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German Pages 186 [188] Year 2020
Katharina Naumann Die Kraft des Exempels
Quellen und Studien zur Philosophie
Herausgegeben von Jens Halfwassen, Dominik Perler und Michael Quante
Band 141
Katharina Naumann
Die Kraft des Exempels Eine kantische Perspektive auf das Problem der Supererogation
Die vorliegende Arbeit wurde im März 2017 vom Fachbereich Geschichts- und Kulturwissenschaften der Justus-Liebig-Universität Gießen als Dissertation angenommen.
ISBN 978-3-11-067470-5 e-ISBN (PDF) 978-3-11-067472-9 e-ISBN (EPUB) 978-3-11-067475-0 ISSN 0344-8142 Library of Congress Control Number: 2019956321 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2020 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck www.degruyter.com
Vorwort Das vorliegende Buch ist eine nur geringfügig überarbeitete Fassung meiner Dissertationsschrift, die ich im März 2017 am Fachbereich Geschichts- und Kulturwissenschaften der Justus-Liebig-Universität Gießen eingereicht habe. Dazu, dass dieses Buch entstanden ist, haben viele Menschen beigetragen, bei denen ich mich an dieser Stelle bedanken möchte. An erster Stelle möchte ich meinem Doktorvater, Prof. Dr. Christoph Halbig, herzlich danken, der nicht nur den Anstoß für eine Auseinandersetzung mit der Tugendlehre Kants gegeben hat, sondern mein Projekt auch stets wohlwollend begleitet und unterstützt hat. Im Rahmen seines Kolloquiums in Gießen, Konstanz und Zürich hatte ich ferner über die Jahre hinweg regelmäßig Gelegenheit, Vorläufer und Teile meiner Arbeit vorzustellen und zu diskutieren. Für wertvolle Kommentare und Rückmeldungen danke ich allen Beteiligten, namentlich auch den längsten Weggefährten, Arne Grießer und Felix Timmermann. Ebenfalls maßgeblich profitiert habe ich vom Austausch mit zahlreichen Kolleginnen und Kollegen im Rahmen von Konferenzen, Workshops und Kolloquien in Basel, Dublin, Gießen, Göttingen, Leuven, München, Sheffield, Siegen und St. Andrews. Nicht zuletzt möchte ich mich herzlich bei Marie-Luise Raters, Hubert Schnüriger und Veronika Zink bedanken, die sich über diese Gelegenheiten hinaus Zeit nahmen, Entwürfe von mir zu lesen und zu kommentieren. Prof. Dr. Matthias Vogel danke ich herzlich für die Übernahme des Zweitgutachtens, Prof. Dr. Elif Özmen und Prof. Dr. Andreas Langenohl dafür, dass sie sich bereit erklärt haben, in meiner Prüfungskommission mitzuwirken. Ferner gilt mein Dank den Herausgebern der Quellen und Studien zur Philosophie für die Aufnahme der Arbeit in die Reihe. Ohne die unermüdliche Korrekturarbeit von Ulrich Schindler hätte ich diese Arbeit schließlich nicht fertigstellen können und ebenso wenig ohne die Unterstützung vieler Freundinnen und Kolleginnen, die stets ein offenes Ohr hatten und gerade auch in schwierigen Phasen dabei halfen, die Motivation hoch zu halten. Mein Dank gebührt an dieser Stelle, neben vielen anderen, insbesondere Miruna Bacali, Silvia Boide, Ioanna Kipourou, Julia Michael und Adriana Pavic und in ganz besonderer Weise Silke Schmidt und Veronika Zink, die mir, auf ihre je ganz eigene Art und Weise, in vielfacher Hinsicht ein gutes Exempel waren. Der größte Dank von allen aber gebührt aber meiner Familie. Gießen, im September 2019, K.N.
https://doi.org/10.1515/9783110674729-001
Inhalt Siglenverzeichnis Einleitung
IX
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Supererogation 15 16 Begriffsgeschichte Aufstieg und Fall in der christlichen Theologie 16 19 Wiederbelebung in der säkularen Ethik Zur Struktur der aktuellen Debatte 22 Die Definitionsfrage: Was ist Supererogation? 22 29 Die Existenzfrage: Gibt es Supererogation? Die Relevanzfrage: Warum Supererogation? 36
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40 Kants Pflichtkonzeption Handeln aus Pflicht 42 Die Kantische Ethik als eine Theorie praktischer Vernunft Kants Pflichtanalyse in der Grundlegung 44 52 Die Tugendpflichten Rechtspflichten und ethische Pflichten 52 Zwecke, die zugleich Pflicht sind 58 63 Drei Herausforderungen
Zur (Un)Möglichkeit der Supererogation in der Kantischen Ethik 66 Integration im Rahmen der Tugendpflichten 67 75 Modifikation des Wert-Kriteriums Irrelevant für die Kantische Ethik? 81
. . . . . .
90 Die Kultur der Moralität in uns 93 Die Tugend Die Pflicht zur Selbstvervollkommnung 101 Ein erstrebenswertes Ideal? – Zum Verhältnis von Pflicht und 108 Neigung
. ..
Die Ästhetik der Sitten 114 Die Wegräumung der inneren Hindernisse Affekte 116
115
42
VIII
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Inhalt
Leidenschaften 118 Apathie und Herrschaft 122 Die Entwicklung der nie verlierbaren ursprünglichen Anlage eines 125 guten Willens Die ästhetischen Vorbegriffe im Allgemeinen 126 128 Die vier moralischen Beschaffenheiten im Einzelnen 136 Selbstvervollkommnung, Selbstbetrug und Supererogation 143 Die Kraft des Exempels Die äußere Beförderung der Tugend 144 Vom Tugendschein und der Erscheinung der Tugend 150 Moralische Erziehung Das gute Exempel 154 Funktionen des Exempels 155 160 Die Relevanz des Exempels Die Bewunderung des Guten 164
Literaturverzeichnis Personenregister Sachregister
166 173
175
145
Siglenverzeichnis Kants Schriften werden zitiert nach der Akademie-Ausgabe (Hg.: Bd. 1 – 22 Preußische Akademie der Wissenschaften, Berlin 1900 ff.), unter Angabe von Sigle, Band- und Seitenzahl. Anth GMS KpV KU MS Päd RGV VRML WA
Anthropologie in pragmatischer Hinsicht (AA VII) Grundlegung zur Metaphysik der Sitten (AA IV) Kritik der praktischen Vernunft (AA V) Kritik der Urteilskraft (AA V) Die Metaphysik der Sitten (AA VI) Pädagogik (AA IX) Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft (AA VI) Über ein vermeintes Recht aus Menschenliebe zu lügen (AA VIII) Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung? (AA VIII)
https://doi.org/10.1515/9783110674729-002
Einleitung Denn es ist nicht von etwas Gemeinem die Rede, sondern davon, auf welche Weise man leben soll. (Platon, Rep. 352d)
Die Frage Sei es im Sport, in der Musik oder im beruflichen Umfeld, vielerorts haben wir Vorbilder, an denen wir unser eigenes Handeln wenigstens zum Teil orientieren, von denen wir uns inspirieren lassen und die uns mitunter motivieren. Die Orientierung an Vorbildern scheint mit Blick auf bestimmte Ziele, die wir im Leben anstreben mögen, gängige und anerkannte Praxis zu sein. Doch lässt sich diese Beobachtung auf moralisches Handeln übertragen? Diese Frage stellt den Rahmen der vorliegenden Arbeit dar. Genauer gesagt geht es darum, ob und inwiefern die Orientierung an moralisch herausragenden Akteurinnen¹ einen epistemischen und motivationalen Beitrag leisten kann, selbst moralisch (besser) zu handeln. Auf den ersten Blick mag die angeführte Analogie naheliegend sein, man denke dabei etwa an die Wirkung bestimmter historischer Figuren wie Mahatma Gandhi oder Martin Luther King. Doch wie sich zeigen wird, ist sie keinesfalls so unproblematisch, wie sie zunächst anmutet. Zumal angestrebt wird, dieser Frage im Rahmen der Kantischen Ethik nachzugehen, was weitere Einwände hervorruft. Ehe ich mich jedoch diesen Problemen zuwende, um auf dieser Grundlage These und Aufbau der Arbeit näher zu erläutern, verdient die Ausgangsbeobachtung zunächst einer eingehenderen Betrachtung.
Die Ausgangsbeobachtung Als Beispiel soll im Folgenden zunächst die Funktion von Vorbildern im Leistungssport dienen. In diesem Rahmen ist es keinesfalls unüblich, Personen nach Ihren Vorbildern zu fragen. Ferner zu fragen, was Sie an diesen bewundern, sowohl mit Blick auf herausragende Leistungen, als auch auf herausragende Eigenschaften. Und schließlich zu fragen, inwiefern sie diese inspirieren und motivieren, ihre eigenen Ziele zu verfolgen, ja inwiefern der Gedanke daran ihnen womöglich hilft, manche „Durststrecke“ zu überwinden. Wir unterstellen damit
In der vorliegenden Arbeit wird für Personen(gruppen) stets die Form des generischen Femininums verwendet, auf eine Schreibweise mit Gender-Sternchen wird der besseren Lesbarkeit halber verzichtet. https://doi.org/10.1515/9783110674729-003
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Einleitung
scheinbar gleichsam eine epistemische wie eine motivationale Wirksamkeit von Vorbildern, die mit einer bestimmten emotionalen Reaktion auf das Vorbild einhergeht, nämlich der Bewunderung. Diese Praxis zeichnet sich beispielsweise dort sehr deutlich ab, wo wir eine mittlerweile selbst erfolgreiche Sportlerin retrospektiv danach befragen, welche Faktoren zu ihrem Erfolg beigetragen haben. Als wirkmächtige Vorbilder werden in diesem Kontext nicht selten herausragende Sportlerinnen der eigenen Disziplin genannt, also jene, die herausragende Leistungen mit Blick auf das selbstgesetzte Ziel erbracht haben.² Die epistemische und motivationale Kraft solcher Vorbilder scheint sich indes gerade nicht aus dem Wetteifern mit dem genannten Vorbild zu erklären, denn Wettkämpfe werden in der Regel mit Personen ausgetragen, die sich auf einer ähnlichen Leistungsstufe befinden. Die Wirkkraft scheint sich, anders als der Ansporn, den Konkurrenz bewirken mag, daher nicht aus kurzfristigen Zielen zu ergeben, sondern vielmehr aus den langfristigen Zielen der Sportlerin: das genannte Vorbild exemplifiziert ein Ideal, welches sie bewundert und welchem sie daher nachstrebt. Das setzt eine bestimmte Art von Identifikation seitens der Bewunderin mit der Bewunderten voraus, die wenigstens zwei Aspekte beinhaltet: Erstens bedarf es einer Identifikation über das geteilte Ziel. Die Bewundernde muss das verwirklichte Ideal trivialerweise erstrebenswert finden, damit sie überhaupt in Betracht zieht, diesem nachzueifern. Wogegen man sogar dann ein begeisterter Sportfan sein kann, wenn man eine Sportart selbst gar nicht ausübt.³ Eine Person, die sportlich erfolgreich sein will, muss diesem Ziel eine gewisse Priorität einräumen und dabei einiges entbehren. Die Wirkkraft des Vorbildes mag nun gerade darin begründet sein, dass es einem aufzeigt, dass es möglich ist, das angestrebte Ziel zu erreichen und dass die Entbehrungen vor diesem Hintergrund als notwendig, aber zugleich lohnenswert erscheinen. Die motivationale Kraft scheint also von der epistemischen Wirkung abhängig zu sein.
Natürlich mag in diesem Kontext ebenso eine andere Person als Vorbild benannt werden, die die Sportlerin etwa wegen ihrer Willensstärke oder ähnlicher Sekundärtugenden bewundert, die sie gerade deshalb für erstrebenswert hält, weil sie der Erreichung ihrer sportlichen Ziele zuträglich scheinen. Die emotionale Reaktion eines Fans mag von bloßem Wohlgefallen bis hin zur Verehrung reichen. Letztere unterscheidet sich von der Bewunderung gerade dahingehend, dass sie keine Reaktion auf bestimmte als erstrebenswert betrachtete Handlungen oder Eigenschaften, sondern auf die ganze Person ist, der man vielmehr nahe sein möchte als dass man anstrebt etwas so gut wie sie zu können. Entsprechend ist die Verehrung ein der göttlichen Anbetung ähnliches Gefühl. Vgl. Schindler et al 2013, 87.
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Und eben diese Erkenntnis der Möglichkeit setzt neben der zweckgebundenen Identifikation nun zweitens noch andere Identifikationsmerkmale voraus, die sich auf die Beschaffenheit der Person oder ihre (Lebens‐)Situation beziehen. Ein Vorbild mag zwar momentan unerreichbar sein, aber es muss zumindest als prinzipiell erreichbar gedacht werden können. Unterliegt man etwa gewissen körperlichen Einschränkungen, so mag es tatsächlich unmöglich sein, eine erfolgreiche Sportlerin zu werden. Es mag aber auch sein, dass man de facto die nötigen körperlichen Voraussetzungen mitbringt, aber selbst nicht daran glaubt, erfolgreich sein zu können. Gerade mit Blick auf mangelnde Kenntnis über die eigenen Möglichkeiten oder mangelndes Selbstvertrauen bergen Vorbilder scheinbar nur dann, wenn sie uns hinreichend ähnlich sind, einen Erkenntnisgewinn, der Motivation begründen kann: Jemand mit ähnlichen Voraussetzungen wie ich hat es geschafft, also kann auch ich es schaffen. Wo ein Mangel an Vorbildern für bestimmte Personengruppen zu herrschen scheint, wird daher nicht selten mit Mentoring-Programmen oder entsprechenden Kampagnen reagiert, die sich anscheinend diese Erkenntnis zu Nutze machen. Vor diesem Hintergrund wird nun gleichermaßen klar, warum eine in bestimmter Hinsicht herausragende Akteurin nicht per se ein Vorbild darstellt, ja nicht einmal zwangsläufig positive Reaktionen hervorrufen muss. Wenn man das Ziel nicht teilt und womöglich nicht einmal versteht, warum es erstrebenswert sein sollte, so führt das bisweilen dazu, dass solche Personen etwa als „Streber“ oder „Freaks“ betrachtet werden.⁴ Teilt man dagegen die Einschätzung, dass die Person ein erstrebenswertes Ziel verfolgt und dabei wesentlich besser abschneidet als man selbst oder als man selbst glaubt zu können, mag das Minderwertigkeitsgefühle, Neid und Missgunst oder auch (übertriebene) Verehrung hervorrufen. Im Gegensatz zur Bewunderung vermögen all diese emotionalen Reaktionen nicht zum Nachstreben zu motivieren und dem Anstreben eines Ideals daher vielmehr im Wege zu stehen.⁵
Die Analogie Betrachtet man nun die eingangs angenommene Analogie, so führt dies unweigerlich zu der Frage, ob die Verschiedenheit der in den Vorbildern exemplifizierten Ideale hier nicht einen relevanten Unterschied macht: Denn während es einer jeden frei steht, ob sie überhaupt eine Sportart ausübt (ganz davon zu
Zu einer Analyse der grundlegenden Skepsis und der damit einhergehenden Unbeliebtheit von Mehrleistern vgl. Landkammer 2016. Vgl. Schindler et al. 2013, 88 ff.
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schweigen Leistungssport zu betreiben)⁶ oder sich in ihrer Freizeit beispielsweise lieber mit Literatur beschäftigt, scheint moralisch zu sein, keinesfalls ein frei wählbarer Zweck unter anderen zu sein. Ein zentrales Element unserer Alltagsauffassung von Moral scheint gerade darin zu bestehen, dass moralische Forderungen Vorrang haben vor Erwägungen anderer Art und dass somit gewisse Handlungen unbedingt geboten oder verboten sind, ganz ungeachtet der eigenen Interessen und Ziele. Dahingegen ist der Sollens-Charakter bei sportlichen Aktivitäten nur ein bedingter, nämlich als Mittel zu einem selbst gewählten Ziel. Nehmen wir nun an, dass die hier gegebene Charakterisierung moralischer Forderungen angemessen ist, so stellt sich die Frage, ob aus dem Vorrang der Moral auch folgen muss, dass moralische Exzellenz oder zumindest diese anzustreben unbedingt geboten ist? Treiben wir die Analogie zunächst ein Stück weiter, um der Frage näher zu kommen: Eine Sportlerin scheint eben dann herausragend zu sein, wenn sie herausragende sportliche Leistungen bringt, und das lässt sich wiederum in Form von Wettkampfergebnissen operationalisieren. Entsprechend könnte man sagen, wir haben es dann mit einer herausragenden moralischen Akteurin zu tun, wenn diese in moralischer Hinsicht herausragend handelt. Nun wird die Frage, wie und ob sich das operationalisieren lässt, natürlich ganz maßgeblich davon abhängen, welchen Maßstab man hierfür zugrunde legt, d.i. auf der Grundlage welcher Moraltheorie man die Frage zu beantworten versucht – grob gesprochen würden konsequentialistische Ansätze hier als Maßstab die Handlungsfolgen anlegen, deontologische Ansätze das Maß der Erfüllung bestimmter Pflichten, und tugendethische Ansätze den Grad der Tugend oder die Güte des Charakters, der sich in der Handlung zeigt. Versuchen wir die Frage zunächst abseits einer diesbezüglichen Entscheidung zu beantworten, können wir stark vereinfacht sagen, eine moralisch herausragende Handlung ist die aus moralischer Sicht beste (oder zumindest wesentlich bessere) zur Verfügung stehende Handlungsalternative. Aber ist es tatsächlich unbedingt geboten, stets die moralisch beste Handlungsoption zu ergreifen? Wenn dem so wäre, wäre eine moralisch herausragende Akteurin jene, die im Gegensatz zu den meisten von uns, dieser Forderung (weitestgehend) nachkommt – die zwar nur tut, was in moralischer Hinsicht von ihr zu erwarten ist (nämlich das Gebotene), aber mehr tut als wir aufgrund unserer Erfahrungen erwarten (da sie besser handelt als der Durchschnitt). Sie wäre dann womöglich im strengen Sinn gar keine herausragende moralische Akteurin, sondern schlicht
Wenngleich man natürlich durchaus dafür argumentieren kann, dass es wenigstens eine indirekte Pflicht gibt, sich körperlich fit zu halten, etwa weil die andernfalls zu erwartenden gesundheitsschädlichen Folgen auf Kosten des Sozialwesens gehen.
Einleitung
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eine moralische Akteurin, die uns als herausragend auffällt, weil die meisten Personen den Forderungen der Moral nicht angemessen nachkommen. In Anbetracht dessen stellt sich aber erstens die Frage, ob es überhaupt angemessen sein kann, eine solche Akteurin zu bewundern – sollten wir dann nicht vielmehr mit Scham oder Schuldgefühlen reagieren müssen, weil sie uns vor Augen führt, dass wir unseren Pflichten nicht (hinreichend) nachkommen? Und zweitens stellt sich die Frage, ob die Moral dann nicht zu hohe Forderungen an uns stellt – würde das in letzter Konsequenz nicht ein höchst unattraktives Ideal moralischer Exzellenz implizieren, nämlich ein Leben zu führen, welches allein durch moralische Interessen dominiert ist und somit keinen (oder zumindest nur dadurch bedingt) Raum für nicht-moralische Interessen bietet?⁷ Nun kann man dem Überforderungseinwand auf den ersten Blick entgehen, wenn man die Reichweite moralischer Pflichten dahingehend einschränkt, dass es nicht überfordernd ist, stets die beste Handlungsoption zu ergreifen. Doch würden wir der Moral damit nicht eine unnatürliche Obergrenze auferlegen und laufen wir somit nicht Gefahr, dass sie unterfordernd ist? Moralische Exzellenz würde dann nämlich, wie schon zuvor, schlicht im Erfüllen aller moralischer Pflichten bestehen, mit dem Unterschied, dass es nicht herausfordernd wäre dies zu tun. Hier stellt sich mithin die Frage, ob man jene, die diese Pflichten in Gänze erfüllen, tatsächlich noch als moralisch herausragend beschreiben sollte. Was sollte an diesen noch bewundernswert sein, wenn die meisten von uns derart handeln? Ferner könnten wir aber auch jene Akteurinnen, die wir gemeinhin als moralisch herausragend bezeichnen, nicht mehr adäquat als solche bezeichnen. Denn ihr Handeln würde nicht mehr in den Bereich der Moral fallen und sich somit auch einer entsprechenden Bewertung entziehen; wie sollten wir deren Handeln also noch in moralisch relevanter Weise bewundernswert finden können? Um diesem Problem zu begegnen müssen wir uns scheinbar die Frage stellen, ob es sich vermeiden lässt, eine Obergrenze moralisch guten Handelns anzunehmen, ohne Gefahr zu laufen, dass Moral überfordernd ist. Das scheint auf die Frage hinauszulaufen, ob es Handlungen gibt, die moralisch gut und dennoch nicht moralisch geboten sind. Mit anderen Worten: Gibt es supererogatorische
So etwa Wolf 1982, 419: „I don’t know whether there are any moral saints. But if there are, I am glad that neither I nor those about whom I care most are among them.“ Und in ähnlicher Weise Williams 1981, 23: „[W]hile we are sometimes guided by the notion that it would be the best of all worlds in which morality were universally respected and all men were of a disposition to affirm it, we have in fact deep and persistent reason to be grateful that this is not the world we have.“
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Handlungen?⁸ Schaut man sich unsere Praxis moralischen Urteilens an, so scheint diese Annahme durchaus plausibel. Wir finden es anscheinend in vielen Fällen nicht tadelnswert, wenn jemand nicht die moralisch beste Handlungsoption ergreift, und doch finden wir es anscheinend lobenswert, wenn jemand das in einer solchen Situation trotzdem tut. Demnach wäre die Erfüllung grundlegender moralischer Pflichten zwar unbedingt geboten, hingegen nicht das Streben nach moralischer Exzellenz. Entsprechend lassen sich dann genau jene Akteurinnen als moralisch herausragend betrachten, die das trotzdem anstreben, die mehr tun als geboten ist und denen dafür mitunter besondere Anerkennung zukommt.⁹ Nimmt man dies als Ausgangspunkt, so scheint sich eine moralisch herausragende Akteurin nicht in relevanter Hinsicht von einer herausragenden Sportlerin zu unterscheiden: sie exemplifiziert ein Ideal, dass man freiwillig anstreben kann. Ein bewundernswertes Vorbild, welches zum Nachstreben anregt, ist sie nur insofern, als man sich mit ihr und ihrem Zweck identifiziert. Demnach ließe sich in Analogie zur herausragenden Sportlerin ebenso erläutern, dass moralisch herausragende Akteurinnen durchaus ambivalente emotionale Reaktionen hervorrufen – sie können nicht nur Gegenstand von Bewunderung, sondern gleichermaßen von bloßer Zustimmung oder von Verehrung sein, ebenso wie von negativen Reaktionen wie Minderwertigkeitsgefühlen, Neid, Ablehnung oder gar Verachtung. So treffend es auf phänomenologischer Ebene auch sein mag, anzunehmen, dass solche Personen tatsächlich ambivalente Reaktionen hervorrufen, so bleibt doch die Frage bestehen, ob diese Reaktionen angemessen und gerechtfertigt sind – gibt es nicht wenigstens gute Gründe dafür, dass wir diese Personen eigentlich bewundern sollten?
Der Untersuchungsrahmen Sich nun ausgerechnet im Rahmen der Kantischen Ethik mit dem Stellenwert von empirischen Vorbildern und deren Wirkung zu beschäftigen, mag zunächst eigenwillig anmuten, nicht zuletzt weil es doch zunächst naheliegender scheint,
Eine breite philosophische Auseinandersetzung mit dem Konzept der Supererogation findet sich erst ab Mitte des 20. Jahrhunderts, angestoßen durch J.O. Urmsons 1958 erschienenen Aufsatz „Saints and Heroes“. Wenngleich das natürlich nicht ausschließt, dass wir trotzdem auch solche Personen als herausragend beurteilen mögen, die ihre Pflicht in einer Situation erfüllt haben, in der wir annehmen müssen, dass die meisten von uns dies verfehlen. Der Unterschied besteht nun darin, dass wir die Unterlassung in einem solchen Fall, wenngleich verständlich, so doch tadelnswert finden, was sich darin zeigt, dass wir dann zumindest eine Entschuldigung für die Unterlassung erwarten.
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tugendethische Ansätze hier als fruchtbareren Rahmen zu betrachten.¹⁰ Einer verbreiteten Wahrnehmung der Kantischen Ethik folgend, lassen sich wenigstens drei grundlegende Einwände gegen ein solches Vorhaben formulieren: Erstens scheint die Kantische Ethik der Prototyp einer reinen Pflichtenethik zu sein, die allein darauf zielt zu klären, welche Handlungen moralisch geboten sind, und nicht etwa darauf, wie man eine gute Akteurin wird. Zweitens ist für die Beantwortung der Frage, was zu tun ist, scheinbar allein der kategorische Imperativ maßgeblich; was geboten ist wird demnach formal bestimmt und a priori begründet und darf gerade nicht empirischen Erwägungen entlehnt sein. Drittens scheinen Gefühle in der Kantischen Ethik kaum eine Rolle zu spielen, ihnen kommt demnach bestenfalls eine negative Funktion zu, nämlich ein Hindernis moralischen Handelns zu sein. Diese kritische Wahrnehmung der Kantischen Ethik wurde zuletzt insbesondere im Zuge der Renaissance der Tugendethik (re)formuliert.¹¹ Doch scheint diese Wahrnehmung weitestgehend auf einer verkürzten und isolierten Betrachtung der bzw. Teilen der beiden ersten Hauptschriften zur Moralphilosophie zu beruhen – nämlich insbesondere der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, aber mithin auch der Kritik der praktischen Vernunft. Nicht zuletzt in Reaktion auf die Kritik seitens der Tugendethik und im Zuge der Auseinandersetzung mit derselben¹² kommt Kants lange Zeit als sperriges Alterswerk oder bloße Kasuistik angesehenem dritten Hauptwerk zur Moralphilosophie – Die Metaphysischen Anfangsgründe der Tugendlehre – in der jüngeren Kant‐Forschung vermehrtes Interesse zu.¹³ Der systematische Beitrag dieser Schrift ist unverkennbar, denn spätesten mit Blick auf diese lässt sich erstens zeigen, dass die Kantische Ethik im
Und doch ist dies ein Thema, welches erstaunlicherweise in den neueren tugendethischen Debatten lange Zeit ein eher stiefmütterliches Dasein führte und dem erst in jüngster Zeit erneutes Interesse zukommt. Einen maßgeblichen Anstoß hierzu lieferten insbesondere die Arbeiten von Zagzebski (2010, 2015 und 2017), die an einer „Exemplarist Virtue Theory“ arbeitet. Wobei die Kritik an der Kantischen Ethik nicht zuletzt deshalb so drastisch ausgefallen ist, weil die die frühe Phase der Wiederbelebung der Tugendethik durch eine polemische und eine defensive Stoßrichtung geprägt war. Vgl. Halbig 2013, 9. Vgl. etwa die Beiträge in Betzler 2008 und Jost/Wuerth 2011. Während man mit Blick auf die beiden ersten Schriften auf eine lange und ausführliche Rezensionsgeschichte zurückgreifen kann, hat die bereits in der Grundlegung angekündigte, jedoch erst 1797 veröffentlichte Tugendlehre eine vergleichsweise knappe Rezensionsgeschichte, da ihr systematischer Beitrag lange verkannt wurde. Vgl. Ludwig 1990, XIVff. Als erste Publikation neueren Datums zur Tugendlehre gilt gemeinhin Gregor 1963. Trotz einer seitdem steigenden Zahl an systematischen und interpretatorischen Beiträgen und einer weitgehenden Aufwertung der Schrift, erschien der erste umfassende (kooperative) Werkskommentar erst kürzlich: Trampota/ Sensen/Timmermann 2013.
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Wesentlichen mit der Herausbildung eines guten Charakters befasst ist. Zweitens lässt sich zeigen, dass sie keinesfalls auf einen formalen Pflichtbegriff beschränkt ist, vielmehr wird dort in Anwendung des kategorischen Imperativs auf empirische Gegebenheiten, also die menschliche Natur, ein auf Zwecken basierendes System materialer Pflichten begründet. Und drittens zeigt sich, dass Kant keinesfalls der strenge, gefühlsverachtende Rationalist ist, für den er mitunter gehalten wird. Wenngleich sich auch hier keine systematisch ausgearbeitete Gefühlstheorie findet, so deutet sich doch eine wesentlich differenziertere Ansicht über das Verhältnis von Emotionen und Moral an.¹⁴ Die vorliegende Fragestellung wird daher insbesondere unter Berücksichtigung der Tugendlehre zu bearbeiten sein. Und doch scheinen damit noch nicht alle Probleme hinsichtlich der Kantischen Ethik als Untersuchungsrahmen der vorliegenden Arbeit ausgeräumt zu sein. Denn auch wenn sich vor diesem Hintergrund ein wesentlich differenzierteres und umsichtigeres Bild der Kantischen Ethik abzeichnet, ist keinesfalls zu leugnen, dass auch dort die Pflicht ein, wenn nicht gar der, zentrale Begriff des moralischen Handelns bleibt. Entsprechend erstaunt es auch nicht, dass die Kantische Ethik auf den ersten Blick nicht über eine Kategorie der Supererogation verfügt. Wenn dem aber so ist, dann lassen sich unter Berücksichtigung der vorangegangenen Reflexion drei spezifische Einwände formulieren: Erstens scheint sie dann Gefahr zu laufen überfordernd zu sein.¹⁵ Zweitens scheint sie dann unserer Praxis moralischen Urteilens nicht gerecht zu werden. Und drittens scheint sie die Bewunderung moralisch herausragender Akteurinnen dann als eine unangemessene emotionale Reaktion zurückweisen zu müssen. Um diesen Einwänden zu begegnen, kann man nun natürlich nach einer Möglichkeit suchen, eine Kategorie der Supererogation im Rahmen der Kantischen Ethik zu integrieren, doch das scheint angesichts der Zentralität des Pflichtbegriffs kaum ohne weiteres möglich zu sein. Verwirft man diese Möglichkeit indes, so scheint man entweder darauf verpflichtet zu sein, der Kantischen Ethik einen Mangel zu attestieren oder aber darauf, zu zeigen, inwiefern die Kantische Ethik eine alternative, wenn nicht gar überlegene Erklärung unserer Praxis zu liefern vermag. In der vorliegenden Arbeit wird diese dritte Strategie verfolgt.
Vgl. etwa die Beiträge in Cohen 2014 und Römer 2014. Streng genommen müsste man hier natürlich sagen, eine solche Theorie läuft Gefahr überfordernd oder unterfordernd zu sein, letzteres erweist sich für die Kantische Ethik eindeutig nicht als Problem, weshalb es hier ausgeklammert werden kann.
Einleitung
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These und Vorgehensweise Die Untersuchung gliedert sich in zwei Teile: Die ersten drei Kapitel dienen dazu, die Möglichkeiten auszuloten, eine Kategorie der Supererogation in der Kantischen Ethik zu integrieren. Dabei werde ich zeigen, dass sich dies zwar als problematisch erweist, jedoch keinesfalls zur Zurückweisung der Kantischen Ethik führen muss. Das Beweisziel ist hier also zunächst ein negatives und dient als Ausgangslage für die Entwicklung der konstruktiven These im vierten bis sechsten Kapitel der Arbeit. Dort werde ich der Frage nachgehen, ob und inwiefern die Kantische Ethik einen positiven Beitrag zu einem adäquaten Verständnis der unter dem Begriff der Supererogation diskutierten Phänomene zu liefern vermag. In diesem Rahmen wird schließlich die These etabliert und verteidigt, dass die angemessene emotionale Reaktion auf vermeintlich supererogatorische Handlungen einen epistemischen und motivationalen Beitrag zur moralischen Selbstvervollkommnung leisten kann. Dabei werde ich wie folgt vorgehen: Das erste Kapitel dient zunächst der Erörterung des Konzepts der Supererogation. Ausgehend von einem begriffsgeschichtlichen Überblick, wird die aktuelle Debatte um Supererogation unter drei Gesichtspunkten systematisch aufgearbeitet: Erstens ist es klärungsbedürftig, was genau unter Supererogation zu verstehen ist, wobei gezeigt wird, dass eine Minimaldefinition wenigstens zwei notwendige Definitionsmerkmale umfasst, nämlich die Optionalität der Handlung und den moralischen Wert der Handlung, wenngleich es fraglich ist, ob es sich hierbei um hinreichende Merkmale handelt. Zweitens, stellt sich bereits mit Blick auf die beiden genannten Merkmale die Frage, ob es überhaupt Supererogation gibt und wie sich diese Annahme rechtfertigen lässt. Diese Begründungsaufgabe ist eine zweifache: Einerseits muss gezeigt werden, dass das Konzept kohärent ist, warum supererogatorische Handlungen also nicht geboten sind, obwohl sie die moralisch bessere der zur Verfügung stehenden Handlungsoptionen darzustellen scheinen (d.i. das Paradox der Supererogation). Andererseits muss gezeigt werden, dass es sich dabei um eine extensional nicht-leere Kategorie handelt; denn die Akteurinnen selbst, glaubt man ihrem Zeugnis, bezeichnen ihr Handeln nicht selten als Erfüllung einer Pflicht (d.i. das Heldinnenparadox). Im Anschluss daran stellt sich drittens die Frage nach der moraltheoretischen Relevanz einer solchen Handlungskategorie. Die naheliegende Antwort besteht nun darin, die Relevanz für unsere moralische Praxis zu betonen, die seitens der Moraltheorie adäquat abgebildet werden soll und daher eine solche Annahme rechtfertigt. Dabei wird gezeigt, dass die Relevanz der verhandelten Phänomene zwar mit Verweis auf die moralische Praxis gerechtfertigt werden kann, dieselbe jedoch keinerlei Begründungskraft hinsichtlich der Existenz einer solchen Kategorie zu haben scheint. Ob eine Moraltheorie eine Kategorie der Supererogation zu integrieren vermag, kann daher keinesfalls ohne
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weiteres als Maßstab der Adäquatheit von Moraltheorien gelten, ob sie unsere moralische Praxis erklären kann, hingegen schon. Die theoretische Notwendigkeit, hierfür eine Kategorie der Supererogation zu integrieren, scheint vielmehr in Abhängigkeit einer jeweils zugrunde gelegten Moraltheorie variieren zu können, wobei außerdem klärungsbedürftig bleibt, ob die Gründe eher auf metaethischer oder auf normativer Ebene relevant sind. Das zweite Kapitel dient der Erörterung des Kantischen Pflichtbegriffs, und zwar dahingehend, in welchem Verhältnis der deontische Status und der moralische Wert einer Handlung zueinander stehen, um somit die systematischen Herausforderungen der Integration einer Kategorie der Supererogation in die Kantische Ethik herauszuarbeiten. Hierfür wird zunächst der formale Pflichtbegriff Kants, wie er ihn in der Pflichtanalyse der Grundlegung darlegt, herausgearbeitet. Hierbei wird gezeigt, dass der deontische Status einer Handlung vom moralischen Gesetz, also der Übereinstimmung mit dem kategorischen Imperativ, abhängig ist. Und dass der moralische Wert einer Handlung davon abhängig ist, dass man aus Achtung vor dem moralischen Gesetz handelt. Eine Handlung ist demnach genau dann moralisch gut, wenn das Richtige aus den richtigen Motiven getan wird. Doch was genau ist das Richtige, und ist alles Richtige auch im strengen Sinn geboten? Ist die Übereinstimmung einer Handlungsmaxime mit dem kategorischen Imperativ hinreichend dafür, dass entsprechende Handlungen geboten sind, oder nur hinreichend dafür, dass sie erlaubt sind? Dies lässt sich erst mit Blick auf die Metaphysik der Sitten erläutern, die eine systematische Ableitung verschiedener materialer Pflichten aus dem kategorischen Imperativ leistet. Mit Blick auf die dort eingeführte Kategorie der Tugendpflichten lässt sich dann zeigen, dass die Übereinstimmung einer Handlungsmaxime mit dem kategorischen Imperativ eine entsprechende Handlung nur als erlaubt vorstellt, geboten ist sie hingegen nur, wenn die Handlungsmaxime sich auf die Beförderung eines obligatorischen Zwecks richtet, d.i. die eigene Vollkommenheit oder die fremde Glückseligkeit. Dabei zeichnen sich die Tugendpflichten gerade dadurch aus, dass sie nicht etwa konkrete Handlungen vorschreiben, sondern vielmehr, dass man sich bestimmte Handlungsmaximen zu eigen macht, weshalb es sich nur um weite, unvollkommene Pflichten handelt, deren Anwendung einen gewissen Spielraum beinhaltet. Hier lässt sich sodann zeigen, dass sich die prävalenten Einwände, die Kantische Ethik sei formalistisch und rigoristisch, wenigsten einschränken lassen. Ob sich eine Kategorie der Supererogation deshalb aber ohne weiteres in die Kantische Ethik integrieren lässt, bleibt vor diesem Hintergrund dennoch fraglich: sowohl in normativer Hinsicht, als auch in metaethischer Hinsicht. Denn erstens verbleibt es vor dem Hintergrund der weitgehenden Unterbestimmtheit der Erfüllungsbedingungen der Tugendpflichten fraglich, ob es überhaupt einen Maßstab gibt, bestimmten Handlungen oder Akteurinnen einen
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exemplarischen Status zuzuweisen. Zweitens scheint auch mit Blick auf die Tugendpflichten zu gelten, dass jede moralisch gute Handlung, wenn zwar nicht strikt geboten, so doch die Erfüllung einer Pflicht ist, und ferner, dass auch für eine Handlung, die die Erfüllung einer Tugendpflicht darstellt, gilt, dass sie überhaupt nur dann moralischen Wert haben kann, wenn sie geboten ist und aus diesem Grund ausgeführt wird. Auf der Grundlage dieser Diagnose wird im dritten Kapitel die Möglichkeit, Supererogation im Rahmen der Kantischen Ethik zu integrieren, in Auseinandersetzung mit Vertreterinnen einschlägiger Positionen der Sekundärliteratur erörtert. Entgegen einer Zurückweisung dieser Möglichkeit und einer damit verbundenen Zurückweisung der Kantischen Ethik (Eisenberg) lassen sich zunächst zwei Arten von Integrationsversuchen ausmachen. Diese scheinen jedoch mit Blick auf die eingangs genannte Definition von Supererogation allesamt nicht zu überzeugen, da sie entweder das Kriterium der Optionalität solcher Handlungen derart modifizieren, dass sie Supererogation in Bezug auf die Kategorie der Tugendpflichten erläutern (Hill), oder das Kriterium des moralischen Werts solcher Handlungen modifizieren, indem sie diesen Handlungen bloß annähernd moralischen Wert (Jokic) oder ästhetischen Wert beimessen (McCarty). Wenngleich diese Versuche daher zu verwerfen sind, so haben andere Autorinnen darauf hingewiesen, dass man indes nicht darauf verpflichtet ist, der Kantischen Ethik einen Mangel zu attestieren. Vielmehr lasse sich zeigen, dass der Nutzen, und somit die Notwendigkeit einer solchen Kategorie, für die Kantische Ethik zurückzuweisen ist, denn die Kantische Ethik sei zwar fordernd, aber keinesfalls überfordernd. Die Notwendigkeit einer solchen Kategorie wird demnach auf metaethischer Ebene, wie ich meine zu Recht, zurückgewiesen. Dabei wird die normative Bedeutung solcher Handlungen jedoch vernachlässigt (Timmermann) oder gar zurückgewiesen (Baron), und somit laufen diese Positionen Gefahr, die alltagspraktische Relevanz der Phänomene nicht mehr angemessen differenziert in den Blick zu bekommen. Diesem Problem soll im Folgenden also begegnet werden, indem gezeigt wird, dass die Beobachtung vermeintlich supererogatorischer Handlungen einen Beitrag zur Beförderung der eigenen moralischen Vollkommenheit leisten kann. Entsprechend wird im vierten Kapitel zunächst geklärt, worin Kant folgend moralische Vollkommenheit besteht, d.i. Tugend, und inwiefern es geboten ist, diese anzustreben. Dabei wird zunächst gezeigt, dass die Kantische Ethik zumindest im weiten Sinn als eine Ethik der Tugend verstanden werden kann, da die Pflicht zur Selbstvervollkommnung, also das Streben nach Tugendhaftigkeit, Vorrang vor allen anderen ethischen Pflichten hat. Denn sie zielt auf die Entwicklung der moralischen Beschaffenheit der Akteurin und hat dadurch Einfluss darauf, ob und in welchem Ausmaß sie andere Tugendpflichten erfüllen kann.
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Hierfür bedarf es zunächst einer guten Gesinnung, das heißt, das moralische Gesetz muss zum vorrangigen Handlungsprinzip erhoben werden. In Anbetracht der sinnlich-vernünftigen Natur des Menschen muss aber überdies noch die moralische Stärke hinzukommen, damit eine jede Handlung tatsächlich durch die Achtung vor dem Gesetz motiviert ist, d.i. dass aus Pflicht gehandelt wird. Entsprechend ist Tugend nach Kant „die moralische Stärke des Willens eines Menschen in Befolgung seiner Pflicht“ (MS, AA VI, 405). Nun ist es aber nicht geboten, tugendhaft zu sein, sondern die Pflicht zur Selbstvervollkommnung besteht vielmehr darin, Tugendhaftigkeit kontinuierlich anzustreben. Dabei wird zu zeigen sein, dass die Tugend zwar hinsichtlich ihres ersten Aspekts, also der guten Gesinnung keine Grade zulässt, denn diese kann nur gut oder schlecht sein, jedoch hinsichtlich ihres zweiten Aspekts sehr wohl, denn moralische Stärke ist etwas, das graduell erworben werden muss. Die Pflicht zur Selbstvervollkommnung ist daher nur eine unvollkommene, womit Kant dem Umstand Rechnung trägt, dass Menschen dieses Ideal nie in Gänze erfüllen können. Dies entbindet uns aber gerade nicht davon, dieses Ideal stets selbstkritisch anzustreben, was dauerhaft von aufrichtiger und unparteilicher Selbsterkenntnis flankiert sein muss, denn nur wenn man konstant dazu bereit ist, sich seine eigenen Schwächen einzugestehen, ist es überhaupt möglich, Tugendhaftigkeit anzustreben und seine gute Gesinnung zu erhalten. Das wird abschließend zu der Frage führen, ob hier nicht ein wenig erstrebenswertes Ideal moralischer Vollkommenheit angesetzt wird, wenn dieses darin besteht, stets aus Pflicht zu handeln und nicht aus Neigung. Dabei soll jedoch gezeigt werden, dass obgleich Kant oftmals so zu sprechen scheint, als seien Neigungen oder überhaupt unsere ganze sinnliche Natur ein Hindernis des moralischen Handelns und somit auch des Tugenderwerbs, die Pflicht zur Selbstvervollkommnung keinesfalls gebietet moralkonforme Neigungen abzuschaffen. Mithin sind sie als solche nämlich gar keine Schwäche. Vielmehr, so wird gezeigt, geht es um einen reflektierten Umgang mit den eigenen Neigungen; man muss diese aktiv in die eigenen Handlungsmaximen inkorporieren, anstatt sich unmittelbar von ihnen zum Handeln bewegen zu lassen. Daran anknüpfend wird im fünften Kapitel ein eingehender Blick auf die subjektiven Bedingungen des menschlichen Tugenderwerbs geworfen. Dieser Teil der Untersuchung fällt daher nicht mehr in den eigentlichen Bereich der Metaphysik der Sitten, sondern in den der Ästhetik der Sitten, die „zwar nicht ein Theil, aber doch eine subjective Darstellung“ (MS, AA VI, 406) derselben ist, ohne die jene keinen Eingang ins menschliche Gemüt finden würde. Hierbei müssen sowohl die hindernden als auch die befördernden subjektiven Beschaffenheiten in den Blick genommen werden. Hinsichtlich der inneren Hindernisse des Tugenderwerbs wird sich dabei zeigen, dass dies insbesondere Affekte und Leidenschaften sind.Während man erstere jedoch nicht abschaffen muss, sondern allein
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durch Apathie in Distanz zu ihnen treten muss, bedarf es der Herrschaft über sich selbst, damit Neigungen nicht zu Leidenschaften werden, die der Moralität zuwider laufen, insbesondere weil sie nur allzu oft mit Selbstbetrug einhergehen und somit die für die eigene Vervollkommnung notwendige Selbsterkenntnis untergraben. Man muss die eigenen Fähigkeiten, Neigungen und Gefühle aber nicht nur dahingehend kontrollieren, dass sie die gute Gesinnung nicht untergraben, sondern ebenso dahingehend kultivieren, dass sie diese befördern. Denn nur durch die Affizierung bestimmter Gefühlsvermögen – dies sind im speziellen das moralische Gefühl, das Gewissen, die Menschenliebe und die Achtung vor sich selbst – sind wir überhaupt dazu in der Lage, uns selbst durch das moralische Gesetz zu verbinden und diesem Folge zu leisten. Das Kapitel schließt zunächst mit einer kritischen Evaluierung der Herausstellung einzelner Handlungen als vermeintlich supererogatorischer. Dabei wird erstens gezeigt, dass sofern eine Akteurin ihre eigenen Handlungen als supererogatorisch betrachtet, sie notwendigerweise einem Selbstbetrug unterliegt, so dass dieses Urteil der Beförderung der Moralität in jedem Fall hinderlich ist. Und das scheint phänomenologisch mitunter eine angemessene Analyse zu sein. Zweitens wird gezeigt, dass sich bei der Beobachterin, die die Handlungen anderer als supererogatorisch betrachtet, hieraus zwar eine den Selbstbetrug befördernde Tendenz ergeben mag, diese hingegen keinesfalls notwendig ist. Im sechsten Kapitel wird entsprechend untersucht, ob dieses Urteil der Beobachterinnen ebenso eine moralbefördernde Tendenz haben kann, und welche Bedingungen hierfür erfüllt sein müssen. Die grundlegende Frage, die sich hierbei zunächst stellt, ist, inwiefern Moralität überhaupt von außen befördert werden kann. Auf der Grundlage einer entsprechenden Klärung wird in diesem Kapitel das gute Exempel als ein solches äußeres Mittel der Beförderung der Moralität näher in den Blick genommen. Dabei wird gezeigt, dass Kant diesem durchaus ambivalent gegenübersteht, sich diese Ambivalenz aber dahingehend auflösen lässt, dass seine kritischen Äußerungen keinesfalls als gänzliche Zurückweisung einer Orientierung an Vorbildern zu verstehen sind, sondern sich jeweils auf bestimmte problematische Aspekte richten, welche entweder inhaltlicher oder methodischer Natur sind. Entsprechend ist einerseits zu klären, was ein gutes Vorbild ausmacht, und andererseits ist zu klären, wie und zu welchem Zweck dieses vorgestellt werden muss, um eine positive Funktion zu erfüllen. Hierbei werde ich zunächst zeigen, dass der Nutzen solcher Vorbilder über deren gezielten Einsatz als didaktisches Mittel der Moralerziehung, in welchem Rahmen Kant es diskutiert, hinausgeht und dem fortdauernden Prozess der Selbstvervollkommnung zuträglich sein kann. Dabei lautet meine These, dass dies gerade dann der Fall ist, wenn die Akteurin aus der Perspektive der Beobachterin scheinbar supererogatorisch handelt. Das heißt, wenngleich die Beobachterin eigentlich weiß,
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dass es sich um eine gebotene Handlung handelt, so erscheint sie ihr einzig aufgrund ihrer eigenen Verfassung als supererogatorisch, also weil sie über einen geringeren Grad an moralischer Stärke verfügt. Zugleich wird ihr durch ein solches Exempel das moralische Gesetz immer wieder vor Augen geführt: es findet, vermittelt über das Gefühl, Eingang in ihr Gemüt und führt ihr einerseits vor Augen, wo ihre eigenen Schwächen liegen, lässt sie aber anderseits erkennen, dass sie selbst aufgrund ihrer grundlegenden Beschaffenheit über die Fähigkeit verfügt, diesen zu begegnen. Somit hat das Exempel sowohl eine die Tugendgesinnung bekräftigende Funktion, als auch eine ermunternde Funktion hinsichtlich der Entwicklung moralischer Stärke: es regt zur Nachfolge an.
1 Supererogation Andrea: „Unglücklich das Land, das keine Helden hat.“ Galilei: „Unglücklich das Land, das Helden nötig hat.“ (B. Brecht: Das Leben des Galilei)
Vom biblischen Gleichnis des barmherzigen Samariters über die Stilisierung von Figuren wie Mahatma Gandhi bis hin zur medialen Inszenierung von Spendengalas oder heldenhaften Rettungsaktionen – unsere Kultur- und Zeitgeschichte kennt viele Erzählungen von Personen, die anscheinend mehr tun, als moralisch geboten ist und denen dafür hohe Anerkennung zukommt. Aber auch im Alltag werden wir mit Handlungsweisen konfrontiert, die wir in besonderem Maße lobenswert, deren Unterlassung wir hingegen nicht tadelnswert finden; man denke etwa an besondere Freundlichkeit, Akte des Verzeihens oder auch ehrenamtliche Leistungen. Diese Phänomene scheinen – wenigstens in westlichen Kulturkreisen – einen wichtigen Teil der moralischen Erfahrungen auszumachen und in der moralischen Praxis zwei, wenngleich zunächst widersprüchlich anmutende, Funktionen zu erfüllen. Zum einen haben solche Erzählungen eine Vorbildfunktion, indem Sie einem vor Augen führen, dass man selbst noch mehr Gutes tun könnte. Denn die mit dem Herausstellen solcher Handlungen einhergehende Anerkennung, bisweilen sogar Bewunderung, scheint gerade zu suggerieren, dass es sich um ein gutes Beispiel handelt, dem es nachzueifern gilt. Zum anderen haben solche Erzählungen eine Rechtfertigungsfunktion mit Blick auf die Unterlassung solcher Handlungen, da die Anerkennung in der Regel gerade der außergewöhnlichen Opferbereitschaft, dem Hintanstellen eigener Bedürfnisse oder kurz gesagt dem mehr tun zu gelten scheint. Konfrontiert mit der Möglichkeit, moralisch (besser) zu handeln, oder mit dem Vorwurf, nicht entsprechend gehandelt zu haben, werden oftmals Verweigerungsgründe folgender Art geltend gemacht und zumindest bisweilen akzeptiert: „Das ist mehr als man von mir erwarten kann“, „Ich habe meinen Teil beigetragen“ oder „Das war bereits mehr als genug“. Es scheint demnach eine inhärente Spannung in den vorgestellten Beispielen zu liegen, weil den beiden Funktionen gegenläufige Forderungen entsprechen: nämlich einerseits die Forderung nach moralischer Perfektion, und andererseits die entgegengesetzte Forderung nach einer Begrenzung des moralisch Erwartbaren. Diese vermeintliche Spannung stellt jedoch keineswegs nur ein Problem der moralischen Praxis dar. Vielmehr spiegelt sich hierin eine zentrale theoretische Herausforderung, versucht man solche, unter dem philosophischen terminus technicus Supererogation diskutierten Phänomene, im Rahmen moralphilosophischer Theorien zu erläutern. https://doi.org/10.1515/9783110674729-004
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Unter supererogatorischen Handlungen werden dabei (grob gesagt) solche verstanden, die zwar moralisch gut, nicht jedoch moralisch geboten sind. Etwas zugespitzter ist auch von einem über die Pflicht hinausgehendem guten Handeln die Rede. Ob dies möglich ist, ist indes höchst umstritten. In diesem Kapitel werden daher der Untersuchungsgegenstand wie auch die damit verbundenen philosophischen Diskurse näher in den Blick genommen. Dabei wird zunächst von einem begriffsgeschichtlichen Überblick ausgegangen (1.1). Darauf aufbauend wird eine systematische Annäherung an das Konzept der Supererogation unternommen, wobei schließlich dessen Möglichkeit und Relevanz problematisiert werden (1.2).
1.1 Begriffsgeschichte Etymologisch geht der Begriff der ‚Supererogation‘ auf das lateinische Verb supererogare zurück und bezeichnet übergebührliches Handeln bzw. das Erbringen einer Mehrleistung. Anwendung fand der Begriff ursprünglich in finanziellen und staatlichen Belangen in Bezug auf das Erwirtschaften eines Überschusses.¹ Im Folgenden werden zwei begriffsgeschichtlich relevante Stationen für die Herausbildung der ethischen Verwendung des Begriffs betrachtet: die theologischen Ursprünge im Christentum (1.1.1) und die späte Wiederbelebung des Begriffs in der modernen Moralphilosophie (1.1.2).
1.1.1 Aufstieg und Fall in der christlichen Theologie Erst im Christentum, genauer gesagt der römisch-katholischen Theologie, erfährt die Bedeutung des Begriffs eine Erweiterung auf den Bereich des Ethischen.² Einen wichtigen systematischen Bezugspunkt hierfür stellt das Gleichnis des barmherzigen Samariters dar, das als normativer Appell der Nächstenliebe in Form einer Beispielerzählung gilt und sich folglich als ein paradigmatischer Fall supererogatorischen Handelns verstehen lässt.³ Darin heißt es:
Vgl. Mellema 1991, 14 ff. Eine interessante Parallele zum christlichen Konzept der Supererogation findet sich überdies im jüdischen Glauben im Konzept der ‚lifnim mishurat hadin‘, vgl. Lichtenstein 1975. Und ebenso im islamischen Recht, vgl. Jörden 2008. Auch in den aktuellen Debatten um Supererogation wird das Gleichnis oft zur Analyse herangezogen. So etwa bei Mieth (2012, 48 ff.), die jedoch zu dem Schluss kommt, dass hier tat-
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Es war ein Mensch, der ging von Jerusalem hinab nach Jericho und fiel unter die Räuber; die zogen ihn aus und schlugen ihn und machten sich davon und ließen ihn halb tot liegen. Es traf sich aber, dass ein Priester dieselbe Straße hinabzog; und als er ihn sah, ging er vorüber. Desgleichen auch ein Levit: Als er zu der Stelle kam und ihn sah, ging er vorüber. Ein Samariter aber, der auf der Reise war, kam dahin; und als er ihn sah, jammerte er ihn; und er ging zu ihm, goss Öl und Wein auf seine Wunden und verband sie ihm, hob ihn auf sein Tier und brachte ihn in eine Herberge und pflegte ihn. Am nächsten Tag zog er zwei Silbergroschen heraus, gab sie dem Wirt und sprach: Pflege ihn; und wenn du mehr ausgibst ⁴, will ich dir’s bezahlen, wenn ich wiederkomme. (Lukas 10:30 – 35, H.v.m.)
Obzwar der Begriff der ‚Supererogation’ hier vom Samariter in einem ökonomischen Sinne für die Mehrausgaben des Wirts verwendet wird, findet er in der Interpretation Anwendung auf das Handeln des Samariters – also auf die freiwillige Übernahme zusätzlicher Kosten.⁵ Systematisch gewinnt der Begriff in der Scholastik und insbesondere bei Thomas von Aquin mit der Einführung der Doktrin der opera supererogationis an Bedeutung. Diese basiert auf der durch die Kirchenväter eingeführten Unterscheidung zwischen den Geboten des Dekalogs (praecepta) und den göttlichen Seligenanratungen (consilia), welche im Gegensatz zu ersteren optional verstanden werden, und ihre Erfüllung somit als supererogatorisch. Nach Thomas sind die Gebote ihrer Reichweite nach universell, wogegen die Seligenanratungen sich nur an die wenigen richten, die die Kapazität haben, ein Leben der Perfektion anzustreben. Dabei nennt Thomas zwei verschiedene Quellen des Verdienstes supererogatorischen Handelns: Einerseits dient es als ein sichererer Weg zu ewigem Leben. Andererseits ist es intrinsisch gut, weil es auf höhere Ideale zielt als auf die reine Erfüllung der Gebote. Kirchenpolitisch fungierte diese Unterscheidung als theologische Rechtfertigung für den Ablasshandel. Demnach hätten Märtyrerinnen und Heilige mehr geleistet als geboten ist und so einen Überschuss an Verdienst erwirtschaftet, welcher der Kirche als ganzer zu Gute kommt und weshalb andere durch Ablässe von ihrer Sünde freigesprochen werden können.⁶
sächlich eine Pflicht vorliegt, deren Erfüllung aufgrund des nicht-idealen Kontextes so exzeptionell sei, dass die Handlung supererogatorisch erscheint (vgl. Mieth 2012, 54). In der lateinischen Fassung heißt es an dieser Stelle: „quodcumque supererogaveris“. Die Erstversorgung am Tatort ist somit klarerweise nicht als supererogatorisch einzustufen, sondern in jedem Fall als Nothilfepflicht zu betrachten, nur die Sorge für die weitere Pflege scheint darunterzufallen. Für eine ausführliche Darstellung der theologischen Ursprünge und ihrer Bedeutung für die ethische Debatte siehe Heyd 1982, 15 ff. Interessanterweise findet hier nach der Moralisierung des Begriffs wieder eine Rückkopplung an ökonomische Interessen statt.
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1 Supererogation
Nicht zuletzt wegen dieser Praxis hat die Idee der Supererogation während der Reformation starke Kritik erfahren und wurde zurückgedrängt. So geht Calvin davon aus, dass es keinen Überschuss an Verdienst geben könne. Den Ablasshandel hält er für Gotteslästerung, da dieser auf Ruhm und Ehre auf der einen Seite abziele und auf der anderen Unmoral befördere. Doch die Kritik am Ablasshandel scheint letztlich bloß der Anstoß für die Zurückweisung gewesen zu sein, denn aus Sicht des Protestantismus stellt sich die Frage, ob man tatsächlich mehr tun kann als seine Pflicht, im Prinzip nicht. In der protestantischen Ethik gelten selbst die Fälle, die der Katholischen Kirche als paradigmatisch gelten, streng genommen als Verpflichtungen. So argumentiert Luther, dass die Pflichten gegen Gott unendlich sind, weshalb auch niemals ein Überschuss erwirtschaftet werden könne. Heilige seien daher gleichermaßen auf Gottes Gnade, als einzigem Weg zur Erlösung, angewiesen. Wenn ihr Tun zwar niemanden entlasten könne, so könne es aber als gutes Vorbild dienen.⁷ Dieser Interpretation zufolge wäre das Handeln des guten Samariters zwar immer noch beispielhaft, aber eben nicht mehr als paradigmatischer Fall supererogatorischen Handelns zu betrachten, sondern als ein paradigmatischer Fall einer Pflichterfüllung.⁸ Die ablehnende Haltung der Reformatoren gegenüber der Supererogation, sowie das Verschwinden des Ablasshandels in der Katholischen Kirche führten zum Rückgang des Interesses am Konzept der Supererogation. Infolgedessen blieb es in der modernen Moralphilosophie lange Zeit weitgehend unbeachtet.⁹
Für eine differenzierte Diskussion der Gegenargumente der Reformatoren vgl. Brown 2011, 11 ff. Dort werden fünf Haupteinwände unterschieden: (1) Supererogation ist durch Sünde motiviert, besonders Stolz, Arroganz und Faulheit. (2) Die Unterscheidung von Geboten und Seligenanratungen befördert unmoralisches Handeln. (3) Die Unterscheidung ist arbiträr. (4) Supererogation widerspricht der Heiligen Schrift. (5) Die Theorie der Supererogation führt zum Ablasshandel. An diesem Beispiel wird einschlägig klar, dass sich die Frage danach, ob es Supererogation gibt und was gegebenenfalls überhaupt paradigmatische Fälle supererogatorischen Handelns sind, nicht ohne Weiteres beantworten lässt. Und dennoch haben die theologischen Debatten den Boden für die zeitgenössische bereitet, wie etwa Mellema (1991, 16) feststellt: „To summarize, the latin verb supererogare, to overexpend or spend in addition, does not nearly capture the meaning of the term ’supererogation’ in modern discourse; it’s modern usage, after all, is the product of a considerable evolutionary development. […] Still, it is evident that the modern concept of supererogation bears some important connections to the concept of over-spending. […] the modern concept of supererogation is a considerably more refined notion than that from which it evolved, but one can clearly see that the crude notion of over-expending is at the core of the modern concept.“ Man könnte Supererogation daher durchaus als ein gutes Beispiel für ein travelling concept im Sinne Bals (2011, 12) verstehen: „[C]oncepts are not fixed. They travel – between disciplines, between individual scholars, between historical periods, and between geographically dispersed academic communities. Between disciplines, their meaning, reach, and operational value differ.“ Obzwar um diese These weiter zu
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1.1.2 Wiederbelebung in der säkularen Ethik Eine breite philosophische Auseinandersetzung mit dem Konzept der Supererogation findet sich erst ab Mitte des 20. Jahrhunderts,¹⁰ angestoßen durch J.O. Urmsons 1958 erschienenen Aufsatz „Saints and Heroes“.¹¹ Urmson diagnostiziert das außer Acht lassen heiliger und heldenhafter Taten in der modernen Moralphilosophie¹² – wobei er im Wesentlichen den Kantianismus, den Utilitarismus und den Intuitionismus vor Augen hat –, die sich nur auf das Erlaubte, das Gebotene und das Verbotene konzentriere. Diese Dreiteilung sei aber nicht angemessen, da sie den moralischen Tatsachen nicht gerecht werde.¹³ Entsprechend bedürften Moraltheorien, die nicht über eine solche Kategorie verfügten, einer Modifikation, um tragbar zu sein.¹⁴
untermauern, ein Vergleich mit weiteren Disziplinen notwendig wäre, etwa der Soziologie: Geeignete Anknüpfungspunkte wären hier beispielsweise Dahrendorfs (2010, 40 ff.) Unterscheidung zwischen „Muss-, Soll-, Kann-Erwartung“, wobei die Kann-Erwartung gerade dadurch charakterisiert ist, dass sie über das Notwendige hinaus geht und die Unterlassung in keiner Weise sanktioniert wird. Oder auch Luhmanns (2008, 86) Überlegungen zur Figur des Helden, die seines Erachtens „die vielleicht eindrucksvollste semantische Form [darstellt], die in der europäischen Geschichte für moralisch reguliertes Abweichen ausgebildet worden ist. […] [Der Held] „produziert Konformität (Nachahmungswille) durch Abweichung.“ Wobei Chisholm (1963, 6 ff.) darauf hinweist, dass sich die erste ausführliche Behandlung in der säkularen Ethik bereits im 19. Jahrhundert in Alexius Meinongs Werttheorie finde, wenngleich hier nicht von Supererogation die Rede sei, sondern vom Verdienstlichen. Meinong unterscheide auf Basis des Begriffspaars gut und böse vier Handlungstypen: das Verwerfliche, das immerhin Zulässige, das Korrekte, und das Verdienstliche. Ferner habe Ernst Schwarz Meinongs System aufgegriffen und um die Dimensionen Lob und Tadel ergänzt. Interessanterweise erschien der Artikel im selben Jahr wie Anscombes „Modern Moral Philosophy“, der gemeinhin als Ausgangspunkt der aktuellen Diskussion der Tugendethik betrachtet wird. Ungeachtet der unterschiedlichen Schlussfolgerungen, ähnelt sich die Diagnose über den Zustand bzw. die Mängel der Moralphilosophie, wenngleich sie bei Anscombe wesentlich radikaler ausfällt. Es sollte daher nicht verwundern, dass die beiden Debatten durchaus einige Berührungspunkte aufweisen. Zumindest in systematischer Hinsicht: „It would be absurd to suggest that moral philosophers have hitherto been unaware of the existence of saints and heroes and have never even alluded to them in their works. But it does seem that these facts have been neglected in their general, systematic accounts of morality.“ (Urmson 1958, 206) Vgl. Urmson 1958, 206 ff. „It is possible, no doubt, to revise these theories to accommodate the facts, but until so modified successfully they must surely be treated as unacceptable, and the modifications required might well detract from their plausibility.“ (Urmson 1958, 207)
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Um dies zu zeigen, unterscheidet Urmson drei verschiedene Verwendungsweisen des Begriffspaares heilig und heroisch im moralischen Sprachgebrauch:¹⁵ Erstens in Situationen, die ein enormes Maß an Selbstdisziplin erfordern – da eine Handlung entweder einer Neigung zuwiderläuft (bei heiligen Handlungen) oder mit einer großen Gefahr einhergeht (bei heroischen Handlungen) – so dass das Eigeninteresse oder das Streben nach Selbsterhaltung die meisten Leute davon abhalten würde, in dieser Situation ihrer Pflicht nachzukommen. Zweitens in Situationen, die der vorhergehenden gleichen, in denen es auf Seiten der Akteurinnen aber scheinbar keiner Selbstdisziplin bedarf, da diese, im Gegensatz zu den meisten Leuten, keine gegenläufigen Neigungen bzw. keine Angst verspürten. Diese beiden Fälle ließen sich jedoch durchaus im Rahmen der deontischen Dreiteilung erfassen: Es sind gebotene Handlungen, die jedoch als schwer erfüllbar gelten.¹⁶ Diese Einordnung sei jedoch mit Blick auf die dritte Verwendungsweise nicht möglich, weshalb sie die eigentlich interessante Verwendungsweise ist. Diese kommt nämlich gerade dann zum Tragen, wenn eine Handlung weit über die Grenzen des Gebotenen hinausgeht.¹⁷ Zur Illustration konstruiert Urmson u. a. folgende in der Debatte prominent gewordenen Fälle, wobei der erste als paradigmatisch für das im dritten Sinne heilige Handeln, der zweite für das im dritten Sinne heroische Handeln verstanden werden kann: We have considered the, certainly, heroic action of the doctor who does his duty by sticking to his patients in a plague-stricken city; we have now to consider the case of the doctor who, no differently situated from countless other doctors in other places, volunteers to join the depleted medical forces in that city.¹⁸ We may imagine a squad of soldiers to be practicing the throwing of live hand grenades, a grenade slips from the hand of one of them and rolls on the ground near the squad; one of them sacrifices his life by throwing himself on the grenade and protecting his comrades with his own body. It is quite unreasonable to suppose that such a man must be impelled by the
An dieser Stelle sei angemerkt, dass es hier des Attributs moralisch braucht, da der Respekt gegenüber und die Anerkennung von sogenannten Heldinnen und Heiligen eben nicht zwangsläufig moralischer Natur sein muss – sondern etwa eine religiöse Verwendung haben kann. Wenn im weiteren Verlauf der Arbeit daher von Heldinnen und Heiligen bzw. heiligen und heroischen Handlungen die Rede ist, so ist stets die moralische Verwendung der Begriffe gemeint. Vgl. Urmson 1958, 199. Vgl. Urmson 1958, 201. Auch hier mag man weiter dahingehend unterscheiden können, ob diese Handlung einer Akteurin nun Selbstdisziplin abverlangt oder nicht. Urmson scheint davon abzusehen, weil hier, im Gegensatz zu den beiden erstgenannten Verwendungsweisen, die diesbezügliche Beschaffenheit der Akteurin nicht den Grund der Zuschreibung ausmacht. Entscheidend ist mit Blick auf die Beschaffenheit der Akteurin jedoch, dass er darauf hinweist, dass es sich hier keineswegs um „cases of natural affection“ (Urmson 1958, 202) handelt. Urmson 1958, 201 f.
