Prag in der Zeit der Luxemburger Dynastie: Literatur, Religion und Herrschaftskulturen zwischen Bereicherung und Behauptung 9783839446348

Bohemia and Prague in the 14th century: a historical model case of blending, competition and enrichment of cultures in a

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German Pages 200 Year 2018

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Table of contents :
Editorial
Inhalt
Prag in der Zeit der Luxemburger Dynastie. Literaturen, religiöse Ideen und Herrschaftskulturen zwischen Bereicherung und Behauptung
Karl IV. und sein Halbbruder Wenzel. Das Herzogtum Luxemburg und Karls Politik im Westen des Reiches
Deutsch in Prag zur Mitte des 14. Jahrhunderts
Die Zeit der Luxemburger in Böhmen im Spiegel der wissenschaftlichen Tätigkeit der ersten Prager Germanisten nach 1882
Vom Minnesang am Hofe der letzten Přemysliden zur prähumanistischen Prosa der Stadtschreiber unter den Luxemburgern (1290-1420). Die neuen Wege tschechischer und deutschböhmischer Dichtung im Goldenen Zeitalter Karls IV.
Der Herr vom Hradschin. Zu Franz Spundas historischem Roman über Karl IV.
Der Kaiser bestimmt! Alanus ab Insulis’ Anticlaudianus und Heinrich von Mügelns Der Meide Kranz
Die deutschsprachige Übersetzung der Dalimil-Chronik. Ein Versuch der politischen Legitimation der städtischen Eliten im Böhmen der Luxemburger?
Der alttschechische Tristan-Roman Ein ambitionier tes Werk des ausgehenden 14. Jahrhunder ts
Die niederrheinische Wenzelslegende Der selige Wentzelao
Zu den Figuren der imitatio in zwei alttschechischen Verslegenden des 14. Jahrhunderts
Kurzbiographien der Autorinnen und Autoren
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Prag in der Zeit der Luxemburger Dynastie: Literatur, Religion und Herrschaftskulturen zwischen Bereicherung und Behauptung
 9783839446348

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Amelie Bendheim, Heinz Sieburg (Hg.) Prag in der Zeit der Luxemburger Dynastie

Interkulturalität. Studien zu Sprache, Literatur und Gesellschaft | Band 17

Editorial Differenzen zwischen Kulturen – und die daraus resultierenden Effekte – sind seit jeher der Normalfall. Sie zeigen sich in der Erkundung der »Fremden« schon seit Herodot, in der Entdeckung vorher unbekannter Kulturen (etwa durch Kolumbus), in der Unterdrückung anderer Kulturen im Kolonialismus oder aktuell in den unterschiedlichen grenzüberschreitenden Begegnungsformen in einer globalisierten und »vernetzten« Welt. Die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit »Interkulturalität« erfuhr entscheidende Impulse durch die »anthropologische Wende« in den Geisteswissenschaften und durch das seit den 1970er Jahren etablierte Fach der Interkulturellen Kommunikation. Grundlegend ist dabei, Interkulturalität nicht statisch, sondern als fortwährenden Prozess zu begreifen und sie einer beständigen Neuauslegung zu unterziehen. Denn gerade ihre gegenwärtige, unter dem Vorzeichen von Globalisierung, Postkolonialismus und Migration stehende Präsenz im öffentlichen Diskurs dokumentiert, dass das innovative und utopische Potenzial von Interkulturalität noch längst nicht ausgeschöpft ist. Die Reihe Interkulturalität. Studien zu Sprache, Literatur und Gesellschaft greift die rege Diskussion in den Sprach-, Literatur- und Kulturwissenschaften auf und versammelt innovative Beiträge, die den theoretischen Grundlagen und historischen Perspektiven der Interkulturalitätsforschung gelten sowie ihre interdisziplinäre Fundierung ausweiten und vertiefen. Die Reihe wird herausgegeben von Andrea Bogner, Dieter Heimböckel und Manfred Weinberg.

Amelie Bendheim, Heinz Sieburg (Hg.)

Prag in der Zeit der Luxemburger Dynastie Literatur, Religion und Herrschaftskulturen zwischen Bereicherung und Behauptung

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

© 2019 transcript Verlag, Bielefeld Alle Rechte vorbehalten. Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlagkonzept: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Lektorat & Satz: Jan Wenke Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar Print-ISBN 978-3-8376-4634-4 PDF-ISBN 978-3-8394-4634-8 https://doi.org/10.14361/9783839446348 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: https://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

Inhalt Prag in der Zeit der Luxemburger Dynastie Literaturen, religiöse Ideen und Herrschaftskulturen zwischen Bereicherung und Behauptung  | 7 Karl IV. und sein Halbbruder Wenzel Das Herzogtum Luxemburg und Karls Politik im Westen des Reiches Michel Pauly | 13

Deutsch in Prag zur Mitte des 14.  Jahrhunderts Hans-Joachim Solms | 37

Die Zeit der Luxemburger in Böhmen im Spiegel der wissenschaftlichen Tätigkeit der ersten Prager Germanisten nach 1882 Lenka Vodrážková | 53

Vom Minnesang am Hofe der letzten Přemysliden zur prähumanistischen Prosa der Stadtschreiber unter den Luxemburgern (1290-1420) Die neuen Wege tschechischer und deutschböhmischer Dichtung im Goldenen Zeitalter Karls IV. Milan Tvrdík | 73

Der Herr vom Hradschin Zu Franz Spundas historischem Roman über Karl IV. Manfred Weinberg | 85

Der Kaiser bestimmt! Alanus ab Insulis’ Anticlaudianus und Heinrich von Mügelns Der Meide Kranz Amelie Bendheim | 101

Die deutschsprachige Übersetzung der Dalimil-Chronik Ein Versuch der politischen Legitimation der städtischen Eliten im Böhmen der Luxemburger? Éloïse Adde | 119

Der alttschechische Tristan-Roman Ein ambitionier tes Werk des ausgehenden 14.  Jahrhunder ts Kristýna Solomon | 141

Die niederrheinische Wenzelslegende Der selige Wentzelao Václav Bok | 153

Zu den Figuren der imitatio in zwei alttschechischen Verslegenden des 14.  Jahrhunderts Jan K. Hon | 171

Kurzbiographien der Autorinnen und Autoren  | 193

Prag in der Zeit der Luxemburger Dynastie Literaturen, religiöse Ideen und Herrschaftskulturen zwischen Bereicherung und Behauptung

Luxemburg und Böhmen verbindet eine lange gemeinsame Geschichte: Der intensive Kontakt der beiden Länder entstand durch die 130-jährige Herrschaft der Luxemburger im damaligen Königreich Böhmen. Johann von Luxemburg eroberte 1310 Prag und bestieg den böhmischen Thron, bevor im Anschluss sein Sohn Karl, später König und Kaiser Karl IV., das Land zu besonderer Blüte führte. Anlässlich der Karlsjahre (2014 / 2016) rückt diese Verbindung in Form öffentlicher kultureller Veranstaltungen, Ausstellungen und medialer Ereignisse wieder verstärkt in den Blick.1 Jenseits der offiziellen Gedenkpraktiken nimmt der vorliegende Sammelband das Jubiläum, den 700. Geburtstag Karl IV. (* 1316), zum Anlass, der Verbindung zwischen Prag und Luxemburg und insbesondere der Literatur, die im Umkreis des Prager Hofes produziert wurde, mit wissenschaftlichem Interesse zu begegnen. Die Publikation betrachtet Prag / Böhmen im 14. Jahrhundert dabei als historischen Modellfall der Durchmischung, Konkurrenz und Bereicherung von Kulturen in einem mehrsprachigen Kommunikationsraum, der durch unterschiedliche Trägerschaften, wie dem einheimischen Adel, dem regierenden Haus, den Höfen, dem städtischen Patriziat und der Geistlichkeit verschiedener Orientierung, bestimmt war. Bereits in mittelalterlicher Zeit ist Prag ein Schmelztiegel, in dem verschiedene Sprachen und Kulturen aufeinandertreffen.

1 | Beispielhaft können hier die großen Ausstellungen in Aachen unter dem Titel Karl der Große. Macht, Kunst, Schätze (2014), in Ingelheim unter dem Titel Dem Kaiser auf der Spur – 1200 Jahre Karl der Große und Ingelheim (2014) sowie in Prag /  N ürnberg in Form der tschechisch-bayrischen Sonderausstellung Karl IV. 1316-1378 (2016) genannt werden. Auch im luxemburgischen Musée d’Histoire widmete sich die Veranstaltungsreihe »Karl IV. Luxemburg und ›sein‹ europäischer Graf, König und Kaiser« (2016) dem Thema.

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Prag in der Zeit der Luxemburger Dynastie

Die einzelnen Beiträge aus den Fachgebieten der neueren und älteren Literaturwissenschaft sowie der Geschichte beleuchten, was in Prag / Böhmen in dieser Zeit warum Interesse und Gehör findet, wogegen es sich durchsetzt, was übersetzt und angenommen wird und was nicht. Sie nehmen Stellung zu den rivalisierenden Herrschaftskulturen des böhmischen Adels und des königlichen Hauses, zum Prager Humanismus und seiner jeweiligen volkssprachlichen Seite, zur religiösen Gebrauchsliteratur und Mystik, zur Romandichtung, aber auch zu Bildungsformen und Strategien der Bewältigung des Sprachalltags. Die Gliederung des Bandes stellt Beiträge voran, die die Stellung Prags in der wissenschaftlichen Historie näher konturieren. Die damit geleistete, zunächst stärker theoretisch geprägte Annäherung an die Thematik zeichnet sich insbesondere dadurch aus, dass verschiedene, national (luxemburgisch, deutsch, tschechisch) geprägte Perspektiven auf das Phänomen gleichberechtigt nebeneinandertreten und damit auch vergleichend Beachtung finden können. Während die meisten Beiträge Karl IV. als böhmischen Herrscher in den Blick nehmen und – damit verbunden – nach literarisch-kulturellen Rückwirkungen fragen, steht am Anfang eine geschichtswissenschaftliche Studie, die die verwickelte Westpolitik Karls und damit explizit auch das Luxemburger Stammterritorium beleuchtet (Pauly). Dem folgt ein Beitrag, der die Stellung Prags als wichtiger Station bei der Herausbildung der deutschen Schriftsprache (Prager Deutsch) in dieser Zeit hinterfragt (Solms). Prag wurde unter Karl IV. und den Luxemburgern (Wenzel II. sowie Johann von Luxemburg) nicht nur neues Machtzentrum des Römischen Reichs, sondern erlangte auch im Bereich von Literatur und Kultur eine herausragende Stellung. Wissenschaft und Kunst waren nun nicht mehr nur ›Schmuck‹ des Hofes, sondern wurden als politisches Mittel zur Durchsetzung machtpolitischer Ziele eingesetzt (Tvrdík). Dieses Umfeld beflügelte auch die Entwicklung der deutsch-tschechischen Literaturbeziehungen und das Entstehen der deutschen Prager Universität, die jedoch lange in einem nationalen Gegeneinander zur tschechischen Universität positioniert blieb (Vodrážková). Aus neuzeitlicher Perspektive mag insbesondere der divergente Blick auf die historische Gestalt Karls IV. verwundern, der gleichermaßen zentrale Aspekte (wie den Multikulturalismus Karls) ausspart und Unterschiede in der tschechischen und deutschen Wahrnehmung der Herrscherpersönlichkeit offenbart. Bisher keinen gemeinsamen Blick auf den Herrscher erarbeitet zu haben, muss als »entscheidendes politische(s) Versäumnis der letzten Jahre des 20. Jahrhunderts« (Weinberg) erscheinen. Die sich daran anschließenden Artikel untersuchen den Themenkomplex in Form spezifischer literarischer Produktionen, die im Umfeld des Prager Hofes entstanden sind.

Prag in der Zeit der Luxemburger Dynastie

So kann der deutsche Dichter Heinrich von Mügeln, der am Hof Karls IV. tätig war, als repräsentativer Träger der deutsch-tschechischen Kulturbeziehungen gelten. Mügeln nimmt in seiner eigenständigen Adaption des lateinischen Anticlaudianus des Alanus ab Insulis eine politische Umdeutung des neuen Menschen (homo novus) vor, die auf den Machthaber Karl verweist (Bendheim). Und auch der alttschechiche Tristram vermag beispielhaft zu dokumentieren, dass Böhmen als wichtige Station der Rezeption und »der kontinuierlich durch ganz Europa wandernden Stoffe« zu betrachten ist, indem er verschiedene Erzähltraditionen in einem produktiven Lektüreprozess miteinander verbindet (Solomon). In den Literaturen des Prager Herrschaftsraums artikulieren sich jene relevanten wie brisanten (Wissens-)Diskurse der Zeit, die Fragen zu Herrscher und Herrschaft, Kultur, Politik und Machtinteressen aufwerfen. Deutlich macht dies z. B. die Dalimil-Chronik, die älteste Chronik in tschechischer Sprache, die ein politisches Programm vertritt, das sich insofern als deutschfeindlich ausweist, als es das deutsche Bürgertum als ›Feind der Nation‹ dem tschechischen Adel als ›Garant für die Integrität des böhmischen Königreiches‹ entgegenstellt (Adde). Dass es den einzelnen Beiträgen dabei gelingt – auf abstrakt-theoretischer wie textueller Ebene – durch Querverweise immer wieder aufeinander Bezug zu nehmen, trägt nicht nur zur Konsistenz des Bandes insgesamt bei, sondern bezeugt vor allem die – (bereits) im 14. Jahrhundert – bestehende Reichweite und das breite Spektrum interkultureller, grenzüberschreitender (literarischer) Beziehungen im deutsch-tschechischen (Herrschafts-)Raum. Unter den literarischen Beiträgen hervorzuheben ist auch die hier erstmals edierte und veröffentlichte Fassung der deutschsprachigen Wenzels­ legende (Der selige Wetzelao), einer Legende über den heiligen Wenzel, der im 13. Jahrhundert zum Schutzheiligen des böhmischen Adels und zum Landespatron aufstieg. Sie bezeugt nicht zuletzt die bis dato bestehende Leerstelle in Bezug auf die Zugänglich- und Sichtbarkeit von Texten aus diesem Überlieferungszusammenhang. Diese gilt es jedoch einzubeziehen, will man durch ein wissenschaftliches Perspektivspektrum jenes Gleichgewicht der Kräfte und Kräfteverhältnisse erfassen, das im Prag der Luxemburger vorherrschend war (Bok). Der abschließende Beitrag widmet sich ebenfalls zwei alttschechischen Vers­legenden, die auch die Bedeutung der Heiligenverehrung für die Politik Karls IV. bezeugen. Sie werden in Bezug auf die besondere Funktionalität der Heiligendarstellung analysiert, die im Sinne einer »doppelten Imitabile« – die Heiligen als Nachfolger Christi, die Menschen als Nachfolger der Heiligen – inszeniert werden (Hon). Den im Band versammelten Artikeln gelingt es, sowohl ein klareres Bild dieses labilen Gleichgewichts nachzuzeichnen, das das mehrsprachige (Deutsch, Latein, Tschechisch) und mehrkulturelle Prag im 14. Jahrhundert

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Prag in der Zeit der Luxemburger Dynastie

erreichte und auch bald wieder verlor, als auch eine Brücke zur literarischen, kulturellen und politischen Situation der Neuzeit und Gegenwart zu schlagen. Die Forschung zeigt seit dem germanistischen Kolloquium in Schweinfurt 1992 (vgl. Heinzle / Johnson / Vollmann-Profe 1994) zwar ein weiterführendes Interesse am Gegenstand 2; es bleiben aber Desiderata. Während die Vorkriegsgermanistik sehr unbefangen mit dem Gegenstand umging, hatte die Forschung in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts eher Scheu vor der wissenschaftlichen Aufarbeitung historischer Konflikte und Übereinkünfte zwischen tschechischsprachiger Adelsschicht und Bevölkerung und den durch Siedlung und dynastische Heirat nach Böhmen gelangten anderssprachigen Herrschern, Bildungsträgern oder städtischen Oberschichten. Oft scheitert integrative Erforschung von Konkurrenz- und Rezeptionsphänomenen in Westeuropa hinsichtlich des Tschechischen auch an der Sprachkompetenz; die Spätfolgen der politischen Teilung Europas sind ebenfalls noch nicht überwunden. Der Tagungsband will ein Signal setzen, indem er den fruchtbaren Dialog mit Prager und Tschechischen Kolleginnen und Kollegen abbildet, der im Rahmen einer Tagung im Juni 2016 an der Universität Luxemburg initiiert wurde. Zu danken ist den Herausgebern für die Aufnahme des Bandes in die Reihe Interkulturalität. Studien zu Sprache Literatur und Gesellschaft sowie natürlich den Verfasserinnen und Verfassern der hier versammelten Beiträge. In besonderer Weise gilt unser Dank auch Uta Störmer-Caysa, die nicht nur unverzichtbar für die Organisation und Durchführung der Tagung war, sondern auch mit entscheidenden Denkimpulsen zum erfolgreichen Zustandekommen des im vorliegenden Band dokumentierten wissenschaftlichen Austauschs beigetragen hat. Luxemburg im Oktober 2018 Amelie Bendheim

Heinz Sieburg

2  |  Vgl.  etwa: Becher  /   H öhne  /   K rappmann  /   Weinberg 2017; Bok / B ehr 2004; Fliegler / Bok 2001; Krywalski 2009, Nechutová 2007.

Prag in der Zeit der Luxemburger Dynastie

L iter atur Becher, Peter / Höhne, Steffen / K rappmann, Jörg / Weinberg, Manfred (Hg.) (2017): Handbuch der deutschen Literatur Prags und der Böhmischen Länder. Stuttgart. Bok Václav / Behr Hans-Joachim (Hg.) (2004): Deutsche Literatur des Mittelalters in und über Böhmen II. Tagung in Ceské Budjovice / Budweis 2002. Hamburg. Fliegler, Dominique / Bok, Václav (Hg.) (2001): Deutsche Literatur des Mittel­ alters in Böhmen und über Böhmen. Vorträge zur internationalen Tagung, Ceské Budejovice, 8.-11. September 1999. Wien. Krywalski, Diether (2009): Geschichte der deutschsprachigen Literatur des Mittelalters in den böhmischen Ländern. Olomouc. Nechutová, Jana (2007): Die lateinische Literatur des Mittelalters in Böhmen. Bonn. Heinzle, Joachim / Johnson, Peter / Vollmann-Profe, Gisela (Hg.) (1994): Literatur im Umkreise des Prager Hofs der Luxemburger. Schweinfurter Kolloquium 1992. Berlin.

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Karl IV. und sein Halbbruder Wenzel Das Herzogtum Luxemburg und Karls Politik im Westen des Reiches1 Michel Pauly

Wir Karle von gots gnaden zů sime Romeschen kuninge erwelt, kunig von Beheim und greve zu Lutzillimburg: So lautete der Titel Karls IV., als er am 18. September 1346 eine Schuld von 30.000 kleinen Gulden seines vor drei Wochen in Crécy gefallenen Vaters Johanns des Blinden gegenüber seinem Großonkel Balduin, Erzbischof von Trier, anerkannte. Und er legitimierte das letzte Element des Titels – dass er Graf von Luxemburg sei – mit dem Zusatz: »nů die vorgenante graschaft zů Lutzillimburg an uns vervallen ist« (Winkelmann 1885: Bd. 2, Nr. 6772). Zehn Tage später behauptete er sogar, die Grafschaft sei erblich von seinem Vater an ihn übergegangen: »comitatus ad nos ex successione hereditaria genitoris nostri devolutus« (vgl. Würth-Paquet 1868: 23). Das war ein klarer Bruch mit dem letzten Willen seines Vaters, der sowohl in seinem Heiratsvertrag mit Beatrix von Bourbon von Dezember 1334 (vgl. UQBL XI: Text L. 50) als auch in seinem Testament von 1340 (vgl. Bertholet 1743 Bd. 6: xxxix-xlii) und darüber hinaus (vgl. Reichert 1993: 527, Anm. 598 f.) seinen Sohn Wenzel aus 1 | Ich danke den Kollegen Heinz Sieburg und Amelie Bendheim für die Gelegenheit, meinen Vortrag bei der Tagung in Belval hier veröffentlichen zu dürfen. Der vorliegende Beitrag stellt allerdings nur eine leicht gekürzte Fassung von Pauly 2018 dar, da ich den Vortrag kurz vor der Luxemburger Tagung schon in Prag habe halten dürfen. 2 | Ähnlich in Nr. 678 vom 20. September 1346: »Wir Karle von gots gnaden zu sime Romschen kunige erwelt, alziit merer des richs, kunig von Beh[eim] und greve zu Lutzillin­ burg«, und in MGH, Const. VIII, Nr. 93 f. vom 20. und 21. September 1346 für Balduin von Trier. Vgl. zum Folgenden van Werveke 1890: 123-130. 3 | Ein entsprechender Eintrag fehlt allerdings in den Regesten selbst. Vgl. Reichert 1993: 529, Anm. 605. Ähnlich MGH, Const. VIII, Nr. 144 (und 146) vom 9. Dezember 1346: Karl bestellt Balduin von Trier zu seinem Stellvertreter u. a. comitatus nostri hereditarii Lutzillim[burgensis gubernacioni et regimini].

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Michel Pauly

der zweiten Ehe zum Erben für seine westeuropäischen Besitzungen bestimmt hatte. Karl hatte schon 1335 fast ein Jahr lang gezögert, den Heiratsvertrag zu approbieren und auf seine Rechte an den Grafschaften Luxemburg und Laroche zu verzichten (vgl. Bertholet 1743: Bd. 6: xxx-xxxii4). Und er verletzte den letzten Willen Johanns zusätzlich, indem er ihn in der Münsterabtei neben der Grafenburg in Luxemburg bestatten ließ (vgl. Margue 1997; Pauly 2014: 79) und nicht im Hauskloster Clairefontaine, wie Johann es sich gewünscht hatte. Da er allerdings kein Geld hatte – er konnte nicht einmal die Kosten des feierlichen Begräbnisses seines Vaters bezahlen  –, musste er die Herrschaft in Luxemburg und den angegliederten Territorien de facto seinem Großonkel Erzbischof Balduin von Trier überlassen, der Karls Wahl zum römischen König am 11. Juli 1346 weitgehend finanziert hatte.5 Bis Februar 1349 wuchs Karls Schuld gegenüber Balduin auf nicht weniger als 250.000 kleine Gulden oder 884,25 kg Gold an (vgl. Reichert 1993: 522). Hatte Johann im Vertrag mit Balduin vom 16. März 1346 noch die Zusatzklausel einschreiben lassen, er stimme nur zu unter der Voraussetzung, dass »wir keine privilegia bestedigen willen die unser herschaft, fryheit oder unser […] grafschaft enterfnizze antrefen« (Winkelmann 1885: Bd. 2, Nr. 1160 = MGH, Const. VIII: Nr. 2, § 2 6), so fasste Karl in einem zweiten Schuldabkommen vom 22. Mai 1346, sicher auf Druck Balduins, ausdrücklich die Möglichkeit ins Auge, dass er Graf von Luxemburg würde (vgl. MGH, Const. VIII: Nr. 40, § 27). Diese Besitzergreifung in der Grafschaft Luxemburg war aber nicht nach jedermanns Geschmack. Trotz mehrfacher Mahnung verweigerten 14 Luxemburger Vasallen die Besiegelung der eingangs genannten Schuldanerkennung vom 18. September 1346, in der Karl sich als Graf von Luxemburg betitelte (vgl. Winkelmann 1885: Bd. 2, 6778). Alles sah demnach danach aus, dass Karl IV. über kurz oder lang auf seine Luxemburger Besitzungen verzichten werde, die dann dem Erzstift Trier zufallen würden. Am 21. September 1346 übertrug Karl Balduin die Verwaltung der Grafschaft Luxemburg (vgl. MGH, Const. VIII: Nr. 94), eine Aufgabe, die er am 9. Dezem4 | Vgl. Bertholet 1743 Bd. 6, pièces justificatives: xxxii-xxxiii, die Approbation durch 18 Edelherren und 15 Städte von Mai 1336. 5 | Zur Finanzierung der Wahl durch verschiedene Kreditgeber siehe Reichert 1993: 491-504. Vgl. Haverkamp 1978. 6 | Vgl. Reichert 1993: 491-495; Thomas 1997: 471-473. 7 | »Were iz auch, daz die graschaft von Lutzillimburg an uns queme«; vgl. Thomas 1975: 69; Pauly 1996: 382. 8 | Vgl. Thomas 1975: 69 f.; Haverkamp 1978: 464 f.; Reichert 1993: 506-509; Fantysová-Matějková 2013: 91 f. Im Gegensatz zu ihnen anerkannten die verpfändeten Städte Bitburg, Echternach, Remich und Grevenmacher die Abmachung Karls betreffend ihren Verkauf an Balduin, da die Grafschaft an ihn vervallen sei (Würth-Paquet 1868: Nr. 13-15 vom 24. September 1346; vgl. ebd.: Einleitung: 2).

K arl IV. und sein Halbbruder Wenzel

ber nach seiner Bonner Krönung zusammen mit der Übertragung des Reichsvikariats in Germanien und Gallien bestätigte (vgl. MGH, Const. VIII: Nr. 144146; Winkelmann 1885: Bd. 2, Nr. 6839). Zu Balduins Vollmachten gehörte u. a. das Recht, Pfänder auszulösen, was angesichts der Tatsache, dass nahezu das gesamte Territorium an andere Herrschaftsträger verpfändet war (vgl. Reichert 1993: 517-520; Pauly 1996: 381), von nicht zu unterschätzender Bedeutung für den Trierer Erzbischof war. Affektive Beziehungen zu den Stammlanden seines Vaters und Großvaters hatte Karl IV. in der Tat keine. Er war in Prag geboren, als Kind von seinem Vater zur Erziehung an den französischen Hof gebracht worden, wo sein böhmischer Name Wenzel durch den Namen seines französischen Patenonkels Karl ersetzt wurde (vgl. R. Schneider 1977; Thomas 1997: 448-450). Wohl weilte er von April 1330 bis März 1331 in Luxemburg, wurde dann aber nach Italien gerufen, um seinen Vater bei dessen Versuch, in Oberitalien Fuß zu fassen, zu unterstützen, erlebte dort allerdings einen Giftanschlag und nahm zusehends Distanz zur Politik Johanns des Blinden, dessen Italienabenteuer er als aussichtslos erkannt hatte (vgl. Thomas 1997: 450-454).

W arum verzichte te K arl  IV. zugunsten seines H albbruders W enzel auf L uxemburg ? Während in den ersten Jahren nach Johanns Tod Karl IV. demnach einerseits den Titel eines Grafen von Luxemburg beanspruchte, deutet andererseits vieles auf einen Bruch mit seiner Luxemburger Herkunft zugunsten seines Groß­ onkels Balduin hin. Umso überraschender ist die Kehrtwende, die offenbar 1353 in seiner Haltung gegenüber der Grafschaft Luxemburg und seinem Halbbruder Wenzel erfolgte. Im Mai 1353 hatte er Wenzel aus der mütterlichen Umgebung in Damvillers an seinen Prager Hof gerufen (vgl. Fantysová-Matějková 2013: 116), Ende des Jahres bezeichnete er erstmals ihn als Graf von Luxemburg. Über die Ursachen kann man spekulieren. Hing das mit dem Tod Balduins von Trier zusammen?10 Der starb am 21. Januar 1354. Wenzel wird aber schon am 19. Dezember 1353 in einem Weistum Karls IV. der Titel eines Grafen von Luxemburg zuerkannt (vgl. MGH, Const. X: 573, Nr. 757, Z. 25 f.). Wann hatte Karl darauf verzichtet? Winfried Reichert nennt als letzten Beleg für den Anspruch auf den Grafentitel die Urkunde vom 9 | Vgl. Reichert 1993: 504-523. 10 | Thomas 1983: 237, betont die neuen politischen Möglichkeiten, die Balduins Tod Karl IV. eröffnete. Auch Fantysová-Matějková 2013: 117, behauptet, erst durch den Tod Balduins sei Wenzel in den Vollbesitz der Grafschaft gelangt; sie ignoriert allerdings die Urkunde Karls IV. vom 19. Dezember 1353 (nächste Anm.).

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Michel Pauly

23. November 1353 zugunsten des Markgrafen Wilhelm von Jülich, in der von Lehen die Rede ist, die »von unser graveschafft von Lutzelnburg růrent« (MGH, Const. X: Nr. 699; vgl. Reichert 1993: 529, Anm. 605).11 Das gilt eigentlich auch für die Urkunde vom 24. Dezember 1353 betreffend den Abt von Echternach, doch in der Titulatur wird er nur noch als römischer und böhmischer König bezeichnet.12 Oder war der Druck von Seiten Beatrix’ von Bourbon bzw. Wenzels Schwiegervater Herzog Johann III. von Brabant stärker geworden? In der Tat hatte Beatrix mithilfe des französischen Königs die Hochzeit ihres Sohnes mit der seit 1345 verwitweten Johanna von Brabant, der ältesten Tochter Johanns III., eingefädelt, die am 17. Mai 1351 vertraglich vereinbart und zwischen Dezember 1351 und März 1352 stattfand, möglicherweise kurz nach dem Tod Gottfrieds von Brabant, des letzten noch lebenden Sohns Johanns III., um zu verhindern, dass das Herzogtum an das Reich zurückfalle (vgl. Würth-Paquet 1868: Nr. 300; Verkooren 1914-1922: Bd. 2, Nr. 938; Boffa 2013: 195-199; Fantysová-Matějková 2013: 107-117; Pauly 2018). Für einen entsprechenden Druck von brabantischer Seite spricht, dass Johann III. von Karl die Auslieferung des Heiratsvertrags von Johann dem Blinden mit Beatrix forderte, der Wenzels Erbrechte festhielt (vgl. Haverkamp 1978: 501; Atten 1997: 587; Fantysová-Matějková 2013: 114 f.). Oder wollte Karl sich auf diesem Weg dem französischen König wieder annähern? Philipp VI. hatte die Eheverbindung gefördert, weil er dadurch sein 1347 geschlossenes Bündnis mit Brabant gegen England festigen konnte.13 Karl musste aufgefallen sein, dass König Philipp weder vor noch nach der Rhenser Wahl noch nach Crécy Anstalten machte, sein römisches Königtum anzuerkennen, für das die Luxemburger ihn auch nicht im Voraus konsultiert hatten (vgl. Thomas 2000: 177-190; Fantysová-Matějková 2013: 73 f., 76 f., 82 f., 86, 182). Doch Philipp VI. war am 22. August 1350 gestorben und sein Sohn Johann II. zeigte nicht mehr Entgegenkommen als sein Vater, da Karl IV. mittlerweile eher die englische Seite favorisierte. Oder hatte Karl erkannt, dass die anstehende Hochzeit auch ihm recht sein musste, auch wenn sie nicht auf seine Initiative zurückging? Durch den Tod Gottfrieds von Brabant (Ende 1351) eröffnete sich in der Tat die Aussicht auf einen ungeahnten Territorialgewinn für das Haus Luxemburg, umso 11 | In der Intitulatio werden nur die Titel eines römischen Königs und eines Königs von Böhmen aufgeführt. 12 | Vgl. UQBL VIII: Nr. 410: Karl befiehlt seinen Vasallen und Untertanen, insbesondere Richter, Schöffen und Bürgern von Echternach, Abt Johann von Neuerburg zu gehorchen, der ihm gehuldigt habe. 13 | Die beiden hatten 1347 in Saint-Quentin ein gegen England gerichtetes Bündnis abgeschlossen; vgl. Laurent 1927; Thomas 2000: 184 f.; Boffa 2013: 192; FantysováMatějková 2013: 79 f.

K arl IV. und sein Halbbruder Wenzel

mehr als Johannas Unfruchtbarkeit womöglich schon damals bekannt war. Wenn Wenzel die Herzogtümer Brabant und Limburg und die Grafschaften Luxemburg, Laroche und Durbuy sowie die Markgrafschaft Arlon in einer Hand vereinigte, stellte dieser Hausmachtkomplex nämlich ein ganz gehöriges Gegengewicht zu den Grafschaften Hennegau, Holland, Seeland und Friesland dar, in denen die Wittelsbacher sich breitmachten.14 Seit seiner Hochzeit nannte Wenzel sich Graf von Luxemburg, was nicht bedeutet, dass Karl ihn als solchen anerkannte.15 Oder war es die Krankheit, die ihn von Oktober 1350 an fast ein Jahr lang gelähmt und ihn versöhnlicher gestimmt hatte? Oder war es schlicht das Erreichen der Großjährigkeit Wenzels – er war am 25. Februar 1337 geboren und folglich 1352 15 Jahre alt geworden16 –, das Karl IV. dazu bewog, ihm nunmehr die Grafschaft Luxemburg zu überlassen? In Anlehnung an François Xavier Würth-Paquet (vgl. 1868: 2) interpretiert Jana Fantysová-Matějková Karls Verhalten zwischen 1346 und 1353, als agiere er als Vormund des minderjährigen Wenzel (vgl. Fantysová-Matějková 2013: 83, 86, 93, 98, 105 f.). Während Karl allerdings mehrmals in Urkunden festhalten ließ, die Grafschaft Luxemburg sei an ihn »verfallen«,17 bezeichnete er sich nie als mamburnus oder Verwalter für seinen jüngeren Halbbruder, und Wenzel weigerte sich später die Schuldverschreibungen Karls anzuerkennen, da der legitime Herrscher, also er selbst, sie nie approbiert habe (vgl. Reichert 1993: 526530; Haverkamp 1978: 465 f.).

14 | Die Hypothese äußern Janssen 1978: 204; Hoensch 2000: 138. 15 | Vgl. Verkooren 1914-1922: Nr. 938, 940 f., 948; ebenso seine Mutter (ebd.: Nr. 947); vgl. Haverkamp 1978: 500. 16 | Vgl. Fantysová-Matějková 2013: 83, 93, 107, jeweils ohne Begründung. Zum Erreichen der Großjährigkeit bei den Grafen von Luxemburg siehe Pauly 2010: 454. 17 | Siehe Anm. 2.

