletzung des an das Prinzip staatlicher Souveränität gekoppelten Einmischungsverbots (vgl. UN-Charta, Art. 2, Abs. 4 und 7) in Kauf genommen werden, oder eine Intervention muss bei Achtung des Souveränitätsprinzips unterlassen werden, um den Preis der Verletzung des Prinzips des Menschenrechtsschutzes. In der völkerrechtlichen Praxis wurde diese Spannung lange Zeit vor allem unter Berufung auf Kapitel 7 der UN-Charta, worin der Einsatz militärischer Gewalt bei einer Gefährdung der internationalen Sicherheit geregelt wird, umgangen. Massive und systematische Verletzungen der Menschenrechte innerhalb eines Staates wurden dabei häufig aufgrund möglicher Folgen wie Flüchtlingsströmen, die Nachbarstaaten destabilisieren können, als Bedrohung der interna-
8 Es finden sich in der Interventionsdiskussion zwei weitere bedenkenswerte Kritiken am Terminus ‚humanitäre Intervention‘. Thomas Schramme verweist mit Blick auf die moralischen Probleme bezüglich der Durchführung solcher Interventionen, wie vor allem das Problem der Schädigung und Tötung Unschuldiger, darauf, dass die Bezeichnung ‚humanitäre Intervention‘ bestenfalls euphemistisch sei, schlimmstenfalls sogar eine contradictio in adjecto darstelle. Vgl. dazu Schramme 2001, S. 119. Michael Quante plädiert mit Blick auf die Bezeichnung ‚humanitäre Intervention‘ dafür, den Begriff Krieg nicht rhetorisch zu umschiffen. Vgl. Quante 2003, S. 8.
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tionalen Sicherheit interpretiert (vgl. UN-Charta, Kap. 7).9 Das Problem der eigentümlichen Spannung zwischen den Prinzipien des Menschenrechtsschutzes und der staatlichen Souveränität wird damit allerdings bloß umgangen. Erst seit kurzem lässt sich vor dem Hintergrund der Konflikte jüngerer Zeit eine Veränderung der Gewichtung der Prinzipien im Völkerrecht beobachten, die sich vor allem in der Entwicklung des Konzepts der Responsibility to Protect niederschlägt. Diese Idee einer Schutzverantwortung der Staaten für ihre Bürger und sekundär auch für die Bürger anderer Staaten wurde von der International Commission on Intervention and State Sovereignty (ICISS), die im Jahr 2001 eingesetzt wurde, ausgearbeitet und mittlerweile in verschiedene völkerrechtliche Erklärungen der Generalversammlung und des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen aufgenommen.10 Die Spannung zwischen Menschenrechtsschutz und staatlicher Souveränität wird im Konzept der Responsibility to Protect dadurch aufgelöst, dass der Begriff der staatlichen Souveränität ein Stück weit aus einem bloß rechtspositivistischen Verständnis gelöst und an normative Mindeststandards, namentlich die Garantie grundlegender Menschenrechte, gebunden wird. Demnach hängt der berechtigte Anspruch eines Staates auf Souveränität und die Anerkennung des daraus resultierenden Prinzips der Nichteinmischung auch von der Erfüllung seiner Schutzverantwortung ab, insbesondere von der Garantie der grundlegenden Menschenrechte seiner Bürger (Vgl. ICISS 2001a). Hier zeigt sich bereits, dass zur Beurteilung der Frage nach der Rechtfertigung von Schutzinterventionen hinsichtlich der Spannung zwischen dem Prinzip des Menschenrechtsschutzes und demjenigen staatlicher Souveränität zwischen zwei Konzepten von Souveränität unterschieden werden muss, deren Verhältnis zueinander anhand einer philosophischen Analyse genauer zu bestimmen ist. Dies ist zum einen das die völkerrechtliche Diskussion prägende rechtspositivistische Verständnis von Souveränität, nach dem die Souveränität eines Staates durch dessen Status als Völkerrechtssubjekt gegeben ist. Jeder Staat hat demnach durch die völkerrechtliche Anerkennung eine sich aus der Rechtslogik ergebende Art von Souveränität, die nicht an einem weiteren moralischen Maßstab gemessen werden muss. Neben einem solchen Verständnis staatlicher Souveränität ist aber auch ein normativ gehaltvolleres Verständnis von Souveränität möglich, gemäß dem der Anspruch auf Anerkennung derselben von mehr als dem Status als Völkerrechtssubjekt abhängt, nämlich von der Erfüllung bestimmter moralischer Mi-
9 Auf diese Praxis der völkerrechtlichen Legitimiation von Interventionen zum Schutz vor massiven und systematischen Menschenrechtsverletzungen verweist auch Habermas 2000, S. 54. 10 Als verbindliches Völkerrecht gilt die Responsibility to Protect aber noch nicht. Vgl. dazu Schaller 2008, S. 9ff.
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nimalstandards, die sich als die grundlegenden Menschenrechte formulieren lassen. Aufgabe einer philosophischen Analyse ist es deshalb zu klären, ob eine plausible Berufung auf das Souveränitätsprinzip auf einen stärkeren als den positivistischen Souveränitätsbegriff angewiesen ist. Wenn dies der Fall ist, dann lässt sich zeigen, dass das Prinzip des Menschenrechtsschutzes im Falle massiver und systematischer Verletzungen der Menschenrechte innerhalb eines Staates höher zu gewichten ist als das Prinzip der staatlichen Souveränität – eine Auffassung, die auch dem Konzept der Responsibility to Protect zugrunde liegt. Die Untersuchung der theoriegeschichtlichen Positionen in dieser Arbeit dient der Absicht herauszustellen, wie weit diese Vorstellung sich auch in unserem Verständnis des Konzepts staatlicher Souveränität, wie es sich uns in seiner Genese darstellt, findet. Die Geschichte der Verwendung unserer politischen Begriffe zeigt dabei, dass eine plausible Verwendung des Begriffs der Souveränität, der die legitimatorische Bedeutungsdimension vollkommen ausblendet, nicht gelingt.11 Die Beantwortung der Frage, wie sich das völkerrechtliche Souveränitätsprinzip im Verhältnis zum Prinzip des Menschenrechtsschutzes gewichten lässt, stellt eine Herausforderung dar, die die Anfangsbedingungen einer militärischen Intervention zum Schutz der Menschenrechte betrifft. Hier stellt sich die Frage nach dem rechtfertigenden Grund für den Einsatz militärischer Gewalt – es geht also um den Bereich, der in der klassischen Theorie des gerechten Krieges als ius ad bellum bezeichnet wird. Doch selbst wenn gezeigt werden kann, dass das Prinzip des Menschenrechtsschutzes dem der staatlichen Souveränität normativ vorgeordnet ist, ist die Frage nach der Möglichkeit der Rechtfertigung militärischer Interventionen zum Schutz der Menschenrechte damit noch nicht vollständig beantwortet; es liegt dann zunächst nur ein erster Baustein einer möglichen Rechtfertigung vor.12 Damit der Einsatz militärischer Gewalt insgesamt als gerechtfertigt gelten kann, müssen neben den Anfangsbedingungen für den Einsatz militärischer Gewalt auch bestimmte Durchführungsbedingungen, die in der klassischen Theorie des gerechten Krieges in den Bereich des ius in bello fallen, erfüllt sein. Es sind die moralischen Probleme der Durchführung einer militärischen Intervention zum Schutz der Menschenrechte, die auf dieser Ebene besonders deutlich sichtbar
11 Ein solcher Begriff von Souveränität wäre aus normativer Sicht leer. Die Analyse der ideengeschichtlichen Positionen zeigt, dass ein gehaltvoller Begriff von Souveränität an die Vorstellung einer Schutzverantwortung der Herrscher und Staaten gebunden ist. Vgl. dazu Teil I dieser Arbeit. 12 Zur detaillierten Diskussion der Kriterien des ius ad bellum mit Blick auf Interventionen zum Schutz vor Menschenrechtsverletzungen siehe unten, II, 2.2.
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werden.13 Auch diese scheinen jedoch wieder in ein Dilemma zu führen. Wenn es erlaubt oder gar geboten ist, sich unter bestimmten Bedingungen auch militärisch für den Schutz der Menschenrechte der Bürger eines fremden Staates einzusetzen, kann man möglicherweise von einer Berechtigung oder Pflicht zur Nothilfe sprechen, die auf einem moralischen Prinzip der Nothilfe basiert.14 Gleichzeitig sieht sich die Erfüllung dieser Erlaubnis bzw. Pflicht aber mit einem Problem konfrontiert, das sich vor dem Hintergrund des moralischen Prinzips der Nichtschädigung ergibt. Demnach wäre eine militärische Intervention moralisch nicht erlaubt, da der Einsatz militärischer Gewalt als unbeabsichtigte Nebenfolge auch die Schädigung Unschuldiger bis hin zu ihrer Tötung nach sich zieht.15 Es scheint, als könnten das moralische Prinzip der Nothilfe und das Gebot der Nichtschädigung in solchen Fällen nicht gleichzeitig erfüllt werden, da hier zwei miteinander unverträgliche Optionen bestehen: zum einen die der Erfüllung der Nothilfeverpflichtung unter Inkaufnahme einer Verletzung des Prinzips der Nichtschädigung und zum anderen die der Achtung des Prinzips der Nichtschädigung bei Nichterfüllung des Prinzips der Nothilfe. Da in beiden Fällen mit moralisch nicht wünschenswerten Folgen zu rechnen ist, scheidet mit Blick auf diese Spannung in der Praxis aber auch die Einnahme eines neutralen Standpunktes aus, denn auch die Entscheidung zur vermeintlichen Neutralität würde hier eine Nichterfüllung des Prinzips der Nothilfe darstellen. Auch die Frage, wie sich diese Spannungen für den legitimen Einsatz militärischer Gewalt insgesamt auflösen lassen, ist in der Theoriegeschichte viel diskutiert worden. Deshalb soll im Rahmen der vorliegenden Untersuchung anhand der Auseinandersetzung mit den historischen Positionen auch der Frage nachgegangen werden, ob, und wenn ja, welche Kriterien sich für den legitimen Einsatz
13 Auch die Frage nach der Gewichtung der Prinzipien des Menschenrechtsschutzes und der staatlichen Souveränität lässt sich als moralisches Problem verstehen, denn die Achtung staatlicher Souveränität dient ihrer ursprünglichen Intention nach dem Schutz der Staaten vor willkürlichen Aggressionen von Seiten anderer Staaten. Diese Dimension ist aber in der Erörterung des Problems aus völkerrechtlicher und rechtsphilosophischer Perspektive schon enthalten und wird deshalb hier nicht zusätzlich als moralisches Problem behandelt. 14 Dass unter bestimmten Bedingungen eine Interventionspflicht besteht, behaupten etwa Hinsch und Janssen. Vgl. Hinsch/Janssen 2006. 15 In der klassischen Theorie des gerechten Krieges wird dieses Problem unter Rückgriff auf die Theorie des Doppeleffektes umgangen, nach der die Inkaufnahme moralisch problematischer Nebenfolgen einer Handlung dann als moralisch akzeptabel gelten kann, wenn die Nebenfolgen unbeabsichtigt und zum Erreichen eines legitimen Zieles unvermeidlich sind. Zur Diskussion der Lehre des Doppeleffektes (häufig auch als Prinzip der Doppelwirkung bezeichnet) vgl. unten, II, 3. Vertreter einer antiinterventionistischen Position, die sich auf dieses Argument stützen, lehnen die Doppeleffektlehre in dieser Hinsicht allerdings ab.
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militärischer Gewalt zum Schutz der Menschenrechte hinsichtlich seiner Durchführung bestimmen lassen. Nur, wenn eine Rechtfertigung von Interventionen auch hinsichtlich der Durchführungsbedingungen möglich ist, liegt der zweite Baustein für eine Rechtfertigung militärischer Interventionen zum Schutz vor Verletzungen grundlegender Menschenrechte vor, denn eine solche Rechtfertigung kann nur gelingen, wenn der Einsatz militärischer Gewalt sowohl hinsichtlich der Anfangs- als auch hinsichtlich der Durchführungsbedingungen als legitim gelten kann.16 Dabei geht es hier in erster Linie darum, das Verständnis solcher Rechtfertigungsfiguren und ihrer Genese in Auseinandersetzung mit den historischen Positionen zu rekonstruieren. Auf diesem Wege soll gezeigt werden, was die Kriterien sind, anhand derer beurteilt werden kann, ob und wann der Einsatz militärischer Gewalt zum Schutz der Menschenrechte als legitim gelten kann. Keineswegs geht es dabei aber um eine endgültige Antwort auf die Frage, ob der Einsatz militärischer Gewalt zum Schutz der Menschenrechte erlaubt ist, denn diese Frage kann nur für jeden einzelnen konkreten Fall untersucht und beantwortet werden. Ergebnis einer philosophischen Analyse dieses Problems kann nur die Bestimmung von Kriterien sein, an denen sich bei der Beurteilung des konkreten Falles orientiert werden kann. Vor allem kommt es dabei darauf an, eine solche Theorie der Intervention als eine kritische Theorie zu verstehen, die auf der einen Seite klare Kriterien entwickelt, die zeigen, in welchen Fällen der Einsatz militärischer Gewalt zum Schutz der Menschenrechte gerechtfertigt werden kann. Damit einhergehend werden auf der anderen Seite aber auch deutlich die Grenzen der Legitimität eines solchen Einsatzes definiert, so dass alle anderen Formen militärischer Gewaltanwendung, die sich rhetorisch auf die Rechtfertigungsfigur der Intervention zum Schutz der Menschenrechte berufen, als illegitim ausgewiesen werden können.17 Eine solche kritische Absicht in der Theoriebil-
16 Dies hat etwa Walzer in Just and Unjust Wars für die jüngere Diskussion der Frage nach dem ‚gerechten Krieg‘ deutlich herausgestellt. Vgl. Walzer 2007, S. 225–232. Es handelt sich hierbei aber schon um eine Anforderung, die zu einem klassischen Bestandteil der Theorie des gerechten Krieges gehört, nach der der Einsatz militärischer Gewalt nur dann als gerechtfertigt gelten kann, wenn sowohl die Bedingungen des ius ad bellum als auch die des ius in bello erfüllt sind. Vgl. dazu etwa unten Vitoria, I, 2.2. Schließlich ist noch ein dritter Baustein für die Rechtfertigung notwendig, der die Bedingungen für das Handeln der intervenierenden Partei nach Beendigung der eigentlichen militärischen Aktionen festlegt. Hier können die klassischen Bestimmungen des ius post bellum, wie die Garantie politischer Stabilität, ein geordneter Wiederaufbau und der möglichst schnelle Abzug der Truppen, auch für militärische Interventionen zum Schutz der Menschenrechte gelten. Zur besonderen Rolle und auch zu den Schwierigkeiten des ius post bellum mit Blick auf die Interventionsfrage siehe Rosenfeld 2009. 17 Auf diese Weise kann vor allem der Rechtfertigungsdruck für Politiker, die den Einsatz militärischer Gewalt legitimieren wollen, erhöht werden. Vgl. dazu Schmücker 2005, S. 7.
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dung, deren Resultat die Entwicklung eines Vokabulars ist, das in erster Linie eine Kritik des illegitimen Einsatzes militärischer Gewalt ermöglicht, damit aber auch die Bedingungen des legitimen Einsatzes militärischer Gewalt formuliert, zieht sich durch die gesamte Geschichte der Theorie des gerechtfertigten Einsatzes militärischer Gewalt, der so genannten ‚Theorie des gerechten Krieges‘.18 Die vorliegende Studie gliedert sich in zwei Hauptteile, deren erster der Rekonstruktion der ideengeschichtlichen Positionen zur Interventionsfrage gewidmet ist. Dabei geht es zum einen darum nachzuzeichnen, wie über die Bedingungen nachgedacht wurde, unter denen Gewalt von außen gegen den Herrscher oder die Regierung eines fremden Staates eingesetzt werden darf um dessen Bürger zu schützen. Zum anderen geht es um die Frage nach den Kriterien, die in den einzelnen Ansätzen für den Einsatz legitimer militärischer Gewalt hinsichtlich ihrer Anwendung bestimmt werden. Ein besonderes Augenmerk liegt dabei im Rahmen der historischen Analyse auf Positionen, die Interventionen von außen zum Schutz der Bürger eines Staates in Analogie zur Rechtfertigung von Widerstand der Bürger von innen gegen die eigene Regierung entwickeln. Diese Verbindung von Rechtfertigungen von Interventionen von außen und Widerstand von innen, die in der bisherigen Diskussion kaum gesehen wird, könnte einen Schlüssel zur Bestimmung des legitimen Interventionsfalles bereitstellen. Vor dem Hintergrund der ideengeschichtlichen Positionen wird in dieser Arbeit dafür argumentiert werden, dass Interventionen zum Schutz vor Menschenrechtsverletzungen unter bestimmten Bedingungen als Aktionen stellvertretenden Widerstandes verstanden werden können. Dass eine Regierung sich nicht mehr legitimerweise gegenüber der Staatengemeinschaft auf ihre Souveränität und das aus ihr resultierende Einmischungsverbot berufen kann, kann auch daran erkannt werden, dass das Volk zum gewaltsamen Widerstand berechtigt ist.19 Der Schwerpunkt der historischen Analyse liegt auf der Zeit des 16. – 18. Jahrhunderts, in der sich mit der Kolonialisierung des amerikanischen Kontinents, der Herausbildung der europäischen Nationalstaaten und den ersten Formulierungen einer Theorie der Menschenrechte die zentralen Ereignisse und Entwicklungen finden, die eine theoretische Reflexion der Interventionsfrage nach sich ziehen. Doch schon in Antike und Mittelalter finden sich Überlegungen zur Interventionsfrage im Rahmen verschiedener Varianten einer Theorie des gerechten Krieges. Außerdem ist eine Bestimmung von Kriterien guter Herrschaft ein
18 Zu verstehen ist dabei unter einem gerechten Krieg nicht etwa ein „heiliger“ Krieg, sondern ein gerechtfertigter Krieg. Unter einer Theorie des gerechten Krieges verstehe ich das historisch gewachsene Verständnis der Legitimität und der Grenzen der Legitimität des Einsatzes militärischer Gewalt. 19 Siehe dazu unten, II, 2.1.
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zentraler Bestandteil des politischen Denkens jener Zeit und es zeigt sich vor allem in der Tyrannislehre, dass Herrschaft, die gegen den sie legitimierenden Zweck verstößt, keinen Schutz um ihrer selbst Willen genießt, sondern (aus moralischer Perspektive) in letzter Instanz auch gewaltsam beendet werden darf. Ein Konzept der Menschenrechte oder eine Konzeption staatlicher Souveränität liegen hier aber noch nicht vor.20 Das verändert sich schließlich im Rahmen der Diskussion der Interventionsfrage in der spanischen Spätscholastik. Vor allem durch die Fragen nach den Rechten der Eroberer und den Rechten der indigenen Bevölkerung, die mit der Entdeckung Amerikas aufgeworfen werden, rückt die Interventionsfrage ins Zentrum einer Diskussion, in der die Idee von Rechten, die allen Menschen aufgrund ihres Menschseins von Natur aus zukommen, eine zentrale Rolle einnehmen wird. Vor dem Hintergrund der europäischen Religionskriege im 16. und 17. Jahrhundert erhält dann das Prinzip staatlicher Souveränität in der Theoriebildung besondere Bedeutung und wird zur Grundlage eines Prinzips der Nichteinmischung in die inneren Angelegenheiten von Staaten, das für lange Zeit zum dominierenden Prinzip des Völkerrechts werden sollte. Bevor das Souveränitätsprinzip mit dem Westfälischen Frieden in diesen Rang kommt, versuchen Völkerrechtstheoretiker wie beispielsweise Hugo Grotius aber auch den Schutz staatlicher Souveränität und die Möglichkeit einer Intervention bei massiven Verletzungen des Naturrechts zusammenzudenken. Eine wichtige Rolle spielen hierbei die Theorie des Widerstandsrechts und die klassische Tyrannislehre, die bislang in der Interventionsdebatte kaum berücksichtigt wurden und auf die in dieser Arbeit ein besonderes Augenmerk gerichtet wird.21 Um die Berechtigung zur Intervention bei gleichzeitig strikter Achtung des
20 Wohl aber lassen sich in der Antike erste Quellen späterer Menschenrechtskonzeptionen erkennen. Vgl. dazu etwa Gerhardt 1999b. 21 Berücksichtigt wird dieser Zusammenhang von Klaus Peters, der dem Zusammenhang von Widerstandsrecht und Interventionsrecht aus juristischer Perspektive nachgeht. Das Augenmerk seiner historischen Analyse liegt dabei aber eher auf einigen Positionen aus der Geschichte der Theorie des Widerstandsrechts. Die zahlreichen historischen Positionen, die Tyrannislehre beziehungsweise Widerstandsrecht und Interventionsrecht im Zusammenhang diskutieren oder analog rechtfertigen, finden in seiner Arbeit aber keine Berücksichtigung. Vgl. Peters 2005. Kurz thematisiert wird der Zusammenhang von Widerstandsrecht und Interventionsrecht in der gegenwärtigen Debatte von Zanetti, Kersting und Meggle, die jeweils einen Zusammenhang von Widerstands- und Interventionsrecht andeuten. Vgl. dazu Zanetti 1996 und 1998, S. 307; Kersting 1998, S. 40; Meggle 2004b, S. 34. In der völkerrechtlichen Literatur findet sich ein Hinweis auf diesen Zusammenhang auch schon bei Reibstein 1963, S. 638f. in Auseinandersetzung mit Gentilis. Zudem greift Schmücker einen weiteren Zusammenhang von Widerstands- und Interventionsrecht auf, indem er darauf verweist, dass im Rahmen einer Intervention Bevölkerungsteile, die Widerstand gegen eine illegitime Regierung leisten, besonders geschont werden müssen.
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Souveränitätsprinzips zu begründen bedarf es nicht zuletzt eines Kriteriums, anhand dessen beurteilt werden kann, unter welchen Bedingungen ein Staatsoberhaupt oder die Regierung eines Staates den ursprünglich berechtigten Anspruch auf Souveränität verlieren kann. Dies ist nach Auffassung einiger historischer Autoren genau dann der Fall, wenn die vormals legitime Herrschaft zur Tyrannis wird.22 In diesem Fall haben die Bürger eines Staates unter bestimmten Bedingungen ein Recht zum Widerstand. Interventionen von außen können in solchen Fällen als Aktionen stellvertretenden Widerstandes verstanden werden. Diese Auffassung findet in der theoriegeschichtlichen Entwicklung sowohl prominente Fürsprecher als auch Gegner.23 Der ideengeschichtliche Teil der Arbeit beginnt mit einer Skizze antiker und mittelalterlicher Positionen zur Interventionsfrage sowie der dort formulierten Grundlagen der Theorie des gerechten Krieges und der Tyrannislehre (I, 1). Es folgt die Rekonstruktion der Interventionsargumente, die in der spanischen Diskussion des 16. Jahrhunderts rund um die Entdeckung der ‚neuen Welt‘ vorgebracht werden (I, 2).24 Im Anschluss daran wird die Diskussion um Interventionen vor dem Hintergrund der europäischen Religionskriege und der Entwicklung des neuzeitlichen Souveränitätsbegriffs in den Blick genommen (I, 3). In einem kurzen Exkurs zu John Lockes politischer Philosophie werden danach die Kriterien einer menschenrechtlich begründeten Theorie des Widerstandsrechts rekonstruiert (I, 4). Die Ablehnung von Interventionen aus der Perspektive eines strengen Souveränitätsbegriffs, welche die Diskussion von Wolff bis Kant – mit der Ausnahme Vattels, der den Zusammenhang von Widerstandsrecht und Interventionsrecht besonders deutlich herausstellt – prägt, wird im Anschluss untersucht (I, 5). Den Abschluss des historischen Teils der Arbeit bilden die Zusammenfassung der Ergebnisse zu einer Typologie von Interventionsargumenten, die sich in der Theoriegeschichte rekonstruieren lassen, und eine erste Bewertung der ver-
Vgl. dazu Schmücker 2005, S. 36. Ausführlich wird der systematische Zusammenhang von Widerstand und Intervention neuerdings von Dobos (Dobos 2012) behandelt, der eine ähnliche Perspektive auf den Souveränitätsbegriff einnimmt wie sie in dieser Arbeit entfaltet wird, die historische Perspektive aber weitgehend ausklammert. 22 Historisch findet sich eine solche Verbindung von Tyrannislehre und Widerstandsrecht mit einem Interventionsrecht bei nahezu allen in dieser Arbeit behandelten Autoren der spanischen Spätscholastik sowie bei Bodin, Gentilis, Grotius, Pufendorf und Vattel. Vgl. dazu die Einzeldarstellungen der Positionen im ideengeschichtlichen Teil der vorliegenden Arbeit. 23 Als Hauptgegner dieser Auffassung können Wolff und Kant gelten, deren Argumentationen zur Ablehnung eines Interventionsrechtes auch im Zusammenhang mit der Diskussion der Frage nach der Begründung eines Widerstandsrechtes geführt werden. Vgl. dazu unten, I, 5.1 und I, 5.3. 24 Mit der Bezeichnung „Neue Welt“ beziehe ich mich in der gesamten Arbeit auf die von den Spaniern entdeckten und eroberten Gebiete in Amerika.
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schiedenen Interventionsargumente hinsichtlich der Reichweite ihrer Begründungskraft (I, 6). Im Anschluss an die Rekonstruktion und Beurteilung der historischen Positionen zur Interventionsfrage folgt eine Diskussion der zentralen Probleme der gegenwärtigen Interventionsdebatte unter Einbeziehung der historischen Analyse. Ziel davon ist die Beantwortung der Frage, ob sich der Einsatz militärischer Gewalt zum Schutz vor Verletzungen grundlegender Menschenrechte rechtfertigen lässt und was die Bedingungen für den Einsatz militärischer Gewalt in solchen Fällen sind. Dazu werden die Fragen behandelt, ob sich das völkerrechtliche Dilemma zwischen den Prinzipien des Menschenrechtsschutzes und der staatlichen Souveränität (II, 2) und das moralische Dilemma zwischen einem möglichen Gebot der Nothilfe und dem Prinzip der Nichtschädigung Unschuldiger (III, 3) auflösen lassen. Die neuere Literatur zur Frage nach der Rechtfertigung des Einsatzes militärischer Gewalt zum Schutz der Menschenrechte füllt Bände, ohne zu einer Auflösung der zentralen Probleme dieser Diskussion zu führen.25 Die Betrachtung ideengeschichtlicher Quellen unseres Verständnisses der zentralen Kategorien der Interventionsdebatte findet in der gegenwärtigen Diskussion allerdings nur wenig Platz. Einzelne Autoren, wie etwa Kant mit seiner strikten Ablehnung von gewaltsamen Einmischungen in „Verfassung und Regierung eines andern Staats“ (Kant, ZeF, BA 11, 12)26, oder manchmal auch Grotius mit der Erlaubnis von Interventionen in Ausnahmefällen, werden in der Diskussion herangezogen um einzelne Probleme zu diskutieren.27 Arbeiten, in denen die Geschichte des politischen Denkens und die Geschichte der Theorie des gerechten Krieges mit Blick auf die Interventionsfrage als Ganze oder in einzelnen Epochen in den Blick genommen werden, sind dagegen selten. In der deutschsprachigen Diskussion sind hier vor allem die Arbeiten von Skadi Krause und Patrick Horvath zu nennen. Krause zeigt
25 Die wichtigsten Beiträge der jüngeren deutschsprachigen Debatte, auf die ich hier vor allem verweise, da in ihr auch die Impulse aus der englischsprachigen Diskussion sehr deutlich enthalten sind, sind in umfassenden Sammelbänden zum Thema versammelt. Siehe dazu: Debiel/Nuscheler 1996, Brunkhorst 1998, Lutz 1999, Merkel 2000a, Müller/Schneider/Thony 2002, Janssen/ Quante 2003, Meggle 2004, Münkler/Malowitz 2008. Als wichtige Monographien zur Interventionsfrage seien hier Hinsch/Janssen 2006 und Zanetti 2008 genannt. Eine umfassende Bibliographie der englischsprachigen Erscheinungen bis 2001 findet sich im Report der ICISS. Siehe ICISS 2001b. Siehe außerdem Chatterjee/Scheid 2003. 26 Philosophische und völkerrechtrechtliche Klassiker werden abweichend von der hier gängigen Zitation durch Verweis auf den Werktitel zitiert, wenn dadurch durch Verweis auf Kapiteloder Paragraphenzählungen die Orientierung zwischen verschiedenen Ausgaben erleichtert wird. 27 Auf Literatur zur Diskussion der Interventionsfrage bei Grotius und Kant wird unten in den Kapiteln I, 3.3 und I, 5.3 verwiesen.
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in einem Aufsatz zum Problem der humanitären Intervention unter Berücksichtigung historischer Positionen zur Interventionsfrage auf, dass es viele historische Quellen zur Interventionsfrage gibt, die in eine Diskussion derselben einbezogen werden können (vgl. Krause 2008).28 Horvath rekonstruiert die Geschichte der Theorie des gerechten Krieges unter besonderer Berücksichtigung der Interventionsfrage und arbeitet dabei mit Konzentration auf die Frage danach, ob die ‚humanitäre Intervention‘ als gerechter Krieg im Sinne der Tradition der Lehre vom gerechten Krieg verstanden werden kann, einige der theoriegeschichtlichen Quellen gründlich auf (vgl. Horvath 2004). Im Rahmen der vorliegenden Arbeit werden jedoch Positionen und Zusammenhänge rekonstruiert, die in diesen Arbeiten nicht berücksichtigt sind. Außerdem werden die historischen Positionen unter Berücksichtigung der Perspektive des Konzepts der Responsibility to Protect sowie des Zusammenhangs von Widerstandsrecht und Intervention untersucht. Die Arbeit folgt jedoch nicht allein einem theoriegeschichtlichen Interesse. Vor dem Hintergrund der Rekonstruktion der historischen Positionen wird im zweiten Teil der Arbeit für folgende These argumentiert: Die Spannung zwischen Menschenrechten und staatlicher Souveränität lässt sich auflösen, wenn man den Begriff staatlicher Souveränität normativ gehaltvoll interpretiert. Gemäß eines solchen Verständnisses verdient Souveränität und das sich aus ihr ergebende Einmischungsverbot nur bei Garantie und Schutz grundlegender Menschenrechte Anerkennung. Dass allein ein solches Verständnis von Souveränität mit Blick auf Menschenrechte und Völkerrecht trägt, zeigt der Versuch einer Interpretation von Interventionen zum Schutz vor Verletzung grundlegender Menschenrechte als Aktionen stellvertretenden Widerstandes. Ein Schlüssel für ein angemessenes Verständnis von Souveränität hinsichtlich der Grenzen ihrer Reichweite und hinsichtlich der Pflichten, die sich aus dem Anspruch auf sie ergeben, liegt in einer Rekonstruktion des historisch entwickelten Verständnisses von legitimem Widerstand gegen eine tyrannische Staatsgewalt, welche die grundlegenden Menschenrechte ihrer Bürger massiv und systematisch verletzt. Wenn die Verletzung der Menschenrechte den positivrechtlichen Souveränitätsanspruch einer Regierung nach innen (aus moralischer Sicht) aufhebt, weil die ursprüngliche Souveränität des Volkes durch die Missachtung der grundlegenden Rechte der einzelnen Bürger verletzt wird, warum sollen derartige Handlungen dann nicht auch die Grenzen des völkerrechtlich-positiven Souveränitätsanspruches nach außen markieren?
28 Einige ideengeschichtliche Bemerkungen zur Interventionsfrage finden sich auch in Hehir 1979 und Bordat 2006. Zur Geschichte der Theorie des gerechten Krieges vor dem Hintergrund der Interventionsfrage siehe auch Hinsch/Janssen 2006, S. 52–67.
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Ziel der Vereinten Nationen ist es nach dem in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte ausgedrückten Selbstverständnis, dass dieser Schutz der Menschenrechte durch die „Herrschaft des Rechts“ garantiert werden soll, „damit der Mensch nicht gezwungen wird, als letztes Mittel zum Aufstand gegen Tyrannei und Unterdrückung zu greifen“ (AEMR, Präambel). Das Konzept der Responsibility to Protect zeigt heute, dass die Verantwortung für den Schutz der Menschenrechte auch eine sekundäre Verantwortung der Staatengemeinschaft ist, wenn diese in einzelnen Staaten von Seiten der Regierung massiv und systematisch verletzt werden. Zu beantworten ist hier deshalb auch die Frage, ob eine solche Verantwortung der Staaten genau dann vorliegt, wenn die Bürger eines Staates als letztes Mittel zum Widerstand gegen die Regierung berechtigt sind. In den klassischen Theorien des Widerstandsrechts sind für den Widerstandsfall Regeln für den Einsatz von Gewalt formuliert, die genau bestimmen, wie der legitime Widerstandsfall bestimmt werden kann, wer zur Ausübung von Widerstand berechtigt ist, wie der verhältnismäßige Einsatz der Mittel gestaltet werden muss und welche Aussichten auf Erfolg bestehen müssen. Fragen, die diese Aspekte betreffen, müssten auch für eine Theorie militärischer Interventionen zum Schutz vor Verletzung grundlegender Menschenrechte als Aktionen stellvertretenden Widerstandes von außen beantwortet werden. Durch eine Bewertung dieser Fragen unter Berücksichtigung der theoriegeschichtlichen Positionen lässt sich zum einen ein normativer Beitrag zur Debatte um den Einsatz militärischer Gewalt zum Schutz vor Verletzung grundlegender Menschenrechte gewinnen. Zum anderen ergibt sich daraus ein Beitrag zu einem gründlicheren Verständnis der Begriffe und Spannungen der Interventionsdebatte. Von einer philosophiegeschichtlichen und überhaupt von einer philosophischen Auseinandersetzung mit dem Interventionsproblem eine letzte Beantwortung der dilemmatischen Entscheidungsfragen, die sich in dieser Debatte stellen, zu erwarten, wäre allerdings vermessen. Ergebnis einer philosophischen Analyse kann hier allenfalls die Freilegung und Aufklärung von Begriffen und Wertungen sein, die diesen zugrunde liegen. Sie kann zeigen, was die Bedingungen für den legitimen Einsatz von Gewalt sind und damit zugleich die Grenzen solchen Handelns markieren. Sie kann dem Einzelnen – auch als Vertreter einer Institution –, der in einer konkreten Situation entscheiden muss, wie er handelt, die Entscheidung sein persönliches Handeln zu verantworten aber nicht abnehmen. Eine letzte Beantwortung praktischer Fragen ist somit nicht das Ziel dieser Arbeit. Vielmehr lässt sich mit Rousseau sagen: „Ich habe einige Überlegungen begonnen, ich habe einige Vermutungen gewagt: weniger in der Hoffnung, das Problem zu lösen, als in der Absicht, es zu erhellen und es auf seinen wahren Sachstand zurückzuführen“ (Rousseau, Ungleichheit, S. 22).
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Teil I Ideengeschichte
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1 Wurzeln in Antike und Mittelalter Die Frage nach der Rechtfertigung des Einsatzes von Gewalt gehört schon in der Antike zu den zentralen Fragen des politischen Denkens.1 Dass es eine Berechtigung zur Kriegsführung gibt, ist im politischen Denken der Antike weitgehend unumstritten, die erste pazifistische Herausforderung stellt erst das frühe Christentum mit seiner auf die Bergpredigt zurückgehenden Haltung der Gewaltfreiheit dar. So lassen sich schon im antiken Denken Wurzeln theoretischer Überlegungen zur Rechtfertigung, aber auch zur Begrenzung des Einsatzes militärischer Gewalt finden, die seither unter dem Titel einer Theorie des gerechten Krieges einen Teil der politischen Philosophie und der politischen Ethik darstellen.2 Für gewöhnlich werden diese Überlegungen vorwiegend als frühe Stationen einer philosophischen Theorie des gerechten Krieges verstanden, in denen vor allem die Bedingungen einer gerechten Kriegsführung – sowohl mit Blick auf den gerechtfertigten Beginn kriegerischer Handlungen (ius ad bellum) als auch auf die Bedingungen einer legitimen Kriegsführung (ius in bello) – thematisiert werden. Doch über die Formulierung eines solchen theoretischen Rahmens zur moralischen Beurteilung des Einsatzes militärischer Gewalt hinaus, die zweifelsohne den Kern der antiken Theorie des gerechten Krieges bildet, lassen sich auch in dieser frühen Phase der Theorieentwicklung schon Überlegungen finden, welche die Frage nach der Erlaubtheit von militärischen Einmischungen von außen aufgrund eines bestimmten als illegitim verstandenen Verhaltens von Herrschern gegenüber ihren Untertanen betreffen. Der hier nur kurz gehaltene Rückblick in die antike und mittelalterliche Theorie des gerechten Krieges richtet den Fokus auf diese Theorieelemente, die sich bei Aristoteles, Cicero, Augustinus und Thomas von Aquin finden, ohne zu beanspruchen, eine detaillierte Rekonstruktion der antiken und mittelalterlichen Theorie des gerechten Krieges zu leisten (vgl. dazu Kleemeier 2002 und 2003; Russel 1977). Neben den grundsätzlichen Überlegungen zur Legitimität des Einsatzes militärischer Gewalt finden sich im antiken politischen Denken darüber hinaus auch in der Tyrannislehre bei Aristoteles und Seneca Anknüpfungspunkte für die Frage nach der Erlaubtheit einer militäri-
1 Historische Kontextualisierungen der ideengeschichtlichen Positionen werden in der folgenden Darstellung nur so weit vorgenommen, wie es zum Verständnis der Positionen nötig ist, da es in erster Linie um eine Rekonstruktion der Argumente geht und nicht um eine Interpretation der einzelnen Theorien vor dem je eigenen Hintergrund ihrer Entstehung. 2 Auch außerhalb der europäischen Ideengeschichte finden sich früh Formulierungen einer Theorie des gerechten Krieges, etwa in Indien. Vgl. dazu Roy 2009, Deegalle 2009 und Köhler 2003.
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schen Intervention in Fällen, in denen der Herrscher eines Gemeinwesens zum Tyrannen geworden ist.3 Aristoteles. Eine frühe Entwicklung eines Vokabulars, das Herrschaft mit Blick auf ihre Legitimität kritisierbar macht, wird von Aristoteles durch die Einführung einer Unterscheidung zwischen legitimen und illegitimen Herrschaftsformen geleistet. Als paradigmatisch kann hier die Position, die Aristoteles in der Politik entwickelt, gelten (vgl. Aristoteles, Politik, IV, insbes. Kap. 10). Setzt ein Herrscher seine Macht willkürlich und am Eigen- statt am Allgemeinwohl orientiert ein, wird seine Herrschaft zur Tyrannis, die unter bestimmten Bedingungen auch gewaltsam beendet werden darf. Die Tötung eines Tyrannen kann sogar als besonders ehrenhafte Handlung gelten, wie etwa die aristotelische Bewertung des Tyrannenmordes zeigt: „Wahr aber bleibt, daß die größten Ungerechtigkeiten von denen ausgehen, die das Übermaß verfolgen, nicht von denen, die die Not treibt. Man wird ja nicht Tyrann, um nicht zu frieren. Daher erwarten einen auch große Ehren, wenn man nicht einen Dieb, sondern einen Tyrannen erschlägt“ (Aristoteles, Politik, II, Kap. 7 (1267a)). Es zeigt sich schon hier in den Konsequenzen, die sich aus der Beurteilung von Herrschaft als Tyrannis ergeben, dass die Frage nach der Rechtfertigung des Einsatzes von Gewalt nicht allein auf die Außenbeziehungen von Gemeinwesen bezogen ist, sondern auch eine Dimension hat, die den Bereich innergesellschaftlicher Herrschaftsverhältnisse betrifft – Gewalt kann auch innerhalb eines politischen Gemeinwesens legitim eingesetzt werden, nämlich, um sich von einem Tyrannen zu befreien. Bei Aristoteles spielt aber auch mit Blick auf die Anwendung militärischer Gewalt nach außen der Status der Gegner und damit auch die Organisation ihres Gemeinwesens eine Rolle, die für die Rechtfertigung des Einsatzes von Gewalt relevant ist. Zur Darstellung der naturrechtlichen Erlaubtheit der Kriegsführung wählt Aristoteles gerade das Beispiel sogenannter ‚Barbaren‘, gegen die ein gerechter Krieg geführt werden darf. Aufgrund kultureller Differenzen sieht Aristoteles die ‚Barbaren‘, also nach seinem Verständnis jene, die nicht dieselbe Sprache sprechen und dieselben kulturellen Praktiken ausüben wie die Griechen, als von Natur aus untergeordnet an, vor allem, da mit ihnen keine Rechtsbeziehungen eingegangen werden können, sie also gewissermaßen (mangels Vernunft) als nicht politikfähig gelten (vgl. Krause 2008, S. 115). Vielmehr befinden sie sich nach Auffassung Aristoteles’ in einer Rolle des natürlichen Gehorsams, weshalb gegen sie ein gerechter Krieg geführt werden kann, um sie zu unterwerfen:
3 Zur antiken Tyrannislehre vgl. Mandt 1974, S. 23–62.
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Denn die Jagdkunst ist ein Teil von ihr [der Kriegskunst S.L.], und sie kommt teils gegen die Tiere, teils gegen solche Menschen zur Anwendung, die von Natur aus zu dienen bestimmt sind, aber nicht freiwillig dienen wollen, so daß ein solcher Krieg dem Naturrecht entspricht (Aristoteles, Politik, I, 8 (1256b)).4
Neben der Rechtfertigung des Einsatzes militärischer Gewalt beruht auf dieser Denkfigur auch Aristoteles’ Rechtfertigung der Sklaverei (vgl. Aristoteles, Politik, VII, 2 (1324b); VII, 14 (1333b)). Für die Diskussion der Interventionsfrage ist diese Auffassung in zweifacher Hinsicht interessant. Zum einen enthält der Rekurs auf den Status der Gegner als Barbaren eine Bewertung der politischen Organisation eines fremden Gemeinwesens, die in die Beurteilung der Frage nach den Gründen für den legitimen Einsatz von Gewalt einfließt. Dass diese Rechtfertigungsfigur, die auf einem antiegalitaristischen Menschenbild basiert, aus heutiger Sicht höchst problematisch ist und nicht überzeugen kann, ist klar. Für die Ideengeschichte der Interventionsethik jedoch stellt sie einen wichtigen Referenzpunkt dar, auf den sich Autoren zur Rechtfertigung des Einsatzes von Gewalt gegen Völker, die sie für weniger zivilisiert hielten, immer wieder berufen haben, wobei das Verständnis des Aristoteles als Autorität zum Erfolg dieser Berufungen das Seine beigetragen hat. Besonders in der Diskussion im Spanien des 16. Jahrhunderts wird diese Rechtfertigungsfigur wieder aufgegriffen um den Einsatz militärischer Gewalt gegen die Indios zu rechtfertigen.5 In den Rechtfertigungen jener Zeit wird der Begriff des ‚Barbaren‘ jedoch in einem viel stärker moralisch aufgeladenen Sinne verwendet. Barbaren sind demgemäß nicht nur fremd und nicht politikfähig in dem Sinne, dass man keine Verträge mit ihnen schließen kann, sie werden vielmehr als ‚barbarisch‘ in dem Sinne verstanden, dass sie sich unmenschlich verhalten und damit gegen natürliches und göttliches Recht verstoßen sowie, dass sie ‚unzivilisiert‘ sind, worunter verstanden wird, dass sie ein Gemeinwesen nicht gemäß einer guten Ordnung organisieren können und Menschenopfer darbringen. Auch die Position des Aristoteles wurde später häufig in diesem Sinne interpretiert.6 Zum anderen wird an dieser Stelle bei Aristoteles aber auch deutlich, dass die Beurteilung der Legitimität des Einsatzes militärischer Gewalt offensichtlich auf einen überpositiven Grund zurückzuführen ist – das Recht wird an einem mora-
4 Schon bei Aristoteles liegt hier aber die Vorstellung zugrunde, dass in einem solchen Krieg Regeln gelten. 5 Vgl. dazu unten, I, 2. 6 Dieses Problem zeigt sich nicht allein in der Diskussion der spanischen Spätscholastik, sondern auch später bei Grotius. Vgl. Grotius, JBP, Buch II, Kap. 20, XL, S. 355. Siehe unten, I, 2 und I, 3.3.
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lischen Maßstab bemessen. Diesen Grund bildet für Aristoteles ein natürliches Recht, eine Vorstellung, auf die nicht allein in der antiken Theoriebildung, sondern auch in neuzeitlichen und sogar modernen Rechtfertigungsmodellen häufig zurückgegriffen wird.7 Systematisch entscheidend ist hier, dass die Rechtfertigung des Einsatzes von Gewalt von der Vorstellung eines aus der Macht des Starken entspringenden Rechts gelöst wird. Wenn der Einsatz von Gewalt nicht allein auf ein Recht des Stärkeren zurückgeführt werden soll, das, wie Rousseau später eindrücklich unter Verweis darauf herausstellt, dass der Begriff der Stärke dem des Rechts nichts hinzufügt (vgl. Rousseau, Gesellschaftsvertrag, I, 3), kein wirkliches Recht darstellt, dann muss der Einsatz von Gewalt vor dem Hintergrund eines überpositiven moralischen Rahmens bewertet werden können.8 Cicero. Konkrete Kriterien für die Gerechtigkeit des Einsatzes militärischer Gewalt definiert zuerst Cicero (106–43 v. Chr.) in seiner Schrift De officiis, in der eine erste systematische Theorie des gerechten Krieges formuliert wird. Ausgehend von einer Analyse des Begriffs der Gerechtigkeit führt Cicero hier Kriterien an, an denen die Legitimität des Einsatzes militärischer Gewalt bemessen werden kann. Dabei lassen sich Kriterien, welche die Anfangsbedingungen des Einsatzes militärischer Gewalt bestimmen, und solche, welche die Bedingungen für die Durchführung einer militärischen Aktion definieren, unterscheiden. Zudem werden Bedingungen für die Gerechtigkeit eines Krieges formuliert, die nach Ende der Kampfhandlungen zu erfüllen sind. Es finden sich schon hier die Bereiche des ius ad bellum, des ius in bello und des ius post bellum. Zu den Kriterien des ius ad bellum gehört für Cicero, dass der Krieg auf einer Rechtsgrundlage begonnen werden muss. Nur der Krieg ist gerecht, „der für Schadenersatz geführt wird oder nach Androhung und Erklärung“ (Cicero, De officiis, S. 35).9 Hier wird deutlich, dass der Krieg selbst nicht als Akt der Willkür, sondern als Rechtsgang verstanden wird; es gilt die „unbedingte Rechtsbeachtung bei Beginn eines Krieges“ (Cicero, De officiis, S. 35f.). Legitime Autorität der Kriegsführung kann dabei nicht eine Privatperson, sondern allein der Herrscher eines Gemeinwesens sein. Damit lassen sich also schon hier die klassischen Kriterien des gerechten Grundes (causa iusta) und der legitimen Autorität (auctoritas principis) erkennen. Außerdem gilt – auch dies berührt den Bereich des ius ad bel-
7 Zur Entwicklung des Naturrechts in der Antike vgl. Brandt 1984, zur Entwicklung in Mittelalter und früher Neuzeit vgl. Specht 1994. 8 Die Auffassung, dass eine moralische Bewertung des Krieges nicht wirklich möglich ist, vertreten heute Bellizisten und einige Vertreter eines sogenannten realistischen Standpunktes. Vgl. dazu Walzer 2007, S. 3–20, wo eine solche Auffassung überzeugend kritisiert wird. 9 Die Überlegungen Ciceros schließen hier ganz konkret an das römische Fetialrecht an.
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lum – dass der Zweck des Krieges der zukünftige Friede sein muss (vgl. Cicero, De officiis, S. 33).10 Der Bereich des ius in bello ist vor allem durch die Formulierung bestimmter Verhaltensregeln im Krieg bestimmt. Zentral für Cicero sind hier das Verbot von Hinterlist, das auch die Einhaltung von Versprechen gegenüber dem Feind umfasst, das Einhalten des richtigen Maßes im „Rächen und Bestrafen“ (Cicero, De officiis, S. 33), sowie der verhältnismäßige Einsatz der Mittel zur Erreichung eines legitimen Zweckes (vgl. Cicero, De officiis, S. 33f.). Es gelten hier für den gerechten Einsatz militärischer Gewalt zwei Kriterien: zum einen müssen die eingesetzten Mittel nach dem Prinzip der Verhältnismäßigkeit eingesetzt werden, zum anderen sollen im Krieg gewisse moralische Grundregeln gelten, die zumindest ein minimales Vertrauen in den Gegner erlauben. In der Antike scheint der Grund hierfür vor allem zu sein, dass die Kämpfenden selbst sonst charakterlich zu verrohen drohen (vgl. Krause 2008, S. 117). Später wird von Kant, der einer Theorie des gerechten Krieges ablehnend gegenüber steht und sie durch eine Theorie der Verrechtlichung der zwischenstaatlichen Beziehungen mit dem Ziel der Etablierung eines Rechtsfriedens zwischen den Staaten zu ersetzen versucht, die Bedeutung der Einhaltung minimaler moralischer oder auch rechtlicher Standards im Krieg als Voraussetzung für einen zukünftigen Frieden überhaupt herausgestellt (vgl. Kant, ZeF, BA, 13–17). Das ius post bellum schließlich regelt die Behandlung der Gegner nach Beendigung des Krieges und die Organisation des beginnenden Friedens.11 Dabei ist nach Cicero insbesondere „immer für einen Frieden, der keinerlei Tücken hat, zu sorgen“ (Cicero, De officiis, S. 35). Schon in dieser Formulierung des Kerns der Theorie des gerechten Krieges bei Cicero wird deutlich, dass unter einer solchen Theorie der Intention nach keine apologetische Theorie verstanden werden soll, die dem Einsatz jeglicher Art von militärischer Gewalt eine moralische Legitimation verschafft, sondern eine Theorie, die den Einsatz militärischer Gewalt erst von einem moralischen Standpunkt aus bewertbar macht und dadurch auch seine Begrenzung ermöglicht. Ein Krieg kann demnach eben dann nicht als gerechtfertigt gelten, wenn er
10 Ein ultima ratio-Kriterium, gemäß dem der Einsatz von Gewalt das letzte Mittel zum Erreichen eines legitimen Zweckes darstellen muss, liegt hier noch nicht vor. Dass die richtige Intention bezüglich der Rechtfertigung des Einsatzes militärischer Gewalt eine Rolle spielt, deutet sich in der Bestimmung des zukünftigen Friedens als Ziel des Krieges zumindest schon an, auch wenn dies hier noch nicht als intentio recta-Kriterium gefasst wird. 11 Vgl. Cicero, De officiis, S. 35f.: „Und man muß für die, die man mit Gewalt besiegt hat, sorgen, besonders aber diejenigen aufnehmen, die nach Niederlegung der Waffen beim Schutzversprechen des Feldherrn Zuflucht gesucht hatten, mag auch der Sturmbock die Mauern erschüttert haben.“ Zur historischen Entwicklung eines philosophischen Friedensbegriffs vgl. Merle 2004.
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nicht aus einem legitimen rechtfertigenden Grund begonnen wird oder wenn er nicht auf gerechte Weise durchgeführt wird. Durch die Entwicklung von Kriterien für den legitimen Einsatz militärischer Gewalt und durch die Entwicklung eines Vokabulars, anhand dessen der ungerechte Einsatz militärischer Gewalt kritisiert werden kann, entsteht hier überhaupt erst die Möglichkeit einer kritischen Bewertung des Krieges. Zwar kann sich ein Herrscher auf eine bloße Rhetorik des gerechten Krieges berufen um andere Kriegsgründe zu verschleiern, doch die Kriterien, auf die er sich damit beruft, können immer auch gegen ihn gewendet werden und ihn zu einer Rechtfertigung seines Handelns zwingen – und zwar zu einer Rechtfertigung, die an Maßstäben gemessen werden kann, die von seiner Willkür unabhängig sind. Doch Ciceros Formulierung einer Theorie des gerechten Krieges ist über die Formulierung der Kriterien hinaus auch für die Diskussion der Interventionsfrage besonders interessant. Zwar stellte sich die Frage nach einer Berechtigung zu militärischen Interventionen zum Schutz der Mitglieder eines fremden Gemeinwesens vor Verletzungen ihrer grundlegenden Menschenrechte in der Antike nicht in der Form, wie sie heute diskutiert wird, da es zu jener Zeit weder eine Konzeption der Menschenrechte noch eine mit dem neuzeitlichen Verständnis vergleichbare Konzeption staatlicher Souveränität gab. Doch es taucht schon in antiken Texten ein mit Blick auf die gegenwärtige Diskussion des Interventionsproblems interessantes argumentatives Muster für die Erklärung von Hilfspflichten auf, die den Einsatz von Gewalt einschließen. Bei Cicero findet sich eine erste Formulierung einer Nothilfepflicht im Kontext der Theorie des gerechten Krieges, die ausgehend vom Begriff der Gerechtigkeit entwickelt wird: Sein Verständnis von Gerechtigkeit geht vom Bild des Menschen als sozialem Wesen aus, woraus sich zwei Prinzipien der Gerechtigkeit, nämlich das Prinzip niemandem zu schaden und das Prinzip dem Gemeinnutzen zu dienen ergeben (vgl. Cicero, De officiis, S. 21f.). Entscheidend für das Prinzip der Nothilfe ist, dass sich hieraus eine Schutzpflicht ergibt, die so weit reicht, dass sich derjenige moralisch schuldig macht, der dort nicht hilft, wo er helfen könnte (vgl. Cicero, De officiis, S. 27). Dies ergibt sich aus Ciceros Unterscheidung von zwei Arten von Ungerechtigkeit, nämlich dem Begehen eines Unrechts und dem Zulassen eines Unrechts, das man abwehren könnte: Von der Ungerechtigkeit aber gibt es zwei Arten: einmal bei den Leuten, die Unrecht antun, zum anderen bei denjenigen, die von solchen, denen es angetan wird, wenngleich sie könnten, das Unrecht nicht fernhalten. Denn wer ungerechterweise einen Angriff auf jemanden unternimmt – aus Zorn oder irgendeiner Erregung heraus –, der scheint gleichsam die Hand zu erheben gegen seinen Nächsten; wer aber dem Unrecht nicht wehrt und ihm nicht entgegentritt, wenngleich er könnte, steht ebenso in Schuld, wie wenn er Eltern, Freunden oder gar der Vaterstadt die Treue versagte (Cicero, De officiis, S. 25).
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Mit Blick auf die Frage nach der Rechtfertigung von Interventionen zum Schutz der Mitglieder fremder Gemeinwesen ist hier entscheidend, dass es eine Ungerechtigkeit darstellt, Unrecht von einem Bedrohten nicht fernzuhalten oder es nicht abzuwenden, wenn dies möglich ist. Zwar ginge es zu weit und wäre es anachronistisch, diese Ausführungen als explizite Argumentation für eine solche Intervention zu interpretieren. Sie hinsichtlich ihrer Bedeutung für die Systematik der ciceronischen Theorie des gerechten Krieges zu unterschätzen wäre allerdings auch unangemessen, denn diese Argumentation steht in Ciceros Überlegungen zum Problem des gerechten Krieges an zentraler Stelle – sie leitet die Diskussion um die Gerechtigkeit des Einsatzes militärischer Gewalt ein (vgl. Cicero, De officiis, S. 21ff.). Das Nothilfegebot ergibt sich für Cicero folglich in gleicher Weise aus dem Begriff der Gerechtigkeit wie die oben skizzierten Grundsätze der Kriegsführung. Der systematische Ort dieser Überlegungen im Werk Ciceros erlaubt es aufgrund der Gesamtlogik seiner Argumentation, das Nothilfegebot auch als militärisches Nothilfegebot weiterzudenken. Damit stellt sich dann aber auch die Frage, ob Herrscher oder Staaten Unrecht, das anderen Menschen zugefügt wird, verhindern müssen. Mit Blick auf den Binnenbereich eines Gemeinwesens kommt Herrschern diese Verpflichtung zur Abwehr von Unrecht, das einzelnen Menschen zugefügt wird, zu, sie sind ja gerade zu diesem Zweck mit den legitimen Mitteln physischer Gewalt ausgestattet. Dafür, dass Formen der Nothilfe gegenüber Menschen, die Unrecht erleiden, auch die Grenzen des eigenen Gemeinwesens überschreiten könnten, spricht in der Konzeption Ciceros sicherlich, dass die Grenzen des Gattungsbegriffs Mensch im stoischen Denken nicht an die Grenzen einer politischen Gemeinschaft gebunden sind (vgl. Gerhardt 1999b). Die hier angeführten Überlegungen Ciceros sind vor allem mit Blick auf die weitere Entwicklung der Theorie des gerechten Krieges und darin auch hinsichtlich der Behandlung der Interventionsfrage interessant, da zwei zentrale Aspekte seiner Überlegungen in der späteren Diskussion um die Rechtfertigung von Interventionen wieder auftauchen und eine wichtige Rolle für die Diskussion des Interventionsproblems spielen. Zum einen ist dies die Auffassung, dass derjenige, der einen ungerechten Angriff unternimmt, sich auch gegen seinen Nächsten wendet, weil er die soziale Ordnung angreift, gefährdet oder verletzt. Dieser Gedanke macht nicht zwingend an den Grenzen eines Gemeinwesens halt, da der Mensch als Sozialwesen auch in einem umfassenderen Sinne als Mitglied der Gemeinschaft aller Menschen verstanden werden kann, wie etwa bei Cicero und Autoren der Stoa, aber auch später bei Grotius. Zum anderen wird die Rolle desjenigen hervorgehoben, der zwar nicht selbst direkt bedroht ist – dann würde das unumstrittene Prinzip der legitimen Selbstverteidigung greifen –, der ein Unrecht aber aus seiner Position heraus abwehren
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könnte. Wer einem Unrecht, das er abwehren könnte, nicht entgegen tritt, wird nach dieser Auffassung schuldig. Das Versäumnis liegt auch hier letztlich in der Verletzung einer Pflicht, die gegenüber dem Gemeinwesen besteht. Diese Verpflichtung besteht bei Cicero für den Einzelnen ebenso wie für die Gemeinschaft nach innen. Unter der Prämisse einer Nothilfeverpflichtung gegenüber der Menschheit als Ganzer wäre es hier nur ein kleiner Schritt, das Prinzip zu einer Verpflichtung von Gemeinwesen (und heute der Staatengemeinschaft) zum Schutz von Personen nach außen weiterzudenken. Seneca. Auch aus Perspektive der Tyrannislehre findet sich in der Antike eine verwandte Argumentation mit Blick auf Verpflichtungen des Einzelnen gegenüber der gesamten Menschheit, in Senecas (ca. 4 v. Chr.-65 n. Chr.) Schrift De beneficiis, worin dieser sich mit der Frage befasst, wie weit die Verpflichtungen eines fremden Herrschers gegenüber einem Tyrannen reichen. Diskutiert wird diese Frage dort am Beispiel des geschuldeten Dankes gegenüber einem Herrscher, konkret an der Frage danach, wie weit dessen Wohltaten vergolten werden müssen. Verpflichtungen, die sich aus geschuldetem Dank ergeben können, erlöschen nach Auffassung Senecas dann, wenn sie Verpflichtungen gegenüber der gesamten Menschheit widersprechen. Damit wird hier eine Auffassung sichtbar, nach der die normativen Maßstäbe für die Kritik an Herrschaft nicht auf die Reichweite der Grenzen eines Gemeinwesens beschränkt sind. Vielmehr gibt es Maßstäbe zur Beurteilung von Herrschaft, die schon hier in einem gewissen Sinne als universal verstanden werden können. Seneca diskutiert die aufgeworfene Frage am Beispiel der Tyrannen Phalaris und Apollodoros folgendermaßen: Vor Augen gestellt hast du mir nämlich den Tyrannen Phalaris und Apollodoros; wenn deren Wesen in sich hat ein Schlechter, warum sollte ich ihm nicht seine Wohltat vergelten, damit ich mit ihm weiter keine rechtliche Beziehung habe? Wenn er aber an Menschenblut nicht nur Freude hat, sondern sich weidet, sondern an Hinrichtungen von Menschen jedes Lebensalters seine unersättliche Grausamkeit auslässt und nicht im Zorn, sondern in einer Art von Wutsucht rast, wenn er vor dem Angesicht ihrer Eltern Kinder schlachtet, wenn er, nicht zufrieden mit einfachem Mord, foltert und nicht nur brennt Todgeweihte, sondern röstet, wenn seine Burg stets von frischem Blut trieft, ist es zu wenig, ihm eine Wohltat nicht zu vergelten (Seneca, De beneficiis, VII, 19).
In dieser Textpassage werden zunächst zwei Aspekte deutlich: Zuerst wird der Tyrann, um den es hier als Figur geht, als Steigerung des Gewaltherrschers dargestellt, er hat an Menschenblut nicht nur Freude, er weidet sich daran – Seneca skizziert den Tyrannen hier als grausame Bestie. Was daraus hinsichtlich der Verpflichtung einem solchen Tyrannen gegenüber folgt, ist nicht allein eine Auf-
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lösung der Dankbarkeitspflicht, die man ursprünglich hatte, es ist „zu wenig, ihm eine Wohltat nicht zu vergelten.“ Der Grund für das Ende der Verpflichtung ist, dass sich ein derartiger Tyrann selbst außerhalb des Bereichs des menschlichen Rechts, also außerhalb der ‚moralischen Gemeinschaft‘, positioniert, und somit die Voraussetzung dafür Verpflichtungen ihm gegenüber zu haben aufhebt. „Was immer es war, wodurch er mit mir verbunden war, abgeschnitten ist die Gemeinschaft des menschlichen Rechtes und zerbrochen“ (Seneca, De beneficiis, VII, 19). Da es sich in dieser Diskussion um einen fremden Tyrannen handelt, also einen, dem man nicht selbst unterworfen ist, demgegenüber man in seiner Rolle als fremder Herrscher aber zumindest grundsätzlich moralische Verpflichtungen, wie etwa zur Dankbarkeit, haben kann, muss genau unterschieden werden, unter welchen Bedingungen die Verpflichtungen ihm gegenüber enden. Offensichtlich ist, dass solche Verpflichtungen aufhören, wenn dieser ein fremdes Gemeinwesen bzw. dessen Herrscher bedroht. Wie aber verhält es sich mit ihnen, wenn er nicht den Verpflichteten selbst bedroht, sondern sein eigenes Volk? Wenn er zwar etwas getan hätte, aber die Waffen gegen meine Vaterstadt führte, hätte er, worin immer er sich verdient gemacht hatte, zugrunde gerichtet, und ihm Dank abzustatten gölte als Verbrechen; wenn er nicht meine Vaterstadt bekämpft, sondern der seinen eine Last ist und, nachdem er sich von meinem Volk getrennt hat, seines in Unruhe versetzt, isoliert ihn nichtsdestoweniger die so große Verworfenheit seiner Seele; auch wenn sie ihn mir nicht feindlich, verhaßt macht, hat für mich Vorrang und ist mir wichtiger das Prinzip der Verpflichtung, die ich dem Menschengeschlecht, als die ich einem einzigen Manne schulde (Seneca, De beneficiis, VII, 19).
An dieser Stelle wird zwar kein Interventionsrecht begründet, auch wenn sie später in der neuzeitlichen Diskussion des Interventionsproblems von verschiedenen Autoren angeführt wird,12 aber es wird deutlich markiert, dass die Verpflichtung gegenüber einem fremden Herrscher mit der Legitimität seiner Herrschaft, die sich am Verhalten gegenüber seinen Untertanen erkennen lässt, eng verknüpft ist. Für deren Bewertung von außen ist sein Verhalten gegenüber den Mitgliedern des eigenen Gemeinwesens ausdrücklich relevant. Moralisches Gewicht verleiht dieser Position die Vorstellung einer Verpflichtung des Einzelnen gegenüber dem Menschengeschlecht als eine Verpflichtung, die stärker ist als die gegenüber einem Einzelnen, der sich selbst so offensichtlich außerhalb des Bereichs von Moral und Recht stellt.
12 Auf diese Stelle berufen sich in der neuzeitlichen Diskussion des Interventionsproblems Gentilis und Grotius. Vgl. unten, I, 3.2 und I, 3.3.
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So lässt sich hier mit Blick auf die Fragestellung dieser Arbeit zweierlei festhalten: Es ergeben sich gemäß dem hier zum Ausdruck gebrachten Verständnis zum einen aus der Illegitimität von Herrschaft auch Konsequenzen hinsichtlich der Anerkennung eines Herrschers und seiner Legitimität von außen. Zum anderen resultieren aus der Vorstellung des Menschengeschlechts als Gemeinschaft jenseits der Grenzen staatlicher Gemeinwesen Verpflichtungsverhältnisse zwischen Menschen, die möglicherweise über die Verpflichtungsverhältnisse innerhalb eines heimischen Gemeinwesens hinausgehen können. Auch, wenn in der antiken Theorie des gerechten Krieges kein explizites Interventionsrecht formuliert ist, wird sowohl in ihr als auch in der Tyrannislehre sichtbar, dass das Verhalten eines Herrschers gegenüber seinen Untertanen auch für Gerechtigkeitsfragen jenseits der Grenzen einzelner Staaten als durchaus relevant beurteilt wird. Keineswegs liegt dem Denken hier eine Vorstellung zugrunde, gemäß der Einmischungen von außen grundsätzlich verboten sind, etwa weil das Verhalten fremder Herrscher gegenüber ihren Untertanen keiner moralischen Beurteilung von außen zugänglich ist. Vielmehr besteht ein gewisser Raum für Argumente, die den Einsatz von Gewalt – sowohl von innen als auch von außen – genau dann rechtfertigen können, wenn ein Herrscher zum Tyrannen wird. Augustinus. Von den ersten christlichen Denkern, die eine Theorie des gerechten Krieges entwickeln, ist Augustinus von besonderer Bedeutung. Seine Ausführungen zum gerechten Krieg bilden später zusammen mit denen Isidors von Sevilla und denen des Thomas von Aquin den Kern der Ausführungen zum Kriegsrecht im Decretum Gratiani (um 1140) und wurden so zum Teil des kanonischen Rechts (vgl. Grewe 1988b, S. 563). War das christliche Denken in seiner frühen Zeit zunächst noch vor allem durch den Pazifismus der Bergpredigt geprägt, führten die Veränderungen der Rahmenbedingungen, die sich mit der Erlangung politischer Macht und Verantwortung durch die Christen im römischen Reich ergaben, zu einer neuen Auseinandersetzung mit der Frage nach dem Einsatz militärischer Gewalt, in deren Rahmen die Bedingungen und Grenzen des gerechten Einsatzes militärischer Gewalt ausgelotet werden sollten (vgl. Czelinski/Stenzel 2004, S. 8.; Hinsch/Janssen 2006, S. 53). Im Werk des Augustinus finden sich die Ausführungen zur Theorie des gerechten Krieges über das Werk verteilt an verschiedenen Stellen, man kann also noch nicht von einer systematisch entwickelten Theorie des gerechten Krieges sprechen.13 Die Ausführungen zur Frage nach dem gerechten Krieg stellen aber in ihrer Gesamtheit ein Korpus von Kriterien zur Gerechtigkeit des Einsatzes militä-
13 Zur Theorie des gerechten Krieges bei Augustinus siehe Ramsey 1961, S. 15–33.
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rischer Gewalt bereit, das es erlaubt eine Theorie des gerechten Krieges bei Augustinus zumindest zu rekonstruieren. Zentral für diese Theorie sind die Kriterien des gerechten Grundes, der in der Ahndung einer Rechtsverletzung besteht, sowie der legitimen Autorität, die beim Fürsten liegt. Zudem erhält die Bewertung der Absichten der Kriegführenden mit der Einführung des intentio recta-Kriteriums hier stärkeres Gewicht (vgl. Kleemeier 2003, S. 13ff.). Ob der Einsatz militärischer Gewalt als gerechtfertigt gelten kann, hängt gerade nicht allein von der Erfüllung formaler Kriterien, sondern auch wesentlich von der Gesinnung der Akteure ab, weshalb der Krieg – um als legitim gelten zu können – auch mit der richtigen Intention geführt werden muss. Es findet sich zwar auch bei Augustinus keine explizite Interventionstheorie, doch in ihrer Wirkung wurden Aussagen des Augustinus zur Frage nach der Gerechtigkeit des Einsatzes militärischer Gewalt von der Diskussion seiner Zeit über die Zeit der Kreuzzüge bis in die Diskussion der spanischen Spätscholastik häufig auch auf Interventionsfälle bezogen.14 Deshalb lohnt sich ein kurzer Blick auf Augustinus’ Konzeption des gerechten Krieges, um zu prüfen, ob sie eine Interpretation seiner Position als Interventionserlaubnis zulässt. Relevant ist hier zum einen die Rechtsfigur der gerechten Anwendung von Gewalt als Reaktion auf Unrecht, die auch bei Cicero schon als Grund für einen gerechten Krieg gilt. Stärker als dort rückt bei Augustinus dabei aber der Aspekt der Bestrafung von Unrecht in den Blick, gemäß dem der gerechte Krieg auch ein Strafkrieg sein kann. Dies wird in Augustinus’ Bestimmung des gerechten Krieges sichtbar, nach der […] diejenigen Kriege [gerecht] zu nennen [sind], die ein Unrecht sühnen, etwa wenn ein Volk oder ein Gemeinwesen, das mit Krieg überzogen werden soll, versäumt hat, die Missetaten der Seinen zu bestrafen oder das wieder zurückzugeben, was mittels jenes Unrechts geraubt worden ist (Augustinus, In Heptat. VI, 10).
Der Charakter des Krieges als Strafaktion wird hier besonders in der Vorstellung der Sühne begangenen Unrechts deutlich und die Formulierung „die Missetaten der Seinen zu bestrafen“ ist mit Blick auf die Interventionsfrage zumindest sehr weit interpretationsoffen. Hier klingt an, was schon in der Haltung Aristoteles’ gegenüber den Barbaren sichtbar wurde und was später in der Diskussion der spanischen Spätscholastik als Argument für die Rechtmäßigkeit von Interventionen vorgetragen, aber auch heftig kritisiert wird: die ‚Zivilisierung‘ der Mitglieder eines fremden Gemeinwesens bzw. des Gemeinwesens als Ganzem als legitimer Kriegsgrund. Dabei geht es allerdings um eine Einmischung von außen, die pri-
14 Vgl. dazu unten, I, 2.4.
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mär an einer umfassenden Vorstellung von Gerechtigkeit oder einer gerechten Gesamtordnung orientiert ist, allenfalls sekundär um den Schutz der Individuen vor dem Staat und sicher noch nicht um den Schutz vor Verletzung individueller Rechte. Gemäß dieser Vorstellung hat die Strafgewalt des Herrschers, zu deren Realisierung ihm das weltliche Schwert zum Schutz der Gemeinschaft vor Bedrohungen des Friedens von innen ja verliehen ist, eine zentrale Ordnung stiftende Funktion. Da neben der Ordnung im einzelnen Staat aber immer auch die Ordnung und der Friede der gesamten Christenheit einen zu realisierenden Zweck darstellen, kann dem Herrscher auch im fremden Gemeinwesen dann eine legitime Strafgewalt mittels des Einsatzes militärischer Gewalt zukommen, wenn ein anderer Herrscher es versäumt, seine Strafgewalt durchzusetzen. An anderer Stelle zeigt sich bei Augustinus zudem, dass die Rolle des Einzelnen, wenn auch nicht hinsichtlich des Erleidens eines Unrechts, so doch zumindest mit Blick auf das Begehen von Unrechtstaten durchaus eine Rolle bei der Rechtfertigung des Einsatzes militärischer Gewalt spielt: Wenn also diese Gebote Christi auf Erden in der Christenheit (respublica christiana) befolgt würden, so würde sogar der Krieg nicht ohne Nächstenliebe geführt, sondern nur um die Besiegten leichter des Mitgefühls und der Gerechtigkeit teilhaftig werden zu lassen. Denn es ist eine ersprießliche Niederlage, um die Freiheit zur Begehung von Ungerechtigkeit gebracht worden zu sein, gibt es doch nichts Unglücklicheres als das Glück der Sünder, an dem sich der Frevel nährt und die Böswilligkeit, dieser innere Feind, sich stärkt (Augustinus, Epist. 138, 14).
Die Besiegten profitieren nach dieser Auffassung sogar vom Krieg, da sie „um die Freiheit zur Begehung von Ungerechtigkeiten gebracht“ werden. Auch die Formulierung, dass es nichts „Unglücklicheres als das Glück der Sünder“ gebe, legt die Vermutung eines gerechten Strafkrieges nahe. Dabei liegt hier zum einen die Auffassung zugrunde, dass der Krieg überhaupt nur um des Friedens willen geführt werden darf (vgl. Augustinus, De Civ. Dei, XIX).15 Zum anderen geht es aber auch um das Ziel der Realisierung einer gerechten Gesamtordnung der Christenheit, die wiederum als friedensfunktional verstanden wird.16
15 Grewe charakterisiert die Friedensfunktionalität des Einsatzes militärischer Gewalt folgendermaßen: „Der Krieg ist nur ein Mittel zur Erhaltung oder Wiederherstellung des ,Friedens‘ als eines Zustandes der Ruhe, der sich auf eine gerechte Ordnung gründet. Darin liegt die lautere Absicht (intentio recta), ohne die der Krieg nicht erlaubt sein kann. Da sich der gerechte Krieg gegen Rechtsbrecher und Übeltäter richtet und diese strafen soll, lag in der Konsequenz der augustinischen Gedankengänge die Weigerung, beiden Kriegführenden die gleiche Rechtsstellung zuzubilligen, wie dies die Römer in ihrem Kriegsrecht getan hatten“ (Grewe 1988b, S. 563). 16 Zur Vorstellung der Realisierung einer gerechten Ordnung vgl. Grewe, 1988, S. 131ff.
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Auch, wenn in den genannten Passagen anklingt, dass der Einsatz militärischer Gewalt von außen in anderen Fällen als denen der Selbstverteidigung gerechtfertigt sein kann, ist damit nicht gesagt, dass die Theorie des Augustinus eine Erlaubnis von Interventionen zum Schutz der Mitglieder eines fremden Gemeinwesens enthält. Lediglich seine Ausführungen zu einigen Kriterien des ius ad bellum und ius in bello sind klar bestimmt und sein besonderer Beitrag zur Theorie des gerechten Krieges besteht in der Formulierung des intentio rectaKriteriums, das Augustinus neu in die Diskussion einbringt. Die Verbindung zwischen augustinischer Theorie und der Interventionsdiskussion liegt vor allem in der Rezeption seiner Kriegsethik. Gerade dabei wurde auch an Elemente der Theorie des gerechten Krieges angeknüpft, die eher vage bestimmt sind, was sich besonders im Rekurs auf Augustinus im Kontext der politischen Rechtfertigung der Kreuzzüge zeigt. Der Historiker Jonathan Riley-Smith stellt diesbezüglich heraus, dass Augustinus’ Definition von gerechtfertigter Ausübung von Gewalt darin bestehe, „daß sie nämlich unrechte Taten räche“ (Riley-Smith 2005, S. 20).17 Eine solche nicht genauer spezifizierte Definition öffnet natürlich allen Interpretationen von Taten als recht oder unrecht Tür und Tor. Offensichtlich hat die Lehre des Augustinus besonders in der Rechtfertigung der Kreuzzüge durch Papst Innozenz III., der sich dabei auf Augustinus berief, eine wichtige Rolle gespielt (vgl. Krause 2008, 119).18 Weitere Berufungen auf Augustinus mit Blick auf ‚Interventionen‘ finden sich auch später in der Diskussion der spanischen Spätscholastik.19 Ein möglicher Grund für die Entwicklung einer Eigendynamik in der Interpretation der augustinischen Theorie in Richtung einer Begründung von Interventionen zur Etablierung einer gerechten christlichen Gesamtordnung konnte sich vermutlich auch deshalb leicht entwickeln, weil Augustinus die Vorstellung eines gerechten Krieges mit Blick auf innerchristliche Glaubenskämpfe noch um die Idee eines heiligen Krieges ergänzt hat: Unter dem Eindruck blutiger innerchristlicher Glaubenskämpfe hat Augustinus auch den Gedanken des „heiligen Krieges“, des Krieges auf Befehl Gottes (bellum Deo auctore), entwickelt, der sich zunächst gegen Häretiker richtete, dann aber auch der Rechtfertigung des Krieges gegen Ungläubige diente und in die Ideologie der Kreuzzüge einging (Grewe 1988b, S. 563).
17 Es handelt sich bei diesem Zitat wohl um eine „radikalere“ Interpretation der oben zitierten Augustinus-Stelle. 18 Auf die Wirkung auf Innozenz III. verweist später Hugo Grotius: „Insoweit folgen wir der Meinung des Innocenz und anderer, wonach die mit Krieg überzogen werden können, welche gegen die Natur sündigen“ (Grotius, JBP, Buch II; Kap. 20, XL). Zur christlichen Rechtfertigung von Gewalt siehe auch Althoff 2013. 19 Vgl. dazu unten, I, 2.
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Bei Augustinus heißt es dazu in den Quaestiones in Heptateuchum: Ohne Zweifel sind auch solche Kriege gerecht, die auf Gottes Geheiß unternommen werden, in denen es keine Ungerechtigkeit geben kann und jeder das erhält, was ihm gebührt. In einem solchen Krieg kann der Heerführer oder das Volk selbst nicht als Urheber des Krieges, sondern nur als Werkzeug Gottes angesehen werden (Augustinus, In Heptat. VI, 10).
Es scheint gerade die Verbindung der Vorstellung eines heiligen Krieges mit der Vorstellung, dass Herrscher für die Ordnung innerhalb eines fremden Gemeinwesens verantwortlich und unter bestimmten Bedingungen auch zu Sanktionen berechtigt sind, zu sein, die dazu führte, dass bei der Rechtfertigung von Interventionen immer wieder auf Augustinus verwiesen wurde. Dass er explizit eine Interventionsethik vertreten hat, kann man nicht behaupten, aber auch in seiner Auffassung zur Gerechtigkeit des Einsatzes militärischer Gewalt wird deutlich, dass nicht nur aggressives Verhalten eines anderen Gemeinwesens, das eine direkte Bedrohung darstellt und deshalb zu Selbstverteidigung berechtigt, sondern auch das Verhalten der Mitglieder innerhalb eines fremden Gemeinwesens relevant für die Beurteilung der Gerechtigkeit des Einsatzes militärischer Gewalt sein kann. Dabei muss bei einer Beurteilung der Position des Augustinus aber eher die Skepsis überwiegen, ob eine derart paternalistische Auffassung von Interventionen zum Wohl anderer Menschen nicht besonders große Gefahren des Missbrauchs birgt, besonders in Kombination mit der Auffassung durch den rechten Glauben und den Auftrag Gottes in seinem Handeln gerechtfertigt zu sein.20 War ideengeschichtlich in der Kriegstheorie Ciceros die Formulierung eines Prinzips der Nothilfe, das sich aus dem Begriff der Gerechtigkeit ergibt, mit Blick auf die Interventionsfrage besonders interessant, finden wir nun bei Augustinus den Begriff eines gerechten Krieges als Strafkrieg, der mit einer Vorstellung der Etablierung einer gerechten Gesamtordnung verbunden ist. Auch an diese Ele-
20 Die Vorstellungen, die ein solches Bild des gerechten Einsatzes militärischer Gewalt tragen, werden von Grewe deutlich herausgestellt: „Der Leitgedanke, daß sich die Kirche des Waffengebrauchs enthalten müsse, wurde vom Decretum Gratiani übernommen, das zugleich aber die Gerechtigkeit des gottgewollten Krieges hervorhob: ,Verbrechen gemäß dem Willen Gottes zu bestrafen ist keine Grausamkeit, sondern Pflichtbewußtsein.‘ (D. XXIII; 2; VIII, 13). Ein Krieg gegen Häretiker würde vom Himmel belohnt werden. Es sei gerechtfertigt, die Ketzer ihrer Waffen und Kriegsmittel, sowie ihrer privaten Güter zu berauben. Sie sollen durch die weltliche Gewalt bekriegt werden, die Geistlichen sollen sich daran nicht unmittelbar beteiligen, sie könnten aber den Zorn der Fürsten gegen die Feinde der Kirche entfachen. Die geistliche Gewalt könnte der weltlichen den Krieg anbefehlen, und diese sei gehalten, das Böse zu bestrafen“ (Grewe 1988b, S. 579).
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mente der historischen Theorie des gerechten Krieges wurde im weiteren Verlauf der Diskussion der Interventionsfrage häufig angeschlossen. Zusammen mit den bei Cicero formulierten Kriterien gerechter Kriegsführung ist hier schließlich auch der klassische Gehalt der Theorie des gerechten Krieges bestimmt, der dann bei Thomas von Aquin in die klassisch gewordene Systematik gebracht wird. Explizite Interventionstheorien liegen bis hierher noch nicht vor, wohl aber werden argumentative Rahmenbedingungen formuliert, an die in der späteren Rechtfertigung von Interventionen angeknüpft wurde. Thomas von Aquin. Die bekannteste und wohl auch wirkungsreichste Formulierung einer Theorie des gerechten Krieges im Mittelalter stammt von Thomas von Aquin (1224/25–1274) und wurde im Kern in der Quaestio 40 (II/II) der Summa Theologica dargelegt.21 Diese Theorie ist für die vorliegende Arbeit mindestens in zweifacher Hinsicht interessant, denn zum einen bildet die Quaestio 40 den zentralen Bezugspunkt für die spätere Diskussion von Fragen nach der Gerechtigkeit des Einsatzes militärischer Gewalt, besonders in der spanischen Spätscholastik, wo die Frage nach der Rechtfertigung des Krieges vor allem in Auseinandersetzung mit dieser Quaestio behandelt wird (vgl. dazu Scattola 2006, S. 11ff.). Zum anderen lässt sich schon an die von Thomas formulierte Theorie des gerechten Krieges die Frage stellen, ob sie Elemente einer Interventionstheorie enthält oder gar als Interventionsethik interpretiert werden kann, wie es Gerhard Beestermöller vorschlägt (vgl. Beestermöller 2002). Historisch ist diese Frage auch hier vor dem Hintergrund der Kreuzzüge bedeutsam, bei der auch Thomas’ Theorie des gerechten Krieges eine Rolle spielte (vgl. Riley-Smith 2005, S. 101f.).22 Bevor der Frage nachgegangen wird, ob Thomas’ Theorie des gerechten Krieges schon Elemente einer Interventionsethik enthält, seien hier kurz die zentralen Bestimmungen zur Theorie des gerechten Krieges, wie sie bei Thomas entwickelt werden, skizziert, denn mit der Formulierung der Theorie des gerechten Krieges bei Thomas liegt in der historischen Entwicklung nun eine Systematik dieser Theorie vor, welche die vorherige Theorieentwicklung gewissermaßen zusammenfasst und systematisiert und fortan für lange Zeit die Grundlage für die weitere Diskussion der Frage nach der Gerechtigkeit des Einsatzes militärischer Gewalt bildet.
21 Zur ausführlichen Darstellung der Theorie des gerechten Krieges bei Thomas von Aquin siehe Beestermöller 1990. 22 Auf diesen rezeptionsgeschichtlichen Aspekt wird in der vorliegenden Arbeit aber nicht ausführlich eingegangen, da es vorwiegend um eine Rekonstruktion der systematischen Aspekte der Kriegsethik des Thomas von Aquin gehen wird.
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Ein gerechter Krieg zeichnet sich für Thomas durch die Erfüllung folgender Kriterien aus: Zuerst verfügt nicht jeder Einzelne über die legitime Gewalt, Krieg zu führen, sondern allein dem Fürsten (also gewissermaßen dem legitimen Inhaber des Gewaltmonopols) kommt die Vollmacht hierzu zu (auctoritas principis) (vgl. Thomas von Aquin, S. Th. II/II, qu. 40, Art. 1, Resp. 2.). Dieses Kriterium geht in die weitere Theorie des gerechten Krieges als Kriterium der legitimen Autorität ein, das später auf den Staat als zur Kriegsführung berechtigten Akteur übergeht.23 Außerdem muss für den Einsatz militärischer Gewalt ein gerechter Grund (causa iusta) vorliegen. In Anlehnung an Augustinus versteht Thomas unter einem gerechtem Grund, dass diejenigen, die „mit Krieg überzogen werden, dies einer Schuld wegen verdienen“ (Thomas von Aquin, S. Th. II/II, qu. 40, Art. 1, Resp. 2). Es ist auch hier wie schon bei Cicero und Augustinus die Vorstellung zentral, dass der Krieg keine Willkürakt ist, sondern eine Reaktion auf eine Rechtsverletzung darstellt (vgl. Thomas von Aquin, S. Th. II/II, qu. 40, Art. 1, Resp. 2). Darüber hinaus spielt auch die subjektive Motivation des Handelnden eine Rolle für die Bewertung der Gerechtigkeit des Einsatzes von Gewalt. Er muss aus der rechten Absicht (intentio recta/intentio bellantium recta) handeln, namentlich der Absicht „das Gute zu mehren oder das Böse zu meiden“ (Thomas von Aquin, S. Th. II/II, qu. 40, Art. 1, Resp. 3). Thomas versteht die drei Bedingungen dabei als jeweils notwendig zur Begründung der Legitimität eines Krieges – ihre Erfüllung allein ist aber noch nicht hinreichend, da zudem die Bedingungen des ius in bello erfüllt sein müssen. Nun betreffen diese drei Kriterien, in denen wiederum das kritische Potential, das der Theorie des gerechten Krieges innewohnt, deutlich sichtbar wird, in erster Linie die Anfangsbedingungen für den legitimen Einsatz militärischer Gewalt, das ius ad bellum. Im dritten Artikel der Quaestio 40 kommt zudem noch die Frage nach den Regeln der gerechten Kriegsführung in den Blick. Exemplarisch diskutiert Thomas dazu die Frage, ob es im Krieg erlaubt ist, sich eines Hinterhaltes zu bedienen. Das moralische Problem, das sich hier stellt, ist, dass der Hinterhalt der Täuschung des Feindes dient. Man muss zur Beurteilung seiner Erlaubtheit deshalb weiter unterscheiden. Eine Täuschung des Feindes könnte zum einen darin bestehen, dass etwas Falsches gesagt oder ein Versprechen gebrochen wird. Dies kann nach Thomas auch im Krieg nicht erlaubt sein. Zum anderen könnten dem Feind bestimmte Gedanken nicht offenbart werden, was durchaus erlaubt
23 Gegenwärtig geht man davon aus, dass die legitime Autorität zur Kriegsführung bei der internationalen Gemeinschaft liegt. Nach den Regeln des gegenwärtigen Völkerrechts haben Staaten nur noch ein Recht zur Selbstverteidigung. Über alle anderen Formen militärischer Gewaltanwendung kann nur von der Staatengemeinschaft entschieden werden. Vgl. UN-Charta, Art. 1 und 2.