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sort of emotion that he might be impelled by if his best friend were in the squad; he might only just have joined the squad; it is clearly an action having moral status. But if the soldier had not thrown himself on the grenade would he have failed in his duty?¹⁹
Herausragende Handlungen dieser Art, so sein Fazit, dienen jedoch bloß als eindeutige Fälle,²⁰ die auf eine ganz eigene Klasse von Handlungen deuten, die außerhalb der Dreiteilung und somit außerhalb vieler Moraltheorien liegt. Diese Dreiteilung bedürfe daher einer Erweiterung um eine Kategorie von „supererogatory acts“²¹: Handlungen, die moralisch wertvoll sind, jedoch nicht in den Bereich des Gebotenen fallen und sogar über die Pflicht hinauszugehen scheinen.²² Ausgehend von dieser Diagnose hat sich das Thema in den darauffolgenden Jahrzehnten etabliert und differenziert. Hierbei lassen sich im Wesentlichen drei miteinander verwobene Diskussionsstränge ausmachen, die als Reaktion auf die jeweils ins Feld geführten Desiderate verstanden werden können: Erstens finden sich systematische Auseinandersetzungen über die Bedeutung des moralisch Heiligen und Heroischen, insbesondere mit Blick auf die Frage, inwiefern dies ein attraktives Ideal darstellt.²³ Zweitens findet sich eine Vielzahl jeweils theoriespezifischer Diskussionen, die darauf abzielen zu klären, ob die jeweilige Moraltheorie dem Phänomen gerecht werden kann.²⁴ Drittens und maßgeblich dreht sich die Diskussion um die nähere Bestimmung und Problematisierung des Supererogationsbegriffs,²⁵ was im Folgenden näher ausgeführt wird.
Urmson 1958, 202. „It should indeed be noted that heroic and saintly actions are not the sole, but merely conspicuous, cases of actions that exceed the basic demands of duty; there can be cases of disinterested kindness and generosity, for example […]. Indeed, every case of ’going the second mile’ is a case in point […].“ (Urmson 1958, 205) Dazu siehe auch unten unter 1.2.1. Urmson 1958, 214. Urmson 1958, 205. Einschlägig für diese Diskussion sind: Wolf 1982, Pybus 1982 und Adams 1984. Dazu siehe auch unten unter 1.2.3. Ein detaillierter Überblick findet sich bei Heyd 1982, 35 ff. Versuche, dem Phänomen im Rahmen des Utilitarismus zu begegnen, finden sich etwa bei Attfield 1979, Feldman 1986 und Portmore 2003; in Bezug auf die Tugendethik siehe etwa Kawall 2009 und Crisp 2013. Für einen ausführlichen Überblick über die Diskussion im Rahmen der Kantischen Ethik siehe Kapitel 3. Maßgeblich beeinflusst wurde die Debatte etwa von Feinberg 1961, Chisholm 1963, Chisholm/ Sosa 1966, Rawls 1971, Raz 1975, Heyd 1982, Mellema 1991. Für den deutschen Sprachraum ist Wessels 2002 einschlägig.
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1 Supererogation
1.2 Zur Struktur der aktuellen Debatte In der aktuellen Diskussion um den Supererogationsbegriff lassen sich drei grundlegende Fragestellungen ausmachen, anhand derer hier vorgegangen wird: Erstens ist umstritten, was genau unter Supererogation zu verstehen ist (1.2.1) und zweitens ist umstritten, ob es überhaupt supererogatorische Handlungen gibt und wie sich diese Annahme rechtfertigen lässt (1.2.2). Diesen Zweifeln steht schließlich die Frage nach der moraltheoretischen Relevanz eines solchen Konzepts gegenüber (1.2.3).²⁶
1.2.1 Die Definitionsfrage: Was ist Supererogation? Wenngleich einem nun auf die Frage, was Supererogation ausmacht, schnell Beispiele einfallen mögen, so ist es doch problematisch, dem Begriff der ‚Supererogation‘ auf die Spur zu kommen, und das aus wenigstens zwei Gründen: Zum einen ist es gerade dadurch erschwert, dass man es nicht mit einem alltagssprachlichen Terminus zu tun hat. Die moralische Praxis liefert durchaus legitime Gründe für die Annahme, dass gewisse moralische Urteile darin bestehen, dass die respektiven Handlungen gut, aber nicht geboten sind. Allerdings lässt sich diese Annahme nur mittelbar explizieren, nämlich mit Blick auf die Erläuterungen, warum konkrete Handlungen als herausragend gut beurteilt werden oder Unterlassungen scheinbar gebotener Handlungen nicht getadelt werden. Die Frage nach dem Warum scheint dabei unerlässlich: Denn es können durchaus alternative Gründe für diese Urteile angenommen werden, beispielsweise die Härte der Umstände, aufgrund derer eine Pflichtunterlassung nicht getadelt wird. Zum anderen besteht das Problem, dass sich der Begriff der ‚Supererogation’ nur schwerlich auf die Bewertung ganzer Handlungsweisen anwenden lässt, so dass ein Konsensproblem hinsichtlich der materialen Bestimmung des Supererogatorischen besteht. Würde man dagegen fragen, welche Handlungen geboten sind, würde die Antwort nicht zunächst auf konkrete Handlungen (act-token)
Zu dieser Einteilung vgl. etwa Montague 1989, 101: „Philosophical discussions of supererogation typically concentrate on one or more of the following questions: (1) How shall we explain the concept of supererogation? (2) Are any actions in fact supererogatory? (3) What significance (if any) does the answer to (2) have for moral theory and for substantive morality?“ Heyd (2015) unterscheidet dagegen nur zwischen der konzeptionellen und der substantiellen Frage: „The conceptual question of what we mean by supererogation and the substantive question of whether there actually are supererogatory acts (and how their normative value can be justified) […].“
1.2 Zur Struktur der aktuellen Debatte
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verweisen müssen, sondern vielmehr auf bestimmte Handlungsweisen (act-types) verweisen können, die relativ unkontrovers darunter fallen – etwa nicht zu lügen oder Nothilfe zu leisten. Oder anders gesagt: Während sich leicht ein Konsens über gewisse prima facie Pflichten ausmachen lässt, so scheint es nicht in gleicher Weise möglich, gewisse Handlungstypen als prima facie supererogatorisch zu bestimmen. David Heyd versucht eine solche Angabe mit Blick auf das Supererogatorische vorzunehmen, wobei er vorschlägt, vorläufig sechs paradigmatische supererogatorische Handlungsweisen zu unterscheiden: Heiligentum/Heroismus, Wohltätigkeit, Gefälligkeiten, ehrenamtliches Engagement, außergewöhnliche Nachsichtigkeit und Vergebung.²⁷ Ganz davon abgesehen, dass diese Liste kaum als konsensfähig gelten kann, zeigen sich an ihr zwei Besonderheiten: Erstens sind die aufgeführten Handlungsweisen keineswegs exklusiv für das Supererogatorische, sondern unter Umständen auch gebotene Handlungen. Eine Ausnahme hierzu stellt lediglich Heiligentum/Heroismus dar, aber dies ist eben bereits definitorisch festgelegt, wenn darunter weit über die Pflicht hinausgehende Handlungen verstanden werden. Was denn sogleich auf die zweite Besonderheit verweist, nämlich dass die Klasse heiliger und heroischer Handlungsweisen, zwar diejenige ist, über die am ehesten Konsens herrscht, die aber im Gegensatz zu den anderen gerade keine homogene Klasse von Handlungsweisen beschreibt. Sie fällt gewissermaßen aus der Reihe, da sie eine Art Platzhalter für verschiedenste Handlungsweisen zu sein scheint, sofern diese in herausragender Weise vollzogen werden. So wäre beispielsweise außerordentlich wohltätiges Handeln ebenso ein Fall moralischen Heiligentums wie ausuferndes ehrenamtliches Engagement. Was macht nun also das Supererogatorische aus?²⁸ Die Grundidee ist folgende: Geht man davon aus, dass man es in moralischen Belangen mit zwei verschiedenen Bewertungsmaßstäben²⁹ – nämlich einerseits deontischen und
Vgl. Heyd 1982, 142. Wessels (2002, 2) diagnostiziert bezüglich dieser Fragestellung Folgendes: „Anders als in der christlichen Ethik geht es bei diesen Überlegungen [der säkularen Ethik, K.N.] noch kaum um die Frage, welche Handlungen über das Gebote hinausgehen und welche nicht; es geht in erster Linie um die vorgeordnete Frage, was es heißt, dass Handlungen über das Gebotene hinausgehen.“ Darum soll es auch hier zunächst gehen, wenngleich hinsichtlich der Diagnose festzustellen ist, dass die Frage nach der Beurteilung konkreter Handlungsweisen mit der zunehmenden Übertragung des Konzepts auf Anwendungsdiskurse an Relevanz zu gewinnen scheint: so etwa im Bereich der Medizinethik (vgl. McKay 2002, Raters 2015), der Umweltethik (vgl. Michael 1996) oder der normativen politischen Philosophie (vgl. Weinberg 2011, Mieth 2012). Inwiefern diese beiden unabhängig voneienander sind, kann hier offen bleiben. Dancy (1988, 174) unterscheidet diesbezüglich zwei mögliche Positionen: „The extreme position I am outlining here maintains only that some actions that are duties, say, are so not because of any value that
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andererseits evaluativen – zu tun hat,³⁰ so können diese dahingehend auseinanderfallen, dass der Bereich des Gebotenen nicht mit dem des Guten deckungsgleich sein muss.³¹ In definitorischer Hinsicht scheint, davon ausgehend, wenigstens über die Notwendigkeit von zwei Merkmalen supererogatorischen Handelns Einigkeit zu herrschen – nicht jedoch hinsichtlich ihres konkreten Bedeutungsgehalts: (1) Optionalität: Die Handlung ist weder moralisch geboten noch moralisch verboten. (2) Moralischer Wert: Die Handlung ist nicht moralisch indifferent, vielmehr ist ihre Ausführung moralisch gut, ihre Unterlassung hingegen nicht schlecht.³²
they have, or even despite their lack of value. A more moderate position would hold that an action can only be a duty if it has an evaluative property from which the property of being a duty somehow emerges.“ Geht man davon aus, dass diese Struktur nicht nur im Bereich der Moral grundlegend ist, sondern gleichfalls für andere Normensysteme gilt, stellt sich die Frage, inwiefern man auch dort von Supererogation sprechen kann. Dazu siehe etwa Hedberg (2014), der epistemische Supererogation diskutiert. McElwee (2017) schlägt darüber hinaus die Kategorien der prudentiellen Supererogation und der Anstandssupererogation vor. Geht man davon aus, dass diese Diagnose folglich auch für das Verhältnis des Verbotenen zum moralisch Schlechten angenommen werden muss, so lässt sich, quasi als negatives Pendant zu Supererogation, eine weitere Handlungskategorie annehmen, nämlich das Suberogatorische (Driver 1992) bzw. das Anstößige (Chisholm 1963): Handlungen, die schlecht, jedoch nicht verboten sind. Diese stehen folglich im gleichen Verhältnis zum Verbotenen, wie das Supererogatorische zum Gebotenen, jedoch folgt daraus keineswegs, dass das Suberogatorische in der Unterlassung supererogatorischer Handlungen besteht, nicht zuletzt weil das bedeuten würde, dass die Unterlassung supererogatorischer Handlungen dann ja gerade wieder tadelnswert wäre (vgl. Chisholm 1963, 6). Ob eine solche Handlungskategorie möglich ist, ist durchaus umstritten, so weist Heyd (2015) diesbezüglich auf ein weiteres Symmetrieproblem dieser beiden Kategorien hin: „The extremely good cannot be required, but the extremely bad (vicious) is the prime target of prohibition.“ Liberto (2012) verweist dagegen auf den Mangel an überzeugenden Fällen suberogatorischen Handelns. Daneben findet sich eine Vielzahl weiterer Kategorienvorschläge: Mellema (1987) erweitert auf sieben Kategorien, indem er Quasi-Supererogation (und entsprechend QuasiSuberogation) einführt, worunter solche Handlungen zu verstehen seien, deren Unterlassung keinen Tadel nach sich ziehen würde, obgleich sie geboten sind (für eine Zurückweisung dieses Vorschlags vgl. Archer 2015); Cohen (2013) geht noch darüber hinaus und schlägt die Kategorie der forced supererogation vor (für Gegenargumente vgl. Archer 2014); Harman (2016) verweist auf die Kategorie der moralisch erlaubten moralischen Fehler. Dazu vgl. Heyd (1982, 115). Dieses Kriterium wird bisweilen aber auch unter Rückgriff auf andere evaluative Begriffe beschrieben. So geht Mellema (1991, 17) davon aus, dass solche Handlungen lobenswert, ihre Unterlassung hingegen nicht tadelnswert ist. Andere Autorinnen verweisen dagegen darauf, dass die Ausführung der Handlung moralisch besser ist als bloße Pflichterfüllung (vgl. Portmore 2011, 92). bzw. dass gewichtigere Gründe dafür sprechen (vgl. Dancy 1993, 127).
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Ad (1) Es scheint doch zunächst begründungsbedürftig, warum man für die Erläuterung der Phänomene eine eigene Handlungskategorie braucht. Das scheint damit zusammenzuhängen, dass das Optionalitäts-Kriterium in der oben dargelegten allgemeinen Form unterbestimmt ist, und zwar dahingehend, was genau darunter zu verstehen ist, dass eine Handlung nicht geboten ist. Es scheint relativ klar zu sein, dass hiermit nicht eine spezifische Handlung zur Erfüllung einer (disjunktiven oder auch einer weiten) Pflicht gemeint sein kann. Man gehe beispielsweise davon aus, dass es eine Wohltätigkeitspflicht gibt, die man etwa durch eine Spende erfüllen kann. Wenn dem so ist, dann scheint es durchaus einen Entscheidungsspielraum zu geben, ob man etwa an UNICEF oder an Pro Asyl spendet. Entscheidet man sich nun, an UNICEF zu spenden, so ist diese konkrete Handlung zwar nicht vorgeschrieben und dennoch handelt es sich um eine gebotene Handlung. Wie sieht die Sache nun aus, wenn man an UNICEF spendet, obwohl man bereits an ProAsyl gespendet hat? Das kommt ganz darauf an, wie man diesen Fall bewertet: Man könnte erstens daran festhalten, dass die Spende die Erfüllung einer weiten Pflicht darstellt und folglich nicht supererogatorisch ist. Zweitens könnte man meinen, dass man es hier mit der Übererfüllung einer prima facie Pflicht zu tun hat. Drittens könnte man es so verstehen, dass hier tatsächlich all-things-considered keine Pflicht vorliegt.³³ Während die erste Lesart dagegen sprechen würde, dass es supererogatorische Handlungen gibt (Anti-Supererogationismus), sondern vielmehr dafür, dass alle guten Handlungen (zumindest unter einer bestimmten Beschreibung) geboten sind, lässt sich anhand der beiden anderen folgende Binnendifferenzierung einführen: Positionen der ersten Art kann man als schwachen Supererogationismus bezeichnen. Sie bestimmen das Supererogatorische unter Rückgriff auf bestimmte Pflichten, die jedoch nicht als unter allen Umständen verbindlich betrachtet werden. Dagegen reduzieren Vertreter eines starken Supererogationismus supererogatorische Handlungen gerade nicht auf Pflichten irgendeiner Art, sondern verstehen sie als solche, die tatsächlich jenseits aller Verpflichtung liegen.³⁴ Ad (2) Geht man nun gemeinhin davon aus, dass die Unterlassung einer guten Handlung schlecht ist und vice versa, so lässt sich diesbezüglich hier eine Asymmetrie feststellen. Diese findet sich aber ebenso mit Blick auf disjunktive oder weite Pflichten. Der vermeintliche Unterschied besteht nun gerade darin, dass diese Asymmetrie bei Pflichten stets mit einer Qualifizierung folgender Art Vgl. Zimmermann 1996, 232 ff. Die Terminologie ist Dancy (1988, 175) entliehen. Diese Unterscheidung findet sich andernorts unter verschiedenen Bezeichnungen: So unterscheidet Heyd (2015) zwischen „qualified“ und „unqualified supererogationism“, Feinberg (1961, 282) zwischen „oversubscription“ bzw. „dutyplus“ und „meritorious non-duty“.
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einhergeht: Die Handlung ist gut, ihre Unterlassung ist hingegen nicht schlecht, sofern andere Mittel zur Erfüllung der Pflicht ergriffen werden. Supererogatorische Handlungen scheinen dagegen nun gerade dadurch gekennzeichnet zu sein, dass es keiner derartigen Qualifizierung bedarf. Ferner ist zu bemerken, dass das Wert-Kriterium in der hier dargelegten allgemeinen Form dahingehend unterbestimmt ist, auf welcher Grundlage die Handlung als moralisch gut bewertet wird. Und es muss an dieser Stelle auch offen bleiben, ob dies etwa unter Rekurs auf Absichten, Konsequenzen oder Tugenden geschieht, um nicht sogleich eine bestimmte Theorie zu präjudizieren. Hingegen muss geklärt werden, wie sich der moralische Wert solcher Handlungen zu dem gebotener Handlungen verhält. Mit anderen Worten: Was macht das spezifisch Gute aus? Hierfür schlägt David Heyd folgende Erklärung vor: Er geht davon aus, dass eine logische Relation zwischen Superergation und moralischer Pflicht besteht, die sich durch zwei Merkmale auszeichnet. Erstens Korrelativität, womit gemeint ist, dass die Bedeutung supererogatorischer Handlungen nur in Relation zu gebotenen Handlungen erklärt werden kann, da sich ihr spezieller Wert davon herleitet, mehr als das Gebotene zu tun. Zweitens Kontinuität, womit gemeint ist, dass diesem Urteil eine geteilte und kontinuierliche Werteskala zwischen gebotenen und supererogatorischen Handlungen zugrundeliegt.³⁵ Demnach sind supererogatorische Handlungen stets moralisch besser, als zur Verfügung stehende Handlungsalternativen.³⁶ Ob (1) und (2) für das Vorliegen einer supererogatorischen Handlung hinreichend sind, ist durchaus umstritten; wenigstens drei weitere Kriterien werden häufig diskutiert. Wenngleich bezüglich dieser drei Einigkeit darüber herrscht, dass es sich um Merkmale handelt, die oftmals mit supererogatorischem Handeln einhergehen, so doch nicht dahingehend, ob es sich um notwendige Definitionskriterien handelt. In gewisser Hinsicht könnte man diese auch als mögliche Spezifizierungen von (2) verstehen: (3) Verdienstlichkeit: Die Ausführung der Handlung ist verdienstlich und daher lobenswert (die Unterlassung hingegen nicht tadelnswert). (4) Kostspieligkeit: Die Ausführung der Handlung geht mit (hohen) Kosten für die Akteurin einher. (5) Altruismus: Die Handlung ist am Wohl anderer orientiert.
Heyd 1982, 5. Es ist fraglich, ob dies bereits ein Schwellenmodell für Theorien der Supererogation impliziert. Wessels (2002) argumentiert gegen die Plausibilität eines solchen Modells, indem sie auf das Problem der dadurch entstehenden Supererogationslöcher aufmerksam macht. Das heißt nun nicht, dass sie per se besser sind als jede Pflichthandlung, sondern lediglich, dass die Übererfüllung einer konkreten Pflicht besser ist als deren bloße Erfüllung.
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Ad (3) Wenngleich oftmals vorgebracht wird, dass supererogatorische Handlungen besonders lobenswert sind,³⁷ wird doch selten expliziert, was genau darunter zu verstehen ist.³⁸ Es liegt jedoch nahe, folgenden Zusammenhang anzunehmen: Daraus, dass eine Handlung moralisch gut ist, folgt nicht notwendigerweise, dass sie auch lobenswert ist. Vielmehr ist eine Handlung dann lobenswert, wenn sie verdienstlich ist.³⁹ Warum eine Handlung verdienstlich ist, lässt sich nun auf zweierlei Weise begründen: entweder durch den Verweis auf die außergewöhnlich guten Folgen oder aber durch den Verweis auf die außerordentlich gute Motivation. Während sich das Lob in der ersten Lesart allein auf die Handlung bezieht, bezieht es sich in der zweiten Lesart in erster Linie auf die Akteurin, d.i. auf ihre motivationale Beschaffenheit.⁴⁰ Bezüglich der zweiten Lesart, stellt sich dann aber die Frage, inwiefern die Beurteilung einer Handlung als supererogatorisch nicht etwa mehr über die Akteurin als über die Handlung selbst aussagt, mit anderen Worten: Ist Supererogation ein Merkmal von Handlungen oder von Akteurinnen?⁴¹ Ausgehend hiervon lässt sich folgende Differenzierung einführen: Die Definition im Sinne der oben genannten Definitionsmerkmale (1) und (2) kann man als Akt-Superergationismus bezeichnen, demgegenüber würde der Akteurinnen-Supererogationismus von folgender Definition ausgehen: Eine Handlung ist supererogatorisch für die Akteurin, wenn (1) die Handlung nicht geboten ist und (2) die Akteurin Anerkennung für das Ausführen der Handlung verdient (woraus folgt, dass die Handlung moralisch wertvoll und nicht verboten ist).⁴² Ad (4) Oftmals wird davon ausgegangen, dass Supererogation der Akteurin ein persönliches Opfer bzw. ungewöhnlichen Einsatz abverlangt und dass die Handlung gerade deshalb nicht geboten sein kann, weil sie weit über das für die Vgl. etwa Feinberg 1961, 280 f.; Raz 1975, 164 und Pybus 1982, 193. Das darf hier natürlich nicht als gleichbedeutend mit moralischen Wert verstanden werden, wenn dies auch teilweise so verwendet zu werden scheint. Dann handelt es sich aber nicht mehr um ein distinktes Definitionsmerkmal, sondern um eine andere Formulierung von (2). Das heißt natürlich nicht, dass Verdienst als einzig mögliche Quelle von Lob verstanden werden muss, aber es stellt eben die hier relevante Quelle dar. Für die erste Lesart vgl. Heyd 1982, 115 ff.; für die zweite Lesart vgl. Montague 1989, 105. Vgl. Montague 1989, 101 ff. Trianosky (1986, 27 ff.) begründet die Notwendigkeit eines aretaischen Definitionsmerkmals mit Verweis auf die Beobachtung, dass wir uns für das Unterlassen supererogatorischer Handlungen durchaus entschuldigen. Dies sei unnötig, wenn diese Unterlassung nicht falsch sei, könne aber damit erklärt werden, dass hierfür die aretaische Ebene entscheidend ist: Die Entschuldigung beziehe sich nämlich nicht auf die Handlungsunterlassung, sondern vielmehr auf eine nicht tugendhafte motivationale Struktur bzw. auf den Charakter. Denn eine vollkommen tugendhafte Person hätte die Handlung nicht unterlassen: „This resolution might indicate that the deontic characterization of supererogatory action may be both misleading and incomplete. […] Negative aretaic judgement may be quite in order […].“ (Trianosky 1986, 30) Vgl Monatgue 1989, 105.
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Akteurin Zumutbare hinausgeht.⁴³ Davon ausgehend lässt sich folgende Unterscheidung einführen: Als Heldinnensupererogation kann man solche Handlungen bezeichnen, die mit einer Gefahr für die Akteurin einhergehen, als Heiligensupererogation jene, die die Aufopferung eigener Interessen und Ziele beinhalten.⁴⁴ Dabei wird in der Regel davon ausgegangen, dass es sich bei dem Opfer nicht um ein subjektives, sondern ein objektives Merkmal handelt, es also für eine herkömmliche Akteurin schwer ist, diese Handlung auszuführen – dass eine konkrete Akteurin ihre Handlung nicht als aufopfernd beschreibt muss also keinesfalls gegen diese These sprechen. Eine moderatere Version dieser These geht davon aus, dass supererogatorische Handlungen, obzwar sie nicht zwangsläufig einen außerordentlichen Einsatz verlangen, doch stets mit (wenigstens geringen) Kosten für die Akteurin einhergehen.⁴⁵ Um dies zu begründen wird üblicherweise auf eine weitere Art supererogatorischen Handelns verwiesen, die dies nicht erfordert. Diese kann man als Freundlichkeitssupererogation bezeichnen, hierbei handelt es sich um eine nicht gebotene Verbesserung der Situation, die für die Akteurin zumutbar ist.⁴⁶ Ein oft angeführtes Beispiel hierfür wäre, jemandem die Tür aufzuhalten, obwohl man in Eile ist. Ad (5) Selbst wenn dies nicht immer expliziert wird, so scheinen die meisten Positionen davon auszugehen, dass supererogatorische Handlungen zum Wohl anderer vollzogen werden. Dies lässt sich aber nun einerseits dahingehend hinterfragen, was genau eine altruistische Orientierung ausmacht: reicht dafür eine altruistische Intention aus oder muss die Handlung auch dadurch motiviert sein?⁴⁷ Andererseits lässt sich hinterfragen, inwiefern tatsächlich ein Beitrag zum Diese Sichtweise wird etwa vertreten von Feinberg 1961, McGoldrick 1984 und Dancy 1993. Kritisiert wird sie etwa von Ferry 2013, Benn 2015 und Archer 2016. Vertreter dieser Position sind indes nicht darauf festgelegt, dass es sich hierbei um ein exklusives Merkmal des Supererogatorischen handelt. So verweist etwa Witschen (2006, 19 f.) darauf, dass nicht jede moralische Handlung, die ein Opfer gebietet, supererogatorisch sei; die Erfüllung einer Pflicht könne bisweilen ebenfalls großen Einsatz erfordern. Vgl. Mieth 2012, 25 f. Das entspricht im Wesentlichen der in 1.1.2 dargelegten Unterscheidung Urmsons. Vgl. Chisholm 1963. Vgl. Mieth 2012, 28.Was als zumutbar gilt, lässt sich indes immer nur in Abhängigkeit von dem Gut bestimmen, auf das die Handlung gerichtet ist. Diese Frage hängt letztlich davon ab, wie moralischer Wert und gegebenenfalls auch Verdienst bestimmt wird. Heyd geht prominenterweise davon aus, dass es keiner altruistischen Motivation bedarf: „The intention must be altruistic meaning that the act must be conceived as benefiting another person (or persons). […] Altruistic intention should not, however, be confused with altruistic motive. […].“ Das hat sodann die für viele kontraintuitive Konsequenz, dass: „One may act heroically in order to gain fame, to soothe one’s conscience (haunted by guilt feelings), or out of moral self-indulgence“ (Heyd 1982, 137).
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Wohl anderer konstitutiv ist. Zwar handelt es sich bei den als paradigmatisch vorgestellten Fällen stets um altruistische Wirkhandlungen, dagegen wird bisweilen jedoch vorgebracht, dass es wenigstens auch supererogatorische Ausdruckshandlungen gäbe, die sich einzig an einer moralischen Überzeugung oder einem Prinzip orientieren, in dem Wissen, dass dies nicht dem Wohl anderer dienen kann. Man denke hier etwa an eine Person, die in einer Diktatur wegen ihrer Überzeugungen verfolgt wird und selbst dann noch dieser Überzeugung treu bleibt, als ihr im Gefängnis Folter bevorsteht.⁴⁸ Während damit nur gezeigt werden soll, dass supererogatorische Handlungen nicht zum Wohl anderer beitragen müssen, kann daneben auch gefragt werden, ob sie auch am Wohl der Akteurin orientiert sein können, d.i.: Kann man auch über Pflichten gegen sich selbst hinausgehen? Die Möglichkeit solcher selbstbezogener supererogatorischen Handlungen ist indes stark umstritten;⁴⁹ nicht zuletzt, weil dies voraussetzt, dass es überhaupt Pflichten gegen sich selbst gibt.
1.2.2 Die Existenzfrage: Gibt es Supererogation? Ausgehend von den diskutierten Definitionsmerkmalen mag sich nun bezüglich der Frage, welche Handlungen als supererogatorisch gelten, ein Positionsspektrum von der Annahme ihrer Seltenheit bis hin zu einer relativen Häufigkeit supererogatorischer Handlungen ergeben. Wie aber bereits hinsichtlich divergierender Lesarten des Optionalitäts-Kriteriums angedeutet wurde, ist die Annahme, dass es Supererogation überhaupt gibt, durchaus umstritten. Diese Frage ergibt sich daher bereits mit Blick auf die Vereinbarkeit des Optionalitäts- und des Wert-
Die Terminologie und das Beispiel sind Witschen (2006, 40 f.) entlehnt. Ein ähnliches Beispiel findet sich bei Mellema (1991,19 f.), der dieses vorbringt um zu zeigen, dass: „[…] benefits to others play no role whatsoever. One can act in accord with an awareness of principle and have no regard for the good consequences of one’s act or the benefits which will accrue to others“ (ebd., 22). Archer (2012) geht entsprechend davon aus, dass Altruismus kein notwendiges Kriterium darstellt, man brauche aber stattdessen ein Kriterium, das sicherstellt, dass eine moralische Intention vorliegt. Heyd (1982, 137) verneint diese Möglichkeit explizit: „[…] only other-regarding duties can be surpassed supererogatorily.“ Kawall (2003) versucht dagegen, diese Möglichkeit zu begründen, wofür er u. a. folgendes Beispiel anführt (ebd., 490): „A farmer is held prisoner in a fascist state. She has committed no crimes and was simply one of scores of innocents rounded up by military police to set an example for possible dissidents in the region. Life in the prison is hard, and there is no indication that she will be released or even receive a trial. Still […] her situation is not entirely nightmarish. She notices that there are loose bars on the windows of her cell […]. She decides to risk her life and attempts to escape.“
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Kriteriums – die anderen Kriterien und die Schwierigkeit ihrer Bestimmung können für diese Fragen zunächst als zweitrangig betrachtet werden. Nun mag es zwar schwerlich zu bestreiten sein, dass es die zur Rede stehenden Phänomene gibt. Wenn unsere diesbezüglichen, auf unserer moralischen Praxis basierenden Intuitionen jedoch, gleichsam als Begründung der Existenz von Supererogation dienen sollen, dann scheint dies eine deskriptive oder gar positivistische Moraltheorie zu implizieren. Eine kritische Prüfung unserer moralischen Praxis, die sich ja an dieser Stelle auch schlicht als falsch erweisen könnte, bliebe damit gerade ausgeschlossen. Die Phänomene selbst können daher nicht unmittelbar darüber Aufschluss geben, ob es Supererogation gibt. Es muss vielmehr jenseits des Verweises auf die Phänomene begründet werden, warum es sich dabei um eine gute theoretische Erklärung des Phänomens handelt; mit anderen Worten, warum unsere moralische Praxis richtig ist (oder auch nicht). Diese Begründungsaufgabe ist eine zweifache: Erstens muss gezeigt werden, dass das Konzept kohärent ist, warum supererogatorische Handlungen also nicht geboten sind, obwohl sie die moralisch bessere der zur Verfügung stehenden Handlungsoptionen darzustellen scheinen. Der Verweis auf vermeintliche Fälle supererogatorischen Handelns kann über die Beantwortung dieser ersten Begründungsfrage jedoch keinen Aufschluss geben. Sofern diese erste Begründungsaufgabe gelingt, muss zweitens gezeigt werden, dass es sich dabei um eine extensional nicht-leere Kategorie handelt. Denn die Akteurinnen selbst, glaubt man ihrem Zeugnis, bezeichnen ihr Handeln nicht selten als Erfüllung einer Pflicht.
Das Paradox der Supererogation Wenn es sich bei supererogatorischen Handlungen tatsächlich um die moralisch beste zur Verfügung stehende Handlungsoption handelt, warum ist man dann nicht verpflichtet, entsprechend zu handeln? Die Quelle dieses Paradoxes wird gemeinhin auch als good-ought tie-up bezeichnet, sie besteht also in einem angenommenen konzeptuellen Zusammenhang moralischen Werts und moralischer Pflichten. In der am häufigsten diskutierten Form des Paradoxes wird dieser Zusammenhang vermittels moralischer Gründe konstatiert; es wird also davon ausgegangen, dass sowohl der deontische als auch der evaluative Status einer Handlung gleichermaßen in Abhängigkeit von den vorliegenden moralischen Gründen bestimmt werden. Das sich hieraus ergebende Paradox lässt sich wie folgt darstellen:
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Supererogationismus: (S) Es gibt Supererogation, d.i. es gibt ein kohärentes Konzept, das eine Klasse von Handlungen beschreibt, die moralisch gut und sogar besser als zur Verfügung stehende Alternativen sind, deren Ausführung jedoch nicht geboten ist. Moral Reason Argument (MRA):⁵⁰ (P1) Eine Handlung ist moralisch gut und sogar besser als zur Verfügung stehende Alternativen, wenn konklusive moralische Gründe für diese Handlung sprechen. (P2) Eine Handlung ist geboten, wenn konklusive moralische Gründe für diese Handlung sprechen. (K) Es ist stets geboten, die moralisch bessere Handlungsoption zu ergreifen. (¬ S) Da die Konklusion von MRA nun unvereinbar mit (S) ist, scheint sich hieraus zumindest für Vertreter eines starken Supererogationismus ein ernsthaftes Problem zu ergeben. Denn es mag zwar optionale Handlungen geben, aber diese können scheinbar nicht moralisch wertvoll sein. Demnach gäbe es keine logische Möglichkeit, eine Kategorie des Supererogatorischen anzunehmen, vielmehr wäre es scheinbar stets geboten, die moralisch beste zur Verfügung stehende Handlung zu ergreifen. Nun lassen sich wenigstens drei Strategien ausmachen, diesem Paradox zu begegnen, die jedoch alle gewissen Problemen ausgesetzt sind:⁵¹ Vertreterinnen der ersten Strategie berufen sich darauf, dass MRA nur funktioniert, wenn man vom Vorrang der Moral ausgeht; ⁵² diese Annahme weisen sie zurück und machen nicht-moralische Gründe, das eigene Wohl nicht zugunsten
Die Bezeichnung ist Brown (2011, 33) entlehnt. Das Argument findet sich prominenterweise bei Raz (1975, 164): „One important characteristic of supererogatory acts (though not only of them) is that their performance is praiseworthy while their omission is not blameworthy. But this creates a problem. If doing a supererogatory act is praiseworthy there must be reasons for doing it, and the reasons must outweigh any conflicting reasons for not doing it. But if there are conclusive reasons for performing the act then not to perform it is to act against the balance of reasons. If reason requires that the act be done then surely one ought to do it, and the ‘ought’ is based on all the reasons which apply to the case; it is a conclusive ought. But this entails that failing to perform the act is failing to do what one ought (conclusively) to do, so why isn’t it blameworthy not to perform a supererogatory act?“ Für eine ausführliche Diskussion dieser Strategien vgl. Ferry 2013 und Postow 2005. Also der Annahme, dass moralische Erwägungen immer Vorrang haben vor Erwägungen anderer Art, und in diesem Sinne „overriding“ (Hare 1963, 168 f.) sind.
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des Wohls anderer zu opfern, geltend.⁵³ Diese könnten hinreichend stark sein, um die vorliegenden moralischen Gründe zu überwiegen. Hier wird also (P2) dahingehend modifiziert, dass eine Handlung geboten ist, wenn konklusive Gründe dafür sprechen und nicht etwa konklusive moralische Gründe. Die Handlung ist dann zwar immer noch prima facie geboten, nicht jedoch all-things-considered. Diese Ansätze können zwar erklären, warum die Handlung nicht geboten ist und trotzdem moralisch besser ist, führen jedoch das Problem mit sich, dass supererogatorisches Handeln nun als irrational oder wenigstens suboptimal zu betrachten ist, da die konklusiven Gründe nun für die Unterlassung der Handlung sprechen. Vertreterinnen der zweiten Strategie ergänzen (P2) dahingehend, dass eine Handlung, für die konklusive moralische Gründe sprechen, nur dann geboten ist, wenn es keine Erlaubnis gibt, diese Gründe nicht (oder nur eingeschränkt) zu berücksichtigen.⁵⁴ Dies lässt sich etwa begründen, wenn man von zwei Arten moralischer Gründe ausgeht, akteur-neutralen und akteur-relativen Gründen. So können zwar konklusive akteur-neutrale Gründe für eine Handlung sprechen, zieht man aber akteur-relative Gründe hinzu, würden konklusive Gründe gegen die Handlung sprechen. Da es Akteurinnen aber frei steht, diese akteur-relativen Gründe in Anschlag zu bringen, ergibt sich in dieser Situation die Erlaubnis, entweder die Handlung zu ergreifen, für welche die akteur-neutralen Gründe sprechen, oder aber nicht. Nun wird so zwar das Problem der ersten Strategie vermieden, supererogatorische Handlungen als irrational zu betrachten, jedoch lässt sich nun kaum mehr zeigen, warum supererogatorische Handlungen moralisch besser sind als zur Verfügung stehende Handlungsalternativen. Vertreterinnen der dritten Strategie hinterfragen hingegen die in MRA vorausgesetzte Doppelfunktion moralischer Gründe und berufen sich hierfür darauf, dass es wenigstens zwei Arten von Gründen für eine Handlung gibt, nämlich solche, die Pflichten generieren, und solche, die das nicht tun.⁵⁵ Wenn es sich also gerade um Gründe der zweiten Art handelt, die für Supererogation sprechen, dann ergibt sich kein Paradox, da (P2) dahingehend modifiziert wird, dass eine Handlung dann geboten ist, wenn konklusive pflichtengenerierende Gründe für
Diese Strategie findet sich etwa bei: Heyd 1982, Wolf 1982 und Portmore 2003. Hier muss natürlich vorausgesetzt werden, dass supererogatorische Handlungen stets kostspielig sind. Worauf sich der Ausdruck des eigenen Wohls dabei bezieht, kann hingegen durchaus unterschiedlich definiert werden. Diese Strategie findet sich etwa bei: Raz 1975, Nagel 1986 und Dancy 1993. Eine solche Unterscheidung findet sich etwa bei Dancy (2004), der erstere peremptory und letztere enticing reasons nennt, so wie bei Gert (2003), der zwischen einer requiring role und einer justifying role von Gründen unterscheidet.
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diese sprechen. Damit diese Strategie erfolgreich ist, müsste man allerdings zeigen, dass tatsächlich in keinem Fall pflichtengenerierende Gründe für supererogatorische Handlungen sprechen, was wenig aussichtsreich scheint, denn es sprechen ja oftmals gewichtige moralische Gründe für diese Handlungen und zwar solche, die in anderen Kontexten zweifelsohne Pflichten generieren.⁵⁶
Das Heldinnenparadox⁵⁷ Mit Blick auf die zweite Begründungsaufgabe scheint es nun gerade interessant zu sein, dass sich bei der Bewertung von scheinbar supererogatorischen Handlungen oftmals eine Diskrepanz zwischen Innen- und Außenperspektive feststellen lässt. Das Urteil, dass jemand mehr getan hat als seine Pflicht, ist in der Regel eines, das aus der Beobachterperspektive plausibel ist, während die Akteurinnen selbst, glaubt man ihrem Zeugnis, ihr Handeln nicht selten als Erfüllung einer Pflicht bezeichnen: A striking example of this is reported by Philip Hallie in Lest Innocent Blood Be Shed. Hallie’s book is the story of Le Chambon, a village in the mountains of southern France that was one of the only refuges in France for those hiding from Nazi „justice“ during the occupation. The leaders of this sanctuary movement (Andre and Magda Trocme, Edouard Theis) were at great risk as were the many villagers who provided hiding places, food, clothing, and false papers for the refugees. On the traditional view of supererogation, surely these actions were supererogatory. Yet, Hallie’s research belies this interpretation: Madame Trocme was not the only citizen of Le Chambon who scoffed at words that express moral praise. In almost every interview I had with a Chambonnais or Chambonnaise there came a moment when he or she pulled back from me but looked firmly into my eyes and said, „How can you call us ’good’? We were doing what had to be done. Who else could help them?“⁵⁸
Diese Diskrepanz ist besonders augenfällig bei außergewöhnlichen Fällen, also bei dem, was oben als Heldinnen- und Heiligensupererogation bezeichnet wurde.
Um diesem Problem zu begegnen, führen Horgan/Timmons (2010) mit Bezug auf Gerts Unterscheidung gar noch eine dritte Funktion von Gründen an, nämlich eine merit-conferring role von Gründen, die sie als maßgeblich für die Rechtfertigung von Supererogation erachten. Ferry (2013) argumentiert mit Bezug auf Mill dafür, dass man eine andere Unterscheidung einführen muss, um Supererogation zu rechtfertigen: nämlich die zwischen Gründen, die für oder gegen eine Handlung sprechen, und Gründen, die dafür oder dagegen sprechen, eine Akteurin für diese Handlung verantwortlich zu machen. Der Begriff des Heldinnenparadoxes ist Archer/Ridge (2015) entlehnt, wenngleich zu bemerken ist, dass er hier allgemeiner verwendet wird; dort wird das Auseinanderfallen der Perspektiven, welches ich hier im Blick habe, nur als Ausgangspunkt eines tiefergehenden Problems betrachtet, welches dann als Heldinnenparadox bezeichnet wird. Hale 1991, 273 f.
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Wie geht man nun mit dem Zeugnis dieser Akteurinnen um? Geht man davon aus, dass keine Theorie der Supererogation beiden Phänomenen, also den Urteilen der gewöhnlichen Akteurinnen einerseits und dem der außergewöhnlichen Akteurinnen andererseits, gerecht werden kann, ist es jedoch fraglich, warum man das Urteil gewöhnlicher Akteurinnen dem Urteil jener vorziehen sollte, die herausragend handeln. In Anbetracht dessen könnte man es ebenso für gerechtfertigt halten, die Existenz supererogatorischer Handlungen auf der Grundlage unserer moralischen Praxis zu bestreiten.⁵⁹ Hieraus ergibt sich also ein zweites Paradox: Supererogationismus: (sH) Es gibt Fälle supererogatorischen Handelns, d.i. es gibt Handlungen, die moralisch gut (und sogar besser als zur Verfügung stehende Alternativen sind), aber nicht geboten sind. Argument der Innenperspektive: (P1) Die Akteurinnen selbst bewerten ihre moralisch guten Handlungen stets als etwas, zu dem sie sich verpflichtet fühlen, d.i. als geboten. (P2) Die Beobachterinnen bewerten einige dieser moralisch guten Handlungen als nicht geboten. (P3) Es gibt gute Gründe, den Urteilen der Akteurinnen Vorrang einzuräumen. (K) Es gibt keine supererogatorischen Handlungen. Vermeintlich supererogatorische Handlungen als nicht geboten zu bewerten, ist falsch. (¬sH) Da die Konklusion dieses Arguments unvereinbar mit (sH) ist, scheint hieraus insbesondere für die Annahme der Existenz der gemeinhin anerkannten paradigmatischen Fälle, nämlich Heldinnen- und Heiligensupererogation, ein Problem zu entstehen. Will man (sH) nicht zurückweisen, so scheinen auch dafür im Wesentlichen drei Strategien zur Verfügung zu stehen: Vertreterinnen der ersten Strategie modifizieren (P1) dahingehend, dass die Akteurinnen nicht etwa ihre Handlung als geboten bewerten, sondern, dass sie sich lediglich derart äußern würden. Diese Äußerung müsse man vielmehr für
Hale (1991, 273 f.) nennt neben dieser Diskrepanz einen weiteren Aspekt der moralischen Praxis, der gegen die Existenz des Supererogatorischen spreche, nämlich die Tatsache, dass Personen sich oftmals dafür entschuldigen, wenn sie eine scheinbar supererogatorische Handlungsoption nicht ergriffen haben. Für den Versuch, diese Beobachtung mit der Annahme der Supererogation in Einklang zu bringen, siehe auch Fn 56.
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(übertriebene) Bescheidenheit seitens der Akteurinnen halten.⁶⁰ Wenn diese Äußerung nicht als Ausdruck des tatsächlichen Urteils verstanden werden muss, ergibt sich an dieser Stelle tatsächlich nicht notwendigerweise ein Paradox. Vertreterinnen der zweiten Strategie weisen dagegen (P3) zurück. Im Gegensatz zur ersten Strategie wird hier also durchaus davon ausgegangen, dass die Akteurinnen entsprechend urteilen, jedoch wird dieses Urteil als fehlerhaft betrachtet; es mag sich ihnen fälschlicherweise als Pflicht dargestellt haben.⁶¹ Dafür würde ferner sprechen, dass diese Akteurinnen in der Regel kein solches Handeln von anderen erwarten oder andere für das Unterlassen supererogatorischer Handlungen tadeln würden.Wenn es sich aber um ein fehlerhaftes Urteil handelt, lässt sich nicht begründen, warum es Vorrang vor den Urteilen der Beobachterinnen haben sollte. Nicht selten werden diese beiden Strategien auch kombiniert; sie sind indes problematisch, weil sie die Perspektive der Akteurinnen nicht ernst zu nehmen scheinen. Vielmehr wird deren Perspektive vorschnell als irrelevant abgetan, anstatt mögliche Gründe zu diskutieren, die für den Vorrang der Innenperspektive sprechen könnten.⁶² Diesem Problem versuchen Vertreterinnen der dritten Strategie zu begegnen. Sie weisen ebenfalls (P3) zurück, indem sie dafür argumentieren, dass keines der Urteile Vorrang hat. Vielmehr versuchen sie zu zeigen, dass die Urteile der beiden Perspektiven konzeptuell bedingt unterschiedlich sein müssten und eine Theorie der Supererogation diesem Umstand Rechnung tragen muss. Denn zum einen, so scheint es, kann es sich aus der Perspektive der Akteurin nicht um eine sinnvolle Unterscheidung handeln; denn sofern sie rational gehandelt hat, hat sie gerade diese Handlungsoption (freiwillig) als die beste und daher gebotene beurteilt und genau deshalb entsprechend gehandelt.⁶³ Zum anderen und weit schwerwiegender scheint es sich geradezu um einen defizienten Fall von Supererogation zu handeln, wenn die Akteurin selbst ihre Handlung als eine Mehrleistung ansieht – man könnte daher meinen, dass das Urteil der Akteurin, dass die Handlung geboten war, von mehr moralischer Tiefe zeugt, als würde sie selbst die Handlung als supererogatorisch auffassen, und somit dazu beiträgt, dass sie herausragend
So etwa Urmson (1958, 203): „[…] only a modesty so excessive as to appear false could make him [the hero, K.N.] say, ‘I only did my duty’, for we know, and he knows, that he has done more than duty requires.[…].“ So ebenfalls bei Urmson (1958, 203): „Subjectively, we may say, at the time of action, the deed presented itself as a duty, but it was not a duty.“ Argumente für eine Bevorzugung der Perspektive der herausragend Handelnden finden sich etwa bei Hale 1991, 279 f. Die Beobachterin kann dagegen immer nur von einer durchschnittlichen Moral ausgehen.Vgl. Witschen 2006, 23 f.
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1 Supererogation
ist.⁶⁴ Eine solche Strategie läuft indes Gefahr, doch wieder annehmen zu müssen, dass die Akteurin einer Täuschung unterliegt, und es ist problematisch zu zeigen, warum gerade das von moralischer Größe zeugen sollte.
1.2.3 Die Relevanzfrage: Warum Supererogation? In Anbetracht der beiden im Vorhergehenden behandelten schwer lösbaren Einwände gegen die Existenz des Supererogatorischen, kann man nun fragen, warum eine Moraltheorie überhaupt ein Konzept der Supererogation braucht, oder mit anderen Worten: warum ist das theoretisch relevant? Diese Frage hat bisher interessanterweise nur wenig Aufmerksamkeit in der Debatte erfahren.⁶⁵ Die naheliegende Antwort besteht nun darin, die Relevanz für unsere moralische Praxis zu betonen, die seitens der Moraltheorie adäquat abgebildet werden soll und daher eine solche Annahme rechtfertigt.Vor dem Hintergrund der im vorhergehenden Abschnitt angestellten Überlegungen lässt sich nun konstatieren, dass wenngleich die Relevanz des Phänomens zwar mit Verweis auf die moralische Praxis und unsere Intuitionen gerechtfertigt werden kann, dieselbe jedoch keinerlei Begründungskraft hinsichtlich der Existenz einer solchen Kategorie zu haben scheint. Mit Blick auf die Frage nach der Existenz einzelner supererogatorischer Handlungen erhärtet sich das Problem gar dahingehend, dass gezeigt werden kann, dass sich bereits in der moralischen Praxis gute Gründe gegen eine solche Annahme finden lassen. Nur weil wir scheinbar häufig derart urteilen, muss eine Zurückweisung des Konzepts der Supererogation nicht zwangsläufig mit einer mangelnden Erklärungskraft des Phänomens einhergehen, zumindest insofern eine plausible alternative Erklärung dafür gegeben werden kann. Die entsprechende Annahme Urmsons kann daher als vorschnell zurückgewiesen werden. Denn obgleich eine adäquate Moraltheorie eben die moralischen Tatsachen erklären muss, so ist ja noch nichts darüber gesagt, wie sie diese erklären sollte.⁶⁶ Ignoranz für das Phänomen könnte indes ein Grund sein, eine Theorie zumindest vorläufig zu verwerfen.
Vgl. Archer/Ridge 2015, 1584 ff. Eine beachtenswerte Ausnahme ist Heyd (1982, 165 ff.), der der Rechtfertigung von Supererogation ein ganzes Kapitel widmet und Gründe verschiedener Art dafür anführt. Vgl. Crisp (2013, 19): „[T]he apparent ’moral facts’ have changed over time, so that whether some moral theory does or does not countenance supererogation cannot plausibly count for or against it. The idea has to be defended on its own merit. Of course, Urmson and others have provided such defences […].“ Für Urmsons theoretische Begründung, warum es einer solchen Kategorie bedarf (vgl. Urmson 1958, 211 ff.).
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Angesichts dessen stellt sich die Frage, warum die Relevanz einer solchen Kategorie mittlerweile trotzdem weitestgehend anerkannt wird.⁶⁷ Wie im Folgenden gezeigt wird, könnte eine mögliche Erklärung für die Akzeptanz darin liegen, dass die Supererogationsdebatte starke Anknüpfungspunkte zu wenigstens zwei anderen aktuellen Debatten aufweist – nämlich der um moral demandingness einerseits und der um Perfektionismus andererseits. Hier scheint die Annahme einer Kategorie der Supererogation ihre theoretische Leistungsfähigkeit zu entfalten. Hiermit wird nun erneut eine Frage augenfällig, die im Vorhergehenden bereits mit Bezug auf das zweite und das dritte Definitionsmerkmal angeklungen ist, nämlich ob sich das Superergatorische besser in seiner Relation zur Pflicht⁶⁸ oder in seiner Relation zu moralischen Idealen⁶⁹ bestimmen lässt.Wenngleich die Zusammenhänge mit diesen Debatten bisher kaum untersucht sind, so scheinen die angeführten Gründe für die Relevanz des Supererogatorischen doch auf diese zu verweisen. Unter Bezug auf MRA lassen sich wenigstens zwei Gründe ausmachen, die jeweils die Reichweite moralischer Pflichten betreffen – also genau die Frage, die den Kern der Demandingness-Debatte ausmacht.⁷⁰ Hält man an der Konklusion fest, man sei dazu verpflichtet, stets die moralisch beste Handlungsoption zu ergreifen, dann scheint dies entweder eine minimalistische oder eine maximalistische Moralvorstellung zu implizieren.⁷¹ Für beide lässt sich indes ein Problem konstatieren, für das die Einführung einer Kategorie der Supererogation eine mögliche Lösung bietet: Legt man eine minimalistische Moraltheorie zugrunde, so scheint es in praktischer Hinsicht unproblematisch, stets die beste moralische Handlung auszuführen. In theoretischer Hinsicht führt jedoch die Annahme, dass grundlegende Anforderungen bereits die moralisch beste Handlungsoption darstellen, zu einer unplausiblen Implikation. Denn das hieße, dass wenigstens jene Handlungen, die bisher als Kandidaten für supererogatorisches Handeln angeführt wurden, zwar nicht mehr geboten wären, aber eben auch nicht mehr in den
So weist etwa Hale (1991, 273) auf Folgendes hin: „Recently a fourfold deontic categorization of actions has become near dogma.“ Dazu vgl. etwa Heyds Korrelativitätskriterium (1982, 5): „[…] acts of supererogation […] have meaning only relatively to obligatory action. This is why a theory of supererogation must be of a quasi-deontological type.“ Diese Ansicht findet sich prägnant bei Rescher (1987, 131): „Supererogation is accordingly best conceptualized not in terms of duty but in terms of dedication to ideals. The values at issue are often symbolized in such ’role models’ as heroes and saints. An ethic of ideals can accomodate what is at issue here in ways in which a mere ethic of duty cannot.“ Aktuelle Beiträge zu dieser Debatte finden sich etwa in Chappell 2009 und van Ackeren/ Kühler 2015. Vgl. Ferry 2013, 573.
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1 Supererogation
Bereich der Moral fallen würden (d.i. keinen moralischen Wert hätten). Mittels der Integration einer Kategorie der Supererogation könnte der Bereich der Moral erweitert werden, um dieser Implikation entgegenzuwirken.⁷² Für maximalistische Moraltheorien scheint das Problem indes viel schwerwiegender zu sein, denn sie sind einem Überforderungseinwand ausgesetzt; sie führen zu einem moralischen Rigorismus, der den Akteurinnen unangemessen viel abverlangt. In praktischer Hinsicht heißt das, dass einzelne Akteurinnen vor dem Problem stehen, dass sie sich unter Umständen nicht dazu in der Lage sehen, die hohen Anforderungen der Moral stets zu erfüllen. In theoretischer Hinsicht kann dies ebenfalls zu unplausiblen Implikationen führen, nämlich dahingehend, dass kein Raum zur Entfaltung der eigenen Persönlichkeit und der Verfolgung nicht-moralischer Interessen verbleibt.⁷³ Mittels der Integration einer Kategorie der Supererogation könnte der Bereich des moralisch Gebotenen demnach eingeschränkt werden, um dem Überforderungseinwand zu begegnen.⁷⁴ Unter Bezug auf das Heldinnenparadox lassen sich indes normative Gründe ausmachen, die die Rolle von moralischen Idealen betreffen – also eine Kernfrage der Perfektionismus-Debatte.⁷⁵ Die Ausgangsüberlegung besteht darin, dass supererogatorischen Handlungen insofern ein exemplarischer Status zukommt, als sie moralische Ideale exemplifizieren. Solche Ideale können mit Blick auf viele Lebensbereiche von praktischer Relevanz sein. So kann man etwa unter Verweis auf den zivilgesellschaftlichen Zusammenhalt⁷⁶, die Moralerziehung⁷⁷ oder die moralische Urteilskraft⁷⁸ anführen, dass diese auf praktische moralische Ideale angewiesen sind, die jedoch, um wirksam zu sein, wenigstens in zweierlei Hinsicht als optional vorgestellt werden müssen: nämlich sowohl dahingehend, dass sie anzustreben nicht erzwungen werden kann, als auch dahingehend, dass es jeder einzelnen Akteurin obliegt, in welchem Ausmaß sie sich diese zum eigenen Ideal macht. Ob supererogatorisch Handelnde jedoch tatsächlich ein erstre-
Vgl Wolf 1982, 432 ff. Vgl. Williams 1981, Wolf 1982 und Slote 1983. Wobei jedoch fraglich ist, inwiefern dieses Argument davon abhängt, dass man die Forderung im Sinne einer Maximierung moralischer Handlungen versteht. Zum Zusammenhang der generellen Debatte um Over-Demandingness mit der Supererogationsdebatte siehe Van Ackeren 2012 und Benn 2015. Zu dieser Debatte siehe etwa Hurka 1993, Kraut 2007, Wall 2012. Vgl. Heyd 1982, 178 ff. Vgl. und Heyd 1982, 182 und Witschen 2006, 54. Vgl. Rescher 1987, 117 und Neiman 2010, 112.
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benswertes Ideal moralischer Perfektion darstellen, ist dabei durchaus umstritten.⁷⁹ Abschließend lässt sich hier nun festhalten, dass sich vermeintlich supererogatorische Handlungen am besten als Grenzsituationen moralischen Handelns verstehen lassen und zwar in doppelter Hinsicht: Einerseits handelt es sich insofern um Grenzfälle, als man es mit herausragenden und oftmals gar außergewöhnlichen Handlungen zu tun hat. Andererseits handelt es sich um Grenzfälle des moralischen Urteilens – hat man es tatsächlich mit konkreten Fällen supererogatorischen Handelns zu tun oder nicht vielmehr mit exemplarischen Fällen moralisch guten Handelns?⁸⁰ Daraus ergibt sich, dass obgleich der Bezug zur alltagspraktischen Relevanz ein wichtiger ist, er aber insofern mit Vorsicht zu genießen ist, als sich die Urteile auch als falsch oder wenigstens umstritten erweisen können. Ob eine Moraltheorie eine Kategorie der Supererogation zu integrieren vermag, kann daher keinesfalls ohne weiteres als Maßstab der Adäquatheit von Moraltheorien gelten, sofern die Begründung dafür einzig auf Intuitionen über unsere moralische Praxis basiert. Hingegen mag es durchaus als Maßstab der Adäquatheit von Theorien gelten, ob sie unsere diesbezüglichen Intuitionen erklären können – sei dies nun durch die Integration einer Kategorie der Supererogation oder auf andere Weise. Die theoretische Notwendigkeit, eine Kategorie der Supererogation zu integrieren, scheint vielmehr in Abhängigkeit einer jeweils zugrunde gelegten Moraltheorie variieren zu können, wobei außerdem klärungsbedürftig bleibt, ob die Gründe eher auf metaethischer oder auf normativer Ebene relevant sind.
Dazu insbesondere Wolf (1982, 422), die moralische Heilige als „dull-witted or humorless or bland.“ beschreibt. Ob dieses Bild allerdings den Personen entspricht, die man hierfür typischerweise vor Augen hat ist durchaus fraglich. So geht Adams (1984) dagegen davon aus, dass wir solche Personen in der Regel als interessant, schillernd und bewundernswert betrachten. Wenngleich das Problem, wie er zugesteht, in abgeschwächter Form bestehen bleibt, denn trotzdem streben die meisten Menschen ein solches Leben nicht unbedingt an – aber eben aus anderen Gründen, als den von Wolf genannten. Dazu vgl. auch Carbonell 2009. Zur Analyse supererogatorischer Handlungen als Grenzsituationen vgl. auch Naumann 2017 b, 150 f.
2 Kants Pflichtkonzeption Die größte moralische Vollkommenheit des Menschen ist: seine Pflicht zu tun und zwar aus Pflicht […]. (MS, AA VI, 392)
Die Kantische Ethik mag auf den ersten Blick nicht gerade als geeigneter Kandidat erscheinen, das Phänomen der Supererogation gewinnbringend zu untersuchen. Handelt es sich der Standardlesart zufolge hierbei doch um den Prototyp einer deontologischen Ethik, deren Grundannahme darin besteht, dass sich der Bereich der Moral in der Befolgung von Pflichten erschöpft. Dabei sieht sich die Kantische Ethik wenigstens zwei prävalenten Einwände ausgesetzt, nämlich dem Rigorismus- und dem Formalismusvorwurf. Mit anderen Worten: es wird einerseits kritisiert, dass sie überfordernd sei¹ und andererseits, dass sie keine praktischen moralischen Ideale biete, sondern bloß ein inhaltsleeres Verfahren. Damit scheint sie aber gleich zwei Problemen gegenüberzustehen, für die die Annahme einer Kategorie der Supererogation eine Lösung verspricht. Vor diesem Hintergrund erscheint es durchaus als attraktiv, die Möglichkeit der Supererogation in der Kantischen Ethik zu untersuchen. Ehe nun im nächsten Kapitel der Frage nachgegangen werden kann, inwiefern sich Supererogation in die Kantische Ethik integrieren lässt, bzw. ob sich die Phänomene erklären lassen, scheint es unumgänglich, den für Kants Ethik zentralen Begriff der Pflicht näher zu beleuchten. Hierfür sind insbesondere die Ausführungen in der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten wie in der Metaphysik der Sitten einschlägig, die zwar unterschiedliche Aspekte des Pflichtbegriffs betonen, aber doch aufeinander aufbauen. Wie Kant bereits in der Vorrede der Grundlegung betont, verfolgt er dort eine spezifische Fragestellung: Es geht ihm um „die Aufsuchung und Festsetzung des obersten Princips der Moralität […]“ (GMS, AA IV, 392), welches sich als ein kategorischer Imperativ erweisen wird, dem zu folgen für den Menschen eine Pflicht
Hier handelt es sich genauer gesagt um wenigstens zwei Einwände und somit zwei Arten der Überforderung: Nämlich erstens mit Blick auf die rigoristische Anwendung des Moralprinzips, wie etwa hinsichtlich Kants Verteidigung eines ausnahmslosen Lügenverbots (insbesondere in VRML, AA VIII) geltend gemacht wird. Und zweitens hinsichtlich des Pflichtmotivs, was allein den moralischen Wert einer Handlung bestimmt. Im Folgenden werden vornehmlich diese beiden wohl gängigsten Rigorismuseinwände relevant sein.Wenngleich zu bemerken ist, dass sich unter dieser Bezeichnung noch weitere Einwände ausmachen lassen, Timmermann (2011) unterscheidet gar sechs Arten von „Rigorismen“ in der Kantischen Ethik, nämlich des „Urteils, des Sollens, der Gebote, der Motivation, der Handlung und des Charakters“ (ebd., 59). https://doi.org/10.1515/9783110674729-005
2 Kants Pflichtkonzeption
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darstellt. Dieses Prinzip bedürfe keinerlei empirischer Basis, sondern müsse apriorisch aus der Vernunft hergeleitet werden, um universelle Gültigkeit beanspruchen zu können, d. h. für alle Vernunftwesen zu gelten (Vgl. GMS, AA IV, 388 ff, 408). Während Kant in Bezug auf die Begründung zwar danach strebt, im Formalen zu verbleiben, bedarf die Anwendung desselben hingegen „empirisch geschärfte[r] Urtheilskraft […], um theils zu unterscheiden in welchen Fällen sie ihre Anwendung haben, theils ihnen Eingang in den Willen des Menschen und Nachdruck zur Ausübung zu verschaffen […]“ (GMS, AA IV, 389). Die Metaphysik der Sitten gilt schließlich der systematischen Anwendung des Moralprinzips „auf das ganze System“ (GMS, AA IV, 392), also der systematischen Ableitung konkreter Pflichten (für den Menschen). Das steht keineswegs im Widerspruch zu Kants apriorischer Ethik. Denn ebenso wie die Physik einen rationalen (d.i. die Metaphysik der Natur) und einen empirischen Teil habe, verhalte es sich auch mit der Ethik, deren empirischer Teil „praktische Anthropologie, der rationale aber eigentlich Moral heißen könnte“ (GMS, AA IV, 388).² Der Gegenstand der Erfahrung sei in diesem Fall der Wille des Menschen, „so fern er durch die Natur afficirt wird, ihre Gesetze bestimmen muss […] nach denen alles geschehen soll, aber doch auch mit der Erwägung der Bedingungen, unter denen es öfters nicht geschieht.“ (GMS, AA IV, 387 f.) Dies bekräftigt Kant in der Einleitung der Metaphysik der Sitten erneut: […] wir werden oft die besondere Natur des Menschen, die nur durch Erfahrung erkannt wird, zum Gegenstande nehmen müssen, um an ihr die Folgerungen aus den allgemeinen moralischen Principien zu zeigen, ohne daß jedoch dadurch der Reinigkeit der letzteren etwas benommen, noch ihr Ursprung a priori dadurch zweifelhaft gemacht wird. – Das will so viel sagen als: eine Metaphysik der Sitten kann nicht auf Anthropologie gegründet, aber doch auf sie angewandt werden. (MS, AA VI, 217)
Kant stellt seine Ethik also in verschiedenen Reinheitsgraden vor, während die Grundlegung eine reine Moralphilosophie darlegen soll und sich dort entsprechend ein formaler Pflichtbegriff findet (2.1), behandelt die Metaphysik der Sitten eine auf die Anthropologie angewandte Moralphilosophie, in der ein material
Der Eindruck, es handele sich bei den beiden Schriften um zwei distinkte Konzeptionen einer Moralphilosophie, die miteinander unvereinbar sind, wie etwa Henson (1979, 50 ff.) meint, ist daher zurückzuweisen. Erst mit der Metaphysik der Sitten scheint Kant eine (auf dem obersten Prinzip basierende) vollendete Moraltheorie darzulegen (vgl.Wood 2002, 20 f.), weshalb sich auch dort erst intensivere Auseinandersetzungen mit einer Gefühlstheorie und Fragen nach der Charakterbildung finden.
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2 Kants Pflichtkonzeption
bestimmter Pflichtbegriff entwickelt wird (2.2).³ Auf dieser Grundlage lassen sich schließlich die Herausforderungen für die Kantische Ethik präziser fassen (2.3).
2.1 Handeln aus Pflicht Kants Pflichtanalyse in der Grundlegung (GMS, AA IV, 397– 401) gehört zweifelsohne zu den bekanntesten Abschnitten seiner Ethik und ist Ursache zahlreicher Diskussionen, wie etwa dem Verhältnis von Pflicht und Neigung in der Kantischen Ethik. Eine Frage die für die hier zunächst verfolgte Fragestellung indes vernachlässigt werden kann, und erst im vierten Kapitel aufgegriffen wird. Im Vordergrund soll hier vielmehr die Frage nach dem dort dargelegten grundlegenden Verhältnis von moralischem Wert und deontischem Status einer Handlung stehen. Da Kants Ausgangsüberlegung in der Grundlegung darin besteht, dass eine Moralphilosophie nicht auf Empirie gegründet sein sollte, sondern der Grund ihrer Verbindlichkeit allein in der reinen praktischen Vernunft gesucht werden muss (vgl. GMS, AA IV, 389), scheint es sinnvoll, die Pflichtanalyse (2.1.2) vor einem entsprechenden systematischen Hintergrund (2.1.1) zu beleuchten.
2.1.1 Die Kantische Ethik als eine Theorie praktischer Vernunft Theorien der praktischen Vernunft unterscheiden gemeinhin zwischen normativen und motivationalen Gründen des Handelns, dabei geben erstere jene Gründe an, die für eine Handlung sprechen, während letztere den Grund angeben, aus dem jemand gehandelt hat.⁴ Rationales Handeln ist durch das Zusammenfallen beider gekennzeichnet, so dass die normativen Gründe diejenigen sind, die tatsächlich zur Handlung motivieren, wenngleich einzelne Handlungen stets nur ein Indiz für die tatsächlich vorliegenden Gründe sein können. Kant scheint gleichermaßen eine solche Unterscheidung vor Augen zu haben, wenn er sagt:
Vgl. Beck 1974, 62 f. Louden (2000) ist dagegen der Ansicht, dass es nicht ausreichend ist, zwischen reiner Moralphilosophie und einer auf Anthropologie angewandten zu unterscheiden, vielmehr gäbe es ein „continuum from pure to impure“ (ebd., 11). Diese Bezeichnung geht auf Dancy (2000, 1 ff.) zurück, jedoch gibt es auf diesem Gebiet keine einheitliche Terminologie. In ähnlicher Weise wird von Gründen und Motiven des Handelns oder auch von rechtfertigenden und erklärenden Gründen gesprochen. Zu den verschiedenen terminologischen Optionen und den Vorteilen der hier gewählten vgl. Halbig (2007, 16 ff.).