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Abbildung 1

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W ie tr at K arl  IV. in O berlotharingien F r ankreich entgegen ? Nachdem er von Ende Januar bis zum 28. Februar 1354 in Trier geweilt hatte, um die Nachfolge seines am 21. Januar verstorbenen Großonkels Balduin zu regeln, besuchte Karl vom 1. bis 12. März Luxemburg (vgl. Margue / Pauly 2009: 898). Von hier zog er nach Metz, wo er bis Ende März blieb (vgl. Burgard 1979: 78). Seine Aktivität an den drei Orten zeigt, dass Karl durch den Tod Balduins, immerhin seit 1346 Reichsvikar für Gallien, also Lotharingien, eine freiere Hand in den lotharingischen Angelegenheiten gewann. Es war in einer am 19. Dezember 1353 in Trier ausgestellten Urkunde Karls  IV., in der erstmals von »Wentzeslaus Lutzenburgensis (comes)« die Rede ging.18 War Balduin vielleicht schon krank und Karl nutzte die Gelegenheit, sich mit seinem Halbbruder auszusöhnen? Das bleibt Spekulation. Sicher ist, dass Karl nach Balduins Ausscheiden einen anderen Sachwalter im Westen des Reiches brauchte (vgl. Wohlfeil 1958: 26 f.),19 und dafür kam fast nur sein Halbbruder infrage. In Metz erhob er am Tag seiner Ankunft die Grafschaften Luxemburg, Laroche, Durbuy, die Markgrafschaft Arlon und die Herrschaft Mirwart zu einem Herzogtum und nahm damit seinen Halbbruder Wenzel in den Reichsfürstenstand auf (vgl. MGH, Const. XI: Nr. 96; Pauly 1996: 383 f.). Dadurch erhielt Wenzel denselben Rang wie sein Schwiegervater bzw. nach dessen Tod seine Gattin. Am selben Tag erklärte Karl den neunjährigen Grafen Robert von Bar für volljährig und erhob auch ihn für den östlich der Maas liegenden, zum Reich gehörenden Teil der Grafschaft Bar als Markgraf von Pont-à-Mousson in den Reichsfürstenstand (vgl. MGH, Const. XI: Nr. 97; Thomas 1973: 71-73). In Metz demonstrierte er so gegenüber dem nahen Frankreich die Reichszugehörigkeit der lotharingischen Grenzregion. Die Standeserhöhung für seinen Halbbruder erfolgte non carnalitatis affectu, wie Karl IV. betonte. In der Tat meldete Karl sich mit diesen Entscheidungen zurück im lotharingischen Raum, aus dem Balduin sich verabschiedet hatte (um sich, aus wirtschaftlichen Interessen, lieber dem niederrheinischen Raum zuzuwenden; vgl. Thomas 1975: 73-76, 89 f.; 2000: 195 f.; Margue / Pauly 2009: 896 f.). Karls Ziel war einerseits die Beilegung der Erbfolgestreitigkeiten in Lothringen und Bar (vgl. Thomas 1975: Kap. I und II; 2000: 192-197), andererseits die Eindämmung französischer Einmischungen. Er knüpfte damit an die Politik seines Vaters Johann an und erneuerte z. B. den 1343 von Johann zustande gebrachten oberlotharingischen Landfrieden (vgl. Thomas 1975: 308-311; Fantysová-Matějková 2013: 132; Margue / Pauly 2009: 899-901), für den er u. a. 18 | MGH, Const. X: Nr. 757, 573, Z. 25 f. 19 | Seibt 1978: 349, nennt außer Balduins Tod auch jenen von Philipp VI. (1350) als »Anlaß für ein Revirement«.

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die Städte Metz und Toul, die Bischöfe Boemund von Trier, Bertrand von Toul und Ademar von Metz, einen Parteigänger König Johanns II. von Frankreich (vgl. Thomas 1975: 61; Fantysová-Matějková 2013: 119), sowie die Herzöge von Luxemburg, Bar und Lothringen gewinnen konnte. Zu dem Zweck wurde der noch minderjährige Johann von Lothringen unter die Obhut des römischen Königs gestellt und damit der lothringische Erbfolgestreit implizit gelöst (vgl. MGH, Const. XI: Nr. 11320). Auch die Gräfin-Mutter Yolanda von Bar konnte er aus dem französischen Lager in seine Gefolgschaft hinüberziehen, indem er ihr die Regierungsgewalt übertrug (vgl. Thomas 1973: 80 f.). Dem Herrn von Apremont und Dun an der Maas, einem weiteren Parteigänger Frankreichs, bestätigte Karl seine Baronie als unteilbares Reichslehen (vgl. MGH, Const. XI: Nr. 11421). Von Bischof Bertrand von Toul ließ er sich für die in direkter Nachbarschaft zu Frankreich liegenden Reichslehen huldigen und wahrscheinlich ein Lehnsverzeichnis anlegen (vgl. MGH, Const. XI: Nr. 113; Thomas 2000: 195 f.). Auch die Städte Toul und Verdun wurden an ihre Reichszugehörigkeit erinnert (vgl. Thomas 2000:: 195f ). Dank der Schlichtungsprozeduren des Gemeinen Landfriedens entzog er dem französischen König die Möglichkeit, im Reichsgebiet als Schiedsrichter aufzutreten. Im selben Sinn kam es zum Nachteil Frankreichs am 14. August 1354 zu einem Friedensvertrag zwischen Bar und Luxemburg, in dem auch die mit dem Herzog von Bar geteilte Schutzherrschaft (garde) Herzog Wenzels von Luxemburg über Verdun – auch dies in der Nachfolge Graf Johanns (vgl. van Werveke 1923) – abgesichert wurde (vgl. Thomas 1973: 81 f.).22 Diese Maßnahmen und insbesondere der Landfrieden zeigten allerdings keine dauerhafte Wirkung (vgl. Thomas 1973: 313, 322; Margue / Pauly 2009: 902 f.; Fantysová-Matějková 2013: 135 f.). Schon Ende des Jahres hatte der französische König wieder Terrain gutgemacht und sich erneut sowohl in Bar als auch in Lothringen eingemischt (Thomas 1973: 84-94, 119-122; 2000: 198-201). Karl musste ein weiteres Mal eingreifen (vgl. Margue / Pauly 2009: 903 f.). Am 24. September 1354 schickte er den Grafen von Oettingen als seinen Vertreter zum Tag der Schiedsrichter des Landfriedens nach Diedenhofen (vgl. MGH, Const. XI, Nr. 263). Kaum war er in Nürnberg zum großen Hoftag angelangt, forderte er am 26. November 1355 die Stadt Metz auf, den Streit zwischen einigen Bürgern und seinem Bruder Wenzel ruhen zu lassen, bis er sich nach Metz begeben könne. Ein Mandat gleichen Inhalts habe er auch an seinen Bruder Wenzel gerichtet (vgl. MGH, Const. XI: Nr. 559 [Regest]; François / Tabouillot / Maugerard 1781: Textanhang, 158). Am 12. Januar 1356 ernannte er den Hauptmann der Stadt Metz Theobald von Blankenberg zu seinem »vicaire 20 | Vgl. Thomas 1973: 80 f., 109; 2000: 195. 21 | Vgl. ebd.; Fantysová-Matějková 2013: 111. 22 | Erneuerung durch Karl IV. am 4. Januar 1357: Thomas 1973: 125; 2000: 196 f.

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es parties de Loh(eraine)«, mit dem ausdrücklichen Auftrag die Einhaltung der »commune paix« sicherzustellen (MGH, Const. XI: Nr. 726, Zitat: 411, Z. 21–23; vgl. Thomas 1973: 326). Diese Ernennung, wie jene von Theobalds Nachfolger Walram II. von Zweibrücken, unterstreicht die Bedeutung, die er Oberlotharingen in diesen Jahren beimaß, denn die beiden waren bis auf die zwei Kurfürsten Balduin von Trier und Friedrich  III. von Köln die einzigen Gebietsvikare innerhalb des römisch-deutschen Reiches, die Karl IV. einsetzte (vgl. Heckmann 2002: 550). Dass er diese Entscheidung auf dem Hoftag in Nürnberg im selben Brief traf, in dem er auch bekundete, dass er im kommenden April einen großen Hoftag in Metz abzuhalten gedenke, lässt keinen Zweifel an Karls Motivation aufkommen: Nach seinem Scheitern von 1353 / 54 war der König gezwungen, im Maas-Mosel-Raum durchzugreifen, wollte er seinen Einfluss dort nicht an den französischen König verlieren, und dazu bedurfte es seiner physischen Präsenz. Die Schlüsselstelle hierzu konnte nur Metz sein; das Mittel war der Landfrieden. Das prunkvolle Herrscherzeremoniell des Metzer Hoftags war ein weiterer Grund, warum Karl die Zusammenkunft in Metz und nicht etwa in der Stadt Luxemburg organisierte (vgl. Margue / Pauly 2009). Für unsere Fragestellung von Belang ist die Tatsache, dass er den Dauphin von Frankreich, seinen Neffen Karl, in Metz empfing, während dessen Vater Johann II., Karls Schwager, in englischer Gefangenschaft war. Der junge Karl musste dem Kaiser für die Dauphiné huldigen.23 Vor der Ankunft des französischen Königssohns bekräftigte Karl IV. noch die Reichszugehörigkeit der Grafschaft Bar, indem er Heinrich von Pierrefort als vom französischen König eingesetzten Vormund Herzog Roberts zurückwies und die Regentschaft der Gräfin Yolanda ausdrücklich bestätigte, die natürlich auch für das von Frankreich lehnsrührige Herzogtum Bar galt (vgl. Thomas 1973: 93-96; 2000: 204 f.; Hergemöller 1989: 163 f.; Fantysová-Matějková 2013: 180 f.). Nach dem Abzug des Dauphins unterstrich er auch in Bezug auf Verdun die imperiale Hoheit, indem er Privilegien an Stadt, Bischof und Domkapitel erteilte und die Schirmverträge, die Frankreich, Bar und Luxemburg mit der Stadt abgeschlossen hatten, für nichtig erklärte, sie am 4. Januar 1357 aber für Markgraf Robert und Herzog Wenzel erneuerte (vgl. Thomas 1973: 125; Hergemöller 1989: 168 f.; Fantysová-Matějková 2013: 244). Des Weiteren musste der Dauphin die Rechte des Domkapitels von Toul im von Frankreich beanspruchten Umland bestätigen (vgl. Thomas 1973: 265). Angesichts der hohen Schulden Karls  IV., seiner Vorfahren und seines Halbbruders Wenzel gerade bei Metzer Financiers (vgl. Margue / Pauly 2009: 23 | Siehe zur Politik Karls gegenüber Frankreich in Bezug auf das Arelat die neueste Darstellung bei Weiss 2008: 102, der »das Paradigma vom deutsch-französischen Gegensatz« als Erklärungsmuster für Karls Westpolitik in Frage stellt; zum Metzer Hoftag ebd.: 109, 112, 115.

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877-879), ist die Bedeutung eines anderen Privilegs nicht zu unterschätzen, das ebenfalls als ›Goldene Bulle‹ in die Luxemburger Geschichtsschreibung eingegangen ist: Am 28. Dezember 1356 stellte Karl IV. in Metz allen Einwohnern der Stadt und des Herzogtums Luxemburg eine Urkunde aus, mit der er sie von allen Forderungen aufgrund von Schulden freistellte, die ihre Herrscher, namentlich sein herzoglicher Bruder, in der Vergangenheit aufgenommen hatten oder in Zukunft aufnehmen würden (vgl. Würth-Paquet / van Werveke 1881: 31, Nr. 12). Am selben Tag wurde den Bewohnern von Stadt und Propstei Diedenhofen (Thionville) ein weitgehend wortlautidentisches Privileg zuerkannt (vgl. MGH, Const. XI: 514–516, Nr. 913). Genügend Beispiele zeigen, dass eine derartige Garantie keineswegs überflüssig war. Heinz Thomas hat mehrfach betont, dass Karls  IV. Politik im oberlotharingischen Raum von kurzem Bestand war (vgl. Thomas 1973: 341 f.; 1988: 84; 2000: 208 f.). Doch Karl IV. hat sich keineswegs völlig vom Westen des Reiches abgewandt. Im Januar 1357 bestätigte er z. B. erneut die Reichszugehörigkeit der Lehen Gottfrieds von Apremont und Dun (vgl. RI VIII: Nr. 2596; FantysováMatějková 2013: 111 f.). 1361 verweigerte er die weibliche Nachfolge in der reichshörigen Franche-Comté und belehnte damit lieber Philipp den Kühnen, den jüngeren Sohn König Johanns II. (der allerdings 1364 auf Geheiß seines Bruders Karl V. verzichten musste, dafür aber Herzog von Burgund wurde; Quicke 1947: 131 24; Richard 1993; Fantysová-Matějková 2013: 221). Umso größere Bedeutung kam der Rolle Herzog Wenzels von Luxemburg, Brabant und Limburg zu, der im Oktober 1366 vor Karls zweiter Romreise zu seinem Stellvertreter im Reich ernannt wurde. Schon von 1358 bis 1359 führte Wenzel Krieg um die garde von Verdun (vgl. Fantysová-Matějková 2013: 243-246). 1361 brachte er einen neuen Landfrieden zustande, der rund 40 Unterzeichner, darunter den Bischof und die Stadt von Metz sowie die Herzogtümer Bar und Lothringen, im Kampf gegen die englische Gefahr vereinte (vgl. Fantysová-Matějková 2013: 136139; J. Schneider 1977: 6 f.). Von 1362 bis 1366 und erneut 1375 jagte er mit Erfolg die marodierenden Söldnertruppen im Grenzgebiet zwischen Diedenhofen und Metz, deren Anführer Petit-Meschin in der Burg Luxemburg hingerichtet wurde (Fantysová-Matějková 2013: 247 f., 415 f.). Aber auch Karl IV. selbst blieb aktiv in der Gegend: Im Januar 1363 traf er sich im Grenzstädtchen Mouzon an der Maas erneut mit dem Dauphin (vgl. Heckmann 2000: 76). Am 29. Mai 1364 vertrat Wenzel seinen kaiserlichen Bruder bei der Krönung ihres Neffen König Karls V. in Reims (vgl. Petit 1982: 109).

24 | Philipp wird irrtümlicherweise als Sohn Karls V. bezeichnet.

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W ie versuchte K arl  IV. sich in N iederlotharingien gegen die W it telsbacher zu behaup ten ? Reichsrechte musste Karl IV. auch im niederlotharingischen Raum sichern, wo die Wittelsbacher sich seit Ludwig dem Bayern eingenistet hatten. Das war sicher ein Grund gewesen, warum er die Hochzeit seines Halbbruders mit der Erbin von Brabant befürwortet hatte. Nach dem Tod seines Schwiegervaters Johanns III. (5. Dezember 1355) hatte Wenzel allerdings ernsthafte Schwierigkeiten, als vollwertiger Nachfolger anerkannt zu werden (vgl. Laurent / Quicke 1927; Thomas 1975: 81-83; Janssen 1978: 216-220; Avonds 1990a; 1990b; Pauly 1996: 384 f.; Boffa 2004: 3-10, 80-86). Ludwig von Flandern, Ehegatte Margaretes, der jüngeren Schwester Johannas von Brabant, besetzte fast das ganze Herzogtum, um eigene Erb­ ansprüche anzumelden. In der Joyeuse Entrée (3. Januar 1356) musste Wenzel, nur als manburnus (Vormund) Johannas betitelt, gegenüber den Landständen auf jeden Erbanspruch verzichten, falls Johanna vor ihm kinderlos sterben sollte. Karl IV. griff nicht ein, weil er eine Reaktion der Wittelsbacher fürchtete. Nach dem Schlachtentod Graf Wilhelms  IV. 1345 in Friesland hatte nämlich Wilhelms Schwester Margarete, die Ehefrau Kaiser Ludwigs IV., die Grafschaft Hennegau geerbt. Ludwig belehnte daraufhin sehr schnell seine Gemahlin und ihre bzw. seine Erben »ungehemmt und unwidersprochen« (Menzel 2005: 154), ebenfalls unter Angabe erbrechtlicher Argumente, mit den Reichslehen Holland, Seeland und Friesland und fasste das Ganze zu einer unteil­baren Einheit zusammen (vgl. Menzel 2005: 147-152; 2014: 250 f.; Thomas 2000: 184). Auf dem Metzer Hoftag von Ende 1356 huldigte Wenzel seinem kaiserlichen Bruder für das Herzogtum Brabant, dessen Lehensabhängigkeit vom Reich er somit anerkannte, was nicht zuletzt die Autonomiebestrebungen der Brabanter Stände und die Ansprüche seines Schwagers aus Flandern bremsen sollte (vgl. Fantysová-Matějková 2013: 186). Nachdem die brabantischen Städte die flandrischen Besatzer vertrieben hatten, schlossen Karl  IV., Wenzel und Johanna von Brabant am 20. Februar 1357 in Maastricht einen Erbvertrag, demzufolge Wenzel als vollwertiger Herzog von Brabant und Limburg anerkannt wurde und im Fall eines kinderlosen Todes das Brabanter Erbe an das jeweilige Haupt des Hauses Luxemburg fallen sollte (vgl. Fantysová-Matějková 2013: 188-191).25 Damit war gegenüber dem Wittelsbacher Besitz in Niederlotharingien ein klares Luxemburger Gegengewicht geschaffen, das zudem Einflussmöglichkeiten in der englisch-französischen Auseinandersetzung bot. Auch hier spielte also weniger die verwandtschaftliche Beziehung als das reichspolitische Interesse eine Rolle.

25 | Karl IV. hatte damals selbst noch keinen männlichen Erben.

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Doch Ludwig von Flandern setzte den Krieg fort und knapp vier Monate später, am 4. Juni 1357, mussten Wenzel und Johanna mit Ludwig und Margarete, auf Vermittlung Wilhelms von Bayern-Holland, des Sohns Ludwigs des Bayern, im hennegauischen Ath vereinbaren, dass auch Ludwig den Titel eines Herzogs von Brabant führen dürfe und Mechelen und Antwerpen an Flandern fielen, auch wenn seine Erbansprüche auf Brabant nicht ausdrücklich anerkannt wurden (vgl. Quicke 1947: 42-44; Thomas 1975: 82; Janssen 1978: 219 f.; FantysováMatějková 2013: 190-196). In den anschließenden knapp zehn Jahren enthielt Karl IV. sich weitgehend konkreter Einmischungen in Nieder- und Oberlotharingien. Seit 1363 verfolgte er intensiv den Erwerb der Markgrafschaft Brandenburg und damit einer zweiten Kurstimme für das Haus Luxemburg (vgl. Thomas 1983: 288-294; Hoensch 2000: 158, 166 f.; Seibt 1978: 279-285). Im Westen verließ er sich offenbar auf seinen Halbbruder. Wenzel ergriff die Initiative, einen diesmal stärker niederrheinisch ausgerichteten Landfrieden zu errichten (vgl. Stercken 1989: 44-54; Wohlfeil 1958: 28; Quicke 1947: 136; Fantysová-Matějková 2013: 132, 256, 401). Der schon 1351 von Johann III. von Brabant zuwege gebrachte Landfrieden, dem nach und nach die Städte Aachen und Köln, der Erzbischof von Köln, der Graf von Looz, der Markgraf von Jülich sowie eine ganze Reihe niederlotharingischer Ritter und Städte angehörten, wurde am 20. Februar 1354 von Karl IV. bestätigt (vgl. Janssen 1978: 215). 1356 traten Wenzel und Johanna ihm bei und bekräftigten ihn 1358. Am 11. November 1364 brachte Herzog Wenzel einen neuen Landfrieden zustande, der schon ein Jahr später um fünf Jahre verlängert und 1369 durch einen neuen Vertrag ersetzt wurde, der aber wegen innerkölnischer Unstimmigkeiten und dann wegen des Konflikts zwischen Brabant und Jülich zum Erliegen kam. Eine neue Friedenseinung kam 1375 auf ausdrücklichen Befehl Karls IV. mit denselben Akteuren zustande; er wurde 1378 »van geheische ind beveylnisse uns lieue herren heren Karls van goetz gnaden Roemischer keysser und kůnnych zů Beheim« erneuert (zit. nach Stercken 1989: 50; vgl. Janssen 1978: 233). Es fällt auf, dass Karl sich zwar nicht als Bundesgenosse beteiligte, wohl aber die Einungen förderte und kaum zufällig seinen Halbbruder von dem Zeitpunkt an beim Zustandekommen unterstützte, an dem sich die Brabanter Nachfolgefrage stellte (vgl. Janssen 1978: 215; Stercken 1989: 51). Und nach der Niederlage Wenzels in Baesweiler wurde er dann noch aktiver. 1364 gelang es Wenzel, die letzten Teile der Grafschaft Chiny für das Haus Luxemburg zu erwerben (vgl. Goedert 1963: 164 und Tafel 16; FantysováMatějková 2013: 264) und mit kaiserlicher Genehmigung die Grafschaft Falkenburg an der wichtigen Handelsstraße Köln-Brabant zu kaufen (vgl. RI VIII: Nr. 4031, 4040; Quicke 1947: 112, 136; Janssen 1978: 221 f.). Außerdem erwarb er Herbeumont (1353), Musson (1370), Königsmacher (1370-76) und Schönecken (1378; vgl. Würth-Paquet 1869: 3; Verkooren 1914-1922: Bd. 3,

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Nr. 1237 f.; Fantysová-Matějková 2013: 241 26, 250-252). Das Herzogtum erreichte damit seine größte Ausdehnung. Schließlich ernannte Karl  IV. seinen Halbbruder Ende Oktober 1366 in Nürnberg, im Hinblick auf seinen geplanten zweiten Romzug, zum Reichsvikar und verpfändete ihm die Reichsorte Kaiserslautern, Wolfstein und Kaysersberg (vgl. Thomas 1992: 149-152; 1975: 83 f.; Heckmann 2001: 563 f.; Fantysová-Matějková 2013: 267-272). Die Wahl Wenzels für diesen seit zehn Jahren unbesetzten Posten ist umso bemerkenswerter, als in der Goldenen Bulle der Pfalzgraf bei Rhein für den Fall der Thronvakanz als Reichsvikar vorgesehen war: eine Rolle, die die Wittelsbacher mit Berufung auf den Sachsenspiegel auch bei einfacher Abwesenheit des Königs für sich reklamierten (vgl. Thomas 1983: 290). Da Wenzel das Amt auch noch nach Karls Rückkehr aus Italien ausübte, kann man darin ein Zeichen der erhöhten Aufmerksamkeit gegenüber Frankreich erkennen, das sich seit dem Machtantritt König Karls V. (1364) von seinen Niederlagen gegen England zu erholen begann (vgl. Wohlfeil 1958: 31 f.). Im selben Sinne ist wohl die am 20. Februar 1367 erfolgte Verpfändung der Landvogtei Elsass an Wenzel zu verstehen (vgl. RI VIII: Nr. 4499; Fantysová-Matějková 2013: 270 f.). Wenzel kontrollierte nunmehr einen Territorienkomplex, der vom Oberrhein bis an die Schelde reichte! Die Erbfolge in Brabant und Limburg versicherte er Karl – inzwischen Vater eines Sohnes – für dessen Haus durch einen ebenfalls vom 27. Oktober 1366 datierten Brief, an dem Johanna nicht beteiligt war (vgl. Lünig 1732: 1307 f., Nr. 270; Fantysová-Matějková 2013: 270): Darin wurde die alte Abmachung bestätigt, dass, falls Wenzel ohne legitime Erben sterben sollte, was damals trotz fünf unehelicher Kinder abzusehen war, sein ganzer Besitz an die böhmische Linie der Luxemburger fallen sollte. An erster Stelle stand aber die neue Klausel, dass Karl Wenzel alle Reichslehen westlich des Rheins, die ledig würden (mit Ausnahme von Habsburger Besitz), übertragen werde. Das musste sich in erster Linie auf Brabant und Limburg beziehen: Herzogin Johanna war mittlerweile 44 Jahre alt und 15 Jahre älter als ihr Ehemann Wenzel; im Todesfall würde ihr Besitz als heimgefallenes Reichslehen dem / den Luxemburger(n) zugesprochen (vgl. Pauly 1996: 385). Damit war das Abkommen von Ath hinfällig. Das Kalkül Karls IV., der in diesen Fragen die Interessen seiner Hausmacht und des Reiches nicht unterschied (vgl. Wohlfeil 1958: 34), ging diesmal nicht auf, und zwar nicht nur aus biologischen Gründen – Johanna überlebte nämlich Wenzel –, sondern einerseits, weil die Luxemburger den Bogen wohl überspannt hatten und Widerstand herausforderten. Karl überging Ruprecht von der Pfalz nicht nur beim Reichsvikariat; in Kaiserslautern (Reichspfandschaft, die Karl IV. vom Pfalzgrafen ausgelöst und Wenzel übertragen hatte) und im 26 | Dort steht irrtümlich das Datum 11. März 1365 für den Erwerb von Falkenburg.

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Elsass agierte Wenzel direkt vor dessen Haustür, und auf dem Bischofsstuhl von Straßburg saß seit 1366 Johann von Luxemburg-Ligny, Verwandter und Sohn eines Vasallen Herzog Wenzels (vgl. Fantysová-Matějková 2013: 271). Auch die Erzbischöfe von Köln, Mainz und Trier gingen nunmehr Bündnisse ein, die ziemlich eindeutig gegen den Kaiser gerichtet waren (vgl. Thomas 1975: 85; Hoensch 2000: 163; Fantysová-Matějková 2013: 272). Andererseits scheiterte Karls Westpolitik auch, weil er der Brandenburger Perspektive den Vorrang gab (vgl. Pauly 1996: 385 f.; Thomas 1975: 83 f.). Aus der Wittelsbacher Front vermochte er nur Albrecht von Bayern-Holland auf seine Seite zu ziehen, indem er seinen Sohn Wenzel 1370 mit dessen Tochter Johanna verheiratete und 1371 seine Tochter Anna mit Albrechts Sohn verlobte (vgl. Quicke 1947: 193 f.; Veldtrup 1988: 418-423; Menzel 2014: 260 f.). Das letztgenannte Projekt scheiterte zwar an der Dispensverweigerung Papst Gregors XI., doch entlasteten diese Verbindungen auch Herzog Wenzel, wenn auch nicht dauerhaft. In der Schlacht von Baesweiler geriet Wenzel am 22. August 1371 in die Gefangenschaft Wilhelms von Jülich, gegen den er als Landfriedenswahrer unter dem Reichbanner gezogen war, um ihn wegen Übergriffen auf Brabanter Kaufleute zu bestrafen, aber wohl auch wegen seiner Ansprüche auf das Falkenburger Erbe, das Wilhelm ihm streitig machte (vgl. Quicke 1947: 177204; Thomas 1975: 87; Janssen 1978: 225-229; Veldtrup 1988: 421 f.; FantysováMatějková 2013: 348-352, 383-406). Hinter Wilhelm von Jülich standen außer seinem Schwager, Herzog Eduard von Geldern, der neue Erzbischof von Köln Friedrich von Saarwerden und Wilhelms Lehnsherr Ruprecht von der Pfalz. Der Metzer Chronist Jacques Dex äußert zu Beginn des 15. Jahrhunderts den Verdacht, Wilhelm von Jülich wollte Wenzel nach England bringen, wenn Karl nicht auf seine Forderungen eingehe (vgl. Wolfram 1906: 309; vgl. FantysováMatějková 2013: 332). Damit wäre die vordergründig regionale Auseinandersetzung in Beziehung zum Hundertjährigen Krieg zu sehen. Karl IV. kam seinem Halbbruder nur spät und halbherzig zu Hilfe. Er stand zur selben Zeit gegen Otto von Brandenburg im Feld, der sich geweigert hatte, frühzeitig auf die Kurmark zu verzichten; den Feldzug musste er aber abbrechen, weil König Ludwig von Polen und Ungarn, dem die luxemburgische Expansion in Brandenburg nicht gleichgültig war, einen Angriff auf Mähren gestartet hatte und Bayern in die Oberpfalz eingefallen war. Der Konflikt mit den Wittelsbachern war an allen Fronten entbrannt. Gelöst hat Karl IV. ihn »in der bei ihm üblichen friedfertigen Manier, nämlich durch z. T. überaus geschickte diplomatische Schachzüge und Verlobungen und schließlich durch die Zahlung einer immensen Entschädigung an das gesamte Haus Wittelsbach« (Thomas 1975: 88-90). Zu den Schachzügen gehörte eben der Verzicht auf die hegemoniale Stellung Luxemburgs im Westen des Reiches. Einerseits brauchte Karl die Kurstimme von mindestens zwei rheinischen Kurfürsten, wenn er zu seinen Lebzeiten seinen Sohn Wenzel zum König und Nachfolger wählen lassen

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wollte, andererseits war dem König von Böhmen der Erwerb der Kurmark Brandenburg, die den Luxemburger Territorienkomplex in Mitteleuropa nach Norden günstig erweiterte, offensichtlich wichtiger. Deswegen musste Herzog Wenzel im Mai 1372 in Mainz das Reichsvikariat an den Erzbischof von Köln abtreten und die Landvogtei Elsass an die Habsburger, während er Kaiserslautern 1375 an Ruprecht von der Pfalz ausliefern musste (vgl. Thomas 1975: 90 f.; Pauly 1996: 386). Nach der Niederlage von Baesweiler und der Gefangennahme Wenzels versuchte Herzogin Johanna, König Karl V. von Frankreich in die Verhandlungen einzubeziehen, aber letzten Endes gelang es Karl IV. auf dem Aachener Hoftag Mitte Juni 1372, Wilhelm von Jülich zur Freilassung Wenzels zu bewegen, vordergründig ohne Lösegeld zu erhalten; de facto aber musste das Herzogtum Brabant dem Jülicher 50.000 kleine Gulden für den Schutz Brabants durch den Herzog von Jülich bezahlen (vgl. Winkelmann 1885: Bd. 2, Nr. 935; RI VIII: Nr. 5088, vgl. auch Nr. 5083a, 508427). Diese Summe kam zu den etwa 1,2 Mio. Moutonen hinzu, die der Herzog an Soldzahlungen, Entschädigungen und Lösegeldern für seine Gefolgsleute zahlen musste (vgl. Uyttebrouck 1975: Bd. 1, 71 f.; Janssen 1978: 226). Diese Lösung führte kurzfristig zum Protest der Brabanter Städte, die diese Summe auf bringen mussten, dafür aber Mitspracherechte durchsetzen konnten (vgl. Quicke 1947: 205-220; Boffa 2004: 24 f.). Langfristig liegt nach dem Dafürhalten der meisten Historiker hier der Grund, warum Johanna die Luxemburger als potenzielle Erben von Brabant eliminierte. Sie hatte verstanden, dass Karls IV. Interessenschwerpunkt sich nach Osten verlagert hatte und er nicht zögerte, mit den Gegnern Brabants zu einvernehmlichen Lösungen zu kommen, auch auf Kosten Brabants (vgl. Janssen 1978: 220). So übertrug er das Herzogtum Geldern als Reichslehen an Maria von Geldern, die Gattin des Siegers von Baesweiler, Wilhelm von Jülich, und deren gleichnamigem Sohn und nicht an ihre kinderlose Schwester Mechtild von Kleve, mit der Johanna sich verbündet hatte (vgl. Janssen 1978: 228). Und er befürwortete die Heirat Wilhelms von Jülich und Geldern mit der Tochter Albrechts von Bayern-Holland, der sich als Vermittler profilieren konnte und sich für den Fall eines kinderlosen Todes Wenzels für eine Sukzession der Luxemburger in Limburg und Falkenburg engagierte (vgl. RI VIII: Nr. 5086, 5089; Quicke 1947: 189 f., 198 f., 201; Fantysová-Matějková 2013: 400, 402). Einerseits musste Johanna von Brabant in der Folge mit einem starken Gegner in Jülich-Geldern rechnen. Und andererseits scheint Karl die Erbfolge in Brabant selbst schon abgeschrieben zu haben. In keinem der beiden überrlieferten Testamente (1376 und 1377) geht er auf die mögliche Sukzession im Herzogtum

27 | Vgl. Quicke 1947: 196-203; Thomas 1975: 92 f.; Pauly 1996: 387; FantysováMatějková 2013: 399.

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Luxemburg ein, geschweige denn in Brabant und Limburg (vgl. Schlesinger 1892 / 1893; Quicke 1927; Thomas 2008). Noch gab Karl aber die Hoffnung auf Wenzels doppelte Erbschaft nicht ganz auf. Auf der Reise nach Paris Ende 1377 besuchte er das Herzogtum Brabant und auf der Rückreise im Januar 1378 Luxemburg. Dabei dürfte es erneut um die Erbfolgefrage gegangen sein, denn am 30. Januar 1378 verfasste Herzog Wenzel sein Testament, das die Abmachungen von 1366 wiederholte (vgl. Lünig 1732: Bd. 1, 1389-1392, Nr. 319 [08.02.1378]; Bertholet 1743: Bd. 8, xxxviii; Würth-Paquet 1869: Nr. 802). Wenige Tage später wurde das Testament von den Luxemburger Vasallen und Städten bestätigt (vgl. Lünig 1732: Bd. 1, 1389-1394, Nr. 319, 320 [08.02.1378]; Pauly 1996: 387). Wahrscheinlich war vorgesehen, dass Karls erst vor kurzem geborener Sohn Heinrich die Luxemburger Erb­lande erhalten sollte; der starb aber schon nach einem Jahr (vgl. Quicke 1947: 286290; Thomas 1983: 302; Hoensch 2000: 171). Selbst die Landvogtei Elsass hatte Karl 1377 nochmals an seinen Halbbruder verpfändet (vgl. RI VIII: Nr. 5806, 5808; Pauly 1996: 387). Doch eine nachhaltige Wirkung hatten diese Maßnahmen nicht mehr. In Paris verlieh Karl sogar dem französischen Thronfolger auf Lebenszeit das Reichsvikariat im Arelat (vgl. Thomas 1988: 85-88). Johannas Vergeltung erfolgte, als Karl und Wenzel nicht mehr lebten: Sie ignorierte die luxemburgischen Erbansprüche völlig und verschrieb die Herzogtümer Brabant und Limburg schrittweise Margarete, der Tochter ihrer Schwester und Ludwigs von Flandern, die seit 1369 mit Philipp dem Kühnen von Burgund verheiratet war (vgl. Veldtrup 1988: 417; Pauly 1996: 387). Deren zweiter Sohn Anton wurde daraufhin Herzog von Brabant und Limburg und beanspruchte, indem er 1409 in zweiter Ehe Elisabeth von Görlitz, die Enkelin Karls IV., heiratete, auch das Herzogtum Luxemburg und die Grafschaft Chiny, da Elisabeth nicht nur Pfandherrin, sondern zu dem Zeitpunkt noch Alleinerbin des Hauses Luxemburg war und das Wohlwollen des abgesetzten Königs Wenzel genoss (vgl. Mund 1998: 343-345; Veldtrup 1988: 439).