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ist. „Diese Art der Verheimlichung gehört zu der Art von ‚Hinterhalt‘, die im gerechten Krieg erlaubt ist“ (Thomas von Aquin, S. Th. II/II, qu. 40, Art. 3, Resp.). Mit Thomas’ Formulierung und Systematisierung dieser Bedingungen, deren Erfüllung gemeinsam hinreichend zur Bestimmung eines Krieges als gerechtfertigt ist, kann in der historischen Entwicklung der Theorie des gerechten Krieges nun also der Rahmen als abgesteckt gelten, vor dem die weitere Diskussion der Frage nach der Rechtfertigung des Einsatzes militärischer Gewalt geführt wird. Ein Kriterium der ultima ratio, nach dem der Krieg nur als letztes Mittel zum Erreichen eines legitimen Zweckes erlaubt sein kann, scheint hier allerdings noch nicht explizit vorzuliegen, es ist in Thomas’ Theorie allenfalls implizit angelegt, weil der Friede, wie schon bei Augustinus, als letzter Zweck des Einsatzes militärischer Gewalt angesehen wird.24 Gemeinhin wird Thomas’ Theorie des gerechten Krieges nicht als Interventionstheorie gelesen, sie gilt schlicht als die klassische historische Formulierung einer Theorie des gerechten Krieges (vgl. Kleemeier 2003, S. 15). Vertreten wird die Position, dass sich bei Thomas die Theorie des gerechten Krieges als Interventionsethik interpretieren lässt, in der jüngeren Diskussion aber von Gerhard Beestermöller, der eine Interpretation der Theorie des Thomas als Interventionsethik vorgeschlagen hat (vgl. Beestermöller 2002). Die zentralen Aspekte dieser Interpretation werden im Folgenden zusammen mit der Lehre Thomas’ in den Blick genommen um der Frage nachzugehen, ob sich dort Anlagen einer Interventionsethik finden lassen. Den Ausgangspunkt für Beestermöllers Interpretation der Lehre Thomas’ als Interventionsethik bildet das Zitat des Psalms 82,4, das in der Quaestio 40 an zentraler Stelle steht. Es lautet: „Rettet den Armen und befreit den Dürftigen aus der Hand des Sünders“ (Thomas von Aquin, S. Th. II/II, qu. 40, Art. 1, Resp. 1).25 Die Begriffe „Rettung“ und „Befreiung“ zeigen hier schon an, dass anders als unter der schon bekannten Rechtfertigung militärischer Gewalt aufgrund von Rechtsverletzungen bei Cicero und Augustinus hier die Notlage Einzelner besonders in den Blick kommt und weiter ins Zentrum der Rechtfertigung des Einsatzes militärischer Gewalt rückt. Dabei werden Parallelen zum Konzept der Nothilfe bei Cicero sichtbar, wobei hier aber, anders als bei Cicero, ausdrücklich herausgestellt wird, dass zur Rettung oder Nothilfe Gewalt angewendet werden darf. Nun ist es aber nicht so, dass die Funktion des Psalm-Zitates offensichtlich als eine
24 Nach Bestermöller kann dieses Kriterium auch schon bei Thomas aufgefunden werden (vgl. Bestermöller 1990, S. 130f.). 25 Der lateinische Text des Psalms lautet in der von Thomas zitierten Fassung: „Eripite pauperem, et egenum de manu peccatoris liberate.“
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Rechtfertigung von Gewalt im Sinne einer Interventionsberechtigung zu verstehen ist. Verwendet wird dieses Psalm-Zitat von Thomas zunächst, um zu begründen, warum „die Sorge für die öffentliche Ordnung den Fürsten anvertraut ist“ (Thomas von Aquin, S. Th. II/II, qu. 40, Art. 1, Resp. 1). Es ist der Auftrag zum Schutz der gesellschaftlichen Ordnung nach innen und des Gemeinwesens gegen Feinde von außen, der den Fürsten das Recht verleiht, das Schwert zu tragen um die gesellschaftliche Ordnung zu verteidigen. Da […] die Sorge für die öffentliche Ordnung den Fürsten anvertraut ist, ist es auch ihre Sache, die öffentliche Ordnung der ihnen unterstehenden Stadt oder des Königreiches oder einer Provinz zu schützen. Und wie sie diese erlaubterweise mit dem Schwert gegen die inneren Unruhestifter verteidigen, indem sie Übeltäter bestrafen […], so ist es auch ihre Aufgabe, mit dem Schwert des Krieges die öffentliche Ordnung gegen äußere Feinde zu schützen (Thomas von Aquin, S. Th. II/II, qu. 40, Art. 1, Resp. 1).
In diesem Auftrag zum Schutz der öffentlichen Ordnung findet sich dabei zugleich eine Formulierung moralischer Anforderungen an legitime politische Gewalt, denn der Inhaber herrschaftlicher Gewalt muss deren Legitimität auch an der Erfüllung dieses Schutzauftrages messen lassen. Ob sich das Zitat des Psalms allein auf die Rechtfertigung des Gewaltmonopols nach innen richtet oder ob es tatsächlich auch auf die Rechtfertigung des Einsatzes von Gewalt nach außen verweist, ist ein nicht leicht aufzulösendes Interpretationsproblem. Auf eine Interpretation des Zitates in dem weiteren Sinne deutet der Kontext, in dem dieses Zitat steht, tatsächlich ein Stück weit hin. Ist vor dem Zitat vor allem von der Begründung der Herrschergewalt nach innen die Rede, so schließt Thomas an das Psalm-Zitat unmittelbar ein Augustinus-Zitat an, das erklärt, dass auch die Gewalt zur Kriegsführung nach außen beim Fürsten liegt. So sagt auch Augustinus: ,Die dem Frieden der Sterblichen angemessene Naturordnung fordert, daß die Vollmacht und der Beschluß, Krieg zu führen, bei den Fürsten liege‘ (Thomas von Aquin, S. Th. II/II, qu. 40, Art. 1, Resp. 1).
Es geht also nicht nur um die Begründung der Gewalt des Herrschers nach innen, und wenn sich das Psalmzitat auch auf die Anwendung von Gewalt nach außen richten sollte, dann könnte der Verweis auf die Rettung Unschuldiger tatsächlich auch auf die mögliche Erlaubtheit von Interventionen zum Schutz von Mitgliedern eines fremden Gemeinwesens hindeuten. Zudem zeigt hier der Verweis auf die angemessene Naturordnung, hinter dem eine Theorie des Naturrechts steht, an, dass der Schutzappell in einem weiten Sinne, nämlich in dem eines Schutzauftrages der Fürsten für die Realisierung beziehungsweise den Schutz einer guten Gesamtordnung der Welt – im Sinne der gesamten Christenheit – zu verstehen ist.
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In Beestermöllers Argumentation liegt der Schlüssel zur Interpretation der Position Thomas’ in der Analyse der Reichweite des Konzepts der „öffentlichen Ordnung“. Nach Beestermöllers Auffassung kann man den Begriff der öffentlichen Ordnung (cura reipublicae) nicht vor dem Hintergrund der Kategorien des modernen Staates denken, vielmehr komme es darauf an, die Verantwortung des Fürsten für die gesamte Christenheit zu berücksichtigen (vgl. Beestermöller 2002, S. 401ff.), so dass die einer solchen Konzeption zugrundeliegende Ordnungsvorstellung demnach nicht territorial und nicht zwingend allein an ein einziges politisches Gemeinwesen gebunden wäre. Doch wie lässt sich die Reichweite einer solchen Ordnungsvorstellung feststellen? Die These Beestermöllers ist, dass Thomas mit dem Psalm-Zitat „die Verpflichtung der christlichen Fürsten, jenseits des christlichen Herrschaftsbereichs für die Rechte von Christen einzutreten, wenn sie keinen Rechtsschutz durch unmittelbar zuständige Autoritäten erfahren“ (Beestermöller 2002, S. 401) begründet. Demnach sind nicht die einzelnen Gemeinwesen die relevanten Bezugspunkte der Reichweite der Verantwortung christlicher Fürsten, sondern es geht um die „respublica fidelium“ als die „die gesamte Christenheit umfassende[ ] Einheit der Gläubigen“ (Beestermöller 2002, S. 403). In der Konsequenz führt eine solche Interpretation für Beestermöller zur folgenden Einschätzung der Theorie des Thomas: „Insofern ist die thomistische bellum-iustumDoktrin in ihrer Sinnspitze eine Interventionsethik – verstanden in den ordnungspolitischen Kategorien seiner Zeit“ (Beestermöller 2002, S. 401). Sichtbar wird hier, wenn man der Interpretation Beestermöllers bezüglich der Frage nach dem Ordnungsrahmen folgt, dass die Berechtigung von Herrschern, Gewalt einzusetzen, auch hinsichtlich des Schutzes Einzelner nicht bloß auf den Binnenbereich des eigenen politischen Gemeinwesens beschränkt ist, sondern auch über diesen hinaus legitimiert werden kann. Historisch wirft diese Interpretation die kritische Nachfrage auf, ob es Thomas dann hier auch um eine Rechtfertigung der Kreuzzüge zu tun ist. Beestermöller argumentiert für eine solche Interpretation26, aber er schätzt Thomas’ Theorie auch mit Blick auf diese Frage ein Stück weit kritisch ein: Zusammenfassend läßt sich die thomanische Argumentation so skizzieren: Wer die Auffassung teilt, dass der christliche Fürst nicht nur für die Rechtswahrung innerhalb der ganzen Christenheit, sondern auch gegenüber seinesgleichen zuständig ist, kann sich auch dem
26 „Es geht Thomas, in diese Richtung blickt meine Interpretation, um die Autorität der christlichen Fürsten außerhalb des orbis christianus auf der Basis der allgemeinmenschlichen Vernunft. Thomas behandelt also nicht das Problem, unter welchen Bedingungen ein Staat gegen einen anderen Krieg führen darf. Vielmehr will er den Kreuzzug legitimieren, der in seiner Zeit als bellum iustissimum galt“ (Beestermöller 2002, S. 403).
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Argument nicht verschließen, dass die Aufgabe, den christlichen Herrschaftsbereich nach außen zu verteidigen, auch die Verpflichtung umfasst, Christen dort Recht zu verschaffen, wo ihnen unter heidnischer Herrschaft Unrecht widerfährt. Allerdings stellt sich die Frage, wer verbindlich entscheiden kann, wann ein Fürst seine Autorität missbraucht (Beestermöller 2002, S. 408).
Dieser zuletzt anklingende Aspekt der Gefahr des Missbrauchs der fürstlichen Autorität aufgrund der fehlenden unparteiischen übergeordneten Urteilsinstanz zeigt auf jeden Fall die Grenzen einer solchen Begründung an. Außerdem erscheint es vor dem Hintergrund eines weiteren Gerechtigkeitsbegriffes, wenn man dieser Argumentation folgt, problematisch, dass es nur darum geht, Christen als Glaubensgenossen ihr Recht zu verschaffen. Was soll hier dann der Maßstab für Recht und Unrecht sein und vor allem, wie wäre eine solche Vorstellung universalisierbar? Ein Problembewusstsein hierfür liegt in der Theoriebildung des Mittelalters, wie es scheint, aber noch nicht vor. Dies ändert sich erst vor dem Hintergrund der intensiveren Erfahrungen des religiösen Pluralismus mit Beginn der Neuzeit. Das Kernproblem der Position Thomas’, die sich aus Beestermöllers Interpretation ergibt, besteht deshalb darin, dass es sich, vorausgesetzt, die Interpretation der Theorie Thomas’ als Interventionsethik ist zutreffend, um eine Interventionsethik zur Verteidigung (allein) der Rechte von Christen handelt. Eine solche Theorie könnte begründen, warum Fürsten in andere Staaten intervenieren können, um die Rechte von Christen zu verteidigen. Dabei geht es dann aber nicht in dem Sinne, wie in der gegenwärtigen Interventionsdebatte, um die Frage, wie Mitglieder eines Gemeinwesens, die unter einer Verletzung ihrer grundlegenden Rechte zu leiden haben, gerechterweise von außen geschützt werden dürfen – es geht allein um einen Spezialfall dieses Problems. Ideengeschichtlich läge dann bei Thomas eine Formulierung eines Interventionsargumentes zur Verteidigung individueller Rechte in einem fremden Gemeinwesen vor, die allerdings noch nicht im Rahmen eines menschenrechtlichen Universalismus’ gefasst ist. Eine weitere Anschlussfrage, die eine solche Interpretation der Theorie des gerechten Krieges, wie sie sich bei Thomas formuliert findet, aufwirft, ist die danach, welche Art von Verletzungen der Rechte von Christen den Einsatz militärischer Gewalt rechtfertigen können. Ob Rechtsverletzungen der Christen, die eine Intervention legitimieren könnten, in bestimmten gravierenden Fällen vorliegen, so wie heute von massiven Verletzungen grundlegender Rechte auf Leib, Leben und Freiheit gesprochen wird, oder grundsätzlich immer dann, wenn irgendein christliches Recht verletzt wird (oder in Fällen von Verletzung der Glaubensfreiheit und aktiver Religionsfreiheit bzw. -ausübung), geht hieraus nicht deutlich hervor, womit die Befürchtung, dass eine solche Theorie massiv instrumentalisiert werden kann, auf der Hand liegt und einiges Gewicht erhält.
1 Wurzeln in Antike und Mittelalter
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Festhalten lässt sich mit Blick auf die Formulierung einer Theorie des gerechten Krieges bei Thomas jedenfalls über die Systematisierung der Kriterien hinaus, dass auch seine Theorie für eine Rechtfertigung des Einsatzes militärischer Gewalt gegenüber anderen Gemeinwesen aufgrund des Verhaltens der Herrscher gegenüber ihren Untertanen interpretationsoffen ist, sowie, dass die Beurteilung der Legitimität von Herrschergewalt von deren Verhalten gegenüber ihren Untertanen abhängig ist, was Thomas an anderer Stelle in seinen Ausführungen zur Tyrannislehre ebenfalls herausstellt.27 Bleibt eine Interpretation der Theorie des gerechten Krieges des Thomas von Aquin als Interventionsethik im 12. Jahrhundert noch problematisch, weil nicht deutlich bestimmt werden kann, ob Thomas tatsächlich Interventionen zum Schutz der Mitglieder eines fremden Gemeinwesens legitimiert und weil sich der Schutz individueller Rechte, wenn man der Interpretation Beestermöllers folgt, allein auf die Rechte von Christen bezieht, so wird die Frage nach der Rechtfertigung von militärischen Interventionen zum Schutz der Mitglieder eines fremden Gemeinwesens in der Kriegslehre der spanischen Spätscholastik explizit und zu einer zentralen Frage im Kontext der Rechtfertigung des Einsatzes militärischer Gewalt. Bevor darauf näher eingegangen wird, sei hier aber kurz zusammengefasst, was sich aus den angeführten antiken und mittelalterlichen Positionen mit Blick auf die Interventionsfrage festhalten lässt. Der kurze Blick auf diese Positionen zur Theorie des gerechten Krieges vor der Diskussion des 16. bis 18. Jahrhunderts macht deutlich, dass in der Theoriebildung jener Zeit keineswegs ein Bild vorherrscht, das die inneren Angelegenheiten eines Gemeinwesens in dem Maße als sakrosankt versteht, dass tyrannischer Herrschaft nicht auch von außen begegnet werden darf und zwar auch unter Einsatz militärischer Gewalt. Vielmehr ist die frühe Theorie des gerechten Krieges, die hier zwar keine explizite Interventionsethik ist, auch keine radikal anti-interventionistische Theorie, wie sie sich etwa in der Völkerrechtspraxis nach dem Westfälischen Frieden durchsetzt. Zudem wird nicht zuletzt auch unter Verweis auf die Tyrannislehre deutlich, dass die Qualifikation von Herrschaft durchaus am Verhalten der Herrschenden gegenüber den Mitgliedern ihres Gemeinwesens beurteilt werden kann und dass sich aus extremen Formen des Machtmissbrauchs gegenüber diesen auch mora-
27 Zu Thomas’ Ausführungen zur Tyrannislehre vgl. Thomas von Aquin, Über die Herrschaft der Fürsten; Summa theologica II/I, q.92, Art. 1 und II/II, q.42, Art. 2; Sentenzkommentar Scriptum super IV libros Sententiarum. Wichtig ist bei Thomas die Unterscheidung zwischen zwei Typen von Tyrannen, dem Tyrannen durch Ausübung (tyrannus ex parte exercitii) und dem Tyrannen ohne Titel (tyrannus absque titulo), wie der Usurpator bezeichnet wird. An diese Unterscheidung knüpfen sämtliche der in dieser Arbeit behandelten frühneuzeitlichen Autoren an, die sich mit der Frage nach dem Widerstandsrecht befassen.
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lische Notrechte ergeben können, die den Einsatz von Gewalt nicht ausschließen. Dabei zeichnen sich in der Diskussion in Antike und Mittelalter verschiedene Typen von Interventionsargumenten ab: In Ciceros Theorie des gerechten Krieges wird ausgehend von einer Analyse des Begriffs der Gerechtigkeit ein Prinzip der Nothilfe formuliert, das sich zumindest auch konsistent als Auftrag zu militärischer Nothilfe bei massivem Unrecht interpretieren lässt. Die Diskussion dieses Prinzips durch Cicero ausgerechnet im Kontext der Rechtfertigung des Einsatzes militärischer Gewalt spricht geradezu dafür, dieses Prinzip so weitgehend zu interpretieren. Deutlich wird zudem bei Cicero und besonders in Senecas Auseinandersetzung mit der Frage nach der Reichweite von Gehorsamspflichten gegenüber einem Tyrannen, dass moralische Maßstäbe von Herrschaftskritik über den Bereich des einzelnen Staates hinaus gelten können. In der Vorstellung der Menschheit als Ganzer, der gegenüber Verpflichtungen bestehen können, deutet sich schon hier ein Verständnis universalistischer Rechtfertigung an. Wurde in Ciceros Formulierung einer Theorie des gerechten Krieges herausgestellt, dass der Einsatz militärischer Gewalt die Reaktion auf eine Rechtsverletzung darstellen muss, kommt anschließend mit der Theorie des Augustinus der Gedanke der Bestrafung eines Unrechtes als Kriegszweck stärker in den Blick. Dabei geht es auch darum, dass ungerechte Handlungen mit Blick auf die Etablierung einer gerechten Ordnung über die Grenzen eines staatlichen Gemeinwesens hinaus bestraft werden müssen, um eine Art ‚globale‘ Rechtssicherheit zu erreichen. Schließlich zeigt die Auseinandersetzung mit Thomas’ Theorie des gerechten Krieges, dass ein Prinzip der Rettung Unschuldiger (wenn hier auch allein auf Christen bezogen) in der Theorie des gerechten Krieges schon früh eine wichtige Rolle spielt. Auch ohne eine Interpretation der Position Thomas’ als Interventionstheorie wird hierin doch zumindest deutlich, dass eine Perspektive auf die Interventionsfrage auch in dieser frühen Auffassung angelegt ist. Auch wenn in der Diskussion jener Zeit noch kein Begriff staatlicher Souveränität vorliegt, wird hier doch deutlich, dass dem Einzelnen ein besonderer Schutz vor Gewalt und Willkür von Seiten des Herrschers zukommt, was im Umkehrschluss bedeutet, dass Herrschaft auch einem moralischen Maßstab unterliegt, anhand dessen ihre Legitimität beurteilt werden kann. Sichtbar wird dabei aber auch, dass für eine deutliche Bestimmung möglicher Widerstands- und Interventionsfälle genau formulierte Kriterien, die den Missbrauch und die Instrumentalisierung solcher Rechtfertigungsfiguren ausschließen könnten, weitgehend fehlen.
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2 Das Interventionsproblem in der Kriegsethik der spanischen Spätscholastik 2.1 Einleitung Mit der Entdeckung des amerikanischen Kontinents änderte sich am Übergang vom 15. zum 16. Jahrhundert nicht nur das Bild der Welt. Auch mit Blick auf klassische normative Fragen in Philosophie, Völkerrecht und Theologie änderten sich die Diskussionen und deren Rahmen erheblich. Vor allem hinsichtlich des Natur- und Völkerrechts stellten sich hier zentrale Fragen neu, besonders die Frage nach der Reichweite der Geltung dieser Rechtsbereiche, die sich vor allem an der Frage danach entzündete, welchen Status die ursprünglichen Bewohner der neu entdeckten Welt haben. Aber auch Fragen danach, wie der Geltungsbereich des Naturrechts nun zu bestimmen ist, ob es alle Menschen einschließt oder nur Christen und ob die Begründung des Naturrechts ohne religiös fundierte Prämissen auskommen muss, wenn es auch von Nichtchristen anerkannt werden soll, rückten nun stärker ins Zentrum der Diskussion. Vor diesem Hintergrund entwickelte sich in dieser Zeit die Denkfigur subjektiver Rechte, Vorstellungen von Universalität wurden gehaltvoller expliziert und auch die Idee der Menschenrechte nahm in Form der Vorstellung individueller und universeller Rechte zunehmend Kontur an.1 Auf der Hand liegt, dass die sich verändernden Rahmenbedingungen und die mit ihnen einhergehenden Entwicklungen auch für die Theorie des gerechten Krieges neue Fragen aufwerfen und alte in ein neues Licht stellen. Die zentrale durch konkrete Herausforderungen aufgeworfene Frage ist nun die nach der Legitimität der spanischen Eroberungen in der neuen Welt, also die Frage danach, ob und warum die Spanier dort überhaupt Land in Besitz nehmen dürfen und ob und warum ihnen Herrschergewalt über die dort lebenden Menschen zukommt. Verdichtet findet sich diese Diskussion in der Auseinandersetzung mit der Frage danach, ob der Einsatz militärischer Gewalt im Rahmen der spanischen Erobe-
1 Zur Entwicklung der Vorstellung subjektiver Rechte in der Diskussion jener Zeit vgl. Seelmann 1994. Zur historischen Kontextualisierung der spanischen Spätscholastik insgesamt siehe Specht 2001. Über die Bedeutung der spanischen Spätscholastik für das politische Denken in Europa um 1600 informiert ausführlich der Sammelband Mate/Niewöhner 1994. Zum Beitrag der spanischen Spätscholastik zur Entwicklung der Menschenrechte siehe Hafner/Loretan/Spenlé 2001. Eine wichtige Sammlung neuerer Beiträge zur Diskussion über das politische Denken der spanischen Spätscholastik stellt Grunert/Seelmann 2001 dar.
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rungen als gerechtfertigt gelten kann oder nicht und wo seine Grenzen liegen. Zumindest der zunächst naheliegende legitime Grund für die Anwendung von Gewalt, die Selbstverteidigung, kann hier, wo keine ursprüngliche Bedrohung von außen für die Spanier durch die Indios besteht, als primäre Rechtfertigung nicht mehr sinnvoll angeführt werden. Auch die Verteidigung ursprünglicher Rechtsansprüche oder die Wiedergutmachung für Rechtsverletzungen ergibt in dieser Konstellation zunächst keinen Sinn, da vor dem Kontakt mit den Indios keine Verletzung spanischer Rechte durch diese möglich war. Eine Berufung auf den gängigen Rechtfertigungsgrund der Wiedergutmachung oder der Bestrafung einer Rechtsverletzung kann unter diesen Bedingungen nur noch gelingen, wenn dieser Rechtfertigungsgrund individualrechtlich expliziert und verstanden wird. Tatsächlich ist es ein signifikantes Kennzeichen der Kriegsethik der spanischen Spätscholastik, dass in dieser Diskussion zunehmend Rechtfertigungen entwickelt werden, die zur Bestimmung der causa iusta auf die grausame Behandlung Einzelner oder die Verletzung ihrer grundlegenden Rechte Bezug nehmen. Der besondere Beitrag dieser Diskussion für die Entwicklung der Theorie des gerechten Krieges mit Blick auf die Interventionsfrage besteht deshalb gerade darin, dass die in der Theorie des gerechten Krieges klassisch gewordene Bestimmung der causa iusta als Rechtsverletzung um eine individualistische Lesart ergänzt wird, in der die Verletzung individueller Rechte als gerechter Grund für militärische Interventionen explizit gemacht wird. Nun lässt die Diagnose, dass Grausamkeiten gegen Einzelne oder die Verletzung grundlegender Rechte von Individuen als Rechtfertigungsgrund für den Einsatz militärischer Gewalt eine zunehmende Bedeutung erfahren, zwei Interpretationen zu. Zum einen liegt der Verdacht nahe, dass hier – gewissermaßen auf politischer Ebene – eine Rechtfertigungsfigur in Anspruch genommen wird um den Einsatz militärischer Gewalt, der durch andere Interessen motiviert ist, zu legitimieren. Der Verweis auf humanitäre Gründe oder individuelle Rechte wäre dann vor allem deshalb nötig, weil klassische Rechtfertigungsgründe vor dem Hintergrund sich verändernder Rahmenbedingungen der Rechtfertigung an Überzeugungs- und damit an Rechtfertigungskraft verlieren. Ohne Zweifel hat die Berufung auf die Rechtfertigungsfigur des Einsatzes militärischer Gewalt zum Schutz der Mitglieder eines Gemeinwesens vor tyrannischer Behandlung durch ihre Herrscher im Kontext der Entdeckung der Neuen Welt häufig genau hier ihren Grund. Doch es gibt zum anderen auch eine zweite Interpretationsmöglichkeit dafür, dass die Rechtfertigungsfigur des Schutzes von Individuen vor grausamer Behandlung und vor Verletzung ihrer individuellen Rechte auch in der theoretischen Diskussion eine zunehmend wichtige Rolle spielt. Gemäß dieser Interpretation erfährt die causa iusta-Bedingung mit der Berücksichtigung grundlegender individueller Rechtsansprüche eine Erweiterung. Die Verletzung individueller
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(moralischer) Rechte kann demnach im Extremfall einen legitimen Kriegsgrund darstellen. Nicht zuletzt fließt damit auch ein kritischer Maßstab sowohl in die Diskussion des 16. Jahrhunderts als auch in die Theorie des gerechten Krieges als Ganze ein, der eine kritische Beurteilung der spanischen Eroberungspolitik als solcher ermöglicht. Rechtfertigungen des Einsatzes militärischer Gewalt, die sich nicht auf den Schutz von Individuen vor Verletzung individueller Rechte oder die alten anerkannten Rechtfertigungsgründe zurückführen lassen, können so als vorgeschobene Gründe enttarnt werden. Durch die Entwicklung einer klaren Semantik macht die Theorie des gerechten Krieges auf diese Weise eine fundierte Kritik bestimmter Praktiken des Missbrauchs von Rechtfertigungen insbesondere der Rechtfertigungsfigur der Schutzintervention begrifflich überhaupt erst möglich. Die konkreten Entwicklungen und Bemühungen in der Theoriebildung jener Zeit könnten dann auch ein Stück weit als Reaktion auf das Bekanntwerden der grausamen Behandlung der Indios durch die Eroberer verstanden werden.2 Wer sich in der Rechtfertigung des Einsatzes militärischer Gewalt auf individualrechtlich begründete Ansprüche beruft, kann – ohne widersprüchlich zu argumentieren – gar nicht anders, als sie auch in anderen Rechtfertigungskontexten anzuerkennen. Im Folgenden wird die Diskussion der Interventionsfrage in der spanischen Spätscholastik exemplarisch an Francisco de Vitorias Überlegungen zur Kriegsethik (I, 2.2) sowie an der Auseinandersetzung zwischen Bartolomé de Las Casas und Gines de Sepúlveda über die Rechtmäßigkeit der spanischen Eroberungen im Rahmen der so genannten Disputation von Valladolid dargestellt (I, 2.3). Ziel dieser Darstellung ist nicht etwa eine vollständige Rekonstruktion der Kriegsethik der spanischen Spätscholastik, sondern eine Skizze der Entwicklung und Formulierung verschiedener Typen von Interventionsargumenten, die in dieser Diskussion für die Rechtfertigung des Einsatzes militärischer Gewalt – vor allem in der Neuen Welt – angeführt werden.3 Zudem wird im Anschluss daran auf einzelne Aspekte der Überlegungen weiterer Autoren jener Zeit, namentlich Melchior Cano, Diego de Covarrubias y Leyva, Domingo de Soto, Luis de Molina und Francisco Suárez eingegangen, die im Kontext ihrer Überlegungen zur Kriegsethik ebenfalls die Frage nach der Rechtfertigung von Schutzinterventionen diskutiert haben (I, 2.4).
2 So etwa Ottmann: „Die Nachrichten von den Greueln und Massakern warfen die Frage nach dem Recht der Völker und dem Recht des Menschen auf“ (Ottmann 2006, S. 107). Zur Entwicklung des Völkerrechtsdenkens in der spanischen Spätscholastik vor diesem Hintergrund siehe auch Böckenförde 2002, S. 312–317. 3 Für ausführliche Darstellungen der Kriegsethik der spanischen Spätscholastik siehe Scattola 2006 und Stüben 2006.
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Damit wendet sich die Untersuchung nun der Epoche zu, in der die Frage nach der Rechtfertigung des Einsatzes militärischer Gewalt in einer Form und Intensität an die Diskussion von Interventionsfragen gekoppelt ist, wie sie sich weder zuvor noch im Anschluss bis zum Beginn der gegenwärtigen Interventionsdiskussion, die in den 90er Jahren des 20. Jahrhunderts begann, findet. Es handelt sich hier um eine besonders intensive Diskussion, in der eine erhebliche Verdichtung der Argumentationen zu beobachten ist. Stärker als für die früheren Formulierungen einer Theorie des gerechten Krieges stellt die Theorie des Völkerrechts in dieser Zeit den Hintergrund für die Diskussion der Interventionsfrage dar.4 Zudem wird in der Diskussion der Interventionsfrage in dieser Zeit auch die Verbindung von Interventionsargumenten mit der Tyrannislehre und der Theorie des Widerstandsrechts sichtbar. Zu berücksichtigen bleibt dabei allerdings, dass es sich hier weiterhin um eine Diskussion von Interventionsfragen in einem Rahmen handelt, in dem noch keine strenge Konzeption staatlicher Souveränität vorliegt, auch wenn sich ein frühes Verständnis von Volkssouveränität als Selbstbestimmung politischer Gemeinwesen in dieser Zeit durchaus schon erkennen lässt.5
2.2 Francisco de Vitoria Einer der zentralen Orte öffentlicher akademischer Auseinandersetzungen im Spanien des 16. Jahrhunderts war Salamanca, wo sich auch eine der wichtigen Auseinandersetzungen mit der Interventionsfrage im Kontext der Diskussion um die Rechtmäßigkeit der spanischen Eroberungen lokalisieren lässt.6 Der Dominikanermönch Francisco de Vitoria, der an der dortigen Universität lehrte und als einer der Begründer der Schule von Salamanca gilt, hielt in den Jahren 1538 und 1539 zwei öffentliche Vorlesungen, in denen er sich zentralen durch die Entdeckungen der Neuen Welt aufgeworfenen natur- und völkerrechtlichen Fragen widmete.7 Im Zentrum der ersten der beiden Vorlesungen steht unter dem Titel De Indis recenter Inventis die Frage nach der Legitimität der spanischen Eroberungen, während die zweite Vorlesung vor diesem Hintergrund unter dem Titel De
4 Zur Rolle der spanischen Spätscholastik für die Entwicklung des neuzeitlichen Völkerrechts vgl. Grewe 1984, S. 163–322; Ziegler 2007, S. 117–141. 5 Frühe gehaltvolle Konzeptionen der Souveränität eines Gemeinwesens im Sinne politischer Selbstbestimmung finden sich bei Vitoria und Suárez. Siehe dazu unten, I, 2.2 und I, 2.4. 6 Nicht weniger bedeutend ist mit Blick auf diese Fragen die Disputation von Valladolid. Vgl. unten, Kap. 2.2.3. Zur Rolle der Schule von Salamanca mit Blick auf die spanischen Eroberungen siehe Pereña 1994. 7 Zur Bedeutung Vitorias für die Entwicklung des neuzeitlichen Völkerrechts siehe Führer 1994.
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jure belli grundsätzlich nach den Regeln der gerechten Kriegsführung fragt. Dass es Vitoria dabei nicht, wie einige Interpreten, wie beispielsweise Wilhelm Grewe, behaupten, um eine bloße Rechtfertigung der spanischen Eroberungspraxis geht, sondern um eine kritische Diskussion der Probleme, die sich mit der Entdeckung der Neuen Welt nun neu stellten, wird die weitere Diskussion im Folgenden zeigen (vgl. Grewe 1988, S. 214f.).8 Für die Fragestellung der vorliegenden Arbeit ist es hier von besonderem Interesse, die Überlegungen Vitorias vor dem Hintergrund der Frage zu rekonstruieren, ob sich in seiner Beschäftigung mit diesen Fragen Interventionsargumente finden, welche Form sie haben und welche Rolle sie im Kontext seiner Theorie spielen.9 Dabei zeigt sich in der Rekonstruktion der Position und der Argumente Vitorias, dass dieser eine frühe Formulierung einer Interventionsberechtigung zum Schutz vor Verletzung individueller Rechte formuliert. Zudem findet sich in seinen Ausführungen auch eine frühe Verbindung von Interventionsargumenten mit der klassischen Tyrannislehre, wenn Vitoria zur Bestimmung eines gerechten Interventionsfalles auf die klassische Tyrannislehre zurückgreift, um zu zeigen, unter welchen Bedingungen Unschuldige von außen vor ihrem Herrscher und dessen Handlungen geschützt werden dürfen. Neben den beiden berühmten Vorlesungen werden für die Auseinandersetzung mit Vitorias Überlegungen zur Interventionsfrage außerdem noch seine frühere Beschäftigung mit Fragen zur Kriegsethik im Kommentar De bello zu Thomas’ Quaestio 40 (S. Th. II/II), der in der Mitte der 30er Jahre des 16. Jahrhunderts entstanden ist (vgl. Stüben 2006, S. 56f.),10 sowie seine Vorlesung De potestate civili aus dem Jahr 1527, in der die Kriterien für die Legitimität politischer Herrschaft entwickelt werden, berücksichtigt, da sich darin jeweils einige für das Verständnis der Position Vitorias wichtige Überlegungen finden. Im Folgenden werden die verschiedenen Argumente zur Interventionsfrage aus dem Kontext ihrer Darstellung rekonstruiert und hinsichtlich der Reichweite ihrer Begründungskraft beurteilt, wobei es primär um eine Analyse der verschiedenen Typen von Interventionsargumenten und nicht um eine umfassende Rekonstruktion der zugrunde liegenden Werke Vitorias geht.
8 Eine gegenteilige Auffassung vertritt Pereña. Vgl Pereña 1994, S. 71. 9 Zur Theorie des gerechten Krieges bei Vitoria siehe Justenhoven 1991, Janssen 2001 und unter Berücksichtigung der neueren Interventionsdebatte Horvath 2004. Zu den philosophischen Grundlagen der Theorie des Völkerrechts bei Vitoria siehe Soder 1955. 10 Stüben verweist hier auch insgesamt auf die Bedeutung Vitorias für die Entwicklung der Theorie des gerechten Krieges und die Entwicklung einer Theorie der Menschenrechte.
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2.2.1 De potestate civili Einige wichtige Voraussetzungen zum Verständnis der Positionen, die Vitoria in den beiden berühmten Vorlesungen der Jahre 1538 und 1539 vertritt, werden in der Vorlesung De potestate civili aus dem Jahr 1527 entwickelt.11 Dort spricht Vitoria unter anderem über die Bedingungen für die Legitimität von Herrschaft sowie das Recht einer politischen Gemeinschaft auf Selbstbestimmung, aus dem sich eine grundsätzliche Ablehnung gewaltsamer Einmischungen von außen begründen lässt. Zudem weist Vitoria schon an dieser Stelle Rechtfertigungen für den Einsatz militärischer Gewalt gegen ein anderes Gemeinwesen zurück, die auf den Grund der Religionsverschiedenheit zwischen zwei politischen Gemeinwesen beziehungsweise auf die Religionszugehörigkeit des Herrschers eines Gemeinwesens zurückgehen. Denn wenn die Legitimität von Herrschaft davon abhängt, dass eine Gemeinschaft sich selbst bestimmt und dass Herrschaft am Gemeinwohl sowie an den Gesetzen orientiert ist, kann die Rechtmäßigkeit von Herrschaft nicht von der Zugehörigkeit zur richtigen Religionsgemeinschaft abhängen, es ist nämlich nach Auffassung Vitorias nicht alleiniges Merkmal der christlichen Religion, den Rahmen für legitime Herrschaft bilden zu können.12 Für Vitorias Verständnis der Selbstbestimmung eines politischen Gemeinwesens13 steht in De potestate civili die Frage nach der öffentlichen Gewalt im Zentrum, die zum einen von der privaten und zum anderen als weltliche öffentliche Gewalt von der kirchlichen Gewalt zu unterscheiden ist (vgl. Vitoria, De potestate, S. 119f.). Dabei geht Vitoria einerseits davon aus, dass alle Gewalt auf Gott zurückgeht (vgl. Vitoria, De potestate, S. 119). Zwar beschreibt er das Bedürfnis des Menschen nach einer politischen Gemeinschaft vor allem auf der Grundlage einer Beschreibung desselben als ‚Mängelwesen‘, das die politische Gemeinschaft benötigt, um zu leben und zu überleben (vgl. Vitoria, De potestate, S. 123f.). Doch dabei steht die Vorstellung im Hintergrund, dass die öffentliche Gewalt hinsichtlich ihrer Wirkursache als von Gott kommend betrachtet werden muss (vgl. Vitoria, De potestate, S. 127f.), denn Gott kann als Schöpfer der Natur und Autor
11 Die Überlegungen Vitorias stehen im Kontext der großen Frage des politischen Denkens nach dem Gemeinwesen (res publica). Hier soll es nun um die „öffentliche und die private Gewalt“ gehen, „mit der die Gemeinwesen gelenkt werden“ (Vitoria, De potestate civili, S. 119). Zur Entstehung der Vorlesung und den Umständen ihres Vortrages siehe Horst 1995, S. 42–49. 12 Interventionen, deren Rechtfertigung auf die Religionsverschiedenheit zwischen zwei Gemeinwesen und das Ziel der Verbreitung der „wahren“ Religion zurückgeführt wird, werden im Folgenden unter den Begriff Religionsintervention subsumiert. 13 Zur Theorie des Gemeinwesens bei Vitoria siehe Urbano 1994 und Delgado 2001.
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der Naturgesetze angesehen werden. Andererseits kann die Quelle dieser Gewalt aber auch hinsichtlich ihrer Materialursache bestimmt werden. Aus dieser Perspektive ist es das Gemeinwesen selbst, „auf dem eine Gewalt dieser Art nach dem natürlichen und göttlichen Recht ruht […]. Diesem kommt es von sich aus zu, sich zu lenken und zu leiten und alle seine Vollmachten auf das Gemeinwohl auszurichten“ (Vitoria, De potestate, S. 129). Schon in dieser Bestimmung werden zwei entscheidende Aspekte der moralischen Qualifikation von Herrschaft deutlich, nämlich der Anspruch auf Selbstbestimmung eines Gemeinwesens und die Gemeinwohlorientierung von Herrschaft. Die Herrschaftsgewalt ist nicht Selbstzweck, sie wird dem Herrscher vom Volk anvertraut, indem es ihm seine Geschäfte übergibt (vgl. Vitoria, De potestate, S. 129ff.).14 Allerdings geht Vitoria davon aus, dass die Vollmacht, über die das Gemeinwesen verfügt, nicht von diesem selbst gemeinschaftlich ausgeübt werden kann (vgl. Vitoria, De potestate, S. 131f.), weshalb sie aus pragmatischen Gründen auf den Herrscher übertragen werden muss (vgl. Vitoria, De potestate, S. 133f.). Doch entscheidend bleibt hier die Vorstellung, dass das Volk nicht die ursprüngliche Gewalt, sondern die Bevollmächtigung auf den König, der seine Herrschaftsgewalt als König aufgrund des göttlichen Willens aber auch schon besitzt, überträgt, so dass die Legitimation der herrscherlichen Gewalt nicht von der ursprünglichen Gewalt des Volkes gelöst wird (vgl. Vitoria, De potestate, S. 135). Neben der Vorstellung, dass ein Gemeinwesen ein Recht auf politische Selbstbestimmung hat, weil die ursprüngliche Gewalt auch beim Volk liegt, steht ein weiteres Argument, welches das Bedürfnis des Menschen in politischen Gemeinschaften zu leben betont. Demnach hat vor dem Hintergrund der Vielfalt von Völkern, die nebeneinander bestehen, jedes von ihnen ein Recht auf Selbstbestimmung, wiederum weil die Menschen der politischen Gemeinschaft bedürfen. Vitoria spricht diesbezüglich ausdrücklich vom grundsätzlichen Recht eines jeden Gemeinwesens, „sich zu leiten und sich gegen Unrecht von seiten eigener wie fremder Leute zu schützen“ (Vitoria, De potestate, S. 137). Dafür, dass ein solches Recht auf Selbstbestimmung mit der Vorstellung legitimer Einmischungen von außen aufgrund von Religionsverschiedenheit unverträglich ist, argumentiert Vitoria zunächst unter Rekurs auf eine biblische Quelle. Demnach haben die Apostel selbst gefordert, dass den Herrschenden gehorcht werden soll und zwar ohne die Einschränkung, dass eine solche Gehorsamspflicht, welche die Legitimität der Herrschaft voraussetzt, nicht gegenüber ‚heid-
14 Eine solche Vorstellung des Anvertrauens der Herrschaftsgewalt beziehungsweise der Beauftragung zur Herrschaft findet sich später in sehr deutlich herausgestellter Form in John Lockes Politischer Philosophie. Vgl. dazu etwa Laukötter/Siep 2010.
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nischen‘ Herrschern gelte, was zeige, dass die Legitimität von Herrschaft nicht prinzipiell davon abhängig, dass die Herrscher Christen sind. Denn [e]s ist überhaupt nicht zu bezweifeln, daß es bei den Heiden rechtmäßige Herrscher und Herren gibt, da der Apostel […] anordnet, daß man Gewalten und Herrschern gehorchen und die ganze Zeit dienen soll; diese waren zu jener Zeit jedenfalls sämtlich Ungläubige (Vitoria, De potestate civili, S. 137).
Auch hieraus ergibt sich mit Blick auf die Interventionsfrage, dass Religionsverschiedenheit keinen gerechten Kriegsgrund darstellt – es sprechen also sowohl das Prinzip der politischen Selbstbestimmung als auch das Prinzip, nach dem herrscherliche Autorität nicht von der Zugehörigkeit des Herrschers zu christlichen Gemeinschaft abhängt, gegen eine Erlaubnis von Religionsinterventionen. Ergänzt wird diese Argumentation durch den Verweis darauf, dass der legitime Einsatz militärischer Gewalt eine vorangegangene Rechtsverletzung voraussetzt und dass Religionsverschiedenheit allein nicht als eine solche aufgefasst werden kann. Christliche Herrscher – weltliche wie kirchliche – könnten die Ungläubigen einer solchen Gewalt und Herrschaft nicht allein anhand der Rechtsgrundlage der Ungläubigkeit berauben, es sei denn, von den betreffenden Heiden wäre ein Unrecht anderer Art ausgegangen (Vitoria, De potestate, S. 137).
Damit schließt Vitoria an die klassischen Kriterien aus der Theorie des gerechten Krieges an, indem er hervorhebt, dass nur ein Unrecht oder eine Rechtsverletzung den Einsatz militärischer Gewalt und damit auch einen Krieg gegen Ungläubige rechtfertigen kann15, nicht aber deren Ungläubigkeit selbst, was nicht weniger heißt, als dass die Rechtfertigungsgründe unabhängig von der Religionszugehörigkeit sind. Die Geltung der Rechtsgründe kann hier als in einem schwachen Sinne säkular – im Sinne von religionsunabhängig – verstanden werden, auch wenn ihre Begründung selbst vom Verweis auf eine biblische Autorität und damit letztlich von Gott abhängig bleibt. In der Forschungsdiskussion zu Vitoria ist es umstritten, ob dieses Argument ausdrücklich mit Blick auf die neu entdeckten Länder formuliert ist, worauf aber einiges hindeutet (vgl. Horst 1995, S. 46). Dass es Vitoria jedoch um eine Ablehnung von Interventionen geht, deren Begründung von der Religionsverschiedenheit zwischen zwei Gemeinwesen abhängig ist, ist zumindest hier offensichtlich, auch wenn Vitoria von einigen für einen
15 Vgl. oben, I, 1.
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Apologeten religiös motivierter Interventionen gehalten wird (vgl. Grewe 1988, S. 214f.). Neben diesen Überlegungen zum Prinzip der Selbstbestimmung eines Gemeinwesens und zur Frage nach der Rechtfertigung von Religionsinterventionen ist in De potestate civili aber noch ein weiterer Argumentationsstrang für unsere Überlegungen von Interesse. Zwar argumentiert Vitoria erst an späterer Stelle dafür, dass ein militärisches Eingreifen in ein fremdes Gemeinwesen von außen legitim sein kann, wenn es der Bekämpfung einer Tyrannis dient16, doch es finden sich schon in diesem frühen Text einige wichtige Bestimmungen für Vitorias Verständnis der Tyrannislehre, die für die später von ihm formulierte Auffassung wichtig sind und deshalb hier schon kurz in den Blick genommen werden: Vor dem Hintergrund der Auffassung, dass die Mitglieder eines Gemeinwesens ein Recht zur politischen Selbstbestimmung haben und dass es eine ursprüngliche Gewalt gibt, die beim Volk liegt, stellt sich die Frage, anhand welcher Kriterien die Legitimität von Herrschaft aus einer solchen gesellschaftlichen Binnenperspektive beurteilt werden kann. Die beiden zentralen Kriterien, an denen die Legitimität von Herrschaft und Gesetzen dabei bemessen werden kann, sind die Orientierung der Gesetze am Gemeinwohl und an den übrigen Gesetzen. Dazu aber, daß das menschliche Gesetz gerecht wird und binden kann, reicht der Wille des Gesetzgebers nicht, vielmehr ist erforderlich, daß das Gesetz dem Gemeinwesen nützt und mit den übrigen Gesetzen abgestimmt ist (Vitoria, De potestate, S. 147).
Das Gesetz hängt also nach dem hier entwickelten Staats- und Herrschaftsverständnis nicht allein vom Willen des Herrschers als Gesetzgeber ab,17 vielmehr ist der Herrscher doppelt gebunden an die Gesetze selbst und an den höheren Maßstab des Gemeinwohls. Damit sind allerdings lediglich die Legitimitätsbedingungen für Herrschaft genannt, ohne dass schon etwas darüber ausgesagt ist, wie weit die Untertanen den Gesetzen eines Gewaltherrschers gegenüber zu Gehorsam verpflichtet sind. Mit Blick auf diese Problematik entwickelt Vitoria hier eine differenzierte Position,
16 Vgl. unten I, 2.2.2 und I, 2.2.3. 17 Dabei handelt es sich eigentlich um ein bis dahin klassisches Herrschaftsverständnis, dass sich in den Texten der politischen Philosophie, aber auch in anderen Texten, wie etwa Fürstenspiegeln, deutlich erkennen lässt. Selbst im späteren Staatsverständnis, das auf einem Souveränitätsbegriff basiert, der den Gesetzgeber langsam aus der Bindung an eine übergeordnete Norm oder Normativität entlässt, verschwindet eine solche normative Letztbindung aber nicht völlig (vgl. etwa Bodin, unten, I, 3.1).
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die sowohl die Bedeutung politischer Stabilität als auch ein ‚notrechtliches‘ Schutzrecht von Individuen gegen tyrannische Herrschaft zu vereinbaren versucht. Gegen eine völlige Befreiung von der Gehorsamspflicht führt Vitoria ein pragmatisches Argument an. Durchaus geboten sein kann der Gehorsam gegenüber einem Gewaltherrscher nämlich dann, wenn andernfalls der Untergang des Gemeinwesens droht: Denn wenn ein Gemeinwesen von einem Gewaltherrscher bedrückt wird, nicht sein eigener Herr ist, selbst keine Gesetze erlassen und auch keine früher erlassenen anwenden kann, würde dies Gemeinwesen, wenn es dem Gewaltherrscher nicht gehorchte, untergehen. Jedenfalls scheint es, daß Gesetze, die dem Gemeinwesen angemessen sind, auch dann bindenden Charakter haben, wenn sie ein Gewaltherrscher erlassen hat. Und zwar nicht, weil sie von einem Gewaltherrscher stammen, sondern aufgrund einer entsprechenden Einwilligung des Gemeinwesens, da es würdiger ist, daß man Gesetze einhält, die von einem Gewaltherrscher erlassen wurden, als daß gar keine eingehalten werden (Vitoria, De potestate, S. 159).
Der Erhalt einer politischen Ordnung als Ganzer und des Rechts als solchem stellen also nach dieser Auffassung einen besonderen Wert dar, dessen Realisierung auch das Erbringen bestimmter Opfer erfordern kann. Die Verpflichtung zum Gesetzesgehorsam setzt nicht zwingend den richtigen legislativen Akt voraus, in dem sich etwa direkt der Volkswille repräsentiert. Die diesem pragmatischen Argument zugrundeliegende Vorstellung, dass ein irgendwie gearteter Zustand der Staatlichkeit besser als ein nichtstaatlicher Zustand ist, ist eine Vorstellung, die später in der Geschichte des politischen Denkens etwa bei Hobbes und Kant wirkmächtig bleiben soll und teilweise als entscheidender Grund für die Ablehnung jeglicher Art von Angriffen gegen die staatliche Souveränität sowohl von innen als Widerstandshandlung als auch von außen als Intervention angeführt wird. Doch es gibt in Vitorias Konzeption Grenzen der Reichweite solcher Verpflichtungen, denn die Frage nach der Gehorsamsverpflichtung gegenüber einem Gewaltherrscher stellt sich anders dar, wenn es sich bei diesem um einen Usurpator handelt, also einen Herrscher, der sich seinen Titel durch einen Angriff von außen ungerechterweise angeeignet hat (vgl. Thomas von Aquin, Sententiarum, II Sent., d. 44, q. 2, art. 2). Wenn Herrscher, die über keinen gerechten Titel verfügten, ein Reich besetzen würden, schlüge der Umstand, daß es kein Gerichtswesen gäbe und Übeltäter in keiner Weise bestraft oder gezüchtigt werden könnten, in der Tat zum offenkundigen Verderben für das betroffene Gemeinwesen aus; denn ein Gewaltherrscher ist kein rechtmäßiger Richter, wenn seine Gesetze keinen bindenden Charakter haben (Vitoria, De potestate, S. 159).
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Gehorchen muss man einem solchen Herrscher nicht, „seine Gesetze [haben] keinen bindenden Charakter“. Ob daraus aber ein Recht auf Widerstand folgt, bleibt bei Vitoria an dieser Stelle vorerst offen. Über die Möglichkeit, von außen gegen einen Tyrannen vorzugehen, spricht Vitoria in De potestate civili noch nicht. Dieses Problem kommt erst im Kommentar De bello zur Quaestio 40 des Thomas von Aquin, auf den im Folgenden eingegangen wird, in den Blick.
2.2.2 De bello Schon vor der ausführlichen Behandlung der Interventionsfrage in den Vorlesungen De indis und De jure belli diskutiert Vitoria die Frage nach der Legitimität eines militärischen Eingriffes von außen zum Schutz der Mitglieder eines Gemeinwesens vor tyrannischer Herrschaft. Er wirft sie in seiner Auseinandersetzung mit Thomas’ Quaestio über den gerechten Krieg auf (vgl. Thomas von Aquin S. Th., II/II, q. 40)18, welche den wichtigsten Referenztext für die Auseinandersetzung mit Fragen der Kriegsethik in der spanischen Diskussion des 16. Jahrhunderts darstellt. Vitoria kommentiert hier Mitte der 30er Jahre des 16. Jahrhunderts Thomas’ Quaestio über den Krieg als ganze, wobei es um eine Diskussion der Frage nach der Gerechtigkeit des Einsatzes militärischer Gewalt geht, die den schon bei Thomas aufgeworfenen Fragen vor dem Hintergrund der konkreten Herausforderungen jener Zeit folgt. Da Vitorias Bestimmung von Kriterien für eine gerechte Kriegsführung, die ja auch aus Sicht der Interventionsfrage bedeutsam ist, auch in der späteren Vorlesung De jure belli vor dem Hintergrund der Interventionsdiskussion noch einmal ausgeführt wird, mag es für den Zweck der vorliegenden Untersuchung genügen, hier aus De bello allein die Textpassage in den Blick zu nehmen, in der das Problem der Intervention zum Schutz der Mitglieder eines fremden Gemeinwesens thematisiert wird. Nachdem sich in De potestate civili ein gewichtiges Argument für die Zurückweisung von Religionsinterventionen formuliert findet, kommt in diesem später entstandenen Text ein neuer Typ von Interventionsargumenten ins Spiel, die Intervention zum Schutz der Mitglieder eines fremden Gemeinwesens vor tyrannischer Herrschaft. Vitoria wirft hier ausdrücklich die Frage auf, ob es erlaubt ist, „die Untertanen gegen ihren König zu verteidigen, wenn diese unter ihm ungerechtermaßen zu leiden haben“, und damit, ob es erlaubt ist, „den
18 Vgl. oben, I, 1.
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König zu bekriegen“ (Vitoria, De bello, S. 83). Beantwortet wird diese Frage von Vitoria in drei Schritten: Zunächst scheint zweierlei für eine negative Antwort zu sprechen. Zum einen stellt sich das Problem der eindeutigen Identifikation des Sachgrundes, also die Frage, ob die Untertanen tatsächlich ungerechterweise unter ihrem Herrscher leiden, zum anderen geht es – und das hängt eng mit dem ersten Punkt zusammen – um die Frage nach der Autorität, die über diese Sachfrage zu entscheiden befugt ist, liegt diese Hoheit doch eigentlich beim Herrscher selbst. Diese beiden Probleme führen zu einer ersten negativen Antwort Vitorias: Wenn die Sache zweifelhaft ist, ist es nicht erlaubt, denn es würde eine Verwirrung des Gemeinwesens bedeuten, falls andere Herrscher für irgendwelche Leute Krieg führen dürften, die sich über ihren König beschwerten. Außerdem, weil der Richter in dieser Sache der Herrscher selbst ist. Somit darf die Angelegenheit nicht von anderen entschieden werden (Vitoria, De bello, S. 83).
Doch hiermit ist keineswegs gesagt, dass derartige Interventionen gänzlich abzulehnen sind, sondern lediglich, dass eine Interventionserlaubnis nicht vorschnell zu bejahen ist. Lässt sich die Frage nach dem Vorliegen des gerechten Grundes dagegen eindeutig beantworten, ist es fremden Herrschern erlaubt von außen einzugreifen: „So feststeht, daß die Untertanen ungerechtermaßen unter dem König zu leiden haben, ist es Herrschern erlaubt, gegen den König dieser Untertanen einen Krieg zu führen“ (Vitoria, De bello, S. 83). Auch wenn hier eine Intervention zugunsten der Mitglieder eines fremden Gemeinwesens als erlaubt vorgestellt wird, ist allerdings problematisch, dass diese Bestimmung eines gerechten Grundes für eine Intervention an dieser Stelle noch sehr vage bleibt, da keine genauen Kriterien dafür angeführt werden, was es heißt, „daß die Untertanen ungerechtermaßen unter dem König zu leiden haben“. Welcher Art müssen das Unrecht oder die Ungerechtigkeit sein, die den Untertanen widerfahren? Dass diese vage Formulierung einen recht weiten Gebrauch dieser Rechtfertigungsfigur erlauben könnte, lassen Beispiele aus dem weiteren Umfeld dieser Textstelle vermuten, die darauf hindeuten, dass es möglicherweise vor allem um besitzrechtliche Ansprüche gehen könnte, unter denen ungerechtermaßen gelitten wird (vgl. Vitoria, De bello, S. 83). Sollte die Rechtfertigungsfigur in einem solch weiten Sinne zu verstehen sein, stünde sie in einem eklatanten Widerspruch zur eigentlichen kritischen Absicht der Theorie des gerechten Krieges, die Hürden für die Rechtfertigung des Einsatzes militärischer Gewalt möglichst hoch zu legen. Dagegen kann der Anschluss an die klassische Tyrannislehre in den Überlegungen Vitorias aber auch so interpretiert werden, dass es um Leiden der Untertanen gehen könnte, die sich aus der tyrannischen Herrschaftsweise ergeben (vgl. Vitoria, De bello, S. 83ff.). Eine klare Beantwortung
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dieser Frage ist an dieser Stelle aufgrund der Aussagen Vitorias im Text allein aber noch nicht möglich.19 Auch wenn an dieser Stelle keine eindeutigen Kriterien für die Bestimmung des konkreten Falles, in dem ein Eingreifen von außen erlaubt sein kann, genannt werden, findet sich doch ein entscheidender Hinweis zur Bestimmung dieses Falles aus einer anderen Perspektive. Herrscher dürfen demnach – auf der Grundlage des Naturrechts – für ein fremdes Volk Krieg führen, wenn dieses selbst das Recht hat gegen den König Krieg zu führen, sie sind sozusagen unter bestimmten Bedingungen zu stellvertretendem Widerstand berechtigt: Und ganz allgemein ist es Herrschern, wenn Untertanen das Recht haben, gegen den König Krieg zu führen, gestattet, für das Volk Krieg zu führen. Die Begründung lautet: Denn das Volk ist unschuldig, Herrschern ist es vom natürlichen Recht her erlaubt, und diese Herrscher können die Welt schützen, damit ihr kein Unrecht widerfahre (Vitoria, De bello, S. 83).
Für eine Interpretation dieser Passage als Interventionsargument gegen Tyrannen, die ihre Untertanen ungerecht behandeln, spricht hier der Verweis auf die Unschuld des Volkes als von der Tyrannei Betroffenem.20 Unabhängig von der Beantwortung der Frage danach, um die Reaktion auf welche Art von Unrecht es hier geht, lässt sich noch eine kurze Analyse der Gründe, die diese Rechtfertigung einer Intervention gegen einen Tyrannen tragen, anführen. Sie geht im Wesentlichen auf zwei Gründe zurück, nämlich auf die Unschuld des Volkes und auf das Recht der Herrscher Unschuldige zu schützen, das nicht auf deren eigenen Herrschaftsbereich beschränkt ist. Der Grund hierfür liegt in einem Herrschaftsverständnis, das neben einem Schutzauftrag des Herrschers für die Mitglieder des eigenen Gemeinwesens auch einen Schutzauftrag des Herrschers für Recht und Gerechtigkeit überhaupt kennt, denn der Rechtsschutzauftrag der Herrscher besteht nach diesem Verständnis über die Grenzen des eigenen Gemeinwesens hinaus darin „die Welt zu schützen, damit ihr kein Unrecht widerfahre“ (Vitoria, De bello, S. 83). Hier liegt nun also eine Position vor, in der
19 Dass es Vitoria tatsächlich um den Schutz von Individuen vor grausamer Behandlung geht, zeigt die spätere Auseinandersetzung mit diesem Problem in De indis, die unten in diesem Kapitel rekonstruiert wird. Vgl. Vitoria, De indis, S. 481. 20 Das Beispiel, das an diese Ausführungen angeschlossen wird, deutet wiederum darauf hin, dass es um besitzrechtliche und erbrechtliche Ansprüche gehen könnte: „Und so geschah es zur Zeit Pedros, des Königs von Spanien. Dieser war ein Gewaltherrscher. Der König der Franzosen führte gegen Pedro Krieg für einen anderen Sohn“ (Vitoria, De bello, S. 83). Die Frage, um welche Art des Erleidens von Unrecht es hier geht, muss also fürs Erste offen bleiben, da sie sich aus den Äußerungen Vitorias in diesem Zusammenhang nicht eindeutig beantworten lässt.
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das Recht Widerstand zu leisten unmittelbar mit dem Interventionsrecht verbunden wird, denn der fremde Herrscher ist genau in dem Fall zum Eingreifen berechtigt, „wenn Untertanen das Recht haben, gegen den König Krieg zu führen“ (Vitoria, De bello, S. 83), also wenn sie ein Recht auf gewaltsamen Widerstand haben. Die kurze Auseinandersetzung mit einer frühen Fassung dieses Typs von Interventionsargumenten bei Vitoria an dieser Stelle zeigt, dass es schon hier eine Vorstellung der Verantwortung von Herrschern gibt, die deren staatlichen Machtund Herrschaftsbereich überschreitet. Sie dürfen sich auch außerhalb ihres eigenen Herrschaftsbereiches für den Schutz der Mitglieder eines fremden Gemeinwesens und den Schutz des Rechts als solchem engagieren – es wird sogar als ihre Aufgabe verstanden, dies zu tun. Dies zeigt zugleich, dass Herrschaft nicht unter allen Bedingungen als Selbstzweck verstanden werden muss und kann, der jede Kritik von einem überpositiven Standpunkt aus ausschließt – ein solches Verständnis setzt sich tatsächlich erst später mit einem positivrechtlichen Begriff völkerrechtlicher Souveränität durch. Doch zugleich bleibt diese Bestimmung einer Interventionserlaubnis hinsichtlich der genauen Kennzeichen des Interventionsfalles noch sehr vage. Zwar ist hier die Rede von Unrecht, das den Untertanen eines Herrschers geschehen kann; wie dieses Unrecht genauer spezifiziert werden kann, bleibt jedoch vorerst offen. Deshalb fehlen letztlich klare Kriterien, die einen Missbrauch dieses Interventionsargumentes ausschließen.21 Es findet bei Vitoria also schon vor der intensiven Auseinandersetzung mit der Interventionsfrage in den Vorlesungen De indis und De jure belli eine Reflexion des Interventionsproblems im Kontext seiner frühen Theorie des gerechten Krieges statt. Die Zurückweisung der Religionsintervention in De potestate civili und auch die Auseinandersetzung mit der Intervention zum Schutz der Mitglieder eines fremden Gemeinwesens vor tyrannischer Herrschaft in De bello stehen im Kontext dieser Werke aber eher am Rande. Dies ändert sich mit der Diskussion verschiedener Typen von Interventionsfragen in den späteren Vorlesungen, in denen sich neben der Disputation von Valladolid eine der intensivsten und gründlichsten Diskussionen der Interventionsfrage in der frühneuzeitlichen Auseinandersetzung mit dem Problem der Rechtfertigung von Interventionen findet.
21 Aufgrund dieser grundsätzlichen Problematik hat Hobbes in seiner politischen Philosophie versucht alle Bezüge auf die Tyrannislehre zu vermeiden und die Berufung auf Tyrannis als Rechtfertigungsgrund für Widerstand ausgeschlossen. Vgl. Hobbes, Leviathan, Kap. 29.
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2.2.3 De indis Eine zentrale Rolle spielen Argumente, die sich auf verschiedene Typen von Interventionen beziehen, in Vitorias Vorlesung De indis recenter inventis.22 Die Frage, die darin mit Blick auf das ius ad bellum im Zentrum steht, ist die nach der Rechtmäßigkeit der spanischen Eroberungen in den neu entdeckten Gebieten, denn es geht Vitoria um eine Bestimmung der Rechtsgründe für die spanische Herrschaft über die Indios. In der Anschlussvorlesung De jure belli steht die Bestimmung der Bedingungen für die gerechte Durchführung eines Krieges, wiederum mit besonderer Konzentration auf den konkreten Kontext der spanischen Eroberungen, im Mittelpunkt. Vor allem in der Diskussion der Frage nach den Rechtsgründen für die Herrschaft der Spanier über die Indios spielen verschiedene Typen von Interventionsargumenten eine entscheidende Rolle. Denn die klassischen Gründe für den Einsatz militärischer Gewalt, die Selbstverteidigung eines Gemeinwesens sowie die Verteidigung von Rechtsansprüchen und die Wiedergutmachung verletzter Rechtsansprüche, greifen nicht mehr unmittelbar in der Auseinandersetzung mit Völkern, die auf einem anderen Kontinent leben und keine Bedrohung für die heimische Sicherheit der Spanier und auch nicht für deren heimische Rechtsansprüche darstellen. So rückt schließlich die Frage danach, welche weiteren Rechtsgründe ein militärisches Eingreifen in ein fremdes Gemeinwesen rechtfertigen können, in den Vordergrund. Auch wenn es Vitoria in seiner Kriegsethik nicht in erster Linie um die Formulierung einer Interventionsethik zu tun ist, lassen sich aus seinen Überlegungen eine Reihe unterschiedlicher Gründe für militärische Interventionen in ein fremdes Gemeinwesen rekonstruieren. Diese reichen von Verletzungen des Naturrechts über die Religionszugehörigkeit der Herrscher, den Schutz Unschuldiger vor tyrannischer Herrschaft, den möglichen Auftrag zur Zivilisierung eines Gemeinwesens und der darin lebenden Individuen bis hin zu Eingriffen zum Schutz vor Verletzung individueller Rechte. Diese Typen von Interventionsargumenten sollen im Folgenden rekonstruiert und hinsichtlich der Reichweite ihrer Begründungskraft beurteilt werden. Vor dem Hintergrund der gegenwärtigen Debatte bleibt dabei aber zu berücksichtigen, dass bei Vitoria noch kein elaboriertes Konzept staatlicher Souveränität vorausgesetzt werden kann, auch wenn sich im Prinzip der Selbstbestimmung einer politischen Gemeinschaft schon Gründe formuliert finden, die bestimmte Typen von Einmischungen von außen ausschließen und Vorstellungen von Sou-
22 Es ist nicht völlig klar, ob Vitoria die Vorlesung Ende 1538 oder Anfang 1539 gehalten hat. Zu Zeitpunkt und Umständen der Entstehung der Vorlesung siehe Horst 1995, S. 84ff.
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veränität im Sinne der Selbstbestimmung eines Gemeinwesens enthalten. Auch wird die Einmischung von außen noch nicht vor dem Hintergrund einer elaborierten Konzeption der Menschenrechte diskutiert, wobei sich ein Konzept der Menschenrechte als Individualrechte historisch in jener Zeit im Denken der spanischen Spätscholastik herauszubilden beginnt.23 Gerade im Fehlen eines starren Begriffs staatlicher Souveränität kann hinsichtlich der Heuristik verschiedener Typen von Interventionsargumenten ein Vorteil liegen, da der Blick auf die normativen Grenzen der Legitimität von Herrschaft noch nicht durch einen solchen Begriff verstellt wird. Nicht übersehen werden darf zudem, dass es Vitoria in erster Linie darum geht, eine Rechtfertigung dafür zu formulieren, „aufgrund welchen Rechts die Barbaren unter spanische Herrschaft kamen“ (Vitoria, De indis, S. 371). Die Diskussion der Interventionsargumente steht in diesem Kontext, der einen grundsätzlichen und häufig vorgebrachten Verdacht gegen die Theorie Vitorias aufscheinen lässt, nämlich den der Apologie der spanischen Eroberungspolitik in den neu entdeckten Ländern (vgl. Grewe 1988, S. 214f., Pereña 1994). Beurteilen lässt sich die Frage danach, ob dieser Verdacht Vitoria berechtigterweise trifft, freilich erst am Schluss der Analyse. Es deutet aber einiges darauf hin, dass es Vitoria nicht um eine kritiklose Apologie der spanischen Eroberungspolitik geht und dass seiner Konzeption selbst für den Fall, dass eine Rechtfertigung der politischen Praxis ein Teilziel ihrer Rechtfertigungsbemühungen ist, auch ein kritisches Potential innewohnt, das eine Beurteilung der Eroberungspraxis anhand eines moralischen Vokabulars von einem moralischen Standpunkt aus ermöglicht. Die Probleme mit Karl V., die Vitoria aus seiner Diskussion der ‚Indianerfrage‘ in den beiden Vorlesungen der Jahre 1538 und 1539 erwuchsen, – Karl V. reagierte auf die Vorlesungen mit einem Protestbrief an den Prior von San Esteban in Salamanca – können zumindest als Hinweis darauf verstanden werden, dass Vitoria anscheinend auch von seinen Zeitgenossen nicht als bloßer Apologet der Eroberungspraxis wahrgenommen wurde.24 Im ersten Teil der Vorlesung De indis recenter inventis geht Vitoria zunächst der Frage nach, ob die Indios vor der Ankunft der Spanier als legitime Herrscher gelten konnten und macht deutlich, dass auch Nichtchristen, die von Vitoria als Ungläubige bezeichnet werden, als legitime Herrscher angesehen werden können. Hier zeigt Vitoria, dass sie sowohl legitime Eigentümer von Gütern und Besitzungen als auch legitime Herrscher innerhalb eines sich selbstbestimmenden
23 Zur Bedeutung der Figur subjektiver Rechte in dieser Zeit und besonders bei Vitoria siehe Böckenförde 2002, S. 312; 326ff. 24 Zu den Spannungen zwischen Vitoria und Karl V. vgl. Horst 1995, S. 96ff.
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Gemeinwesens sein können (vgl. Vitoria, De indis, S. 385f.). Inhaltlich knüpft Vitoria hier an die Position an, die er schon in De potestate civili entwickelt hat. Mit der Argumentation dafür, dass die Indios auch als rechtmäßige Herrscher gelten können, fällt ein denkbarer Grund dafür weg, sie zu beherrschen, nämlich die grundsätzliche Illegitimität ihrer politischen Ordnung. Bevor Vitoria schließlich anführt, warum die Herrschaft über die Indios als gerechtfertigt gelten kann, wendet er sich im Verlauf der Vorlesung zunächst den nicht rechtmäßigen Titeln für die Ausübung von Herrschaft durch die Spanier in der Neuen Welt zu, die er zurückweist. Kritik an der Rechtfertigung von Interventionen unter Rekurs auf Naturrechtsverletzungen. Zuerst kritisiert Vitoria eine Argumentationsfigur, die Interventionen unter Verweis auf Naturrechtsverletzungen begründet, welche Sünden darstellen und aufgrund ihrer Sündhaftigkeit bestraft werden müssen. Wenn man dieser Rechtfertigungsfigur folgt, wäre, um auf diese Weise ein Interventionsrecht gegen die Indios zu begründen, zuerst zu klären, wer ihnen gegenüber über eine Strafgewalt bezüglich der Sünden, die ihnen vorgeworfen werden, verfügt. Das hier entwickelte indirekte Argument zeigt, dass der Verweis auf Naturrechtsverletzungen eine Intervention in diesem Fall nicht rechtfertigen kann, da weder den Spaniern noch dem Papst eine legitime Strafgewalt über die Indios zukommt: Deshalb können selbst Handlungen der Indios, die eine Verletzung des Naturrechts darstellen, zumindest von den Spaniern nicht unter Rekurs auf den Grund der ‚Naturrechtsverletzung‘ bestraft werden (vgl. Vitoria, De indis, S. 449ff.). Zudem stellt Vitoria heraus, dass auch der Papst nicht über eine Vollmacht, also eine Herrschafts- und Strafgewalt über die Indios verfügt, da sie über ein Recht verfügen, sich als politisches Gemeinwesen selbst zu bestimmen (vgl. Vitoria, De indis, S. 407ff.), woraus folgt, dass auch der Papst die Spanier nicht aufgrund dieses Rechtfertigungsgrundes zu einer Intervention autorisieren kann: „Die christlichen Herrscher können nicht einmal mit Ermächtigung des Papstes die Barbaren von ihren Sünden gegen das Naturgesetz abhalten und sie wegen dieser Sünden bestrafen“ (Vitoria, De indis, S. 449). Wenn Vitoria von den Indios hier als ‚Barbaren‘ spricht, fasst er sie damit nicht mehr wie Aristoteles als Menschen auf, die beherrscht werden müssen. Vielmehr betont er deutlich, dass sie auch über Vernunft verfügen und somit in der Lage sind ihr Gemeinwesen zu organisieren.25 Darüber hinaus können auch die Entdeckung der überseeischen Gebiete durch die Spanier und die Weigerung der Indios den christlichen Glauben anzunehmen
25 In der Diskussion der spanischen Spätscholastik wird dies später vor allem von Sepúlveda bestritten. Vgl. dazu unten, I, 2.3.
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nicht als Rechtsgründe gelten, die für ein Herrschaftsrecht über sie hinreichend wären (vgl. Vitoria, De indis, S. 407ff.). Religionsinterventionen. Auch die Frage nach der Religionsintervention, die schon in De potestate civili diskutiert wurde, spielt in De indis eine wichtige Rolle. Sie stellt sich hier nicht primär als die Frage danach, ob Religionsverschiedenheit den Grund für den Einsatz militärischer Gewalt darstellen kann, sondern konkreter als die Frage danach, ob die Verbreitung der christlichen Religion einen Rechtsgrund für die Inbesitznahmen in der neuen Welt darstellen kann.26 Argumente für Religionsinterventionen lassen sich damit also unterscheiden in solche, die Interventionen aufgrund bloßer Religionsverschiedenheit zu begründen versuchen, und solche, deren Ziel eine Interventionen zum Zweck der Missionierung einer nichtchristlichen Bevölkerung ist. Zunächst diskutiert Vitoria die Frage nach der Religionsintervention vor dem Hintergrund eines völkerrechtlichen Rahmens, der Missionierungsversuche erlaubt und für den Fall erfolgreicher Missionierung Schutzrechte für die Missionierten vorsieht, woraus sich weitreichende Erlaubnisse zur Missionierung ergeben. Christliche Herrscher haben demnach ein Missionsrecht in dem ‚schwachen‘ Sinne, dass sie berechtigt sind das Evangelium zu predigen und zu verkünden, und zwar auch bei den Indios (vgl. Vitoria, De indis, S. 473, 505). Wie Vitoria betont, ist dies im konkreten Fall sogar als Aufgabe der Christen zu verstehen, die den Spaniern durch den Papst übertragen worden ist (vgl. Vitoria, De indis, S. 475). Zudem ergeben sich nach erfolgreicher Missionierung Schutzrechte für diejenigen, die zum ‚richtigen‘ Glauben übergetreten sind – insbesondere verdienen sie rechtmäßigen Schutz vor Versuchen, sie wieder von diesem Glauben abzubringen.27 Grundsätzlich ist es darüber hinaus sogar möglich, dass es dem Papst bei weiterer Verbreitung des christlichen Glaubens erlaubt wäre einen Herrscher über die christianisierten Indios einzusetzen, nämlich dann, wenn ge-
26 In der Diskussion der Frage nach den gerechten Kriegsgründen unterstreicht Vitoria hier erneut, dass die Verschiedenheit der Religion keinen gerechten Kriegsgrund darstellt. Dazu führt Vitoria noch ein vorher nicht genanntes Autoritätsargument an. Demnach hat keiner der Lehrer bezüglich dieser Frage eine andere Meinung vertreten. Vgl. Vitoria, De indis, S. 557. 27 In diesem Zusammenhang werden als weitere Quellen der Geltung die Freundschaft und die menschliche Gemeinschaft, aus denen Verpflichtungen folgen, in die Argumentation eingefügt: „Dieser kann als dritter Rechtsgrund angeführt werden, und nicht allein als ein Rechtsgrund der Religion, sondern auch der Freundschaft und der menschlichen Gemeinschaft. Einige Barbaren sind nämlich aufgrund des Umstandes, daß sie sich zur christlichen Religion bekehrt haben, Freunde und Genossen der Christen geworden, und wir müssen allen Gutes tun, besonders aber den Hausgenossen des Glaubens (Gal 6,10)“ (Vitoria, De indis, S. 479).
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nügend von ihnen christianisiert sind, was wiederum durch die Berechtigung zum Schutz der Bekehrten begründet wird (vgl. Vitoria, De indis, S. 479).28 Zwar stellen diese völkerrechtlichen Regelungen, die von Vitoria angeführt werden, einen weiten Erlaubnisrahmen für die Missionierung dar, doch nach Vitoria ergibt sich aus ihnen keineswegs die Erlaubnis zum Einsatz militärischer Mittel zur Verbreitung der christlichen Religion. Vielmehr sind Religionsinterventionen im strikten Sinne für Vitoria nicht zu rechtfertigen. Zunächst argumentiert Vitoria, dass der Einsatz militärischer Gewalt nicht gerechtfertigt sei, wenn die Indios die den Spaniern völkerrechtlich garantierten Rechte nicht verletzen: Wenn die Barbaren die Christen frei und ohne Hindernis das Evangelium verkündigen lassen, ob sie den Glauben annehmen oder nicht, ist es nicht erlaubt, ihnen aus diesem Grunde mit Krieg zu drohen und ansonsten ihr Land in Besitz zu nehmen (Vitoria, De indis, S. 475).
Doch diese Ablehnung der Legitimität von Religionsinterventionen steht auf sehr wackeligen Beinen, da die Grenzen des gerechten Einsatzes von Gewalt zur Verkündung des Glaubens auch nach diesem Verständnis fließend bleiben, denn die Sicherheit zur Verkündigung des Evangeliums darf auch durch Gewalteinsatz gewährleistet werden, wenn Versuche von Seiten der zu Bekehrenden unternommen werden, die auf eine Verhinderung der Bekehrung von Einzelnen abzielen (Vitoria, De indis, S. 475ff.). Hier wird letztlich doch deutlich, wie schnell eine Intervention aus religiösen Motiven vor diesem Hintergrund gerechtfertigt werden könnte, zumal diesbezüglich auf der Ebene der moralischen Rechtfertigung noch ein weiterer Geltungsgrund für eine Intervention ins Spiel gebracht wird. Der Einsatz von Gewalt könnte in solchen Fällen nämlich als gerechtfertigt gelten, „[…] weil das Wohl der Barbaren selbst verhindert wird, das ihre Herrscher berechtigtermaßen nicht verhindern können“ (Vitoria, De indis, S. 477). Es ist also nicht allein die Verletzung des Rechts der Spanier den Glauben zu verkünden, die als Rechtsgrund relevant ist, sondern auch das von ihrer Bekehrung abhängige Wohl der einzelnen „Barbaren“ kommt als moralischer Rechtfertigungsgrund hinzu und wird hier mit einer religiösen Dimension verknüpft. Zudem kommt in diesem Kontext auch die Terminologie von Unrecht und Unterdrückung ins Spiel, wenn Vitoria herausstellt, dass den einzelnen Indios ein Recht zukommt, ihre Religion frei zu wählen, ein Recht, dessen Unterdrückung auch den Einsatz von Gewalt zur Verteidigung fremder Rechte rechtfertigen kann. Hier bildet dann schließlich die Verletzung individueller Rechte der zu Bekehrenden einen gerechten Grund
28 Diese Auffassung ist allerdings aufgrund eines erheblichen Missbrauchspotenzials sehr problematisch.
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für den Einsatz militärischer Gewalt: „Also können die Spanier zu Gunsten derjenigen, die unterdrückt werden und Unrecht leiden, einen Krieg anstrengen, zumal da die Sache von so großer Bedeutung ist“ (Vitoria, De indis, S. 477). In den Ausführungen Vitorias zur Religionsintervention wird nicht gänzlich klar, ob es Vitoria letztlich nicht doch um eine Rechtfertigung solcher Interventionen geht. Seine Behauptung, dass keine grundsätzliche Erlaubnis zur Verbreitung des christlichen Glaubens mit militärischen Mitteln und damit zur Religionsintervention besteht, lässt sich noch am ehesten unter Verweis auf die in diesem Kontext von Vitoria getätigten Ausführungen zum ius in bello stützen. Demnach ist auch der gerechtfertigte Einsatz militärischer Gewalt immer an das Kriterium des rechten Maßes und die Regeln der gerechten Kriegsführung gebunden, woraus sich für die Beurteilung dieser konkreten Fälle deutliche Konsequenzen ergeben, die gegen die Durchführung von Religionsinterventionen sprechen: Und dies, damit man nicht mehr unternimmt, als nötig ist, und beim Handeln lieber auf einen Teil des eigenen Rechts verzichtet, als sich anderes anzumaßen, das nicht erlaubt ist, und dabei immer alles eher nach dem Wohl der Barbaren als nach dem eigenen Gewinn ausrichtet (Vitoria, De indis, S. 477).
Dafür, dass Vitoria nicht einer vorschnellen Apologie militärischer Missionierung das Wort reden möchte, spricht darüber hinaus, dass er ihre Tauglichkeit als Mittel zur Erreichung des Zwecks der Missionierung, wie später Las Casas29, eher skeptisch zu sehen scheint. Mit Blick auf das als legitim verstandene Ziel der Missionierung der Indios muss nämlich zudem die Frage gestellt werden, ob der Einsatz militärischer Gewalt mit Blick auf das Erreichen dieses Zieles das geeignete Mittel darstellt: Nun muß man aber die Aussage des Paulus 1 Kor 6,12 genau bedenken: Alles ist mir erlaubt, aber nicht alles nützt. Denn all das, was gesagt worden ist, ist aus sich selbst heraus verständlich und spricht für sich selbst. Es kann nämlich geschehen, daß die Bekehrung der Barbaren durch solche Kriege, Metzeleien und Beraubungen eher verhindert als erreicht und ausgeweitet wird. Und daher muß man sich in erster Linie davor hüten, eine Anstößigkeit für das Evangelium zu bereiten. Wenn dies nämlich geschähe, müßte man von dieser Methode der Evangeliumsverkündigung Abstand nehmen und eine andere suchen. Aber wir zeigen, daß diese Maßnahmen an sich erlaubt sind. Ich zweifle nicht daran, daß Gewalt und Waffen nötig waren, damit sich Spanier dort behaupten konnten; aber ich fürchte, daß die Sache weiter fortgeschritten ist, als es göttliches und menschliches Recht erlaubt hätten (Vitoria, De indis, S. 477).
29 Vgl. dazu unten, I, 2.3.
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Der Einsatz von Gewalt zum Zwecke der Missionierung kann, wie es hier heißt, zwar „an sich“ gerechtfertigt werden. Eine solche Rechtfertigung muss für den konkreten Fall aber immer um eine Bewertung des tatsächlichen Einsatzes militärischer Gewalt ergänzt werden. Es deutet sich schon hier an, dass dieser grundsätzlich als nicht gerechtfertigt verstanden werden muss, wenn die Durchführung der militärischen Handlungen nicht als gerecht, also den Regeln des ius in bello gemäß, verstanden werden kann.30 Mit Blick auf die Beurteilung der Zulässigkeit von Religionsinterventionen muss hier abschließend vor allem eine Spannung in Vitorias Ausführungen konstatiert werden, die zwischen der moralischen Ablehnung auf der einen und zumindest der Gefahr einer (bei entsprechender Auslegung) doch recht weit reichenden völkerrechtlichen Rechtfertigung auf der anderen Seite besteht. Intervention zum Schutz der Mitglieder eines fremden Gemeinwesens vor tyrannischer Herrschaft. Die Figur der Intervention zum Schutz der Mitglieder eines fremden Gemeinwesens vor tyrannischer Herrschaft, die in De bello schon eine Rolle spielt, wird von Vitoria in De indis erneut aufgegriffen und präzisiert. Im Verhältnis zu den bisher diskutierten Interventionstypen rückt hier die Rolle des Einzelnen, um dessen Wohl es beim Einsatz militärischer Gewalt gehen soll, noch weiter in den Blick. Dabei wird die Tyrannis von Vitoria ausdrücklich als rechtfertigender Grund für den Einsatz militärischer Gewalt angesehen, auch für den konkreten Fall der Eroberungen in der neuen Welt: Ein weiterer Rechtsgrund [für die Anwendung von Gewalt, Anm. S.L.] kann lauten: wegen der Tyrannis, die entweder die Herren bei den Barbaren selbst üben oder wegen tyrannischer Gesetze, die Unschuldigen Unrecht bringen, z.B. weil die Barbaren unschuldige Menschen opfern oder sonst wie Unbescholtene töten, um sich von deren Fleisch zu ernähren. Ich behaupte nämlich: Auch ohne Ermächtigung des Oberpriesters können die Spanier die Barbaren an der Ausübung jedes frevelhaften Brauchs und Ritus’ hindern, weil sie Unschuldige vor einem ungerechten Tode schützen können (Vitoria, De indis, S. 481).