2.1 Handeln aus Pflicht
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„Der subjective Grund des Begehrens ist die Triebfeder [motivationaler Grund, K.N.], der objective des Wollens der Bewegungsgrund [normativer Grund, K.N.]; daher der Unterschied zwischen subjectiven Zwecken, die auf Triebfedern beruhen, und objectiven, die auf Bewegungsgründe ankommen, welche für jedes vernünftige Wesen gelten.“ (GMS, AA IV, 427)
Demnach ist moralisches Handeln eine bestimmte Art rationalen Handelns: Es ist durch objektiv notwendige Gründe bestimmt. Der Unterschied zu Handlungen, die auf instrumenteller oder prudentieller Rationalität beruhen, liegt demnach in den Beweggründen; Kant spricht hier auch von Maximen. Diese ergeben sich aus zwei unterschiedlichen Prinzipien: dem kategorischen Imperativ (Imperativ der Sittlichkeit) oder einem hypothetischen Imperativ (Imperativ der Geschicklichkeit oder der Klugheit) (vgl. GMS, AA IV, 411 ff.).⁵ Nun kann mit Blick auf die normativen Gründe einerseits gefragt werden, ob es solche überhaupt für moralisches Handeln gibt (Moralontologie),⁶ und wenn ja, wie wir diese erkennen können (Moralepistemologie). Andererseits ist mit Blick auf die motivationalen Gründe erstens unklar, ob normative Gründe deren Quelle sein können, und zweitens ob (gerechtfertigte) moralische Urteile zum Handeln zu motivieren vermögen (Moralpsychologie).⁷ Was die erste dieser Fragen anbelangt, ist zu beachten, dass die Gültigkeit normativer Gründe unabhängig davon sein sollte, ob diese faktisch motivieren. Vielmehr gilt es zu hinterfragen, ob sie wenigstens im Prinzip motivieren können (Gründe-Externalismus) oder ob motivationale Gründe stets nur auf bereits vorhandenen Wünschen einer Akteurin basieren können (Gründe-Internalismus). Hinsichtlich der zweiten Frage ergibt sich eine von der vorhergehenden zu unterscheidende Externalismus-Internalismus-Opposition: Motiv-Externalisten bestreiten eine notwendige Beziehung zwischen moralischen Urteilen und motivationalen Gründen. Motiv-Internalisten gehen dagegen davon aus, dass moralische Urteile hinreichend für das Vorhandensein motivationaler Gründe sind, wenngleich Uneinigkeit darüber besteht, ob
Instrumentelle Rationalität verlangt nur die Wahl der geeignetsten Mittel zur Erlangung eines subjektiven Zwecks; prudentielle Rationalität umfasst darüber hinaus das Abwägen verschiedener Zwecke; substantielle bzw. normative Rationalität erfordert zusätzlich, dass die Frage nach der Richtigkeit der Zwecke ausschlaggebend für deren Wahl ist. Diese Dreiteilung ist in Anlehnung an Kants Einteilung der Imperative entstanden. Vgl. Gosepath 1999, 11 f. Das ist die Frage nach der Möglichkeit des kategorischen Imperativs, welcher Kant im dritten Abschnitt der Grundlegung wie auch in der Kritik der praktischen Vernunft nachgeht, und die im Folgenden von nachrangiger Bedeutung sein wird. Vgl. Schönecker 2006, 299 f.
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2 Kants Pflichtkonzeption
diese für sich genommen stark genug sein müssen, um zum Handeln zu motivieren.⁸
2.1.2 Kants Pflichtanalyse in der Grundlegung Vor dem eben dargelegten begrifflichen Hintergrund soll nun die Pflichtanalyse Kants untersucht werden. Kant geht in der Pflichtanalyse der Frage nach, wie eine moralisch wertvolle Handlung beschaffen ist, d.i. die Handlung einer Akteurin mit gutem Willen. Denn dieser steht „in der Schätzung des ganzen Werths unserer Handlungen immer obenan […]“ (GMS, AA IV, 397). Die Pflichtanalyse dient somit der weiteren Entwicklung des Begriffs des guten (menschlichen) Willens, welcher zuvor als unbedingt gut – d.i. im Gegensatz zu Talenten oder Glücksgaben, die unter gewissen Umständen zwar gut sein mögen, ist der gute Wille ohne Einschränkung gut – und als an sich gut – d.i. der gute Wille ist ungeachtet der tatsächlichen Folgen gut, sofern alle Mittel ergriffen wurden – bestimmt wurde (vgl. GMS, AA IV, 393 f.). Kant sagt nun am Übergang zur Pflichtanalyse, dass der Begriff der Pflicht „den eines guten Willens, obzwar unter gewissen subjectiven Einschränkungen und Hindernissen, enthält […].“ (GMS, AA IV, 397) Damit scheint er sagen zu wollen, dass der Begriff der Pflicht eben den eines guten menschlichen Willens bzw. eines anderen vernünftig-sinnlichen Wesens enthält, welches über Neigungen verfügt, die dem guten Handeln im Wege stehen können (Hindernisse).⁹ Die Erläuterung des Begriffs der Pflicht erfolgt sodann in drei Sätzen, die im Folgenden erörtert werden: (1) Moralischer Wert kommt allein Handlungen aus Pflicht zu, weil diese eine Notwendigkeit bei sich führen. (2) Die Maxime einer Handlung aus Pflicht ist durch das moralische Gesetz bestimmt; hierin ist ihr Wert begründet. (3) Pflicht ist die Notwendigkeit einer Handlung aus Achtung für das Gesetz. Ad (1) Den ersten Satz zur Pflicht macht Kant nicht als solchen kenntlich, doch scheint es naheliegend, ihn in dem den zwei folgenden Sätzen vorangehenden Teil der Pflichtanalyse zu suchen. Hier diskutiert Kant an Hand von vier Beispielen (ehrlich sein; sein Leben erhalten; wohltätig sein; nach Glückseligkeit streben, Die hier gewählten Begrifflichkeiten sind Schönecker (2006, 309 f.) entlehnt, auch hier gibt es keine einheitliche Terminologie. Eine differenziertere Taxonomie findet sich bei Halbig 2007, 18 ff. Im Gegensatz dazu bedürften reine Vernunftwesen (Kant redet hier auch von Wesen mit einem heiligen Willen, vgl. GMS, AA IV, 414) der Pflicht nicht, da sie zwangsläufig richtig handeln. Hierzu siehe auch unten unter 4.1.
2.1 Handeln aus Pflicht
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vgl. GMS, AA IV, 397), wodurch sich moralisch wertvolles Handeln auszeichnet. In der Erläuterung, die den Beispielen vorangeht, weist Kant zunächst darauf hin, dass eine moralisch wertvolle Handlung zwei Bedingungen erfüllen muss: eine normative, nämlich dass pflichtgemäß gehandelt wird, und eine motivationale, nämlich dass sie um ihrer selbst willen getan wird und nicht etwa aus einem anderen Grund. Pflichtwidrigen Handlungen kommt daher kein moralischer Wert zu, da sie die normative Bedingung offensichtlich nicht erfüllen. Ebenso scheint es Handlungen zu geben, welchen kein moralischer Wert zukommt, weil sie die motivationale Bedingung offensichtlich nicht erfüllen. Das sind solche, die zwar pflichtmäßig sind, aber aus eigennütziger Absicht getan werden, also aus mittelbarer Neigung.¹⁰ Um Fälle dieser Art zu illustrieren, diskutiert Kant den Fall des Krämers, der seine Kundschaft zwar ehrlich bedient, also pflichtmäßig handelt, aber eben nicht um der Ehrlichkeit willen, sondern um seinen guten Ruf zu wahren (vgl. GMS, AA IV, 397). Nun scheint es sich bei den soeben genannten Bedingungen zwar um notwendige, aber keinesfalls hinreichende zu handeln, gibt es doch zwei Arten von Handlungen, die beide Bedingungen erfüllen: Handeln aus unmittelbarer Neigung¹¹ und Handeln aus Pflicht. Daher werden diese in den drei folgenden Beispielen miteinander verglichen. Aus allen folgert Kant, dass eine Handlung genau dann von moralischem Wert ist, wenn sie aus Pflicht vollzogen wurde und nicht etwa aus Neigung: „[…] sein Leben doch erhält, ohne es zu lieben, nicht aus Neigung oder Furcht, sondern aus Pflicht: alsdann hat seine Maxime einen moralischen Gehalt.“ (GMS, AA IV, 398) „[…] denn der Maxime fehlt der sittliche Gehalt, nämlich solche Handlungen nicht aus Neigung, sondern aus Pflicht zu thun. […] gerade da hebt der Werth des Charakters an, der moralisch und ohne Vergleichung der höchste ist, nämlich, daß er wohlthue, nicht aus Neigung, sondern aus Pflicht.“ (GMS, AA IV, 398 f.) „[…] seine Glückseligkeit befördern, nicht aus Neigung, sondern aus Pflicht, und da hat sein Verhalten allererst den eigentlichen moralischen Werth.“ (GMS, AA IV, 399)
Dies scheint also der erste Satz zur Pflicht zu sein.¹² Für diese Lesart spricht in systematischer Hinsicht erstens, dass sie zunächst die Verbindung des Begriffs Vgl. Korsgaard 1996b, 205 f. Kant scheint hier keinesfalls eine Person mit kultivierten Neigungen vor Augen zu haben, sondern vielmehr jemanden, der über natürliche Tugend verfügt. Denn Kant redet davon, dass alle Menschen von Natur aus nach Lebenserhalt und Glückseligkeit streben, und bei seiner Beschreibung des Wohltätigen spricht er von einer „teilnehmend gestimmten Seelen“; es handelt sich also in diesen Fällen um unreflektierte Zwecke und Neigungen. Vgl. Korsgaard 1996b, 210. Streng genommen müsste man hier natürlich sagen, moralisch wertvoll sind nur Handlungen aus Pflicht und nicht etwa pflichtwidrige, eigennützige oder solche aus unmittelbarer Neigung.
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der Pflicht mit dem des guten Willens leistet, indem sie eine Antwort auf die Frage liefert, was eine moralisch wertvolle Handlung ausmacht, nämlich dass sie aus Pflicht getan wird. Zweitens reflektiert sie die These vom unbedingt guten Willen, denn wer aus Pflicht handelt, handelt unter allen Umständen gut, da solche Handlungen nicht vom Vorhandensein bestimmter Neigungen und Zwecke abhängen. Die beschriebenen Handlungen aus Neigung werden zwar um des richtigen Zweckes willen getan (sein Leben erhalten, wohltätig sein, Glückseligkeit sichern), das sollte aber nicht darüber täuschen, dass die Neigung, mag sie noch so selbstlos sein, nur „glücklicherweise auf das trifft, was in der That gemeinnützig und pflichtmäßig, mithin ehrenwerth ist […]“(GMS, AA IV, 398). Pflichtmäßige Handlungen aus unmittelbarer Neigung sind daher ohne Zweifel besser als jene aus mittelbarer Neigung. Aber sie sind eben nur lobenswert und nicht von unbedingtem moralischem Wert. Was nun die aus unmittelbarer Neigung resultierenden Handlungen wie auch ihre Zwecke angeht, so gleichen sie denen aus Pflicht. Jedoch sind die Handlungen aus Pflicht, die Kant diesen jeweils gegenüberstellt, solche, bei denen die Handelnde eine starke der Pflicht widerstreitende Neigung hat oder aber ihrem Zweck gegenüber indifferent ist. Und trotzdem handelt sie der jeweiligen Pflicht gemäß, weil es das Richtige ist (sein Leben zu erhalten, obwohl man den Tod wünscht bzw. wohltätig zu sein trotz mangelnder Teilnehmung, vgl. GMS, AA IV, 397 f.).¹³ Eine Handlung aus Pflicht scheint sich also gegenüber der aus Neigung dadurch auszuzeichnen, dass sie unbedingt notwendig ist. Was derjenigen, die aus reiner Lust hilfsbereit ist, aus kantischer Sicht demnach fehlt, ist, dass sie die Bedürfnisse anderer nicht als Forderung an sich betrachtet; und das führt zwei Probleme mit sich: Erstens, wenn sie das Helfen nur als etwas betrachtet, was ihr Freude bereitet, so verkennt sie dessen Wichtigkeit. Und zweitens bedürfen selbst positive Gefühle der moralischen Führung, weil sie sonst auch unmoralische Handlungen hervorbringen können. Denn die Güte des Gefühls kann nicht die Güte der Handlung garantieren.¹⁴ Für die normative Bedingung moralischen Handelns ergibt sich daher, dass ihre Erfüllungsbedingung nicht in einem durch die persönlichen Neigungen ge-
Hierbei handelt es sich wohl um die geläufigste Benennung des ersten Satzes. Schönecker/Wood (2002, 61 und 80) sind hingegen der Meinung der erste Satz benenne bereits das „subjektive Moment“ des Handelns aus Pflicht (bzw. den motivationalen Grund): die Achtung. Hieran entzündet sich schließlich die Frage, ob man nur im Falle widerstreitender Neigungen aus Pflicht handeln kann, oder ob Kant lediglich meint, dass man das Handeln aus Pflicht in diesen Fällen besser erkennt, und Handeln aus Pflicht entsprechende Neigungen daher nicht ausschließt. Hierzu siehe unten unter 4.3. Vgl. Baron 1997, 61 f.
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gebenen materialen Zweck liegen kann, und für die motivationale, dass sie nicht durch die Neigung zu einem solchen Zweck erfüllt sein darf. Ad (2) Während der erste Satz also zunächst eine negative Bestimmung des normativen Handlungsgrundes des Handelns aus Pflicht geliefert hat, zielt der zweite nun auf eine positive Definition dessen; er lautet sodann: „eine Handlung aus Pflicht hat ihren moralischen Werth nicht in der Absicht, welche dadurch erreicht werden soll, sondern in der Maxime, nach der sie beschlossen wird, hängt also nicht von der Wirklichkeit des Gegenstandes der Handlung ab, sondern blos vom Princip des Wollens, nach welchem die Handlung, unangesehen aller Gegenstände des Begehrungsvermögens geschehen ist.“ (GMS, AA IV, 399 f.)
Hier bezieht sich Kant nochmals auf den ersten Satz zur Pflicht, der gezeigt hat, dass der Wert einer Handlung nicht in den Zwecken (Absichten) oder in den aus ihr erwarteten Folgen (Wirklichkeit des Gegenstands) liegt, weil diese auch bloß zufällig sein können. Daher, so seine Folgerung im zweiten Satz, kann der Wert der Handlung nur von der Maxime abhängen, nach der sie beschlossen wurde, also dem Grund, aus dem sich jemand zum Handeln entschließt.¹⁵ Die Frage ist demnach, welches Prinzip Handlungen aus Pflicht zugrunde liegt. Da im ersten Satz jegliche materialen Bestimmungsgründe des Handelns (das sind die Zwecke und Folgen einer Handlung) als Quellen ihres moralischen Werts ausgeschlossen wurden,¹⁶ bleibt hierfür nur das „formelle Princip des Wollens überhaupt“ (GMS, AA IV, 400). Diesem Satz scheinen in systematischer Absicht zwei Aufgaben zuzukommen; zum einen wird hier die These vom an sich guten Willen reflektiert, die besagt, dass dieser allein durch sein Wollen und nicht etwa durch seine Folgen gut ist. Zum anderen leitet sich daraus die vorläufige Bestimmung des moralischen Gesetzes ab: „Da ich den Willen aller Antriebe beraubt habe, […] bleibt nichts als die allgemeine Gesetzmäßigkeit der Handlungen überhaupt, welche allein dem Willen zum Princip dienen soll, d.i. ich soll niemals anders verfahren als so, daß ich auch wollen könne, meine Maxime solle ein allgemeines Gesetz werden.“ (GMS, AA IV, 402)
Vgl. Baron 2004, 87. Sämtliche materiale praktische Prinzipien, das sind die hypothetischen Imperative, fallen nach Kant unter das Prinzip der Selbstliebe bzw. Glückseligkeit, da ihr Bestimmungsgrund stets Lust bzw. Unlust ist, auf welchen Gegenstand diese auch gerichtet sein mögen. Da es sich hierbei aber um subjektive Bestimmungsgründe handelt, können diese Prinzipien keine allgemeine Gültigkeit beanspruchen. Vgl. KpV, AA V, 22 ff.
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2 Kants Pflichtkonzeption
Die umfassende Definition des moralischen Gesetzes als kategorischer Imperativ findet sich erst im zweiten Abschnitt der Grundlegung (vgl. GMS, AA IV, 412 ff.). Dieses Prinzip bedürfe keinerlei empirischer Basis, sondern müsse apriorisch aus der Vernunft hergeleitet werden, um universelle Gültigkeit beanspruchen zu können, d. h. für alle Vernunftwesen zu gelten (vgl. GMS, AA IV, 388 ff und 408).¹⁷ Für den Menschen als ein vernünftig-sinnliches Wesen nimmt dieses Gesetz die Form eines kategorischen Imperativs an bzw. ist eine Pflicht, da seine Maximen, im Gegensatz zu denen reiner Vernunftwesen, nicht notwendigerweise dem moralischen Gesetz entsprechen (vgl. GMS, AA IV, 413 ff.). Moralische Forderungen sind demnach nicht davon abhängig, dass man einen bestimmten Zweck hat, vielmehr gelten sie unbedingt.¹⁸ Das moralische Gesetz wird im Folgenden auf verschiedene Weisen formuliert, derer drei zentrale hier genannt sein sollen: Die Universalisierungsformel: „[H]andle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, daß sie ein allgemeines Gesetz werde.“ (GMS, AA IV, 421) Die Zweck-an-sich-Formel: „Handle so, daß du die Menschheit, sowohl in deiner Person als in der Person eines jeden anderen, jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel brauchst.“ (GMS, AA IV, 429) Die Autonomieformel, die verlangt „keine Handlung nach einer anderen Maxime zu thun, als so, daß es auch mit ihr bestehen könne, daß sie ein allgemeines Gesetz sei, und also nur so, daß der Wille durch seine Maxime sich selbst zugleich als allgemein gesetzgebend betrachten könne.“ (GMS, AA IV, 434)¹⁹
Hierbei sollte beachtet werden, dass Kant zwar davon ausgeht, dass die verschiedenen Formulierungen dasselbe Gesetz zum Ausdruck bringen, doch scheinen sie es aus unterschiedlichen Perspektiven zu beleuchten: der Form nach (Universalität), dem Zweck nach (Achtung aller vernünftiger Wesen)²⁰ und der Art der Gesetzgebung nach (Autonomie) (vgl. GMS, AA IV, 436).²¹
Während Kant in Bezug auf die Begründung zwar danach strebt, im Formalen zu verbleiben, bedarf die Anwendung desselben hingegen „empirisch geschärfte[r] Urtheilskraft […], um teils zu unterscheiden in welchen Fällen sie ihre Anwendung haben, teils ihnen Eingang in den Willen des Menschen und Nachdruck zur Ausübung zu verschaffen […]“ (GMS, AA IV, 389). Vgl. Korsgaard 1996b, 209. Zur Zählung und Benennung der Formeln siehe Schönecker/Wood (2002, 123 ff.). Eine ausführlichere Diskussion der verschiedenen Formeln findet sich auch bei Paton (1947, 129 – 198) und Wood (1999, 76 – 190). Die Rolle der Zwecke in der Grundlegung ist klärungsbedürftig; einerseits scheint Kant hier den Anspruch zu haben, die Ethik von jeglichen Zwecken bereinigt vorzustellen, andererseits handelt die zweite Formel des kategorischen Imperativs von der Menschheit als Zweck. In der
2.1 Handeln aus Pflicht
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Ferner kommt dem kategorischen Imperativ nicht die Aufgabe zu, einzelne Handlungen vorzuschreiben bzw. als Bewertungsverfahren einzelner Handlungen zu dienen. Diese Vorstellung scheint mitunter auf der vorrangigen Betrachtung der Universalisierungsformel zu beruhen. Diese wird oftmals als Kriterium verstanden, mit dessen Hilfe sich ermitteln lässt, ob eine konkrete Handlung moralisch erlaubt ist. Das lässt sich jedoch bereits mit Blick auf die Formel zurückweisen, da diese nicht etwa eine Handlung, sondern vielmehr deren zugrunde liegende Maxime, also „das subjective Princip des Wollens“ (GMS, AA IV, 401, Fn), einer Bewertung unterzieht.²² Der Fokus liegt hier also gerade nicht auf den äußeren Handlungen, sondern vielmehr auf den Motiven der Akteurin, genauer gesagt auf der Beschaffenheit ihres Willens.²³ Stattdessen dient er einerseits der Akteurin zur praktischen Orientierung, insofern diese sich das moralische Gesetz zu eigen macht, andererseits dient er in systematischer Hinsicht als Grundlage zur Begründung material bestimmter Pflichten in der Metaphysik der Sitten. ²⁴ Ad (3) Der dritte Satz gibt schließlich darüber hinaus eine positive Bestimmung des motivationalen Handlungsgrundes an und gelangt auf diesem Wege zu einer vollständigen Bestimmung des Handelns aus Pflicht: „Pflicht ist die Nothwendigkeit einer Handlung aus Achtung fürs Gesetz“ (GMS, AA IV, 400).
Da der erste Satz gezeigt hat, dass einer Handlung keine Notwendigkeit zukommen kann, wenn Neigungen die Treibfeder derselben sind, versucht Kant hier ein Alternative aufzuzeigen: die Achtung. Diese stellt Kant als ein moralisches Gefühl vor, welches nur das moralische Gesetz zum Gegenstand haben kann.²⁵ Achtung
jüngeren Debatte wird daher vielerorts deren Wichtigkeit hervorgehoben, so etwa von Korsgaard (1996a, 106 ff.) und Wood (2008, 166 ff.). Hierzu siehe auch unten unter 2.2.2. Eine Diskussion der Plausibilität der Äquivalenz der verschiedenen Formeln findet sich etwa bei O’Neill (1989, 126 ff.) und Rawls (2002, 247 ff.). Insbesondere die Universalisierungsformel hat Anstoß zu diversen Problemen hinsichtlich der korrekten Anwendung des kategorischen Imperativs gegeben. Da dies im Folgenden keine Beachtung mehr finden kann, sei an dieser Stelle zumindest auf zwei Probleme verwiesen: Selbst wenn es unstrittig ist, dass nicht einzelne Handlungen Gegenstand der Überprüfung sind, sondern Maximen, so ist nicht klar, was man unter diesen hinsichtlich ihres Grades an Allgemeinheit zu verstehen hat. Eine Diskussion verschiedener Interpretationsvorschläge findet sich bei Köhl (1990, 45 ff.). Ebenso ist unklar, woher man wissen soll, welches die relevanten Aspekte der Beschreibung einer konkreten Maxime sind; eine einschlägige Behandlung dieses Problems findet sich bei O’Neill (1975, 12 ff. und 32 ff.). Vgl. Baron 1997, 35 f. Vgl. Harbison 1980, 53 und 58; Herman 1996, 36 und Baron 1997, 37. Es sei daher das einzige Gefühl, welches sich a priori bestimmen lässt (vgl. KpV, AA V, 73).
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2 Kants Pflichtkonzeption
ist jedoch „kein durch Einfluss empfangenes [wie Neigung und Furcht, K.N.], sondern durch einen Vernunftbegriff selbstgewirktes Gefühl […]. Die unmittelbare Bestimmung des Willens durchs Gesetz²⁶ und das Bewußtsein derselben heißt Achtung, so daß diese als Wirkung des Gesetzes aufs Subject und nicht als Ursache desselben angesehen wird“ (GMS, AA IV, 401 Fn).²⁷ Ferner erläutert Kant, dass die Achtung eine gewisse Ähnlichkeit mit der Furcht wie mit der Neigung habe. Denn einerseits ist man dem moralischen Gesetz unterworfen, und dies tue der Selbstliebe Abbruch, doch andererseits handelt es sich um ein selbstgegebenes Gesetz, und erst nach einem solchen zu handeln, ermögliche innere Freiheit (vgl. GMS, AA IV, 401 Fn).²⁸ Die Achtung dient demnach nicht der Begründung des Gesetzes. Stattdessen scheint sie die Anerkennung der Vorrangigkeit moralischer Gründe, welche durch das Gesetz begründet sind, gegenüber persönlichen Interessen zu sein.²⁹ In diesem Sinne handelt es sich dabei um eine der Handlung aus Pflicht zugrunde liegende Gesinnung. Entsprechend verweist Kant in der Tugendlehre darauf, dass „[…] das moralische Vermögen des ersteren [Autonomie, K.N.] Tugend, und die aus einer solchen Gesinnung (der Achtung fürs Gesetz) entspringende Handlung Tugendhandlung (ethisch) genannt werden kann […].“ (MS, AA VI, 394)
Hiermit sind nun die zu Beginn der Pflichtanalyse angegebenen Bedingungen moralischen Handelns derart qualifiziert, dass sie nur noch durch Handlungen aus Pflicht erfüllbar sind und nicht etwa durch jene aus unmittelbarer Neigung. Eine Handlung aus Pflicht abstrahiert von allen materialen Zwecken und von allen empirischen Neigungen, „also bleibt nichts für den Willen übrig, was ihn bestimmen könne, als objektiv das Gesetz und subjektiv reine Achtung für dieses praktische Gesetz, mithin die Maxime, einem solchen Gesetz, selbst mit Abbruch aller meiner Neigungen, Folge zu leisten“ (GMS, AA IV, 400 f.). Die normative
Kant zufolge könne man jedoch nur untersuchen, auf welche Art das moralische Gesetz Triebfeder wird. Wie das Gesetz hingegen unmittelbar den Willen bestimmen kann – mit anderen Worten: wie Freiheit möglich ist – sei für die menschliche Vernunft ein unauflösliches Problem (vgl. KpV, AA V, 72). An späterer Stelle leitet Kant hieraus die Achtung gegenüber Personen ab. Denn die Vorstellung des Gesetzes könne nur in vernünftigen Wesen stattfinden, die eben dazu fähig sind sich selbst dieses Gesetz zu geben, so dass es den Willen bestimmt und entsprechende Handlungen hervorruft, d.i. Autonomie. Hierin besteht eigentlich die Möglichkeit, einen guten Willen hervorzubringen, welcher eben, weil er das moralische Gesetz zum Prinzip hat, Gegenstand der Achtung ist (vgl. GMS, AA IV, 440). Vgl. Korsgaard 1996b, 212 f. Vgl. Wood 1999, 46.
2.1 Handeln aus Pflicht
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Bedingung beinhaltet demnach das moralische Gesetz als Handlungsprinzip, durch welches der Handlungsgrund bestimmt sein muss. Die motivationale Bedingung fordert nun die Achtung für eben dieses Gesetz, d. h. dass man dessen objektive Notwendigkeit anerkennt und allein dadurch zum Handeln motiviert ist. Eine solche Handlung muss zwar um ihrer selbst willen getan werden, aber eben darum, weil man den Handlungszweck als durch das moralische Gesetz geboten erkennt. Man muss also daran „ein Interesse nehmen, ohne darum aus Interesse zu handeln“ (GMS, AA IV, 413 Fn). Was nun das Verhältnis normativer und motivationaler Gründe betrifft, so lässt sich abschließend festhalten, dass Kant, entsprechend der eingangs gegebenen Einteilung, Gründe-Externalist ist. Denn der motivationale Grund moralischen Handelns darf gerade nicht auf bereits vorhandenen Neigungen und Zwecken basieren, sondern wird durch das von der Vernunft gegebene moralische Gesetz hervorgebracht. Darauf basierende moralische Urteile können demnach vermittels der Achtung vor eben diesem Gesetz zum Handeln motivieren, Kant ist daher Motiv-Internalist. Wenngleich die Achtung nach Kants Ansicht zwar stark genug sein kann, um allein zum Handeln zu motivieren – wie die zu Beginn genannten Beispiele zeigen –, bleibt an dieser Stelle noch offen, ob es notwendig ist, dass die Achtung allein zum Handeln motivieren muss, damit einer Handlung moralischer Wert zukommt.³⁰ Entscheidender für den hiesigen Zweck ist zunächst festzuhalten, dass der deontische Status einer Handlung demnach vom moralischen Gesetz, also dem normativen Handlungsgrund abhängig ist. Und dass der moralische Wert einer Handlung von dem motivationalen Handlungsgrund abhängig ist, der seinerseits den normativen zum Gegenstand haben muss (ganz ungeachtet der Frage, ob er allein diesen zum Gegenstand haben darf). Eine Handlung ist demnach genau dann moralisch gut, wenn das Richtige (wenigstens auch) aus den richtigen Motiven getan wird. Doch was genau ist das Richtige, und ist alles Richtige auch im strengen Sinn geboten? Lassen sich unter Rekurs auf einen rein formalen Pflichtbegriff nicht auch falsche Erlaubnisse und Verbote rechtfertigen? Ist die Übereinstimmung einer Maxime mit dem kategorischen Imperativ hinreichend dafür, dass entsprechende Handlungen geboten sind? Oder ist das nur hinreichend dafür, dass sie erlaubt sind, so dass folgen würde, dass sie nur geboten sind, wenn ihr Gegenteil verboten ist? Und vor allem, können überhaupt bestimmte Handlungen geboten oder erlaubt sein, wenn der kategorische Imperativ doch nur Maximen zum Gegenstand hat? Antworten auf diese Fragen scheinen wir erst vor dem Hintergrund der Metaphysik der Sitten zu erhalten.
Hierzu siehe unten unter 4.3.
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2 Kants Pflichtkonzeption
2.2 Die Tugendpflichten Bereits in der Grundlegung kündigt Kant eine dereinst erscheinende Metaphysik der Sitten an, in welcher die Systematik der Pflichten näher zu begründen sei, die er in der Grundlegung zur Strukturierung seiner Beispiele bereits verwendet: Kant unterscheidet dort Pflichten gegen sich selbst, von Pflichten gegen andere und ferner vollkommene von unvollkommenen Pflichten (vgl. GMS, AA IV, 421 Fn). Diese Einteilung wird in der Metaphysik der Sitten weitestgehend beibehalten, das Bild nimmt allerdings an Komplexität zu. Einerseits, weil Kant neben der Unterscheidung von vollkommenen und unvollkommenen Pflichten weitere Unterscheidungen einführt, deren Verhältnis zur ersten Unterscheidung nicht in Gänze geklärt ist: er redet in ähnlicher Weise von Rechtspflichten und ethischen Pflichten, Rechts- und Tugendpflichten, engen und weite Pflichten und nicht zuletzt gliedert sich die Metaphysik der Sitten in die Rechtslehre und die Tugendlehre (2.2.1). Andererseits, weil Kant in der Tugendlehre die Idee zweier obligatorischer Zwecke einführt, nämlich den der eigenen Vollkommenheit und den der fremden Glückseligkeit, die nicht nur für die Abgrenzung der Tugendpflichten von den Rechtspflichten wesentlich ist, sondern zugleich innerhalb der Tugendpflichten mit der Unterscheidung in Pflichten gegen sich selbst und Pflichten gegen andere korreliert und dabei als Grundlage der Herleitung konkreter Pflichten dient (2.2.2).
2.2.1 Rechtspflichten und ethische Pflichten Zunächst werden hier also die verschiedenen Arten von Pflichten und ihre jeweiligen Distinktionsmerkmale ausfindig gemacht, um einen Überblick über Kants Systematik zu erhalten. Als Ausgangspunkt dient dabei die Überlegung, wie Kant Rechtspflichten und Tugendpflichten voneinander abgrenzt, nämlich wenigstens in dreierlei Hinsicht: nach der Art der Gesetzgebung, der Triebfeder und der Beschaffenheit der Pflichten. Wobei die ersten beiden genauer gesagt nur die Unterscheidung von Rechtspflichten und ethischen Pflichten erläutern, und erst das dritte Merkmal konstitutiv ist, für die Tugendpflichten als spezifische Klasse ethischer Pflichten, auf die im nächsten Abschnitt noch genauer eingegangen wird. Die ethische Gesetzgebung lässt sich zunächst abgrenzen von den Naturgesetzen; diese „Idee einer zweifachen Metaphysik, einer Metaphysik der Natur und einer Metaphysik der Sitten“ (GMS, AA IV, 388) findet sich bereits in der Vorrede der Grundlegung, wo die entsprechende Unterscheidung wie folgt lautet:
2.2 Die Tugendpflichten
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Denn diese Gesetze sind entweder Gesetze der Natur, oder der Freiheit. Die Wissenschaft von der ersten heißt Physik, die der andern ist Ethik; jene wird auch Naturlehre, diese Sittenlehre genannt. (GMS, AA IV, 387)
In der Metaphysik der Sitten dient diese Überlegung zwar gleichermaßen als Ausgangspunkt, jedoch lässt sich hier zunächst eine terminologische Verschiebung feststellen, die Kant aber selbst im Rahmen der Metaphysik der Sitten so nicht durchgängig gebraucht:³¹ Diese Gesetze der Freiheit heißen zum Unterschiede von Naturgesetzen moralisch. (MS, AA VI, 214)³²
Dass Kant an dieser Stelle nun von moralischen und nicht ethischen Gesetzen redet, scheint dem Umstand geschuldet, dass er die ethischen Gesetze im Folgenden von den juridischen abgrenzt, die jedoch beide als Teile der moralischen Gesetzgebung zu betrachten sind:³³ Sofern sie [die moralischen Gesetze, K.N.] nur auf bloße äußere Handlungen und deren Gesetzmäßigkeit gehen, heißen sie juridisch; fordern sie aber auch, daß sie (die Gesetze) selbst die Bestimmungsgründe der Handlungen sein sollen, so sind sie ethisch, und alsdann sagt man: die Übereinstimmung mit den ersteren ist die Legalität, die mit den zweiten die Moralität der Handlung. (ebd.)
Es zeigt sich aber, dass Kant ebenfalls so spricht, dass die Ethik sowohl ethische als auch juridische Pflichten umfasst – Kant unterscheidet entsprechend direktethische und indirekt-ethische Pflichten – und er insofern den Begriff Ethik sowohl als Oberbegriff, äquivalent zum Begriff der Moral, als auch für einen bestimmten Teil desselben, nämlich den direkt-ethischen verwendet. Und das hängt, wie sich gleich zeigen wird, inhaltlich mit der Abgrenzung von Rechtspflichten und Tugendpflichten zusammen. Diese basiert schließlich wieder auf
Der Grund hierfür scheint zu sein, dass Kant sich einmal an antiken Einteilungsbegriffen orientiert und dann wieder an den zu seiner Zeit üblichen; letztere fassen den Begriff der Ethik enger, nämlich nur für die Tugendlehre. Vgl. O’Neill 2016, 113. Alle Gesetze der Freiheit haben, im Gegensatz zu denen der Natur, zwei Dinge gemein, nämlich die praktische Vernunft als Gesetzgeber und das vernunftbegabte Subjekt als Adressatin. Vgl. Schadow 2013, 90. Diese interne Unterscheidung der Gesetze der Freiheit spiegelt sich denn auf den ersten Blick auch in der Unterteilung der Metaphysik der Sitten in die Rechtslehre und die Tugendlehre wider. Jedoch ist es keinesfalls klar, ob die Unterscheidung von juridischen und ethischen Gesetzen tatsächlich der zwischen Rechts- und Tugendlehre entspricht. Dazu siehe auch die Diskussion um vollkommene Pflichten gegen sich selbst unten unter 2.2.2.
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2 Kants Pflichtkonzeption
der Idee, dass alle Gesetzgebung einen normativen und einen motivationalen Handlungsgrund umfasst:³⁴ Zu aller Gesetzgebung (sie mag nun innere oder äußere Handlungen und diese entweder a priori durch bloße Vernunft, oder durch die Willkür eines andern vorschreiben) gehören zwei Stücke: erstlich ein Gesetz, welches die Handlung, die geschehen soll, objectiv als nothwendig vorstellt, d. i. welches die Handlung zur Pflicht macht, zweitens eine Triebfeder, welche den Bestimmungsgrund der Willkür zu dieser Handlung subjectiv mit der Vorstellung des Gesetzes verknüpft […]. (MS, AA VI, 218)
Entsprechend unterscheiden sich Rechtspflichten nun in drei noch näher zu erläuternden Hinsichten von Tugendpflichten, nämlich nach (1) der Art der Gesetzgebung: Die Rechtspflichten unterliegen der äußeren Gesetzgebung, die Tugendpflichten unterliegen der inneren Gesetzgebung. (2) dem motivationalen Grund: Die juridische Gesetzgebung schließt keine Triebfeder mit ein, die ethische dagegen schließt die Pflicht als Triebfeder mit ein. (3) dem normativen Grund: Die Rechtspflichten gebieten Handlungen, die Tugendpflichten Maximen. Ad (1) Wie das oben angeführte Zitat (MS, AA VI, 218) schon zeigt, kann man nun alle Gesetzgebung in zweierlei Hinsicht unterscheiden: einerseits dahingehend, dass sie entweder durch einen anderen Willen vorgeschrieben wird oder a priori qua der eigenen Vernunft gebietet,³⁵ und andererseits dahingehend, ob sie äußere oder innere Handlungen gebietet.³⁶ Es findet sich also eine zweifache Unterscheidung von Innen und Außen, die man vor Augen haben muss, wenn Kant sagt, dass „[a]lle Pflichten […] entweder Rechtspflichten (officia iuris), d. i. solche, für welche eine äußere Gesetzgebung möglich ist, oder Tugendpflichten (officia virtutis s. ethica), für welche eine solche nicht möglich ist […],“ (MS, AA VI, 239, vgl. auch 379) sind. Und damit geht nun ein wesentlicher Unterschied einher: nämlich, dass zu Rechtspflichten ein äußerer Zwang möglich ist, zu Tugendpflichten dagegen nicht, diese können allein durch Selbstzwang erfüllt werden (vgl. MS, AA VI, 383). Diese Möglichkeit der äußeren Erzwingbarkeit resultiert letztlich aus den beiden Entgegensetzungen von Innen und Außen, die mit dem
So ähnlich auch Schadow 2013, 86 ff. „Der Pflichtbegriff steht unmittelbar in Beziehung auf ein Gesetz […] nur daß in der Ethik dieses als das Gesetz deines eigenen Willens gedacht wird, nicht des Willens überhaupt, der auch der Wille Anderer sein könnte: wo es alsdann eine Rechtspflicht abgeben würde […].“ (MS, AA VI, 388 f.) Vgl. MS, AA VI, 214.
2.2 Die Tugendpflichten
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Unterschied hinsichtlich des motivationalen, wie des normativen Handlungsgrunds zusammenhängen. Denn erzwingbar ist immer nur der Vollzug äußerer Handlungen. Ethische Pflichten unterliegen genau deshalb einer inneren Gesetzgebung, weil sie in zweierlei Hinsicht nicht erzwingbar sind: Es bedarf der richtigen Motivation und des richtigen Zwecks, beides kann aber im Gegensatz zu Handlungen äußerlich nicht erzwungen werden (vgl. MS, AA VI, 219 und 239). Ad (2) Die Rechtspflichten schreiben bestimmte Handlungen vor, nicht hingegen den motivationalen Grund der Erfüllung, während die ethischen Pflichten zusätzlich vorschreiben, dass eine Pflicht aus Pflicht erfüllt wird: Alle Gesetzgebung also (sie mag auch in Ansehung der Handlung, die sie zur Pflicht macht, mit einer anderen übereinkommen, z. B. die Handlungen mögen in allen Fällen äußere sein) kann doch in Ansehung der Triebfedern unterschieden sein. Diejenige, welche eine Handlung zur Pflicht und diese Pflicht zugleich zur Triebfeder macht, ist ethisch. Diejenige aber, welche das Letztere nicht im Gesetze mit einschließt, mithin auch eine andere Triebfeder als die Idee der Pflicht selbst zuläßt, ist juridisch. (MS, AA VI, 218 f.)³⁷
Die ethische Gesetzgebung kann daher immer nur eine innere sein, die juridische Gesetzgebung eine äußere. Jedoch kann die ethische Gesetzgebung gleichermaßen auch andere als die ihr eigentümlichen Pflichten „als Pflichten in ihre Gesetzgebung zu Triebfedern“ mit aufnehmen, woraus folgt, dass „alle Pflichten blos darum, weil sie Pflichten sind, mit zur Ethik gehören […]“, auch die Rechtspflichten, sofern sie aus Pflicht erfüllt werden (MS, AA VI, 219). Denn zu einer Rechtspflicht als „Materie [d.i. Pflicht zu einer Handlung, K.N.] der Verbindlichkeit“ kann man durchaus „auf verschiedene Art […] verbunden werden“ (MS, AA VI, 222). Wenngleich es im Gegensatz zur ethischen Pflicht hier möglich ist, durch äußeren Zwang zur Handlung genötigt zu werden, so schließt dies jedoch nicht aus, dass man dies auch aus Selbstzwang (bzw. Achtung vor dem Gesetz) tun kann, und insofern kann die Befolgung von Rechtspflichten auch moralischen Wert haben. Denn Handlungen blos darum, weil es Pflichten sind, ausüben und den Grundsatz der Pflicht selbst, woher sie auch komme, zur hinreichenden Triebfeder der Willkür zu machen,
So ähnlich nochmal etwas später: „Die Ethik hat freilich auch ihre besonderen Pflichten (z. B. die gegen sich selbst), aber hat doch auch mit dem Rechte Pflichten, aber nur nicht die Art der Verpflichtung gemein.“ (MS, AA VI, 220). Und noch deutlicher: „Also ist das allgemeine Rechtsgesetz: handle äußerlich so, daß der freie Gebrauch deiner Willkür mit der Freiheit von jedermann nach einem allgemeinen Gesetze zusammen bestehen könne, zwar ein Gesetz, welches mir eine Verbindlichkeit auferlegt, aber […w]enn die Absicht nicht ist Tugend zu lehren, sondern nur, was recht sei, vorzutragen, so darf und soll man selbst nicht jenes Rechtsgesetz als Triebfeder der Handlung vorstellig machen.“ (MS, AA VI, 231)
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2 Kants Pflichtkonzeption
ist das Eigenthümliche der ethischen Gesetzgebung. So gibt es also zwar viele direct=ethische Pflichten, aber die innere Gesetzgebung macht auch die übrigen alle und insgesammt zu indirect ethischen. (MS, AA VI, 220 f.)
Entsprechend unterscheiden sich Rechtspflichten und ethische Pflichten zunächst durch die Art der Gesetzgebung und den motivationalen Grund der Handlung. Dabei handelt es sich jedoch um eine nicht-dichotome Einteilung, da alle Rechtspflichten auch indirekt-ethische Pflichten sind,³⁸ d. h. sie können (müssen aber im Gegensatz zu Tugendpflichten nicht) der inneren Gesetzgebung unterliegen und selbst als motivationaler Handlungsgrund dienen.³⁹ Ad (3) Rechts- und Tugendpflichten lassen sich daher nur anhand des dritten Kriteriums strikt dichotom einteilen⁴⁰ und unterscheiden sich dahingehend, dass letztere die Anerkennung von obligatorischen Zwecken⁴¹ beinhalten.⁴² Zwar umfasst die Zwecksetzung ebenso, dass Handlungen als Mittel zu ihrer Verfolgung dienen, aber über diese Handlungen selbst ist damit nichts Bestimmtes gesagt. Der grundlegende Unterschied zwischen Rechtspflichten und Tugendpflichten scheint daher zu sein, dass erstere Handlungen gebieten und somit genau bestimmen, was zu tun Pflicht ist, letztere hingegen nur Maximen der Handlungen. Dabei lassen sich Maximen, wie im nächsten Abschnitt näher zu erläutern sein wird, nur vermittelt über obligatorische Zwecke vorschreiben, derer es laut Kant zwei gibt, nämlich die eigene Vollkommenheit und die fremde Glückseligkeit. Und eben weil die Tugendpflichten ausgehend von den obligatorischen Zwecken nur die Maximen der Handlungen gebieten und nicht die Handlungen selbst, ergeben sich daraus nur weite Pflichten, bei denen die „Verbindlichkeit des Menschen zur Handlung“ unvollkommen ist:⁴³
„[…] nicht alle ethischen Pflichten sind darum Tugendpflichten.“ (MS, AA VI, 383) Vgl. Ludwig 2013, 72. „Alle Pflichten sind entweder Rechtspflichten […] oder Tugendpflichten […].“ MS, AA VI, 239. „[W]as die Unterscheidung des Materialen vom Formalen (der Gesetzmäßigkeit von der Zweckmäßigkeit) im Princip der Pflicht betrifft, so ist zu merken: daß nicht jede Tugendverpflichtung (obligatio ethica) eine Tugendpflicht (officium ethicum s. virtutis) sei; mit anderen Worten: daß die Achtung vor dem Gesetze überhaupt noch nicht einen Zweck als Pflicht begründe; denn der letztere allein ist Tugendpflicht.“ (MS, AA VI, 410) Vgl. Ludwig 2013, 72. Dazu vgl. auch Stepanians (unv. Manuskript), der davon ausgeht, dass die Unterscheidung zwischen Rechts- und Tugendpflichten auf der zwischen vollkommenen und unvollkommenen Pflichten basiert, wobei er für diese Unterscheidung bei Kant drei Kriterien ausmacht: Erzwingbarkeit, Verbindlichkeit und inhaltliche Bestimmtheit. Diese Unterscheidungskriterien fänden sich jedoch in verschiedenen Phasen, während Kant in seinen frühen Ethik-Vorlesungen an die Unterscheidung der Naturrechtler anknüpfe und die Erzwingbarkeit als wesentlich betrachte, sei es in der Grundlegung hingegen die Verbindlichkeit und in der Metaphysik der Sitten sei
2.2 Die Tugendpflichten
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Dieser Satz [Die ethischen Pflichten sind von weiter, dagegen die Rechtspflichten von enger Verbindlichkeit, K.N.] ist eine Folge aus dem vorigen; denn wenn das Gesetz nur die Maxime der Handlungen, nicht die Handlungen selbst gebieten kann, so ists ein Zeichen, daß es der Befolgung (Observanz) einen Spielraum (latitudo) für die freie Willkür überlasse, d. i. nicht bestimmt angeben könne, wie und wie viel durch die Handlung zu dem Zweck, der zugleich Pflicht ist, gewirkt werden solle. – Es wird aber unter einer weiten Pflicht nicht eine Erlaubniß zu Ausnahmen von der Maxime der Handlungen, sondern nur die der Einschränkung einer Pflichtmaxime durch die andere (z. B. die allgemeine Nächstenliebe durch die Elternliebe) verstanden, wodurch in der That das Feld für die Tugendpraxis erweitert wird. […] Die unvollkommenen Pflichten allein sind also Tugendpflichten. Die Erfüllung derselben ist Verdienst […]. (MS, AA VI, 390)
Die Rede von unvollkommenen Pflichten meint entsprechend keinesfalls, dass diese weniger wichtig sind oder gar Ausnahmen gestatten,⁴⁴ sondern lediglich, dass sie nicht in gleicher Weise zu konkreten Handlungen verpflichten können wie vollkommene Pflichten. Der Spielraum in der Anwendung der unvollkommenen Pflichten rührt allein daher, dass sich verschiedene Maximen einschränken können.⁴⁵ Daher führt „die Ethik […] unvermeidlich dahin, zu Fragen, welche die Urtheilskraft auffordern auszumachen, wie eine Maxime in besonderen Fällen anzuwenden sei […] und so geräth sie in eine Casuistik, von welcher die Rechtslehre nichts weiß.“ (MS, AA VI, 411) Die Erfüllung von Tugendpflichten ist im Gegensatz zu Rechtspflichten ferner aus dem gleichen Grund verdienstlich, da Kant unter Verdienst eben dasjenige versteht, „was jemand pflichtmäßig mehr tut, als wozu er nach dem Gesetze gezwungen werden kann“ (MS, AAVI, 227).⁴⁶ An diesen Stellen mag es bisweilen so klingen, als verstehe Kant die Tugendpflichten (zumindest in gewisser Hinsicht) als optional und ihre Erfüllung als verdienstlich und daher supererogatorisch. Die Frage nach dem Spielraum und dem Verdienst in der Erfüllung der Tugendpflichten wird entsprechend im dritten Kapitel hin-
schließlich die inhaltliche Bestimmtheit das grundlegende Kriterium, aus dem sich die anderen beiden ableiten lassen. Wenngleich es an einer Stelle der Grundlegung so anmuten mag: „Übrigens verstehe ich hier unter einer vollkommenen Pflicht diejenige, die keine Ausnahme zum Vortheil der Neigung verstattet […].“ (GMS, AA IV, 421 Fn) Dabei können sie keinesfalls in dem Sinn in einen Konflikt geraten, dass eine Pflicht eine andere aufhebt. Ein solcher „Widerstreit der Pflichten“ (MS, AA VI, 224) ist bereits begrifflich ausgeschlossen, weil Pflichten die Notwendigkeit einer Handlung ausdrücken. Kant kennt indes Konflikte zwischen Gründen der Verbindlichkeit, die sich ausschließlich im Bereich unvollkommener Pflichten finden; die Gründe der Verbindlichkeit sprechen für eine Handlung, gebieten diese aber nicht. Für eine eingehende Diskussion vgl. Timmermann 2013. Für einen hilfreichen Überblick über Kants Begriff des Verdienstes siehe Blöser 2014, 29 ff.
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2 Kants Pflichtkonzeption
sichtlich der Frage, ob es möglich ist, Supererogation im Rahmen der Kantischen Ethik zu erläutern, erneut aufgegriffen.
2.2.2 Zwecke, die zugleich Pflicht sind Mit Blick auf die zu Beginn aufgeworfene Frage nach dem Verhältnis der verschiedenen Pflichtbegriffe hat sich bisher zunächst folgendes Bild ergeben: Bei Tugendpflichten handelt es sich um unvollkommene Pflichten, weil sie nur Maximen gebieten und keine Handlungen. Daraus folgt einerseits, dass sich in ihrer Anwendung ein gewisser Spielraum ergibt und sie daher weite Pflichten sind, und andererseits, dass sie den motivationalen Grund der Handlung umfassen und daher direkt-ethische Pflichten sind. Für die Rechtspflichten gilt umgekehrt, dass es sich um vollkommene Pflichten handelt, weil sie Handlungen gebieten, woraus folgt, dass sich bei der Anwendung kein Spielraum ergibt und es sich daher um enge Pflichten handelt. Rechtspflichten fallen aber trotzdem in den Bereich der Ethik, sie sind indirekt-ethische Pflichten und können doch verdienstlich sein, sofern sie aus der Achtung für das Recht hervorgehen. Nimmt man hingegen die inhaltliche Bestimmung der Tugendpflichten genauer in den Blick – also die Frage, welches die Maximen sind, die sie gebieten – zeigt sich, dass die scheinbar äquivalente Verwendung von Tugendpflicht, unvollkommener Pflicht, weiter Pflicht und verdienstlicher Pflicht scheinbar im Konflikt zur Einteilung der konkreten Tugendpflichten in der Tugendlehre steht. Es stellt sich daher die Frage, ob sie vor dem Hintergrund dieser Einteilungsprobleme revidiert werden muss. Die Tugendlehre bringt nach Kant die innere Freiheit unter Gesetze, d. h. die freie Willkür ordnet sich einem Zweck der praktischen Vernunft unter, welcher objektiv notwendig ist. Diese Zwecke müssen daher als Pflicht verstanden werden, damit nicht ausschließlich Zwecke existieren, die zugleich Mittel sind (vgl. MS, AA VI, 384 f.). Die Idee, dass es wenigstens einen solchen obligatorischen Zweck braucht, da „alle relativen Zwecke nur der Grund von hypothetischen Imperativen“ (GMS, AA IV, 428) sind, findet sich bereits in der Grundlegung. Entsprechend postuliert Kant dort: „der Mensch und überhaupt jedes vernünftige Wesen existiert als Zweck an sich selbst“ (ebd.). Anders als in der Grundlegung nennt Kant in der Tugendlehre hingegen zwei Zwecke, die zugleich Pflicht sind und die sich seines Erachtens aus dem moralischen Prinzip ergeben, welches die Achtung der Menschheit in sich selbst und in anderen fordert: Die eigene Vollkommenheit und die fremde Glückseligkeit (vgl. MS, AA VI, 385 f.).⁴⁷ Da die Maxi-
Dass es sich um Glückseligkeit und Vollkommenheit handelt, scheint darin begründet zu sein,
2.2 Die Tugendpflichten
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men, die sich entsprechend des kategorischen Imperativs „zu einer allgemeinen Gesetzgebung bloß qualifizieren“ (MS, AA VI, 389), nur ein „negatives Prinzip (einem Gesetz überhaupt nicht zu widerstreiten)“ (ebd.) darstellen, bedarf es in der Ethik der Zwecke, die zugleich Pflicht sind. Denn diese Zwecke begründen „ein Gesetz für die Maximen der Handlung“ (ebd.), nämlich bestimmte Maximen zu haben – und nur hier haben wir es mit Tugendpflichten zu tun (vgl. MS, AA VI, 383). Inhaltlich richten sich die Tugendpflichten also auf die Beförderung von Zwecken.⁴⁸ Sich zu diesen beiden Zwecken zu verpflichten, verlangt mehr als das bloße Erkennen und Unterlassen falscher Handlungen, geht also über eine negative Anerkennung hinaus. Man muss diesen Zwecken auch einen positiven Wert beimessen und sie befördern, ohne dass jedoch konkrete Handlungen zur Beförderung der Zwecke angegeben werden können. Die Frage ist daher nun, welches die Pflichten sind, die sich aus diesen Zwecken ergeben. Entsprechend der Einleitung der Tugendlehre beinhaltet, sich die eigene Vollkommenheit zum Zweck zu machen, zweierlei: Erstens die „Kultur seines Vermögens (oder der Naturanlagen)“ (MS, AA VI, 387) und zweitens die Kultur seines Willens bis zur reinsten Tugendgesinnung“ (ebd.). Sich die fremde Glückseligkeit zum Zweck zu machen, erfordert dagegen nur eines, „deren (erlaubten) Zweck […] zu dem meinigen mache[n]“ (MS, AA VI, 388), insofern man beachtet, anderen nicht die eigenen Zwecke (oder solche, die man für sie als gut erachtet) aufzudrängen. Die Ethische Elementarlehre gliedert sich sodann entsprechend in zwei Teile: Der erste handelt von den Pflichten gegen sich selbst, der zweite von den Pflichten gegen andere.⁴⁹ dass Menschen sinnlich-vernünftige Wesen sind – qua Sinnlichkeit ist Glückseligkeit der oberste Zweck, qua Vernunft die Hervorbringung eines guten Willens. Da die eigene Glückseligkeit aber ein Zweck ist, den eine jede ohnehin schon von Natur aus hat, kann dieser Zweck keine Pflicht sein, weil Pflicht „eine Nöthigung zu einem ungern genommenen Zweck“ (MS, AA VI, 386) ist. Die eigene Glückseligkeit zu befördern kann daher höchstens eine indirekte Pflicht sein, „denn der Mangel der Zufriedenheit mit seinem Zustande […] könnte leicht eine große Versuchung zur Übertretung der Pflichten werden“ (GMS, AA IV, 399). Die fremde Vollkommenheit kann ebenso kein Zweck sein der Pflicht ist, weil Vollkommenheit gerade darin besteht „sich seinen Zweck nach seinen eigenen Begriffen von Pflicht zu setzen“ (MS, AA VI, 386). Zur Frage, wie Kant solche Zwecke überhaupt begründet und wie er begründet, dass es sich dabei ausgerechnet um die beiden in der Tugendlehre genannten handelt, siehe auch Allison 1993 und Baum 1998. Wir haben entsprechend weder Pflichten gegenüber der unbelebten Natur, gegenüber Tieren und auch nicht gegenüber Gott und stellt man „sich gleichwohl eine solche zu haben vor, so geschieht dieses durch eine Amphibolie der Reflexionsbegriffe, und seine vermeinte Pflicht gegen andere Wesen ist blos Pflicht gegen sich selbst; zu welchem Mißverstande er dadurch verleitet wird, daß er seine Pflicht in Ansehung anderer Wesen für Pflicht gegen diese Wesen verwechselt.“ (MS, AA VI, 442)
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2 Kants Pflichtkonzeption
Jedoch scheint es zumindest auf den ersten Blick nicht klar, wie die Einleitung und der Hauptteil darüber hinaus zusammenstimmen, denn hier ergeben sich sowohl hinsichtlich des ersten als auch des zweiten Teils mehr Pflichten als die in der Einleitung angekündigten.⁵⁰ Nachdem Kant im ersten Teil einleitend zunächst den Begriff einer Pflicht gegen sich selbst überhaupt diskutiert, gliedert sich der Teil in zwei Bücher. Dabei behandelt erst das zweite Buch die unvollkommenen Pflichten gegen sich selbst, wie sie in der Einleitung angekündigt waren, nämlich die Pflicht gegen sich selbst in Entwicklung und Vermehrung seiner Naturvollkommenheit und die Pflicht gegen sich selbst in Erhöhung seiner moralischen Vollkommenheit. Erstere umfasst die Kultivierung unserer Natur-, Geistes- und Seelenkräfte. Während es hier einen relativ großen Spielraum gibt, gemäß den eigenen Vorlieben und Möglichkeiten zu wählen, ist dies bei der Pflicht zur moralischen Vollkommenheit nicht gegeben (vgl. MS, AA VI, 446). Man muss seine Pflichtgesinnung kultivieren und nach Vollkommenheit streben. Unvollkommen ist diese Pflicht lediglich aufgrund der „Gebrechlichkeit der menschlichen Natur“ (ebd.).⁵¹ Das erste Buch des ersten Teils behandelt dagegen bemerkenswerterweise vollkommene Pflichten gegen sich selbst. Das ist nun nicht nur insofern erstaunlich, als bis dahin gar nicht die Rede von vollkommenen Pflichten gegen sich selbst war, sondern vor allem, weil man bis dahin annehmen musste, dass Kant in der Tugendlehre lediglich Tugendpflichten behandelt,⁵² und dass diese stets unvollkommen sind.⁵³ Die hier diskutierten Pflichten sind aber tatsächlich insofern vollkommene Pflichten, als sie Handlungsunterlassungen zum Gegenstand ha Hierzu und zu den architektonischen Problemen der Tugendlehre im Allgemeinen siehe auch Ludwig 2008, XVIIff. Hierzu siehe auch unten unter 4.2. Dazu siehe explizit MS, AA VI, 410: „Daher wird alle Eintheilung der Ethik nur auf Tugendpflichten gehen.“ Dagegen spricht jedoch folgende Bemerkung: „Rechtslehre und Tugendlehre unterscheiden sich also nicht sowohl durch ihre verschiedenen Pflichten, als vielmehr durch die Verschiedenheit der Gesetzgebung, welche die eine oder die andere Triebfeder mit dem Gesetze verbindet.“ MS, AA VI, 220. Ferner findet sich in diesem ersten Buch eine weitere Eigenheit, denn Kant diskutiert dort ebenfalls das Gewissen (MS, AA VI, 437 ff.), die Pflicht zur Selbsterkenntnis als das erste Gebot aller Pflichten gegen sich selbst (MS, AA VI, 441 f.) und die Amphibolie der moralischen Reflexionsbegriffe (vgl. MS, AA VI, 442 ff.). Bei diesen Abschnitten ist jedoch weder systematisch (Kant kündigt sie nicht einmal in der Einführung des Begriffs der Pflichten gegen sich selbst an) noch inhaltlich, insbesondere mit Blick auf die ersten beiden, einsichtig, warum diese unter den vollkommenen Pflichten gegen sich selbst abgehandelt werden. Denn sie scheinen vielmehr Grundlage aller Pflichten, wenigstens aller Pflichten gegen sich selbst zu sein, worauf im vierten Kapitel zurückzukommen sein wird. Hierzu vgl. auch Ludwig 2008, XIX, der sogar so weit geht zu bezweifeln, „ob sie in dem vorgefundenen Bau der Pflichtenlehre überhaupt vorgesehen waren.“
2.2 Die Tugendpflichten
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ben und nicht etwa Maximen. Es sind jene Verbote, die mit der Achtung der Menschheit in uns befasst sind und daher eigentlich keinen Spielraum kennen. Kant diskutiert hier in Hinblick auf unsere animalische Natur die Selbstentleibung, die Selbstschändung und die Selbstbetäubung durch Unmäßigkeit im Gebrauch der Genieß- oder Nahrungsmittel (vgl. MS, AA VI, 421 ff.). In Hinblick auf unser moralisches Wesen behandelt er die Lüge, den Geiz und die Kriecherei (vgl. MS, AA VI, 429 ff.).⁵⁴ Warum behandelt Kant nun dennoch vollkommene Pflichten gegen sich selbst in der Tugendlehre, wenn doch alle Tugendpflichten unvollkommen sind? Hierfür bieten sich wenigstens zwei Lesarten an: ⁵⁵ Entweder man argumentiert dafür, dass es sich eigentlich nicht um Tugendpflichten handelt, weil diese eben stets unvollkommen sind, sondern vielmehr um Rechtspflichten gegen sich selbst. Das setzt also voraus, dass man zeigt, dass die Trennung in Rechts- und Tugendlehre nicht deckungsgleich mit der zwischen Rechts- und Tugendpflichten ist, sondern die Tugendlehre alle ethischen Pflichten, also auch die indirekt-ethischen, zum Gegenstand hat. Da die Rechtspflichten gegen sich selbst aber in der Rechtslehre noch nicht thematisiert wurden, werden sie hier der Vollständigkeit halber mit abgehandelt, die Rechtspflichten (also vollkommenen Pflichten) gegen andere, fallen zwar gleichermaßen als indirektethische Pflichten auch in den Bereich der Tugendlehre, werden hier aber nicht mehr im Einzelnen abgehandelt (sondern nur in Form des allgemeinen Gebots das Recht heilig zu halten), weil sie in der Rechtslehre bereits behandelt wurden. Die Rechtslehre behandelt demnach zwar die äußeren Rechtspflichten, also nur jene, die erzwingbar sind, nicht aber die inneren Rechtspflichten, die der inneren Gesetzgebung unterliegen. Demnach wäre jedoch das o.g. erste Unterscheidungskriterium hinsichtlich der Gesetzgebung zurückzuweisen.⁵⁶ Einer zweiten Lesart folgend lässt sich dieses Problem auflösen, zieht man in Betracht, dass die vollkommenen Pflichten gegen sich selbst, da sie der inneren Gesetzgebung entspringen, wenigstens in einer Hinsicht unvollkommene Pflichten sind, nämlich bezüglich des motivationalen Grunds: Sie gebieten ein moralisches Motiv. Vollkommen sind diese Pflichten nur hinsichtlich ihres normativen Gehalts, da sie eben Handlungen und nicht Zwecke gebieten. Entsprechend handelt es sich bei den in der Einleitung genannten Tugendpflichten zwar um die paradigmatischen Tugendpflichten, nämlich weite unvollkommene Pflichten, aber nicht um alle Tugendpflichten. Entsprechend wäre die Unterscheidung von Umso mehr mag es erstaunen, dass Kant diesen Pflichten trotzdem jeweils kasuistische Fragen zuordnet. Für eine eingehendere Diskussion möglicher Lesarten und der damit einhergehenden Probleme vgl. etwa O’Neill 1975, 51 ff. und Alves 2010, 525 ff. Vgl. Ludwig 2013, 75 ff.
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2 Kants Pflichtkonzeption
vollkommenen und unvollkommenen Pflichten in dieser Lesart gerade nicht deckungsgleich mit der zwischen engen und weiten, vielmehr könnten unvollkommene Pflichten demnach unterschiedlich weit sein.⁵⁷ Wenngleich dieses Problem hier nicht abschließend erörtert werden kann – und auch nicht muss, da im Folgenden hauptsächlich die weiten Tugendpflichten relevant sein werden –, scheint die zweite Lesart gegenüber der vorhergehenden wenigstens den Vorteil zu haben, dass damit gleichermaßen die sich ergebende Problematik im zweiten Teil mit eingefangen werden kann, wie sich gleich zeigen wird. Denn im zweiten Teil der Elementarlehre scheint Kant gleichermaßen eine solche Unterscheidung in weitere und engere Pflichten gegen andere zugrundezulegen, wenngleich er hier nicht etwa vollkommene und unvollkommene Pflichten gegen andere behandelt, sondern zwei Arten unvollkommener Pflichten: Die Achtungs- und die Liebespflichten.⁵⁸ Im ersten Abschnitt geht es um die Liebespflichten, die der Einleitung entsprechend darin bestehen die Zwecke des anderen zu den eigenen zu machen. Unter Liebe versteht Kant hier nicht das ästhetische Gefühl, sondern die Maxime des Wohlwollens. Unter die Liebespflichten fallen daher die Wohltätigkeit, die Dankbarkeit und die Teilnehmung (vgl. MS, AA VI, 449 ff.). Sodann behandelt Kant die Achtungspflichten, wobei es sich um Unterlassungspflichten handelt, die darauf abzielen, andere nicht bloß als Mittel zum eigenen Zweck zu gebrauchen. Auch unter Achtung versteht Kant nicht das bloße Gefühl, sondern „die Einschränkung unserer Selbstschätzung durch die Würde der Menschheit in eines Anderen Person“ (MS, AA VI, 449). Unter die Laster, die der Pflicht der Achtung entgegenstehen, diskutiert Kant den Hochmut, das Afterreden und die Verhöhnung (vgl. MS, AA VI, 462 ff.). Nicht nur handelt es sich bei den letzteren um Unterlassungspflichten, sondern im Gegensatz zu ersteren auch nicht um verdienstliche, sondern um schuldige Pflichten, wie Kant gleich zu Beginn des zweiten Buchs bemerkt: Die oberste Eintheilung kann die sein: in Pflichten gegen Andere, so fern du sie durch Leistung derselben zugleich verbindest, und in solche, deren Beobachtung die Verbindlichkeit Anderer nicht zur Folge hat. Die erstere Leistung ist (respectiv gegen andere) verdienstlich; die der zweiten ist schuldige Pflicht. (MS, AA VI, 448)
Die Liebespflichten gegen andere scheinen demnach allein mit den unvollkommenen Pflichten gegen sich selbst zu teilen, dass diese verdienstliche Pflichten sind – was an dieser Stelle umso mehr erstaunen mag, ist der Umstand, dass die Achtungspflichten laut Kant unvollkommene Pflichten sind, aber eben nicht Vgl. Hill 1971, 60 f. Vgl. Wood 2009, 229 ff.
2.3 Drei Herausforderungen
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verdienstlich. Und das, obwohl Kant in der Einleitung die Erfüllung der Tugendpflichten als verdienstlich bezeichnet (vgl. MS, AA VI, 390). Entsprechend der o.g. zweiten Lesart könnte man nun dahingehend argumentieren, dass es sich hier, wenngleich um unvollkommene Pflichten, so aber doch um Pflichten handelt, die enger sind als die Liebespflichten (wenngleich weiter als die vollkommenen Pflichten gegen sich selbst). Geht man ferner davon aus, dass Kant diese beim Schreiben der Einleitung nicht vor Augen hatte, so scheint sich diese Unstimmigkeit also zu klären. Offen bleibt dagegen, warum es sich um unvollkommene Pflichten handelt, wenn sie doch scheinbar Handlungsunterlassungen zum Gegenstand haben.