F a zit : K arl , der P r agmatiker Wenn Karl IV. spätestens ab Ende 1353 Wenzel die Herrschaft in den Luxemburger Stammlanden überließ und diese gar zum Herzogtum aufwertete, so sicher nicht wegen eines plötzlichen Sinneswandels gegenüber dem Halbbruder aus der zweiten Ehe seines Vaters Johann. Es ging ihm eindeutig darum, im Westen des Reiches mithilfe seines Halbbruders eine neue Position aufzubauen, um die Hausmacht der Luxemburger dort zu festigen und gleichzeitig die Rechte des Reiches gegenüber dem Schwager auf dem französischen Königsthron zu verteidigen. Dass 1346 Karls IV. erste Reise nach Frankreich ging

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und 1378 auch seine letzte dem französischen Königshof galt, zeigt symbolisch die Bedeutung, die er der Westpolitik zuschrieb. Doch als er feststellte, dass eine starke Stellung Luxemburgs in den Niederlanden langfristig nicht durchzusetzen war, steckte er zurück, um die Position seines Hauses im Osten des Reiches abzusichern. Wenn Karl sich auf Kosten der nordwesteuropäischen Territorien der Luxemburger eher dem Ausbau der mitteleuropäischen Positionen seiner Dynastie zuwandte, erklärt sich das wohl auch dadurch, dass sich in Nordwesteuropa die territorialen Strukturen längst verfestigt hatten. Das hatte schon Karls Urgroßvater Graf Heinrich VI. von Luxemburg erfahren müssen, der die Hand (und den Geldbeutel) nach Limburg ausgestreckt hatte, aber am Widerstand der Nachbarfürsten gescheitert war, die eine solche Landmasse in Luxemburger Hand nicht akzeptieren wollten (vgl. Margue / Pauly1990; Thomas 1975: 95 f.). In Mitteleuropa waren Landverschiebungen offenbar noch leichter zu bewerkstelligen. Insofern gab Karls Erfolg in Brandenburg ihm Recht. Heinz Thomas meint, selbst wenn Wenzel in Baesweiler gewonnen hätte, hätten die Luxemburger spätestens im Vorfeld der Wahl Wenzels zum römischen König Stellungen aufgeben müssen, um Erfolg zu haben (vgl. Thomas 1975: 96). Winfried Eberhard formuliert es positiver: »Zerstreute Landesherrschaften […] befriedigten zwar rein dynastische Bedürfnisse durchaus, sie stellten jedoch keine brauchbare Grundlage für Staatsbildung dar. Dagegen setzte die konsequente konzentrische Expansionsmethode Karls IV. bereits territorialstaatliches Denken voraus.« (Eberhard 1981: 22). Insofern erwies sich Karl IV. auch in seiner Westpolitik als Realist, der Verhandlungen und Heiratspolitik militärischen Mitteln vorzog. Vielleicht hat er auch aus den Erfahrungen der Wittelsbacher Lehren gezogen: Sein einstiger Gegner Ludwig IV. hatte seine Stellung als Kaiser und König benutzt, um die Markgrafschaft Brandenburg (1323), die Grafschaft Tirol (1341) und schließlich die Grafschaften Holland und Seeland (1346) für sein Geschlecht zu gewinnen, doch dieser Zuwachs der Wittelsbacher Hausmacht hatte schließlich eine Mehrheit Kurfürsten auf die Seite der Luxemburger und Papst Clemens VI. getrieben (vgl. Clauss 2014: 111 f.). Karl IV. hatte verstanden, dass man den Bogen nicht überspannen darf. Eigentlich hatte Karl ja gehofft, nicht nur Brabant und Limburg der Luxemburger Hausmacht einverleiben zu können. Er hatte 1364 auch mit den Habsburgern einen Erbvertrag geschlossen, dass jene Partei nach dem Aussterben des anderen Hauses dessen gesamten Länderbesitz erhalten werde (vgl. Hoensch 2000: 158 f.; Heimann 2014). Der biologische Zufall wollte es 1383 mit dem kinderlosen Tod Wenzels und 1437 mit dem söhnelosen Tod Sigismunds anders. Die hatte Karl nicht einplanen können. Die dargestellte Politik Karls IV. lässt neben realpolitisch bedingten Reorientierungen auch dynastische Kontinuitäten erkennen: So real die Spannungen zwischen ihm und seinem Vater Johann auch waren, im lotharingischen

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Großraum knüpfte er mehrfach an Politiken an, die Johann der Blinde schon betrieben hatte.

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Deutsch in Prag zur Mitte des 14.  Jahrhunderts Hans-Joachim Solms

I.

V orbemerkung

Der vorliegende Beitrag versteht sich als gerafft knapper und auswählender Forschungsüberblick,1 der die deutschsprachige Situation in Prag zur Mitte des 14. Jahrhunderts nur insoweit zu beleuchten versucht, als damit der Hintergrund für weitere Beobachtungen und Einschätzungen nicht nur zur kulturellen Situation Prags in der Mitte des 14. Jahrhunderts geliefert sein soll. Vielmehr soll auch deutlich werden, dass mit dem Hinweis auf die Situation der deutschen Sprache im Zusammenhang der Herrschaft der Luxemburger in Böhmen im 14. Jahrhundert und dabei insbesondere im Zusammenhang des Luxemburger Kaisers Karl IV. sofort auch die engere ›böhmische‹ Perspektive verlassen und die Perspektive der deutschen Sprachgeschichte in ihrer Gesamtheit eingenommen wird. Denn hinsichtlich mindestens zweier unterschiedlicher Kontexte hat Karl IV., hat die Situation der deutschen Sprache in Prag zur Mitte des 14. Jahrhunderts eine besondere Bedeutung für die Sprachgeschichtsschreibung des Deutschen; dabei handelt es sich um zwei analytisch zu unterscheidende Kontexte, die zugleich jedoch eng aufeinander bezogen sind. Prag hat eine besondere Bedeutung erstens für die heute weitgehend konsensuelle Epochengliederung der deutschen Sprachgeschichte: Insbesondere in den jüngeren, und d. h. seit den 70er Jahren des vergangenen Jahrhunderts erarbeiteten, Sprachgeschichten des Deutschen wird der Epochenumschwung 1 | Der Beitrag beansprucht keine Orginalität hinsichtlich der Präsentation neuer Forschungsergebnisse; gleichwohl werden im Verlauf zusätzlich zu den Aussagen der bisherigen Forschung einige kleinere Beobachtungen vorgestellt. Im Rahmen der dem vorliegenden Band grundliegenden Fachtagung fokussiert er die germanistische sprachgeschichtliche Sicht auf das Rahmenthema und fasst weitgehend nur eine relevante Auswahl vorhandener Forschungsergebnisse zusammen. Die dankenswerte Aufnahme in den vorliegenden Band erfolgt auf ausdrücklichen Wunsch der Herausgeber.

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vom hochmittelalterlichen Mittelhochdeutschen (ca. 1050-1350) zum spätmittelalterlichen Frühneuhochdeutschen (ca. 1350-1650, vgl. Solms 2000: 1516) mit dem expliziten Hinweis auf Karl IV. und auf Prag in die Zeit um 1350 datiert (vgl. Zusammenstellung bei Roelcke 1998: 804-811). In einem unmittelbaren Zusammenhang dazu wird Prag zweitens – und diesmal erstaunlicherweise in wissenschaftsgeschichtlich älteren und insbesondere im späteren 19. Jahrhundert entstandenen Darstellungen – eine besondere Bedeutung für die Herausbildung der neuhochdeutschen Schrift- und Gemeinsprache zugewiesen: Als administratives Zentrum des Deutschen Kaiserreiches unter Karl IV. und angeregt durch die unter Karl eingetretene kulturelle Entwicklung ist Prag zu einer wichtigen Station auf dem geschichtlichen Weg zur deutschen Schriftsprache geworden; teilweise wird hier nicht nur eine Station, sondern wird in Prag sogar der Ursprungszusammenhang der deutschen Schriftsprache überhaupt gesehen.

II.

D ie forschungsgeschichtliche B edeutung des ›P r ager D eutsch ‹ für die H er ausbildung der neuhochdeutschen S chrif tspr ache

Der Hinweis auf das Neuhochdeutsche als der einheitlichen deutschen Schriftund Gemeinsprache, die über einen Zeitraum von mehreren Jahrhunderten herausgebildet wurde und letztlich erst seit dem 18. Jahrhundert als positiv beschreibbare Einzelsprache ›Deutsch‹ fassbar wird,2 führt zu einer der zentralen Forschungsfragen der sprachwissenschaftlichen Germanistik, die ihrerseits wissenschaftsgeschichtlich bis in die Anfänge der universitären Germanistik zurückverweist. Für die frühe Germanistik bestand ein (durchaus voluntativer3) Konsens, dass der neuzeitliche und in die einheitliche Nation mündende Prozess der Herausbildung einer neuhochdeutschen Schriftsprache wesentlich das Verdienst Martin Luthers war. So schrieb Jacob Grimm (1822: XI) in der Vorrede seiner Deutschen Grammatik und damit den schließlichen Konsens auch vorbereitend, dass man »das neuhochdeutsche in der that als den protestantischen dialect« bezeichnen dürfe. Doch ungeachtet der Anerkenntnis der besonderen historischen und personalen Einzelleistung, die man dem sprach2 | Für die Zeit davor gilt allein die Existenz unterschiedlicher ›deutscher‹ Varietäten insbesondere diatopischer Art. 3 | Dies zielt auf den insgesamt auch politischen Zusammenhang, in dem große Teile des republikanischen deutschen Bürgertums im frühen 19. Jahrhundert in ihrem Handeln auf die Schaffung einer selbstbestimmten Nation zielten, deren Begründung und Erreichung man insbesondere auch in der gemeinsamen Sprache sah (vgl. ausführlich Solms 2018).

Deutsch in Prag zur Mitte des 14.  Jahrhunder ts 

kreativen und sprachmächtigen Wirken Martin Luthers für die schließliche Herausbildung und Durchsetzung einer überregionalen und dann auch polyvalenten Standardsprache zuschrieb, sah man diese neuzeitliche Entwicklung doch als Ergebnis einer lange vor Luther begonnenen kontinuierlichen Entwicklung an. Den Beginn dieser Kontinuität sah man im Althochdeutschen (ca. 700-1050) im Herrscherhaus der Karolinger, konkret bei Kaiser Karl d. Gr. So schrieb Karl Müllenhoff in der Vorrede der von ihm zusammen mit Wilhelm Scherer herausgegebenen Publikation Denkmäler deutscher Poesie und Prosa aus dem VIII-XII. Jahrhundert: »wie im staat, in religion, wissenschaft und kunst, so geht auch in der sprache das einheitliche leben der nation von dem gewaltigen manne aus, der zuerst ihre verschiedenen stämme zusammenfasste, ihre geschichte an die der alten welt anknüpfte, und sie so in eine bahn wies, deren letztes stadium noch zu durchlaufen ist« (Müllenhoff 1863: XXX).

Deutlich wird hier in der fachwissenschaftlichen Erörterung der politisch-nationale Zusammenhang fokussiert, der bezogen auf die Lebenssituation des argumentierenden Wissenschaftlers als ein erst noch zu erreichender (s. Anm. 3) angesprochen wird. Ganz in einem solchen Zusammenhang war es ebenfalls gängige Meinung,4 dass bereits im Hochmittelalter die die nationale Einheit sichernde Gemeinsprachlichkeit schon einmal zum Greifen nahe gewesen, vielleicht sogar erreicht gewesen war. So hatten Karl Lachmann und Jacob Grimm in Würdigung der sprachlichen und literarischen Leistung der höfischen Epiker und Lyriker um 1200 angenommen, »dass die Dichter des dreizehnten Jahrhunderts bis auf wenige mundartliche Einzelheiten, ein bestimmtes unwandelbares Hochdeutsch redeten« (Lachmann 1820: VII, zit. nach Mewes 2000: 24). Nur wenig später als Karl Lachmann bekräftigte Jacob Grimm (1822: XII f.) diese Ansicht: »Im zwölften, dreizehnten jahrh. waltet am Rhein und an der Donau, von Tyrol bis nach Hessen schon eine allgemeine sprache, deren sich alle dichter bedienen, in ihr sind die älteren mundarten verschwommen und aufgelöst, nur noch einzelnen wörtern und formen klebt landschaftliches an«. Dieser von Grimm zeitlebens behaupteten Einschätzung stimmte auch Karl Müllenhoff grundsätzlich zu und band diese zudem an die Existenz des Herrschergeschlechtes: »mit den Staufern kam das reine mittelhochdeutsch empor«, so schrieb er, »sein verfall beginnt auch mit ihrem untergang« (Müllenhoff 1863: XXVIII). Gleichwohl aber fokussierte Müllenhoff die besondere sprachliche Situation zur Zeit der Staufer nicht auf ihre historische Originalität hin, sondern sah in ihr vielmehr nur eine Etappe, eine aufsteigende und wieder absinkende Etappe innerhalb der kontinuierlichen Entwicklung, in der frühere Ansätze aufgenommen und spätere Entwicklungen vorbereitet wurden. Insofern war 4 | Zur kritischen Wertung s. Solms 2014.

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für ihn die schließlich durch Luther aufgenommene und durchgesetzte Entwicklung nurmehr der Endpunkt einer tatsächlichen »Kontinuität der Schriftsprache seit ahd. Zeit« (Besch 2003: 2255): Mit der »karlingischen hofsprache« wurde bereits »ein gemeinsamer grundtypus sichtbar und der anfang einer einheitlichen entwicklung war gegeben« (Müllenhoff 1863: XXVI). Nach dieser ersten, der althochdeutschen Etappe der Entwicklung wird »auf den Grundlagen der karlingischen Hofsprache« die mittelhochdeutsche Entwicklung bei den Staufern fortgesetzt, die – so sei noch einmal betont – »keinen neuen Sprachtypus« schaffen. Mit der in ihrem Umkreis identifizierten und von Müllenhoff so bezeichneten »süddeutschen hofsprache« (ebd.: XXVII) stehen die Staufer nur mehr in einer schon lange vor ihnen geschaffenen Tradition: »Damit fassen wir einen Hauptgedanken Müllenhoffs, nämlich daß sich die Gemeinsprache von Kaiserhaus zu Kaiserhaus weiter tradiert bis zum Beginn der Neuzeit« (Besch 2003: 2256). Und in diesem Zusammenhang wird nun – als dritte Etappe der Entwicklung – der Kaiserhof in Prag genannt (vgl. ebd.). Anders als Müllenhoff, für den Prag eine wichtige, letztlich aber doch eben nur eine, und zwar eine frühere Entwicklung aufnehmende und fortführende Etappe auf dem Weg zur neuhochdeutschen Schriftsprache darstellt, sah Konrad Burdach (vgl. 1884) in der besonderen Situation des kaiserlichen Prag den eigentlichen Ursprung der neuhochdeutschen Schriftsprache. In seiner Habilitationsschrift von 1884 lehnte er den von Müllenhoff formulierten Kontinuitätsgedanken ab und ersetzte ihn durch die Überlegung, in der entstandenen »Schriftsprache eine neue Schöpfung« zu sehen, die »unter einmaligen kulturellen Umständen entstanden war« (Besch 2003: 2256): Mit den »einmaligen kulturellen Umständen« war der um und nach 1350 in Prag wirksame und über italienische Persönlichkeiten vermittelte Frühhumanismus gemeint: Durch diesen Kultureinfluss wurde auch die Sprache der kaiserlichen Kanzlei stark beeinflusst und zudem uniformiert (vgl. ebd.). Konrad Burdach sah in der sich herausbildenden Sprache der kaiserlichen Kanzlei ein »Kunstprodukt«, das als ein solches innovatives Kunstprodukt gar nicht einfach nur die Fortsetzung früherer Entwicklungen sein konnte. Die Sprache der kaiserlichen Kanzlei erweist sich ihm als ein »Kunstprodukt« im zweifachen Sinne des Wortes: als einerseits ein unabhängig von der Alltagsmündlichkeit her (und d. h. ›natürlich‹) und andererseits ein durch einen künstlerischen Formwillen entstandenes Produkt (vgl. Burdach 1893: passim). Burdach verstand sie als ein reguliertes Konstrukt humanistischer Praxis, und d. h. aus einer »lateinischen gelehrten Bildung« (Wiesinger 1978: 849) heraus entstanden, und also auch nur bildungsgeschichtlich zu verstehen: »[M]it dem Einfluss, den die von Karl IV. in Prag geschaffene kirchliche, staatliche, wissenschaftliche, litterarische Cultur, den die hier so imponirend hervortretende Centralisation geistiger Mächte nach Norden hin, nach Schlesien, Meissen, Thüringen ausstrahl-

Deutsch in Prag zur Mitte des 14.  Jahrhunder ts  te, verbreitet sich auch die böhmische Kanzleitechnik und Kanzleisprache« (Burdach 1893: XII),

die als »Reichssprache der kaiserlichen Kanzlei« eine zusätzliche »vorbildliche Macht« entwickelte (ders. 1926, zit. nach Wegera 2007: 90). Die aus künstlerischem Formwillen fließenden Regulierungen betrafen nur in ganz begrenztem Umfang den lautlichen und morphologischen Bereich, sie betrafen insbesondere die Syntax und den Stil; sie äußerten sich u. a. »in der rationalen Durchgliederung der Satzgefüge und in der gehobenen Ausdrucksweise, die die Kunstmittel der Rhetorik verraten« (Besch 2003: 2256): Gemeint sind u. a. Satzbau, Wortstellung, Periodenbau, Verwendung von Synonymen, Epitheta, Metaphern, Sentenzen (vgl. Wiesinger 1978: 849).

III.

D ie B edeutung des ›P r ager D eutsch ‹ für die E pochengliederung der deutschen S pr achgeschichte

Neben der Bedeutung, die dem ›Prager Deutsch‹ in der Zeit der Luxemburger für die Herausbildung einer deutschen Schrift- und Gemeinsprache beigemessen wird, kommt dem luxemburgischen Prag eine weitere und besondere Bedeutung für die Epochengliederung der deutschen Sprachgeschichte zu: Insbesondere in den neueren, und d. h. seit den 1970er Jahren erarbeiteten, Sprachgeschichten des Deutschen wird der Epochenumschwung vom hochmittelalterlichen Mittelhochdeutschen zum spätmittelalterlichen Frühneuhochdeutschen mit dem expliziten Hinweis auf Karl IV. und auf Prag in die Zeit um 1350 datiert. Dabei gehen solche Periodisierungen wissenschaftsgeschichtlich unmittelbar auf den erstgenannten Zusammenhang der Forschungen zur Herausbildung der neuhochdeutschen Schriftsprache zurück. Denn als Erster hatte bereits Wilhelm Scherer (vgl. 1878) in seiner Geschichte der deutschen Sprache das von ihm so bezeichnete ›Frühneuhochdeutsche‹ mit dem expliziten und einzigen Hinweis auf die besondere Sprachsituation Böhmens um 1350 beginnen lassen. Gegenüber dem varietär differenzierten Sprachzustand des Mittelhochdeutschen sah er hier eine die Differenzierung aufhebende und in sich einverleibende Entwicklung, insofern in »Böhmen […] ober- und mitteldeutsche, österreichische und meissnische Mundart zusammen[treffen]« (ebd.: 12). Dabei ist bemerkenswert, dass die von ihm gelieferte Begründung nahezu wortwörtlich jene Ausführungen aufnimmt, die bereits Karl Müllenhoff 1863 im Zusammenhang seiner ›Kontinuitätstheorie‹ und hinsichtlich der Bedeutung Prags vorgelegt hatte:

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Hans-Joachim Solms »in den urkunden der Lutzenburger, Johanns von Böhmen, Karls des vierten und Wenzels […] herrscht eine sprache, die eine mitte hält zwischen den beiden mundarten, die sich schon im XIII jh. in Böhmen begegneten, als dort gleichzeitig der Meißner Heinrich von Freiberg und der Baier Ulrich von Eschenbach dichteten« (Müllenhoff 1663: XXVIII).

Dieser historisch wirksamen sprachlichen Situation parallel sieht Scherer, der sich also unmittelbar an Müllenhoff anlehnt, weitere geistesgeschichtliche und auf Karl IV. verweisende Veränderungen; und diese geistesgeschichtlichen Veränderungen sind ihm dann ein Grund, auch hinsichtlich der Literaturgeschichte einen ebenfalls nach Prag weisenden Epochenwechsel um 1350 anzunehmen. So formuliert er 1883, wenige Jahre nach seiner Sprachgeschichte von 1878, in seiner Geschichte der deutschen Literatur, dass neben weiteren Ereignissen insbesondere »die Gründung der ersten deutschen Universität […; 1348; H.-J.S.] bedeutungsvoll am Eingang einer dreihundertjährigen Epoche [steht], die bis zum westfälischen Frieden reicht und [damit] alle religiösen und politischen Bewegungen umfaßt, welche die Reformation vorbereiteten und aus der Reformation hervorgingen« (Scherer 1883: 272).

Die historischen Ereignisse, in denen Scherer Indizien und Ursachen für den letztlich auf die Reformation als dem entscheidenden Wendepunkt der Geschichte zielenden Epochenumschwung sowohl in der Sprach- wie in der Literaturgeschichte sieht, sind also nicht unmittelbar der Sprache oder Literatur selbst entnommen, sondern verweisen auf die sich verändernden Bedingungen, unter denen sich eine gegenüber der vorangegangenen Zeit grundsätzlich neue Entwicklung ergab: In der Gründung der ersten deutschsprachigen Universität 1348 sieht Scherer den »Grund gelegt für die [geistes- wie literaturgeschichtlich wirksam werdende; H.-J.S.] Existenz der gelehrten Stände in Deutschland«; und es war jener Stand, der mit den »Fürsten gemeinsam die Reformation durchgeführt« hat (ebd.). Genau dieser, die Reformation zentral fokussierende Zusammenhang ist für Scherer auch hinsichtlich der sprachlichen Periodisierung wesentlich: Denn die als bedeutsam herausgearbeitete sprachliche Situation der in Böhmen gegebenen Sprachmischung verweist auf die aus dieser entstandenen kaiserlichen Kanzleisprache der Luxemburger. Diese Sprache habe ihrerseits schließlich auch auf »die fürstlichen [Kanzleien ge]wirkt« (ders. 1878: 12) und sei über diese zu Luther gelangt, und dessen reformatorischer Erfolg wurde und wird ja nicht zuletzt auch als ein sprachlich fundierter Erfolg gewertet (vgl. Solms 2016).

Deutsch in Prag zur Mitte des 14.  Jahrhunder ts 

IV.

M erkmale des ›P r ager D eutsch ‹ der M it te des 14.  J ahrhunderts

Die knappen Ausführungen zur Bedeutung Prags für die Entstehung der neuhochdeutschen Schriftsprache und auch für die Periodisierung der deutschen Sprachgeschichte zeigen, dass alle bisherigen Einsichten auf Beobachtungen und daraus fließende Überlegungen zurückgehen, die bereits bei Müllenhoff 1863 formuliert sind. Dies gilt auch für das konkrete sprachliche Kriterium, das man in allen gängigen Handbüchern nutzt, um den sprachlichen Unterschied des Mittel- zum Frühneuhochdeutschen zu markieren, um den Epochenwandel mittels sprachlicher Merkmale näher zu beschreiben. Die besondere und von Müllenhoff angesprochene landschaftliche Mischung der Sprache in den »urkunden der Lutzenburger« zeigt sich in folgender Weise: »sie hat von der baierisch-österreichischen gerade den bestand der diphthonge der ins neuhochdeutsche übergegangen ist, d. h. ei für î, eu für iu, au für û und ou, aber kein üe, auch behält sie das alte ei bei und gestattet dem ai selten eingang; aus dem mitteldeutschen aber hat sie u für uo, […] i für ie und umgekehrt häufig ie für i« (Müllenhoff 1863: XXVIII f.).

In doppelter Hinsicht sind diese Beobachtungen Müllenhoffs sprachgeschichtlich so bedeutsam, dass sie tatsächlich auf einen stattgehabten Epochenwandel verweisen, einen solchen Epochenwandel also begründet annehmen lassen. Wenn u. a. Reiner Hildebrandt die sog. ›neuhochdeutsche‹ oder ›frühneuhochdeutsche Diphthongierung‹ der mittelhochdeutschen Langvokale î und u und iu als den »wohl einschneidendsten spätmittelalterlichen phonologischen Strukturwandel« beschreibt, so wird dieser lautliche Strukturwandel außerhalb des mundartlich-regionalen bairisch-österreichischen Ursprungsgebietes nun erstmals und parallel neben der regional aus dem Westmitteldeutschen stammenden sprachlichen Innovation der neuen Monophthonge (vgl. Paul 2007: § L17 f.) in der »Reichssprache der kaiserlichen Kanzlei« fassbar (Hildebrandt 1998: 511): In einem und demselben Text steht ein regional ins Ostoberdeutsche verweisendes sprachliches Merkmal (Diphthonge) neben dem regional aus dem Westmitteldeutschen stammenden sprachlichen Merkmal (Monophthonge). Insofern dieser Mischung keine sprechsprachliche Situation korreliert und sie also nicht nur Reflex eines vorgängigen Lautwandels ist, erweist sich die Sprache des Textes als ein allein auf der schriftlichen Ebene existierendes Mischprodukt, in welchem oberdeutsche wie auch mitteldeutsche Elemente gleichermaßen und nebeneinander auftauchen. Für die Sprachgeschichte des Deutschen und seiner auf schreibsprachlicher Ebene erfolgten Entwicklung wird dies völlig berechtigt als eine epochendifferenzierende Innovation markiert.

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Es handelt sich hier um eine Neuerung, die nun auch wieder den Rückgriff auf die Ausführungen über die Stellung Prags im Prozess der Herausbildung der neuhochdeutschen Schriftsprache erlaubt. Neuere und insbesondere von Werner Besch zwischen den 1960er und 1990er Jahren geleistete und initiierte Forschung hat erwiesen, dass sich die neuhochdeutsche Schriftsprache »im Vergleich zu den Schriftsprachen benachbarter Nationen [erst] relativ spät herausgebildet« (Besch 2003: 2253), dass sie sich als ein auf schreibsprachlicher Ebene entwickeltes Aus- und Angleichungsprodukt ganz unterschiedlicher Regionen ergeben, dass ihre endgültige Ausformung und Durchsetzung sich wesentlich der Sprachwirkung Luthers zu danken hat. »All das aber bedeutet, daß […] von der Suche nach dem ›Herd‹, der ›Wiege‹, dem ›Tiegel‹ […], in dem oder in denen diese Schriftsprache entstanden sein soll, abgesehen werden muß« (Stopp 1976: 76). Und damit musste dann eben auch von Prag abgesehen werden. Ganz explizit formulierte Stopp also: »Denn wir glauben zu wissen, daß die ›Wiege‹ der neuhochdeutschen Schriftsprache nicht in Prag stand; daß – um im Bilde zu bleiben – ihre Zeugung oder Geburt weder in der Kanzlei noch am Hofe Karls IV. stattfanden« (ebd.: 77). Gleichwohl – und das zeigt der unbestrittene Befund einer Verwendung sowohl der neuen mitteldeutschen Monophthonge als auch der neuen oberdeutschen Diphthonge – sticht die sprachgeschichtliche Situation im Prag der Mitte des 14. Jahrhunderts heraus. Besch spricht von einer vor der Herausbildung der neuhochdeutschen Schriftsprache stattgehabten »Sonderform des Ausbaus mit überregionaler Tendenz« (Besch 2003: 2253), so dass »die Kanzlei Karls IV. […] als ein instruktives Beispiel schreibsprachlicher Ausgleichsvorgänge gegen Ende des Mittelalters gelten [darf]« (ebd.: 2254). Diese Einschätzung bezieht sich insbesondere auf die seit Müllenhoff bekannte Beobachtung der Verwendung von westmitteldeutschen Monophthongen und ostoberdeutschen Diphthongen. Dabei konzediert Besch, dass »auch das addierende Verfahren, d. h. die Zusammenführung korrespondierender Regionalvarianten, eine notwendige Vorstufe des Ausgleichs sein kann und vielfach auch war« (ebd.). Allerdings trat Prag im »weiteren historischen Ablauf […] wieder in den Schatten. Was dort geschah, begünstigt durch die geographisch gute Vermittlerposition zwischen Ober- und Mitteldeutschland, geschah vielleicht zu früh und etwas zu abseits. Die zukunftsträchtigen Raumbildungen und Ausgleichsvorgänge vollziehen sich vielmehr 100 bis 150 Jahre später« (ebd.).

Prag trat wohl auch deshalb wieder in den Schatten, weil 1415 eine erste Etappe der deutschen Sprache in Prag abgeschlossen wurde: Die für das 14. Jahrhundert gültige »Zweisprachigkeit Prags mündet in die Hussitenzeit und in die [tschechische; H.-J.S.] Einsprachigkeit« (Skála 2001: 57), die deutsche Universität war schon 1409 nach Leipzig ausgewichen.

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Wenn hinsichtlich der kaiserlichen Kanzlei Karls IV. von einem »instruktiven Beispiel schreibsprachlicher Ausgleichsvorgänge gegen Ende des Mittelalters« gesprochen wird (s. o.), so ist in dieser Formulierung nichts darüber ausgesagt, ob und in welchem Maße es sich dabei um ein nur in Prag belegtes oder mögliches Beispiel handelt und ob und in welchem Maße dieses Beispiel dann tatsächlich auch Schule gemacht und das Sprachverhalten andernorts beeinflusst hat. So ist also auch hinsichtlich der schon angesprochenen Monophthongierung und Diphthongierung von einer nach Prag hinweisenden Innovation nur dann zu reden, wenn eindeutig ist, dass diese additive Verwendung von Monophthongen und Diphthongen nur hier und zudem erstmals nur hier stattfand, und wenn die weitere Entwicklung sich tatsächlich von hier ausgehend erweisen lässt. Als Müllenhoff 1863 zum ersten Mal die Gleichzeitigkeit der Verwendung neuer Monophthonge und Diphthonge in den Prager Urkunden und ihre von hier aus erfolgte Ausbreitung behauptete, machte er selbst darauf aufmerksam, dass man weiteres Urkundenmaterial benötigte; solches aber, das formulierte Müllenhoff bedauernd, lag zur weiteren Bearbeitung einfach noch nicht vor (vgl. Müllenhoff 1863: XXIX). Ebenso hatte auch Konrad Burdach seine Erkenntnisse und seine Folgerungen einer original von Prag ausgehenden Entwicklung ohne besondere Berücksichtigung eines angemessen umfangreichen und zudem Vergleiche ermöglichenden Urkundenmaterials vorgenommen. So schrieb er noch 1926: »Von einer zuverlässigen und genauen Kenntnis der Schreibgewohnheit der Reichskanzlei und der böhmischen Landeskanzlei unter Karl, Wenzel, Siegmund sind wir indessen noch weit entfernt. Sie ist deshalb so ungemein schwierig, weil wir sie nur aus buchstabengetreuen Wiedergaben der Originalausfertigungen schöpfen können« (Burdach 1926, zit. nach Wiesinger 1978: 850);

doch solche lagen auch 1926 noch nicht vor. Anders als noch in seinen frühen Arbeiten sah Burdach nun in genau dieser genauen Kenntnis die Voraussetzung für eine entsprechende Schlussfolgerung: »So lange die Sprache der Urkunden und Briefe der Kanzlei […] nicht im Original oder in buchstäblich genauen Abdrucken umfassend untersucht, solange nicht die Kanzleisprache der böhmischen und schlesischen, lausitzischen, meißnischen Fürsten und Städte in gleicher Weise behandelt und vergleichend betrachtet sind, solange nicht auf dieser Grundlage die Entwicklung in ihrem langsamen Fortschreiten und ihren vielfachen Rückfällen und Ausweichungen […] dargestellt ist […], solange bleibt das Problem der Anfänge der neuhochdeutschen Schriftsprache im Dunkeln« (Burdach 1926, zit. nach Wegera 2007: 90).

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Er selbst löste seine implizite Forderung nach weiterer Forschung aber nicht ein. Sie wurde dann insbesondere 1936 von Ludwig Erich Schmitt aufgenommen, der nurmehr folgerichtig Burdach genau darin kritisierte, seine Theorie »sprachlich nicht genügend untermauert« zu haben (Schmitt 1936: 7 f.). In methodisch und theoretisch vorbildlicher Weise erarbeitete Schmitt den Sprachstand der Prager Urkunden zwischen 1346 und 1378, seine Untersuchung bildet bis heute die Materialgrundlage jedweder weiteren Aussage zur Sprache der Prager Kanzlei. Allerdings ist seine Materialdarstellung von der Interpretation der Befunde zu trennen, weil Letztere heute als nicht mehr angemessen gilt. Denn Schmitts Ansatz lag darin, die konkret ermittelbare Sprache auf die konkreten Schreiber der jeweiligen Texte zurückzuführen; ihm ging es also darum, die mögliche Sprachmischung als herkunftsbedingten Schreibereinfluss zu identifizieren. In mühsamer Kleinarbeit hatte er 138 Schreiber der Prager Kanzlei biographisch ermittelt (vgl. ebd.: 74) und die in der Sprache auftretende Mischung dann »mit dem Hinweis auf die landschaftsheterogene Zusammensetzung des Kanzleipersonals [abgetan]« (Besch 2003: 2254). Gegenüber seiner Annahme eines Schreibereinflusses sieht die neuere Forschung jedoch in dem unstrittigen empirischen Befund genau jenes auf eine Sprachmischung hinzielende, die Sprachmischung zulassende »addierende Verfahren« (ebd.); und dieses Verfahren zeigt sich so auch in zeitgleichen Texten anderer Herkunft. Einige Beispiele für das addierende Verfahren, bewusst nicht aus dem Bereich der Laute genommen, mögen das demonstrieren: • Das neuhochdeutsche Femininum Gewalt wird im Mittelhochdeutschen Wörterbuch (MWB)5 für alle drei Genera ausgewiesen, wobei das ins Neuhochdeutsche durchgesetzte Femininum mittelhochdeutsch als »im md. [Mitteldeutschen] überwiegend« beschrieben und also regional markiert ist (MWB, s. v.). In den untersuchten Urkunden findet Schmitt (1936: § 99) gewalt »häufiger« als Maskulinum, jedoch auch »oft fem. nach der i-Dekl.« (ebd.: § 91). Nun bleibt unklar, was die Angabe »häufiger« und daneben »oft« genauer meint; doch es scheint annehmbar, dass sich das »häufiger« auf mindestens 60 Prozent aller Fälle beziehen mag. Der für Ludwig Erich Schmitt noch nicht mögliche, heute, und d. h. aufgrund der seit den späten 1980er Jahren vorgelegten Bände der Grammatik des Frühneuhochdeutschen (vgl. bes. Gr.d.Frnhd. III, IV und VI), jedoch mögliche großflächige Vergleich erweist, dass relativ zeitgleich zu den Prager Urkunden im Ostschwäbischen, Schwäbischen und Ostfränkischen allein das Maskulinum vorkommt, dass im Obersächsischen, Hessischen und Ripuarischen allein das Femininum vorkommt. Im Mittelbairischen zeigt sich eine Varianz von sowohl Maskulinum, Femininum und auch Neutrum (Gr.d.Frnhd. 5 | Vgl. http://woerterbuchnetz.de/Lexer/?lemid=LG03914 [25.06.2018].

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III: 278). Interessanterweise zeigen die 1967 von Werner Besch (vgl. 1967: 248 ff.) vorgelegten Forschungen zum 15. Jahrhundert, dass das Femininum allein in Mainz (Hs. 1460-1480), in Jülich (Hs. vom Ende des 15. Jahrhunderts) und im Thüringischen (Hs. 1450-1460) belegt ist. Bezieht man diese Befunde auf die Prager Urkunden, dann zeigt sich die hier belegte Varianz als eine, bei der tatsächlich mittel- und oberdeutsche Formen parallel verwendet werden. • Das neuhochdeutsch stark flektierte Maskulinum Mann wird im Mittelhochdeutschen (vgl. Paul 2007: § M6) weitgehend noch als Wurzelnomen, und d. h. gänzlich endungslos, flektiert, zeigt daneben jedoch schon auch unterschiedliche Formen der ausdrucksvollen starken Flexion, so z. B. im Genitiv Singular des mannes. Dem entgegen registriert Schmitt (1936: 63) für die Prager Urkunden nur selten die jeweils endungslose Form, denn »meist« erscheint im Genitiv Singular schon die ausdrucksvolle Form mannes, im Plural erscheint »meistens« die schwache Flexion mannen. Der Blick auf die sonstigen frühneuhochdeutschen Verhältnisse erweist schon in der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts eine völlige Dominanz der ausdrucksvollen Genitiv-Singular-Form mannes, wobei allerdings allein das Mittelbairische noch nennenswerte Zahlen auch einer unflektierten Formenverwendung kennt (Vergleich der Tabellen Gr.d.Frnhd. III: 62 und 128 f., Berücksichtigung der Nomen mit nasalem Stammausgang). Bezüglich einer schwachen Puralbildung die mannen kommt eine solche im frühen Frühneuhochdeutschen allein im Hessischen und Mittelbairischen vor (vgl. Gr.d.Frnhd. III: § 89, Anm.7). • Das neuhochdeutsch stark flektierte Neutrum Kind (Nominativ Plural die Kinder) kennt im Mittelhochdeutschen (vgl. Paul 2007: § M14) neben der ›normalen‹ endungslosen Flexion der neutralen a-Deklination, und d. h. neben dem Plural diu kint, bereits konkurrierend auch den Plural kinder. Genau diesen Zustand findet ebenfalls Schmitt (1936: 64). Der Blick in das der Gr.d.Frnhd. zugrundeliegende Bonner Frühneuhochdeutschkorpus 6 zeigt den -er-Plural im Mittelbairischen, mit Erweiterung kindere oder kinderen auch im Obersächsischen und seltener im Thüringischen, Hessischen und Ripuarischen (vgl. auch Gr.d.Frnhd. III: 198-208); das restliche Oberdeutsche hat die alte endungslose Form kint. Misst man auch hier den Usus der Prager Urkunden am gesamtfrühneuhochdeutschen Befund, so zeigt sich wiederum eine bemerkenswerte Koinzidenz zum Mittelbairischen sowie auch zum Mitteldeutschen. • Ein nun weitgehend nur zum Mitteldeutschen und auch Ostfränkischen stimmender Befund zeigt sich bezüglich des auslautenden -e im Dativ Singular der Substantive der a-Deklination (z. B. am Tage, mit dem Worte): Hier 6 | Vgl. https://korpora.zim.uni-duisburg-essen.de/Fnhd/ [25.06.2018].