Hinsichtlich der Bestimmung des Tyrannisbegriffes kann davon ausgegangen werden, dass Vitoria, da er ihn nicht anders bestimmt, hier nah an der Auffassung des Aristoteles liegt, an dem er sich insgesamt weitgehend orientiert.31 Dabei lässt sich die Tyrannis als rechtfertigender Grund hier unterscheiden in Tyrannis, die die Herrscher selbst ausüben, und in Tyrannis aufgrund tyranni-
30 In der neueren Diskussion zur Theorie des gerechten Krieges wird dies besonders deutlich von Walzer betont. Vgl. Walzer 2007, S. 225–232. 31 Besonders deutlich sichtbar wird die Orientierung Vitorias an Aristoteles in De potestate civili. Vgl. Vitoria, De potestate civili, S. 125ff.
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scher Gesetze. Qualifiziert werden diese Bestimmungen durch den Zusatz, dass Unschuldigen Unrecht zugefügt wird. Entscheidend ist dabei das Prinzip des Schutzes Unschuldiger vor Unrecht, das hier wieder bemüht und auf die Tyrannis der Herrschaft oder der Gesetze zurückbezogen wird. Auf diese Weise wird hier der gerechte Grund für eine Intervention zum Schutz der Mitglieder eines Gemeinwesens vor tyrannischer Herrschaft oder vor tyrannischen Gesetzen bestimmt, so dass eine Intervention im Falle der Tyrannis mit dem Ziel des Schutzes Unschuldiger vor dem Erleiden von Unrecht gerechtfertigt werden kann. Dabei kann weiterhin auch ein fremder Herrscher als legitime Autorität zur Durchführung einer solchen Schutzintervention gelten. Im hier angeführten Beispiel nennt Vitoria die Spanier, die auch ohne Ermächtigung durch eine religiöse Instanz, den Papst, dazu berechtigt seien, „Unschuldige vor einem ungerechten Tode“ zu schützen. Es lässt sich also auch hier die Vorstellung eines Auftrages der Herrscher, Unrecht auch außerhalb ihres Herrschaftsbereichs abzuwehren, wiederfinden. Dass nun auch die Tyrannis als rechtfertigender Grund für den Einsatz militärischer Gewalt gelten kann, wird unter Rekurs auf das Prinzip der Nothilfe, das an dieser Stelle mit religiösen Argumenten fundiert wird, begründet: Dies wird bewiesen, weil Gott einem jeden einen Auftrag gab, was den eigenen Nächsten betrifft und jene Leute sämtlich Nächste sind. Also kann sie jeder aus einer solchen Gewaltherrschaft und Unterdrückung befreien, und diese Aufgabe kommt in besonderer Weise den Herrschern zu (Vitoria, De indis, S. 481).
Das Prinzip der Nothilfe wird so unter Rekurs auf einen göttlichen Auftrag gerechtfertigt, der weit reicht, wie sich in der Vorstellung des Nächsten zeigt32, denn dieser Schutzauftrag bezieht sich auf alle Menschen und nicht etwa allein auf Mitglieder des eigenen Gemeinwesens oder der eigenen Religionsgemeinschaft. Zudem wird hier auch die Frage nach der legitimen Autorität noch deutlicher beantwortet als an der oben angeführten Stelle. Demnach gilt, dass grundsätzlich ein jeder dazu berechtigt ist, seine Nächsten aus Gewaltherrschaft und Unterdrückung zu befreien. Allerdings sind Herrscher dazu in besonderer Weise beauftragt, wurde ihnen ihre Herrschergewalt doch gerade in Verbindung mit einem solchen Schutzauftrag verliehen.33 In Vitorias weiterer Diskussion dieses Rechtsgrundes folgt schließlich eine weitere Akzentuierung hinsichtlich der Gründe für ein Interventionsrecht, indem
32 Eine Rechtfertigung des Prinzips der Nothilfe, die ohne den Rekurs auf einen göttlichen Auftrag auszukommen versucht, findet sich erst bei Grotius. Vgl. dazu unten, I, 3.3. 33 Vgl. dazu die Bemerkungen zum Herrschaftsverständnis bei Thomas von Aquin, oben, I, 1.
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das Prinzip der Nothilfe an die Begriffe der Rettung und Befreiung gekoppelt wird, wobei auch diese Kriterien aus biblischen Quellen gewonnen werden.34 Allerdings ist dabei nicht in erster Linie die Quelle entscheidend, sondern die Reichweite der Gründe, die über die Gemeinschaft der Christen hinausgeht. Zur Einführung des Prinzips der Rettung beruft sich Vitoria hier auf ein ähnliches Prinzip wie das, auf das sich Thomas von Aquin in seinen Ausführungen zum gerechten Krieg berufen hat: „Die Behauptung wird ferner mit Prov 24,11 bewiesen: Rette die, die man zum Tode führt, und höre nicht auf, die zu befreien, die in den Untergang gezogen werden!“ (Vitoria, De indis, S. 481). Diese Aufforderung zur Nothilfe richtet sich dabei ebenso auf einzelne Fälle wie auf die ritualisierten Praktiken, wie etwa die Tötung Unschuldiger im Rahmen religiöser Zeremonien.35 Sie geht so weit, dass die ‚Rettung‘ notfalls auch gegen den Willen der zu Schützenden erfolgen kann: Und falls die Barbaren dies nicht wollten, könnte man sie aus diesem Grunde mit Krieg überziehen und die Satzungen des Kriegsrechts ihnen gegenüber zur Anwendung bringen (Vitoria, De indis, S. 481).
Auch wenn eine solche Nothilfeaktion als kriegsrechtskonform vorgestellt wird, was bedeutet, dass sie aus Sicht der Theorie des gerechten Krieges hinsichtlich des ius ad bellum als legitim gelten kann, und zugleich auch an die Regeln des ius in bello gebunden ist, erscheint sie aufgrund der Möglichkeit der paternalistischen Motivation in einem hohen Grade problematisch und daher in besonderer Weise rechtfertigungsbedürftig. Deshalb bleibt hier zuletzt die Frage offen, wie begründet werden kann, dass Nothilfeaktionen auch gegen den Willen der zu Schützenden legitim sein können und wie solche Interventionen gegebenenfalls gegen einen ‚ausufernden‘ Paternalismus geschützt werden können. Um einen daraus möglicherweise resultierenden Missbrauch der Rechtfertigungsfigur der Schutzintervention auszuschließen, bedarf es hier einer präzisen Bestimmung des Unrechts, vor dem es zu schützen gilt.36
34 In der gegenwärtigen Diskussion werden Interventionen von Michael Walzer als Rettungsaktionen interpretiert. Vgl. Walzer 2003. 35 „Und dies ist nicht nur für den Fall gemeint, wenn die Betroffenen tatsächlich in den Tod geführt werden, vielmehr können die Spanier die Barbaren auch zwingen, von einem solchen Ritus abzulassen“ (Vitoria, De indis, S. 481). 36 Auch wenn es bei Vitoria an dieser Stelle nun deutlicher erkennbar als in der Beschäftigung mit dieser Rechtfertigungsfigur für Interventionen in De potestate civili um den Schutz der unterdrückten Menschen geht, kann man anhand seiner Ausführungen wohl noch nicht davon sprechen, dass es explizit um eine Intervention zum Schutz vor Verletzung individueller Rechte geht.
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Das Problem des Paternalismus, das besonders an die Vorstellung gekoppelt ist, dass bestimmte Völker in zu geringem Maße dazu in der Lage sind, ein politisches Gemeinwesen zu bilden, ist auch zentral für eine weitere Art von Rechtfertigungsfiguren für Interventionen, in denen die Erlaubnis zu Interventionen unter Verweis auf das Ziel der Herstellung einer zivilisierten politischen Ordnung innerhalb eines fremden Gemeinwesens begründet wird. Interventionen, die durch eine solche Strategie der Rechtfertigung zu legitimieren versucht werden, werden im Folgenden als Zivilisierungsinterventionen bezeichnet. Zivilisierungsinterventionen. Ob eine Intervention zur Etablierung einer bestimmten politischen Ordnung mit Blick auf die konkrete Frage nach den Herrschaftsrechten über die Indios und dem Recht diese Herrschaft durch den Einsatz von Gewalt zu erreichen begründet werden kann, ist eine Frage, die Vitoria vor dem Hintergrund der Diskussion seiner Zeit nicht ausklammern kann.37 Zentral ist hierbei die Frage, wie weit die so genannten Barbaren in der Lage sind, ein geordnetes Gemeinwesen zu errichten oder zu führen, die in der Frage nach der Erlaubnis paternalistischer Nothilfe schon angeklungen ist (vgl. Vitoria, De indis, S. 485ff.). Vitoria reagiert hier auf verschiedene Verwendungen des Begriffs ‚Barbaren‘, die von der Behauptung eines qualitativen Unterschiedes zwischen Barbaren und Nichtbarbaren hinsichtlich ihrer geistigen und sozialen Fähigkeiten bis zu der einfachen Abgrenzung zu Mitgliedern einer anderen Kultur reichten, die im ursprünglichen Sinne des Begriffes, wie er in der Antike verwendet wurde, nicht dieselbe Sprache sprechen.38 Die These, die sich hinter den Argumenten für Zivilisierungsinterventionen verbirgt, ist die, dass in ein Gemeinwesen, das nicht in der Lage ist, sich selbst legitim zu organisieren, unter bestimmten Bedingungen auch militärisch interveniert werden darf, um dort eine ‚zivilisierte‘ Ordnung zu etablieren.39 Nun lehnt Vitoria die Möglichkeit derartiger Interventionen nicht gänzlich ab, sie sind wie Schutzinterventionen auch gegen den Willen Einzelner zumindest prinzipiell rechtfertigbar. Denn wenn es sich so verhielte, dass die Indios nicht in der Lage wären ein politisches Gemeinwesen selbst zu organisieren, dann wäre es nach
37 Ausführlich diskutiert wird diese Frage auch von Sepúlveda, der sie mit Blick auf die Indios bejaht und von Las Casas und Covarrubias, die die gegenteilige Auffassung vertreten. Vgl. dazu unten, I, 2.3 und I, 2.4. 38 Zur Verwendung des Begriffs „Barbaren“ bei Aristoteles vgl. oben, I, 1. 39 Hier gibt es gewisse Parallelen zur gegenwärtigen Debatte über failed states, aber auch einige grundlegende Unterschiede, da es dort in erster Linie um die Wiederherstellung von Staatlichkeit insgesamt geht. Außerdem bestehen einige Parallelen zur Diskussion über Interventionen, die das Ziel der Demokratisierung bzw. eines Regimewechsels verfolgen.
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Auffassung Vitorias erlaubt und angemessen die Leitung ihrer Gemeinschaft zu ihrem Nutzen zu übernehmen (vgl. Vitoria, De indis, S. 485f.). Zivilisierungsinterventionen werden von Vitoria also für grundsätzlich rechtfertigbar gehalten und eine Rechtfertigung dafür könnte sich nach seiner Auffassung wiederum auf das christliche Gebot der Nächstenliebe stützen (vgl. Vitoria, De indis, S. 487). Menschen, die in solcher Weise als unfähig zur Organisation eines Gemeinwesens angesehen werden, gelten nach der aristotelischen Theorie, an die Vitoria und viele seiner Zeitgenossen anknüpfen, als ‚Sklaven von Natur‘, was in dem Sinne verstanden wird, dass sie nicht zur Selbstregierung in der Lage sind und deshalb zu ihrem eigenen Wohl beherrscht werden dürfen oder sogar müssen und dass ein Krieg gegen sie mit dem Ziel, sie unter Herrschaft zu bringen, nach dem Naturrecht als gerecht angesehen wird (vgl. Aristoteles, Politik, I, 8 (1256b)). So stellt sich, wenn man diese Prämissen vorerst akzeptiert, um das Argument zu untersuchen, für Vitoria die Frage danach, ob die Indios als Sklaven von Natur angesehen werden müssen (vgl. Vitoria, De indis, S. 487). Diese Frage wird von Vitoria, wie es sich zuvor in der Diskussion der Frage, ob die Indios legitime Herrscher sein können, schon zeigt, negativ beantwortet (vgl. Vitoria, De indis, S. 485ff.). Die Indios können nicht als Barbaren in diesem Sinne gelten, vielmehr sind sie nach Auffassung Vitorias durchaus in der Lage ihr Gemeinwesen legitim zu organisieren, weshalb ihre Herrscher als rechtmäßige Herrscher angesehen werden können, woraus folgt, dass ihre Gemeinwesen legitimer Weise über ein Recht zur Selbstbestimmung verfügen. Die Zivilisierung der Indios kann damit, auch wenn Interventionen nach Auffassung Vitorias prinzipiell mit diesem Argument gerechtfertigt werden können, keinen Rechtsgrund für die spanischen Eroberungen darstellen. Interventionen zum Schutz vor Verletzung individueller Rechte. Wie steht es aber in Vitorias Konzeption nun mit dem Schutz vor Verletzung individueller Rechte durch den Einsatz militärischer Gewalt von außen? In der Rechtfertigung einer Intervention zum Schutz der Mitglieder eines Gemeinwesens vor tyrannischer Herrschaft deutet sich die individuelle Schutzdimension einer möglichen Intervention bereits an. Doch von individuellen Rechten, die es zu schützen oder zu verteidigen gilt, ist dort noch nicht hinreichend deutlich die Rede. Kurz deutete sich die Rolle individueller Rechte bislang allein im Kontext der Diskussion der Religionsintervention an, wenn auf die Verteidigung der Rechte des Einzelnen zum Christentum überzutreten Bezug genommen wurde. Deshalb werden im Folgenden nun die Passagen in Vitorias Vorlesung in den Blick genommen, in denen der Schutz individueller Rechte als der entscheidende Grund, der eine Intervention von außen rechtfertigen kann, herausgestellt wird. In dieser Auseinandersetzung Vitorias mit dem Rechtsgrund der Verteidigung und des Schutzes individueller Rechte wird dabei zugleich deutlich, warum die
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anderen Interventionsargumente, die von ihm zurückgewiesen wurden, als Rechtfertigungen von Schutzinterventionen nicht überzeugen. Die zentralen Textstellen, an denen die Interventionsfrage vor dem Hintergrund der Berücksichtigung individueller Rechte diskutiert wird, finden sich im Text der Vorlesung De indis erst im zweiten Teil im Kontext der Diskussion der Frage, „[w]elche Befugnisse die Herrscher gegenüber den Barbaren in zeitlichen und politischen Angelegenheiten haben“ (Vitoria, De indis, S. 489). Hier rückt nun also auch die Frage nach der tatsächlichen Legitimität der spanischen Eroberungen ausdrücklich in den Fokus. Die Standardbeispiele in der Diskussion jener Zeit, an denen die Frage nach der Berechtigung eines Eingreifens von außen unter Einbeziehung der Dimension der Grausamkeiten, die einzelne Menschen zu erleiden haben, und der Verletzung ihrer Rechte diskutiert wird, sind Menschenopfer und Kannibalismus, bezüglich derer Vitoria die folgende Frage aufwirft: Können die christlichen Herrscher wegen der gottlosen Sitte, Menschenfleisch zu essen oder Menschenopfer bei Opfern zu verwenden […] kraft ihrer Autorität und aufgrund dieses Umstandes die Barbaren mit Krieg überziehen? Inwiefern ist dies erlaubt, auch wenn christliche Herrscher es nicht kraft ihrer Autorität können? Oder können sie es aufgrund eines Befehls und Auftrags des höchsten Priesters? (Vitoria, De indis, S. 489)
Zuerst werden von Vitoria in der Auseinandersetzung mit diesen Fragen verschiedene Positionen, die man zu ihrer Beantwortung einnehmen könnte, referiert. Dabei geht es um das Problem, dass es sich bei den Barbaren nicht um Gläubige handelt und dass sie folglich nicht nach Maßstäben, an denen die Gläubigen gemessen werden, verurteilt werden können, weil sie die Falschheit ihres Handelns in gewisser Hinsicht nicht einsehen können: Die Begründung lautet: Weil sie nicht eindeutig davon überzeugt werden können, daß sie schlecht handeln, und folglich mit menschlichem Urteil nicht gerichtet werden können. Und weil niemand bestraft werden kann, ohne verurteilt worden zu sein, können die Betreffenden aus dem besagten Grunde nicht mit Krieg oder einer anderen Verfolgung gezüchtigt werden, damit sie von solchen Sünden ablassen (Vitoria, De indis, S. 489).
Gezwungen oder bestraft werden kann jemand nämlich nur durch eine Person, die Vollmacht über ihn hat (vgl. Vitoria, De indis, S. 489). Daraus ergibt sich, dass die christlichen Herrscher die Indios, denen diese Handlungen vorgeworfen werden, nicht aufgrund ihrer Autorität bestrafen dürfen und sie dürfen auch nicht durch geistliche Gewalt zur Aufgabe derartiger Praktiken gezwungen werden, auch, wenn diese Verletzungen des Naturrechts darstellen (vgl. Vitoria, De indis, S. 489ff.). Wer kann aber dann als legitime Autorität für den Einsatz militärischer Gewalt zum Schutz der Mitglieder eines fremden Gemeinwesens gelten? Gezeigt
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wurde bisher, dass fremden Herrschern keine Strafgewalt bei Naturrechtsverletzungen innerhalb eines fremden Gemeinwesens zukommt (vgl. Vitoria, De indis, S. 499ff.). Doch es ist schließlich ein anderer Grund, der an den Beispielen von Menschenopfern und Kannibalismus illustriert wird, der allein den Einsatz militärischer Gewalt in solchen Fällen rechtfertigen kann, denn Vitoria hält es grundsätzlich durchaus für legitimierbar, dass die christlichen Herrscher „Barbaren mit Krieg überziehen, weil diese Menschenfleisch essen und Menschen opfern“ (Vitoria, De indis, S. 503). Auch wenn fremde Herrscher keine Strafgewalt über die Indios haben, haben sie offensichtlich eine Schutzgewalt, die ihnen unter bestimmten Bedingungen ein Eingreifen von außen erlauben kann. Was aber ist die Begründung, die hierfür ins Feld geführt wird? In den nun folgenden Textstellen aus De indis werden verschiedene Prinzipien und Kriterien, die Vitoria zur Beurteilung dieses Falles dienen, freigelegt und diskutiert: Der Schluß wird bewiesen. Erstens: Wenn Barbaren Unschuldige essen oder opfern, weil sie [auswärtige Herrscher, Anm. S.L.] die Betroffenen aus einem Unrecht befreien können, gemäß jenem Wort: Rette die, die man zum Tode führt usw. (Prov 24,11). Dies wird bekräftigt: Die Betroffenen selbst können sich schützen. Also können die Herrscher sie schützen. Und es gilt nicht zu sagen, die Betroffenen wünschten oder wollten diese Hilfe nicht. Denn es ist erlaubt, einen Unschuldigen zu schützen, auch wenn er dies selbst nicht wünscht, ja auch wenn er sich dagegen ausspricht – vor allem, wenn er Unrecht leidet, in dem er sein Recht nicht abtreten kann. So ist es im vorliegenden Fall. Jemand kann nämlich nicht einem Menschen das Recht geben, die eigene Person zu töten – sei es um gegessen, sei es um geopfert zu werden (Vitoria, De indis, S. 503).
Zuerst greift Vitoria an dieser Stelle erneut unter Rekurs auf die biblische Autorität auf ein Prinzip des Schutzes Unschuldiger vor Unrecht zurück, das als ein Prinzip der Rettung verstanden wird. Die Berechtigung zum Schutz wird dabei durch einen Verweis auf das Recht der Betroffenen sich selbst zu schützen bekräftigt. In einem gewissen Sinne wird das Recht zur Verteidigung und zum Schutz Unschuldiger hier aus dem Prinzip des Rechtes zur Selbstverteidigung abgeleitet. In Fällen erlaubter Selbstverteidigung ist es offensichtlich auch legitim dem Bedrohten zur Hilfe zu kommen und ihn bei seiner Verteidigung zu unterstützen beziehungsweise die Verteidigung ganz zu übernehmen. Gerade Herrschern, die ja einen besonderen Schutzauftrag haben, kommt ein Recht und eine Auftrag zu, Unschuldige auf diese Weise zu schützen. Bis hierher folgt die Begründung im Wesentlichen dem Muster, das oben im Rahmen der Diskussion der Frage nach der Berechtigung einer Intervention zum Schutz der Mitglieder eines Gemeinwesens vor tyrannischer Herrschaft vorgestellt wurde. Dabei kommt auch hier die problematische Auffassung ins Spiel, dass eine solche Form der Rettung oder Nothilfe auch als gegen den Wil-
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len der Betroffenen legitimierbar und durchführbar vorgestellt wird. Mit Blick auf diese paternalistische Berechtigung zum Schutz Unschuldiger gegen ihren Willen kommt nun aber eine entscheidende Qualifikation ins Spiel, durch die sich erklären lässt, warum Individuen nach Auffassung Vitorias unter bestimmten Bedingungen auch gegen ihren Willen geschützt werden dürfen. Es geht nämlich in der Erläuterung dieses Falles um das Erleiden von Unrecht, in dem jemand „sein Recht nicht abtreten kann“. In solchen Fällen liegt ein, wie es scheint, stärkerer Grund für die Berechtigung eines gewissen Paternalismus vor. Die Vorstellung, die hier zugrunde liegt, ist, dass niemand das Recht über das eigene Leben zu verfügen abtreten kann, etwa in dem Sinne, dass man jemandem das Recht gibt, „die eigene Person zu töten“.40 Damit wird hier deutlich ein menschenrechtliches Moment in der Theorie Vitorias sichtbar. Zumindest das Recht auf Leben wird als ein Recht verstanden, das dem Menschen aufgrund seines Menschseins zukommt und nicht veräußerlich ist. Deshalb stellt die Tötung eines Menschen immer einen Fall dar, der einer besonderen Rechtfertigung bedarf, die sich hier in der Qualifikation seines Status als unschuldig oder schuldig andeutet. Bei der Ablehnung einer Berechtigung zur Tötung Unschuldiger kommt nun deren Wille, obwohl er im Extremfall übergangen werden darf, als normative Größe doch ins Spiel. Es verhält sich nämlich nicht allein so, dass das Recht auf Leben nicht abgetreten werden darf, es wird in den genannten Fällen von Menschenopfern und Kannibalismus nach Vitorias Auffassung auch gegen den Willen der Betroffenen verletzt, woraus sich ein weiterer Grund zu ihrer Verteidigung ergibt. Denn es ist für Vitoria „sicher, daß solche Leute meistens gegen ihren Willen getötet werden, z.B. Kinder. Also ist es erlaubt, sie zu verteidigen“ (Vitoria, De indis, S. 503). Entscheidend für die Rechtfertigung des Einsatzes von Gewalt ist hierbei, dass es um Unrecht geht, das Menschen als Personen zugefügt wird. Es mag sich dabei auch um Verletzungen des natürlichen Rechts handeln, aber dies stellt nicht den Rechtsgrund für den Einsatz militärischer Gewalt dar: Da es also zutrifft, daß solche Barbaren unschuldige Menschen töten, zumindest um sie zu opfern, können Herrscher sie mit Krieg verfolgen, damit sie von diesem Brauch ablassen. Gesetzt den Fall, diese Barbaren opferten unschuldige Menschen, um deren Fleisch zu essen. Den Betroffenen geschähe immer noch ein Unrecht. Es gibt nämlich ein Völkerrecht, ja ein Naturrecht, dem zufolge die Körper Verstorbener von diesem Unrecht frei sind. Daher ist die Begründung, weshalb die Barbaren bekriegt werden können, nicht, daß der Genuß von Menschenfleisch und Menschenopfer gegen das Gesetz der Natur sind, sondern daß die Barbaren Menschen Unrecht zufügen (Vitoria, De indis, S. 503).
40 In ähnlicher Weise versteht auch Locke die Menschenrechte später als unveräußerlich. Vgl. dazu unten, I, 4.
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Hier wird nun explizit herausgestellt, dass der entscheidende Grund für die Rechtfertigung des Einsatzes militärischer Gewalt in diesem Falle ist, dass Menschen Unrecht zugefügt wird. Dieses Unrecht kann sowohl in der ungerechtfertigten Tötung als auch in einer Verletzung ihrer Rechte am eigenen Körper nach ihrem Tod bestehen. Die Verletzung der Rechte Einzelner stellt so einen rechtfertigenden Grund für den Einsatz militärischer Gewalt dar. Hier liegt – wenn auch noch nicht weitergehend differenziert – in der Kombination eines sich gerade herausbildenden Menschenrechtsverständnis und der Erklärung des Rechtsgrundes der Verletzung individueller Rechte eine erste Formulierung eines Prinzips der militärischen Intervention zum Schutz vor Verletzung individueller Rechte vor. Der Schutz Unschuldiger vor Verletzung ihrer Rechte stellt gemäß dieser Argumentation einen gerechten Grund für den Einsatz militärischer Gewalt gegen einen fremden Herrscher dar, woraus sich hier eine entscheidende Erweiterung für die Theorie des gerechten Krieges ergibt. Der Schutz von Menschen vor Verletzung individueller Rechte stellt demnach einen gerechten Grund für den Einsatz militärischer Gewalt dar und zwar auch dann, wenn diese Menschen Mitglieder eines fremden Gemeinwesens sind. Die Verletzung individueller Rechte kann demgemäß mit Blick auf das ius ad bellum als causa iusta gelten. Konsequenzen für die Theorie des gerechten Krieges und für die Beurteilung der spanischen Eroberungen. Hiermit beansprucht Vitoria tatsächlich einen Rechtsgrund gefunden zu haben, der als angemessen gelten kann zu erklären und zu rechtfertigen, warum die Indios rechtmäßiger Weise unter die Herrschaft der Spanier gekommen sind. Ob diese Einschätzung für den konkreten Fall der spanischen Eroberungen zutreffend ist, kann und soll hier nicht beurteilt werden. Hervorzuheben sind aber die weitreichenden Konsequenzen, die sich aus der Bestimmung dieses Rechtsgrundes des Schutzes individueller Rechte insgesamt für die Beurteilung der spanischen Eroberungen und damit auch für Einmischungen in fremde Gemeinwesen im Allgemeinen ergeben. Denn Vitoria unterstreicht ausdrücklich, dass mit Blick auf den Fall der Indios allein dieser Grund den Einsatz militärischer Gewalt gegen sie und gegen ihre Herrscher legitimieren kann: Wenn die Barbaren allein auf dieser Rechtsgrundlage mit Krieg überzogen werden, ist es, falls dieser Grund [also der Schutz Unschuldiger vor Verletzung individueller Rechte, Anm. S.L.] wegfällt, nicht erlaubt, weitergehende Maßnahmen zu ergreifen und bei dieser Gelegenheit die Güter oder Gebiete der Barbaren zu besetzen (Vitoria, De indis, S. 505).
Auch wenn es Vitoria an dieser Stelle noch nicht ausdrücklich ausspricht, muss man wohl ergänzen, dass gegen die hier als Barbaren bezeichneten Indios deshalb allein auf dieser Rechtsgrundlage militärische Gewalt eingesetzt werden darf, weil die klassischen rechtfertigenden Gründe für den Einsatz militärischer
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Gewalt, wie die Selbstverteidigung bei Bedrohung von außen oder die Verteidigung heimischer Rechtsansprüche, gegen diese nicht geltend gemacht werden können. Auch wenn die Diskussion der verschiedenen Interventionsargumente weitgehend in den Bereich des ius ad bellum fällt, ist es für Vitoria ganz offensichtlich, dass für den gerechtfertigten Einsatz militärischer Gewalt auch die Regeln des ius in bello gelten müssen. Dabei ist, wie folgendes Zitat zeigt, das Prinzip der Verhältnismäßigkeit des Einsatzes militärischer Gewalt zentral, das sowohl auf der Ebene des ius ad bellum als auch auf der des ius in bello eine wichtige Rolle spielt. Auch, wenn der Einsatz militärischer Gewalt mit Blick auf die Bedingungen des ius ad bellum gerecht ist, kann nach Vitorias Auffassung derjenige, der den Krieg anfängt, deswegen die Feinde nicht nach seinem Gutdünken von ihren Herrschaften vertreiben und ihres Eigentums berauben, sondern nur in dem Maße, wie es zur Vermeidung von Unrecht und für die künftige Sicherheit erforderlich ist (Vitoria, De indis, S. 505).41
Neben dem Prinzip der Verhältnismäßigkeit und dem schon zuvor angeführten Grund der Vermeidung von Unrecht kommt hier der Aspekt der zukünftigen Sicherheit als rechtfertigender Grund ins Spiel. Hinsichtlich der Regeln der Verhältnismäßigkeit im aus Sicht des ius ad bellum gerechtfertigten Krieg gilt, dass die Rechtsregeln als solche unabhängig von der Religionszugehörigkeit gleichermaßen für Christen und ‚Ungläubige‘ gelten: hier kommt niemandem ein Sonderstatus zu.42 Zudem ergeben sich hinsichtlich der möglicherweise rechtmäßigen Herrschaft über Ungläubige, die Vitoria den Spaniern ja zuspricht, auch Grenzen der Handlungsbefugnisse sowie Verpflichtungen für die Herrscher, in denen sich Bestimmungen, die dem Bereich des ius post bellum zugeordnet werden könnten, erkennen lassen.43 So ist als negative Bedingung nicht nur eine Ausbeutung der
41 Dass dazu ausgerechnet die Einsetzung christlicher Herrscher vorgeschlagen wird, ist den konkreten historischen Umständen geschuldet, ergibt sich aber nicht aus Vitorias systematischen Argumenten: „Wenn nur durch die Einsetzung von christlichen Herrschern eine Grundlage für die Sicherheit gewonnen werden kann, dann wird diese Maßnahme folglich erlaubt sein, soweit es für diesen Zweck notwendig ist“ (Vitoria, De Indis, S. 505). 42 „Auf welcher Rechtsgrundlage auch immer man zum Krieg gegen die Barbaren schreitet, es ist nicht erlaubt, Maßnahmen zu ergreifen, die über die Maßnahmen hinausgehen, die man ergriffe, wenn ein Krieg gegen Christen unternommen werden würde. Dieser Schluß ist offenkundig, weil die Gerechtigkeit des Krieges nicht von daher kommt, daß die Betreffenden ungläubig sind, wie oben verdeutlicht wurde. Dies geht auch aus dem heiligen Thomas hervor (II-II, q.10, a.8)“ (Vitoria, De indis, S. 505f). 43 Vitoria selbst verwendet die Bezeichnung ius post bellum noch nicht.
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Ressourcen der Ungläubigen verboten, sondern es werden auch positive Bedingungen formuliert, wie die, dass die Herrscher über die Ungläubigen diesen gute Gesetze und Beamte, die deren Einhaltung überwachen, geben müssen (vgl. Vitoria, De indis, S. 507ff.). So zeigt sich auch mit Blick auf diese Bestimmungen eines ius post bellum, dass das Verständnis legitimer Herrschaft immer an die Vorstellung einer Verpflichtung des Herrschers gegenüber den Beherrschten gebunden ist: Es reicht nicht aus, wenn der Herrscher den Barbaren gute Gesetze gibt, vielmehr ist er dazu verpflichtet, Beamte einzusetzen, die für deren Befolgung sorgen. Und solange man dorthin nicht gelangt ist, bleibt der König nicht frei von Schuld bzw. vielmehr diejenigen Personen, nach deren Ratschluß die Angelegenheiten verwaltet werden. Und schließlich könnten die Barbaren dem christlichen Herrscher etwas Ähnliches sagen wie die Skythen Alexander sagten: „Wenn du nicht unser König bist, wer hat dich zum Richter über uns eingesetzt? Wenn du aber unser König bist, musst du deinen Untertanen Gaben zukommen lassen und nicht ihr Eigentum wegnehmen“ (Vitoria, De indis, S. 509).
Neben diesen Überlegungen zu ius in bello und ius post bellum, die Vitoria direkt mit Blick auf die spanischen Eroberungen in De indis anstellt, finden sich grundsätzlichere Überlegungen zum ius in bello in der zweiten Vorlesung unter dem Titel De bello, die sich hinsichtlich der Kriterien des gerechtfertigten Krieges mit denen, die in De indis formuliert werden, decken (vgl. dazu bes. Vitoria, De jure belli, S. 579).44 Dabei richtet Vitoria ein stärkeres Augenmerk auf ein Kriterium für die Legitimität des Einsatzes militärischer Gewalt, das für die Diskussion über die Rechtfertigung von Interventionen zum Schutz Dritter ganz zentral ist – das Prinzip des Doppeleffektes (dazu Vitoria, De jure belli, S. 581ff.).45 Offensichtlich ist für Vitoria wie auch für alle anderen Vertreter einer Theorie des gerechten Krieges, dass Unschuldige nicht absichtlich getötet werden dürfen.46 Um zu erklären, wie im Rahmen des Einsatzes militärischer Gewalt aber zumindest die unbeabsichtigte Schädigung und Tötung Unschuldiger gerechtfertigt werden kann, beruft sich Vitoria auf das Prinzip der Doppelwirkung.47 Gemäß diesem Prinzip können negative Folgewirkungen des Einsatzes militärischer Gewalt dann als moralisch akzeptabel gelten, wenn Sie unbeabsichtigt und zum Erreichen des
44 Zu einer detaillierten Darstellung der Kriterien des ius in bello bei Vitoria siehe Horvath 2004 und Justenhoven 1991. 45 Vgl. unten, II, 3.1. 46 „Der erste Satz zu diesem Zweifel lautet aber: Es ist niemals erlaubt, an sich und (zwar) beabsichtigt einen Unschuldigen zu töten“ (Vitoria, De jure belli, S. 583). 47 Zur kritischen Diskussion des Prinzips der Doppelwirkung vgl. unten, II, 3.1.
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legitimen Zweckes unvermeidbar sind.48 Ohne dieses Prinzip der Doppelwirkung wäre nach Auffassung Vitorias nicht zu erklären, wie ein Krieg überhaupt gerechterweise geführt werden kann,49 wobei die Notwendigkeit überhaupt Kriege zu führen hier unter Verweis auf die Notwendigkeit des Krieges als Rechtsgang begründet wird – die Schuldigen könnten sonst nicht zur Rechenschaft gezogen werden. Hierin zeigt sich vor allem wieder die Vorstellung der Notwendigkeit der Bestrafung von Unrecht zur Gewährleistung einer insgesamt friedlichen und stabilen Rechtsordnung. Doch auch mit Blick auf das Prinzip des Doppeleffektes gelten Kriterien des rechten Maßes, was hier auch pragmatisch gerechtfertigt wird: Man muß verhindern, daß aus einem Krieg größere Übel erwachsen als durch eben diesen Krieg vermieden werden sollen. Wenn das Niederkämpfen einer Burg oder Stadt, in der eine feindliche Besatzung liegt und in der sich viele Unschuldige aufhalten, nämlich kaum etwas zum Sieg beiträgt, dann scheint es nicht erlaubt zu sein, zur Niederkämpfung weniger Schuldiger viele Unschuldige durch Legen von Feuer oder den Einsatz von Kriegsmaschinen zu töten, durch die die Unschuldigen zusammen mit den Schuldigen vernichtet werden. Und schließlich scheint es niemals erlaubt zu sein, Unschuldige zu vernichten, auch nicht akzidentiell oder unabsichtlich, außer wenn es für einen gerechten Krieg vorteilhaft ist und dieser Krieg sich nicht anders führen läßt, gemäß jenem Wort Mt 13,29f.: Laßt das Unkraut wachsen, damit ihr nicht zugleich auch den Weizen ausrauft! (Vitoria, De jure belli, S. 583f.)
Dieses Prinzip ist dabei aber gerade mit Blick auf den Einsatz militärischer Gewalt zum Schutz von Individuen vor Verletzung ihrer Rechte problematisch, da es die Verletzung und Tötung von Individuen zulässt, so dass eine Spannung zwischen dem zu erreichenden Zweck und den zu diesem Zweck in Kauf genommenen Folgen auftritt. Deshalb stellt sich die Frage, ob es bei Vitoria über das Prinzip der
48 Erläutert wird dieses Prinzip von Vitoria am Beispiel der Eroberung einer Burg: „Es ist aber in manchen Fällen erlaubt, akzidentiell auch wissentlich Unschuldige zu töten, z.B. wenn eine Burg oder eine Stadt gerechtermaßen bestürmt wird, in der sich aber, wie feststeht, viele Unschuldige aufhalten, und Kriegsmaschinen oder anderes Geschütz nicht abgeschossen oder die Gebäude nicht in Brand gesteckt werden könnten, ohne daß auch Unschuldige wie Schuldige vernichtet werden würden. Der Satz wird bewiesen, weil man sonst gegen die Schuldigen nicht Krieg führen könnte und das Recht der Kriegführenden zunichte gemacht werden würde, so wie es, umgekehrt, erlaubt ist, Kriegsmaschinen und anderes Geschütz gegen die Belagerer und das feindliche Lager einzusetzen, wenn eine Stadt zu Unrecht bestürmt und zu Recht verteidigt wird und man voraussetzt, daß sich unter den Feinden einige Kinder und Unschuldige befinden“ (Vitoria, De jure belli, S. 583). 49 Dies wird auch heute noch von den meisten Pazifisten als ein entscheidender Grund dafür angeführt, dass der Einsatz militärischer Gewalt nicht gerechtfertigt werden kann. Vgl. unten, II, 3.1.
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Doppelwirkung hinaus weitere Quellen für die Begründung der Erlaubnis des Einsatzes militärischer Gewalt gibt, die vorgebracht werden, um zu zeigen, warum die Schädigung Unschuldiger nicht als letztes Kriterium zu Beurteilung des Einsatzes militärischer Gewalt gilt. Diesbezüglich deutet sich bei Vitoria zumindest ein Argument an, das an dieser Stelle ein weiteres zu schützendes Gut hervorhebt, auf das zur Begründung dafür, dass die Schädigung Unschuldiger in Kauf genommen werden darf, verwiesen werden könnte. Denn Vitoria geht davon aus, dass neben dem Schutz von Individuen – auch vor Verletzung ihrer Rechte – auch der Bestand einer Rechtsordnung überhaupt als Voraussetzung für die Realisierung von Gerechtigkeit einen besonderen Wert hat, den es ebenfalls zu schützen gilt. In der Auseinandersetzung mit der Frage, ob es Christen überhaupt erlaubt ist, Kriege zu führen, führt Vitoria in De jure belli einen Gedanken aus, der diesbezüglich mit Blick auf die Interventionsfrage interessant ist. Dabei ist nicht, wie in De indis, primär vom Schutz individueller Rechte die Rede, vielmehr ist Vitoria hier nah an der traditionellen Auffassung, dass die Aufgabe von Herrschern in der Realisierung einer gerechten Ordnung überhaupt besteht, wie sie sich auch bei Augustinus und Thomas von Aquin andeutet. So stellt Vitoria in der Auseinandersetzung mit der Frage danach, ob es Christen erlaubt sein kann, Krieg zu führen, heraus, dass zur Beantwortung dieser Frage auch die Dimension des Wohles „der ganzen Welt“ berücksichtigt werden muss. Es ergibt sich ein Beweis (dafür, dass Christen Krieg führen dürfen, Anm. S.L.) aus dem Zweck und dem Wohl der ganzen Welt. Die Welt könnte nämlich überhaupt nicht in einem gedeihlichen Zustand leben, ja es herrschten überall die schlimmsten Zustände, falls Gewaltherrscher, Wegelagerer und Räuber straflos Unrecht begehen, die Guten und Unschuldigen bedrücken könnten und diese Unschuldigen ihrerseits die Schuldigen nicht verfolgen dürften (Vitoria, De jure belli, S. 549).
Der Wert einer gewissen grundlegenden ‚Rechtssicherheit‘, der später in der neuzeitlichen politischen Philosophie mit Blick auf den einzelnen Staat vor allem in der Forderung den Naturzustand zu verlassen ausgedrückt wurde, wird hier in einer anderen Perspektive formuliert. Dabei wird der Einsatz militärischer Gewalt als Mittel verstanden, diese Rechtssicherheit herzustellen – eine stabile Rechtssicherheit setzt gewissermaßen die Bestrafung von Unrecht voraus. Diese Berechtigung zur Bestrafung von Unrecht wird von Vitoria ausdrücklich nicht nur für Herrscher gegenüber ihren Untertanen, sondern auch gegenüber unrecht Handelnden, die nicht Mitglieder des eigenen Gemeinwesens sind, formuliert.50
50 „[Es] ist zu bemerken, daß ein Herrscher nicht nur die Vollmacht über seine Bürger, sondern auch über Fremde hat, die er züchtigen kann, damit sie von Unrechtstaten Abstand nehmen, und
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Problematisch an dieser Auffassung ist, dass sie ein erhebliches Potential zum Missbrauch militärischer Gewalt birgt. Zugleich macht sie aber auch deutlich, dass die Realisierung einer gerechten Ordnung über die Grenzen des einzelnen Staates hinaus im Nachdenken über den gerechten Krieg in jener Zeit von besonderer Bedeutung ist. Zwar wird von Vitoria nicht explizit behauptet, dass die Realisierung dieses Ziels auch einen Grund für die Erlaubnis der Schädigung Unschuldiger in einem aus Sicht des ius ad bellum gerechten Krieg darstellt, aber man muss diese Funktion des Einsatzes militärischer Gewalt zur Realisierung eines als besonders wertvoll beschriebenen Zustandes bei einer Beurteilung der Probleme, die sich hinsichtlich einer Berufung auf das Prinzip der Doppelwirkung ergeben, zumindest als Gegenstand der Abwägung berücksichtigen. Nimmt man vor dem Hintergrund der gesamten hier diskutierten Überlegungen Vitorias erneut den gegen ihn erhobenen Vorwurf der Apologie spanischer Expansionsinteressen in den Blick, wird deutlich, dass eine Rezeption Vitorias, die seine vor dem Hintergrund der Entdeckung der Neuen Welt artikulierten Überlegungen zur Rechtfertigung des Einsatzes militärischer Gewalt als allein apologetisch liest, als verkürzt gelten muss. Vielmehr wird in Vitorias Auseinandersetzung mit diesem Problem, obwohl es ihm auch darum geht zu zeigen, dass die spanischen Eroberungen zum Teil als gerechtfertigt gelten können, auch und gerade das kritische Potential einer Theorie des gerechten Krieges deutlich, das er immer wieder nachdrücklich betont.51 Dabei spielt die Beschäftigung mit ver-
dies kraft des Völkerrechts und mit Ermächtigung der ganzen Welt. Ja, es scheint, daß ein Herrscher diese Vollmacht sogar kraft des natürlichen Rechts hat; denn die Welt könnte offenbar nicht bestehen, wenn bei einigen nicht die Macht und Vollmacht läge, die Schlechten abzuschrecken, damit diese den Guten nicht schaden. Das jedoch, was zur Leitung und Bewahrung der Welt erforderlich ist, hat seine Grundlage vom natürlichen Recht. Auf keinem anderen Wege kann bewiesen werden, daß das Gemeinwesen kraft des natürlichen Rechts über die Vollmacht verfügt, diejenigen Bürger mit dem Tode zu bestrafen oder mit anderen Strafen zu belegen, die für das Gemeinwesen schädlich sind. Wenn das Gemeinwesen nun mit seinen Bürgern so verfahren kann, kann zweifellos die Welt mit allen schädlichen Menschen so verfahren, und dies nur über die Herrscher“ (Vitoria, De jure belli, S. 565). 51 Mit einer sehr prägnanten Fassung dieses Verständnisses schließt Vitoria die Vorlesung De jure belli ab: „Auf der Grundlage all dieser Ausführungen lassen sich einige Regeln und Richtlinien für die Kriegsführung entwickeln. Die erste Regel lautet: Angenommen, daß Herrscher die Vollmacht zum Führen eines Krieges haben. Ihre allererste Pflicht besteht nicht darin, nach Möglichkeiten und Gründen für einen Krieg zu suchen, vielmehr müssen sie danach streben, mit allen, wenn möglich, Frieden zu halten. Dies hat Paulus in Röm 12,18 geboten. Man muß sich daran erinnern, daß die anderen Mitmenschen sind, die wir wie uns selbst zu lieben verpflichtet sind, und daß wir alle einen gemeinsamen Herrn haben, vor dessen Richterstuhl wir alle über unsere Taten Rechenschaft ablegen müssen. Es ist nämlich ein Zeichen schlimmer Rohheit, nach Gründen zu suchen und sich dann darüber zu freuen, daß es Gründe für die Tötung und Verfol-
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schiedenen Typen von Interventionsargumenten eine entscheidende Rolle, wobei Vitoria schließlich herausstellt, dass mit Blick auf das Problem der Eroberungen in der Neuen Welt allein das Unrecht, das Unschuldigen als Individuen zugefügt wird, einen gerechten Grund für den Einsatz militärischer Gewalt darstellt. Die Verschiedenheit der Religionszugehörigkeit dagegen kann keinen gerechten Grund für den Einsatz militärischer Gewalt darstellen. Vitoria geht hier, wie vor allem in De potestate civili deutlich wird, davon aus, dass jedes politische Gemeinwesen grundsätzlich über ein Recht zur Selbstbestimmung verfügt, was etwa Einmischungen von außen zur gewaltsamen Verbreitung der ‚wahren‘ Religion verbietet. Zwar hält es Vitoria grundsätzlich für rechtfertigbar ein fremdes Gemeinwesen zum Wohl seiner Mitglieder notfalls auch gewaltsam zu ‚zivilisieren‘, um dort eine politische Ordnung zu etablieren, wenn die Menschen dazu selbst nicht in der Lage sind, doch für den konkreten Fall der Indios weist er diese Rechtfertigungsfigur unter Betonung ihrer Fähigkeiten zur politischen Organisation und Selbstbestimmung nachdrücklich zurück. Dass Unrecht, das Einzelnen geschieht, letztlich einen gerechten Grund für den Einsatz militärischer Gewalt darstellt, zeigt Vitoria in Auseinandersetzung mit der Tyrannislehre, indem er das Recht fremder Herrscher zur Intervention herausstellt, um Personen, die unschuldig Unrecht leiden, vor tyrannischer Herrschaft zu schützen. Herrscher fremder Gemeinwesen können in solchen Fällen sozusagen stellvertretend Widerstand gegen einen Tyrannen leisten. Auch, wenn Vitoria herausstellt, dass die Verletzung der Rechte von Menschen einen legitimen Grund für den Einsatz militärischer Gewalt darstellen kann, bleibt in seinen Ausführungen noch weitgehend unbestimmt, welcher Art derartige Rechtsverletzungen sein müssen, damit der Fall einer gerechten Intervention präzise bestimmt werden kann. Besonders deutlich wird in Vitorias Ausführungen zudem,
gung von Menschen gibt, die Gott schuf und für die Christus starb. Man muß sich vielmehr nur gezwungenermaßen und unfreiwillig in die Notwendigkeit eines Krieges fügen. Zweite Regel: Wenn ein Krieg aus gerechten Gründen entfacht worden ist, muß man diesen Krieg nicht in der Absicht führen, das Volk zu vernichten, das bekriegt werden muß, sondern in der Absicht, das eigene Recht geltend zu machen und das Vaterland zu verteidigen, damit aus dem Krieg einmal Friede und Sicherheit erwachsen. Dritte Regel: Nach Erringung des Sieges und nach Beendigung des Krieges muß man den eigenen Sieg umsichtig und mit christlicher Mäßigkeit nutzen. Der Sieger muß sich als Richter betrachten, der zwischen zwei Gemeinwesen sitzt: zwischen dem einen, das geschädigt wurde, und dem anderen, das das Unrecht beging. Demzufolge verhängt er nicht als Ankläger einen Urteilsspruch, sondern verschafft als Richter dem geschädigten Gemeinwesen Genugtuung. Dies aber, soweit es ohne Nachteil für das Gemeinwesen geschehen kann, das den Schaden verursachte, und zwar in erster Linie deswegen, weil die ganze Schuld meistens, zumal bei Christen, bei den Herrschern liegt. Denn die Untertanen kämpfen für ihre Herrscher im guten Glauben“ (Vitoria, De jure belli, S. 603ff.).
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dass das zugrunde liegende Verständnis von Herrschaft normativ gehaltvoll bestimmt ist. Die Legitimität von Herrschaft hängt aus der Binnenperspektive eines Gemeinwesens davon ab, dass der Herrscher seine Macht zum Wohl des Gemeinwesens einsetzt und dass er seinen Schutzauftrag diesem gegenüber erfüllt. Aber auch darüber hinaus wird deutlich, dass Herrscher eine Verantwortung haben, die über die Grenzen des eigenen Gemeinwesens hinausgeht. Diese Verantwortung bezieht sich in der Konzeption Vitorias auf die Rechte der Mitglieder fremder Gemeinwesen ebenso wie auf den Schutz der Gerechtigkeit jenseits der Grenzen des eigenen Gemeinwesens.52
2.3 Die Disputation von Valladolid Dass die Auseinandersetzung mit der Frage nach der Rechtfertigung von Interventionen in der Zeit der spanischen Spätscholastik nicht bloß theoretisch-abstrakt, sondern sehr konkret geführt wurde, zeigt schon die Form ihrer Behandlung bei Vitoria, der diese Frage im Rahmen öffentlicher Vorlesungen zum Thema gemacht hat. Einige Jahre später wurde das Thema schließlich noch enger an die politische Praxis gebunden diskutiert. In der Disputation von Valladolid stritten in den Jahren 1550 und 1551 die Dominikaner Bartolomé de Las Casas und Juan Ginés de Sepúlveda um die Rechtmäßigkeit der conquistas, also der Eroberung der neu entdeckten Länder durch die Spanier.53 Karl V. hatte beide dazu eingeladen in Valladolid vor dem Indienrat die Frage nach der Rechtmäßigkeit der spanischen Eroberungen zu behandeln und schließlich wurde, wie es Domingo de Soto seinerzeit beschrieb, „[d]iese Frage […] in Gegenwart vieler Gelehrter, Theologen und Juristen, in einer von Seiner Majestät im Jahre 1550 in der Residenzstadt Valladolid einberufenen Kommission erörtert und disputiert“ (De Soto 1994, S. 337).54 Ihre Positionen stellten die beiden Kontrahenten dem Gremium in zwei Sitzungsperioden, deren zweite im Jahr 1551 stattfand, getrennt voneinander vor.55
52 Ein ähnliches zweistufiges Verständnis der Verantwortung von Herrschern bzw. der Staatengemeinschaft liegt auch der Konzeption der Responsibility to Protect in der gegenwärtigen völkerrechtlichen Diskussion der Interventionsfrage zugrunde. Vgl. dazu unten, II, 2.1. 53 Einen wichtigen Beitrag zu Las Casas (aber auch zu Sepúlveda) stellt Gillner 1997 dar. 54 Ich zitiere das Summarium de Sotos und die Äußerungen Sepúlvedas hier nach der von Las Casas besorgten Ausgabe der Disputation. Das obige Zitat stammt vom Titelblatt der Textfassung der Disputation. 55 Über die Umstände der Disputation informiert Delgado 1994, S. 340f.
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Das Thema des Streites wird auf dem Titelblatt der von Las Casas im Jahr 1552 veröffentlichten Textfassung der Disputation von de Soto, der die vorherige Debatte zusammengefasst hatte, folgendermaßen beschrieben: In der Auseinandersetzung stritt der Doktor (Sepúlveda, Anm. S.L.) dafür, daß die conquistas Westindiens gegen den Willen der Indios erlaubt seien, der Bischof (Las Casas, Anm. S.L.) hingegen verteidigte die Position, sie seien unmöglich nicht tyrannisch, ungerecht und ruchlos gewesen (De Soto, Summarium, S. 337).
So bewegt sich diese Diskussion zwischen zwei gegensätzlichen Positionen, die zur Frage nach der Rechtmäßigkeit der Eroberungen in der Neuen Welt eingenommen werden können.56 Auf der einen Seite vertritt Sepúlveda eine Position, die den Einsatz militärischer Gewalt gegen die Indios rechtfertigt und dabei so weit geht, diesen Einsatz auch gegen den ausdrücklichen Willen derselben für legitim zu erklären. Dazu führt er, wie sich im Folgenden zeigen wird, verschiedene Argumente an, die von der Notwendigkeit den Indios die richtige Religion zu bringen, um ihre Seelen zu retten, über Interventionen zur Zivilisierung bis hin zu der Forderung reichen, in deren Gebieten mit Gewalt zu intervenieren um Unschuldige vor dem Erleiden von Unrecht zu schützen. Die gesamte Diskussion wird dabei vor dem Hintergrund der Frage geführt, ob die Indios zuerst unterworfen werden dürfen, um dann bekehrt zu werden, oder ob dies nicht erlaubt sei und der legitime Versuch sie zu missionieren allein ohne den Einsatz von Gewalt erfolgen müsse. Sepúlveda versucht mit den Argumenten, die er für die Erlaubnis einer Intervention anführt, zu zeigen, dass es legitim und mit Blick auf die Missionierung auch zweckmäßig sei, die Indios zuerst zu unterwerfen, um sie dann zu bekehren. Auf der anderen Seite wendet Las Casas die Argumentation gegen Sepúlveda selbst und gegen dessen Argumentationsstrategie, indem er die Praxis der Eroberer als tyrannisch und ruchlos ausweist. Nicht die Indios müssten als tyrannisch angesehen und deshalb zivilisiert werden, sondern die Eroberer, die sie zum Zwecke der eigenen Bereicherung überfallen, unterdrücken und morden, bedienten sich tyrannischer Mittel und seien deshalb die eigentlichen Tyrannen. Das Hauptaugenmerk der kritischen Analyse und Argumentation Las Casas’ liegt dabei auf einer Kritik der spanischen Eroberungspraxis, jedoch nicht auf einer grundsätz-
56 Zur Lebensrealität der Indios siehe Baciero 1994. Einen Einblick in die Leitlinien der spanischen Eroberungspolitik gibt Rementeria 1994.
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lichen Zurückweisung der Möglichkeit Interventionen zu rechtfertigen.57 Vielmehr weist Las Casas besonders nachdrücklich darauf hin, dass die Rechtfertigung von Interventionen auch bei der Berufung auf einen gerechten Grund zu ihrem Beginn dann scheitern muss, wenn ihre Durchführung gemessen an den Kriterien des ius in bello nicht als gerecht gelten kann.58 Von dieser Möglichkeit, die Legitimität einer Intervention aus der Perspektive der Theorie des gerechten Krieges selbst zu kritisieren, wird hier von Las Casas explizit Gebrauch gemacht. Auf die Notwendigkeit der Gerechtigkeit des Einsatzes militärischer Gewalt aus der Perspektive von ius ad bellum und ius in bello zur Beurteilung ihrer gesamten Legitimität hat schon Vitoria hingewiesen,59 aber erst Las Casas sieht diese Bedingungen im Fall der spanischen Eroberungen ausdrücklich verletzt und zieht hieraus die Konsequenz, dass diese nicht als gerecht angesehen werden können. Damit wird hier etwas besonders deutlich sichtbar, das in der Theorie des gerechten Krieges auch vorher schon implizit enthalten ist: Damit der Einsatz militärischer Gewalt als gerechtfertigt gelten kann, müssen sowohl die Bedingungen des ius ad bellum als auch die des ius in bello erfüllt sein – sie können nur zusammen als hinreichend für die Rechtfertigung des Einsatzes militärischer Gewalt gelten. Eine Schutzintervention kann demnach aus Sicht des ius ad bellum gerecht sein und trotzdem als insgesamt nicht legitim gelten, wenn sie nicht gerecht durchgeführt wird oder werden kann.60 So steht in der Analyse der Disputation von Valladolid besonders der Zusammenhang von Kriterien des ius ad bellum und des ius in bello im Vordergrund. Dort, wo bislang für Interventionen argumentiert wurde, war zwar immer auch klar, dass solche dann als gerecht verstandenen Kriege durch die Regeln des ius in bello begrenzt werden und insgesamt nur als gerecht gelten können, wenn auch die Regeln des ius in bello eingehalten werden – mit Blick auf die konkreten Fälle wurde dies aber bis dahin nicht eingehend in den Blick genommen.61 Geführt wird diese Diskussion vor dem Hintergrund einer Frage, die für das Verständnis universalistischer Ansprüche und Begründungen in jener Zeit von besonderer Bedeutung ist. Dies ist die Frage nach der Einheit des Menschenge-
57 Darauf, dass auch Las Casas die Verbreitung des Christentums im Rahmen der Expansion grundsätzlich befürwortet, weist Delgado hin. Vgl. Delgado 1994, S. 341f. 58 Zur spanischen Eroberungspraxis vgl. Delgado 1994, S. 343f.; Pietschmann 1994. 59 Vgl. oben, I, 2.2. 60 Neben den Bedingungen des ius ad bellum und des ius in bello müssen nach heutigem Verständnis (das sich aber auch historisch weit zurück verfolgen lässt) auch die Bedingungen des ius post bellum erfüllt sein. 61 Implizit lässt sich dieses Argument auch schon bei Vitoria finden, aber erst bei Las Casas wird es hinsichtlich seiner praktischen Bedeutung mit Nachdruck entfaltet. Vgl. oben, I, 2.2.
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schlechts, „die Frage, ob dieses aus gleichermaßen würdigen, wenn auch unterschiedlich vernunftbegabten, doch immer glaubensfähigen Geschöpfen besteht oder ob es vielmehr eine höhere und eine niedrigere Menschheit gibt“ (Delgado, 1994, S. 341, vgl. dort auch S. 344). Letztlich ist dies eine der zentralen Fragen, deren Beantwortung im Sinne des Bestehens einer Einheit des Menschengeschlechts für das Verständnis von Universalität ebenso wie für die Entwicklung des Menschenrechtsgedankens von zentraler Bedeutung ist. Für die Auseinandersetzung mit den Positionen der beiden Autoren beschränke ich mich hier auf die Textfassung der Disputation von Valladolid, da sich in ihr eine verdichtete Fassung des Streites zwischen den Kontrahenten findet.62 In der vorliegenden Textfassung der Disputation finden sich die Beiträge der beiden Kontrahenten aus der zweiten Sitzungsperiode im Jahr 1551. Vorangestellt ist diesen Beiträgen eine von Domingo de Soto angefertigte Zusammenfassung der Positionen, Thesen und Argumente, die beide in der ersten Sitzungsperiode vorgetragen hatten. Sepulveda hatte darin zuerst seine Position dargelegt, worauf Las Casas in einer separaten Sitzung seine Erwiderungen ausgeführt hatte. Nach Auffassung Delgados vermittelt dieses Werk „uns doch am besten von allen den Verlauf der Disputation in beiden Sitzungsperioden“ (Delgado, 1994, S. 341). Die Auseinandersetzung mit den Positionen Sepúlvedas und Las Casas’ wird sich hier deshalb im Wesentlichen auf die Disputation beschränken, in der sich die Diskussion besonders dicht komprimiert findet. Dabei geht es nicht um die Nachzeichnung des gesamten Verlaufes derselben,63 sondern um eine Rekonstruktion der für die Diskussion der Interventionsfrage entscheidenden Thesen und Argumente. Wenden wir uns nun zuerst der Frage zu, welche Rolle Argumente, die die richtige Religionszugehörigkeit betreffen, in dieser Auseinandersetzung spielen. Nach Auffassung Delgados führt Sepúlveda als Rechtsgründe die Sünden gegen die Natur und die Barbarei der Indios deshalb ein, weil die Religionsverschiedenheit als Grund für ihre Beherrschung juristisch und theologisch nicht zu begründen sei (vgl. Delgado, 1994, S. 342). Doch grundsätzlich scheint Sepúlveda davon auszugehen, dass Krieg aufgrund von Religionsverschiedenheit unter bestimmten Bedingungen rechtmäßig geführt werden kann. Götzendienst etwa stellt nach seiner Auffassung einen gerechten Kriegsgrund dar, aber wohl vor allem deshalb, weil er als Naturrechtsverletzung aufgefasst wird (vgl. Sepúlveda, in: Disputation, S. 374). Das Naturrecht gilt nach Sepúlvedas Auffassung unterschiedslos für alle
62 Zur Auseinandersetzung mit den Eroberungen in weiteren Schriften der Autoren vgl. Delgado 1994, S. 340ff. 63 Zum Aufbau der Textfassung der Disputation vgl. Delgado 1994, S. 341.
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Menschen und Götzendienst und Menschenopfer sind Fälle, die bekämpft werden müssen (vgl. Sepúlveda, in Disputation, S. 374f.).64 Nun findet sich in der Diskussion der Intervention bei Sepúlveda mit Blick auf den Aspekt der Religionsverschiedenheit eine entscheidende Qualifikation hinsichtlich der Legitimation einer paternalistisch begründeten Intervention. Hierzu greift Sepúlveda auf das Prinzip der Rettung zurück. Kriege gegen Ungläubige werden demnach als Aktionen zu deren Rettung verstanden, wie Sepúlveda am historischen Beispiel zu illustrieren versucht: „Auf diese Weise zielten diese Kriege des Gennadius sowie das Gesetz Konstantins in erster Linie auf die Unterweisung und Rettung der Heiden“ (Sepúlveda, in Disputation, S. 377). Eine solche Rettung kann sich auf Leib und Leben beziehen, doch primäres Objekt der Rettung ist nach Auffassung Sepúlvedas die Seele eines Menschen (vgl. Sepúlveda, in: Disputation, S. 377). Auch eine Intervention, die das Ziel der Zivilisierung der Indios verfolgt, hält Sepúlveda für gerechtfertigt, denn er geht davon aus, dass diese als Barbaren in dem Sinne zu verstehen sind, dass sie zu einer angemessenen Selbstregierung eines Gemeinwesens nicht fähig sind, was sich vor allem in ihren „verderbten Sitten“ zeige und darin, dass sie nicht in Übereinstimmung mit der natürlichen Vernunft lebten (vgl. Sepúlveda, in: Disputation, S. 381f.).65 Das zentrale Argument, das Las Casas gegen Sepúlveda in der ersten Phase der Disputation bezüglich der Ablehnung der Legitimität der spanischen Eroberungen vertreten hatte, nämlich, dass von zwei Übeln das kleinere vorgezogen werden müsse und dass im Falle der spanischen Eroberungen die Tötung vieler Unschuldiger das größere Übel darstelle, weist Sepúlveda unter Verweis auf Opferzahlen, die er offenbar als korrekt ansieht, zurück: Was seine (Las Casas’ S.L.) Behauptung betrifft, der Krieg sei gerecht, wenn es sich um die Befreiung der Unschuldigen handle, die sie opferten, er dürfe jedoch nicht geführt werden, weil von zwei Übeln das kleinere vorzuziehen sei, und die Folgen dieses Kriegs stellten größere Übel dar als der Tod der Unschuldigen, so ist diese Voraussetzung seiner Gnaden unzutreffend, denn in Neuspanien wurden nach dem Zeugnis aller, die von dort gekommen sind und sich um Kenntnis darüber bemüht haben, jährlich mehr als 20000 Menschen geopfert. Multipliziert man diese Zahl mit den 30 Jahren seit der conquista und der Abschaffung dieser Opfer, wären dies schon 600000. Und ich glaube nicht, daß bei der gesamten conquista so viele umgekommen sind, wie sie in einem Jahr geopfert haben. Durch diesen
64 Dagegen wird Las Casas später einwenden, dass die konkreten Kriege, auf die Sepúlveda anspielt, nicht aufgrund des Götzendienstes geführt wurden, sondern aufgrund anderer gerechter Gründe. Vgl. unten in diesem Kapitel. 65 Als Quelle für seine Behauptungen beruft sich Sepúlveda auf den Chronisten Fernández de Oviedo (vgl. S. 382, FN 57).
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Krieg vermeidet man zudem den Verlust unzähliger Seelen derer, die durch ihre Bekehrung gerettet werden, jetzt und in der Zukunft. Und der hl. Augustinus sagt (ep.75: PL 33/1067), es sei ein größeres Übel, wenn eine ungetaufte Seele verlorengehe, als die Tötung unzähliger Menschen, seien sie auch unschuldig (Sepúlveda, in: Disputation, S. 383f.).
Sepúlveda akzeptiert also die Befreiung Unschuldiger auch als Rechtsgrund für den Einsatz von Gewalt, und zudem erhebt er gegen das Prinzip, dass mit Blick auf den Einsatz militärischer Gewalt von zwei Übeln das kleinere vorzuziehen sei, keinen grundsätzlichen Einwand. Vielmehr ergibt sich aus der Anerkennung dieser Prinzipien nun ein Streit um die Aufrechnung der Zahl der zu Rettenden und der Geschädigten. Wie problematisch eine solche Aufrechnung von Geretteten und Opfern für die Beurteilung der Gerechtigkeit des Einsatzes militärischer Gewalt ist, zeigt die Einbeziehung vermeintlich zukünftig vermiedener Opfer und der Verweis auf deren Seelen als Gegenstand der Rettung. Wie kann etwa erfasst werden, wann ein Übel größer ist als das andere? Wer kann die unterschiedlichen zur Berechnung vorgetragenen Zahlen überprüfen?66 Ist die Aufrechnung von Menschenleben gegeneinander nicht grundsätzlich problematisch? In seiner Erwiderung reagiert Las Casas auf die Ausführungen Sepúlvedas und erhebt gegen diesen, bevor er seine eigene Position entwickelt, einen scharfen Vorwurf der Apologie spanischer Macht- und Herrschaftsinteressen, welche die Eroberungspolitik der Spanier nach seiner Auffassung motivieren (vgl. Las Casas, Disputation, S. 390). Gegen Sepúlvedas Anspruch die apostolische Autorität oder die Herrschaft der christlichen Könige zu verteidigen wendet Las Casas mit nicht weniger intensivem rhetorischen Engagement als zuvor Sepúlveda ein, dass deren Autorität nicht unter Berufung auf Unrecht verteidigt werden könne: Mit ungerechten Kriegen aber, mit Bergen und Feldern, getränkt mit dem Blut unschuldiger Menschen, mit der Ruchlosigkeit und Blasphemie gegenüber Christus und seinem Glauben kann kein Christ in erlaubter und ehrenhafter Weise die apostolische Autorität oder die Herrschaft eines christlichen Königs bekräftigen und verteidigen (Las Casas, Disputation, S. 391).
Es deutet sich in den Formulierungen hier schon an und es ist kennzeichnend für die Argumentation von Las Casas, dass er den Vorwurf der Tyrannei nicht gegen die so genannten Barbaren oder deren Herrscher, sondern gegen die Eroberer
66 Las Casas, der die Verhältnisse vor Ort aus eigener Anschauung kannte, nennt gänzlich andere Zahlen als Sepúlveda. Zur Verteidigung der Indios auch gegen den Vorwurf der Barbarei siehe Las Casas’ Werke Ganz kurzer Bericht über die Zerstörung Westindiens; Geschichte Westindiens und Kurze apologetische Geschichte.
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selbst wendet. In einer entsprechenden Passage seiner Einleitung zum Text der Disputation wird im Kontext dieser Diagnose seine gesamte Position deutlich sichtbar, wenn er wie folgt formuliert: Dieser Rechtstitel und diese Herrschaft lassen sich nicht dadurch begründen, daß man in jene Länder und Völker mit Raub, Mord und Tyrannei eindringt, denen man den Anstrich der Glaubensverkündigung verleiht, wie es die Tyrannen taten, die jene Neue Welt durch so grausame und umfassende Abschlachtung einer solchen Vielzahl unschuldiger Menschen verheert haben, sondern nur mit der friedfertigen, sanften und liebreichen Verkündigung des Evangeliums, mit der Einführung, unverstellten Grundlegung und Einsetzung des Glaubens und der Herrschaft Jesu Christi (Las Casas, Disputation, S. 391).
Das zentrale Problem hinsichtlich der Rechtfertigung der spanischen Eroberungen besteht für Las Casas schließlich auf der Ebene des ius in bello und dort vor allem in der Tötung Unschuldiger. Deutlich sichtbar wird dies, wenn er in der Auseinandersetzung mit diesem Problem die Terminologie der Theorie des gerechten Krieges gegen Sepúlveda wendet: So wird in dieser Entgegnung das Gegenteil von dem bewiesen, was der Doktor behauptet, und das Bewiesene dürfte hinreichen, um den Herrn Doktor hinsichtlich dieser Materie durch so vortreffliche Gewährsleute als einen erbitterten und ungerechten Feind der Indios gänzlich zurückzuweisen, als der er sich grundlos und ohne jedes Recht, aus eigenem Willen erweist (Las Casas, Disputation, S. 396).
Hatte Sepúlveda dem Papst eine besondere Autorität bezüglich der Rechtfertigung der Kriege gegen die Indios zugesprochen, weist Las Casas dagegen darauf hin, dass es eher Aufgabe des Papstes sei, Herrscher von ungerechten Kriegen abzuhalten.67 Dabei geht Las Casas keineswegs davon aus, dass Naturrechtsverletzungen durch Ungläubige geduldet werden müssten. Jedoch gelten für Reaktionen auf solches Unrecht Kriterien der Verhältnismäßigkeit (vgl. dazu Las Casas, Disputation, S. 400). Mit Blick auf die Bestimmung der gerechtfertigten Reaktion auf derartige Verletzungen des Naturrechts aus Sicht des ius ad bellum ist auch für Las Casas der Aspekt der Gerichtsbarkeit zentral, also die Frage danach, wem die Autorität zur Bestrafung solcher Naturrechtsverletzungen zukommt. Diesbezüglich vertritt Las Casas die Auffassung, dass die Bestrafung heidnischen Unglaubens
67 „Eher ist es das Amt des Papstes als des allgemeinen Stellvertreters Christi sowie Aufgabe der Bischöfe, deren jeder doch ebenfalls in seinem Bistum Stellvertreter desselben Gottessohnes ist, den christlichen Königen, wollen diese solcherlei ungerechte Kriege entfachen, diese weder in Gedanken noch in Werken zu gestatten“ (Las Casas, Disputation, S. 399). An dieser Stelle wird von Las Casas auch auf Thomas’ Quaestio 40 verwiesen.
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grundsätzlich in die göttliche und nicht in die menschliche Gerichtsbarkeit falle, denn „[k]ein bloß menschliches Gericht darf aber diese Art von Gotteslästerung bei jenen Heiden bestrafen, die den Glauben niemals empfangen haben“ (Las Casas, Disputation, S. 401). Es ist somit ziemlich deutlich, dass Las Casas Religionsinterventionen im Sinne einer Bestrafung von Naturrechtsverletzungen ablehnt, da mit Blick auf diese Fragen keine weltliche Strafgewalt über die Indios besteht. Mit Blick auf Sepúlvedas Argument dafür, dass die Eroberungen auch aufgrund der mit ihr verbundenen Zivilisierung als gerechtfertigt gelten können, entwickelt Las Casas eine differenziertere Position, indem er den Begriff des Barbaren weiter differenziert, um nachzuweisen, dass es sich bei den Indios nicht um Barbaren in dem Sinne handelt, dass ihre gewaltsame Unterwerfung gerechtfertigt wäre. Dazu beschreibt Las Casas, der die Verhältnisse in der Neuen Welt, anders als Sepúlveda, aus eigener Erfahrung kennt, ausführlich die zivilisatorischen Fähigkeiten der Indios und bekräftigt gegen Sepúlveda den Vorwurf, dass dieser die Verhältnisse dort nicht so kompetent beurteilen könne wie er selbst (vgl. Las Casas, Disputation, S. 406).68 Mit Blick auf das Ziel der Bekehrung der Indios geht auch Las Casas davon aus, dass der Versuch dazu grundsätzlich gerechtfertigt ist. Doch entscheidend ist auch dabei der Einsatz der richtigen und legitimen Mittel zur Erreichung dieses Zwecks. Dass eine gewaltsame Missionierung der Indios, bei der ihrer Bekehrung eine gewaltsame Unterwerfung vorausgeht, legitim ist, weist Las Casas zurück, indem er aufzeigt, dass ein solcher Weg zur Bekehrung weder legitim noch zweckmäßig ist. Vielmehr stelle der Krieg gegen die Indios ein Hindernis für deren Bekehrung dar, weshalb der erste Zugang der Indios zum Christentum freiwillig durch die Taufe erfolgen müsse (vgl. Las Casas, Disputation, S. 407ff.).69 Der Haupteinwand Sepúlvedas gegen Las Casas’ Argument, dass die Eroberungen nicht rechtens seien, da sie mehr Übel erzeugten als sie vermieden, bestand im Verweis auf die Zahl geretteter Personen durch die Eroberungen. Gegen diese Behauptungen Sepúlvedas führt Las Casas in seiner Erwiderung Zahlen an, welche die Verhältnisse wenden und seine These stützen sollen, dass die Übel einer solchen Aktion die positiven Folgen deutlich überwiegen. Eine Einschätzung dieser Zahlen aus heutiger Perspektive ist nicht einfach, und nicht zuletzt
68 Ausführlich verteidigt Las Casas die These, dass die Indios keine Barbaren sind, in seiner Apologia. Vgl. dazu Las Casas, Kurze apologetische Geschichte. 69 Der Herausgeber Delgado rückt die scharfe Polemik Las Casas’ ins rechte Licht, indem er darauf verweist, dass es Sepúlveda auch nicht um die Rechtfertigung von Gewaltexzessen gehe, sondern um die „vorbeugende Unterwerfung zur Erleichterung der Glaubenspredigt“ (Las Casas, Disputation, S. 409, FN 97).
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darin werden deshalb auch die Grenzen einer solchen quantitativen Bestimmung des Verhältnisses von verhinderten zu verursachten Übeln deutlich. Las Casas entgegnet gegen Sepúlveda in folgender Weise: In seiner Antwort auf den elften Einwand, in dem ich sage, wenn zur Befreiung unschuldiger Gefangener ein Krieg entfacht werden müßte, kämen noch mehr Unschuldige um und daß unter zwei Übeln das geringere vorzuziehen sei, wirft mir der Doktor eine falsche Rechnung vor, da in Neuspanien jährlich über 20000 Menschen geopfert würden und in den 30 Jahren seit der conquista somit 600000 verlorengingen. Dem entgegne ich erstens, daß wir beide dies berücksichtigen sollten. Zweitens: Die Behauptung, in Neuspanien würden jährlich 20000 oder 100 oder 50 Menschen geopfert, entspricht nicht der Wahrheit, andernfalls fänden wir nicht so unzählige Menschen vor, wie es der Fall ist. Daraus spricht nur die Stimme der Tyrannen, um ihre eigenen tyrannischen Gewaltanwendungen zu entschuldigen und zu rechtfertigen und die Indios unterdrückt zu halten, zu schinden und zu tyrannisieren, die nach der reichen Ernte als Sklaven blieben, und das schützen jene vor, die die Tyrannen begünstigen wollen, wie der Doktor und seine Parteigänger. Drittens: Der Doktor hat sich verrechnet, denn mit größerem Wahrheitsanspruch und weit zutreffender können wir sagen, daß die Spanier ihrer geliebten und hochverehrten Göttin Habsucht in jedem Jahr, seit sie nach Westindien gekommen sind und in jede Provinz einmarschiert sind, mehr Menschenopfer dargebracht haben als die Indios all ihren Göttern Westindiens in hundert Jahren. Das bezeugen Himmel und Erde, Element und Steine schreien zum Zeugnis dafür auf, ja, selbst die Tyrannen, die diese Verbrechen begangen haben, leugnen es nicht. Man führe sich nur vor Augen, wie alle jene Reiche vor Menschen überschäumten, als wir eindrangen; heute haben wir sie zum Stillstand gebracht, da sie zerstört und ausgelöscht sind. Große Schmach und bestürzende Beschämung sollte uns zumindest befallen – da wir schon der Gottesfurcht ermangeln –, solch gräuliche und ruchlose Taten beschönigen und entschuldigen zu wollen (Las Casas, Disputation, S. 414).
Diese Einschätzung, die Las Casas den Zahlen Sepúlvedas gegenüberstellt, wird durch eine moralische Kritik der spanischen Eroberungspraxis verstärkt. Die Praxis der Eroberer wird als tyrannisch ausgewiesen und auch der vermeintlich gerechte Grund für den Einsatz von Gewalt, der Schutz Unschuldiger, der auf die Praxis der Menschenopfer bezogen wird, wird gegen die Eroberer selbst gewendet, indem ihnen vorgeworfen wird, unschuldige Menschen der „Göttin Habsucht“ geopfert zu haben. Zudem wird gegen Sepúlvedas Argument des Schutzes unschuldiger Seelen, die durch eine – wenn auch gewaltsame – Missionierung nicht für die Ewigkeit verloren gingen, auf die Seelen derer verwiesen, die durch die Eroberungen ungetauft ihr Leben verloren haben; nach Auffassung von Las Casas sind dabei „20 Millionen Seelen ohne Glauben und Sakramente“ (vgl. Las Casas, Disputation, S. 414) verlorengegangen: „[s]ie wurden verdammt, weil die Spanier ihnen Zeit und Raum zur Bekehrung und Buße raubten, indem sie sie gegen alle Vernunft und Gerechtigkeit in Stücke rissen, nur um sie auszurauben und gefangenzunehmen“ (Las Casas, Disputation, S. 414). So wird auch
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Sepúlvedas Argument der präventiven Rettung der Seelen Unschuldiger zurückgewiesen. Bei aller Kritik an der spanischen Eroberungspraxis weist Las Casas hier aber den Vorwurf zurück, er wolle die Menschenopfer, die sich bei den Indios beobachten lassen, mit Vernunftgründen rechtfertigen. Auch hier nimmt Las Casas in seiner Argumentation eine weitere Differenzierung vor, gemäß der entscheidend ist, dass die Indios mit Blick auf derartiges ‚sündiges‘ Handeln in bestimmter Hinsicht als entschuldbar unwissend gelten können. Damit wird die Diskussion über die Frage nach der Rechtfertigung von Interventionen, in denen Religionsverschiedenheit eine Rolle spielt und die mit dem Problem religiös motivierter Verletzungen des Naturrechts zusammenhängen, weiter differenziert: Ich entschuldige sie jedoch nicht vor Gott, weil ich Gottes Urteil über sie nicht kenne, das unerforschlich ist. Vielmehr möchte ich durch unmittelbar einsichtige Vernunftgründe beweisen, daß sie sich entschuldbar in Unwissenheit und Irrtum befinden, wenn sie weder der ersten Ermahnung noch den weiteren zahlreichen Ermahnungen der Christen Glauben schenken, Menschenopfer seien gegen das Naturgesetz oder seien Sünde, und daß sie folglich deswegen durch Menschen oder ein menschliches Urteil mit Recht nicht bestraft werden dürfen. Ich gehe noch weiter und behaupte, daß sie niemals dazu verpflichtet werden können, irgendeinem Verkünder unseres heiligen Glaubens Glauben zu schenken, sofern dieser von tyrannischen Menschen und Kriegsleuten, von Räubern und Mördern begleitet wird, wie der Doktor es einführen möchte (Las Casas, Disputation, S. 414f.).
Neben der Andeutung der Möglichkeit verschiedener für sich konsistent begründeter Weltbilder, die als Quelle moralischer Verpflichtung aus der Teilnehmerperspektive der Mitglieder einer Gemeinschaft je legitim sein können, ist hier hervorzuheben, dass Las Casas ein Recht des Stärkeren auf zwischenstaatlicher Ebene zurückweist – Macht schafft hier kein Recht und kann deshalb auch nicht zu Gehorsam verpflichten. Aber wie funktioniert sein Argument dafür, dass bestimmte Praktiken der Indios, die von Las Casas als objektiv schlecht angesehen werden, zugleich als entschuldbar gelten können? Entscheidend ist hier für Las Casas’ Argumentation die Feststellung eines Irrtums der Indios, den diese aber aus ihrer eigenen Perspektive als Akteure nicht erkennen können, weshalb sich für sie eine aus der Teilnehmerperspektive vernünftig begründete Verpflichtung zur Durchführung ihrer religiösen Rituale und Praktiken ergeben kann, auch wenn diese zu objektiv falschen Handlungen führt. Da sie ihre Götter für die wahren halten, ergibt sich für sie eine Verpflichtung, auch deren Geboten zu folgen: Es ist nicht einmal leicht, ihnen zu beweisen, daß es gegen das Naturgesetz ist, dem wahren Gott (oder dem falschen, so man ihn für den wahren hält) Menschenopfer darzubringen;
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vielmehr läßt sich mit guten, wahrscheinlichen und nahezu unüberwindlichen Vernunftgründen eher das Gegenteil beweisen (Las Casas, Disputation, S. 415).70
An späterer Stelle beschreibt Las Casas diesen Sachverhalt unter Verweis auf die Vorstellung eines irrigen Gewissens folgendermaßen: Ihren Irrtum oder ihr irriges Gewissen vorausgesetzt, daß für sie jene Götzen der wahre Gott sind oder daß sie den von ihnen für den wahren Gott erachteten anbeten und verehren, besitzen sie nicht nur einen gerechten, oder besser gesagt wahrscheinlich guten Grund zur Verteidigung ihrer Religion, sie sind vielmehr durch das Naturgesetz dazu verpflichtet, und wenn sie ihre Religion, ihre Götzen oder Götter, falls nötig, nicht bis zum Verlust ihres Lebens verteidigten, fielen sie in Todsünde und führen allein dieser Sünde wegen in die Hölle (Las Casas, Disputation, S. 418).
Diese Verpflichtung gilt nach Auffassung Las Casas’ unterschiedslos, egal ob man den wahren Gott verehrt oder einen anderen, den man für den wahren Gott hält, [d]enn das irrige Gewissen bindet und verpflichtet gleichermaßen wie das rechte Gewissen, ,obgleich nicht in derselben Weise. Denn das rechte Gewissen bindet schlechthin und an sich, das irrige aber akzidentiell und bedingt; insofern als gut erfasst wird, was schlecht ist. So daß man, wenn man danach handelt, die Sünde nicht vermeidet; wenn man aber nicht danach handelt, eine Sünde begeht‘, nach dem hl. Thomas (STh I-II q.19, a.5 und 6, sowie II Sententiarum d.39, q.3, der ganze a.3 und anderswo) (Las Casas, Disputation, S. 418).
Dabei besteht das Problem, das sich für die irrenden Gläubigen ergibt, darin, dass sie, egal wie sie handeln, immer gegen das göttliche Gebot handeln (vgl. Las Casas, Disputation, S. 419). Kommen wir nun zu Las Casas’ Auseinandersetzung mit dem Problem der Tötung Unschuldiger im Krieg, die in seiner Einschätzung der spanischen Eroberungen zu der Auffassung führt, dass diese aufgrund der massiven Schädigung Unschuldiger nicht als gerechtfertigt gelten können. Da Las Casas den Einsatz von Gewalt zum Schutz Unschuldiger – auch in fremden Gemeinwesen – grundsätzlich für rechtfertigbar hält, ergibt sich aus dieser Position für die Diskussion der Interventionsfrage die Einschätzung, dass Interventionen insgesamt auch bei Vorliegen eines gerechten Grundes dann als illegitim gelten können, wenn sie nicht gerecht durchgeführt werden oder werden können:
70 Für weitere Ausführungen hierzu verweist Las Casas selbst auf seine Kurze apologetische Geschichte.
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Die Bemerkung des Doktors, das Töten Unschuldiger in gerechten Kriegen sei eine akzidentelle Angelegenheit oder daß, wenn der Fürst [für einen guten Zweck und] in gutem Glauben handelt, die Sünden nicht angerechnet würden etc., halte ich entgegen: Wenn Unschuldige in gerechten Kriegen ohne Sünde getötet werden, so geschieht dies in der Tat per accidens oder akzidentiell. Damit es aber per accidens und somit entschuldbar sei, bedarf es der Voraussetzung, daß einem solchen Krieg weder Einhalt geboten noch der Sieg erreicht werden kann, ohne daß zusammen mit Schuldigen Unschuldige sterben oder getötet werden. So wie es bei einer notwendigen Schlacht um eine Festung und bei deren Zerstörung vorkommt, daß einige Kinder sterben. Wenn es aber zum Erlangen des Sieges nicht erforderlich ist, sie zu bekämpfen, erst recht wenn sichere oder wahrscheinliche Nachricht vorliegt, daß sich dort Unschuldige aufhalten, geschieht es nicht mehr per accidens, sondern per se und mit prinzipieller Absicht, wenn man die Unschuldigen dort umbringt. Darum fielen der Fürst, der dies anordnete, wie diejenigen, die seinen Befehl ausführten, in den Stand der Todsünde und könnten ohne echte Buße nicht gerettet werden. Dies ist darin begründet, daß der Krieg und die in ihm notwendigen Akte (Tötung, Raub u.a.) in sich schlecht sind und daß der Krieg niemals, wenn nicht im absoluten Notfall, ohne daß eine andere Möglichkeit bestünde, begonnen werden darf (Las Casas, Disputation, S. 416).
Die Argumentation von Las Casas entspricht hier genau der klassischen Vorstellung des Prinzips der Doppelwirkung. Der entscheidende Einwand gegen die Auffassung Sepúlvedas besteht dabei in der Behauptung Las Casas’, dass der Einsatz militärischer Gewalt im vorliegenden Falle nicht notwendig sei, weshalb der Krieg als nicht gerechtfertigt gelten müsse: Das trifft auch für den Fall Westindiens zu, in dem der Krieg durch keinerlei Notwendigkeit geboten ist. Denn um die Laster der Indios, die in nur wenigen Gegenden (aber selbst, wenn es in vielen wäre) Menschen für die Opferung töteten, zu entfernen und auszumerzen, bedarf es nicht der grausamen Kriege, vielmehr könnten jene ohne Schwierigkeit allein durch die Verkündigung des Evangeliums leicht beseitigt werden (Las Casas, Disputation, S. 416).71
71 Auch die Konsequenzen bezüglich der Verpflichtungen der Indios gegenüber den Spaniern, die sich aus deren unrechtem Verhalten im Rahmen der Eroberungen ergeben, sind weitreichend: „Zum Schluß dieser Entgegnung sage ich, daß von jetzt an bis zum Tage des Gerichts niemals mehr irgendwelche Heiden verpflichtet sein werden, weder Gott noch den Menschen gegenüber, den Glauben Christi anzunehmen, solange die Verkünder desselben Kriegsleute, Mörder, Räuber und Tyrannen sind, wie dies der Doktor Sepúlveda möchte und um jeden Preis einzuführen versucht. Solange die Verkünder und Prediger nicht tugendhafte Männer und in der Lebensführung echte Christen sind, ohne Begleitung von Tyrannen, wird jenes Wort aus dem Evangelium [MK 16,16] sich niemals gegen die Heiden, zumal gegen die Indios und ihresgleichen richten: ,Wer aber nicht glaubt, der wird verdammt werden.‘ Wenngleich sie wegen anderer Sünden, von denen es ohne den Glauben keinen Nachlaß gibt, in die Hölle fahren können oder fahren werden“ (Las Casas, Disputation, S. 421). Aus Sicht des ius post bellum sind die Eroberer aufgrund der Ungerechtigkeit der Eroberungen zu Wiedergutmachung verpflichtet (vgl. ebd. 428f.).