2.3 Drei Herausforderungen Nun lässt sich, insbesondere vor dem Hintergrund der Tugendlehre, dafür argumentieren, dass sich wenigstens der Formalismuseinwand gegen die Kantische Ethik zurückweisen lässt. Denn dort verbleibt die Kantische Ethik wie wir gesehen haben gerade nicht im Formalen, vielmehr formuliert Kant durchaus materiale Zwecke der Ethik, aus denen sich bestimmte Pflichten ableiten lassen. Unklar bleibt vor dem Hintergrund der weitgehenden Unterbestimmtheit der Erfüllungsbedingungen dieser Pflichten jedoch, ob sich hier wirklich praktische Ideale ausmachen lassen, und hieraus ergibt sich die erste Herausforderung hinsichtlich der Frage nach der Möglichkeit des Supererogatorischen: gibt es überhaupt einen Maßstab, bestimmten Handlungen einen exemplarischen Status zuzuweisen? Ebenso lassen sich die Bedenken hinsichtlich Kants Rigorismus nicht ohne Weiteres ausräumen. Denn selbst wenn man dahingehend erstens einräumen mag, dass man in Anwendung unvollkommener Pflichten einen Spielraum hat und es daher fraglich ist, ob diese ausnahmslos Anwendung finden müssen. Und wenn man zweitens einräumen mag, dass Handeln aus Pflicht nicht damit einhergehen muss, dass keine entsprechenden Neigungen zur Handlung vorliegen, so folgt daraus zwar eine Abschwächung der beiden Rigorismuseinwände; ob die Reichweite der Pflichten damit jedoch maßgeblich eingeschränkt wird, bleibt zunächst unklar. Denn sofern eine weniger strenge Lesart trotzdem an den hier skizzierten grundlegenden systematischen Erwägungen festhält, scheinen sich mit Blick auf die Frage nach einer möglichen Integration des Supererogatorischen in der Kantischen Ethik zwei weitere Herausforderungen zu ergeben: Geht man also davon aus, dass der kategorische Imperativ nicht nur Gebote generiert, sondern es durchaus auch bloß erlaubte Handlungen geben mag, und ferner, dass sich dies gerade im für die unvollkommenen Pflichten konstitutiven Ermessensspielraum zeigt, so mag dies zunächst den Anschein haben, dass nicht
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2 Kants Pflichtkonzeption
alles moralisch Gute strikt geboten ist, und sich an dieser Stelle daher eine Möglichkeit auftut, das Supererogatorische zu integrieren. Dagegen lässt sich jedoch vorbringen, dass gerade die Existenz unvollkommener Pflichten eine solche Integration unmöglich macht, weil letztlich jede moralisch gute Handlung doch wieder die Erfüllung einer Pflicht ist, auch wenn sie als konkrete Handlung nicht vorgeschrieben ist, oder wie Marcia Baron es prägnant formuliert: „[S]upererogationists are trying to get away from duty, but the Kantian analysis keeps pulling what is supposed to be ’beyond’ duty back under the rubric of duty. Kant treats the acts in question not as beyond duty, but as ways of fulfilling one’s imperfect duties.“⁵⁹
Wenn sich die erste Herausforderung nun gerade darin zu äußern scheint, dass alles moralisch Gute zugleich die Erfüllung einer Pflicht ist und daher zumindest in einem gewissen Sinn geboten ist, so ist die zweite Herausforderung gewissermaßen die umgekehrte, wenngleich eigentlich grundlegende: nämlich dass eine Handlung überhaupt nur dann moralischen Wert haben kann, wenn sie geboten ist. So konstatiert Richard McCarty: Any ethical theory which, following the kantian turn, derives moral goodness from obligation, instead of the other way around, precludes in its very foundation the possibility of morally good, non-obligatory actions.⁶⁰
Dabei scheint das Grundproblem das folgende zu sein: Für Kant kann eine Handlung nur dann moralischen Wert haben, wenn sie aus Pflicht vollzogen wird; aber man kann nur aus Pflicht handeln, wenn man in Übereinstimmung mit dem moralischen Gesetz handelt, d. h. die Akteurin muss die konkrete Handlung als praktisch notwendig ansehen. Daher muss jede moralisch wertvolle Handlung als geboten und nicht bloß als erlaubt betrachtet werden. Aber gerade das ist inkonsistent mit der Vorstellung von Supererogation.⁶¹ Im Folgenden wird also zu klären sein, ob sich trotzdem eine Kategorie der Supererogation in der Kantischen Ethik integrieren lässt, d.i. ob es überhaupt Raum für optionales Handeln gibt, und falls ja, ob dieses moralisch wertvoll und
Baron 1987, 244 f. McCarty 1989, 43. So etwa auch McCarty (1989, 44): „Not all actions contributing to the ends enjoined by Kant’s wide imperfect duty are objectively practically necessary, to be sure. […] still if performing them on some occasion is to have Kantian moral worth, the agent must regard the action as necessary (obligatory) on that occasion and act out of respect for that necessity (duty).“ Und Vogt (2008, 228): „No action can be called good if it is not done from duty, and one can only act from duty when one acts in compliance with a duty.“
2.3 Drei Herausforderungen
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exemplarisch sein kann. Und falls nicht, ob dies zu einer Zurückweisung der Kantischen Ethik führen muss, oder ob sie sich dahingehend verstehen oder modifizieren lässt, dass wenigstens die Phänomene, die mit der Kategorie der Supererogation erklärt werden sollen, eingefangen werden können.
3 Zur (Un)Möglichkeit der Supererogation in der Kantischen Ethik Ooh, Superman where are you now When everything’s gone wrong somehow? (Genesis, Land of Confusion)
Nun mag man vor dem Hintergrund der im vorhergehenden Kapitel erörterten Herausforderungen höchst skeptisch sein, ob die Kantische Ethik dem Phänomen gerecht zu werden mag, und noch viel mehr, ob sich dies vermittels der Integration einer Kategorie der Supererogation zeigen lässt. Neben den systematischen Schwierigkeiten scheinen überdies die wenigen Textstellen, in denen sich Kant explizit mit herausragenden Handlungen befasst, eindeutig dagegen zu sprechen, dass sich diese Phänomene in der Kantischen Ethik gewinnbringend untersuchen lassen. Denn Kant scheint das Phänomen keinesfalls gänzlich ignoriert zu haben, vielmehr scheint er unsere moralische Praxis an dieser Stelle harsch als fehlerhaft zurückzuweisen, insbesondere mit Blick auf den Wert solcher Handlungen für die moralische Erziehung: Es ist lauter moralische Schwärmerei und Steigerung des Eigendünkels, wozu man die Gemüther durch Aufmunterung zu Handlungen als edler, erhabener und großmüthiger stimmt, dadurch man sie in den Wahn versetzt, als wäre es nicht Pflicht, d. i. Achtung fürs Gesetz, dessen Joch (das gleichwohl, weil es uns Vernunft selbst auferlegt, sanft ist) sie, wenn gleich ungern, tragen müßten, was den Bestimmungsgrund ihrer Handlungen ausmachte, und welches sie immer noch demütigt, indem sie es befolgen (ihm gehorchen); sondern als ob jene Handlungen nicht aus Pflicht, sondern als barer Verdienst von ihnen erwartet würden. (KpV, AA V, 84 f.) Allein tugendhafte Handlungen, so viel Aufopferung sie auch gekostet haben mögen, bewundern zu lehren, ist noch nicht die rechte Stimmung, die das Gemüth des Lehrlings fürs moralisch Gute erhalten soll. Denn so tugendhaft Jemand auch sei, so ist doch alles, was er immer Gutes thun kann, bloß Pflicht; seine Pflicht aber thun, ist nichts mehr, als das thun, was in der gewöhnlichen sittlichen Ordnung ist, mithin nicht bewundert zu werden verdient. Vielmehr ist diese Bewunderung eine Abstimmung unsers Gefühls für Pflicht, gleich als ob es etwas Außerordentliches und Verdienstliches wäre, ihr Gehorsam zu leisten. (RGV, AA VI, 48 f.)
Im Kontrast dazu finden sich jedoch in der Tugendlehre, insbesondere mit Blick auf die Wohltätigkeitspflichten, ganz anders anmutende Aussagen: Allein ich soll mit einem Teil meiner Wohlfahrt ein Opfer an Andere ohne Hoffnung der Wiedervergeltung machen, weil es Pflicht ist, und nun ist unmöglich bestimmte Grenzen anzugeben wie weit das gehen könne. Es kommt sehr darauf an, was für jeden nach seiner https://doi.org/10.1515/9783110674729-006
3.1 Integration im Rahmen der Tugendpflichten
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Empfindungsart wahres Bedürfnis sein werde, welches zu bestimmen jedem selbst überlassen bleiben muß. (MS, AA VI, 393) Die Ethik […] führt […] zu Fragen, welche die Urteilskraft auffordern auszumachen, wie eine Maxime in besonderen Fällen anzuwenden sei […] und so geräth sie in eine Casuistik […] (MS, AA VI, 411)
Und in den kasuistischen Fragen zur Pflicht der Wohltätigkeit heißt es schließlich: Wie weit soll man den Aufwand seines Vermögens im Wohltun treiben? Doch wohl nicht bis dahin, daß man zuletzt selbst Anderer Wohltätigkeit bedürftig ist. (MS, AA VI, 454)
Nicht zuletzt wegen dieser ambigen Textgrundlage gilt es als höchst umstritten, wie und ob man dem Phänomen aus kantischer Perspektive begegnen kann. Im Folgenden werden die Kontroversen dieser regen Debatte anhand einiger einschlägiger Positionen besprochen. Hierbei lassen sich zunächst zwei Arten von Integrationsversuchen ausmachen. Diese scheinen jedoch mit Blick auf die eingangs genannte Definition von Supererogation allesamt nicht zu überzeugen, da sie entweder das Optionalitäts-Kriterium derart modifizieren, dass sie Supererogation in Bezug auf die Kategorie der Tugendpflichten erläutern (3.1), oder das Wert-Kriterium modifizieren, indem sie diesen Handlungen bloß annähernd moralischen Wert oder ästhetischen Wert beimessen (3.2). Wenngleich diese Versuche daher zu verwerfen sind, ist man indes nicht darauf verpflichtet, der Kantischen Ethik einen Mangel zu attestieren, vielmehr lässt sich zeigen, dass der Nutzen und somit die Notwendigkeit einer solchen Kategorie für die Kantische Ethik zurückzuweisen ist. Eine solche Position läuft jedoch Gefahr, die alltagspraktische Relevanz vermeintlich supererogatorischer Handlungen nicht mehr angemessen differenziert in den Blick zu bekommen (3.3).
3.1 Integration im Rahmen der Tugendpflichten Auf der Grundlage des im vorhergehenden Kapitel dargelegten differenzierten materialen Pflichtbegriffs Kants scheinen sich zunächst wenigstens drei Integrationsmöglichkeiten aufzuzeigen. Erstens ließe sich nun sagen, dass es Kant zufolge Handlungen geben kann, die in dem Sinne supererogatorisch sind, dass sie moralisch gut sind, aber nicht durch eine Rechtspflicht vorgeschrieben sind (also nicht erzwingbar sind). Die Unterscheidung von Pflicht und Supererogation würde dann aber der Unterscheidung zwischen Rechts- und Tugendpflichten entsprechen. Das scheint jedoch unplausibel zu sein, da dies die Kategorie des Supererogatorischen überstrapazieren würde, weil nun alle moralisch wertvollen
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3 Zur (Un)Möglichkeit der Supererogation in der Kantischen Ethik
Handlungen darunterfallen würden, mit Ausnahme der Erfüllung der Rechtspflichten aus der richtigen Motivation. Die eigentliche Frage lautet aber, ob es Handlungen gibt, die moralisch gut und zugleich nicht moralisch geboten sind.¹ Zweitens ließe sich nun andersherum dafür argumentieren, dass es gerade die Erfüllung juridischer Pflichten aus Pflicht ist, die supererogatorisch ist. Und zwar in dem Sinne, dass man hier mehr tut als geboten ist, weil man hier lediglich zu bestimmten Handlungen verpflichtet ist; dazu, diese mit einem gewissen Motiv auszuführen, kann man äußerlich nicht verpflichtet werden. Hat man also auch das entsprechende Motiv, tut man in gewisser Hinsicht mehr als geboten ist.² Diese Strategie scheint jedoch einerseits dahingehend unplausibel zu sein, dass es nach Kant ja gerade eine moralische Pflicht ist, auch die Rechtspflichten aus Pflicht zu befolgen, so dass eben doch wieder eine Verpflichtung für dieses mehr tun besteht. Andererseits scheint sie ebenfalls auf einem Missverständnis der Supererogationsthese zu beruhen. Zwar kann man das mehr tun rein sprachlich auch so interpretieren, dass etwas zur Pflichthandlung hinzukommen muss, gemeint ist aber vielmehr, dass man nicht nur seine Pflicht erfüllt, sondern darüber hinaus handelt. Tatsächlich aussichtsreich scheint daher lediglich die Erörterung einer dritten Möglichkeit, nämlich Supererogation innerhalb der Tugendpflichten zu integrieren. Entsprechend hat Paul Eisenberg, der den ersten einschlägigen Aufsatz zur Frage nach der Möglichkeit einer Kategorie des Supererogatorischen in der Kantischen Ethik verfasst hat, eben diese Integrationsmöglichkeit untersucht. Dabei kommt er jedoch zu dem Schluss, dass Kants Tugendlehre zwar keinesfalls rigoristisch verstanden werden muss, da sie reicher an grundlegenden Kategorien ist als gemeinhin angenommen. Eine Kategorie der Supererogation lässt sich jedoch deshalb nicht integrieren, weil es keine Differenzierungsmöglichkeit innerhalb der Tugendpflichten gibt. Dagegen hat Thomas Hill einen vielbeachteten Vorschlag für eine solche Differenzierung in die Debatte eingebracht. Beide Positionen werden im Folgenden eingehend erörtert. Eisenbergs Untersuchung basiert zunächst auf der Annahme, dass es sechs grundlegende Kategorien gibt, mit denen Moraltheorien befasst sein können, wobei keine dieser Kategorien einer anderen untergeordnet ist:³ das Gebotene, das Verbotene, das gerechtfertigt Erlaubte, das Indifferente, das Supererogatorische und das Suberogatorische.⁴ Vgl. Heyd 1982, 57 und Wessels 2002, 161 f. Vgl. O’Neill 1975, 96. Vgl. Eisenberg 1966, 255 f. Supererogation definiert Eisenberg (1966, 256) im Wesentlichen entsprechend der im ersten Kapitel genannten Kriterien (1) und (2): „[…] what one has a right to do or not to do, but which is
3.1 Integration im Rahmen der Tugendpflichten
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Man könnte nun meinen, in der Kantischen Ethik gibt es lediglich zwei Kategorien, nämlich das Gebotene und das Verbotene, und zwar in dem Sinne, dass eine Handlung dem kategorischen Imperativ entweder entspricht oder ihn verletzt.⁵ Dafür lassen sich jedoch keine Textbelege finden, sondern vielmehr dafür, dass Kant wenigstens auch eine Kategorie des moralisch Indifferenten anerkennt: Eine Handlung, die weder geboten noch verboten ist, ist bloß erlaubt, weil es in Ansehung ihrer gar kein die Freiheit (Befugniß) einschränkendes Gesetz und also auch keine Pflicht giebt. Eine solche Handlung heißt sittlich=gleichgültig (indifferens, adiaphoron, res merae facultatis). (MS, AA VI, 223) Phantastisch=tugendhaft aber kann doch der genannt werden, der keine in Ansehung der Moralität gleichgültige Dinge (adiaphora) einräumt und sich alle seine Schritte und Tritte mit Pflichten als mit Fußangeln bestreut und es nicht gleichgültig findet, ob ich mich mit Fleisch oder Fisch, mit Bier oder Wein, wenn mir beides bekommt, nähre; eine Mikrologie, welche, wenn man sie in die Lehre der Tugend aufnähme, die Herrschaft derselben zur Tyrannei machen würde. (MS, AA VI, 409)
Hierunter fallen Eisenberg zufolge nun alle Handlungen, die den Universalisierbarkeitstest bestehen, jedoch nicht geboten sind. Geboten sind demnach lediglich jene Handlungen, deren Gegenteil dem kategorischen Imperativ zuwider läuft, bzw. jene, die einen Zweck befördern, der zugleich Pflicht ist.⁶ Neben einer Kategorie des Indifferenten lasse sich jedoch ebenso eine Kategorie des gerechtfertigt Erlaubten in der Kantischen Ethik ausmachen. Im Gegensatz zum Indifferenten ist diese dadurch gekennzeichnet, dass die respektiven Handlungen durchaus in den Bereich der Moral bzw. des moralisch Relevanten fallen.⁷ Eisenberg nennt nun drei Gründe, warum es in der Kantischen Ethik legitime Gründe gibt, die es erlauben, seinen Pflichten nicht nachzukommen; mit Blick auf die Unterlassung von vollkommenen Pflichten lassen sich hierfür mindestens drei Gründe aufzeigen: Erstens die Möglichkeit, dass obwohl Kant keine willkürlichen, d.i. auf sinnlichen Antrieben beruhenden, Ausnahmen hinsichtlich der Pflichterfüllung zulässt, er eben doch auf ein Erlaubnisgesetz innerhalb moralischer Verbote verweist (vgl. MS, AA VI, 223). Zweitens gibt es nach Kant zwar keine konfligierenden Pflichten, jedoch können Pflichten sich gegenseitig einschränken (Vgl. MS, AA VI, 224). Und drittens kann die Unterlassung einer
good to do or not to do“ und das Suberogatorische („the offensive“) als: „[…] what one has a right to do or not to do, but which is bad to do or not to do.“ Zu dieser Kritik vgl. etwa Chisholm 1963, 13. Vgl. Eisenberg 1966, 256 f. Vgl. Eisenberg 1966, 256.
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3 Zur (Un)Möglichkeit der Supererogation in der Kantischen Ethik
Pflicht gerechtfertigt sein, wenn es jemandem an den entsprechenden physischen Fähigkeiten mangelt, diese zu erfüllen.⁸ Nun treffen die genannten Gründe gleichermaßen mit Blick auf die Unterlassung unvollkommener Pflichten zu. Jedoch stelle sich hier ferner die Frage, ob letztere sich nicht gerade dadurch von ersteren unterscheiden, dass sie willkürliche Ausnahmen zulassen und ferner, ob diese Ausnahmen eine Kategorie der Suberogation konstituieren. Da sich Eisenberg zufolge kein scharfes Unterscheidungskriterium zwischen vollkommenen und unvollkommenen Pflichten ausmachen lässt,⁹ wendet er sich zur Klärung der Frage der Pflicht der Wohltätigkeit zu, welche er als Paradigma der kantischen unvollkommenen Pflichten versteht.¹⁰ Hierbei ergebe sich ein gewisser Spielraum hinsichtlich der Entscheidung, wann, wie und wem gegenüber man dieser Pflicht im Laufe seines Lebens nachkommt. Wobei Kant sich bedeckt halte, wie man hier im Einzelfall zu entscheiden hat, sofern man sich keine Maxime zu eigen macht, diese Pflicht zu ignorieren oder ihr nur widerwillig nachzukommen. Daher mag eine Person als tugendhafter gelten, wenn sie sehr wohltätig ist, ohne dass daraus folgt, dass sie etwas Verbotenes tut, wenn sie nur wenig tut (zumindest wenn sie nicht die Maxime hat, stets wenig oder nichts zu tun).¹¹ Hierbei bezieht sich Eisenberg auf Kants Unterscheidung zwischen Verschuldung und moralischem Unwert: Die Erfüllung derselben [d.i. unvollkommenen Pflichten, K.N.] ist Verdienst (meritum) = +a; ihre Übertretung aber ist nicht sofort Verschuldung (demeritum) = -a, sondern bloß moralischer Unwert = 0, außer wenn es dem Subjekt Grundsatz wäre, sich jenen Pflichten nicht zu fügen. (MS, AA VI, 390)¹²
Eisenberg setzt diese Unterscheidung mit der Unterscheidung zwischen dem Verbotenen und dem Suberogatorischen gleich. Die Möglichkeit willkürlicher Ausnahmen ist demzufolge aber gerade nicht das Unterscheidungsmerkmal un-
Vgl. Eisenberg 1966, 257 f. Eisenberg (1966, 262) kommt zu dem Schluss: „that there is no hard and fast dualism involved here but (at best) a continuum of duties that are of wider or narrower obligation […].“ Hinsichtlich der Frage nach Unterscheidung vollkommener und unvollkommener Pflichten geht Eisenberg (ebd., 259 ff.) jedoch von geläufigen und prima facie Intuitionen entsprechenden Unterscheidungsmerkmalen aus. An dieser Stelle erscheint es jedoch uneinsichtig, warum er nicht die kantischen Unterscheidungsmerkmale hinsichtlich ihrer Relevanz für die Frage prüft, anstatt sich dem Problem aus einer rein externen Perspektive zu nähern. Vgl. Eisenberg 1966, 263. Eisenberg 1966, 265. Vgl. auch MS, AA VI, 464.
3.1 Integration im Rahmen der Tugendpflichten
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vollkommener Pflichten gegenüber vollkommenen, sondern diese Ausnahmen konstituieren dann eine eigene Kategorie, nämlich die des Suberogatorischen.¹³ Somit verbleibt zuletzt die Frage, ob hieraus im Umkehrschluss folgt, dass die Erfüllung gewisser unvollkommener Pflichten als supererogatorisch zu betrachten ist. Dies, so Eisenberg, sei nun gerade nicht der Fall, denn wenngleich nicht jede einzelne Handlung zur Erfüllung dieser Pflichten streng geboten ist, so ist die Ausführung einer solchen Handlung eben doch stets die Erfüllung einer Pflicht, oder mit anderen Worten: Sie trägt zur Beförderung der fremden Glückseligkeit bei.¹⁴ Kants Unterscheidung von unvollkommenen und vollkommenen Pflichten lasse sich demnach gerade nicht durch diejenige zwischen Supererogation und Pflicht erklären. Kants Ethik beinhaltet demnach fünf der von Eisenberg genannten grundlegenden Kategorien, jedoch lässt sich eben keine Kategorie der Supererogation integrieren, da alle moralisch guten Handlungen in die Kategorie des Gebotenen fallen: Kant presents the reader […] with a continuum that ranges from genuine duties to (mere) good deeds and, finally, to saintly and heroic acts of supererogation, although Kant calls this entire range the range of duty.¹⁵
Eisenberg sieht darin einen Mangel der Kantischen Ethik, da diese Einordnung unserem Alltagsverständnis nicht gerecht werde – und das nicht nur in Bezug auf Supererogation, sondern gerade auch, weil die Kantische Ethik darin scheitere, ein gewöhnliches Pflichtverständnis zugrunde zu legen.¹⁶ Dagegen versucht Hill zu zeigen, dass hier vielmehr ein terminologisches Problem und kein inhaltliches vorliegt. Supererogatorisches Handeln folgt daher zwar einem Pflichtprinzip, jedoch halte Kant hier schlichtweg unnötig am Pflichtbegriff fest, denn der Sache nach bestehe genug Affinität zum Supererogatorischen.¹⁷ Um dies zu zeigen, analysiert Hill die Form unvollkommener Pflichten. Im Gegensatz zu vollkommenen Pflichten, die die Form „one ought always (or never) to do x“ aufweisen, weisen unvollkommene Pflichten demnach folgende Form auf: „one ought to to (or avoid) x sometimes to some extent.“¹⁸ Der
Eisenberg 1966, 266. Vgl. Eisenberg 1966, 265 f. Zur Asymmetrie von Supererogation und Suberogation siehe auch Fn 46. Eisenberg 1966, 262. Vgl. Eisenberg 1966, 267 f. Vgl. Hill 1971, 72 ff. Hill 1971, 56.
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3 Zur (Un)Möglichkeit der Supererogation in der Kantischen Ethik
Spielraum unvollkommener Pflichten ergebe sich schließlich aus dieser Form, sei aber durch die vollkommenen Pflichten beschränkt, weshalb es einer Qualifizierung bedürfe: „[…] but never when or to a degree contrary to priciples of perfect duty.“¹⁹ Denn die subjektiven Maximen, die man sich in Anstrebung des allgemeinen Zwecks zu eigen mache, müssten universalisierbar sein bzw. dürften dem kategorischen Imperativ nicht zuwider laufen. Der maßgebliche Unterschied zwischen vollkommenen und unvollkommenen Pflichten – hier als deckungsgleich mit der Unterscheidung von Rechts- und Tugendpflichten zu verstehen – ist Hill zufolge, dass das moralische Gesetz bei den ersteren Handlungen vorgebe, bei den letzteren dagegen nur Maximen. Solche Maximen zu haben, beinhalte dann, zumindest manchmal ihnen entsprechend zu handeln.Wie groß der diesbezügliche Spielraum sei, variiere hingegen – die unvollkommenen Pflichten sind demnach als unterschiedlich weit zu betrachten.²⁰ Diese Varianz basiert nach Hill darauf, welche Art(en) von Spielraum eine Pflicht beinhaltet, wobei er drei Arten unterscheidet, nämlich:²¹ (a) ob eine Maxime in einer Situation relevant ist (b) die Art eine Maxime in einer Situation zu erfüllen (c) die Freiheit eine relevante Maxime in einer Situation nicht zu erfüllen Er konstatiert nun, dass alle Pflicht, auch die vollkommenen, Spielraum der Art (a) enthalten; alle unvollkommene Pflicht dagegen wenigstens Spielraum der Art (a) und (b), aber nur manche, nämlich die weitesten unvollkommenen Pflichten, auch Spielraum im Sinne von (c). Diese Lesart stützt sich insbesondere auf die beiden folgenden Anmerkungen Kants: Übrigens verstehe ich hier unter einer vollkommenen Pflicht diejenige, die keine Ausnahme zum Vortheil der Neigung verstattet […]. (GMS, AA IV, 421 Fn) […] die gesetzgebende Vernunft, welche in ihrer Idee der Menschheit überhaupt die ganze Gattung (mich also mit) einschließt, nicht der Mensch, schließt als allgemeingesetzgebend mich in der Pflicht des wechselseitigen Wohlwollens nach dem Princip der Gleichheit wie
Hill 1971, 57. Entsprechend klärt Hill die Frage nach dem Status der vollkommenen Pflichten gegen sich selbst dahingehend auf, dass diese trotzdem Tugendpflichten sind (wenn auch keine paradigmatischen), weil sie zumindest ein Element unvollkommener Pflichten in sich tragen, sie setzen gleichermaßen die Aneignung einer Maxime voraus, wenngleich sie sich hinsichtlich der Form der Maxime unterscheiden, sie sind „always or never types“. Bezüglich des Status der Achtungspflichten lässt sich dann gleichermaßen zeigen, dass diese nur in diesem übergeordneten Sinne unvollkommene Pflichten sind, ihrem Verbindlichkeitsgrad nach aber enge. Vgl. Hill 1971, 60 f. Vgl. Hill 1971, 61.
3.1 Integration im Rahmen der Tugendpflichten
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alle Andere neben mir mit ein und erlaubt es dir dir selbst wohlzuwollen, unter der Bedingung, daß du auch jedem Anderen wohl willst […]. (MS, AA VI, 451)
Das erste Zitat scheint zu implizieren, dass unvollkommene Pflichten im Umkehrschluss dann eben Ausnahmen zum Vorteil der Neigungen gestatten,²² und das zweite angeführte Zitat stützt diese Lesart Hill zufolge.²³ Im Vergleich zu vollkommenen Pflichten ergibt sich für Hill daher Folgendes: An imperfect duty, we must now say, is a duty to adopt a maxim which is so unspecific about what one is to do that the only principles of action that we can draw from this duty allow considerable latitude in senses (a) and (b). […] A perfect duty, by contrast, will be, not a duty to adopt a maxim, but a duty always (or never) to act in certain ways; and this duty may be stated either generally or specifically. […] There is a sharper distinction, however, between perfect duties and the paradigms of imperfect duty, the duties of beneficience and the development of talents. […] the only principles of action we can infer from them (Kant believes) are indefinite principles […].²⁴
Die entscheidende Frage lautet nun, welche Rolle diese Differenzierung in Hinblick auf die Zuschreibung moralischen Werts spielt. Nimmt man die verschiedenen Weisen in Betracht, in Übereinstimmung mit einer Pflicht zu handeln – insbesondere bei den weiten unvollkommenen Pflichten –, ergibt sich ein differenzierteres Bild, denn dabei spielt sowohl das Motiv der Handlung als auch die Art und Weise, wie der sich ergebende Spielraum ausgenutzt wird, eine Rolle. In Übereinstimmung mit einer weiten unvollkommenen Pflicht zu handeln, mag zwar verdienstlich sein, es zu unterlassen, obwohl sich eine Möglichkeit bietet, etwa wohltätig zu handeln, ist jedoch nicht schuldhaft. Bei allen anderen Pflichten verhält es sich dagegen anders; ihnen entsprechend zu handeln kann auch verdienstlich sein – nämlich wenn man aus Pflicht handelt –, die Unterlassung ist jedoch in jedem Fall schuldhaft.²⁵ Hill geht daher davon aus, dass supererogatorische Handlungen eine Subklasse weiter unvollkom-
Diese Folgerung ist allerding höchst umstritten, so weist Timmermann (2005, 16 ff.) diese entschieden zurück. Denn in letzterer weist Kant ja gerade darauf hin, dass „unter einer weiten Pflicht nicht eine Erlaubniß zu Ausnahmen von der Maxime der Handlungen, sondern nur die der Einschränkung einer Pflichtmaxime durch die andere […]“ (MS, AA VI, 390) verstanden wird. Hill (1971, 58 f.) versucht die rigoristische Lesart dieser Textstelle zurückzuweisen. Atterton (2007, 137 ff.) sieht hierin dagegen einen Beleg dafür, dass entgegen der verbreiteten Meinung, Kants Position in der Grundlegung sei wesentlich rigoristischer als in der Metaphysik der Sitten, das umgekehrte gelte. Vgl. Hill 1971, 59. Hill 1971, 62. Vgl. Hill 1971, 70.
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mener Pflichten ausmachen. Demnach ist eine Handlung genau dann supererogatorisch, wenn sie²⁶ (a) durch eine weite unvollkommene Pflicht geboten ist (b) durch Pflicht motiviert ist (oder vielleicht aus Respekt für moralische Gründe) (c) durch keine vollkommene Pflicht verboten oder gefordert ist (d) in einem Kontext stattfindet, in dem keine Alternative durch eine striktere Pflicht geboten ist und in dem mindestens eine Alternative besteht, die weder durch eine striktere Pflicht verboten ist oder durch eine unvollkommene Pflicht geboten ist (e) von einer Akteurin ausgeführt wird, die sich das relevante Prinzip der weiten unvollkommenen Pflicht zu eigen gemacht hat und bereits oftmals und kontinuierlich danach gehandelt hat Nun scheint dieser Vorschlag auf den ersten Blick durchaus erklären zu können, inwiefern einzelne Handlungen einerseits als optional betrachtet werden können, ihrer Ausführung andererseits dennoch moralischer Wert zukommt. Indem Hill Supererogation im Rahmen weiter unvollkommener Pflichten erörtert, scheint er jedoch das Optionalitäts-Kriterium maßgeblich zu modifizieren – denn selbst wenn einzelne Handlungen nun als gänzlich optional betrachtet werden können, ist ihre Ausführung eben immer noch die Erfüllung einer Pflicht.²⁷ Dass es sich hier tatsächlich nur um ein terminologisches Problem handelt, lässt sich durchaus bestreiten, denn ohne den Bezug zum gebotenen Zweck der Tugendpflicht lässt sich der moralische Wert der Handlung nicht erläutern. Entsprechend folgt hieraus wenigstens, dass sich derart kein starker Supererogationismus vertreten lässt. Da ein schwacher Supererogationismus aber durchaus als hinreichend betrachtet werden kann, um unsere moralische Praxis und die diesbezüglichen Intuitionen einfangen zu können, ist dieser Einwand zu vernachlässigen. Hingegen lassen sich wenigstens zwei weitere Einwände ausmachen, die wesentlich schwerer wiegen und in den beiden folgenden Abschnitten konsekutiv aufge Vgl. Hill 1971, 71. Diesem Problem versucht Heyd (1982, 61 f.) zu begegnen, indem er einen alternativen Integrationsvorschlag macht: Zwar geht er wie Hill davon aus, dass die Unterscheidung des Verbindlichkeitsgrades unvollkommener Pflichten auf eine Integrationsmöglichkeit des Supererogatorischen deute, weil daraus folge, dass die Erfüllung der Tugendpflichten verdienstlich ist, ihre Unterlassung hingegen bloß einen Mangel an moralischem Wert ausmacht. Pace Hill sei dafür jedoch entscheidend, ob man diese Pflichten disjunktiv oder konjunktiv versteht. Nur in der zweiten Lesart ergebe sich tatsächlich ein Raum für Supererogation, denn es gehe nicht immer um die Frage, ob man x oder y tun sollte, sondern „although Kant says nothing about it, there is the possibility of doing both x and y. And doing so is clearly meritorious and praiseworthy, though by no means obligatory“ (ebd., 63).
3.2 Modifikation des Wert-Kriteriums
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griffen werden, indem Positionen diskutiert werden, die diesen Einwänden zu begegnen versuchen:²⁸ Erstens bleibt das Problem bestehen, dass eine Handlung laut Kant eben nur dann moralischen Wert hat, wenn aus Pflicht gehandelt wird, was eine Handlung aber notwendig und gerade nicht optional macht. Hier scheint die offensichtliche Schwachstelle von Hills Vorschlag zu liegen, denn es scheint nun so, als könne man nur supererogatorisch handeln, wenn man es fälschlicherweise für seine Pflicht hält. Hill ist sich dieser Problematik durchaus bewusst und diskutiert diesen Einwand in Kürze, wobei er vorschlägt, dass es durchaus denkbar wäre, Kants Position dahingehend zu modifizieren, dass es ausreichend ist, durch moralische Erwägungen motiviert zu sein und nicht durch Pflicht. Eine genauere Erörterung dessen bleibt er indes schuldig.²⁹ Zweitens ist Hills Interpretation hinsichtlich des Spielraums unvollkommener Pflichten durchaus umstritten, denn es ist keinesfalls klar, dass Kant unter Spielraum tatsächlich versteht, dass man die Freiheit hat, eine relevante Maxime in einer Situation nicht zu erfüllen, oder ob es sich stets nur um den Spielraum hinsichtlich der Art der Erfüllung handelt.³⁰ Und weit schwerwiegender, selbst wenn unvollkommene Pflichten so viel Spielraum haben können, scheint dieser doch maßgeblich durch die fundamentale unvollkommene Pflicht zur eigenen moralischen Vollkommenheit eingehegt zu werden. Und diese ist zweifelsohne wesentlich rigoroser zu verstehen als alle anderen unvollkommenen Pflichten.³¹
3.2 Modifikation des Wert-Kriteriums Wenn eine Modifikation des Optionalitäts-Kriteriums nun dahingehend problematisch ist, dass eine Handlung letztlich wieder als notwendig betrachtet werden
Zu einer eingehenden Erörterung und Reaktion auf einige gegen seinen Vorschlag vorgebrachte Einwände siehe auch Hill 2002. Vgl. Hill 1971, 74. Heyd zufolge lässt sich dieser Einwand ausräumen, legt man folgende Interpretation zugrunde: Kant spricht in zwei Hinsichten von Pflicht, formal und material. Als Form betrifft sie die Motive, also die Frage, wie etwas zu tun ist; als Materie betrifft sie den Inhalt, also die Frage, was zu tun ist. Nur bezüglich der materialen Pflicht lässt sich Raum für supererogatorisches Handeln ausmachen, damit eine solche Handlung moralischen Wert besitzt, muss sie aus Pflicht vollzogen werden, „indeterminacy of (imperfect) duty is introduced as a means of subordinating supererogatory acts to the formal condition of morality“ (Heyd 1982, 69). Dies vermag aber nicht den Einwand zurückzuweisen, dass die Akteurin die Handlung dann fälschlicherweise als geboten betrachten muss. Vgl. auch Fn 178. Vgl. Baron 1995, 88 ff. und Vogt 2008, 229.
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muss, weil der moralische Wert der Handlung davon abhängt, scheint eine alternative Integrationsmöglichkeit darin zu bestehen, vielmehr beim Wert-Kriterium anzusetzen. Die Ausgangsüberlegung einer solchen Position besteht dann folglich darin, dass es ausreichen würde, supererogatorischen Handlungen einen dem moralischen Wert hinreichend nahen Wert beizumessen. Eine so verstandene Kategorie der Supererogation würde dann immer noch gewährleisten, dass man gewisse Grenzen moralischer Pflichten anerkennen kann, die Theorie also keinem Überforderungseinwand ausgesetzt ist, ohne gleichsam sagen zu müssen, dass alles, was über die Forderungen der Moral hinausgeht, moralisch indifferent ist.³² Die Frage lautet nun also, lässt sich im Rahmen der Kantischen Ethik eine Klasse von Handlungen ausmachen, deren Ausführung gänzlich optional ist, die aber nicht indifferent sind, sondern in einer bestimmten Hinsicht wertvoll. Um was für eine Art von Wert kann es sich hierbei handeln? Zwei diesbezügliche Vorschläge werden im Folgenden betrachtet. Aleksandar Jokic zufolge verfügt die Kantische Ethik über einen guten Kandidaten für diese Art von Wert, nämlich die Kategorie der „nearly moral praiseworthiness“: An act A is nearly morally praiseworthy if and only if A de facto fails to satisfy at least one of the conditions for moral worth, but it might have been the case that both conditions are satisfied with respect to A.³³
Diese Idee beruht darauf, dass eine Handlung nach Kant stets zwei Kriterien erfüllen muss, um moralischen Wert zu haben, nämlich sowohl einer Pflicht entsprechend zu handeln, als auch durch Pflicht motiviert zu sein.³⁴ Erfüllt eine Handlung nicht beide Kriterien, komme ihr demnach zwar kein ethischer Wert zu, wohl aber moralischer Wert. Mit anderen Worten: die Handlung ist nicht moralisch lobenswert, sondern bloß pflichtgemäß. Pflichtgemäße Handlungen aus unmittelbarer Neigung stellen laut Jokic dagegen einen geeigneten Fall von nahezu lobenswerten Handlungen dar, wobei er sich auf die Beispieldiskussionen der Grundlegung beruft: Aber ich behaupte, daß in solchem Falle dergleichen Handlung, […] keinen wahren sittlichen Werth habe, […] wenn sie glücklicherweise auf das trifft, was in der That gemeinnützig und pflichtmäßig, mithin ehrenwerth ist, Lob und Aufmunterung, aber nicht Hochschätzung verdient. (GMS, AA IV, 398)
Vgl. McCarty 1989, 43 und Jokic 2002, 223 f. Jokic 2002, 222. Vgl. Jokic 2002, 227.
3.2 Modifikation des Wert-Kriteriums
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Aus dieser Darstellung folgt laut Jokic, dass der moralische Wert von Handlungen entsprechend des vorliegenden motivationalen Grunds folgendermaßen graduierbar sei: Handlungen gemäß der Pflicht aus mittelbarer Neigung haben nur „mere moral worth“, pflichtgemäße Handlungen aus unmittelbarer Neigung haben „nearly moral praisworthiness moral worth“, und Handlungen aus Pflicht haben „ethical worth“ (wobei man streng genommen auch sagen könnte: „moral praiseworthy moral worth“). Die Listung soll dabei den zunehmenden moralischen Wert der Handlungen darstellen.³⁵ Jokics Interpretation folgend handelt es sich hierbei jedoch nicht um drei absolute Kategorien, vielmehr sei der Wert der Handlungsmotive tatsächlich graduell abstufbar, und zwar mit Blick auf das Ausmaß an moralischem Zufall,³⁶ das sie zulassen. Im Gegensatz zur weitverbreiteten Annahme, dass es sich hierbei um ein weiteres Phänomen handelt, dem die Kantische Ethik nicht gerecht zu werden vermag, soll somit gezeigt werden, dass „this notion can supply the needed metrics of the moral worth for both motives and actions.“³⁷ Hierbei beruft Jokic sich auf Slotes Unterscheidung, dass der Zufall auf zwei Weisen ins Spiel kommen kann, einerseits bezüglich der äußeren Situation, die man nicht kontrollieren kann, und andererseits hinsichtlich der inneren Haltung, die auch aufgrund von Zufall variieren kann. Somit lassen sich dann nicht nur Handlungen, sondern auch Motive nach ihrem moralischen Verdienst klassifizieren.³⁸ Handlungen aus Achtung vor dem moralischen Gesetz involvieren demnach gar keinen moralischen Zufall, ihr moralischer Wert ist in jedem Fall verdienstlich. Handlungen aus (den ’richtigen’) unmittelbaren Neigungen schaffen indes Raum für moralischen Zufall, jedoch in wesentlich geringerem Maße als Handlungen aus mittelbaren Neigungen.³⁹ Doch zunächst scheint die Berufung auf die Kategorie der „nearly moral praiseworthiness“ nicht weiterzuhelfen, und die Kantische Ethik scheint selbst mit der hinsichtlich des Wert-Kriteriums abgeschwächten Supererogationsthese Probleme zu haben. Denn unabhängig davon, wie viel Wert einer Handlung in diesem Modell zukommt, scheint die Voraussetzung hierfür stets zu sein, dass die
Vgl. Jokic 2002, 229 f. Zur Diskussion um moralischen Zufall siehe insbesondere Nagel 1979, Slote 1979, Williams 1981. Jokic 2002, 230. Oder wie Jokic (2002, 231) sagt: „different motives leave more or less room for luck […]. Moral luck, so understood, therefore permits us to talk not only of morally better or worse acts, but also of morally better or worse motives.“ Vgl. Jokic 2002, 231
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Handlung pflichtgemäß, also geboten ist.⁴⁰ Jokic wirft dieses Problem zwar selbst auf, seine Antwort bleibt dann allerdings sehr skizzenhaft, indem er sich darauf beruft, dass man den kategorischen Imperativ eben nicht als ein starkes gebietendes Gesetz verstehen muss, welches uns Zwecke vorschreibt, sondern lediglich als eines mit einem negativen, minimalistischen und verbietenden Charakter.⁴¹ Selbst wenn sich eine solche Lesart des kategorischen Imperativs tatsächlich rechtfertigen ließe, so ist der Vorschlag, supererogatorische Handlungen als solche aufzufassen, die nur annähernden moralischen Wert haben, dennoch nicht überzeugend. Zum einen, weil hier zunächst genauer definiert werden müsste, welche Handlungen aus unmittelbarer Neigung (bzw. vielleicht auch welche Neigungen) hierfür in Frage kommen. Mit anderen Worten: im Falle welcher Neigungen das Maß an moralischem Zufall sehr gering ist. Selbst wenn man diesem Einwand womöglich begegnen könnte, verbleibt zum anderen ein wesentlich problematischerer Einwand. Diese Interpretation hat zur Folge, dass sich der supererogatorische Status einer Handlung stets nur in Abhängigkeit von den Motiven der Akteurin bestimmen lässt, so dass ein und dieselbe Handlung für eine Akteurin supererogatorisch für eine andere Akteurin hingegen geboten wäre. Und ferner, dass sie ausgerechnet für die Akteurin supererogatorisch ist, die moralische Forderungen scheinbar weniger „ernst“ nimmt und unvermittelt ihren unreflektierten Neigungen folgt.⁴² Wogegen unsere Intuitionen uns doch eher nahezulegen scheinen, dass es sich bei jenen die supererogatorisch handeln um besonders tugendhafte Akteurinnen handelt, die der Moral einen hohen Stellenwert beimessen. Schauen wir uns also einen zweiten Vorschlag dahingehend an, ob er den gleichen Einwänden ausgesetzt ist. Richard McCarty versucht zu zeigen, dass die ästhetische Theorie, hier vor allem die Kategorie des Erhabenen, ein geeigneter Kandidat ist, den quasi-moralischen Status supererogatorischer Handlungen zu erläutern. Dabei geht er zunächst davon aus, dass die Reichweite der Pflichten in der Kantischen Ethik keineswegs unbegrenzt ist, wenngleich die Grenzen unterbestimmt sind.⁴³ Wenn man jedoch solche Grenzen annehme, dann müsse man auch anerkennen, dass es möglich ist, darüber hinauszugehen. In der kantischen Konzeption bestehe das Hauptproblem dann darin, dass dieses Handeln keinen moralischen Wert haben könne, was zu der unintelligiblen Annahme führe, dass
Vgl. Jokic 2002, 226. Vgl. Jokic 2002, 229. Hierzu siehe auch Fn 106. Manchmal spreche Kant zwar so, als könnten Tugendpflichten nur durch andere Pflichten eingeschränkt werden, das scheine hingegen inkonsistent mit Kants Warnung vor dem „fantastisch Tugendhaften“ (MS, AA VI, 409). Vgl. McCarty 1989, 45.
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manche Handlungen zum Wohle anderer moralischen Wert haben, andere – die supererogatorischen – hingegen nicht. Dies könne man vermeiden, wenn man nicht davon ausgeht, dass „ethical theory alone must provide an explanation for every admirable deed or character.“⁴⁴ Heroische Handlungen und heilige Charaktere sind laut McCarty zweifelsohne inspirierend und die inspirierte Reaktion auf jene könne man am besten als moralisches Gefühl beschreiben. Dem kann die Kantische Ethik aber auf den ersten Blick nicht Rechnung tragen, da Gefühle dort nur dann wirklich moralisch sind, wenn sie eine Reaktion auf das moralische Gesetz sind, nämlich in Form der Achtung desselben. McCarty will dagegen zeigen, dass das moralische Gefühl den Bereich der Pflicht transzendiert und wenigstens indirekt auch durch nicht-moralische Objekte hervorgerufen werden kann, und dass supererogatorische Handlungen eben solche Objekte sind.⁴⁵ Hierfür vergleicht er Kants Theorie moralischer Motivation mit dessen ästhetischer Theorie. Dabei zeigt er, dass die Achtung für das moralische Gesetz und die Reaktion auf natürliche erhabene Gegenstände eine fundamentale Ähnlichkeit aufweisen. Das wird wie folgt ausgeführt: Moralisches Gefühl kann sowohl die Empfindsamkeit (Fähigkeit) meinen, diese wird durch moralische Gründe stimuliert, als auch ein bestimmtes Gefühl, welches dadurch hervorgerufen wird, die Achtung. Diese umfasst sowohl Demütigung als auch Selbstachtung. Ähnlich verhalte es sich bei der Erfahrung des Erhabenen; diese hat auch sowohl ein demütigendes Element (die mächtige Natur) und stößt zugleich eine Bewegung hin zur transzendentalen Vernunft an: Thus, the pleasure in the sublime is just the discovery of reason’s superiority to the magnitude and might of nature.⁴⁶
Der Unterschied beider Erfahrungen scheint daher lediglich der zu sein, dass Achtung mit einem Handlungsinteresse einhergeht, das Gefühl des Erhabenen dagegen rein kontemplativ ist. Aber in jedem Fall scheint zu gelten, dass die gleiche Empfindsamkeit durch moralische wie ästhetische Erfahrungen stimuliert wird, weshalb die beiden Kategorien, das Moralische und das Ästhetische, eng miteinander verbunden sind.⁴⁷
McCarty 1989, 47. Und das scheint ganz im Sinne Kants zu sein, wie McCarty weiter ausführt, die verschiedenen Lebensbereiche gerade als miteinander in Harmonie zu betrachten. Dies beinhalte keineswegs den Vorrang der Moral zu bestreiten. Vgl McCarty 1989, 47. McCarty 1989, 48. Vgl. McCarty 1989, 48.
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Nach McCarty können auch empirische Charaktere, Motivationen und Affekte sublim sein, nämlich wenn sie entsprechende Größe zeigen. So könne man sagen, dass sich beispielsweise in Heiligen gewisse Gefühle (wie Freundschaft, Liebe oder Sympathie) in sublimem Grade manifestieren. Diese pathologischen Kräfte könnten zwar nach Kant nicht moralisch sein, aber: As remarkable examples they may also serve to cultivate our sensitivity to the moral law and to reinforce our commitment to obey the law against more mundane adversities or natural inclinations.⁴⁸
Ob diese Handlungen aber bewundert werden, hänge daher nicht allein von diesen ab, sondern in besonderem Maße von der Empfindsamkeit des Bewunderers. Die Art von moralischem Status, die diesen Handlungen dann zukomme, ist zu unterscheiden von moralischem Wert, sie basiere auf deren Auswirkungen auf unsere Moralempfänglichkeit. Im Rahmen der Kantischen Ethik möge ein solcher „affective account of the value“ zwar nur einen „quasi-moralischen“ Status haben, nämlich den Status des Erhabenen, welcher jedoch durch die Stimulation desselben Gefühls dem moralischen Wert hinreichend nah sei. Auf dieser Grundlage, so McCarty, kann man dem Superergationseinwand nun begegnen, indem man erläutert, dass es zwei Arten von moralischem Status gibt, nämlich den der Pflicht und den des moralischen Gefühls. Und indem man ferner zeigt, dass der zweite den Forderungen der Supererogation genügt. Zwar könne man einwenden, dass Supererogation kein Ersatz für das Handeln aus Pflicht sein dürfe – McCarty spielt hier auf Kants Bedenken in Bezug auf die moralische Erziehung an –, aber deshalb müsse man Supererogation nicht gänzlich zurückweisen. [B]ut merely insisting that it be recognized for what it is; insisting that duty must be the focus of our moral thinking and moral education and that care must be taken not to confuse moral feeling with moral worth.⁴⁹
McCarty 1989, 48. Aber das ist natürlich zugleich auch riskant, da man sich einer Übereinstimmung mit dem moralischen Gesetz nicht gewiss sein kann und solche Kräfte gar in unmoralischen Handlungen zum Ausdruck kommen können. Dem lasse sich jedoch entgegnen, dass die Erfahrung des Erhabenen einen neutralen Standpunkt fordert, diesen zu haben, mag zwar auch gegenüber einem bösen Charakter möglich sein, scheint aber sehr schwer für eine Person die moralisch affizierbar ist. „On the other hand, the saint’s boundless love for the disadvantaged is relatively easy to contemplate disinterestedly.“ (ebd., 49) McCarty 1989, 50. Die Sorgen, die Kant bezüglich der moralischen Erziehung äußert, scheinen den quasi-moralischen Status gar zu bestätigen, wenn ihm nicht klar wäre, dass diese Handlungen uns inspirieren, warum sollte er dann so darauf bedacht sein, auf die Gefahren aufmerksam zu machen.
3.3 Irrelevant für die Kantische Ethik?
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McCarty selbst sagt wenig darüber, inwiefern sich im Rahmen der Kantischen Ethik eine Obergrenze moralischer Forderungen begründen und bestimmen lässt. Doch setzen wir dies hier zunächst als möglich voraus, so stellt sich die Frage, ob der Vorschlag supererogatorischen Handlungen „quasi-moralischen Wert“ zuzuschreiben den gleichen Einwänden ausgesetzt ist wie Jokics Vorschlag, ihnen „nearly morally praiseworthiness moral worth“ zuzuschreiben. In diesem Fall scheint der zweite Einwand ebenso zu greifen, der Status einer Handlung als supererogatorisch ist nun nicht mehr objektiv bestimmbar. Jedoch ist es hier nicht primär von den Motiven der Akteurin abhängig, ob eine Handlung supererogatorisch ist, sondern vielmehr von der Empfindsamkeit der Beobachterin. Und das scheint mit Blick auf die phänomenale Ebene wesentlich unproblematischer zu sein, mehr noch scheint es sogar die Beobachtung auffangen zu können, dass unsere Urteile mit Blick auf einzelne Beispiele (vermeintlich) supererogatorischen Handelns oftmals stark variieren mögen. Dagegen scheint der erste Einwand hier nun viel schwerwiegender zu sein: nämlich die Frage nach dem Maßstab, nach dem sich die quasi-moralische Güte von Handlungen bemisst. Denn in Anbetracht dessen, dass das Erhabene hier bereits moralisch interpretiert wird, scheint es letztlich wieder auf das Moralische zurückzuführen. McCarty verkennt dabei den Umstand, dass Handlungen gleichermaßen moralisch gut und erhaben sein können. Nichts desto trotz ließe sich die grundlegende Idee immer noch anführen: Da es sicherlich nicht auf alle moralisch guten Handlungen zutrifft, dass sie erhaben sind, lässt sich das Erhabene derart immer noch als Differenzierungsmerkmal einführen, aber eben innerhalb der Kategorie moralisch guter (und somit gebotener) Handlungen.⁵⁰ Das würde bedeuten, dass es gerade keine Differenz mit Blick auf den moralischen Wert von Handlungen gibt, sondern lediglich mit Blick auf die Wirkung, die sie auf die Empfindsamkeit der Beobachterin haben. Und das könnte zumindest erklären, warum bestimmte Handlungen inspirierend sind, und womöglich sogar, warum sie uns supererogatorisch erscheinen, obwohl sie es eigentlich nicht sind.⁵¹
3.3 Irrelevant für die Kantische Ethik? Wie sich in den beiden vorhergehenden Abschnitten gezeigt hat, scheint Kants Ethik keinen Platz für eine Theorie der Supererogation zu haben – sowohl Integrationsversuche im Rahmen der Tugendpflichten als auch solche, die ein mo-
Vgl. Watkins 2013, 709. Für einen dahingehenden Vorschlag siehe Watkins 2013, Naumann 2017a und hier Kapitel 6.
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difiziertes Wertverständnis zugrunde legen, scheinen schwerwiegenden Einwänden ausgesetzt zu sein. Doch was folgt nun daraus? Muss man der Kantischen Ethik an dieser Stelle gleichsam einen Mangel attestieren? Das wäre sicherlich übereilt, denn wie sich bereits zu Ende des ersten Kapitels gezeigt hat, vermag die Frage, ob eine Moraltheorie eine Kategorie der Supererogation integrieren kann, nicht ohne weiteres als Maßstab der Adäquatheit für Theorien gelten. Vielmehr gilt es jeweils zu überprüfen, welche Gründe auf theoretischer Ebene dafür sprechen, inwiefern eine Theorie womöglich geeignetere Ressourcen zur Lösung der damit einhergehenden Probleme hat, und schließlich, ob dies unsere moralische Praxis ebenfalls erklären kann. Entsprechend hat eine Reihe von Autorinnen darauf hingewiesen, dass mit Blick auf die konkrete Struktur der Kantischen Ethik überhaupt keine Notwendigkeit für eine Kategorie der Supererogation besteht, weder mit Blick auf Reichweite der Pflichten, noch mit Blick auf den vermeintlich exemplarischen Wert solcher Handlungen. Jens Timmermann geht davon aus, dass die Kantische Werttheorie eindeutig dagegen spricht, dass es Handlungen gibt, die moralisch gut und zugleich nicht geboten sind. Denn der einzige unbedingte und uneingeschränkte Wert ist der moralische Wert, der in allen Entscheidungsprozessen immer oben anstehen muss. Die moralisch gute Handlung ist daher niemals nur eine bessere Handlungsoption, sondern stets die einzig gute und daher notwendige Option.⁵² Das spricht laut Timmermann überdies dafür, dass der Entscheidungsspielraum in der Kantischen Ethik stark limitiert ist; sofern eine Pflicht in einer gegebenen Situation einschlägig sei, scheint das Urteil klar zu sein. Weite unvollkommene Pflichten stellen dabei keine Ausnahme dar, sie sind Pflichten im strengen Sinn. Entscheidungsspielraum ergebe sich daher bloß mit Blick darauf, ob eine Maxime in einer gegebenen Situation Anwendung findet, und mit Blick auf die zu ergreifenden Mittel, nicht jedoch dahingehend, ob man der Pflicht nachkommen will.⁵³ Was die Reichweite der Pflichten betrifft, handelt es sich demnach bei der Kantischen Ethik keinesfalls um eine minimalistische Ethik; gerade wenn man
Vgl. Timmermann 2005, 12 ff. Dazu siehe auch Guevara (1999, 595): Kant „cannot grant one’s own happiness the right sort of weight or value […] His theory of value requires a stark seperation between moral value and the value of happiness (the value of autonomy and heteronomous value) […] he cannot admit the right sort of relation necessary for the idea of supererogatory worth.“ Das offensichtliche Problem für die Kantische Ethik liege daher darin, dass Handeln aus Pflicht konstitutiv für den moralischen Wert einer Handlung ist – also im Pflichtmotiv und nicht in der Frage nach der Reichweite oder Spezifität unvollkommener Pflichten – aber viel schwerwiegender und fundamentaler, sei eben die zugrundeliegende Wertkonzeption. Vgl. Timmermann 2005, 15 ff.
3.3 Irrelevant für die Kantische Ethik?
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anzweifelt, dass unvollkommene Pflichten maßgeblichen Spielraum haben, scheint sie vielmehr maximalistisch zu sein.⁵⁴ Stellt es also einen Mangel dar, dass sich Supererogation nicht integrieren lässt? Timmermann vertritt die Position, dass sich hieraus durchaus kein Mangel der Kantischen Ethik ergibt. [D]oes he want all of us to become moral saints and heroes? In one sense the answer must be yes. Kant clearly asks us to get our priorities right […]. However, ideal Kantian moral agents face the prospect of leading lives less dreaey than their unfortunate utilitarian colleagues.⁵⁵
Dementsprechend betrachtet er die Kantische Ethik zwar als sehr fordernd, aber nicht zu fordernd. Und das begründet er damit, dass es mit Blick auf den Zweck, die Glückseligkeit anderer zu befördern, gewisse Einschränkungen gibt, so dass wir uns trotzdem nicht komplett zum Wohle anderer aufopfern müssen: Erstens gibt es laut Kant eine indirekte Pflicht, sich selbst nicht unglücklich zu machen, da dies eine Gefahr für die Moralität in uns darstellt:⁵⁶ Seine eigene Glückseligkeit sichern, ist Pflicht (wenigstens indirect), denn der Mangel der Zufriedenheit mit seinem Zustande in einem Gedränge von vielen Sorgen und mitten unter unbefriedigten Bedürfnissen könnte leicht eine große Versuchung zu Übertretung der Pflichten werden. (GMS, AA IV, 399)
Zweitens haben wir zwar eine Pflicht, die Glückseligkeit anderer zu befördern, diese ist jedoch durch die damit einhergehenden Gefahren limitiert, die es zu vermeiden gilt. Kant nennt diesbezüglich wenigstens drei: man darf andere nicht bei moralisch falschen Projekten unterstützen (vgl. MS, AA VI, 480 f.); Hilfe darf nicht erniedrigend sein: tut man einer anderen einen Gefallen, muss man daher beachten, dass sie nicht zu sehr in der Schuld steht, weil dies sonst die Gleichheit bedroht (vgl. MS, AA VI, 448 ff.); und schließlich darf eine solche Handlung niemals paternalistisch sein (vgl. MS, AA VI, 454). Die Kantische Theorie ist daher nur insofern sehr fordernd, als grundlegende Bedürfnisse anderer betroffen sind.⁵⁷ Drittens umfasst Moral nach Kant eben nicht nur Pflichten gegen andere, sondern umfasst ebenfalls Pflichten gegen sich selbst. Und diese können manchmal auch schwerer wiegen als die Pflichten gegen andere. Uneingeschränkter Altruismus ist demnach gerade nicht moralisch gut.⁵⁸
Aktuelle Beiträge zur Demandingness-Debatte in Bezug auf Kant finden sich etwa bei Pinheiro Walla 2015 und van Ackeren/Sticker 2015. Timmermann 2005, 23. Vgl. Timmermann 2005, 23. Vgl. Timmermann 2005, 23 f. Vgl. Timmermann 2005, 24 f.
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Viertens erlaubt es die Kantische Ethik zwar nicht, dass man sich bei einer gebotenen Handlung sagen kann, man habe ja bereits genug getan. Andererseits ist es gerade nicht die Aufgabe einer einzelnen, die weiten Pflichten gegen andere im Alleingang zu erfüllen. Die Belastung sollte in einer Gemeinschaft gleich verteilt sein. Mit anderen Worten: jeder muss helfen, die Welt zu verbessern und wenn dem so wäre, brauchte es keiner Heldinnen und Heiligen. Tut jemand also viel mehr als den eigenen Anteil, so gibt sie anderen die Möglichkeit, „to free-ride on her beneficience.“⁵⁹ Und doch muss man in einer nicht-idealen Welt zugleich eben manchmal mehr tun – wenn andere nicht helfen, ist man verpflichtet das auszugleichen.⁶⁰ Es lässt sich demnach sagen, dass Kant der Moral oberste Priorität einräumt, sie hat Vorrang, aber eben vor dem Hintergrund seines umfangreichen Moralbegriffs, der nicht nur Altruismus und allgemeines Glück im Blick hat: However, even though morality is not exclusively other-regarding, altruism is to be taken very seriously. We can expect Kantian ethics to be somewhat more demanding than ordinarily conceived. There is no suggestion that, in a world like ours, being moral should be easy.⁶¹
Wenngleich Marcia Baron, im Gegensatz zu Timmermann, Hills Interpretation des Spielraums von Wohltätigkeitspflichten weniger kritisch gegenübersteht,⁶² so kommt sie doch zu einem ähnlichen Schluss: Kant’s ethics is demanding because it does not just state a moral minimum but tells us what ends we must have and requires us to take them quite seriously.⁶³
Timmermann 2005, 25. „Kantian ethical theory assigns duties to individual agents, and it is their responsibility to live up to them. If everyone did just that, we should not have to fear that the Kantian call for altruism might be too demanding. This is the first important point to note. The second is that in an imperfect world with imperfect agents it may be our duty de facto to do more than would be our fair share under ideal conditions.“ (Timmermann 2005, 25) Timmermann 2005, 26. So zumindest Baron 1987, 241 ff. Diese Interpretation weist sie jedoch an anderer Stelle (1995, 88 ff.) zurück, wo sie sich auf den Primat der Pflicht zur moralischen Selbstvervollkommnung beruft, eine Pflicht, die man rigoristisch verstehen müsse. Diese hat weniger Spielraum als die anderen unvollkommenen Pflichten, und ihre Rigorosität wirke sich auf die Pflicht aus, die Glückseligkeit anderer zu befördern. Baron 1995, 106. Dazu siehe ebenfalls Baron (1987, 254), die in einer Fußnote darauf hinweist, dass es mittlerweile üblich sei, davon auszugehen, dass eine Moraltheorie nur dann adäquat ist, wenn sie keine exzessiven Forderungen stellt, ohne dass diese Annahme selbst problematisiert wird.
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Und doch brauche Kants Ethik mit Blick auf die Reichweite der Pflichten keiner Kategorie der Supererogation – also um zu zeigen, dass einzelne Handlungen unter gewissen Umständen wenigstens nicht strikt einforderbar sind (wenn auch strikt geboten). Was die Kategorie der Supererogation diesbezüglich leisten soll, könne die Kantische Ethik ebenfalls leisten, wenn nicht gar besser, indem sie die betreffenden Handlungen als Erfüllung unvollkommener Pflichten beschreibe. Wenn die Kantische Ethik diesbezüglich zwar nicht rigoristisch zu verstehen sei, so doch sehr fordernd.⁶⁴ Jedoch sei es pace Hill keineswegs mit der Kantischen Ethik vereinbar, eine Kategorie der Supererogation anzunehmen. Demnach hält Kant gerade nicht unnötig am Pflichtbegriff fest, vielmehr würde die Aufgabe des Pflichtbegriffs an dieser Stelle bedeuten, einen integralen Bestandteil der Kantischen Ethik aufzugeben. Denn es sei ein entscheidender Gedanke, dass sich hier keinesfalls eine Grenze ziehen lässt, wie folgende Stelle belege: Allein ich soll mit einem Theil meiner Wohlfahrt ein Opfer an Andere ohne Hoffnung der Wiedervergeltung machen, weil es Pflicht ist, und nun ist unmöglich bestimmte Grenzen anzugeben: wie weit das gehen könne. Es kommt sehr darauf an, was für jeden nach seiner Empfindungsart wahres Bedürfniß sein werde, welches zu bestimmen jedem selbst überlassen bleiben muß. Denn mit Aufopferung seiner eigenen Glückseligkeit (seiner wahren Bedürfnisse) Anderer ihre zu befördern, würde eine an sich selbst widerstreitende Maxime sein, wenn man sie zum allgemeinen Gesetz machte. Also ist diese Pflicht nur eine weite; sie hat einen Spielraum, mehr oder weniger hierin zu thun, ohne daß sich die Gränzen davon bestimmt angeben lassen. – Das Gesetz gilt nur für die Maximen, nicht für bestimmte Handlungen. (MS, AA VI, 393)
Es scheint dem Kantischen Gedanken demnach zu widersprechen, eine Grenzziehung zwischen dem Gebotenen und dem bloß Guten zu ziehen. Zum einen, weil er Gefahren darin sieht, wenn Teile der Moral optional erscheinen. Einerseits, weil das zu einer Schwächung des Pflichtmotivs führen könnte, entsprechend sind auch seine Warnungen, solche Handlungen zur moralischen Erziehung heranzuziehen, zu verstehen.⁶⁵ Andererseits, weil dies dazu führen könnte, dass man annimmt, dass supererogatorische Akte die mangelnde Erfüllung moralischer Pflichten substituieren könnten und diese somit geschwächt würden (vgl. Im Kantischen Bild kann man zwar gerade nicht eine Maxime haben und zugleich seine Arbeit als getan betrachten, was aber nicht heißt, dass man Handlungen maximieren muss: „With a moral theory that involves maximising, there is more motivation for having a category of the supererogatory, because there is more need to set some boundaries. Kant’s ethics does not involve maximising; it does not say that one should do as much good as one possibly can, much less that one should seek to promote others’ happiness whenever possible and as much as possible.“ (Baron 2015, 357) Hierzu siehe die beiden in der Einleitung des Kapitels genannten Zitate.