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konstatiert Schmitt (1936: 63) eine »häufige«, und d. h. eben nicht dominante, Apokope (am Tag, mit dem Wort). Insofern Gr.d.Frnhd. (vgl. III: 117) demgegenüber im Mittelbairischen eine zu 96 Prozent eintretende Apokope notiert, passt der Befund wiederum eher zum Mitteldeutschen bzw. auch Ostfränkischen, wo der Anteil der Apokope ca. 60 Prozent und also einen Zustand erreicht, den man mit »häufig« verbalisieren könnte. • Als Beispiel aus dem Bereich der adjektivischen oder Pronominalflexion kann das Pronominaladjektiv ander- dienen: Schmitt (1936: 65) findet es im Nominativ Singular »[g]elegentlich« mit der Endung -iu (anderiu) flektiert (Urkunde von 1353). Solche Bildungen erweisen sich gemäß Gr.d.Frnhd. (VI: 118) als »ausschließlich im Obd.« belegte Bildungen, und selbst im Ostfränkischen des 14. Jahrhunderts überwiegt noch eindeutig die Flexion mit -iu (28 zu 9 Belege mit -e bzw. Flexionslosigkeit; vgl. Gr.d.Frnhd. VI: 121 f.). Die von Schmitt verwendete Formulierung »[g]elegentlich« passt dazu nicht, so dass hier wiederum ein tendenziell zum Mitteldeutschen stimmendes Verhalten vorliegt. • In einem letzten Beispiel geht es um die Schreibung der Präteritumform des starken Verbs kommen. Hier findet Schmitt (vgl. 1936: 68) neben den initial mit k realisierten Formen ebenfalls häufig auch solche mit qu: quam, quamen. Diesbezüglich nun hilft nun zuerst ein Blick in das BochumerMittelhochdeutschKorpus (BoMiKo),7 das einen großflächigen Befund für die erste Hälfte des 14. Jahrhunderts erlaubt. In über 350 Belegen kommen solche Schreibungen nahezu ausschließlich im Mitteldeutschen vor, das Ostfränkische kennt sie nur in 7 zu 148 Fällen mit k-Schreibung, die im Oberdeutschen generell ist. Dieser Befund stimmt nahezu eins zu eins zum Befund des der Gr.d.Frnhd. zugrundeliegenden Bonner Frühneuhochdeutschkorpus (vgl. Anm. 6): Hier findet sich in 213 Belegen des Oberdeutschen die initiale Schreibung mit k-, im Konjunktiv kommen auch drei Formen mit möglicher Affrikatenschreibung ch vor. Die Schreibung mit qu findet sich nicht ein einziges Mal, sie erscheint dafür nahezu ausnahmslos im Mitteldeutschen: Hier sind es 49 Belege, daneben auch einmal kuam und eine mögliche Affrikatenschreibung mit ch. Wenn Schmitt also eine eher zum k neigende Schreibung mit ebenfalls häufigem qu findet, so zeigen die Prager Urkunden auch hier wieder eine grundsätzlich zwischen dem Mitteldeutschen und dem Oberdeutschen stehende und leicht zum Oberdeutschen hin überwiegende Sprachverwendung. Was zeigen nun all die Beispiele? Sie lassen in ihrer durchaus vorhandenen Verschiedenheit zwei Rückschlüsse zu. Sie zeigen einerseits eine Sprachform, 7 | Vgl. http://www.ruhr-uni-bochum.de/wegera/MiGraKo/6%20Quellenkorpus_Uebersicht.pdf [25.06.2018].

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die nicht gänzlich zum Oberdeutschen, die ebenfalls nicht gänzlich zum Mitteldeutschen passt, dabei jedoch leicht überwiegend ins Ostoberdeutsche, und d. h. konkret ins Bairische, verweist. In diesem Zusammenhang ist die konsequent mitteldeutsch-oberdeutsche Differenzierung der oberdeutschen k- bzw. mitteldeutschen qu-Schreibung der Präteritumsformen von kommen erhellend, weil die Prager Urkunden diese Mittlerstellung mit Bevorzugung des Oberdeutschen deutlich erweisen. Die Beispiele zeigen hinsichtlich der jeweiligen Mischungsverhältnisse andererseits eine Sprachform, die dem Bairischen und teilweise auch dem Ostfränkischen sehr ähnlich ist. Dies bestätigt eine Relativierung bisheriger Einschätzungen, die in ähnlicher Weise schon Emil Skála vorgenommen hatte. In seinen Untersuchungen zur Kanzleisprache in Eger, in Regensburg und auch in Nürnberg hatte Skála (vgl. 2001) herausgearbeitet, dass sich eine vorhandene Mischung der neuen, und d. h. das Mittelhochdeutsche überwindenden, Diphthonge und Monophthonge bereits um 1259 in Regensburg zeigt. Für Skála ist Prag daher Teil einer im späten 13. und dann im 14. Jahrhundert herausgebildeten bairisch-südböhmischen Allianz. Die immer wieder kolportierte sprachgeschichtliche Innovation fand somit nicht allein in Prag, sondern in einem Prag einschließenden Großraum statt; das von Besch (2003: 2254) so bezeichnete »addierende« oder additive Verfahren ist somit eines, das nicht nur in Prag, sondern im gesamten Großraum, dem Prag zugehört, aufscheint. Als Innovation konnte es aber nur dadurch wirksam werden, dass es Eingang in die in die Breite wirkende ›Reichssprache‹ fand. Und damit ist man dann doch wieder bei Prag und also beim Ausgangspunkt.

L iter atur Besch, Werner (1967): Sprachlandschaften und Sprachausgleich im 15. Jahrhundert. Studien zur Erforschung der spätmittelhochdeutschen Schreibdialekte und zur Entstehung der neuhochdeutschen Schriftsprache. München. Besch, Werner (2003): Entstehung und Ausformung der neuhochdeutschen Schriftsprache / Standardsprache. In: ders. / Anne Betten / Oskar Reichmann / Stefan Sonderegger (Hg.): Sprachgeschichte. Ein Handbuch zur Geschichte der deutschen Sprache und ihrer Erforschung. 3. Teilbd. 2., vollständig neu bearb. u. erw. Aufl. Berlin / New York (= HSK 2.3), S. 2252-2296. Besch, Werner / Betten, Anne / Reichmann, Oskar / Sonderegger, Stefan (Hg.) (1998): Sprachgeschichte. Ein Handbuch zur Geschichte der deutschen Sprache und ihrer Erforschung. 1. Teilbd. 2., vollständig neu bearb. u. erw. Aufl. Berlin / New York (= HSK 2.1). Burdach, Konrad (1884): Die Einigung der neuhochdeutschen Schriftsprache. Einleitung: Das sechzehnte Jahrhundert. Teildruck Halle.

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Deutsch in Prag zur Mitte des 14.  Jahrhunder ts 

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Die Zeit der Luxemburger in Böhmen im Spiegel der wissenschaftlichen Tätigkeit der ersten Prager Germanisten nach 1882 Lenka Vodrážková

I. Wir bezeichnen eine Zeit der Blüte geistigen Lebens, insbesondere auch der Kunst in Böhmen als die carolinische. Nicht etwa in dem Sinne, als ob der Fürst, mit dessen Regierungsjahren sie zusammenfällt, nur äußerlich und zufällig dafür seinen Namen hergäbe, sondern um sie kurz und bündig als eine Schöpfung Karls IV. zu kennzeichnen, der er das unverkennbare Gepräge seiner Persönlichkeit aufdrückte. Und wenn wir in dieser Weise das Andenken seines großartigen Wirkens ehren, handeln wir zugleich recht in seinem Sinne, der bei seinen Schöpfungen gern auch darauf bedacht war, das Gedächtnis seines Namens zu erhalten (Lambel 1898: 1).

So eröffnete der Prager Germanist Hans Lambel (1842-1921) seinen Beitrag Aus Böhmens Kunstleben unter Karl IV. (vgl. ebd.), den er als Kenner der älteren, vor allem der mittelhochdeutschen Literatur und der Kultur des Mittelalters anlässlich des 550-jährigen Jubiläums der Gründung der Prager Alma Mater verfasste, die in dieser Zeit den in ihrem Ursprung in gleicher Weise auf Karl IV. (1348) und Ferdinand III. (1654)1 zurückgehenden Namen Karl-Ferdinands-Universität trug. Hans Lambel gehörte zu den Prager Germanisten, die ihre ganze akademische Lauf bahn mit der Universität in Prag verbunden2 und die das Fach 1 | Mit dem sog. Unionsdekret aus dem Jahr 1654 verband Ferdinand III. die Karls-Universität mit der klementinschen jesuitischen Akademie. 2 | Hans Lambel habilitierte sich 1875 als Privatdozent für die Mittel- und Neuhochdeutsche Sprache und Literatur an der Prager Universität. Im Jahr 1884 erwarb er den Titel des außerordentlichen Professors für Mittel- und Neuhochdeutsche Sprache und Literatur an der Prager Karl-Ferdinands-Universität. Hier war er bis zur Pensionierung 1912 tätig. Vgl. Vodrážková-Pokorná 2007: 391 ff.

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sowohl vor als auch nach 1882 repräsentiert haben, als die Karl-Ferdinands-Universität infolge der angespannten deutsch-tschechischen Beziehungen in eine deutsche und eine tschechische geteilt wurde. Während die Germanistik an der deutschen Prager Universität ihre wissenschaftliche und organisatorische Tätigkeit aufgrund der Anstellung ihrer deutschen, schon vor 1882 nach Prag berufenen Vertreter fortsetzte und sich kontinuierlich weiterentwickelte,3 war es an der tschechischen Universität notwendig, das germanistische Fach zu gründen und es personell zu besetzen; erst dadurch bekam die tschechische Germanistik während der 80er Jahre des 19. Jahrhunderts die notwendigen institutionellen Grundlagen.4 Seit dieser Zeit existierten in Prag nebeneinander eine deutsche und eine tschechische Germanistik.

II. Die Universitätsentwicklung in den böhmischen Ländern spiegelte genau den Stand der gesellschaftlichen Entfaltung bei Tschechen und Deutschen im letzten Viertel des 19. Jahrhunderts wider. In dem Maße, wie die gemeinsame institutionelle Plattform für tschechische und deutsche Wissenschaftler seit 1882 verloren ging, wurden die beiden Universitäten mehr und mehr den jeweils zugehörigen Nationalbewegungen zugeordnet: Das traditionelle Miteinander an einer Universität wurde durch ein Nebeneinander an zwei Universitäten abgelöst. Die Prager Germanisten leisteten als Sprach- und Literaturwissenschaftler mit ihrer wissenschaftlichen Tätigkeit einen Beitrag einerseits zur Erforschung der deutschen Sprache und Literatur im weiteren Rahmen der deutschsprachigen Länder, andererseits zur Entwicklung des Faches in den böhmischen Ländern. Von deutscher Seite wurde der Schwerpunkt der Forschungen auf dem Ge3 | Nach der Teilung der Karl-Ferdinands-Universität in Prag wurde die Kontinuität des Seminars für Deutsche Philologie von seinem Leiter, Professor Johann Kelle (18281909), garantiert, der an der Prager Universität in den Jahren 1857 bis 1899 wirkte und der für den Begründer der Prager Germanistik gehalten wird. Diesem deutschen Professor stand im Jahr 1882 noch der Privatdozent Hans Lambel beiseite. Vgl. ebd.: 351 ff. 4 | Nachdem sich der erste tschechische Germanist Václav Emanuel Mourek (1846­1911) im Jahr 1884 an der Prager tschechischen Universität habilitierte, hielt er hier seine Vorlesungen über deutsche Sprache und Literatur. Seiner Ernennung zum außerordentlichen Professor für Deutsche Sprache und Literatur im Jahr 1888 folgte dann die Gründung des Germanistischen Seminars (seit 1889 des Seminars für Deutsche Philologie), mit der die Institutionalisierung des Fachs an der Prager tschechischen Universität vollendet wurde; nach der Regel musste jedes selbstständige Seminar an der Universität von mindestens einem Professor vertreten werden. Vgl. ebd.: 85-94.

Die Zeit der Luxemburger in Böhmen

biet der deutschen Sprache und Literatur in den böhmischen Ländern darauf gelegt, die Geschichte der Deutschen in diesem Land aus der Sicht der Philologen aufzuarbeiten und die national-kulturellen Merkmale der deutschen Sprache und Literatur in diesem Randgebiet des deutschsprachigen Raumes zu erörtern. Im Zusammenhang mit diesen Bemühungen ging es den deutschen Germanisten darum, zur Bestimmung des eigenen spezifischen volkskulturellen Standortes beizutragen, die Wurzeln der eigenen nationalen Existenz der Deutschböhmen zu erhellen und deren Widerspiegelung in Literatur, bildender Kunst und Musik darzustellen. Die neu entstehende tschechische Germanistik musste sich einerseits neben dem traditionellen deutschen, in der damaligen germanistischen Landschaft bereits fest eingebürgerten Fach wissenschaftlich profilieren, andererseits hatte sie sich spezifische Aufgaben zu stellen, die mit ihrer Position in den böhmischen Ländern und mit der Erziehung des tschechischen germanistischen Nachwuchses verbunden waren. Es ging vor allem darum, die Aufgabe und den Sinn der Universitätsdisziplin in den böhmischen Ländern und die Bedeutung des Studiums der deutschen Sprache und Literatur für die tschechische Kultur zu erhellen und die deutsche Sprache und Literatur mit Berücksichtigung der historischen und kulturellen Spezifika in den böhmischen Ländern unter dem Aspekt der wechselseitigen historisch-kulturellen Beziehungen zwischen Deutschen und Tschechen zu behandeln und sie aus tschechischer Perspektive zu interpretieren. Trotz unterschiedlicher Einstellungen zur deutschen Sprache und Literatur in den böhmischen Ländern von Seiten der deutschen und tschechischen Germanisten gab es ein gemeinsames Ziel: die erklärende Beschreibung der volkskulturellen Verhältnisse in den böhmischen Ländern.

III. Die Wirkung der Prager Germanisten als Repräsentanten einer der Nationalphilologien an der Karl-Ferdinands-Universität spiegelte sich nicht nur in der wissenschaftlichen Erforschung der deutschen Sprache und Literatur in den böhmischen Ländern wider, sondern die Repräsentanten dieses Faches standen weit über ihre Universitätskarriere hinaus mit Rücksicht auf die enge Beziehung zwischen der Universität als Ausbildungsstätte und der Gesellschaft intensiv im Kontakt mit dem kulturellen Leben ihrer durch nationale Zuspitzung gekennzeichneten Zeit. Alle diese wissenschaftlichen und gesellschaftlichen Aspekte, die mit der Rolle und Position des Faches Deutsche Sprache und Literatur an der Prager deutschen und tschechischen Universität zusammenhängen, werden auch in den Beiträgen der Prager Germanisten zum Thema der Zeit der Luxemburger

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in Böhmen reflektiert; sie betreffen dabei folgende Themenbereiche: a) Kunst und Literatur des 14. Jahrhunderts, b) Deutsch und tschechisch geschriebene Literatur des 14. Jahrhunderts in Böhmen, die Editionen und zusammenfassende Abhandlungen umfassen, c) Prager Deutsch des 14. Jahrhunderts und d) Handschriften des 14. und des ersten Viertels des 15. Jahrhunderts.

a. Kunst und Literatur des 14.  Jahrhunderts Karl IV. (1316-1378), der über hohe Bildung und europäischen Weitblick sowie über Sinn für praktische Fragen der Wirtschaft und Verwaltung verfügte, gab seit der Rückkehr nach Prag im Jahr 1333 seiner intellektuellen Umgebung zahlreiche neue Impulse sowie konkrete Aufträge zum literarischen Schaffen. Während seiner Regierung (1346-1378) förderte Karl IV. den ökonomischen Aufschwung Böhmens und dessen Metropole; Prag wurde zum ersten Mal in der Geschichte zur Kaiserresidenz und erlebte eine architektonische und künstlerische Blüte. Dieser Glanzzeit Prags in der älteren böhmischen Geschichte widmete sich der deutsche Germanist Hans Lambel, der Sinn und Verständnis nicht nur für deutsch geschriebene Literatur, sondern auch für bildende Kunst besaß, in seinem umfänglichen Aufsatz Aus Böhmens Kunstleben unter Karl IV. (vgl. Lambel 1898). In seinem Beitrag ging er hauptsächlich von der Burg Karlstein aus, und zwar nach den bekannten Büchern und Abhandlungen des Kunsthistorikers Josef Neuwirth (1855-1934; vgl. 1896; 1897), der an der Prager Universität auch bei Hans Lambel Germanistik studiert hatte. Doch führte Lambel auch seine eigenen Beobachtungen und Ausführungen an, die die bildende Kunst im Kontext der schriftlichen Kultur des 14. Jahrhunderts betreffen. Sein Beitrag besteht aus einer zusammenfassenden Beschreibung des Bauwerkes Karlstein aus architektonischer Sicht in Verbindung mit der Baugeschichte der Burg aufgrund geschichtlicher Zeugnisse, wobei die weltliche und religiöse Bestimmung der Burg Berücksichtigung finden. Seine Aufmerksamkeit widmete Lambel ferner der Geschichte Karlsteins nach dem Tode Karls IV. bis zum Ende des 19. Jahrhunderts. Er erwähnte dabei überlieferte Beschreibungen Karlsteins seitens jesuitischer Literaten und des Historikers Bohuslav Balbín (1621-1688), den Aufsatz des Dichters Gotthold Ephraim Lessing, der besonders die Tafelbilder der Kreuzkapelle betraf und der »seit 1775 eine genauere Untersuchung dieser Gemälde mit Rücksicht auf die Frage nach dem Alter der Ölmalerei veranlasste« (Lambel 1898: 8), sowie den letzten Restaurierungsgedanken der Architekten Friedrich Schmidt (1825-1891) und seines Schülers Josef Mocker (1835-1899), der »zu seiner glücklichen Durchführung […] nach sicheren Analogien des Stiles des 14. Jahrhunderts« (ebd.: 10) realisiert wurde. Die bildende Kunst des 14. Jahrhunderts, die Hans Lambel anhand der einzelnen Motive der Karlsteiner Malerei, d. h. der Tafelbilder, Glasgemälde, Wandgemälde usw., beschrieb,

Die Zeit der Luxemburger in Böhmen

verband er kontextuell mit den literarischen Texten aus der Zeit der Luxemburger in Böhmen, wie z. B. der Wenzel- und Ludmila-Legende mit der DalimilChronik, der Velislaus-Bibel sowie den Chroniken des Florentiner Minoriten Johannes von Marignola und des böhmischen Historikers und Domherrn Benesch von Weitmühl, der Marienverehrung mit Marienliedern Heinrichs von Mügeln, dem heiligen Hieronymus mit den Augustinus-Übersetzungen und mit der Schrift über das Leben des heiligen Hieronymus vom Kanzler Johannes von Neumarkt. Mit dem benannten Beitrag, in dem er im Unterschied zu seiner anderen wissenschaftlichen Produktion die Kunst- mit der Literaturgeschichte verknüpfte, schloss Hans Lambel, der seinen Text mit Rücksicht auf sein Fachgebiet der Mediävistik und gleichzeitig auf das Jubiläum der Universitätsgründung im Jahr 1898 verfasste, das Thema der Zeit Karls IV. im Rahmen seiner wissenschaftlichen Tätigkeit ab.

b. Deutsch und tschechisch geschriebene Literatur des 14.  Jahrhunderts in Böhmen Hans Lambel bechäftigte sich auf Anregung seines Wiener Hochschullehrers Franz Pfeiffer (1815-1868) vorwiegend mit der höfischen Literatur des 13. Jahrhunderts.5 Sein Name ist auch mit der Buchreihe Bibliothek der mittelhochdeutschen Litteratur in Böhmen (1876 ff.) verknüpft, mit der die Prager Germanisten schon vor der Teilung der Prager Universität ihr Interesse u. a. für die schriftliche Kultur der Zeit der Luxemburger in Böhmen zeigten. Mit dieser Buchreihe, die u. a. den von Johann Knieschek (1856-1891) bearbeiteten zweiten Band unter dem Titel Der Ackermann aus Böhmen (vgl. Knieschek 1877) mit einbezieht, versuchte ihr Begründer und der Prager Professor Ernst Martin (18411910) »ein Bild der deutschen Literatur zu entwerfen, die innerhalb des Landes Böhmen oder doch auf Anregung böhmischer Könige und Edlen während des Mittelalters entstanden ist«, und gleichzeitig »eine geschichtliche Darstellung der Sprache der Deutschen in Böhmen« zu schaffen (Martin 1877 / 78: 20).6 Im 5 | Im Jahr 1866 verfasste Hans Lambel den Beitrag Aus dem Hof- und Volksleben im 13. Jahrhundert, in dem er den historischen Hintergrund und die gesellschaftlichen Verhältnisse im 13. Jahrhundert sowie die Autoren dieser Zeit (z. B. Neithart, den Stricker u. a.) behandelte. Ferner besorgte er zahlreiche Editionen (z. B. Katherinen Marter, 1863; Das Steinbuch. Ein altdeutsches Gedicht von Volmar, 1877). Weiter vgl. Vodrážková-Pokorná 2007: 140 ff. 6 | Ernst Martin »suchte zunächst zusammen, was in gedruckten Büchern über ältere deutsche Literatur Böhmens zu finden war, und faßte dann den Plan, durch seine Schüler diese alten deutschen Werke genau erforschen und allgemein zugänglich machen zu lassen« (Toischer 1911: 273).

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Jahr 1878 betraute der Verein für Geschichte der Deutschen in Böhmen Hans Lambel als Nachfolger Ernst Martins mit der weiteren Herausgabe der Bibliothek der mittelhochdeutschen Litteratur in Böhmen.7 »Es ist ein sehr glücklicher Gedanke, die Denkmäler der älteren deutschen Literatur in Böhmen in einer Sammlung übersichtlich zu vereinigen« (Lambel 1876 / 7 7: 17), äußerte sich der neue Editionsleiter zum Projekt der Buchreihe.

Editionen Während die Zeit Johanns von Luxemburg (1310-1346) unter kulturellem Aspekt eher eine Zeit des Übergangs und der Neuansätze ist, markieren die Regierungsjahre Karls IV. (1346-1378) den Höhepunkt des literarischen Schaffens in Böhmen in allen drei Sprachen – Latein, Tschechisch und Deutsch, wobei sich diese Tendenz teilweise noch bis zum Ausbruch der Hussitenkriege (1419) fortsetzt. Für Böhmen und Prag im Früh- und Hochmittelalter ist die kulturelle und literarische Trilinguität – Latein, Tschechisch und Deutsch – charakteristisch. Ein Beispiel dafür ist die tschechische Reimchronik des sog. Dalimil, die kurz nach 1310 von einem unbekannten Verfasser an unbekanntem Ort gedichtet wurde.8 In den 40er Jahren des 14. Jahrhunderts entstand in Prag eine gereimte deutsche Übersetzung, ungefähr zu gleicher Zeit auch die lateinische. Es handelt sich um das erste historiographische Werk in tschechischer Sprache, in dem der Autor die Interessen des tschechischen Adels gegen das deutsche Patriziat verteidigte. So hat das Werk starke nationale Akzente und eine deutschfeindliche Ausrichtung. Diesem Grundkonzept war auch die Auswahl und Darstellung des Stoffes unterstellt, wobei die historische Zuverlässigkeit nicht im Vordergrund stand.9 In Bezug auf die deutsch-tschechischen Verhältnisse in den böhmischen Ländern im letzten Viertel des 19. Jahrhunderts spielten bei der Gründung der tschechischen Germanistik nicht nur wissenschaftliche, sondern auch national-politische Gründe eine Rolle. Die tschechischen Wissenschaftler waren 7 | »Wenn nach Abschluß dieser Bibliothek [1893; L. V.] eine Reihe von Denkmälern zum Teil überhaupt zum erstenmal gedruckt, zum Teil wenigstens in besseren zuverlässigeren Ausgaben als bisher vorliegen wird, wenn wir dann die Entwicklung deutschen Geisteslebens, insbesondere deutscher Literatur in Böhmen, deren Einfluß auf die tschechische Literatur, die Wechselwirkung hinüber und herüber leichter und übersichtlicher im Ganzen, schärfer im Einzelnen zu überschauen und zu ermessen vermögen, so ist schon dieses literarhistorische Ergebniß von einem weit über Böhmen hinaus reichenden Interesse« (Lambel 1876 /  77: 17). 8 | Vgl. den Beitrag von Éloïse Adde in diesem Band. 9 | Das chronikalische Schaffen der Luxemburger Zeit versuchte immer wieder, an Cosmas und seine Fortsetzer anzuknüpfen und die annalistischen Aufzeichnungen bis in die Gegenwart weiterzuführen.

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nicht nur mit ihren Bestrebungen konfrontiert, eine selbstständige tschechische Wissenschaft mit dem Tschechischen als Wissenschafts- und Publikationssprache aufzubauen, sondern sie waren sich als Repräsentanten der tschechischen, von der tschechischen Öffentlichkeit als Mittelpunkt der Kultur- und Gesellschaftsbildung angesehenen Universität ihrer Aufgabe bewusst, auf die Traditionen ihrer eigenen Nation hinzuweisen, über die Wurzeln des tschechischen Geisteslebens zu informieren und die entsprechenden kulturellen Werte zugänglich zu machen. So verfertigte der Begründer der tschechischen Germanistik Václav Emanuel Mourek (1846-1911)10 während eines vom Verein Svatobor (gegr. 1862) finanzierten Englandaufenthaltes im Jahr 1887 eine Abschrift der im Cambridger Trinity College auf bewahrten tschechischen Dalimil-Chronik aus der Mitte des 14. Jahrhunderts, auf die die tschechischen Fachkreise vom Museum des Königreichs Böhmen (Museum Království českého) in Prag im Jahr 1874 von dem Cambridger Bibliothekar Robert Sinker (1838-1913) aufmerksam gemacht worden waren.11 Diese Abschrift wurde aus finanziellen Gründen erst 1892 von der Königlich Böhmischen Kaiser-Franz-Josephs-Akademie für Wissenschaften, Literatur und Kunst (Česká akademie císaře Františka Josefa pro vědy, slovesnost a umění) unter dem Titel Kronika Dalimilova. Podle rukopisu cambridgeského k tisku upravil Dr. V. E. Mourek (vgl. Mourek 1892a) veröffentlicht.12

Zusammenfassende Abhandlungen Die Bedeutung Prags in der Zeit der Luxemburger in Böhmen als eines der wichtigen Zentren des mitteleuropäischen Schrifttums ergibt sich aufgrund mehrerer Faktoren: Prag war ein verkehrsgünstig gelegener Handelsort sowie der politische und religiöse Mittelpunkt des Landes mit vielen weltlichen und geistlichen Institutionen. Die Nähe Prags und Böhmens zu den deutschsprachigen Gebieten ermöglichte eine schnelle Rezeption verschiedener intellektueller Impulse aus dem Reich und aus dem westlichen und südlichen Europa. Seit dem Beginn des 14. Jahrhunderts kam es zu einer raschen Entfaltung des 10 | Václav Emanuel Mourek interessierte sich für englische Sprache und Literatur: Er übersetzte aus dem Englischen ins Tschechische, machte sich um die tschechisch-englische Lexikographie verdient und unterstützte die Einführung des Faches Anglistik an der tschechischen Universität in Prag, als er die Aufmerksamkeit seines Schülers Vilém Mathesius (1882-1945) auf Anglistik lenkte. Vgl. hierzu Šimečková 2006: 60 f. 11 | Die erste Abschrift des Cambridger Codices der Dalimil-Chronik wurde schon 1875 auf Anregung des Museums des Königreichs Böhmen vom englischen Slawisten Albert Henry Wratislaw (1822-1892) besorgt; er hat dabei aber nicht die tschechisch geschriebenen Zuschriften aus dem 16. Jahrhundert in Betracht gezogen. 12 | Im Jahr 1910 erschien die zweite Auflage der Abschrift unter dem Titel Dalimil. Kronika Dalimilova. Podle rukopisu Cambridgeského k tisku připravil V. E. M. (vgl. Mourek 1910).

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tschechischen Schrifttums, das seine Themen aus dem reichen Vorrat der lateinischen und deutschen Literatur schöpfte und für eigene Zwecke adaptierte. In Bezug auf die Aufgaben der tschechischen Germanistik, nämlich die Wechselbeziehungen zwischen der tschechischen und deutschen Literatur und Kultur zu beleuchten, lieferte Václav Emanuel Mourek einen Beitrag über die tschechischen und deutschen Literaturbeziehungen von den Anfängen bis zum 16. Jahrhundert (vgl. Mourek 1896). Hier versuchte er die Frage zu beantworten, »wie sich […] die Beziehungen beider Völker und ihres materiellen und geistigen Lebens entwickelten, was aus der deutschen in die tschechische und umgekehrt aus der tschechischen in die deutsche Literatur übernommen wurde; inwieweit und wie sich diese Einflüsse in den beiden Literaturen widerspiegeln« (ebd.: 97).13

Im Kontext der tschechischen und deutschen Literaturbeziehungen in der Zeit der Luxemburger in Böhmen, in der »der deutsche Einfluss überall deutlich ist« (ebd.: 111),14 beachtete V. E. Mourek vor allem die Reimchronik des sog. Dalimil, die die in der deutschen Literatur damals beliebte Literarturgattung nachgeahmt hatte, und ferner die Beziehungen zwischen dem Ackermann aus Böhmen Johannes’ von Tepl und dem alttschechischen Tkadleček, der sich formal und inhaltlich von seiner deutschen Vorlage inspirieren ließ. Was die deutschsprachigen Autoren anbelangt, so betonte V. E. Mourek im Zusammenhang mit der Bedeutung der deutschen höfischen Literatur für die ältere tschechische Schriftkultur besonders den Dichter, Rhetor und Historiker Heinrich von Mügeln, der um die Mitte des 14. Jahrhunderts am Hof Karls IV. literarisch tätig war.15 Die deutschsprachige Literatur in den böhmischen Ländern bis zum 19. Jahrhundert wurde zum Thema der Beiträge des ersten literaturhistorischen Repräsentanten der tschechischen Germanistik an der Prager Universität Arnošt Vilém Kraus (1859-1943, vgl. 1929; 1933). Neben der deutschen, für König Wenzel IV. geschaffenen Bibelübersetzung, der sog. Wenzelsbibel vom Ende des 14. Jahrhunderts, und den Autoren Heinrich von Mügeln sowie Johannes von Neumarkt fand bei ihm eine besondere Berücksichtigung Der Ackermann aus Böhmen Johannes’ von Tepl, über den er schrieb: »Die reichste Blüte dieser [deutschen; L. V.] Sprache und der Stolz des deutschen Schrifttums in 13 | »[K]terak vespolné styky obou národův a jejich hmotného i duševního života se vyvinuly; co bylo převzato z německé literatury do české, co naopak z české do německé; do jaké míry a jakým způsobem tento přechod se dál«. Alle aus dem Tschechischen ins Deutsche übersetzten Zitate stammen von der Autorin des vorliegenden Beitrags. Vgl. weiter Vodrážková 2007: 223. 14 | »[V]liv německý jest všude patrný«. 15 | S. hierzu den Beitrag von Amelie Bendheim in diesem Band.

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Böhmen ist das ursprüngliche Werk, die schönste und lebendigste Frucht ihrer Zeit, die sich zu ihrer Heimat schon mit ihrer Überschrift meldet« (Kraus 1933: 299).16 Obwohl die schriftliche Kultur der Zeit der Luxemburger in Böhmen von den Prager tschechischen Germanisten im breiteren Rahmen der Literatur in den böhmischen Ländern nicht in selbstständigen Monographien behandelt wurde, haben Václav Emanuel Mourek und Arnošt Vilém Kraus ihre Beiträgen unter einem germanistischen Aspekt verfasst und auf die grundsätzlichen Themen aufmerksam gemacht, mit denen sich die tschechischen Germanisten bis heute beschäftigen, wie z. B. die Reimchronik des sog. Dalimil, den Ackermann aus Böhmen Johannes’ von Tepl oder die Persönlichkeit Johannes von Neumarkt im Kontext der Kanzleisprachen und des sog. Prager Deutsch des 14. Jahrhunderts.

c. Das Prager Deutsch des 14.  Jahrhunderts Zu den wichtigen Schreiborten im weltlichen Bereich in der Zeit der Luxemburger in Böhmen gehörten die Prager Burg als Herrschersitz mit den sich nach und nach konstituierenden Landes- und Hofämtern, die Kanzleien der Prager Städte und seit 1348 die Universität. Im 14. Jahrhundert wurde die Prager Hofkanzlei nach dem Muster westeuropäischer königlicher Kanzleien modernisiert. Zu den Zeiten Karls IV. und seines Sohnes Wenzel IV. hatte sie zugleich die Funktion der Reichskanzlei, was zu einem immensen Anstieg der von ihr produzierten Dokumente führte.17 Bis ins 13. Jahrhundert blieb die Dominanz des Lateinischen und der geistlich gebildeten Personen als Träger der Schriftkultur unangefochten, was sowohl für amtliche Dokumente als auch für die geistliche und weltliche Literatur gilt. Im 14. Jahrhundert erfolgte in Böhmen ein allmählicher Übergang vom Latein zu den Volkssprachen, und zwar auch im amtlichen Bereich. Geistliche und Laien bedienten sich bei der Landes- und Stadtverwaltung sowohl der lateinischen Bildungssprache als auch der beiden Volkssprachen.18 Die deutsche Sprache wurde nach 1310 in Böhmen in den Urkunden häufiger. 16 | »Nejbohatším výkvětem toho jazyka a pýchou písemnictví německého v Čechách je […] dílo původní, nejkrásnější a nejživotnější plod své doby, hlásící se k své vlasti již nápisem svým«. 17 | Siehe hierzu auch den Beitrag von Hans-Joachim Solms in diesem Band. 18 | Aus der Zeit vor 1419 sind insgesamt sieben Stadtbücher aus der Prager altstädtischen Kanzlei erhalten, die Eintragungen im ältesten Buch beginnen im Jahr 1310. Lateinische Eintragungen dominieren, Deutsch ist mäßig vertreten, Tschechisch kommt nur selten vor. Das älteste erhaltene Stadtbuch der Prager Neustadt wurde 1411 von Johannes von Tepl angelegt; heute sind neun Stadtbücher der Prager Neustadt erhalten,

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Das Prager Deutsch des 14. Jahrhunderts erweckte auch das Interesse der Prager Germanisten, die sich mit dem Thema im Zusammenhang mit der noch in den 1930er Jahren in wissenschaftlichen Kreisen weitverbreiteten These befasst haben, dass die Prager Kanzlei die Wiege der neuhochdeutschen Schriftsprache gewesen sei. Diese Auffassung gilt mittlerweile aufgrund von linguistischen Forschungen als überholt, wozu u. a. auch Václav Emanuel Mourek beigetragen hat. Die Ergebnisse seiner umfassenden Abhandlung Zum Prager Deutsch des XIV. Jahrhunderts präsentierte er in Sitzungsberichten der Königlichen böhmischen Gesellschaft der Wissenschaften (vgl. Mourek 1902). V. E. Mourek analysierte darin eingehend die Eintragungen im ältesten Stadtbuch der Prager Altstadt im Zeitraum von 1324 bis 1419. Sein Ziel war es, festzustellen, welchen Charakter die Sprache des Stadtbuchs trägt, ob den oberdeutschen oder den mitteldeutschen, bzw. welche vereinheitlichten Züge sie aufweist. Es ging ihm dabei um die Verifizierung bzw. Falsifizierung der weitverbreiteten These, dass die Prager Kanzleisprache aufgrund der vorkommenden oberdeutschen bzw. bairisch-österreichischen und mitteldeutschen Merkmale ›die Wiege‹ der vereinheitlichten neuhochdeutschen Sprache sei. Anhand der Lautverhältnisse in den Textproben aus dem erwähnten Altstädter Stadtbuch zog V. E. Mourek die Schlussfolgerung, dass sich in Prager Texten der oberdeutsche (bairisch-österreichische) und der mitteldeutsche (meißnische) Dialekt berühren: Die Textproben »bieten nur eine neue bestätigung der längst bekannten thatsache, dass in Prag, wo der oberdeutsche (bairische-österreichische) und der mitteldeutsche (meissnische) dialekt sich berührten, ganz natürlich diejenige mischung beiderartiger elemente sich entwickelte, wie auch in der neuhochdeutschen schriftsprache vorliegt« (ebd.: 79).