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Mit Blick auf die Interventionsfrage kann die von Las Casas veröffentlichte Textfassung der Disputation von Valladolid als eine ideengeschichtliche Quelle gesehen werden, in der zweierlei deutlich wird. Es findet sich hier zum einen die Ausbildung eines kritischen Bewusstseins für die Probleme, die sich hinsichtlich einer Rechtfertigung des Einsatzes militärischer Gewalt ergeben, wenn die Perspektive des ius in bello im konkreten Einzelfall angemessen berücksichtigt wird, wobei aber auch das Problem erkennbar wird, dass die Beurteilung dessen von einer komplizierten Bewertung empirischer Fakten abhängt. Ob der Einsatz militärischer Gewalt in einer bestimmten Situation tatsächlich das äußerste Mittel ist, lässt sich kaum endgültig beantworten. Außerdem wird zum anderen das kritische Potential einer Theorie des gerechten Krieges in besonderer Weise deutlich. Vor allem die kritische Funktion der Position Las Casas’ ist hierbei zu unterstreichen, wie auch Delgado in seiner Bewertung der Disputation auf den Punkt bringt: Nach dem ,Sepúlveda-Anteil‘ fand die Mission und Ausbreitung des Christentums im Schatten der okzidentalisierenden kolonialen Expansion statt, die wie einst das Römische Reich, so etwas wie ein von der Vorsehung zugelassener ,unschuldiger Katalysator‘ dafür war; nach dem ,Las Casas-Anteil‘ jedoch fanden Christen in diesem Prozeß stets den Mut, im Namen des christlichen Gewissens Mißstände mit prophetischem Freimut anzuklagen sowie die Einheit und Gleichheit des Menschengeschlechts zu verteidigen. So lieferte das missionierende Christentum nicht nur eine Rechtfertigung der kolonialen Expansion, sondern auch eine bleibende immanente Kritik dieses Prozesses. Auch wenn die Religion der untrennbaren Gottes- und Nächstenliebe zu den nichteuropäischen Völkern bedauerlicherweise im Schatten der westlichen Expansion gekommen ist, entwickelt sie immer eine eigene Befreiungsdynamik, die sich gegen die koloniale Expansion letztlich wendet (Delgado 1994, S. 344f.).72
Mit Blick auf die Interventionsfrage formuliert Las Casas in der Disputation von Valladolid einen Typ von Interventionsargumenten besonders deutlich, der das Problem der Schädigung Unschuldiger im Rahmen einer Intervention ernst nimmt. Es können nämlich nach dieser Auffassung Interventionen zum Schutz Unschuldiger aus Sicht des ius ad bellum im konkreten Fall als prima facie gerechtfertigt gelten und trotzdem können sie insgesamt abgelehnt werden, weil eine gerechte Durchführung aus Sicht des ius in bello nicht möglich ist. Damit erhöht Las Casas die Rechtfertigungshürde für die Legitimation von Schutzinterventionen erheblich.
72 Zur kurzen Bewertung der praktischen Folgen beziehungsweise des politischen Erfolges der gesamten Disputation vgl. Delgado 1994, S. 344.
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2.4 Interventionsargumente im Anschluss an Vitoria Neben der intensiven Beschäftigung mit Interventionsargumenten bei Vitoria und in der Disputation von Valladolid finden sich in der Diskussion der spanischen Spätscholastik bei einigen weiteren Autoren – namentlich Melchior Cano, Diego de Covarrubias y Leiva, Domingo de Soto, Luis de Molina und Francisco Suárez – in der Auseinandersetzung mit der Frage nach dem gerechten Krieg Interventionsargumente, die im Folgenden in den Blick genommen werden.73 Dabei geht es hier vor allem um eine Skizze der Interventionsargumente, die dabei verwendet werden, nicht aber um eine ausführliche Auseinandersetzung mit der jeweiligen Theorie des gerechten Krieges in der Formulierung der einzelnen Autoren, da diese im Wesentlichen die Standardpositionen der Theorie des gerechten Krieges vertreten. In Melchior Canos Auseinandersetzung mit der Frage nach dem gerechten Krieg stellt der Schutz Unschuldiger vor dem Erleiden von Unrecht einen gerechten Kriegsgrund dar. Darüber hinaus findet sich in Diego de Covarrubias Auseinandersetzung mit den spanischen Eroberungen eine intensive Auseinandersetzung mit der Rechtfertigungsfigur der Zivilisierungsintervention sowie die Begründung einer Berechtigung Unschuldigen auch unter Einsatz militärischer Gewalt zu helfen, die auf der Grundlage einer Konzeption der Verpflichtungen des Einzelnen gegenüber seinem Nächsten begründet wird. Bei Domingo de Soto findet sich die Figur des Schutzes Unschuldiger vor Tyrannis als gerechter Kriegsgrund, der ausgehend vom Recht des Einzelnen zum Schutz Unschuldiger auch als Recht zum militärischen Eingreifen in ein fremdes Gemeinwesen verstanden wird. Auch in der Konzeption von Luis de Molina stellt der Schutz Unschuldiger einen gerechten Grund für den Einsatz militärischer Gewalt dar; besonders interessant ist hier, dass im Kontext einer Rechtfertigung des Einsatzes militärischer Gewalt dessen rechtserhaltende Funktion besonders herausgestellt wird, wobei
73 Es handelt sich hier um Texte, die an Vitorias Auseinandersetzung mit der Frage nach dem gerechten Krieg anschließen. Vgl. dazu Stüben 2006, S. 56ff. Ihre Entstehung lässt sich auf die 40er und 50er Jahre sowie auf die letzten beiden Dekaden des 16. Jahrhunderts datieren. Sie werden hier zusammenhängend im Anschluss an die Darstellung der Disputation von Valladolid behandelt, da sie aufgrund des direkten Bezugs auf Vitoria als zusammenhängend verstanden werden können. Die Auseinandersetzung mit der Frage nach dem gerechten Krieg bei Molina und Suárez fällt zeitlich aus dem Rahmen der früheren Texte. Molinas Schrift De bello erschien zwischen 1593 und 1609 (vgl. Stüben 2006, S. 66f.) und Suárez’ De bello erschien erst posthum 1621 (vgl. Soder 1965, S. VII). Sie können aber trotzdem an dieser Stelle mit behandelt werden, da auch sie eine Reaktion auf Vitorias Diskussion der Frage nach dem gerechten Krieg darstellen. Siehe zur Kriegsethik vor dem frühneuzeitlichen Horizont auch Scattola 2006.
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auch Molina die Begründung einer Berechtigung zum Schutz Unschuldiger vor dem Erleiden von Unrecht in Auseinandersetzung mit der klassischen Tyrannislehre als Schutz Unschuldiger vor tyrannischer Herrschaft entfaltet. Bei Francisco Suárez schließlich werden in einer späten Phase der spanischen Spätscholastik neben der Auseinandersetzung mit der Rechtfertigung von Interventionen, in der Suárez den Schutz Unschuldiger vor dem Erleiden von Unrecht als gerechten Grund für den Einsatz militärischer Gewalt anerkennt, noch einige weitere wichtige Bestimmungen ausgeführt, die für die weitere Diskussion der Interventionsfrage von besonderer Bedeutung sind. Dazu gehören vor allem die Interpretation einer Intervention zum Schutz der Mitglieder eines fremden Gemeinwesens vor dem Erleiden von Unrecht als Verteidigungskrieg und die Interpretation legitimen gewaltsamen Widerstandes eines Volkes gegen seinen tyrannischen Herrscher als gerechter Krieg. Melchor Cano. Interessant mit Blick auf die Interventionsfrage ist Melchor Canos Schrift De bello,74 in der die Rechtfertigung von Religionsinterventionen deutlich abgelehnt wird, denn Religionsverschiedenheit stellt auch für den Dominikaner Cano (1509/10–1560) keinen gerechten Kriegsgrund dar. Nach seiner Auffassung darf man keinen Krieg führen, um den Glauben weiter auszubreiten, es sei denn zu dem Zwecke, daß Prediger gehört werden, wenn man mit Wahrscheinlichkeit glaubt, daß das Volk es will, der Herrscher sich aber sträubt (Cano, De bello, S. 151).
Auch hier gilt lediglich das Prinzip einer völkerrechtlich legitimierten Erlaubnis zur Verkündigung des Glaubens, nicht aber der gewaltsamen Mission, auch, wenn eine Rechtfertigung des Einsatzes militärischer Gewalt im Kontext der Missionierung nicht deutlich begrenzt ist, da schon die Vermutung des Missionierungswunsches letztlich ausreichen kann, um den Einsatz von Gewalt doch zu legitimieren. Grundsätzlich stellt Cano in diesem Kontext jedoch heraus, dass Herrschaft auf das Wohl des Gemeinwesens ausgerichtet sein muss, was auch das „religiöse Wohl“ beinhaltet (vgl. Cano, De bello, S. 151).75 Als Grund für den gerechtfertigten Einsatz militärischer Gewalt sieht auch Cano allein eine Rechtsverletzung – lediglich erlittenes Unrecht stellt einen gerechten Grund für den Einsatz militärischer Gewalt dar (vgl. Cano, De bello, S. 151). Entscheidend für die Bewertung der Interventionsfrage ist dabei, dass Unrecht, das den Mitgliedern des eige-
74 Der Text entstand zwischen 1544 und 1546. Vgl. dazu Stüben 2006, S. 60. Zur Theorie des gerechten Krieges bei Cano siehe Plans 2000. 75 Zum öffentlichen Wohl als Zweck des Krieges siehe auch Cano, De bello, S. 159.
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nen Gemeinwesens zugefügt wurde, ebenso einen gerechten Kriegsgrund darstellt wie Unrecht, das Personen zugefügt wird, die nicht Mitglied des eigenen Gemeinwesens sind: Merke außerdem, daß nicht nur Unrecht, das den eigenen Bürgern zugefügt wurde, einen gerechten Grund für einen Krieg darstellt, sondern auch Unrecht, das Unschuldigen oder Freunden angetan wurde. Falls der französische König gegen die Seinen sehr grausam wäre und dies wirklich feststünde, wäre es dem König von England daher erlaubt, gegen ihn Krieg zu führen, um Unschuldige zu verteidigen. Ferner wäre es rechtens, wenn der König von Frankreich mit dem Gebiet der Engländer unrechtmäßig verführe, daß Spanien diese Freunden widerfahrene Unbill bestrafte (Cano De bello, S. 153).
Auch hier wird wieder klar sichtbar, dass die Verteidigung Unschuldiger als gerechter Kriegsgrund angesehen wird. Doch es wird im Kontext dieser Stelle zugleich eine weiter Anspruch zur gründlichen Prüfung der Gerechtigkeit des Einsatzes militärischer Gewalt formuliert, der sowohl diejenigen, die über den Beginn eines Krieges entscheiden, als auch die Soldaten, die ihn führen, betrifft. Ist offensichtlich, dass die angeführten Kriegsgründe ungerecht sind, darf auch der Soldat nicht in den Krieg ziehen (vgl. Cano, De bello, S. 153). Hinsichtlich des Problems der Tötung Unschuldiger im Krieg bezieht sich auch Cano auf das Prinzip des Doppeleffekts – unter bestimmten Bedingungen dürfen „wissentlich Unschuldige akzidentiell“ getötet werden, wobei nach dem Kriterium der Proportionalität der erreichte Nutzen größer als der bewirkte Schaden sein muss (vgl. Cano, De bello, S. 161). Diego de Covarrubias y Leiva. Mit der Frage nach der Rechtfertigung des Einsatzes militärischer Gewalt vor dem Hintergrund der Entdeckungen und Eroberungen in der neuen Welt setzt sich auch Diego de Covarrubias y Leiva (1512–1577) in der Schrift De iustitia belli adversus Indos auseinander.76 Dabei diskutiert er die Interventionsfrage besonders mit Blick auf die Zivilisierungsintervention, wobei die Konturen dieses Arguments zur Rechtfertigung des Einsatzes militärischer Gewalt in fremden Gemeinwesen in seiner Formulierung besonders deutlich sichtbar werden. Dabei wird eine eigentümliche Spannung zwischen der Vorstellung einer ursprünglichen Freiheit aller Menschen, die Covarrubias in einem historischen Sinne zu verstehen scheint, und der an Aristoteles anschließenden Vorstellung bestimmter Menschen als Sklaven von Natur aus sichtbar. Die Frage nach der Zivilisierungsintervention stellt sich dann folgendermaßen:
76 Der Text entstand 1547/48. Vgl. Stüben 2006, S. 63. Zur Theorie des gerechten Krieges bei Covarrubias vgl. Brieskorn 2002.
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Können die mit Klugheit und Weisheit Begabten in Anbetracht dieser natürlichen Sklaverei mit denjenigen, die von Natur aus Sklaven sind, in der Absicht Krieg beginnen, sie zu der besten Herrschaft zu führen und ihre aufgrund eigenen Ungeschicks eingerichteten Gemeinwesen in eine entwickeltere und vorteilhaftere Lebensform zu bringen, wenn die Betroffenen selbst das zurückweisen? (Covarrubias, De iustitia belli, S. 187)
Hier wird der Grund der Zivilisierung mit Blick auf die Rechtfertigung einer Intervention besonders deutlich bestimmt, denn als Ziel des Einsatzes militärischer Gewalt wird das Ziel formuliert, die Mitglieder eines fremden Gemeinwesens zur „besten Herrschaft“ und damit auf ein zivilisatorisch höheres Niveau zu bringen. Der Paternalismus, der in der Fragestellung anklingt, ist in der Ablehnung der These einer Einheit des Menschengeschlechts mit Blick auf die grundlegenden Rechte aller Menschen begründet, denn die Voraussetzung dafür die Frage überhaupt in dieser Form zu stellen liegt in der Anerkennung der Möglichkeit, dass Menschen auch als Sklaven von Natur aus angesehen werden können. Zur Beantwortung dieser Frage bezieht sich Covarrubias auf die klassische Stelle bei Aristoteles, in der herausgestellt wird, dass ein Krieg gegen die sogenannten Barbaren als von Natur aus gerechter Krieg gelten kann: Zu dieser Sache gibt es eine schöne Äußerung des Aristoteles im ersten Buch der Politik, Kapitel 5. Aristoteles spricht: Deswegen gibt es auch die Kriegskunst, in der in gewisser Weise auch ein gewinnorientierter Wesenszug liegt. Ein Teil von ihr ist nämlich die Jagd, derer man sich gegenüber wilden Tieren und solchen Menschen bedient, die, obwohl sie zum Gehorchen geboren sind, eine Oberherrschaft zurückweisen. Solch ein Krieg ist nämlich von Natur aus gerecht. Soweit Aristoteles. Trotzdem wird aus den Prämissen vor allem deutlich, daß diese Menschen keine Sklaven von Natur im Sinne von Zwang und Elend sind. Andernfalls würde es sich hier nicht um natürliche Sklaverei im Stande der Unschuld handeln. Vielmehr sind sie zu ihrem eigenen Nutzen Sklaven, damit sie den Klugen Gehorsam, Hochachtung und Ehrerbietung erweisen. Diese Sklaverei zielt nun insgesamt auf dies ab, nämlich auf den Nutzen für diejenigen, die unklug sind (Covarrubias, De iustitia belli, S. 187).
Diese Argumentation bezieht Covarrubias direkt auf den Fall der Indios und leitet daraus in Anlehnung an Aristoteles die Berechtigung ab, diese mit Krieg zu überziehen (vgl. Covarrubias, De iustitia belli, S. 187). Dabei geht die Auffassung Covarrubias’ weit über eine bloße Berechtigung zum Einsatz militärischer Gewalt zur Zivilisierung hinaus. Vielmehr besteht gemäß seiner Auffassung aufgrund eines Prinzips der Liebe sogar eine Verpflichtung zu einer solchen Zivilisierungsintervention, die aber dadurch qualifiziert wird, dass sie immer zum Vorteil der Bekriegten geführt werden soll (vgl. Covarrubias, De iustitia belli, S. 187). Auch wenn diese Auffassung hochgradig problematisch ist, handelt es sich hier um eine der deutlichsten Formulierungen des Typs Zivilisierungsintervention. Der
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Paternalismus, der diese Vorstellung trägt, ist dabei eng gekoppelt an die Vorstellung des Wohls oder Vorteils derer, die bekriegt werden und davon profitieren sollen: Mit einem gerechten Krieg meine ich indessen einen Krieg zum Vorteil der Besagten und somit mit der Wirkung, daß sie dazu gezwungen werden, sittliche Maßstäbe einzuführen, so daß der Krieg diesem Zwecke dient, nicht jedoch zur Bestrafung der Barbaren geführt wird, sondern damit diese in sittlicher Hinsicht gebessert werden. Wenn sie sich also nicht bessern und anleiten lassen wollen, können sie dazu mit Waffengewalt gezwungen werden, und in so einem Falle wird es sich insofern um einen gerechten Krieg handeln. Und doch wird das kein Krieg im eigentlichen Sinne sein, sondern eine Zurechtweisung im sittlichen Bereich. Und es ist dabei nicht unangemessen, wenn zur Zurechtweisung der Mehrheit und im Interesse einer notwendigen Organisation des Gemeinwesens Aufsässige getötet werden. Das ist nämlich zur bestmöglichen Erhaltung der gesamten Gemeinschaft erforderlich (Covarrubias, De iustitia belli, S. 187).
Daran, dass Covarrubias sich nicht auf die mögliche Rechtsfigur der Bestrafung von Unrecht als Grund für den Einsatz militärischer Gewalt bezieht, sondern auf das Ziel der Besserung der Mitglieder eines fremden Gemeinwesens, wird deutlich, dass er hier anders als die meisten Autoren, die sich in jener Zeit mit der Interventionsfrage beschäftigen, nicht primär in den Kategorien einer völkerrechtlichen, sondern in denen einer moralischen Begründung argumentiert.77 In der Entwicklung der Theorie des gerechten Krieges muss diese ‚moralische‘ Argumentation in gewisser Hinsicht als Rückschritt gelten, weil die Berufung auf Rechtstitel einen deutlicher zu überprüfenden Mechanismus zur Rechtfertigung des Einsatzes militärischer Gewalt darstellt als die Berufung auf einen moralischen Standpunkt aus der Perspektive eines Akteurs. Mit Blick auf die konkrete christliche Eroberungspraxis findet aber auch Covarrubias trotz seiner Befürwortung von Zivilisierungsinterventionen kritische Worte, etwa in seiner Kritik der Kriegssklaverei: Dann würde daraus etwas Entgegengesetztes folgen: Unschuldige, nämlich alte Leute, Frauen und andere, die Kinder der Rebellen selbst, könnten als Sklaven nach dem Recht dieses Krieges nicht gefangen werden. Und in diesem Sinne nehme ich Stellung. Aber trotzdem geschieht das Gegenteil bei diesen Indianern und Barbaren von Seiten der Christen (Covarrubias, De iustitia belli, S. 189).
77 Besonders deutlich wurde der völkerrechtliche Rahmen dieser Diskussion hier in der Rekonstruktion der Position Vitorias herausgestellt. Vgl. dazu oben, I, 2.2. Er bildet aber auch bei den meisten anderen Autoren den Rahmen der Diskussion, wobei die Grenzen zwischen völkerrechtlicher bzw. naturrechtlicher und moralischer Rechtfertigung in dieser Zeit fließend sind.
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Zu unterscheiden ist hier nämlich der Krieg zur Bestrafung der Feinde vom Krieg zum Nutzen der Feinde (vgl. Covarrubias, De iustitia belli, S. 189).78 Covarrubias hält die Zivilisierungsintervention so zwar für prinzipiell rechtfertigbar, mit Blick auf den konkreten Fall der Eroberung der Neuen Welt greift diese Rechtfertigungsfigur aber nach seiner Auffassung nicht, denn er bezweifelt, dass die Indios zur Gruppe der Barbaren im aristotelischen Sinne gehören.79 Vielmehr verweist er darauf, dass sie politisch organisiert und mit Vernunft begabt seien. Zwar werden dabei von Covarrubias Unterschiede in der Entwicklung im Vergleich zu den christlichen Völkern konstatiert, aber diese Differenzen seien nicht so groß, dass sie den paternalistischen Einsatz militärischer Gewalt rechtfertigen könnten (vgl. Covarrubias, De iustitia belli, S. 191). Über die Argumentationsfigur der Zivilisierungsintervention hinaus wird die Interventionsfrage von Covarrubias in seinen Ausführungen auch mit Blick auf die Religionsintervention in den Blick genommen. Dazu geht er der Frage nach, ob den Indios der Krieg erklärt werden darf, weil sie ungläubig sind und sich nicht zum christlichen Glauben bekennen. Erlaubt ist der Einsatz militärischer Gewalt nach seiner Auffassung, übereinstimmend mit den völkerrechtlichen Regeln jener Zeit, aber allein bei Verhinderung der Verbreitung des Glaubens (vgl. Covarrubias, De iustitia belli, S. 193). Sünden gegen das Naturgesetz seitens der Ungläubigen dürfen dagegen nicht bestraft werden, weil dem Papst – als der Autorität, die Covarrubias hier zur Diskussion dieser Frage heranzieht – keine Rechts- und Strafgewalt über die Indios zukommt: Wenn der Papst also über keine Vollmacht und keine Jurisdiktion über die Ungläubigen verfügt, wird er sie nicht bestrafen können, wie immer sie auch selbst gegen das Naturgesetz sündigen mögen. Und man kann die Ungläubigen aus diesem Grunde nicht mit Krieg überziehen, auch wenn so überhaupt diese Verbrechen gegen die Natur allgemein zugelassen werden (Covarrubias, De iustitia belli, S. 195).
Covarrubias geht auch von einem Recht Unschuldigen zu helfen aus, das er jedoch strikt von Argumentationen zu trennen sucht, die davon ausgehen, dass die weltliche Strafgewalt auch dann aktiv werden muss, wenn Gott Unrecht geschieht. Derartige Argumente, nach denen Unrecht, das Gott angetan wird, wie etwa Verletzungen des göttlichen Rechts durch Ungläubige, durch Inhaber weltlicher Gewalt bestraft werden muss, überzeugen nach der internen Logik der christlichen
78 Weist jemand die Oberherrschaft dagegen ‚unbilligerweise‘ zurück, gilt dies als gerechter Kriegsgrund. Vgl. Covarrubias, De iustitia belli, S. 189. 79 „Daß die Indianer zu dieser Gruppe gehören, bezweifle ich“ (Covarrubias, De iustitia belli, S. 191).
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Lehre nämlich deshalb nicht, weil Gott eine jenseitige Strafgewalt zur Bestrafung derartiger Sünden zukommt, wohingegen dem Menschen keine weltliche Gewalt zu diesem Zwecke verliehen ist: Und zu dem Argument, daß wir dem Nächsten gegenüber zur Hilfeleistung verpflichtet seien: Dann gilt das auch für Gott. Diese Folgerung wird geleugnet: Denn der Nächste wird, wenn wir nicht zur Hilfe kommen, unterdrückt und nicht in der Lage sein, Vergeltung zu üben. Anders Gott. Denn Gott wird auch in der Lage sein, Vergeltung zu üben, gemäß jenem Wort: Die Rache ist mein, und ich zahle heim (Dt 32,35) (Covarrubias, De iustitia belli, S. 197).
Hier kommt also schließlich in den Überlegungen Covarrubias auch die Figur des Schutzes Unschuldiger ins Spiel. Unterdrückung wird dabei aber nicht primär im Sinne einer Verletzung der Rechte von Individuen verstanden, die es zu verhindern gilt, damit die Einzelnen geschützt werden, sondern im Sinne einer Rechtsverletzung, die bestraft werden muss. Die Figur des Schutzes Unschuldiger als Individuen kommt dann schließlich mit Blick auf die Tötung Unschuldiger aus religiösen Gründen in dem Sinne in den Blick, dass Unrecht, das ihnen geschieht, behoben werden muss. Dies illustriert Covarrubias unter Verweis auf die Bibelstelle 1 Kor, 5,11: Außerdem ergibt sich aus der Autorität der Heiligen Schrift, daß jene Götzendiener nicht einfach bloß Götzendiener, sondern Götzendiener in Verbindung mit der Tötung Unschuldiger waren, weil sie ihre Söhne und Töchter opferten. Für diesen Fall muß man sagen, daß der Krieg zur Aufhebung dieses Unrechts, das so vielen Unschuldigen widerfahren ist, gerecht ist, wie wir gleich ausführen werden (Covarrubias, De iustitia belli, S. 197).
Diese Figur des Schutzes Unschuldiger als gerechter Grund für den Einsatz militärischer Gewalt wird in Covarrubias’ Ausführungen schließlich konkret auf den Fall der Indios bezogen, indem eine solche Berechtigung zur Einmischung mit Verweis auf Pflichten eines Menschen gegenüber dem Nächsten begründet wird. Ein Grund für einen gerechten Krieg gegen die Indianer kann in dem Ziel bestehen, mehreren Unschuldigen zu Hilfe zu kommen, die Jahr für Jahr den Götzenbildern geopfert und getötet werden. Diese Unschuldigen sind nämlich Nächste, da alle Menschen nach allgemeiner Ansicht im Verhältnis zueinander Nächste sind, und wir können, ja wir sind dazu verpflichtet, einem Sterbenden zu Hilfe zu kommen, der Unrecht von seiten eines anderen leidet, wenn wir ihn ohne große Gefahr von dem Unrecht befreien können, wie ich zu dem Kapitel Quantae, De sententia excommunicationis (‚Über den Urteilsspruch der Exkommunikation‘), vermerkt habe. Alle diese Indianer jedoch, die Jahr für Jahr unschuldig geopfert und getötet werden, erbitten stillschweigend von allen Hilfe. Und auch wenn sie das nicht tun, sind wir verpflichtet und können ihnen zu Hilfe kommen. Also können die Spanier zur Abwendung des Unrechts an diesen Menschen und zur Vermeidung ihrer Tötung den Indianern erlaubtermaßen Krieg erklären und diesen Krieg gegen die Indianer in höchst gerechter Weise führen (Covarrubias, De iustitia belli, S. 205).
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Solche Interventionen sind nach Auffassung Covarrubias’ auch als paternalistische Interventionen erlaubt, wenn die Indios nicht um Hilfe bitten. Besonders interessant ist an dieser Stelle jedoch, dass Covarrubias anmerkt, dass für die wirkliche Legitimität des Einsatzes militärischer Gewalt bezüglich des Urteils über das Vorliegen eines gerechten Interventionsfalles mehr nötig ist als allein das Urteil des Intervenierenden. Als besser legitimiert kann eine Intervention nämlich dann gelten, wenn man davon ausgehen kann, dass die zu Schützenden um Hilfe bitten. Wie ein stillschweigendes Erbitten von Hilfe aussehen und erkannt werden kann, zeigt Covarrubias allerdings nicht. So findet sich auch hier schließlich die Figur der Verteidigung Unschuldiger als gerechter Grund für den Einsatz militärischer Gewalt, und auch hier ist dieser Rechtsgrund auf Unrecht bezogen, das Individuen geschieht. Bezüglich der Einschätzung der Gerechtigkeit des Einsatzes militärischer Gewalt gegen die Indios formuliert auch Covarrubias aus der Perspektive der Theorie des gerechten Krieges schließlich kritische Konsequenzen: Aus dem Vorangeschickten folgt und ist deutlich: Ließen die Indianer und Barbaren die ungehinderte Verkündigung des evangelischen Gesetzes zu, ohne dieses jedoch annehmen zu wollen, könnten sie allein aufgrund des Umstandes, daß sie das evangelische Gesetz nicht annehmen wollen, nicht mit Krieg überzogen werden. Das ist offenbar sehr zutreffend. Ferner darf es nicht sein, daß die Betroffenen zuerst durch einen Krieg unterworfen werden, damit sie dann als Untertanen das evangelische Gesetz bereitwilliger annehmen. Denn Christen und Gläubige können öffentlich dartun, predigen und sich darum bemühen, daß die Verkündigung eingängiger und offener sei. Trotzdem können wir Ungläubige nicht erst durch einen Krieg unterwerfen, damit sie als Untertanen aufgrund dieser Unterwerfung dazu gezwungen werden, das evangelische Gesetz zu übernehmen. Das geschieht dann nämlich aus Furcht und infolge von Zwang, was nicht gestattet ist (Covarrubias, De iustitia belli, S. 199).80
Gegen ungerechten Einsatz militärischer Gewalt gegen sie können die Indios stattdessen vielmehr „gerechtermaßen dem Einfall Widerstand leisten, weil sie ihre Güter und auch ihre Provinzen gerechtermaßen besitzen“ (Covarrubias, De iustitia belli, S. 199).81
80 Die Indios können auch nicht gezwungen werden das christliche Gesetz anzunehmen, wenn sie von dessen Wahrheit überzeugt sind. Vgl. Covarrubias, De iustitia belli, S. 199. 81 In seiner Kritik an den ungerechten Handlungen im Rahmen der Eroberungen weist Covarrubias hier ähnlich wie Las Casas das Handeln der Eroberer als tyrannisch aus, so dass schließlich der Widerstand der Indios gegen die Eroberer als gerechter Krieg verstanden werden kann: „Außerdem steht aufgrund des vorangegangenen fest, daß Soldaten in diesem Krieg viel Grausames und Tyrannisches an Unschuldigen und deren Gütern verübten“ (Covarrubias, De iustitia belli, S. 201).
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Domingo de Soto. Domingo de Soto (1494/95–1560), der schon im Kontext der Disputation von Valladolid eine Rolle spielte, als er zu Beginn der zweiten Sitzungsperiode die Positionen der Kontrahenten für das Auditorium zusammenfasste, sich dabei aber der Äußerung einer eigenen Position zur Interventionsfrage enthielt, äußert sich in einem Kommentar zur Quaestio 40 des Thomas von Aquin ebenfalls zur Frage nach der Rechtfertigung von Interventionen.82 Mit seiner Auffassung zum gerechten Krieg steht de Soto ganz in der Tradition, wenn er davon ausgeht, dass die Voraussetzung für den Beginn eines Krieges die Gewissheit seiner Gerechtigkeit ist und es lediglich „Friede und Ruhe für ein Gemeinwesen“ sind, nicht aber das Streben nach Expansion, die ein legitimes Kriegsziel darstellen können (vgl. De Soto, De bello, S. 119).83 Dabei gehören für de Soto auch weitreichende Strafberechtigungen zum gerechten Krieg, die zum Teil sogar als notwendig vorgestellt werden (vgl. De Soto, De bello, S. 119). Die Diskussion der Interventionsfrage, die auch bei ihm eng mit der Tyrannislehre verknüpft ist, beginnt de Soto mit der Diskussion der Frage danach, woher oder wie ein Herrscher eine Berechtigung haben kann, Richter über einen anderen Herrscher zu sein. Dazu wirft de Soto folgende Frage auf: „Woher hat es ein Herrscher, daß er Richter über einen anderen Herrscher ist?“ (De Soto, De bello, S. 119). Auffällig ist hier schon in der Formulierung der Fragestellung die Interpretation des auctoritas principis-Kriteriums als Bedingung dafür, ein Recht über einen anderen Herrscher zu erhalten. Nun stellt nach Auffassung de Sotos auch der Schutz Unschuldiger vor einem Tyrannen einen gerechten Grund für den Einsatz militärischer Gewalt dar: Aufgrund des natürlichen Rechts und des Völkerrechts wird der betreffende Herrscher eben genau dadurch, daß ein gerechter Krieg erklärt wird, zur höhergestellten Person. Das wird bewiesen: Denn irgend jemand muß höhergestellt sein. Das ist kein anderer als der, der in gerechter Weise einen gerechten Krieg befohlen hat. Der Grund für den gerechten Krieg besteht darin, Unschuldige vor einem Tyrannen zu beschützen. Falls daher ein Herrscher gegenüber seinen Untertanen ein Tyrann wäre, könnte ein anderer König diesem Herrscher den Krieg erklären und ihn seiner Güter berauben (De Soto, De bello, S. 119).
Mit Blick auf die aufgeworfene Frage wird hier zweierlei deutlich: Durch die Erklärung eines gerechten Krieges wird derjenige Herrscher, der sich im Recht befindet, zum legitimen Richter über den Herrscher, gegen den er gerechterweise
82 De Sotos Text De bello ist ein Teil des umfangreichen Werkes De iustitia et jure, das erstmals 1553–54 erschien. Vgl. Stüben 2006, S. 58. Zur Theorie des gerechten Krieges bei de Soto siehe auch Scattola 2000. 83 De Soto knüpft hier sehr stark an Vorstellungen an, die Augustinus in seiner Beschäftigung mit der Frage nach dem gerechten Krieg formuliert hat. Vgl. dazu De Soto, De bello, S. 109.
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Krieg führt. Dass der Status der legitimen Autorität zur Kriegsführung und zur Richtergewalt direkt mit dem Verhalten des anderen Herrschers gegenüber seinen Untertanen verbunden ist, wird darin deutlich, dass dessen tyrannisches Verhalten gegenüber seinen Untertanen, verbunden mit dem Recht Unschuldige vor dem Erleiden von Unrecht zu beschützen, als gerechter Grund für den Einsatz militärischer Gewalt gegen einen solchen Herrscher aufgefasst wird (vgl. De Soto, De bello, S. 119f.). Begründet wird diese Berechtigung zum Schutz von außen im Weiteren durch den Verweis auf eine individuelle Berechtigung zur Nothilfe, nach der jeder einen Unschuldigen gegen einen Angreifer verteidigen darf: „Denn eine Privatperson kann einen Unschuldigen verteidigen, wenn dies mit einem Schaden für den Angreifer verbunden ist. Also gilt das für einen Herrscher umso mehr […]“ (De Soto, De bello, S. 119). Dabei gilt es jedoch auch nach de Soto weitere Kriterien zu beachten, wobei vor allem die Feststellung des Vorliegens tyrannischer Herrschaft innerhalb eines fremden Gemeinwesens ein Problem darstellt.84 Deshalb ist zu beachten, daß man, falls ein Herrscher gegenüber seinen Untertanen ein Tyrann zu sein scheint, nicht gleich einen Krieg gegen ihn entfachen darf. Vielmehr ist es erforderlich zu beobachten, bis der Sachverhalt eindeutig geklärt ist. Das ist offensichtlich, weil so eine Maßnahme bei unklarer Sachlage das Heraufbeschwören großer Gefahr bedeuten würde (De Soto, De bello, S. 119f.).85
So bleibt hier bei de Soto schließlich ein gravierendes Problem in der Rechtfertigung von Interventionen bestehen, das auch in den früheren Konzeptionen schon aufgeworfen, aber nicht gelöst wurde. Da klare Kriterien zur Bestimmung des Vorliegens einer Tyrannis fehlen, bleibt die Entscheidung über eine Intervention immer dem Herrscher eines fremden Gemeinwesens überlassen, der für de Soto im gerechten Krieg zum legitimen Richter über ein fremdes Gemeinwesen werden kann, ohne dass eine übergeordnete Instanz die Legitimität einer Intervention unparteiisch beurteilen könnte. Die spätere Konzentration auf die Unverletzlichkeit staatlicher Souveränität im Völkerrecht stellt in erster Linie einen Versuch dar, die Missbrauchsgefahr, die sich aus einem solchen Regelungsdefizit ergibt, auszuschließen.86
84 Dieses Problem wird von de Soto immerhin offen gekennzeichnet. 85 Gerechte Kriege dürfen nach Auffassung de Sotos auch präventiv geführt werden. Vgl. De Soto De bello, S. 119f. Das Problem der Tötung Unschuldiger in einem gerechten Krieg stellt für de Soto keine große legitimatorische Herausforderung dar, er beruft sich hier auf die klassische Lehre des Doppeleffekts. Vgl. De Soto, De bello, S. 125ff. 86 Vgl. dazu unten, I, 5.
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Luis de Molina. Auch Luis de Molinas (1535/36–1600) Auseinandersetzung mit der Frage nach dem gerechten Krieg in seinem Kommentar zur Quaestio 40 des Thomas von Aquin gehört zu den wichtigen Texten der Kriegsethik in der spanischen Spätscholastik und ist für die Diskussion der Interventionsfrage von Interesse.87 Die Begründung einer Berechtigung zur Kriegsführung entwickelt Molina darin in enger Anlehnung an Thomas von Aquin, doch deutlicher als dieser stellt er heraus, wie bedeutend die rechtserhaltende Funktion des Einsatzes militärischer Gewalt ist (vgl. Molina, De bello, S. 215),88 hängt doch die Stabilität eines Rechtssystems von der Garantie der Bestrafung von Unrecht ab: Füge hinzu, daß der Erdkreis auch in keinem gedeihlichen Zustand sein könnte und die Lage der Unschuldigen misslich wäre, wenn sie für Unrechtstaten, die von Gewaltherrschern, Wegelagerern und Räubern begangen wurden, keine gerechte Vergeltung und Wiedergutmachung erlangen könnten. Und zu Recht sagt Augustinus im Kapitel Dominus (23, q. 2): Als gerecht bezeichnet man solche Kriege, die Unrecht ahnden, wenn ein Volk oder eine Bürgergemeinde büßen muß, die es verabsäumte zu ahnden, was von den eigenen Bürgern unredlicherweise verübt wurde, oder zurückzugeben, was zu Unrecht weggeschafft wurde (Molina, De bello, S. 215).
Aufgezeigt wird diese rechtserhaltende Funktion des Einsatzes militärischer Gewalt von Molina mit Blick auf das Problem, dass Unrecht, das von den Mitgliedern eines fremden Gemeinwesens begangen wurde, nicht bestraft wird und dass ein Herrscher eines fremden Gemeinwesens unter Umständen dazu berechtigt sein kann, solches Unrecht, das durch fremde Untertanen begangen wurde, zu bestrafen.89 Dabei liegt der Vorstellung des Wertes einer gerechten Ordnung, die durch den Einsatz militärischer Gewalt geschützt werden kann, bei Molina eine weitere Vorstellung der Unterstützung des ‚Guten‘ zugrunde, die in seiner Beschäftigung
87 Der Kommentar De bello ist ein Teil von Molinas umfangreichen Werk De iustitia et iure, das zwischen 1593 und 1609 erschien. Vgl. Stüben 2006, S. 66f. Zur Theorie des gerechten Krieges bei Molina siehe Brieskorn 2000. 88 Von der legitimen rechtserhaltenden Funktion des Einsatzes militärischer Gewalt spricht auch der Bericht des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland zum Problem des gerechten Krieges aus dem Jahr 2007. Dort wird die Position vertreten, dass allein mit Blick auf den Einsatz militärischer Gewalt „rechtserhaltende Gewalt“ als gerechtfertigt gelten könne. Siehe Rat der Evangelischen Kirche in Deutschland 2007, S. 65–70. 89 Grundsätzlich liegt die legitime Autorität zur Kriegsführung beim Herrscher oder beim freien Gemeinwesen. Vgl. Molina, De bello, S. 223. Allein in Ausnahmefällen kann dem Herrscher eines Gemeinwesens eine Richtergewalt über ein anderes Gemeinwesen zukommen. Vgl. Molina, De bello, S. 225. Zudem kann nur schweres Unrecht – dies stellt Molina unter Verweis auf Vitoria heraus – den Einsatz militärischer Gewalt rechtfertigen. Vgl. Molina, De bello, S. 241.
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mit Beistandsrechten im Kriegsfall deutlich wird. Wenn jemand einen gerechten Grund hat einen Krieg zu führen, dann besteht auch ein gerechter Grund ihn zu unterstützen: Die Begründung dafür lautet: Denn jemanden in einem gerechten Krieg zu unterstützen bedeutet, am Guten mitzuwirken; dadurch ist das jedem mit Zustimmung desjenigen erlaubt, der entweder ausdrücklich oder der Auslegung nach oder mutmaßlicherweise über das Recht verfügt, Krieg zu beginnen. Dann ist nämlich ein Grund vorhanden, und auch der Gegenstand ist gut, ohne daß eine Autorität fehlt, und aus diesem Grund darf so ein Auswärtiger sich an einem gerechten Krieg beteiligen und zu ihm seinen Beitrag leisten (Molina, De bello, 241f.).
Diese Berechtigung dazu „am Guten mitzuwirken“ muss dabei nach Molina so verstanden werden, dass der Schutz Unschuldiger, als die hier aber in erster Linie Verbündete und nicht unschuldige Untertanen eines fremden Staates verstanden werden, durchaus eine Pflicht sein kann: Wenn es mit keinem merklichen Schaden für ihn (den Nothelfenden, Anm. S.L.) selbst verbunden ist, besteht für ihn die Verpflichtung, einen Unschuldigen vor dem Tode und aus jedweder ungerechten Bedrückung zu retten. Aus diesem Grunde ist ein Krieg zugunsten Unschuldiger gerecht, damit diese Unschuldigen aus Unrecht und ungerechter Bedrückung befreit werden (Molina, De bello, S. 243).
Die Frage, ob Molina den Schutz Unschuldiger auch auf die individuelle Dimension bezieht, muss hier aber vorerst offen bleiben. Interventionen zur Zivilisierung eines Volkes lehnt Molina ebenso ab wie Religionsinterventionen. Anders als viele Autoren seiner Zeit lehnt er die Zivilisierungsintervention nicht nur mit Blick auf den konkreten Fall der spanischen Eroberungen, sondern grundsätzlich ab, da sie als solche auf keinen gerechten Grund im Sinne einer Rechtsverletzung zurückgeführt werden kann: Aus demselben Grunde erhellt, daß kein gerechter Grund für die kriegerische Unterwerfung eines Volkes ist, daß dieses Volk barbarisch, roh und besser dazu geeignet ist, von anderen regiert und in guter Sittlichkeit unterwiesen zu werden, damit es sich selbst regieren kann. Es gab nämlich Leute, die der Meinung waren, daß dies ein gerechter Grund für die kriegerische Unterwerfung einiger Barbarenvölker sei, z.B. der Einwohner des brasilianischen Gebietes und überhaupt der Neuen Welt, sowie der Äthiopier (Molina, De bello, S. 245).
Mit Blick auf die Frage nach der Begründung einer Religionsintervention vertritt Molina die Standardposition, die seinerzeit diesbezüglich von einem völkerrechtlichen Standpunkt aus vertreten wurde. Missionierung muss demnach in dem Sinne erlaubt werden, dass die Verkündung des Evangeliums zugelassen wird, Religionsverschiedenheit stellt aber per se keinen gerechten Kriegsgrund dar und
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Ungläubige fallen nicht unter die Rechts- und Strafgewalt der Kirche (vgl. Molina, De bello, S. 257, 261). Mit der Frage nach der Rechtfertigung von Interventionen zum Schutz Unschuldiger befasst sich Molina in direkter Auseinandersetzung mit Vitoria, dessen Position von ihm ausführlich zitiert und kommentiert wird. Entscheidend ist für ihn diesbezüglich, dass das Unrecht, das Unschuldigen geschieht, als gerechter Grund für den Einsatz von Gewalt zur Verhinderung desselben verstanden wird. Die folgenden Ausführungen, in denen dies deutlich wird, stellen einen direkten Kommentar zu Vitorias Argument der Rechtmäßigkeit des Einsatzes militärischer Gewalt zum Schutz Unschuldiger dar: Somit kann ein jeder nach dem natürlichen Recht Unschuldige gegen Unterdrückung und Gewaltherrschaft verteidigen, und das ist in erster Linie das Amt der Herrscher. Und es ist nicht erforderlich dabei zuzusehen, wenn Unschuldige zum Tode geführt werden, vielmehr wird es rechtens sein, auf der Stelle zu erzwingen, daß die Ungläubigen ihren abgrundschlechten Brauch aufgeben und die grausamen und verkehrten Gesetze abgeschafft werden – falls es dazu erforderlich sein sollte, indem man einen Krieg anfängt, die Rechtssatzungen des Krieges zur Anwendung bringt, sowie Herrscher ab- und andere einsetzt, falls es dazu erforderlich sein sollte. Und daß die Barbaren solche Gesetze und Opfer wollen und Fremde nicht wollen, steht dem nicht entgegen, aus dem besagten Grunde einen Krieg herbeizuführen. Denn die Barbaren sind in diesem Bereich nicht ihre eigenen Herren, so daß sie sich oder ihre Kinder einem unrechten Tode ausliefern könnten; jedwedem steht es nämlich frei, diese Leute auch gegen ihren Willen zu schützen, wie an demjenigen offenbar ist, der sich mit einem Strick aufhängen oder ins Meer stürzen will (Molina, De bello, S. 263).
In dieser Auseinandersetzung Molinas mit der Position Vitorias wird deutlich, dass eine solche Qualifikation von Unrecht hier direkt mit dem Herrscherbild der Tyrannislehre verknüpft ist. So ist es nämlich Aufgabe der Herrscher Unschuldige gegen „Unterdrückung und Gewaltherrschaft“ zu verteidigen; der Gegner in einer solchen Auseinandersetzung wird als Tyrann qualifiziert. Das Verständnis legitimer Herrschaft, das einer solchen Konzeption tyrannischer Herrschaft gegenüber gestellt wird, verweist dagegen auf den eigentlichen Schutzauftrag eines Herrschers, der ausdrücklich auch den Schutzbereich des eigenen Gemeinwesens überschreitet, wenn als Aufgabe des Herrschers auch die Verteidigung Unschuldiger gegen Unterdrückung und Gewaltherrschaft verstanden wird. Diese Berechtigung zur Kriegsführung zum Schutz Unschuldiger vor Erleiden von Unrecht, die bis zu der Berechtigung geht einen neuen Herrscher über ein Gemeinwesen einzusetzen, wenn dies zur Beendigung solchen Unrechts notwendig ist, ist aber auch bei Molina durch einen Verweis auf die Geltung der Regeln des ius in bello im Rahmen des Einsatzes militärischer Gewalt begrenzt. Der Paternalismus, der es erlaubt solche Aktionen auch gegen den Willen der zu Schützenden durchzuführen, wird hier zum ersten Mal in Analogie zum Recht Unrechtshandlungen
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aufzuhalten, die jemand gegenüber sich selbst durchführen könnte, begründet, was Molina unter Verweis auf das Beispiel der Selbsttötung veranschaulicht. Da nach Auffassung Molinas niemand über das Recht verfügt, sich selbst ein Unrecht anzutun oder zuzulassen, dass ihm massives Unrecht widerfährt, ist es für ihn erlaubt sowohl Einzelne als auch Gemeinwesen gegen ihren Willen vor dem Erleiden von Unrecht zu schützen. Schon bei Vitoria klang an, dass dieser Begründung eine Vorstellung der Unveräußerlichkeit bestimmter grundlegender individueller Rechte zugrunde liegt oder zugrunde liegen könnte.90 Mit Blick auf das ius post bellum ist für Molina aber klar, dass sich für die intervenierende Partei aus einer solchen Form des Einsatzes militärischer Gewalt keine weiten besitz- oder beuterechtlichen Ansprüche ergeben, sondern dass auch aus dieser Sicht die Rechte der zu Schützenden im Vordergrund stehen: Bedenke trotzdem: da die Kriegführenden einen solchen Krieg nicht beginnen, damit etwas Eigenes wiedererlangt oder eigenes Unrecht bestraft wird, können sie von den Gütern der Feinde lediglich in dem Umfang der Kriegskosten und des Ausgleichs für den Schaden und die Unrechtstaten nehmen, die ihnen im Rahmen der Kampfhandlungen von den Feinden zugefügt wurden, und (wie es scheint) im Umfang einer gerechten Belohnung, die sie für einen solchen Krieg verdient haben. Die rechtlichen Güter jedoch, so welche übrig sein sollten, scheinen denen zuzustehen, zu deren Gunsten die Kriegführenden kämpfen und deren Interessen sie vertreten: Diese Leute sind die Unschuldigen, die unterdrückt werden und die gerechtermaßen zu ihrer eigenen Verteidigung sowie zur Beseitigung einer solchen Last und Bedrückung streiten könnten (Molina, De bello, S. 263).
Die Tötung Unschuldiger schließlich, die sich beim Einsatz militärischer Gewalt auch zum Schutz Unschuldiger nicht vermeiden lässt, stellt auch für Molina, der bezüglich dieses Problems wie seine Vorgänger auf die klassische Lehre des Doppeleffektes zurückgreift, kein besonderes Problem der Rechtfertigung dar (vgl. Molina, De bello, 305ff.). Die akzidentielle Tötung Unschuldiger ist, wenn sie unvermeidlich ist, erlaubt, aber nur bei verhältnismäßigem Einsatz der Mittel und nur als ultima ratio (vgl. Molina, De bello, 309). Francisco Suárez. Ein zentraler Autor der spanischen Spätscholastik, der vor allem mit Blick auf die Entwicklung der Theorie des Völkerrechts von besonderer Bedeutung ist, ist Francisco Suárez (1548–1617), dessen Werk in der späten Phase der spanischen Spätscholastik zu verorten ist.91 In den Schriften De legibus und De bello befasst sich Suárez mit Fragen nach Begründung und Geltung des Völker-
90 Vgl. oben, I, 2.2. 91 Zur Bedeutung Suárez’ für die Geschichte des Völkerrechts vgl. Soder 1973.
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rechts, dem Recht des Krieges und der Frage nach dem Widerstandsrecht.92 Zudem findet sich in seinen Überlegungen schon ein recht weit entwickelter Begriff von Volkssouveränität (vgl. Soder 1965, S. 11). Im Vergleich zu vielen der anderen Autoren der spanischen Spätscholastik äußert sich Suárez auch sehr deutlich zur Begründung des Völkerrechts, weshalb dieser Aspekt hier, anders als bei den vorher besprochenen Positionen, genauer in den Blick genommen werden soll. Das Völkerrecht wird von Suárez als ein Gewohnheitsrecht angesehen, in dem sich ein consensus omnium bezüglich seiner Normen und deren Geltung ausgedrückt findet: Die Normen des Völkerrechts unterscheiden sich darin von denen des ,Bürgerrechts‘, daß sie nicht schriftlich, sondern durch die Gewohnheit, und zwar nicht bloß der einen oder anderen Nation oder Provinz, sondern aller oder fast aller Nationen Geltung haben. […] Wenn es aber durch die Gewohnheit aller Völker eingeführt wurde und alle bindet, so halten wir das für das eigentliche Völkerrecht (Suárez, De legibus, S. 61).
Für die weitere Geschichte der Theorie des Völkerrechts ist hier vor allem die Einführung der Unterscheidung zwischen einem Völkerrecht als ius gentium inter se und einem Völkerrecht als ius gentium intra se von Bedeutung, denn es gibt nach Auffassung Suárez’ [z]wei Weisen des Völkerrechts. – Zur weiteren Erklärung füge ich noch hinzu, daß etwas auf zweifache Weise zum Völkerrecht gerechnet werden kann […]: Erstens im Sinne eines Rechtes, das alle Völker und die verschiedenen Nationen im Verkehr untereinander beachten müssen; zweitens im Sinne eines Rechtes, das die einzelnen Staaten und Reiche im Innern beachten und das wegen seiner Ähnlichkeit und Übereinstimmung (bei den verschiedenen Völkern) Völkerrecht genannt wird. In der ersten Bedeutung scheint es das Völkerrecht im eigentlichsten Sinn zu sein, das sachlich vom Recht der einzelnen Staaten, wie wir es erklärt haben, unterschieden ist. Hierher gehören die Beispiele vom Gesandtenrecht und vom Handelsverkehr, die wir erklärt haben, ebenso das Recht, Krieg zu führen; soweit das letztere in der Befugnis begründet ist, die ein souveräner Staat zur Bestrafung oder Ahndung oder Wiedergutmachung des Unrechts hat, das ihm von anderen (Staaten) zugefügt worden ist, gehört es im eigentlichen Sinn zum Völkerrecht. Denn allein kraft der natürlichen Vernunftordnung war es nicht notwendig, daß diese Befugnis dem ungerecht geschädigten Staat zukommt; die Menschen hätten auch eine andere Art von Sühneverfahren einführen können oder jene Befugnis einem dritten Fürsten als einem Schiedsrichter mit Zwangsgewalt geben können (Suárez, De legibus, S. 65).
Den Geltungsgrund für Normen des Völkerrechts in einem weiten Sinne können deshalb zum einen Regeln des Verkehrs der Völker untereinander bilden, die sich
92 Für Suárez’ Theorie des Völkerrechts ist zudem die Schrift Defensio fidei catholicae wichtig, auf die hier aber nicht im Detail eingegangen wird, da die Diskussion der Interventionsfrage in ihr keine Rolle spielt. Zur Theorie des gerechten Krieges bei Suárez siehe Specht 2000.
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gewohnheitsrechtlich herausgebildet haben. Zum anderen kann unter Rekurs auf einen impliziten oder stillschweigenden Konsens aller aber zur Bestimmung der Geltung von Prinzipien oder Normen auf die Praxis verschiedener Gemeinwesen verwiesen werden, in der sich in Übereinstimmungen von Wertvorstellungen ein Geltungsgrund für die Richtigkeit einer Norm entdecken lassen kann. Den Hintergrund für die Möglichkeit eines solchen impliziten Konsenses aller bildet die Vorstellung einer Einheit des Menschengeschlechtes, die in den Ausführungen Suárez’ besonders deutlich sichtbar wird (vgl. Soder 1973, S. 192ff.). Diese Vorstellung der Einheit des Menschengeschlechts spielt dabei auch hinsichtlich der Geltung des Völkerrechts eine wichtige Rolle: Grundlage dieses Rechtsbereiches ist die Tatsache, daß das Menschengeschlecht, wie sehr es auch in verschiedene Völker und Reiche geteilt ist, doch immer eine gewisse Einheit bildet, und zwar nicht nur eine biologische Einheit, sondern auch die Einheit einer gleichsam politischen, durch das Sittengesetz geforderten Gemeinschaft. Das geht aus dem natürlichen Gebot der gegenseitigen Liebe und Hilfsbereitschaft hervor, die sich auf alle, auch die Fremden erstrecken soll, welcher Nation sie auch angehören mögen. Zwar ist jeder selbständige Stadtstaat, jede Republik und jedes Königreich in sich eine vollkommene, aus ihren Gliedern bestehende Gemeinschaft. Trotzdem ist jeder dieser (Staaten), sofern er zum Menschengeschlecht gehört, ein Glied dieser Gesamtgemeinschaft. Denn niemals genügten sich die Völker und Staaten einzeln genommen so, daß sie nicht gegenseitiger Hilfe, Zusammenarbeit und Verständigung bedürften, manchmal (nur) zur größeren Wohlfahrt und zum höheren Nutzen, manchmal aber auch wegen einer wahren moralischen Notwendigkeit und des Ungenügens (des einzelnen Staates), wie die praktische Erfahrung zeigt. Deshalb ist eine Rechtsordnung erforderlich, durch die diese Verständigung und Zusammenarbeit geregelt wird. Zu einem bedeutenden Teil leistet das freilich schon die natürliche Vernunftordnung; aber sie allein reicht doch nicht in allem aus. Deshalb konnten durch die Gewohnheit der Völker zusätzliche besondere Rechtsnormen eingeführt werden (Suárez, De legibus, S. 67).
Die Notwendigkeit eines Völkerrechts ergibt sich somit letztlich aus der Sozialnatur des Menschen. Anders als in den klassischen Ansätzen, wie etwa bei Aristoteles, macht die Forderung nach Vergesellschaftung hier jedoch nicht an den Grenzen eines Gemeinwesens halt; vielmehr wird sie stattdessen über diese hinaus als Gemeinschaft der Menschen und als Gemeinschaft der Staaten weiter gedacht. Dabei wird das Gebot der gegenseitigen Hilfe, das in den bisher vorgestellten Positionen vor allem unter Rekurs auf Bibelstellen begründet wurde, hier als völkerrechtliche Norm ausgewiesen. Mit der Frage nach dem gerechten Krieg setzt sich Suárez in der Disputation De bello ausführlich auseinander.93 Die Diskussion der grundsätzlichen Frage
93 Diese sehr umfangreiche Diskussion der Frage nach dem gerechten Krieg stellt unter dem Titel De bello einen Teil des Werkes De triplici virtute theologica dar.
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nach der Möglichkeit der Rechtfertigung des Einsatzes militärischer Gewalt beginnt er in Auseinandersetzung mit dem möglichen Einwand, dass der Krieg „wesensnotwendig unsittlich“ sei (Suárez, De bello, S. 119). Dabei wird schon zu Beginn der Auseinandersetzung mit dieser Frage das Problem berücksichtigt, dass der Einsatz militärischer Gewalt immer mit Folgen verbunden ist, die als schlecht bewertet werden müssen. Es gilt aber hier für Suárez im Anschluss an die Tradition, dass der Einsatz militärischer Gewalt als letztes Mittel zum Erreichen eines legitimen Zieles gerechtfertigt werden kann. Der Krieg muss, wenn möglich, vermieden werden, aber Suárez geht davon aus, dass der Krieg nicht „unbedingt verwerflich sei, denn die nachfolgenden Übel seien nicht wesentlich mit ihm verbunden; und es würden noch größere Übel folgen, wenn er niemals erlaubt sei“ (Suárez, De bello, S. 119). Auch mit Blick auf das Ziel des Krieges steht Suárez in der klassischen Tradition, denn dieses kann allein der Frieden sein und der Einsatz militärischer Gewalt kann nach seiner Auffassung unter bestimmten Bedingungen das einzige Mittel zum Erreichen dieses Zweckes darstellen.94 Das Recht auf Selbstverteidigung, auf welches das Recht zur Kriegführung zurückgeführt werden kann, fasst Suárez als naturgegeben und notwendig auf und beruft sich dabei auf den klassischen Grundsatz, dass Gewalt mit Gewalt abgewehrt werden darf (vi vim repellere licet), und darauf, dass unter bestimmten Bedingungen sogar eine Pflicht zum Verteidigungskrieg bestehen kann (vgl. Suárez, De bello, S. 121). Zudem muss auch ein Angriffskrieg nach Ansicht Suárez’ nicht grundsätzlich schlecht sein (vgl. Suárez, De bello, S. 121). Dabei gilt als Kriterium für den Einsatz militärischer Gewalt, wie es hier am Beispiel des Verteidigungskrieges expliziert wird, immer ein Prinzip der Verhältnismäßigkeit: er muss mit der „Maßhaltung, die gerechter Notwehr entspricht, geführt“ werden (Suárez, De bello, S. 123). Mit Blick auf die Kriterien des gerechten Krieges orientiert sich Suárez hier grundsätzlich an dem Katalog, den Thomas von Aquin aufgestellt hat, und betont dabei besonders die kritische und Gewalt einschränkende Funktion der Theorie des gerechten Krieges.95
94 Vgl. Suárez, De bello, S. 121: „Zu dem Bekräftigungsgrund ist also zu sagen, der Krieg stehe nicht zum ehrenvollen Frieden, sondern nur zum Frieden um jeden Preis [wesentlich] im Widerspruch. Er ist nämlich viel eher ein Mittel, um wahren und sicheren Frieden zu erlangen. Ebenso verstößt der Krieg nicht [wesensnotwendig] gegen die Feindesliebe. Denn wer in gerechter Sache Krieg führt, haßt nicht die Personen, sondern nur die Taten, die er gerechterweise bestraft.“ 95 Vgl. Suárez, De bello, S. 125: „Damit ein Krieg sittlich erlaubt ist, müssen mehrere Bedingungen erfüllt sein, die auf drei Hauptpunkte zurückgeführt werden können: 1. Er muß von der rechtmäßigen Gewalt geführt werden. 2. Ursache und Rechtsgrund müssen gerecht sein. 3. Die rechte Art der Kriegsführung muß eingehalten werden, [d.h.] das rechte Verhalten bei Beginn, Fortführung und Sieg, wie in den folgenden Abschnitten näher erläutert wird. Die Begründung
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Bezüglich der Frage danach, wem die Autorität zu Kriegserklärung und Kriegsführung zukommt, ist die Position Suárez’ vor dem Hintergrund seiner Konzeption von Souveränität interessant. Das grundlegende Recht auf Selbstverteidigung gegen einen ungerechten Angreifer kommt grundsätzlich jedem zu.96 Für eine Kriegserklärung wird jedoch Souveränität, also der Besitz der höchsten Gewalt innerhalb eines Gemeinwesens, als Voraussetzung verstanden. Jedoch ist dieser Begriff von Souveränität bei Suárez ausdrücklich normativ qualifiziert, denn der Souveränität eines Herrschers, der diese vom Staatsvolk erhalten hat, sind klare Grenzen gesetzt, wenn dieser seine Schutzpflicht gegenüber dem Volk – hier primär gegen Gefahren von außen – nicht erfüllt: Nur muss man bei der monarchischen Regierungsform beachten, daß das Staatsvolk, nachdem es seine Gewalt auf einen Fürsten übertragen hat, nicht mehr gegen dessen Willen einen Krieg erklären kann, da es nicht mehr souverän ist; es sei denn, der Fürst wäre in der Sicherung und Verteidigung des Gemeinwesens so nachlässig, daß sich daraus schwerste Schäden für die Allgemeinheit ergäben. Dann könnte nämlich das Staatsvolk seinen Rechtsschutz selbst übernehmen und dem Fürsten diese Gewalt entziehen; denn, wie man annimmt, behält das Staatsvolk stets die Gewalt hierzu bei sich, wenn der Fürst seine Pflicht vernachlässigt (Suárez, De bello, S. 127).97
Wie es scheint, bleibt eine ursprüngliche Gewalt immer beim Staatsvolk, das seinen Rechtsschutz selbst in die Hand nehmen kann, wenn der Herrscher seinen Schutzauftrag nicht erfüllt. Darin unterscheidet sich Suárez’ Vorstellung einer Souveränität des Gemeinwesens schon erheblich von der Vitorias, der aus der Souveränität eines Gemeinwesens zwar auch ein Selbstbestimmungsrecht und damit ein Verbot von Interventionen ableitet, die das Selbstbestimmungsrecht eines Gemeinwesens bedrohen, die Souveränität aber nicht als ursprünglich allein beim Volk liegend betrachtet, sondern sie Volk und Herrscher gleichermaßen zuschreibt, so dass die Gewalt nie gegen den Herrscher an das Volk zurückfallen kann.98
dieser allgemeinen Schlußfolgerung ist folgende: Mag auch der Krieg nicht an sich unsittlich sein, so gehört er doch wegen der vielen Leiden, die er mit sich bringt, zu den Unternehmungen, die oft sittlich schlecht ausgeführt werden. Er bedarf daher vieler besonderer Umstände, damit er gerecht werde.“ 96 Zur besonderen Rolle, die das Verständnis des Krieges als Strafkrieg dabei spielt, vgl. Suárez, De bello, S. 127. 97 Das Argument dafür, dass derjenige, der die höchste Gewalt innehat, einen Krieg beginnen darf, basiert auf dem Verweis darauf, dass es über ihm keine Instanz gibt, die seinen Rechtsschutz garantieren kann. 98 Vgl. dazu oben, I, 2.2.
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Als Grund für den gerechten Einsatz militärischer Gewalt sieht auch Suárez allein schweres Unrecht (vgl. Suárez, De bello, S. 143).99 Dabei wird in seiner Auffassung des Völkerrechts ausdrücklich herausgestellt, dass Staaten ihr Recht nicht bloß auf der Grundlage von Gewalt zukommt. Eine Voraussetzung für eine Berechtigung fremder Fürsten Rechtsverletzungen zu ahnden ist, dass einer gerechten Kriegspartei Hilfe geleistet wird. Alleingänge einzelner Staaten zur Behebung solchen Unrechts dagegen werden abgelehnt: Das ist so zu verstehen: Wenn der befreundete Fürst ein Recht zu diesem Krieg und auch ausdrücklich oder unausgesprochen den Willen dazu hat. Denn ein Unrecht, daß einem anderen zugefügt wird, gibt mir nur dann das Recht zum Einschreiten, wenn der andere selbst rechtmäßig gegen das Unrecht einschreiten könnte und dies auch beabsichtigt. Unter dieser Voraussetzung aber ist meine Hilfe Mitwirkung bei einer guten und gerechten Sache. Fehlt aber diese Absicht des ungerecht Angegriffenen, dann kann sich kein Dritter in die Sache einmischen, weil der, der das Unrecht begangen hat, nicht dem Willen jedes Beliebigen unterworfen ist, sondern nur dem des Beteiligten. Daher ist die Meinung derer völlig falsch, die behaupten, die souveränen Könige hätten die Befugnis, jegliches Unrecht in der ganzen Welt zu bestrafen; so würde alle Ordnung und die Unterscheidung der Rechtsbereiche verwischt. Eine solche Befugnis ist weder von Gott gegeben noch kann sie aus Vernunftgründen abgeleitet werden (Suárez, De bello, S. 145).
Suárez versteht den Krieg als Reaktion auf erlittenes Unrecht dabei so, dass er entweder zum Zweck der Wiedergutmachung oder zur Bestrafung geführt werden kann (vgl. Suárez, De bello, S. 145). Das Recht zum Strafkrieg beziehungsweise die Vorstellung der Notwendigkeit eines Strafkriegs hängt dabei von der Perspektive auf die gesamte politische Ordnung ab, denn die Strafgewalt bezieht sich nach Auffassung von Suárez letztlich auf den Schutz des Gemeinwohls (vgl. Suárez, De bello, S. 147f.). Von der Orientierung am Gemeinwohl hängt ebenfalls die Bewertung der Legitimität eines Herrschers ab – zur Bestimmung eines Fürsten als Tyrannen gilt die fehlende Gemeinwohlorientierung seines Handelns als entscheidendes Kriterium (vgl. Suárez, De bello, S. 151).100
99 Eine Diskussion der Frage nach dem gerechten Krieg bei Suárez unter Berücksichtigung der Interventionsfrage findet sich bei Soder 1973, S. 310–345. 100 Für das Führen eines Krieges betont Suárez ausdrücklich die Bedingung, dass ein Krieg auch gewonnen werden können muss, damit er als gerecht gelten kann. Siegesaussichten und Gefahren müssen hinsichtlich der Rechtfertigung des Einsatzes militärischer Gewalt gegeneinander abgewogen werden. „Deshalb muß man sagen, daß der Fürst sich zwar um die größtmögliche Gewissheit zu siegen bemühen muß, daß er auch die Siegesaussichten und die Gefahren gegeneinander abwägen und zusehen muß, ob nach reiflicher Erwägung aller Umstände die Hoffnung zu siegen überwiegt. Wenn er aber eine solche Gewissheit nicht erreichen kann, dann ist es wenigstens erforderlich, daß die Siegesaussichten die größere Wahrscheinlichkeit haben,
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Religionsverschiedenheit und auch Sünden gegen die Natur und Götzendienst werden von Suárez als gerechte Gründe für den Einsatz militärischer Gewalt zurückgewiesen (vgl. Suárez, De bello, S. 153f.). Gerechtfertigt werden kann der Einsatz militärischer Gewalt in solchen Fällen allerdings dann, wenn die Tötung Unschuldiger verhindert werden soll, also dann, wenn der Schutz Unschuldiger als Grund geltend gemacht werden kann.101 Anders verhält es sich mit Blick auf den Götzendienst, wenn ein Herrscher seine eigenen Untertanen dazu zwingt. In solchen Fällen kann von Seiten der Untertanen gerechterweise Krieg gegen den eigenen König geführt werden (vgl. Suárez, De bello, S. 155). Dass diese Auffassung so weit geht, dass sich ein Widerstandsrecht mit Blick auf die Religionsfreiheit darin erkennen lässt, erscheint aber eher fraglich: Hier ist noch zu bemerken, daß einige diesen Rechtstitel dann für gültig halten, wenn ein Volk den einen Gott verehrt, durch die Schuld seines Herrschers aber in Gefahr des Götzendienstes käme; dann sei es erlaubt, Krieg gegen den Fürsten zu führen. Das ist richtig, wenn er seine Untertanen gewaltsam zum Götzendienst zwingt; sonst aber ist es kein hinreichender Kriegsgrund, es sei denn, das gesamte Volk erbitte Hilfe gegen seinen Fürsten; denn wo kein Zwang angewandt wird, kann von Verteidigung keine Rede sein. Das wird durch folgende Überlegungen erhärtet: Erstens, mit derselben Begründung wäre es immer erlaubt, einen Krieg zu erklären, um unschuldige Kinder zu schützen. Zweitens, christliche Fürsten könnten aus demselben Grund kraft eigener Autorität auch einen Krieg führen. Drittens, wie immer dieser Rechtstitel gelten mag, er würde jedenfalls nicht ausschließlich für die Christen, sondern auch für jene Ungläubigen gelten, die den einen wahren Gott verehren; auch sie könnten dann alle die mit Recht verteidigen, die ebenfalls den einen Gott verehren wollen, aber von anderen zum Götzendienst gezwungen werden (Suárez, De bello, S. 155f.).
Auch hier wird von Suárez wieder das Kriterium der Bitte eines Volkes um Beistand herausgestellt, der für die Gerechtigkeit einer Einmischung in solchen Fällen unverzichtbar scheint. Durch einen expliziten Auftrag der zu Schützenden zur aktiven Hilfe wird die Legitimität des Einsatzes militärischer Gewalt zumindest deutlicher überprüfbar.
oder zum mindesten gleiche Wahrscheinlichkeit haben, je nach der Notlage des Staates und des Gemeinwohles. Wenn die Wahrscheinlichkeit zu siegen geringer ist als die der Niederlage und es sich um einen Angriffskrieg handelt, dann ist der Krieg fast in jedem Fall zu vermeiden; ist es ein Verteidigungskrieg, muß er gewagt werden. Denn bei diesem besteht eine Zwangslage, während jener von freien Entscheidungen abhängt. Diese Folgerungen ergeben sich alle hinreichend klar aus den Grundsätzen über das Gewissen und die Gerechtigkeit“ (Suárez, De bello, S. 153). 101 „Man kann auch sagen, sie seien nicht nur Götzendiener, sondern auch Mörder gewesen; denn sie opferten unschuldige Kinder; deshalb sei den Israeliten der Krieg aufgrund des Titels, Unschuldige zu schützen, erlaubt gewesen“ (Suárez, De bello, S. 155).
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Die Möglichkeit der Rechtfertigung einer Zivilisierungsintervention weist Suárez in seiner Beschäftigung mit dem Barbarenargument zurück (vgl. Suárez, De bello, S. 157f.). Ein mögliches Argument, das für die Rechtfertigung einer Zivilisierungsintervention vorgebracht werden könnte, formuliert Suárez mit Anspielung auf die Position, die Sepúlveda vertreten hatte, folgendermaßen: Die Ungläubigen sind Barbaren und unfähig, die Staatsführung selbst in rechter Weise auszuüben. Die Naturordnung fordert aber, daß solche Menschen durch Einsichtsvollere regiert werden, wie ARISTOTELES im 1. Buch der Politik lehrt. Ebenda lehrt er auch, ein Krieg gegen Menschen, die zum Gehorchen geboren sind, aber nicht gehorchen wollen, entspreche dem Naturrecht (Suárez, De bello, S. 157f.).102
Nun wird in der Erwiderung auf diesen möglichen Einwand deutlich, dass sowohl die Unterstellung, dass es sich bei den Indios um Barbaren im genannten Sinne handele, nicht zutrifft, als auch, dass eine solche Intervention nur dann als gerechtfertigt gelten könnte, wenn das Maß der möglichen Barbarei so weit geht, dass weder eine minimale Staatlichkeit bestünde noch ein grundlegender Schutz der Menschen vor Unrecht gewährleistet wäre: Aber erstens kann dieser Rechtstitel nicht allgemein gültig sein, denn es ist klar, daß es viele Ungläubige gibt, die begabter und in den Staatsgeschäften gewandter sind als manche Gläubige. Zweitens, damit dieser Titel seine Berechtigung habe, reicht die Überzeugung nicht aus, daß ein Volk geistig tiefer steht, sondern es müsste schon so roh sein, daß es in seiner Mehrheit ein Leben führt, das mehr dem von Tieren als dem von Menschen gleicht. Auf dieser Stufe sollen Menschen stehen, die keinerlei menschliches Staatswesen kennen, völlig unbekleidet einhergehen, Menschenfleisch essen usw. Wenn es solche Menschen gibt, kann man gegen sie Krieg führen, nicht um sie zu töten, sondern um bei ihnen menschenwürdige Verhältnisse zu schaffen und sie gerecht zu regieren. Trotzdem darf man auf diesen Rechtstitel nur selten oder überhaupt nicht zurückgreifen, es sei denn, daß schuldlose Menschen ermordet werden oder ähnliche Verbrechen geschehen. Deshalb kommt dieser Titel mehr auf einen Verteidigungs- als auf einen Angriffskrieg hinaus. Schließlich schreibt ARISTOTELES an der oben genannten Stelle, nur dann sei ein solcher Krieg erlaubt, wenn die Menschen, gegen die man kämpft, um ihnen eine Regierung zu geben, so sehr anderen unterlegen sind, wie der Leib dem Geist. Daraus geht aber hervor, daß dieser Rechtstitel, wenn er überhaupt besteht, nicht allein für Christen gültig ist, sondern für jeden König, der das Naturgesetz einhalten will; denn gerade aus ihm leitet sich dieser Titel ab (Suárez, De bello, S. 157f.).
102 Die Anspielung auf die Auffassung Sepúlvedas wird im weiteren Verlauf des Zitates expilzit gemacht: „Diesen Kriegsgrund billigen JOHANNES MAIR in seinem Sentenzenkommentar und ausführlich JUAN GINES DE SEPÚLVEDA“ (Suárez, De bello, S. 157).
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Mit Blick auf Suárez’ Position zur Zivilisierungsintervention ist hier nun zweierlei bedeutsam: Zum einen verknüpft er den Aspekt des Schutzes Unschuldiger vor Erleiden von Unrecht mit der Verbesserung der politischen Ordnung eines Gemeinwesens, in dem derlei Unrecht geschieht. Die Verbesserung einer solchen Praxis im Sinne einer Zivilisierung ist nämlich dann erlaubt, wenn sie mit dem Schutz Unschuldiger vor dem Erleiden von Unrecht einher geht. Zum anderen unterscheidet Suárez hier zwischen Verteidigungs- und Angriffskrieg und weist eine solche Intervention, die dem Schutz Unschuldiger dient, als Verteidigungskrieg aus. Diese Bestimmung einer militärischen Intervention zum Schutz unschuldiger Mitglieder eines fremden Gemeinwesens vor dem Erleiden von Unrecht als Verteidigungskrieg ist eine weitere Differenzierung in der Vorstellung des Schutzes Unschuldiger als gerechter Grund für den legitimen Einsatz militärischer Gewalt, die hier bei Suárez erstmalig explizit formuliert wird. Auch wenn Suárez Interventionen aufgrund von Religionsverschiedenheit grundsätzlich ablehnt, wird in der Diskussion konkreter Beispiele eine erhebliche Spannung sichtbar, etwa in der Diskussion des Falles, in dem ein Volk den christlichen Glauben gegen den Willen seiner Herrscher annehmen will. Nach Suárez kann nämlich auch in solchen Fällen das Prinzip des Schutzes unschuldiger Menschen vor dem Erleiden von Unrecht angebracht werden: Schuldlose Menschen zu beschützen, kann in besonderer Weise Aufgabe christlicher Fürsten sein, und dasselbe gilt entsprechend für die Bestrafung des Unrechts. Wenn nämlich ein Volk, das einem ungläubigen König untertan ist, das Gesetz Christi annehmen will und sein ungläubiger König hindert es daran, dann haben die christlichen Fürsten das Recht, für diesen schuldlosen Menschen zu kämpfen. Wenn aber ein solches Volk eine nichtchristliche Religion, z.B. den Islam, annehmen will, und sein König will es nicht, dann besitzt der ungläubige türkische Herrscher nicht ein ähnliches Recht gegen diesen König. Denn jemanden daran zu hindern, das Gesetz Christi anzunehmen, ist in Wahrheit ein schweres Unrecht und ein schwerer Schaden. Aber jemanden daran zu hindern, eine andere Religion anzunehmen, ist kein Unrecht. Ferner: Wenn Menschen das Evangelium hören wollen, können sie mit Vernunftgründen überzeugt werden, daß es Glauben verdient und verlangt; man kann ihnen also hierzu gerechterweise verhelfen (Suárez, De bello, S. 159).
Im Hintergrund dieser Argumentation steht eine problematische Auffassung einer heilsgeschichtlichen Exklusivität der christlichen Religion, wodurch hier in besonderer Weise deutlich wird, wie problematisch die Rechtfertigungsfigur der Verteidigung Unschuldiger sein kann, wenn sie nicht weiter normativ qualifiziert wird. Der Schutz Unschuldiger vor dem Erleiden von Unrecht wird hier, wie es scheint, noch nicht vollständig im Sinne einer universalistischen Moral verstanden, obwohl Suárez grundsätzlich davon ausgeht, dass der Geltungsgrund für
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das Recht für Unschuldige einzutreten in der natürlichen Vernunft liegt (vgl. Suárez, De bello, S. 161).103 Hinsichtlich der in dieser Arbeit vertretenen These eines Zusammenhanges von Interventionsrecht und Widerstandsrecht bietet Suárez’ Theorie einen wichtigen Bezugspunkt, denn nach seiner Auffassung kann man legitimen Widerstand selbst als gerechten Krieg verstehen: Ein Krieg, selbst ein Angriffskrieg des Staatsvolkes gegen den Fürsten, ist nicht notwendig schlecht. Doch muß er die gewöhnlichen Bedingungen eines gerechten Krieges erfüllen, um sittlich erlaubt zu sein. Diese These gilt nur in dem Fall, daß der Fürst ein Tyrann ist (Suárez, De bello, S. 203f.).
Zur Beurteilung des einzelnen Falles ist hier im Anschluss an die klassische Lehre bezüglich der Art der Tyrannis zu unterscheiden zwischen einem Tyrannen, der sich die Herrschaft illegitimerweise anmaßt, und einem Herrscher, der seine ihm ursprünglich legitimerweise zukommende Macht missbraucht (vgl. Thomas von Aquin, Sententiarum, II Sent., d. 44, q. 2, art. 2). In dieser Frage teilt Suárez die Auffassung vieler Autoren, dass gegen einen usurpatorischen Tyrannen von allen Mitgliedern des Gemeinwesens Widerstand geleistet werden darf: Das kann auf zweierlei Arten vorkommen, wie CAJETAN bemerkt. Erstens, wenn (der Herrscher) ein Tyrann ist, der sich die Herrschaft ohne Recht anmaßt; zweitens, wenn (er zwar rechtmäßiger Herrscher ist), aber seine Gewalt missbraucht. Im ersten Fall der Tyrannei besitzt das ganze Volk und jedes seiner Glieder ein Recht gegen ihn. Deshalb kann jeder sich und den Staat gegen seine Tyrannei in Schutz nehmen. Der Grund ist: dieser Tyrann ist der (eigentliche) Angreifer und führt böswillig Krieg gegen das Volk und seine einzelnen Glieder. Deshalb kommt allen ein Verteidigungsrecht zu (Suárez, De bello, S. 203).
Was die Rechte der einzelnen Mitglieder zum Widerstand gegen einen ursprünglich legitim herrschenden Tyrannen angeht, verhält es sich nun allerdings anders, denn sie sind ihm gegenüber nicht zum Widerstand berechtigt. Die entscheidende Qualifikation, die sich hier bei Suárez aber im Vergleich zu früheren
103 Mit Blick auf das ius in bello steht auch Suárez in der Tradition der Theorie des gerechten Krieges. Grundsätzlich gilt, dass im gerechten Krieg die Mittel, die zu seinem Erfolg notwendig sind, auch erlaubt sind. Ausgenommen davon ist prinzipiell die Tötung Unschuldiger, die aber auch Suárez unter Verweis auf die Lehre vom Doppeleffekt rechtfertigt: „Schuldlose dürfen unter keinen Umständen direkt getötet werden, auch dann nicht, wenn die Bestrafung des feindlichen Staates sonst nicht als entsprechend angesehen würde. Ohne direkte Absicht kann (die Tötung Schuldloser) zugelassen werden, wenn es notwendig ist, um den Sieg zu erringen“ (Suárez, De bello, S. 189). Vgl. auch Suárez, De bello, S. 181, 189ff.
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Positionen der klassischen Tyrannislehre findet, ist die, dass das Volk als Ganzes auch gegen einen solchen Tyrannen legitimerweise Widerstand leisten darf, denn dem gesamten Volk kommt nach seinem Verständnis eine ursprüngliche Souveränität zu, die der Souveränität eines Herrschers gegenüber legitimatorisch vorrangig ist: Vom Tyrannen im zweiten Sinn hat JOHANNES HUS dasselbe gelehrt, ja von jedem ungerechten Vorgesetzten; doch ist dies auf dem Konzil von Konstanz, in der 8. und der 15. Sitzung, verurteilt worden. Daher ist es sichere Wahrheit, daß gegen einen solchen Tyrannen kein Privatmann und keine nicht souveräne Gewalt einen Angriffskrieg führen darf; denn gerade das wäre im eigentlichen Sinn Aufruhr. Beweis: Jener (Tyrann) ist, wie vorausgesetzt wird, der rechtmäßige Herrscher. Die Untergebenen aber haben nicht das Recht, einen Krieg zu erklären, sondern nur sich zu verteidigen, was einem Tyrannen in diesem Sinn gegenüber nicht in Frage kommt; denn er fügt den Einzelnen nicht dauernd Unrecht zu. Und wenn sie einschreiten wollten, dann dürften sie nur das tun, was zu ihrer Verteidigung notwendig ist. Das ganze Volk dagegen dürfte sich zum Krieg wider einen solchen Tyrannen erheben; und dann würde nicht mehr ein eigentlicher Aufruhr entfacht (weil ja diese Bezeichnung gewöhnlich im schlimmen Sinn gebraucht wird). Der Grund dafür ist, daß in einem solchen Fall das Gemeinwesen als Ganzes über dem König steht. Denn da es ihm die Macht gegeben hat, ist anzunehmen, daß es sie nur unter der Bedingung gegeben hat, daß er entsprechend dem Staatswohl und nicht tyrannisch regiere, und daß er sonst vom Volk abgesetzt werden könne. Doch ist zu beachten, daß der Fürst wirklich und offenkundig tyrannisch regieren muß, und daß auch die anderen Bedingungen für einen sittlich erlaubten Krieg gegeben sein müssen (Suárez, De bello, S. 203f.).
Im Vergleich zu den früheren Positionen zum Widerstandsrecht ist hier entscheidend, dass nicht nur der Widerstand gegen einen Usurpator als gerecht vorgestellt wird, sondern auch der Widerstand gegen einen ursprünglich legitimen Herrscher, der zum Tyrannen wird, und zwar genau dann, wenn sich das ganze Volk, dem die ursprüngliche Souveränität zukommt, gegen ihn erhebt. Dabei unterstellt Suárez hier sogar eine ursprüngliche Zustimmung des Volkes zur Form politischer Herrschaft, die genau an die Bedingung gebunden ist, dass der Herrscher „entsprechend dem Staatswohl und nicht tyrannisch regiere“. Mit Blick auf die Diskussion der Interventionsfrage kann gerade eine solche Auffassung von Widerstand als gerechtem Krieg – sogar die Bestimmung des legitimen Widerstandsfalles wird am Schluss dieses Zitats analog zum gerechten Beginn eines Krieges vorgestellt – für die spätere Entfaltung der These, dass militärische Interventionen zum Schutz der Mitglieder eines Gemeinwesens vor der Verletzung ihrer grundlegenden Rechte als Aktion stellvertretenden Widerstandes verstanden werden können, fruchtbar gemacht werden.