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MS, AA VI, 454).⁶⁶ Während diese Art von Einwänden nun letzten Endes allein auf der Annahme basieren, dass sich durch eine Grenzziehung problematische Tendenzen für die moralische Urteilskraft der Einzelnen ergeben könnten, gibt es zum anderen einen wesentlich schwerwiegenden Grund: eine solche Grenzziehung widerspricht der Pflicht zur moralischen Selbstvervollkommnung.⁶⁷ Man kann sich also niemals sagen, man habe ja eigentlich genug getan, und man kann sich vor allem nicht ohne weiteres darauf berufen, dass man eine herausfordernde Handlung nicht erfüllen kann, weil es einem etwa am dafür nötigen Mut fehlt.⁶⁸ Aber darin liegt Baron zufolge gerade keine Schwäche, sondern die Stärke des kantischen Systems. Während die Supererogationistinnen Minimalmoral und moralische Exzellenz scharf trennen, macht Kant dies gerade nicht.Vielmehr ist er der Ansicht, dass jeder nach moralischer Vollkommenheit streben kann und sollte. Es bedarf gerade keiner besonderen Begabung moralisch zu brillieren. Kant ist demnach mit Blick auf unsere moralischen Kapazitäten wesentlich optimistischer und egalitaristischer.⁶⁹ Soweit hat sich also gezeigt, dass unabhängig davon, wie viel Spielraum man einzelnen unvollkommenen Pflichten zuschreiben mag, eine Integration der Supererogation in die Kantische Ethik schon allein wegen der Pflicht zur moralischen Selbstvervollkommnung zwar unmöglich ist, aber wenigstens mit Blick auf etwaige Überforderungseinwände gar nicht notwendig zu sein scheint. Die Kantische Ethik ist fordernd, aber nicht überfordernd. Und es gibt durchaus gute Gründe anzunehmen, dass Moral schlichtweg fordernder ist, als uns manchmal lieb ist. Wir müssen hier noch nicht einmal annehmen, dass dieses Moralverständnis unseren Intuitionen gänzlich zuwider läuft, vielmehr scheinen wir doch auch in unserer Praxis eine Person nur dann moralisch zu nennen, wenn sie Moral
Vgl. Baron 1987, 246 ff. Die vermeintlich supererogatorische Handlung wäre in diesem Fall in gewisser Hinsicht verwerflich. Vgl. Baron 1987, 249. Der Zweck der eigenen Vollkommenheit schränkt demnach einerseits den Spielraum unvollkommener Pflichten ein, wenngleich er andererseits zugleich auch den Spielraum zur Beförderung eigener Projekte eröffnet. Baron diskutiert hier ferner die Option, den Bereich des Supererogatorischen zu erhalten, indem man ihn stark einschränkt – die Kategorie also für außergewöhnliche heroische Handlungen reserviert. Jedoch ergäbe sich so ein weiteres Problem. Diese Handlungen erwecken nämlich den Eindruck, man könne eine Handlung genau dann als optional betrachten, wenn es nur schwer genug ist, sie auszuführen. Dagegen spreche jedoch, dass es viele Situationen gibt, in denen es denkbar schwer ist seine Pflicht zu erfüllen, was einen nicht von dieser befreit. Zwar sind heroische Handlungen nur sehr selten von uns gefordert, aber „one may not, on Kant’s view, adopt a policy of never doing anything to help others which one finds extremely difficult or distasteful.“ (Baron 1987, 252) Vgl. Baron 1998, 61.
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als etwas von vorrangiger Bedeutung betrachtet und nicht etwa, wenn sie nur dann moralisch handelt, wenn es ihr keine Umstände bereitet. Doch eine Frage steht noch aus: Kann die Kantische Ethik ebenfalls den exemplarischen Status, also den scheinbar besonderen Wert jener Handlungen erklären, die gemeinhin als supererogatorisch bezeichnet werden? Baron versucht gleichermaßen eine Antwort auf diese Frage zu liefern, wobei sie zu zeigen versucht, dass es nicht angemessen ist, einzelne Handlungen, die unvollkommene Pflichten erfüllen, herauszugreifen und eben insbesondere nicht zu Zwecken der Moralerziehung. Zumal keinesfalls klar sei, nach welchen Gesichtspunkten dies möglich sein sollte.⁷⁰ Wobei sie durchaus bezweifelt, dass eine Moraltheorie, die über eine Kategorie des Supererogatorischen verfügt, per se geeignet sei, unsere Bewunderung zu erklären. Denn was eigentlich Bewunderung verdiene, sei vielmehr der Charakter oder die Tugenden, die sich in einer Handlung zeigen. Gute Handlungen reflektieren demnach den Charakter; wenn wir Handlungen herausgreifen, loben wir eigentlich immer nur den dahinterstehenden Charakter.⁷¹ Dieses Urteil beruht laut Baron aber nicht allein auf einzelnen Handlungen einer Akteurin – sondern auch auf ihren Motiven, Zielen und Werten – und schon gar nicht alleine auf jenen, die unvollkommene Pflichten erfüllen.⁷² Und hierin sieht sie einen weiteren Grund, die Kategorie der Supererogation als nicht notwendig für die Kantische Ethik zurückzuweisen. Vielmehr müsse man zwischen dem Bewundernswerten und den rein externen Handlungsbeschreibungen unterscheiden: We need in short, to disentangle the admirable from the right. A mode of conduct may be admirable in that it points to a virtuous character trait, and yet wrong. An act may be right, though not particularly admirable. An emphasis on the supererogatory makes it difficult to keep the two distinct.“⁷³
Vgl. Baron 1987, 259. Für eine Diskussion des Problems von Handlungen die scheinbar ‚out of character‘ sind siehe Baron 1998, 63 f. Vgl. Baron 1998, 260 ff. Baron 1987, 254. So ähnlich auch an späterer Stelle: schreibt man dem Charakter und nicht den Handlungen den Wert zu, umgeht man die Tendenz, dass sie richtig sein müssen, „since a character trait can be good without its being the case that any act that displays it is morally unobjectionable“ (Baron 1987, 262). Das scheint bei Kant indes bereits daraus zu folgen, dass für Kant die tatsächlichen Handlungsfolgen nicht maßgeblich für den moralischen Wert einer Handlung sind, sondern das Handlungsmotiv. Der Verweis auf den Charakter macht an dieser Stelle nur insofern Sinn, als damit der gute Wille gemeint ist.
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Weil das Urteil derart wesentlich differenzierter ausfallen könne, entgehe man letztlich den Gefahren, die die Bewunderung einzelner Handlungen mit Blick auf die Urteilskraft der einzelnen mit sich bringt. Denn es mag durchaus Handlungen geben, die herausragend sind, denen aber beispielsweise egoistische Motive zugrunde liegen, von denen wir womöglich gerade nicht sagen wollen, dass sie moralisch gut und bewundernswert sind, wenngleich sie womöglich sehr viel Gutes bewirkt haben und aufgrund dessen hervorstechen.⁷⁴ Wenn wir den Fokus auf den Charakter der Akteurinnen lenken, könne man solche Probleme umgehen. Denn dann lässt sich ja gerade sagen, dass der Charakter nicht bewundernswert ist. Vermeintlich supererogatorische Handlungen verdienen als solche daher keiner besonderen Hervorhebung: [T]here are acts that can (contextually, and as acts; not as act types) be labeled „supererogatory“. But it is the wrong thing to focus on; it is not something that ethical theory should emphasize. Supererogatory acts „exist“, but they do not form an ethically useful or theoretically interesting kind.⁷⁵
Abschließend lässt sich nun einerseits fragen, ob die von Baron vorgeschlagene Verschiebung des Fokus von der Handlung zum Charakter der Akteurin das Problem tatsächlich zu lösen vermag. Und andererseits, ob diese Fokusverschiebung tatsächlich ein naheliegender Schluss ist. Hinsichtlich der ersten Frage scheint es zumindest fraglich, ob damit nicht schlichtweg eine Problemverschiebung stattfindet. Wie zuvor nicht klar war, nach welchen Gesichtspunkten einzelne Handlungen als herausragend herausgegriffen werden sollen, scheint nun unklar, welche Charaktere oder welche Tugenden (und vor allem in welchem Maß) herausgegriffen werden sollen.⁷⁶ Ferner scheint die Bewunderung bestimmter Tugenden oder Charaktere noch gleichermaßen dem Einwand ausgesetzt, dass diese problematische Tendenzen für die Urteilskraft einzelner implizieren könnten, insbesondere mit Blick auf die Moralerziehung. Was Kant in diesen Passagen hervorhebt, ist nicht etwa, den Blick von der einzelnen Handlung abzuwenden, sondern vielmehr, das Handlungsmotiv stärker zu betonen. Es geht darum zu zeigen, dass das Pflichtmotiv für die Güte der Handlung entscheidend ist, wenn er davor warnt, dass der Eindruck entstehen könne „als wäre es nicht
Wobei sich dieses Problem für Supererogationistinnen auch nur dann ergibt, wenn sie etwa wie Heyd (1982, 137) davon ausgehen, dass die Beurteilung einer Handlung als supererogatorisch lediglich einer altruistischen Intention bedarf, dazu vgl. auch Fn 62. Baron 1987, 241. Zu dieser Kritik vgl. etwa McCarty 1989, 46. Baron (1998, 68 f.) erörtert dieses Problem zwar in Kürze, jedoch ohne abschließende Positionierung.
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Pflicht, d. i. Achtung fürs Gesetz, […] was den Bestimmungsgrund ihrer Handlungen ausmachte“ (KpV, AA V, 84) und dass „diese Bewunderung eine Abstimmung unseres Gefühls für Pflicht“ (RGV, AA VI, 48 f.) sei. Wenn der Fokus hier auf die Tugend gelenkt wird, dann sicherlich nicht im Sinne bestimmter Tugenden, wie etwa Mut, die eine Person hat, sondern höchstens auf die Tugend verstanden im Kantischen Sinn als „die moralische Stärke des Willens eines Menschen in Befolgung seiner Pflicht“ (MS, AA VI, 405). Die von Baron gefordert Entflechtung des Bewundernswerten und des Richtigen scheint in der Kantischen Ethik schon allein dadurch gegeben zu sein, dass die Beurteilung des moralischen Werts einer Handlung eben immer auch voraussetzt, dass man nicht nur den normativen sondern auch den motivationalen Handlungsgrund betrachtet.⁷⁷ Sofern man also voraussetzt, dass eine in moralischer Hinsicht bewundernswerte Handlung auch moralisch gut sein muss, ist mit Blick auf die zweite Frage nicht ohne weiteres einsichtig, warum zwangsläufig auf konkrete Tugenden oder den Charakter verwiesen werden sollte. Kurzum, ich teile Barons Position dahingehend, dass es unmöglich ist, eine Kategorie der Supererogation in die Kantischen Ethik zu integrieren, und dass dies wesentlich im fundamentalen Status der Pflicht zur moralischen Selbstvervollkommnung begründet ist. Pace Baron gehe ich aber davon aus, dass ethisch nützlich und theoretisch interessant ist, einzelne vermeintlich supererogatorische Handlungen hinsichtlich ihrer Funktion zu betrachten. Warum uns einige Handlungen nun trotzdem supererogatorisch erscheinen und inwiefern diese relevant sind, lässt sich jedoch erst vor dem Hintergrund von Kants Konzeption moralischer Vollkommenheit erörtern, die entsprechend den Gegenstand des folgenden Kapitels darstellt.
Hierzu vgl. auch Fn 229.
4 Die Kultur der Moralität in uns Gewissensskrupel Gerne dien ich den Freunden, doch tu ich es leider mit Neigung, Und so wurmt mir oft, daß ich nicht tugendhaft bin. Decisum Da ist kein anderer Rat, du mußt suchen, sie zu verachten, Und mit Abscheu alsdann tun, was die Pflicht dir gebeut. (Schiller, Xenien)
Nun haben wir im zweiten Kapitel bereits gesehen, dass Kants Ethik keinesfalls eine rein formalistische Ethik ist, die lediglich ein moralisches Gesetz kennt. Vielmehr umfasst Kants Ethik wenigstens auch eine darauf basierende Tugendlehre. Die systematische Anwendung des kategorischen Imperativs auf die menschliche Natur resultiert in einer Vielzahl an Tugendpflichten und liefert somit eine Antwort auf die Frage, was die Tugenden sind. Doch berechtigt das zugleich davon auszugehen, dass wir es mit einer Ethik der Tugend ¹ zu tun haben?² Hierfür würde zumindest sprechen, dass Kant den Begriff der Tugend in Abgrenzung zu den Tugenden (bzw. den Tugendpflichten) ebenso im Singular verwendet und für den grundlegenden Begriff hält: Eine Mehrheit der Tugenden sich zu denken (wie es denn unvermeidlich ist) ist nichts anderes, als sich verschiedene moralische Gegenstände denken, auf die der Wille aus dem einigen Princip der Tugend geleitet wird; eben so ist es mit den entgegenstehenden Lastern bewandt. (MS, AA VI, 406)
Entsprechend konstatiert er, dass „menschliche Moralität in ihrer höchsten Stufe doch nichts mehr als Tugend sein kann“ (MS, AA VI, 383). Es scheint insofern einiges dafür zu sprechen, dass das Streben nach Tugendhaftigkeit – welches eine unvollkommene Pflicht gegen sich selbst darstellt – in der Kantischen Ethik eine wesentlich zentralere Rolle spielt, als es auf den ersten Blick scheinen mag. Hierfür spricht zumindest auch, dass Kant in der Einführung der Pflichten gegen Ich greife hier bewusst auf den, im Gegensatz zum Begriff der Tugendethik, weiteren Begriff der Ethik der Tugend zurück. Entsprechend geht es hier zunächst darum zu zeigen, dass die Tugend eine zentrale Rolle in der Kantischen Ethik spielt. Der Begriff der Tugendethik wird dagegen zwar teilweise auch in diesem Sinne verwendet, aber eben auch in einem engeren Sinne, nämlich als eine bestimmte Form der Ethik der Tugend, die aretaische Kategorien als fundamental erachtet. Vgl. Halbig 2013, 10 ff. Zur Frage ob und inwiefern Kants Ethik als eine Ethik der Tugend verstanden werden kann, siehe etwa Louden 1986, Herman 1993, Höffe 1995, Shermann 1997 und Esser 2004. https://doi.org/10.1515/9783110674729-007
4 Die Kultur der Moralität in uns
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sich selbst³ darauf aufmerksam macht, dass diese Vorrang vor allen anderen Pflichten haben: Denn setzet: es gäbe keine solchen Pflichten [gegen sich selbst, K.N.], so würde es überall gar keine, auch keine äußeren Pflichten geben. – Denn ich kann mich gegen Andere nicht für verbunden erkennen, als nur sofern ich zugleich mich selbst verbinde […]. (MS, AA VI, 417)
Diese These ist jedoch klärungsbedürftig, denn sie scheint zunächst gar kontraintuitiv zu sein. Pflichten gegenüber anderen haben nämlich auf den ersten Blick Vorrang vor den Pflichten gegen sich selbst, sowohl in logisch-begrifflicher Hinsicht, wie auch in Hinblick auf ihre chronologische Entwicklung und ihre Verbindlichkeit. Im logisch-begrifflichen Sinn sind es gerade die (legitimen) Ansprüche anderer, die unsere Pflicht ihnen gegenüber begründen. Wäre dem nicht so, gäbe es keine Pflichten gegen andere Menschen, sondern bloß Pflichten in Ansehung der anderen. Die Pflichten gegen sich selbst im Rahmen der (moralischen) Entwicklung des Individuums den anderen Pflichten vorausgehend zu verstehen, widerspricht offenbar den empirischen Tatsachen. Man lernt relativ früh das Einhalten gewisser Regeln im Umgang mit anderen und weiß um seine Pflichten qua Erziehung. Die Entwicklung eines moralischen Bewusstseins findet hingegen erst später statt, denn sie scheint vorauszusetzen, dass man Pflichten anderen gegenüber anerkennt. Schließlich ist nicht davon auszugehen, dass mit dem Vorrang der Pflichten gegen sich selbst gemeint ist, dass ihnen im Falle konfligierender Pflichten stets Vorrang einzuräumen ist. Es ist eben keineswegs legitim, jemandem in Not die Hilfe zu verwehren, weil man es gerade für wichtiger erachtet, sich seiner eigenen Entwicklung zu widmen.⁴ Es ist kaum davon auszugehen, dass Kant den Umstand verkennt, dass Pflichten gegen sich selbst in Anbetracht dieser drei Blickwinkel wohl kaum als vorrangig betrachtet werden können. Tatsächlich scheint er etwas anderes vor Augen zu haben, nämlich dass diese zu erfüllen dahingehend grundlegend ist, als sie auf die Beschaffenheit der Akteurin zielen, auf die Erhaltung und Entwicklung ihrer Fähigkeiten. Entsprechend hat die Erfüllung dieser Pflichten Einfluss darauf, ob und in welchem Ausmaß man andere Pflichten erfüllen kann. Das scheint in besonderer Weise für diejenige Pflicht zu gelten, die auf die Erhöhung der moralischen Vollkommenheit zielt, also auf die Gründung und Entwicklung der moralischen Fähigkeiten, nämlich überhaupt aus Pflicht und nicht nur pflicht-
Ob es überhaupt Pflichten gegen sich selbst gibt und wie Kant diese „scheinbare Antinomie“ auflöst wird im Folgenden nicht näher betrachtet, sondern deren Möglichkeit vorausgesetzt. Für einen Überblick zu diesem Thema siehe etwa Reath 2002, 350 ff. und Timmermann 2006. Vgl. Louden 2006, 82 f.
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gemäß handeln zu können (also der inneren Gesetzgebung fähig zu sein).⁵ Diese Pflicht hat daher nicht nur einen instrumentellen Wert für die Erfüllung anderer Pflichten, vielmehr ist sie Begründung und Bedingung überhaupt ethisch, also einer inneren Gesetzgebung folgend, handeln zu können. Der Abschnitt der Tugendlehre „Von der Pflicht gegen sich selbst in Erhöhung seiner moralischen Vollkommenheit, d.i. in blos sittlicher Absicht“ fällt in Anbetracht seiner Bedeutung auffällig knapp aus. Er besteht aus zwei Paragraphen (§ 21 und § 22; MS, AA VI, 446 f.), wobei der erste zunächst den Unterschied zwischen dem Ideal der Tugend und der Pflicht dieses anzustreben aufmacht.⁶ Diese Pflicht wird dann in §22 näher erläutert. Beginnen wir zunächst mit einem Blick auf Kants Unterscheidung in § 21, den in Gänze zu zitieren es zu diesem Zweck durchaus lohnt: Sie [die moralische Vollkommenheit, K.N.] besteht erstlich in der Lauterkeit (puritas moralis) der Pflichtgesinnung: da nämlich, auch ohne Beimischung der von der Sinnlichkeit hergenommenen Absichten, das Gesetz für sich allein Triebfeder ist, und die Handlungen nicht blos pflichtmäßig, sondern auch aus Pflicht geschehen. – „Seid heilig“ ist hier das Gebot. Zweitens objectiv in Ansehung des ganzen moralischen Zwecks, der die Vollkommenheit, d.i. seine ganze Pflicht und die Erreichung der Vollständigkeit des moralischen Zwecks in Ansehung seiner selbst, betrifft, „seid vollkommen“; zu welchem Ziele aber hinzustreben beim Menschen immer nur ein Fortschreiten von einer Vollkommenheit zur anderen ist, „ist etwa eine Tugend, ist etwa ein Lob, dem trachtet nach.“ (MS, AA VI, 446)
Nun scheint es so, dass der erste Teil dieses Paragraphen das Ideal der Tugend erläutert, nämlich die „Lauterkeit der Pflichtgesinnung“, die darin besteht, dass „das Gesetz für sich allein Triebfeder ist“, man also stets aus Pflicht handelt (4.1). Der zweite Teil erläutert sodann die sich hieraus für den Menschen ergebende Pflicht, nämlich danach zu streben, die lautere Tugendgesinnung zur Grundlage „des ganzen moralischen Zwecks“, also der Erfüllung aller Pflichten zu machen (4.2). Wenn das aber tatsächlich bedeutet, danach zu streben stets allein aus
Vgl. Fairbanks 2000, 137 f. Auf die Wichtigkeit der Unterscheidung des Ideals der Tugend einerseits und der Pflicht, dieses anzustreben, andererseits, weist etwa Stratton Lake (2008, 105) mit Blick auf die Unterscheidung der Tugend und der Tugendpflichten hin: „[The] distinction between being virtuous in general – that is, being a virtuous person – and the various virtues […] is complicated somewhat by the fact that Kant thinks that one of the duties of virtue requires us to perfect ourselves. Since our moral perfection consists in our being disposed to act from duty, the one obligation of virtue seems also to be a duty of virtue. So Kant seems to end up identifying the one state of being virtuous with one of the several virtues with which it is contrasted. If this is right, then the two aspects of virtue will end up being one. To avoid this we have to distinguish between striving to make oneself virtuous and the state of virtue one is striving to attain.“
4.1 Die Tugend
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Pflicht und nicht aus Neigung zu handeln, stellt sich mitunter die Frage, ob die Kantische Ethik vor diesem Hintergrund nicht umso mehr dem prävalenten Vorwurf der Neigungsfeindlichkeit ausgesetzt ist (4.3).
4.1 Die Tugend Gehen wir hier also ausgehend von der eingangs genannten Abgrenzung zunächst der Frage nach, worin die Tugend besteht, so fällt zunächst auf, dass sich diese in Anlehnung an Kants formalen Pflichtbegriff bestimmen lässt. Entsprechend unterscheidet er andernorts auch die Tugend als das Formale, die Tugendpflichten dagegen als die Anwendung derselben auf materiale Zwecke: Die Tugend, als die in der festen Gesinnung gegründete Übereinstimmung des Willens mit jeder Pflicht, ist wie alles Formale blos eine und dieselbe. Aber in Ansehung des Zwecks der Handlungen, […] kann es mehr Tugenden geben, und die Verbindlichkeit zu der Maxime desselben heißt Tugendpflicht, deren es also viele giebt. (MS, AA VI, 395, H.v.m.)
Im zweiten Kapitel haben wir mit Blick auf Kants formalen Pflichtbegriff festgestellt, dass eine moralisch wertvolle Handlung dadurch gekennzeichnet ist, dass der normative Handlungsgrund (die Pflicht) zugleich den motivationalen Handlungsgrund (aus Pflicht handeln) ausmacht. Verstehen wir die lautere Tugendgesinnung nun als die zugrundeliegende Verfassung des Willens einer Person, die moralisch wertvolle Handlungen ausführt, so muss mit Blick auf die Lauterkeit der Triebfeder in Anbetracht der menschlichen Natur aber überdies noch die „Stärke des Willens in Befolgung seiner Pflicht“ (MS, AA VI, 405) hinzukommen. Entsprechend lassen sich zwei Aspekte des Kantischen Tugendbegriffs ausmachen: (1) Die Tugendgesinnung⁷ als das formale Prinzip des Willens. (2) Die Stärke in Befolgung der Pflichten.⁸
Kant redet gleichermaßen von tugendhafter Gesinnung wie von Tugendverpflichtung (vgl. MS, AA VI, 410). In ähnlicher Weise scheint Kant „Seelengüte“ und „Seelenstärke“ als zwei Aspekte zu betrachten, die nur wenn sie zusammenkommen von „Seelengröße“ zeugen, hierzu vgl. KpV, AA V, 127 und Anth, AA VII, 242, 293. Zur hier vorgenommenen Einteilung von zwei Aspekten des Tugendbegriffs vgl. etwa Guyer 2000, 303 f. Fairbanks (2000, 125 f.) unterscheidet dagegen drei Aspekte der Tugend: Die Fähigkeit zu Autonomie und Selbstzwang als die Möglichkeit, überhaupt aus Pflicht handeln zu können. Sodann aktualisierter Selbstzwang als die Stärke aus Pflicht zu handeln. Und schließlich die auf dem Pflichtprinzip gegründete Selbstkontrolle und Selbstbeherrschung. Denis (2013) unterscheidet gar fünf miteinander verflochtene Aspekte des Kantischen
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4 Die Kultur der Moralität in uns
Ad (1) Wenn die Tugendgesinnung nun die Konformität des menschlichen Willens mit der Pflicht ist, so scheint dies nichts anderes zu heißen, als dass diese Person einen guten Willen hat.⁹ Der gute Wille ist nach Kant zum einen uneingeschränkt gut, da er, anders als alle Glücks- und Naturgaben (die jenen durchaus befördern können), nicht schädlich gebraucht werden kann. Zum anderen ist der gute Wille auch an sich gut, das heißt, obwohl er zwar die „Aufbietung aller Mittel“ (GMS, AA IV, 394) umfasst, bemisst sich seine Güte nicht an dem, was er bewirkt, sondern allein am Wollen (vgl. GMS, AA IV, 394). Der Begriff des guten Willens wird in der Grundlegung durch den Begriff der Pflicht expliziert, weil, so Kants These, eine Handlung aus Pflicht einen guten Willen voraussetzt, also einen solchen, dessen Handlungsprinzip das moralische Gesetz ist.¹⁰ Der gute Wille ist daher keinesfalls als eine generelle Kapazität zum moralischen Handeln zu verstehen, diese Fähigkeit (d.i. die Möglichkeit der Autonomie) muss dafür vielmehr vorausgesetzt werden. Noch handelt es sich beim guten Willen um die konkrete Maxime in einer Handlungssituation. Dagegen spricht bereits, dass Kant die „eigentümliche Beschaffenheit“ des Willens auch „Charakter“ (GMS, AA IV, 393) nennt. Und ferner Kants Definition der Gesinnung in der Religionsschrift: Die Gesinnung, d.i. der erste subjective Grund der Annehmung der Maximen, kann nur eine einzige sein, und geht allgemein auf den ganzen Gebrauch der Freiheit. (RGV, AA VI, 25)
Tugendbegriffs: Stärke, Selbstzwang, moralische Gesinnung, volitionale Konformität und Tugend als ihr eigener Zweck und Lohn. Ich werde diese verschiedenen Aspekte im Folgenden durchaus aufgreifen, gehe aber davon aus, dass sie sich unter den beiden hier verwendeten Einteilungsaspekten subsumieren lassen. Zumal Kant bereits in der Grundlegung den Begriff der Gesinnung anstelle des Begriffs eines guten Willens zu gebrauchen scheint, so etwa wenn er „von der Gesinnung, aus reiner Pflicht zu handeln“ (GMS, AA IV, 406) oder der „reine[n] moralischen Gesinnung“ (GMS, AA IV, 412) spricht, und wenn er darauf hinweist, „das Wesentlich-Gute derselben [Handlung, K.N.] besteht in der Gesinnung“ (GMS, AA IV, 416). Und in der Tugendlehre spricht er von der „Kultur des Willens bis zur reinsten Tugendgesinnung“ (MS, AA VI, 387), und im Rahmen der Erörterung der Pflicht zur Selbsterkenntnis davon, dass diese auf die „Entwicklung der nie verlierbaren ursprünglichen Anlage eines guten Willens zielt“ (MS, AA VI, 441). Vor dem Hintergrund dessen, dass Kant in der Grundlegung den guten Willen als Ausgangspunkt seiner Herleitung des obersten Moralprinzips wählt, lässt sich im Übrigen mit Blick auf diese Schrift bereits zeigen, dass die Tugend eine fundamentale Rolle spielt und es dort keineswegs nur um die Beurteilung von Handlungen geht. Und dies erhärtet sich gar mit Blick auf die Formulierung des kategorischen Imperativs, der keine Handlungen, sondern vielmehr deren zugrunde liegende Maxime, also „das subjektive Prinzip des Wollens“ (GMS, AA IV, 401, Fn), einer Bewertung unterzieht. Der Fokus liegt hier also nicht auf den äußeren Handlungen, sondern auf der Handelnden, genauer gesagt auf der Beschaffenheit ihres Willens. Vgl. Baron 1997, 35 f.
4.1 Die Tugend
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Die Gesinnung scheint demnach so etwas wie eine höherstufige Maxime bzw. ein grundlegendes Handlungsprinzip zu sein, das sich der Wille zu eigen gemacht hat und welches den inneren Wert einer Person konstituiert. So erklärt sich dann auch, warum andere Charaktereigenschaften in ihrem Wert von dem Willen abhängig sind, der von ihnen „Gebrauch machen soll“ (GMS, AA IV, 393). Beim guten Willen ist das moralische Gesetz das vorrangige Prinzip (und nicht dagegen das Prinzip der Selbstliebe). Mit anderen Worten: Der gute Wille stellt eine Disposition zum guten Handeln dar, wenngleich daraus nicht folgt, dass einzelne Handlungen notwendigerweise gut sein müssen (denn dazu ist ferner Willensstärke notwendig, wie weiter unten erläutert wird).¹¹ Als Vorbild des guten Willens dient dabei die Vorstellung des heiligen Willens, also des Willens eines reinen Vernunftwesens,¹² der im Gegensatz zum menschlichen Willen nicht durch sinnliche Ursachen affizierbar ist, und der folglich „keiner dem moralischen Gesetze widerstreitenden Maximen fähig wäre […]“ (KpV, AA V, 57). Das moralische Gesetz macht bei einem so gedachten Wesen zwar gleichsam das Handlungsprinzip seines Willens aus, jedoch generiert es kein Gebot, weil er von selbst, nach seiner subjectiven Beschaffenheit, nur durch die Vorstellung des Guten bestimmt werden kann. Daher gelten für den göttlichen und überhaupt für einen heiligen Willen keine Imperative; das Sollen ist hier am unrechten Orte, weil das Wollen schon von selbst mit dem Gesetz nothwendig einstimmig ist. (GMS, AA IV, 414, H.v.m.)
Dieser heilige Wille ist also notwendigerweise autonom, d.i. er ist keinen heteronomen Bestimmungsgründen ausgesetzt, sondern stets in absoluter motivationaler Harmonie; daher ergibt sich für ihn, im Gegensatz zum Willen sinnlich‐vernünftiger Wesen, aus diesem Gesetz keine Nötigung (vgl. GMS, AA IV, 413). Der Wille sinnlich‐vernünftiger Wesen hingegen ist von Natur aus nicht notwendig der Vernunft gemäß, verfügt aber über die Freiheit, sich dem moralischen Gesetz unterordnen zu können; er bedarf daher des Selbstzwangs „nach einem Prinzip der inneren Freiheit“ (MS, AA VI, 394), um dem moralischen Gesetz Folge leisten zu können. So heißt es denn auch in der Tugendlehre: Für endliche heilige Wesen (die zur Verletzung der Pflicht gar nicht einmal versucht werden können) giebt es keine Tugendlehre, sondern bloß Sittenlehre, welche letztere eine Autonomie der praktischen Vernunft ist, indessen daß die erstere zugleich eine Autokratie derselben, d. i. ein, wenn gleich nicht unmittelbar wahrgenommenes, doch aus dem sittlichen
Vgl. Harbison 1980, 48 ff.; Louden 1986, 476 ff. und Ameriks 1989, 51 ff. Kant bezeichnet diesen auch als einen „vollkommen gute[n] Wille[n]“ (GMS, AA IV, 414) oder auch einen „schlechterdings gute[n] Wille[n]“ (GMS, AA IV, 439).
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kategorischen Imperativ richtig geschlossenes Bewußtsein des Vermögens enthält, über seine dem Gesetz widerspenstige Neigungen Meister zu werden. (MS, AA VI, 383, Hv.m.)
Dem Menschen ist es also, im Gegensatz zu heiligen Wesen, nur begrenzt möglich, frei von inneren Konflikten zu sein; die Grenze, die sich für den Menschen hieraus ergibt, liegt nicht so sehr in den jeweils tatsächlich vorliegenden Neigungen und Gefühlen, sondern darin, dass der menschliche Wille prinzipiell durch Sinnlichkeit affizierbar ist und nicht notwendig der Vernunft gemäß (vgl. MS, AA VI, 409).¹³ Eine Handlung kann aber nur dann notwendigerweise moralisch gut sein, wenn sie nicht nur „dem sittlichen Gesetze gemäß sei, sondern es muß auch um desselben willen geschehen; widrigenfalls ist jene Gemäßheit nur sehr zufällig“ (GMS, AA IV, 390). Selbst Neigungen die wohlwollend sind treffen, weil sie empirischen Beweggründen entlehnt sind, nur „glücklicherweise“ auf das, was „in der Tat gemeinnützig und pflichtmäßig ist“ (GMS, AA IV, 398), könnten aber unter anderen Umständen auch zu pflichtwidrigen Handlungen führen. Und selbst wenn man sich eine Person vorstellen könnte, die über keine dem Gesetz widerstrebenden Neigungen verfügen sollte, so kann ihr Wille doch niemals heilig sein. Sie ist dann vielmehr „unschuldig“, doch da die Unschuld „sich nicht wohl bewahren läßt und leicht verführt wird“ (GMS, AA IV, 404 f.), bedarf es trotzdem des Selbstzwangs, damit nicht nur entsprechend des richtigen normativen Grundes gehandelt wird, sondern dieser auch den motivationale Grund der Handlung darstellt.¹⁴ Es müssen daher zwei Ideale unterschieden werden: erstens der heilige Wille, dessen Streben sich in absoluter und unverlierbarer Harmonie mit dem moralischen Gesetz befindet. Und zweitens der gute (menschliche) Wille, welcher den heiligen Willen zwar zum Vorbild hat, aber gerade nicht durch absolute motivationale Harmonie gekennzeichnet sein kann, sondern höchstens dadurch, diese selbstkritisch anzustreben. Dafür ist es unerlässlich, sich der potentiellen Konflikthaftigkeit der eigenen Natur, also seiner eigenen Freiheit, stets bewusst zu sein. Der gute Wille ist aufgrund dessen aber sogar erstrebenswerter als der heilige Wille, denn er unterwirft sich selbst freiwillig dem moralischen Gesetz, weshalb die Tugend „als Ideal, so glänzt, daß sie nach menschlichem Augenmaß
Vgl. Louden 2006, 91 f. So Kant auch sehr deutlich in der Pädagogik: „Man kann indessen sagen, daß er [der Mensch, K.N.] ursprünglich Anreize zu allen Lastern in sich habe, denn er hat Neigungen und Instincte, die ihn anregen, ob ihn gleich die Vernunft zum Gegentheile treibt. Er kann daher nur moralisch gut werden durch Tugend, also aus Selbstzwang, ob er gleich ohne Anreize unschuldig sein kann.“ (Päd, AA IX, 492)
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die Heiligkeit selbst, die zur Übertretung nie versucht wird, zu verdunkeln scheint“ (MS, AA VI, 396 f.). Vor diesem Hintergrund lässt sich nun auch verstehen, warum Kant mit Blick auf die Tugend in gleicher Weise von tugendhafter Gesinnung und Tugendverpflichtung spricht: Versteht man die tugendhafte Gesinnung als den guten Willen eines vernünftig-sinnlichen Wesens, so geht dieser mit einem Moment der Verpflichtung einher, d.i. die Fähigkeit zum Selbstzwang. Dabei handelt es sich nicht primär um die Vorstellung, dass jede einzelne moralisch gute Handlung durch einen Konflikt zwischen Pflicht und Neigung gekennzeichnet sein muss. Im Gegenteil: Es gilt, wie wir sehen werden, seine Neigungen derart zu kultivieren, dass sie wenigstens nicht widerstreitend sind oder gar in Einklang mit der Pflicht. Und doch bedarf es der Fähigkeit des Selbstzwangs, weil absolute motivationale Harmonie unter menschlichen Bedingungen keine sichere Errungenschaft ist: Sie ist nur schwer erreichbar und ebenso leicht zu verlieren, dessen muss man sich stets bewusst sein. Deshalb ist Tugend „moralische Gesinnung im Kampfe, und nicht Heiligkeit im vermeinten Besitze einer völligen Reinigkeit der Gesinnung des Willens“ (KpV, AA V, 84).¹⁵ Ad (2) Um nun aber „seine ganze Pflicht und [die] Vollständigkeit des moralischen Zwecks in Ansehung seiner selbst“ (MS, AA VI, 446) zu erreichen, bedarf es als Voraussetzung zwar des Vermögens zum Selbstzwang nach Prinzipien der Vernunft. Doch das allein reicht nicht, vielmehr muss in Ausführung dieses Vermögens „die moralische Stärke des Willens eines Menschen in Befolgung seiner Pflicht“ (MS, AA VI, 405, vgl. Anth, AA VII, 147) hinzukommen. Denn der Mensch findet durch seine Bedürfnisse und Neigungen „in sich selbst ein mächtiges Gegengewicht gegen alle Gebote der Pflicht, die ihm die Vernunft so hochachtungswürdig vorstellt“ (GMS, AA IV, 405) vor: [Die Tugend, K.N.] gebietet und begleitet ihr Gebot durch einen sittlichen (nach Gesetzen der inneren Freiheit möglichen) Zwang; wozu aber, weil er unwiderstehlich sein soll, Stärke erforderlich ist, deren Grad wir nur durch die Größe der Hindernisse, die der Mensch durch seine Neigungen sich selber schafft, schätzen können. Die Laster, als die Brut gesetzwidriger Gesinnungen sind die Ungeheuer, die er nun zu bekämpfen hat: weshalb diese sittliche Stärke auch, als Tapferkeit (fortitudo moralis) die größte und einzige wahre Kriegsehre des Menschen ausmacht […]. (MS, AA VI, 405)¹⁶
Wenngleich sich die Tugend zwar nur daran bemessen lässt, dass man seine widerstreitenden Neigungen überwindet, so folgt daraus keinesfalls, dass man
Vgl. Louden 2006, 90 ff. Zur Tugend als Tapferkeit siehe etwa auch MS, AA VI, 380; Anth, AA VII, 259; RGV, AA VI, 57.
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solche haben muss, damit man tatsächlich über Tugend verfügt, sondern zunächst nur, dass sich in diesem Fall am besten zeigt, ob der Selbstzwang stark genug ist. Ebensowenig sind jegliche Neigungen zu bekämpfen, man muss also keinesfalls danach streben sie gänzlich loszuwerden, denn das ist für Menschen als sinnlich-vernünftiges Wesen schlicht nicht möglich. Wenngleich Kant insbesondere in der Grundlegung so zu reden scheint als sei das wenigstens erstrebenswert: Die Neigungen selber aber, als Quellen der Bedürfnis, haben so wenig einen absoluten Werth, um sie selbst zu wünschen, daß vielmehr, gänzlich davon frei zu sein, der allgemeine Wunsch eines jeden vernünftigen Wesens sein muß. (GMS, AA IV, 428, H.v.m.)
Dabei lautet die entscheidende Frage natürlich, was es heißt davon frei zu sein. Und es spricht einiges dafür, dass dies nicht im Sinne eines umfassenden nichtVorhandenseins zu lesen ist, sondern vielmehr als ein frei von Neigungen als unmittelbaren Bestimmungsgründen unseres Handelns zu sein. Mit Blick auf eine erhellende Passage der Religionsschrift, lässt sich dies nun differenzieren, nämlich dahingehend, dass der Fähigkeit „der Willkür, das moralische Gesetz in seine Maximen aufzunehmen“ (RGV, AA VI, 29), drei Stufen von Unfähigkeit dasselbe zu tun gegenüberzustehen: Erstlich ist es die Schwäche des menschlichen Herzens in Befolgung genommener Maximen überhaupt, oder die Gebrechlichkeit der menschlichen Natur; zweitens der Hang zur Vermischung unmoralischer Triebfedern mit den moralischen (selbst wenn es in guter Absicht und unter Maximen des Guten geschähe), d. i. die Unlauterkeit; drittens der Hang zur Annehmung böser Maximen, d. i. die Bösartigkeit der menschlichen Natur, oder des menschlichen Herzens. (ebd., H.v.m.)¹⁷
Dass Kant diese Differenzierung in der Grundlegung noch nicht explizit erläutert, scheint dem Umstand geschuldet, dass er hier noch nicht über den entsprechenden konzeptionellen Rahmen verfügt. Dies ist erst auf der Grundlage von Kants revisioniertem Verständnis vom Verhältnis von Moral und Freiheit möglich. In der Grundlegung geht Kant noch davon aus, dass Freiheit nur darin bestehen kann moralisch zu handeln, entsprechend sind unmoralische Handlungen stets als Folgen unserer sinnlichen Natur zu verstehen, die uns dazu verleiten kann gegen unseren freien Willen zu handeln. Erst durch die Unterscheidung von Willkür und Wille (vgl. MS, AA VI, 211 und 226) lässt sich dies zurückweisen. Der Wille ist demnach das Vermögen Regeln für die Annahme von Maximen zu geben, dies setzt aber die freie Willkür voraus, also das Vermögen Handlungen überhaupt nach Maximen bestimmen zu können, d.i. im Gegensatz zum Tier nicht unumgänglich durch seine Natur zum Handeln genötigt zu sein.
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Anhand dieser Unterscheidung lassen sich nun drei korrespondierende Elemente des Stärkebegriffs differenzieren: Apathie (Schwäche), moralische Stärke (Unlauterkeit) und Herrschaft (Bösartigkeit). „Zur Tugend wird zuerst erfordert die Herrschaft über sich selbst“ (MS, AA VI, 407), diese ist die Voraussetzung für innere Freiheit und beinhaltet ein „bejahendes Gebot, nämlich all seine Vermögen und Neigungen unter seine (der Vernunft) Gewalt zu bringen“ (MS, AA VI, 408), und zwar dahingehend, dass sie nicht den Inhalt unserer Maximen bestimmen. Die einer solchen gesetzeswidrigen Gesinnung (also dem Prinzip der Selbstliebe) entspringenden Handlungen stellen die eigentliche Gefahr für die Tugend dar, sie sind die Laster, denen man nur begegnen kann, wenn man sie abschafft bzw. sei gar nicht erst entstehen lässt.¹⁸ Wie weiter unten noch näher zu erläutern sein wird, geht daher von den Leidenschaften, also den „zur bleibenden Neigung gewordene[n] sinnliche[n] Begierde[n]“ (ebd.) die eigentliche Gefahr für die Tugend aus (selbst wenn diese sich nicht zwangsläufig in pflichtwidrigen Handlungen äußern müssen).¹⁹ Sind diese Hindernisse indes ausgeräumt, so besteht die eigentlich notwendige, durch Kontemplation und Übung zu erwerbende, moralische Stärke darin, die moralische Triebfeder zu erheben, so dass sie „der Überwindung aller sinnlich entgegenwirkenden Antriebe“ fähig ist (MS, AA VI, 397). Eine solche Tugendhandlung zeichnet sich gerade dadurch aus, dass sie von Freude begleitet ist, denn [d]ie Zucht (Disciplin), die der Mensch an sich selbst verübt, kann daher nur durch den Frohsinn der sie begleitet verdienstlich und exemplarisch werden. (MS, AA VI, 485)²⁰
Seine moralischen Pflichten nur widerwillig zu erfüllen, widerspricht demnach sogar der Achtung für das moralische Gesetz,²¹ denn die Oder wie Kant an anderer Stelle betont: Das Böse ist immer die Folge prinzipienbasierter Entscheidung, für die man verantwortlich ist. Vgl. RGV, AA VI, 66. Insofern sie die Möglichkeit der Tugendhaftigkeit und somit auch ihrer Erhöhung gänzlich unterminieren können, stellen sie eigentlich einen Gegenstand vollkommenen Pflichten gegen sich selbst in moralischer Hinsicht dar. Hierzu vgl. auch Anth, AA VII, 148: „Etwas Schweres leicht zu machen, ist Verdienst; es als leicht vorzumalen, ob man gleich es selbst nicht vermag, ist Betrug.“ Dass dieser Aspekt oftmals verkannt wird, scheint vielmehr dem Alltagsverständnis von Pflicht geschuldet zu sein als dem Kantischen Pflichtbegriff selbst. Sprechen wir im Alltag von Pflichten, so impliziert dies oftmals, dass man etwas tun muss oder zumindest sollte; man leistet (widerwillig) Folge. Es handelt sich hierbei um Pflichten, die einem auferlegt werden, also um etwas, das man einem anderen schuldet bzw. was andere einfordern. Der Begriff scheint also in unserem Sprachgebrauch mit der Vorstellung von externen Erwartungen (etwa von Freunden, der Familie, dem Arbeitgeber, dem Gesetz) zusammenhängen, wenngleich es sich dabei natürlich
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sklavische Gemütsstimmung kann nie ohne einen verborgenen Haß des Gesetzes stattfinden und das fröhliche Herz in Befolgung seiner Pflicht (nicht die Behaglichkeit in Anerkennung desselben) ist ein Zeichen der Echtheit tugendhafter Gesinnung […]. (RGV, AA VI, 23 Fn)
Die Tugendhafte erfüllt ihre Pflichten gerade, weil sie es für gut erachtet und folglich will, „denn dieses Sollen ist eigentlich ein Wollen […]“ (GMS, AA IV, 449). In diesem Sinne kann man eine Handlung selbst dann zugleich wollen, wenn man widerstreitende Neigungen hat (vgl. GMS, AA IV, 413 Fn und MS, AA VI, 379 f.). Tut man eine Pflicht hingegen nur widerwillig, also etwa aus Angst vor Sanktionen, so wäre es lediglich eine pflichtmäßige Handlung, aber gerade keine Handlung aus Pflicht. Denn dieser Handlung mag dann zwar eine gesetzeskonforme Maxime zugrunde liegen (weshalb sie kein Laster ist), doch diese stellt nicht den (alleinigen) motivationalen Grund der Handlung dar (weshalb sie Ausdruck einer unlauteren Triebfeder ist).²² Doch auch eine Person, die über eine lautere Tugendgesinnung verfügt und ein gewisses Maß an moralischer Stärke erworben hat, ist gewissen Hindernissen ausgesetzt: nämlich Affekten und Neigungen, die sich der Befolgung einer genommen Maxime in den Weg stellen können und somit die Ausführung einer Handlung unterbinden. Diesen nachzugeben ist Schwäche oder Untugend, die im Gegensatz zum Laster das „logische Gegenteil“ der Tugend(stärke) ausmacht, nicht jedoch ihr „Widerspiel“ (vgl. MS, AA VI, 384). Um diesen Hindernissen zu begegnen muss Apathie „notwendig vorausgesetzt“ (MS, AA VI, 408) werden. Diese ist jedoch im Gegensatz zur Herrschaft nur negativ. Sie besteht keinesfalls darin gänzlich indifferent zu sein, sondern darin auch in Anbetracht von Hindernissen „das Gemüth in Ruhe und mit einer überlegten und festen Entschließung, ihr Gesetz in Ausübung“ (MS, AA VI, 409) bringen zu lassen. Wenn dies gelingt, so ruft die Tugend selbst eine bestimmte Art der Freude hervor, nämlich eine „moralische Lust, […] von der man rühmt, daß die Tugend in
nicht um explizierte Erwartungen handeln muss. Oftmals fühlt man sich auch auf Grund der Erwartungen, die man einem anderen zuschreibt, oder aber durch bestimmte Konventionen verpflichtet. Eben wegen dieser Konnotation würde man es für unangemessen halten, jemandem, dem man gerne hilft, zu sagen, man verrichte ja bloß seine Pflicht. Dies scheint nicht nur einen Mangel an Freude an der Handlung, sondern auch eine Belastung zu implizieren.Vgl. Baron 1997, 50 ff. und Baron 2004, 83 ff. Dass Freude tatsächlich einen integralen Bestandteil des Ideals der Tugend ausmacht, und nicht allein instrumentellen Wert hinsichtlich dessen Erreichung hat, scheint ferner durch Kants Idee des höchsten Guts gestützt zu sein. Denn Kant geht ja gerade davon aus, dass Tugend zwar das oberste, aber nicht das vollendete Gut ist, wozu denn auch Glückseligkeit erfordert ist. Das heißt, selbst wenn die Tugend zwar die Bedingung für letztere ist und auch oftmals mit ihr kollidieren mag, so sollte sie idealerweise doch mit ihr zusammenstimmen. Vgl. KpV, AA V, 110 ff.
4.2 Die Pflicht zur Selbstvervollkommnung
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diesem Bewußtsein ihr eigner Lohn sei.“ Diese moralische Lust geht „über die bloße Zufriedenheit mit sich selbst (die bloß negativ sein kann) hinaus“ (MS, AA VI, 391, vgl. auch MS, AA VI, 406). Sie besteht also nicht allein darin, dass „[…] die Vernunft, die ihre höchste praktische Bestimmung in der Gründung eines guten Willens erkennt, bei Erreichung dieser Absicht nur einer Zufriedenheit nach eigener Art […] fähig ist […]“ (GMS, AA IV, 396). Vielmehr scheint die moralische Lust daher zu rühren, dass man sich selbst seiner Tugendgesinnung am ehesten in Anbetracht überwundener Hindernisse bewusst wird und dadurch gleichsam seiner eigenen Autonomie. Autonomie geht zwar mit Selbstzwang, also der Fähigkeit die eigenen Neigungen einzuschränken einher, geht aber doch über reine Selbstbeherrschung oder Mäßigung hinaus, da die Unterordnung unter das selbst gegebene moralische Gesetz vorausgesetzt wird. Der aktualisierte Selbstzwang (d.i. eine durch die dafür notwendige Stärke hervorgerufene Handlung) ruft daher das Bewusstsein der inneren Freiheit hervor, und dieses Bewusstsein ist die Ursache eines intellektuell gewirkten moralischen Lustgefühls.²³
4.2 Die Pflicht zur Selbstvervollkommnung Da wir es bei der Pflicht zur Erhöhung der moralischen Vollkommenheit nun mit einer unvollkommenen Pflicht zu tun haben, so besteht diese (wie im zweiten Kapitel erläutert wurde) gerade nicht darin Handlungen vorzuschreiben, sondern die Maxime. Es gilt also sich einen bestimmten Zweck zu setzen, daher ist die Tugend „nicht selbst, oder sie zu besitzen ist nicht Pflicht (denn sonst würde es eine Verpflichtung zur Pflicht geben müssen)“ (MS, AA VI, 405). Vielmehr stellt das Ideal der Tugend den Zweck der Pflicht dar, „zu welcher [d.i.Vollkommenheit, K.N.] zwar das Streben, aber nicht das Erreichen derselben (in diesem Leben) Pflicht ist, deren Befolgung also nur im continuirlichen Fortschreiten bestehen kann“ (MS, AA VI, 446), wie Kant uns in § 22 in Erläuterung der Pflicht wissen lässt. Es ist also keineswegs geboten tugendhaft zu sein, sondern dies anzustreben, daher gilt: Die Tugend ist immer im Fortschreiten […], weil sie, objectiv betrachtet, ein Ideal und unerreichbar, gleichwohl aber sich ihm beständig zu nähern dennoch Pflicht ist. (MS, AA VI, 409, H.v.m.)
Vgl. Engstrom 2002, 290 f. und Louden 2006, 82 f.
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Diesbezüglich ist aber wenigstens klärungsbedürftig, (1) inwiefern man sich diesem Ideal annähern kann und (2) welche Rolle die Unerreichbarkeit desselben für die Bestimmung der Pflicht spielt. Ad (1) Wenn die Tugend als ein Ideal verstanden werden muss, dem man versuchen soll sich anzunähern, dann scheint das dafür zu sprechen, dass hier ein Prozess der stetigen Selbstvervollkommnung gefordert ist. Diese Idee der prozeduralen Erhöhung moralischer Vollkommenheit scheint vorauszusetzen, dass es sich gleichsam um eine graduelle Erhöhung handelt – es also verschiedene Grade der Tugend geben kann, wie zumindest das Ende des im Vorhergehenden diskutierten § 21 bereits nahezulegen scheint: „seid vollkommen“; zu welchem Ziele aber hinzustreben beim Menschen immer nur ein Fortschreiten von einer Vollkommenheit zur anderen ist (MS, AA VI, 446).
Und dieser Gedanke findet sich durchaus schon früher, nämlich bereits in der Kritik der praktischen Vernunft: Einem vernünftigen, aber endlichen Wesen ist nur der Progressus ins Unendliche von niederen zu höheren Stufen der moralischen Vollkommenheit möglich. (KpV, AA V, 123)
Dies scheint nun auf den ersten Blick in auffälligem Kontrast zu Kants Annahme zu stehen, dass man genau eine Gesinnung hat, die entweder gut oder böse ist – man also entweder das Prinzip der Moral oder das der Selbstliebe zu seiner obersten Maxime erhebt. Wenn es aber kein Mittleres zwischen „sittlich gut oder sittlich böse“ (RGV, AA VI, 22) gibt, wie sind dann Grade der Tugend möglich? Legt man nun die im Vorhergehenden gegebene zweiteilige Analyse des Ideals der Tugend zugrunde, lässt sich dieses Problem dahingehend auflösen, dass hinsichtlich ihres ersten Aspekts, also der Tugendgesinnung bzw. dem guten Willen, zwar keine Grade möglich sind, jedoch hinsichtlich des zweiten Aspekts, also der Tugend als moralischer Stärke sehr wohl. Diese äußert sich schließlich darin, in welchem Ausmaß man den Tugendpflichten nachkommt – wenngleich ein hohes Maß an Pflichterfüllung, selbst in Anbetracht von Hindernissen, stets nur ein Indiz für Stärke sein kann, da die äußeren Handlungen als solche keinen sicheren Beleg für die zugrundeliegende Handlungsmotivation geben können.²⁴ Diese Auslegung stimmt denn auch damit zusammen, dass Kant in der Religionsschrift zwei Stufen des Tugenderwerbs unterscheidet: Hinsichtlich der Tugendgesinnung, also der grundlegenden Disposition zum guten Handeln, gebietet die Pflicht eine „Revolution für die Denkungsart“. Diese betrifft den intelligiblen
Vgl. Blöser 2013, 53 ff.
4.2 Die Pflicht zur Selbstvervollkommnung
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Charakter der Akteurin. Diese „Herzensänderung“ muss „durch eine einzige unwandelbare Entschließung“ (RGV, AA VI, 47 f.) erfolgen. Es handelt sich hier also gerade nicht um einen Prozess, sondern eine Wahl zwischen zwei Gesinnungen; die Tugendgesinnung kennt daher keine Grade. Da aber „zwischen der Maxime und der That [ist] noch ein großer Zwischenraum“ (RGV, AA VI, 46) ist, bedarf es, wie wir zuvor bereits gesehen haben, darüber hinaus notwendigerweise der Willensstärke. Diese betrifft den empirischen Charakter der Akteurin und besteht in einer „Änderung der Sitten“. Was hier geboten ist, ist eine „allmählige Reform für die Sinnenart (welche jener Hindernisse entgegenstellt)“ (RGV, AA VI, 47) und innerhalb dieser zweiten Stufe, sind dann eben doch Grade der Annäherung an das Ideal möglich. Diese Idee der Zweistufigkeit des Tugenderwerbs findet sich ebenso in der Tugendlehre, wenn auch weniger explizit, so etwa wenn Kant im Rahmen der Ethischen Didaktik sagt:²⁵ [M]an kann nicht Alles sofort, was man will, wenn man nicht vorher seine Kräfte versucht und geübt hat, wozu aber freilich die Entschließung aufeinmal vollständig genommen werden muß: weil die Gesinnung (animus) sonst bei einer Capitulation mit dem Laster, um es allmählich zu verlassen, an sich unlauter und selbst lasterhaft sein, mithin auch keine Tugend (als die auf einem einzigen Princip beruht) hervorbringen könnte. (MS, AA VI, 477, H.v.m.)
Im Gegensatz zur Religionsschrift, in der Kant im Wesentlichen mit dem Bösen bzw. dem Laster „als Widerspiel“ (MS, AA VI, 384) der Tugendgesinnung befasst ist und der damit verbundenen Frage, wie eine solche Revolution möglich ist, scheint es ihm in der Tugendlehre dagegen im Wesentlichen um die empirischen Bedingungen des Tugenderwerbs als Stärke zu gehen. Hier stellt sich also die Frage nach den der Tugend als Stärke entgegenstehenden Hindernissen und wie diesen zu begegnen ist. Dafür spricht insbesondere auch, dass sich die Pflicht zur Selbstvervollkommnung gerade auf den zweiten Aspekt des Tugendbegriffs, nämlich die Stärke bezieht. So lässt es zumindest folgende Bemerkung Kants in der Einleitung der Tugendlehre vermuten: Man kann auch gar wohl sagen: der Mensch sei zur Tugend (als einer moralischen Stärke) verbunden. Denn obgleich das Vermögen (facultas) der Überwindung aller sinnlich entgegenwirkenden Antriebe seiner Freiheit halber schlechthin vorausgesetzt werden kann und muß: so ist doch dieses Vermögen als Stärke (robur) etwas, was erworben werden muß […]. (MS, AA VI, 397)
Vgl. Allison 1990, 169 f.
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Das heißt, wie wir zuvor schon gesehen haben, muss praktische Freiheit zunächst vorausgesetzt werden, damit man überhaupt die Tugendgesinnung wählen kann und das Vorhandensein derselben muss wiederum dafür vorausgesetzt werden, dass man überhaupt qua innerer Gesetzgebung zu etwas verbunden sein kann. Dass man sich selbst zu einer gebotenen Handlung oder einem gebotenen Zweck verbindet ist demnach nur möglich, wenn man die Notwendigkeit des moralischen Gesetzes erkennt und anerkennt. Erst auf dieser Grundlage ist man also dazu in der Lage, sich selbst zum Erwerb der Tugend als einer moralischen Stärke zu verbinden und das Ideal der Tugend anzustreben. Und doch scheint die zweite Stufe auch wieder auf die erste Stufe zurückzuwirken. Dies zeigt sich besonders deutlich, im Falle mangelnder Ausübung der Stärke. Denn die Hindernisse der Sinnenart stellen, wenn sie nicht einer stets voranschreitenden Reform unterstellt sind, gleichwohl eine Gefahr für die Tugendgesinnung dar – etwa wenn man zulässt, dass Neigungen zu Leidenschaften werden. Die Tugendgesinnung ist demnach, auch wenn man sich einmal zu ihr entschlossen hat, keineswegs unverlierbar, sondern stets gefährdet. Daher ist die Tugend nicht nur ein „Fortschreiten“, sondern hebt doch auch immer von vorne an. […] Das […] gründet sich, subjectiv, auf der mit Neigungen afficirten Natur des Menschen, unter deren Einfluß die Tugend mit ihren einmal für allemal genommenen Maximen niemals sich in Ruhe und Stillstand setzen kann, sondern, wenn sie nicht im Steigen ist, unvermeidlich sinkt […]. (MS, AA VI, 409)
Gleichwohl sich die beiden Stufen des Tugenderwerbs, wie zuvor geschehen, also analytisch zunächst trennen lassen, ist dies praktisch nicht möglich. Das heißt aber auch, dass es sich hierbei nicht um zwei dichotome zeitlich aufeinanderfolgende Stufen handelt, wenngleich es so scheinen mag. Vielmehr sind sie tatsächlich wechselseitig aufeinander bezogen und lassen sich daher als zwei Perspektiven auf das gleiche Phänomen betrachten.²⁶ Hieraus ergibt sich dann zumindest auch die weiter unten zu erörternde Frage, ob die Reform der Sinnenart nicht nur einen erhaltenden Nutzen für die Tugendhaftigkeit hat, sondern inwiefern sie sich auch positiv darauf auswirken kann. Ad (2) Vor diesem Hintergrund wird nun auch deutlich, warum die Pflicht zur Erhöhung der moralischen Vollkommenheit eine besondere Art von Spielraum mit sich führt. Im zweiten Kapitel haben wir bereits gesehen, dass unvollkommene Pflichten sich dadurch auszeichnen, dass sie im Gegensatz zu vollkommenen Pflichten keine Handlungen, sondern Maximen gebieten. Der sich hieraus ergebende Spielraum, so wurde dort gezeigt, ist darin begründet, dass es der Vgl. Willaschek 1992, 159 ff.
4.2 Die Pflicht zur Selbstvervollkommnung
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Urteilskraft obliegt, wie eine Maxime in einer konkreten Situation anzuwenden ist (observanz).²⁷ Es ist daher mithin von äußeren empirischen Bedingungen abhängig, wie unvollkommene Pflichten angewandt werden müssen und können. Dagegen ist es hinsichtlich der hier behandelten Pflicht nun von den inneren empirischen Bedingungen abhängig, und es ist scheinbar allein deren besondere Beschaffenheit, die hier den Spielraum begründet und somit überhaupt begründet, dass es sich um eine unvollkommene Pflicht handelt. So charakterisiert Kant die Pflicht zur Erhöhung der moralischen Vollkommenheit zu Beginn von § 22 folgendermaßen: Diese Pflicht gegen sich selbst ist eine der Qualität nach enge und vollkommene, obgleich dem Grade nach weite und unvollkommene Pflicht und das wegen der Gebrechlichkeit (fragilitas) der menschlichen Natur. (MS, AA VI, 446)
Vollkommen ist diese Pflicht, wie er weiter ausführt, „in Hinsicht auf das Object (die Idee, deren Ausführung man sich zum Zweck machen soll)“ (ebd.). Das Objekt scheint in diesem Fall die Gesinnung zu sein und wenn diese keine Grade zulässt, sondern entweder gut oder schlecht ist, dann scheint klar, warum es sich in dieser Hinsicht um eine vollkommene Pflicht handelt, die keinen Spielraum zulässt. Und dennoch ist sie „in Rücksicht aber auf das Subject weite und nur unvollkommene Pflicht“ (ebd.). Der Grund hierfür liegt allein in der „Gebrechlichkeit“ der menschlichen Natur, also seiner möglichen Schwäche in der Ausübung der Tugend und der Möglichkeit moralische Stärke graduell zu erwerben. Ein Spielraum ergibt sich hierbei aus zwei Gründen:²⁸ Zum einen aufgrund der Opazität der eigenen Motive, denn „die Tiefen des menschlichen Herzens sind unergründlich“ (MS, AA VI, 447, vgl. GMS, AA IV, 407).Wir können uns über unsere eigenen motivationalen Gründe nie sicher sein. Insofern kann man nicht einmal mit Sicherheit sagen, ob unter ihnen nicht auch solche sind, die „bei anderer Gelegenheit wohl auch dem Laster zu Diensten stehen könnten“ (ebd.). Zum anderen können wir uns aber auch unserer Schwächen nie in Gänze bewusst sein, wir können unsere Stärke immer nur in Anbetracht von Hindernissen „schätzen“. Auch wenn die „Tugend (als sittliche Stärke der Maximen)“ daher formal ei Ferner wurde gezeigt, dass die Ethik deshalb, im Gegensatz zur Rechtslehre, einer Kasuistik bedarf. Bezeichnenderweise fügt Kant der hier behandelten Pflicht jedoch keine kasuistischen Fragen bei. Für ein endliches Vernunftwesen würde sich diesbezüglich dagegen gerade kein Spielraum ergeben. Wenngleich sich hinsichtlich der Anwendung der Maximen die den Gegenstand der Pflichten gegen andere konstituieren auch für ein solches Wesen Spielraum in der Anwendung auftun würde, da es als endliches Wesen nicht allwissend ist, bedarf es dazu nämlich ebenso der Urteilskraft.
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gentlich nur eine ist, so gibt es „in der That (subjectiv) aber eine Menge derselben von heterogener Beschaffenheit“ (MS, AA VI, 447). Die Materie auf die die Tugend hier Anwendung findet ist die jeweilige emotionale und motivationale Beschaffenheit der Akteurin und so ergibt sich dann „[e]ine Summe von Tugenden […], deren Vollständigkeit oder Mängel die Selbsterkenntnis uns nie hinreichend einschauen lässt“ (ebd.). Es scheint gar unmöglich zu sein, dass wir über vollkommene Stärke verfügen, insofern dürfte es „unmöglich“ sein, „nicht irgendeine Untugend“ (ebd.) zu finden. Gerade diese Möglichkeit verpflichtet uns aber dazu, unser Handeln stets kritisch zu reflektieren. Im Falle der Pflicht zur Selbstvervollkommnung ist es daher, wie es scheint, nicht die Urteilskraft, der es obliegt über die Anwendung einer Maxime zu entscheiden, sondern die Selbsterkenntnis, die darin besteht unser eigenes Handeln zu reflektieren und somit moralische Weiterentwicklung zu befördern. Letzteres stimmt dann auch damit zusammen, dass die Selbsterkenntnis nach Kant das erste Gebot aller Pflichten gegen sich selbst darstellt, „[d]ieses ist: Erkenne (erforsche, ergründe) dich selbst nicht nach deiner physischen Vollkommenheit (der Tauglichkeit oder Untauglichkeit zu allerlei dir beliebigen oder auch gebotenen Zwecke), sondern nach der moralischen in Beziehung auf deine Pflicht“ (MS, AA VI, 441). Nun können wir uns, wie eben festgestellt, hinsichtlich der Reinheit unsere Triebfedern bzw. der Reinheit unserer Tugendgesinnung niemals gewiss sein. Zielte das Gebot der Selbsterkenntnis auf dieselben, so wäre es doch fraglich, wie man dazu angehalten sein soll, etwas zu erkennen, das sich unserer Erkenntnis entzieht.²⁹ Die Selbsterkenntnis kann mithin nicht auf das noumenale Selbst zielen, sondern nur auf den empirischen Charakter, wie er sich uns in Handlungen offenbart. Worauf dann auch die beiden aus dem Gebot der Selbsterkenntnis folgenden Pflichten zielen: Unparteilichkeit in Beurtheilung unserer selbst in Vergleichung mit dem Gesetz und Aufrichtigkeit im Selbstgeständnisse seines inneren moralischen Werths oder Unwerths sind Pflichten gegen sich selbst, die aus jenem ersten Gebot der Selbsterkenntniß unmittelbar folgen. (MS, AA VI, 441 f.)
Die Selbsterkenntnis ist demnach mit Blick auf die erste Pflicht, also „die Unparteilichkeit in Beurtheilung unserer selbst in Vergleichung mit dem [moralischen, K.N.] Gesetz“, in erster Linie deskriptiv und nicht evaluativ; es geht um die angemessene Selbstbeschreibung, die unerlässlich ist, damit man sich selbst keiner Illusionen über die den eigenen Handlungen zugrundeliegenden Maximen, also die normativen Handlungsgründe, hingibt. Sie besteht also zunächst in Vgl. Ware 2009, 673 ff.
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der objektiven Beschreibung der eigenen Maximen, die die Zwecke repräsentieren, die man verfolgt, welche dann hinsichtlich ihrer Gesetzesfähigkeit geprüft werden müssen.³⁰ Entsprechend muss man erstens jene pflichtwidrigen Handlungen, für die man sich nicht verantwortlich fühlt, dahingehend kritisch reflektieren, ob es tatsächlich nicht in der eigenen Gewalt lag, anders zu handeln. Man darf sich zweitens aber insbesondere auch seine pflichtgemäßen Handlungen nicht unkritisch als moralisch gute Handlungen zuschreiben. Damit liefe man Gefahr, sich betrügerischen Selbstbeschreibungen hinzugeben; vielmehr muss man stets kritisch prüfen, ob sie nicht nur Ergebnis eines moralischen Zufalls sind (sei es aufgrund innerer oder äußerer Umstände). Drittens muss man aber auch seine vorgeblichen Maximen bzw. verfolgten Zwecke dahingehend prüfen, ob sich hierfür tatsächlich aktive Beweise im Handeln finden, oder ob es sich nicht vielmehr um „bloße Wünsche“ handelt, die „doch tatenleer sind und bleiben“ (MS, AA VI, 441). Geboten ist also eine objektive Selbstbeschreibung mit Blick auf die eigenen Handlungen und Maximen; es geht also um die Frage nach der Zurechenbarkeit einer Handlung (oder Unterlassung) zu einer Maxime und ist somit Aufgabe der Urteilskraft. Doch die, für die Erfüllung der unvollkommenen Pflicht gegen sich selbst erforderte, Selbsterkenntnis geht schließlich insofern über die, auch für die Anwendung von unvollkommenen Pflichten gegen andere notwendige, Urteilskraft hinaus, als dem Urteil die „Aufrichtigkeit im Selbstgeständnisse seines inneren moralischen Werths oder Unwerths“ (ebd.) folgen muss. Der Selbstbeschreibung muss also auch die Selbstkritik und somit gegebenenfalls die (mitunter schmerzhafte) Revidierung des Selbstbildes folgen. Nur wenn man konstant dazu bereit ist, sich seine eigenen Schwächen einzugestehen, sich auf die „Höllenfahrt des Selbsterkenntnisses“ (ebd.) einlässt, ist es überhaupt möglich, Tugendhaftigkeit anzustreben:³¹ [M]oralische Selbsterkenntniß […] ist aller menschlichen Weisheit Anfang. Denn die letztere, welche in der Zusammenstimmung des Willens eines Wesens zum Endzweck besteht, bedarf beim Menschen zu allererst die Wegräumung der inneren Hindernisse (eines bösen in ihm genistelten Willens) und dann die Entwickelung der nie verlierbaren ursprünglichen Anlage eines guten Willens in ihm […]. (MS, AA VI, 441)
Vgl. O’Hagan 2009, 526 ff. Vgl. Esser 2013, 287 f.