Gleichzeitig verfolgte er »eine entwicklung, die man am kürzesten etwa so bezeichnen könnte, dass der lautstand immer mehr ›vermitteldeutscht‹ […] wird« (ebd.: 83). Die Auffassung Moureks, dass das Prager Deutsch des 14. Jahrhunderts keinen Ausgangspunkt zur Herausbildung der vereinheitlichten deutschen Sprache darstellt, sondern dass sich darin – besonders was den analysierten Text angeht – der allgemeine Prozess der Annäherung der Sprache des südlichen und des mittleren Gebiets Deutschlands widerspiegelt (vgl. ebd.), wurde durch spätere Forschungen bestätigt. Schließlich kam er zum Ergebnis, dass der sprachliche Zustand dieser privaten Eintragungen ein völlig adäquates Bild des damaligen gesprochenen Deutsch darbietet und mit dem sprachlichen Zustand der Kanzleisprache vollkommen übereinstimmt: »die sogenannte Praderen Eintragungen vor 1419 beginnen. Lateinische Eintragungen kommen in allen Büchern vor, tschechische in sechs, deutsche in zwei Büchern. Vgl. dazu Vodrážková /  B ok 2013: 454 ff.

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ger kanzleisprache [ist] thatsächlich nichts anderes, als der von den Deutschen Prags damals allgemein gesprochene dialekt« (ebd.). Diese These wurde später von dem Prager Germanisten Emil Skála (1928-2005) insofern korrigiert, als er zwischen geschriebener und gesprochener Sprache unterschied: »Die spätere Forschung kam gegen E. Schwarz und Mourek zum Ergebnis, daß hier [im Prager Deutsch; L. V.] keine Mundartmischung vorliegt, sondern eine Schreibsprache, in der die mitteldeutschen Schreibungen später überwiegen« (Skála 1994: 59). Im Unterschied zu Václav Emanuel Mourek erklärt der Prager deutsche Germanist Adolf Hauffen (1863-1930) in seinen zwei, innerhalb von 20 Jahren entstandenen Aufsätzen Das Prager Deutsch des 14. Jahrhunderts (vgl. Hauffen 1901) und Das Prager Deutsch des 14. Jahrhunderts. Die Wiege der neuhochdeutschen Schriftsprache (vgl. ders. 1922) – wie schon der Untertitel andeutet – das Prager Deutsch zu »einer Wiege der geschriebenen neuhochdeutschen Schriftsprache« (ebd.: 25), ohne es anhand von Texten zu beweisen: »[F]ür den Beginn der Entwicklung unserer [deutschen; L. V.] Schriftsprache [war es] ganz besonders günstig, daß gerade in diesem Zeitraum [im 14. Jahrhundert; L. V.] der Sitz der Kaiser 1346 nach Prag verlegt wurde und dort unter Karl IV. und seinen Nachfolgern aus dem […] Hause der Luxemburger fast ein Jahrhundert verblieb. Die Sprache der gebildeten Schichten in Prag zeigte damals den bereits vollzogenen Ausgleich zwischen der oberdeutschen und ostmitteldeutschen Sprechweise. […] Dieses Prager Deutsch erhielt am Beginn des 14. Jahrhunderts zuerst unter allen deutschen Sprechweisen die neuhochdeutschen Merkzeichen« (Hauffen 1922: 25).

Und es »wurde so zu einer Grundlage [der] im 16. Jahrhundert ausgestalteten neuhochdeutschen Schriftsprache« (ders. 1901: 170). Mit seinen Abhandlungen zählte sich Adolf Hauffen zu den Anhängern der Theorie Karl Müllenhoffs (1818-1884) aus dem Jahr 1863, die gemäß dieser Meinung »[w]iederholt […] wissenschaftlich bestätigt« wurde (Hauffen 1922: 25).

d. Handschriften des 14.  Jahrhunderts Die Bedeutung Prags während der Regierungszeit der Luxemburger als Mittelpunkt des schriftlichen Verkehrs im Reich projizierte sich auch auf die Textproduktion, die in ihrem vielfältigen Spektrum unterschiedliche Themen- und Lebensbereiche verarbeitete. In Prag gab es mehrere Zentren intensiver schriftlicher Tätigkeit: den Herrscherhof, das Erzbistum mit weiteren geistlichen Institutionen, die Prager Städte und die Universität. Im Zusammenhang mit den wissenschaftlichen Intentionen der Prager Germanisten auf dem Gebiet der älteren deutschen Sprache und Literatur erweckten die Handschriften ihr Interesse, die in den böhmischen Bibliotheken

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und Archiven aufbewahrt wurden. So machte sich der deutsche Prager Germanist Johann Kelle an die Arbeit, sämtliche deutsch geschriebenen Handschriften bis zum 16. Jahrhundert in den Prager Bibliotheken »ganz unabhängig vom Kataloge durchzuarbeiten und, um einen Ueberblick zu gewinnen, die altdeutschen sorgfältig und genau zu beschreiben« (Kelle 1859: 36).19 Das ausführliche Quellenstudium realisierte er nach seiner Berufung an die Prager Universität wegen ungenauer Kataloge auch in Prager Bibliotheken und Archiven. Im Rahmen seiner systematischen Erforschung der altdeutschen Handschriften in Prag konzentrierte er sich auf das Verzeichnis und die Beschreibung der altdeutschen Handschriften, d. h. vor allem auf das Alter der Handschriften, auf ihren Inhalt und auf das Verhältnis zu anderen Handschriften. Er hat insgesamt 107 Handschriften und fünf Bruchstücke beschrieben, von denen mehr als die Hälfte (insgesamt 61) aus dem 14. und dem ersten Viertel des 15. Jahrhunderts stammten. Inhaltlich betrafen die Texte die Bereiche Recht, Philosophie, Theologie, Geschichte, Medizin und Naturwissenschaften. Unter den beschriebenen und zum Teil veröffentlichten Handschriften, die einen repräsentativen Überblick über die Produktion der schriftlichen Kultur aus der Zeit der Luxemburger in Böhmen bieten, befinden sich Wörterbücher und Glossare, Gesetzgebungen (z. B. das Handbuch der Altstädter Stadtrechte, Sächsische Weichbildrecht, Schlesische Landrecht), Reiseberichte, Gebete und Predigten, geistliche Texte zu biblischen Themen (z. B. Marienleben), Rezeptare, Gedichte, Liederbücher, Rätselliteratur und Sprichwörter, Übersetzungen aus der lateinischen (z. B. Cicero) und tschechischen Literatur (z. B. die deutsche Übersetzung der Reimchronik des sog. Dalimil). Im Jahr 1872 schloss Johann Kelle seine Forschungsarbeit in den Prager Bibliotheken mit der Bearbeitung von 17 klassischen Handschriften vom 9. bis zum 14. Jahrhundert (vgl. ders. 1872) ab,20 wobei der Schwerpunkt – vor allem in Bezug auf die zunehmende Anzahl von Texten – in den Beschreibungen der lateinischen Handschriften aus der Zeit 19 | Johann Kelle erforschte die deutschen Handschriften in der Universitätsbibliothek (12.-16. Jahrhundert; vgl. Kelle 1859; 1861; 1868g), in der Lobkowitzschen Bibliothek (11.-15. Jahrhundert; vgl. ders. 1867), der Fürstenbergischen Bibliothek (14.-16. Jahrhundert; vgl. ders. 1868f), der Bibliothek des Metropolitan-Kapitels von St. Veit (14.15.  Jahrhundert; vgl. ders. 1868a), der Bibliothek des Prämonstratenserstiftes Strahow (14.-15. Jahrhundert; vgl. ders. 1868b), der Bibliothek des Prager Rathauses (14. Jahrhundert; vgl. ders. 1868c), der Erwein Nostitz’schen Bibliothek (o. D.; vgl. ders. 1868d) und der Bibliothek des Museums des Königreichs Böhmen (14.-15. Jahrhundert; vgl. ders. 1868e). Seine Forschungsergebnisse über deutsch geschriebene Handschriften veröffentlichte er in den Jahren 1859 bis 1868 in der Zeitschrift Serapeum. 20 | Der ungenaue Katalog der Prager Universitätsbibliothek, der außer einigen Angaben keine altdeutschen Handschriften registrierte, die es doch in der Bibliothek gab, veranlasste ihn zur Beschäftigung mit diesen Quellen. Vgl. weiter Kelle 1872: 4.

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der Luxemburger in Böhmen liegt. Mit einer Systematisierung der deutsch geschriebenen und lateinischen Quellen trug Johann Kelle nicht nur zur Erforschung der deutschen Sprache und Literatur in Böhmen bei, sondern er lieferte weiteren Forschern und Interessenten auch zusätzliche Informationen über die in Prag überlieferte schriftliche Produktion des Mittelalters. Auch dem tschechischen Germanisten Václav Emanuel Mourek ist es zu verdanken, dass mehrere Fragmente altdeutscher Handschriften vor allem aus den Archiven und Bibliotheken Prags und Südböhmens untersucht, herausgegeben und zugänglich gemacht wurden. Im Unterschied zu Johann Kelle, der sich auf die Systematisierung der überlieferten Handschriften in ihrem vollen Umfang und unterschiedlichen Inhalte konzentrierte, befasste sich V. E. Mourek mit den vorwiegend literarischen und geistlichen Texten,21 und zwar auf Veranlassung von Gymnasiallehrern (z. B. František Xaver Prusík, 1845-1905) und Prager Bibliothekaren (František A. Borovský, 1852-1933, Antonín Jaroslav Vrťátko, 1815-1892, und Adolf Patera, 1836-1912), die er u. a. als ordentliches Mitglied der Königlichen böhmischen Gesellschaft der Wissenschaften kennengelernt hatte.22 Zur Erforschung der Fragmente der altdeutschen literarischen und religiösen Denkmäler ließ er sich mit der Absicht anregen, sie als Germanist und Kenner der älteren Perioden der deutschen Sprachgeschichte einer sprachlichen Analyse zu unterziehen: »Der herr bibliothekar Ad. Patera hat mich freundlich eingeladen mit ihm die deutschen handschriften des böhmischen Museums einer erneuerten durchsicht zu unterziehen. Seine vermuthung, dass sich darunter manches vorfinden dürfte, was bisher der öffentlichen kenntnis entzogen blieb, hat sich bestätigt. Wir kamen auf einige bisher nicht weiter bekannte stücke, über welche ich mit herrn Pateras einverständnis hier nach und nach bericht erstatten will« (Mourek 1894: 1).

21 | Es handelt sich um folgende Handschriften aus dem 14.  Jahrhundert: Über ein neu ausgefundenes bruchstück einer pergamenthandschrift des Rosengartens, vgl. Mourek 1890b; Neuhauser bruchstücke einer pergamenthandschrift altdeutscher gedichte ernsten inhalts, vgl. ders. 1890a; Krumauer Papier-Codex altdeutscher geistlicher texte, vgl. ders. 1891; Krumauer altdeutsche Perikopen vom Jahre 1388, vgl. ders. 1892b; Zum Dialekt der Krumauer altdeutschen Perikopen vom Jahre 1388, vgl. ders. 1893; Prager bruchstück einer pergamenthandschrift des Barlaam und Josaphat von Rudolf von Ems, vgl. ders. 1894. 22 | Václav Emanuel Mourek und Adolf Patera waren z. B. hier Mitglieder der Kommission zur Quellenerforschung des literarischen Lebens in Böhmen, Mähren und Schlesien (Komise v příčině pramenův k poznání literárního života v Čechách, na Moravě a ve Slezsku).

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So entstand auch die Reihe der Abhandlungen über die Prager altdeutschen Handschriften vom 9. bis zum 15. Jahrhundert (herausgegeben von 1888 bis 1904), denen sich die Abhandlungen über die in den südböhmischen Städten Böhmisch Krumau (Český Krumlov) und Neuhaus (Jindřichův Hradec) auf bewahrten Handschriften des 13. und 14. Jahrhunderts (herausgegeben von 1889 bis 1893) angeschlossen haben. Es ist hervorzuheben, dass V. E. Mourek neben der sprachlichen Analyse, die auch dialektale Merkmale mit einbezogen hat, die Editionen der altdeutschen Handschriften besorgte. »Mourek bewährte sich […] als fleißiger und sorgfältiger Herausgeber und eigentlich als Retter der Bruchstücke der altdeutschen Literatur, die in Böhmen auf bewahrt sind« (Janko 1912: 132). Die Prager Germanisten haben sich zwar nicht intensiv der Textproduktion aus der Zeit der Luxemburger in Böhmen gewidmet; dennoch stellen ihre Handschriftenforschung und -beschreibung einen wichtigen Beitrag zu den erworbenen Kenntnissen über die  – vor allem in deutscher Sprache verfasste – schriftliche Produktion aus dem 14. und dem ersten Viertel des 15. Jahrhunderts dar.

IV. Die wissenschaftliche Tätigkeit der Prager Germanisten, die mit der Erforschung der deutschen Sprache und Literatur in den böhmischen Ländern zusammenhängt, und das wissenschaftliche Interesse der Repräsentanten der Deutschen Philologie an der Prager Universität nach 1882, das dem deutschen Element im Lande galt, waren vor allem durch die Bedeutung für die sprachlichen und kulturellen Verhältnisse und durch den Anteil der deutschen Sprache und Literatur am gesamten Geistesleben in den böhmischen Ländern bestimmt. Im Unterschied zur höfischen Literatur des 13. Jahrhunderts, der eine größere Aufmerksamkeit seitens der Prager Germanisten galt, gehörte die schriftliche Kultur der ersten Luxemburger in Böhmen nicht zu ihren zentralen Forschungsgebieten. Trotzdem fanden die grundsätzlichen Themen, Autoren und Werke dieser Zeit, wie z. B. die Prager deutsche Kanzleisprache, Johannes von Saaz mit seinem Ackermann aus Böhmen, die Reimchronik des sog. Dalimil, Beachtung bei ihnen und in ihrem wissenschaftlichen Werk. So führte auch Hans Lambel zum Abschluss seines Beitrags Aus Böhmens Kunstleben unter Karl IV. an: »Und wahrlich, glänzendere Tage hat das Land kaum gesehen als jene, da dieser Luxemburger [Karl IV.; L. V.] die Kronen des römisch-deutschen Reiches mit der böhmischen Königskrone auf seinem Haupte vereinigte […] [Es ist anzunehmen, dass; L. V.] eben darin [in den Orten; L. V.], wo wir sie [die Leistungen und Kunstschätze Karls IV.; L. V.] be-

Die Zeit der Luxemburger in Böhmen trachten, uns [diese Kunstschätze; L. V.] einen lebendigen Hauch der diesen Herrscher und seine Zeit bewegenden Gedanken verspüren lassen; [hier liegen; L. V.] der fesselnde Reiz und der weit über das engere Fachgebiet hinausreichende Wert der Denkmale selbst und der wissenschaftlichen Arbeiten, die uns den erwähnten Zusammenhang in so trefflicher Weise zur Anschauung und zum Bewusstsein bringen« (Lambel 1898: 71 f.).

L iter atur Primärliteratur Hauffen, Adolf (1901): Das Prager Deutsch des 14. Jahrhunderts. In: Deutsche Arbeit. Monatschrift für das geistige Leben der Deutschen in Böhmen 1, H. 2, S. 170 f. Hauffen, Adolf (1922): Das Prager Deutsch des 14. Jahrhunderts. Die Wiege der neuhochdeutschen Schriftsprache. In: Böhmerlandjahrbuch für Volk und Heimat, Folge 1, Bd. 3, Eger, S. 25 ff. Kelle, Johann (1859): Die altdeutschen Handschriften der k. k. öffentlichen und Universitätsbibliothek in Prag. In: Serapeum. Zeitschrift für Bibliothekwissenschaft, Handschriftenkunde und ältere Litteratur, Nr. 3, S. 33-47; Nr. 4, S. 49-59; Nr. 5, S. 65-75. Kelle, Johann (1861): Die altdeutschen Handschriften der k. k. öffentlichen und Universitätsbibliothek in Prag. In: Serapeum. Zeitschrift für Bibliothekwissenschaft, Handschriftenkunde und ältere Litteratur, Nr. 23, S. 353-359; Nr. 24, S. 370-376. Kelle, Johann (1867): Die altdeutschen Handschriften aus Prager Bibliotheken. I. Lobkowitzsche Bibliothek. In: Serapeum. Zeitschrift für Bibliothekwissenschaft, Handschriftenkunde und ältere Litteratur, Nr. 20, S. 305-317; Nr. 21, S. 321-326. Kelle, Johann (1868a): Altdeutsche Handschriften aus Prager Bibliotheken. III. Bibliothek des Domcapitels. In: Serapeum. Zeitschrift für Bibliothekwissenschaft, Handschriftenkunde und ältere Litteratur, Nr. 11, S. 161-173. Kelle, Johann (1868b): Altdeutsche Handschriften aus Prager Bibliotheken. IV. Bibliothek des Prämonstratenserstiftes Strahow. In: Serapeum. Zeitschrift für Bibliothekwissenschaft, Handschriftenkunde und ältere Litteratur, Nr. 12, S. 177-190. Kelle, Johann (1868c): Altdeutsche Handschriften aus Prager Bibliotheken. V. Archiv des Rathauses. In: Serapeum. Zeitschrift für Bibliothekwissenschaft, Handschriftenkunde und ältere Litteratur, Nr. 15, S. 225-240.

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Vom Minnesang am Hofe der letzten Přemysliden zur prähumanistischen Prosa der Stadtschreiber unter den Luxemburgern (1290-1420) Die neuen Wege tschechischer und deutschböhmischer Dichtung im Goldenen Zeitalter Karls IV. Milan Tvrdík

I.

D ie le t z ten P řemysliden

Zur Vorgeschichte der deutschen Dichtung in den böhmischen Ländern vor der Zeit der Luxemburger werden hier zunächst nur ein paar Notizen zu den großen Dichtern an den Höfen der letzten Könige aus dem heimischen Geschlecht der Přemysliden zu lesen sein, die das Land seit der vorhistorischen Zeit bis zum Jahr 1306, als dieses in der männlichen Linie ausstarb, regierten. Wenzel I., zwischen 1230 und 1253 der vierte böhmische König, achtete verstärkt auf die öffentliche und internationale Meinung seiner Zeit und brachte deshalb 1234 den aus dem Rheinland stammenden Reinmar von Zweter (um 1200 bis vor 1260), den bedeutenden politischen Lyriker des 13. Jahrhunderts, an seinen Hof nach Prag. Dieser verfasste mehrere Huldigungsgedichte an den König, auch dann noch, als er das Land nach sechs Jahren, wohl um 1241, bereits verlassen hatte, was vermuten lässt, dass er auch später im Dienst des böhmischen Königs gestanden hat. Reinmar selber dichtete, er wäre nur des Königs, nicht des kulturellen Rufs des Landes wegen nach Böhmen gekommen, wo, außer dem Herrscher, keine Adeligen an der deutschen Poesie Interesse zeigten. Nachdem Sigeher und Friedrich von Sunburg am Prager Königshof nur ›vorbeigestreift‹ waren, ohne eine tiefere literarische Spur hinterlassen zu haben, nahm die Entwicklung der deutschen Dichtung in der Regierungszeit Ottokars II. Přemysl eine entscheidende Wendung. Dieser heiratete die Witwe nach dem letzten Babenberger, gliederte danach deren österreichische und steirische

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Erblande der Böhmischen Krone für ein paar Jahrzehnte an und befreite somit die böhmische Kultur vom Einfluss des Südens. Unter ihm und seinem Sohn Wenzel II. ›lockte‹ der Prager Hof manchen Minnesänger an, das Interesse an der deutschen Poesie breitete sich auch unter den zahlreichen böhmischen adeligen Rittern und Höflingen aus, blieb also nicht, wie früher, nur auf den Herrscher beschränkt, sondern diente auch als Unterstützungselement in Ottokars Streben nach der Kaiserkrone. Mit Ulrich von dem Türlin, den man Jahrhunderte später als Initiator der selbstständigen böhmisch-deutschen Dichtung feierte, kam in den 1260er Jahren ein Hofdichter aus Kärnten an den Prager Hof, der dort an einem Heldenepos arbeitete, das er Willehalm nannte und schließlich dem König Ottokar widmete (vgl. Nadler 1924: 27). Sein angeblicher Schüler, der höchstwahrscheinlich aus Böhmen stammende Ulrich von Etzenbach, war zwischen 1275 und 1300 an Ottokars und später an Wenzels Hof tätig und avancierte zu einem Hofdichter der Přemysliden. In seiner Alexandreis, einem 28.000 Verse umfassenden Alexanderroman, an dem er nach einer französischen Vorlage 17 Jahre lang (1270-1287) unter Ottokar II. und Wenzel II. schrieb, stellte er seine königlichen Gönner als große Helden fast antiken Ausmaßes dar, als Idealbilder des Ritters und des Herrschers. In der Klage über den toten Alexander reflektierte er den Tod Ottokars auf dem Marchfeld 1278 und widmete das Werk nach der Vollendung dessen Sohn Wenzel. Etzenbachs Alexandreis wurde um 1300 am Neuhäuser Hof der Wittigonen in Südböhmen abgeschrieben und zum Huldigungsgedicht auf Ulrich von Neuhaus (Oldřich z Hradce) umgearbeitet. Das Epos Wilhelm von Wenden (1292), ein Preislied auf König Wenzel und seine Gattin Guta von Habsburg, schildert die Christianisierung Böhmens durch den heiligen Herzog Wenzel, den Vorfahren der regierenden Könige. Es enthält zahlreiche Anspielungen auf das Schicksal Wenzels II. und seinen Vater Ottokar sowie eine an den Text anschließende Prophezeiung der zukünftigen Herrschaft Wenzels über alle benachbarten Länder – eine Prophezeiung, die in Erfüllung gehen sollte, als Wenzel schließlich zum König von Polen und Ungarn gekrönt wurde. Der aus Meißen stammende Wanderlyriker Heinrich von Meißen, nach seinem Marienleich Frauenlob genannt, hielt sich wohl mehrere Male am Hof der böhmischen Könige auf. Belegt ist sein Dienst für Wenzel II. Um 1300 schrieb er am Prager Hof seinen berühmten Marienleich und machte sich daneben durch seine Klagen über die böhmischen Herrscher bekannt. Seine letzten Jahre verbrachte er als Schützling Peters von Aspelt, des Erzbischofs und zugleich Kanzlers des böhmischen Königs in Mainz. Die deutsche Literatur wirkte unter Wenzel II. auch auf seine Höflinge und die mächtigen böhmischen Adeligen und griff vom Prager Hof auch auf deren Herrschaftssitze aus. Im Auftrag des einflussreichen Landeshauptmanns von Mähren, des reichen ostböhmischen Adeligen Raimund von Lichtenburg (Rajmund z Lichtenburka), beendete Heinrich von Freiberg, ein väterlicherseits vermutlich aus dem sächsischen Freiberg stammender, aber in Böhmen an-

Vom Minnesang am Hofe der let zten Přemysliden

sässiger Dichter, um 1310 das Tristan-Epos von Gottfried von Straßburg.1 Der Günstling Wenzels II., Johann von Michelsberg (Jan z Michalovic), unternahm zwischen 1293 und 1297 offensichtlich im diplomatischen Auftrag des Königs mit großem Gefolge eine Reise ins Rheinland und an den Hof Philipps IV. nach Frankreich. Während der Reise nahm er an zahlreichen Turnieren teil, welche er alle gewann. Heinrich von Freiberg verfasste nach 1297 im Auftrag Johanns oder sogar des Königs höchstpersönlich das Huldigungsgedicht Die Ritterfahrt Johanns von Michelsberg auf diesen böhmischen Herrn, das u. a. den Sieg des Ritters in einem Turnier vor dem französischen König schildert.

II.

J ohann von L uxemburg

1310 bestieg mit Johann von Luxemburg die Dynastie der Luxemburger den böhmischen Thron, nachdem Kaiser Heinrich VII. seinen 14-jährigen Sohn, eben Johann, auf Bitten einer böhmischen Adelspartei, die gegen den damaligen König Heinrich von Kärnten in Opposition stand, mit der böhmischen Prinzessin Elisabeth (Eliška Přemyslovna) hatte vermählen lassen und ihn daraufhin mit Böhmen belehnte. Elisabeth war die Schwester des letzten böhmischen Königs aus dem Herrscherhaus der Přemysliden, Wenzel III., mit dem dieses uralte böhmische Herrscherhaus ausstarb. Der neue König hielt sich nur kurzzeitig in Böhmen auf und übertrug die Verwaltung des Landes dem hohen Adel. Die Absenz eines Repräsentationshofes in Prag hinderte die höfische Kultur an ihrer weiteren Entfaltung, so dass sich der Ruf Prags, den der Hof unter Wenzel II. erworben hatte, verlor. Trotzdem wirkten auch in Johanns Umgebung Persönlichkeiten, die ihn literarisch rühmten und dadurch die Erinnerung an ihn zu erhalten gedachten. 1323 trat in Frankreich der Dichter und Musiker Guillaume de Machaut (13001377) in seinen Dienst. Er wurde sein Notar, Sekretär und Diplomat und begleitete ihn überall hin. Nach dem Tod des Königs 1346 trat Guillaume de Machaut in den Dienst Juttas von Luxemburg, der Tochter Johanns, und vollendete an ihrem Hof in der Normandie sein französisches Huldigungsgedicht Le jugement dou Roy de Behaigne (Das Gericht des böhmischen Königs), in dem er neben der Huldigung des ritterlichen Verhaltens, der Tugenden, des Großmuts und Scharfsinns seines Mäzens auch die Landschaft und die Architektur seines Heimatlandes Luxemburg lobte (vgl. Bláhová 2012: 562). Höchstwahrscheinlich besuchte er nach dem Tod Johanns noch einmal Prag, und zwar im Jahr 1364. Diesmal war er im Gefolge des Zypernkönigs Peter (Pierre de Lusignan), der Karl IV. einen offiziellen Besuch abstattete und an seiner letzten Hochzeit mit Elisabeth von Pommern in Krakau teilnahm. Machaut beschrieb den Pra1 | Vgl. dazu auch den Beitrag von Kristýna Solomon in diesem Band.

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ger Hof Karls in der Verschronik La Prise ď Alexandrie (Die Eroberung Alexandriens oder Die Chronik des Königs Peters I. von Lusignan), die er zwischen 1367 und 1369 wohl in Reims verfasste.

III.

K arl  IV., K aiser und K önig

In den letzten Jahren der Regierungszeit Johanns, den man aufgrund seiner ständigen Abwesenheit damals in Böhmen auch »König Fremdling« nannte, war der ›literarische Schmuck‹ am verwaisten Prager Hof der deutsche Dichter Heinrich von Mügeln (um 1320 bis nach 1371).2 Heinrich kam wahrscheinlich aus staatsgeschäftlichen Gründen nach Prag, denn Mügeln und Dohna im Meißner Land, in denen er belegt ist, standen damals unter böhmischer Herrschaft. Der Altersgenosse freundete sich mit dem künftigen König und Kaiser Karl an und trat für Jahrzehnte in seine Dienste. Er wurde zu seinem Ratgeber und zum gefeierten Hofdichter am Prager Hof. Sieben Jahre lang (1346-1353) hielt er sich in Begleitung Margaretes, der ältesten Tochter Karls und der ungarischen Königin, am dortigen Hof auf, wo er für ihren Gemahl, den König Ludwig, aus verschiedenen historischen Quellen die erste lateinische Ungarische Chronik zusammenstellte.3 Er wurde als einer der Ersten an der neugegründeten Prager Universität promoviert, wo er eine Arbeit über die Heilige Schrift vorlegte und in der Disputation erfolgreich verteidigte. Nach seiner Rückkehr nach Prag, nachdem Margarete in Ungarn frühzeitig verstorben war, verfasste er 1355 zu Ehren seines Freundes, des gerade gekrönten Kaisers Karl, das didaktisch-theosophische, allegorische Lobgedicht Der meide cranz, in dem die Wissenschaftslehre (verkörpert von der Natur) und die Tugend gegeneinander in den Kampf ziehen, um jede für sich die Führungsrolle im menschlichen Leben und Handeln an sich zu reißen. Das Urteil des Dichters in den Schlussversen des Gedichts lautet, dass die Natur von Gott geschaffen, die Tugend aber Gott selbst sei, weshalb sich die Natur mit der Tugend nicht vergleichen lasse. Dieses, den Frühhumanismus vorbereitende Werk fußt zwar immer noch in den scholastischen Denkweisen und Denkinhalten, weist aber zugleich eine gute Kenntnis der zeitgenössischen Wissenschaften, darunter auch der Astrologie, auf und erkennt der Naturphilosophie neben der Theologie ein Eigenrecht zu. Wenn sich Johann in das fremde Land kaum einzuleben vermochte, gelang dies seinem Sohn Karl umso besser. Dieser setzte machtpolitisch auf die Kontinuität mit dem Herrscherhaus, aus dem seine geliebte Mutter stammte. 2 | Vgl. dazu auch den Beitrag von Amelie Bendheim in diesem Band. 3 | Ihre auf Deutsch verfasste Fortsetzung – Die zweite Ungarische Chronik – widmete er 1358 in Wien Rudolf IV. von Habsburg, wo er Karls zweitälteste Tochter Katharina nach den Streitigkeiten mit ihrem Vater begleitete.

Vom Minnesang am Hofe der let zten Přemysliden

Dies war eines der drei Hauptprinzipien seines Konzepts der Bildung und Festigung eines starken böhmischen Staates, das von der altehrwürdigen Tradition der Přemysliden und ihrer Fortsetzung in der neuen Dynastie ausging, die sich durch den Heiratsbund mit dem slawischen Herrscherhaus, als dem ersten wichtigen Schritt, auch zu seiner Herkunft bekannte (vgl. Spěváček 1979: 292). Davon zeugen seit den 1340er Jahren neben den Verweisen auf die Fortsetzung der dynastischen Politik der letzten Přemysliden durch die Luxemburger in zahlreichen sog. Bestätigungsprivilegien der alten Urkunden auch einige institutionelle Gründungen, die Karls Programm des kulturpolitischen Universalismus unterstützen sollten. 1347 ist das Gründungsjahr des Emmaus-Klosters in Prag, einer kirchlichen Stätte für die Verehrung des heiligen Hieronymus und der bereits halbvergessenen Slawenapostel Kyrill und Methodius4 mit dem Akzent auf der griechischen und altkirchenslawischen Kirchentradition, zu deren Pflege slawische Benediktiner aus Kroatien berufen wurden. Hieronymus war der erste Übersetzer der Bibel ins Lateinische, die damalige böhmische Intellektuelle eifrig verbreiteten. Er wurde, der legendären Überlieferung von seiner angeblichen slawischen Abstammung nach, auch noch mit der Übersetzung der Heiligen Schrift ins Slawische beauftragt, aus deren Kirchenslawischem später das Tschechische hätte hervorgehen sollen.5 Solche Gedanken führten bereits zu Karls Zeit in der kirchlichen Reformbewegung zu Ideen von der Auserwähltheit des böhmischen Volkes, die einige Jahrzehnte später fließend in die gewalttätige hussitische Revolution übergingen. Die Auffassung von Kultur, Kunst und Wissenschaft als Quellen des politischen Gegengewichts zu den machtpolitischen Ansprüchen des Adels gewann eine außerordentlich bedeutende Stellung in Karls machtpolitischem Konzept. Bis zu seiner Zeit verstanden die Herrscher Kunst und Kultur eher als Schmuck ihrer Höfe, der auf Außenwirkung angelegt war, aber die Herrscher kaum persönlich betraf. Der mittelalterliche Herrscher und die Adeligen befassten sich (von wenigen Ausnahmen abgesehen) kaum mit der Schriftkultur. Vielmehr überließen sie diese ihrem Umfeld, den Schreibkanzleien und den klösterlichen Skriptorien. Karl IV. erhob die Kultur und die damit verbundenen Kulturpraktiken zum eigenständigen Bestandteil seines politischen Strebens und staatsstiftenden Konzepts. Davon zeugen auch die 1348 erfolg-

4 | Johannes von Neumarkt hat auf der Landeskirchensynode in Kremsier 1380 erneut das Fest der Apostel für die böhmische und mährische Kirche eingeführt. 5 | Die Verehrung von Hieronymus als ein Bestandteil der vom Kaiser geförderten Kulturpolitik erfasste das humanistische Zeitalter in Böhmen. Johannes von Neumarkt schrieb nach dem Vorbild der lateinischen Traktate Vita Hieronymi, widmete sie dem Kaiser und übersetzte sie 1371 für die mährische Markgräfin Elisabeth ins Deutsche unter dem Titel Das Leben des heiligen Hieronymus.