2 Das Interventionsproblem in der Kriegsethik der spanischen Spätscholastik
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2.5 Fazit Die Diskussion über die Rechtfertigung des Einsatzes militärischer Gewalt im Spanien des 16. Jahrhunderts stellt die wohl intensivste Beschäftigung mit der Frage nach der Begründung von militärischen Interventionen zum Schutz der Mitglieder eines fremden Gemeinwesens vor der gegenwärtigen Interventionsdebatte dar. Offensichtlich kommt der Berufung auf den Schutz Unschuldiger vor dem Erleiden von Unrecht zum einen die Funktion einer Rechtfertigung interessenmotivierter Gewalteinsätze im Rahmen politischer Rhetorik zu. Zum anderen wird jedoch im Rahmen grundsätzlicher philosophischer Überlegungen die Funktion eines kritischen Prinzips zur Begrenzung legitimer Gründe für den Einsatz militärischer Gewalt gegenüber anderen Gemeinwesen herausgestellt. Es herrscht in der Kriegsethik der spanischen Spätscholastik, wie die Analyse der historischen Positionen zeigt, ein weitgehender Konsens bezüglich des Schutzes Unschuldiger als gerechten Grundes für den Einsatz militärischer Gewalt. Die Auseinandersetzung mit anderen Typen von Interventionsargumenten wie der Religionsintervention und auch der Zivilisierungsintervention zeigen dabei ebenso wie die Rechtfertigung von Interventionen im Anschluss an die Terminologie der klassischen Tyrannislehre, dass letztlich allein Interventionen, die auf das Ziel des Schutzes von Menschen vor grausamer Behandlung und Verletzung von Rechten als Grund zurückgeführt werden, Legitimität beanspruchen können, wohingegen weder Religionsverschiedenheit noch Unterschiede in der Organisation eines politischen Gemeinwesens den Einsatz militärischer Gewalt gegen ein anderes Gemeinwesen begründen können. Darüber hinaus zeigt die enge Verknüpfung von Interventionsargumenten, die sich auf den Schutz Unschuldiger beziehen, mit der herrschaftskritischen Terminologie der klassischen Tyrannislehre, dass in dieser Epoche ein Herrschaftsverständnis dominiert, das von einem Schutzauftrag des Herrschers gegenüber den Mitgliedern seines Gemeinwesens ausgeht, und dass der Illegitimität eines Herrschers, der diesen Schutzauftrag nicht erfüllt, auch von außen durch Herrscher fremder Gemeinwesen gewaltsam begegnet werden darf. Dabei liegt dem Verständnis legitimer Herrschaft offensichtlich die Vorstellung einer sekundären Schutzverantwortung der Herrscher für die Mitglieder eines fremden Gemeinwesens für den Fall zugrunde, dass diese massives Unrecht erleiden.104
104 Dieses Herrschaftsverständnis ist hinsichtlich der Konsequenzen, die sich aus ihm mit Blick auf die Erlaubnis von Interventionen zum Schutz der Mitglieder eines fremden Gemeinwesens ergeben, nah an dem Herrschaftsverständnis, das der gegenwärtigen Konzeption der Responsibility to Protect zugrunde liegt. Zum Konzept der Responsibility to Protect vgl. unten, II, 2.1.
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Übersehen werden darf bei dem Rückblick auf diese Epoche aus der Perspektive der gegenwärtigen Interventionsdebatte jedoch nicht, dass zentrale normative Fragen in den hier entwickelten Positionen zur Interventionsfrage offen bleiben. Zum einen ist dies die Frage nach dem übergeordneten institutionellen Rahmen, durch den ein Missbrauch von Interventionsargumenten durch Akteure, die sich für zum Schutz Unschuldiger berechtigt halten, ausgeschlossen werden kann. Die spätere Festschreibung eines strikten völkerrechtlichen Souveränitätsbegriffes im Anschluss an den Dreißigjährigen Krieg stellt eine Reaktion auf die Probleme dar, die sich aus dem Recht eines jeden Herrschers, nach seinem Gutdünken Krieg zu führen, ergeben. Lösungen dieses Problems durch die Forderung einer zu etablierenden übergeordneten Rechtsstruktur zwischen den Völkern, wie sie in der gegenwärtigen Interventionsdebatte eine wichtige Rolle spielt, wurden aber auch in jener Zeit insbesondere von Vitoria und Suárez schon vorgeschlagen. Zum anderen sind Kriterien für eine genaue Bestimmung des gerechten Interventions- oder Widerstandsfalles in den Positionen jener Zeit nur sehr unklar formuliert, so dass es hier noch einer weiteren Entfaltung geeigneter Kriterien bedarf, die die Bestimmung eines gerechten Interventionsfalles ermöglichen.105
105 Ein Vorschlag dafür, wie diese Kriterien mit Blick auf Widerstands- und Interventionsrecht differenzierter und an eine menschenrechtliche Grundlage gebunden entfaltet werden können, wird in Auseinandersetzung mit der Theorie des Widerstandsrechtes bei John Locke im Kapitel I, 4 dieser Arbeit unterbreitet. In der vorliegenden Arbeit wird dieser Vorschlag in der Diskussion der Interventionsfrage aus gegenwärtiger Perspektive in II, 2 wieder aufgegriffen.
3 Das Interventionsproblem vor dem Hintergrund der europäischen Religionskriege
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3 Das Interventionsproblem vor dem Hintergrund der europäischen Religionskriege und der Herausbildung des modernen Staates Aus der Perspektive der gegenwärtigen Interventionsdebatte zeichnet sich die Diskussion der Interventionsfrage im Spanien des 16. Jahrhunderts dadurch aus, dass der Schutz Unschuldiger vor dem Erleiden von Unrecht als gerechter Grund für den Einsatz militärischer Gewalt angesehen wird und zwar auch dann, wenn diese Mitglieder eines fremden Gemeinwesens sind. Dabei hängt diese Vorstellung von einem normativ gehaltvollen Verständnis von Herrschaft ab, nach dem der Schutz der Mitglieder eines Gemeinwesens Aufgabe ihres Herrschers ist und nach dem auswärtige Herrscher unter bestimmten Bedingungen zum Schutz Unschuldiger berechtigt sind, nämlich genau dann, wenn diese Seitens ihres Herrschers massives Unrecht erleiden. Dass die Anerkennung der Legitimität von Herrschaft dabei im Wesentlichen von der Erfüllung dieser Schutzfunktion durch den Herrscher abhängt, wird in jener Zeit in den Rückgriffen auf die Tyrannislehre deutlich, durch die ein Vokabular entwickelt wird, das eine weitgehende normative Beurteilung von Herrschaft ermöglicht. Die sekundäre Verantwortung auswärtiger Herrscher zum Schutz der Mitglieder eines fremden Gemeinwesens im Notfall wird dabei unter Rückgriff auf die Tyrannislehre vor allem dadurch betont, dass fremden Herrschern ein Interventionsrecht zukommt, wenn die Herrschaft in einem fremden Gemeinwesen als tyrannisch gekennzeichnet werden kann. Vor allem in der Auseinandersetzung mit der Interventionstheorie Vitorias wird dabei deutlich, dass der Schutz Unschuldiger normativ gehaltvoll expliziert als Schutz vor Verletzung individueller Rechte verstanden werden kann. Doch es liegt dieser Diskussion noch kein umfassender Begriff staatlicher Souveränität zugrunde; wenn überhaupt, ist von Souveränität in erster Linie in Bezug auf die Selbstbestimmungsrechte eines Gemeinwesens die Rede. Ein Eingriff in den Hoheitsbereich eines fremden Gemeinwesens wird zumindest für den Fall, dass der dortige Herrscher als tyrannisch qualifiziert wird, deshalb noch nicht als in dem Sinne problematisch verstanden, dass hierfür ein weitgehender Rechtfertigungsbedarf mit Blick auf ein Einmischungsverbot zum Schutz der Souveränität eines Herrschers bestünde. Mit der Herausbildung des modernen Staates im Kontext der europäischen Religionskriege des 16. und 17. Jahrhunderts wandelt sich das Verständnis von Souveränität und der Territorialität von Herrschaft nun erheblich und auch das Verständnis der Legitimität von Herrschaft wird zum Teil von Vorstellungen guter Herrschaft gelöst – stattdessen rückt der Aspekt der Stabilität von Herrschaft
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zunehmend in den Vordergrund.1 Bevor sich aus diesem Wandel in der Zeit nach dem Westfälischen Frieden eine radikale Ablehnung von Interventionen unter Rückgriff auf einen der moralischen Bewertung kaum noch zugänglichen positivistischen völkerrechtlichen Souveränitätsbegriff ergibt, finden sich in der Staats- und Völkerrechtstheorie der Zeit vor dem Westfälischen Frieden einige Konzeptionen, die eine sehr differenzierte Bestimmung des Verhältnisses von herrscherlicher Souveränität als höchster Gewalt und den Schutzinteressen der Individuen, die Mitglieder eines Gemeinwesens sind, vornehmen. Auffällig ist dabei, dass auch hier die Berechtigung fremder Herrscher zur Intervention zum Schutz der Mitglieder eines fremden Gemeinwesens an zentralen Stellen in Auseinandersetzung mit der klassischen Tyrannislehre und in Analogie zur Begründung eines Widerstandsrechts der Individuen gegenüber einem tyrannischen Herrscher begründet wird. Solche Auseinandersetzungen mit der Interventionsfrage finden sich vor dem Hintergrund der Herausbildung eines neuen Verständnisses von staatlicher Souveränität in der politischen Philosophie Jean Bodins und in den Völkerrechtslehren von Albericus Gentilis, Hugo Groitus und Samuel Pufendorf, auf die im Folgenden eingegangen werden soll. In Jean Bodins Schrift Six livres de la République, die als Schlüsselwerk zur Theorie herrscherlicher Souveränität in der frühen Neuzeit gilt, findet sich neben einem weitgehenden Souveränitätsverständnis, das den Herrscher als in einem weiten Sinne von den positiven Gesetzen gelöst versteht, zugleich die Formulierung einer Interventionserlaubnis für auswärtige Herrscher im Falle einer Entartung der Herrschaft innerhalb eines fremden Staates zur Tyrannis; ein Fall übrigens, in dem nach Auffassung Bodins nur noch ein fremder Herrscher helfen kann, da den Untertanen eines souveränen Herrschers selbst in einem solchen Fall kein Widerstandsrecht zukommt (I, 3.1). Auch in Gentilis’ Völkerrechtsschrift De Jure Belli Libri Tres, in der die Vorstellung legitim beanspruchter Souveränität eng an einen Schutzauftrag des Herrschers gegenüber seinem Volk als dem eigentlichen Inhaber der Souveränität gekoppelt ist, findet sich die Vorstellung eines Interventionsrechts fremder Herrscher (I, 3.2). In Grotius’ berühmtem Völkerrechtswerk De Jure Belli ac Pacis Libri Tres begegnet eine sehr ausführliche Beschäftigung mit Widerstands- und Interventionsrecht vor dem Hintergrund der Herausbildung eines strengen Begriffes staatlicher Souveränität, in der Grotius aber – trotz der besonderen Betonung der Unverletzlichkeit staatlicher Souveränität von außen – Raum für ein Interventionsrecht für den Fall massiven Unrechts gegenüber den Mitgliedern eines Gemeinwesens durch deren Herrscher lässt
1 Zur Herausbildung des neuzeitlichen Staates vgl. Grewe 1988, S. 194–216. Zur Weiterentwicklung des Völkerrechts vor diesem Hintergrund vgl. Kimminich 1985, S. 91–98.
3 Das Interventionsproblem vor dem Hintergrund der europäischen Religionskriege
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(I, 3.3). An diese Überlegungen knüpft Pufendorf in seinem Hauptwerk zum Völkerrecht De Jure Naturae et Gentium Libri Octo an und betont dabei nachdrücklich, dass ein auswärtiger Herrscher zu einer Intervention zum Schutz der Mitglieder eines fremden Gemeinwesens genau dann berechtigt ist, wenn diese selbst zum Widerstand gegen ihren tyrannischen Herrscher berechtigt sind (I, 3.4).
3.1 Jean Bodin Jean Bodin (1529/30–1596) ist einer der bedeutendsten Denker für die Formulierung des Konzepts herrscherlicher Souveränität.2 Vor dem Hintergrund der Religionskriege im Europa des 16. Jahrhunderts entwickelt er eine Theorie des Politischen, die auf dem Begriff der Souveränität basiert.3 Allerdings schließt diese Konzentration auf einen strengen Begriff von Souveränität die Möglichkeit von Interventionen von außen zum Schutz der Mitglieder eines Gemeinwesens nicht aus, denn sein starker Begriff von Souveränität ist vor allem auf die Innenperspektive einer politischen Gemeinschaft bezogen, so dass die Souveränität des Herrschers in erster Linie vor Destabilisierung seiner Gewalt von innen schützt.4 Aus der Perspektive der gegenwärtigen Interventionsdebatte erscheint es zumindest überraschend, dass der Theoretiker des Souveränitätsbegriffs schlechthin, als der Bodin vielen gilt, gewaltsame Eingriffe von außen erlaubt, so dass sich die Frage stellt, wovon es in Bodins Theorie abhängt, dass neben einem strengen
2 „Jean Bodin ist berühmt geworden, weil er den Begriff der Souveränität als Grundlage des Staates der Neuzeit geprägt oder zumindest allgemeingültig gemacht hat“ (Denzer 2001, S. 180). Siehe hierzu auch Ottmann 2006, S. 216ff.; Weber 2007, S. 157ff. 3 „Die Religionskriege in Frankreich, ja in ganz Europa […], weckten den Ruf nach dem starken Staat, nach der unteilbaren Gewalt, die Frieden, Einheit und Sicherheit wiederherstellte“ (Denzer 2001, S. 180). 4 Ein Widerstandsrecht von innen gibt es nämlich auch im Falle der Tyrannis nicht, Widerstand ist aufgrund der Souveränität, die ein Herrscher besitzt, nur gegen einen Usurpator, also gegen einen Herrscher, der sich die Herrschaftsgewalt von außen ungerechterweise angeeignet hat, erlaubt. Mit Blick auf die Diskussionen um die Frage nach dem Widerstandsrecht in jener Zeit sieht Ottmann darin eine Abgrenzung Bodins von den Monarchomachen: „Während die Monarchomachen nur immer neue Anlässe für den Widerstand suchen und finden, will Bodin den Krieg beenden“ (Ottmann 2006, S. 213). Dass in der Bewertung Ottmanns die Beurteilung der Ablehnung des Widerstandsrechts durch Bodin nicht mit Blick auf eine Konzeption der Gerechtigkeit, sondern mit Blick auf das Ziel der Beendung eines Kriegszustandes bezogen ist, zeigt an, wie sich die Theorie staatlicher Souveränität in dieser Zeit zuerst auf die Realisierung von Stabilität konzentriert. Besonders deutlich sichtbar wird diese Konzentration auf die Etablierung stabiler Herrschaft zur Beendung und Vermeidung von Bürgerkriegen in der politischen Philosophie von Thomas Hobbes. Siehe dazu Kersting 1996 und Herz 1996.
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Konzept herrscherlicher Souveränität nach innen auch Schutzinterventionen von außen legitimiert werden können.5 Das entscheidend Neue an Jean Bodins politischer Theorie ist die Konzentration auf den Begriff der Souveränität eines Herrschers. Dabei ist es das Kennzeichen des Souveräns, dass es über ihm weder einen geistlichen noch einen weltlichen Herrn gibt. Souveränität wird als „die absolute und zeitlich unbegrenzte Gewalt einer Republik“ (Bodin, Sechs Bücher, Bd. I, S. 205) verstanden.6 Zweck des politischen Gemeinwesens ist dabei nicht primär eine Realisierung des Guten, sondern die Gewährung von Sicherheit und Stabilität (vgl. Bodin, Sechs Bücher, Bd. I, S. 105). Die besondere Betonung des Konzepts herrscherlicher Souveränität als Kern seiner Theorie sieht Bodin dabei selbst als deren zentrales neues Moment: An dieser Stelle eine Definition der Souveränität zu geben ist deshalb notwendig, weil sich noch nie ein Rechtsgelehrter oder ein Vertreter der politischen Philosophie dieser Mühe unterzogen hat, obwohl doch gerade die Souveränität den Kern jeder Abhandlung über den Staat darstellt und vor allem anderen begriffen sein will (Bodin, Sechs Bücher, Bd. I, S. 205).
Wie lässt sich der Begriff der Souveränität also genauer fassen? Über sich erkennt der Souverän niemand höheren an außer Gott (vgl. Bodin, Sechs Bücher, Bd. I, S. 207). Ansonsten ist die Gewalt des Herrschers von allen Grenzen und Bedingtheiten losgelöst – sie ist weder zeitlich begrenzt, noch ist sie von einer anderen weltlichen Gewalt abhängig. Gebunden ist die souveräne Gewalt lediglich an die Normen des Natur- und des göttlichen Rechts:
5 Eine interessante Gesamteinschätzung der Lehre Bodins gibt diesbezüglich Ottmann: „Bodins Souveränitätslehre zeigt eine eigenartige Spannung. Erstmals begegnet man den Träumen von einer absoluten, durch rein gar nichts eingeschränkten Gewalt. Die Souveränität wird ein Spiegel göttlicher Allmacht. In die Politik gerät ein Anspruch auf Absolutheit der Macht, dem die Realität nur allzu oft widerspricht. Immer wieder zerschellt der Traum von der absoluten Macht an den Realitäten, und Bodin liefert ein gutes Beispiel dafür, wie weit der Wunsch nach Souveränität und die reale Macht des Souveräns auseinanderklaffen können. Für das politische Denken gab es von nun an zwei Wege: den Weg der Zähmung und Beschränkung der absoluten Macht oder den der Flucht nach vorne durch immer neue Steigerungen der Machtansprüche. Beide Wege sind beschritten worden, und der Konflikt zwischen Ihnen bricht noch im 20. Jh. hervor“ (Ottmann 2006, S. 216f.). 6 Unter einem Staat versteht Bodin „die am Recht orientierte, souveräne Regierungsgewalt über eine Vielzahl von Haushaltungen und das, was ihnen gemeinsam ist“ (Bodin, Sechs Bücher, Bd. I, S. 98). Zentral sind dabei die Orientierung am Rechtsbegriff und dessen Stellung. Räuber und Piraten etwa befinden sich in nicht am Recht orientierten Gemeinschaften. Deshalb kann mit ihnen nicht verkehrt werden, sie genießen z.B. nicht das Kriegsrecht und unterscheiden sich deshalb auch von rechtmäßigen Feinden.
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,Souveränität‘, die einem Fürsten unter Auflagen und Bedingungen verliehen wird, ist also eigentlich weder Souveränität noch absolute Gewalt, es sei denn, die bei der Wahl des Fürsten gemachten Bedingungen würden dem göttlichen Gesetz oder dem Naturrecht angehören (Bodin, Sechs Bücher, Bd. I, S. 210).7
Das zentrale Moment, das die souveräne Gewalt bei Bodin auszeichnet, ist die Gesetzgebungskompetenz, so dass der Staat nicht länger als Recht bewahrender Staat, sondern als Recht setzende Instanz verstanden wird (vgl. Denzer 2001, S. 180)8. Wer also souverän sein soll, darf in keiner Weise dem Befehl anderer unterworfen und muß in der Lage sein, den Untertanen das Gesetz vorzuschreiben, unzweckmäßige Gesetze aufzuheben oder für ungültig zu erklären und durch neue zu ersetzen (Bodin, Sechs Bücher, Bd. I, S. 213).
In der deutlichen Bindung der souveränen Gewalt an göttliches und natürliches Gesetz zeigt sich jedoch, dass auch unter Bedingungen einer weiteren Bedeutung des Konzepts herrscherlicher Souveränität und der Recht setzenden Funktion des Staates ein normativer Rahmen für die Bewertung der Legitimität von Herrschaft bestehen bleibt. Zudem ist der souveräne Herrscher nach dem Prinzip pacta sunt servanda, das Bodin als naturrechtliches Prinzip versteht, an die Einhaltung von Verträgen gebunden (vgl. Bodin, Sechs Bücher, Bd. I, S. 215). So wird mit Blick auf Bodins Theorie herrscherlicher Souveränität deutlich, dass trotz eines umfassenden Begriffs von Souveränität Raum für eine normative Bewertung bleibt, allein schon deshalb, weil die Herrschergewalt deutlich naturrechtlich gebunden ist.
7 Vgl. auch: Bodin, Sechs Bücher, Bd. 1, S. 214: „Den Gesetzen Gottes und der Natur dagegen sind alle Fürsten der Erde unterworfen und es steht nicht in ihrer Macht, sich über sie hinwegzusetzen, ohne sich eines Majestätsverbrechens an Gott schuldig zu machen und damit offen Gott den Krieg zu erklären, unter dessen Größe all Monarchen gleichsam wie durch das Joch zu gehen und in aller Demut und Erfurcht ihr Haupt zu beugen haben. Somit erstreckt sich also die absolute Gewalt der Fürsten und souveränen Herrschaften in keiner Weise auf die Gesetze Gottes und der Natur und der beste Kenner der absoluten Gewalt, der Könige und Kaiser unter sich gezwungen hat, hat gesagt, sie erlaube nur, vom gewöhnlichen Recht, nicht auch von den Gesetzen Gottes oder dem Naturrecht abzuweichen.“ 8 Des Weiteren ist der Souverän durch die Entscheidungshoheit über Krieg und Frieden, die Ernennung von Beamten und Magistraten, die Erhebung und Befreiung von Steuern und das Recht zur Begnadigung ausgezeichnet: „Wer wollte auch leugnen, daß souverän ist, wer allen Untertanen das Gesetz vorschreiben kann, über Krieg und Frieden entscheidet, alle Beamten und Magistrate im Lande ernennt, Steuern erhebt, von ihnen befreit, wen er will, und zum Tode verurteilte begnadigt? Was will man sich von einem souveränen Fürsten noch mehr erwarten?“ (Bodin, Sechs Bücher, Bd. I, S. 285f. Vgl. dazu auch ebd., S. 294).
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Nun stellt sich mit Blick auf den Schutz der Mitglieder eines Gemeinwesens vor Unrecht, das sie vonseiten der eigenen Herrscher erleiden oder erleiden könnten, die Frage danach, ob sich aus der normativen Bindung von Herrschaft an göttliches und natürliches Recht weitreichende Konsequenzen bezüglich der erlaubten Reaktionen und Widerstandshandlungen bei ungerechtem Herrscherverhalten ergeben, also die Frage nach der Erlaubnis von Widerstand, die von Ottmann als „die Grundfrage der Zeit“ (Ottmann 2006, S. 220) bezeichnet wird. Deshalb wird im Folgenden zum einen der Frage nachgegangen, welche Rolle ein Recht auf gewaltsamen Widerstand in Bodins Konzeption spielt (1) und zum anderen der Frage danach, ob es fremden Herrschern oder Gemeinwesen erlaubt ist, zum Schutz der Mitglieder eines fremden Gemeinwesens im Falle tyrannischen Missbrauchs der souveränen Gewalt unter Einsatz militärischer Gewalt gegen einen solchen tyrannischen Herrscher vorzugehen (2). (1) Mit Blick auf die Erlaubnis von Widerstand gegen einen Herrscher steht Bodin in der Tradition der Tyrannislehre und unterscheidet im Anschluss an Thomas von Aquin zwischen einem ursprünglich legitimen Herrscher, der zum Tyrannen wird, und einem Usurpator, der sich die Macht widerrechtlich aneignet.9 Besonders betont wird im Anschluss an diese Tradition bei Bodin nun die Bedeutung des Souveränitätsprinzips. Ob gegen einen Tyrannen vonseiten der Untertanen Widerstand geleistet werden darf, hängt nämlich entscheidend davon ab, ob jener als souverän gelten kann oder nicht. Während gegen einen Usurpator, der als nicht souveräner Tyrann gilt, Widerstand erlaubt ist, ist gegen einen souveränen Herrscher, der durch Machtmissbrauch zum Tyrannen wird, Widerstand von innen nicht erlaubt, und zwar deshalb, weil ein besonderes Verpflichtungsverhältnis zwischen Untertanen und Souverän besteht, das Widerstand gegen ihn verbietet. Neben dem moralischen Argument, dass gegen einen souveränen Herrscher aufgrund der Berechtigung seines Souveränitätsanspruches und aufgrund der Verpflichtungen der Untertanen ihm gegenüber keine Widerstandsgewalt angewendet werden darf, führt Bodin zudem ein strategisches, auf die Stabilität der politischen Ordnung bezogenes Argument für die Ablehnung eines Widerstandsrechtes an. So müsse man nämlich fürchten, dass durch Widerstand gegen einen souveränen Herrscher ebenso wie durch Aufstände eine chaotische Anarchie ausgelöst werde, die schlimmer sei „als selbst die brutalste Tyrannei der Welt“ (Bodin, Sechs Bücher, Bd. I, S. 96); eine Argumentation, die später auch Kant zur Ablehnung eines Widerstandsrechts ins Feld führt.10 Dabei ist Bodins Ein-
9 Vgl. dazu oben, I, 1. 10 Vgl. dazu unten, I, 5.3.
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schätzung dieser strategischen Problematik keineswegs einseitig, denn nicht nur solche Aufständische oder Revolutionäre bedrohen die Stabilität des Staates und damit diesen selbst, sondern auch Herrscher, die zu Tyrannen werden, denn sie bedrohen die Stabilität dadurch, dass sie die Mitglieder des Gemeinwesens durch Unterdrückung erst zum Aufruhr drängen (vgl. Bodin, Sechs Bücher, Bd. I, S. 96). Insgesamt muss diese Position aber dahingehend kritisch eingeschätzt werden, dass die Reichweite eines solchen strategischen Argumentes zur Ablehnung eines Widerstandsrechts begrenzt ist. Sicherlich spricht grundsätzlich viel dafür, dass das Bestehen staatlicher Strukturen besser ist als der ‚Naturzustand‘, wenn man davon ausgeht, dass dieser ein Kriegszustand ist. Die Einschätzung, dass ein solcher Zustand aber schlimmer „als selbst die brutalste Tyrannei der Welt“ sein kann, kann vor dem Hintergrund historischer Erfahrungen – besonders des 20. Jahrhunderts – nicht mehr geteilt werden. Für eine Ablehnung eines Widerstandsrechtes gegenüber einem souveränen Tyrannen spricht für Bodin darüber hinaus aber noch ein Argument, das auf zwei nicht wünschenswerte Konsequenzen verweist, die sich nach seiner Auffassung aus der Akzeptanz eines Widerstandsrechtes ergeben. Demnach würden nämlich erst recht Tyrannen herrschen, wenn es erlaubt wäre Tyrannen zu töten, da die Konzeption eines legitimen Tyrannenmordes all jenen als Vorwand dienen würde, die die Macht innerhalb eines Gemeinwesens an sich reißen wollen. Außerdem wären die guten Fürsten im Falle einer Erlaubnis des Tyrannemordes ihres Lebens nicht mehr sicher, eben weil sie einen solchen Missbrauch der Rechtfertigungsfigur des Tyrannenmordes befürchten müssten. Erlaubt ist gegen einen tyrannischen Souverän deshalb allein passive Gehorsamsverweigerung: Wenn nun aber der Fürst des Vaterlandes als von Gott geleitet und gesandt stets heiliger ist und noch unverletzlicher zu sein hat als ein Vater, dann folgere ich daraus, daß ein Untertan unter keinen Umständen seinen souveränen Fürsten, sei er auch der abscheulichste und grausamste Tyrann, im geringsten antasten darf. Dagegen darf man ihm durchaus den Gehorsam verweigern, wo (sonst) das Gesetz Gottes oder das Naturrecht verletzt würden oder sich durch Flucht entziehen, sich verbergen oder Schläge parieren. Aber man hat eher in den Tod zu gehen als das Leben oder auch nur die Ehre des Fürsten anzutasten. Welche Anzahl von Tyrannen gäbe es (erst), wenn es erlaubt wäre, sie zu töten! […] Wie wären die guten Fürsten dann noch ihres Lebens sicher? (Bodin, Sechs Bücher, Bd. I, S. 369)
Seltsame Blüten treibt Bodins Ablehnung eines Widerstandsrechts schließlich aber in der Befürchtung, dass ein Souverän geradezu in die Rolle eines Tyrannen gedrängt werden könne, wenn ihm hinsichtlich der Unterordnung unter die Gesetze zuviel abverlangt werde:
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So kommt es dann, daß der souveräne Monarch, wenn er merkt, daß man ihm sein ureigenes Recht nehmen und ihn seinen eigenen Gesetzen unterwerfen will, sich am Ende nicht nur über die positiven Gesetze, sondern auch über diejenigen Gottes und der Natur hinwegsetzt und zwischen ihnen keinen Unterschied mehr macht (Bodin, Sechs Bücher, Bd. I, 226).
Hier klingt Machiavellis Auffassung an, dass der Einsatz bestimmter Mittel dem Herrscher nicht nur erlaubt ist, sondern, dass sie zum Zweck des Machterhaltes geradezu eingesetzt werden müssen (vgl. Machiavelli, Der Fürst, S. 82ff.). Ein weiteres Argument zur Ablehnung eines Widerstandsrechts beruht schließlich auf religiösen Prämissen und wird unter Verweis auf die Autorität der Bibel begründet: Denn Gesetz Gottes und Naturrecht verlangen, den Weisungen und Geboten dessen zu gehorchen, dem Gott Gewalt über uns verliehen hat, es sei denn, sie stünden in unmittelbarem Widerspruch zum Gesetz Gottes, der über allen Fürsten steht (Bodin, Sechs Bücher, Bd. I, S. 231).
Es besteht also eine letztlich religiös begründete Gehorsamspflicht der Untertanen gegenüber ihren Herrschern, die im Falle des massiven Machtmissbrauchs und massiver Ungerechtigkeit aber zumindest passiven Ungehorsam erlaubt, nämlich dann, wenn Weisungen des Herrschers offensichtlich gegen natürliches oder göttliches Recht verstoßen. Dass in der Theorie Bodins neben dieser Verpflichtung der Untertanen gegenüber dem Herrscher auch eine Bindung des Herrschers durch das Naturrecht besteht, wurde oben bereits betont. Aber zudem besteht für den Herrscher auch eine Verpflichtung, die aus dem Vertrauen der Mitglieder des Gemeinwesens in den Fürsten hervorgeht – er unterliegt somit einer doppelten Verpflichtung: Die eine folgt aus der natürlichen Gerechtigkeit, die verlangt, Verträge und Versprechen zu halten. Die andere folgt aus dem Vertrauen in den Fürsten, das er auch dann nicht enttäuschen darf, wenn er davon Nachteil hätte (Bodin, Sechs Bücher, Bd. I, S. 232).
Hier klingt in der Vorstellung eines Vertrauens der Untertanen in den Fürsten schon Lockes Vorstellung einer Beauftragung des Herrschers an, die sich auch im Vertrauen in ihn wiederfinden muss.11 Hinsichtlich der Bestimmung von Verhältnissen als tyrannisch kann Bodins Position ganz in der auf Aristoteles zurückgehenden Tradition der Tyrannislehre
11 Vgl. unten, I, 4.
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verortet werden. Es ist die Orientierung am eigenen Vorteil statt am Gemeinwohl, die einen Herrscher zum Tyrannen werden lässt. Zurückgeführt werden diese Kriterien dabei in der Konzeption Bodins auf göttliches und natürliches Gesetz: […] ist doch auch behauptet worden, der Fürst dürfe auf Kosten anderer seinen Vorteil suchen, ohne dafür einen rechtfertigenden Grund zu haben. Diese Ansicht widerspricht dem Gesetz Gottes und dem Naturrecht (Bodin, Sechs Bücher, Bd. I, S. 233).
Die Tötung des tyrannischen Usurpators wirft für Bodin anders als die Frage nach dem Widerstand gegen einen souveränen Tyrannen keine Rechtfertigungsprobleme auf und für die Frage nach dem ,Tyrannenmord‘ ist dann sogar irrelevant, ob ein solcher Usurpator ‚gut‘ oder ‚schlecht‘ regiert. Er darf allein deshalb getötet werden, weil er sich die Gewalt über ein Gemeinwesen ungerechterweise angeeignet hat und deshalb keine besonderen auf der Herrschaftsbeziehung basierenden moralischen Verpflichtungen ihm gegenüber bestehen (vgl. Bodin, Sechs Bücher, Bd. I, S. 361ff.).12 (2) Durch die Mitglieder eines Gemeinwesens darf nach Auffassung Bodins also allein ein nicht souveräner Usurpator gewaltsam entmachtet werden. Der Grund dafür, dass ein Gewaltherrscher, der über Souveränität verfügt, nicht gewaltsam entmachtet werden darf, liegt darin, dass den Untertanen aus verschiedenen Gründen kein Recht zukommt Widerstandsgewalt gegen ihn auszuüben. Bodin ist in gewisser Weise auf eine solche Ablehnung des Widerstandsrechts aus innerstaatlicher Perspektive festgelegt, um seinen strengen Souveränitätsbegriff nach innen konsistent zu entfalten. Daraus ergibt sich aber für Bodin noch keineswegs – wie später für Kant –, dass ein Interventionsrecht von außen aus denselben Gründen wie ein Widerstandsrecht von innen abgelehnt werden muss. Vielmehr darf ein Tyrann von außen, unabhängig davon, ob er souverän ist oder nicht, durch den Souverän eines anderen Gemeinwesens abgesetzt oder getötet werden (Bodin, Sechs Bücher, Bd. I, S. 301). Darin zeigt sich deutlich, dass Souveränität bei Bodin als Schutzprinzip gegen Gefahren von innen, aber noch nicht als Schutzprinzip nach außen verstanden wird.13 Mit Blick auf die Frage danach, ob von außen Gewalt gegen einen tyrannischen Herrscher angewendet werden darf,
12 Dass dem Volk zumindest dann ein Widerstandsrecht gegen einen tyrannischen Herrscher zukommt, wenn es selbst als Souverän gelten kann, wird bei Bodin erst in der Auseinandersetzung mit dem Interventionsrecht deutlich. Vgl. unten, S. 127. 13 Dies liegt nicht zuletzt darin begründet, dass es Bodin um die Souveränität des Herrschers und nicht um die des Staates geht.
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muß man jedoch zwischen einem souveränen und einem nicht souveränen Fürsten, sowie zwischen Untertanen und Fremden unterscheiden. Denn ob man sagt, der Tyrann darf von einem fremden Fürsten getötet werden, oder ob man sagt, dem Untertan ist dies erlaubt, ist ein großer Unterschied (Bodin, Sechs Bücher, Bd. I, S. 363).
Die entscheidende Differenz zwischen erlaubten Gewalthandlungen gegen einen Tyrannen und einem Gewaltverbot besteht nämlich im Status desjenigen, der die Gewalt anwendet. Wie oben ausgeführt wurde, ist dem Untertanen aufgrund der Souveränität des Herrschers und aufgrund seiner Verpflichtung ihm gegenüber Widerstand nicht erlaubt. Für einen fremden Herrscher gelten diese Verpflichtungen jedoch nicht, vielmehr sind sie durch das Prinzip der Nothilfe zum Einsatz von Gewalt gegen einen tyrannischen Herrscher berechtigt, sie dürfen sozusagen stellvertretend Widerstand leisten: So wie es jedermann, wer er auch sei, nach dem Vorbild Moses, der seinem Bruder in der Bedrängnis beisprang, als er sah, daß rechtliche Hilfe nicht (rechtzeitig) zu erlangen war, zur Zierde gereicht, Eigentum, Ehre und Leben der zu unrecht in Not Geratenen mit der Faust zu verteidigen, wenn die Pforten der Gerechtigkeit sich geschlossen haben, ziert es auch in hohem Maße einen Fürsten, zu den Waffen zu greifen, um ein ganzes Volk aus der ungerechten Schreckensherrschaft eines Tyrannen zu befreien (Bodin, Sechs Bücher, Bd. I, S. 363).
Diese Stelle ist durchaus bemerkenswert: Es ist demnach nicht nur erlaubt, in bestimmten Fällen als Herrscher eines fremden Gemeinwesens Nothilfe für ein unterdrücktes Volk zu leisten, dies zu tun gilt Bodin vielmehr als besonders lobenswert. Verteidigt werden dürfen demnach Eigentum, Ehre und Leben, wobei auch hier, wie schon vorher im Modell der Intervention zur Verteidigung Unschuldiger in den spätscholastischen Positionen, vorausgesetzt wird, dass es um den Schutz Unschuldiger geht. Zudem wird hier der Aspekt der Befreiung Unschuldiger explizit als Interventionsgrund angeführt, wobei die Durchführung solcher Nothilfeaktionen auf unterschiedliche Weise und ausdrücklich auch gewaltsam erfolgen kann.14
14 „In einem derartigen Fall tut es nichts zur Sache, ob der tugendhafte [fremde] Fürst [dazu] Gewalt oder Schliche anwendet oder im Wege eines gerichtlichen Verfahrens einschreitet. Allerdings: Fällt der Tyrann dem tugendhaften Fürsten in die Hände, gereicht es diesem zu noch größerer Ehre, wenn er ihn vor Gericht stellt und ihn wie einen Mörder oder Elternmörder oder Räuber bestrafen läßt, statt mit ihm nach den Regeln des Völkerrechts zu verfahren“ (Bodin, Sechs Bücher, Bd. I, S. 364). Vgl. auch Ottmann 2006, S. 221 und Denzer 2001, S. 188.
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Mit Blick auf die Frage nach Kriterien, anhand derer der gerechte Interventionsfall bestimmt werden kann, ist eine Textstelle, die sich in der lateinischen Fassung15 des Textes Bodins an diese Überlegung anschließt, aufschlussreich: Wir sind deshalb der Meinung, daß es dem Fremden gestattet ist, den Tyrannen, also einen nach Meinung aller infamen und wegen der räuberischen und mörderischen Umtriebe und Greueltaten seiner Anhänger berüchtigten Menschen zu töten. Dasselbe ist auch dem Bürger in einer Demokratie oder Aristokratie dann gestattet, wenn der Fürst nicht im Besitz der Souveränität ist (Bodin, Sechs Bücher, Bd. I, S. 622).
Entscheidend zur Bestimmung des Interventionsfalles ist also, dass eine große Mehrheit – Bodin spricht hier von der „Meinung aller“ – den Herrscher für einen Tyrannen hält, was sich an dessen räuberischem und mörderischem Verhalten erkennen lässt, also daran, dass der Tyrann Leben und Eigentum der Untertanen willkürlich verletzt. Hier wird in Auseinandersetzung mit einem Interventionsrecht als Nothilfe in Form stellvertretenden Widerstandes schließlich deutlich, dass zuletzt doch auch bei Bodin eine Möglichkeit für ein Widerstandsrecht des Volkes offen bleibt. Ein Volk kann nämlich dann zu Widerstand berechtigt sein, wenn ihm selbst die Souveränität zukommt: Was hingegen die Untertanen anbelangt, so kommt es darauf an, ob der Fürst absolut souverän ist oder nicht. Denn im letzteren Fall liegt zwangsläufig die Souveränität entweder beim Volk oder bei einer Oberschicht. In diesem Fall ist es zweifellos zulässig, den Tyrannen vor Gericht zu stellen, wenn man sich damit gegen ihn durchsetzen kann, oder aber im Wege der Selbsthilfe und offenen Gewalt gegen ihn vorzugehen, wenn andere Mittel nicht helfen (Bodin, Sechs Bücher, Bd. I, S. 364).
3.2 Albericus Gentilis Schon vor Hugo Grotius’ berühmter und wirkungsgeschichtlich so einflussreicher natur- und völkerrechtlicher Abhandlung über das Recht des Krieges verfasste der Völkerrechtler Albericus Gentilis (1552–1608) ein viel beachtetes Werk zu diesem Thema, das unter dem Titel De Jure Belli Libri Tres im Jahr 1598 erschien. Auch diese Schrift ist vor dem Hintergrund der Entwicklung des neuzeitlichen Souveränitätsbegriffs und der Haltung zur Interventionsfrage von einiger Bedeutung, denn auch Gentilis entwirft eine völkerrechtliche Konzeption des Rechts des Krieges, in der die Rolle der Staaten und ihrer Rechte, besonders ihrer Souve-
15 Es handelt sich hierbei um eine Edition des Textes aus dem Jahr 1586.
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ränität, im Vergleich zu den Konzeptionen der spanischen Spätscholastik weiter in den Vordergrund rückt, in der aber auch Raum für ein Interventionsrecht auswärtiger Herrscher zum Schutz der Mitglieder eines fremden Gemeinwesens bleibt.16 Die Frage nach dem Recht fremder Herrscher zur Intervention in ein anderes Gemeinwesen diskutiert Gentilis im ersten Buch seines Werkes im Kapitel XVI unter der Frage danach, „[…] ob es ebenfalls gerecht ist, wenn wir die Untertanen eines anderen gegen ihren Souverän (dominum) verteidigen“ (Gentilis, De jure belli, I, XVI).17 Gentilis geht hier im Anschluss an die von Seneca (und der älteren Stoa) angeführte Vorstellung einer Gemeinschaft der Menschen jenseits der Grenzen einzelner Gemeinwesen davon aus, dass zur Realisierung von Recht und Gerechtigkeit letztlich im Konfliktfall auch gegenüber fremden Souveränen die Durchsetzung einer Strafgewalt bei schweren Rechtsverletzungen möglich sein muss (vgl. Gentilis, De jure belli, I, XVI). Dabei fordert Gentilis zunächst, dass Streitigkeiten innerhalb eines Gemeinwesens zwischen dessen Mitgliedern und dem Souverän auf Gerichtsebene gelöst werden müssen (vgl. Gentilis, De jure belli, I, XVI). Doch es kann sich auch das Problem ergeben, dass ein solcher Streit in der Weise das gesamte Gemeinwesen in einer Weise betrifft, dass innerhalb dieses Gemeinwesens keine unparteiliche Urteilsbildung bezüglich einer gerichtlichen Auflösung solchen Streits mehr möglich ist.18 Hier zeigt sich, dass das primäre Prinzip, nach dem Gemeinwesen ihre inneren Angelegenheiten selbst regeln sollen, in bestimmten Streitfragen, die bis hierher noch nicht genauer spezifiziert sind, an seine Grenzen kommen kann. Dass nun eine Streitfrage das Wohl des gesamten Gemeinwesens berühren muss, scheint auch ein entscheidendes Kriterium dafür darzustellen, dass eine Einmischung von außen erwogen werden kann. Dabei zeigt sich ein entscheidendes Kriterium, das hier für die Rechtsfertigung von Interventionen besonders betont wird.19 Die Vorstellung, dass Rechtsverletzungen das Gemeinwesen
16 Auf Gentilis’ Auseinandersetzung mit der Interventionsfrage geht Reibstein kurz ein. Vgl. Reibstein 1963, S. 638f. 17 Alle Zitate aus Gentilis’ De jure belli sind Übersetzungen des Autors. 18 „Wenn ein Konflikt zwischen einem Untertanen und seinem Fürsten entsteht, gibt es eingesetzte Beamte, an die die Sache herangetragen werden kann. Aber wenn ein Konflikt das gesamte Gemeinwesen betrifft, gibt es keine Richter innerhalb des Staates, und es kann sie auch nicht geben“ (Gentilis, De jure belli, I, XVI). 19 „Doch was ich über die Untertanen selbst sage betrifft nur jene, die den Untertanen eines anderen Fürsten gegen ihren Herrscher zur Hilfe kommen möchten, und die dies nur in einem Streit tun können, der das Gemeinwesen betrifft, wie ich gerade erklärt habe“ (Gentilis, De jure belli, I, XVI).
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als Ganzes betreffen müssen, um ein Eingreifen von außen rechtfertigen zu können, ähnelt dem Kriterium der massiven Rechtsverletzung in der Terminologie der neueren Interventionsdiskussion. Für eine Intervention gilt schließlich auch für Gentilis der Schutz Unschuldiger als entscheidender Rechtfertigungsgrund: Und freilich, wenn Untertanen grausam und ungerecht behandelt werden, wird dieses Prinzip, sie zu verteidigen, auch von anderen befürwortet. Sie bringen das ausgezeichnete Beispiel von Herkules, dem Bändiger von Tyrannen und Monstern. Ein anderes Beispiel ist Konstantin, der den Römern gegen Maxentius half, wie ich es im vorangegangenen Teil meiner Abhandlung erwähnt habe. Wir verteidigen Söhne gegen ungerechte Väter (Gentilis, De jure belli, I, XVI).
Neben der Massivität der Rechtsverletzungen kommen hier zur Bestimmung des Interventionsfalls als Kriterien die grausame und die ungerechte Behandlung der Mitglieder eines Gemeinwesens hinzu. Mit Blick auf die von Seneca aufgeworfenen Frage danach, ob Herrscher gegenüber anderen Herrschern, die tyrannisch regieren, eher verpflichtet sind als deren Unrecht leidenden Untertanen, die als Mitglieder einer Gemeinschaft der Menschen jenseits der Grenzen einzelner Gemeinwesen angesehen werden können, bezieht Gentilis deutlich Stellung, indem er herausstellt, dass unter Souveränität von Herrschaft nicht verstanden werden kann, dass diese überhaupt nicht normativ bewertbar ist. Souveränen kommt hinsichtlich der Beurteilung der Gerechtigkeit ihres Handelns eben gerade keine Sonderstellung zu: „So ist es in der Tat, oder wir stellen die Souveräne anders als alle anderen Menschen, wenn wir ihnen zugestehen, dass sie nach Lust und Laune handeln können“ (Gentilis, De jure belli, I, XVI). Bei Interventionen zum Schutz der Mitglieder eines fremden Gemeinwesens geht es Gentilis vor allem um Formen unterstützender Nothilfe in Fällen, in denen sich Untertanen gegen ihren Herrscher erheben – die Figur der Intervention als stellvertretender Widerstand bekommt hier auf diese Weise die Form einer Unterstützung berechtigten Widerstandes (vgl. Gentilis, De jure belli, I, XVI). Selbst in Fällen, in denen die unterdrückten Untertanen sich im Unrecht befinden, können sie gegen massive Grausamkeiten seitens ihrer Herrscher von außen geschützt werden (vgl. Gentilis, De jure belli, I, XVI). Dabei zeigt sich in der folgenden Passage des Textes von Gentilis, dass neben der Qualifikation solcher Schutzinterventionen aus Sicht der Frage nach ihrer Gerechtigkeit oder Rechtmäßigkeit auch ein moralphilosophisches Vokabular hinsichtlich ihrer Bewertung herangezogen wird, indem der Schutz vor grausamen und inhumanen Behandlungen von Untertanen durch ihre Herrscher als in besonderer Weise lobenswert herausgestellt wird:
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Wir tun gut daran, auch ungerechte Söhne gegen die Grausamkeit eines Vaters zu verteidigen, und Sklaven gegen die Unmenschlichkeit ihrer Herren, und es ist lobenswert für uns, dafür Sorge zu tragen, dass auch der Ungerechte nicht mit Wut (das heißt, mit Krieg) gezüchtigt und bestraft wird, denn Wut, das bedeutet Krieg, ist ohne Mäßigung. Wer auch immer, von Menschlichkeit (humanitate), Mitleid oder einem anderen billigen und gerechten Motiv dazu verleitet, den Sklaven eines anderen bei sich aufnimmt, verstößt damit nicht gegen die Verordnung gegen die Korrumpierung von Sklaven. Und diese Aufnahme wird als natürliche Güte bewertet usw. Es wird auch der gelobt, der, wenn er seinen Sklaven zürnt, diese einem anderen zur Bestrafung überlässt mit der Begründung, dass er selbst in Wut ist (Gentilis, De jure belli, I, XVI).
Hier kommt bei Gentilis nun auch der Begriff der Humanität explizit in der Interventionsdiskussion ins Spiel. An diese Vorstellung ist ein Herrscherbild gekoppelt, das den normativen Rahmen herrschaftlicher Souveränitätsansprüche deutlich durch einen Auftrag der Herrscher für den Schutz ihrer Untertanen in Ablehnung eines möglichen Selbstzweckcharakters von Herrschaft und Souveränität betont. So vertritt Gentilis die Auffassung, „dass Königreiche nicht für Könige gemacht wurden, sondern Könige für ihre Königtümer, was wahr ist“ (Gentilis, De jure belli, I, XVI). Ein weiteres Argument für die Erlaubnis von Interventionen in Fällen, in denen Souveräne die Mitglieder ihres Gemeinwesens grausam und unmenschlich behandeln, ist eher pragmatischer Natur und verweist darauf, dass Beziehungen zwischen Staaten, von denen einer die Rechte seiner Bürger willkürlich verletzt, auch deshalb problematisch sind, weil solche Asymmetrien in der Form der Herrschaftsausübung das Verhältnis zwischen benachbarten Staaten stören können.20 Mit Blick auf die bisherige Diskussion der Interventionsfrage lassen sich bei Gentilis’ kurzer Auseinandersetzung mit diesem Problem drei wichtige Aspekte festhalten: Als entscheidender Grund für eine Berechtigung zur Intervention in ein fremdes Gemeinwesen zum Schutz seiner Mitglieder vor Unrecht wird hier im wesentlichen die auf Seneca zurückgeführte Vorstellung einer Gemeinschaft aller Menschen verstanden, die rechtserhaltende und rechtssichernde Aktionen auch
20 „Vielleicht zweifelt jemand an, ob diese Regeln für Privatpersonen gelten. Denn ein Privatmann scheint mit dem Seinen machen zu können, was er will, wenn es zu seinem Vorteil ist, auch wenn es einen anderen schädigt. Doch sie gelten in Fällen von Herrschaft. Denn Fürsten müssen für die Zukunft vorsorgen, so dass niemand, wenn er es möchte, einem anderen Leid zufügen kann, was in der Abhandlung über angemessene Verteidigung dargelegt ist. Doch auch die Regel, dass jeder mit dem Seinen machen kann, was ihm gefällt, gilt nur dann, wenn die Lage seines Nachbarn dadurch nicht verschlechtert oder erschwert wird. Obwohl es wahr ist, dass nicht berücksichtigt wird, welchen Gewinn der Nachbar davon hat, der ihm ohne Verschuldung zufällt“ (Gentilis, De jure belli, I, XVI).
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außerhalb des eigenen Gemeinwesens erlaubt. Diese Vorstellung, die in der Diskussion der spanischen Spätscholastik noch im Wesentlichen vor einem religiösen Hintergrundbild artikuliert wird – obwohl sich auch schon dort (wie bereits in der Stoa) eine gehaltvolle Vorstellung einer Einheit des Menschengeschlechts herausbildet – wird hier losgelöst von religiösen Hintergrundannahmen formuliert. Außerdem wird die Rechtfertigungsfigur des Schutzes der Mitglieder eines Gemeinwesens vor dem Erleiden von Unrecht – vor allem Seitens ihrer Herrscher – hier dahingehend erweitert, dass nicht allein Unschuldige, sondern auch Schuldige21 gerechterweise durch Interventionen von außen geschützt werden dürfen.22 Die Rechtfertigungsfigur für Schutzinterventionen wird damit stärker auf den Aspekt des Schutzes konzentriert, wohingegen der Aspekt der Unschuldigkeit als Voraussetzung für einen berechtigten Schutzanspruch in den Hintergrund tritt. Dahinter verbirgt sich im Gesamten ein stärkerer Gerechtigkeitsbegriff, der den Anspruch auf Freiheit von Rechtsverletzungen als unbedingt versteht und ihn nicht an eine bestimmte moralische Qualifikation des ‚Rechteinhabers‘ bindet. Schließlich taucht hier der Begriff der Humanität in der Interventionsdiskussion auf, wenn hinsichtlich der Gründe zur Bestimmung eines gerechten Interventionsfalles die Inhumanität von Handlungen gegenüber den Mitgliedern eines Gemeinwesens als Kriterium explizit benannt wird.
3.3 Hugo Grotius Die Völkerrechtstheorie des Hugo Grotius (1583–1645) muss ebenso wie Bodins politische Philosophie vor dem Hintergrund der europäischen Religionskriege – insbesondere des Dreißigjährigen Krieges – verstanden werden. Doch obwohl das Konzept der Souveränität vor diesem Hintergrund bei Grotius eine zentrale Rolle spielt, die für die völkerrechtliche Weiterentwicklung des Prinzips der Souveränität nicht unbedeutend war,23 finden sich in seinem Werk entscheidende Qualifikationen des Souveränitätsverständnisses hinsichtlich der Möglichkeiten,
21 Unter Schuldigen versteht Gentilis hier Personen, die gesündigt haben. Vgl. Gentilis, De jure belli, I, XVI. 22 „Und daher scheint es mir, dass auch den ungerechten Untertanen eines anderen Hilfe geleistet werden darf, aber nur mit dem Ziel, unmäßige Grausamkeit und gnadenlose Bestrafung abzuwehren. Denn es ist nicht unmenschlich (nec inhumanum est), sogar denen Gutes zu tun, die gesündigt haben“ (Gentilis, De jure belli, I, XVI). 23 Zur Bedeutung Grotius’ für die Theorie des Völkerrechts vgl. Lauterpacht 1946, Grewe 1984 sowie Bull 1963 und 1992. Zur Rezeption der spanischen Spätscholastik bei Grotius siehe Dufour 2001.
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Tyrannen sowohl von innen als auch von außen zu begegnen. Obwohl das Prinzip der Souveränität von Grotius in seiner Bedeutung anerkannt und gestärkt wird, bleibt in seiner Theorie des Völkerrechts ebenso Raum für ein Widerstandsrecht von innen wie für ein Interventionsrecht von außen. Von besonderem Interesse ist seine Position vor dem Hintergrund der in der vorliegenden Arbeit vertretenen These, dass militärische Interventionen zum Schutz der Mitglieder eines Gemeinwesens unter bestimmten Bedingungen als Aktionen stellvertretenden Widerstandes verstanden werden können, deshalb, weil die Begründung von Widerstands- und Interventionsrecht hier weitgehend analog verläuft. Eine Rekonstruktion seiner Position ist deshalb auch mit Blick auf ein Verständnis militärischer Interventionen zum Schutz der Menschenrechte als Aktionen stellvertretenden Widerstandes in der gegenwärtigen Interventionsdebatte aufschlussreich. Neben den europäischen Religionskriegen prägten auch die großen Endeckungen, auf die schon die Autoren der spanischen Spätscholastik reagiert hatten, das Weltbild der Zeit Grotius’, so dass hier neben anderen auch Fragen nach dem Geltungsgrund des Völkerrechts in den Vordergrund drängten. Vor dem Hintergrund unterschiedlicher kultureller und religiöser Rahmen mussten Normen nun so begründet werden können, dass sie unabhängig von religiös exklusiven Prämissen verstanden und anerkannt werden konnten, was eine besondere Herausforderung für die Naturrechtslehre darstellte, die bislang vor allem auf einem christlich-theologischen Fundament basierte.24 Eine Rechtfertigung des Rechts aus allein christlich-theologischer Perspektive konnte mit Blick auf fremde Völker und Kulturen nicht mehr ausreichen, denn wie sollte ein auf solche Weise fundiertes Recht Geltung bei Nicht-Christen beanspruchen und Anerkennung finden können? Deshalb versuchte Grotius eine Rechtstheorie zu formulieren, die auf einer Konzeption des Naturrechts basiert, dessen Geltung nicht von theologischen Voraussetzungen abhängig ist. Dieses Programm findet seinen Ausdruck in dem berühmt gewordenen etiamsi daremus, der Formel, dass man das Naturrecht auch ohne die Vorraussetzung der Existenz Gottes begründen könne.25
24 Zur christlichen Begründung des Naturrechts vgl. Specht 1984. 25 „Diese hier dargelegten Bestimmungen würden auch Platz greifen, selbst wenn man annähme, was freilich ohne die größte Sünde nicht geschehen könnte, daß es keinen Gott gäbe, oder daß er sich um die menschlichen Angelegenheiten nicht bekümmere“ (Grotius, JBP, Vorrede, S. 11). „Die Formel, das Naturrecht müsse auch gelten, wenn es keinen Gott gäbe, hat bei ihm (Grotius, Anm. S.L.) eine ganz konkrete politische Funktion. Nicht so sehr entscheidend sind ihre metaphysischen, als vielmehr ihre praktischen Implikationen. So wie sie im internationalen Bereich die Verbindlichkeit des Naturrechts bei Christen und Heiden begründen sollte, so innerstaatlich seine Anerkennung durch die streitenden Religionsparteien“ (Link 1983, S. 19).
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In der Tradition des Naturrechts stehend zeichnet sich auch Grotius’ Rechtsverständnis dadurch aus, dass das Recht seine Legitimität nicht aus bloßer Macht oder seinem Nutzen erhält, sondern dass die moralische Geltung des Rechts von einem überpositiven Standpunkt aus beurteilt und bewertet werden kann.26 Dabei steht eine aristotelische Vorstellung der Sozialnatur des Menschen im Hintergrund, die es nötig macht, dass die Menschen ihre Beziehungen zu- und untereinander mit Mitteln des Rechts regeln, was über den Rahmen einzelner Gesellschaften hinaus auch für die Beziehungen der Gemeinwesen zueinander, also für das Völkerrecht – als Recht zwischen den Völkern (ius gentium inter se) – gilt (vgl. Grotius, JBP, Vorrede, S. 8). In seiner Theorie des Völkerrechts wird dabei schon sehr deutlich der Zusammenhang von Frieden und Recht mit Blick auf die Friedensfunktionalität des Rechts herausgestellt (vgl. Grotius, JBP, Vorrede, S. 18), eine Vorstellung, in der schon die spätere rechtsphilosophische Auffassung Kants anklingt.27 Grotius nimmt für seine Theorie in Anspruch, dass sie in der Naturrechtstradition eine besondere Stellung hinsichtlich der Begründung des Naturrechts einnimmt. Dem Anspruch nach versteht er seine Theorie als die eines Naturrechts, das auf einer säkularen Begründung fußt. Eine solche Konzeption kann auf einen Gottesbeweis, wie er etwa später noch der Lockeschen Naturrechtstheorie zugrunde liegt, verzichten. Statt einer Begründung auf religiöser Grundlage greift Grotius auf die Vernunft als Quelle des Naturrechts zurück und geht dabei von der Grundannahme einer vernünftigen Natur aus, auf die sich auch der Gebotscharakter von Regeln zurückführen lässt. Durch diesen Bezug knüpft Grotius an die Naturrechtslehre der Stoa an.28 Nach dieser Kennzeichnung ist das Naturrecht ein Gebot der Vernunft, welches anzeigt, daß einer Handlung wegen ihrer Übereinstimmung oder Nichtübereinstimmung mit der vernünftigen Natur selbst eine moralische Häßlichkeit oder eine moralische Notwendigkeit innewohnt, weshalb Gott als der Schöpfer der Natur eine solche Handlung entweder geboten oder verboten hat (Grotius, JBP, I, 1, X).
Der Verweis auf Gott als Schöpfer der Natur, der in diesem Zitat angeführt wird, um die Vernünftigkeit der Natur aus ihrer Quelle, dem göttlichen Schöpfer, herzuleiten, lässt die Frage unbeantwortet, ob das Naturrecht nun ohne den Rekurs auf Gott zu begründen ist. Grotius selbst behauptet im Zusammenhang mit der
26 „Des Grotius Vorstellung von Recht ruht so nicht auf irgendwelchen Nützlichkeitserwägungen, sondern auf dem ethisch verstandenen Grunde menschlicher Sozialität und Urteilskraft“ (Hofmann 1986, S. 49). 27 Vgl. unten, I, 5.3. 28 Vgl. zur Naturrechtslehre der Stoa Brandt 1984, S. 568f.
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obigen Aussage, dass das Naturrecht so unveränderlich sei, dass „selbst Gott es nicht verändern kann“ (Grotius, JBP, I, 1, X).29 Letztlich bleibt der Begründungsstatus des Naturrechts bei Grotius unklar – zur Klärung der Frage, ob Grotius’ Anspruch einer Naturrechtsbegründung ohne Rekurs auf Gott tatsächlich eingelöst ist, wäre eine gesonderte Untersuchung nötig. Doch Grotius selbst umgeht das Problem, die Grundsätze des Naturrechts auf eine philosophisch sichere Weise zu begründen, indem er auf die Evidenz hinsichtlich ihrer Erkenntnis und hinsichtlich ihrer Gültigkeit verweist: Denn die Grundsätze dieses Rechts sind bei einiger Aufmerksamkeit ebenso offenbar und überzeugend wie die sinnlichen Gegenstände, die ebenfalls nicht täuschen, wenn die Sinnesorgane gesund sind und das übrige Nötige vorhanden ist (Grotius, JBP, Vorrede, S. 39).
Im Folgenden wenden wir uns der Frage danach zu, unter welchen Umständen eine Verletzung staatlicher Souveränität zum Schutz der Mitglieder eines Gemeinwesens von innen und von außen in der Konzeption Grotius’ gerechtfertigt werden kann. Dazu wird zuerst seine Position zum Widerstandsrecht (1) und anschließend seine Position zur Intervention zum Schutz der Mitglieder eines fremden Gemeinwesens vor einem tyrannischen Herrscher (2) in den Blick genommen. (1) Grotius begründet seine Ablehnung eines kodifizierten Widerstandsrechts anhand von drei Argumenten: Das erste Argument, das pragmatischer Natur ist, geht davon aus, dass politische Herrschaft zusammen mit einem legalisierten Widerstandsrecht nicht bestehen kann.30 Demgemäß ergibt sich aus dieser Perspektive auch im Falle ungerechter Herrschaft kein Widerstandsrecht, weil die politische Ordnung einen besonderen Wert hat, den es prinzipiell zu schützen gilt, da von ihr das Wohl des Volkes abhängt. Um dem Wohl des gesamten Volkes zu dienen und die politische Ordnung aufrechtzuerhalten, bedarf es demnach sowohl politischer Herrschaft als auch hierarchischer Strukturen: Für das öffentliche Leben ist aber unzweifelhaft jene bezeichnende Ordnung des Befehlens und Gehorchens die Hauptsache, und diese kann nicht bestehen, wenn Widerstand gestattet ist (Grotius, JBP, I, 4, IV).
29 Grotius vertritt hier also einen Rationalismus und keinen Voluntarismus. 30 „Deshalb ist die Majestät, d.h. das Ansehen, sei es des Volkes oder des einen, der die höchste Staatsgewalt übt, durch so viele Gesetze und Strafen geschützt; denn mit dem Recht des Widerstandes könnte sie nicht bestehen“ (Grotius, JBP, I, 4, II). Zur Theorie des Widerstandsrechts bei Grotius vgl. auch Zarka 1999.
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An dieser Orientierung am Wohl der Bevölkerung zeigt sich für Grotius die Schwierigkeit, über die Rechtmäßigkeit von Widerstand zu befinden. Der Konflikt entzündet sich an der Frage danach, ob als das vorrangige Ziel in einem solchen Fall Freiheit oder Frieden angesehen werden soll. Hierbei geht es letztlich um ein Prinzip der Abwägung von Folgen einer möglichen Widerstandshandlung. Entscheidungsinstanz ist in diesem Falle das Volk, nicht der Einzelne. So gibt es für Grotius Gründe, die es erlauben, moralisch gerechtfertigten Widerstand abzulehnen, um das Erreichen eines höheren Zieles, wie des innergesellschaftlichen Friedens, zu gewährleisten.31 Das zweite Argument, mit dem Grotius die Ablehnung eines Widerstandsrechts begründet, ist der Verweis auf den Willen Gottes, der Widerstand gegen die Obrigkeit verbiete. Im Rahmen dieser Argumentation bezieht sich Grotius auf Autoritätsargumente, welche die Ansicht belegen, dass ein Aufbegehren gegen weltliche Obrigkeiten nach dem Willen Gottes nicht erlaubt sei. Hierzu beruft er sich auf Paulus, der formuliert: „Wer der Obrigkeit Widerstand leistet, widersetzt sich der Anordnung Gottes; deshalb werden die Widersetzlichen sich selbst die Verdammung bereiten“ (Paulus, Röm. XIII, 2ff., zit. nach Grotius, JBP, I, 4, IV). Auch den gesellschaftlichen Gesamtzweck von öffentlicher Ruhe und politischer Ordnung, die dem Wohl der Gemeinschaft dienen sollen, versucht Grotius im Zusammenhang dieser Argumentation mit dem Verweis auf religiöse Autoritäten zu belegen. Die Pflicht zum Gehorsam, die mit dem auf Gottes Willen begründeten Widerstandsverbot einhergeht, dient demnach dem gemeinschaftlichen Zweck: Man kann vielleicht einwenden, daß Unrecht zu leiden kein Vorteil sei. Man hat darauf richtig, obgleich nicht im Sinne des Apostels, erwidert, daß auch solches Unrecht Vorteil bringe, weil der Geduld ihr Lohn nicht entgehen werde. Mir scheint indessen der Apostel
31 „Es ist in Wahrheit eine schwere Frage, ob man die Freiheit oder den Frieden opfern soll, wie Tacitus sagt, und Cicero hielt diese ,politische Frage‘ für die schwierigste, ,ob man, wenn das Vaterland von einem Tyrannen beherrscht wird, auf alle Weise sich des Tyrannen zu entledigen versuchen solle, auch wenn der Staat dadurch in größere Gefahr geraten sollte.‘ Deshalb darf sich nicht der einzelne das Urteil hierüber anmaßen. Nur dem ganzen Volke gebührt dies. Falsch ist jener Satz: ,Wir wollen die Stadt, die zur Knechtschaft bereit ist, vom Tyrannen befreien.‘ Ebenso sagt Sulla auf die Frage, weshalb er in Waffen gegen das Vaterland vorrücke: ,Um es von dem Tyrannen zu befreien‘“ (Grotius, JBP, I, 4, XIX). Die Strategie eine Berechtigung zum Widerstand mit Verweis auf das Wohl des Volkes abzulehnen ist ambivalent: Es sind durchaus Situationen vorstellbar, in denen allein ein Recht auf Widerstand dem Wohl eines unterdrückten Volkes dienen kann. Auch Grotius selbst greift diesen Zusammenhang später in seiner Auseinandersetzung mit der Möglichkeit Widerstand zu rechtfertigen auf.
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hier den allgemeinen Endzweck dieser Einrichtung im Auge zu haben, d.h. die öffentliche Ruhe, in der die Ruhe der Einzelnen eingeschlossen ist. Es ist unzweifelhaft, daß wir in der Regel dieses Gut durch die Staatseinrichtung erlangen; denn niemand will für sich das Üble. Das Glück der Herrscher aber besteht in dem Glück ihrer Untergebenen (Grotius, JBP, I, 4, IV).
Die Berufung auf einen „allgemeinen Endzweck dieser Einrichtung“ zeigt, dass Grotius in seiner Argumentation zur Ablehnung eines Widerstandsrechtes davon ausgeht, dass dem Staat selbst aufgrund seines Zweckes ein besonderer Wert zukommt. Der Ablehnung des Widerstandsrechts durch den Verweis auf einen besonderen Wert des Staates widmet sich schließlich das dritte Argument, das Grotius gegen ein Widerstandsrecht vorbringt. Vor allem dieser Aspekt ist mit Blick auf die Spannungen, die sich in der Diskussion des Interventionsproblems mit Blick auf die Konzeption staatlicher Souveränität ergeben, wichtig. Widerstand kann demnach nämlich nicht legalisiert werden, weil der Staat zum Zwecke des Wohles der Gemeinschaft einen höheren Wert genießt als der Einzelne. Deshalb ist der Widerstand, auch wenn er unter bestimmten vorstaatlichen Umständen als legitim gekennzeichnet werden kann, als Krieg gegen die Obrigkeit unzulässig, da er ein höheres Recht des Staates verletzen würde: Es haben zwar, wie wir oben ausgeführt haben, nach dem Naturrecht alle Menschen das Recht, Widerstand zu leisten, um dadurch ein Unrecht von sich abzuwehren. Nachdem aber die staatliche Gemeinschaft zum Schutz von Ruhe und Ordnung geschaffen ist, erwächst dem Staate gegen und gegenüber dem, was unser ist, gewissermaßen ein noch höheres Recht, soweit dies zu dem genannten Zweck erforderlich ist. Aus diesem Grunde kann der Staat das unbeschränkte Widerstandsrecht zur Wahrung des öffentlichen Friedens und der öffentlichen Ordnung aufheben. Daß er dies gewollt hat, steht außer Zweifel, da er andernfalls seine Zwecke nicht verfolgen könnte. Denn wenn dieses unterschiedslose Widerstandsrecht erhalten bliebe, bestände keine staatliche Gemeinschaft, sondern nur eine ungeordnete Masse, wie bei den Cyklopen (Grotius, JBP, I, 4, II).
Hier deutet sich an, das Grotius von einer naturrechtlichen Begründbarkeit von Widerstand ausgeht, die aber unter den Bedingungen des Gesellschaftszustandes hinfällig geworden ist, weil der Staat die Schutzfunktion übernommen hat, die ein Widerstandsrecht in einem vorgesellschaftlichen Zustand als Not- und Abwehrrecht legitimieren könnte. Doch eine solche naturrechtliche Legitimierung von Widerstand kann auch unter Bedingungen eines Gesellschaftszustandes relevant bleiben. Auch wenn ein Widerstandsrecht gemäß der drei genannten Argumente für Grotius nicht als festgeschriebenes Recht begründet werden kann, finden sich
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im Rahmen seiner Ausführungen doch Argumente für mögliche Ausnahmen von dieser Ablehnung eines Widerstandsrechts. Ein Kriterium, an dem sich die mögliche Legitimität von Widerstand messen lassen muss, ist die Legitimität von Herrschaft. Solange politische Herrschaft legitim ist, lässt sich kein Widerstand gegen sie rechtfertigen. Dabei ist die Legitimität von Herrschaft an die normativen Bedingungen des Naturrechts gekoppelt. Dieser naturrechtlichen Verpflichtung unterliegen Herrscher, die zur Einhaltung von göttlichem Recht und Naturrecht als die Inhaber politischer Gewalt ebenso wie alle anderen Mitglieder eines Gemeinwesens verpflichtet sind (vgl. Grotius, JBP, I, 3, XVI). Auch wenn Grotius feststellt, dass Widerstand nicht als ein kodifiziertes Widerstandsrecht festgeschrieben werden kann, weil dies das Bestehen des Staates, der dem Wohl seiner Mitglieder dient, bedrohen würde, stößt diese Ablehnung des Widerstandsrechts doch dort an ihre Grenzen, wo das Wohl einer größeren Zahl von Menschen gefährdet wird. Die Legitimität politischer Herrschaft muss sich demnach auch an der Orientierung des politischen Handelns am Wohl der Bevölkerung messen lassen. Deshalb kann Widerstand gerechtfertigt werden, wenn es um die Erhaltung des Wohles einer großen Zahl von Menschen geht. Begründet wird diese Möglichkeit der Rechtfertigung von Widerstand mit dem Verweis auf das Prinzip der christlichen Liebe, die den Schutz Unschuldiger fordert (vgl. Grotius, JBP, I, 4, VII). Hier taucht das Prinzip des Schutzes Unschuldiger, das in den früheren Theorien meist zur Rechtfertigung von Interventionen angeführt wurde, auch zur Begründung eines Widerstandsrechtes auf. Erläutert wird diese Berechtigung zum Widerstand mit einem modellhaften Argument, das an die späteren Naturzustandstheorien der politischen Philosophie erinnert – man könnte hier von einem kontrafaktischen kontraktualistischen Argument zur Begründung eines moralischen Widerstandsrechts sprechen –, indem Grotius die These aufstellt, dass die Mitglieder einer Gesellschaft, wenn sie sich zu einem Staat zusammenschließen, eine Berechtigung zum Widerstand etablieren, die dafür sorgt, daß der Widerstand gestattet sein sollte, wenn dem Umsturz des Staates oder dem Untergang vieler Unschuldiger damit zuvorgekommen werde. Ich meine, daß das, was die christliche Liebe in einem solchen Falle gebietet, auch von dem Menschen zum Gesetz erhoben werden könne (Grotius, JBP, I, 4, VII).
Mit dem Verweis auf die Gefahr eines Umsturzes des Staates bleibt die Rechtfertigung eines Widerstandsrechts im Ausnahmefall verträglich mit der zuvor geäußerten Ablehnung eines Widerstandsrechts aufgrund der Bedrohung der Stabilität des politischen Gemeinwesens. Ist dort die Bedrohung des Bestehens des Gemeinwesens Grund für die Ablehnung eines Widerstandsrechts, kann eben diese Gefahr unter bestimmten Bedingungen gerade auch die Erlaubnis von Wi-
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derstand begründen – insbesondere in Ergänzung durch den Verweis auf den „Untergang vieler Unschuldiger“. Auch die Forderung des Gehorsams, die von Grotius an anderer Stelle als Argument gegen das Widerstandsrecht angeführt wurde, verliert ihren verpflichtenden Charakter, wenn ein Herrscher die Legitimität seiner Herrschaft einbüßt, indem er in massiver Weise gegen das Naturrecht verstößt. Gerade der Verstoß gegen das Naturrecht, der sich in einem naturrechtswidrigen Befehl des Herrschenden ausdrücken kann, entbindet die Bevölkerung in einem solchen Falle von der Gehorsamspflicht.32 Allerdings leitet Grotius aus der Entbindung von der Gehorsamspflicht in diesem Zusammenhang zunächst noch kein Recht auf Widerstand ab; stattdessen mahnt er dazu den ungerechten Zustand zu ertragen:33 „Wenn uns nun der Inhaber der Staatsgewalt aus diesem Grund oder, weil es ihm sonstwie beliebt, Unbill zufügt, so soll man dies lieber erdulden als sich mit Gewalt widersetzen“ (Grotius, JBP, I, 4, I). Doch es gibt Grenzen, bis zu welchem Grad solches Unrecht ertragen werden muss. Diese Grenzen der Legitimität von Herrschaft und die Legitimität von Widerstand werden von Grotius auch durch den Bezug auf das Begriffsrepertoire der klassischen Tyrannislehre beschrieben. Zentrales Kriterium für die Kennzeichnung politischer Herrschaft als tyrannisch ist nach Auffassung Grotius’ die zunächst nicht weiter spezifizierte Ungerechtigkeit, „da die Tyrannei in dem heutigen Sinne die Ungerechtigkeit einschließt“ (Grotius, JBP, I, 3, VIII). In einem Zustand der Tyrannei, in dem der Herrschende ungerecht handelt und in dem seine Herrschaft damit ungerecht ist, verliert dieser seine Legitimation, deren Quelle die Gerechtigkeit ist. Hatte Gentilis argumentiert, dass der Staat nicht um des Herrschers willen existiere, sondern der Herrscher über seine Gewalt zum Zwecke des Wohls des Gemeinwesens verfüge, geht Grotius hier unter Berufung auf Cicero so weit herauszustellen, dass dort, wo die Gerechtigkeit endet, auch das Recht und damit der Staat selbst enden: Deshalb ist es ein weit gehender Ausspruch desselben Cicero, daß da, wo der König ungerecht, oder die Vornehmen oder das Volk selbst ungerecht sind, nicht ein fehlerhafter, sondern gar kein Staat vorhanden sei. […] Dio Chrysostomos sagt richtig, das Gesetz, besonders das, was das Völkerrecht bilde, sei im Staate das, was für den menschlichen Körper die Seele bedeute; mit seiner Beseitigung höre auch der Staat auf (Grotius, JBP, III, 3, II).
32 „Das jedenfalls steht bei allen rechtlich denkenden Menschen fest, daß, wenn der Inhaber der Staatsgewalt etwas befehlen sollte, was dem Naturrecht oder dem Gebote Gottes widerspricht, es kein Mensch zu tun braucht. Als die Apostel sagten man müsse Gott mehr gehorchen als den Menschen, haben sie sich auf dieses unbestreitbare Recht berufen, das jedem Menschen ins Herz geschrieben ist, ein Gesetz, das man übrigens fast mit den gleichen Worten schon bei Platon ausgesprochen findet“ (Grotius, JBP, I, 4, I). 33 Dieses Argument findet sich auch bei Bodin und Kant. Vgl. dazu I, 3.1 und I, 5.3.
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Schließlich lässt sich die Legitimität von Widerstand am grundsätzlichen Recht auf Selbstverteidigung, das durch das Prinzip der Selbsterhaltung begründet ist, erläutern. Ein Recht auf Widerstand ist aus dieser Perspektive als Not- und Abwehrrecht zu legitimieren, „[d]enn von Gottes Gesetzen erleiden einzelne trotz ihres allgemeineren Wortlauts in Notfällen eine Ausnahme“ (Grotius, JBP, I, 4, VII). Doch auch im vorstellbaren Falle der Ausübung des Widerstandes als letztem Notrecht bleibt das allgemeine Wohl der Maßstab, an dem sich die Mittel des Widerstandes zu orientieren haben: Barclajus, der stärkste Verteidiger der königlichen Gewalt, macht immerhin die Einschränkung, daß er dem Volke und seinem vornehmsten Teile das Recht zugesteht, sich gegen wilde Grausamkeit zu schützen, obgleich er anerkennt, daß das ganze Volk dem König untertan sei. Ich erkenne an, daß je größer der Wert dessen ist, was geschützt werden soll, um so billiger der Grund ist, gegen die Worte eines Gesetzes eine Ausnahme zu machen. Dennoch kann ich nicht ohne Unterschied die einzelnen oder einen Teil des Volkes verdammen, wenn sie sich des letzten Notrechts zu ihrem Schutz in einer Weise bedienen, daß sie dabei die Rücksicht auf das allgemeine Wohl nicht aus den Augen setzen (Grotius, JBP, I, 4, VII).
Zusammenfassend lässt sich zum Widerstandsrecht bei Grotius festhalten, dass Widerstand aus pragmatischen Gründen, durch Berufung auf das Gesetz und den Willen Gottes und den höheren Zweck des Staates, zwar grundsätzlich nicht erlaubt werden kann. Ausnahmen davon können jedoch genau dann begründet werden, wenn ein Herrscher seine naturrechtlich begründete legitime Gewalt verwirkt hat und die Regierung gegen den allgemeinen Zweck des Staates handelt. Deutlich sichtbar wird dabei mit Blick auf die Unantastbarkeit von Herrschaft, dass Grotius ein Zwei-Ebenen-Modell vorschlägt, in dem zwar prinzipiell gelten soll, dass Widerstand nicht erlaubt ist, in dem allerdings im Extremfall Ausnahmen erlaubt sind, weil jede Form von Herrschaft, die es zwar prinzipiell zu schützen gilt, von einem überpositiven Standpunkt aus beurteilt werden kann und sich aus einer Beurteilung von diesem Standpunkt aus auch die Rechtfertigung legitimen Widerstandes als letztes Mittel zum Schutz der Mitglieder eines Gemeinwesens begründen lässt.34 (2) Ähnlich wie die Legitimation eines Widerstandsrechts als Ausnahme in Notfällen begründet Grotius nun auch die ausnahmsweise Rechtfertigung von Interventionen zum Schutz der Mitglieder eines fremden Gemeinwesens. Im Rahmen seiner Rechtstheorie setzt sich Grotius im Kontext der Überlegungen zum
34 Ein Problem, das sich hier ergibt und das bei Grotius ungelöst bleibt, ist die Frage danach, wer über das Vorliegen eines legitimen Widerstandsfalles entscheidet, wenn es keine neutrale Instanz gibt.
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Recht zwischen den Völkern ausdrücklich mit der Frage auseinander, ob eine Intervention von außen gegen einen souveränen Staat gerechtfertigt werden kann. Die nun folgende Analyse widmet sich diesem Problem vor allem aus der Perspektive der Frage nach der Rechtfertigung einer Intervention in Fällen, in denen die Bürger eines Staates in massiver Form unterdrückt werden. Sie stellt sich bei Grotius als die Frage nach der Rechtfertigung einer Intervention aus Gründen der Menschlichkeit. Die Legitimität einer Intervention ist für Grotius nur in Ausnahmefällen zu begründen. Generell geht er von der Souveränität einer Regierung aus, die auch von außen nicht verletzt werden darf. Souveränität wird dabei folgendermaßen verstanden: Diejenige Gewalt wird die höchste genannt, deren Tun und Lassen keines Menschen Recht so unterstellt ist, daß sie nach seinem Willen oder Gutdünken unwirksam gemacht werden könnte (Grotius, JBP, I, 3, VII).
Die Gründe für diesen Status der Souveränität, den eine Regierung genießt, werden von Grotius in seiner Auseinandersetzung mit der Frage nach dem Widerstandsrecht angeführt. Vincent deutet diese Ausführungen Grotius’ in seinem Aufsatz Grotius, Human Rights, and Intervention als Ausdruck einer souveränitätstheoretischen Position, in der sich der Souveränitätsbegriff sowohl auf den inneren als auch auf den äußeren Bereich eines Staates beziehen kann. Die Bürger eines Staates dürfen die Souveränität der Regierung oder des Fürsten in der Regel nicht verletzen, und auch ein anderer Staat darf die Souveränität eines Staates und damit auch die Souveränität seiner Regierung, abgesehen von wenigen Ausnahmefällen, nicht verletzen.35 Aus dieser Perspektive wäre eine Intervention dann ebenso wie ein Recht auf Widerstand prinzipiell abzulehnen. Im Folgenden
35 „Grotius may be counted as a non-interventionist in international relations because of the deference he shows to sovereign authority and the doubts he entertained about any right of resistance. The defence of his position is the prudential one having to do with the maintenance of international order. He says, quoting Ambrose, that peoples should not run into wars by usurping the care for those who do not belong to them. But the rights of individuals are not completely eclipsed by this arrangement among sovereigns. For the sovereigns themselves retain a residual responsibility for humankind at large. They ought to care not only for the single nation which is committed to them, said Grotius, but for the whole human race. […] So if a tyrant practises atrocities towards his subjects, even though those subjects cannot take up arms against him, it does not follow that others in a position of responsibility regarding humankind as a whole could not take up arms on their behalf. So to a general principle of non-intervention (the actual language here came after Grotius) is added an exception, especially when subjects are persecuted for their religious beliefs“ (Vincent 1990, S. 246f.).
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soll der Fokus der Untersuchung aber vor allem auf die Ausnahmen von diesem Prinzip, die Grotius begründet, gerichtet werden. Zu rechtfertigen ist eine Intervention nach Grotius als Nothilfeaktion zum Zweck der Hilfeleistung. Es liegt für ihn auf der Hand, dass es erlaubt ist, Verwandten, Nachbarn und Landsleuten zu helfen, wenn diese Hilfe benötigen. So wie Verwandte, Nachbarn und Landsleute miteinander verbunden sind, besteht nach Grotius’ Auffassung auch ein Band zwischen allen Menschen, das den moralischen Grund für die Erlaubnis von Nothilfeaktionen darstellt: Aber auch einem anderen möglichst zu nützen, ist nicht nur erlaubt, sondern geziemt sich. Mit Recht haben die, welche über die Pflichten geschrieben haben, gesagt: der Mensch sei dem Menschen das Nützlichste. Indessen gibt es verschiedene Bande unter den Menschen, die zur gegenseitigen Hilfe veranlassen. Denn auch die Verwandten kommen zur Hilfe zusammen und die Nachbarn werden angerufen, ebenso die Landsleute (Grotius, JBP, I, 5, II).
Diese Vorstellung eines die Menschheit verbindenden Bandes erlaubt es Grotius, das Konzept der Hilfeleistung auch auf den Fall einer Intervention als Nothilfeaktion zu übertragen, so dass sich auf dieser Grundlage eine Intervention aus Gründen der Menschlichkeit rechtfertigen lässt, denn „[w]enn andere Bande fehlen, so genügt eine gemeinsame Menschennatur. Denn dem Menschen ist nichts Menschliches fremd“ (Grotius, JBP, I, 5, II).36 In Auseinandersetzung mit der Frage, ob es möglich ist, Krieg im Interesse eines jeden Menschen zu führen, kommt Grotius in diesem Zusammenhang zu dem Schluss, dass eben jene Verbindung, die zwischen allen Menschen besteht, die Grundlage für die Rechtfertigung eines Krieges im Interesse der Menschen sein kann. Diese Begründung durch das Prinzip der Hilfeleistung zwischen den Menschen wird von ihm u.a. mit einem Verweis auf die oben diskutierte Stelle bei Seneca untermauert (vgl. Grotius, JBP, II, 25, VI). Darüber hinaus wird dieses Argument zur Rechtfertigung von Hilfeleistungen auf der Grundlage einer gemeinsamen menschlichen Natur durch ein anthropologisches Argument gestützt. Demnach ist dem Menschen von Gott ein natürlicher Trieb eingegeben, der ihn als „Trieb der Liebe“ dazu bewegt, andere Menschen zu beschützen und ihnen Hilfe zu gewähren (vgl. Grotius, JBP, I, 5, II). Die Auseinandersetzung mit der Frage nach der Rechtfertigung einer Intervention wird von Grotius auch im Zusammenhang mit der Frage nach der Legitimation von Widerstand diskutiert. Schon im Zusammenhang der Auseinandersetzung
36 Vgl. dazu die oben vorgeschlagene Interpretation des Prinzips der Nothilfe bei Cicero in I, 1. Grotius denkt Cicero hier in der dort angedeuteten Weise weiter.
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mit der Frage nach dem Widerstandsrecht hat Grotius illegitime Herrschaft durch die Beschreibung derselben als Tyrannis gekennzeichnet. Aus diesem Zusammenhang leitet Grotius nun das Recht ab, auch von außen gegen einen Tyrannen militärisch vorgehen zu dürfen – ein solcher Krieg gegen einen Tyrannen kann als gerechter Krieg gelten.37 Dabei ist die Legitimation einer Intervention von außen für Grotius auch in Fällen denk- und begründbar, in denen dem unterdrückten Volk selbst kein Widerstandsrecht zugesprochen werden kann. Begründet ist diese Vorstellung durch die Unterscheidung des Status von Staatsbürgern im Verhältnis zu ihrer Regierung, der Widerstand möglicherweise nicht erlaubt, und des Status eines anderen Staates, der nicht in demselben Verpflichtungsverhältnis gegenüber dem fremden Staat und seinem Herrscher steht wie dessen Bürger.38 Deshalb kann eine Intervention von außen auch im Falle der Tyrannis gerechtfertigt werden: Auch wenn man zugibt, daß die Untertanen selbst bei höchstem Druck die Waffen gegen ihr Staatsoberhaupt nicht ergreifen dürfen (worüber selbst die Verteidiger der königlichen Gewalt zweifelhaft sind), so folgt daraus noch nicht, daß auch kein anderer für sie die Waffen ergreifen darf. […] Der Grund, warum die Untergebenen gehindert sind, dem Staatshaupt Widerstand zu leisten, folgt aus einem Umstand, der für die Untertanen und Nichtuntertanen nicht gleich ist. Er beruht auf einer persönlichen Eigenschaft der Untertanen und geht daher auf andere nicht über (Grotius, JBP, II, 25, VIII).