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4.3 Ein erstrebenswertes Ideal? – Zum Verhältnis von Pflicht und Neigung Nun haben wir im Vorhergehenden gesehen, dass das moralische Gesetz das Handlungsprinzip einer tugendhaften Person, d.i. einer Person mit gutem Willen, ausmacht. Die Tugendhafte bedarf ferner der Stärke, damit diese Gesinnung in moralisch wertvollen Handlungen zum Ausdruck kommt. Im Anschluss an die Erwägungen zur Pflichtanalyse im zweiten Kapitel lässt sich entsprechend beifügen, dass Handeln aus Pflicht die korrespondierende motivationale Struktur einer tugendhaften Akteurin darstellt. Doch bedeutet das, dass man nur im Falle mangelnder oder gar widerstreitender Neigungen aus Pflicht handeln kann? Und wenn ja, gebietet die Pflicht zur Selbstvervollkommnung dann tatsächlich moralkonforme Neigungen abzuschaffen? Wenn dieser weitverbreitete Einwand gegen die Kantische Ethik tatsächlich zutrifft, hätten wir es nicht nur mit einem höchst unattraktivem Ideal der Tugend zu tun, vielmehr scheint dies auch nicht mit den bisherigen Ausführungen zusammenzustimmen. Und doch finden sich nicht zuletzt im Rahmen der Beispiele, die Kant in der Pflichtanalyse in der Grundlegung bespricht, Textstellen, die eindeutig dafür zu sprechen scheinen, dass Kant durchaus der Ansicht ist, dass eine Handlung nur dann moralischen Wert hat, wenn sie allein aus Pflicht vollzogen wird und keinerlei Neigungen zu dieser Handlung vorliegen. Schauen wir hierzu beispielhaft Kants Diskussion der Wohltätigkeit an dieser Stelle an: Wohlthätig sein, wo man kann, ist Pflicht, und überdem giebt es manche so theilnehmend gestimmte Seelen, daß sie auch ohne einen andern Bewegungsgrund der Eitelkeit oder des Eigennutzes ein inneres Vergnügen daran finden […]. Aber ich behaupte, daß in solchem Falle dergleichen Handlung, so pflichtmäßig, so liebenswürdig sie auch ist, dennoch keinen wahren sittlichen Werth habe […] denn der Maxime fehlt der sittliche Gehalt, nämlich solche Handlungen nicht aus Neigung, sondern aus Pflicht zu thun. Gesetzt also, das Gemüth jenes Menschenfreundes wäre vom eigenen Gram umwölkt, […] und nun, da keine Neigung ihn mehr dazu anreizt, risse er sich doch aus dieser tödtlichen Unempfindlichkeit heraus, und thäte die Handlung ohne alle Neigung, lediglich aus Pflicht, alsdenn hat sie allererst ihren ächten moralischen Wert. (GMS, AA IV, 398, H.v.m.)
Demnach scheint Kant tatsächlich die These zu vertreten, dass einer Handlung nur dann moralischer Wert zukommt, wenn sie allein aus Pflicht und ohne das Vorliegen entsprechender Neigungen vollzogen wird. Sollten wir also tatsächlich entweder Kants Tugendkonzeption als unzulänglich zurückweisen müssen oder aber, entgegen der bisherigen Annahme, doch die Vereinbarkeit der Grundlegung und der Tugendlehre in Zweifel ziehen müssen? Das wäre in Anbetracht der Fülle
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an Interpretationsvorschlägen sicherlich zu voreilig, erwägen wir also zunächst die maßgeblichen Lösungsversuche. Einer naheliegenden und verbreiteten Lesart folgend, handelt es sich bei den Beispieldiskussionen der Grundlegung schlicht nicht um typische Handlungen aus Pflicht. Vielmehr diene die Pflichtanalyse dem Zweck, das moralische Gesetz ausfindig zu machen, weshalb es Kant an dieser Stelle keinesfalls darum gehe, eine vollständige Beschreibung moralischen Werts auszuarbeiten. Die Beispiele sollen demnach lediglich den Unterschied zwischen Handlungen aus Neigung und solchen aus Pflicht zu verdeutlichen.³² Und nur deshalb wähle Kant hier Fälle, in denen keine entsprechenden oder gar widerstreitende Neigungen vorliegen, denn derart lasse sich der besondere Wert des Handelns aus Pflicht am besten zeigen.³³ Mit anderen Worten: obzwar nur Handlungen aus Pflicht moralischen Wert haben, so doch nicht nur solche allein aus Pflicht. Doch diese Folgerung scheint keinesfalls vereinbar mit dem, was Kant sagt. Denn nicht nur im Rahmen der Pflichtanalyse spricht er davon, dass einer Handlung nur dann moralischer Wert zukommt, wenn sie „lediglich aus Pflicht“ getan wurde. Dieser Gedanke findet sich gar gleichsam in der Tugendlehre, etwa wenn Kant davon spricht, dass die „Pflicht [d.i. die zur Cultur der Moralität in uns, K.N.], den Werth seiner Handlungen nicht blos nach der Legalität, sondern auch der Moralität zu schätzen“ darin besteht, „darauf nach allem Vermögen auszugehen: daß zu allen pflichtmäßigen Handlungen der Gedanke der Pflicht für sich selbst hinreichende Triebfeder sei“ (MS, AA VI, 393, H.v.m.).³⁴ Einer zweiten Lesart folgend handelt es sich bei den Beispielen zwar tatsächlich um typische Handlungen aus Pflicht; jedoch sind Handlungen allein aus Pflicht nur ein spezieller Fall guten Handelns. Handlungen ohne entsprechende Neigungen sind demnach nur eine bestimmte (gar atypische) Ausdrucksart des
Denn wenngleich oder gerade weil es unmöglich ist „durch Erfahrung einen einzigen Fall mit völliger Gewißheit auszumachen, da die Maxime einer sonst pflichtmäßigen Handlung lediglich auf moralischen Gründen und auf der Vorstellung seiner Pflicht beruht habe“ (GMS, AA IV, 407), könne man in den Beispielfällen am ehesten davon ausgehen, dass aus Pflicht gehandelt wurde. Paton (1947, 47 f.) spricht hier von der Methode der Isolation. Diese Position findet sich ebenso bei Louden 1986, 487 und Korsgaard 1996b, 210. Letztere argumentiert an dieser Stelle dafür, dass die im Beispiel vorgestellte Person als völlig unreflektiert betrachtet werden muss, Handeln aus Pflicht aber einen reflektierten Standpunkt voraussetzt. Würde die in diesem Beispiel genannte Person daher ihre unmittelbare Neigung verlieren und trotzdem wohltätig sein, so würde das für diese Person zum ersten Mal die bewusste Anerkennung einer verbindlichen moralischen Forderung beinhalten. Und das sei in dieser spezifischen Situation der eigentliche Grund dafür, dass der Handlung an dieser Stelle zuallererst moralischer Wert zukommt und nicht etwa die Abwesenheit von Neigungen als solche. Vgl. auch MS, AA VI, 387, 391 und 394.
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guten Willens, wenngleich sein spezieller Wert in diesen Handlungen am besten erkennbar sei. Entsprechend sei es keinesfalls geboten, solche Situationen herbeizuführen, weshalb aus Kants Pflichtanalyse nicht folge, dass eine tugendhafte Akteurin keine der Pflicht entsprechenden Neigungen haben kann, sondern nur, dass ihre motivationale Struktur derart beschaffen sein muss, dass sie auch dann pflichtgemäß handelt, wenn keine entsprechenden Neigungen vorliegen.³⁵ Betrachten wir zwei Varianten dieser Lesart, um sie erörtern zu können: Die erste Variante basiert auf der Annahme, dass Kant den Umstand verkannt habe, dass Handlungen überdeterminiert sein können, eine Handlung also gleichermaßen durch Achtung und eine kooperierende Neigung motiviert sein könne, so dass beide Handlungsgründe für sich genommen stark genug gewesen wären, die Handlung hervorzubringen.³⁶ Selbst wenn man also davon ausgehe, dass einer solchen Handlung kein moralischer Wert zukommt, weil sie nicht allein aus Pflicht motiviert ist, so verfüge die Akteurin aber doch über eine wertvolle motivationale Verfassung; denn diese bestehe eben darin, dass die Achtung vor dem Gesetz stets stark genug sei, im Zweifelsfall (also in Anbetracht mangelnder oder widerstreitender Neigungen) allein zum Handeln zu motivieren. Diese Variante ist jedoch aus wenigstens drei Gründen problematisch: Zum einen scheint sie auf der Annahme zu basieren, dass man zwischen dem moralischen Wert von Handlungen und dem von Akteurinnen unterscheiden muss. Doch wie wir gesehen haben, scheint Kant eine solche Unterscheidung keinesfalls vorzunehmen, sondern überhaupt nur insofern am moralischen Wert von Handlungen interessiert zu sein, als diese die Ausdrucksweise des guten Willens darstellen.³⁷ Zum anderen wird hier eine empiristische Handlungstheorie unterstellt. Doch selbst wenn Kants Redeweise, etwa von der Stärke der Pflicht, bisweilen so klingen mag, geht er doch vielmehr davon aus, dass menschliches Handeln durch Prinzipien geleitet ist, nämlich entweder durch das Prinzip der Selbstliebe oder durch das moralische Gesetz. Daraus folgt aber, dass alle moralisch wertvollen Handlungen durch Pflicht bestimmt sein müssen, „der Gedanke der Pflicht hinreichend starke Triebfeder sei“ und nicht etwa hinreichend starke Triebfeder sein könnte.³⁸ Das ist in dieser Variante aber nicht der Fall, hier
Vgl. Wood 1999, 26 ff. und Baron 2004, 96 f. Diese Lesart vertritt Henson 1979, 42 ff. Vgl. Guyer 2000, 290. Wenn, wie wir oben gesehen haben, eine gesetzeskonforme Maxime etwa aufgrund von Angst vor Sanktionen befolgt wird, so ist das eben ein Fall von Handeln aus einer unlauteren Triebfeder. Es scheint daher auch kein Versäumnis zu sein, dass Kant Fälle überdeterminierter Handlungen nicht im Blick hat, vielmehr sind dies unter Voraussetzung seiner Handlungstheorie keine möglichen Handlungsbeschreibungen. Vgl. Baron 1995, 188 ff. und Wood 1999, 33 ff.
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ist das Pflichtmotiv nur insofern relevant, als tatsächlich keine (hinreichend starken) Neigungen zur Handlung vorliegen.³⁹ Schauen wir also, ob die zweite Variante zu überzeugen vermag. Diese basiert auf der Unterscheidung von primären und sekundären motivationalen Handlungsgründen.⁴⁰ Demzufolge können Neigungen durchaus als primäres Handlungsmotiv vorliegen, sofern das sekundäre Handlungsmotiv in der Achtung vor dem moralischen Gesetz besteht. Dieser sekundäre Handlungsgrund stellt dann eine limitierende Bedingung dar, die sicherstellt, dass die primären Handlungsgründe pflichtgemäß sind. Primäre Handlungsgründe werden demzufolge nur dann wirksam, wenn sie auch mit dem sekundären Handlungsgrund vereinbar sind. Folglich ist es nur dann erlaubt aus Neigung zu handeln, wenn diese dem moralischen Gesetz nicht zuwiderläuft. Handlungen allein aus Pflicht, wie Kant sie in den Beispielen anführt, sind dann solche, bei denen die Achtung auch das primäre Handlungsmotiv ausmacht, weil keine anderen primären Motive zu einer gebotenen Handlung vorhanden sind. Entsprechend sind zwar alle Handlungen eines guten Willens solche aus Pflicht, aber eben nicht unbedingt aus Pflicht als primärem Handlungsgrund. Nun ist hier, im Gegensatz zur ersten Variante, das moralische Gesetz als Handlungsprinzip in allen Handlungen präsent und relevant, da die primären Handlungsgründe immer einer Art Prüfung durch ein Prinzip unterzogen werden und ihre Zulässigkeit dadurch bestimmt wird. Und doch scheint es hier so, dass Neigungen, eben sofern sie legitim sind, eine Handlung motivieren können. Doch das scheint Kant gerade zu verneinen, denn wir handeln immer auf der Grundlage von Maximen, die durch ein Prinzip bestimmt sind. Eine Neigung kann demnach für sich keine Handlung verursachen, vielmehr sind die verursachenden Handlungsgründe die Folge eines Prinzips, welches den ersten Handlungsgrund darstellt.⁴¹ Dies deutet sodann auf eine dritte Lesart hin, die sich insbesondere unter Rekurs auf die Religionsschrift verteidigen lässt. Erst dort formuliert Kant explizit, dass sinnliche Zustände eben nicht direkt zum Handeln motivieren können, sondern nur sofern wir sie willentlich in unsere Maximen aufnehmen, uns also zum Handlungsgrund machen (vgl. RGV, AA VI, 23 ff.). Vor diesem Hintergrund mögen zwar Neigungen zu einer Handlung vorliegen, diese sind aber in motiva-
So etwa Guyer 2000, 292: „[…] Henson’s account threatens to remove respect for duty entirely from the causal loop of at least some apparently estimable performances of action by relegating it to the status of an alternative cause that could and would have kicked in if there had not been an adequate inclination […].“ Diese Lesart vertreten Baron 1995, 129 ff. und Herman 1993, 13 ff. Vgl. Guyer 2000, 293 ff.
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tionaler Hinsicht irrelevant und somit auch hinsichtlich des moralischen Werts der Handlung. Ob einer Handlung moralischer Wert zukommt, ist demnach allein davon abhängig, ob man seine Maxime entsprechend des moralischen Gesetzes bildet und sie sich auch deshalb zu eigen macht oder ob man sich dabei vom Prinzip der Selbstliebe leiten lässt. Denn wie wir oben schon gesehen haben, gibt es zwischen diesen beiden kein Mittleres; daraus folgt, dass man, sofern man aus Pflicht handelt, immer allein aus Pflicht handelt, ganz ungeachtet dessen, ob Neigungen zur Handlung vorliegen oder nicht. Wenngleich sich die Inkorporationsthese⁴² in der Grundlegung noch nicht explizit findet, so ist sie doch kompatibel mit den dortigen Erwägungen. Denn im Falle des Handelns aus Pflicht handelt man auf der Grundlage eines kategorischen Imperativs, anderenfalls auf der Grundlage eines hypothetischen Imperativs, wobei das erste „nur Abhängigkeit des Willens von Principien der Vernunft an sich selbst, das zweite von den Principien derselben zum Behuf der Neigung an[zeigt], da nämlich die Vernunft nur die praktische Regel angibt, wie dem Bedürfnis der Neigung abgeholfen werde“ (GMS, AA IV, 414 Fn). Diese Interpretation ist insofern adäquat, als sie sowohl eine Kohärenz zwischen Kants früheren und seinen späteren Schriften bekräftigt, als auch immun gegen den Einwand ist, dass die Tugendhafte keine der Pflicht entsprechenden Neigungen haben kann. Mehr noch, soll man zumindest seine natürlichen Neigungen auch nicht loswerden, diese müssen jedoch in richtiger Weise in Maximen inkorporiert werden: Natürliche Neigungen sind, an sich selbst betrachtet, gut, d. i. unverwerflich, und es ist nicht allein vergeblich, sondern es wäre auch schädlich und tadelhaft, sie ausrotten zu wollen; man muß sie vielmehr nur bezähmen […]. (RGV, AA VI, 58)
Ferner lässt sich nun im Einklang mit der ersten Lesart durchaus daran festhalten, dass Kant in der Pflichtanalyse keine gewöhnlichen Handlungen aus Pflicht zum Beispiel nimmt, um das Besondere des Handelns aus Pflicht herauszuarbeiten. Im Gegensatz zur ersten Lesart muss hierfür aber gerade nicht angenommen werden, dass Kant hier keine vollständige Analyse moralischen Werts liefert, sondern dass die Beispiele eben nur insofern ungewöhnlich sind, als man aufgrund der beschriebenen Umstände mit großer Wahrscheinlichkeit (wenn auch nicht mit Sicherheit) davon ausgehen kann, dass hier aus Pflicht gehandelt wurde. Hinsichtlich der motivationalen Beschaffenheit einer tugendhaften Akteurin sind sie dagegen nicht ungewöhnlich, denn diese besteht gerade darin, allein aus Pflicht zu handeln, ganz unabhängig davon, welche Neigungen sie hat. Entsprechend Der Terminus geht auf Allison 1990, 5 f. zurück.
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haben natürliche Neigungen als solche zwar keinen moralischen Wert, aber sie sind auch keinesfalls der „Feind“ (RGV, AA VI, 57) der Tugend. Sie geben mögliche Inhalte unseres Strebens vor, deren Form durch Prinzipien bestimmt wird.Werden sie nicht beherrscht, so können sie als (unbewusst) kultivierte Neigungen zu Hindernissen der Tugend werden, ein „sich hinter Vernunft verbergender Feind“ (ebd.). Daher lassen sich Neigungen nicht allein als passive Widerfahrnisse begreifen, es liegt durchaus in unserer Verantwortung, welche Neigungen wir haben. Daraus folgt aber nicht nur die Forderung gewisse Neigungen zu unterbinden, sondern zugleich, dass es einen positiven Wert haben kann, über gewisse Neigungen zu verfügen. Denn derart wird die Möglichkeit der Tugendausübung gar erweitert, indem zuallererst adäquate Inhalte des Strebens zur Verfügung stehen.
5 Die Ästhetik der Sitten And in the valley of deception That’s where I’ve gone Yes in the valley of deception That’s where I lied down. (Madrugada, Valley of Deception)
Soweit hat sich also gezeigt, dass die Tugend einerseits praktische Freiheit bzw. freie Willkür voraussetzt – diese besteht ihrer negativen Bestimmung nach darin, dass der Mensch, im Gegensatz zum Tier, nicht durch die Natur determiniert ist, und positiv besteht sie in der Fähigkeit, vernünftig, also prinzipienbasiert zu handeln. Allem Handeln liegt zwar eine Neigung (oder allgemeiner gesprochen eine Begierde) zugrunde, die aber in eine Maxime überführt wird, welche entweder durch das Prinzip der Selbstliebe oder das moralische Gesetz bestimmt ist – im ersten Fall gibt man der Maxime also die Form eines hypothetischen Imperativs, im zweiten Fall die Form des kategorischen Imperativs. Ferner unterliegt man im ersten Fall heteronomen Bestimmungsgründen, im zweiten Fall ist das Handeln dagegen autonom; es unterliegt der inneren Gesetzgebung nach einem Selbstzwang und ist somit grundlegend für die Verbindlichkeit ethischer Pflichten. Insofern ist der Mensch zwar grundsätzlich als praktisch frei zu betrachten, über innere Freiheit verfügt er dagegen nur, wenn er sich selbst durch die reine Vernunft bestimmt und insofern tugendhaft handelt. Obgleich Kant nun oftmals so zu sprechen scheint, als seien die Neigungen oder überhaupt unsere ganze sinnliche Natur ein Hindernis des moralischen Handelns und somit auch des Tugenderwerbs, hat sich im Vorhergehenden bereits gezeigt, dass er mit einem differenzierteren Bild operiert. Entsprechend wird hier zu prüfen sein, was die Kultur der Moralität in uns erfordert, einerseits mit Blick auf die Wegräumung möglicher innerer Hindernisse (5.1) und andererseits mit Blick auf die Kultivierung gewisser Anlagen (5.2). Abschließend wird zu erörtern sein, inwiefern die Herausstellung vermeintlich supererogatorischer Handlungen vor diesem Hintergrund eine Gefahr für die Selbstvervollkommnung darstellt (5.3). Wir bewegen uns mit diesem Teil der Untersuchung nun nicht mehr im eigentlichen Bereich der Metaphysik der Sitten, sondern dem der Ästhetik der Sitten, die „zwar nicht ein Theil, aber doch eine subjective Darstellung“ (MS, AA VI, 406) derselben ist, ohne die erstere keinen Eingang ins menschliche Gemüt finden würde. Es handelt sich hierbei also um die Anwendung auf die konkrete menschliche Natur und fällt somit in das Unterfangen der praktischen Anthropologie, „welche aber nur subjective, hindernde sowohl, als begünstigende, Bedingungen der Ausführung der Gesetze […] enthalten würde, und die nicht enthttps://doi.org/10.1515/9783110674729-008
5.1 Die Wegräumung der inneren Hindernisse
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behrt werden kann, aber durchaus nicht vor jener [der Metaphysik der Sitten, K.N.] vorausgeschickt, oder mit ihr vermischt werden muss“ (MS, AA VI, 217). Ganz entgegen des anders anmutenden Titels geht die Schrift Metaphysik der Sitten also in großen Teilen der Tugendlehre wesentlich über die Aufgabe der rationalen Begründung des Pflichtbegriffs hinaus und ist vielmehr mit den subjektiven Bedingungen der menschlichen Moralität befasst.
5.1 Die Wegräumung der inneren Hindernisse Nun haben wir im Vorhergehenden bereits gesehen, dass es insbesondere Affekte und Leidenschaften sind, die aus Kants Sicht innere Hindernisse darstellen, weshalb die innere Freiheit, Apathie und Herrschaft voraussetzt. Entsprechend bemerkt Kant zu Schluss von Abschnitt XIV der Einleitung zur Tugendlehre, dass die Pflichten der […] inneren Freiheit […] allein ethisch sind. – Daher muß diese [d.i. die innere Freiheit, K.N.] und zwar als Bedingung aller Tugendpflicht […] als vorbereitender Theil (discursus praeliminaris) vorangeschickt werden. […] Zur inneren Freiheit aber werden zwei Stücke erfordert: seiner selbst in einem gegebenen Fall Meister (animus sui compos) und über sich selbst Herr zu sein (imperium in semetipsum), d. i. seine Affecten zu zähmen und seine Leidenschaften zu beherrschen. (MS, AA VI, 407)
Demnach wird ersten klar, dass es der Stärke in Anbetracht zweier spezifischer Hindernisse bedarf, nämlich den Affekten und den Leidenschaften. Zweitens wird klar, dass es zwei Arten der Stärke bedarf, nämlich der Apathie (Meister) und der Selbstherrschaft (Herr). Nicht klar wird mithin, wie diese beiden Einteilungen zueinander stehen, was damit zusammenhängt, dass die Bezugnahme im letzten Nebensatz nicht eindeutig ist. Wir können das „d.i.“ entweder so verstehen, dass es sich auf beide Arten der Stärke bezieht, demnach würde die Apathie darin bestehen, seine Affekte zu zähmen, und die Herrschaft über sich selbst würde darin bestehen, seine Leidenschaften zu beherrschen. Wir können das „d.i.“ aber auch so verstehen, dass es sich nur auf die Herrschaft über sich selbst bezieht, und dann würde diese eben in der Zähmung der Affekte und der Beherrschung der Leidenschaften bestehen; worin die Apathie besteht, wäre dann an dieser Stelle noch offen. Und auch die beiden folgenden Abschnitte der Einleitung, in denen Kant der Überschrift nach zunächst die Herrschaft über sich selbst (XV) und dann die Apathie (XVI) behandelt, geben hierüber nicht unmittelbar Aufschluss. Zwar steigt Abschnitt XV zunächst mit einer terminologischen Klärung von Affekt und Leidenschaft ein, doch es verbleibt zunächst fraglich, ob sich diese nicht vielmehr als grundlegend für beide Abschnitte verstehen lässt. Ehe ich mich daher der Frage zuwende, worin Herrschaft und Apathie bestehen, werde ich in Anbetracht
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der Unklarheiten bezüglich der Einteilung im Folgenden zunächst von der Bestimmung der zwei Arten von Hindernissen ausgehen, und diese nicht zuletzt vor dem Hintergrund der Anthropologie erläutern.
5.1.1 Affekte Kant grenzt die Affekte zunächst grundlegend von den Leidenschaften ab, sie „sind wesentlich voneinander unterschieden; die erstern gehören zum Gefühl“ (MS, AA VI, 407) und es ist durchaus bemerkenswert, dass Affekte als eine Art von Gefühl bestimmt werden. Ausgehend von Kants Unterscheidung dreier Seelenvermögen, nämlich dem Erkenntnisvermögen, dem Gefühl der Lust und Unlust und dem Begehrungsvermögen, sind sie insofern „wesentlich“, also dem Wesen nach, von Leidenschaften zu unterscheiden, als letztere dem Begehrungsvermögen zuzurechnen sind. Gefühle können demnach sinnlich durch Einbildungskraft oder intellektuell durch Begriffe ausgelöst werden, Begierden beruhen dagegen auf dem Vermögen, einen Zustand herbeizuführen, also in der Wahl von Handlungen durch die freie Willkür. Das heißt aber auch, dass es zunächst naheliegend scheint, davon auszugehen, dass sich die Hindernisse der inneren Freiheit alleine in unseren Begierden finden lassen. Denn diese sind es ja, die wir in unsere Handlungsmaximen aufnehmen. Gefühle scheinen demnach gar keine Rolle beim Zustandekommen unserer Handlungen zu spielen. Wie kann ein Gefühl dann aber ein Hindernis der inneren Freiheit darstellen?¹ Das ist nur insofern möglich, als man sich die drei Vermögen nicht als voneinander unabhängig vorstellt und Wechselwirkungen zwischen ihnen als möglich betrachtet. Wenn Affekte also als ein Hindernis der inneren Freiheit verstanden werden sollen, setzt das wenigstens voraus, dass eine solche Wechselwirkung insofern möglich ist, als die Vorstellung einer von einer Handlung zu erwartenden Lust oder einer durch sie aufgehobenen Unlust Einfluss auf unser Begehrungsvermögen hat (vgl. KpV, AA V, 22 f. und MS, AA VI, 211).² Und mehr noch scheint mit Blick auf Affekte zu gelten, dass sie zu Leidenschaften werden können, denn dem hier genannten Beispiel eines Affekts, nämlich dem Zorn, stellt Kant im Folgenden den Hass als eine Leidenschaft entgegen, die damit verwandt zu sein
Und umgekehrt lässt sich dann natürlich auch fragen, inwiefern ihnen eine positive Rolle zukommen kann, warum Kant also davon ausgeht, dass die Kultur gewisser Gefühle gefordert ist, die der Tugend zuträglich sind. Vgl. Papish 2007, 129. Begierden sind immer mit Lust und Unlust verbunden, wogegen Gefühle zwar mit Begierden verbunden sein können, es aber nicht unbedingt sind, wie es denn bei ästhetischen Gefühlen der Fall ist.
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scheint (vgl. MS, AA VI, 408, für diese Gegenüberstellung siehe auch Anth, AA VII, 252). Verwandt scheinen sie ferner insofern, als sie sich beide negativ auf die vernünftige Selbstbestimmung auswirken, aber wie wir sehen werden, auf ganz unterschiedliche Art und Weise.³ Schauen wir uns dazu also zunächst an, inwiefern Kant die Affekte als eine besondere Art von Gefühl bestimmt: Affecte[n] […] gehören zum Gefühl, sofern es, vor der Überlegung vorhergehend, diese selbst unmöglich oder schwerer macht. Daher heißt der Affect jäh oder jach (animus praeceps), und die Vernunft sagt durch den Tugendbegriff, man solle sich fassen; doch ist diese Schwäche im Gebrauch seines Verstandes, verbunden mit der Stärke der Gemüthsbewegung, nur eine Untugend und gleichsam etwas Kindisches und Schwaches, was mit dem besten Willen gar wohl zusammen bestehen kann und das einzige Gute noch an sich hat, daß dieser Sturm bald aufhört. Ein Hang zum Affect (z. B. Zorn) verschwistert sich daher nicht so sehr mit dem Laster, als die Leidenschaft. (MS, AA VI, 407 f., H.v.m.)
Hiernach lassen sich drei Merkmale von Affekten ausmachen: Erstens sind sie „eine Schwäche im Gebrauch seines Verstandes“, nämlich insofern sie dem Gebrauch des Verstandes vorausgehen und ihn somit erschweren oder gar verhindern. Insofern ist der Affekt ein Gefühl, von dem man sich allzuleicht beherrschen lassen kann, denn „[e]r ist also übereilt, d. i. er wächst geschwinde zu einem Grade des Gefühls, der die Überlegung unmöglich macht (ist unbesonnen)“ (Anth, AA VII, 252). Der Affekt unterscheidet sich daher nicht durch seine Stärke von anderen Gefühlen (er kann vielmehr selbst unterschiedliche Stärkegrade annehmen), sondern dadurch, dass er „(mehr oder weniger) blind […]“ (Anth, AA VII, 253) macht, weil er mit einem „Mangel an Überlegung“ (ebd.) einhergeht. Man ist daher nicht unbedingt für den Affekt verantwortlich, wohl aber dafür angemessen mit ihm umzugehen. Zweitens sind Affekte starke aber kurzweilige Gemütsbewegungen, sie sind ein „Sturm“.⁴ Entsprechend können sie eine motivationale Kraft haben und diese kann entweder belebend oder hemmend sein; in jedem Fall steht sie aber der Ausführung einer Handlung aus Pflicht im Wege. Affekte können dabei durchaus einen kognitiven Gehalt haben, der uns allerdings
Wehofsits (2016, 39 ff.) argumentiert dafür, dass die scheinbar „deplatzierte Affekt-Analyse“ in der Anthropologie, nämlich im Teil über das Begehrungsvermögen und nicht in dem über das Fühlen, dies bestätigt. Entsprechend handele es sich hierbei keinesfalls um eine gestalterische Ungenauigkeit, sondern eine bewusste Gegenüberstellung, die eben in dieser Verwandtschaft begründet ist, welche darin besteht, dass die Affekte „mit den Leidenschaften […] oft vermengt zu werden pflegen und doch auch damit in naher Verwandtschaft stehen: so werde ich ihre Erörterung bei Gelegenheit dieses dritten Abschnittes vornehmen.“ (Anth, AA VII, 235) „Der Affect ist Überraschung durch Empfindung, wodurch die Fassung des Gemüths (animus sui compos) aufgehoben wird.“ (Anth, AA VII, 252)
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durch die momentane starke Gemütsbewegung im Moment seines Auftretens nicht bewusst ist, aber wir sind eben nur zeitweilig „blind“. Die Gefahr liegt daher darin, dass wir uns die kognitiven Gehalte nicht bewusst machen und impulsiv anstatt überlegt handeln (bzw. Handlungen unterlassen).⁵ Im Gegensatz zu Leidenschaften sind Affekte nicht grundsätzlich problematisch, sondern nur insofern wir zulassen, dass sie den Gebrauch unseres Verstandes behindern. Aufgrund ihrer motivationalen Kraft können sie gar eine bedingt positive Wirkung haben.⁶ Drittens begünstigen Affekte zwar Untugend, aber aufgrund ihrer Kurzweiligkeit kein Laster. Sie sind Ausdruck einer aktualen Schwäche der Ausübung des Selbstzwangs und nicht einer unmoralischen Maxime, weshalb sie „mit dem besten Willen gar wohl zusammen bestehen“ können, da sie diesen nicht dauerhaft untergraben. Sie sind unkontrollierte, zeitweilige Hindernisse in seiner Ausübung. Und das unterscheidet sie wesentlich von den Leidenschaften.
5.1.2 Leidenschaften Leidenschaften sind nach Kant nun „zur bleibenden Neigung gewordene sinnliche Begierde (z. B. der Haß im Gegensatz des Zorns)“ (MS, AA VI, 408). Wir sollten also zunächst sehen, wie sie sich von den Neigungen unterscheiden, ehe wir sie in Abgrenzung zum Affekt erläutern. Nun haben wir im Vorhergehenden schon gesehen, dass sie wie die Neigungen dem Begehrungsvermögen zugehören. Kant unterscheidet vier verschiedene Begierden, die ihrer Intensität nach aufsteigend sind: Die subjective Möglichkeit der Entstehung einer gewissen Begierde, die vor der Vorstellung ihres Gegenstandes vorhergeht, ist der Hang (propensio); – die innere Nöthigung des Begehrungsvermögens zur Besitznehmung dieses Gegenstandes, ehe man ihn noch kennt, der Instinct […]. – Die dem Subject zur Regel (Gewohnheit) dienende sinnliche Begierde heißt Neigung (inclinatio). – Die Neigung, durch welche die Vernunft verhindert wird, sie in An-
Vgl. Wehofsits 2016, 45 f. So legt es zumindest folgende Stelle der Anthropologie nahe: „Daß gleichwohl die Natur in uns die Anlage dazu eingepflanzt hat, war Weisheit der Natur, um provisorisch, ehe die Vernunft noch zu der gehörigen Stärke gelangt ist, den Zügel zu führen, nämlich den moralischen Triebfedern zum Guten noch die des pathologischen (sinnlichen) Anreizes, als einstweiliges Surrogat der Vernunft, zur Belebung beizufügen. […] es ist […] unweise ihn in sich vorsetzlich entstehen zu lassen.“ (Anth, AA VII, 253) Entsprechend heißt es auch in der Kritik der Urteilskraft: „Die Idee des Guten mit Affekt heißt Enthusiasmus.“ (KU, AA V, 272)
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sehung einer gewissen Wahl mit der Summe aller Neigungen zu vergleichen,⁷ ist die Leidenschaft (passio animi). (Anth, AA VII, 265; vgl. auch RGV, AA VII, 28)
Ebenso wie der Affekt also eine bestimmte Art von Gefühl ist, ist die Leidenschaft eine bestimmte Art von Begierde, die mit dem Affekt teilt, dass beide die Vernunft verhindern. Betrachtet man sie nun allerdings in Gegenüberstellung zum Affekt, so zeigt sich, dass sie hinsichtlich der drei genannten Merkmale des Affekts diesem genau entgegengesetzt ist: Die Ruhe, mit der ihr nachgehangen wird, läßt Überlegung zu und verstattet dem Gemüth sich darüber Grundsätze zu machen und so, wenn die Neigung auf das Gesetzwidrige fällt, über sie zu brüten, sie tief zu wurzeln und das Böse dadurch (als vorsätzlich) in seine Maxime aufzunehmen; welches alsdann ein qualificirtes Böse, d. i. ein wahres Laster, ist. (MS, AA VI, 408, H.v.m.)
Erstens gehen Leidenschaften demnach im Gegensatz zu Affekten nicht mit einem Mangel an Überlegung einher, vielmehr sind sie überlegt. Sie sind vorsätzlich gefasste Grundsätze (wenngleich das aus ihnen resultierende Handeln als unkontrolliert erscheint), die man in falscher Weise in seine Maxime inkorporiert hat und für die man entsprechend verantwortlich ist. Sie bestehen gerade darin, das eigene Handeln an einer Maxime der Selbstliebe zu orientieren und dieser Begierde im Konfliktfall somit stets Vorrang einzuräumen. Sie verhindern dadurch vernünftiges Handeln⁸ und somit eben auch moralisches Handeln. Gerade weil Leidenschaften ihren Weg durch den Verstand bahnen, sind sie zweitens langanhaltend, ihnen wird mit Ruhe „nachgehangen“. Sie behindern die Tugend nicht nur zeitweise, sondern untergraben sie dauerhaft. Entsprechend sind sie drittens bereits per definitionem Laster, die nicht mit einem guten Willen zusammenbestehen können, sondern im Menschen „große Verheerungen in seiner ursprünglich guten Anlage anrichten.“ (RGV, AA VI, 93) Wir sollten hier also zunächst festhalten, dass Kant eine sehr spezifische Definition von Leidenschaften zugrundelegt, die bei weitem nicht alles umfasst, was man alltagssprachlich als Leidenschaft bezeichnet.⁹ Leidenschaften lassen
Hierzu vgl. die parallele Bestimmung des Affekts als den „Mangel der Überlegung, dieses Gefühl mit der Summe aller Gefühle (der Lust oder Unlust) in seinem Zustande zu vergleichen.“ (Anth, AA VII, 254) Da sie die Vernunft sogar daran hindern, sie mit „der Summe aller Neigungen zu vergleichen“ (Anth, AA VII, 265), sind sie bereits unter instrumentellen Gesichtspunkten irrational. Hierzu im näheren Slaby 2003, 291 ff. Slaby (2013, 291) bezeichnet Kants Behandlung konkreter Affekte und Leidenschaften in der Anthropologie treffenderweise als ein „Kabinett der Alltagspathologien“.
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sich demnach als eine bestimmte Form selbstverschuldeter Unfreiheit verstehen (vgl. Anth, AA VII, 267).¹⁰ Vor diesem Hintergrund erscheint dann auch Kants Beurteilung der Leidenschaft weniger drastisch, etwa wenn er sagt: „Leidenschaft […] wünscht sich kein Mensch. Denn wer will sich in Ketten legen lassen, wenn er frei sein kann?“ (Anth, AA VII, 253) Und doch sind wir selbst diejenigen, die sich „in Ketten legen“, die wir überdies nur schwer loswerden. Wie lässt sich die Stabilität der Leidenschaften aber erklären, wenn sie tatsächlich so wenig wünschenswert sind? Sie machen uns nach Kant gar unglücklich, weil sie zu einer motivationalen Disharmonie führen, da wir uns doch gleichzeitig als vernünftige und mithin moralische Wesen wahrnehmen wollen: Weil indessen die Vernunft mit ihrem Aufruf zur innern Freiheit doch nicht nachläßt, so seufzt der Unglückliche unter seinen Ketten, von denen er sich gleichwohl nicht losreißen kann: weil sie gleichsam schon mit seinen Gliedmaßen verwachsen sind. (Anth, AA VII, 267)
Entsprechend wäre es ein Fehler, davon auszugehen, dass diejenige, die sich ihrer Leidenschaft hingibt, als Amoralistin zu begreifen ist; vielmehr kann auch sie die Verbindlichkeit des moralischen Gesetzes nicht gänzlich ignorieren. Mit anderen Worten: Bei einer Person, die freiwillig ihre Freiheit aufgibt, muss vorausgesetzt werden, dass sie überhaupt dazu in der Lage ist, frei zu sein, und insofern die Voraussetzungen erfüllt, überhaupt moralisch verbunden zu werden (sonst hätte man es tatsächlich mit einer Pathologie zu tun). Sie hat wie „jeder Mensch, als sittliches Wesen“, ein Gewissen „ursprünglich in sich“ (MS, AA VI, 400), aber „kehrt sich nicht an den Ausspruch desselben“ (ebd.). Und doch verschafft das Gewissen sich „dann und wann“ Gehör, es „folgt ihm wie sein Schatten, wenn er zu entfliehen gedenkt“ (MS, AA VI, 438). Und paradoxerweise ergibt sich gerade aus diesem gefühlten Unglück nicht unbedingt ein Anreiz, die Leidenschaft aufzugeben, sondern unter Umständen vielmehr ein Anreiz diese zu stabilisieren, indem man sich selbst über den eigenen Zustand betrügt.¹¹ Nun unterscheidet Kant bereits in der Grundlegung zwei Formen des Selbstbetrugs: Zum einen den „Hang wider jene strengen Gesetze zu vernünfteln […] und sie womöglich unseren Wünschen und Neigungen angemessener zu machen“ Während man also bei Affekthandlungen, für die Handlung bzw. deren Unterlassung in gewissem Maße verantwortlich gemacht werden kann, so ist die leidenschaftliche Akteurin, sofern sie als unfrei betrachtet werden muss, zwar nicht direkt für ihre jeweilige Handlung verantwortlich, wohl aber indirekt, da sie dafür verantwortlich ist, einen Zustand herbeigeführt zu haben, in dem sie unvermögend ist, moralisch zu handeln. Wehofsits (2016, 93) spricht diesbezüglich treffenderweise von der „tragische[n] Pointe der Selbsttäuschung“, die darin besteht, „dass ausgerechnet der Wunsch, sich als moralischer Akteur zu verstehen, das wichtigste Motiv für die scheinbare Legitimierung der Leidenschaft darstellt.“
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(GMS, AA IV, 405). Diese Form der Rationalisierung der eigenen Handlungen kommt etwa dort ins Spiel, wo man eine Handlung im Nachhinein keiner ehrlichen Überprüfung unterzieht, sondern sie vielmehr „schönredet“. Hier wird also die Verbindlichkeit des moralischen Gesetzes herabgesetzt, was der aus dem Gebot der Selbsterkenntnis folgenden Pflicht zur „Unparteilichkeit in Beurteilung unserer selbst im Vergleichung mit dem Gesetz“ (MS, AA VI, 441) zuwiderläuft. Rechtfertigt man also seine Affekthandlungen oder Handlungen aus Neigung anstatt sie kritisch zu überprüfen, so findet sich hierin durchaus die Wurzel der Entstehung von Leidenschaften. Hinsichtlich der Stabilisierung der Leidenschaft haben wir es dagegen mit einer anderen Form des Selbstbetrugs zu tun, nämlich der Aufwertung der Leidenschaft dadurch, dass sie als „geheimer Antrieb der Selbstliebe, unter der bloßen Vorspiegelung jener Idee [eines moralischen Grundes, K.N.], die eigentliche bestimmende Ursache des Willens gewesen sei, dafür wir denn gerne uns mit einem uns fälschlich angemaßten edlern Bewegungsgrunde schmeicheln“ (GMS, AA IV, 407). Man modifiziert die eigene Wahrnehmung der Leidenschaft also dahingehend, dass man sie fälschlicherweise als in Harmonie mit dem moralischen Gesetz betrachtet, wodurch man sich erlaubt, die Leidenschaft beizubehalten, ohne das damit einhergehende Unglück zu fühlen.¹² Somit verstößt man gegen die aus dem Gebot der Selbsterkenntnis folgende Pflicht der „Aufrichtigkeit im Selbstgeständnis“ (MS, AA VI, 441). Wenn der Affekt also im Moment seines Auftretens blind sein mag, so droht die Leidenschaft einen gänzlich erblinden zu lassen, und zwar durch Überlegung und nicht durch aufwallende Gefühle. Während diejenige, die im Affekt handelt dies im Nachhinein zwar erkennen kann (aber eben nicht muss), läuft die aus Leidenschaft Handelnde Gefahr, die epistemischen Bedingungen zu untergraben, die Leidenschaften überhaupt noch als solche zu erkennen. In der Tugendlehre diskutiert Kant diese Phänomene interessanterweise unter den Lastern, die der vollkommenen Pflicht gegen sich selbst in moralischer Hinsicht entgegengesetzt sind. Nämlich einerseits als innere Lüge, die gerade darin besteht, dass man sich glauben macht, man handele aus moralischen Motiven, obwohl man nach dem Prinzip der Selbstliebe handelt (vgl. MS, AA VI, 429).¹³ Und andererseits als „Eigendünkel“¹⁴, der in einer falschen Art der Selbstschätzung besteht (MS, AA VI, 437).¹⁵ Beides sind Arten, die eigene Rationalität zu unterlaufen und somit die Moralität in sich zu bekämpfen. In der Kritik
Vgl. Louden 2006, 91 f. und Wood 1999, 44 f. Hierzu siehe etwa Baron 1995, 196 f, 216; Potter 2002, 385 ff.; Wood 2008, 255 ff. Hierzu siehe ebenfalls KpV, AA V, 73 ff. Hierzu siehe etwa Moran 2014, 429 ff.
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der praktischen Vernunft unterscheidet Kant in ähnlicher Weise zwischen Eigenliebe und Eigendünkel. Wobei erstere die „Selbstliebe, eines über alles gehenden Wohlwollens gegen sich selbst“ und zweitere die Selbstliebe „des Wohlgefallens an sich selbst“ ist. Während das moralische Gesetz (bzw. unsere Vergleichung mit demselben) der Eigenliebe zwar „Abbruch“ tun muss, so muss sie den Eigendünkel gar niederschlagen, denn „die Gewißheit einer Gesinnung, die mit diesem Gesetze übereinstimmt, [ist] die erste Bedingung alles Werths der Person“ (KpV, AA V, 73). Mithin bedarf die Begegnung des Eigendünkels (und somit der Leidenschaften) also zuallererst eine Revolution der Denkungsart.
5.1.3 Apathie und Herrschaft Vor dem Hintergrund der dargelegten Gegensätzlichkeit von Affekten und Leidenschaften scheint es nun naheliegend zu sein, dass man ihnen auf verschiedene Art begegnen muss, was nun zumindest schon dafür sprechen würde, dass den Affekten mit Apathie zu begegnen ist und den Leidenschaften mit Herrschaft. Schauen wir also, ob sich diese Zuordnung bestätigt. Apathie meint weder „Fühllosigkeit“ noch „Gleichgültigkeit in Ansehung der Gegenstände der Willkür“, sie bezieht sich also nicht auf die Abwesenheit jeden Gefühls. Vielmehr ist „diejenige Affektlosigkeit, die von der Indifferenz zu unterscheiden ist, die moralische Apathie“ (MS, AA VI, 408, H.v.m.). Somit ist die Apathie eine bestimmte Art der Affektlosigkeit, die also nicht einmal auf die Abschaffung aller Affekte zielt, sondern darin besteht, dass „die Gefühle aus sinnlichen Eindrücken ihren Einfluß auf das moralische nur dadurch verlieren, daß die Achtung fürs Gesetz über sie insgesammt mächtiger wird.“ (ebd.) Apathie muss also vorausgesetzt werden, damit Affekte keine Hindernisse der inneren Freiheit darstellen. Was denn auch damit zusammenstimmt, wie Kant die Stärke der Tugend in diesem Zusammenhang beschreibt: Die wahre Stärke der Tugend ist das Gemüth in Ruhe mit einer überlegten und festen Entschließung ihr Gesetz in Ausübung zu bringen. (MS, AA VI, 408)
In Anbetracht der stürmischen Natur der Affekte muss man ihnen in Ruhe begegnen, denn „[w]as der Affect des Zorns nicht in der Geschwindigkeit thut, das thut er gar nicht“ (Anth, AA VII, 252). Die Apathie zielt also nicht darauf, die Affekte abzutöten, sondern allein darauf, dass sie uns nicht in unserer Vernunftausübung behindern, also „in einem gegebenen Fall Meister“ (MS, AA VI, 407) zu sein. Sie versetzt uns in die Lage, in Distanz zum Affekt zu treten und seinen kognitiven Gehalt somit der Überlegung zugänglich zu machen. Gefordert ist
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demnach ein vernünftiger Umgang mit den eigenen Affekten. Und gerade das ist hinsichtlich der Leidenschaften aufgrund des mit ihnen verbundenen Rationalisierungsprozesses nicht ohne weiteres möglich. Deshalb kann man ihnen nicht mit Apathie begegnen, sondern wäre ihnen noch immer ausgeliefert. Wenn die moralische Apathie also dem Affekt zuzuordnen ist, folgt daraus dann, dass die Herrschaft über sich selbst der Leidenschaft zuzuordnen ist? Und wenn ja, worin besteht diese? Kants Ausführungen hierzu fallen äußerst knapp und weniger instruktiv aus, als die zur Apathie: Die Tugend also, so fern sie auf innerer Freiheit gegründet ist, enthält für die Menschen auch ein bejahendes Gebot, nämlich alle seine Vermögen und Neigungen unter seine (der Vernunft) Gewalt zu bringen, mithin der Herrschaft über sich selbst, welche über das Verbot, nämlich von seinen Gefühlen und Neigungen sich nicht beherrschen zu lassen, (der Pflicht der Apathie) hinzu kommt: weil, ohne daß die Vernunft die Zügel der Regierung in ihre Hände nimmt, jene über den Menschen den Meister spielen. (MS, AA VI, 408, H.v.m.)
Nun ist an dieser Passage (die sich der Bestimmung der Leidenschaft anschließt) erstens bemerkenswert, dass hier von Leidenschaften gar nicht die Rede ist; die Herrschaft besteht darin, alle „Vermögen und Neigungen“ unter die Gewalt der Vernunft zu bringen. Zweitens ist auffällig, das mit Blick auf die Apathie davon die Rede ist, dass man sich von „Gefühlen und Neigungen“ nicht beherrschen lassen soll, obwohl die Apathie, wie wir eben gesehen haben, im Anschluss daran als Affektlosigkeit bestimmt wird. Und drittens ist auffällig, dass Kant davon spricht, dass ohne die Herrschaft über sich selbst, „jene über den Menschen den Meister spielen“, das Attribut „Meister“ aber dasjenige ist, das einleitend der Apathie zugeordnet wurde. Ich denke, diese Auffälligkeiten lassen sich erklären, wenn man zunächst tatsächlich davon ausgeht, dass die Herrschaft über sich selbst den Leidenschaften zugeordnet werden muss. Jedoch darf man die Leidenschaften nicht als das einzige Objekt der Herrschaft verstehen, vielmehr kann die Herrschaft insbesondere als eine Art von Kultivierung der eigenen Natur betrachtet werden, die vorausgesetzt werden muss, damit erst gar keine Leidenschaften entstehen.¹⁶ Denn wie wir anfangs festgestellt haben, geht es Kant an dieser Stelle darum, die zwei Voraussetzungen zu bestimmen, die zur inneren Freiheit „erfordert“ werden.¹⁷ Insofern geht es hier nicht unbedingt um den Umgang mit konkreten
Ebenso muss man für die Apathie eigentlich sagen, dass nicht die Affekte ihr Objekt sind, sondern das Objekt ist vielmehr die eigene Gemütsruhe. Wenngleich genau an dieser Stelle auch die Wurzel des Missverständnisses zu finden ist, denn einleitend spricht Kant tatsächlich davon, dass man seine Leidenschaften beherrschen muss.
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Hindernissen als einem Objekt der Tugend.¹⁸ Entsprechend könnte man nun sagen, die Apathie ist die Affektlosigkeit, und die Herrschaft ist die Leidenschaftslosigkeit. Nun macht erstere es nicht notwendig, keine Affekte zu haben, sondern nur sich nicht durch sie bestimmen zu lassen. Das ist mit Blick auf Leidenschaften aber nicht möglich, sie bestimmen einen zwangsläufig, so dass Leidenschaftslosigkeit tatsächlich bedeuten muss, keine Leidenschaften zu haben. Betrachten wir die Auffälligkeiten nun vor diesem Hintergrund, so wird erstens klar, warum Kant hier alle Vermögen und Neigungen als Objekt der Herrschaft bezeichnet, denn wie wir gesehen haben, entstehen Leidenschaften durch einen Prozess, der alle Vermögen mit einschließt: nämlich die Neigung, aus der sich eine Leidenschaft entwickeln kann, an deren (Re)Produktion das Gefühl der Unlust und der Verstand maßgeblich beteiligt sind. Deshalb bedarf es der Führung aller drei durch die Vernunft, damit keine Leidenschaften entstehen. Damit erklärt sich dann auch zweitens, warum Kant an dieser Stelle mit Blick auf die Apathie Gefühle und Neigungen vor Augen hat. Nicht nur können beide Anreize für untugendhaftes Handeln bieten, welches es zu unterbinden gilt, beide können auch die Wurzel einer Leidenschaft und somit eines Lasters sein. Neigungen und Gefühle sind somit zwar einerseits etwas, was einem widerfährt, im Moment des Auftretens ist man nur für die angemessene Reaktion verantwortlich. Auf lange Sicht ist man aber auch dafür verantwortlich seine Gefühle und Neigungen derart zu formen, dass sie nicht in Leidenschaften umschlagen können, wodurch sie sich der Führung durch die Vernunft entziehen würden. Womit sich dann auch die dritte Auffälligkeit klärt, denn Leidenschaften scheinen in gewisser Weise apathisch auf die Vernunft zu reagieren; sie agieren in Ruhe und mit festem Gemüt, weshalb es heißt, dass Neigungen und Gefühle sonst Meister werden. Hier zeichnet sich also ein Antagonismus von Herrschaft und Apathie ab – Affekte können beherrschen, daher bedarf es der Apathie, Leidenschaften sind apathisch, daher bedarf es der Herrschaft – und doch ist beides Voraussetzung für Tugendhaftigkeit, welche anzustreben Pflicht ist. Denn wie sich gezeigt hat, führt ein Mangel an Herrschaft über sich selbst zum „Laster (als Widerspiel der Tugend)“ (vgl. MS, AA VI, 384) und gefährdet somit die lautere Tugendgesinnung als Vermögen überhaupt moralisch handeln zu können. Ein Mangel an Apathie ist dagegen nur „negative Untugend (moralische Schwäche)“ (ebd.) und steht somit
Goy (2013, 203 f.) geht dagegen davon aus, dass Affekte und Leidenschaften die Objekte der Herrschaft über sich selbst sind, aufgrund deren unterschiedlicher Beschaffenheit man erwarten müsste, dass es zwei Arten von Herrschaft bedarf um diesen zu begegnen. Dadurch läuft ihre Interpretation an dieser Stelle auf die Kritik hinaus, dass Kant allerdings nichts dazu sage, wie diese beherrscht werden können.
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zwar auch der Ausübung der Tugend im Weg, aber macht diese nicht gänzlich unmöglich.
5.2 Die Entwicklung der nie verlierbaren ursprünglichen Anlage eines guten Willens Wenngleich nach Kants Ansicht moralische Gesetze ebenso wie die daraus resultierenden Pflichten zwar gänzlich a priori aus der Vernunft begründet werden müssen, um absolute Gültigkeit zu haben, so lässt sich spätestens mit Blick auf das Triebfedern-Kapitel der zweiten Kritik klarerweise aufzeigen, dass dem Gefühlsvermögen in der Kantischen Ethik eine zentrale Rolle zukommt. Genauer gesagt ist es das Gefühl der Achtung für das moralische Gesetz, das eine zentrale Rolle spielt, in der Beantwortung der dort aufgeworfenen Frage, wie das objektive Gesetz der praktischen Vernunft beim Menschen als sinnlich-vernünftigem Wesen auch subjektiv praktisch werden könne. Mit Blick auf die Tugendlehre lässt sich indes eine Erweiterung der für menschliche Moralität relevanten Gefühle feststellen, was sich am prägnantesten in Abschnitt XII der Einleitung zur Tugendlehre zeigt, der den Titel „Ästhetische Vorbegriffe der Empfänglichkeit des Gemüths für Pflichtbegriffe überhaupt“ trägt. Womit denn auch schon angedeutet ist, dass das Erkenntnisinteresse hier etwas anders gelagert sein dürfte als im Triebfedern-Kapitel. Kant behandelt hier gleich vier „moralische Beschaffenheiten“, nämlich „das moralische Gefühl, das Gewissen, die Liebe des Nächsten und die Achtung für sich selbst (Selbstschätzung)“ (MS, AA VI, 399). Wie ist es aber nun zu verstehen, dass es sich hierbei um „ästhetische Vorbegriffe“ handelt, und welche Funktion erfüllen sie? Warum handelt es sich ausgerechnet um diese vier „Beschaffenheiten“? In welchem Verhältnis stehen sie zueinander und in welchem Verhältnis (wenn überhaupt) stehen sie zum Tugendbegriff oder zu der Systematik der Tugendpflichten? All das liegt bei der Lektüre des Abschnitts nicht eindeutig auf der Hand, scheint aber mit Blick auf die Frage, welche Rolle die Kultur der eigenen Gefühle und Neigungen im Prozess der Selbstvervollkommnung spielt, zumindest einer ansatzweisen Klärung zu bedürfen. Hierfür scheint es sinnvoll, zuerst die äußerst knappen einleitenden Bemerkungen zu den ästhetischen Vorbegriffen überhaupt zu erörtern und dann die einzelnen Beschaffenheiten vor dem Hintergrund ihrer systematischen Verortung innerhalb der Tugendlehre zu betrachten.
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5.2.1 Die ästhetischen Vorbegriffe im Allgemeinen Bei den ästhetischen Vorbegriffen handelt es sich um „subjective Bedingungen der Empfänglichkeit für den Pflichtbegriff, [die] nicht als objective Bedingungen der Moralität zum Gunde liegen.“ (MS, AA VI, 399) Wir haben es also mit bestimmten in der empirischen Natur des Menschen begründeten Voraussetzungen zu tun, über die ein jeder Mensch nicht nur verfügt, sondern gar verfügen muss, um überhaupt einer inneren Gesetzgebung fähig zu sein. Weshalb „es auch keine Pflicht geben kann sich in ihren Besitz zu setzen“ (ebd.). Diese machen den Menschen also erst zum genuin moralischen Wesen und zwar nicht nur qua seiner vernünftigen Natur. Kant scheint hiermit auf das Problem der Angemessenheit moralischer Pflichten in Anbetracht der empirischen Bedingungen des Menschen als Adressat derselben einzugehen und trägt somit der Frage der Bedingung ihrer praktischen Verwirklichung Rechnung.¹⁹ Doch wie haben wir es zu verstehen, dass der Mensch diese Gefühle bereits haben muss, um überhaupt moralisch (und nicht nur pflichtgemäß) handeln zu können? Das mutet zunächst höchst unplausibel an, denn es scheint ja keineswegs abwegig, dass jemand diese Gefühle nicht hat. Da es nun aber keine Pflicht gibt, diese Gefühle zu haben, würde das konsequenterweise darauf hinauslaufen, dass Personen, auf die das zutrifft, dem moralischen Gesetz nicht mehr unterworfen sind. Das würde jedoch der Allgemeingültigkeit desselben zuwiderlaufen. Schaut man sich Kants weitere Erörterung an, so lässt sich dieses Problem jedoch auflösen: Sie sind insgesammt ästhetisch und vorhergehende, aber natürliche Gemüthsanlagen (praedispositio) durch Pflichtbegriffe afficirt zu werden; welche Anlagen zu haben nicht als Pflicht angesehen werden kann, sondern die jeder Mensch hat und kraft deren er verpflichtet werden kann. (ebd.)
Hier wird erstens deutlich, dass es sich um Anlagen oder Prädispositionen des Gefühlsvermögens handelt. Gemeint ist hier also zunächst nicht das tatsächliche Vorliegen eines Gefühls, sondern allein die Disposition, ein solches zu empfinden, d.i. die Affizierbarkeit des Gefühlsvermögens durch Pflichtbegriffe. Diese zu haben ist zunächst die Voraussetzung dafür, dass man durch Pflichtbegriffe nicht nur erkennen kann, welche Handlungen geboten sind, sondern sich durch dieselben auch subjektiv genötigt fühlen kann, weil sie gleichermaßen das Gefühl affizieren.²⁰ Da es sich hierbei um natürliche Anlagen handelt, und nicht um Vgl. Recki 2001, 304. Vgl. Baum 2014, 103.
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Resultate menschlicher Handlungen, wird zweitens deutlich, warum sie zu haben keiner moralischen Verpflichtung unterliegen kann. Ihre Kultivierung hingegen ist ein Gegenstand der Verpflichtung, wie sich in der Erörterung der einzelnen Anlagen zeigt. Sofern nun eine Affizierung dieser Anlagen stattfindet, also das konkrete Gefühl hervorgerufen wird, haben wir es nicht mit empirischen, sondern mit vernunftgewirkten Gefühlen zu tun, welche allein auf die Vorstellung eines Begriffs folgen können: Das Bewußtsein derselben [Pflichtbegriffe, K.N.] ist nicht empirischen Ursprungs, sondern kann nur auf das eines moralischen Gesetzes, als Wirkung desselben aufs Gemüth, folgen. (MS, AA VI, 399)
Hier wird nun deutlich, dass alle vier Anlagen dadurch miteinander verbunden sind, dass sie durch den gleichen Vernunftbegriff affizierbar sind; sie sind allesamt eine Folge der Wirkung des moralischen Gesetzes, oder genauer gesagt des Bewusstseins des moralischen Gesetzes. Dieses Bewusstsein ist jedoch, wie sich in der Behandlung der einzelnen Anlagen deutlicher zeigt, unauflöslich mit dem Handeln verbunden und keine Folge reiner Erkenntnis des moralischen Gesetzes; wir müssen es vielmehr praktisch erfahren und (an)erkennen. Aber warum bewirkt das eine moralische Gesetz nach Kants Ansicht nunmehr nicht, wie noch in der Kritik der praktischen Vernunft angenommen, nur ein Gefühl, nämlich die Achtung vor eben diesem Gesetz? Schaut man den hier betrachteten Abschnitt genauer an, so fällt auf, dass Kant zu Beginn auch davon spricht, dass es sich bei diesen Anlagen um „subjective Bedingungen der Empfänglichkeit für den Pflichtbegriff“ (H.v.m) handelt. Im Folgenden spricht er hingegen davon, dass diese „Gemüthsanlagen durch Pflichtbegriffe afficirt“ (H.v.m.) werden. Und auch der eben angeführte letzte Satz der Einleitung des Abschnitts nimmt auf den Plural Bezug, er handelt vom „Bewußtsein derselben“ (H.v.m.). Nur unter Rücksichtnahme auf eine Mehrzahl an Pflichtbegriffen erklärt sich dann anscheinend auch, dass es eine Mehrzahl an Anlagen bedarf. Es ist nun naheliegend, dass die anfängliche Verwendung auf den formalen Pflichtbegriff verweist, der nur ein einziger ist, nämlich die Notwendigkeit einer Handlung aus Achtung vor dem moralischen Gesetz. Die anschließende Verwendung der Pflichtbegriffe hingegen auf die Mehrzahl materialer Pflichten verweist, also der auf Zwecken basierenden Systematik der in der Tugendlehre dargelegten Pflichten. Da das eine moralische Gesetz aber in verschiedenen Pflichten zum Ausdruck kommt, könnte es demnach unterschiedliche Gefühle hervorrufen. Entsprechend wäre es auch nachvollziehbar, dass Kant erst in der Tugendlehre eine Mehrzahl
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solcher Gefühle in den Blick nimmt. Es handelt sich hier eben um die subjektive Darstellung der in der Tugendlehre dargelegten objektiven Pflichten.
5.2.2 Die vier moralischen Beschaffenheiten im Einzelnen Mithin stellt sich dann aber immer noch die Frage, warum es sich dabei um genau vier Anlagen handeln muss und welches die verschiedenen Pflichtbegriffe sind, denen sie entsprechen. Nun wäre es bei dieser Anzahl natürlich naheliegend, dass es sich hierbei um die vier Arten von Pflichten handelt, wie sie in der Elementarlehre behandelt werden, also die vollkommenen und die unvollkommenen Pflichten gegen sich selbst, sowie die Achtungs- und Liebespflichten gegen andere; oder alternativ anstatt der beiden letztgenannten auch um die vollkommenen und unvollkommenen Pflichten gegen andere, womit man dann die Rechtspflichten als indirekt-ethische Pflichten mit abgedeckt hätte. Doch mit Blick auf die vier behandelten Beschaffenheiten – das moralische Gefühl, das Gewissen, die Menschenliebe und die Achtung als Selbstschätzung – scheint das keinesfalls einleuchtend zu sein. Denn wenigstens die beiden erstgenannten scheinen sich einer solchen Zuordnung zu entziehen und vielmehr auf die Pflicht überhaupt zu gehen. Inwiefern lässt sich diese Einteilung dann aber mit Blick auf die Tugendlehre begründen?²¹ Dieses Problem lässt sich, so denke ich, auflösen, wenn man eine andere Einteilung zugrundelegt, nämlich das von Kant im vorhergehenden Abschnitt XI (MS, AA VI, 398) der Einleitung dargelegte Schema der Tugendpflichten. Dieses Schema unterscheidet anhand zweier Einteilungskriterien, nämlich das Formale im Gegensatz zum Materialen der Tugendpflicht und die innere im Gegensatz zur äußeren Tugendpflicht, vier Arten von Pflichtbegriffen: In Anbetracht des Materialen der Tugendpflicht ist es (1) innere Tugendpflicht, sich die eigene Vollkommenheit zum Zweck zu machen („eigener Zweck, der mir zugleich Pflicht ist“).
Baum (2014, 115) vertritt dagegen die Ansicht, dass das Einteilungsprinzip gar nicht in der Tugendlehre selbst zu suchen sei, sondern im „Grundschema der Urteils- und Kategorientafeln: Die moralische Beschaffenheit des Menschen ist eine natürliche Gemütsanlage, die (1) der Quantität nach als moralisches Gefühlsvermögen subjektive Allgemeingültigkeit für alle Menschen hat, (2) der Qualität nach als Gewissen das Vermögen bejahender und verneinender Urteile über die Pflichterfüllung des Menschen ist, (3) der Relation nach als natürliche Liebe des Nächsten sich auf das Verhältnis der Menschen zueinander (als Mitmenschen) bezieht und (4) der Modalität nach als Achtung für sich selbst die subjektiv notwendige Bedingung der Möglichkeit der Erkenntnis aller meiner Pflichten als meiner ist.“
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(2) äußere Tugendpflicht, sich die Glückseligkeit anderer zum Zweck zu machen („Zweck anderer, dessen Beförderung mir zugleich Pflicht ist“). In Anbetracht des Formalen der Tugendpflicht ist es (3) innere Tugendflicht, dass das Gesetz zugleich Triebfeder ist („Worauf die Moralität der freien Willensbestimmung beruht“) (4) äußere Tugendpflicht, dass die Maxime durch die obligatorischen Zwecke bestimmt ist („Worauf die Legalität aller freien Willensbestimmung beruht“) Das oben aufgeworfene Problem lässt sich nun wie folgt lösen: Dem Formalen der Tugendpflicht, oder anders gesagt der Tugend, lassen sich nun das moralische Gefühl, als affizierbar durch die entsprechende innere Tugendpflicht (3), und das Gewissen, als affizierbar durch die entsprechende äußere Tugendpflicht (4), zuordnen. Dem Materialen der Tugendpflicht, also den Tugendpflichten, lassen sich dagegen die Menschenliebe, als affizierbar von der entsprechenden äußeren Tugendpflicht (2), und die Achtung für sich selbst, als affizierbar durch die entsprechende innere Tugendpflicht (1), zuordnen.²²
Das moralische Gefühl Das moralische Gefühl führt Kant als „die Empfänglichkeit für Lust und Unlust blos aus dem Bewußtsein der Übereinstimmung oder des Widerstreits unserer Handlung mit dem Pflichtgesetze“ (MS, AA VI, 399) ein. Es ist kein pathologisches Gefühl, welches der Vorstellung des Gesetzes vorhergehen würde, sondern eines, das nur auf diese folgen kann. Die entsprechende Gefühlsanlage zu haben, kann nicht Pflicht sein, weil sie die Grundlage dafür ist, sich überhaupt „der Nöthigung, die im Pflichtbegriffe liegt, bewußt zu werden“ (MS, AA VI, 399). „[E]in jeder Mensch (als ein moralisches Wesen) hat es ursprünglich in sich“ (MS, AA VI, 399), denn bei „völliger Unempfänglichkeit für diese Empfindung wäre er sittlich tot“ (MS, AA VI, 400).