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te Gründung der Universität6 und der Prager Neustadt sowie der forcierte und durchdachte Bau der königlichen Burgen, deren künstlerische Ausstattung, ganz im Sinne des Staatskonzeptes Karls, zum Ausdruck der politischen Relevanz der Kunst wurde. Beispielhaft hierfür sind auch das berühmte Karlstein als Auf bewahrungsort der Reichskleinodien und der 1357 begonnene Bau der Steinbrücke über die Moldau. Das zweite Prinzip fußte auf Karls mutiger Idee, den böhmischen Königsthron mit dem kaiserlichen des Reichs zu verbinden, was auf eine neue machtpolitische Qualität hindeutet. Es handelte sich in diesem Falle von der Idee her um die ideologische Fusion des Frankenreichs Karls des Großen mit dem slawischen Großmährischen Reich. Auf Letzteres hatten sich die böhmischen Přemysliden in gutem Glauben berufen, als sie behaupteten, es hätte die Tradition des böhmischen Staates gestiftet, weil die Befugnisse des zerfallenden Reichs durch eine legendäre Translation auf den neu entstehenden böhmischen Staat übergangen wären. Das so von Karl konzipierte Staatsgebilde sollte erstens das Gleichgewicht in Mitteleuropa sichern und zweitens die Unabhängigkeit des Römischen Reichs vor dem übergroßen Einfluss des mächtigen französischen Hofs garantieren, dem auch die päpstliche Kurie in Avignon machtpolitisch unterlegen war (vgl. Spěváček 1979: 293). Dazu unternahm Karl den ersten organisatorischen Schritt in der bohemo-zentrischen Auffassung vom Römischen Reich mit dem Machtzentrum in Prag, als er dort die Kanzlei des böhmischen Königs mit der Kanzlei des römischen Kaisers vereinte. Dies stand in krassem Widerspruch zu den politischen Vorstellungen, die italienische Humanisten hegten, vor allem Francesco Petrarca. Ihm und Cola di Rienzo, die große Hoffnungen auf den neuen Kaiser setzten, war schwer verständlich, warum nicht wieder das antike Rom und das heilige Italien zum idealen und wirklichen Zentrum des Römischen Reiches werden sollten, denn gerade für seine Wiedererrichtung als machtpolitisches Zentrum ganz Europas und der ganzen damaligen Welt versprachen sie sich die Unterstützung des neuen Kaisers. Beide Humanisten übten auf den Kaiser und seine Mitarbeiter großen Einfluss aus. Cola di Rienzo suchte im Juni 1350 im angeblichen Auftrag des Propheten Angelus den noch nicht gekrönten Kaiser in seiner Prager Residenz auf und entwickelte vor ihm in mehreren Gesprächen einen hinreißenden Plan zur Erneuerung (bzw. Wiederherstellung) der Welt. Grundlage dafür war eine unter den Häretikern aus dem Minoritenorden, den sog. Fratres Spirituales, in Italien verbreitete Prophezeiung von der neuen Ankunft Jesu Christi. Dieser, so die Weissagung, werde durch einen ›Engelspapst‹ und einen frommen Kaiser Unterstüzung erfahren. Bei Karl stieß er damit auf offene Ohren. Die lateinische 6 | Als römischer Kaiser gründete Karl zehn Universitäten oder stellte sie wieder her, vorwiegend in Italien – Cividale (1353), Arezzo (1355), Perugia (1355), Siena (1357), Pavia (1361), Florenz (1364), Genf (1365), Orange (1365) und Lucca (1369).

Vom Minnesang am Hofe der let zten Přemysliden

›Blumenrede‹ Colas, in der er Karl als den einzigen Retter der verdorbenen Kirche lobt und ihn zum ruhmreichen Krönungszug nach Rom auffordert, faszinierte den zukünftigen Kaiser. Der Papst, bereits aus dessen Jugendzeit in Paris ein Freund und Gönner Karls, verlangte aber in mehreren an Karl und den Prager Erzbischof Ernst von Pardubitz gerichteten Briefen die Auslieferung des Häretikers zum Verhör vor der Inquisition – oder mindestens seine Gefangennahme. Das geschah schließlich, Cola wurde in einem ›milden‹ Arrest festgesetzt, in welchem er Besuche empfangen und arbeiten konnte. Später aber verschlechterten sich auf Drängen des Papstes die Bedingungen und Cola wurde nach Raudnitz in die Burg des Erzbischofs gebracht, so dass er nach fast drei Jahren Aufenthalt in Böhmen selbst um die Auslieferung an den Papst bat. Hinter der Bitte um die freiwillige Auslieferung stand Francesco Petrarca, der zu besagter Zeit am päpstlichen Hof in Avignon weilte. Petrarca lud Karl mehrmals zum Italienbesuch ein, informierte ihn über seine Schriften und polemisierte mit ihm über Karls Auffassung der Reichsidee. Karl IV. und seine Ratgeber Ernst von Pardubitz und Johannes von Neumarkt kannten die italienischen humanistischen Schriften gut, standen im persönlichen und brieflichen Kontakt mit Petrarca und Cola di Rienzo – was maßgeblich zur Entwicklung des Humanismus in Böhmen zwischen 1351 und 1368 beitrug. Die Auseinandersetzung mit den Humanisten brachte Karl nicht von seiner bohemo-zentrischen Reichsidee ab. Er ließ eine neue böhmische Königskrone anfertigen und vertraute sie im Sinne seiner politischen Staatsidee dem heiligen Wenzel, dem Landespatron, zur Auf bewahrung an. Auch ließ er seine Grabstätte im Prager Dom durch die Errichtung der Wenzel-Kapelle neugestalten. Zugleich erhob er den alten Choral zu Ehren Wenzels zur böhmischen Hymne und verfasste zur Förderung und Verbreitung der Staatsidee selber 1358 eine neue Wenzel-Legende, die sog. Hystoria nova de sancto Wenceslao martyre, duce Bohemorum, per dominum Karolum, imperatorem Romanorum, regem Bohemiae, compilata (Eine neue Geschichte über den Heiligen Wenzel, Märtyrer und böhmischen Herzog, zusammengestellt vom Herrn Karl, dem römischen Kaiser und böhmischen König).7 Karls Wenzel-Legende wurde im Ganzen in die lateinische Böhmische Chronik (Przibikonis de Radenin dicti Pulkavae Chronicon Bohemiae) von Przibik von Radenin, genannt Pulkava, übernommen, die im Auftrag des Kaisers 1374 als offizielle Fortsetzung der Chronika Boemorum des Cosmas von Prag entstand. Im berühmten Liber viaticus des Johannes von Neumarkt finden wir den historischen Teil und die Legende getrennt abgeschrieben.

7 | Die Legende zerfällt in einen historischen Teil und einen legendenhaften Teil, der liturgisch konzipiert wurde; beide waren Bestandteil des priesterlichen Stundenbuches. Den historischen Teil las man zum Fest des heiligen Wenzel am 28. September, die Legende zum Fest der Übertragung der Überreste des heiligen Wenzel am 4. März.

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Durch all diese Staatsakte wurde die Idee der untrennbaren Einheit der Länder der böhmischen Wenzels-Krone gestiftet, die bis heute überdauerte und im 19. Jahrhundert zum Zankapfel der nationalen Zwistigkeiten in Böhmen wurde. Ähnliches geschah auf der Reichsebene. Die kaiserlichen Reichsinsignien wurden dem heiligen Karl dem Großen anvertraut und die Pflege des Kults den Augustiner-Chorherren aufgetragen. Die karolingische und die Wenzel-Tradition verschmolzen miteinander. Auf der Karlshöhe in der Prager Neustadt wurde das Augustiner-Stift zu Ehren des heiligen Karls des Großen gegründet, eine ähnliche Gründung erfolgte in Niederingelheim am Rhein, diesmal um den Kult des heiligen Wenzels erweitert, wo es sogar in der Gründungsurkunde wörtlich heißt, es sei ein Stift für Chorherren, die »die böhmische Sprache lieben« (ebd.: 298).8 Das dritte Prinzip des neuen Konzepts bestand im taktischen Bündnis mit der Kirche, vor allem in der Koordinierung der böhmischen, der europäischen und der Reichspolitik mit der Politik des Papstes und seiner Kurie, die praktisch der verlängerte Arm der Politik des französischen Königshofes war. Um die Franzosen in Grenzen zu halten, balancierte der Kaiser dieses Zweckbündnis mit der Forderung nach einem einheitlichen Vorgehen gegenüber den geistlichen Kurfürsten im Reich aus. Diese taktische politische Zusammenarbeit mit der Kirche war eine absolute politische Notwendigkeit und ermöglichte dem Kaiser, seine Ziele zu erreichen, indem er in der Kirche die Stütze seiner Machtpolitik gegenüber dem heimischen Adel und den Reichsfürsten fand und ihre Mittel geschickt ausnutzen konnte. Seine Unterstützung der Kirche in den böhmischen Ländern und im Reich führte auf der anderen Seite zum unkontrollierten Wachsen ihrer wirtschaftlichen und ideologischen Macht – und schließlich zum Ausbruch der religiösen Revolution in Böhmen. Neben diese drei Prinzipien, die allesamt auf die Festigung des Staatsgebildes ausgerichtet waren, trat noch die Frage des politischen und nationalen Universalismus, welcher von Karls Forderung des Kirchen- und Reichsuniversalismus ausging, die teilweise in die Maiestas Carolina und die Goldene Bulle Eingang fanden. Die Aufgabe der Zeit sah Karl darin, dass er einerseits die weitere Zersplitterung des Reiches zu verhindern und andererseits den absolutistischen Ambitionen der päpstlichen Kurie Einhalt zu gebieten suchte. Karls Stellung zwischen Deutschen und Tschechen gab vor allem im 19. Jahrhundert Anlass zu lang- anhaltendem Streit zwischen den beiden nationalen Lagern. Das Prinzip des Universalismus Karls IV. stand im Gegensatz zur national ausgerichteten tschechischen und deutschen romantischen Geschichtsschreibung im Namen des ihm von Adalbertus Ranconis de Ericinio (Vojtěch Raňkův z Ježova, 1320-1388) in seiner Grabrede zugedachten Attributs Pater Patriae. Durch diese Art der Geschichtsschreibung wurde die Bestimmung der nationalen Zuge8 | Übersetzung: M. T.

Vom Minnesang am Hofe der let zten Přemysliden

hörigkeit des Kaisers und Königs zum Thema. Die Tschechen hielten und halten Karl bis heute für den ›größten Tschechen‹, ohne genau zu wissen, wovon sie reden. Karl IV. fühlte bestimmt landespatriotisch; durch den Landespatriotismus manifestierte er die von ihm gestiftete Idee der luxemburgisch-böhmisch-slawischen Dynastie. Sein Verhältnis zur tschechischen Sprache und zum tschechisch sprechenden Volk war durchaus positiv und gründete dynastisch-politisch auf der Anknüpfung an die Traditionen des ursprünglichen böhmisch-slawischen Herrscherhauses. Deshalb war für ihn Tschechisch eine dynastische Sprache, die der Pflege bedurfte, weil sie die Majoritätssprache seines Königtums war. Keineswegs lässt sich aber sagen, Karl wäre ein böhmischer oder deutscher Nationalist gewesen, der den einen oder anderen Bevölkerungsteil seines Königtums bevorzugt hätte. Im 19. Jahrhundert wollte man keinesfalls zugeben, dass bei Karl in erster Linie die französische Mentalität seiner Jugenderziehung vorherrschte, die er zugunsten des Universalismus zu überwinden versuchte (vgl. ebd.: 305). Karl IV. gehörte zu dem seltenen Typus eines Herrschers, der die Bedeutung seines eigenen Schaffens erkannte und es für notwendig hielt, im Geiste antiker und mittelalterlicher scholastischer und unter dem Einfluss der frühhumanistischen Tradition seinen persönlichen Beitrag zur Entwicklung im literarischen Bereich zu leisten. Überdies spielte für ihn eine bedeutende Rolle, für die Zukunft ein Zeugnis über seine eigenen machtpolitischen und kulturellen Taten abzulegen. Die literarische Tätigkeit hielt er für einen wichtigen Teil der Politik, nicht primär für eine ästhetische Aufgabe. Ihre Wirkung war nicht zuletzt die Beförderung der lateinischen Dichtung in Böhmen und das Interesse für ausgewählte literarische Gattungen, hauptsächlich für die Fach- und die normative Rechtsprosa (vgl. ebd.: 365). Er war bemüht, mit den schriftlichen Aufzeichnungen über sein Leben und Handeln eine eigene politische Tradition zu stiften, die als Vorbild und Belehrung für seine Nachfolger dienen oder aber seine eigene politische Wirkung glorifizieren sollte. Seine Sprache war Latein. Neben den Gesetzbüchern und Krönungsordnungen und der bereits erwähnten, den dynastischen Zwecken dienenden Wenzel-Legende sind seine Briefe an Francesco Petrarca und Cola di Rienzo zu nennen, die Sammelschrift der Auszüge aus philosophischen Sentenzen und moralischen Erbauungsschriften aus den 1370er Jahren, Moralitates Caroli quarti imperatoris, die gleichzeitig mit der Vita Caroli verfasst wurden – und allem voran natürlich eben jene Vita Caroli, seine Autobiographie, die die Lebensjahre bis 1346 umfasst und deren erste 14 Kapitel er um 1370 in der Ich-Form niederschrieb. Die restlichen sechs Kapitel in der Er-Form und im vorzüglichen, rhetorisch vollkommenen Stil des humanistischen ›Blumenlateins‹ stammen wahrscheinlich von Johannes von Neumarkt, obwohl für eine solche Behauptung entscheidende Argumente immer noch fehlen. Die Autobiographie ist kein klassisches historisches Werk, sie ist eine politisch und ideologisch motivierte Schrift, die den Nachkommen das

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Milan Tvrdík

Bild eines idealen, erfolgreichen Herrschers überliefern will. Einige Jahre später, um das Todesjahr Karls 1378, entstand die erste tschechische Übersetzung, um die Mitte des 15. Jahrhunderts dann eine wortgetreue deutsche Fassung.

IV.

B lütezeit der K ulturen unter K arl  IV.

Karl IV. wollte die böhmischen Länder an das kulturelle Profil Frankreichs und Italiens annähern. Er kannte beide Länder sehr gut und beherrschte deren Sprachen einwandfrei. Mehrheitlich aber kamen die Impulse aus diesen Ländern durch deutsche Kulturvermittlung nach Böhmen. Die unmittelbare Anknüpfung an den romanischen Westen und Süden sollte die Beschleunigung des Zivilisationsprozesses in den böhmischen Ländern herbeiführen und das Niveau der wirtschaftlichen und sozialen Entwicklung in allen Lebensbereichen erhöhen. Der Aufschwung der böhmischen Länder unter Karl  IV., getragen vom universalistischen Denken, war natürlich eng verbunden mit der lateinischen Sprache. Dies verhinderte aber keineswegs die durchgreifende Entwicklung der beiden Landessprachen (vgl. auch Trost 1940), denn das propagierte Bewusstwerden der kulturellen Zusammengehörigkeit mit den anderen europäischen Ländern akzeptierte spezifische Züge des böhmischen Milieus und wehrte sich weder gegen die Anknüpfung an die alte heimische Tradition noch gegen die Verpflichtung, sie weiter zu pflegen. Der auffallende Aufstieg der tschechischen Sprache führte zu einem funktionalen Ausbau dieser Sprache. Sie erreichte so zunehmend ein Niveau, dass gewisse intellektuelle böhmische Kreise forderten, nämlich in den slawischen Gebieten die Rolle des universalen Lateins zu übernehmen und zu einer universellen slawischen Sprache zu avancieren. Der kulturelle Universalismus Karls zeigte sich im literarischen Bereich auf eindeutige Weise. Neben den wichtigen tschechisch verfassten Werken, die im 14. Jahrhundert die selbstständige tschechische Literatur in Lyrik, Epik und Drama begründeten, erwuchsen aus der gemeinsamen Grundlage der Kultur und der Pflege des Bewusstseins notwendiger staatlicher und gesellschaftlicher Zusammengehörigkeit auch, metaphorisch gesprochen, ›reife literarische Früchte‹ in der zweiten Landessprache, im Deutschen, heran. Der Wetteifer beider Sprachen führte in Karls Gegenwart, vor allem dann aber auch in der Zeit nach Karl dazu, dass sich die Sprachen gegenseitig befruchteten  – und dies, obwohl dieser Prozess relativ oft in Konflikte entglitt, in die das tschechische Element mit dem hartnäckigeren deutschen geriet. Der Impuls für ein Auf blühen der beiden Landeskulturen in Karls Zeit war Resultat des machtpolitischen Programms des Kaisers. Karl IV. erkannte, dass sich der kulturelle Aufschwung dazu nutzen ließ, die Machtbasis der Staatsordnung nachhaltig zu stützen, und dass es deshalb notwendig war, die Kultur

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zum unabdingbaren Bestandteil des machtpolitischen Konzepts zu erheben. In dieser Hinsicht ist sein Wirken und sein Einfluss bis heute für das mitteleuropäische Gebiet, in dem er seinen Kronländern einen wichtigen Platz einräumte, von enormer Wichtigkeit, der zu gedenken sich lohnt.

L iter atur Bláhová, Marie (2012): Písemná kultura [Die Schriftkultur]. In: František Šmahel / Lenka Bobková (Hg.): Lucemburkové. Česká koruna uprostřed Evropy [Die Luxemburger. Die Böhmische Krone inmitten Europas]. Prag, S. 559-569. Fiala, Zdeněk (1978): Předhusitské Čechy. Český stát pod vládou Lucemburků 1310-1419 [Das vorhussitische Böhmen. Der böhmische Staat unter der Herrschaft der Luxemburger 1310-1419]. Prag. Nadler, Josef (1924): Das Schrifttum der Sudetendeutschen. I. Bis zur Schlacht am Weißen Berge. Regensburg. Spěváček, Jiří (1979): Karel IV. Život a dílo (1316-1378) [Karl IV. Leben und Werk (1316-1378)]. Prag. Spěváček, Jiří (1982): Král diplomat. Jan Lucemburský 1296-1346 [König Diplomat. Johann von Luxemburg 1296-1346]. Prag. Trost, Pavel (21940): Vliv císařské kanceláře Karlovy na slovesnou kulturu německou [Der Einfluss Karls Kaiserkanzlei auf die deutsche Schriftkultur]. In: Autorenkollektiv (Hg.): Co daly naše země Evropě a lidstvu. Od slovanských věrozvěstů k národnímu obrození [Der Beitrag unseres Landes Europa und der Menschheit]. Prag, S. 67-71.

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Der Herr vom Hradschin Zu Franz Spundas historischem Roman über Karl IV. Manfred Weinberg

Zu den Feierlichkeiten aus Anlass des 700. Geburtstags von Karl IV. im Jahr 2016 schrieb Josef Füllenbach in der Prager Zeitung: »Die Herrschergestalt Karls IV. wird in seinem Jubiläumsjahr […] von allen Seiten erneut beleuchtet und zum Glänzen gebracht. Vor allem Tschechien richtet eine praktisch zwölf Monate dauernde Geburtstagsfeier für den ›Vater des Vaterlandes‹ und den nach einer Umfrage von 2005 ›größten Tschechen‹ aus« (Füllenbach 2016).

Die Bezeichnung Karls IV. als otec vlasti, ›Vater des Vaterlands‹, ist in Tschechien topisch – und die benannte Wahl zum ›größten Tschechen‹ hat Karl IV. 2005 mit durchaus deutlichem Vorsprung vor Tomáš Garrigue Masaryk, Václav Havel, Jan Amos Komenský, Jan Žižka, Jan Werich, Jan Hus, Antonin Dvořák, Karel Čapek, Božena Němcová, Bedřich Smetana, Emil Zátopek, Karel Gott, Jiří z Poděbrad, František Palacký, Přemysl Otakar II. und Svatý Václav (also dem heiligen Wenzel) gewonnen.1 Josef Füllenbach fragt in seinem Artikel weiter: »Ob man sich dabei daran erinnern wird, dass Karl IV. durchaus auch multikulturelle Neigungen pflegte?« (Ebd.) Die Sprengkraft einer solchen Frage im gegenwärtigen Tschechien kann man deutlich machen, indem man einen Satz aus der Weihnachtsansprache des amtierenden tschechischen Staatspräsidenten Miloš Zeman von 2015 zitiert: »Dieses Land ist unser Land, es ist nicht für alle da und kann auch nicht für alle da sein« (zit. nach Kokot 2016). Vor diesem Hintergrund ist es natür1 | Eigentlich hat die Wahl allerdings wohl Jára Cimrman gewonnen, eine in Tschechien ungemein beliebte, wenngleich erfundene Figur, der man zuschreibt, Erfinder, Sportler, Kriminalist, Dichter und Philosoph gewesen zu sein, somit: ein Universalgenie, dessen Lebensgeschichte unentwegt um neue Erstaunlichkeiten fortgeschrieben wird. Da es sich aber um keine wirkliche historische Persönlichkeit handelte, wurden die für Cimrman abgegebenen Stimmen nicht gewertet und ihre Zahl nie veröffentlicht.

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lich heikel, wenn man dem otec vlasti und größten Tschechen aller Zeiten einen Hang zum Multikulturalismus nachsagen muss. Füllenbach argumentiert so: »Wie sein großer Vorgänger auf dem römisch-deutschen Kaiserthron Friedrich II. war auch er [Karl IV.; M. W.] ein Verehrer des heiligen Mauritius, also eines nordafrikanischen Märtyrers, der als Maure gewöhnlich mit dunkler Hautfarbe dargestellt wurde. Zudem breiteten sich zur Zeit Karls IV. multiethnische Epiphaniedarstellungen aus – Abbildungen der Heiligen Drei Könige als Repräsentanten der drei damals bekannten Erdteile Europa, Asien und Afrika. Der jüngste der drei, Caspar, wurde dabei mit dunkler Hautfarbe wiedergegeben. Noch bedeutsamer erscheint, dass Karl IV. auf einer heute nicht mehr vorhandenen Wandmalerei in der Burg Karlstein den Luxemburger Stammbaum mit Ham, einem der drei Söhne Noahs, als Stammvater abbilden ließ. Nach der biblischen Überlieferung und den sich daran anschließenden Legenden galt Ham als mythischer Ahnherr der Schwarzen. Karl IV. scheint demnach seine kaiserliche Herrschaft in einen die ganze damals bekannte Welt umspannenden Rahmen gestellt zu haben« (Füllenbach 2016).

Natürlich zeigt sich der Autor am Ende skeptisch, ob die so nahegelegte »multikulturelle Neigung Karls IV.« (ebd.) bei den Feierlichkeiten in Tschechien thematisiert werde. Der spezifisch tschechische Blick auf Karl  IV. wird auch daran deutlich, dass František Šmahel, einer der führenden Mediävisten in Tschechien, in einem am 2. Januar 2016 in der Tageszeitung Lidové noviny abgedruckten Artikel die Gegenrede schon in den langen Titel seines Artikels setzt: »Das Jahr des Kaisers: viel Licht und etwas Schatten. Es sollte nicht in Vergessenheit geraten, dass Karl IV. nicht nur böhmischer König war, sondern auch – und das in erster Linie – Kaiser des Heiligen Römischen Reiches war« (Šmahel 2016). In seinem ausführlichen Artikel bemüht sich Šmahel, die beiden Rollen von Karl IV. in ihrer Vernetztheit darzustellen, um am Ende noch einmal auf den spezifisch tschechischen Blick auf ihn zurückzukommen, indem er fragt, ob es überhaupt berechtigt sei, Karl IV. als Tschechen anzusehen: »In den Zeiten, als man Jan Hus nicht hochleben lassen durfte, galt eben Kaiser Karl IV. als bedeutendster und größter Mann. Im Gegensatz dazu haben die national erweckten tschechischen Gebildeten den ›Vater des Vaterlandes‹ keineswegs besonders verherrlicht, was mehr oder weniger auch für die tschechischen Musiker und bildenden Künstler gilt. Des Kaisers Gestalt schaute Jahrhunderte vom Altstädter Brückenturm auf die Prager herunter, so dass man keine Notwendigkeit verspürte, ihm weitere Denkmäler zu bauen. Das bestätigt auch die Vorgeschichte des einzigen Denkmals Karls IV. aus dem ganzen 19.  Jahrhundert, dessen Enthüllung auf dem Kreuzherrenplatz im Jahr 1848 vom Revolutionsdonner übertönt wurde.

Der Herr vom Hradschin Deutsche Historiker, die in Böhmen und Mähren zu Hause waren oder dort wirkten, hoben in ihrer Mehrheit die Rolle Karls IV. zwar nicht besonders hervor, aber andererseits spielten sie diese auch nicht herunter. An den 500. Jahrestag von Karls Tod im Jahre 1878 erinnerten mehr Tschechen als Deutsche in Böhmen. Aus den Schriften und Editionen, die aus diesem Anlass erschienen sind, erzielte nur das schmale Bändchen des Universitätsprofessors Josef Kalousek mit dem Titel ›Karel IV., Otec vlasti‹ (›Karl IV., Vater des Vaterlandes‹) ein größeres Echo. Die Gründe dafür waren zum einen dessen apologetische Tendenz, zum anderen eine Reihe aktueller vaterländisch gefärbter Anspielungen. Eine besonders sensible Frage berührte er mit der Betonung, die er auf Karls Liebe zur tschechischen Sprache und auf dessen unverfälscht tschechisch-nationales Empfinden legte. Karl verhielt sich auch in dieser Hinsicht pragmatisch und den jeweiligen Umständen entsprechend. Grundsätzlich sah er sich als Bewohner des Königreichs (›Bohemus‹) mit einer Krone auf dem Haupt, keineswegs als ein reiner Tscheche.« (Ebd.)

Am Ende des Artikels heißt es: »Im weiteren Zeitablauf – und vor allem nach dem Zweiten Weltkrieg – war es in erster Linie die deutsche Geschichtsschreibung, die in der Erforschung der Persönlichkeit und Zeit Karls IV. herausragende Fortschritte machte. Die Tschechen hatten sich im 19.  Jahrhundert ihren Vater nicht nehmen lassen, und das reichte ihnen« (ebd.).

Es ist schon bemerkenswert, wie anders demgegenüber der deutsche Blick auf Karl IV. ausfällt, wofür hier nur kurz der auf faz.net veröffentlichte Kommentar von Andreas Kilb zur Jubiläumsausstellung erwähnt sei. Dieser steht unter dem Titel: »Er spielte Monopoly am allergrößten Tisch« (Kilb 2016). Im Untertitel heißt es: »Auf die Krise des Mittelalters antwortete er mit Realpolitik: Der Palais Waldstein in Prag feiert den 700. Geburtstag Kaiser Karls IV. mit einem Blick auf sein Leben und seine Epoche.« Kilb beginnt seinen Artikel mit dem Hinweis auf die Differenz des Verhaltens von Karl und seinem Vater bei einer militärischen Niederlage: »Bei Crécy […] reagierten Johann [Karls Vater; M. W.] und Karl auf das Debakel der französischen Ritterschaft, die vor ihren Augen im Pfeilhagel der britischen Bogenschützen verblutete, auf ganz verschiedene Weise. Während sich der Vater, obwohl vollständig erblindet, von seinen Gefährten auf sein Pferd setzen und ins Getümmel führen ließ, wo er fiel, ritt der Sohn in aller Stille vom Schlachtfeld. Für den Chronisten Jean Froissart, der den Kriegertod des Königs von Böhmen in seinem Bericht ausführlich rühmt, war Karls Verhalten ›schändliche Flucht‹. Andere zeitgenössische Stimmen berichten, Johann selbst habe seinen Sohn in Sicherheit geschickt, und wieder andere rühmen die Klugheit des Thronfolgers, der nicht für eine fremde Sache, den gerade beginnenden Hundertjährigen Krieg zwischen Frankreich und England, den Kopf hinhalten wollte. Indem er überlebte, konnte Karl seinen eigenen Kampf erfolgreich ausfechten.« (Ebd.)

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Kilb verweist anschließend darauf, dass Karl als Friedenskaiser im Gedächtnis blieb, der seine Feinde notfalls durch hohe Geldzahlungen beschwichtigte. Offenbar aktualisiert bei solchen historischen Rückschauen jeder fröhlich drauf los, denn ich nehme an, dass nicht nur ich beim Stichwort Realpolitik und dem Hinweis auf eine Beschwichtigung durch hohe Geldzahlungen an die deutsche Bundeskanzlerin denke, auch wenn diese es bisher gerade mal zur ›Mutti‹ gebracht hat. Andreas Kilb fährt fort: »Eine für zwei Länder konzipierte Schau wie diese, die ganz unterschiedliche Blickwinkel und Erinnerungskulturen in eins ziehen will, hätte entweder diese Unterschiede in der tschechischen und der deutschen Wahrnehmung, die bis in die Generationen direkt nach Karl hinabreichen, thematisieren oder aus den Grundzügen seiner Lebensgeschichte ein einheitliches Porträt zeichnen können. Die Ausstellung in der Waldstein-Reithalle geht beiden Alternativen aus dem Weg, indem sie jede von ihnen halbherzig bedient.« (Ebd.)

Kilb unterlaufen im Übrigen die bei der veröffentlichten Rede über Ostmitteleuropa üblichen Sachfehler, etwa wenn er von der »›Sitzfigur‹ Karls IV. am Altstädter Brückenturm« (ebd.) schreibt, die tatsächlich eine Standfigur ist. Weil es in der Auseinandersetzung mit Franz Spundas Roman Der Herr vom Hradschin wichtig werden wird, weise ich noch auf folgende Passage aus Kilbs Artikel hin: »Der ›Pfaffenkaiser‹, als der Karl seiner Papsttreue wegen bei seinen Gegnern verschrien war, ist heute kein Aufreger mehr, dafür umso mehr der Verräter an den Juden. Die Nürnberger Ausstellung zum sechshundertsten Todestag 1978 hat diesen Schandfleck fleißig übermalt, die Prager Schau zum siebenhundertsten Geburtstag macht es nicht besser. Der Kaiser, heißt es auf einer Texttafel, habe ›keine Möglichkeit zu einem flächendeckenden Schutz‹ seiner jüdischen Untertanen gehabt, so dass ›ein aus heutiger Sicht unsympathischer Pragmatismus‹ sein Handeln leitete. Tatsache ist, dass Karl im Gefolge der Pestwelle von 1349 die süddeutschen Juden nicht nur im großen Stil ihren Schlächtern auslieferte, sondern sich dafür noch bezahlen ließ. Eine Ausstellung, die das Andenken dieses Herrschers für die Gegenwart bewahren will, sollte seine Untaten nicht umschreiben, sondern klar beim Namen nennen.« (Ebd.)

Am Ende des Artikels heißt es: »Karl spielte Monopoly am größtmöglichen Tisch, und auch wenn seine Luxemburger am Ende nicht gewannen, profitierte doch das Reich, denn die Habsburger traten in ihre Fußstapfen und lenkten das brüchige Gebilde noch vierhundert Jahre lang, ehe Napoleon es zerfetzte.

Der Herr vom Hradschin So war die Herrschaft des ›Pfaffenkaisers‹ ein Triumph der Realpolitik. In Deutschland […] ist er so gut wie vergessen. In Tschechien dagegen […] ist er heute ein Nationalheld. Das alles hätte die Prager Ausstellung mehr oder weniger ausführlich und womöglich sogar unterhaltsam erzählen können, aber dazu fehlte ihr wohl, wie es so schön heißt, das Narrativ. Vielleicht ist es bei den vielfältigen bilateralen Konsultationen, Dienstreisen und Strategiegesprächen, die ihr vorausgegangen sein müssen, unterwegs verlorengegangen. Jedenfalls darf man gespannt sein, ob es sich bis zum Oktober, wenn die Schau ins Germanische Nationalmuseum in Nürnberg umzieht, irgendwo wiederfindet. Die Suche könnte sich lohnen.« (Ebd.)

Was den Pragern nicht gelungen ist, sollte in Nürnberg also vielleicht noch möglich werden, obwohl dort die gleiche Ausstellung gezeigt wurde. Man kann das durchaus als Zuschreibung verstehen, dass die nationalistischen Tschechen zu einem ausgewogenen Bild ihres Landesvaters nicht fähig sind; die Chance zu einer besseren Einschätzung läge dann darin, dass die Deutschen auch Karl IV. – wie so vieles andere aus ihrer Geschichte in Mittelosteuropa – vergessen haben. Zuletzt aber bleibt nur der aus meiner Sicht durch nichts gedeckte, aber ja nicht unübliche Optimismus eines deutschen Feuilletonisten, dass es doch die Möglichkeit eines gemeinsamen Blicks von Tschechen und Deutschen auf die gemeinsame Geschichte geben müsse. Den hätte man sich aber nach dem Fall des Eisernen Vorhangs erst einmal erarbeiten müssen, was nicht geschehen und angesichts der aktuellen Konstellation nun wohl als das entscheidende politische Versäumnis der letzten Jahre des 20. Jahrhunderts zu beschreiben ist. Bevor ich Franz Spundas Der Herr vom Hradschin. Roman Kaiser Karls IV. in den Horizont des bis hierher Entfalteten rücke, bedarf es eines kurzen Abrisses der Biographie des Autors. Spunda wurde am 1. Januar 1890 in Olmütz geboren und starb am 1. Juli 1963 in Wien. Er studierte Romanistik, Kunstgeschichte, Philosophie und Germanistik in München, Wien und Berlin. Bei Studien in Paris kam er in Kontakt mit der Alchimie und der Mystik, die er später in seinen Büchern immer wieder thematisierte und gegen eine aus den Fugen geratene Welt stellte. Er promovierte 1913 und war bis 1917 Soldat im Ersten Weltkrieg. Danach war er zunächst für kurze Zeit Lehrer in Mährisch-Ostrau, dann bis 1945 Gymnasialprofessor in Wien. Er unternahm zahlreiche ausgedehnte Reisen nach Griechenland, das ein zentrales Thema seines Schreibens wurde, und in den Orient, verfasste Lyrik, ab 1921 auch Romane. Nach eigenen Angaben schrieb er in den 1930er Jahren für den Völkischen Beobachter, wurde im Juni 1932 Mitglied im NS-Lehrerbund und gab später auch an, Mitglied der NSDAP gewesen zu sein. 1933 wurde er Mitglied im Bund deutscher Schriftsteller Österreichs und nach dem ›Anschluss‹ 1938 Landesleiter des Reichsverbandes deutscher Schriftsteller für Österreich; im selben Jahr beantragte er die Aufnahme in die Reichsschrifttumskammer.

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Im Juni 1945 ersuchte Spunda im Nachkriegsösterreich um Befreiung von der Registrierungspflicht im Zuge der Entnazifizierung und gab dazu an, dass er seit 1942 in Gegnerschaft zum Nationalsozialismus gestanden habe, wofür er 35 Zeugen anführte. Das Ansuchen wurde abgelehnt und die Registrierungspflicht im Oktober 1945 bestätigt. Spundas Versuch einer Anfechtung dieser Entscheidung bei der Einspruchskommission 1947 wurde ebenfalls abgelehnt. Im selben Jahr noch stellte Spunda einen Antrag auf Ausnahmebehandlung an den damaligen Bundespräsidenten Karl Renner, dem im April 1948 stattgegeben wurde. Nach 1945 war er freier Schriftsteller. Spundas Werke waren nach dem Zweiten Weltkrieg Gegenstand von Untersuchungen der österreichischen Zentralkommission zur Bekämpfung der NS-Literatur. Spunda hat bei dieser mit der Aussage, »daß ich als Schriftsteller mit dem Nationalsozialismus niemals etwas gemein hatte, im Gegenteil, daß ich mich seit Jahren in der Opposition zu ihm befand und immer die Ideale der Demokratie und Humanität vertrat«2 (zit. nach Strohdorfer 2015: 168), die Freigabe seiner Bücher beantragt. Es heißt im Antrag weiter: »Daß ich mich 1938 im falschen Idealismus blenden ließ, einer Partei beizutreten, die sich noch im gleichen Jahr als Gegner meiner geistigen Haltung entpuppte, war die größte Enttäuschung meines Lebens. Ich bitte daher um Aufhebung des Verbots meiner Bücher und dadurch um die Möglichkeit, mich ganz dem Neuaufbau im Sinne edler Menschlichkeit widmen zu können« (zit. nach ebd.).