Hier wird besonders deutlich, dass Interventionen als Aktionen stellvertretenden Widerstandes verstanden werden können, wenn Untertanen selbst kein Widerstand erlaubt ist, weil sie in einem besonderen Verpflichtungsverhältnis gegenüber ihrem Herrscher stehen. Ein Tyrann ist für Grotius vor allem deshalb moralisch disqualifiziert, weil er gegen die Gerechtigkeit verstößt. Im Zusammenhang der Auseinandersetzung mit der Frage nach der Legitimität einer Intervention greift Grotius diese Behauptung, die sich schon in der Diskussion der Frage nach dem Widerstandsrecht findet, wieder auf. Als moralisches Argument führt er hierzu an, dass eine Intervention auch vor dem Hintergrund gerechtfertigt werden kann, dass Tyrannen Unschuldige töten (vgl. Grotius, JBP, II, 25, IX). So stellt auch hier das Prinzip des
37 In dieser Kennzeichnung eines Krieges gegen einen Tyrannen als gerechten Krieg beruft sich Grotius auf Seneca: „Seneca sagt: ,Wenn er auch mein Vaterland nicht angreift, sondern nur seins bedrückt und getrennt von meinem Volke nur seins beunruhigt, es scheidet eine so große Verworfenheit der Seele ihn doch von mir‘“ (Grotius, JBP, II, 20, XL). 38 Vgl. hierzu auch Bodins Auffassung zur Erlaubnis von Interventionen in Fällen, in denen den Mitgliedern des Gemeinwesens kein Widerstandsrecht von innen zukommt. Vgl. dazu oben, I. 3.1.
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Schutzes Unschuldiger einen entscheidenden Rechtsgrund für die Rechtfertigung einer Intervention dar. Neben der Begründung einer Intervention aus Gründen der Menschlichkeit und zum Schutz einer fremden Bevölkerung vor tyrannischer Gewalt hält Grotius eine Intervention auch als Strafaktion für gerechtfertigt. Eine solche Intervention zur Bestrafung ist dann gerechtfertigt, wenn eine grobe Verletzung des Naturoder des Völkerrechts vorliegt (vgl. Grotius, JBP, II, 20, XL). Im Zusammenhang dieser Begründung wird deutlich, dass eine naturrechtliche Begründung einer Intervention für Grotius auch dann möglich ist, wenn der intervenierende Staat nicht selbst betroffen ist,39 denn die Funktion dieser Berechtigung ist es, die „menschliche Gesellschaft durch Strafen zu schützen“ (Grotius, JBP, II, 20, XL). Damit steht Grotius auch hinsichtlich der Einschätzung der Notwendigkeit einer Strafgewalt bei Rechtsverletzungen jenseits der Grenzen des je eigenen Gemeinwesens ganz in der Tradition der Theorie des gerechten Krieges. Eine Intervention ist bei Grotius durch die drei genannten Kriterien jedoch deutlich beschränkt, denn keineswegs geht es Grotius darum, einen Mechanismus zu begründen, der es erlaubt, eine Intervention aus beliebigen Gründen zu rechtfertigen. Selbst das Verlangen eines Volkes nach Freiheit gilt Grotius nicht als Legitimationsgrundlage einer Intervention: Auch die Freiheit einzelner oder der Staaten, d.h. das Recht nach eigenen Gesetzen zu leben, das von Natur und immer jedem allein zusteht, kann kein Recht zum Kriege geben (Grotius, JBP, II, 22, XI).
Die Freiheit der Einzelnen kann dem gemeinsamen Wohl, dessen Grundlage für Grotius eine politische Ordnung ist, untergeordnet werden. Hier ergibt sich allerdings ein Abgrenzungsproblem, da nicht klar ist, wie zwischen einer Intervention, die „bloß“ der Befreiung dienen soll und einer, die dem Schutz der Bevölkerung dienen soll, unterschieden werden soll.
39 „Die Könige und die ihnen gleichstehenden Staatsoberhäupter können Strafen nicht nur wegen des gegen sie und ihre Untertanen begangenen Unrechts fordern, sondern auch wegen Taten, die zwar eigentlich nicht sie selber treffen, aber in einzelnen Personen das Natur- oder Völkerrecht in roher Weise verletzen. Denn das Recht, die menschliche Gesellschaft durch Strafen zu schützen, das wie erwähnt, anfangs dem Einzelnen zustand, ist nach Einrichtung der Staaten und Gerichte allein der Staatsgewalt verblieben, und zwar nicht deshalb, weil sie eine Befehlsgewalt über sie hätten, sondern weil sie niemand zum Gehorsam verpflichtet sind; den übrigen hat die Unterwerfung dieses Recht genommen. Es ist aber um so anständiger, das Unrecht, das anderen zugefügt worden ist, zu rügen, als das selbst erlittene, je mehr bei letzterem zu fürchten ist, daß der eigene Schmerz das rechte Maß überschreiten läßt oder wenigstens die Seele verdirbt“ (Grotius, JBP, II, 20, XL).
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3.4 Samuel von Pufendorf Ein zentrales Kennzeichen der Auseinandersetzung mit der Interventionsfrage bei Grotius ist die Rechtfertigung von Interventionen zum Schutz der Mitglieder eines Gemeinwesens in Analogie zur Rechtfertigung gewaltsamen Widerstandes der Mitglieder eines Gemeinwesens gegen ihren Souverän. Ein knappes halbes Jahrhundert später ist es Samuel von Pufendorf, der im Anschluss an Grotius in seinem Werk über das Natur- und Völkerrecht De Jure Naturae et Gentium libri octo im Jahr 1672 die These aufstellt, dass eine Intervention von außen zum Schutz der Mitglieder eines Gemeinwesens genau dann erlaubt ist, wenn diesen Mitgliedern Widerstand gegen ihren Herrscher erlaubt ist.40 Dabei liegt den Ausführungen Pufendorfs ein gestaffeltes Pflichtenverständnis zugrunde, das letztlich auch zur Begründung eines Interventionsrechtes führt. Primär begreift er den Schutz der Bürger als Auftrag des Staates, und zwar auf der Grundlage ihrer natürlichen Freiheit. Demnach sind die strengsten Pflichten eines Herrschers die Pflichten gegenüber seinem Gemeinwesen. Darüber hinaus können aber auch Unterstützungspflichten gegenüber Verbündeten, Freunden und gegenüber schutzbedürftigen Menschen überhaupt unter bestimmten Bedingungen den Grund für die Rechtfertigung des Einsatzes militärischer Gewalt darstellen. Dabei steht auch bei Pufendorf eine Vorstellung der menschlichen Gemeinschaft als Ganzer im Hintergrund, die unter bestimmten Bedingungen auch einen Grund für die Generierung weitreichender Pflichten darstellen kann. Vor allem mit Blick auf das öffentliche Wohl stellt Pufendorf dabei die Bedeutung der Bestrafung von Unrecht als Voraussetzung für die Durchsetzung von Recht und Gerechtigkeit heraus: So soll man aber vor der Vorstellung zurückschrecken, dass jeder Mensch, auch der, der in natürlicher Freiheit lebt, ein Recht habe, gegen einen anderen zur Zügelung und Bestrafung einen Krieg zu führen, wenn dieser irgendjemand anderem ein Unrecht zugefügt hat; er hat es allein inne, wenn das Gemeinwohl erfordert, dass solch eine Misshandlung Unschuldigen nicht straflos angetan werden darf, und wenn das, was einen berührt, alle berührt (Pufendorf, JNG, VIII, 6, § 14).41
40 Die Behandlung der Interventionsfrage findet sich dort in Buch VIII, Kap. VI, § 14. Das Kap. VI widmet sich insgesamt der Diskussion kriegsrechtlicher Fragen. Neben diesem Werk zum Völkerrecht finden sich Überlegungen zur Theorie des gerechten Krieges bei Pufendorf auch in seiner Schrift Über die Pflichten des Menschen, Buch II, Kap. 18. Zur Theorie des gerechten Krieges bei Pufendorf siehe Luig 2003. 41 Alle Zitate aus JNG sind Übersetzungen des Autors.
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Es ist Pufendorf bei diesen Überlegungen durchaus bewusst, dass sich hinter derartigen Rechtfertigungsfiguren auch ein erhebliches Missbrauchspotential verbirgt, doch versucht er dieses mit Blick auf Beistandspflichten durch die Bedingung zu qualifizieren, dass der Einsatz militärischer Gewalt zum Schutz anderer Personen davon abhängt, dass er durch deren Bitte um Hilfe initiiert wird. Demnach stellt noch nicht allein das Unrecht, das einer anderen Person geschieht, einen gerechten Grund für den Einsatz militärischer Gewalt dar, sondern erst dieser Fall in Kombination mit der Bitte um Unterstützung: Ganz zu schweigen davon, welch großem Missbrauch diese Sache offensteht, und dass jeder unter diesem Vorwand Krieg gegen jeden anderen führen könnte. Daher ist das Unrecht, das ein anderer erleidet, keine hinreichende Bedingung für uns, Krieg zu führen, es sei denn, der Betroffene riefe uns um Hilfe an; was auch immer ich dann unternehme, kann nicht mir zur Last gelegt werden, sondern der Person, die meine Hilfe verlangt (Pufendorf, JNG, VIII, 6, § 14).
Nun steht die Diskussion dieser Fragen bei Pufendorf zuerst im allgemeinen Kontext einer Diskussion der Frage nach den Bedingungen des Einsatzes militärischer Gewalt, doch sie werden konkret auf das Problem des Schutzes der Mitglieder eines fremden Gemeinwesens gegen Unterdrückung von Seiten ihres Souveräns bezogen. Diesbezüglich stellt Pufendorf im Anschluss an Grotius sehr knapp heraus, dass der Schutz der Mitglieder eines fremden Gemeinwesens durch eine Intervention von außen genau dann als erlaubt gelten kann, wenn diese selbst eine moralische Berechtigung zum Widerstand von innen haben: Doch ist es rechtens, zur Verteidigung der Untertanen eines fremden Gemeinwesens die Waffen zu ergreifen gegen den Angriff und die Unterdrückung ihres Herrschers? In dieser Frage verweise ich auf die Ansicht Grotius’ […]. Wir können sicher davon ausgehen, dass wir die Untertanen eines fremden Gemeinwesens in keinem anderen Fall gerecht verteidigen können, als wenn sie selbst berechtigt sind, zu den Waffen zu greifen um die unerträgliche Grausamkeit ihrer Herrscher zu beenden (Pufendorf, JNG, VIII, 6, § 14).
Auch hier wird der Zusammenhang von Widerstands- und Interventionsrecht mit Blick auf die Grenzen der Reichweite eines berechtigten Anspruches eines Herrschers auf Souveränität deutlich sichtbar. Dieser endet nämlich auch mit Blick auf ein Einmischungsverbot von außen dann, wenn die Mitglieder eines Gemeinwesens zu gewaltsamem Widerstand legitimiert sind.
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3.5 Fazit Die Auseinandersetzung mit Bodin, Gentilis, Grotius und Pufendorf zeigt, dass auch vor dem Hintergrund der Herausbildung des neuzeitlichen Staates und dem Aufkommen eines strengeren Begriffes von staatlicher Souveränität die Vorstellung eines Schutzauftrages der Herrscher gegenüber ihren Untertanen und auch die eines sekundären Schutzauftrages von Staaten für die Mitglieder eines fremden Gemeinwesens das politische Denken prägt, auch, wenn die Vorstellung einer prinzipiellen Unverletzlichkeit herrscherlicher bzw. staatlicher Souveränität von außen zunehmend an Bedeutung gewinnt. Wurde schon in Auseinandersetzung mit den Positionen, die in der spanischen Spätscholastik vertreten wurden, deutlich, dass ein Zusammenhang zwischen Widerstandsrecht und Interventionsrecht besteht, indem in Anknüpfung an die Terminologie der klassischen Tyrannislehre herausgestellt wurde, dass fremde Herrscher ein Interventionsrecht haben können, um die Mitglieder eines Gemeinwesens von einem Tyrannen zu befreien, wird dieser Zusammenhang nun noch deutlicher sichtbar, zum einen darin, dass analoge Begründungen für Widerstands- und Interventionsrecht ausgeführt werden, zum anderen darin, dass als gerechter Interventionsfall genau der Fall bestimmt wird, in dem den Mitgliedern eines Gemeinwesens selbst ein Recht zum Widerstand gegenüber ihrem Herrscher zukommt.
4 Exkurs: John Lockes Theorie des Widerstandsrechts
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4 Exkurs: John Lockes Theorie des Widerstandsrechts Sowohl die Auseinandersetzung mit Interventionsargumenten in der Diskussion im Spanien des 16. Jahrhunderts als auch die Diskussion von Bodin über Gentilis und Grotius bis hin zu Pufendorf hat gezeigt, dass ein systematischer Zusammenhang zwischen Theorien über Tyrannis und Widerstandsrecht, die die Grenzen der Legitimität von Herrschaft aus der Binnenperspektive einer Gemeinschaft definieren, und solchen, die die Grenzen der Legitimität politischer Herrschaft von außen unter Rückgriff auf Interventionsargumente kritisch bestimmen, aufgezeigt werden kann. Ein gerechter Grund für eine Intervention kann demgemäß nämlich genau dann vorliegen, wenn die Herrschaft innerhalb eines Gemeinwesens als Tyrannis ausgewiesen wird und wenn die Bürger eines Staates zum Widerstand gegen den Herrscher berechtigt sind. Beide Diagnosen zeigen auf, dass die Mitglieder eines Gemeinwesens als Unschuldige massives Unrecht vonseiten des Herrschers erleiden. Solches Unrecht kann ein Widerstandsrecht vonseiten der Mitglieder eines Gemeinwesens begründen und es kann, wie es etwa eine weit verbreitete Auffassung im politischen und völkerrechtlichen Denken der spanischen Spätscholastik und der frühen Neuzeit ist, auswärtigen Herrschern aufgrund eines Schutzauftrages, der über die Grenzen des eigenen Gemeinwesens hinausgeht, auch ein Interventionsrecht zum Schutz der Mitglieder eines fremden Gemeinwesens begründen. Doch es offenbarte sich mit Blick auf diesen Zusammenhang in der Analyse jener Positionen ein Problem: Es mangelt an konkreten Kriterien zur Feststellung des Vorliegens eines gerechten Grundes für die Ausübung von Widerstand beziehungsweise für eine Intervention als Aktion stellvertretenden Widerstandes. Mit einem Exkurs zu John Lockes Theorie des Widerstandsrechts kann diese Lücke ein Stück weit geschlossen werden. Zwar findet sich in Lockes politischer Philosophie keine Überlegungen zu Interventionen und von Einmischungen von außen zum Schutz der Bürger eines fremden Staates ist in seinem Werk nirgends explizit die Rede.1 Doch Locke entwickelt in seiner Theorie des Widerstandsrechtes, welche die gründlichste Formulierung einer solche Theorie in der neuzeitlichen politischen Philosophie darstellt und die als erste menschenrechtlich fundierte Theorie des Widerstandsrechts gelten kann, deutliche Kriterien für das Vorliegen des gerechten Widerstandsfalles (vgl. Laukötter/Siep 2010; Laukötter/Siep 2012). Vor Locke sind Tyrannislehre und Widerstandsrecht vor allem am Begriff der Tyrannis und nicht an einer Vorstellung individueller Rechte orientiert, so dass
1 Zur Theorie des Widerstandsrechts bei Locke vgl. Siep 2007, S. 286–307.
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Herrschaft dementsprechend dann als entartet gilt, wenn sie willkürlich ausgeübt wird und am Eigenwohl des Herrschers statt am Gemeinwohl orientiert ist. Problematisch ist in diesen Konzeptionen vor allem, dass unklar bleibt, wie das Vorliegen eines legitimen Widerstandsfalles bestimmt werden kann. Nun liegt die entscheidende Neuerung in Lockes Theorie des Widerstandsrechtes, die auch hinsichtlich der Bestimmung des Widerstandsfalles weiter führt, in der Verbindung der Vorstellung legitimen Widerstandes mit der Verletzung elementarer Grundrechte, der Menschenrechte. Das Niveau der Diskussion von legitimem Widerstand wandelt sich auf diese Weise entscheidend, da ein Recht auf Widerstand menschenrechtlich expliziert wird. Das Interesse bei der Auseinandersetzung mit Locke richtet sich hier deshalb auf zwei Aspekte. Zum einen gilt es zu skizzieren, wie das Recht auf Widerstand an das Konzept grundlegender Menschenrechte gebunden ist, ja sogar hinsichtlich seiner Legitimation aus ihnen hervorgeht.2 Zum anderen gilt es die Kriterien, die für die Entscheidung über das Vorliegen des Widerstandsfalls entwickelt werden, herauszuarbeiten. Mit Blick auf die gegenwärtige Diskussion über militärische Interventionen zum Schutz vor Menschenrechtsverletzungen wird im Anschluss daran an späterer Stelle der Frage nachgegangen, ob diese Kriterien für die Bestimmung von Fällen, in denen solche Interventionen hinsichtlich der Anfangsbedingungen gerechtfertigt werden können, fruchtbar gemacht werden können.3 Der normative Kern der Staatstheorie, die Locke im Second Treatise of Government formuliert, lässt sich hinsichtlich der Bestimmung der Legitimität politischer Herrschaft auf die Formel bringen, dass sich die Legitimität der staatlichen Ordnung und die Legitimität von Herrschaft an der Garantie der naturrechtlich begründeten grundlegenden Rechten des Einzelnen, die man als Menschenrechte bezeichnen kann, messen lassen müssen. Der Staat wird von den Menschen zum Schutz ihrer grundlegenden Rechtsansprüche gegründet, seine Herrschaftsgewalt erhält er durch diesen ihn legitimierenden Auftrag („trust“). Aus diesem Auftrag erwachsen ihm Schutzpflichten gegenüber seinen Bürgern, und wenn der Staat seine Schutzpflichten bezüglich der Menschenrechte seiner Bürger massiv verletzt, haben diese ein Recht auf Widerstand als letztes Mittel zum Schutz oder zur Widererlangung ihrer ursprünglichen Rechte.4
2 Das Widerstandsrecht ist bei Locke ein Recht des Individuums auf Widerstand. Das Recht Widerstand zu leisten ist nicht, wie in der Konzeption des ständischen Widerstandsrechts, an bestimmte Gruppen, denen Souveränität zugesprochen wird, gebunden. Zum ständischen Widerstandsrecht vgl. Friedenburg 2001, S. 26–34. 3 Vgl. unten, II, 3. 4 Vom Widerstandsrecht kann in Lockes Konzeption auch präventiv Gebrauch gemacht werden. Vgl. Locke, Zweite Abhandlung, §§ 220, 222.
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Den Ausgangspunkt für die Begründung der Menschenrechte bei Locke bildet ein Prinzip der Gleichheit aller Menschen, das letztlich auf den Willen Gottes als dem Schöpfer aller Menschen zurückgeführt wird. Diese Begründung hängt von Lockes Gottesbeweis ab, den er im Essay Concerning Human Understanding ausgeführt hat (vgl. Locke, Essay, Bd. II, S. 199f.).5 Die Menschenrechte umfassen in Lockes Konzeption das Recht auf Leben, Freiheit, Eigentum und in einem gewissen Sinne auch die Religionsfreiheit (vgl. Locke, Zweite Abhandlung, § 209). Neben der Garantie der Menschenrechte, die im Staat in Grundrechte transformiert werden, spielt auch der Aspekt des Gemeinwohls wie in der klassischen Tyrannislehre eine wichtige Rolle für die Beurteilung der Legitimität von Herrschaft (vgl. Locke, Zweite Abhandlung, § 135). Locke spricht gewissermaßen auf der einen Seite noch in der Sprache der alten Tyrannislehre, aber auf der anderen Seite auch schon in der Sprache einer menschenrechtlich fundierten Widerstandsrechtstheorie. So, wie der Einzelne im Naturzustand ein Recht hat sich zu verteidigen und seine ursprünglichen Rechte zu schützen, kommt ihm dieses Recht wieder zu, wenn diese Rechte im Staat massiv bedroht sind oder massiv verletzt werden. Ein solches Recht zur Verteidigung hat der Einzelne im Modell des Naturzustandes immer schon, weil keine höhere weltliche Berufungsinstanz zur Einforderung der Rechte angerufen werden kann. In diesem Fall hat der Einzelne ein naturrechtliches Strafrecht. Ganz analog dazu funktioniert nun in der lockeschen Konzeption die Begründung des Widerstandsrechts. Missbrauchen die Inhaber der staatlichen Gewalt diese, indem sie sie zur Verfolgung ihrer privaten Zwecke einsetzen, und verletzen sie die grundlegenden Rechte ihrer Bürger, deren Schutz ihre Regierungsgewalt und ihren Regierungsauftrag begründet, massiv, fehlt wiederum eine neutrale weltliche Berufungsinstanz, an die sich die Menschen zum Schutz ihrer Rechte wenden können.6 Wenn die Rechtsverletzungen schwerwiegend sind und „auf Erden kein Richter“ angerufen werden kann, haben die Bürger ein Recht, gewaltsamen Widerstand zu leisten: „Und wo dem gesamten Volk oder einem einzelnen Menschen sein Recht genommen wird oder sie einer unrechtmäßigen Gewaltausübung unterworfen sind und keinerlei Berufungsmöglichkeiten auf Erden haben, steht es ihnen frei, den Himmel anzurufen, wann immer ihnen der Anlaß bedeutend genug erscheint“ (Locke, Zweite Abhandlung, § 168, vgl. auch
5 Zur Bedeutung des Gottesbeweises für die Begründung des Naturrechts in Lockes Zweiter Abhandlung vgl. Siep 2007, S. 212f. 6 „Begründet ist dieses Recht in den natürlichen Rechten des Einzelnen. Die Übertragung der natürlichen Gewalt an die Regierung beinhaltet, dass das Volk sich das Recht zum Widerstand nach einem Gesetz, das über den positiven Gesetzen steht (d.h. nach dem natürlichen Gesetz), schon immer vorbehalten hat (vgl. § 168)“ (Laukötter/Siep 2012, S. 34).
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§§ 241f.). Der „appeal to heaven“, den sie dann äußern dürfen, meint kein Gebet um göttlichen Beistand, während eine Tyrannei gehorsam erduldet wird, sondern die tätige Ausübung des Widerstandes (vgl. Locke, Zweite Abhandlung, § 235). Das Unrecht, das Einzelnen geschieht und das den Fall, in dem Widerstand erlaubt ist, markiert, kann hier somit schon etwas genauer gefasst werden. Wenn die grundlegenden Rechte von Menschen, die Leib, Leben, Freiheit und Eigentum schützen, massiv verletzt werden, liegt ein gerechter Grund für Widerstand vor (vgl. Locke, Zweite Abhandlung, § 209). Doch dies gilt nur dann, wenn keine anderen Mittel zum Schutz und zur Wiedererlangung der eigenen Rechte helfen; man kann also sagen, dass auch in der Theorie des Widerstandes ein ultima ratioKriterium vorliegt. Wie aber kann das Vorliegen solcher Rechtsverletzungen erkannt werden? Hobbes lehnt ein Widerstandsrecht ja unter anderem deshalb ab, weil er die Auffassung vertritt, dass es in diesem Fall keine plausible Antwort auf die Frage „quis judicabit“ geben kann.7 Wer bestimmt also über das Vorliegen des Widerstandsfalles und über die Gerechtigkeit des Widerstandes? Die Frage nach den Kriterien, anhand derer der gerechte Widerstandsfall bestimmt werden kann, verlangt eine doppelte Antwort, denn neben der Beantwortung der Frage danach, wer über das Vorliegen des Widerstandsfalles bestimmen kann, muss zunächst geklärt sein, was die Kriterien für die Bestimmung des Widerstandsfalls selbst sind. Die erste Frage lässt sich mit Locke zweifach beantworten. Es ist zum einen das Volk, zum anderen aber auch jeder selbst, der legitimerweise über das Vorliegen des Widerstandsfalles entscheiden kann (vgl. Locke, Zweite Abhandlung, §§ 240, 241). Idealerweise erfolgt die Bestimmung des Widerstandsfalles dabei durch das Urteil einer möglichst großen Gruppe von Menschen, die sich in der Beurteilung der Situation bezüglich des Vorliegens eines massiven Unrechts einig ist (vgl. Locke, Zweite Abhandlung, §§ 20f., 176, 209). Aber wann tritt der Widerstandsfall ein? Ganz allgemein formuliert ist dies der Fall, wenn die Legislative gegen den sie legitimierenden Auftrag verstößt (vgl. Locke, Zweite Abhandlung, § 149). Erkannt werden kann dieser Widerstandsfall am besten im Urteil der Mehrheit: und wenn diese [die Betroffenen, Anm. S.L.] deshalb in ihrem Gewissen überzeugt [sind], daß ihre Gesetze und damit auch ihr Vermögen, ihre Freiheit und ihr Leben in Gefahr sind, vielleicht sogar ihre Religion, wie man sie dann daran hindern will, sich der ungesetzlichen und gegen sie gerichteten Gewalt zu widersetzen, vermag ich nicht zu sagen (Locke, Zweite Abhandlung, § 209).
7 Zu Hobbes Kritik an Tyrannislehre und Widerstandsrecht vgl. Hobbes, Leviathan, Kap. 29.
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Die zugrunde liegenden Kriterien zur Bestimmung des Widerstandsfalles lassen sich insgesamt, wie hier deutlich wird, unter dem Titel der Bedrohung der Grundbzw. der Menschenrechte fassen. Da die durch einen tyrannischen Herrscher oder eine tyrannische Regierung ausgeübte Gewalt, gegen die sich der Widerstand richtet, als ungesetzlich gekennzeichnet wird, kann auch der massive Verstoß gegen gesetzlich verbürgte Rechte durch die Regierung oder die nicht legitimierte Veränderung der Gesetze etwa durch eine Usurpation der Legislative als Kriterium, an dem der Übergang von einer legitimen zu einer tyrannischen Regierung erkannt werden kann, angesehen werden. Zudem stellt Locke an anderen Stellen heraus, dass die Zahl derer, die unter den Rechtsbrüchen seitens der Regierung leiden, groß sein muss. Außerdem muss der Rechtsbruch massiv sein und die Allgemeinheit in seinen Folgen bedrohen (vgl. Locke, Zweite Abhandlung, § 209; vgl. auch § 210, §§ 224–243). Wie lassen sich diese Elemente der lockeschen Theorie des Widerstandsrechts vor dem Hintergrund der Interventionsfrage mit den oben diskutierten Positionen der Autoren der spanischen Spätscholastik, die einen Zusammenhang von Tyrannislehre und Interventionsrecht betonen, zusammenbringen? Wie oben festgestellt, ist in Lockes politischer Philosophie ja an keiner Stelle explizit von einem Interventionsrecht die Rede. Ergänzt man die These des Zusammenhangs von Tyrannislehre und Interventionsrecht aber um Lockes menschenrechtlich fundierte Theorie des Widerstandsrechts, lassen sich deutlichere Kriterien für die Bestimmung des legitimen Interventionsfalles gewinnen. Militärische Interventionen zum Schutz der Mitglieder eines fremden Gemeinwesens können genau dann als legitime Aktion stellvertretenden Widerstandes gelten, wenn deren grundlegende Menschenrechte massiv und systematisch verletzt werden – also dann, wenn sie selbst auch ein Recht zum gewaltsamen Widerstand haben. Hieran wird in der Diskussion der systematischen Spannungen der gegenwärtigen Interventionsdebatte an späterer Stelle angeschlossen werden.8
8 Vgl. dazu unten, II, 3.
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5 Das Interventionsproblem vor dem Hintergrund der Dominanz des Souveränitätsprinzips In der bisherigen Auseinandersetzung mit den historischen Positionen zur Interventionsfrage zeigt sich, dass in der Geschichte der Theorie des gerechten Krieges und auch in der frühen Geschichte der Theorie des Völkerrechts für lange Zeit Positionen dominieren, die militärische Interventionen zum Schutz der Mitglieder eines fremden Gemeinwesens erlauben. Auch das Souveränitätsverständnis, das sich vor dem Hintergrund der europäischen Religionskriege herausbildete, lässt zunächst noch Ausnahmen vom Einmischungsverbot zu, wenn sie im Schutz der Ansprüche von Bürgern eines fremden Staates begründet sind. Wie aber lässt sich vor diesem Hintergrund die lange Dominanz des strengen Souveränitätsprinzips und des sich daraus ergebenden Einmischungsverbotes im Völkerrecht verstehen? Völkerrechtlich etabliert wurde das Prinzip mit dem Westfälischen Frieden von 1648 und der damit verbundenen erstmaligen völkerrechtlichen Anerkennung der Souveränität der Staaten, aus der ein Prinzip der Nichteinmischung in deren innere Angelegenheiten abgeleitet wurde. Nach den Erfahrungen der europäischen Religionskriege sollte nun die Unverletzlichkeit staatlicher Souveränität die Staaten vor Einmischungen von außen schützen, egal ob sie groß oder klein, schwach oder mächtig waren. Vor allem Interventionen, die durch Beistands- oder Hilfspflichten gegenüber Mitgliedern der eigenen Religionsgemeinschaft gerechtfertigt wurden, sollten auf diese Weise verhindert werden (vgl. Ziegler 2007, S. 142ff.). Erst mit und vor allem nach dieser Zäsur finden sich in der Theoriebildung radikal anti-interventionistische Positionen. Für die Auswirkung auf das Völkerrecht sind hier vor allem die Ansätze von Christian Wolff und Immanuel Kant zu nennen, die deshalb im Folgenden in den Blick genommen werden sollen.1 Neben diesen beiden wirkmächtigen Verfechtern eines Prinzips der Nichteinmischung wird in diesem Kapitel aber auch die Völkerrechtstheorie Emer de Vattels berücksichtigt, der historisch zwischen Wolff und Kant stehend in seiner Schrift Le Droit des Gens ou Principes de la Loi Naturell (Das Völkerrecht oder Grundsätze des Naturrechts) ähnlich wie Grotius eine Position vertritt, die beim Versuch den Begriff staatlicher Souveränität stark zu machen dennoch Raum für Ausnahmen im Notfall lässt.
1 Darauf, dass beide eine entscheidende Rolle für die Dominanz des Souveränitätsprinzips in der weiteren Entwicklung des Völkerrechts spielen, verweist etwa Zanetti. Vgl. Zanetti 1998, S. 298.
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5.1 Christian Wolff Häufig haben sich Verteidiger eines strengen Souveränitätsprinzips gegen Einmischungen zum Schutz der Mitglieder eines fremden Gemeinwesens auf die Position Christian Wolffs (1679–1754) berufen, der in seiner Schrift über die Grundsätze des Natur- und Völckerrechts einen Souveränitätsbegriff vertreten hat, der keinerlei Interventionen von außen zulässt, auch nicht als Ausnahme im Falle schlimmster Tyrannis innerhalb eines Staates. Seine Position kann deshalb ohne Zweifel als paradigmatisch für die nachfolgende völkerrechtliche Diskussion und das nachfolgende Verständnis von Souveränität im Völkerrecht gelten (vgl. Zanetti 1998, S. 298). Charakteristisch für Wolffs Völkerrechtstheorie, die hier nicht im Detail rekonstruiert werden soll, ist eine Konzeption, in der Rechte aus Pflichten abgeleitet werden und in welcher der Staat als Erfüllungsgarant grundlegender Rechte verstanden wird (vgl. dazu Ottmann 2006, S. 420f.). Wolff steht, wie die bislang behandelten Autoren, in der Tradition der Naturrechtstheorie, doch anders als vielen früheren Theoretikern des Naturrechts erscheint Wolff die Missbrauchsgefahr herrscherlicher Macht, wie Ottmann herausstellt, nicht als fundamentales Problem einer politischen Theorie, so dass Mechanismen der Eingrenzung politischer Macht in seiner Konzeption nicht zentral sind. Denn Wolff steht […] für eine andere, gerade in der deutschen Frühaufklärung vorherrschende Theorie, die bei den Pflichten und bei der Korrelation von Pflichten und Rechten ansetzt. Eine Identität von Pflichtenlehre und Staatszwecklehre garantiert für Wolff die Einheit von natürlichem und positivem Recht, während eine gegen den Staat gerichtete Menschenrechtstheorie zu einem Widerspruch zwischen den Rechtsarten tendiert […]. Sicher, für Wolff wird zum Problem, wie sich die Rechte gegen die absolute Gewalt schützen lassen. Aber man muß berücksichtigen, daß er von vorneherein nicht den Fundamentalkonflikt zwischen den Rechten des Subjekts und den Interessen des Staates, sondern deren wünschenswerte Harmonie vor Augen hat. Für ihn ist der Staat nicht eine die Rechte gefährdende Eingriffsmacht. Er ist vielmehr der Erfüllungsgarant der Rechte, der diese sichert und in mancherlei wohlfahrtsstaatlicher Form überhaupt erst Wirklichkeit werden läßt. Der Konflikt zwischen einem gegen den Staat gerichteten Naturrecht und dem vom Staat gesetzten positiven Recht ist nicht Wolffs Grundgedanke (Ottmann 2006, S. 421f.).
Vermutlich erklärt der Sachverhalt, dass Wolff grundsätzlich keinen Fundamentalkonflikt „zwischen den Rechten des Subjekts und den Interessen des Staates“ sieht, auch ein Stück weit seine Ablehnung des Interventionsrechts, wobei in der Argumentation dafür sichtbar wird, dass ihm die Problematik tyrannischer Herrschaft durchaus bekannt ist.2 Im Hinblick auf die Frage nach der Rechtfertigung
2 Zu Wolffs vorstaatlicher Theorie der Menschenrechte vgl. Ottmann 2006, 422f.
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des Einsatzes militärischer Gewalt stellt auch in Wolffs Theorie des Völkerrechts die Reaktion auf ein Unrecht den Grund dar, der einen Krieg rechtfertigen kann (vgl. Wolff, GNV, §§ 1170–1172). Zudem ist das Verhältnis zwischen den Staaten keineswegs, wie etwa im hobbesschen Sinne, als ein bloß kriegerischer Naturzustand zwischen ihnen zu verstehen, vielmehr haben die einzelnen Völker eine Pflicht, die allgemeine Wohlfahrt zu fördern, da sie eine Gesellschaft der Völker bilden (vgl. Wolff, GNV, § 1090). Anders als bei vielen früheren Autoren ergibt sich aus dieser Vorstellung einer Gesellschaft der Völker aber keine Berechtigung, den Mitgliedern eines Gemeinwesens mittels militärischer Unterstützung von außen beizustehen, wenn sie durch ihre Herrscher unterdrückt und ihre grundlegenden Rechte verletzt werden. Entscheidend hierfür ist eine Akzentuierung des Souveränitätsbegriffs, die sich bei Wolff findet, die eine solche Erlaubnis von Interventionen nicht zulässt, weil Einmischungen von außen nun als Rechtsverletzung – im Sinne einer Verletzung eines Rechtes des gesamten Gemeinwesens frei von gewaltsamer Einmischung zu sein – verstanden werden. Damit geht einher, dass ein Interventionsrecht nicht mehr in Analogie zum Widerstandsrecht begründet werden kann. Zwar kann Widerstand in Wolfs Konzeption unter bestimmten Bedingungen gerechtfertigt werden, es gilt aber nicht mehr, dass in Fällen, in denen die Bedingungen für legitimen Widerstand erfüllt sind, auch die Begründung eines Interventionsrechts zum Schutz der zum Widerstand Berechtigten möglich ist. Entscheidend für das Verständnis der Position Wolffs zum Widerstandsrecht ist die Unterscheidung von Rebellion und bürgerlichem Krieg. Die Rebellion ist gemäß dieser Unterscheidung ein Zustand, der nicht gerechtfertigt werden kann: Rebellen werden Unterthanen genennet, welche unrechtmäßige Waffen wider den Regenten des Staats ergreifen, daß sie ihn naemlich entweder seiner Herrschaft berauben, oder zur Annehmung gewisser Bedingungen zwingen wollen. Und dieser Zustand heißt eine Rebellion (Wolff, GNV, § 1232).
Der bürgerliche Krieg dagegen ist in all den Fällen erlaubt, in denen man der Regierung widerstehen darf, und muss damit anders als die Rebellion nicht als unrechtmäßige Gewalt gelten: Von der Rebellion ist der buergerliche Krieg, in welchem die Unterthanen die Waffen rechtmäßig wider den Regenten des Staats ergreifen, unterschieden. Dieser nun ist in einem ieglichen Falle, da man dem Regenten des Staats widerstehen darf, erlaubt […] (Wolff, GNV, § 1233.).
Wie ist es in Wolffs Konzeption nun zu verstehen, dass Interventionen von außen auch im Falle legitimen Widerstandes (von innen) nicht als erlaubt gelten kön-
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nen? Die Grundlage der Ablehnung eines Interventionsrechts besteht bei Wolff in dem Prinzip, dass kein Volk ein anderes Volk in seinem Recht verletzen darf: Kein Volck darf das andere beleidigen (§ 1089), folglich auch nicht dessen Recht verletzen (angef. §.). Derowegen weil aus dieser Verbindlichkeit des einen Theiles dem anderen ein darauf passendes Recht erwaechset (§ 89); so kommt einem ieglichen Volck ein Recht zu nicht zu leiden, daß es von dem anderen beleidiget werde, und folglich auch ein Recht nicht zu gestatten, daß sich ein anderes Volk in seine Regierung mische: als welches auch wider die Freyheit der Völker streitet (§. 1089. 87.). Daraus folget, daß, wenn ein Regent des Staates seine Unterthanen gar zu sehr belaestiget, oder mit ihnen allzuhart umgehet, der Regent eines anderen Staats nicht mit Gewalt widerstehen koenne. Dieweil aber doch ein iegliches Volck die Vollkommenheit des anderen befoerdern soll, so viel es kann (§ 1108); so ist es erlaubt fuer sie zu bitten (Wolff, GNV, § 1121).
Der Grund für diese Ablehnung eines Interventionsrechtes ist eine strengere Auslegung des Rechtsbegriffes, als sie sich bei den zuvor behandelten Autoren findet. Hier liegt im Unterschied zu den Autoren der spanischen Spätscholastik in stärkerer Weise ein Verständnis von Souveränität zugrunde, das an die Rechte des gesamten Gemeinwesens und nicht allein an die des Herrschers gebunden ist. Damit wird eine gewaltsame Einmischung von außen nicht allein als Eingriff in die Rechte des Herrschers, sondern als Einmischung in die Rechte des Volkes verstanden. Wie es scheint, kann das Recht zwischen den Staaten hier nicht mehr aus einer überpositiven Perspektive beurteilt werden. Da jedes Gemeinwesen nach außen ein Recht hat, von keinem anderen in seinen Rechten verletzt zu werden, würde, wie es auch später Kant herausstellt, jede Einmischung in die inneren Angelegenheiten eines Staates eine Rechtsverletzung ihm gegenüber darstellen. Der entscheidende Wandel zu den früheren Positionen besteht hier darin, dass eine Intervention tatsächlich als Verletzung der Rechte eines Staates verstanden wird, wohingegen den früheren Positionen die Vorstellung zugrunde liegt, dass ein Herrscher, der die Rechte der Mitglieder seines Gemeinwesens massiv verletzt, kein ausdrückliches Recht besitzt, das Einmischungen von außen verbietet. Eine Einmischung in die Regierung eines anderen Volkes wird hier zudem als Verletzung der Freiheit aller Völker verstanden, was wiederum eine Bedrohung der Rechtssicherheit aller anderen bedeuten würde.3 Dabei wird der systematische Zusammenhang von Interventionsrecht und Widerstandsrecht, auch wenn er negiert wird, ein weiteres Mal explizit. Der Regent eines fremden Staates kann bei „Belästigungen“ der Untertanen eines anderen Herrschers eben
3 Ähnlich argumentiert auch Kant später im 5. Präliminarartikel der Friedensschrift, worin er herausstellt, dass die Erlaubnis einer Einmischung von außen die Freiheit aller Staaten bedrohen würde. Vgl. unten, I, 5.3.
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nicht „mit Gewalt widerstehen“. Diese Ablehnung eines Interventionsrechtes bedeutet dabei für Wolff aber keinesfalls eine Gleichgültigkeit gegenüber den Leiden unterdrückter Völker, deren „Vollkommenheit“ durch die anderen Völker ja befördert werden soll und für die zu bitten erlaubt ist. Neben dieser Ablehnung eines Interventionsrechtes auf der Grundlage einer strengen Rechtslogik, aus der sich eine kategorische Ablehnung einer Verletzung der Souveränitätsrechte eines Staates ergibt, weil anders die Stabilität des Rechts nicht zu gewährleisten wäre, weist Wolff hier zudem eine weitere Vorstellung zurück, auf die in früheren Rechtfertigungen für Interventionen (vor allem mit Blick auf Religionsinterventionen) zurückgegriffen wurde, die aber dort häufig auch kritisch beurteilt wurde. Es handelt sich dabei um die Vorstellung eines gerechten Krieges zur Bestrafung von Naturrechtsverletzungen. Eine solche Rechtfertigung von Interventionen unter Rückgriff auf die Vorstellung einer gerechten Bestrafung weist Wolff folgendermaßen zurück: Weil ein Uebel an sich selbst nicht so beschaffen ist, daß es gestrafet werden mueßte (§. 1049), und auch niemand wegen eines Irrthums gestrafet werden kann (§. 1050.); so ist ein strafender Krieg wider ein Volck nicht erlaubt, dieweil es das Recht der Natur unmenschlich verletzet, oder wider Gott suendiget, oder die Gottesverleugnung, oder die Deisterey bekennet, oder abgoettlich ist (Wolff, GNV, § 1173).
5.2 Emer de Vattel Einen scharfen Kontrast zu Wolffs Konzept der Ablehnung eines Interventionsrechtes stellt die Theorie des Schweizer Völkerrechtlers Emer de Vattel (1714–1767) dar. Vattel, der sich als Schüler Wolffs versteht, vertritt nämlich anders als dieser die Position, dass eine Völkerrechtstheorie, in der Souveränität ein zentrales Prinzip darstellt, neben Raum für Widerstand von innen auch Raum für Interventionen von außen lässt. Seine Theorie des Völkerrechts und speziell seine Position zur Interventionsfrage entwickelt Vattel in seiner Schrift Le Droit des Gens ou Principes de la Loi Naturelle aus dem Jahr 1758. Zentral für Vattels Verständnis von Staat und Völkerrecht ist das Selbstbestimmungsrecht der Nationen. Demnach gilt grundsätzlich, dass jedes Gemeinwesen als Richter bezüglich seiner inneren Angelegenheiten gilt: Aus unseren grundsätzlichen Feststellungen (§ 31) ziehen wir den Schluß: Erhebt sich im Staat Streit über die Grundgesetze, die öffentliche Verwaltung, die Rechte der verschiedenen daran beteiligten Gewalten, so ist ausschließlich die Nation kompetent, den Streit zu entscheiden und mit verfassungsmäßigen Mitteln aus der Welt zu schaffen (Vattel, VGN, I, 3, § 36).
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Es drückt sich in diesem Paragraphen ein klassisches Verständnis politischer Selbstbestimmung aus, aus dem sich ergibt, dass Eingriffe von außen zur Veränderung einer politischen Ordnung grundsätzlich abgelehnt werden müssen – „[a]uswärtige Mächte haben kein Interventionsrecht“ (Vattel, VGN, I, 3, § 37). Dabei liegt hier wie schon bei Wolff die Argumentation zugrunde, dass eine Einmischung von außen eine Rechtsverletzung gegenüber dem anderen Gemeinwesen darstellen würde. Deshalb kann eine Ausnahme von diesem Verbot der Einmischung nur begründet werden, wenn diese Einmischung keinen Zwang darstellt, was dann der Fall ist, wenn das Gemeinwesen selbst um Unterstützung von außen ersucht: Da dies alles nur die Nation angeht, sind auswärtige Mächte nicht berechtigt, sich einzumischen und in anderer Weise als durch gute Dienste zu intervenieren, es sei denn, daß sie darum ersucht werden oder daß besondere Gründe sie dazu legitimieren. Mischt sich eine fremde Nation in die inneren Angelegenheiten einer anderen derart ein, daß sie ihr bei ihren Entschließungen Zwang antut, so fügt sie ihr ein Unrecht zu (Vattel, VGN, I, 3, § 37.).
Eine Einmischung mit Blick auf politische Fragen innerhalb eines fremden Gemeinwesens ist also nur erlaubt, wenn ein Ersuchen darum vorliegt, wobei dann eigentlich nicht mehr im strengen Sinne von einer Einmischung gesprochen werden kann. In Vattels Rede von „besondere[n] Gründen“, die auswärtige Mächte zu einer Einmischung legitimieren könnten, deutet sich aber schon an, dass er darüber hinaus auch ein Interventionsrecht in Ausnahmefällen für rechtfertigbar hält. Ein Volk selbst ist berechtigt Widerstand gegen einen Tyrannen zu leisten, was sich wiederum aus dem Selbstbestimmungsrecht des Volkes, auf dessen Grundlage eine Intervention von außen abgelehnt wird, ergibt – was hier von Vattel allerdings zunächst in der schwachen Variante eines Rechts zur Verweigerung des Gehorsams gegenüber einem Tyrannen thematisiert wird: „Die Nation kann indessen gegen einen Tyrannen vorgehen und ihm den Gehorsam aufkündigen“ (Vattel, VGN, I, 4, § 51). Schon vor der Bestimmung von Hilfspflichten, die für Vattel auch die Rechtfertigung eines Interventionsrechts in Ausnahmefällen ermöglichen, entfaltet er eine Theorie des Verhältnisses zwischen Staaten, das am Begriff der Pflichten zwischen den Nationen orientiert ist. So gibt es Pflichten zwischen ihnen, die „Dienste der Menschlichkeit zwischen den Nationen“ (Vattel, VGN, II, 3, § 47; II, 1) erfordern und die Vattel als wechselseitige Pflichten zwischen ihnen versteht. Zudem gilt ein grundsätzliches Gewaltverbot gegenüber anderen Nationen (vgl. Vattel, VGN, II, 1, § 7). Wenden wir uns nun also Vattels Auseinandersetzung mit der Interventionsfrage zu: Zunächst geht auch Vattel davon aus, dass Einmischungen in die inne-
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ren Angelegenheiten eines fremden Gemeinwesens grundsätzlich verboten sind. Das Recht der einzelnen Nationen sich selbst zu regieren ergibt sich aus der Vorstellung der Freiheit und Unabhängigkeit der Nationen, woraus sich weitreichende Konsequenzen für die Souveränität der Nationen ergeben: Keine Nation hat das Recht, sich in die inneren Angelegenheiten einer anderen Nation zu mischen. Es ist eine klare Folgerung aus dem Gedanken der Freiheit und Unabhängigkeit der Nationen, daß alle berechtigt sind, sich nach eigenem Belieben zu regieren, und daß keine auch nur das mindeste Recht hat, sich in die inneren Angelegenheiten einer anderen einzumischen. Von allen einer Nation zustehenden Rechten ist die Souveränität ohne Zweifel das kostbarste und das von den anderen Nationen am gewissenhaftesten zu achtende Recht (Vattel, VGN, II, 4, § 54).
An dieser Stelle wird in der Diskussion des prinzipiellen Einmischungsverbotes neben der Berufung auf das Prinzip der Freiheit und das Prinzip der Unabhängigkeit der Nationen vor allem deutlich, dass das Einmischungsverbot vom Konzept der Souveränität abhängt und sich aus ihm ergibt. Dabei wird Souveränität hier klar als an das Prinzip der Selbstbestimmung eines Gemeinwesens (und nicht mehr an die Willkür eines Herrschers) gekoppelt verstanden. Es ergibt sich daraus, dass kein Souverän Richter über das Verhalten eines anderen Souveräns und damit einer anderen Nation sein kann (vgl. Vattel, VGN, II, 4, § 55). Unter bestimmten Bedingungen allerdings können Interventionen erlaubt sein, nämlich „bei einem Streit zwischen einem Souverän und seinem Volk“ (Vattel, VGN, II, 4, § 56). Entscheidend ist hierbei, dass dies zum einen dann erlaubt ist, wenn die Grundgesetze eines Volkes verletzt sind und damit genau dann, wenn das Volk zum Widerstand berechtigt ist. Zusätzliche Kriterien, die zur Beurteilung des legitimen Interventionsfalls zu berücksichtigen sind, sind die Qualität der Gewaltherrschaft, die sich darin zeigt, dass die „Gewaltherrschaft unerträgliche Formen angenommen hat“, und die Bitte des Volkes um Hilfe von außen: Wenn indessen der Fürst durch Angriffe auf die Grundgesetze sein Volk zum Widerstand berechtigt, wenn die Gewaltherrschaft unerträgliche Formen angenommen hat und das Volk sich deshalb erhebt, dann hat jede auswärtige Macht das Recht zu intervenieren und einem unterdrückten Volk auf sein Ersuchen hin beizustehen (Vattel, VGN, II, 4, § 56).
Gerade das Kriterium des Ersuchens um Hilfe von Außen für die Rechtfertigung einer Intervention schränkt die Gefahr eines Missbrauchs der Rechtfertigungsfigur der Schutzintervention ein, doch es stellen sich mit Blick auf dieses Kriterium Anschlussfragen, die Vattel nicht beantwortet. Wie kann ein solches Ersuchen um fremde Hilfe aussehen, wie kann es erkannt werden, wer ist autorisiert
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es auszusprechen und ist eine solche Autorisierung unter Bedingungen massiven und systematischen Unrechts überhaupt möglich? Besonders deutlich wird hier sichtbar, dass Vattel Intervention zum Schutz der Mitglieder eines fremden Gemeinwesens vor seinen tyrannischen Herrschern als Aktion unterstützenden Widerstandes versteht: „Ergreift ein Volk mit Recht die Waffen gegen einen Unterdrücker, so ist es nur gerecht und edel, diesen tapferen Freiheitskämpfern Hilfe zu leisten“ (Vattel, VGN, II, 4, § 56). Diese Position Vattels mündet vor diesem Hintergrund rhetorisch schließlich in eine Formel des legitimierten ‚Tyrannenmordes‘ von außen: „Werden ‚Souveräne‘ zur Geißel und zum Schrecken der Menschheit, so kann mit Recht jeder beherzte Mann eine solche Bestie aus der Welt schaffen“ (Vattel, VGN, II, 4, § 56). Hier ist unübersehbar, dass auch die zuvor als grundsätzlich unverletzlich verstandene Souveränität keinen Schutz eines Herrschers vor Interventionen nach sich zieht, wenn dieser durch massives Unrecht zum Tyrannen wird. Dass Vattel bei so deutlichen Ausnahmen vom Einmischungsverbot als Vertreter einer „Lehre von der Nicht-Intervention“ (Peters 2005, S. 198) eingeschätzt wird, ist nicht nachvollziehbar.
5.3 Immanuel Kant In der gegenwärtigen Diskussion der Interventionsfrage gehört Immanuel Kant zu den Autoren der Philosophiegeschichte, die eine besondere Berücksichtigung erfahren (vgl. etwa Kambartel 1996, Zanetti 1996, Maus 1998, Hinsch 2005). Meist wird dabei Kants Ablehnung eines Interventionsrechtes hervorgehoben, wie sie sich etwa im fünften Präliminarartikel der Friedensschrift ausgedrückt findet (vgl. Kant, ZeF, BA11, 12; siehe auch BA 6–8).4 Einige Interpreten gehen jedoch auch davon aus, dass Kant – richtig verstanden – in seiner Theorie eher die Anlagen für ein Interventionsrecht zum Schutz der Menschenrechte formuliert hat (vgl. Höffe 2002, S. 397).5 Zudem ist Kant wirkungsgeschichtlich für die Rolle, die das Souveränitätsprinzip im Völkerrecht der vergangenen 200 Jahre spielte, bedeutsam (vgl. Zanetti 1998, S. 298; vgl. auch Hehir 1979). Insbesondere vor dem Hintergrund des Programms seiner Rechtsphilosophie ist die Ablehnung eines Interventionsrechtes ein interessanter Gegenstand der Analyse, denn wie kein anderer der früheren Autoren stellt Kant in seiner politischen Philosophie die Notwendigkeit einer Verrechtlichung der internationalen
4 Für einen umfassenden Kommentar der Friedensschrift siehe Gerhardt 1999a. 5 Eine scharfe Kritik vereinnahmender Kantinterpretationen findet sich in Geismann 1996.
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Beziehungen, deren Ziel die Etablierung einer Rechts- und Friedensordnung zwischen den Staaten ist, heraus.6 Nach der internen Logik der kantischen Rechtsphilosophie lässt eine solche Theorie keine Erlaubnis von Interventionen zu, vor allem, weil die Unverletzlichkeit der Souveränität der Staaten als Voraussetzung der Etablierung wie auch der Stabilität von Frieden verstanden wird.7 Besonders mit Blick auf die Frage nach dem Zusammenhang von Interventionsrecht und Widerstandsrecht ist eine Auseinandersetzung mit Kant aufschlussreich, lehnt Kant doch beide aus der Perspektive des Souveränitätsbegriffs kategorisch ab. Es stellt sich dabei auch die Frage danach, worin hier die Differenz der kantischen Position zu den Positionen von Grotius und Vattel liegt,8 die dem Prinzip staatlicher Souveränität in ihren Konzeptionen des Völkerrechts eine tragende Rolle zuweisen und dessen prinzipielle Unverletzlichkeit sowohl von innen als auch von außen akzeptieren und trotzdem für den Fall massiver Verletzungen grundlegender Rechte der Mitglieder eines Gemeinwesens durch Herrscher oder Regierung ein Widerstands- und Interventionsrecht als eine Art Notrecht zulassen? Zu berücksichtigen ist hier, dass es Kant in seinen Ausführungen in der Diskussion der Interventionsproblematik nicht in erster Linie um die Frage nach der Rechtfertigung von Schutzinterventionen in Fällen geht, in denen den Mitgliedern eines Gemeinwesens massives und systematisches Unrecht durch ihre Regierung geschieht. Diese Problematik klingt im 5. Präliminarartikel der Friedensschrift nur kurz an, insofern ist der häufige Bezug auf Kant in der gegenwärtigen Interventionsdiskussion nicht ganz treffend. Vor dem Hintergrund der Fragestellung der vorliegenden Arbeit soll Kant im Folgenden mit Blick auf die Ablehnung des Widerstandsrechts (1) und eines Interventionsrechtes (2) in den Blick genommen werden. (1) Mit Blick sowohl auf das Widerstandsrecht als auch auf ein mögliches Interventionsrecht ist entscheidend, dass Kant in der Tradition der neuzeitlichen Vertragstheorie hobbesscher Prägung davon ausgeht, dass der Naturzustand
6 Auch Grotius und andere haben ihre Theorien des Völkerrechts u.a. auf die Vorstellung aufgebaut, dass die Beziehungen zwischen Staaten verrechtlicht werden müssen und dass es zum friedlichen Zusammenleben der Menschen und Völker einer internationalen rechtlichen Ordnung bedarf. Philosophisch systematisiert wird die Vorstellung einer Verrechtlichung der internationalen Beziehungen aber erst bei Kant. Siehe dazu auch Geismann 1983. 7 Ob eine Rechtsordnung zwischen den Staaten tatsächlich auf ein Interventionsrecht verzichten muss, ist eine Frage, die im Anschluss an Kant heute kontrovers diskutiert wird. Vgl. dazu die Versuche einer konstruktiven Weiterentwicklung der kantischen Konzeption bei Höffe 2002 und Habermas 2004. 8 Kant kannte die Völkerrechtslehre Vattels, auf dessen Position zur Interventionsfrage geht Kant aber nicht ein. Vgl. Kant, ZeF, BA 33.
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unbedingt verlassen werden muss – wenn auch aus anderen Gründen als im hobbesschen Modell.9 Die Notwendigkeit dazu ergibt sich in der kantischen Analyse aus der Vernunft. Verbunden ist diese vernunftrechtliche Position mit einer teleologischen geschichtsphilosophischen Auffassung, nach welcher der Rückfall hinter einen einmal erreichten Rechtszustand oder Rechtsfortschritt immer zu vermeiden ist. Ein zentrales Prinzip zur Garantie des Bestehens einer solchen Rechtsordnung ist das Prinzip der Souveränität des Staates als Rechtsgemeinschaft, die deshalb als unverletzbar aufgefasst wird (vgl. Kant, ZeF, BA 11, 12). Sie darf weder durch Widerstand von innen noch durch Widerstand von außen, etwa in Form militärischer Interventionen, angegriffen werden, was ausdrücklich auch für den Fall gilt, dass der Herrscher seine Untertanen grausam behandelt (Kant, ZeF, BA 11, 12). Wie ein solches Schreckenszenario eines rechtlosen Zustandes, in dem allein das Recht des Stärkeren herrschen würde und in den unter keinen Umständen zurückgefallen werden darf, aussehen würde, hat noch immer Hobbes am deutlichsten beschrieben.10 Dass auch ein staatlicher Zustand für die Individuen im Falle massiver Tyrannei in ähnlicher Form entarten kann, mag Kant vor dem Hintergrund der Erfahrungen seiner Zeit noch nicht für möglich gehalten haben. Deutlicher präsent war den Autoren der neuzeitlichen politischen Philosophie immer noch das Problem des Zerfalls staatlicher Ordnung, wie es sich in Religions- und Bürgerkriegen gezeigt hatte. Wie sich die Unverletzlichkeit der Souveränität aus der Binnenperspektive eines Gemeinwesens darstellt, wird von Kant in der Rechtslehre der Metaphysik
9 Gemäßigtere Positionen bezüglich der Notwendigkeit, den Naturzustand zu verlassen, vertreten etwa Locke und Rousseau. Es soll hier nicht behauptet werden, dass Kant insgesamt ein Kontraktualist hobbesscher Prägung ist. Die Behauptung bezieht sich allein auf die Notwendigkeit den Naturzustand zu verlassen. 10 Auch wenn die Begründung dafür, den Naturzustand zu verlassen und einen Rückfall in ihn zu verhindern bei Kant auf Gründen der Vernunft basiert, mag die hobbessche Beschreibung dieses Zustandes hilfreich sein um das Bild eines solchen Rückfalls zu vergegenwärtigen: „Deshalb trifft alles, was Kriegszeiten mit sich bringen, in denen jeder eines jeden Feind ist, auch für die Zeit zu, während der die Menschen keine andere Sicherheit als diejenige haben, die ihnen ihre eigenen Stärke und Erfindungskraft bieten. In einer solchen Lage ist für Fleiß kein Raum, da man sich seiner Früchte nicht sicher sein kann; und folglich gibt es keinen Ackerbau, keine Schiffahrt, keine Waren, die auf dem Seeweg eingeführt werden können, keine bequemen Gebäude, keine Geräte, um Dinge, deren Fortbewegung viel Kraft erfordert, hin- und herzubewegen, keine Kenntnis von der Erdoberfläche, keine Zeitrechung, keine Künste, keine Literatur, keine gesellschaftlichen Beziehungen, und es herrscht, was das Schlimmste von allem ist, beständige Furcht und Gefahr eines gewaltsamen Todes – das menschliche Leben ist einsam, armselig, ekelhaft, tierisch und kurz“ (Hobbes, Leviathan, Kap. 13).
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der Sitten deutlich gemacht, wo er sich mit der Frage nach der Rechtfertigung von Widerstand gegen einen souveränen Herrscher auseinandersetzt.11 Dabei geht es ihm darum zu zeigen, dass es keinen rechtmäßigen Widerstand gegen ein Staatsoberhaupt geben kann. Wider das gesetzgebende Oberhaupt des Staats gibt es also keinen rechtmäßigen Widerstand des Volks; denn nur durch Unterwerfung unter seinen allgemein-gesetzgebenden Willen ist ein rechtlicher Zustand möglich; also kein Recht des Aufstandes (seditio), noch weniger des Aufruhrs (rebellio), am allerwenigsten gegen ihn, als einzelne Person (Monarch), unter dem Vorwande des Missbrauchs seiner Gewalt (tyrannis), Vergreifung an seiner Person, ja an seinem Leben (monarchomachismus sub specie tyrannicidii). Der geringste Versuch hierzu ist Hochverrat (proditio eminens), und der Verräter dieser Art kann als einer, der sein Vaterland umzubringen versucht (parricida), nicht minder als mit dem Tode bestraft werden (Kant, MdS, B 206ff.).12
Es zeigt sich hier deutlich, dass die Ablehnung eines Widerstandsrechtes, und zwar in allen möglichen Varianten, durch die Erhaltung der Möglichkeit eines rechtlichen Zustandes (und den Erhalt der Gemeinschaft) überhaupt begründet wird. Erlaubt sein könnte Widerstand als juridisches Recht für Kant nur dann, wenn es ein öffentliches Gesetz gäbe, das Widerstand erlaubt, doch gerade hierin sieht Kant einen Widerspruch, der sich hinsichtlich des Verständnisses von Souveränität daraus ergibt, dass ein Souverän, gegen den Widerstand gesetzlich erlaubt ist, gerade nicht souverän wäre: Der Grund der Pflicht des Volks, einen, selbst den für unerträglich ausgegebenen Missbrauch der obersten Gewalt dennoch zu ertragen, liegt darin: daß sein Widerstand gegen die höchste Gesetzgebung selbst niemals anders, als gesetzwidrig, ja als die ganze gesetzliche Verfassung zernichtend gedacht werden muß. Denn, um zu demselben befugt zu sein, müßte ein öffentliches Gesetz vorhanden sein, welches diesen Widerstand des Volkes erlaubte, d. i. die oberste Gesetzgebung enthielte eine Bestimmung in sich, nicht die oberste zu sein, und das Volk, als Untertan, in einem und demselben Urteile zum Souverän über den zu machen, dem es untertänig ist; welches sich widerspricht und wovon der Widerspruch durch die Frage alsbald ins Auge fällt: wer denn in diesem Streit zwischen Volk und Souverän Richter sein sollte (denn es sind rechtlich betrachtet doch immer zwei verschiedene moralische Personen); wo sich dann zeigt, daß das erstere es in seiner eigenen Sache sein will (Kant, MdS, B 206ff.).
Aus dieser Spannung hinsichtlich des Souveränitätsbegriffs ergibt sich schließlich wieder die Frage nach dem quis judicabit, also danach, wer über das Vorlie-
11 Zur Kritik des Widerstandsrechts bei Kant vgl. Spaemann 1976. 12 Zum Verhältnis von Moral und Recht in der Philosophie Kants vgl. Wood 1999; Geismann 2006.
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gen eines gerechten Widerstandsfalles entscheiden kann, wenn es keine übergeordnete Richtergewalt gibt. Zur Beantwortung dieser Frage wie Locke auf das Gewissen des Einzelnen zu verweisen, der sein Handeln letztlich vor Gott verantworten muss, kommt für Kant aufgrund der gesamten Anlage seiner Theorie jedoch nicht in Frage. Eine Ursache für die Schwierigkeit der Auflösung der Widerstandsproblematik liegt bei Kant darin, dass er Staat, Volk und Individuum gleichermaßen als „moralische Personen“ auffasst. So können, wie die obige Stelle zeigt, die Rechte des Volkes, das den Staat konstituiert, im Konfliktfall nicht als vorrangig verstanden werden und ein Widerstandsrecht von einem überpositiven Standpunkt aus begründen. Es ist vor allem dieses Verständnis des Staates als moralische Person, das an der kantischen Position mit Blick auf Widerstands- und Interventionsrecht kritisiert werden kann. Geht man nämlich davon aus, dass sich die Rechte des Staates aus den moralischen Rechten der einzelnen Individuen, die den Staat als moralische Person erst konstituieren (vgl. Kant, ZeF, AB 6–8), ergeben, müssen diese den Rechten des Staates gegenüber als geltungslogisch vorrangig gelten. Die Spannung zwischen den Rechten der Individuen und denen eines Staates, der die Rechte seiner Bürger verletzt, ließe sich von diesem Standpunkt aus zugunsten der Rechte der Individuen auflösen. Aus Kants Ablehnung eines Widerstandsrechts ergibt sich, dass Veränderungen einer fehlerhaften Staatsverfassung entsprechend nicht durch Revolutionen, sondern durch Reformen erreicht werden müssen (vgl. dazu Kant, MdS, B 138).13 Wurde eine Revolution aber einmal begonnen, ist der bessere Zustand, der durch sie erreicht wurde, zu erhalten, auch wenn sie ungerechterweise begonnen wurde (vgl. Kant, MdS, B 210f.). Festhalten lässt sich zu Kants Überlegungen zum Widerstandsrecht fürs Erste, dass ein Widerstandsrecht nicht mit einem derart strengen Begriff staatlicher Souveränität zusammen gedacht werden kann. Es bleibt bei der Einnahme einer solchen Position dann lediglich der optimistische Glaube an einen Prozess der Verrechtlichung, der Widerstand unnötig macht, weil die grundlegenden Rechte der Menschen in Staaten, die dies garantieren – das sind für Kant Republiken –, gesichert sind. Wie aber eine Ablehnung eines Widerstandsrechtes aus moralischer Sicht vor dem Hintergrund der Möglichkeit der Entartung herrscherlicher Gewalt, die auch Kant anerkennt, konsistent mit Blick auf die Anlage seiner Theorie vertreten werden kann, die jedem Menschen grundlegende Rechte zuspricht und den Staat in erster Linie als Garanten dieser Rechte versteht – der Staat kommt ja deshalb in
13 Zu Kants Überlegungen zur Revolution siehe Henrich 1976. Siehe dazu auch Kater 1999, S. 65–94.
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den Status einer moralischen Person, weil durch ihn die Selbstbestimmung der Individuen und des Gemeinwesens möglich ist – bleibt rätselhaft. (2) Auch Kants Ablehnung von Interventionen hängt im Wesentlichen von seiner Konzeption staatlicher Souveränität sowie dem Bild des Staates als moralischer Person ab. Im zweiten Präliminarartikel der Friedensschrift stellt Kant in einer Kritik der seinerzeit üblichen Praxis der Schenkung und des Kaufs von Staaten heraus, warum ein Staat grundsätzlich nicht als Sache aufgefasst werden kann, sondern warum ihm ein Status als moralische Person zukommt: Ein Staat ist nämlich nicht (wie etwa der Boden, auf dem er seinen Sitz hat) eine Habe (patrimonium). Er ist eine Gesellschaft von Menschen, über die niemand anders, als er selbst, zu gebieten und zu disponieren hat. Ihn aber, der selbst als Stamm seine eigenen Wurzeln hatte, als Pfropfreis einem andern Staate einzuverleiben, heißt seine Existenz als moralische Person, aufheben, und aus der letzteren eine Sache machen, und widerspricht also der Idee des ursprünglichen Vertrages, ohne den sich kein Recht über ein Volk denken läßt (Kant, ZeF, AB 6–8).
Grundsätzlich wird der Staat also als eine Gesellschaft von Menschen verstanden, die sich selbst bestimmen sollen, so dass Einmischungen von außen mit Blick auf das Recht und die Möglichkeit eines Gemeinwesens sich selbst zu bestimmen abgelehnt werden müssen. Doch es zeigt sich an dieser Stelle auch deutlich, dass der Zweck des Staates durch die Rechte der Menschen, die ihn bilden, definiert ist. Sein Selbstzweckcharakter, der in der Rede von der moralischen Person Ausdruck findet, ist sekundär und von seiner Funktion der Ermöglichung der politischen Selbstbestimmung der Mitglieder eines Gemeinwesens abhängig. Warum ein Staat, der die Möglichkeit der Selbstbestimmung völlig untergräbt, einen besonderen intrinsischen Wert haben soll, ist zumindest aus Sicht seines Status als moralische Person in einem solchen sekundären Sinne nicht einzusehen. Bis hierher wird in der Friedensschrift vor allem unter Verweis auf die Idee eines ursprünglichen Vertrages deutlich, warum dem Staat und seiner Souveränität eine besondere Bedeutung zukommt. Ein Einmischungsverbot formuliert Kant dann explizit im fünften Präliminarartikel der Friedensschrift, wo es heißt: „Kein Staat soll sich in die Verfassung und Regierung eines andern Staats gewalttätig einmischen“ (Kant, ZeF, AB 11, 12). Ausführlich erläutert wird diese Forderung folgendermaßen: Denn was kann ihn dazu berechtigen? Etwa das Skandal, was er den Untertanen eines anderen Staats gibt? Es kann dieser vielmehr, durch das Beispiel der großen Übel, die sich ein Volk durch seine Gesetzlosigkeit zugezogen hat, zur Warnung dienen; und überhaupt ist das böse Beispiel, was eine freie Person der anderen gibt, (als scandalum acceptum) keine Läsion derselben. – Dahin würde zwar nicht zu ziehen sein, wenn ein Staat sich durch innere Veruneinigung in zwei Teile spaltete, deren jeder für sich einen besonderen Staat vor-
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stellt, der auf das Ganze Anspruch macht; wo einem derselben Beistand zu leisten einem äußern Staat nicht für Einmischung in die Verfassung des andern (denn es ist alsdann Anarchie) angerechnet werden könnte. So lange aber dieser innere Streit noch nicht entschieden ist, würde diese Einmischung äußerer Mächte Verletzung der Rechte eines nur mit seiner innern Krankheit ringenden, von keinem andern abhängigen Volks, selbst also ein gegebenes Skandal sein, und die Autonomie aller Staaten unsicher machen (Kant, ZeF, AB 11, 12).
Die Rede ist hier ausdrücklich von Einmischungen in Verfassung und Regierung eines Staates. Diese Formulierung schließt den Einsatz von Gewalt zum Schutz der einzelnen Menschen als Personen möglicherweise nicht aus, aber eine Aktion zu ihrem Schutz würde immer auch eine Verletzung des Rechts des Staates als Person darstellen und muss deshalb aufgrund der von Kant formulierten Voraussetzungen abgelehnt werden. Da aus einer solchen rechtsphilosophischen Perspektive eine Einmischung in ein anderes Gemeinwesen nicht möglich ist, können Herrscher und Regierungen etwa durch bestimmte Handlungen gegenüber den Untertanen, aber auch durch Gesetzlosigkeit, anderen Staaten bloß zur Warnung dienen. Der entscheidende Grund hierfür ist, wie auch schon Wolff argumentiert hat, dass der andere Staat als Rechtsperson durch diesen Staat nicht verletzt wird. Auch für den Sonderfall des Streites innerhalb eines sich spaltenden Gemeinwesens gilt, dass eine Einmischung nicht erlaubt ist, solange der Streit dauert. Erlaubt ist sie erst dann, wenn der Streit entschieden ist, wobei man dann allerdings nicht mehr von Einmischung in einem strengen Sinne sprechen müsste. Neben dem schon bekannten Grund, dass der Staat in seinem Status als moralische Person nicht verletzt werden darf, kommt hier zudem ein weiteres Argument für die Ablehnung von Interventionen ins Spiel, das eher pragmatischer Natur ist. Demnach würden gewaltsame Einmischungen die „Autonomie aller Staaten unsicher machen“. Wäre es zwischen den Staaten erlaubt oder üblich, dass sich einzelne Staaten in die inneren Angelegenheiten anderer Staaten einmischten, würde zudem eine Spirale der Gewalt, für deren Überwindung Kant ja einen Vorschlag zu skizzieren versucht, wieder in Gang gesetzt und es bestünde keine Rechtssicherheit zwischen den Staaten. Eine Stärke dieser interventionsablehnenden Position besteht ohne Zweifel in dem deutlichen Hinweis auf die grundlegenden Probleme, die sich aus einem Interventionsrecht hinsichtlich der Bedrohung staatlicher Souveränität ergeben können und die zu Recht betont werden müssen. Um die kantische Argumentation zur Ablehnung von Interventionen aber im Ganzen zu teilen, müsste man auch anerkennen, dass dem Staat in gleicher Weise der Status einer moralischen Person zukommt wie dem einzelnen Individuum. Plausibel gelten kann dies aber nur für einen Staat, der die grundlegenden Rechte seiner Bürger anerkennt und
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schützt. Autoren der frühen Neuzeit wie Gentilis, Grotius, Pufendorf und auch Vattel, die ein Interventionsrecht als Ausnahmerecht auch vor dem Hintergrund eines starken Souveränitätsbegriffs für begründbar halten, haben gerade an Stelle einer solchen normativen Gleichsetzung immer den Vorrang grundlegender Ansprüche des Individuums vor dem Staat herausgestellt und dadurch einen entscheidenden Grund für den Vorrang des Schutzes der Mitglieder eines Gemeinwesens vor dem Schutz der (gemäß einem solchen Verständnis sekundären) Souveränität eines Staates begründet.
5.4 Ausblick Ab dem 19. Jahrhundert spielen Überlegungen zur Problematik der Intervention zum Schutz der Mitglieder eines fremden Gemeinwesens in der politischen Philosophie bis zum Beginn der gegenwärtigen Interventionsdebatte kaum noch eine Rolle, und auch in der völkerrechtlichen Diskussion finden sich kaum neue Ausführungen zur Beurteilung der Interventionsproblematik von einem überpositiven Standpunkt aus. Diskussionen über den Souveränitätsbegriff werden mit Blick auf die Außenbeziehungen eines Staates weiter etwa bei Hegel, der Kants Programm der Verrechtlichung der zwischenstaatlichen Beziehungen äußerst skeptisch gegenübersteht, weil er davon ausgeht, dass Staaten ihre faktische Souveränität nicht beschneiden dürfen und werden (vgl. Hegel, Grundlinien, §§ 330ff.),14 und auch im 20. Jahrhundert bei Kelsen und prominent bei Carl Schmitt und in der Diskussion seiner Thesen geführt (vgl. Kelsen 1960). Auf diese Positionen, die auch mit Blick auf die gegenwärtige Interventionsdebatte diskutiert werden könnten, soll hier aber nicht mehr eingegangen werden, vor allem, weil in ihnen selbst Interventionsargumente keine zentrale Rolle spielen.15 Unter philosophischen Autoren findet sich lediglich noch bei John Stuart Mill ein Text, der die Interventionsfrage explizit in den Blick nimmt. Mill diskutiert die Frage nach der Zulässigkeit militärischer Interventionen in dem Aufsatz A Few Words on Non-Intervention aus dem Jahr 1859, auf den auch in der gegenwärtigen Interventionsdebatte von einigen Autoren verwiesen wird (vgl. Kersting 2000, S. 204–206; Zanetti 1998, S. 317). Meist berufen sich diese auf den Text, um zu zeigen, dass Mill humanitäre Interventionen ablehne, doch es geht Mill in diesem
14 Zu Krieg und Völkerrecht bei Hegel vgl. Siep/Karakus 2006. 15 In der jüngeren Diskussion wird Schmitt mit Blick auf den Souveränitätsbegriff etwa von Habermas ausführlich diskutiert. Vgl. Habermas 2004, S. 187–193.
5 Dominanz des Souveränitätsprinzips
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Text nicht um Interventionen zum Schutz der Menschenrechte oder zum Schutz von Individuen vor Verletzung ihrer Rechte, sondern um Interventionen, die durch das Ziel einer politischen Befreiung gerechtfertigt werden sollen. Doch solche Interventionen sind von Interventionen zum Schutz der Menschenrechte mindestens graduell zu unterscheiden, da nicht alle Formen eines politischen Freiheitskampfes gegen Unterdrückung als Reaktion auf massive und systematische Verletzungen grundlegender Menschenrechte zurückgeführt werden können. Mill spricht sich in diesem Sinne gegen eine Intervention von außen zur politischen Befreiung aus, da er davon ausgeht, dass ein Volk sich selbst befreien muss, nicht zuletzt, damit es seine Freiheit zu schätzen weiß und sie schützt und verteidigt (vgl. Mill, Non-Intervention, S. 121ff.).16 Die Frage nach einer Intervention zum Schutz der Bürger eines Staates vor Verletzung ihrer grundlegenden Rechte stellt Mill in der Form jedoch nicht und sie würde sich in solchen Situationen eines Freiheitskampfes erst dann stellen, wenn einem Volk die Möglichkeit zur Selbstbestimmung, die Mill als Voraussetzung der Befreiung ansieht, im Falle massiver und systematischer Menschenrechtsverletzung völlig unmöglich gemacht wird. In solchen Fällen kann der Einsatz militärischer Gewalt dann aber auch als Intervention zum Schutz vor Verletzung grundlegender Menschenrechte bezeichnet werden und muss nicht unter der Frage einer Intervention zur politischen Befreiung diskutiert werden (vgl. dazu auch Kersting 2000).
16 Dieser Gedanke findet sich in der jüngeren Diskussion auch bei Walzer. Vgl. Walzer 2007, S. 87–91.
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6 Fazit: Typologie historischer Interventionsargumente Ein Blick in die Theoriegeschichte zeigt, dass das Problem der Rechtfertigung von gewaltsamen Einmischungen in die sogenannten inneren Angelegenheiten eines anderen Staates zum Schutz oder zur Verteidigung seiner Bürger beziehungsweise deren grundlegender Menschenrechte keineswegs eine neue Frage aufwirft, die sich erst in der gegenwärtigen Diskussion der Interventionsfrage seit den 1990er Jahren stellt. Dabei macht die Auseinandersetzung mit den ausgewählten Positionen der antiken und mittelalterlichen Theoriebildung deutlich, dass das politische Denken und besonders die Theorie des gerechten Krieges schon in frühen Phasen ihrer Formulierung durch ein Herrschaftsverständnis geprägt sind, gemäß dem die Legitimität von Herrschaft am Verhalten von Herrschern gegenüber den Mitgliedern ihres Gemeinwesens beurteilt werden kann. Durchgängig gibt es hier Vorstellungen einer Verantwortung der Herrscher für das Wohl der Mitglieder ihres Gemeinwesens. Dies zeigt, dass der Hoheitsbereich eines Gemeinwesens von der Antike bis zur frühen Neuzeit nicht als völlig sakrosankt gegenüber Eingriffen von außen zum Schutz der Mitglieder des Gemeinwesens verstanden wurde. Eine solche Vorstellung der ausnahmslosen Unantastbarkeit staatlicher Souveränität setzt sich erst mit der Entwicklung des neuzeitlichen Souveränitätsbegriffes vor dem Hintergrund der Erfahrungen der europäischen Religionskriege durch. Interventionen zum Schutz der Mitglieder eines fremden Gemeinwesens stehen in den Theorien der Antike und des Mittelalters zwar noch nicht im Zentrum der Frage nach der Rechtfertigung des Einsatzes militärischer Gewalt, es lässt sich aber deutlich erkennen, dass sie durch die Anlage der Theorien auch keineswegs ausgeschlossen werden. Zudem zeichnet die Kritik an ‚entarteten‘ Formen von Herrschaft, wie sie besonders deutlich in der Tyrannislehre artikuliert wird, schon früh Leitlinien auf, die eine normative Bewertung von Herrschaft ermöglichen, die sich auf verhältnismäßig präzise Vorstellungen guter Herrschaft stützen können. Explizite Argumente für Interventionen zum Schutz der Mitglieder fremder Gemeinwesen finden sich schließlich erstmals in der Diskussion um die Rechtmäßigkeit der Eroberungen in der Neuen Welt im Spanien des 16. Jahrhunderts. In dieser Phase finden sich in der Theoriebildung verschiedene Typen von Argumenten zur Rechtfertigung von Interventionen in ein fremdes Gemeinwesen, die von der Verbreitung der richtigen Religion über die Zivilisierung barbarischer Völker bis zur Intervention zum Schutz individueller Rechte reichen. In dieser Diskussion, aber auch nahezu durchgängig in den hier behandelten späteren Auseinandersetzungen mit der Frage nach der Rechtfertigung militärischer
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Schutzinterventionen findet sich eine Verbindung von Interventionsargumenten mit der Tyrannislehre und der Theorie des Widerstandsrechts, eine Verbindung, die in der gegenwärtigen Debatte kaum eine Rolle spielt. Im 18. Jahrhundert schließlich rückt im Gegensatz zu den genannten Positionen in der rechtsphilosophischen Diskussion die Ablehnung jeglicher Intervention unter Verweis auf den Schutz staatlicher Souveränität ins Zentrum der Diskussion. Da die hier angestellte Auseinandersetzung mit den historischen Positionen mit Blick auf die gegenwärtige Diskussion über militärische Interventionen zum Schutz vor Menschenrechtsverletzungen fruchtbar gemacht werden soll, stellt sich zum Abschluss des ideengeschichtlichen Teils der Arbeit die Aufgabe einer Systematisierung der verschiedenen bis hierher rekonstruierten historischen Interventionsargumente und eine Einschätzung der Reichweite ihrer Begründungskraft. Grundsätzlich lassen sich die verschiedenen historisch rekonstruierbaren Typen von Interventionsargumenten in zwei Klassen unterscheiden, nämlich in Interventionen befürwortende (I) und Interventionen ablehnende Positionen (II). Auf Seiten der Interventionen befürwortenden Positionen lassen sich wiederum drei Typen von Interventionsargumenten unterscheiden, zwischen denen es in einzelnen Fällen Überschneidungen gibt. Es handelt sich dabei um Interventionsargumente, die auf der Prämisse eines Rechts zur gewaltsamen Verbreitung der „wahren“ Religion basieren (Ia, Religionsinterventionen), um Interventionsargumente, die auf der Prämisse eines Rechts zur Zivilisierung unzivilisierter Gemeinwesen basieren (Ib, Zivilisierungsinterventionen) und um Interventionsargumente, die in verschiedener Weise im weitesten Sinne auf eine Vorstellung eines Auftrages zum Schutz Unschuldiger oder zum Schutz von Individuen zurückgeführt werden (Ic, Schutzinterventionen). Die Argumente für Schutzinterventionen wiederum lassen sich einteilen in: Nothilfeargumente (i), Rettungsargumente (ii) mit Blick auf die Rettung von Menschen und mit Blick auf die Rettung ihrer Seelen, Schutzargumente vor tyrannischer Herrschaft (iii), vor Erleiden von Unrecht (iv) und vor Verletzung individueller Rechte (v). Einen Sonderfall stellen in der Typologie schließlich Argumente dar, die Schutzinterventionen zwar für prinzipiell rechtfertigbar halten, sie aber faktisch aufgrund der Probleme ihrer gerechten Durchführung ablehnen (Id). Kategorisch abgelehnt werden Interventionen in der historischen Diskussion unter Verweis auf die prinzipielle Unverletzlichkeit staatlicher Souveränität, die Interventionen auch dann nicht erlaubt, wenn ein Herrscher zum Tyrannen wird, weil eine Intervention eine unzulässige Verletzung der Rechte des angegriffenen Staates bedeutete (II). Während Argumente dieses Typs gegenwärtig vor allem die völkerrechtliche Diskussion prägen, spielen in der gegenwärtigen Diskussion bei der Ablehnung von Schutzinterventionen zudem moralische Gründe, die sich auf das Problem der Schädigung Unschuldiger beziehen, eine wichtige Rolle. In-
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terventionen können demnach nicht gerechtfertigt werden, weil die in Kauf zu nehmende Schädigung Unschuldiger nicht zu rechtfertigen ist. Für die Vertreter der historischen Positionen spricht diese Problematik nicht für eine grundsätzliche Ablehnung von Interventionen, da eine unbeabsichtigte Schädigung Unschuldiger nach ihrem Verständnis unter Rückgriff auf die Lehre des Doppeleffekts gerechtfertigt werden kann. Wenden wir uns nun also der Diskussion der einzelnen Typen von Interventionsargumenten zu: I a) Religionsinterventionen. Die Frage nach der Rechtfertigung militärischer Interventionen zur Verbreitung der vermeintlich wahren Religion wird in der Geschichte der Theorie des gerechten Krieges und des Völkerrechts besonders in der Diskussion der spanischen Spätscholastik thematisiert. Einige Autoren, wie etwa Sepúlveda, vertraten hier die These, dass Interventionen zur Verbreitung der „wahren“ Religion gerechtfertigt werden können. Doch schon im Kontext der Diskussion dieser Auffassung selbst finden sich auch Ressourcen für deren Kritik. So wird diese Rechtfertigungsfigur in der Diskussion der spanischen Spätscholastik vor allem mit Argumenten zurückgewiesen, die betonen, dass ein solches Verständnis der Verbreitung des Glaubens der christlichen Lehre selbst widerspricht, da diese eine freiwillige Entscheidung zum Glauben voraussetzt. Zudem werden Argumente dieser Art auch schon in der Diskussion der spanischen Spätscholastik mit Blick auf epistemische Probleme als problematisch und deshalb nicht haltbar ausgewiesen. Insbesondere Las Casas stellt hier deutlich heraus, dass der Einzelne aus der Teilnehmerperspektive nicht feststellen kann, ob seine Religion von einem übergeordneten Standpunkt aus als die wahre Religion angesehen werden kann, und deshalb sogar zu bestimmten Handlungen verpflichtet sein kann, die von einem solchen Standpunkt aus betrachtet als falsch ausgewiesen werden können. Problematisch sind derartige Begründungen von Interventionen zudem mit Blick auf ihre Anerkennungsfähigkeit, da sie einen exklusiven Standpunkt der Begründung voraussetzen. Ihre Rechtfertigung kann nicht auf eine vom religiösen Standpunkt aus unabhängige Begründung verallgemeinert werden, ein Problem, das Grotius vor dem Hintergrund eines Pluralismus von Religionen und Weltbildern schon früh mit Blick auf die Begründung des Völkerrechts überhaupt problematisiert hat. Doch gerade eine solche einseitige Konzentration auf religiös fundierte Prämissen schränkt die Reichweite von Rechtfertigungen sowohl zu jener Zeit als auch heute erheblich ein, da sie allenfalls Mitglieder einer bestimmten Religionsgemeinschaft zu überzeugen vermögen.1
1 Nichtsdestotrotz wird der Einsatz militärischer Gewalt in der Praxis auch gegenwärtig noch häufig unter Rückgriff auf religiöse Argumente begründet. Zur Rechtfertigung des Einsatzes militärischer Gewalt aus Sicht der verschiedenen Weltreligionen siehe Popovski/Reichberg/Turner 2009.