Goy (2013, 195) geht dagegen davon aus, dass das moralische Gefühl im Gegensatz zu den drei anderen keinen eigenen theoretischen Ort in der Tugendlehre habe. Sie erörtert entsprechend die Möglichkeit, dass es sich hierbei um einen generischen Begriff für die drei anderen Gefühlsvermögen handelt, welche sie aber insofern als problematisch erachtet, als das zumindest die Frage aufwirft, „whether the concept of moral feeling is no more than a terminological ’relic’ from earlier stages of Kant’s moral philosophy, one that lost its systematic importance for Kant when he discovered that the moral feeling as a sensible grounding of virtue can be replaced by more idiosyncratic phenomena like love of one’s neighbor, respect, and conscience.“
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Das Gefühl der moralischen Lust ist, wie wir weiter oben bei der Erörterung des Tugendbegriffs schon gesehen haben, das, was Kant auch als Lohn der Tugend bezeichnet, welcher daraus folgt, dass man die Tugendgesinnung in sich gründet und „das Gesetz, an sich, zugleich zur Triebfeder macht“ (MS, AA VI 391). Dieses zu kultivieren ist mithin geboten, was durch die Reflexion des Handelns, das moralische Lust hervorgerufen hat, passieren kann, indem man das Gefühl „durch die Bewunderung seines unerforschlichen Ursprungs“ (MS, AA VI, 400 f.) verstärkt. Der „unerforschliche Ursprung“ ist demnach die Möglichkeit, durch reine praktische Vernunft zum Handeln bewegt zu werden, weshalb Kant das moralische Gefühl gleichsam als die „Empfänglichkeit der freien Willkür für die Bewegung derselben durch praktische reine Vernunft“ bezeichnet. Diese Möglichkeit zeigt sich mithin dort am deutlichsten, wo gezeigt wird, „wie es [das moralische Gefühl, K.N.] abgesondert von allem pathologischen Reize und in seiner Reinigkeit, durch bloße Vernunftvorstellung, eben am stärksten erregt wird“ (MS, AA VI, 400). Also in solchen Handlungen, die gegen widerstreitende Neigungen vollzogen wurden. Hierdurch kommt uns unsere eigene Autonomie, also die Möglichkeit uns selbst durch das moralische Gesetz zu verbinden, und somit die von diesem Gesetz ausgehenden Nötigung, zu Bewusstsein. Und doch ist dieses „Gefühl (wie Lust und Unlust überhaupt) etwas blos Subjectives […], was kein Erkenntniß abgiebt“ (MS, AA VI, 400). Eben deshalb bedarf die Verstärkung dieses Gefühls der Reflexion und Bewunderung seines Ursprungs, auf welches das Gefühl nur unsere Aufmerksamkeit lenkt. Was dann auch damit zusammenstimmt, dass Kant davon ausgeht, dass die Tugend als Stärke „erworben werden muß, dadurch, daß die moralische Triebfeder (die Vorstellung des Gesetzes) durch Betrachtung (contemplatione) der Würde des reinen Vernunftgesetzes in uns, zugleich aber auch durch Übung (exercitio) erhoben wird“ (MS, AA VI, 397). Die Kultivierung dieses Gefühls besteht demnach in einem Wechselspiel aus Handeln (Übung) und Reflexion des Handelns (Kontemplation, Bewunderung): Unser eigenes Handeln ruft das Gefühl hervor und die Betrachtung des Ursprungs der Handlung bestärkt uns darin, das moralische Gesetz als verbindlich zu betrachten, was sodann Auswirkungen auf unser Begehrungsvermögen hat, denn „alle Bestimmung der Willkür aber geht von der Vorstellung der möglichen Handlung durch das Gefühl der Lust oder Unlust, an ihr oder ihrer Wirkung ein Interesse zu nehmen, zur That“ (MS, AA VI, 399). Und sofern dies zu einer Erhöhung der moralischen Stärke führt und moralisches Handeln befördert, wird zugleich das Gefühl der moralischen Lust vermehrt hervorgerufen.
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Vom Gewissen Das Gewissen verschafft, anders als das moralische Gefühl, nicht der Verbindlichkeit bzw. nötigenden Kraft des moralischen Gesetzes Eingang ins Gemüt, sondern der Anerkennung unserer Pflichten; es „ist die dem Menschen in jedem Fall eines Gesetzes seine Pflicht zum Lossprechen oder Verurteilen vorhaltende praktische Vernunft“ (MS, AA VI, 400, H.v.m.). Dabei gilt ebenso, dass es als Anlage beim Menschen, als sittliches Wesen, „nicht etwas Erwerbliches“ (ebd.) ist, „[d]enn hätte er wirklich keines, so würde er sich auch nichts als pflichtmäßig zurechnen oder als pflichtwidrig vorwerfen“ (MS, AA VI, 400 f.). Gewissenlosigkeit heißt mithin nur „sich nicht an den Ausspruch desselben“ (MS, AA VI, 400, vgl. MS, AA VI, 438) zu kehren. Weshalb es dann auch hier nur Pflicht ist, „sein Gewissen zu kultivieren, die Stimme des inneren Richters zu schärfen und alle Mittel anzuwenden (mithin nur indirekte Pflicht), um ihm Gehör zu verschaffen“ (MS, AA VI, 401). Wie das Gewissen allerdings zu kultivieren ist, verbleibt weitestgehend unklar; es lässt sich nur mit Blick auf Kants Behandlung des Gewissens an späterer Stelle sagen, was zu unterlassen ist, wodurch sich mitunter erklären mag, dass Kant hier von einer indirekten Pflicht der Anwendung aller Mittel spricht. Denn dort heißt es, man könne sich durch „Lüste und Zerstreuungen betäuben oder in den Schlaf bringen, aber nicht vermeiden, dann und wann zu sich selbst zu kommen oder zu erwachen, wo er alsbald die furchtbare Stimme desselben [Gewissens, K.N.] vernimmt“ (MS, AA VI, 438). Wenn das Gewissen also „unwillkürlich und unvermeidlich“ (MS, AA VI, 401) spricht, so scheint unsere Pflicht allein darin zu bestehen, den Ausspruch desselben nicht zu ignorieren und ferner unsere Empfänglichkeit für denselben nicht zu untergraben. Da es sich aber auch beim Gewissen um etwas Subjektives, also ein Gefühl, handelt, so gibt es selbst keine Erkenntnis bzw. kein Urteil ab, es hält uns dasselbe nur vor und verschafft diesem somit Eingang ins Gemüt, „[e]s liegt ihm nur ob, seinen Verstand über das, was Pflicht ist oder nicht, aufzuklären“ (ebd., H.v.m.). Mithin ist es also das Urteil der Selbsterkenntnis, welches durch das Gewissen zu unserem Bewusstsein gebracht wird, also das Urteil über die durch unsere Handlungen tatsächlich verfolgten Zwecke und somit deren Legalität.²³ Das Gewissen verhilft der Aufrichtigkeit im Selbstgeständnis zur Geltung zu kommen, denn die innere Zurechnung aber einer That, als eines unter dem Gesetz stehenden Falles, (in meritum aut demeritum) gehört zur Urtheilskraft (iudicium), welche als das subjective Princip der Zurechnung der Handlung, ob sie als That (unter einem Gesetz stehende Handlung)
Vgl. Esser 2013, 273 ff.
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geschehen sei oder nicht, rechtskräftig urtheilt; worauf denn der Schluß der Vernunft (die Sentenz), d. i. die Verknüpfung der rechtlichen Wirkung mit der Handlung (die Verurtheilung oder Lossprechung), folgt […] Das Bewußtsein eines inneren Gerichtshofes im Menschen („vor welchem sich seine Gedanken einander verklagen oder entschuldigen“) ist das Gewissen. (MS, AA VI, 438)
Woraus sich dann auch erklärt, dass Kant der Ansicht ist, dass „ein irrendes Gewissen ein Unding sei. Denn in dem objektiven Urteile, ob etwas Pflicht sei oder nicht, kann man wohl bisweilen irren; aber im subjectiven, ob ich es mit einer praktischen (hier richtenden) Vernunft zum Behuf jenes Urteils verglichen habe, kann ich nicht irren“ (MS, AA VI, 401).
Von der Menschenliebe Wenn die Menschenliebe nun das Vermögen ist, welches durch die äußere materiale Tugendpflicht affiziert wird, mithin durch die Beförderung der Glückseligkeit anderer, so mag das zunächst eigenwillig anmuten, würde man dies doch vielmehr als ein dem Handeln vorhergehendes Gefühl einordnen, also als ein pathologisches. Doch auch hier handelt es sich tatsächlich um ein subjektives, dem Bewusstsein der entsprechenden Tugendpflichten nachfolgendes Gefühl. Auch diese „Liebe des Wohlgefallens […] (als einer unmittelbar mit der Vorstellung der Existenz eines Gegenstandes verbunden Lust)“ (MS, AA VI, 402) kann, weil sie eine Sache der Empfindung ist, nicht geboten sein. „Denn alle Pflicht ist Nöthigung, ein Zwang, wenn er auch einen Selbstzwang nach einem Gesetze sein sollte. Was man aber aus Zwang thut, das geschieht nicht aus Liebe“ (MS, AA VI, 401). Dagegen kann das uneigennützige Wohlwollen gegen den Menschen, welches man „auch (obzwar sehr uneigentlich) Liebe“ (MS, AA VI, 401) nennt, einem „Pflichtgesetz unterworfen sein“ (ebd.). Denn dieses „muß als Maxime des Wohlwollens (als praktisch) gedacht werden, welche das Wohlthun zur Folge hat“ (MS, AA VI, 449), und dieses ist Pflicht gegen jeden anderen Menschen. Das Gefühl der Menschenliebe folgt hingegen dem Ausführen eben dieser Liebspflichten: Wer diese oft ausübt, und es gelingt ihm mit seiner wohlthätigen Absicht, kommt endlich wohl gar dahin, den, welchem er wohl gethan hat, wirklich zu lieben, wenn es also heißt: du sollst deinen Nächsten lieben als dich selbst, so heißt das nicht: du sollst unmittelbar (zuerst) lieben und vermittelst dieser Liebe (nachher) wohlthun, sondern: thue deinem Nebenmenschen wohl, und dieses Wohlthun wird Menschenliebe (als Fertigkeit der Neigung zum Wohlthun überhaupt) in dir bewirken! (MS, AA VI, 402)
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Es zeigt sich also auch hier, dass die Kultivierung dieses Gefühls damit einhergeht, dass man die entsprechenden Pflichten erfüllt; durch diese Erfüllung (oder genauer gesagt durch die Inkorporation des Wohlwollens als einer gesetzeskonformen Maxime) wird das Vermögen affiziert und die Menschenliebe hervorgerufen. Somit wird das Gefühl durch Wiederholung dieses Verhaltens dahingehend erweitert, d.i. kultiviert, dass man wenigstens im Wünschen allen gleich wohl will (vgl. MS, AA VI, 452). Und somit wirkt es dann auf das Begehrungsvermögen ein und kann zu einer Erweiterung des Wohltuns beitragen.²⁴ Was Kant hier im Blick hat, scheint weitestgehend dem zu entsprechen, was er bei der Behandlung der Liebespflichten als teilnehmende Empfindung bezeichnet. Hierbei handelt es sich um ein aus der Kultivierung der natürlichen Gefühle der Mitfreude und des Mitleids entstehendes Gefühl, welches im Gegensatz zu diesen Pflicht ist. Um dieses hervorzubringen ist es mithin „indirecte Pflicht, die mitleidige natürliche (ästhetische) Gefühle in uns zu cultiviren und sie als so viele Mittel zur Theilnehmung aus moralischen Grundsätzen und dem ihnen gemäßen Gefühl zu benutzen“ (MS, AA VI, 457). Und Kant deutet zumindest an, wie dies zu erreichen ist: So ist es Pflicht: nicht die Stellen, wo sich Arme befinden, denen das Nothwendigste abgeht, umzugehen, sondern sie aufzusuchen, die Krankenstuben, oder die Gefängnisse der Schuldener u. dergl. zu fliehen, um dem schmerzhaften Mitgefühl, dessen man sich nicht erwehren könne, auszuweichen: weil dieses doch einer der in uns von der Natur gelegten Antriebe ist, dasjenige zu thun, was die Pflichtvorstellung für sich allein nicht ausrichten würde. (ebd.)
Diese Gefühle scheinen also zwei Aufgaben zu erfüllen: Zum einen lenken sie unsere Aufmerksamkeit auf die Bedürfnisse und Zwecke anderer und liefern dem Begehrungsvermögen somit mögliche Inhalte, welche in die Handlungmaximen inkorporiert werden können; denn der Gedanke der Pflicht ist für sich genommen nicht in der Lage, konkreten Inhalt für eine Handlung zu liefern. Es gilt daher mithin, sie dahingehend zu kultivieren, dass man Situationen erkennt, in denen man moralisch gefordert ist, und dass man nicht versucht diese zu meiden (vgl. MS, AA VI, 457).²⁵ Zum anderen dienen sie einstweilen als ein Surrogat, das
Vgl. Goy 2013, 191 f. Vgl. Herman 1993, 77 ff.; dies., 1996, 46 ff.; Sherman 1997, 145 ff. Gefühle helfen demnach insbesondere bei der Erfüllung unvollkommener Pflichten gegen andere, erstens, weil diese keine konkreten Handlungen vorschreiben und zweitens, weil man menschliche Bedürfnisse nur emotional in Gänze erfassen kann. Vgl. Baron 1995, 220. Angemessene Gefühle sind darüber hinaus ein wichtiger Bestandteil der Reaktion auf moralische Forderungen. Beispielsweise macht es einen Unterschied, wie man auf Schicksalsschläge anderer reagiert. Sie haben eine kommu-
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richtige Handeln hervorzubringen, solange die moralische Triebfeder für sich nicht stark genug ist dies zu tun. Diese natürlichen Gefühle zu kultivieren ist deshalb nur indirekte Pflicht, weil für diese das gleiche gilt wie für gewisse Eigenschaften, die dem „guten Willen selbst beförderlich“ sind und „sein Werk sehr erleichtern“: Sie haben „keinen innern unbedingten Werth, sondern setzen immer noch einen guten Willen voraus, der die Hochschätzung, die man übrigens mit Recht für sie trägt, einschränkt und es nicht erlaubt, sie für schlechthin gut zu halten“ (GMS, AA IV, 393 f.). Gewisse Eigenschaften können also, sofern man über sie verfügt, der Beförderung eines guten Willens zuträglich sein, wenn nicht gar für dessen Erhaltung notwendig sein, wie sich gleichermaßen schon mit Blick auf Apathie und Selbstbeherrschung gezeigt hat, die Kant an dieser Stelle der Grundlegung mitunter vor Augen hat. Und für diese Eigenschaften gilt, dass wir von Natur aus unterschiedlich gut mit ihnen ausgestattet sind: Die Naturgabe einer Apathie bei hinreichender Seelenstärke ist, wie gesagt, das glückliche Phlegma (im moralischen Sinne). Wer damit begabt ist, der ist zwar darum eben noch nicht ein Weiser, hat aber doch die Begünstigung von der Natur, daß es ihm leichter wird als Anderen, es zu werden. (Anth, AA VII, 254)
So mag es derjenigen, die über eine solche Naturgabe verfügt, zwar leichter sein, Tugendstärke aufzubringen, aber eine jede muss diese Eigenschaften kultivieren, da sie Voraussetzung der inneren Freiheit sind. Aber diese Kultivierung muss unter der Führung einer tugendhaften Gesinnung geschehen, denn andernfalls können selbst diese Eigenschaften „höchst böse werden, und das kalte Blut eines Bösewichts macht ihn […] weit gefährlicher“ (GMS, AA IV, 394). Inwiefern das nun ebenfalls für gewisse Gefühle und Neigungen zutrifft, deutet sich bereits in der Grundlegung an, und zwar mit Blick auf die bereits oben zitierte Passage der Pflicht zur Wohltätigkeit im Rahmen der Pflichtanalyse. Kant behauptet dort nicht nur, dass die Handlung der „theilnehmend gestimmte Seelen“ zwar pflichtmäßig und liebenswürdig ist, jedoch „keinen wahren sittlichen Werth habe“, sondern dass sie „wenn sie glücklicherweise auf das trifft, was in der That gemeinnützig und pflichtmäßig, mithin ehrenwerth ist, Lob und Aufmunterung, aber nicht Hochschätzung verdient“ (GMS, AA IV, 398, H.v.m.). Das heißt, die hieraus resultierenden Handlungen haben zwar keinen moralischen Wert und deuten somit auch nicht auf einen tugendhaften Charakter der Akteurin.
nikative Wirkung: man kann dadurch (moralisches) Interesse bekunden. Für den Menschen als soziales Wesen ist dies von großer Bedeutung, er hat das Bedürfnis, sich anderen zu öffnen, selbst ohne Absicht (vgl. MS, AA VI, 469 ff.). Vgl. Baron 1995, 205; Sherman 1990, 167; dies. 1997, 147 ff.
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Jedoch haben sie als Provisorien der Tugend durchaus ihre Berechtigung, insofern sie wenigstens pflichtgemäßes Handeln befördern können. Entsprechend scheint sich hier anzudeuten, dass es keineswegs geboten sein kann, dieses Mitgefühl abzuschaffen, jedoch bedarf es der Führung durch die Vernunft, da es sonst auch zu pflichtwidrigen Handlungen führen kann. Doch verfügt eine solche Person über eine tugendhafte Gesinnung, so wird es ihr nicht nur leichter fallen, ihre Pflichten gegenüber anderen zu erfüllen, vielmehr wird dieses Gefühl durch moralisches Handeln verstärkt und in teilnehmende Empfindung transformiert.
Von der Achtung Der Abschnitt zur Achtung für sich selbst fällt im Gegensatz zu den drei Vorhergehenden noch kürzer aus. Hier bleibt einzig festzuhalten, dass es sich ebenso wie bei den anderen Gefühlen um etwas „Subjectives, ein Gefühl eigener Art, nicht ein Urteil über einen Gegenstand“ (MS, AA VI, 402) handelt, weshalb es auch zu diesem keine Pflicht geben kann. Dieses Gefühl ist das der Selbstschätzung, der subjektiven Anerkennung der eigenen Würde „aus Achtung vor dem Gesetz in sich selbst“ (MS, AA VI, 403), welches durch die Betrachtung des Pflichtbegriffs hervorgerufen wird. Es ist also ein Grund der Anerkennung bestimmter Pflichten, nämlich der Tugendpflichten gegen sich selbst. Mithin sei es deshalb unrichtig zu sagen, der Mensch habe eine Pflicht der Selbstschätzung, „es müßte vielmehr heißen: das Gesetz in ihm zwingt ihm unvermeidlich Achtung vor sich selbst ab“ (MS, AA VI, 402 f.). Woraus Kant schließlich folgert, dass es gar Voraussetzung dafür ist, „sich nur eine Pflicht überhaupt denken zu können“ (MS, AA VI, 403). Nun lässt sich die Spannung, dass es einerseits ein Grund bestimmter Pflichten ist und andererseits aller Pflichten, dahingehend auflösen, dass die Erfüllung der Pflichten gegen sich selbst Voraussetzung dafür ist, überhaupt einer inneren Gesetzgebung fähig zu sein, so dass es korrekterweise heißen müsste, dass es die Voraussetzung dafür ist, sich überhaupt eine ethische Pflicht zu denken. Problematisch bleibt indes, dass Kant wenigstens in der Behandlung der vollkommenen Pflichten gegen sich selbst an einer Stelle tatsächlich selbst sagt, „diese Selbstschätzung ist Pflicht des Menschen gegen sich selbst“ (MS, AA VI, 435). Insofern die vollkommenen Pflichten gegen sich selbst aber tatsächlich als solche nur negativ sind und darauf zielen, eben diese Selbstschätzung nicht zu untergraben, könnte man diesbezüglich tatsächlich annehmen, dass Kant sich selbst dieser irrigen Ausdrucksweise bedient hat. Und die unvollkommenen Pflichten gegen sich selbst zielen selbst gerade nicht auf die Selbstschätzung, sondern auf die Erhöhung der Moralität, was eben die subjektive Anerkennung des Gesetzes in sich selbst voraussetzt.
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5.3 Selbstvervollkommnung, Selbstbetrug und Supererogation Wir haben im Vorhergehenden also festgestellt, dass die Pflicht zur Selbstvervollkommnung darin besteht, Tugendhaftigkeit kontinuierlich anzustreben. Ferner, dass dies einerseits die Gründung einer guten Gesinnung beinhaltet, nämlich das moralische Gesetz zum obersten Handlungsprinzip zu erheben. Und dass es andererseits darüber hinaus der Formung des eigenen empirischen Charakters bedarf; also die eigenen Fähigkeiten, Neigungen und Gefühle nicht nur dahingehend zu kontrollieren, dass sie den guten Willen nicht untergraben, sondern insbesondere auch dahingehend, dass sie diesen befördern. Wenn die Gründung einer guten Gesinnung zwar einer Revolution bedarf, also eines auf einmal genommenen festen Entschlusses, so kann letzteres nur als eine allmähliche und graduell voranschreitende Reform der eigenen Natur verstanden werden. Insofern diese Reform aber nur gut ist, als sie unter der Führung einer guten Gesinnung stattfindet, ist der Entschluss als erster Schritt zum Tugenderwerb zu verstehen. Da es aber Wechselwirkungen zwischen der Festigkeit des Entschlusses und der Beschaffenheit des empirischen Charakters gibt, heißt das dennoch nicht, dass dieser Entschluss nur einmal gefasst werden muss und darauffolgend die Reform der Sinnenart zu leisten ist. Vielmehr finden diese beiden in ständigem Wechselspiel statt: Der Entschluss muss immer wieder bekräftigt werden; das gelingt nicht nur leichter, wenn der empirische Charakter bereits entsprechend geformt ist, sondern die entsprechende Formung des empirischen Charakters festigt zugleich den Entschluss, der seinerseits aber immer wieder aktiv auf die Formung des empirischen Charakters einwirken muss, wozu Selbsterkenntnis unabkömmlich ist. Vor diesem Hintergrund ist es phänomenologisch erhellend, dass Kant Leidenschaften als Sucht bezeichnet. Denn stellen wir uns eine Alkoholikerin vor, die ihre Sucht bekämpfen will, so ist es zunächst notwendig, dass sie sich ihre Sucht eingesteht und in Anbetracht dieser Erkenntnis den festen Entschluss fasst, diese loszuwerden. Doch selbst wenn dieser Entschluss einmal gefasst wurde, so ist immer noch die körperliche Abhängigkeit zu bekämpfen. Dies kann nur in einem zeitlichen Prozess geschehen; dieser bedarf zunächst der körperlichen Entwöhnung und dann aber der Entwicklung neuer Handlungsmuster. Also nicht nur einer Abschaffung bestimmter Gewohnheiten, sondern auch die positive Entwicklung neuer Gewohnheiten, die dabei helfen, auf dem rechten Weg zu bleiben. Je mehr man die Abhängigkeit hingegen überwunden hat, desto mehr trägt das zur Festigkeit des Entschlusses bei. Zwar geht die Suchtfreiheit dann immer mehr in Gewöhnung über, aber die Süchtige ist niemals davor gefeit, wieder rückfällig zu werden, und darf sich daher nicht in absoluter Harmonie wähnen. Es bedarf immer wieder der Aufmerksamkeit für drohende Momente der Schwäche und
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daher immer wieder das erneute Fassen oder Bekräftigen der Entscheidung suchtfrei zu bleiben. Vor diesem Hintergrund wird auch klar, warum Selbsterkenntnis hierfür unerlässlich ist; man muss nicht nur aufmerksam sein, sondern darf sich das eigene Handeln auch nicht schön reden. Das gleiche Bild lässt sich zweifelsohne auch für diejenige zeichnen, die nicht süchtig ist, aber natürlich nie davor gefeit ist süchtig zu werden. Sie muss sich darüber bewusst sein, dass der gewohnheitsmäßige Alkoholkonsum süchtig machen kann und insofern dafür Sorge tragen, dass sie sich dieser Gefahr nicht aussetzt. Auch hier haben wir es mit einem (wenn auch nicht notwendigerweise bewussten) steten Wechselspiel zwischen einem auf Wissen basierenden Entschluss und der gleichzeitig darauf basierenden Formung von Einstellungen, Gewohnheiten und Handlungen zu tun. Doch ohne Unparteilichkeit in der Beurteilung der eigenen Handlungsmaximen und ohne Aufrichtigkeit im Selbstgeständnis und somit der steten Rückbesinnung auf den Entschluss, nicht süchtig werden zu wollen, und dem Ergreifen dem entgegenwirkender Einstellungen und Handlungsweisen mag auch sie nicht davor gefeit sein, süchtig zu werden. Insofern wird auch klar, warum die Neigung Alkohol zu trinken und das daraus folgende Lustgefühl als solche nicht problematisch sind, sondern nur insofern man sich von dieser Lust bestimmen lässt und seine Neigung nicht mehr in angemessener Weise in seine Handlungsmaxime inkorporiert. Insofern nun jede Neigung potentiell zur Leidenschaft werden kann – auch eine solche, die der Ausführung moralischer Pflichten zuträglich sein mag – kann die Erhöhung der eigenen Moralität nur dann stattfinden, wenn sie von der stetigen Kontrolle unserer empirischen Natur durch die Vernunft begleitet ist. Dabei muss man sich aber bewusst sein, dass wir unsere eigene Vernunft mitunter durch Selbstbetrug hintergehen, weshalb Selbsterkenntnis unerlässlich ist, um in diesem unendlichen Prozess voranzuschreiten. Es bedarf somit einer steten Vergleichung aller Handlungsmaximen mit dem Gesetz – ob sie tatsächlich gesetzeskonform sind – und der Aufrichtigkeit, sich Schwächen in der Befolgung derselben gegebenenfalls einzugestehen. Vor diesem Hintergrund wird nun auch nochmals deutlich, warum eine Habitualisierung der eigenen emotionalen und motivationalen Struktur mit dem Ziel der vollkommenen Harmonie der eigenen Vermögen mit dem guten Willen nicht der modus operandi der Selbstvervollkommnung sein kann, sondern nur die Kultivierung derselben unter Leitung der Vernunft. Nicht nur wären die eigenen Handlungen, wenn sie allein auf Gewohnheit gegründet wären, nicht mehr als frei zu betrachten, vielmehr noch würde das die fundamentale Funktion der Selbsterkenntnis untergraben und dem Selbstbetrug Tür und Tor öffnen. Wie hilft das nun mit Blick auf die Bedeutung vermeintlich supererogatorischer Handlungen weiter? Zunächst scheint sich hieraus der Einwand gegen die
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Kantische Ethik gar noch zu erhärten. Denn vermeintlich supererogatorische Handlungen erscheinen vor diesem Hintergrund nicht schlicht als theoretisch uninteressant oder ethisch nutzlos, vielmehr scheinen sie gar dahingehend problematisch zu sein, dass sie nicht schlicht auf einen Irrtum verweisen, sondern dieser gar eine Tendenz hat, Selbstbetrug zu befördern und somit der Selbstvervollkommnung vielmehr hinderlich zu sein.²⁶ Und das (1) sowohl bei der Akteurin, die ihre eigenen Handlungen als supererogatorisch betrachtet, als auch (2) bei der Beobachterin, die die Handlungen anderer als supererogatorisch betrachtet. Ad (1) Sofern eine Akteurin ihre Handlungen selbst als supererogatorisch betrachtet, weist dies auf einen gravierenden Charaktermangel hin. Denn dann kann sie gerade nicht aus Pflicht gehandelt haben. Anders hingegen als diejenige, die sich darüber im Klaren ist, aus Neigung gehandelt zu haben, etwa weil sie Freude daran hat, anderen zu helfen, und ihre Handlung daher zwar nicht als Pflichterfüllung, aber eben auch nicht als moralisch wertvoll einordnet, erliegt diejenige, die ihre Handlungen als supererogatorisch betrachtet, dem Eigendünkel. Denn sie hält ihre Handlungen ja gerade für moralisch gut, obwohl sie ihren Wert nicht in Vergleichung mit dem moralischen Gesetz schätzt, sondern ihre Neigungen aufwertet. Sie bezieht ihre Selbstschätzung also nicht mehr aus der Vergleichung mit der Pflicht, sondern aus ihrer zum allgemeinen Maßstab aufgewerteten Eigenliebe. Entsprechend lässt sich denn auch Kants Warnung davor verstehen, andere dazu zu ermuntern, ihre Handlungen als nicht geboten zu betrachten: Es ist lauter moralische Schwärmerei und Steigerung des Eigendünkels, wozu man die Gemüther durch Aufmunterung zu Handlungen als edler, erhabener und großmüthiger stimmt, dadurch man sie in den Wahn versetzt, als wäre es nicht Pflicht […]. (KpV, AA V, 84)
Doch betrachten wir dies im Lichte des im ersten Kapitel aufgeworfenen Heldinnenparadoxes, so vermag diese Folgerung gerade nicht problematisch zu sein, sondern durchaus phänomenologisch angemessen zu sein. Denn dort haben wir festgestellt, dass die Akteurinnen ihre Handlungen in der Regel nicht als supererogatorisch betrachten, und mehr noch, dass wir es womöglich gar als einen defizienten Fall von Supererogation betrachten würden, wenn sie ihre Handlungen nicht als geboten betrachten. Aber wenigstens sehen wir darin einen Ausdruck von Bescheidenheit und diese halten wir mitunter für angemessen, wie Herfried Münkler es prägnant benennt:
Ich beschränke mich hier allein auf die Probleme die sich hinsichtlich des Selbstbetrugs ergeben, wenngleich das nicht die einzigen sind, wie sich im nächsten Kapitel zeigen wird.
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Wie keine andere Figur der soziopolitischen Typologie ist der Held auf eine narrative Verdoppelung angewiesen. Von Helden muß berichtet werden. Wenn sie heroisch agieren, aber keiner da ist, der dies beobachtet und weitererzählt, ist ihr Status prekär: Sie müssen dann selber erzählen, was für Helden sie sind. Auch wenn man ihnen glaubt, riecht ihr Bericht nach Eigenlob.²⁷
Dahinter scheint womöglich mehr zu stecken als eine bloße Konvention, ein gewisses Maß an Bescheidenheit an den Tag zu legen. Und das lässt sich vor dem hier dargelegten Hintergrund nun wesentlich besser verstehen – wir empfinden eine solche Selbstbewertung unter Umständen als arrogant. Und genau das scheint eben die Folge der eigenliebigen Selbstschätzung zu sein. Die damit einhergehende Anmaßung empfinden wir als arrogant, so dass es kaum zu erstaunen mag, dass Kant den Eigendünkel auch als arrogantia bezeichnet. Aus dem Eigendünkel als einer falschen Selbstschätzung, welche der „echten Selbstschätzung (auf die Würde der Menschheit in seiner eigenen Person stolz zu sein) zuwider ist“ (MS, AA VI, 459), mögen gar Pflichtverletzungen gegen andere resultieren.²⁸ Nämlich einerseits die Erwartung, dass diese sich der eigenen Schätzung des Werts anschließen, also „[d]ie Unbescheidenheit der Forderung aber, von Anderen geachtet zu werden“ (MS, AA VI, 462). Und zwar über diejenige Achtung hinaus, auf die jeder Mensch einen „rechtmäßigen Anspruch“ (ebd.) hat, also die „Anerkennung einer Würde“ (ebd.). Und andererseits mag daraus gar die falsche Schätzung anderer resultieren, nämlich der Hochmut, „anderen Menschen ansinnen, sich selbst in Vergleichung mit uns gering zu schätzen“ (MS, AA VI, 465), und ihnen somit den Anspruch auf die ihnen zustehende Achtung zu verwehren. Somit lässt sich unser Verdacht des Eigenlobs oder der Arroganz und die damit einhergehende Einschätzung, dass es sich um einen defizienten Fall von Supererogation handelt ausgesprochen gut erläutern. Er rührt gerade nicht daher, dass es sich dabei um einen Verstoß gegen die Konvention handelt, ein gewisses Maß an Bescheidenheit an den Tag zu legen, sondern daher, dass wir den Verdacht haben, dass es sich gar um den Ausdruck eines Lasters handelt, wenn man seine eigenen Taten anpreist. Mit Blick auf die Bewertung der eigenen Handlungen ist es also keinesfalls zuträglich für die Selbstvervollkommnung, einzelne Handlungen als supererogatorisch zu betrachten, ganz im Gegenteil wird dieser
Münkler 2007, 742. Entgegen einer Vielzahl von Autorinnen, die Arroganz und Hochmut als das wesentliche Merkmal des Eigendünkels betrachten, scheint mir Morans (2014, 422) Analyse, dass es sich hierbei vielmehr um ein Symptom des Eigendünkels handelt, wesentlich angemessener zu sein. Entsprechend folgen die Pflichtverletzungen gegenüber anderen meines Erachtens nur daraus.
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Prozess damit gar unterlaufen. Hier entsteht jedoch entgegen des zunächst anmutenden Problems für die Kantische Ethik eigentlich gar keines; vielmehr liefert sie einen theoretischen Rahmen, der es ermöglicht, diesen Teil des Phänomens differenziert zu erläutern. Ad (2) Doch folgt daraus nun, dass es ebenso auf einen Charaktermangel hinweist, wenn die Beobachterinnen vermeintlich supererogatorischer Handlungen diese als gut aber nicht geboten wahrnehmen (obwohl die Akteurin ihre Handlung als geboten betrachtet)? Lässt sich das Heldinnenparadox womöglich nur dahingehend auflösen, dass man den Beobachterinnen nicht nur einen epistemischen Irrtum unterstellen muss, sondern gar Selbstbetrug? Und ist eine Orientierung an moralisch herausragenden Akteurinnen im Rahmen des kantischen Konzepts der Selbstvervollkommnung entsprechend gänzlich zurückzuweisen? Zweifelsohne gehen mit dieser Art von Vergleich mit anderen einige Gefahren einher, wobei das Bild auf Seiten der Beobachterin durchaus komplexer ist als auf Seiten der Akteurin. Hier lassen sich mit Blick auf die Beförderung des Selbstbetrugs wenigstens drei Arten von Problemen herausstellen: Erstens mag die Einschätzung, dass eine beobachtete Handlung moralisch gut, aber nicht geboten ist, unserem Hang zum „Vernünfteln“ in die Hände spielen. Dieses Urteil vermag uns eine vermeintlich gute Ausrede zu verschaffen, warum es nicht verwerflich ist, dass wir nicht ebenso handeln oder gehandelt haben. Entsprechend ergibt sich hieraus mitunter eine handlungshemmende Tendenz und gerade keine Motivation, diesem Vorbild nachzustreben. Insofern wir die Handlung aber als moralisch gut betrachten, affiziert sie unser moralisches Gefühl. Woraus sich zweitens eine das Eigendünkel befördernde Tendenz ergeben kann, sofern wir an unseren Rechtfertigungsgründen festhalten wollen. Denn insofern wir Schwierigkeiten haben, das moralische Gesetz in diesem Fall abzuwerten, versuchen wir unsere Selbstschätzung im Vergleich zur beobachteten Person aufzuwerten. Hier geht die Pflichtverletzung gegen sich selbst notwendig mit einer Verletzung der Pflichten gegen andere einher; man muss die Akteurin gering schätzen, um sich selbst aufzuwerten (d.i. Hochmut), indem man versucht, „etwas ausfindig zu machen, was uns die Last derselben [das durch die Achtung ausgelöste Gefühl der Unlust, d.i.] erleichtern könne, irgend einen Tadel, um uns wegen der Demüthigung, die uns durch ein solches Beispiel widerfährt, schadlos zu halten. Selbst Verstorbene sind, vornehmlich wenn ihr Beispiel unnachahmlich scheint, vor dieser Kritik nicht immer gesichert“ (KpV, AA V, 77). Der Hochmut mag sich in diesem Fall schlimmstenfalls in üble Nachrede oder Verhöhnung steigern – in jedem Fall handelt es sich hierbei aber um ein die Achtungspflicht gegen andere Menschen verletzendes Laster (MS,
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AA VI, 465).²⁹ Entsprechend verwundert es auch kaum, dass Kant mit Blick auf die Erziehung vor dieser von Beispielen ausgehenden Gefahr warnt: Der Neid wird erregt, wenn man ein Kind aufmerksam darauf macht, sich nach dem Werthe Anderer zu schätzen. Es soll sich vielmehr nach den Begriffen seiner Vernunft schätzen. Daher ist die Demuth eigentlich nichts anders, als eine Vergleichung seines Werthes mit der moralischen Vollkommenheit. […] Sehr verkehrt ist es, die Demuth darein zu setzen, daß man sich geringer schätze als Andre. […] Wenn der Mensch seinen Werth nach Andern schätzt, so sucht er entweder sich über den Andern zu erheben, oder den Werth des Andern zu verringern. Dieses letztere aber ist Neid. Man sucht dann immer nur dem Andern eine Vergehung anzudichten; denn wäre der nicht da, so könnte man auch nicht mit ihm verglichen werden, so wäre man der Beste. Durch den übel angebrachten Geist der Ämulation wird nur Neid erregt. (Päd, AA IX, 491, vgl. auch MS, AA VI, 480 und Anth, AA VII, 313)
Hieraus wird aber zugleich ersichtlich, dass die Schätzung des eigenen Werts in Vergleichung mit anderen gerade auch zur Geringschätzung der eigenen Person führen kann, d.i. Kriecherei und somit ein Laster gegen sich selbst. Denn man „soll die moralische Selbstschätzung in Anbetracht der letzteren [d.i. Würde, K.N] nicht verleugnen“ (MS, AA VI, 435). Damit läuft man Gefahr, sich anderen unterzuordnen und sie zum Idol zu erheben. Was dann entweder in Tatenlosigkeit enden mag, weil man sich selbst als nicht zu solchen Handlungen fähig betrachtet oder aber in der „blinden Nachahmung“ (MS, AA VI, 464). Während die beiden vorhergehenden Bedenken nun wesentlich damit einhergehen, dass das Hervorheben vermeintlich supererogatorischer Handlungen erst gar nicht zum Handeln motiviert, so lassen sich drittens gerade auch dann problematische Tendenzen zum Selbstbetrug ausmachen, wenn das der Fall ist. Nämlich dahingehend, dass dem Handeln falsche Triebfedern unterlegt werden, wenn man es als supererogatorisch betrachtet: Eine etwas anders akzentuierte Analyse dieses Phänomens mit Blick auf vermeintlich supererogatorische Handlungen findet sich etwa bei Watkins 2013, 711 f: „Most of the time this results in our attempt to explain the agent’s action as the result of his own self-interest, and thus to show that his action is not even moral at all. In the case of sublime actions [i. e. moral actions done with great sacrifices to the self-interest, K.N.], however this sort of ’escape’ proves to be more difficult. […] In the case of a sublime action, Kant thinks that we tend to construe the action as the result of the agent’s ’moral enthusiasm’ […]. One who reflects on this action in this way judges it to be the result of principles different from his own, and thus removes the burden of duty from himself […] our reflection on moral experience is affected by how we feel. […] We could, as Kant thinks we should, see that the principle from which he acts – consciousness of the demands of the moral law – lies within us as well. We find this hard, however, because according to Kant, it is painful and humiliating to recognize the authority of the moral law. To avoid this feeling, we create a new moral incentive, enthusiasm, and fabricate for ourselves a new class of actions, those that are supererogatory.“
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Denn nicht allein daß sie durch Nachahmung solcher Thaten, nämlich aus solchem Princip, nicht im mindesten dem Geiste des Gesetzes ein Genüge gethan hätten, […] und die Triebfeder pathologisch (in der Sympathie oder auch Philautie), nicht moralisch (im Gesetze) setzen, so bringen sie auf diese Art eine windige, überfliegende, phantastische Denkungsart hervor, sich mit einer freiwilligen Gutartigkeit ihres Gemüths, das weder Sporns noch Zügel bedürfe, für welches gar nicht einmal ein Gebot nöthig sei, zu schmeicheln und darüber ihre Schuldigkeit, an welche sie doch eher denken sollten als an Verdienst, zu vergessen. (KpV, AA V, 85)
Auch hier besteht also die Gefahr des Selbstbetruges, da man sich fälschlicherweise in motivationaler Harmonie wähnt und es somit gerade nicht mehr für notwendig erachtet, sein Handeln einer kritischen Reflexion zu unterziehen. Mit anderen Worten, man läuft Gefahr, eine Akteurin zu werden, die ihr eigenes Handeln als supererogatorisch erachtet. Da hier aber nur gezeigt werden soll, dass die Orientierung an Vorbildern im Bereich der Moral einen Beitrag zur Selbstvervollkommnung leisten kann, aber nicht zwangsläufig muss, führen die hier angeführten Überlegungen noch nicht per se zur Widerlegung der These. Vielmehr scheinen sie zunächst darauf hinzudeuten, dass die Kantische Ethik einen theoretischen Rahmen bietet, dieses Phänomen sehr differenziert in den Blick zu bekommen. Denn bisher wurde nur gezeigt, dass von dieser Praxis gewisse Gefahren ausgehen, aber nicht, dass es sich hierbei um notwendige Folgen handelt. Im Folgenden wird also zu klären sein, ob Vorbilder auch einen positiven Nutzen für die Selbstvervollkommnung haben können. Und wenn ja in welcher Hinsicht und unter welchen Voraussetzungen dies der Fall ist. Mit anderen Worten: Ist es möglich, sich an empirischen Vorbildern zu orientieren, ohne deren Handlungen oder deren vermeintlichen Selbstwert zum Maßstab zu erheben und somit durch heteronome Gründe bestimmt zu sein?
6 Die Kraft des Exempels sapere aude! habe Muth dich deines eigenen Verstandes zu bedienen (WA, AA VIII, 35)
Nun haben wir im Vorhergehenden gesehen, dass der Begriff der Tugend einen zentralen Stellenwert in der Kantischen Ethik einnimmt und die Moralität einer Person, also ihre Fähigkeit ethische Pflichten anzuerkennen und zu erfüllen, maßgeblich davon abhängt, dass sie Tugendhaftigkeit anstrebt. Soweit hat sich dies allerdings als ein allein durch den eigenen Willen und das eigene Handeln selbstgewirkter Prozess dargestellt; neben Autonomie und Autokratie bedarf die Selbstvervollkommnung moralischer Stärke, die sich nicht zuletzt in einem reflektierten Umgang mit den eigenen Vermögen und der teilweisen Transformation derselben zeigt. Kant hält es entsprechend gar für einen Widerspruch, dass man sich die Vollkommenheit anderer zum Zweck macht, „[d]enn darin besteht eben die Vollkommenheit eines andern Menschen, als einer Person, daß er selbst vermögend ist sich seinen Zweck nach seinen eigenen Begriffen von Pflicht zu setzen, und es widerspricht sich, zu fordern (mir zur Pflicht zu machen), daß ich etwas thun soll, was kein anderer als er selbst thun kann“ (MS, AA VI, 386). Ferner hat sich gezeigt, dass der Prozess der Selbstvervollkommnung dauerhaft von Selbsterkenntnis, verstanden als kritische Selbstbeschreibung und aufrichtige Selbstkritik, flankiert werden muss, um sich nicht ins Gegenteil zu verkehren. Die Orientierung an Beispielen steht dieser Aufgabe mitunter im Wege, da sie sowohl eine falsche Vorstellung dessen, was geboten ist, als auch betrügerische Selbstbeschreibungen zu befördern vermag. Wenn solcherlei äußere Einflüsse jedoch ein Hindernis für die Tugend darstellen mögen, so drängt sich die Frage auf, ob es nicht auch äußere Hilfsmittel der Tugend geben kann. Und ferner, ob es nicht ebenso der Rekurs auf Vorbilder sein kann, der unter bestimmten Umständen ebenso einen positiven Beitrag zur Selbsterkenntnis und Selbstvervollkommnung zu leisten vermag. Hierfür würde zumindest sprechen, dass sich Kants Bemerkungen zur Bedeutung von Beispielen des moralischen Handelns durch eine große Ambivalenz auszeichnen. So geht Kant etwa in der Grundlegung davon aus, dass der Begriff der Pflicht zwar dem „gemeinen Gebrauche unserer praktischen Vernunft“ entstammt, es sich dabei jedoch keinesfalls um einen „Erfahrungsbegriff“ (GMS, AA IV, 406) handelt. Entsprechend folgert er gar, dass man „der Sittlichkeit nicht übler rathen [könnte], als wenn man sie von Beispielen entlehnen wollte“ (GMS, AA IV, 408). Dagegen scheint Kant dem guten Beispiel etwa in der Methodenlehre der Tugendlehre einen maßgeblichen Stellenwert zuzuschreiben, wenigstens mit https://doi.org/10.1515/9783110674729-009
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6 Die Kraft des Exempels
Blick auf die moralische Erziehung: „Das experimentale (technische) Mittel der Bildung zur Tugend ist das gute Beispiel […].“ (MS, AA VI, 479) Ich werde im Folgenden dafür argumentieren, dass sich diese Ambivalenz auflösen lässt, und zwar dahingehend, dass Kants kritische Äußerungen keinesfalls als gänzliche Zurückweisung einer Orientierung an Vorbildern zu verstehen sind, sondern sich jeweils auf bestimmte problematische Aspekte richten, welche entweder inhaltlicher oder methodischer Natur sind. Entsprechend ist einerseits zu klären, was ein gutes Vorbild ausmacht. Hier lautet meine These, dass es gerade solche Akteurinnen sind, die, aus der Perspektive der Beobachterinnen, scheinbar supererogatorisch handeln. Andererseits ist zu klären, wie und zu welchem Zweck diese vorgestellt werden müssen, um eine positive Funktion zu erfüllen. Hierbei werde ich zeigen, dass der Nutzen solcher Vorbilder über deren gezielten Einsatz als didaktisches Mittel der Moralerziehung hinausgeht und dem fortdauernden Prozess der Selbstvervollkommnung zuträglich sein kann. Als Ausgangspunkt werden zunächst einige Präliminarien mit Blick auf die Möglichkeit der äußeren Beförderung der Tugend zu klären sein (6.1). Sodann wird, ausgehend von Kants Erörterung des Exempels in § 52 der Tugendlehre, erörtert, wie ein solches beschaffen sein muss und welche Funktionen es erfüllt (6.2). Abschließend wird zu evaluieren sein, inwiefern diese Exempel supererogatorisch erscheinen und warum sie dabei trotzdem einen Beitrag zur Selbstvervollkommnung leisten können (6.3).
6.1 Die äußere Beförderung der Tugend Zu Beginn der Ethischen Methodenlehre der Tugendlehre, macht Kant erneut darauf aufmerksam, „[daß] Tugend erworben werden müsse (nicht angeboren sei)“ (MS, AA VI, 477), was „schon in dem Begriffe derselben“ (ebd.) liege. Daraus folge schließlich, „[d]aß sie könne und müsse gelehrt werden“ (ebd.). Die Bildung der Tugend ist ein Thema, welches an verschiedenen Stellen des kantischen Korpus immer wieder aufgegriffen wird, mithin ist Moralität das oberste Ziel aller Erziehung. Wenngleich man sich zwar nur selbst dem moralischen Gesetz unterstellen kann, so kann die Erziehung dennoch einen Beitrag dazu leisten, dass man dieses Ziel erreicht. Vor diesem Hintergrund ist es auch nur wenig erstaunlich, dass Kant durchaus noch andere Mittel der äußeren Beförderung (nicht jedoch Herbeiführung) der Tugend anerkennt, zu denen beizutragen eine jede eine indirekte Pflicht hat, wenngleich seine Ausführungen hierzu recht dürftig ausfallen. Im Folgenden soll daher zunächst geklärt werden, wie eine jede durch ihr Handeln einen solchen allgemeinen äußeren Beitrag leisten kann (6.1.1), und sodann ein Überblick über die konkreten Methoden der moralischen Erziehung
6.1 Die äußere Beförderung der Tugend
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gegeben werden (6.2.2). Da dies vornehmlich einer besseren Einordnung der im Folgenden etablierten These dient, werden diese Ausführungen nur einen Überblickcharakter haben und sich im Wesentlichen auf die entsprechenden Ausführungen in der Tugendlehre beschränken.
6.1.1 Vom Tugendschein und der Erscheinung der Tugend Inwiefern nun eine jede einen äußeren Beitrag zur allgemeinen Beförderung der Moralität leisten kann, deutet Kant in § 48 „Von den Umgangstugenden“ an, dem letzten Paragraphen der Elementarlehre. Hierbei handelt es sich einzig um einen Zusatz zum „Beschluß der Elementarlehre“, der insofern eine systematisch angemessene Position gefunden hat, als er nicht Teil der folgenden Methodenlehre selbst ist, aber thematisch wenigstens in den Umkreis derselben gehört. Denn hier geht es im Wesentlichen darum zu zeigen, dass einer bestimmten Art des Umgangs miteinander, selbst wenn es sich hierbei nicht um wahre Moralität, sondern nur um „Außenwerke oder Beiwerke“ (MS, AA VI, 473) handelt, eine propädeutische Funktion für die Erlangung derselben zukommt.¹ Bei „der Zugänglichkeit, der Gesprächigkeit, der Höflichkeit, Gastfreiheit, Gelindigkeit (im Widersprechen, ohne zu zanken) […]“ (MS, AA VI, 473 f.) handelt es sich zwar nur um eine Vorstufe der Moralität, doch die Kultivierung dieser Umgangstugenden ist aufgrund ihres indirekten Beitrags zur Beförderung der Tugend selbst Tugendpflicht: Es ist Pflicht sowohl gegen sich selbst, als auch gegen Andere, mit seinen sittlichen Vollkommenheiten unter einander Verkehr zu treiben (officium commercii, sociabilitas) […] nicht eben um das Weltbeste als Zweck zu befördern, sondern nur die wechselseitige [Zusammenkunft, K.N.²], die indirect dahin führt, die Annehmlichkeit in derselben, die Verträglichkeit, die wechselseitige Liebe und Achtung (Leutseligkeit und Wohlanständigkeit,
Wie Recki (2001, 262) betont, hat unser Umgang mit der belebten wie unbelebten Natur gleichermaßen eine propädeutische Wirkung für die Tugend. Denn die „Ansehung des Schönen, obgleich Leblosen in der Natur“ bereitet doch vor, auf „diejenige Stimmung der Sinnlichkeit, welche die Moralität sehr befördert […], nämlich etwas auch ohne Absicht auf Nutzen zu lieben […]“, weshalb ein „Hang zum bloßen Zerstören […] der Pflicht des Menschen gegen sich selbst zuwider“ (MS, AA VI, 443) ist. Ebenso wie die „grausame Behandlung der Tiere“, denn diese führt dazu, dass „das Mitgefühl an ihrem Leiden im Menschen abgestumpft wird“ und damit eine der Moralität „diensame natürliche Anlage geschwächt“ (ebd.) wird. Wenngleich wir daher keine Pflicht gegen dieselbe haben, so doch „in Ansehung“ derselben, die „direct aber betrachtet […] immer nur Pflicht des Menschen gegen sich selbst“ (ebd.) ist. Von einer näheren Erörterung dieser These wird im Folgenden abgesehen, da sie für den hiesigen Untersuchungskontext keine zentrale Bedeutung hat. Hierzu vgl. die entsprechende Editierung von Ludwig 1990.
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humanitas aesthetica et decorum) zu cultiviren und so der Tugend die Grazien beizugesellen; welches zu bewerkstelligen selbst Tugendpflicht ist. (MS, AA VI, 473)
Nun scheint an dieser Bemerkung wenigstens dreierlei auffällig: Erstens handelt es sich um eine „Pflicht gegen sich, als auch gegen Andere“. Man muss sich daher einerseits fragen, ob sich die Funktionsweise der Umgangstugenden auf einen selbst und auf andere unterscheidet. Zweitens ist auffällig, dass die Umgangstugenden nur deshalb geboten sind, weil sie einen „indirekten“ Beitrag dazu leisten, der „Tugend die Grazien beizugesellen“, was soviel heißt, als dass sie einen Beitrag zu ihrer äußeren Erscheinung leisten. Was aber heißt es konkret, dass sie nur einen indirekten Beitrag dazu leisten? Drittens redet Kant an dieser Stelle davon, dass es „selbst Tugendpflicht ist“, der „Tugend die Grazien beizugesellen“ (nicht jedoch, dass es sich bei den Umgangstugenden um eine Tugendpflicht handelt). Das muss mithin erstaunen, denn die äußere Erscheinung der Tugend selbst ist ja gerade kein obligatorischer Zweck, noch wurde sie in der vorhergehenden Systematik der Tugendpflichten bedacht, und es scheint auf den ersten Blick auch nicht ersichtlich, inwiefern sie einem der obligatorischen Zwecke zuzuordnen sein sollte. Kants Begründung dafür, dass es eine (indirekte) Pflicht ist, die Umgangstugenden zu kultivieren, fällt nicht nur äußerst knapp aus, sondern wirft ihrerseits zunächst weitere Probleme auf. Versuchen wir also zunächst die Begründung nachzuvollziehen: Dies sind zwar nur Außenwerke oder Beiwerke (parerga), welche einen schönen, tugendähnlichen Schein geben, der auch nicht betrügt, weil ein jeder weiß, wofür er ihn annehmen muß. Es ist zwar nur Scheidemünze, befördert aber doch das Tugendgefühl selbst durch die Bestrebung, diesen Schein der Wahrheit so nahe wie möglich zu bringen, […] insgesamt als bloßen Manieren des Verkehrs mit geäußerten Verbindlichkeiten dadurch man zugleich Andere verbindet, die also doch zur Tugendgesinnung hinwirken, indem sie die Tugend wenigstens beliebt machen. (MS, AA VI, 473 f.)
Hier lassen sich mithin vier Thesen ausmachen, die jeweils einer Erläuterung bedürfen: (1) Auch wenn die Umgangstugenden nicht unbedingt ein Ausdruck wahrer Tugenden sind, so besteht eine äußerliche Verwandtschaft, so dass sie mitunter als solche erscheinen. (2) Dieser „tugendähnliche Schein“ ist erlaubt, weil er kein Betrug ist, da jede weiß, dass es sich nicht um wahre Tugend handelt. (3) Der Tugendschein befördert bei der Akteurin das Tugendgefühl, und darüber vermittelt, das Streben nach wahrer Tugendhaftigkeit.
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(4) Der Tugendschein geht mit äußeren wechselseitigen Verbindlichkeiten einher, wodurch er auch zur Tugendgesinnung anderer hinwirkt, indem er die Tugend beliebt macht. Ad (1) Die erste These scheint für sich genommen mitunter recht unproblematisch zu sein und nicht mehr zu besagen, als dass man es zwar mit pflichtgemäßen Handlungen zu tun hat, aber nicht mit solchen aus Pflicht. Entsprechend gleichen sie tugendhaften Handlungen wenigstens äußerlich, denn der Unterschied der beiden liegt im motivationalen Grund der Handlung, der aber mithin nur bedingt erkennbar ist. Ad (2) Die zweite These scheint dagegen schon problematischer zu sein. Denn wie kann es erlaubt sein, so zu tun, als ob es sich um tugendhafte Handlungen handelt? Man sollte meinen, dass dies in jedem Fall verboten sein müsste: Wenn man sich selbst seine eigenen Handlungen als solche vorstellt, scheint dies eine Form des Selbstbetrugs zu sein und der Beförderung der Moralität gerade im Wege zu stehen. Wenn man anderen die Tugendhaftigkeit der eigenen Handlungen nur vorspielt, sollte man meinen, es handelt sich um einen Betrug diesen gegenüber, was auch in jedem Fall verboten ist. Diesem Einwand begegnet Kant nun damit, dass man es hier gar nicht mit Betrug zu tun habe, sondern nur mit einem Schein. Der Unterschied zwischen diesen beiden Formen der Täuschung scheint ein epistemischer zu sein, während die Getäuschte beim Betrug diese Täuschung nicht erkennen kann (oder soll), geht der Schein gerade damit einher, dass man darum weiß, dass es nur eine Täuschung ist: Das Blendwerk, welches durch Sinnenvorstellungen dem Verstande gemacht wird […] ist entweder Täuschung (illusio), oder Betrug (fraus). […] Illusion ist dasjenige Blendwerk, welches bleibt, ob man gleich weiß, daß der vermeinte Gegenstand nicht wirklich ist. […] Betrug aber der Sinne ist: wenn, so bald man weiß, wie es mit dem Gegenstande beschaffen ist, auch der Schein sogleich aufhört. […] Kleidung, deren Farbe zum Gesicht vortheilhaft absticht, ist Illusion; Schminke aber Betrug. Durch die erstere wird man verleitet, durch die zweite geäfft. (Anth, AA VII, 149 f.)
Der Sinnenschein ist demnach durchaus problematisch, wenn er nicht als solcher erkannt wird, sondern die Erscheinung für Erfahrung gehalten wird. Erlaubt ist der Tugendschein also nur deshalb, weil man davon ausgehen muss, dass eine jede darum weiß und dass er immerhin besser ist als gar keine Pflichtbefolgung (vgl. Anth, AA VII, 151). Der Tugendschein darf daher mithin nicht zum Betrug missbraucht werden, weder gegen sich selbst noch gegen andere, denn dann wäre er verboten. Jemand der also aus pflichtwidrigen Motiven handelt und dabei den „äußeren Schein“ der Rechtschaffenheit zu wahren versucht, damit andere seine
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unlauteren Absichten nicht erkennen, würde gegen den erlaubten Tugendschein verstoßen. Ad (3) Wenn es sich nun zwar nicht um einen Betrug und somit nicht um ein Hindernis der Tugend handelt, sondern um eine erlaubte Form der Selbsttäuschung, so stellt sich doch immer noch die Frage, wie dies die eigene Tugend befördern soll. Kants Antwort hierauf lautet, dass das Tugendgefühl befördert wird, das muss heißen, dass die im vorhergehenden Kapitel behandelten Gefühlsanlagen der Empfänglichkeit für Pflichtbegriffe hierdurch affiziert und kultiviert werden, und dadurch die Tugend befördert wird. Mithin scheint es sich hierbei insbesondere um das moralische Gefühl und die Menschenliebe zu handeln, denn wie sich gezeigt hat, lassen sich nur diese beiden aktiv kultivieren, während sich mit Blick auf das Gewissen und die Selbstschätzung nur eine negative Forderung ergibt, deren Affizierung nicht zu untergraben. Erstaunlich ist nun aber, dass diese Gefühlsvermögen anscheinend bereits dadurch affiziert werden, dass man versucht, diesen Schein der „Wahrheit so nahe wie möglich zu bringen“ und nicht erst durch wahrlich tugendhaftes Handeln. Das würde heißen, selbst der Tugendschein trägt bereits etwas dazu bei, dass die Pflicht subjektiv Eingang ins Gemüt findet. Das mag auf den ersten Blick abwegig erscheinen, doch bei genauerer Betrachtung scheint es gar notwendig zu sein. Denn die „ästhetische Maschinerie“ (MS, AAVI, 406) muss zunächst in Gang versetzt werden, damit wir überhaupt moralisch handeln können; es bedarf mithin eines vorläufigen Eingangs der Pflichtbegriffe ins Gemüt, damit man sich überhaupt dadurch verbunden fühlen kann. Insofern scheint es sich hierbei um eine erste Stufe der Kultivierung dieses Gefühls zu handeln, welches erst durch wahrlich tugendhaftes Handeln in voller Stärke affiziert wird. Nicht etwa durch Gewohnheit, sondern nur über diese ästhetische Dimension scheint sich erklären zu lassen, wie auf lange Sicht aus bloß pflichtmäßigen Handlungen tatsächlich moralische werden können, so dass „dadurch, daß Menschen diese Rolle spielen […] die Tugenden, deren Schein sie eine geraume Zeit hindurch nur gekünstelt haben, nach und nach wohl wirklich erweckt“ werden und „in die Gesinnung über“ (Anth, AA VII, 151) gehen.³
Wehofsits (2016, 100 ff.) scheint diesen Aspekt zu verkennen und vielmehr davon auszugehen, dass es das gewohnheitsmäßige Handeln als solches ist, welches zur Moralität beiträgt, was jedoch nicht intelligibel sei, weil die Handlungen nur äußerlich gleich sind, so dass nicht klar sei, wie das zum Ergreifen der richtigen Maximen führen soll. Dies lasse sich höchstens dadurch erklären, dass hierdurch gewisse der Moralität beförderliche Fähigkeiten geschult werden, etwa Selbstdisziplin, die aber für sich keinen moralischen Wert haben können. Entsprechend kommt sie zu dem Schluss, dass es sich hierbei um ein „passives, äußeres Instrument der Moralisierung“ (ebd., 102) handelt, das „in Kants Moralphilosophie jedoch wie ein Fremdkörper“ (ebd.) wirke. Bezieht man jedoch die ästhetische Dimension mit ein, so wird klar, dass es sich hierbei „zwar um
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Ad (4) Während der Tugendschein also bei einem selbst das Gefühl affizieren kann und somit einen Beitrag zur Beförderung der Tugendgesinnung leistet, scheint er dies durch seine Wirkung bei anderen indirekt zu begünstigen, indem es andere dazu „verbindet“ ebenso zu handeln. Indem diese dadurch wenigstens einen äußeren Wert der Tugend anerkennen, nämlich ein angenehmeres Zusammenleben, so wird dies dazu beitragen, dass jene sich ebenso zunächst als „Schauspieler“ (Anth, AA VII, 151) an der wechselseitigen Bekundung von Liebe und Achtung beteiligen. Mithin scheint es sich bei der Wirkung des Tugendscheins demnach ähnlich zu verhalten, wie bei der Tugend selbst, die auch nach innen und nach außen wirkt: Wie sich in Betrachtung des Ideals der Tugend bereits gezeigt hat, ist die die Tugendhandlung begleitende Freude ein konstitutiver Teil desselben. Dabei kommt dieser die Tugend begleitenden Freude (d.i. Lust) zugleich (aber eben nicht ausschließlich) auch ein instrumenteller Wert bei. Zum einen für die Akteurin selbst, denn nur, wenn sie „wackeren und fröhlichen Gemüths […] in der Befolgung ihrer Pflichten“ ist, anstatt sie als „Frohndienst“ zu tun, hat die Befolgung derselben für sie einen inneren Wert. Wird sie dagegen „nicht geliebt“, so wird „die Gelegenheit ihrer Ausübung soviel möglich geflohen“ (MS, AA VI, 484). Die Freude stellt dabei aber auch ein äußeres Zeichen der Tugend dar, welches derselben auch im Auge der Betrachterin Attraktivität verleiht, indem es zu ihrem ästhetischem Wert beiträgt.⁴ Hinsichtlich der eingangs aufgeworfenen Fragen lässt sich nun also sagen, dass die Umgangstugenden sich in der Wirkung auf einen selbst und auf andere dahingehend unterscheiden, dass deren Befolgung bei einem selbst das Gefühl affizieren kann und insofern einen Beitrag zur Beförderung der Tugend leistet, andere hingegen durch das positive Erleben dieser Umgangsformen dazu animiert, an diesem gemeinsamen „Spiel“ teilzunehmen, so dass sie durch ihre Teilnahme selbst auch ihr Tugendgefühl kultivieren. Zweitens lässt sich nun sagen, dass die Umgangstugenden, sofern sie Tugendschein sind, nur einen indirekten Beitrag dazu leisten, die Tugend beliebt zu machen, weil sie nicht Ausdruck wahrer Tugend sind. Sofern sie Ausdruck wahrer Tugend sind, scheinen sie dagegen einen direkten Beitrag dazu zu leisten. Schließlich handelt es sich bei der Pflicht, „der Tugend die Grazien“ beizugesellen, einerseits um eine Tugendpflicht gegen sich selbst, weil die Erscheinung der Tugend, dadurch dass sie dem Pflichtbegriff Eingang in unser Gemüt verschafft, den Zweck der eigenen Vollkommenheit befördert. Insofern sie aber ebenso einen Beitrag dazu leistet, „die
ein provisorisches, äußeres Hilfsmittel“ (ebd.) handelt, jedoch weder um ein rein passives, noch dass es „zu begrifflichen Spannungen führt“ (ebd.). Vgl. Sherman 1997, 151 ff.
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Annehmlichkeit in derselben [d.i. wechselseitigen Zusammenkunft, K.N.], die Verträglichkeit, die wechselseitige Liebe und Achtung“ zu befördern, scheint sie gleichermaßen den Zweck der fremden Glückseligkeit zu befördern und somit auch eine Tugendpflicht gegen andere zu sein.
6.1.2 Moralische Erziehung Nun können wir einen Befund des vorhergehenden Abschnitts mit in die Betrachtung der Erziehung überführen: Für sie muss das Gleiche gelten wie für die äußere Beförderung der Tugend durch den Tugendschein oder die äußere Erscheinung der Tugend; sie kann nur einen indirekten Einfluss darauf haben, Moralität herbeizuführen. Daher mag man sich fragen, wie es dann zu verstehen ist, dass Kant Disziplinierung, Kultivierung und Zivilisierung zwar als notwendige propädeutische Elemente einer jeden Erziehung betrachtet (vgl. Päd, AA IX, 449 f.), ihr oberstes Ziel jedoch in der Moralisierung sieht: Der Mensch soll nicht blos zu allerlei Zwecken geschickt sein, sondern auch die Gesinnung bekommen, daß er nur lauter gute Zwecke erwähle. Gute Zwecke sind diejenigen, die nothwendigerweise von Jedermann gebilligt werden, und die auch zu gleicher Zeit Jedermanns Zwecke sein können. (Päd, AA IX, 450)
Mithin wird an der hier vorgelegten Charakterisierung des Zwecks der Moralität nochmals deutlich, was aus allem Vorhergehenden schon klar sein muss: Moralität besteht darin, eine gute Gesinnung zu haben, welche aber gerade in Autonomie und Autokratie besteht, und daher nicht von außen erwirkt werden kann, sondern nur selbstgewirkt sein kann. Die Frage scheint sich gar dahin zu erhärten, ob moralische Erziehung überhaupt mit diesem Grundgedanken der Kantischen Ethik vereinbar ist, oder wie Kant sie formuliert: „Wie cultivire ich die Freiheit bei dem Zwange?“ (Anth, AA IX, 453) Die Antwort hierauf muss nun wohl lauten, dass das Ziel der Erziehung und ihre Methoden sich nicht widersprechen dürfen. So mögen frühe Mittel der Erziehung zwar auch einen Zwangscharakter haben, aber eben nur sofern sie darauf vorbereiten, „einst frei“ (Päd, AA IX, 454) zu sein. Die wahre Moralität hingegen lässt sich nicht äußerlich herbeiführen und schon gar nicht erzwingen.⁵ Und doch ist gerade diese Erziehung zur Moralität bzw. zur Tugend das Thema, dem sich Kant in der Methodenlehre der Tugendlehre zuwendet. Vor dem Vgl. Riefling 2014, 412 f.