Wie Claudia Strohdorfer ausführt, fragte das »Unterrichtsministerium […] im Februar 1946 beim Verband demokratischer Schriftsteller und Journalisten Österreichs um Auskunft über Spunda an. Der Vorsitzende des Verbands, Dr. Erwin Rollet, antwortete daraufhin, dass dieser laut eigenen Angaben ab 1932 Parteimitglied gewesen sei. Weiter heißt es in Rollets Schreiben: ›Er hat sich während der illegalen Zeit auch als Schriftsteller in den verschiedenen Schriftstellerverbänden extrem national und nationalsozialistisch betätigt, was auch in manchen seiner Bücher seinen Niederschlag fand‹ 3« (ebd.).

Von daher halte er es »aus optischen Gründen für absolut geboten, dass Arbeiten von Spunda gegenwärtig nicht erscheinen oder vertrieben werden« (Rollet, zit. nach ebd.). Auf eine weitere Anfrage zur entscheidenden Sitzung der Kommission am 27. Januar 1949, »in welchen Werken die nationalsozialisti2 | Österreichische Nationalbibliothek Verwaltungsakten, Konvolut Zentralkommission zur Bekämpfung von NS-Literatur, Brief Spunda an BMfU. 3 | Österreichische Nationalbibliothek Verwaltungsakten, Konvolut Zentralkommission zur Bekämpfung von NS-Literatur, Brief Rollet an BMfU, 24.2.1946.

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sche Einstellung Spundas zum Ausdruck käme« (ebd.), nannte Rollet die Romane Romulus, Wulfila, Alarich und Das Reich ohne Volk (die letzten drei sind die Romane von Spundas sog. Goten-Trilogie). Claudia Strohdorfer erzählt die Geschichte der Entscheidung lakonisch so zu Ende: »Die Lektorin Dr. Eva Obermayer-Marnach, die Spundas Bücher gelesen und beurteilt hatte, teilte diese Meinung nicht. Somit beantragte Hofrat Gans, der Direktor der Wiener Universitätsbibliothek, die Freigabe sämtlicher Werke Spundas. Der Antrag wurde einstimmig angenommen« (ebd.: 168 f.). Die Darstellung Franz Spundas auf den Internetseiten des Kulturportals West-Ost (vgl. Schremmer o. J.), das u. a. von der Kulturstiftung der deutschen Vertriebenen betreut wird, gelingt übrigens das Kunststück, mit keinem einzigen Wort auf die zentrale Frage an seinen Lebenslauf einzugehen. Dagegen hat ihn Klaus Amann in seinen Essays zur österreichischen Literatur nach 1918 als »amtsbekannt[en] […] Naziautor« (Amann 1992: 139) eingestuft, während wiederum Ludvík Vaclavék am Ende seiner ausführlichen Spunda-Studie »viel Gegensätzliches und sich Veränderndes« bei diesem Autor diagnostiziert hat, darunter: »[D]er europäische Kosmopolit nimmt für eine gewisse Zeit Parolen über ›nationale Sendung‹ und Rassenlehre ernst« (Václavek 2015: 201). Dem neuesten von Christoph Fackelmann und Herbert Zeman herausgegebenen Sammelband zu Franz Spunda liegt demgegenüber offensichtlich die Absicht zugrunde, Spundas Verstrickungen zu relativieren. So nennt Christoph Fackelmann in seiner »Einführung und Chronik« Heilige Berge im Chaos der Welt. Der Schriftsteller Franz Spunda zwischen Olmütz und Athos Spunda einen »Weltanschauungsdichter«, »dem man die Faszination noch heute schwerlich versagen kann« (Fackelmann 2016: 27). Spundas Schreiben gründe in einem »Diskursmilieu«, das er »gemeinsam mit zahlreichen anderen Autoren besiedelt, die zwischen Phantastik und okkulter Sachliteratur pendeln« (ebd.: 30). Fackelmann fährt immerhin fort: »Kaum eine Phase in der Laufbahn Franz Spundas ist vom Zusammenspiel mit diesem Bereich [der esoterisch-okkultistischen Geistigkeit] frei, am ehesten noch die Mitte der dreißiger Jahre, als der Autor den Anschluss an einen – zum Teil freilich durchaus mit jenen Sphären interagierenden – nationalistischen ›Aufbruch‹ der deutschösterreichischen Literatur sucht und explizit politische Fragen in den Geschichtsromanen wie aber etwa auch in der zweiten Fassung des griechischen Reisebuchs ein größeres Gewicht erlangen « (ebd.: 30 f.).

Die von der Biographie Spundas her somit naheliegende Frage an seinen 1942 publizierten Roman Der Herr von Hradschin hat schon Ingeborg Fiala-Fürst auf einer Franz Spunda geltenden, im Oktober 2014 in Olmütz abgehaltenen Konferenz gestellt, indem sie zunächst diagnostizierte, der Roman sei »sicher kein Juwel historischer Prosa und kein Feuerwerk sprachlicher, stilistischer und nar-

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rativer Originalitäten, sondern […] eine sehr klassische, ausgedehnt auf 540 Seiten teilweise recht langweilige, stellenweise kitschige historische Romanbiographie«, um fortzusetzen, dass diese »trotzdem Aufmerksamkeit verdient, wobei am interessantesten wohl die außerliterarische Frage erscheint: Inwieweit das Ideologiegut der nationalsozialistischen Zeit, in welcher der Roman entstanden ist, in den Text Eingang fand« (Fiala-Fürst 2015: 111 f.). Auch ich werde mich auf diese Frage konzentrieren, dabei aber auf den Punkt fokussieren, den ich schon mit dem anfänglichen Zitat von Josef Füllenbach eingeführt habe: die Frage nach der Multikulturalität Karls IV., genauer also: der spezifischen Darstellung der damals schon plurikulturellen Verhältnisse in Böhmen in Spundas Roman. Gleich am Anfang des Romans taucht dieses Motiv auf – in einer durchweg negativen Bewertung des Königs Johann, des Vaters Karls IV., durch den Olmützer Bischof Peter: »Der Luxemburger Johann ist ein Fremdling in diesem Land, das ihm durch die Heirat mit der letzten Přemyslidentocher Elisabeth zugefallen ist. Nur weil Prag reicher als sein verschuldetes Luxemburg ist, hat er seine Residenz an die Moldau verlegt, um Böhmen besser ausplündern zu können. Aber dabei haßt er die Böhmen und uns Mährer und macht sich über uns lustig, wenn er im Kreis seiner französischen Freunde schmaust. Doch die Königin hält zu uns und wird ihren Sohn zu unserem echten Landsmann erziehen. Aber der König wird aus ihm einen Luxemburger und halben Franzosen machen wollen.« (Spunda 1943: 12)

Dass diese Einschätzung nicht nur die des Olmützer Bischofs ist, wird klar, wenn auch der auktoriale Erzähler später äußert: »Die Slawen des Ostens waren ihm [Johann; M. W.] ein Abscheu. Er verachtete ihre Sprache und ihre Sitten, und er kam nur nach Prag, um dort viel Geld zusammenzuraffen, das er dann im Westen vergeudete.« (Ebd.: 39) Nach der Ernennung von Karl zum Markgrafen von Mähren heißt es dagegen: »Bisher erschien es jedem, ob Slawen oder Deutschen, erlaubt, seinen Herrn zu betrügen, einen Fremden, einen Cizinec [Fremden; M. W.]; doch jetzt galt es als Ehrenpflicht, dem Markgrafen zu helfen, den sie einen der Ihrigen nannten, einen Našinec [Unsrigen; M. W.]. Und als gar Karl bei der Kirchweih von Vršovic erschien und einige slawische Worte an den Dorfschulzen richtete, hatte er vollends das Herz der Prager gewonnen. Aber auch die Deutschen liebten ihn als einen der Ihrigen.« (Ebd.: 155)

Ingeborg Fiala-Fürst hat übrigens darauf hingewiesen, dass »viele tschechische Wörter […] im Roman in korrekter Rechtschreibung vor[kommen]: ›Maminko [Mama; M. W.], cizinec und našinec, miláčku [Honig bzw. ›mein Lieber‹; M. W.], Nebojte se, chlapci [keine Sorge, Jungs; M. W.], Náš Karel císařem!

Der Herr vom Hradschin

[unser Kaiser Karl; M. W.], zahradník [Gärtner; M. W.]‹ usw.)« (Fiala-Fürst 2015: 121), wobei dies bei einer späteren Ausgabe 2007 zu einer die Veränderung der Zeiten erweisenden Pointe führte, insofern der Verlag dem Buch einen Korrekturzettel beilegen musste, weil »einige tschechische Buchstaben vom Druckprogramm ›nicht akzeptiert‹ [worden seien], so dass es zu ärgerlichen Verzerrungen bzw. Umwandlungen von Buchstaben gekommen ist« (Spunda 2007: Korrekturzettel). Wofür Böhmen im Roman steht, wird an einer Szene mit Karl und seiner ersten Frau Blanka deutlich: »Doch eines konnte sie nicht verstehen, daß man hier in Leitmeritz deutsch sprach. War sie also in Böhmen oder nicht? Es bedurfte langer Erklärungen von Seiten Karls, der sie in Kenntnis davon setzte, daß seine Länder Böhmen und Mähren von Deutschen und Slawen gemeinsam bewohnt würden, so daß sich die Sprachgrenzen oft gar nicht bestimmen ließen. Es komme vor, daß eine Stadt einen slawischen Namen habe, aber alle ihr Bewohner seien Deutsche. Und mit den Menschen verhalte es sich ähnlich. Er stellte ihr Ritter seines Gefolges, gute Deutsche, mit slawischen Namen vor, während die Ritter Rysenberg und Sternberg sich stolz ihrer slawischen Abstammungen rühmten.« (Ders. 1943: 163)

In der Geschichte der Böhmischen Länder nennt man diese Gleichrangigkeit des tschechischen und deutschen Bevölkerungsanteils, wie er im frühen 19. Jahrhundert viele Anhänger hatte, Landespatriotismus oder Bohemismus. Steffen Höhne hat den Bohemismus als »Integrationsmodell für die Böhmischen Länder« beschrieben und ausgeführt, dass dieser »die nationalen Interessen und Divergenzen zwischen Tschechen und Deutschen zugunsten eines übernationalen Landespatriotismus aufzulösen [ge]sucht [habe] und dabei von einer prinzipiellen Gleichheit im Sinne einer allgemeinen, auch sprachlichen Gleichberechtigung der Böhmen ›slawischen wie deutschen Stammes‹ aus[ging].« (Höhne 2001: 625)

Solchen Landespatriotismus sieht Ingeborg Fiala-Fürst als zentrales Deutungsmuster des ganzen Romans: »Das Deutsche siegt also in Karl und ist – auch ohne die Bindung an die Hauptfigur – das siegreiche Prinzip im gesamten Roman und der positivste Wert. Aber – und dies ist das Überraschende in Spundas Werk –, ohne das Tschechische (besser: das Böhmische) zu erniedrigen, zu besiegen, zu schlagen. Nicht ein deutscher Nationalismus, sondern ein böhmischer Landespatriotismus wird im Roman durchgängig vertreten. So überlegt Karl beim Lesen alter Chroniken: ›Vieles erschien ihm wild und roh, aber überall erkannte er, wie doch der Wille zum Guten Sieger blieb. Die Böhmen sind ein gutmütiges Volk,

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Manfred Weinberg nur wünschen sie, daß man sie achtet und liebt.‹ (289) Oder: ›[I]m Osten konnte Böhmen allein mit allen Reichsfeinden fertig werden. Doch nur unter einer Bedingung: der Deutsche mußte den Slawen verstehen und umgekehrt. […] Er durfte ihm nicht als hoffärtiger Herr entgegentreten, sondern sollte sich wie ein verständnisvoller Hausvater in dessen Seele einleben.‹ (447) Oder Karls Antwort auf die doch immer wieder auflodernden Spannungen zwischen Deutschen und Tschechen: ›Geht nicht in euren Familien Deutsch und Tschechisch durcheinander? Wer von euch Tschechen kann behaupten, daß er nicht einen Tropfen deutschen Blutes in seinen Adern hätte? Und ist es mit euch Deutschen in Böhmen anders?‹ (513) Und die mährische Idylle: ›Ob einer deutsch oder slawisch sprach, war dort ohne Belang. Man war eben in Mähren, wo es keinen Haß zwischen den beiden Zungen des Landes gab. Sollte es hier in Böhmen anders sein? Nein, das gefiel [Otschko] nicht.‹ (16) Freilich war der böhmische Landespatriotismus im Jahre 1942 ein reichlich verspätetes und längst nicht mehr praktiziertes Koexistenzprinzip, die zitierten Sätze muten an, als ob sie Bolzano 4 geschrieben hätte, und können wohl nur mit übergroßer politischer Naivität des Autors erklärt werden, doch sie sind da, sind im Jahr der Heydrichiade [also dem Mord am Stellvertretenden Reichsprotektor in Böhmen und Mähren Reinhard Heydrich; M. W.] geschrieben und gedruckt worden.« (Fiala-Fürst 2015: 121 f.)

Spundas Rekurs auf dieses Modell ist sicher anachronistisch, aber nicht notwendigerweise naiv. Im Übrigen lässt sich die Rede vom wirklichen Gleichgewicht mit einigen Stellen auch wieder relativieren, etwa wenn der König in den schmutzigen Gassen Prags unterwegs ist und es über die deutschen Viertel heißt: »Hier hatten die Bewohner auf eigene Kosten Trittsteine gelegt, während in den slawischen Teilen Prags die Gassen wahren Kotmeeren glichen« (Spunda 1943: 206). Ingeborg Fiala Fürst schreibt am Ende Ihrer Analyse: »Der böhmische Landespatriotismus steht im Roman allerdings im Dienste eines höheren, des Reichsgedanken: Die Böhmen – so (fast) gleichberechtigt sie Karl (und Spunda) auch haben möchte – ›sollen niemals vergessen, daß sie eingebettet im großen Deutschen Reich leben!‹ (289) Spundas Reichsgedanke ist keine deckungsgleiche zeit- und ideologie-geschichtliche Variante des ›Europäertums‹, das die Nachkriegshistoriker Kaiser Karl IV. häufig anhängen, sondern Spundas originelles geistiges Gebäude […]: Das Reich, das bereits im Knaben Nachdenklichkeit hervorruft, so dass er von seinen Lehrern Peter Roger und Baldewin wiederholt Aufklärung verlangt, ist noch nie dagewesen, ist wie ein Dom [›wer nur einen Stein zum Weltendom des kommenden Reichs herbeiträgt, hat schon Großes getan‹ (103)] und ist kein irdisches Gebilde: ›[E]s [geht] um mehr als Äcker und Städte. 4 | Bernard Bolzano (1781–1848) war katholischer Priester, Philosoph und Mathematiker. Er gilt als Begründer und wichtiger Vertreter des Bohemismus.

Der Herr vom Hradschin Wenn du die Welt verlierst, gewinnst du das Reich‹ (104), ›[d]enn es ist zugleich irdisch und göttlich.‹ (235) ›Das Reich! Wie die Sonne, ein alles belebender Glanz von oben. Es ist mehr, als wir alle aussagen können, denn es ist göttlich und menschlich zugleich. Wir Menschen können nur die eine Hälfte vollbringen, die andere liegt in Gottes Hand. Der Herr will uns in ihm ein Sinnbild einer höheren Ordnung geben.‹ (397) Dieses eminent geistige Gebilde des Reiches, das weder durch Gewalt, noch durch Krieg und Unterwerfung zu erreichen ist, sondern nur durch geduldige friedliche Tat und Gottes Gnade, wollte Spunda – so wage ich abschließend zu behaupten – dem neuen Dritten-Reich-Gedanken und dem Eroberungskrieg Hitlers entgegenstellen.« (Fiala-Fürst 2015: 122 f.)

Während Fiala-Fürst also den propagierten Landespatriotismus als naiv abtut, wird ihr der Gedanke vom »geistigen Gebilde des Reichs« zum Gegenentwurf zum Dritten Reich der Nationalsozialisten, was vielleicht dann doch ein wenig des Guten zu viel ist. Immerhin aber ist im Roman immer wieder vom »Heiligen Deutschen Reich« (etwa Spunda 1943: 185) oder nur »Deutschen Reich« (u. a. ebd.: 221), auch von »Deutschland« (ebd.: 259) oder sogar vom »deutschen Gral« (ebd.: 234) die Rede, nicht aber vom ›Heiligen Römischen Reich deutscher Nation‹. Um an dieser Stelle auf den vorhin schon erwähnten Antisemitismus einzugehen: Dieser spielt im Roman so gar keine Rolle. Anwürfe wie »Schmieriger als zehn Juden!« (ebd.: 267), der aber ausgerechnet dem Papst im Avignon gilt, oder die Aussage: »Noch ein solcher Tag, und ich muß zu den Juden betteln gehen.« (ebd.: 439), sind alles, was sich findet. Im Hinblick auf den Autor Spunda ist das die spannendere Diagnose als in Bezug auf den Protagonisten Karl. Stattdessen sind durchaus Ansätze zu einer auch über die Tschechen und Deutschen hinausgehenden Multikulturalität zu erkennen: Von Karls Tochter aus erster Ehe, Margaret, heißt es, dass sie in einer französisch-tschechischdeutschen »Mischsprache« (ebd.: 220) rede – etwa: »Podivej se ce qu’on m’a geschenkt« (ebd.). Und kurz darauf: »Margarethlein jauchzte: Grand père přijde zu uns!« (ebd.: 222) Negativ konnotiert ist diese Mischung im Roman nicht. Und mehr noch: An seinem Ende siedelt Karl auch noch muslimische Türken in Prag an, die er »halb erfroren« (ebd.: 505) auf der Rückkehr von seiner zweiten Reise nach Italien diesseits des Brenners ›aufgabelt‹: Er »überredete sie, mit ihm nach Prag zu reisen, wo er ihnen alle Förderung zuteil lassen wollte. Erst nachdem sie die Zusicherung erhalten hatten, daß sie in ihren religiösen Vorstellungen nicht gekränkt würden, sagten sie zu« (ebd.). Man liest weiter: »Einzelne Adelige des Gefolges gaben dem Kaiser zu bedenken, daß es böses Blut machen werde, wenn er den Todfeinden der Christenheit Herberge gewähre. [...]

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Manfred Weinberg Karl ließ sich aber nicht dreinreden. Er wies den Türken zwei Häuser im Judenghetto an. Es waren sechzehn Männer, dreiundzwanzig Weiber und neun Kinder. Er stellte ihnen Bauholz, Ziegel und Kalk zur Verfügung, daß sie sich ihr Gotteshaus erbauen konnten. Und bald ragte ein schlankes Minarett über die Dächer Prags auf, von dem der Muezzin das Lob Allahs über Juden und Christen sang.« (ebd.: 506)

Wenn das Miloš Zeman wüsste … Man steht also vor einer merkwürdigen Diagnose: Der »amtsbekannte […] Naziautor« Franz Spunda veröffentlicht 1942 einen Roman, in dem zwar immer wieder vom Deutschen Reich die Rede ist, dessen Darstellung aber nur als zumindest ein Abrücken vom Dritten Reich der Nationalsozialisten verstehbar ist, das vor dem Hintergrund von Karls Friedensliebe notwendig als barbarischer Aggressor erscheint. Zudem gründet der Roman geradezu auf einem Loblied der Plurikulturalität, meist im Zeichen eines böhmischen Landespatriotismus bzw. Bohemismus, gelegentlich – etwa in der Darstellung der Ansiedlung muslimischer Türken in Prag – auch darüber hinaus. Christoph Fackelmann führt dazu aus: »Fast ostentativ verschafft sich das utopische Potential der Geschichtserzählung Geltung: Es kreist um die christliche Idee vom ›Reich‹, die die Klammer für das in der Person des Herrschers physisch-psychisch zusammenfindende Zusammenleben der Slawen und der Deutschen bildet und letztlich als metaphysische Aufgabe und als Wunder begriffen wird. Die Klarheit und Deutlichkeit, mit der der Roman der Friedensliebe, Aufgeschlossenheit und Völkerverständigung das Wort redet und insbesondere – immer wieder auch mit tschechischer Begrifflichkeit – das untrennbare Mit- und Ineinander der deutschen und slawischen Böhmen statuiert, mutet vor dem Entstehungshintergrund – dem Protektorat, der gewaltsamen Okkupationspolitik im slawischen Osten mit dem Drohhorizont nationalsozialistischer Germanisierungsstragegien – in der Tat verwegen an. Der Roman akzeptiert die Prämissen einer biologischen Anthropologie, liest sie aber als Komponenten individueller ethischer Selbstfindung.« (Fackelmann 2016: 47 f.)

Wenn Fackelmann solcher vermeintlichen Verwegenheit dann allerdings auch noch die Diagnose anfügt, dass in ihm »die objektivierende, den auktorialen Erzählduktus brechende Gestaltungsstrategie ein Bündnis mit den Paradigmen dissidenten Schreibens eingeht« (ebd.: 46), scheint mir das eine dann doch übers Angemessene hinausgehende Diagnose zu sein, die immerhin mit dem Zugeständnis relativiert wird, dass der Roman »keineswegs schlackenlos, mit vielerlei Spuren der chaotischen, unausgegorenen Ära seines Hervortretens behaftet« (ebd.: 48) sei, wobei man allerdings in der Zuschreibung von Chaos und Unausgegorenheit durchaus wiederum eine Relativierung der »Ära«, in der die

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nationalsozialistischen Deutschen siegesgewiss und ideologisch verblendet in den eigenen Untergang zogen, erkennen kann. Christiane Caemmerer und Walter Delabar haben in ihrer Einleitung in den Sammelband Dichtung im Dritten Reich? wenn auch mit Fokus auf Deutschland, nicht Österreich-Ungarn, geschrieben: »Eine wissenschaftliche, insbesondere literaturwissenschaftliche Beschäftigung mit einem Autor dieser Zeit und seinem Werk kann also nur auf seine spezifische Position innerhalb der politisierten Kultur der Weimarer Republik und des Dritten Reiches zielen, vielleicht sogar getrennt für seine biographischen Entscheidungen, politischen Haltungen und literarische Produktion. Sie kann, will sie ihrem Gegenstand angemessen sein und zugleich aktualisierbares Wissen produzieren, zudem eigentlich nur in einen größeren Zusammenhang gestellt werden, der sich etwa in der Kombination der Thesen Detlev J. K. Peukerts und Zygmunt Baumans so formulieren ließe: die Weimarer Republik als die Krise der modernen Gesellschaft in Deutschland (Peukert) und das Dritte Reich als ihre katastrophische Konsequenz (Bauman). In diesem Kontext verliert die Frage danach, ob ein Werk oder ein Autor im engen Sinn nationalsozialistisch ist, an Sinn, denn mit mehr oder weniger großer Mühe ist beinahe jeder zeitgenössische Autor dem ›Dunstkreis des Nazimilieus‹ zuzuordnen oder verwendet Motive, die auch dort Verbreitung hatten. Über Apologie oder Opposition entscheiden oft nur unscheinbare Faktoren – wenn wir diese Entscheidung nicht zu großen Teilen den Rezipienten überlassen wollen. Die Frage verschiebt sich also von der nach der nationalsozialistischen Literatur zu der nach der Literatur im Nationalsozialismus.« (Caemmerer / D elabar 1996: 10)

Daraus wären nun in Bezug auf Franz Spunda Konsequenzen zu ziehen, doch war der Gegenstand der vorstehenden Ausführungen ja nicht die Frage nach dessen Stellung im Nationalsozialismus. Bezogen auf die anfänglich zitierte Forderung von Josef Füllenbach, den Multikulturalismus von Karl IV. anzuerkennen, lässt sich nun sagen, dass er sich weder im tschechischen Horizont reflektiert findet – František Šmahel muss gar warnen, Karl nicht nur als otec vlasti und böhmischen König, sondern überhaupt auch als Kaiser des Heiligen Römischen Reiches zu sehen – noch (jedenfalls nicht im zitierten Beispiel) in der aktuellen deutschen Rezeption: Andreas Kilb sieht Karl IV. Merkel’sches Machtmonopoly am allergrößten Tisch spielen und in Deutschland ganz in Vergessenheit geraten sein. Doch ausgerechnet beim »amtsbekannt[en] […] Naziautor« Franz Spunda findet sich demgegenüber eine Reflexion auf einen böhmischen Landespatriotismus und damit Multikulturalismus bei Karl IV.

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L iter atur Amann, Klaus (1992): Der Wort-Führer Kärntens. Josef Friedrich Perkonig und der »Anschluß«. In: Ders.: Die Dichter und die Politik. Essays zur österreichischen Literatur nach 1918. Wien, S. 133-151. Caemmerer, Christiane / Delabar, Walter (1996): Dichtung im Dritten Reich? Eine Einleitung. In: Dies. (Hg.): Dichtung im Dritten Reich? Zur Literatur in Deutschland 1933-1945. Opladen, S. 7-15. Fackelmann, Christoph (2017): Heilige Berge im Chaos der Welt. Der Schriftsteller Franz Spunda zwischen Olmütz und Athos. Einführung und Chronik von Christoph Fackelmann. In: Ders. / Herbert Zeman (Hg.): Franz Spunda (1890-1963). Deutschmährischer Schriftsteller, magischer Dichter, Griechenlandpilger. Studien und Texte. Wien, S. 25-65. Fiala-Fürst, Ingeborg (2015): Franz Spunda: Der Herr vom Hradschin. In: Motyčka (Hg.): Franz Spunda, S. 111-123. Füllenbach, Josef (2016): Finsteres Mittelalter? Über die multikulturellen Neigungen von Karl  IV. In: Prager Zeitung, 27.04.2016, http://www.prager zeitung.cz/index.php/home/kultur/20751-finsteres-mittelalter [31.03.2017]. Höhne, Steffen (2001): Böhmische Utopien. Der Bohemismus-Diskurs in der Zeit der Restauration. In: Walter Koschmal / Marek Nekula / Joachim Rogall (Hg.): Deutsche und Tschechen. Geschichte – Kultur – Politik. München, S. 624-637. Kilb, Andreas (2016): Er spielte Monopoly am allergrößten Tisch. In: faz.net, 31.05.2016, http://www.faz.net/aktuell/feuilleton/kunst/die-ausstellung-zukarl-iv-im-prager-palais-waldstein-14254344.html [31.03.2017]. Kokot, Michał (2016): Prager Winter. In: ZEIT-Online, 05.02.2016, http://www. zeit.de/politik/ausland/2016-02/tschechien-f luechtlinge-russland-hassislamophobie-feindseligkeit [31.03.2017]. Motyčka, Lukáš (2015) (Hg.): Franz Spunda im Kontext. Sammelband zur internationalen Konferenz, veranstaltet am 3.-4. Oktober 2014 in Olmütz. Olmütz. Schremmer, Ernst (o. J.): Spunda, Franz. In: Kulturportal West-Ost, https:// kulturportal-west-ost.eu/biographien/spunda-franz-2 [25.06.2018]. Šmahel, František: Na prahu roku císaře Karla IV. In: Lidové noviny, 02.01.2016 [dt.: Das Jahr des Kaisers. In: Prager Zeitung, 11.05.2016, http://www.prager zeitung.cz/index.php/home/geschichte/20791-das-jahr-des-kaisers-viellicht-und-etwas-schatten [31.03.2017]. Spunda, Franz (1943): Der Herr vom Hradschin. Roman Kaiser Karls IV. Berlin / Wien / München. Spunda, Franz (2007): Der Herr vom Hradschin. Kaiser Karl  IV. und seine Zeit. Biographischer Roman. Bad Schussenried.

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Der Kaiser bestimmt! Alanus ab Insulis’ Anticlaudianus und Heinrich von Mügelns Der Meide Kranz Amelie Bendheim

I. Gegenstand des vorliegenden Beitrags sind zwei literarische Werke, die dem modernen Leser zunächst wenig ansprechend erscheinen mögen. Ihr Potenzial als ›Nachttischlektüre‹ ist begrenzt und als Antwort auf die Germanisten nicht unvertraute Frage nach der momentanen Lektüre eignen sie sich ebenfalls nur bedingt, führt doch – abgesehen von der Titelnennung – jeder weitere Versuch der Präzision schnell in arge Erklärungsnöte: »Das Buch berührt die Ethik, dann streift es die Philosophie, ein andermal erreicht es die Freiheit der Mathematik, dann wieder die Tiefe der Theologie«, schrieb bereits Wilhelm Rath (Alanus ab Insulis 1966: 253) über den Anticlaudianus –, dessen Antwort die schiere Unmöglichkeit einer schlichten Inhaltsangabe im Kontext eines kurzen ›Bücherplauschs‹ eindrücklich belegt. Die stilistische Form sowie die hochentwickelte Rhetorik beider Texte erscheinen, verglichen mit unseren neuzeitlichen Lesegewohnheiten, nicht nur schwülstig, überladen und aufs Höchste befremdlich,1 sondern auch seltsam ungreif bar; denn noch jenseits von einem allegorischen Erzählen wird hier ein Spiel mit dem geistigen Gehalt von Bildern betrieben, dessen Sinn sich nicht mehr vollends verstehen lässt, ja, dem man sich eigentlich nur noch annähern kann. Und doch lohnt ein Einlassen auf den Gegenstand, denn in ihrem Aussagepotenzial sind die Texte, der

1 | Dazu betont Rath in Bezug auf den Anticlaudianus, dass es heute »einer zusätzlichen Unbefangenheit unserer Gefühle [bedürfe], um unsere Anteilnahme im Lesen nicht erlahmen zu lassen« (Alanus ab Insulis 1966: 47). In Hinsicht auf den mittelalterlichen Rezeptionskontext notiert Vollmann (1994: 65) demgegenüber, dass der Prunkstil (ornatus difficilis) ab der Mitte des 12.  Jahrhunderts zunehmend an Wertschätzung gewinnt.

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Anticlaudianus des Alanus ab Insulis (AC)2 sowie Der Meide Kranz (MK) Heinrichs von Mügeln (vgl. 2003), faszinierend und polarisierend. Gerade im unmittelbaren Vergleich eröffnen sie eine aufschlussreiche Perspektive auf anthropologische Vorstellungen und Diskurse, die sich in einem breiten Spektrum von konkreten gesellschaftlichen Fragen, wie der nach der Funktion von Herrschaft im Mittelalter, über philosophische Grundgedanken zur Erkenntnistheorie bis hin zur Frage nach der Idealität und der Möglichkeit der Erschaffung eines vollkommenen Menschen bewegen. Rund 200 Jahre liegen zwischen ihrer Abfassung,3 und genauso lange dauert es, bis ein Dichter überhaupt zum ersten Mal den AC in summa adaptiert. Heinrich von Mügeln bildet dabei die komplette Dichtung nach und extrahiert nicht nur einzelne Motive oder Gedanken (etwa die Fortuna-Schilderung oder den Marienpreis).4 Er wendet sich einem Werk zu, das über drei Jahrhunderte zu den meistgelesenen Büchern gehörte – das mehrfach glossiert, kommentiert, für volkssprachliche Fassungen bearbeitet und auch von Dante rezipiert wurde,5 ein Werk, dessen Dichter, Alanus ab Insulis, am Prager Hof (und hier insbesondere von Johann von Neumarkt, dem Kanzler Karls IV.) glühend verehrt wurde.6 Alanus wurde geschätzt, und das wohl nicht nur aufgrund seines ehrwürdigen Titels doctor universalis theologus philosophus et poeta, der ihn als

2 | Text zit. in der Übers. von Wilhelm Rath (vgl. Alanus ab Insulis 1966). Die Passagen im lateinischen Original können der Ausgabe von Robert Bossuat (vgl. Alain de Lille 1955) entnommen werden. 3 | Der AC wird auf ca. 1182-83 datiert, (s. auch Anm. 15), der MK auf ca. 1355 bzw. auf die Zeit nach dem Tag der Kaiserkrönung (5. April 1355), da Karl IV. bereits im Amt des Kaisers in die Rahmenhandlung einbezogen wird (vgl. zur Datierung die Einträge im Verfasserlexikon: Stackmann 1981: Sp. 817, sowie Ochsenbein 1981: Sp. 97). 4 | Insbesondere diese beiden Passagen (der Marienpreis, Buch V, und die FortunaSchilderung, Buch VII /  V III) werden häufig auch selbstständig überliefert (vgl. Huber 1988: 7). Huber nennt zudem eine Reihe weiterer Beispiele für Werkteile, die (nicht selten ohne ausgewiesene Zitierung) in andere Texte montiert werden (ebd.: Anm. 37). 5 | Vgl. Speer 1991: 108. Die meisten Handschriften der Alanus-Überlieferung fallen auf den AC (mehr als 119 Handschriften) sowie auf Alanus’ Jugendwerk De Planctu Naturae (133 Handschriften) und zeugen davon, dass die Texte wohl mindestens ein Mal in jeder großen Bibliothek vorhanden waren (vgl. Huber 1988: 5). Dante nimmt im Roman de la Rose und in der Divina commedia Bezug auf den Stoff. 6 | Johann von Neumarkt zitiert in seinen Briefen lange Passagen aus dem AC sowie aus De Planctu Naturae und scheint ein großer Verehrer seiner Schriften gewesen zu sein (vgl. AC 1966: 52).

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Kenner auf allen Gebieten geistiger Betätigung ausweist – ein Ehrentitel, der bis dato nur noch Albertus Magnus verliehen wurde.7 Und doch zeugt Heinrichs inhaltliche Bearbeitung des AC von markanten und die Interpretation fundamental beeinflussenden Differenzen, die in der Forschung bisher allzu randständig behandelt wurden.8 Ihnen will der Beitrag anhand der wohl frappierendsten Umformung, dem Auftreten (bzw. den Auftritten) keiser karls, auf den Grund gehen: Was macht der Kaiser plötzlich in diesem Text, in welcher Weise trägt seine Präsenz zu einer Veränderung des semantischen Gehalts bei, und ist MK noch heute gedanklich anschlussfähig?