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Die Begründungskraft von Rechtfertigungen für Religionsinterventionen muss somit als sehr gering gelten und das sowohl mit Blick auf Kriterien der Kohärenz hinsichtlich der Begründung vor dem Hintergrund eines christlichen Weltbildes als auch auf epistemische Bedingungen der Zuschreibung von Zugehörigkeit zur ‚richtigen‘ Religionsgemeinschaft. I b) Zivilisierungsinterventionen. Auch Argumente zur Rechtfertigung von Interventionen, die sich in der Begründung auf das Ziel der Zivilisierung der Mitglieder eines fremden Gemeinwesens berufen, werden schon im historischen Diskussionskontext eher als problematisch eingeschätzt. Im Anschluss an Aristoteles’ Diktum, dass der Einsatz militärischer Gewalt gegen sogenannte Barbaren als gerecht gelten kann, wird in der Geschichte der Theorie des gerechten Krieges verschiedenenorts nachdrücklich die These vertreten, dass militärische Gewalt gegen ein fremdes Gemeinwesen gerechterweise angewendet werden kann, um die dortige Bevölkerung von bestimmten barbarischen Handlungen abzuhalten und sie zu zivilisieren. In der Diskussion in der spanischen Spätscholastik werden mit Blick auf diese Rechtfertigungsfigur zwei Fragen diskutiert – zum einen die grundsätzliche rechtfertigungstheoretische Frage danach, ob sich derartige Interventionen prinzipiell rechtfertigen lassen, zum anderen die konkrete empirische Frage danach, ob es sich bei den Indios denn überhaupt um Barbaren in einem solchen Sinne handelt. Hier deuten sich schon die zentralen Probleme einer solchen Argumentation an. Zum einen schwächt die Einteilung von Menschen in Barbaren und „wahre“ Menschen diese Argumentation, denn eine solche Position ist vor dem Hintergrund eines egalitären Menschenbildes nicht haltbar und wird auch von den Zeitgenossen schon unter Verweis auf die Vorstellung einer Einheit des Menschengeschlechts kritisiert. Zum anderen ist eine solche Auffassung mit Blick auf ihre paternalistische Haltung problematisch, wie schon Vitoria argumentiert, wenn er derartige Rechtfertigungen unter Verweis auf das Recht eines Gemeinwesens sich selbst zu bestimmen zurückweist.2 Vor dem Hintergrund der gegenwärtigen Diskussion um die Rechtfertigung von Interventionen ist dies, auch, wenn eine Rhetorik der ‚Zivilisierung‘ kaum mehr vorkommt, noch immer interessant, denn ge-
2 Verwandt mit diesem Argumentationstyp sind in der gegenwärtigen Diskussion Argumente, die Interventionen mit der Etablierung einer legitimen politischen Ordnung zu begründen versuchen. Derartige Interventionen müssen aber strikt von Interventionen zum Schutz vor Verletzung grundlegender Menschenrechte unterschieden werden und stehen unter einem noch größeren Rechtfertigungsdruck als diese. Zur Beurteilung eines „regime change“ aus Sicht der Theorie des gerechten Krieges vgl. Walzer, S. ix. Vittorio Hösle verweist darauf, dass zukünftig möglicherweise auch die Frage danach diskutiert werden muss, ob ökologisch begründete Interventionen geführt werden dürfen. Vgl. Hösle 1997, S. 1039.
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rade Argumente zur Begründung von Interventionen, die das Ziel eines regime change verfolgen, teilen Elemente von Rechtfertigungen von Zivilisierungsinterventionen, wenn sie davon ausgehen, dass einem Gemeinwesen unter bestimmten Bedingungen eine richtige politische Ordnung von außen ‚auferlegt‘ werden kann. Daneben, dass solche Interventionen mit der Gefahr verbunden sind, in problematischer Weise paternalistisch zu sein (und damit das Selbstbestimmungsrecht der Völker zu verletzen), spricht gegen sie aber auch, dass eine Erfüllung des Kriteriums eines verhältnismäßigen Einsatzes der Mittel zum Erreichen eines legitimen Ziels hier nur schwer zu erfüllen ist, da die Inkaufnahme unschuldiger Opfer im Rahmen einer Intervention allenfalls dann plausibel gemacht werden kann, wenn der Einsatz militärischer Gewalt dem Schutz von Individuen vor Rechtsverletzungen dient. I c) Schutzinterventionen. Den größten Raum nehmen in der historischen Diskussion verschiedene Typen von Interventionsargumenten ein, die sich unter den Begriff der Schutzintervention zusammenfassen lassen. Gemeinsam ist diesen Positionen, dass es um den Schutz von Individuen geht. Folgende Typen von Argumenten für Schutzinterventionen lassen sich in der historischen Diskussion identifizieren: (i) Nothilfeargumente: Nach dieser Auffassung, die sich schon bei Cicero ausgedrückt findet, kann der Einsatz militärischer Gewalt unter Rekurs auf ein Prinzip der Nothilfe, das grundsätzlich gegenüber allen Menschen gilt, gerechtfertigt werden. Personen, die sich in einer Notlage befinden, soll geholfen werden, und dies kann unter bestimmten Bedingungen auch den Einsatz von Gewalt erfordern. (ii) Rettungsargumente: Eng verwandt mit dem Prinzip der Nothilfe ist das Prinzip der Rettung, das in der mittelalterlichen Theoriebildung bei Thomas von Aquin und in der spätscholastischen Diskussion bei Sepúlveda formuliert wird. Zu unterscheiden ist hier zwischen zwei verschiedenen Klassen des zu Rettenden, zum einen der Rettung der Seelen von Menschen (Sepúlveda) zum anderen der Rettung von Menschenleben selbst (Thomas von Aquin). (iii) Interventionen zum Schutz vor tyrannischer Herrschaft: Argumente für Interventionen zum Schutz der Mitglieder eines fremden Gemeinwesens vor tyrannischer Herrschaft finden sich in großer Zahl sowohl in der Diskussion in der spanischen Spätscholastik als auch in der späteren neuzeitlichen Diskussion. Interventionen sind demnach genau dann erlaubt, wenn Herrschaft innerhalb eines fremden Gemeinwesens zur Tyrannis wird. In einzelnen Fällen wird diese Auffassung weiter dahingehend ausbuchstabiert, dass eine Intervention von außen dann erlaubt ist, wenn die Mitglieder eines Gemeinwesens ein Recht haben, gegen einen tyrannischen Herrscher oder eine tyrannische Regierung Widerstand zu leisten. Problematisch ist an den historischen Formulierungen aber, dass klare Kriterien zur Bestimmung des gerechten Interventionsfalles fehlen, so
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dass die Gefahr des Missbrauchs der Rechtfertigungsfigur des Schutzes vor tyrannischer Herrschaft ziemlich hoch ist. Zugleich deutet sich hier aber an, dass die Beurteilung der Legitimität von Herrschaft mit Blick auf die Rechtfertigung von Interventionen in gewisser Weise analog zur Begründung eines Widerstandsrechtes von innen verstanden werden kann, nämlich in dem Sinne, dass Interventionen von außen erlaubt sein können, wenn Herrschaft tyrannisch wird und deshalb ein Widerstandsrecht von innen besteht. (iv) Interventionen zum Schutz vor dem Erleiden von Unrecht: Die Berufung auf den Schutz vor tyrannischer Herrschaft stellt nach klassischem Verständnis der Theorie des gerechten Krieges aber als solche noch keinen Rechtsgrund dar, der allein die Rechtfertigung des Einsatzes militärischer Gewalt begründen kann. Deshalb werden Argumente, die sich auf den Schutz vor tyrannischer Herrschaft beziehen, häufig in Kombination mit einer Forderung nach dem Schutz Unschuldiger vor dem Erleiden von Unrecht angeführt. Erst durch diese Qualifikation eines Interventionsgrundes in der Terminologie von Recht und Unrecht kann so ein gerechter Grund für den Einsatz militärischer Gewalt im Sinne der Theorie des gerechten Krieges formuliert werden. Doch auch diese Rechtfertigung bleibt problematisch, solange nicht genau spezifiziert wird, um welche Art von Unrecht es sich handelt, vor dem Unschuldige geschützt werden dürfen. (v) Interventionen zum Schutz vor der Verletzung individueller Rechte: In der historischen Diskussion findet sich schließlich bei Vitoria eine Formulierung, in der eine Intervention als Aktion zum Schutz individueller Rechte begründet wird. Hier ist zwar immer noch nicht deutlich die Schwere der für die Begründung der Intervention notwendigen Rechtsverletzungen definiert, doch es ist ganz offensichtlich, dass es bei dieser Rechtfertigung von Interventionen um den Schutz vor Verletzung individueller Rechte geht, die dem Menschen aufgrund seines Menschseins zukommen. Dieses Argument kommt dem heutigen Verständnis militärischer Interventionen zum Schutz vor Verletzung grundlegender Menschenrechte schon recht nah. Dabei stellt gerade Vitoria heraus, dass neben den anerkannten Rechtsgründen für den Einsatz militärischer Gewalt allein der Schutz individueller Rechte einen gerechten Grund für militärische Interventionen darstellen kann. Anders als Argumente für Religionsinterventionen und Zivilisierungsinterventionen werden Argumente für Schutzinterventionen im Diskussionskontext ihrer Zeit von Autoren, die eine Rechtfertigung von Interventionen für möglich halten, weitgehend befürwortet. Dass sich auch hier Schwierigkeiten sowohl hinsichtlich der Bestimmung des ‚gerechten‘ Interventionsfalles ergeben (siehe das Kriterium des Ersuchens um Nothilfe) als auch in moralischer Perspektive hinsichtlich der Schädigung Unschuldiger (siehe hier aber das Prinzip des Doppeleffekts), führt die Autoren nicht dazu, die Möglichkeit einer Rechtfertigung von Interventionen
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unter Rekurs auf Argumente, die Aspekte des Schutzes von Individuen betonen, abzulehnen. Argumente, die hier Prinzipien der Nothilfe und Rettung betonen, verweisen zunächst auf moralische Berechtigungen oder Verpflichtungen, die aufgrund der Notlage von Individuen bestehen können, sie liefern aber noch keine klaren Kriterien zur Bestimmung eines ‚gerechten‘ Interventionsfalls. Rechtfertigungen, die sich auf ein Prinzip des Schutzes vor tyrannischer Herrschaft oder des Schutzes vor dem Erleiden von Unrecht berufen, gehen hier schon ein Stück weiter. Problematisch ist bei ihnen allerdings, dass ein relativ weiter Interpretationsspielraum hinsichtlich der Bestimmung des gerechten Interventionsfalls eröffnet wird, wobei sich ein klares Kriterium zur Bestimmung eines ‚gerechten‘ Interventionsfalls zum einen im Verweis auf den Schutz vor Verletzung individueller Rechte und zum anderen in der Verbindung der Rechtfertigung von Interventionen in Analogie zum Widerstandsrecht andeutet. I d) Ablehnung von Schutzinterventionen aus Sicht des ius in bello: Während in der gegenwärtigen Interventionsdiskussion einige Autoren den Standpunkt vertreten, dass eine Rechtfertigung von Schutzinterventionen nicht gelingen kann, weil sich die unbeabsichtigte Schädigung unschuldiger Opfer nicht rechtfertigen lässt, gehen die historischen Autoren davon aus, dass das Prinzip des Doppeleffekts eine Antwort auf dieses Problem bietet. Dass im Rahmen von Schutzinterventionen Unschuldige zu Schaden kommen, kann demnach dann als gerechtfertigt gelten, wenn dies die Konsequenz notwendiger militärischer Handlungen ist und die Schädigungen sowohl unbeabsichtigt als auch unvermeidbar sind. Lediglich Las Casas sieht diese Bedingung aber mit Blick auf die konkreten Fälle als nicht erfüllt an. Gemäß seiner Auffassung können Schutzinterventionen zwar grundsätzlich aus Sicht des ius ad bellum gerechtfertigt werden, sie können aber mit Blick auf die ‚spanischen Eroberungen‘ nicht insgesamt als gerechtfertigt gelten, da sie nicht gerecht durchgeführt werden können. Las Casas markiert hiermit einen wichtigen Punkt in der Entwicklung von Interventionsargumenten, der in der vorherigen Diskussion, in der eine Konzentration auf die Ebene des ius ad bellum dominiert, nur am Rande berücksichtigt wurde. Seine Kritik bezieht sich hier nur auf konkrete Fälle, die er als nicht gerechtfertigt ausweist. Er behauptet aber nicht, wie es in der gegenwärtigen Diskussion vor allem radikale Antiinterventionisten wie beispielsweise Rüdiger Bittner tun, dass Interventionen grundsätzlich nicht gerechtfertigt werden können (vgl. Bittner 2004).3 Von besonderer Bedeutung ist diese Form eines Interventionsargumentes vor allem, weil sie die moralischen Kosten einer Intervention als ernsthaft relevantes
3 Bittner geht davon aus, dass Interventionen aufgrund der unvermeidlich mit ihnen verbundenen Schädigungen Unschuldiger grundsätzlich nicht moralisch gerechtfertigt werden können.
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und zu berücksichtigendes Kriterium bei der Beurteilung ihrer Gerechtigkeit nachdrücklich hervorhebt. II. Ablehnung von Interventionen aufgrund der prinzipiellen Unverletzlichkeit staatlicher Souveränität. Da die historischen Autoren, die Interventionen für legitimierbar halten, die Prämisse teilen, dass das Prinzip der Doppelwirkung eine Lösung des Problems der unbeabsichtigten Schädigung und Tötung Unschuldiger bereitstellt, finden sich radikale Ablehnungen von Interventionen vor allem bei Autoren, die besonderes Gewicht auf staatliche Souveränität und ihren Schutz legen. Eine radikale Ablehnung von Interventionen begegnet ideengeschichtlich in der Diskussion des 18. Jahrhunderts bei Wolff und Kant. Gemäß diesem Argumentationstyp können Interventionen deshalb nicht gerechtfertigt werden, weil eine Verletzung der Souveränität eines Staates, da sie eine unzulässige Verletzung seiner Rechte darstellt und darüber hinaus stabilitätsgefährdend wirkt, unter keinen Bedingungen zugelassen werden kann. Die Stärke von Interventionsargumenten dieser Art, welche die völkerrechtliche Praxis der Neuzeit prägen, ist die besondere Betonung des Schutzes staatlicher Souveränität gegen die Willkür anderer Staaten. Wenn normativ jedoch vorausgesetzt werden soll, dass der Staat nicht bloß als Selbstzweck, sondern immer vor allem zum Schutz seiner Bürger und als Garant ihrer Menschenrechte verstanden werden soll, lässt sich eine radikale Ablehnung von Interventionen aus dieser Perspektive nicht konsistent vertreten. Mit Blick auf die historische Diskussion von Interventionsargumenten lässt sich deshalb abschließend festhalten, dass radikale Ablehnungen von Interventionen unter Verweis auf ein ausnahmslos geltendes Prinzip staatlicher Souveränität, weil Souveränität immer auch Schutzverpflichtungen impliziert, ebenso wenig als plausibel gelten können wie eine weite Interventionsberechtigung, die Interventionen auch zum Zweck der Einrichtung der ‚richtigen‘ politischen oder religiösen Ordnung erlaubt. Vielmehr können Rechtfertigungen von Interventionen allein dann als plausibel angesehen werden, wenn sie als Schutzinterventionen einen Kernbereich individueller Schutzinteressen betreffen. Mit Blick auf solche Schutzinterventionen lassen sich verschieden stark überzeugende Rechtfertigungen unterscheiden. Der Verweis auf den Schutz Einzelner gibt lediglich einen Grund für die Abwägung individueller Schutzinteressen gegen herrscherliche Schutzansprüche gegen Einmischungen von außen. Weiter qualifiziert werden können solche Interventionsargumente zum einen hinsichtlich der Bestimmung des Interventionsfalles durch das Erbitten von Hilfe durch diejenigen, die geschützt werden sollen. Zum anderen erfolgt eine weitere Qualifikation durch die genauere Bestimmung des Interventionsfalles selbst. Schon in der historischen Analyse deutet sich an, dass unter bestimmten Bedingungen Interventionen als gerechtfertigt gelten könnten, die dem Schutz vor Verletzung individuel-
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ler Rechte dienen. Dass es dabei um ‚grundlegende ‘ Rechte gehen muss, wird in der Verbindung der Interventionsrechtfertigung mit der Rechtfertigung legitimen Widerstands deutlich. Dass ‚epistemische‘ Probleme bei der Bestimmung des Widerstandsfalles bestehen können, wird deutlich, wenn als weitere Bedingung für legitime Interventionen häufig betont wird, dass solche Interventionen dann als besser gerechtfertigt gelten können, wenn sie als Reaktion auf eine Bitte zur Unterstützung erfolgen.4
4 Das sollte allerdings nicht als notwendige Bedingung betrachtet werden, weil nicht klar ist, wie eine solche Bitte genau aussehen sollte und es vorstellbar ist, dass ein Volk genau dazu aufgrund seiner Unterdrückung nicht in der Lage ist.
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Teil II Das Problem der „humanitären Intervention“ aus gegenwärtiger Perspektive
1 Einleitung
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1 Einleitung Der Blick zurück in die Ideengeschichte hat gezeigt, dass die Diskussion von Interventionsfragen, also von Fragen danach, ob unter bestimmten Bedingungen eine gewaltsame Einmischung von außen in einen fremden Staat zum Schutz seiner Bürger erlaubt ist, in politischer Philosophie und Völkerrechtstheorie keineswegs ein neues Phänomen darstellt, das etwa erst durch die jüngsten Diskussionen um Interventionen zum Schutz vor Menschenrechtsverletzungen seit den 1990er Jahren in den Blick gerückt ist.1 Neu erscheint an der gegenwärtigen Diskussion im Vergleich zu den historischen Rechtfertigungen von Interventionen vor allem die Konzentration auf den Schutz von Menschen vor der Verletzung ihrer grundlegenden Menschenrechte als gerechten Grund für den Einsatz militärischer Gewalt – die Vorstellung des Schutzes Unschuldiger spielt auch schon in den historischen Positionen eine wichtige Rolle, sie ist aber meist nicht an die Vorstellung des Schutzes vor Verletzungen grundlegender Menschenrechte geknüpft.2 Die Vorstellung dagegen, dass ungerechtes und tyrannisches Verhalten von Herrschern und Regierungen gegenüber den Mitgliedern eines politischen Gemeinwesens, das an Grausamkeit, Willkür und bloßer Eigenwohlorientierung des Handelns eines Herrschers oder einer Regierung, also den klassischen Kriterien der Tyrannislehre, erkannt werden kann, einen Grund für einen Legitimitätsverlust ihres Herrschaftsanspruches darstellen kann, wird in der Theoriegeschichte immer wieder – im normativen Vokabular der jeweiligen Zeit – artikuliert. Viele der historischen Autoren haben dabei Grenzen bestimmt, bei deren Überschreitung als letztes Mittel der Verteidigung gegen den Missbrauch von Herrschaftsgewalt auch der Einsatz von Gewalt erlaubt ist. Solcher Widerstand kann – je nach Position – von innen durch die Mitglieder eines Gemeinwesens als gewaltsamer Widerstand zur Verteidigung eigener Rechte und Ansprüche oder von außen als Nothilfe oder als Aktion stellvertretenden Widerstandes ausgeübt werden.3 Der Rückblick in die Ideengeschichte zeigt dabei zweierlei: Die Beurteilung der Legitimität von Herrschafts- und Regierungsgewalt und damit auch die Bewertung staatlicher Souveränität ist zum einen (fast) immer an normative Maßstäbe und teils an konkrete Kriterien gebunden, welche auch am Wohl oder
1 Hinweise auf die einschlägigen Beiträge zur gegenwärtigen Interventionsdebatte finden sich oben, Einl., FN 25. 2 Eine Ausnahme stellt hier Vitoria dar, der die Verletzung unveräußerlicher individueller Rechte als gerechten Grund für eine Intervention einführt. Vgl. dazu oben, I, 2.2. 3 Hier gibt es zwei relevante Dimensionen des Rechtsbegriffs. Zum einen kann es um die Verteidigung verbriefter positiver Rechte gehen, es kann aber auch zum anderen um die Verteidigung überpositiver moralischer Rechtsansprüche gehen.
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den grundlegenden Rechten der Mitglieder des Gemeinwesens orientiert sind. Ausgehend von diesem Konzept der normativen Bewertbarkeit von Herrschaft als legitim oder illegitim wird zum anderen auch die Möglichkeit gewaltsamer Interventionen gegen Gewaltherrscher als letztes Mittel zur Abwehr von Unrecht gegenüber den Mitgliedern eines Gemeinwesens von vielen Autoren als prinzipiell rechtfertigbar vorgestellt.4 So wird durch den Blick in die Theoriegeschichte deutlich, dass das Verständnis von Herrschaft und Recht in den meisten Fällen an eine Vorstellung der Bewertbarkeit ihrer Legitimität von einem überpositiven Standpunkt aus gekoppelt ist,5 woraus sich schließlich auch Konsequenzen hinsichtlich einer Bestimmung legitimer Reaktionen auf massives Unrecht ergeben, sei es gewaltsamer Widerstand von innen, eine Intervention von außen als Nothilfeaktion oder als Aktion stellvertretenden Widerstandes. Im Folgenden wird der Blick nun vor dem Hintergrund der Analyse der ideengeschichtlichen Positionen auf die gegenwärtige Interventionsdebatte gerichtet, in der die Frage nach der Rechtfertigung militärischer Interventionen im Spannungsfeld zwischen dem völkerrechtlichen Prinzip staatlicher Souveränität und dem Prinzip des Menschenrechtsschutzes zu verorten ist. Es geht also um folgende Frage: Lässt sich der Einsatz militärischer Gewalt von außen zum Schutz der Bürger eines fremden Staates vor einer Verletzung ihrer grundlegenden Menschenrechte rechtfertigen?6 Vor der Diskussion dieser Frage sei aber noch kurz angemerkt, inwiefern ein Rückgriff auf die Analyse der ideengeschichtlichen Positionen zur Beantwortung dieser Frage, die hier hinsichtlich systematischer Gesichtspunkte diskutiert wird, hilfreich sein kann. Zunächst kann ein Rückgriff auf die Ideengeschichte einen Beitrag zu einer deutlicheren Bestimmung und einem gründlicherem Verständnis der Semantik zentraler Begriffe der Interventionsdebatte leisten. So zeigt der ideengeschichtliche Rückblick deutlich, dass das Konzept staatlicher Souveränität nur dann normativ gehaltvoll und damit angemessen verstanden werden kann, wenn des-
4 Ausnahmen hierzu stellen die Positionen Wolffs und Kants dar. Vgl. dazu oben, I, 5.1 und I, 5.3. 5 Bestritten wird diese Auffassung in der jüngeren Diskussion vor allem von Vertretern des Realismus bzw. Neorealismus, die davon ausgehen, dass eine normative Kritik des Handelns von Staaten gegenüber ihren Bürgern von außen nicht zuletzt aufgrund ihrer Souveränität nicht möglich ist. Dass aber auch solche Auffassungen nicht normativ voraussetzungslos sind, zeigt etwa Laubach-Hintermeier 1998. 6 Zu unterscheiden ist zwischen der Frage nach der Legalität und der Legitimität von Interventionen. Hier geht es um die Beantwortung der Frage nach ihrer Legitimität, aus der sich aber mit Blick auf mögliche Weiterentwicklungen des Völkerrechts auch Konsequenzen hinsichtlich ihrer Legalität ergeben. Zur Diskussion dieser Spannung in der gegenwärtigen Interventionsdebatte vgl. die oben in Einl., FN 6 angeführte Literatur.
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sen Abhängigkeit von Vorstellungen guter Herrschaft und von einem Auftrag von Herrschern und Regierungen zum Schutz grundlegender Menschenrechte der Bürger ihres Gemeinwesens berücksichtigt wird. Die Analyse der ideengeschichtlichen Positionen zeigt, dass der Begriff der staatlichen Souveränität, wenn er kein nominativ leerer Begriff sein soll, der die bloße Faktizität der Macht und damit das Recht des Stärkeren festschreibt, nicht normativ voraussetzungslos, sondern an die Garantie der grundlegenden Menschenrechte gebunden ist. Darüber hinaus eröffnete der Rückblick in die Ideengeschichte durch das Aufdecken der Verbindung zwischen Interventions- und Widerstandsrecht eine systematische Option, welche die Möglichkeiten der Argumentation und Begründung in der gegenwärtigen Debatte erweitert. Die enge Verknüpfung von Widerstandsrecht und Interventionsrecht, die sich in vielen der analysierten historischen Positionen findet, zeigt zum einen mit besonderer Deutlichkeit, dass im Konfliktfall das Prinzip des Menschenrechtsschutzes dem Prinzip der staatlichen Souveränität normativ vorgeordnet ist, da ein begründeter Anspruch von Herrschern und Regierungen auf Souveränität von Schutz und Garantie der grundlegenden Menschenrechte ihrer Bürger abhängig ist – im Konfliktfall kann das Prinzip des Schutzes der Mitglieder eines Gemeinwesens vor Verletzung grundlegender Rechte das Prinzip staatlicher Souveränität überwiegen. Zum anderen zeigt sie aber vor allem, dass Kriterien für Ausnahmefälle bestimmt werden können, in denen der Vorrang des Menschenrechtsschutzes vor dem Prinzip staatlicher Souveränität auch eine gewaltsame Einmischung von außen im Sinne einer Intervention als Aktion stellvertretenden Widerstandes erlaubt. Ausgehend von dieser Verbindung von Widerstands- und Interventionsrecht können einige Interventionen zum Schutz der Menschenrechte als Aktionen stellvertretenden Widerstandes verstanden werden. Dabei kann gerade die Verbindung der Interventionsdebatte mit der Theorie des Widerstandsrechts durch eine Anknüpfung an die in der Theorie des Widerstandsrechts entwickelten Kriterien zur Bestimmung des Widerstandsfalles einen Beitrag dazu leisten die Bedingungen für die Bestimmung eines gerechten Interventionsfalles genauer zu formulieren.7 Schließlich untermauert der Blick zurück in die Theoriegeschichte auch die These, dass eine Auseinandersetzung mit der Frage nach der Möglichkeit einer Rechtfertigung des Einsatzes militärischer Gewalt zum Schutz vor Verletzung grundlegender Menschenrechte keineswegs als moralisch zweifelhaftes Unternehmen in dem Sinne verstanden werden muss, dass sie vor allem eine instrumentalisierbare Rechtfertigung für den Einsatz militärischer Gewalt formuliert.
7 Vgl. dazu unten, II, 2.
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Ganz im Gegenteil wird auch und besonders mit Blick in die Theoriegeschichte deutlich, dass in einer solchen Theorie vor allem ein kritisches Vokabular entwickelt wird, das den ungerechten, d.h. illegitimen Einsatz militärischer Gewalt von einem moralischen Standpunkt aus kritisierbar macht. Eine Theorie der Rechtfertigung militärischer Interventionen zum Schutz vor Verletzungen grundlegender Menschenrechte hilft in der Praxis eben auch dabei, missbräuchliche Berufungen auf die Rechtfertigungsfigur der ‚humanitären‘ Interventionen aufzudecken. Der Rückgriff auf die Ergebnisse der Analyse der historischen Positionen erfolgt im Folgenden im Bewusstsein der Grenzen einer Übertragung von Argumenten, Prinzipien und Kriterien, die in der Analyse der historischen Positionen freigelegt wurden, auf die gegenwärtige Debatte und betont ausdrücklich, dass deren Begründung teilweise von Elementen wie naturrechtlichen Prämissen, Gottesbeweisen, religiösen Prämissen und teleologischen Konzeptionen der Natur abhängt, die heute so leicht keine Anerkennung mehr beanspruchen können. Unabhängig von diesen begründungstheoretischen ‚Erblasten‘ können in den historischen Positionen aber dort artikulierte Wertvorstellungen und Einsichten, die sich aus historischer Erfahrung ergeben haben, rekonstruiert werden, an die aus heutiger Sicht angeknüpft werden kann. Nehmen wir nun also die Frage nach der Möglichkeit der Rechtfertigung des Einsatzes militärischer Gewalt zum Schutz der Bürger eines fremden Staates vor schweren Menschenrechtsverletzungen, wie sie sich in der gegenwärtigen Debatte stellt, in den Blick: Lässt sich der Einsatz militärischer Gewalt von außen zum Schutz der Bürger eines fremden Staates vor einer Verletzung ihrer grundlegenden Menschenrechte rechtfertigen? Skeptiker bezüglich der Möglichkeit einer Rechtfertigung solcher Interventionen haben Einwände gegen die Legitimität militärischer Schutzinterventionen formuliert, die auf zwei Ebenen liegen. Ihnen wende ich mich zunächst zu, um in der kritischen Auseinandersetzung mit den Einwänden sichtbar zu machen, wo die systematischen Probleme liegen. Dabei geht es hier nicht um eine ausführliche Widerlegung der Einwände, es soll lediglich angezeigt werden, warum sie die Auseinandersetzung mit dem Problem der militärischen Intervention zum Schutz der Menschenrechte nicht grundsätzlich in Frage stellen können. Zum einen wird häufig aus völkerrechtlicher Perspektive argumentiert, dass militärische Interventionen zum Schutz der Menschenrechte grundsätzlich abgelehnt werden müssen, da eine Verletzung des Prinzips der staatlichen Souveränität unter keinen Umständen gerechtfertigt werden könne (vgl. dazu kritisch Zanetti 1998, S. 302ff.). Diese Position, die in einer historischen Linie mit den Positionen von Wolff und Kant steht, nenne ich den Einwand unter Rekurs auf das Prinzip (der Unverletzlichkeit) staatlicher Souveränität. Zum anderen wird
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eine kategorisch anti-interventionistische Position von einem radikalpazifistischen Standpunkt8 aus vertreten. Nach dieser Auffassung können Interventionen grundsätzlich nicht gerechtfertigt werden, weil die Tötung Unschuldiger, die bei militärischen Interventionen in Kauf genommen werden muss, unter keinen Umständen moralisch rechtfertigbar ist. Diese Position wird im Folgenden als der moralische Einwand unter Rekurs auf das Prinzip des Schutzes Unschuldiger bezeichnet (vgl. etwa Bittner 2004). Im weiteren Verlauf der Argumentation werde ich zeigen, dass diese beiden Positionen zur Ablehnung von militärischen Interventionen zum Schutz der Menschenrechte letztlich keine grundsätzliche Ablehnung solcher Interventionen begründen. Ihrer Zurückweisung dient die weitere Argumentation in diesem Teil der Arbeit. Um dafür zu argumentieren, dass die Beweislast an dieser Stelle aber nicht allein beim Vertreter einer philosophischen Theorie des gerechten Krieges, der eine Rechtfertigung von Interventionen für möglich hält, liegt, sei hier zumindest darauf hingewiesen, dass eine Schwierigkeit beider interventionskritischen Positionen darin besteht, dass auch sie wichtige Intuitionen, die in der Beurteilung von Menschenrechtsverletzungen weit verbreitet sind, nicht angemessen erklären können. Zwar fangen sie die Intuitionen des Wertes staatlicher Souveränität und des Wertes des Prinzips der Nichtschädigung Unschuldiger ein. Allerdings gelingt es ihnen nicht die Intuition einzufangen, gemäß der Personen in Not geholfen werden muss, insbesondere dann, wenn sie massives Unrecht erleiden – eine Intuition, die, wie der Rückblick in die Ideengeschichte zeigt, auch wesentlicher Teil der Vorstellung verantwortlicher Herrschaft ist. Zudem können sie nicht begründen, wodurch diese Intuition im Falle der Ablehnung militärischer Interventionen zum Schutz der Menschenrechte übertrumpft wird. Doch die Problemlage, die eine Beantwortung der Frage nach der Rechtfertigung militärischer Interventionen zum Schutz der Menschenrechte erfordert, ist moralisch und auch völkerrechtlich zu komplex für eine vorschnelle Antwort, was sowohl für Interventionen befürwortende als auch für ablehnende Positionen gilt. Sie erfordert vielmehr sowohl grundsätzliche als auch konkrete am einzelnen Fall orientierte Überlegungen. Dass sich ebenso wie für ein grundsätzliches Verbot von Interventionen auch keine schnelle Antwort bezüglich ihrer Erlaubnis ergibt, wird schon aus der Problematik der Spannungen, die sich auf Ebene des ius in bello ergeben, ersichtlich. Gegen den Einwand unter Rekurs auf das Prinzip (der Unverletzlichkeit) staatlicher Souveränität wird im Folgenden (II, 2) die Position stark gemacht, dass
8 Unter radikalem Pazifismus verstehe ich hier die Position eines kategorischen Gewaltverbots. Vgl. dazu Strub/Bleisch 2006.
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Souveränität normativ gehaltvoll verstanden nur dann eine Einmischung von außen verbietet, wenn sie als zumindest in einem minimalen Sinne legitim verstanden werden kann. Als Bedingung minimaler Legitimität gilt der Schutz der grundlegenden Menschenrechte der eigenen Bürger. Eine Regierung, die diesen Schutz nicht garantiert und die Menschenrechte ihrer Bürger massiv und systematisch verletzt, kann den Anspruch auf Nichteinmischung, der sich von einem moralischen Standpunkt aus allein aus einer minimal legitimen Souveränität ergibt, nicht für sich beanspruchen. Gegen den „moralischen“ Einwand unter Rekurs auf das Prinzip des Schutzes Unschuldiger wird (in II, 3) argumentiert, dass dieses Prinzip im Konfliktfall gegen andere Schutzprinzipien abgewogen werden muss oder, dass es zumindest im Lichte anderer Schutzprinzipien, wie etwa dem der Nothilfe, gesehen werden muss. Zwar ist das Problem der Schädigung Unschuldiger im Rahmen von Schutzinterventionen das zentrale Problem der Rechtfertigung, das sich hier stellt, es wird aber dafür argumentiert, dass sich auf seiner Grundlage kein kategorisches Verbot der Gewaltanwendung und auch kein kategorisches Verbot von Schutzinterventionen ergibt. Die systematischen Probleme, die sich hinter den beiden Einwänden verbergen, stellen nicht zuletzt deshalb eine besondere Herausforderung für die Diskussion der Möglichkeit der Rechtfertigung militärischer Schutzinterventionen dar, weil man es hier mit zwei Dilemmata zu tun hat. Der Einwand unter Rekurs auf das Prinzip staatlicher Souveränität steht in engem Zusammenhang mit der Spannung zwischen dem Prinzip staatlicher Souveränität und dem des Menschenrechtsschutzes auf der Ebene des Völkerrechts. Dort geraten das Prinzip der staatlichen Souveränität, die einen besonderen Schutz vor allen Arten militärischer Einmischung von außen genießen soll, und das Prinzip des Menschenrechtsschutzes in Konflikt, wenn der Einsatz militärischer Gewalt von außen das letzte Mittel zum Schutz der grundlegenden menschenrechtlichen Ansprüche der Bürger auf Leben, Freiheit und körperliche Unversehrtheit9 gegen einen Gewaltherrscher oder ein Gewaltregime darstellt.10 Dilemmatisch ist diese Spannung deshalb, weil es
9 Nach Einteilung der Menschenrechte in drei Generationen handelt es sich hier um die sog. negativen Rechte der ersten Generation. Vgl. dazu die oben in Einl., FN 1 angeführte Literatur. Vgl. hierzu auch Merle 2003, S. 67. Vgl. dazu auch Schmücker 2005, S. 29f. Dort verweist Schmücker darauf, dass der Kernbereich von Menschenrechten, zu dessen Schutz eine militärische Intervention gerechtfertigt werden kann, sich mit den in den Artikeln 3–5 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte formulierten Rechten deckt. 10 Ein weiteres Dilemma macht Josef Bordat aus. Nach seiner Auffassung besteht ein völkerrechtliches Dilemma darin, „entweder einem Genozid tatenlos zusehen zu müssen (wie in Ruanda 1994) oder militärische Interventionen zu dulden, die gemessen an Begründung, Verlauf
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im extremen Fall nicht möglich ist, zugleich die Ansprüche, die sich aus dem völkerrechtlichen Prinzip der staatlichen Souveränität und dem Prinzip des Menschenrechtsschutzes ergeben, zu erfüllen. Entweder wird das Souveränitätsprinzip nicht verletzt, dafür jedoch das des Menschenrechtsschutzes, oder umgekehrt. Dieses Problem werde ich im Folgenden als das Souveränitätsdilemma diskutieren. Der moralische Einwand unter Rekurs auf das Prinzip des Schutzes Unschuldiger verweist auf ein weiteres Dilemma, das sich mit Blick auf die Durchführung einer militärischen Intervention zum Schutz der Menschenrechte stellt. Wenn sich zeigen lässt, dass das Prinzip des Menschenrechtsschutzes das der staatlichen Souveränität in bestimmten Fällen überwiegen kann, besteht eine dilemmatische Spannung zwischen einer Berechtigung oder gar einer möglichen Pflicht zur Nothilfe und der damit verbundenen Gefahr der Schädigung und Tötung Unschuldiger, die kaum vermieden werden kann, wenn für eine solche Form der Nothilfe auf den Einsatz militärischer Gewalt zurückgegriffen werden muss. Das Prinzip der Nothilfe und das der Nichtschädigung Unschuldiger bilden hier die beiden Hörner des Dilemmas. Entweder wird das Prinzip der Nichtschädigung Unschuldiger nicht erfüllt, dafür jedoch das der Nothilfe, oder umgekehrt. Wie tiefgreifend dieses Dilemma ist, das in der klassischen Theorie des gerechten Krieges gewöhnlich durch das Prinzip der Doppelwirkung aufzulösen versucht wird, nach dem Nebenfolgen des Einsatzes militärischer Gewalt als gerechtfertigt beziehungsweise moralisch akzeptabel gelten, wenn sie unbeabsichtigt und zur Erreichung eines legitimen Zieles unverzichtbar sind, tritt offensichtlich zu Tage, wenn die Legitimität des Einsatzes militärischer Gewalt unter Rückgriff auf den Schutz der Menschenrechte begründet werden soll. Auch unschuldige Opfer einer Intervention zum Schutz vor Menschenrechtsverletzungen haben ein Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit, das nicht ohne weiteres gegen den Schutz vieler anderer Personen aufgerechnet werden kann.11 Gerade aus menschenrechtlicher Perspektive besteht hier ein besonderes Rechtfertigungsproblem, das in der gegenwärtigen Diskussion der Interventionsfrage bei vielen Autoren unter Verweis auf die Lehre des Doppeleffektes letztlich auch nicht be-
und Erfolg allem spotten, was sich ,humanitär‘ nennt und bei denen offensichtlich ist, dass es ausschließlich um wirtschaftliche bzw. strategische Interessen geht (wie etwa derzeit im Irak)“ (Bordat 2006, S. 39). Diese Spannung weist vor allem darauf hin, dass eine klare völkerrechtliche Weiterentwicklung des Konzepts der Responsibility to Protect oder anderer Instrumente zum Schutz der Menschenrechte nötig ist. Um ein völkerrechtliches Dilemma handelt es sich hier aber nicht, da eine Legitimation interessenmotivierter Kriege durch die Figur der „humanitären Intervention“ völkerrechtlich nicht möglich ist. 11 Zum Problem der Aufrechnung von Menschenrechten vgl. Wohlrapp 2004.
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friedigend gelöst wird, da diese Lehre die menschenrechtliche Dimension des Problems der Tötung Unschuldiger nicht einholen kann.12 Mit Blick auf ihre praktischen Implikationen sind diese Dilemmata deshalb besonders brisant, weil die Einnahme eines neutralen Standpunktes ihnen gegenüber nicht möglich ist. Wer diese Fragen in praktischer Absicht beantworten muss13 und hier keinen Standpunkt einnimmt oder behauptet keinen Standpunkt einzunehmen, muss sich dem Vorwurf stellen, unter Umständen eine massive Verletzung von Menschenrechten zumindest zu tolerieren.14 Fälle wie die Massaker in Ruanda (1994) und in Srebrenica (1995) zeigen, dass eine Haltung des passiven Zusehens, wenn Hilfe möglich wäre, keineswegs als Neutralität, die verantwortliche Akteure unschuldig bleiben lassen kann, sondern – in diesen Fällen zumindest im historischen Rückblick – als unterlassene Hilfeleistung und damit als moralisches Versagen verstanden und bewertet wird.15 Wer beansprucht, zu massiven und systematischen Verletzungen der Menschenrechte der Bürger eines Staates durch diesen oder seine Vertreter einen neutralen Standpunkt einzunehmen, setzt sich dem Vorwurf einer stillschweigenden Zustimmung aus, nach dem Schweigen oder behauptete Neutralität in einem solchen Fall als Zustimmung verstanden werden können.16 Im Folgenden werden deshalb in mehreren Schritten die Möglichkeiten einer Antwort auf die Interventionsfrage ausgelotet. Dazu gilt es mehrere Teilfragen zu beantworten. Wenn der Schutz vor Verletzung grundlegender Menschenrechte der Bürger eines fremden Staates als gerechter Grund für eine Intervention gelten soll, muss zunächst geklärt werden, ob und inwiefern die Verletzung grundlegender Menschenrechte den entscheidenden rechtfertigenden Grund für diese Form des Einsatzes militärischer Gewalt darstellen kann. Dazu ist zu zeigen, wie ein
12 Vgl. dazu unten, II, 3.1. 13 Zu denken ist hier etwa an Politiker einzelner Staaten, Vertreter internationaler Institutionen und in einem sehr schwachen Sinne auch an jeden ‚Weltbürger‘. 14 Oder er überlässt unter Umständen auch Machtpolitikern, die den Rechtfertigungsgrund der „humanitären Intervention“ missbrauchen, die Deutungshoheit über die Rechtfertigung des Einsatzes militärischer Gewalt. 15 Zum Fall Ruanda siehe Pogge 2010, S. 165–182. Zur Diskussion des Falles Bosnien-Herzegowina vgl. Hinsch/Janssen 2006, S. 119–147. 16 Eine solche Auffassung bezüglich der Frage nach der Möglichkeit von Neutralität in Fragen von Recht und Unrecht findet sich in der klassischen Theorie des gerechten Krieges schon früh, wie etwa folgende Stelle aus dem Decretum Gratiani zeigt, in der es um Beistand für Verbündete geht (und in der „Neutralität“ als implizite Zustimmung interpretiert wird). Demnach muss man „[b]isweilen […] dem Unrecht widerstehen und das den Verbündeten zugefügte Unrecht mit Waffengewalt abwehren. […] Derjenige, der das nicht tut, gibt seine Zustimmung“ (Decretum Gratiani, C. XXIII, qu. 3, c. 10).
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Verständnis dieses gerechten Grundes aussieht, das die These vom normativen Vorrang des Prinzips des Menschenrechtsschutzes vor dem der staatlichen Souveränität stützt – es ist also zu zeigen, wie sich die Spannung zwischen beiden Prinzipien auflösen lässt (II, 2.1). Lässt sich diese Spannung, wie ich argumentieren werde, schließlich auflösen, kommt es zur Bestimmung einer Interventionserlaubnis im konkreten Fall auf eine Prüfung der Kriterien des ius ad bellum für eine Schutzintervention an, weshalb der Rahmen für eine solche Prüfung sowie die zugehörigen Kriterien skizziert werden (II, 2.2). Schließlich gilt es die Frage zu klären, ob eine solche Intervention, wenn sie aus Sicht der Kriterien des ius ad bellum als gerechtfertigt gelten kann, auch gerecht durchgeführt werden kann, denn insgesamt kann der Einsatz militärischer Gewalt nur dann als gerechtfertigt gelten, wenn er sowohl hinsichtlich der Anfangs, als auch hinsichtlich der Durchführungsbedingungen als legitim gelten kann17 – die Bedingungen sind einzeln notwendig, aber nur zusammen hinreichend (vgl. Walzer 2007, S. 225–232). Auch dieser Frage werde ich mich wiederum in zwei Schritten zuwenden, indem ich zunächst die Möglichkeit einer Auflösung des Nothilfedilemmas auslote (II, 3.1) und anschließend die Kriterien für eine legitime Durchführung humanitärer Interventionen diskutiere (II, 3.2).
17 Darüber hinaus gelten die Bedingungen eines gerechten Verhaltens nach Beendigung der Kampfhandlungen (ius post bellum).
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2 Souveränität und Menschenrechte – Das Souveränitätsdilemma 2.1 Zur Auflösung des Souveränitätsdilemmas Dass die Menschen prinzipiell Schutz vor massiven und systematischen Verletzungen ihrer Rechte durch Herrscher und Regierungen verdienen, ist sowohl von einem moralischen Standpunkt aus als auch aus Sicht des Völkerrechts, das sich dem Schutz der Menschenrechte verpflichtet, offensichtlich.1 Eine Berechtigung zu einer militärischen Intervention zum Schutz der Menschenrechte ergibt sich daraus aber weder vom moralischen Standpunkt noch aus Sicht des Völkerrechts direkt. Vom moralischen Standpunkt aus ergeben sich vor allem, aber nicht nur, die oben genannten Probleme auf der Ebene der Durchführungsbedingungen – besonders die Gefahr und Inkaufnahme unschuldiger Opfer im Rahmen einer militärischen Intervention (Nothilfedilemma), aber auch das Selbstbestimmungsrecht der Völker sind aus moralischer Sicht relevante Gesichtspunkte.2 Vom völkerrechtlichen Standpunkt aus ist vor allem das Dilemma zwischen dem positivrechtlichen Prinzip staatlicher Souveränität, aus dem sich das Nichteinmischungsgebot ergibt, und dem Prinzip des Menschenrechtsschutzes problematisch (Souveränitätsdilemma). Für die Möglichkeit der Rechtfertigung militärischer Schutzinterventionen wäre zu zeigen, dass sich letzteres Dilemma zugunsten eines normativen Vorrangs des Prinzips des Menschenrechtsschutzes vor dem staatlicher Souveränität im Konfliktfall auflösen lässt. Darum wird es zunächst gehen (II, 2), bevor in einem weiteren Schritt (II, 3) das Nothilfe-Dilemma diskutiert wird. Im gegenwärtigen Völkerrecht ist das Dilemma zwischen dem Prinzip staatlicher Souveränität und dem des Menschenrechtsschutzes – auch wenn die Entwicklung des völkerrechtlichen Prinzips der Responsibility to Protect eine Möglichkeit zur Lösung eröffnet – bislang unaufgelöst. Deshalb wurden Interventionen, die als Reaktion auf massive Menschenrechtsverletzungen innerhalb eines Staates durchgeführt wurden, in der völkerrechtlichen Praxis bisher zumeist unter Verweis auf Kapitel 7 der UN-Charta unter Berufung auf die Gefährdung der internationalen Sicherheit legitimert, die nach den Prinzipien des Völkerrechts neben
1 Das Prinzip des Menschenrechtsschutzes gehört zum zwingenden Völkerrecht (ius cogens). Vgl. dazu Kokott 1999, S. 182f. 2 Zur Auseinandersetzung mit der moralischen Bedeutung des Selbstbestimmungsrechts der Völker mit Blick auf die Diskussion der Interventionsfrage siehe weiter unten in diesem Kapitel.
2 Das Souveränitätsdilemma
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der Selbstverteidigung den einzigen legitimen Grund für den Einsatz militärischer Gewalt darstellt. Eine erste Ausnahme stellt die NATO-Intervention in Libyen im Jahr 2011 dar, bei deren völkerrechtlicher Legitimierung sich der UNSicherheitsrat in der Resolution 1973 auf das Prinzip der Responsibility to Protect beruft (S/RES/1973 (2011)). Die dilemmatische Spannung zwischen Menschenrechtsschutz und Achtung staatlicher Souveränität im Völkerrecht erfährt durch den Verweis auf eine Bedrohung der internationalen Sicherheit jedoch keine befriedigende Auflösung, sie wird lediglich umgangen. Das Konzept der Responsibility to Protect, durch das eine Auflösung dieser Spannung zugunsten des Menschenrechtsschutzes anhand des Postulates einer Schutzverantwortung der Staaten für das Wohl ihrer Bürger versucht wird, hat noch keinen verbindlichen völkerrechtlichen Status und es ist kaum zu erwarten, dass es diesen allzu bald erhalten wird.3 Für eine Rechtfertigung des Einsatzes militärischer Gewalt zum Schutz der Menschenrechte muss also mit Blick auf diese völkerrechtliche Problematik nicht nur gezeigt werden, dass die Menschenrechte ein in besonderer Weise zu schützendes Gut darstellen, sondern auch, dass das Prinzip des Menschenrechtsschutzes im Notfall das Prinzip staatlicher Souveränität und das sich daraus ergebende Prinzip der Nichteinmischung überwiegt.4 Doch dabei gilt es zugleich, eine vorschnelle Aufweichung des Prinzips staatlicher Souveränität zu vermeiden, denn gemäß seiner ursprünglichen Intention liegt der moralische Grund des Souveränitätsprinzips und des Einmischungsverbotes in dem Ziel, jeden Staat, unabhängig davon, ob er groß oder klein, schwach oder mächtig ist, vor der Übermacht und Willkür anderer Staaten oder Staatenbündnisse zu schützen, wodurch das Einmischungsverbot auch eine stabilisierende Wirkung entfalten soll. Diese Schutzintention des Souveränitätsprinzips wird im Rückblick auf seine Geschichte deutlich und lässt sich bis zum Westfälischen Frieden zurückverfolgen, als vor allem die Absicht religiös motivierte oder legitimierte Kriege und Interventionen zu vermeiden zur Etablierung eines strengen völkerrechtlichen Begriffs staatlicher Souveränität und damit auch zur Etablierung eines Prinzips der Nichteinmischung führte (vgl. Ziegler 2007, S. 142ff.).
3 Dies wird auch mit Blick auf die Intervention in Libyen deutlich. In der Resolution beruft sich der Sicherheitsrat auf die Idee der Schutzverantwortung, allerdings führte nicht zuletzt die sehr weite Interpretation des Mandats durch die Interventionsmächte dazu, dass vor allem die Sicherheitsratsmitglieder China und Russland das Prinzip der Schutzverantwortung inzwischen noch kritischer (und als Instrument der westlichen Mächte) sehen. Vgl. dazu Merkel 2011. Zum völkerrechtlichen Status der Responsibility to Protect vgl. Schaller 2008, S. 13f. 4 Auf die moralphilosophische Problematik, die es zudem noch zu lösen gilt, gehe ich unten ein. Vgl. dazu II, 3.1.
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Mit der Formulierung des Prinzips staatlicher Souveränität und des sich daraus ergebenden Verbots der gewaltsamen Einmischung in die inneren Angelegenheiten eines Staates in der Charta der Vereinten Nationen im Jahr 1945 wurde dann vor dem Hintergrund der Erfahrung der beiden Weltkriege ein zweifacher Zweck verfolgt. Zum einen sollte grundsätzlich verhindert werden, dass Staaten Angriffskriege führen, weshalb in der Charta der Vereinten Nationen zudem ein völkerrechtliches Gewaltverbot festgeschrieben wurde (vgl. UN-Charta, Art. 4, Abs. 2 und 7).5 Zum anderen dient das Einmischungsverbot außerdem dem Schutz des Selbstbestimmungsrechts der Völker hinsichtlich ihrer politischen Ordnung und ihrer kulturellen Praxis, die damit vor Einmischungen in Fragen der politischen Organisation ihres Gemeinwesens geschützt werden sollen. Wie die Charta in einigen Bestimmungen und dann in ausführlicher Deutlichkeit die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte von 1948 zeigt, steht dieses Selbstbestimmungsrecht aber auch vor dem Hintergrund des Werterahmens der Menschenrechte (vgl. UN-Charta Art. 1, Abs. 3; AEMR). Doch wie ist eine Bewertung des Prinzips staatlicher Souveränität mit Blick auf diesen menschenrechtlichen Werterahmen möglich? Aus der Perspektive der internen Logik des Völkerrechts muss das Prinzip der staatlichen Souveränität schließlich ausnahmslos gelten. Da es keine übergeordnete Gewalt gibt, die über ein globales völkerrechtliches Gewaltmonopol verfügt, kann das völkerrechtliche System grundsätzlich nur durch die Achtung der staatlichen Souveränität aller Mitglieder der Völkergemeinschaft stabil sein. Einschränkungen des Souveränitätsprinzips müssten also zunächst auf einer anderen Ebene begründet werden. Dies setzt die Beurteilung völkerrechtlicher Normen von einem moralischen Standpunkt beziehungsweise anhand eines überpositiven Maßstabes voraus. Unser Rechtverständnis kennt eine solche Vorstellung der Abhängigkeit des Rechts bzw. seiner Legitimität von einem solchen Maßstab – die politische Philosophie hat es mit Blick auf einzelne Staaten und Gesellschaften in den Konzeptionen von Menschenrechten, Volkssouveränität und Rechtstaatlichkeit deutlich formuliert und dabei gezeigt, dass eine normativ gehaltvolle Vorstellung von Recht eine Bindung an eine Perspektive der Gerechtigkeit voraussetzt.6 Für das Völkerrecht ist allerdings noch einige Arbeit zu leisten, um diese Perspektive deutlicher freizulegen. Aber auch hier scheint im common sense nicht die Vorstellung einer bloßen Legitimität des Faktischen vorzuliegen –
5 Zum völkerrechtlichen Gewaltverbot vor dem Hintergrund der Interventionsfrage vgl. Delbrück 1999. 6 Hierfür können die neuzeitlichen Theorien der Menschenrechte, der Gewaltenteilung, des Widerstandsrechtes und des demokratischen Rechtsstaates als eindrucksvolle Beispiele gelten.
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auch die Legitimität der völkerrechtlichen Ordnung kann nicht aufgrund der bloßen Faktizität von Machtverhältnissen erklärt werden. In der Geschichte der Theorie des Völkerrechts haben, wie oben gezeigt wurde, Autoren wie Hugo Grotius und Emer de Vattel deutlich herausgestellt, dass eine Theorie des Völkerrechts den Souveränitätsbegriff hinsichtlich seiner grundsätzlichen systematischen Bedeutung ernst nehmen und trotzdem Raum für ein Interventionsrecht in Ausnahmefällen lassen kann.7 Bedenkt man, dass sich die Festschreibung des Prinzips des Schutzes staatlicher Souveränität als Reaktion auf historische Erfahrungen ihrer Bedrohung begreifen lässt, ist es naheliegend, die Möglichkeit eines solchen Lernprozesses auch hinsichtlich der Entwicklung eines normativ gehaltvolleren Verständnisses von Souveränität im Völkerrecht anzunehmen. Entscheidend sind dafür spätere Erfahrungen mit dem Souveränitätsprinzip, die auf die Problematik aufmerksam machen, dass sich Gewaltherrscher und -regime häufig hinter dem Prinzip der staatlichen Souveränität und dem Einmischungsverbot verschanzt haben, um sich gegen Einmischungen von außen zum Schutz der eigenen Bevölkerung zu immunisieren. In solchen Fällen bietet die Schutzfunktion des Souveränitätsprinzips dem Staat zugleich Möglichkeiten des Missbrauchs, wenn grobe Verletzungen der Schutzverpflichtungen gegenüber der eigenen Bevölkerung nicht geahndet werden können.8 Deshalb stellt sich vor dem Hintergrund solcher Erfahrung die Frage danach, wo die Grenzen eines berechtigten Anspruches auf Souveränität eines Staates und die Grenzen des damit verbundenen Einmischungsverbotes verlaufen. Zu einer Bestimmung dieser Grenzen wird im Gang der weiteren Argumentation versucht, die These der normativen Bewertbarkeit des Souveränitätsprinzips und die These des normativen Vorrangs des Menschenrechtsschutzes zu stützen: Die These der normativen Bewertbarkeit des Souveränitätsprinzips besagt, dass das völkerrechtliche Souveränitätsprinzip anhand eines übergeordneten moralischen Maßstabes beurteilt werden kann und muss. Diesen Maßstab stellen die grundlegenden Menschenrechte auf Leben, Freiheit und körperliche Unversehrt-
7 Ziel muss allerdings eine völkerrechtliche Verankerung eines Interventionsrechts als Schutzrecht sein, mit dem auch eine gewisse Abgabe von Souveränitätsrechten der Staaten verbunden ist. Dass das nicht völlig abwegig ist und Staaten unter bestimmten Bedingungen zur Abgabe von Souveränitätsrechten bereit sind, zeigt ein Blick auf Abkommen zur Einrichtung internationaler Gerichtshöfe aber auch die Politik der EU (wobei in beiden Fällen gegenwärtig auch die Grenzen einer solchen Bereitschaft deutlich erkennbar sind). 8 Die Bedeutung der Bestrafung von Rechtsverletzungen zur Garantie von Rechtssicherheit in den Beziehungen zwischen Staaten wird vor allem in der Theorie des gerechten Krieges im Mittelalter, bei Augustinus und Thomas von Aquin betont. Vgl. dazu oben, I, 1.
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Teil II Das Problem der „humanitären Intervention“ aus gegenwärtiger Perspektive
heit dar. Die These des normativen Vorrangs des Menschenrechtsschutzes besagt, dass im Falle massiver und systematischer Verletzungen der grundlegenden Menschenrechte der Mitglieder eines Gemeinwesens durch deren Regierung der Schutz der Bürger vor Verletzung ihrer grundlegenden Menschenrechte den Schutz des positivrechtlichen Prinzips der staatlichen Souveränität und des sich daraus ergebenden Prinzips der Nichteinmischung in die inneren Angelegenheiten eines Staates überwiegt. Um diese beiden Thesen plausibel zu machen, werde ich im Folgenden zunächst diskutieren, warum es die Konzentration auf die Menschenrechte und deren Verletzung ist, auf die es in der gegenwärtigen Diskussion der Interventionsfrage ankommt. In der jüngeren Diskussion um militärische Interventionen steht der Schutz der Bürger fremder Staaten vor massiver und systematischer Verletzung ihrer grundlegenden Menschenrechte als legitimes Interventionsziel im Zentrum. Die verschiedenen Definitionen der so genannten ‚humanitären‘ Intervention stimmen darin überein, dass es bei solchen Interventionen um den Schutz von Personen vor Verletzung ihrer grundlegenden Menschenrechte geht. Die meisten von ihnen gehen auch davon aus, dass es dabei um einen Kernbereich der Menschenrechte geht, der die Rechte auf Leben, Freiheit und körperliche Unversehrtheit umfasst.9 Zwar vermeidet die völkerrechtliche Konzeption der Responsibility to Protect in ihrer Rechtfertigung von Interventionen den direkten Verweis auf das Konzept der Menschenrechte und damit ein menschenrechtliches Vokabular und schlägt als legitime Gründe für Schutzinterventionen stattdessen konkret die Fälle Völkermord, Kriegsverbrechen, ethnische Säuberungen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit vor, aber auch diese lassen sich problemlos im Vokabular grundlegender Menschenrechte formulieren. Klassischerweise geht es in der Theorie des gerechten Krieges bei der Bestimmung des ius ad bellum (besonders hinsichtlich der causa iusta) zunächst einmal um Rechtsansprüche von Staaten und auch im klassischen Völkerrecht kommt lange Zeit allein Staaten der Status eines Völkerrechtssubjektes zu (vgl. Kokott 1999, S. 177f.). Doch zugleich zeigt der Blick in die Ideengeschichte auch, dass in der Theorie des gerechten Krieges schon früh der Schutz von Einzelpersonen und die Berücksichtigung individueller Rechte eine Rolle bei der Rechtfertigung des Einsatzes militärischer Gewalt gespielt haben.10 Zudem spielten häufig die Ansprüche Einzelner gegenüber ihren Herrschern im Falle von Tyrannei eine zen-
9 Vgl. oben, Einleitung. 10 Hier kann fast die gesamte Tradition der Theorie des gerechten Krieges vom 16.–18. Jahrhundert als Beispiel gelten. Über den Schutz von Einzelpersonen hinaus wird der Schutz vor Verletzung grundlegender individueller Rechte bei Vitoria explizit als gerechter Grund für den Einsatz militärischer Gewalt genannt.
2 Das Souveränitätsdilemma
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trale Rolle für die Rechtfertigung des Einsatzes militärischer Gewalt von außen gegen den Herrscher eines solchen Gemeinwesens, allerdings ohne, dass eine Bestimmung des Rechtsgrundes für den legitimen Einsatz militärischer Gewalt in einer Terminologie subjektiver Rechte vorlag. Wenn man für die Rechtfertigung des Einsatzes militärischer Gewalt unter gegenwärtigen Bedingungen auch die Dimension individueller Ansprüche berücksichtigen will, ist hierfür eine Anknüpfung an die Sprache der Menschenrechte angemessen, da diese heute den begrifflichen Rahmen für eine Beschreibung und Kritik der Verletzung grundlegender individueller Ansprüche darstellt. Vor dem Hintergrund historischer Unrechtserfahrungen geben sie – wie es Heiner Bielefeldt nennt – „eine spezifisch moderne Antwort auf solche Erfahrungen, indem sie einklagbare Rechtspositionen schaffen, die in Anerkennung der Würde und Freiheit jedes Menschen Möglichkeiten zur effektiven Abhilfe gegen drohendes oder geschehenes Unrecht bereitstellen sollen“ (Bielefeld 2006, S. 138).11 Damit wird auch deutlich, dass sich die Einsicht in die Notwendigkeit einer normativen Qualifikation von Herrschaft, welche das Verständnis legitimer Herrschaft durch die gesamte Theoriegeschichte hindurch prägt, ebenso wie diese Qualifikation selbst heute am besten im Vokabular der Menschenrechte ausdrücken lässt. Zudem gibt es gegenwärtig einen weitreichenden Konsens darüber, dass es einen Kern grundlegender Rechte des Menschen, wie die Rechte auf Leben, Freiheit und körperliche Unversehrtheit, gibt, die für jeden Menschen aufgrund seines Menschseins als moralisches Recht egalitär, universell, individuell und kategorisch gelten sollen.12 In der juridischen Fassung als Menschenrechte in Staatsverfassungen oder auch in internationalen Rechtstexten sind diese ursprünglich moralischen Ansprüche heute auch sehr weit verbreitet als tatsächliche positive Rechtsansprüche kodifiziert und anerkannt.13
11 Menschenrechte bilden demnach „einen modernen Ansatz, politische Gerechtigkeit zu artikulieren und institutionell wirksam auszugestalten“ (Bielefeld 2006, S. 138). 12 Zu den begrifflichen Bestimmungen der Menschenrechte in diesem Sinne vgl. Lohmann 1998, S. 63–67. 13 Dass sich die Anerkennung basaler individueller Rechte im Rechtsverständnis nahezu aller Kulturen wiederfindet und meist auch in strafrechtlichen Kontexten kodifiziert ist, wird von Höffe nachdrücklich betont. Vgl. dazu etwa Höffe 1996, S. 22. Dass eine Berufung auf den Schutz der Menschenrechte als Interventionsgrund nicht leichtfertig unter Rückgriff auf den Vorwurf eines westlichen Perspektivismus verneint werden kann, stellt Quante unter Verweis auf die breite Anerkennung der Menschenrechte auf der Ebene des Rechts deutlich heraus: Es „haben sich nahezu alle Staaten dieser Erde zu den Menschenrechten bekannt und sich zu ihrer Durchsetzung und Verteidigung verpflichtet. Die Vorstellung, die Verteidigung oder Wiederherstellung dieser Menschenrechte durch den Einsatz kriegerischer Mittel sei unter bestimmten Umständen ethisch legitim, lässt sich daher wohl kaum auf unseren westlichen Kulturkreis begrenzen“ (Quante 2003, S. 9f.).
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Teil II Das Problem der „humanitären Intervention“ aus gegenwärtiger Perspektive
Aus der Auffassung, dass die Gewährung der Menschenrechte ein fundamentales Gut für Menschen ist, ergibt sich, dass sie einen besonderen Schutz verdienen. Im einzelnen Staat ist der ihn legitimierende Auftrag ihr Schutz, weshalb ihre Einschränkung einer besonderen Rechtfertigung bedarf. So ist etwa die Tötung eines Menschen nur im Falle der Notwehr erlaubt und nur der Staat, nicht aber seine Bürger als Privatpersonen verfügen über legitime physische Gewaltmittel.14 Doch es kommt dem Staat hier eine doppelte Rolle zu, denn er ist zugleich potentieller Garant wie auch potentieller Bedroher der Menschenrechte (vgl. Arendt 2008, S. 559–564). Vor allem die historische Erfahrung zeigt, dass der Staat, dessen Machtmittel allein geeignet sind, die natürlichen Rechte des Menschen in der Gesellschaft zu verwirklichen, sich zugleich als die Hauptbedrohung der Menschenrechte erwiesen hat (Menke/Pollmann 2007, S. 19).
Mit Blick auf die Innenperspektive eines Gemeinwesens zeigt die Theorie des Widerstandsrechtes, dass eine Verteidigung gegen Verletzungen der grundlegenden Menschenrechte für die Individuen auch gegen den Staat erlaubt sein muss. Dahinter steht die Vorstellung, dass der Staat nicht Selbstzweck oder an sich wertvoll ist, sondern seine Legitimation gerade durch seine Funktion als Garant der individuellen Rechte seiner Bürger erfährt.15 Deshalb stellen die Menschenrechte aus der Binnenperspektive eines Gemeinwesens das zentral zu schützende Rechtsgut dar und die diesem Verständnis zugrundeliegenden Normen sind auch ins Völkerrecht übersetzt, so dass die Menschenrechte auch auf dieser Ebene den Kern der zu schützenden Ansprüche von Personen formulieren.16 Da der Schutz der Menschenrechte primär Aufgabe des je einzelnen Staates ist, kann anderen Staaten oder der Staatengemeinschaft ein möglicher Schutzauftrag allenfalls sekundär zukommen, nämlich dann, wenn ein Staat seinen Auftrag die Menschenrechte zu garantieren und zu schützen nicht erfüllt, sei es, weil er es nicht will, sei es, weil er es nicht kann. Genau in solchen Fällen stellt sich schließlich die Frage danach, ob der Einsatz militärischer Gewalt von außen zum Schutz der Bürger
14 In vielen Staaten kommt dem Staat ein juridisches Recht zur Tötung zu Strafzwecken zu, auf die Diskussion um die Rechtfertigung der Todesstrafe soll hier aber nicht eingegangen werden. Die kontroverse Diskussion dieser Frage zeigt aber die Probleme, die hinsichtlich einer Rechtfertigung der Todesstrafe aus menschenrechtlicher Perspektive besonders deutlich erkennbar werden. 15 Dies ist die moderne Vorstellung der Aufgabe des Staates. Der Blick in die Ideengeschichte, der hier vorgenommen wurde, zeigt, dass sich Vorstellungen eines Schutzauftrages des Staates für seine Bürger (mit wenigen Ausnahmen) sowohl durch das Herrschaftsverständnis wie auch durch die politische und Rechtstheorie der europäischen Geschichte ziehen. 16 Zu den Prinzipien des menschenrechtlichen Selbstverständnisses der Vereinten Nationen vgl. UN-Charta, Art. 1, Abs. 3. Zum Schutz der Menschenrechte im Völkerrecht vgl. Kokott 1999.
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eines fremden Staates vor Verletzung ihrer grundlegenden Menschenrechte gerechtfertigt werden kann. Aufgrund des grundsätzlichen Selbstbestimmungsrechts der Staaten17 – das aber keinen Selbstzweckcharakter hat, sondern normativ an die Ermöglichung der Freiheit der Mitglieder der Gesellschaft zurückgebunden ist – und aufgrund der Inkaufnahme von Opfern, die mit einer militärischen Schutzintervention verbunden ist, kann der Einsatz militärischer Gewalt zum Schutz vor Menschenrechtsverletzungen aber, wenn überhaupt, nur für einen Kernbereich von Menschenrechten plausibel begründet werden – dies ergibt sich vor dem Hintergrund der Kriterien der Theorie des Gerechten Krieges schon aus dem Prinzip der Verhältnismäßigkeit, denn es ist kaum plausibel anzunehmen, dass Menschenrechtsverletzungen, die nicht massiv sind, den Einsatz militärischer Gewalt, der mit moralisch problematischen Nebenfolgen verbunden ist, rechtfertigen können. Dieser Kernbereich der Menschenrechte umfasst die Rechte auf Leben, Freiheit und körperliche Unversehrtheit, die in Anlehnung an die historische Entwicklung der Menschenrechte häufig als Menschenrechte der ersten Generation bezeichnet werden.18 Bezüglich des Verständnisses der Legitimität des Einsatzes militärischer Gewalt, wie ihm in der Theorie des Gerechten Krieges in verschiedenen Varianten Ausdruck verliehen wurde, zieht sich durch die Geschichte der Theoriebildung der Grundsatz, dass der Einsatz militärischer Gewalt im Rahmen einer anspruchsvollen Rechtfertigung nur dann als legitim gelten kann, wenn ihm eine Rechtsverletzung vorausgegangen ist. Der Krieg beziehungsweise der Einsatz militärischer Gewalt ist nach diesem bis in die Antike zurückzuverfolgenden Verständnis kein Akt der Willkür, sondern ein Rechtsgang.19 Ein klassischer Fall einer solchen Rechtsverletzung ist etwa ein aggressiver Angriff gegen einen Staat, bei welchem dem angegriffenen Staat ein legitimes Recht zur Selbstverteidigung zukommt. Ob auch die Verletzung grundlegender individueller Rechte in diese Kategorie von Rechtsverletzungen fällt, die den Einsatz militärischer Gewalt rechtfertigen können, ist dagegen umstritten. In der historischen Diskussion der Theorie des Gerechten Krieges taucht die Verletzung individueller Rechte der Mitglieder eines fremden Gemeinwesens als gerechter Grund für den legitimen Einsatz militärischer Gewalt zuerst bei Francisco de Vitoria auf.20 Es ist aber mit Blick auf die gegenwärtige Diskussion die entscheidende Frage, ob die Verletzung der grundle-
17 Zum Selbstbestimmungsrecht der Völker, das in der Praxis der Vereinten Nationen ein Selbstbestimmungsrecht der Staaten ist, vgl. UN-Charta, Art. 1, Abs. 2. 18 Vgl. oben, Einl., FN 1. 19 Vgl. dazu oben, I, 1. 20 Vgl. oben, I, 2.2.
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genden Menschenrechte auf Leben, Freiheit und körperliche Unversehrtheit der Bürger eines fremden Staates eine solche Rechtsverletzung darstellen, die eine Intervention aus Sicht des ius ad bellum als gerechtfertigt gelten lässt. An dieser Stelle lässt sich die Analogie zwischen Widerstandsrecht und Interventionsrecht, die in der Rekonstruktion der ideengeschichtlichen Positionen freigelegt wurde, auf die systematische Spannung in der gegenwärtigen Interventionsdebatte übertragen. Es sind nach den klassischen Kriterien des Widerstandsrechts – in ‚modernem‘ Vokabular formuliert – gerade solche Fälle der massiven und systematischen Verletzung grundlegender Menschenrechte, die gewaltsamen Widerstand und damit die Nichtanerkennung moralisch erodierter Souveränität von innen erlauben. Die Übertragung auf den Interventionsfall besteht nun darin, dass im Fall des legitimen Widerstandes von innen, der die Auflösung der Legitimität einer Regierung zeigt, die Ablehnung einer Intervention von außen zumindest nicht mehr unter Rückgriff auf das Souveränitätsprinzip und dessen Achtung gerechtfertigt werden kann, weil die Schutzwürdigkeit des Souveränitätsprinzips und das aus diesem Prinzip resultierende Einmischungsverbot zumindest an der minimalen Legitimität einer Regierung hängen. Massive Menschenrechtsverletzungen, welche die Bevölkerung eines Staates zum gewaltsamen Widerstand berechtigen, könnten dementsprechend auch als gerechter Grund für eine Schutzintervention in der Theorie des gerechten Krieges verstanden werden. Aus einem universalistischen Verständnis des Anspruches der Menschenrechte, der sich aus ihrem Begriff ebenso ergibt wie ihre Schutzwürdigkeit, resultiert, wenn man den Schutzauftrag des Staates bezüglich der Garantie der Menschenrechte ernst nimmt, auch eine prinzipielle Berechtigung, dass andere Institutionen, wie etwa die Vereinten Nationen, diesen Auftrag wahrnehmen können, wenn der Staat selbst darin versagt. Die Sprache der Menschenrechte bildet hier sicherlich eine geeignete Möglichkeit, die Schutzdimension grundlegender individueller Ansprüche einzuholen.21 Was aber lässt sich gegen den Skeptiker bezüglich des Geltungsanspruches der Menschenrechte einwenden, der gerade im Kontext der Interventionsdiskussion behauptet, dass Interventionen zum Schutz der Menschenrechte letztlich kulturimperialistische Aktionen zur Verbreitung eines westlichen Weltbildes seien?22 Natürlich muss ein solcher Einwand zum einen Warnung und Appell
21 Das ist auch mit Blick auf die völkerrechtliche Anschlussfähigkeit einer philosophischen Auseinandersetzung mit dieser Frage einleuchtend, da diese Ansprüche in den juridischen Fassungen der Menschenrechte positiviert sind. 22 Zu derartigen Vorwürfen vgl. Habermas 1999, S. 217ff.
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sein, bei der Rechtfertigung von Interventionen gründlich zu unterscheiden, ob es sich im konkreten Fall tatsächlich um eine Aktion zum Schutz grundlegender individueller Rechte handelt, um eine militärische Intervention zur Etablierung einer bestimmten politischen Ordnung, oder um eine bloß interessenmotivierte Aktion, die möglicherweise durch die Berufung auf den Schutz der Menschenrechte als Interventionsgrund bloß verschleiert werden soll.23 Zum anderen fordert der Einwand zumindest dazu heraus mehr zur Begründung des Geltungsanspruches der Menschenrechte zu sagen, als bloß auf deren faktische Anerkennung durch fast alle Staaten zu verweisen. Denn die Gründe für diese faktische Anerkennung liegen offensichtlich nicht immer in der Einsicht in die Richtigkeit oder den moralischen Geltungsanspruch24 der in den Menschenrechten formulierten Ansprüche, sondern häufig vor allem im strategischen Kalkül von Staaten, so dass tatsächlich etwas dazu gesagt werden sollte, warum diese Rechte gelten und deshalb im Falle ihrer massiven und systematischen Bedrohung auch geschützt werden sollen. Dazu bedarf es allerdings keiner philosophischen Letztbegründung des Geltungsanspruches der Menschenrechte. Vielmehr genügt es zu zeigen, dass ihr Geltungsanspruch vor dem Hintergrund unserer sozialen Praxis, unserer Wertungen, sowie vor dem Hintergrund unserer Intuitionen und historischen Erfahrungen als wohl begründet gelten kann.25 Der Geltungsanspruch der Menschenrechte muss also, wenn er angezweifelt wird, mit guten Gründen und Argumenten eingelöst werden können. Dabei spricht die weitgehende Anerkennung der Menschenrechte auf ganz unterschiedlichen Ebenen und aus unterschiedlichen Ressourcen allerdings dafür, dass die Beweislast zu zeigen, dass die Menschenrechte nicht gelten oder nicht gelten sollen, beim Skeptiker bezüglich der Geltung der Menschenrechte liegt.26 Versteht man die Geschichte der Menschenrechte dann, wie Bielefeldt vorschlägt, vor dem Hintergrund historischer Unrechtserfahrungen als Lerngeschichte, kann auch eine mögliche Weiterentwicklung des Menschenrechts-
23 Gegenwärtig ist hier häufig von sogenannten „regime-change-wars“ die Rede, die aber nicht unter die Kategorie militärischer Interventionen zum Schutz grundlegender Menschenrechte fallen. Historische Fälle sind die oben diskutierten Zivilisierungsinterventionen. 24 Dass die Menschenrechte sich grundsätzlich in der Rolle als Rechtsansprüche und als moralische Ansprüche befinden, stellt Habermas unter Rückgriff auf das Bild von der Janusköpfigkeit der Menschenrechte deutlich heraus. Der Moral kommt dabei immer eine kritische Funktion hinsichtlich der Beurteilung des positiven Rechts zu. Vgl. Habermas 1999, S. 216. 25 Auf einem solchen Spektrum kann man sowohl Begründungstheorien mit einem weitgehenden Begründungsanspruch wie etwa die diskurstheoretische Rechtsbegründung von Habermas anbringen als auch die pragmatische „Begründung“ der Menschenrechte in einem rortyschen Sinne. Vgl. Habermas 1998, bes. S. 112–135; Rorty 1996. 26 Zur verbreiteten Anerkennung grundlegender Menschenrechte siehe etwa Höffe 1996, S. 22.
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schutzes im Völkerrecht, die, wie die Konzeption der Responsibility to Protect vorschlägt, zu einem völkerrechtlichen Interventionsrecht zum Schutz der Menschenrechte führen könnte, vor dem Hintergrund historischer Unrechtserfahrungen verstanden werden. Es ist gerade die historische Erfahrung von Unrecht, das Menschen zugefügt wurde, die uns heute keine guten Argumente für eine Ablehnung des Geltungsanspruches grundlegender Menschenrechte mehr vorstellen lässt (vgl. Siep 2004, S. 166). Im Prozess dieser historischen Erfahrungen wurden bestimmte Werte wie die Rechte auf Leben, Freiheit und körperliche Unversehrtheit, aber auch viele andere, in einem weiteren Prozess in der Sprache der Menschenrechte artikuliert. Bis hierher wurde dafür argumentiert, dass eine Verletzung grundlegender Menschenrechte einen geeigneten Kandidaten zur Bestimmung der causa iusta einer Schutzintervention darstellt. Was ergibt sich aus dem bislang Gesagten nun für die Beurteilung des Souveränitätsdilemmas? Dass ein berechtigter Anspruch auf Souveränität an einem normativen Maßstab bemessen werden können muss, lässt sich auf ein gehaltvolles Verständnis von Herrschaft und Souveränität selbst zurückführen.27 Im ersten Teil dieser Arbeit wurde dies mit Blick auf die historische Genese der normativen Bewertung von Herrschaft sowohl hinsichtlich ihrer Beurteilung aus der Binnenperspektive eines Gemeinwesens als auch aus einer Perspektive von außen gezeigt. Aus der Binnenperspektive zeigt das Verständnis der Legitimität von Widerstand gegen Herrscher oder eine Regierung, welche die grundlegenden Menschenrechte ihrer Bürger verletzen, die normative Bewertbarkeit von Herrschaft und damit auch von Souveränität sowie mögliche Konsequenzen, die sich daraus ergeben können, besonders deutlich auf.28 Dass eine normative Bewertung der Souveränität von Staaten auch aus einer Außenperspektive möglich ist, zeigt historisch die Entwicklung von Interventionsargumenten, die durch den Schutz des Einzelnen vor dem Erleiden von Unrecht durch den Staat begründet sind. Darin wird ein doppeltes Verständnis eines Schutzauftrages von Herrschern und Staaten sichtbar. In ähnlicher Form, wie heute in der Begründung der Responsibility to Protect
27 Zur Bedeutung der Einholung der historischen Bedeutungsebene für eine solche Beurteilung vgl. Siep 2004, S. 100–123, 160–173. 28 Nach den Erfahrungen der Nazi-Diktatur wird diese Einsicht von Gustav Radbruch formuliert und als Radbruch-Prinzip oder Radbruchsche Formel bekannt: „Der Konflikt zwischen Gerechtigkeit und Rechtssicherheit dürfte dahin zu lösen sein, daß das positive, durch Satzung und Macht gesicherte Recht auch dann den Vorrang hat, wenn es inhaltlich ungerecht und unzweckmäßig ist, es sei denn, daß der Widerspruch des positiven Gesetzes zur Gerechtigkeit ein so unerträgliches Maß erreicht hat, daß das Gesetz als ‚unrichtiges Recht‘ der Gerechtigkeit zu weichen hat“ (Radbruch 1946, S. 105).
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argumentiert wird, besteht demnach eine primäre Verantwortung der einzelnen Staaten für die Garantie des Schutzes grundlegender Rechte der eigenen Bürger. Darüber hinaus werden politische Gemeinwesen bzw. deren Herrscher aber auch historisch schon als sekundär verantwortlich für den Schutz der Mitglieder fremder Gemeinwesen verstanden, wenn deren Herrscher oder Regierungen ihrem Auftrag zum Schutz grundlegender Rechte nicht nachkommen. Diese Erkenntnisse aus der Analyse historischer Interventionspositionen und Überlegungen zum Widerstandsrecht lassen sich mit Blick auf die gegenwärtige Debatte mit der Sprache der Menschenrechte verbinden. Zur Realisierung dieser Schutzansprüche ist heute eine Weiterentwicklung des Völkerrechts und seiner Institutionen unverzichtbar, die einen Vorrang des Schutzes grundlegender Menschenrechte vor dem positivrechtlichen Prinzip staatlicher Souveränität garantiert.29 Es passt nicht zu unserem grundlegenden Verständnis des Rechts, dass ausgerechnet im Verhältnis zwischen den Staaten ein positives Recht gelten soll, das nicht vom Begriff der Gerechtigkeit her bewertet werden kann. Zudem wird eine internationale Ordnung, die den Schutz der grundlegenden Rechte der Menschen nicht garantieren kann und stattdessen Staaten bloß aufgrund ihrer faktischen Macht uneingeschränkten Schutz gewährt, vermutlich auf Dauer keine Anerkennung als legitime Ordnung erfahren. Dass die Souveränität von Staaten in der gegenwärtigen völkerrechtlichen Praxis vor allem auf einer solchen Grundlage faktischer Gewalt beruht und nicht substantiell an eine normative Dimension gebunden ist, erklärt sich aus der Entstehungsgeschichte der gegenwärtigen völkerrechtlichen Institutionen. In erster Linie ist das Völkerrecht Gewohnheits- und in Teilen Vertragsrecht und damit ist dessen faktische Geltung zunächst an seine Genese und damit an die Zustimmung einzelner Staaten als Vertragspartner gebunden. Zudem geht die Zusammensetzung der wichtigen Gremien wie etwa des Weltsicherheitsrates vor allem auf die Machtverhältnisse nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges zurück.30 Die ursprüngliche Intention beim Aufbau der Vereinten Nationen war es schließlich, ein stabiles Friedenssystem zu etablieren, weshalb für den Beitritt zu den Vereinten Nationen an Staaten keine Bedingungen hinsichtlich ihrer Herrschaftsform gestellt wurden.31 Allerdings ergibt sich hieraus letztlich auch, dass auf dieser
29 Zu den Möglichkeiten einer Weiterentwicklung des Völkerrechts aus philosophischer Perspektive vgl. Habermas 2004. 30 Zur Geschichte der Vereinten Nationen vgl. Kennedy 2006. Hier insbesondere S. 71ff. 31 Natürlich ist hierfür die Anerkennung als Staat durch die Staatengemeinschaft vorausgesetzt, aber auch hier gelten keine rechtlich definierten Minimalstandards und die Motivation zur Anerkennung ist in der Regel keine moralische, sondern eine strategische, d.h. interessenmotivierte.
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Ebene jeder das Prinzip völkerrechtlicher Souveränität beanspruchen kann, der über das faktische Gewaltmonopol innerhalb eines Staates verfügt. Warum aber ein Herrscher oder eine Regierung, die allein aufgrund ihrer faktischen Macht über die Herrschaftsgewalt innerhalb eines Staatsgebietes verfügen, ohne die Erfüllung minimaler normativer Standards in den Genuss der Schutzansprüche kommen soll, die sich aus dem Prinzip staatlicher Souveränität ergeben, ist kaum einzusehen.32 Ein differenzierteres Verständnis von Souveränität lässt sich dagegen erreichen, wenn die Bindung des Souveränitätsbegriffs an die Vorstellung eines Selbstbestimmungsrechts der Völker, die sich auch im positiven Völkerrecht findet, berücksichtigt wird, in der das Selbstbestimmungsrecht selbst als menschenrechtlich fundiert verstanden wird.33 Unter Berücksichtigung dieses Zusammenhanges ist schließlich eine Auflösung der Spannung zwischen dem Prinzip des Menschenrechtsschutzes und dem der staatlichen Souveränität möglich. Geht man davon aus, dass das Souveränitätsprinzip das Selbstbestimmungsrecht der Völker schützen soll, und zugleich davon, dass die Garantie der grundlegenden Menschenrechte der Bürger eine Voraussetzung für deren politische Selbstbestimmung ist, lässt sich von einer tyrannischen Regierung der Respekt vor dem Selbstbestimmungsrecht nach außen, der seinen Ausdruck im Einmischungsverbot findet, nicht glaubhaft einfordern, wenn die Bedingungen der Selbstbestimmung des Gemeinwesens nach innen aufgrund massiver Verletzungen grundlegender Menschenrechte der Bürger nicht gewährt sind. Eine Berufung auf das Prinzip staatlicher Souveränität zur Ablehnung einer Intervention kann kaum als konsistent gelten, wenn massive und systematische Verletzungen der Menschenrechte der Mitglieder des Gemeinwesens deren Selbstbestimmung völlig unmöglich machen. Unter Rückgriff auf das Prinzip der Selbstbestimmung einer politischen Gemeinschaft sind die Grenzen der Reichweite des Souveränitätsbegriffs so deutlich zu bestimmen, denn ein Herrscher oder eine Regierung können ein solches Selbstbestimmungsrecht, das letztlich auf die grundlegenden Rechte
32 Besonders deutlich herausgestellt wird das Problem der Anerkennung von faktischen Inhabern des Gewaltmonopols innerhalb eines Territoriums als souveräne Herrscher in Thomas Pogges Auseinandersetzung mit dem Problem der Weltarmut und ihren institutionellen Ursachen. Dabei zeigt Pogge am Beispiel des Rohstoffprivilegs, nach dem die Inhaber des Gewaltmonopols innerhalb eines Territoriums international ohne Weiteres als legitime Verhandlungspartner etwa bezüglich des Handels mit Rohstoffen anerkannt werden, die gängige Praxis der Anerkennung von Inhabern des Gewaltmonopols als Souveräne unabhängig von minimalen Bedingungen ihrer Legitimität innerhalb des Gemeinwesens auf. Vgl. dazu Pogge 2007. 33 Thematisiert wird dieser Zusammenhang in der gegenwärtigen Debatte etwa bei Schramme (vgl. Schramme 2001, S. 107f.) und Kersting (vgl. Kersting 2000, S. 198–204).