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eben erörterten Hintergrund scheint dies nicht nur erstaunlich, vielmehr muss Kants Begründung zu Beginn der Methodenlehre erstaunen, nämlich, dass daraus, dass Tugend erworben werden müsse, folge, dass sie „müsse gelehrt werden“, darüber hinaus aber auch die „Kraft zur Ausübung […] geübt werden“ (MS, AA VI, 477) müsse. Erklären lässt sich dies nur mit Blick auf die von Kant hierfür als notwendig erachteten Methoden selbst, die diesem Umstand Rechnung tragen sollen. Diese setzen voraus, dass eine jede eine Anlage zum guten Willen in sich trägt und die Erkenntnis des moralischen Gesetzes der „gemeinen Menschenvernunft“ entstammt, so dass die Aufgabe der Erziehung nur darin bestehen kann, diese zu Bewusstsein zu bringen und ihre Entwicklung indirekt zu befördern. Grundlegende moralische Fähigkeiten lassen sich daher nicht anerziehen: am Ende ist jede selbst dafür verantwortlich, sich die entsprechenden Motive zu eigen machen.⁶ Nun gibt uns Kant in der Einleitung zur Tugendlehre mithin eine etwas anders gelagerte Begründung dafür, warum es einer Methodenlehre bedarf: Die Ethik hingegen führt wegen des Spielraums, den sie ihren unvollkommenen Pflichten verstattet, unvermeidlich dahin, zu Fragen, welche die Urtheilskraft auffordern auszumachen, wie eine Maxime in besonderen Fällen anzuwenden sei […] und so geräth sie in eine Casuistik, von welcher die Rechtslehre nichts weiß. (MS, AA VI, 411)
Nun besteht die Methodenlehre aber keineswegs in einer Kasuistik, welche nur „fragmentarisch, also nicht systematisch (wie die erstere sein mußte)“ (ebd.), sein kann, sondern diese ist vielmehr den jeweiligen Pflichten der Elementarlehre zugeordnet. Vielmehr müssen wir Kants Ausführungen hier so verstehen, dass die Methodenlehre dazu beitragen muss, dass man erlernt, wie die weiten Pflichten anzuwenden sind, wofür nun erstaunlicherweise „nicht sowohl die Urtheilskraft, als vielmehr die Vernunft und zwar in der Theorie seiner Pflichten sowohl als in der Praxis zu üben“ (ebd.) gehört. Entsprechend gehöre zur Methodenlehre einerseits eine bestimmte Form der „Katechetik als theoretische Übung“ und „als Gegenstück im Praktischen die Ascetik“, in welcher gelehrt wird, „wie das Tugendvermögen sowohl als der Wille dazu in Ausübung gesetzt und cultivirt werden könne“ (MS, AA VI, 412). Betrachtet man hingegen die Methodenlehre selbst, so fällt auf, dass die Einteilung eine andere ist. Der Ethischen Asketik, die also damit befasst ist, wie man die zur Tugend notwendige Stärke erlangen kann, ist die Ethische Didaktik vorangestellt, welche, wie zu zeigen sein wird, aber tatsächlich neben der Katechetik zwei weitere Mittel der Lehre umfasst: nämlich die Kasuistik und die Exemplarik. Hier soll nun nur ein kurzer Überblick über diese verschiedenen Methoden und ihren Zusammenhang gegeben werden, um die Vgl. Louden 2006, 83.
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Bedeutung der Exemplarik, der im folgenden Abschnitt das Hauptinteresse gelten wird, besser einordnen zu können. Insgesamt lässt sich hierbei feststellen, dass die Didaktik sowohl mit dem Erwerb von Tugendwissen als auch der Frage, wie dieses Eingang ins Gemüt der Schülerinnen findet, also in Motivation überführt werden kann, befasst ist. Wohingegen die Asketik mit dem Übergang vom Wollen zum Können befasst ist, also der Einübung der notwendigen Tugendstärke. Da es im Folgenden primär um die epistemische und motivationale Funktion von Beispielen gehen soll, kann die Asketik an dieser Stelle ausgeklammert werden, zumal Kants Ausführungen hierzu nur wenig ausgearbeitet sind und ihre wesentlichen Elemente bereits an früherer Stelle Erwähnung gefunden haben, nämlich dass die Zucht, die der Mensch an sich selbst verübt, […] nur durch den Frohsinn, der sie begleitet, verdienstlich und exemplarisch werden kann“ (AA, VI, 485), weshalb die Regeln der Übung in der Tugend“ darauf hinausgehen, sie „wackeren und fröhlichen Gemüths“ (MS, AA VI, 484) zu befolgen. Die ethische Didaktik zielt mit dem dort behandelten Katechismus zunächst auf die Entwicklung von Pflichtbegriffen. Das Wissen, das hierdurch erworben werden soll, ist naheliegenderweise einerseits ein formales, insofern als es die Kenntnis und das Verständnis des moralischen Gesetzes und seiner Anwendungsbedingungen beinhaltet, und andererseits ein inhaltliches, insofern als es die Kenntnis der Tugendpflichten beinhaltet. Nun kann dieses Wissen aber nicht belehrend anerzogen werden, sondern soll in einer bestimmten Gesprächssituation zunächst der Vernunft des Lehrlings durch entsprechendes Nachfragen entlockt werden, „aus der gemeinen Menschenvernunft (seinem Inhalte) nach entwickelt werden“ (MS, AA VI, 479). Wobei Kant die entsprechende Lehrart nicht nur von der „dogmatischen (da der Lehrer allein spricht)“ (ebd.) abgrenzt, sondern ebenso von der „sokratisch-dialogische[n] Lehrart“, in der Lehrende und Belehrte beidseitig Fragen stellen und Antworten geben, „weil der Schüler nicht einmal weiß, wie er fragen soll“ (ebd.). Die hier vorgeschlagene Lehrart skizziert Kant wie folgt: [D]er Lehrer ist also allein der Fragende. Die Antwort aber, die er aus der Vernunft des Lehrlings methodisch auslockt, muß in bestimmten, nicht leicht zu verändernden Ausdrücken abgefaßt und aufbewahrt, mithin seinem Gedächtnis anvertraut werden. (MS, AA VI, 479)
Ein „Bruchstück eines moralischen Katechismus“ (MS, AA VI, 480) legt Kant dann interessanterweise erst in der Anmerkung zum folgenden Paragraphen dar, der das Beispiel als Mittel der Tugend behandelt. Mithin scheint der Exemplarik durch diese Stellung in der Methodenlehre nur eine untergeordnete Rolle zuzukommen,
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nämlich als ein Hilfsmittel, welches dem Katechismus gar vorausgeht, „denn Nachahmung ist dem noch ungebildeten Menschen die erste Willensbestimmung zu Annehmung von Maximen, die er sich in der Folge macht“ (MS, AA VI, 479). Hierbei handelt es sich also scheinbar nur um ein Provisorium, welches alsbald durch die moralische Unterweisung und die Ausbildung der Vernunft abgelöst werden muss. Wir werden darauf im nächsten Abschnitt zurückkommen und hier zunächst bei der weiteren Erläuterung des Bruchstücks verweilen. Zum einen liefert diese nämlich weitere methodische Anmerkungen zur Katechese selbst: In dieser Katechese, welche durch alle Artikel der Tugend und des Lasters durchgeführt werden muß, ist die größte Aufmerksamkeit darauf zu richten, daß das Pflichtgebot ja nicht auf die aus dessen Beobachtung für den Menschen, den es verbinden soll, ja selbst auch nicht einmal für Andere fließenden Vortheile oder Nachtheile, sondern ganz rein auf das sittliche Princip gegründet werde […]. (MS, AA VI, 482)
Hier wird also deutlich, dass sowohl das Wissen um den formalen als auch den materialen Pflichtbegriff Gegenstände der Katechese sind. Zum anderen wird diese im Folgenden dadurch erweitert, dass Kant empfiehlt, ihr eine Kasuistik beizustellen, wodurch eine dritte Form des Wissens betont wird, nämlich die Fähigkeit, mit kasuistischen Fragen umzugehen, wofür die Übung der Urteilskraft notwendig, ist (MS, AA VI, 483).⁷ Sofern es sich dabei, dass die Heranwachsenden lernen selbstreflexiv zu urteilen oder wie Kant sagt „denken lernen“ (Päd, AA IX, 707), um einen zentralen Aspekt der (moralischen) Erziehung handelt, erstaunt es mitunter, dass Kant die Kasuisitik hier nur als eine Art Hilfsmittel des Katechismus empfiehlt; inhaltlich scheint es daher gerechtfertigt zu sein, diese als eine eigene Methode mit einem ihr eigenen Zweck zu behandeln. Und mehr noch, da sie eine über die Übung der Vernunft hinausgehende Funktion hat: Nicht allein daß dieses eine der Fähigkeit des Ungebildeten am meisten angemessene Cultur der Vernunft ist (weil diese Fragen, die, was Pflicht ist, betreffen, weit leichter entscheiden kann, als in Ansehung der speculativen) und so den Verstand der Jugend überhaupt zu schärfen die schicklichste Art ist: sondern vornehmlich deswegen, weil es in der Natur des Menschen liegt, das zu lieben, worin und in dessen Bearbeitung er es bis zu einer Wissenschaft (mit der er nun Bescheid weiß) gebracht hat, und so der Lehrling durch dergleichen Übungen unvermerkt in das Interesse der Sittlichkeit gezogen wird. (MS, AA VI, 484 f.)
Die Kasuistik vermag somit selbst keinen direkten Beitrag zur Motivation zu leisten, hat aber mithin einen propädeutischen Charakter für dieselbe.
Insofern gehört diese Art der Übung in den Bereich des notwendig einzuübenden Wissens und nicht in die Asketik, deren Gegenstand allein die Übung der Willenskraft ist.Vgl. Koch 2003, 384 ff.
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Soweit lässt sich also festhalten, dass der Katechismus die Pflichtbegriffe theoretisch lehrt, und das empirische Beispiel am Lehrer selbst eine ermunternde, wenn auch provisorische Funktion haben kann, und die Kasuistik den theoretischen Gebrauch des Wissens um die Pflicht lehrt. Doch wie wird demnach ein Beitrag zum Übergang vom Wissen zum Wollen unterstützt, also die Hinführung dazu sich die Maximen zu eigen zu machen und aus Pflicht zu handeln? Wenn ihm nämlich beim Schlusse seiner Unterweisung seine Pflichten in ihrer Ordnung noch einmal summarisch vorerzählt (recapituliert), wenn er bei jeder derselben darauf aufmerksam gemacht wird, daß alle Übel, Drangsale und Leiden des Lebens, selbst Bedrohung mit dem Tode, die ihn darüber, daß er seiner Pflicht treu gehorcht, treffen mögen, ihm doch das Bewußtsein, über sie alle erhoben und Meister zu sein, nicht rauben können, so liegt ihm nun die Frage ganz nahe: was ist das in dir, was sich getrauen darf, mit allen Kräften der Natur in dir und um dich in Kampf zu treten und sie, wenn sie mit deinen sittlichen Grundsätzen in Streit kommen, zu besiegen? Wenn diese Frage, deren Auflösung das Vermögen der speculativen Vernunft gänzlich übersteigt und die sich dennoch von selbst einstellt, ans Herz gelegt wird, so muß selbst die Unbegreiflichkeit in diesem Selbsterkenntnisse der Seele eine Erhebung geben, die sie zum Heilighalten ihrer Pflicht nur desto stärker belebt, je mehr sie angefochten wird. (MS, AA VI, 483)
Doch scheint es zweifelhaft, dass hierdurch allein schon Motivation begründet wird, denn es tut sich zumindest dahingehend eine Lücke auf, wie das Gefühl allein dadurch hinreichend affiziert zu werden vermag und die Pflichtbegriffe Eingang ins Gemüt finden. Kann diese Lücke nicht gerade durch eine Exemplarik geschlossen werden, durch die von der Beobachtung des guten Exempels ausgehende Wirkung?
6.2 Das gute Exempel Im Folgenden soll nun ausgehend von § 52 der Ethischen Didaktik, in der Kant das Exempel näher erläutert, untersucht werden, ob diesem nicht eine wesentlich zentralere Rolle zukommt, als es zunächst den Anschein haben mag. Das Ziel ist hierbei ein zweifaches: Einerseits soll gezeigt werden, dass dem Exempel keinesfalls nur eine Minimalfunktion⁸ in der moralischen Erziehung zukommt, sondern dass es ganz im Gegenteil ein notwendiges Mittel mit Blick auf den im Vorhergehenden problematisierten Übergang vom Tugendwissen zur Handlungsmotivation darstellt. Andererseits soll gezeigt werden, dass die Wirksamkeit und Bedeutung von Exempeln über die moralische Erziehung hinausgeht. Ent-
So etwa Dörflinger 2013, 393.
6.2 Das gute Exempel
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sprechend werden hier zunächst verschiedene Funktionen des Exempels erörtert, wobei sich zeigen wird, dass diese in Abhängigkeit der Beschaffenheit der Rezipientinnen variieren (müssen) und daher aufeinander aufbauen (6.2.1). Auf dieser Grundlage wird schließlich die Relevanz des Exempels im Rahmen der Kantischen Ethik vor dem Hintergrund von Kants ambivalenten Äußerungen zum Wert des Exempels evaluiert (6.2.2).
6.2.1 Funktionen des Exempels Im Folgenden soll gezeigt werden, dass Kant in dem hier zugrunde gelegten § 52 der Tugendlehre drei Funktionen des Exempels anspricht, und wenngleich nur die erste an dieser Stelle selbst eingehender erörtert wird, so darf gerade die Bedeutung der beiden anderen keinesfalls unterschätzt werden: (1) Das Exempel ermuntert zur Nachahmung. (2) Das Exempel dient zur Veranschaulichung und zum Beweis der Realisierbarkeit der Pflicht. (3) Das Exempel ermuntert zur Nachfolge. Ad (1) Wie wir im Vorhergehenden schon bemerkt haben, verweist Kant zunächst auf die Wirkung, die das Vorbild der Lehrerin selbst auf die noch gänzlich ungebildete Schülerin hat. Wir werden seine Argumentation hier nun durch eine chronologische Durchsicht des Paragraphen (mit Ausnahme der beiden letzten Sätze, die erst mit Blick auf die anderen beiden Funktionen von Belang sind) im Detail nachvollziehen. Dabei gilt es zu klären, worin die Leistungsfähigkeit und wo die Grenzen dieses Instruments liegen, mithin auch, inwiefern es sich hierbei um ein problematisches Instrument handelt und welche methodischen Besonderheiten hierbei Beachtung finden müssen: Das Experimentale (technische) Mittel der Bildung zur Tugend ist das gute Beispiel an dem Lehrer selbst (von exemplarischer Führung zu sein) und das warnende an Andern; denn Nachahmung ist dem noch ungebildeten Menschen die erste Willensbestimmung zu Annehmung von Maximen, die er sich in der Folge macht. (MS, AA VI, 479)
Hier wird also zunächst nur ein provisorisches technisches Mittel eingeführt, kleine Kinder durch ihren natürlichen Hang zur Nachahmung daran zu gewöhnen, überhaupt pflichtgemäß zu handeln; es handelt sich daher nur um die „erste Willensbestimmung“ durch Gewohnheit. Diese mag zwar zunächst ein reines Provisorium sein, doch sie mag gleichsam einen vorbereitenden unterstützenden Einfluss darauf haben, dass sich das Kind darauffolgend die richtigen Maximen
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zu eigen macht. Dies ist aber keinesfalls eine direkte Wirkung des Exempels, denn die Nachahmung besteht gerade nicht darin, eine Maxime anzunehmen, sondern ist einzig [d]ie Angewöhnung oder Abgewöhnung ist die Begründung einer beharrlichen Neigung ohne alle Maximen durch die öftere Befriedigung derselben; und ist ein Mechanism der Sinnesart statt eines Princips der Denkungsart (wobei das Verlernen in der Folge schwerer wird als das Erlernen). (MS, AA VI, 479)
Dadurch wird auch klar, dass die Nachahmung nur in der frühesten Erziehung ihre Berechtigung haben kann, aber so bald wie möglich überflüssig sein sollte, weil sie sich sonst vielmehr als hinderlich erweisen mag. Denn sofern hier einzig die äußere Handlung nachgeahmt wird, fällt dies noch ganz in den Bereich des Vormoralischen; dort zu verharren kann nicht zur Moral führen, vielmehr besteht, wenn man dies zu lange beibehält, eine Gefahr darin, weil sich Gewohnheiten nur schwer wieder ablegen lassen.⁹ Diente das Exempel allein der Nachahmung, wäre seine Bedeutung tatsächlich eine minimale, da es nicht aus dem Bereich des Vormoralischen herauszuführen vermag: Was aber die Kraft des Exempels (es sei zum Guten oder Bösen) betrifft, was sich dem Hange zur Nachahmung oder Warnung darbietet, so kann das, was uns Andere geben, keine Tugendmaxime begründen. Denn diese besteht gerade in der subjectiven Autonomie der praktischen Vernunft eines jeden Menschen, mithin daß nicht Anderer Menschen Verhalten, sondern das Gesetz uns zur Triebfeder dienen müsse. (MS, AA VI, 479 f.)
Durch Nachahmung und Gewohnheit kann man also nie zu innerer Freiheit gelangen. Die Gewohnheit muss daher schnellstmöglich abgelegt werden, weil „sittliche Maximen nicht so, wie technische, auf Gewohnheit gegründet werden können […], sondern, selbst wenn ihre Ausübung zur Gewohnheit würde, das Subject damit die Freiheit in Nehmung einer Maxime einbüßen würde, welche doch der Charakter einer Handlung aus Pflicht ist“ (MS, AA VI, 409). Ehe wir uns nun damit befassen, ob das Exempel auch dahingehend eine bewegende Kraft haben kann, das moralische Gesetz qua innerer Gesetzgebung Ganz ähnlich findet sich diese Idee des Provisoriums, welches alsbald abgeschafft werden muss auch in der Methodenlehre der Kritik der praktischen Vernunft, wenngleich hinsichtlich einer solchen Wirkung von Belohnungen oder Strafen: „Zwar kann man nicht in Abrede sein, daß, um ein entweder noch ungebildetes oder auch verwildertes Gemüth zuerst ins Gleis des moralisch Guten zu bringen, es einiger vorbereitenden Anleitungen bedürfe, es durch seinen eigenen Vortheil zu locken, oder durch den Schaden zu schrecken; allein so bald dieses Maschinenwerk, dieses Gängelband nur einige Wirkung gethan hat, so muß durchaus der reine moralische Bewegungsgrund an die Seele gebracht werden […].“ (KpV, AA V, 152)
6.2 Das gute Exempel
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zur motivationalen Grundlage des Handelns zu erheben, sei hier abschließend noch auf einen letzten die Nachahmung betreffenden Aspekt hingewiesen, nämlich mit Blick auf das, was hierfür zum Exempel dienen kann. Wir haben soweit schon gesehen, dass es die Lehrerin selbst ist, an der sich die Schülerin ein Vorbild nehmen sollte. Hiermit ergeht also eine Forderung an erstere, nämlich tatsächlich von exemplarischer Führung zu sein und ein gutes Vorbild abzugeben, so dass das Kind keine falschen Angewohnheiten entwickelt. Nur so kann gewährleistet sein, dass diese Methode tatsächlich eine vorbereitende Wirkung darauf hat, sich in Folge die richtigen Maximen zu eigen zu machen. Darüber hinaus ist aber auch schon in dieser ersten Phase der Erziehung darauf zu achten, dass man die Kinder darauf vorbereitet, sich nicht nach einem falschen Maßstab zu schätzen und somit zu einer falschen Selbstschätzung zu gelangen. Es ist daher darauf zu achten, Kinder nicht zu Vergleichen untereinander zu animieren: Daher wird der Erzieher seinem verunarteten Lehrling nicht sagen: Nimm ein Exempel an jenem guten (ordentlichen, fleißigen) Knaben! denn das wird jenem nur zur Ursache dienen, diesen zu hassen, weil er durch ihn in ein nachtheiliges Licht gestellt wird. (MS, AA VI, 480)
Somit scheint ein solcher Vergleich gerade falsche motivationale Gründe zu befördern und daher vielmehr auf diese Weise schon eine Anlage zum Selbstbetrug zu befördern. Denn das Ziel muss ja gerade darin bestehen, sich selbst mit dem Gesetz zu vergleichen und hierin seinen eigenen Wert zu erkennen, nämlich die Achtung der Würde in sich selbst. Durch die Beförderung von Vergleichung mit anderen und dem daraus resultierenden Neid, wird die Ausbildung dieser Gefühlsanlage aber bereits frühzeitig untergraben. Ad (2) Wenn es aber nicht das Verhalten anderer ist, welches eine Tugendmaxime begründen kann, wie kann das Exempel dann überhaupt eine über vorläufige Nachahmung hinausgehende Funktion haben? Kant weist uns im folgenden Satz tatsächlich auf eine solche: Das gute Exempel (der exemplarische Wandel) soll nicht als Muster, sondern nur zum Beweise der Thunlichkeit des Pflichtmäßigen dienen. (MS, AA VI, 480)
Das heißt, das Exempel soll eigentlich nicht dem Zweck der (blinden) Nachahmung dienen, sondern stellt geradezu einen Beleg der Pflicht dar, es veranschaulicht das moralische Gesetz und zeigt seine Realisierbarkeit auf. Am Exempel kann man demnach nicht nur erschließen, wie das Gesetz Anwendung findet, sondern gerade auch, dass die von ihm ausgehenden Pflichten erfüllbar sind. Wie wir weiter oben in Behandlung der Kasuistik schon gesehen haben, darf die Lehre der Tugend nicht bei den objektiven Gesetzen und den daraus resultierenden objektiven materialen Pflichten stehen bleiben. Sie muss in Relation zur
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Einzelnen gebracht werden, was in einem ersten Schritt durch die Übung der Urteilskraft in Behandlung kasuistischer Fragen geschieht. Diese leistet nicht nur einen Beitrag dazu, sich über das Gelehrte bewusst zu werden und es anwenden zu können, sondern, sofern man sich dieses Urteilen zur Gewohnheit macht, generiert es, vermittelt über das Lustgefühl (sich der eigenen Geisteskräfte bewusst zu werden), ein Interesse am Gegenstand der Moral. Hierbei handelt es sich aber noch nicht um wahres Interesse an Moralität: dieses muss darüber hinaus befördert werden, wozu das differenziert ausgewählte Beispiel dann ebenso zum Einsatz kommen muss. Denn nur vermittelt über ein solches, können die Pflichtbegriffe überhaupt Eingang ins Gemüt finden; der reine Appell an die Vernunft vermag das nicht zu leisten. Vielmehr muss ein Weg gefunden werden, auch das moralische Gefühl zu affizieren. Dass Kant dies hier nicht weiter ausführt, mag mithin darin begründet liegen, dass dieses Thema mit Blick auf die Erziehung bereits in der Kritik der praktischen Vernunft eingehend erörtert wurde. Dort ist es gerade das sorgsam ausgewählte narrative historische (nicht fiktionale) Beispiel, welches die Pflichten zunächst veranschaulichen soll: Ich weiß nicht, warum die Erzieher der Jugend von diesem Hange der Vernunft, in aufgeworfenen praktischen Fragen selbst die subtilste Prüfung mit Vergnügen einzuschlagen, nicht schon längst Gebrauch gemacht haben, und, nachdem sie einen blos moralischen Katechism zum Grunde legten, sie nicht die Biographien alter und neuer Zeiten in der Absicht durchsuchten, um Beläge zu den vorgelegten Pflichten bei der Hand zu haben […]. (KpV, AA V, 154)
Dieses dient, sofern es differenziert genutzt wird und eine mehrschichtige Beurteilung beinhaltet, nämlich hinsichtlich der sittlichen Richtigkeit, dem Motiv der Handlung und der Reinheit des Motivs nicht nur als ein kasuistischer Fall, sondern soll gerade einen Beleg für eine Pflicht abgeben (vgl. KpV, AA V, 159 f.). Es exemplifiziert das moralische Gesetz, so dass es uns in die Lage versetzt, das Allgemeine am Einzelnen zu erkennen und zugleich zu erkennen, dass dieses Gesetz erfüllbare Forderungen stellt. Ad (3) Und auf dieser Grundlage vermag das gute Exempel schließlich zur Nachfolge zu ermuntern: Also nicht die Vergleichung mit irgend einem andern Menschen (wie er ist), sondern mit der Idee (der Menschheit), wie er sein soll, also mit dem Gesetz, muß dem Lehrer das nie fehlende Richtmaß seiner Erziehung an die Hand geben. (MS, AA VI, 480)
Erst die Veranschaulichung der Tugend an einem personalen Beispiel scheint es zu ermöglichen, die Aufmerksamkeit der Urteilenden auf sich selbst zu lenken, so dass das Exempel dadurch wirksam wird, dass es die Beobachterinnen auf etwas
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in sich selbst aufmerksam macht, nämlich ihre „innere Freiheit“ und „die Achtung für uns selbst im Bewußtsein unserer Freiheit“ (KpV, AA V, 161). Somit kann sie am Exempel erkennen, dass es ihr tatsächlich möglich ist moralisch zu handeln, nämlich indem sie sich nicht mit der Person selbst vergleicht, sondern mit dem Ideal, das diese exemplifiziert und von dem sie erkennen kann, dass sie selbst die gleiche Anlage in sich trägt.¹⁰ Und dazu braucht es gerade die lebendige Darstellung der Gesinnung an solchen Exempeln, die die Triebfeder der Achtung in ihrer Reinheit darstellen, mithin solche, in denen jemand unter Abbruch all seiner Neigungen doch das Richtige tut. Erst ein solches Beispiel macht auf das Bewusstsein der inneren Freiheit aufmerksam, und so wird ein dem Menschen inneres ihm vorher noch nicht bekanntes Vermögen aufgedeckt und sichtbar gemacht (vgl. KpV, AA V, 161). Und die Bewunderung dieser Anlage erweckt zugleich den „lebhaften Wunsche, selbst ein solcher Mann sein zu können (obzwar nicht in seinem Zustande)“ (KpV, AA V, 156). Wie Lutz Koch es prägnant zusammenfasst, richtet sich die moralische Erziehung daher nicht nur an die Vernunft der Heranwachsenden, sondern auch an ihr Gefühl, ein Punkt, der in der Regel entweder völlig übersehen oder doch viel zu gering eingeschätzt wird. Außerdem bedient sich die Erziehung der Anschauung […] durch Darstellung, die sich an die Einbildungskraft der Heranwachsenden wendet, das moralische Gefühl der Achtung freizusetzen und so die moralische Triebfeder zu wecken.¹¹
So verstanden regt das Exempel aber gerade nicht zur Nachahmung an, sondern allein zur Nachfolge, welche „der rechte Ausdruck für allen Einfluß, welchen Producte eines exemplarischen Urhebers auf andere haben können [ist]; welches nur so viel bedeutet als: aus denselben Quellen schöpfen, woraus jener selbst schöpfte“ (KU, AA V, 283).¹² Hier geht es also gerade nicht allein um die äußere Handlung, sondern zuallererst darum, sich das gleiche Motiv als dieselbe Quelle des Handelns zu eigen zu machen. Dies ist es wozu das gute Exempel am Ende anregen soll: sich „in der Folge“ (MS, AA VI, 479) die gleichen Maximen zu eigen zu machen, nicht dagegen musterhaft das Verhalten nachzuahmen. So verstanden gewährleistet auch die Orientierung am empirischen Exempel die Vergleichung mit dem Gesetz, nämlich insofern das Exempel dieses exemplifiziert. Was uns allein zum Vorbild dienen kann, ist die Gesinnung, die in den Handlungen zum Ausdruck kommt und die moralische Stärke der Handelnden. Deshalb betont Vgl. Koch 2003, 388 f. Koch 2003, 379. Vgl. auch: „[E]in Beispiel nicht der Nachahmung (denn da würde das, was daran Genie ist und den Geist des Werks ausmacht, verloren gehen), sondern der Nachfolge für ein anderes Genie, welches dadurch zum Gefühl seiner eigenen Originalität aufgeweckt wird […].“ (KU, AA V, 318)
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Kant, dass wir das Augenmerk bei der Beobachtung von Beispielen allein darauf legen dürfen: „Will man jemanden aber sie als Beispiele der Nachfolge vorstellen, so muß durchaus die Achtung für Pflicht […] zur Triebfeder gebraucht werden“ (KpV, AA V, 85).
6.2.2 Die Relevanz des Exempels Nun haben wir gesehen, dass Exempel allein zwar nicht hinreichend sein können für die Moralerziehung, aber doch einen notwendigen und zentralen Bestandteil derselben ausmachen. Kants Einschränkung hingegen, dass sie nur mit Blick auf „ungebildete[n] Menschen“ (MS, AA VI, 479) ihre Berechtigung haben, lässt sich nun dahingehend einschränken, dass dies nur insofern der Fall ist, als sie auf Nachahmung zielen. Diese darf nur beim noch gänzlich ungebildeten Kind angestrebt werden. Dient das Beispiel jedoch darüber hinaus der Nachahmung, so gefährdet es sowohl die Autonomie als auch die Urteilskraft der Rezipientin, sofern sie deren Verhalten nur kopiert, anstatt selbst zu denken: Der Nachahmer (im Sittlichen) ist ohne Charakter; denn dieser besteht eben in der Originalität der Denkungsart. Er schöpft aus einer von ihm selbst geöffneten Quelle seines Verhaltens. Darum aber darf der Vernunftmensch doch auch nicht Sonderling sein; ja er wird es niemals sein, weil er sich auf Principien fußt, die für jedermann gelten. Jener ist der Nachäffer des Mannes, der einen Charakter hat. (Anth, AA VII, 293)
Bereits in der Erziehung muss daher angestrebt werden, dem Exempel eine solche Form (d.i. angemessene Betrachtung) zu geben, dass es vielmehr aus dem Zustand der Nachahmung hinausführt, indem es die Quelle der Tugend versinnbildlicht und der Rezipientin zugleich zeigt, dass diese in ihr selbst zu finden ist. Das Exempel kann somit zu einer Revolution der Denkungsart hinführen, wenn diese auch aus eigener Kraft vollzogen werden muss. Da wir aber bereits festgestellt haben, dass diese Revolution zwar mit einem Male genommen werden muss, aber dennoch der stetigen Bekräftigung und Festigung bedarf, lässt sich durchaus geltend machen, dass das gute Exempel auch über die Moralerziehung hinaus eine nicht zu unterschätzende Wirkung entfalten kann. Es führt uns das moralische Gesetz immer wieder vor Augen und erinnert uns daran, dass wir über die Fähigkeit verfügen, dieses zu befolgen, diesbezüglich hat es also eine bekräftigende und ermunternde Funktion. Indem uns empirische Exempel vor Augen führen, was wir konkret tun könnten, affizieren sie aber nicht nur unser moralisches Gefühl und unsere Selbstachtung, sondern appellieren auch an unser Gewissen. Darüber vermittelt können sie einen Beitrag zur Selbsterkenntnis leisten, und tragen dazu bei, dass wir unsere eigenen Untugenden in Vergleichung mit
6.2 Das gute Exempel
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dem Gesetz besser erkennen können. Somit können sie gleichsam einen positiven Einfluss auf die Entwicklung unserer moralischen Stärke haben. Indem sie uns zur Nachfolge inspirieren leisten sie daher einen wichtigen Beitrag zur Selbstvervollkommnung. Es hat sich also gezeigt, dass Kant die Relevanz von Exempeln keinesfalls zurückweist, sondern ganz im Gegenteil, dass diesen mit Blick auf die Frage, wie die Pflichtbegriffe Eingang ins Gemüt finden können, eine gewichtige Rolle zukommt. Sie sind somit notwendige Hilfsmittel des Tugenderwerbs und haben ihre Berechtigung im Bereich der Ästhetik der Sitten. Die vermeintliche Ambivalenz von Kants Bemerkungen zum Exempel lässt sich vor diesem Hintergrund dahingehend auflösen, dass seine negativen Bemerkungen (1) entweder auf die Bedeutung von Exempeln für die Moralbegründung, also den Bereich der Metaphysik der Sitten, zielen, oder aber (2) darauf, welche Beispiele überhaupt als Exempel geeignet sind und somit überhaupt für die ihnen zugewiesene Rolle dienlich sind. Ad (1) Wenn Kant in der Grundlegung behauptet, „man könnte auch der Sittlichkeit nicht übler rathen, als wenn man sie von Beispielen entlehnen wollte“ (GMS, AA IV, 408), so ist dies keinesfalls als eine allgemeine Zurückweisung von Beispielen zu betrachten. Vielmehr muss man den Kontext dieser Bemerkung bedenken; hier geht es um die Aufsuchung des obersten Moralprinzips, so dass hier einzig zurückgewiesen wird, dass Beispiele mit Blick auf die Begründung desselben eine Rolle spielen. Denn dieses kann nur unbedingte Notwendigkeit und Universalität beanspruchen und das „nicht bloß für Menschen, sondern alle vernünftige Wesen überhaupt“ (GMS, AA IV, 409), wenn es a priori begründet wird und gerade nicht empirisch. Entsprechend kann man durch Beispiele nicht zu einer reinen Moralphilosophie gelangen, woraus jedoch nicht folgt, dass sie für die Anwendung derselben keine Rolle spielen. Aber diese Anwendung setzt gerade voraus, die Moralphilosophie „zuerst unabhängig von dieser als reine Philosophie, d. i. als Metaphysik, vollständig […] vorzutragen“ (GMS, AA IV, 412). Wir brauchen also zunächst einen Standard, nach dem man das Exempel überhaupt beurteilen kann, „[d]enn jedes Beispiel, was mir davon vorgestellt wird, muß selbst zuvor nach Principien der Moralität beurtheilt werden, ob es auch würdig sei, zum ursprünglichen Beispiele, d. i. zum Muster, zu dienen, keinesweges aber kann es den Begriff derselben zu oberst an die Hand geben“ (GMS, AA IV, 408). Dabei räumt Kant selbst in der Grundlegung schon ein, dass die Frage, wie die reine Philosophie Eingang findet einer anderen Antwort bedarf: Diese Herablassung zu Volksbegriffen ist allerdings sehr rühmlich, wenn die Erhebung zu den Principien der reinen Vernunft zuvor geschehen und zur völligen Befriedigung erreicht
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ist, und das würde heißen, die Lehre der Sitten zuvor auf Metaphysik gründen, ihr aber, wenn sie fest steht, nachher durch Popularität Eingang verschaffen. (GMS, AA IV, 409)
Allerdings warnt Kant auch hier schon davor, dass dies nicht auf Nachahmung zielen darf, da diese „im Sittlichen gar nicht statt[findet]“, denn bei aller veranschaulichenden und ermunternden Kraft ist man doch niemals berechtigt, „ihr wahres Original, das in der Vernunft liegt, bei Seite zu setzen und sich nach Beispielen zu richten“ (GMS, AA IV, 409). Mithin zeigt sich hier das, was wir im Vorhergehenden bereits gesehen haben: Beispiele können der Nachfolge, nicht aber der Nachahmung dienen, denn sonst leisten sie gerade keinen Beitrag zur Beförderung der Moralität. Daher spielen Vorbilder zwar durchaus eine wichtige Rolle im moralischen Leben, aber sie sind eben nicht hinreichend. Denn wir müssen sie kritisch reflektieren und sie können uns das selbst denken nicht abnehmen.¹³ Ad (2) Betrachtet man hingegen die kritischen Bemerkungen Kants in der Kritik der praktischen Vernunft, so zielen diese gänzlich darauf, dass die Auswahl der Exempel mit Bedacht erfolgen sollte. Sie deuten also gerade nicht auf eine gänzliche Ablehnung von Beispielen für den Tugenderwerb, sondern vielmehr machen sie auf die Wichtigkeit eines differenzierten Umgangs mit denselben aufmerksam. Insbesondere im Rahmen der Moralerziehung ist dies zu beherzigen, sowohl bei der Auswahl der Fälle, als auch beim Vortrag derselben; beides muss derart beschaffen sein, dass es die anvisierte Wirksamkeit nicht verfehlt, nämlich das moralische Gesetz zu veranschaulichen, die Tunlichkeit der Pflicht vorzustellen und zur Nachfolge zu ermuntern. Das heißt aber auch, dass wir durch die Moralerziehung lernen müssen, darüber zu urteilen, worin ein gutes Exempel besteht und wie wir es uns erschließen können. Nur so ist gewährleistet, dass man später nicht dahin zurück verfällt, andere unkritisch nachzuahmen. Wenn Kant nun insbesondere solche Beispiele kritisch beurteilt, die Handlungen als edel, erhaben und großmütig darstellen oder erscheinen lassen, so ist das gerade nicht darin begründet, dass man keine herausragenden Fälle moralischen Handelns hierfür verwenden darf, sondern einzig darin, dass eine bestimmte Art solcher Beispiele diesen Zweck allzuleicht verfehlt und das Auge der Betrachterin allzuleicht auf falsche Aspekte der Handlung lenkt. Das größte Problem hierbei sei, dass deren Nachahmung eine „windige, überfliegende, phantastische Denkungsart“ (KpV, AA V, 85) hervorbringe, ja lauter Romanhelden produziere. Es sind hier tatsächlich stets die Romanhelden, die Kant warnt zum Vorbild zu nehmen; ein reales, aus dem Leben gegriffenes Beispiel sei daher besser dazu
Vgl. Louden 2011, 104.
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geeignet. Es geht ihm gerade darum, dass die „schmelzenden, weichherzigen Gefühle[n]“ (KpV, AA V, 157) niemals eine solche Wirkung aufs Gemüt haben können, wie die „trockne und ernsthafte Vorstellung der Pflicht“ (ebd.). Was hier zurückgewiesen wird, ist also nicht die Ansprache des Gefühls im Allgemeinen, sondern eines solchen, das sich an falsche Inhalte heftet und somit einen falschen Orientierungsmaßstab zugrundelegt. Ein gut gewähltes Exempel darf gerade nicht auf enthusiastischen Gefühlsschwang zielen, denn „diese vermeinte Triebfeder [ist], wo nicht von nachtheiliger, wenigstens von keiner ächten moralischen Wirkung aufs Herz“ (ebd.), sondern muss allein darauf zielen, dass wir die Triebfeder der Pflicht lebhaft empfinden. Damit die Pflichtbegriffe Eingang ins Gemüt finden, bedarf es daher sowohl rationaler Einsicht, als auch lebhafter Empfindung; diese bilden einen Zusammenhang der praktischen Vernunft eines sinnlich-vernünftigen Wesens.¹⁴ Daraus folgt auch keineswegs, dass Beispiele verdienstlicher und edler Taten gar nicht als Vorbild fungieren können, aber eben nur, wenn „Spuren da sind, welche vermuthen lassen, daß sie ganz aus Achtung für seine Pflicht, nicht aus Herzensaufwallungen geschehen sind“ (KpV, AA V, 85). Umso wichtiger ist in diesem Fall, die Aufmerksamkeit durch eine angemessene Darstellungsweise auf den wesentlichen Aspekt der Handlung zu lenken: „Will man jemanden aber sie als Beispiele der Nachfolge vorstellen, so muß durchaus die Achtung für Pflicht (als das einzige ächte moralische Gefühl) zur Triebfeder gebraucht werden […]“ (ebd.). Denn das moralische Gefühl kann nur durch Pflichtbegriffe affiziert werden. Noch weniger folgt daraus aber, dass jegliche Handlungen, die als paradigmatische Fälle von Supererogation verhandelt werden, nicht zum Exempel geeignet sind. Ganz im Gegenteil sind es gerade diejenigen aufopferungsvollen Fälle vermeintlicher Supererogation, die mitunter ein anschauliches Beispiel der Pflicht abgeben können, sofern sich bei diesen nicht ohne weiteres ein anderer motivationaler Grund ausmachen lässt als die Pflicht, so dass sie es vermögen, diesen in seiner Reinheit vorzustellen und „wir an demselben uns überzeugen können, daß die menschliche Natur zu einer so großen Erhebung über alles, was Natur nur immer an Triebfedern zum Gegentheil aufbringen mag, fähig sei“ (KpV, AA V, 158).
Vgl. Recki 2001, 306.
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6.3 Die Bewunderung des Guten Wir haben im Vorhergehenden also gesehen, dass wenngleich Tugendhaftigkeit nach Kant letzten Endes immer nur vom autonomen Subjekt selbst angestrebt werden kann und daher niemals direkt von außen erwirkt werden kann, dieser Prozess von außen dennoch indirekt befördert werden kann. Eine besondere Stellung nimmt in diesem Zusammenhang das gute Exempel ein. Die Reflexion auf das Exempel, das andere uns geben, vermag unsere moralischen Gemütsanlagen zu affizieren und trägt somit dazu bei, dass die objektive praktische Vernunft subjektiv werden kann. Daraus folgt mithin eine motivationale Wirkung, dem Exempel nachzufolgen. Ganz ähnlich der zu Beginn angeführten Beobachtung der Wirkung eines sportlichen Vorbilds setzt die motivationale Wirksamkeit auch hier voraus, dass man sich mit der Akteurin identifizieren kann und zwar sowohl hinsichtlich des geteilten Zwecks als auch über die hinreichend ähnliche Beschaffenheit der Person. Der geteilte Zweck ist in diesem Fall die Tugend. Und auch wenn ein grundlegender Unterschied zum Fall der Sportlerin nun darin besteht, dass es sich um einen gebotenen Zweck handelt und nicht um einen beliebigen, so müssen wir uns diesen doch selbst zu eigen machen, die entsprechenden Maximen annehmen und die notwendige moralische Stärke hervorbringen. Moralität ist eben kein von außen auferlegtes Regelwerk, dass es zu befolgen gilt. Entsprechend kann das Exempel auch im Bereich der Moral nur dann zur Nachfolge ermuntern, wenn man sich selbst qua innerer Gesetzgebung verbindet, das heißt nur dann, wenn man bereits über eine gute Gesinnung verfügt (bzw. sie in Folge zuallererst annimmt). Das Exempel zeigt einem dabei die Möglichkeit auf, die Tugend als Zweck anzustreben, und trägt dazu bei, die damit einhergehenden Entbehrungen als notwendig, aber zugleich lohnenswert anzuerkennen. Neben der zweckgebundenen Identifikation bedarf dies der Identifikation mit der Person, um zu der Erkenntnis zu gelangen, dass dieser Zweck nicht nur grundsätzlich, sondern auch von einem selbst anstrebbar ist. Wir müssen erkennen, dass der Ursprung ihrer Handlungen einer ist, den wir selbst als moralische Wesen auch in uns tragen. Das Vorbild, was uns diese Person gibt, mag zwar momentan unerreichbar sein, weil man noch nicht die entsprechende moralische Stärke ausgebildet hat, muss aber aufgrund der gleichen Voraussetzungen doch als prinzipiell erreichbar gedacht werden. Erkennt man diese grundlegende Ähnlichkeit nicht, so führt womöglich gerade das zum Selbstbetrug, wie wir im letzten Kapitel gesehen haben, da man sich in diesem Fall anhand eines falschen Maßstabes beurteilt, nämlich „einem anderen Menschen (wie er ist)“ und nicht „der Idee (der Menschheit)“ (MS, AA VI, 480).
6.3 Die Bewunderung des Guten
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Sofern eine Person diese Idee veranschaulicht, gibt es eben gute Gründe dafür, dass wir diese Person, im Gegensatz zur herausragenden Sportlerin, eigentlich bewundern sollten und ihr nachstreben sollten. Insofern dem Exempel nachzufolgen nämlich gerade heißt, dass man nach Selbstvervollkommnung strebt, ist dies tatsächlich geboten. Das heißt aber gerade nicht, dass es geboten ist, genau das zu tun, was jene Akteurin tut. Sondern eben nur sich die gleichen Maximen zu eigen zu machen, nämlich jene, die die Tugendpflichten gebieten, und seine moralische Stärke in Befolgung dieser Pflichten zu erhöhen. Und wie wir im dritten Kapitel bereits festgestellt haben, ist dies mitunter sehr fordernd, aber nicht überfordernd. Der Fokus auf die Pflicht bleibt hier unausweichlich bestehen, es ist und bleibt das Ziel, dass wir erkennen und anerkennen, was unsere Pflicht ist. Wie hilft das nun mit Blick auf unsere Praxis, gewisse Handlungen als supererogatorisch zu betrachten weiter? Müssen wir tatsächlich annehmen, dass diese Beurteilung auch aus der Perspektive der Beobachterin immer problematisch ist und mit Selbstbetrug oder einem Anreiz zu falscher Handlungsmotivation einhergeht? Es verbleibt also zu klären, ob und inwiefern es legitim sein kann, diese Handlungen trotzdem als supererogatorisch zu betrachten und was es unter diesen Umständen überhaupt heißt, dass eine Handlung (vermeintlich) supererogatorisch ist. Eben jene Handlungen, die uns zum Exempel dienen, mögen supererogatorisch erscheinen, ohne dass dabei jedoch bestimmte Handlungen als vermeintlich supererogatorisch zu kennzeichnen sind. Vielmehr scheint dies in der jeweiligen Relation zwischen Akteurin und Beobachterin begründet zu sein – nämlich darin, dass die Beobachterin der Akteurin einen wesentlich höheren Grad an moralischer Stärke zuschreibt als sich selbst. Die Handlung erscheint ihr daher unter Voraussetzung ihrer eigenen Bedingungen als nicht geboten, weil sie glaubt sie nicht erfüllen zu können. Und wenngleich ihr das gute Exempel der Akteurin vor Augen führt, dass sie über die grundlegenden Voraussetzungen verfügt, dies zu tun und sie darin erkennt, dass die Handlung eigentlich geboten ist, so mag der Anschein der Supererogation trotzdem bestehen bleiben, solange sie die entsprechende Stärke nicht entwickelt hat. Sofern das Exempel sie dabei trotzdem zur Nachfolge ermuntert, ist dieser Schein unproblematisch, denn er bleibt bestehen, obgleich sie „weiß, daß der Gegenstand nicht wirklich ist“ (Anth, AA VII, 149). Eine Handlung als supererogatorisch zu betrachten ist demnach legitim, wenn man sich damit nicht selbst betrügt, sofern man also darum weiß, dass es sich hierbei nur um eine Illusion handelt, die nicht „zur Entschuldigung“ dienen darf, „und so Erscheinung für Erfahrung zu halten“ (Anth, AA VII, 146), steht dies der Selbstvervollkommnung keineswegs im Weg. Es mag vielmehr ein Ausdruck der Bewunderung sein, die man dieser Person entgegenbringt.
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Personenregister Adams, R.M. 21, 39 Allison, H.E. 59, 103, 112 Alves, J. 61 Anscombe, G.E.M. 19 Archer, A. 24, 28 f., 33, 36 Atterton, P. 73 Attfield, R. 21 Bal, M. 18 Baron, M. 11, 46 f., 49, 64, 75, 84 – 89, 94, 100, 110 f., 121, 133 f. Baum, M. 59, 126, 128 Beck, L.W. 42 Benn, C. 28, 38 Betzler, M. 7 Blöser, C. 57, 102 Brown, C.M. 18, 31 Calvin 18 Carbonell, V. 39 Chappell, T. 37 Chisholm, R. 19, 21, 24, 28, 69 Cohen, A. 8 Cohen, S. 24 Crisp, R. 21, 36 Dahrendorf, R. 19 Dancy, J. 23 – 25, 28, 32, 42 Denis, L. 93 Dörflinger, B. 154 Driver, J. 24 Eisenberg, P. 11, 68 – 71 Engstrom, S. 101 Esser, A.M. 90, 107, 131 Fairbanks, S.J. 92 f. Feinberg, J. 21, 25, 27 f. Feldman, F. 21 Ferry, M. 28, 31, 33, 37 Gert, J. 32 f. Gosepath, S. 43 https://doi.org/10.1515/9783110674729-011
Goy, I. 124, 129, 133 Gregor, M.J. 7 Guevara, D. 82 Guyer, P. 93, 110 f. Halbig, C. 7, 42, 44, 90 Hale, S. 33 – 35, 37 Harbison, W.G. 49, 95 Hare, R.M. 31 Hedberg, T. 24 Henson, R.G. 41, 110 f. Herman, B. 49, 90, 111, 133 Heyd, D. 17, 21 – 29, 32, 36 – 38, 68, 74 f., 88 Hill, T.E. 11, 62, 68, 71 – 75, 84 f. Höffe, O. 90 Horgan, T. 33 Hurka, T. 38 Jokic, A. 11, 76 – 78, 81 Jörden, J.C. 16 Jost, L. 7 Kawall, J. 21, 29 Koch, L. 153, 159 Köhl, H. 49 Korsgaard, C. 45, 48 – 50, 109 Kraut, R. 38 Kühler, M. 37 Landkammer, J. 3 Liberto, H. 24 Lichtenstein, A. 16 Louden, R.B. 42, 90 f., 95 – 97, 101, 109, 121, 151, 162 Ludwig, B. 7, 56, 60 f., 145 Luhmann, N. 19 Luther, M. 18 McCarty, R. 11, 64, 76, 78 – 81, 88 McElwee, B. 24 McGoldrick, P.M. 28 McKay, A.C. 23
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Personenregister
Meinong, A. 19 Mellema, G. 16, 18, 21, 24, 29 Michael, M.A. 23 Mieth, C. 16 f., 23, 28 Montague, P. 22, 27 Moran, K. 121, 139 Münkler, H. 138 f. Nagel, T. 32, 77 Naumann, K. 39, 81 Neiman, S. 38 O’Hagan, E. 107 O’Neill, O. 49, 53, 61, 68 Papish, L. 116 Paton, H.J. 48, 109 Pinheiro Walla, A. 83 Portmore, D.W. 21, 24, 32 Postow, B.C. 31 Potter, N. 121 Pybus, E.M. 21, 27 Raters, M.-L. 23 Rawls, J. 21, 49 Raz, J. 21, 27, 31 f. Reath, A. 91 Recki, B. 126, 145, 163 Rescher, N. 37 f. Ridge, M. 33, 36 Riefling, M. 150 Römer, I. 8 Schadow, S. 53 f. Schiller, F. 90 Schindler, I. 2 f. Schönecker, D. 43 f., 46, 48
Schwarz, E. 19 Sensen, O. 7 Sherman, N. 90, 133 f., 149 Slaby, J. 119 Slote, M. 38, 77 Sosa, E. 21 Stepanians, M. 56 Sticker, M. 83 Stratton Lake, P. 92 Thomas Aquinas 17 Timmermann, J. 7, 11, 40, 57, 73, 82 – 84, 91 Timmons, M. 33 Trampota, A. 7 Trianosky, G.W. 27 Urmson, J.O.
6, 19 – 21, 28, 35 f.
Van Ackeren, M. 37 f., 83 Vogt, K.M. 64, 75 Wall, S. 38 Ware, O. 106 Watkins, B. 81, 141 Wehofsits, A. 117 f., 120, 148 Weinberg, J. 23 Wessels, U. 21, 23, 26, 68 Willaschek, M. 104 Williams, B. 5, 38, 77 Witschen, D. 28 f., 35, 38 Wolf, S. 5, 21, 32, 38 f. Wood, A.W. 41, 46, 48 – 50, 62, 110, 121 Wuerth, J. 7 Zagzebski, L.T. 7 Zimmerman, M.J. 25
Sachregister Achtung 10, 12, 44, 46, 49 – 51, 55 f., 58, 66, 77, 79, 89, 99, 110 f., 122, 125, 127,140, 149, 159 f., 163 – für sich selbst (Selbstschätzung) 13, 58, 61, 79, 125, 128, 135, 139, 141, 148, 157, 159, 161 – gegen andere 48, 50, 58, 62, 139 Achtungspflicht 62, 72, 128, 140 Affekt 12, 80, 100, 115 – 124 Altruismus 26, 28 f., 83 f., 88 Anthropologie 41 f., 114, 116 – 119 Apathie, moralische 13, 99 f., 115, 122 – 125, 134 Arroganz 18, 139 Asketik, moralische 151 – 153 Autokratie 95, 143, 150 Autonomie 48, 50, 82, 93 – 95, 101, 114, 130, 143, 150, 156, 160, 164 Begehrungsvermögen 47, 116 – 118, 130, 133 Begierde 43, 99, 114, 116, 118 f. Bescheidenheit 35, 138 f. Bestimmungsgrund 43, 47, 53 f., 66, 89, 95, 98 Bewunderung 1 f., 5 f., 8, 15, 39, 66, 80, 87 – 89, 130, 159, 164 f. Charakter 4, 8, 27, 45, 79 f., 87 – 89, 94, 134, 160 – empirischer 103, 106, 136 – intelligibler 102 f. Charakterbildung 41 Charaktermangel 138, 140, 160 Dankbarkeit 62 Demut 141 deontologische Ethik Disziplinierung 150
4, 7, 40
Eigendünkel (eigenliebige Selbstschätzung) 66, 121 – 123, 138 – 140, 157 Eigenliebe 122, 138 https://doi.org/10.1515/9783110674729-012
Einbildungskraft 116, 159 Elementarlehre 59, 62, 128, 145, 151 Empfindung 117, 126, 129, 132 f., 135, 163 Enthusiasmus 118, 141, 163 Erfahrungsbegriff 143, 161 Erhabene, das 78 – 81, 141 Erlaubte, das 19, 68 f. Erziehung, moralische 13, 38, 66, 80, 85, 87 f., 91, 141, 144, 150 – 160 Erzwingbarkeit 54 – 56, 61, 67, 150 Exempel 13 f., 143 f., 154 – 165 Exemplarik 151 f., 154 Formalismus 7 f., 10, 40, 63, 90 Fortschreiten zum Guten 92, 101 f., 104 Freiheit 50, 53, 55, 58, 69, 72, 75, 94 – 99, 101, 103 f., 114 – 116, 120, 122 f., 134, 150, 156, 159 Frohsinn 99 f., 149, 152 Gebotene, das 4, 19 – 26, 38, 68 f., 71, 81, 84 f. Gebrechlichkeit der menschlichen Natur 60, 98, 105 Gefühl 2, 7 f., 13 f., 41, 46, 62, 79 f., 96, 116 f., 119, 121 – 136, 148 f., 154, 156, 158, 163 – moralisches 13, 49 f., 66, 79 f., 89, 125, 127 – 131, 140, 148, 158 – 161, 163 Gefühlsvermögen 13, 116, 125 – 129, 148 Gemüt 12, 14, 66, 108, 114, 117 – 119, 125, 127, 131, 138, 142, 148 f., 152, 154, 158, 161, 163 – fröhliches 99 f., 149, 152 Gemütsanlagen 126 – 128, 164 Gemütsruhe 100, 122 – 124, Gesetzgebung 48, 52 – 56, 59 – 61, 72, 92, 104, 114, 126, 135, 157, 164 Gesetz, moralisches 10, 12 – 14, 41, 44, 47 – 51, 53 – 60, 64, 66, 69, 72, 77 – 80, 85, 89 f., 92, 94 – 101, 104, 106, 108 – 112, 114, 120 – 122, 125 – 127, 129 – 132,
176
Sachregister
135 – 138, 140, 142, 144, 151 f., 156 – 158, 160 – 162 Gewissen 13, 60, 120, 125, 128 f., 131 f., 148, 161 Gewohnheit 118, 136 f., 148, 155 – 158 Glückseligkeit – eigene 44 – 47, 59, 83, 85, 100 – fremde 10, 52, 56, 58 f., 71, 83 f., 129, 132, 150
Laster 62, 90, 96 f., 99 f., 103, 105, 117 – 119, 121, 124, 139 – 141, 153 Lauterkeit 92 f. Legalität 53, 109, 129, 131 Leidenschaft 12 f., 99, 104, 115 – 124, 136 f. Liebespflicht 62 f., 128, 133 Lüge, innere 61, 121 Lust 46 f., 116, 124, 131 f., 137, 158 – moralische 100 f., 129 f., 149
Handlungsgrund – akteurs-neutraler vs. akteurs-relativer 32 – konklusiver 31 f. – motivationaler 42 f., 45 f., 49 – 51, 54 – 56, 58, 93, 96, 100, 110 f., 147, 163 – normativer 42 f., 45, 47, 50 f., 54 f., 89, 93, 96, 106 heilig, Heilige 5, 17 – 21, 23, 37, 39, 44, 71, 79 f., 83 f, 95 f. heldenhaft, Heldin 15, 19 – 21, 23, 28, 35, 37, 71, 79, 83 f, 86, 139, 162 Heldinnenparadox 9, 33 – 36, 38, 138, 140 Herrschaft über sich selbst 13, 93, 99 – 101, 115, 122 – 124, 134 Hochmut 62, 139 f.
Maxime 10, 12, 43 – 45, 47 – 51, 54, 56 – 59, 61 f., 67, 70, 72 f., 75, 82, 85, 93 – 95, 98 – 112, 114, 116, 118 f., 129, 132 f., 137, 148, 151, 153 – 157, 159, 164 f. Menschenliebe 13, 128 f., 132 – 135, 148 Menschheit 48, 58, 61, 72, 158, 164 – Würde der 62, 139 Methode, Methodenlehre 109, 143 – 145, 150 – 153, 156 f. Mitgefühl 133, 135, 145 Moralisierung 148, 150 Moralität 13, 40, 53, 69, 83, 90, 109, 114 f., 121, 125 f., 129, 135, 137, 143 – 145, 147 f., 150, 158, 161 f., 164 Motiv 43, 51, 61, 68, 73, 87 f., 111, 120, 158 f.
Ideal, moralisches 5 f., 17, 21, 37 – 40, 63 Illusion 106, 147 f., 165 Imperativ 43, 95 – hypothetischer 43, 47, 58, 112, 114 – kategorischer 7 f., 10, 40, 43, 48 f., 51, 59, 63, 69, 72, 78, 90, 94 – 96, 112, 114 Interessen, nicht-moralische/persönliche 4 f., 20, 28, 38, 50 Internalismus/Externalismus 43, 51 Kasuistik 7, 57, 61, 67, 105, 151, 153 f., 157 f. Katechetik, Katechismus 151 – 154, 158 Korrelativitäts- und Kontinuuitätskriterium 26, 37 Kosten, Kostspieligkeit 4, 17, 26, 28 Kriecherei 61, 141 Kultur, Kultivierung 13, 59 f., 90, 94, 97, 109, 114, 116, 123, 125, 127, 130 f., 133 f., 137, 145 f., 148 – 151, 153
Nachahmung 140 – 142, 153, 155 – 157, 159 f., 162 Nachfolge 14, 155, 158 – 165 Nächstenliebe 16, 57, 125, 128, 132 Natur des Menschen 8, 12, 41, 60, 90, 93, 97 f., 104 f., 114, 126, 153, 163 Neid 3, 6, 141, 157 Neigung 12 f., 20, 42, 44 – 47, 49 – 51, 57, 63, 72 f., 76 – 78, 90, 93, 96 – 101, 104, 108 – 114, 118 – 121, 123 – 125, 130, 132, 134, 136 – 138, 156, 159 Nothilfe 17, 23 Nötigung 59, 95, 118, 129 – 132 Opfer 15, 27 f., 32, 66, 83, 85, 163 Optionalitäts-Kriterium 9, 11, 17, 24 f., 29, 31, 38, 57, 64, 67, 74 – 76, 85 f. Perfektionismus
37 f.
Sachregister
Pflicht 4 – 6, 8 – 12, 16 – 18, 20 f., 23, 25 f., 28 – 30, 32 f., 35, 37, 40 – 42, 44 – 49, 52 – 64, 66 – 80, 82 – 87, 89 – 95, 97, 99 – 110, 112, 114 f., 121, 123 – 129, 131 – 138, 140, 143 – 146, 148 f., 151, 153 – 155, 157 f., 160, 162 f., 165 – all-things-considered 25, 32 – disjunktive 25, 74 – enge vs. weite 52, 56 – 58, 61 f., 72 – 74 – ethische vs. indirekt-ethische 52 – 58, 61 – gegen andere 52, 59, 61 f., 83 f., 91, 128, 132 – 135, 140, 145 f. – gegen sich selbst 29, 52, 59 – 63, 72, 83, 90 – 92, 99, 105 f., 128, 140, 145 f. – Handeln aus 12, 40, 42, 44 – 47, 49 f., 55, 63 f., 66, 68, 73, 75 – 77, 80, 82, 91 – 94, 100, 108 – 113, 117, 138, 147, 154, 156, 160 – indirekte 4, 59, 83, 131 f., 144 – prima facie 23, 25, 32 – Übererfüllung einer 25 f., 74 – verdienstliche vs. schuldige 62 f. – vollkommene vs. unvollkommene 52, 56 – 58, 60 – 63, 69 – 74, 104 f., 128 pflichtmäßig 45 f., 57, 76 – 78, 92, 96, 107 f., 110 f., 126, 131, 134 f., 147, 155 pflichtwidrig 45, 96, 99, 107, 131, 135, 147 Praxis, moralische 1 f., 6, 8 – 10, 15, 22, 30, 34, 36, 39, 66, 74, 82, 86, 142, 151, 165 Rationalismus 8 Rechtslehre 52 f., 57, 60 f. Rechtspflicht 52 – 58, 61, 67 f., 128 Reform und Revolution (moralisch) 102 – 104, 122, 136 f., 160 f. Rigorismus 10, 38, 40, 63, 68, 73, 75, 84 f. Samariter 15 – 18 Schwärmerei 66, 138 Selbstbetrug 13, 107, 120 f., 136 – 143, 147, 157, 164 f. Selbsterkenntnis 12 f., 60, 94, 106 f., 121, 131, 136 f., 143, 154, 161 Selbstliebe, Prinzip der 47, 95, 99, 102, 110, 112, 114, 119, 121 f.
177
Selbstvervollkommnung 9, 11 – 13, 84, 86, 89, 101 – 103, 106, 108, 114, 125, 136 – 140, 142 – 144, 161, 165 Selbstzwang 54 f., 93 – 98, 101, 114, 118, 132 Spielraum 10, 57 f., 60 f., 63, 70, 72 f., 75, 82 – 86, 104 f., 151 Stärke, moralische 12, 14, 89, 93 f., 97, 99 – 106, 108, 115, 118, 122, 130, 134, 143, 151 f., 160 f., 164 f. Suberogation 24, 68 – 71 Supererogation 6, 8 – 11, 15 – 19, 21 – 40, 58, 63 – 68, 71, 74, 76, 80 – 83, 85 – 87, 89, 136, 138 f., 163, 165 – Freundlichkeits- 28 – Heiligen- vs. Heldinnen- 28, 33 f. – Paradox der 9, 30 – 33 Supererogationistin 86, 88 Supererogationismus 25, 27, 30 f., 34, 74 – Akt- vs. Akteurinnen- 27 – Anti- 25 – starker vs. schwacher 25, 74 supererogatorische Handlung 5 f., 9, 16, 21 – 39, 57, 67, f., 71, 73 – 76, 78 f., 81, 85 – 88 – paradigmatische 16, 18, 20, 23, 29, 34, 163 – scheinbar/vermeintlich 11, 13 f., 17, 81, 89, 114, 137 – 142, 144, 165 Tapferkeit 97 Teilnehmung, teilnehmende Empfindung 46, 62, 108, 133 – 135 Triebfeder 43, 50, 52, 54 f., 60, 92 f., 98 – 100, 106, 109 f., 118, 125, 129 f., 134, 141 f., 156, 159 f., 163 Tugend 12, 40, 45, 50, 55, 60, 69, 86 – 90, 92 – 94, 96 – 106, 114, 116, 119, 122 – 125, 129 f., 141, 164 – Beförderung der 11 – 13, 106, 144 – 153, 155, 158 – 165 – Erscheinung der 145 f., 149 f. – Grad der 4, 12, 14, 97, 102 f., 105, 165 – Ideal der 12, 92, 96, 100 – 104, 108, 149, 159 – Lohn der 94, 101, 130 Tugendethik 7, 19, 21, 90
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Sachregister
Tugendgesinnung 12 – 14, 50, 59 f., 92 – 97, 100 – 106, 108, 122, 124, 130, 134 – 136, 146 – 150 f., 149, 159 f., 164 Tugendpflicht 10 f., 52 – 54, 56 – 63, 67 f., 72, 74, 78, 81, 90, 92 f., 102, 115, 125, 128 f., 132, 135, 145 f., 149 f., 152, 165 Tugendschein (moralischer Schein) 145 – 150 Tugendverpflichtung 56, 93, 97 Überforderungseinwand 5, 8, 38, 40, 76, 86 Umgangstugenden 145 – 150 Unlauterkeit 98 – 100, 103, 110 Unparteilichkeit 12, 106, 121, 137 Unterlassungspflicht 62 Untugend (moralische Schwäche) 12, 14, 98 – 100, 105 – 107, 117 f., 124, 137, 161 Urteilskraft 38, 41, 48, 57, 67, 86, 88, 105 – 107, 118, 131, 151, 153, 158, 160 Utilitarismus 19, 21 Verachtung 6 Verbindlichkeit 42, 55 – 57, 62, 72, 74, 91, 93, 109, 114, 120 f., 130 f., 146 f. Verbotene, das 19, 24, 68 – 70 Verdienst, Verdienstlichkeit 17 – 19, 26 – 28, 57 f., 62 f., 66, 70, 73 f., 77, 99, 142, 152, 163 Verehrung 2 f., 6 Vernunft 41 f., 48, 50 f., 53 f., 58 f., 66, 72, 79, 95 – 97, 99, 101, 112 – 114, 117 – 120, 122 – 125, 127, 130 – 132, 135, 137, 141, 143, 151 – 154, 156, 158 f., 162 – 164 – gemeine (Menschenvernunft) 1, 143, 151 f. – spekulative 153 f. vernünfteln 120 f., 140
Vernunftwesen 41, 44, 48, 95, 105 Verpflichtung 18, 25, 55, 68, 97, 101, 127 Verstand 117 – 119, 124, 131, 143, 147, 153 Vollkommenheit – eigene 10 f.,52, 56, 58 f., 75, 86, 91 f., 101 f., 104 – 106, 128,, 145, 149 – fremde 59, 143 Vorbild 1 – 3, 6, 13, 15, 18, 95 f., 140, 142 – 144, 155, 157, 160, 162 – 164 Vorrang der Moral 4, 31, 50, 79, 84, 86 f. Wert-Kriterium 26, 29 f., 67, 75 – 77 Wert, moralischer 9 – 11, 21, 24, 26 – 28, 30, 38, 40, 42, 44 – 47, 51, 55, 64, 67, 73 – 82, 87, 89, 93, 106 – 110, 112 f., 134, 138, 148 Wille 12, 41, 47 – 50, 54, 59, 89 f., 93 – 98, 107, 112, 117 f., 121,, 143, 151 – guter 44, 46 f., 50, 59, 87, 94 – 97, 101 f., 107 f., 110 f., 119, 125, 134, 136 f., 151 – heiliger 44, 95 – 97 Willkür 54 f., 57 f., 98, 114, 116, 122, 130 Wohltätigkeit 23, 25, 44 – 46, 62, 66 f., 70, 73, 84, 108 f., 132 – 134 Wohlwollen 62, 72, 96, 122, 132 f. Zivilisierung 150 Zucht (Disziplin) 99, 148, 152 Zufriedenheit 59, 83, 101 Zumutbarkeit 27 f. Zweck 4, 6, 43, 45 – 48, 50 f., 72, 78, 83, 86, 92 – 94, 97, 101, 107, 131, 133, 143, 145, 149 f., 164 – an sich 48, 58 – der zugleich Pflicht ist 8, 10, 52, 55 – 63, 69, 72, 74, 104 – 106, 127 – 129, 146, 164