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der Individuen zurückgeführt werden muss, selbst verletzen, indem sie die Selbstbestimmung des Gemeinwesens unmöglich machen. Dass es gerade vor diesem Hintergrund des Prinzips der Selbstbestimmung eines Gemeinwesens möglich ist die Bedrohung grundlegender Rechte als Unrecht einsichtig zu machen, und zwar ohne alle Skeptiker bezüglich der Begründung des Geltungsanspruchs der Menschenrechte zu überzeugen, bringt Thomas Schramme auf eine prägnante Formel: „Aber um diese Bedrohung an Leib und Leben als Unrecht anzusehen, bedarf es keiner ,westlichen‘ Interpretation. Es reicht ein Standpunkt minimaler Menschlichkeit. Wer das bestreitet, begeht normativen Selbstmord“ (Schramme 2001, S. 107). Gerade im Bild des normativen Selbstmordes wird die Inkonsistenz der Argumentation von Vertretern einer Position deutlich, die Interventionen zum Schutz der Menschenrechte unter Verweis auf ein kategorisch geltendes Prinzip staatlicher Souveränität ablehnen: Wer sich auf das Prinzip der Selbstbestimmung eines Volkes beruft und damit eine Praxis rechtfertigt oder schützt, die aufgrund massiver und systematischer Verletzung grundlegender Menschenrechte das Erreichen eben dieses Zieles verhindert, vertritt eine inkonsistente Position. Aus dem Verweis auf das Selbstbestimmungsrecht ergibt sich ein Einmischungsverbot eben nur dann, wenn die minimalen Bedingungen der Selbstbestimmung auch garantiert sind, nicht aber dann, wenn grundlegende Menschenrechte massiv und systematisch verletzt werden und damit die Grundlagen der Selbstbestimmung zerstört sind. In der Formulierung „normative[r] Selbstmord“ deutet sich dabei die Evidenz an, die die normativen Grenzen der positivrechtlichen Souveränität von Staaten für uns vor dem Hintergrund der historischen Entwicklung eines normativ gehaltvollen Verständnisses von Souveränität haben. Durch die Ideengeschichte zieht sich diese Auffassung auch in dem Verständnis, dass der Auftrag von Herrschern und Regierungen im Schutz der grundlegenden Rechte ihrer Bürger besteht. Gerade die Erfüllung dieses Auftrages ist eine wichtige Quelle ihrer Legitimität.34 Da das Souveränitätsprinzip auch in seiner völkerrechtlichen Formulierung im Werterahmen der grundlegenden Menschenrechte verankert ist, kann sich eine Berufung auf dasselbe einer normativen Beurteilung nicht entziehen.35 Wenn sich also das Konzept staatlicher Souveränität auch auf völkerrechtlicher Ebene ohne normative Qualifizierung nicht sinnvoll verstehen lässt, ist nun die Frage zu beantworten, wann genau der Schutz der Menschenrechte den
34 Auf den Punkt bringt dieses Verständnis Gentilis, der herausstellt, „dass Königreiche nicht für Könige gemacht wurden, sondern Könige für ihre Königtümer“ (Gentilis, De jure belli, I, XVI, Übersetzung S.L.). Vgl. dazu oben, I, 3.2. 35 Warum Souveränität kein Selbstzweck ist, wird auch von Schmücker 2000, S. 331ff. deutlich herausgestellt.
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Schutz staatlicher Souveränität überwiegen kann. Dass nicht alle Arten von Menschenrechtsverletzungen einen Grund für den Einsatz militärischer Gewalt darstellen können, ergibt sich schon aus dem Prinzip der Verhältnismäßigkeit. Zwar erfordern auch Verletzungen von Menschenrechten der zweiten und dritten Generation Konsequenzen, wie etwa den Aufbau diplomatischen Drucks, der Einsatz militärischer Gewalt zum Schutz vor Menschenrechtsverletzungen erscheint aber aufgrund der mit ihm verbundenen Risiken nach dem Kriterium der Verhältnismäßigkeit allein bei massiver und systematischer Verletzung der grundlegenden Menschenrechte auf Leben, Freiheit und körperliche Unversehrtheit – und auch hier nur als letztes Mittel – angemessen. Wie aber lässt sich das Kriterium der massiven Verletzung von Menschenrechten genau bestimmen? Die Massivität der Menschenrechtsverletzungen, die für den Einsatz militärischer Gewalt ausschlaggebend ist, kann schließlich nicht in dem Sinne quantifiziert werden, dass sich präzise berechnen lässt, wann eine Intervention begonnen werden darf. Vielmehr kommt es hier auf die Beurteilung des konkreten Falles an, zu dessen Beurteilung sich immerhin Kriterien formulieren lassen. Differenziert werden muss dabei allerdings hinsichtlich der Schwere der Rechtsverletzung, denn nicht jede Verletzung individueller Rechte kann einen gerechten Grund für den Einsatz militärischer Gewalt darstellen.36 Selbst die willkürliche Tötung einer einzelnen Person auch durch Vertreter des Staates bleibt zunächst einmal ein Fall für die Justiz des je einzelnen Staates. Erst die massive und systematische Verletzung grundlegender Menschenrechte stellt einen gerechten Grund für den Einsatz militärischer Gewalt dar. Wann dieses abstrakt formulierte Kriterium erfüllt ist, kann nur im Einzelfall unter Berücksichtigung vieler empirischer und fallspezifischer Details beurteilt werden:37 das Urteil über Vorliegen oder Nicht-Vorliegen eines gerechten Grundes muss dann von den handelnden Personen und Institutionen gefällt und verantwortet werden. Wie könnten konkrete Kriterien für eine solche Fallbeurteilung aussehen (vgl. dazu auch Hinsch/Janssen 2006, S. 85f.)? Von besonderer Bedeutung ist sicherlich die Massivität der Menschenrechtsverletzungen, die sich darin erkennen lässt, dass nicht die Menschenrechte einiger, sondern vieler Mitglieder des
36 John Rawls unterscheidet in seiner späten Schrift über Das Recht der Völker zwischen liberalen Völkern, deren politische Ordnung als legitim in einem anspruchsvollen Sinne gelten kann, und achtbaren Völkern, die die Menschenrechte zwar nicht in vollem Umfang achten und realisieren, deren politische Ordnung aber dennoch akzeptiert werden kann. Interventionen gegen solche Völker aufgrund von „leichten“ Menschenrechtsverletzungen sind deshalb nach Auffassung Rawls’ nicht zu rechtfertigen. Erlaubt sind Interventionen nur bei schweren Menschenrechtsverletzungen. Vgl. Rawls, 2002, S. 71–76, 98f. 37 Vgl. dazu die unten in diesem Kap. entwickelten Kriterien.
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Gemeinwesens verletzt werden. Als systematisch können massive Menschenrechtsverletzungen dann bezeichnet werden, wenn sie erkennbar gezielt gegen bestimmte Personen und Gruppierungen eingesetzt werden und durch bestimmte Gruppierungen gesteuert werden, also dann, wenn sich hinter ihnen eine deutliche Absicht etwa im Extremfall zur Vernichtung einer bestimmten ethnischen oder politischen Gruppierung erkennen lässt.38 Die Menschenrechtsverletzungen, von denen bis hierher die Rede war, zeichnen sich durch aktive Handlungen und Rechtsverletzungen durch den Staat oder Vertreter einer Regierung aus. Einen besonderen Fall stellen darüber hinaus Situationen dar, in denen die Menschenrechtsverletzungen nicht durch den aktiven Einsatz von Gewalt sichtbar werden. Zum einen ist dies dann der Fall, wenn eine Regierung schwere Menschenrechtsverletzungen toleriert, zum anderen dann, wenn eine Regierung in Notsituationen untätig bleibt und Nothilfeverpflichtungen den Bürgern gegenüber nicht erfüllt. Letzteres ist beispielsweise in Situationen der Fall, in denen die Regierung eines Staates seinen Bürgern in massiven Notsituationen etwa die Versorgung mit Hilfsgütern und Nahrungsmitteln verweigert, die für ihr Überleben unverzichtbar sind.39 Hier stellt sich die Frage, ob in solchen Fällen die Verhinderung der Wiederherstellung grundlegender Existenzbedingungen, die einen indirekten Angriff auf die Menschenrechte darstellt, auch einen gerechten Grund für eine militärische Intervention darstellen kann. Es erscheint mir plausibel, dass eine massive Verletzung grundlegender Menschenrechte durch Unterlassen in solchen Fällen auch als Vorliegen eines gerechten Grundes für eine Einmischung von außen interpretiert werden kann. Zur Bestimmung des Falles, in dem die Legitimität der Souveränität eines Staates so weit erodiert ist, dass eine Intervention von außen grundsätzlich rechtfertigbar ist, kann an die Theorie des Widerstandsrechtes in ihrer menschenrechtlichen Variante angeknüpft werden, und auch hinsichtlich der genauen Bestimmung des gerechten Interventionsfalles kann an die Kriterien aus der Theorie des Widerstandsrechtes angschlossen werden. Demnach liegt eine legitimer Interventionsfall genau dann vor, wenn Mitglieder des Gemeinwesens ein (moralisches) Recht auf gewaltsamen Widerstand haben, so dass Schutzinterventionen gewissermaßen als Aktionen stellvertretenden Widerstandes gelten können.40
38 Einen weiteren Fall systematischer Menschenrechtsverletzungen stellt häufig auch der gezielte Einsatz sexueller Gewalt gegen Mitglieder bestimmter Gruppierungen dar. Völkerrechtlich geächtet wurde der strategische Einsatz sexueller Gewalt erst im Jahr 2008 in der UN-Sicherheitsratsresolution 1820. 39 So geschehen etwa in Burma nach einer schweren Naturkatastrophe im Jahr 2008. 40 Im Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland findet sich der besondere Fall eines rechtliche verbrieften Widerstandsrechts (Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland, Artikel 20,4).
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Diese These, die für das in dieser Arbeit entwickelte Verständnis der Legitimität militärischer Interventionen zum Schutz der Menschenrechte zentral ist, ergibt sich im Anschluss an die Analyse der theoriegeschichtlichen Positionen. Eine Berechtigung zur Intervention zum Schutz der Mitglieder eines fremden Gemeinwesens vor massiven und systematischen Verletzungen ihrer Menschenrechte kann dabei in folgender Weise verstanden werden: Der Anschluss an eine menschenrechtlich begründete Theorie des Widerstandsrechts erlaubt eine allgemeine Bestimmung des Verhältnisses zwischen dem Prinzip staatlicher Souveränität und dem des Menschenrechtsschutzes. So wie die Legitimität von Herrschaft und damit auch der berechtigte Anspruch auf Souveränität im Falle des legitimen Widerstandes aus der Binnenperspektive einer Gesellschaft nicht mehr besteht, zerfällt in diesem Fall auch die moralische Grundlage der Souveränität und des sich aus ihr ergebenden Einmischungsverbotes nach außen. Die Bestimmung des Vorliegens des gerechten Interventionsfalles kann dann im Anschluss an die Kriterien zur Bestimmung des gerechten Widerstandsfalles folgendermaßen genauer bestimmt werden: Schwere der Verbrechen: Nur massives Unrecht seitens der Regierung41 stellt einen gerechten Widerstands- oder Interventionsgrund dar. Dieses lässt sich zum einen an der Schwere der Verbrechen erkennen (in den historischen Positionen werden hier besondere Grausamkeit und Unmenschlichkeit genannt – Locke, Bodin, Gentilis und Vattel sprechen darüber hinaus auch von Verletzung von grundlegenden Gesetzen). Zum anderen kann die Schwere der Verbrechen auch hinsichtlich der Zahl der von ihnen Betroffenen beurteilt werden, worauf Grotius und Locke verweisen. Nur schweres Unrecht, das eine große Zahl der Mitglieder eines Gemeinwesens betrifft, stellt einen gerechten Grund für Widerstand und Intervention dar. Einen Sonderfall bildet die massive und systematische Verletzung der Rechte von Minderheiten, die auch dann einen gerechten Grund für eine Intervention darstellen kann, wenn eine große Zahl der Mitglieder einer Minderheit in ihren Rechten massiv und systematisch verletzt wird. Willkür von Unrechtshandlungen: Vor allem Bodin und Locke stellen in den historischen Theorien die willkürliche Ausübung von Herrschergewalt im Anschluss an die klassische Tyrannislehre als Kriterium zur Bestimmung des gerechten Widerstands- beziehungsweise Interventionsfalls heraus. Diese kann sich, wie Locke zeigt, zum einen in der Ausübung ungesetzlicher Gewalt und im
41 Hierunter fasse ich auch den Fall, in dem eine Regierung massive Rechtsverletzungen durch dritte nicht unterbindet sowie den Fall, dass eine Regierung nötige Hilfsmaßnahmen für die Bevölkerung (etwa nach Naturkatastrophen) verweigert.
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Verstoß gegen Gesetze zeigen, zum anderen aber auch in der willkürlichen Änderung der Gesetze durch Usurpation der Legislative. Beurteilung des gerechten Widerstandsfalles aus der Binnenperspektive des Gemeinwesens: Mit Blick auf die Frage danach, wer über das Vorliegen des gerechten Widerstandsfalles von innen entscheidet, erscheint es vor dem Hintergrund der historischen Positionen plausibel, dass hier ein quantitatives Kriterium gelten soll. Als gut begründet kann die Bestimmung eines Widerstandsfalles gelten, wenn eine große Zahl von Mitgliedern des Gemeinwesens, bestenfalls die Mehrheit, von seiner Gerechtigkeit überzeugt ist – problematisch ist hier vor allem, wie dies unter Bedingungen tyrannischer Herrschaft feststellbar ist. Für die hier angeführten Kriterien gilt, dass sie die Grundlage für die Urteilsfindung darstellen – je klarer sie erfüllt sind, als desto besser begründet kann die Entscheidung für eine Intervention gelten. Die Kriterien stellen dabei jedoch lediglich einen Interpretationsrahmen für die Entscheidung über das Vorliegen eines gerechten Interventionsfalles bereit. Geht man nun davon aus, dass Nothilfe in derartigen Fällen prinzipiell erlaubt ist, können militärische Interventionen zum Schutz vor Verletzung grundlegender Menschenrechte als Aktionen stellvertretenden Widerstandes interpretiert werden. Dabei ist vor dem Hintergrund des Werterahmens der Menschenrechte und des Selbstbestimmungsrechts der Völker offensichtlich, dass solche Interventionen nicht – wie in einigen historischen Positionen vorgeschlagen – gegen den Willen der zu Schützenden erfolgen dürfen. Deutlich erkennbar ist die Legitimität einer solchen Intervention mit Blick auf die Anfangsbedingungen dann, wenn sie auf Bitte der zu Schützenden erfolgt, eine notwendige Voraussetzung stellt dies allerdings nicht dar, da es zum einen problematisch ist zu bestimmen, wann eine solche Bitte um Unterstützung durch die zu Schützenden repräsentativ ist, und zum anderen, da in Fällen massiver und systematischer Menschenrechtsverletzungen durch eine Regierung überhaupt nicht vorausgesetzt werden kann, dass gesellschaftliche Mechanismen der Meinungsbildung und der öffentlichen Artikulation solcher Meinungen überhaupt noch möglich sind.42 Mit Blick auf die Durchführungsbedingungen bestehen zwischen der Ausübung des Widerstandsrechts und einer militärischen Intervention zum Schutz der Menschenrechte jedoch Unterschiede, die nicht übersehen werden dürfen. Da es in der direkten Ausübung eines Widerstandsrechtes um Selbstverteidigung im Sinne der Verteidigung eigener grundlegender Rechte geht, ist im Rahmen sol-
42 In den historischen Positionen findet sich diese Bedingung etwa bei Suárez, Pufendorf und Vattel. Vgl. dazu oben, I, 2.4, I, 3.4 und I, 5.2.
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cher Aktionen mehr erlaubt als im Rahmen einer Intervention als Aktion stellvertretenden Widerstandes. Dies gilt vor allem bezüglich einer strengeren Geltung der Regeln des ius in bello im Rahmen einer Intervention. Problematisch ist zudem die Beantwortung der Frage danach, wer im konkreten Fall über das Vorliegen eines gerechten Interventionsgrundes zu entscheiden hat. Hier gilt zum einen das Prinzip, dass eine Entscheidung als um so besser legitimiert gelten kann, je interessenunabhängiger sie getroffen wird, was für eine Entscheidung über den Interventionsfall durch ein unparteiisches internationales Gremium spricht. Zum anderen gilt, wie in der Theorie des Widerstandsrechts, da die Frage des quis iudicabit hier nicht abschließend beantwortet werden kann, ein Prinzip der Verantwortung, nach dem potentielle Akteure sowohl ihr mögliches Handeln als auch ihr mögliches Nichthandeln rechtfertigen und verantworten müssen.
2.2 Diskussion der Kriterien des ius ad bellum für Schutzinterventionen Vor dem Hintergrund der These, dass das Kriterium der causa iusta der philosophischen Theorie des gerechten Krieges um den Aspekt der massiven und systematischen Verletzung grundlegender Menschenrechte erweitert werden kann, werden im Folgenden die weiteren Kriterien der Theorie des gerechten Krieges für das ius ad bellum mit Blick auf Interventionen zum Schutz vor Menschenrechtsverletzungen in den Blick genommen. Legitime Autorität. Nicht leicht zu beantworten ist mit Blick auf das Interventionsproblem die Frage nach der legitimen Autorität (auctoritas pricipis) zur Feststellung des gerechten Interventionsfalles und zur Durchführung einer militärischen Intervention zum Schutz der Menschenrechte. In der klassischen Theorie des gerechten Krieges gilt der souveräne Herrscher beziehungsweise der Staat als legitime Autorität der Kriegsführung; ursprünglich umfasst diese Autorität sowohl das Recht auf Selbstverteidigung eines Gemeinwesens als auch das Recht, Rechtsverletzungen zu bestrafen. Heute liegt nur noch das Recht auf Selbstverteidigung beim einzelnen Staat, die Autorität zur Entscheidung über alle anderen Formen militärischer Gewaltanwendung sowie das Recht zu ihrer Anwendung liegen bei den Vereinten Nationen (vgl. UN-Charta, Art. 2 und Art. 39–51). Wer kann aber mit Blick auf militärische Interventionen zum Schutz der Menschenrechte als legitime Autorität gelten? Der einzelne Staat, Staatenbündnisse, oder nur die Völkergemeinschaft? Wenn Einzelstaaten nach dem Stand des gegenwärtigen Völkerrechts nur ein Recht zum Einsatz militärischer Gewalt zur Selbstverteidigung haben – und natürlich um legitime Bündnisverpflich-
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tungen zu erfüllen sowie zur Ausführung von Aktionen, die durch die Vereinten Nationen mandatiert sind –, ist diese Frage wohl zuerst mit Blick auf die Staatengemeinschaft als Ganze zu diskutieren. Die Vereinten Nationen könnten dann als legitime Autorität zur Bestimmung des Vorliegens eines gerechten Grundes und auch zur Durchführung oder Veranlassung einer Intervention verstanden werden. Auf diese Weise wäre es möglich, Interventionen völkerrechtskonform durchzuführen, entweder bei einer Weiterentwicklung des Völkerrechts unter Aufnahme eines Interventionsrechts ins positive Völkerrecht43 (durch eine weitere völkerrechtliche Implementierung des Prinzips der Responsibility to Protect) oder, wie bisher üblich – wenn auch normativ unbefriedigend – unter Verweis auf eine Bedrohung der internationalen Sicherheit in Übereinstimmung mit Kapitel 7 der UN-Charta. Hinsichtlich ihrer moralischen Legitimität wäre eine Entscheidung über das Vorliegen eines Interventionsfalles durch die Staatengemeinschaft wünschenswert, weil einer solchen Entscheidung auf dieser Weise ein hoher Grad an Unparteilichkeit zukommen kann – idealerweise bei einer Weiterentwicklung des Völkerrechts, durch die keine Dominanz der Interessenpolitik der fünf Vetomächte in Fragen von Krieg, Frieden und Menschenrechtsschutz mehr möglich wäre.44 Wenn man davon ausgeht, dass eine militärische Intervention zum Schutz der Menschenrechte unter bestimmten Bedingungen erlaubt sein kann, stellt sich die Frage, ob im Falle einer offensichtlichen politischen Interessendivergenz der Parteien, die im Sicherheitsrat vertreten sind, in einer Blockadesituation nicht als zweitbeste Lösung eine Gruppe von Staaten zu einer Intervention berechtigt sein kann. Aus völkerrechtlicher Sicht wäre dies problematisch, wie der Kosovo-Krieg deutlich gezeigt hat,45 und eine nachträgliche völkerrechtliche Legitimierung militärischer Interventionen ist auch keine befriedigende Lösung, aber es ist von einem moralischen Standpunkt aus durchaus plausibel zu machen, dass man vor dem Hintergrund des Prinzips der Nothilfe in einem konkreten Fall bei Entscheidungsunfähigkeit auf der Ebene der Vereinten Nationen einer Gemeinschaft von Staaten ein moralisches Recht zur Intervention zuspricht.46 Um einen Missbrauch der Rechtfertigungsfigur der Intervention zum Schutz vor Menschenrechtsverlet-
43 Vgl. dazu die gegenwärtigen Bemühungen um eine völkerrechtliche Implementierung des Konzepts der Responsibility to Protect. Vgl. dazu Schaller 2008. 44 Zu den Perspektiven einer solchen Weiterentwicklung siehe aus philosophischer Sicht Habermas 2004. Aus völkerrechtlicher Perspektive siehe Bogdandy 2003. 45 Zur Diskussion der Interventionsfrage vor dem Hintergrund des Kosovo-Krieges siehe die Sammelbände Lutz 1999, Merkel 2000 und Beestermöller 2003. 46 Auf die systematischen Probleme, die aus einer solchen Auffassung resultieren können, verweist Hinsch 2005.
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zungen zu vermeiden, kann eine solche moralische Berechtigung aber nur als Ausnahme hingenommen werden. Schließlich stellt sich auch noch die Frage danach, ob ein einzelner Staat, wenn sich auch keine Koalition mehrerer Staaten für eine militärische Intervention zum Schutz der Menschenrechte zusammenfindet, legitime Autorität einer Schutzintervention sein kann. In einem solchen Fall stellen sich Probleme, die sich bereits hinsichtlich der Frage nach der legitimen Autorität eines Bündnisses von Staaten ergeben, in verschärfter Form, vor allem das Problem des Missbrauchs der Rechtfertigungsfigur der Intervention zum Schutz der Menschenrechte ist hier besonders groß. Auch wenn möglicherweise nicht prinzipiell ausgeschlossen werden kann, dass ein einzelner Staat legitime Autorität sein kann, scheint es doch eher plausibel zu vermuten, dass ein einzelner Staat, der keine weiteren Verbündeten von der Notwendigkeit einer militärischen Intervention zum Schutz der Menschenrechte zu überzeugen vermag, entweder mit seinem Urteil über das Vorliegen eines Interventionsfalles nicht richtig liegt, oder aber möglicherweise durch andere Interessen in seinem Handeln motiviert ist. Deshalb sollten Einzelstaaten – gewissermaßen als tutioristisches Prinzip – zumindest in der Regel nicht als legitime Autorität für die Durchführung von Schutzinterventionen gelten. Ihnen kommt die Autorität zum gerechten Einsatz militärischer Gewalt in der Regel lediglich zum Zweck der Selbstverteidigung zu. Die Frage nach der legitimen Autorität stellt sich auch bei der Bestimmung des legitimen Widerstandsfalles. Als legitimes Subjekt des Widerstandes gegen eine Regierung, die den sie legitimierenden Auftrag verletzt, kann ohne Zweifel immer das Volk selbst gelten. Es kann in einem solchen Fall als legitime Autorität zur Feststellung des Widerstandsfalles angesehen werden und kann auch als legitimiert gelten, andere Staaten oder die Staatengemeinschaft um Unterstützung zu bitten. Allerdings ist es gerade ein Kennzeichen von Gewaltregierungen, dass häufig schon die bloße Möglichkeit von Widerstand im Keim zu ersticken versucht wird, so dass es durchaus plausibel vorstellbar ist, dass ein Volk oder eine Gruppe innerhalb eines Volkes zwar prinzipiell in einer konkreten Situation legitimiert wäre Widerstand zu leisten, dass es ihr aber faktisch nicht möglich ist, ihren Widerstand auch auszuführen. In einem solchen Fall könnte die Staatengemeinschaft oder ein Staatenbündnis dann zugleich als legitime Autorität zur Durchführung einer Intervention zum Schutz vor Verletzung der grundlegenden Menschenrechte als Aktion stellvertretenden Widerstandes angesehen werden. Intentio recta. Nach dem Kriterienkatalog der klassischen Theorie des Gerechten Krieges spielt für die Beurteilung der Legitimität des Einsatzes militärischer Gewalt auch die Intention der handelnden Akteure eine entscheidende Rolle. Das entsprechende Kriterium, das in der klassischen Theorie des gerechten Krieges als intentio recta-Bedingung formuliert wurde und sich schon bei Augus-
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tinus findet,47 hat Relevanz sowohl für die Anfangs- als auch für die Durchführungsbedingungen einer militärischen Intervention. Zum einen muss die Intention derjenigen, die den Einsatz militärischer Gewalt beginnen, darauf zielen, das Unrecht zu beheben, das den gerechten Grund des Gewalteinsatzes darstellt. Der Einsatz militärischer Gewalt muss also mit der Intention zur Realisierung des legitimen Zieles begonnen werden. Zum anderen bezieht sich dieses Kriterium auf die Intentionen der einzelnen Soldaten im Kampf, der nicht durch die Lust an grausamen Handlungen oder Ähnliches motiviert sein darf.48 Mit Blick auf die Frage nach der causa iusta wurde festgestellt, dass eine massive und systematische Verletzung grundlegender Menschenrechte einen gerechten Grund für eine Intervention darstellen kann. Offensichtlich ist die richtige Intention, die diesem gerechten Grund dann entspricht, der Schutz der Menschenrechte als Ziel einer Intervention. Interventionen, die allein anderen Zwecken wie etwa dem Schutz geostrategischer Interessen dienen, haben demgemäß nicht die richtige Intention und können nicht als gerechtfertigt gelten. Ein Blick auf die Intention der verantwortlichen Akteure stellt also einen wichtigen Indikator zur Überprüfung dar, ob der Verweis auf die Rechtfertigungsfigur der Intervention zum Schutz der Menschenrechte ernst gemeint ist oder ob er etwa bloß der Verschleierung anderer Interessen dient, die den Einsatz militärischer Gewalt motivieren. Allerdings werden hier zwei Probleme sichtbar: Zum einen ist es schwer zu überprüfen, was die tatsächliche Intention des Intervenierenden ist, die in einem konkreten Fall vorliegt. Zum anderen stellt sich die Frage, ob die Motivation zu einer Intervention zum Schutz der Menschenrechte allein in der richtigen Intention des Schutzes der Menschenrechte bestehen kann oder muss, oder ob eine solche Intervention neben dem Ziel des Menschenrechtsschutzes auch durch andere Intentionen, wie etwa geopolitische Interessen (z.B. Stabilisierung) einzelner regionaler Mächte, beeinflusst sein darf.49 Anders als beim Kriterium des gerechten Grundes ist es hier durchaus möglich, dass eine Doppelabsicht, bei der neben dem Ziel des Menschenrechtsschutzes auch ein bestimmtes Interesse motiviert, legitim ist, wobei als gerechter Grund allerdings niemals bloß die Realisierung eigener Interessen gelten kann – das wäre die bloße Willkür als Grund für den Einsatz militärischer Gewalt, die sich als gerechter Grund verbietet. Dass der Schutz der Menschenrechte aber die primäre Intention für den Einsatz militärischer Gewalt darstellen muss, ist auch offensichtlich. Diese Intention muss not-
47 Vgl. oben, I, 1. 48 Zur Bedeutung des intentio recta-Kriteriums zur Beurteilung der Legitimität des Handelns einzelner Soldaten vgl. unten, II, 3.2. 49 Das Zulassen anderer Intentionen als sekundärer Intentionen würde jedenfalls die Wahrscheinlichkeit erhöhen, dass erlaubte Interventionen auch tatsächlich durchgeführt werden.
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wendig vorliegen, damit eine Intervention als gerecht gelten kann und damit andere Intentionen gewissermaßen als Nebenintentionen zusätzlich legitim sein können. Ultima ratio. Schließlich muss mit Blick auf die Anfangsbedingungen einer militärischen Intervention zum Schutz der Menschenrechte noch das ultima ratio-Kriterium in den Blick genommen werden. Demnach kann der Einsatz militärischer Gewalt überhaupt nur dann als legitim gelten, wenn er das letzte Mittel zum Erreichen eines legitimen Zieles darstellt, was impliziert, dass er, wie Walzer es formuliert, notwendig und zudem zum Erreichen des legitimen Ziels tauglich ist (vgl. dazu Walzer 2007, S. 138–159).50 Nun ist die Beurteilung und Erfüllung dieses Kriteriums mit Blick auf militärische Interventionen zum Schutz der Menschenrechte besonders problematisch. Es darf eigentlich nicht abgeschwächt werden, da es vor vorschnellem Gebrauch militärischer Gewalt schützt und die Konzentration auf nicht militärische Strategien befördert. Begrenzt wird dieses Kriterium aber möglicherweise gerade im Fall des Menschenrechtsschutzes dadurch, dass die Zeit zur Verhinderung von Massakern im konkreten Fall häufig begrenzt ist. Angenommen, dass Interventionen zum Schutz der Menschenrechte begrenzt sein können, besteht ja eines der Hauptprobleme ihrer Durchführung, wie die Erfahrungen vergangener Konflikte zeigen, darin, den richtigen Zeitpunkt für eine Intervention zu finden.51 Der Grund hierfür liegt in der epistemischen Schwierigkeit den Interventionsfall exakt zu bestimmen und es ist durchaus möglich, dass die Bestimmung dieses Falls und besonders des richtigen Zeitpunktes erst ex post möglich ist. Deshalb ergibt sich hinsichtlich der Beurteilung der Erfüllung des ultima ratio-Kriteriums ein gewisser Interpretationsspielraum. Die Vermutung, dass der Einsatz militärischer Gewalt im konkreten Fall das äußerste Mittel zum Schutz der Bürger eines fremden Staates vor massiven und systematischen Menschenrechtsverletzungen ist, muss als wohlbegründet gelten können, damit eine Entscheidung für den Einsatz militärischer Gewalt aus Sicht des ius ad bellum als gerechtfertigt gelten kann. So muss auch hier gelten, dass das Kriterium im konkreten Fall besonders „gefüllt“ werden muss. Die angemessenen Bedingungen und Mittel, die vor einer Intervention erfüllt beziehungsweise ausgeschöpft sein müssen, hängen von der je spezifischen Situation ab. Dabei ist das Kriterium der ultima ratio für die Beurteilung der Legitimität einer Intervention insgesamt entscheidend. Denn die Forderung,
50 Das Bestehen einer solchen Notwendigkeit sicher zu beurteilen stellt ein erhebliches Problem dar. Auf die Problematik epistemischer Unsicherheiten in der Beurteilung der Gerechtigkeit eines Krieges hat Olaf Müller sehr nachdrücklich verwiesen. Vgl. Müller 2007. 51 Vgl. hierzu mit Blick auf die Konflikte auf dem Balkan in den 1990er Jahren Hinsch/Janssen 2006, S. 119–147.
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dass der Einsatz militärischer Gewalt immer das letzte Mittel zur Erreichung eines legitimen Zieles darstellen muss, erhält vor allem für Interventionen zum Schutz der Menschenrechte besonderes Gewicht dadurch, dass beim Einsatz militärischer Gewalt auch zur Erreichung eines legitimen Zieles immer die Schädigung und Tötung Unschuldiger in Kauf genommen werden muss, was in der klassischen Theorie mittels der Lehre des Doppeleffektes zu rechtfertigen versucht wurde. Die Inkaufnahme unschuldiger Opfer, die sich beim Einsatz militärischer Gewalt kaum vermeiden lässt, zwingt beim ultima ratio-Kriterium aber dazu genauer hinzusehen. Da Situationen, die eine Intervention zum Schutz der Menschenrechte nötig machen, meist lange im Voraus erkennbar sind und da der Schutz der Menschenrechte als Ziel internationaler Politik sehr weitgehend anerkannt ist, muss zu den Mitteln, die zur Vermeidung des Einsatzes militärischer Gewalt ausgeschöpft werden müssen, auch eine langfristige Präventionspolitik gehören, die schon lange, bevor es zu möglichen Interventionssituationen kommt, ansetzt.52
52 Vgl. dazu unten, II, 3.1.
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3 Das Problem der gerechten Durchführung von Interventionen zum Schutz vor Menschenrechtsverletzungen – Das Nothilfe-Dilemma 3.1 Diskussion des Nothilfe-Dilemmas Es wurde oben dafür argumentiert, dass militärische Interventionen zum Schutz der Menschenrechte aus Sicht der Anfangsbedingungen für den legitimen Einsatz militärischer Gewalt prinzipiell gerechtfertigt werden können. Im Konfliktfall kann das Prinzip des Menschenrechtsschutzes demnach das positivrechtliche Prinzip staatlicher Souveränität überwiegen und die massive und systematische Verletzung grundlegender Menschenrechte stellt einen gerechten Grund für den Einsatz militärischer Gewalt dar. Aber damit ist die Frage nach der Rechtfertigung solcher Schutzinterventionen erst zur Hälfte beantwortet, denn der Einsatz militärischer Gewalt muss auch aus Sicht der Durchführungsbedingungen als gerechtfertigt gelten können, damit eine Intervention insgesamt als legitim bewertet werden kann. Deshalb wird im Folgenden der Frage nachgegangen, welche Probleme der Rechtfertigung sich auf dieser Ebene ergeben und welche Kriterien hier erfüllt sein müssen. Die Diskussion der Fragen, die sich in diesem Bereich stellen, findet im Wesentlichen in Auseinandersetzung mit dem Nothilfe-Dilemma statt. Ergänzt wird sie abschließend durch eine Diskussion der Kriterien des ius in bello mit Blick auf solche Schutzinterventionen. Das Nothilfe-Dilemma stellt sich, wenn man die Frage nach der Rechtfertigung militärischer Interventionen zum Schutz der Menschenrechte aufwirft, mit Blick auf die Durchführungsbedingungen solcher Interventionen. Geht man davon aus, dass die Menschenrechte einen besonderen Schutz verdienen, resultiert daraus unter bestimmten Bedingungen, dass es eine Erlaubnis oder möglicherweise sogar eine Pflicht zu militärischen Interventionen zum Schutz der Menschenrechte gibt, die sich auf ein Prinzip der Nothilfe zurückführen lässt. Einige Autoren wie etwa Hinsch und Janssen leiten aus dem Geltungsanspruch der Menschenrechte eine Interventionspflicht ab, da sich aus dem Anspruchscharakter der Menschenrechte auch Pflichten zu ihrer Realisierung ergeben (vgl. Hinsch/ Janssen 2006, S. 76f.). Hier geht es mir zunächst jedoch lediglich darum zu zeigen, dass eine Erlaubnis zur ‚humanitären Intervention‘ begründet werden kann.1
1 Die Frage nach der Begründung einer Interventionspflicht, die ich hier nicht beantworten möchte, würde eine viel weiter reichende Rechtfertigung erfordern. Problematisch ist eine solche
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Deshalb sollte zwischen der Behauptung einer Nothilfepflicht, die aber nur bis zu einem bestimmten Grad auch zu einer Intervention verpflichten kann, und einer Interventionserlaubnis unterschieden werden, von der unter der Bedingung gesprochen werden kann, dass eine Intervention aus Sicht des ius ad bellum und des ius in bello legitim durchgeführt werden kann. Der Einwand gegen die Rechtfertigbarkeit humanitärer Interventionen mit Blick auf die Durchführungsbedingungen wird von Autoren formuliert, die dem Schutz Unschuldiger in diesem Zusammenhang einen prinzipiell höheren Rang beimessen als dem Prinzip der Nothilfe. Demnach kann eine Nothilfeaktion, wenn sie nur militärisch realisiert werden kann, in Konflikt mit dem Prinzip der Nichtschädigung Unschuldiger geraten, da sich die Schädigung und Tötung Unschuldiger im Rahmen des Einsatzes militärischer Gewalt nicht ausschließen lässt. Vor dem Hintergrund der skizzierten Möglichkeit einer Auflösung der Spannung zwischen dem positivrechtlichen Prinzip staatlicher Souveränität und dem Prinzip des Menschenrechtsschutzes liegt deshalb gerade in dem Dilemma, das sich aus dieser Spannung ergeben kann, das verbleibende und damit das eigentlich schwierig aufzulösende Rechtfertigungsproblem der gegenwärtigen Interventionsdebatte. Nach dieser Auffassung können Interventionen grundsätzlich nicht gerechtfertigt werden, weil die Tötung Unschuldiger, die bei militärischen Interventionen in Kauf genommen werden muss, unter keinen Umständen moralisch rechtfertigbar ist. Im Hintergrund dieser Auffassung steht das NothilfeDilemma: Geht man davon aus, dass eine Schutzintervention unter bestimmten Bedingungen erlaubt ist, muss bei ihrer Durchführung die Verletzung des Prinzips der Nichtschädigung von Personen in Kauf genommen werden, während im Fall der unbedingten Orientierung an diesem Prinzip eine Verletzung des Prinzips der Nothilfe in Kauf genommen werden muss. Autoren, die von einem strikten moralischen Schädigungsverbot ausgehen, behaupten, dass der Schutz Unschuldiger und damit auch der Schutz ihrer berechtigten Ansprüche – vor allem ihr Leben betreffend – nie einem anderen Zweck untergeordnet werden dürfen, weil kein Ziel die Tötung Unschuldiger, die im Rahmen militärischer Aktionen unvermeidlich scheint, rechtfertigen kann (vgl. Bittner 2004, Wohlrapp 2004).2 Bei Positionen dieser Art erfolgt die Bewertung der Legitimität möglicher Interventionen vor allem mit Blick auf die Konsequenzen von Handlungen – die rich-
Position mit Blick auf die Anforderungen, die sie für die zur Hilfe Verpflichteten impliziert, da die Realisierung der Nothilfe im konkreten Fall für sie selbst mit einem enorm hohen Risiko verbunden sein kann. Dies steht in Spannung zu dem Prinzip, dass eine Pflicht zur Nothilfe nur vor dem Hintergrund verantwortbarer Risiken für den Helfenden besteht. 2 Wohlrapp stellt hier besonders die Probleme einer Aufrechnung der Menschenrechte vieler zu Schützender gegen die Menschenrechte einiger unbeabsichtigt Geschädigter heraus.
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tige Absicht kann falsche Konsequenzen im Rahmen einer solchen Bewertung nicht legitimieren.3 Gegen eine Ablehnung humanitärer Interventionen unter Rückgriff auf eine solche Argumentation verweisen Autoren, die eine Rechtfertigung humanitärer Interventionen prinzipiell für möglich halten mit Blick auf ihre Durchführung für gewöhnlich auf das Prinzip des Doppeleffekts. Gemäß diesem Prinzip können unerwünschte Nebenfolgen, die zur Erreichung eines legitimen Zieles unvermeidlich sind, dann als moralisch akzeptabel gelten, wenn sie nicht beabsichtigt sind (vgl. Hinsch/Janssen 2006, S. 106ff.). Interventionen zum Schutz der Menschenrechte können demnach also auch unter Inkaufnahme unbeabsichtigter unschuldiger Opfer gerechtfertigt werden, wobei die Moralität derartiger Aktionen dabei nicht in erster Linie anhand ihrer Konsequenzen, sondern gemessen an der ihnen zugrunde liegenden Intention beurteilt wird. Eine dritte Position mit Blick auf das Nothilfedilemma lässt sich schließlich gewissermaßen zwischen den beiden genannten Positionen verorten. Die hierbei zugrunde liegende Idee ist die, dass im Falle des gleichzeitigen Vorliegens verschiedener Verpflichtungen zur Nothilfe auf globaler Ebene zuerst Nothilfeverpflichtungen zu realisieren sind, die nicht auf den Einsatz militärischer Gewalt angewiesen sind und die Schädigung Unschuldiger somit vermeiden können. Nothilfeverpflichtungen bestehen demnach nicht allein in Fällen, in denen sich die Frage nach einem militärischen Eingreifen zum Schutz vor Menschenrechtsverletzungen stellen, sondern auch etwa mit Blick auf die Probleme der Weltarmut und des Welthungers (nach dieser Auffassung greifen Nothilfeverpflichtungen in verschiedenen Situationen, in denen grundlegende Menschenrechte bedroht sind, in gleicher Weise, also bestehen neben Nothilfeverpflichtungen bei Menschenrechtsverletzungen, denen allein militärisch begegnet werden könnte, gleichrangige Verpflichtungen, sich etwa in Fällen massiver Armut, in
3 Dass eine Intervention, die durch den Schutz der Menschenrechte legitimiert wird oder werden soll und die dabei die Tötung Unschuldiger in Kauf nimmt, mit Blick auf die verwendete Semantik nicht als ‚humanitäre‘ Aktion verstanden werden sollte, betont Schramme wenn er herausstellt, dass es sich in einem gewissen Sinne schon beim Begriff der ‚humanitären Intervention‘ um eine contradictio in adjecto handelt (vgl. Schramme 2001, S. 119). Auf die Problematik der Verschleierung von Interessenpolitik unter dem Deckmantel der „humanitären“ Intervention weist Chomsky nachdrücklich hin. Vgl. Chomsky 2000. Aus der Möglichkeit oder auch der tatsächlichen Praxis des Missbrauchs folgt jedoch nicht, dass Interventionen zum Schutz vor Verletzung grundlegender Menschenrechte nicht grundsätzlich gerechtfertigt werden können. Doch Chomskys Kritik spricht auch für die in der vorliegenden Arbeit vorgeschlagene begriffliche Differenzierung, nach der aufgrund der Möglichkeiten des Missbrauchs in der politischen Rhetorik nicht von „humanitären“ Interventionen, sondern von militärischen Interventionen zum Schutz vor Verletzung grundlegender Menschenrechte gesprochen werden sollte.
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denen ebenfalls das Prinzip des Menschenrechtsschutzes geltend gemacht werden kann, zu engagieren).4 Solange sich Nothilfeverpflichtungen vor diesem Hintergrund ohne den Einsatz militärischer Gewalt realisieren lassen, sind diese Formen der Nothilfe demnach militärischen Nothilfe-Interventionen vorzuziehen – was aber auch bedeutet, dass in Fällen massiver aktiver Menschenrechtsverletzungen nicht reagiert wird.5 Gerade weil mit dem Einsatz militärischer Gewalt moralisch problematische Nebenfolgen verbunden sind, ergibt sich aus Sicht der Vertreter einer solchen Position, dass zuerst alle Nothilfepflichten zu realisieren sind, die ohne den Einsatz militärischer Gewalt erfüllt werden können. In Positionen dieser Art wird vor allem deutlich, was in der Interventionsdebatte zuweilen übersehen wird, nämlich, dass sich Nothilfepflichten viel weiter erstrecken können als auf den Bereich der Abwehr direkter Gewalt gegen Individuen. Nicht erklärt werden kann aus dieser Perspektive aber die Intuition, dass schwerem aktiven und gewaltsamen Unrecht widerstanden werden muss und nicht tatenlos zugesehen werden darf.6 Deshalb erscheint es mir sinnvoll, die zweite Option zur Beurteilung des Nothilfe-Dilemmas genauer in den Blick zu nehmen und auszuloten, wie weit eine Berufung auf das Prinzip der Doppelwirkung zur Rechtfertigung humanitärer Interventionen belastbar ist. Die Grundidee der Lehre des Doppeleffekts ist es, dass Handlungen bzw. die nicht gewünschten schlechten Folgen von Handlungen dann als legitim gelten können, wenn diese Folgen nicht beabsichtigt, aber zur Erreichung eines legitimen Zweckes unvermeidbar sind (vgl. dazu Hinsch/Janssen 2006, 108f.). In historischen Texten wird dieses Prinzip mit Blick auf militärische Kontexte häufig am Beispiel einer militärisch notwendigen gewaltsamen Einnahme einer Burg illustriert, in deren Rahmen auch unschuldige Personen, die sich dort aufhalten, zu Schaden kommen.7 Wenn die Kriegshandlung der Eroberung der Burg notwendig zur Erreichung des legitimen Kriegszweckes ist und wenn die Schädigung der unschuldigen Personen nicht vermieden werden kann und unbeabsichtigt ist, dann ist sie nach dem Prinzip der Doppelwirkung rechtfertigbar und die Gerechtigkeit des gesamten Unterfangens steht nicht in Frage. In modernen militärischen Konflikten stellt sich das Problem des Doppeleffekts vor allem, wenn in Situationen
4 Eine solche Position vertritt z.B. Barbara Bleisch (vgl. Bleisch 2005). Den Zusammenhang zwischen Armut und Menschenrechtsverletzungen stellt Thomas Pogge nachdrücklich heraus. Vgl. dazu Pogge 2007. 5 In bestimmten Fällen können auch globale Armuts- und Hungerprobleme als aktive Rechtsverletzungen und Schädigungen von Personen verstanden werden. Vgl. dazu auch Pogge 2007. 6 Ein solches Verbot unterlassener Hilfeleistung gilt natürlich zugleich auch für Fälle, in denen Nothilfe in nichtmilitärischer Form geboten ist. 7 Vgl. oben, I, 2.2.
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eines Konfliktes nicht klar zwischen Kombattanten und Zivilisten unterschieden werden kann, etwa wenn Kampfhandlungen in bewohntem Gebiet stattfinden. So stellt die Lehre vom Doppeleffekt eine Reaktion auf Probleme dar, die sich im klassischen Krieg zwischen Armeen beziehungsweise Staaten vor allem auch hinsichtlich der Unterscheidung von Kombattanten und Zivilisten ergeben.8 Mit Blick auf Interventionen zum Schutz vor Verletzungen grundlegender Menschenrechte sieht sich das Prinzip der Doppelwirkung aber einem besonderen Rechtfertigungsdruck ausgesetzt, da hier die Rechtfertigung des Einsatzes von Gewalt durch das Ziel des Menschenrechtsschutzes (und nicht durch das Ziel der Selbstverteidigung) begründet wird.9 Da die Tötung Unschuldiger im Rahmen einer solchen Intervention aber, auch wenn sie unbeabsichtigt geschieht, eine Verletzung der grundlegenden Menschenrechte der Geschädigten darstellt, entsteht hier eine besondere Spannung. Der Schutz der Menschenrechte könnte dann nämlich zugleich eine Verletzung des ihn begründenden Zieles in einzelnen Fällen erlauben. Von einem moralischen Standpunkt aus kann eine solche Rechtfertigung nicht ohne Weiteres gelingen. In Form einer konsequentialistischen Rechtfertigung müsste sie aber den Schutz der Menschenrechte vieler gegen die unbeabsichtigte Verletzung der Menschenrechte weniger Unschuldiger aufrechnen, wobei es sich um eine Operation handelte, die den Grundgedanken der Universalität und Unveräußerbarkeit der Menschenrechte zu widersprechen scheint.10 Die am weitesten elaborierte Verteidigung einer Theorie humanitärer Interventionen in der neueren deutschsprachigen Literatur findet sich bei Hinsch und Janssen, die das Problem der Schädigung und Tötung Unschuldiger im Rahmen von Interventionen zum Schutz vor Menschenrechtsverletzungen unter Rückgriff auf die Doppelwirkungslehre zu fassen versuchen (vgl. Hinsch/Janssen 2006).11 Nach ihrer Auffassung darf gemäß „[d]er Lehre des Doppeleffekts […] die Tötung von Non-Kombattanten im Krieg zwar in Kauf genommen werden, wenn die Bedingungen der Verhältnismäßigkeit und Notwendigkeit erfüllt sind, sie darf aber
8 Vor allem in den so genannten „Neuen Kriegen“ verschwimmt die Unterscheidung zwischen Kombattanten und Zivilisten immer mehr. Vgl. dazu Münkler 2004; Kaldor 2006. 9 Bei der Selbstverteidigung kann man so etwas wie eine „Schuld“ des Feindes voraussetzen, weil man von ihm direkt angegriffen wird. Eine solche negative moralische Qualifikation, die gewissermaßen eine Teilverantwortung für einen Schaden, der möglicherweise erlitten wird, dem Feind selbst zuschreibt, erscheint mir mit Blick auf unschuldige Opfer einer Intervention allerdings ausgesprochen problematisch. 10 Eine ausführliche Diskussion der Probleme einer solchen Aufrechnung von Menschenrechten gegeneinander findet sich bei Wohlrapp 2004. 11 Für eine ausführliche Bestimmung der formalen Struktur der Lehre des Doppeleffektes siehe Hinrich/Janssen 2006, S. 107.
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nicht absichtlich angestrebt werden“ (Hinsch/Janssen 2006, S. 107). In ihrer Begründung des Prinzip des Doppeleffektes gehen Hinsch und Janssen dabei davon aus, dass, um die Lehre des Doppeleffektes zu verteidigen, gezeigt werden muss, dass auch für Non-Kombattanten „kein absolutes Tötungsverbot besteht“ (Hinsch/ Janssen 2006, S. 108). Dazu argumentieren sie, dass es mit Blick auf andere Kontexte – z.B. die Teilnahme am Straßenverkehr – grundsätzlich schwierig ist, ein „absolutes Tötungsverbot für ,Unschuldige‘ zu vertreten“ (Hinsch/Janssen 2006, S. 108). Das wohl stärkste Argument, das Hinsch und Janssen zur Stützung des Prinzips des Doppeleffekts vorbringen, ist jedoch das der Unterstellung einer impliziten Zustimmung der vom Einsatz militärischer Gewalt unbeabsichtigt Betroffenen, die sie unter Rückgriff auf das Verhältnis von Rechten und Pflichten erläutern: Ein prinzipieller Einwand gegen das Tötungsverbot (und überhaupt gegen absolute Verbote, die aus subjektiven Rechten abgeleitet werden) bestünde dann darin, dass es mit Blick auf die Wechselbeziehung zwischen Rechten und Pflichten schlichtweg irrational erscheint, irgendjemandem ein für ihn vorteilhaftes Recht zuzuschreiben, ohne zuvor zu überprüfen, ob die mit diesem Recht verbundenen Pflichten anderer nicht mit unzumutbaren Kosten und Opfern verbunden sind. Genau dies aber scheint der Fall zu sein, wenn wir Non-Kombattanten eine absolute Immunität gewähren und dafür den Tod vieler anderer Menschen in Kauf nehmen, die durch andere getötet werden, weil wir eine militärische Intervention als Handlungsoption ausschließen (Hinsch/Janssen 2006, S. 109).
Gemäß dieser Auffassung kann man Menschenrechte überhaupt nur dann sinnvoll in Anspruch nehmen, wenn man auch akzeptiert, dass damit die Gefahr der Verletzung der eigenen Menschenrechte zum Schutz der Menschenrechte anderer verbunden ist. Ähnlich argumentieren auch Autoren, die ein Interventionsrecht unter Rückgriff auf ein kontraktualistisches Modell zu rechtfertigen versuchen.12 Demgemäß würden alle Menschen in einem hypothetischen globalen Urzustand einem Interventionsrecht zum Schutz der Menschenrechte zustimmen, auch unter Inkaufnahme einer Gefährdung des eigenen Lebens im Notfall. Unter der Annahme der Plausibilität dieser Idee einer unterstellten impliziten Zustimmung zum Prinzip des Doppeleffektes durch die Träger von Menschenrechten kann nun aber eine besondere Berücksichtigung des Kriteriums der Verhältnismäßigkeit der eingesetzten Mittel zur Erreichung des beabsichtigten Zieles, das auch Hinsch und Janssen im Kontext der Diskussion des Prinzips des Doppeleffekts anführen, gefordert werden. Nach ihrer Auffassung muss „[d]ie
12 Elemente einer solchen Argumentation finden sich bei Zanetti. Vgl. Zanetti 2005, S. 247f.
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unerwünschte Handlungsfolge […] im rechten Verhältnis zu den erwünschten Handlungsfolgen (hier der Rechtsschutz für Non-Kombattanten) stehen, das heißt, die positiven Handlungsfolgen müssen die negativen überwiegen (Verhältnismäßigkeit)“ (Hinsch/Janssen 2006, S. 107). Eine Akzeptanz des Prinzips der Doppelwirkung mit Blick auf militärische Schutzinterventionen und auch die konkrete Akzeptanz der Schädigung Unschuldiger in bestimmten Fällen kann aber allenfalls dann als plausibel gelten, wenn der Einsatz militärischer Gewalt das äußerste Mittel darstellt, denn die Zustimmung zur Inkaufnahme einer Schädigung der eigenen Person kann auch im kontraktualistischen Modell nur dann plausibel angenommen werden, wenn diese Bedingung erfüllt ist. Schließlich würde niemand dem zustimmen, wenn er den Einsatz militärischer Gewalt auch in Fällen, in denen er nicht notwendig ist, befürchten muss. Zum einen bezieht sich das Prinzip der Verhältnismäßigkeit also auf den Einsatz der Mittel im Rahmen der Anwendung militärischer Gewalt. Doch zum anderen muss auch der Einsatz von Gewalt selbst ein verhältnismäßiges Mittel darstellen, in dem Sinne, dass er aus Sicht der Anfangsbedingungen das letzte Mittel zur Erreichung eines legitimen Zweckes darstellt. Für eine verantwortbare Berufung auf das Prinzip der Doppelwirkung muss deshalb vor dem Hintergrund des Arguments einer impliziten Zustimmung der von den unbeabsichtigten Folgen Betroffenen vorausgesetzt werden, dass vor dem Einsatz militärischer Gewalt alle Möglichkeiten der nichtmilitärischen Prävention ernsthaft ausgeschöpft wurden. Das ultima-ratio-Kriterium sollte deshalb um eine diachrone Perspektive, welche die Mittel nichtmilitärischer Prävention berücksichtigt, erweitert werden, damit eine Berufung auf das Prinzip der Doppelwirkung vor dem Hintergrund des Arguments der impliziten Zustimmung gelingen kann. Die unterstellte Zustimmung kann nämlich nur dann erwartet werden, wenn man davon ausgehen kann, dass mittels Prävention die Wahrscheinlichkeit des Einsatzes militärischer Gewalt so weit wie möglich reduziert wird. Mit Blick auf das Problem der militärischen Schutzintervention ergeben sich diesbezüglich aus einem diachronen Verständnis des ultima ratio-Kriteriums weitreichende Forderungen nach einer umfassenden Präventionspolitik. Wie sieht ein solches diachrones Verständnis der ultima ratio-Bedingung genau aus und welche Verpflichtungen ergeben sich aus ihm? Wenn man bereit ist, unschuldige Opfer in Kauf zu nehmen, um das Ziel des Menschenrechtsschutzes zu erreichten, ist man zugleich verpflichtet, unschuldige Opfer soweit wie möglich zu vermeiden. In synchroner Perspektive heißt dies etwa, dass geeignete Waffen eingesetzt werden müssen, damit die unbeabsichtigte Verletzung Unbeteiligter weitestgehend ausgeschlossen werden kann, oder, dass die intervenierende Kraft in einem höheren Maß bereit sein muss, eigene Soldaten in Gefahr zu bringen als
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unschuldige Zivilisten zu gefährden. In diachroner Perspektive impliziert dies präventive Maßnahmen zur Vorbeugung vor Situationen, die sich zu Menschenrechtskatastrophen ausweiten können. Diese umfassen eine konsistente Außenund Menschenrechtspolitik der Einzelstaaten und der Staatengemeinschaft, einen verbesserten Aufbau internationaler Rechtsstrukturen und Institutionen, entwicklungspolitische Maßnahmen, ein Frühwarnsystem mit Blick auf ‚humanitäre‘ Krisen und Katastrophen, Regeln des Umgangs mit Regierungen und Staaten, die die Menschenrechte ihrer Bürger nicht hinreichend achten, Bildungspolitik sowie besonders die Bekämpfung von Armut als Quelle von Unterdrückung und Gewalt.13 Eine Beurteilung der Legitimität militärischer Interventionen zum Schutz vor Verletzungen grundlegender Menschenrechte könnte dann mit Blick auf konkrete Fälle auch eine graduelle Dimension erhalten. Als in einem hohen Grade gerechtfertigt können vor dem Hintergrund der unvermeidlichen Inkaufnahme der Schädigung Unschuldiger vor allem Interventionen gelten, die nicht erst durch Versäumnisse im Vorfeld auf der Ebene nichtmilitärischer Formen der Prävention nötig geworden sind. Da derartige Formen der Prävention einen institutionellen Rahmen hinsichtlich ihrer Realisierung benötigen, ist letztlich auch mit Blick auf diesen Aspekt eine Weiterentwicklung der internationalen Institutionen gefordert. Wirklich befriedigend lässt sich das Nothilfe-Dilemma, wie die obige Diskussion zeigt, jedoch nicht auflösen. Will man behaupten, dass sich aus ihm ein striktes Interventionsverbot ergibt, muss man akzeptieren, dass die Erfüllung des Prinzips der Nichtschädigung Unschuldiger die Nicht-Realisierung von Nothilfe bedeuten kann. Dies kann konkret auch bedeuten, dass die Nichtschädigung weniger ‚auf Kosten‘ vieler erfolgt, zu deren Gunsten keine Nothilfe geleistet wird. Aber auch die Gegenposition fordert einen hohen Preis. Will man dafür argumentieren, dass Nothilfe erlaubt sein kann, muss man die ungewollten Nebenfolgen der Schädigung und Tötung Unschuldiger letztlich akzeptieren. Akzeptabel erscheint diese Inkaufnahme allerdings allenfalls dann, wenn die Rechtfertigungshürden sehr hoch sind, was hier vor allem in der Ausweitung des Verständnisses der ultima ratio-Bedingung gefasst wurde und zur Forderung nach einer massiven Stärkung präventiver Maßnahmen geführt hat, ohne die eine glaubwürdige Rechtfertigung militärischer Interventionen zum Schutz der Menschenrechte nicht gelingt.
13 Solche Strategien der nichtmilitärischen Prävention bilden unter dem Titel der Responsibility to Prevent auch eine Säule des Konzepts der Responsibility to Protect. Vgl. ICISS 2001, S. 19–27.
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3.2 Diskussion der Kriterien des ius in bello für Schutzinterventionen Geht man nun davon aus, dass sich Interventionen zum Schutz vor Verletzungen grundlegender Menschenrechte aus Sicht des ius in bello zumindest nicht grundsätzlich ablehnen lassen und damit unter bestimmten Bedingungen rechtfertigbar sind, stellt sich schließlich noch die Frage nach den konkreten Kriterien ihrer legitimen Durchführung.14 Intentio recta. Auch auf Ebene der Durchführungsbedingungen spielt das intentio recta-Kriterium, das oben schon zur Beurteilung der Anfangsbedingungen herangezogen wurde, klassischerweise eine gewisse Rolle für die Beurteilung der Gerechtigkeit des Einsatzes militärischer Gewalt. Es wird hier auf die Ebene der individuellen Handlungsmotivation der kämpfenden Soldaten bezogen. Anders als vor dem Hintergrund der frühen vor allem christlichen Theorie des gerechten Krieges, in der dieses Kriterium zum einen für die Beurteilung der Gerechtigkeit des Krieges, zum anderen aber auch als normative Vorgabe für die Kämpfenden bedeutend war, damit diese ihr Seelenheil nicht riskierten, wird die falsche Intention der kämpfenden Soldaten heute jedoch nur noch dann erfasst, wenn sie in Form grausamer Handlungen als Verletzungen des Kriegsrechts sichtbar wird. Für solche Fälle formulieren kriegsrechtliche Bestimmungen den Rahmen für eine Verurteilung und Bestrafung solcher Handlungen. Insgesamt kann aber wohl gelten, dass das intentio recta-Kriterium heute auf der Ebene des ius in bello aufgrund des Fehlens religiöser Hintergrundannahmen und aufgrund der Entwicklungen im Kriegsrecht keine zentrale Rolle hinsichtlich der Bewertung der Legitimität des Einsatzes militärischer Gewalt mehr spielt. Wer kann gerechterweise Soldat einer Interventionsarmee sein? Bezüglich der Rolle der Soldaten ist mit Blick auf die Rechtfertigung militärischer Interventionen zum Schutz der Menschenrechte außerdem danach zu fragen, wer gerechterweise Soldat einer Interventionsarmee sein kann. Hier ist mit Blick auf die Fragestellung dieser Arbeit keine Festlegung nötig, aber es ist offensichtlich, dass zumindest ein besonderer Rechtfertigungsbedarf besteht, wenn Soldaten, die sich an einer militärischen Intervention zum Schutz der Menschenrechte der Bürger eines fremden Staates beteiligen sollen, ihren Dienst nicht freiwillig tun. Möglicherweise kann man ein Prinzip der freiwilligen Zustimmung zum Militärdienst im Falle der Verteidigung eines Gemeinwesens bei Bedrohung von außen unter bestimmten Bedingungen einschränken – was aber auch umstritten ist – gewiss kann es aber
14 Ausführlich zu den Kriterien des ius in bello in der Theorie des gerechten Krieges siehe Walzer 2007; McMahan 2009.
3 Das Problem der gerechten Durchführung von Interventionen
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nicht als legitim gelten, Soldaten, die nicht freiwillig Mitglied der Armee sind, zum Einsatz zum Schutz der Menschenrechte innerhalb eines anderen Staates zu zwingen, weil es dabei nicht um den Schutz des eigenen Gemeinwesens geht; hier muss für die Soldaten also ein Prinzip der freiwilligen Zustimmung gelten.15 Proportionalitätskriterium. Zentral für die Beurteilung der gerechten Durchführung einer Intervention – wie eines Krieges überhaupt – ist die Orientierung am Kriterium der Verhältnismäßigkeit der eingesetzten Mittel zum Erreichen eines legitimen Zieles (Proportionalitätskriterium). Zum einen muss der Einsatz militärischer Gewalt das angemessene Mittel zur Erreichung des legitimen Zweckes, hier des Schutzes vor Verletzung grundlegender Menschenrechte, darstellen. Zum anderen muss eine militärische Aktion unter verhältnismäßigem Einsatz der militärischen Mittel durchgeführt werden. Die Mittel, die zur Erreichung eines legitimen Zweckes eingesetzt werden, dürfen nicht das Maß, das zum Erreichen des Zweckes notwendig ist, überschreiten, wobei es bei der Kriegsführung gewisse Handlungsformen gibt, die grundsätzlich – als mala in se (vgl. dazu Hinsch/Janssen 2006, S. 111)16 – verboten sind und unter keinen Umständen durch das Ziel des Erreichens eines bestimmten Zweckes legitimiert werden können. Wo der Zweck hier genau aufhört bestimmte Mittel zu heiligen ist jedoch eine schwierige Auslegungsfrage, die nicht allgemeingültig, sondern allein im konkreten Fall beantwortet werden kann. Besondere Aufmerksamkeit genießt im Rahmen militärischer Interventionen zum Schutz der Menschenrechte auch aus Sicht des Proportionalitätskriteriums der Schutz von Zivilisten. Dies wirft mit Blick auf die Regeln der Kriegsführung die Frage auf, ob die Intervenierenden bei militärischen Interventionen zum Schutz vor Verletzung grundlegender Menschenrechte mehr riskieren müssen, um unschuldige Opfer zu vermeiden, als bei einem Verteidigungskrieg, da sie nicht direkt bedroht werden – der Verteidigungskrieg wird ihnen ja gewissermaßen aufgezwungen – und somit nicht in Notwehr handeln, unter deren Bedingung der Einsatz massiverer Mittel zur Verteidigung als erlaubt gelten kann.17 Zur Verhältnismäßigkeit gehört auch die Bedingung, dass die eingesetzten Mittel zur Erreichung des legitimen Zweckes geeignet sein müssen (Tauglichkeitsbedingung) (vgl. dazu Schmücker 2000, S. 327).
15 Zur Diskussion dieser Frage vgl. Hinsch/Janssen 2006, S. 42f. 16 Bestimmte Handlungsformen, wie etwa Folter, gelten demnach grundsätzlich als illegitim. 17 Schmücker schlägt für die Rechtfertigung militärischer Interventionen zum Schutz vor Menschenrechtsverletzungen ein Kriterium vor, nach dem im Rahmen einer Intervention Bevölkerungsteile, die Widerstand gegen eine illegitime Regierung leisten, besonders geschont werden müssen. Vgl. dazu Schmücker 2005, S. 36. Dieses Kriterium fasse ich hier unter das Kriterium der Verhältnismäßigkeit.
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Teil II Das Problem der „humanitären Intervention“ aus gegenwärtiger Perspektive
Ius post bellum. Schließlich gilt es zur Beurteilung der Legitimität des Einsatzes militärischer Gewalt noch das Verhalten der Akteure nach dem Ende der Kampfhandlungen in den Blick zu nehmen. Diese Perspektive des ius post bellum rückt in den jüngeren Diskussionen zunehmend in den Blick (vgl. etwa Rosenfeld 2009), ist aber keineswegs neu und findet sich (der Idee nach) schon bei Cicero.18 Dieser Bereich umfasst Verantwortung und Verpflichtung der intervenierenden Partei für den Wiederaufbau sowohl mit Blick auf die Infrastruktur wie auch auf den Wiederaufbau legitimer und funktionsfähiger politischer Strukturen sowie klassischerweise den Umgang mit Kriegsgefangenen nach Ende der Kampfhandlungen. Mit Blick auf die Interventionsfrage spielt hier zudem die Aufarbeitung des vergangenen Unrechts mit juristischen Mitteln eine wichtige Rolle.
18 Vgl. oben, I, 1.
Fazit
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Fazit „Doch, so sagt man, der Weise wird nur gerechte Kriege führen. Als ob er nicht, wenn er menschlich fühlt, noch viel mehr über die Notwendigkeit gerechter Kriege trauern müsste!“ (Augustinus, Civ. Dei XIX,7)
Motiviert sind die in diesem Buch angestellten Überlegungen durch einige eigentümliche Spannungen, die sichtbar werden, wenn die Frage nach einer Bewertung der Legitimität militärischer Interventionen zum Schutz der Menschenrechte gestellt wird; eine Frage, die aktuell nicht primär aus einem theoretischen Interesse aufgeworfen wird, sondern die aufgrund konkreter politischer Spannungen und menschlicher Katastrophen, die mit einem gewissen Grad an normativer Orientierungslosigkeit einhergehen, einer weiteren Aufklärung, auch durch philosophische und historische Analysen, bedarf. Zu Tage treten diese Spannungen in unterschiedlichen und teils widersprüchlichen Intuitionen bezüglich der Bewertung von Reaktionen auf schwere Menschenrechtsverletzungen. Es erscheinen uns zugleich der Schutz der Menschenrechte und die Achtung staatlicher Souveränität, die einen besonderen Ausdruck im Prinzip der Nichteinmischung in die inneren Angelegenheiten eines Staates findet, bedeutsam und sowohl das Prinzip der Nothilfe im Falle massiver Menschenrechtsverletzungen als auch das Prinzip der Nichtschädigung Unschuldiger, das gerade auch im Rahmen des Einsatzes militärischer Gewalt Geltung beansprucht, können prima facie aus guten Gründen Geltung beanspruchen. Die spezielle methodische und hermeneutische Ausrichtung dieser Arbeit bestand darin, die Frage nach der Rechtfertigung militärischer Interventionen zum Schutz der Menschenrechte unter Berücksichtigung ausgewählter, aber zu diesem Thema zentraler Positionen aus der Geschichte der politischen Philosophie und der Geschichte der Theorie des Völkerrechts zu untersuchen. Im Zentrum dieser Analyse stand vor allem das Ziel, einen Beitrag zur Auflösung der dilemmatischen Spannung zwischen dem Prinzip des Menschenrechtsschutzes und dem Prinzip staatlicher Souveränität zu entwickeln. Dabei wurde im Rahmen der Analyse der ideengeschichtlichen Positionen gezeigt, dass ein Vorrang des Prinzips des Menschenrechtsschutzes vor dem einer bloßen völkerrechtlich positiven Souveränität unter Verweis auf die Voraussetzungen eines vernünftigen und konsistenten Verständnisses von Herrschaft, legitimer Staatlichkeit und Souveränität begründet werden kann. Die besondere menschenrechtliche Stoßkraft einer solchen Kritik entarteter Souveränität wurde unter Berücksichtigung eines menschenrechtlich akzentuierten und begründeten Widerstandsrechts herausgearbeitet, wobei der Vorschlag entwickelt wurde, dass in konkreten Fällen, in denen sich die Frage stellt, ob das Prinzip der staatlichen Souveränität und damit das
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völkerrechtliche Einmischungsverbot oder das Prinzip des Menschenrechtsschutzes höher gewichtet werden soll, die Gewichtung anhand der Kriterien vorgenommen werden kann, die in der Theorie des Widerstandsrechtes für den Einsatz von Gewalt durch die Mitglieder eines Gemeinwesens gegen die Regierung für Fälle formuliert wurden, in denen diese ihren berechtigten Anspruch auf Souveränität aufgrund der Verletzung der grundlegenden Rechte von Mitgliedern ihres Gemeinwesens verloren hat. Konkret heißt dies, dass in Fällen, in denen das Volk oder eine unterdrückte Minderheit innerhalb eines Volkes aufgrund massiver und systematischer Verletzungen ihrer grundlegenden Menschenrechte ein Recht auf Widerstand hätten, eine Intervention von außen zumindest nicht mehr berechtigt unter Verweis auf das zu schützende Prinzip staatlicher Souveränität abgelehnt werden kann, denn die Legitimität von Widerstand im konkreten Fall zeigt an, dass der Anspruch eines Herrschers oder einer Regierung auf Souveränität und die sich daraus ergebenden Schutzrechte im konkreten Fall nicht mehr gelten, weil der Herrscher oder die Regierung den sie legitimierenden Zweck des Schutzes der Menschenrechte seiner Bürger nicht erfüllt oder grob verletzt. In der Theoriegeschichte klingt ein solches oder ein verwandtes Verständnis des Zusammenhangs der Legitimität von Herrschaft und der Berechtigung zu einer Intervention von außen zum Schutz der Mitglieder eines Gemeinwesens vielerorts an. Vor der Entwicklung einer menschenrechtlichen Terminologie findet es seinen Ausdruck vor allem in der Erlaubnis von Interventionen unter Rückgriff auf die Tyrannislehre.1 Zudem zeigt der Rückblick auf die historischen Positionen, wie die Verletzung individueller Rechte als gerechter Grund für eine militärische Intervention zum Schutz vor der Verletzung grundlegender individueller Rechte verstanden werden kann. Dies wird vor allem in der Position Francisco de Vitorias deutlich, der vor dem Hintergrund der Diskussion um die Rechtmäßigkeit der Eroberungen in der neuen Welt den klassischen Rechtsgrund für einen gerechten Krieg, die Verletzung eines Rechtsanspruches, individualistisch wendet und damit die Figur der Verletzung subjektiver Rechte in die Diskussion um den gerechten Grund für den Einsatz militärischer Gewalt in die Theorie des gerechten Krieges einführt. Mit Blick auf die Diskussion seiner Zeit ist dabei besonders hervorzuheben, dass Vitoria zeigt, dass von den vielen Rechtfertigungsstrategien, die für die Bekriegung der Indios in Anschlag gebracht wurden, in jenem konkreten Fall allein die Verletzung individueller Rechte einen gerechten Grund für den Einsatz militärischer Gewalt darstellen konnte.
1 Vgl. dazu oben die Typologie der Interventionsargumente in I, 6.
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Die Position, die Las Casas in der Disputation von Valladolid in der Auseinandersetzung mit Sepúlveda vertreten hat, muss mit Blick auf die gegenwärtige Interventionsdiskussion vor allem für die Probleme, die sich auf der Ebene der Durchführungsbedingungen für die Beurteilung der Legitimität einer militärischen Intervention zum Schutz der Menschenrechte ergeben, berücksichtigt werden. Für den konkreten Fall der spanischen Eroberungen hat Las Casas herausgestellt, dass Interventionen zwar im Hinblick auf die Anfangsbedingungen prinzipiell rechtfertigbar sind, dass sie aber unter bestimmten Bedingungen nicht gerecht durchzuführen sind und dann als insgesamt nicht gerechtfertigt gelten und unterlassen werden müssen, was nach seiner Auffassung bei den spanischen Eroberungen der Fall war. Im Anschluss an Las Casas muss deshalb die Ebene der Durchführungsbedingungen, die in der gegenwärtigen Interventionsdebatte von vielen Autoren unter Verweis auf die klassischen Kriterien des ius in bello nur kurz am Rande behandelt und als normativ unproblematisch erachtet wird, stärker berücksichtigt werden. Mit Blick auf die gegenwärtige Diskussion um eine Schutzverantwortung (Responsibility to Protect) der einzelnen Staaten und der Staatengemeinschaft leistet die vorliegende Arbeit durch den ideengeschichtlichen Rückbezug einen Beitrag zur Explikation des historischen Hintergrundes eines solchen normativ gehaltvollen Verständnisses von Souveränität. Die Auffassung, die das Konzept der Responsibility to Protect trägt, nämlich, dass Regierungen einen Schutzauftrag zur Garantie der grundlegenden Menschenrechte der Mitglieder ihres Gemeinwesens haben und dass die Anerkennung ihres Anspruches auf Souveränität und des sich daraus ergebenden Einmischungsverbotes sowie der sich daraus ergebenden Schutzgarantien von der Erfüllung dieses Zweckes abhängt, kann vor dem Hintergrund eines sich durch die gesamte Ideengeschichte ziehenden Verständnisses der Legitimität von Herrschaft als wohlbegründet gelten. Eben der Gedanke, dass sich ein tyrannisches Regime oder ein Gewaltherrscher nicht hinter dem Prinzip staatlicher Souveränität – sowohl nach innen als auch nach außen – verstecken können, um sich einer Bewertung seiner Legitimität zu entziehen, und dass andere Staaten im Falle extremer Menschenrechtsverletzungen gegenüber der Bevölkerung eines fremden Staates durch deren Regierung zu einer Intervention zum Schutz der Mitglieder des Gemeinwesens berechtigt sein können, wird im Konzept der Responsibility to Protect vor dem Hintergrund der Herausforderungen des beginnenden 21. Jahrhunderts in einer spezifischen Form artikuliert. Da sich die moralische Spannung zwischen dem Prinzip der Nothilfe und dem Prinzip der Nichtschädigung mit Blick auf die Interventionsfrage nicht befriedigend auflösen lässt, wurde hier vorgeschlagen, eine Theorie der militärischen Intervention zum Schutz der Menschenrechte um eine Dimension der
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nichtmilitärischen Prävention zu ergänzen. Vor allem ausgehend vom ultima ratio-Kriterium kann ohne eine solche Ergänzung der Interventionsdebatte um eine Perspektive nichtmilitärischer Formen der Prävention und der Nothilfe kaum konsistent für eine Berechtigung zum Einsatz militärischer Gewalt zum Schutz der Menschenrechte argumentiert werden, da die Bedingung, dass der Einsatz militärischer Gewalt nur das letzte Mittel zum Erreichen eines legitimen Zweckes darstellen kann, auch diachron ausgelegt werden muss. Schon das Plädoyer für eine stärkere Konzentration auf nichtmilitärische Formen der Nothilfe und für eine Weiterentwicklung der zu ihrer Realisierung notwendigen internationalen Institutionen am Ende einer Auseinandersetzung mit der Frage nach der Möglichkeit der Rechtfertigung des Einsatzes militärischer Gewalt zum Schutz vor Verletzungen grundlegender Menschenrechte belegt deutlich das kritische Potential einer philosophischen Theorie der Rechtfertigung des Einsatzes militärischer Gewalt. Zwar findet sich eine Beschäftigung mit Rechtfertigungen für den Einsatz militärischer Gewalt immer auch mit dem Einwand konfrontiert, eine Rechtfertigung zu entwickeln, die missbraucht oder instrumentalisiert werden kann. Doch gegen diesen Einwand kann mit Nachdruck auf das kritische Potential einer solchen Theorie verwiesen werden, das in der Entwicklung eines Vokabulars besteht, das vor allem eine Kritik des illegitimen Gebrauchs militärischer Gewalt ermöglicht. Mit Blick auf die gegenwärtige Interventionsdiskussion stellt eine solche Theorie gerade heraus, dass nicht alle Interventionen, in deren Rechtfertigung auf vermeintlich humanitäre Gründe verwiesen wird, als legitim gelten können, sondern nur solche, die dem Schutz vor massiver und systematischer Verletzung grundlegender Menschenrechte dienen – im konkreten Fall bemessen anhand eines anspruchsvollen Katalogs von Kriterien, die erfüllt sein müssen. So vermag eine philosophische Auseinandersetzung mit den argumentativen Strukturen der Rechtfertigung des Einsatzes militärischer Gewalt mit Blick auf die Interventionsfrage vielmehr einen Missbrauch solcher Rechtfertigungsfiguren zu kritisieren. Sie artikuliert unter Rückgriff auf ein normativ gehaltvolles Verständnis von Souveränität eine Position, die es ausschließt, dass sich Tyrannen auf moralisch eingekleidete Schutzrechte, die auf eine als sakrosankt verstandene positivrechtliche staatliche Souveränität zurückgeführt werden, berufen können um berechtigte Einmischungen von außen zum Schutz ihrer Untertanen zu verhindern. So muss schließlich im Anschluss an eine philosophische Analyse des Problems der Rechtfertigung militärischer Interventionen zum Schutz vor Verletzungen grundlegender Menschenrechte an die verantwortlichen Akteure appelliert werden, dass sie die hier diskutierten Kriterien anspruchsvoll als Maßstab an Rechtfertigungen anlegen um diese zu überprüfen und gegebenenfalls zu entlarven. Um die Gefahr eines willkürlichen Gebrauchs militärischer Gewalt möglichst
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auszuschließen, schließt sich daran die Forderung an, eine Weiterentwicklung der internationalen Institutionen und des Völkerrechts voranzutreiben. Wer zudem die Spannungen, die sich bei einer moralischen Bewertung der Probleme der Durchführung von Interventionen zum Schutz vor Verletzung grundlegender Menschenrechte ergeben, ernst nimmt, muss auf politischer Ebene die Bedeutung von Präventionsstrategien stärken. Es ist sowohl vom Standpunkt einer moralischen Bewertung der Interventionsfrage als auch politisch von größter Bedeutung, Mittel der Konfliktvermeidung frühzeitig auszuschöpfen, um auf eine Theorie der Intervention zum Schutz der Menschenrechte nur als ultima ratio und auf den Einsatz militärischer Gewalt wirklich nur als trauriges Notmittel zurückgreifen zu müssen.
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241
Sach- und Personenregister Allgemeine Erklärung der Menschenrechte 1, 3, 17, 184, 190 Arendt, H. 4, 194 Aristoteles 22–24, 31, 59, 63, 67, 93f., 111, 124, 133 Augustinus 30–34, 36–38, 42, 75, 83, 99, 101, 191, 223 Barbaren 22f., 31, 58–73, 82f., 85, 94–98, 102f., 111, 171 Beestermöller, G. 35–41 Bielefeld, H. 193, 197 Bittner, R. 4, 174, 213 Bleisch, B. 215 Bodin, J. 118–127, 138, 146f., 204 Bordat, J. 184f. Cano, M. 91–93 Chomsky, N. 214 Cicero 24–28, 31, 34–37, 42, 135, 138, 141, 172, 222 Covarrubias y Leyva, D. 66, 91, 93–98 De Soto, D. 78f., 81, 91, 99f. Delgado, M. 80f., 85, 90 Dobos, N. 14 Einheit des Menschengeschlechts 80f., 90, 94, 106, 131, 171 Einmischungsverbot 4, 7, 12, 16, 117, 152,158, 164, 189–191, 201, 224f. Geismann, G. 159f. Gentilis, A. 118, 127–131, 166, 201, 204 Gerechter Grund/causa iusta 9, 24, 26, 36, 44, 63f., 71f., 82, 96–98, 100, 102, 112, 117, 125, 147, 150, 173, 186, 192, 195f., 198, 206, 209, 224 Gerhardt, V. 13 Grewe, W. 32, 47, 51, 58 Grotius, H. 13–15, 23, 27, 29, 33, 64, 118, 127, 131–144, 145–146, 147, 152, 160, 166, 170, 204 Habermas, J. 8, 160, 166, 196f., 199 Hegel, G.W.F. 166 Hinsch, W. 6, 10, 30, 159, 186, 202, 207, 210, 212, 214–218, 221 Hobbes, Th. 52, 56, 119, 150, 154, 160f. Höffe, O. 159, 160, 193, 197
Horvath, P. 15f. Intentio recta 25, 31–33, 36, 208–210, 214, 220 Intervention bei Naturrechtsverletzungen 13, 57, 59, 68f., 81, 84f., 87, 156 zum Schutz vor tyrannischer Herrschaft 52–56, 57, 63f., 67, 69, 77, 92, 100, 103, 117, 119, 122, 126, 129, 134, 142f., 159, 169, 172–174 Religionsintervention 48, 50f., 53, 56, 60–63, 67, 92, 96, 102, 115, 156, 169–173 zur Zivilisierung 31, 57, 66f., 79, 82, 85, 91, 93–96, 102, 111f., 115, 168–173, 197 Isidor von Sevilla 30 Ius ad bellum/Anfangsbedingungen 9, 11, 21, 24, 33, 36, 57, 65, 71f., 76, 80, 84, 90, 174, 187, 192, 196, 206–211, 213, 218, 220, 225 Ius cogens 7, 188 Ius in bello/Durchführungsbedingungen 7, 9–11, 21, 24f., 33, 36, 62–65, 72f., 80, 84, 90, 103, 113, 169, 174f., 183, 185, 187, 205f., 210, 212–214, 220–222, 225 Ius post bellum 11, 24f., 72f., 80, 89, 104, 187, 222 Janssen, D. 6, 10, 30, 186, 202, 207, 210, 212, 214–218, 221 Kant, I. 14–16, 25, 52, 122, 125, 133, 138, 152, 155, 159–166, 175, 180, 182 Kersting, W. 13, 166f., 200 Kleemeier, U. 21, 31, 37 Kosovo 207 Krause, S. 15f., 22, 25, 33 Las Casas, B. 62, 66, 78–90, 98, 170, 174, 225 Laubach-Hintermeier, S. 180 Legitime Autorität/auctoritas principis 24, 31, 36, 64, 68, 99–101, 206–208 Libyen 3, 189 Locke, J. 49, 70, 124, 133, 147–151, 161, 163, 204f. Lohmann, G. 193 Meggle, G. 13 Menke, Ch. 194
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Sach- und Personenregister
Merkel, R. 4, 189 Mill, J. St. 166–167 Molina, L. 91f., 101–104 Müller, O. 210 Münkler, H. 216 Ottmann, H. 45, 120, 122, 153 Pazifismus 21, 30, 74, 183 Pereña, L. 47 Peters, K. 13, 159 Pogge, Th. 186, 200, 215 Pollmann, A. 194 Prävention, nichtmilitärisch 211, 218f., 226f. Pufendorf, S. 119, 144–146, 147, 166, 205 Quante, M. 5, 7, 193 responsibility to protect/Schutzverantwortung 3, 5f., 8f., 16f., 78, 115, 185, 188f., 192, 198, 207, 219, 225 Riley-Smith, J. 33, 35 Rosenfeld, F. 11, 222 Rousseau, J.-J. 24, 161 Ruanda 186 Schmitt, C. 166 Schmücker, R. 12–14, 184, 221, Schramme, Th. 4, 7, 200f., 214 Seneca 21f., 28–30, 42, 128–130, 141f. Sepúlveda, G. 59, 66, 78–90, 111, 170, 172, 225 Sicherheitsrat 3, 8, 189, 199, 203, 207 Siep, L. 6, 198 Soder, J. 105f., 109
Srebrenica 186 Stüben, J. 47, 91 Suárez, F. 46, 91f., 104–114, 116, 205 Theorie der Doppelwirkung/des Doppeleffekts 10, 73–76, 89, 93, 100, 113, 173–175, 185, 211, 214–218 Thomas von Aquin 30, 35–42, 52f., 64f., 75, 99, 101, 107, 113, 122, 172, 191 Ultima ratio 25, 37, 104, 150, 210f., 218f., 226f. diachron 218f., 226 UN-Charta 7f., 36, 188, 190, 194f., 206f. Vattel, E. 14, 152, 156–159, 160, 166, 191, 204f. Verhältnismäßigkeit/Proportionalität 17, 25, 72, 84, 93, 104, 107, 172, 202, 216, 218, 221 Vitoria, Fr. 11, 46–78, 80, 91, 95, 101, 103f., 108, 116, 117, 171, 173, 179, 192, 195, 224 Walzer, M. 4f., 11, 24, 63, 65, 167, 171, 187, 210 Westfälischer Friede 13, 41, 118, 152 Widerstand, stellvertretend 12, 14, 16f., 55, 77, 114, 126f., 129, 132, 142, 147, 151, 159, 179–181, 204, 208 Wohlrapp, H. 213, 216 Wolff, Ch. 152, 153–156, 157, 165, 175, 180, 182 Zanetti, V. 13, 152, 153, 159, 166, 182, 217