II. Im Folgenden soll zunächst in aller Kürze ein inhaltlicher Abriss des AC vorgenommen werden, um ihn als herausragendes Dokument der Zeit zu identifizieren und das geradezu revolutionäre Potenzial des Textes deutlich zu machen. Denn: Was Alanus bereits in den ersten Versen proklamiert, widerspricht der zeitgenössischen literarischen Darstellung der Schöpfung als einer Welt ohne Makel. Der AC basiert auf dem gerade gegensätzlichen Gedanken der restitutio, d. h. eines notwendigen Neuanfangs bzw. einer Wiederherstellung einer Welt, die von Grund auf unvollkommen und verdorben ist. Der historische Kontext, in den sich Alanus mit seinem Werk einschreibt, ist als Zeit großer geistiger Umwälzungen zu bestimmen: eine Epoche, die geprägt ist von einer religiösen Auf bruchsbewegung, die sich in der Gottesfriedens- oder auch in der Kreuzzugsbewegung manifestiert, die eine Bewegung ›nach vorne‹ bildet und von Reformen geleitet wird, im Zuge derer es der Kirche beispielsweise allmählich gelingt, christliche Vorstellungen verstärkt in die Lebensgestaltung der Laien einzubringen. Vor diesem Hintergrund und der damit verbundenen Suche nach der Herstellung einer rechtmäßigen Ordnung richtet Alanus den Blick wieder ›nach hinten zurück‹, bekundet ein Weltverständnis, das die Welt als derart renovierungsbedürftig begreift, dass ein quasi sintflutartiger Neubeginn erforderlich wird. Auch wenn damit nicht der Anspruch einer realen Reformbewegung einhergeht, sondern die geforderte 7 | Die Bezeichnung findet sich in einem Bibliothekskatalog aus dem 15./16. Jahrhundert (vgl. Huber 1988: 3, Anm. 12, sowie Ochsenbein 1975: 11). 8 | Insbesondere zu MK fehlt (obwohl einiges an Vorarbeit geleistet wurde) nicht nur eine moderne Ausgabe, sondern vor allem eine Monographie über das Gedicht, bemängelt auch Stackmann (1981: Sp. 822). Heinrich und Alanus werden zu Recht als Repräsentanten für philosophische Fragestellungen genannt, ohne dass ihre Differenzen genauer analysiert würden (erste Ansätze dazu finden sich lediglich bei Stackmann 2006: 232, sowie Volfing 1997: 371 f.).

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Neuerung als Denkbewegung zu verstehen ist, ist das bekundete Urteil über die Schlechtigkeit der Welt doch radikal und muss für das klerikale Ohr der Zeit zumindest verstörend geklungen haben. Auch der im AC im Anschluss dargelegte Rettungsplan nimmt die Spannung des Eröffnungsdilemmas nicht zurück, sondern trägt weiter zu ihrer Verschärfung bei:9 Denn die missliche Weltenlage wird nicht etwa vom Schöpfergott, sondern von Natura allein einer Lösung zugeführt, die als personifizierte Gestalt die Schaffung eines neuen Menschen (homo novus) fordert: »Deshalb trachtet Natura / Jetzt einen neuen Menschen zu bilden, ihn glücklich zu schmieden, / Ihn vollkommen zu machen, und maßvoll ihn zu gestalten, / Daß sie durch ihn die alten Verfehlungen zudecken könnte« (AC, 5. Buch IV.: 205-208). Natura wird im Anfangsszenario zur treibenden Kraft, indem sie sich zu ihren Irrtümern bekennt und offenlegt, crimina, defectus, damna und pudor hervorgebracht zu haben. Schonungslos resümiert sie den Ist-Zustand,10 um aus diesem genauso radikal den Plan der Idee vom neuen Menschen abzuleiten: Die Tugenden werden zur Beratung herangerufen und schnell ist klar: das Vorhaben findet unisono Zustimmung, doch die Umsetzung übersteigt die eigenen Kräfte11 – schließlich kann Natura nur im Bereich der Seinswirklichkeit, im Gegensatz zu Gott also nur innerhalb des prokreativen Kausalzusammenhangs, schöpferisch tätig werden und damit den divinus homo (den göttlich-vollkommenen Menschen) allein nicht erschaffen. Die im Folgenden beschriebene Bewegung ist daher eine des Aufstiegs, eine, die sich in Richtung der göttlichen Sphäre orientiert, um von dort Hilfe zu fordern: die Tugend der Klugheit

9 | Die Art und Weise des von Alanus geforderten Erneuerungsplans muss in der damaligen Epoche als sensationell und ungewöhnlich gegolten haben, insofern er sich mit der christlich-scholastischen Welt des 12. Jahrhunderts nicht konfliktfrei auflösen lässt. Dass Alanus die Natur als »zweite Schöpfungsinstanz« versteht, hält auch Köhler für »bemerkenswert« (Köhler 1991: 59), während Evans in ähnlicher Weise ihr Unverständnis darüber bekundet, »wie Alanus mit seiner intellektuellen Neigung zur Theologie ein Werk wie den AC habe schreiben können« (zit. nach Speer 1991: 108). 10 | »O welche Schmach, daß auf Erden unsere Satzungen schweigen, / Weil die Liebe zu uns erschlafft, unser Ruhm selbst erkaltend / Stirbt, und wir auf Erden, als unnütz geächtet uns sehen! / Weil die Furie des Mords in der Welt die Zügel den Lastern / Schlaff überläßt und frohlockt über unser Volk im Triumphe, / Freude aus unserer Trauer sich saugt« (AC, 1. Buch VI.: 258-63). 11 | »Über ihr Können hinaus bemüht sich Natura; ihr eig’nes / Werk übersteigt ihre Kraft« (AC, 1. Buch I.: 12 f.). »Wo es um himmlische Dinge sich handelt, und ihr die Kenntnis / Eine Seele zu schaffen nicht eignet« (AC, 5. Buch IV.: 217 f.), muss sie die Hilfe des »höchsten Bildners Hand« (ebd.) verlangen.

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(prudentia)12 wird im Wagen zu Gott gesendet – »Deshalb befiehlt nun die Weisheit, daß man einen Wagen erbaue, / in welchem sie [die Klugheit; A. B.] den Himmel, das Meer der Sterne durchfahre« (AC, 2. Buch VI.: 320 f.)13 –, um von ihm das Kernstück, die Seele zur Menschschaffung, herbeizuholen. Doch, und dieser Gedanke scheint zentral, die Bewegung führt im Anschluss zu Natura zurück,14 die im letzten händischen Schaffensakt Körper und Seele vereint. Indem die bedeutende Rolle Gottes durch die ebenfalls ins Schöpfungswerk involvierte Natura ergänzt wird, lenkt Alanus den Fokus stärker auf den irdischen Bereich: In Zusammenarbeit mit den Tugenden formt Natura hier nicht nur den äußeren Menschenleib – dessen schöne Gestalt selbst Venus wieder in rasende Liebe versetzen würde (vgl. AC, 7. Buch I.: 43 f.) –, indem sie sich der irdischen Elemente (Luft, Feuer, Wasser) bedient und die Körpersäfte im rechten Verhältnis mischt. Gleichermaßen definiert sie auch sein Inneres, macht ihn zum zoon politikon (vgl. Höffe 2005: 620 f.), zum sozialen, politischen Lebewesen, das die Herrschaft der Welt »mit dem Zaum der Gesetze« (AC, 9. Buch VIII.: 387) lenkt. Als solches erweist sich seine Idealität, die Idealität der menschlichen Schöpfung, letztlich erst im finalen Kampf der Tugenden gegen die Laster, mit dem der AC schließt: »Also endet die Schlacht, der Sieg wird dem Jüngling, die Tugend / Richtet sich auf und das Laster fällt. Natur triumphieret« (AC, 9. Buch VIII.: 384 f.). Das Hauptwerk des Alanus, so kann an dieser Stelle festgehalten werden, erfasst die Frage nach dem Wesen des Menschen nicht mehr als rein theologisches Problem, sondern betrachtet sie als philosophisches Experiment. Die Schöpfung wird zum ›gemeinsamen Akt‹, der als Sache Gottes und der Natura die irdische Sphäre, das Diesseits, zum Entscheidungsraum ernennt. Alanus implementiert hier den Gedanken einer neuen geistigen Bewegung, die die menschliche Existenz zu ergründen sucht, ohne sie rein an die Schöpfungsinstanz Gottes zu binden. Das ist sensationell, und es ist die Bewegung in Richtung einer neuen Zeit, die, so die hier vertretene These, Heinrich von Mügeln in seiner AC-Adaption nicht nur erkannt, sondern in besonderer Weise reflektiert und aufgegriffen hat.

12 | »Wer also könnte besser das Amt des Gesandten erfüllen, / Als unsre Klugheit, der die Geheimnisse Gottes sich öffnen?« (AC, 2. Buch III.: 146 f.) 13 | Der Wagen wird von der Vernunft gelenkt und von den Sinnespferden gezogen. 14 | »So kehret die Klugheit / Wieder zurück zu den sie mit Sehnsucht erwartenden Schwestern, / Und überbringt der Natur das Himmelsgeschenk« (AC, 6. Buch VIII.: 484 ff.).

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III. Wenn Heinrich nun also 200 Jahre später das von Alanus um 1184 verfasste Werk adaptiert,15 nimmt er dabei eine bedeutende Veränderung vor,16 die sowohl das Raumschema als auch die damit verbundene Handlungsführung betrifft: Denn die kreisförmige Bewegungsdynamik im Handlungsverlauf des ACs (Natura – Gott – Natura) wird in MK in ein primär statisches Raummodell überführt. Die menschlichen Kräfte – und ich fasse unter diese hier ohne weitere Ausdifferenzierung die Künste (artes liberales) sowie die Tugenden – sammeln sich im Erzählraum, um ihre Zuständigkeiten abzuklären. Auch in Heinrichs Perspektive auf eine fokussierte Betrachtung ihres Wirkens am Ort agieren sie als Personifikationen, »in bestimmter Kleidung, mit bestimmten Gebärden« (Alanus ab Insulis 1966: 47). Was aber ist dieser raumstrukturellen Umgestaltung auf interpretatorischer Ebene zu entnehmen? Zunächst einmal verweist sie darauf, dass die Frage nach dem ascensus, dem Hinaufsteigen zu Gott bzw. zur höchsten Erkenntnis – die für Heinrich wie Alanus gleichermaßen dominantes Thema ist17 –, bei Heinrich nicht auf einer grundsätzlichen Erneuerung und Umwälzung basiert (vgl. Volfing 1997: 371 f.). Die Welt in MK ist da, als feststehendes System, in dem es nur darum geht, das Verhältnis der Mächte zueinander zu analysieren, Beziehungen und Relationen zu arrangieren und zu definieren. Was Alanus unhinterfragt und in symbiotischer Vereinigung beschreibt, nämlich das Zusammenwirken von Natura und Tugenden, wird hier nun zum vordergründigen Betrachtungsgegenstand – und die Weltenproblematik damit stärker auf der Ebene der Moral verhandelt. 15 | Die Datierung des AC schwankt. Generell dürfte, so ist mit Huber anzunehmen, die literarische Produktion des Alanus um die 1160er Jahre einsetzen (De Planctu Naturae, Ende der 60er), für den AC gilt als Abschlussdatum 1184 (vgl. Huber 1988: 2). 16 | Dass sich MK auf Alanus rückführen lässt, wurde bereits von Helm (vgl. 1897) und Huber (vgl. 1988, bes. Kap. 5: Heinrich von Mügeln – Alanus) untersucht. Die Bestimmung des genauen Bezugsverhältnisses bereitet jedoch Schwierigkeiten (vgl. dazu Stackmann 2006: 232). Auch andere Bezugstexte sind in der Forschung angeführt worden, etwa von Gierach (vgl. 1944), der als Quellentext u. a. das Gedicht Jugement dou Roy de Naverre von Guillaume de Machaut benennt, Helm (vgl. 1897) vermutet Motivbezüge zu Heinrich von Neustadts Gedicht Gottes Zukunft; vgl. zu weiteren möglichen Bezugsquellen auch Stackmann 1981: 822. 17 | Dieser Aufstieg setzt bei Heinrich jedoch eine stärkere, zunächst innerweltliche Auseinandersetzung mit moralischen Werten voraus und ist damit an ein Bildungssystem gebunden, das die Tugenden repräsentieren und vertreten. Es geht damit nicht, wie im AC, um den ascensus mentis ad deum, die unmittelbare Gottesschau (vgl. ders. 2006: 232). Ähnlich definiert auch Huber die Auseinandersetzung mit dem ascensus in MK als »horizontale, weltimmanente Kommunikation der Mächte« (Huber 1988: 392).

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Heinrich bedient sich hierzu, so ließe sich in bildlicher Veranschaulichung konstatieren, eines sportlichen Wettkampfszenarios: Zwei Wettbewerbe werden in direkter Aufeinanderfolge ausgetragen, als vorrangig treten dabei jeweils zwei Aspekte hervor: zum einen die (in jedem sportlichen Wettbewerb) zentrale Frage nach dem Sieger, zum zweiten die Bestimmung desjenigen, der ihn als solchen erwählt und kürt. Im Artes-Wettstreit treten zunächst die Künste gegeneinander an: Das Teilnehmerfeld ist auf zwölf begrenzt, der Spielmodus lässt sich am ehesten als Spiel ›jeder gegen jeden‹ beschreiben, bei dem sich jedoch die Kontrahenten direkt auf dem Kampffeld gegenüberstehen: Sie alle haben quasi ein Auswärtsspiel im idyllischen Stadion in »der Naturen lant« (MK: 896) – eine Rückrunde ist nicht vorgesehen. Die Künste versammeln sich entsprechend auf dem anger, einer Fläche vor dem Palast der Natur, deren ideale Beschaffenheit der Dichter explizit herausstreicht: »Was man von zierde mochte sagen, / das sach man gar den anger tragen« (MK: 959 f.). In einer solchen ausgestellten Pracht, heißt es, tragen selbst die herrlichen Blumen untereinander Wettkämpfe gegeneinander aus, um sich in ihrer Schönheit zu überbieten.18 Das Turnierformat ist darauf ausgelegt, durch einen Vergleich der Leistungen den besten ›Spieler‹ zu ermitteln; zur Erhöhung der Spannung wird der Turniersieger erst am Ende bekannt gegeben. Die Spielform besteht in einem Wortgefecht, in dem jede der zwölf Künste die Möglichkeit erhält, durch wörtliche Rede ihre Vorteile zu präsentieren. So tritt beispielsweise die Gerechtigkeit hervor, die die falsche Gesinnung zu richten vermag, die Stärke, die »sam ein elefant« (MK: 1586), »sam ein turm« (MK: 1595) alle Last trägt, oder die Wahrheit, die sich durch die Verwendung von Worten auszeichnet, die alle Zeit das gleiche bedeuten. Um im Anschluss die Gewinnerkunst zu bestimmen, erscheint als richtende Instanz keiser karl19 (die Frage nach dem Warum soll an späterer Stelle geklärt und hier zunächst sein Aufgabenfeld abgesteckt werden). Er ernennt die Theologia zur Siegerin, die sich damit als Leitfigur unter den verschiedenen Wissenschaften ausweist. Sie besteigt in der Folge zwar kein Podest, ihre Überlegenheit aber wird durch eine ähnlich aussagekräftige Raumsemantik zum Ausdruck gebracht, gebührt ihr doch im wahrsten Sinne des Wortes der Vorrang in der Marienkrone. Karl begründet sein Votum mit dem Ausspruch, dass er »nie falschen spruch […] in ir [der Theologie; A. B.] fant«, und untermauert: »darümb üch allen si bekannt, / das sie die wirde sülle han« (MK: 859 ff.). 18 | »Die blumen blank, die brun, die bla, / und alles, das da farben heißt, / damit der anger was bereist, / die kurz, die lang, die lenger was, / als sie naturen linie maß« (MK: 952-56). 19 | Die Legitimation als Richter leitet sich daraus ab, dass ihm »got und Naturen ticht« (MK: 113) die Herrschaft verliehen haben. Die königliche Rolle wird damit in doppelter Form ständisch bzw. naturrechtlich sowie durch den göttlichen Seinsrang (natura et gratia – König von Natur und Gottes Gnade) begründet.

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Kaiser Karl IV. und die personifizierten Künste und Wissenschaften. Die kolorierte Federzeichnung aus der Heidelberger Liederhandschrift (Cod. Pal. germ. 14, Bl. 002v) zeigt, wie die Artes einander mit erhobenem Finger wild gestikulierend gegenüberstehen.

Quelle: http://digi.ub.uni-heidelberg.de/diglit/cpg14/0012/text_heidicon [25.06.2018]

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Interessanter aber noch als der Sieg an sich scheint, dass mit seiner Bekanntgabe die Wettbewerbsstruktur zum Teil wieder ausgehebelt wird: Denn die Theologie darf zwar vorne in der Krone stehen, hervorgehoben wird aber gleichermaßen, dass auch den anderen Künsten ein Platz in der Krone zukommt: »Iedoch der andern wirdikeit / gebot des keisers nicht versneit. / Er ließ sie in der krone stan, / doch musten sie zu hinderst gan« (MK: 785-88).20 Anstelle eines Ausscheidens durch $3. o. wird also ein ›Nebeneinander-gut-Sein‹ toleriert, die erste ist (lediglich) Primus inter Pares.21 Der alleinige Vorrang der Theologie wird so aufgebrochen, die anderen Künste an sie angenähert. Bedeutungstragend  – wenn auch in der sportlichen Auseinandersetzung nicht unüblich –, ist zudem, dass Kampfgericht und Auszeichnung des Siegers von verschiedenen Instanzen übernommen werden: Karl kann als Preisrichter zwar bewerten, der Akt der Krönung aber muss von der Natur vollzogen werden.22 Mit dem Krönungsprozedere verbindet sich damit ein deutliches Votum zugunsten eines feststehenden Ordo-Gefüges: Die vom Kaiser gesetzte soziale Herrschaft muss als Naturgebilde begriffen werden, wird als göttliches Ordnungsgefüge der Welt präsentiert. Dem Zweigespann aus richtendem Kaiser und Natur, die im Verbund agieren, ist damit eine fundamentale Aussage über Herrschaft zu entnehmen. Dass sich die Lage noch weiter zuspitzt, wäre allerdings auch im Sport ein Novum: Denn die zur krönenden Instanz bestimmte Natur braucht nicht nur Krönungsbeistand,23 sondern gerät mit diesem dann auch noch in Streit: »Zu disputieren hebet an / Nature mit den tugenden gar« (MK: 1359). So führt die Ankunft der Tugenden im Folgenden zu einem weiteren Anschlusswettbewerb: Ohne hier genauer auf die Argumentationslinien der Kontrahenten eingehen zu wollen, scheint das Ergebnis von eminenter Bedeutung: Die Theologia ernennt die Tugenden als überlegen. Denn diese, so wird ihre Entscheidung begründet, stammen von der höchsten Kraft, von Gott: »von got ein ieglich tugent

20 | »Die Ehre der anderen aber wurde durch das Diktum des Kaisers nicht geschwächt [wörtlich: zer- /  b eschnitten]. Er ließ sie (ebenfalls) in der Krone stehen, auch wenn sie weiter hinten erscheinen mussten« (Übers. A. B.). 21 | Stackmann spricht davon, dass die Künste ›geadelt‹ werden; sie haben keine dienende Stellung mehr, sondern tragen zum Ruhm der Gottesmutter bei (vgl. Stackmann 2006: 223). 22 | Eine Scheidung zwischen dem Akt der Wahl des Kaisers und dem (möglichst neutral zu wählenden) Ort seiner Krönung war auch ein in der Realgeschichte übliches Verfahren. So fanden die meisten Wahlen im Mittelalter in Frankfurt statt, während die Krönung in Aachen erfolgte. 23 | »Es queme dann der tugend schar /und sie mir hülfen krönen gar« (MK: 1043 f.).

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get« (MK: 2224).24 Bei den Tugenden handelt es sich damit nicht um naturgegebene, von der Natura verliehene Anlagen, sondern um Eigenschaften, die der Mensch erlernen, eigenständig und willentlich ausbilden muss. Die Superiorität des Tugendprinzips ist letztlich der Kulminationspunkt des Wettbewerbs: Sie lässt sich nicht durch sachliche Vergütung honorieren, sondern bildet einen geistigen Sieg, der sich mit dem immateriellen Wert der Ehre verbindet: »untugent ist der eren tot« (MK: 2281). Der Erkenntnisweg des Menschen, der Weg zu höherer Vollkommenheit, führt, so macht der Gang der Wettbewerbsstruktur deutlich, über die Rationalität der Artes (Künste) hin zu ethischen Normen (Tugenden): »Nach dem Durchgang durch alles Lern- und Wissbare steigt der menschliche Geist über die moralische perfectio zu Gott auf«, konstatiert auch Huber (1988: 301; Hervorh. i.O.). Der Vergleich mit dem AC macht deutlich, dass die im Ursprungstext erfolgende Einbindung der Natura in den göttlichen Akt der Erschaffung des neuen Menschen im Ursprungstext bei Heinrich weiter zugunsten einer inneren Formung verschoben wird.25 Der Mensch wird stärker in die Suche nach der göttlichen, höchsten Erkenntnis eingebunden. Das anthropologische Bild vom vollkommenen, neuen Wesen als Abstraktum, das das Werk des Alanus entwirft, macht den Menschen zwar ebenfalls zum wesentlichen, jedoch passiven Objekt einer umfassenden Schöpfung – d. h. die Neuerungsbewegung wird noch größtenteils aus dem betroffenen Subjekt selbst heraus gelegt, der Arbeitsprozess an ihm erhält ›Werkstattcharakter‹: Am Exempel, am Vorzeigemenschen, wird in verteilten Rollen geformt,26 gebaut und geschmiedet.27

24 | »Tugent ie uß gote was / und floß uß sines herzen grund« (MK: 2236 f.) sowie: »damit so stet bewiset klar, / das tugent kumt uß gote fri / und nicht uß der nature si« (MK: 2254 ff.). 25 | Hier spiegelt sich auch der theoretisch formulierte Bezug zwischen Mensch und Natur wider, den Zimmermann /  S peer für diese Zeit konstatieren: Mit der Entdeckung der Natur verbindet sich zugleich die Entdeckung der Autonomie des Menschen (vgl. Zimmermann / S peer 1991b: V). Aus der veränderten Sicht auf die Natur und einem veränderten Deutungsmuster, das sich von offenbarungstheologischen und symbolischen hin zu Erklärungen kosmologischer und naturphilosophischer Art entwickelt, leitete sich damit ein wachsendes Selbstbewusstsein des Menschen ab, das in MK in literarischer Form artikuliert wird. 26 | Aus reinen Elementen formt Natura den Leib des Jünglings: »Also entnimmt sie der Erde, was immer an reinen Substanzen / Diese enthält […] vermischt es, und während sie so das / Künftige Werk bereitet, richtet des menschlichen Leibes / Stoffe sie zu und zeichnet den Grundriß des künftigen Werkes« (AC, 7. Buch I.: 12-19). 27 | »Und so schmiedet ein Werk sie als Krönung all ihrer Werke« (AC, 1. Buch I.: 5).

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In MK wird mit der fokussierten Betrachtung des irdischen Geschehens auch das deterministische (kosmische) Prinzip weiter zurückgenommen.28 Der Text fordert das radikale Involviertsein des Menschen von Beginn an:29 Betont und diskutiert werden jene Werte und Fähigkeiten, die den Einzelnen zum aktiven Subjekt seines Handelns machen. Er muss sich selbst als ›Idealen‹ schaffen, wird zum Selbstschöpfer bzw. Bewirker seiner göttlich vorgesehenen Vollendung, von dem verlangt wird, sich in einer Erkenntnisbewegung von der Welt dem Höchsten zuzuwenden: »Zu dir [Gott; A. B.] stet aller geiste ger« (MK: 26).30 Die konzeptuelle Neuerung, die im AC bereits angelegt ist und die Alanus mit seinem Werk fordert, nimmt in MK nicht mehr eine gesellschafts- und zivilisationskritische Stoßrichtung ein, sondern zielt auf eine primär geistige Erneuerung. Daraus folgt jedoch nicht, dass das Fatum keinerlei Bedeutung mehr hätte: Die einflussnehmende Kraft des astronomischen Determinismus wird auch in MK deutlich hervorgehoben, so heißt es etwa, die Waagekinder hätten nur wenig Chancen, ihrem Schicksal zu entkommen,31 während die unter dem Sternzeichen Löwe Geborenen über Vernunft, große Kraft und scharfe Sinne verfügen. Dieses Schicksal aber wird nicht mehr als unausweichliche Bestimmung begriffen und entsprechend auch in der Erzählstruktur in die Peripherie der Schlussverse geschoben; Gestirneinflüsse sind vorhanden, entfalten ihre Macht aber nicht als Naturkausalitäten, sondern werden der göttlichen Providenzia, der Überlegenheit eines geistlich-religiösen Prinzips, unterstellt.32

28 | D. h., der Naturkausalität wird die Frage des ethischen Aktes entgegengestellt, auch geschichtliche Entwicklungen (Häresien, Revolutionen) unterliegen nicht mehr allein der Determination von Gestirneinflüssen und dem Wirken der Natur. 29 | Dieser ›Verhandlungscharakter‹ moralischer Werte und Fähigkeiten, der das Werk Heinrichs eröffnet, bildet bei Alanus den letzten Schritt im Schöpfungsakt. 30 | »Nach dir begehrt ein jeder Geist« (Übers. A. B.). 31 | Zum Sternzeichen Waage heißt es: »welch mensch darinn geboren wirt, / von dem ist selikeit gefirrt. / nach falschen dingen stet sin ger / und ist ouch aller truwe ler […] was in dem zeichen man beginnt, / es selden ende gut gewinnt« (MK: 2475-88); zum Löwen: »welch mensch geboren wirt darinn, / vernunst es hat und scharfen sin. […] und hat in armen große kraft« (MK: 2439-42). 32 | Hierzu auch Kibelka (1963: 194): »Das letzte Wort hat die Gnade Gottes und nicht das heidnische Fatum«.

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IV. »Eins armen sinnes ist der man, / der stete ticht nach alder ban / und selber findet nuwes nicht« (MK: 77-79) – den Anspruch, dichterisch etwas Neues zu schaffen, den Heinrich zu Beginn eigens artikuliert, hätte er, nach der hier vorgeschlagenen Deutung, also eigentlich schon eingelöst.33 Warum, so stellt sich die Frage nun umso vehementer, muss auch noch Karl auftreten? Zu ihrer Beantwortung wird im folgenden Teil des Beitrags das Mischverhältnis von Allegorie und Zeitgeschehen auf der Erzählebene betrachtet, ein Mischverhältnis, das Alanus in dieser Form noch völlig unbekannt war (vgl. Huber 1988: 17) und das auch neuzeitliche Forschungsansätze bis dato nicht abschließend klären konnten. »Diß buoch hat ouch geticht meister Heinrich von Mügelin, zu eren den hochgelobten fürsten keiser Karle den vierden, der ein wares heil was des richs, der erden und des meres ein wirdiges register, ein fürste des friedes, des rechten und gerechtes ein widerfestunge« (MK, Prätext; Hervorh. A. B.). Bereits der kaiserliche Lobgesang, der dem eigentlichen Beginn noch voransteht, zeigt unübersehbar: Heinrich macht Karl ganz groß!34 Die folgenden 43 Textreferenzen auf den Kaiser, in denen dieser vier Mal auch namentlich genannt wird, sowie die ihm attribuierte Aufgabe, den Artes-Wettstreit zu entscheiden, weisen ihn als idealen Fürsten aus. Es besteht kein Zweifel: Der Kaiser ist der Richtige, er stimmt, weil er bestimmt.35 Eine relativ simple und nicht zeituntypische Erklärung, warum Heinrich Karl Zutritt in seinen Text verschafft, ließe sich mit Referenz auf das Mäzenatentum finden: Heinrich, so ist zu vermuten, wurde vom Hof bezahlt, der Kaiser war entsprechend bereits Mäzen oder der Text Möglichkeit, sich bei ihm gegen eine Entlohnung zu bewerben.36 Mit dieser über den Kontext argumen33 | Entsprechend ist auch Huber zu lesen, der das Zusammenspiel von Natur und Tugenden als konzeptionelle Neuerung begreift (vgl. Huber 1988: 305). 34 | Unter Umständen bezieht er sich auf den Sieg im Thronstreit und die Kaiserkrönung in Rom. 35 | Der Kaisers wird zumeist in Form appellativer Anreden erwähnt, mit denen die Künste die Darbietung ihrer Eigenschaften und Vorzüglichkeiten einleiten, um die Notwendigkeit der jeweiligen Kunst für die Herrschaft des Kaisers zu untermauern (entsprechend spricht die Grammatik zu dem »waren kaiser«, MK: 170, geht die Rhetorik vor dem »werden keiser da«, MK: 270, und eröffnet die Arithmetik ihre Rede mit den Worten, »o warer keiser«, MK: 354). 36 | Generell, so betont auch Stackmann, sind sowohl Informationen über Heinrich selbst, über seine Beziehung zu Prag sowie zur Datierung seiner Werke nur vage zu bestimmen und zu ungenau, um daraus präzise Schlüsse über zeitgeschichtliche Konstellationen abzuleiten (vgl. Stackmann 2006: 236, Anm. 36).

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tierenden Lesart wäre das Kaiserproblem also relativ schnell gelöst – und durch das Kaiserlob zu Beginn sinnhaft verifiziert: »in lob dem kaiser Karlen« (MK: 83). Potenziell erkenntnisreicher als die »In lob dem kaiser«-Lesart ist hingegen eine zweite, die ihre Argumentation aus dem inneren Textgewebe generiert: Auf der Basis dessen, was der Kaiser im Text macht, welche Funktion Heinrich ihm im erzählten Weltgeschehen zuordnet, lässt sich eine andere (vielleicht auch zusätzliche) Interpretation begründen: Es scheint, und dies soll hier als These formuliert werden, dass Heinrich Karl als den Neuanfang, den vollkommenen Menschen betrachtet, den Alanus fordert.37 Was Alanus demnach abstrakt und in Form eines rein geistigen Exempels statuiert, wird nun in MK in eine politische Realität überführt und damit sinnlich fassbar. Der ideale Mensch als Ergebnis der Dichtung des Alanus bleibt der allegorischen Welt verhaftet, bleibt namenlose und damit unbelebte Vision. Heinrich aber betont bereits einleitend die für den Menschen notwendige ›Dinghaftigkeit‹ zur Erfassung geistiger Inhalte38 und bekundet damit ein Bewusstsein für ein kognitives Schema, das auch Czerwinski als zentrales Denkmodell der mittelalterlichen Epoche benennt,39 die er entsprechend als »Welt der vorherrschenden Dinglichkeit« (Czerwinski 1989: 22) bezeichnet: Denn die hier vorliegenden gesellschaftlichen Strukturen, so Czerwinski, befördern ein Denken, das unmittelbare Präsenz und Gegenwärtigkeit voraussetzt und sich folglich nicht als rein reflexiver Akt vollzieht. In einer Kultur, die auf Anwesenheit und Sichtbarkeit angewiesen ist (vgl. Schlögl 2014: 46), ist Reflexivität stärker an ein Konkretes, und Abstraktion an ein materielles Referenzobjekt gebunden. In diesem Sinne muss die mit der Einführung der realen Person Karls vollzogene Verlagerung der Geschichte in die Lebenswirklichkeit auch als bewusster Akt im Hinblick auf die prägenden geistigen Voraussetzungen einer Kultur und ihrer Zeit verstanden werden. Über den transzendenten Schöpfer heißt es, dass er oberhalb der Natur stehe (»naturen bundes bist du fri«, MK: 21), daher der räumlichen und zeitlichen Bestimmbarkeit enthoben (»kein maß der zit 37 | Der Ausgang des ACs beschreibt die Übernahme der Weltherrschaft durch den vollkommenen Menschen (»es lenket die Herrschaft der Welt mit dem Zaum der Gesetze / Jener vollkommene Mensch, den kein Stolz zerbricht und kein Hochmut / Stürzt und kein Frevel ungerecht macht, den der Wollust / Stachel nicht drängt, und den nicht vergiftet der Irrtum des Truges«, AC, 9. Buch VIII.: 387-90) und öffnet damit eine politische Dimension, auf die das Werk selbst aber nicht näher eingeht. 38 | »Wie menschen sin dich [Gott; A. B.] nie begreif, / in dingen du doch bist bekannt« (MK: 40 f.); »in dingen kenn ich dich« (MK: 47). 39 | »Deshalb«, so Czerwinski, »müsste […] wer Zeugnisse einer ›anderen‹ Gesellschaftlichkeit zu erklären unternimmt, über Kenntnisse der elementaren Strukturen jener Denkformen verfügen, die sie hervorgebracht haben« (Czerwinski 1989: 12).

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dich misset gra«, MK: 20) und nicht durch den menschlichen Verstand zu erfassen sei: »vernunst dich nicht begrifet min« (MK: 29), formuliert Heinrich, führt den Vers dann jedoch in bedeutsamer Weise weiter: »doch muß von not ein keiser sin« (ebd.): Notgedrungen muss es einen Kaiser geben, mit dem sich der Anspruch einer lebensweltlichen und lenkenden Instanz sowie die Bekundung verbindet, dass mit Karl der Zeitpunkt erreicht ist, die abstrakte Idee des neuen Menschen in eine historische Realität umzusetzen und aus der rein abstrakten Bildsphäre herauszulösen.

V. Die 700 Jahre, die zwischen Heinrichs MK und dem heutigen Rezipienten liegen, tun der Aktualität des Textes keinen Abbruch:40 Die Umformung, die den Kaiser zur zentralen, bestimmenden Instanz erhebt, zeugt von einem gesellschaftlichen Grundbedürfnis, einen zentralen Akteurs im politischen Raum zu etablieren, einer Projektionsfläche für Visionen, Vorstellungen und Veränderungen. Die ideale Welt, so scheint sich darin zu artikulieren, muss von dem repräsentiert werden, der sie schafft. Was Alanus als Spiel mit Sinnbildern einführt, ergänzt Heinrich um eine präsente Instanz – um eine reale Figur, die für eine Person und nicht mehr für ein Prinzip steht: Mit diesem ›ästhetischen Trick‹ intensiviert der Dichter gewissermaßen jenen Gedanken (der sich bereits) mit der Stilfigur der Allegorie verbindet – nämlich etwas Abstraktes zu versinnbildlichen, darauf zu verweisen, dass der abstrakten Welt gestaltende Geistesmächte und Wesenheiten zugrunde liegen.41 Heinrich fördert damit, so ist anzunehmen, die Attraktivität und Popularität des Textes weiter. MK bedient sich narrativer Strategien, die von einem Grundverständnis menschlicher Kommunikation zeugen: Heinrich, so wäre etwas platt zu formulieren, wusste, wie man seinen Publikum Inhalte zugänglich macht. Er arbeitet dem Defizit an personifizierter Konkretisierung entgegen, das auch heute in unterschiedlichen gesellschaftlichen Bereichen (und nicht zuletzt in Bezug auf das politische System) verschiedentlich beklagt wird: Prinzipien, Reformen oder geteilte Werte herrschen zwar im Abstrakten vor, zugleich wird ein Mangel an verbindenden Figuren (Gruppierungen oder Parteien) bekundet, denen diese

40 | Auch bereits bezüglich des AC notiert Rath, dass es sich, trotz seines Alters, um »ein aktuelles Werk« (Alanus ab Insulis 1966: 13) handle, das die Zukunft anvisiert, ein »Epos vom neuen Menschen« (ebd.: 12). 41 | Vgl. dazu auch die Definition Peter André Alts, der die Allegorie als »eine durch den metaphorischen Vertauschungseffekt gestützte Darstellung abstrakter Begriffsinhalte, eine Technik sprachlicher Verschlüsselung« begreift (Alt 1995: 6).

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Leitprinzipien zugeschrieben werden könnten, was letztlich zu einem Mangel an Identifikation führt. Als Akteur im sozialen und gesellschaftlichen Raum verbinden sich mit Karl konkrete bildungspolitische Impulse: Karl wird als urteilsfähiger Kenner und Beschützer der Künste ausgewiesen.42 Anders als im Marienleich Frauenlobs sind sie nicht mehr rein äußere Zierde der Marienkrone, sondern Ausdruck eines neuen Selbstbewusstseins.43 In diesem Sinne ist auch die bis dato einmalige Verschränkung von Herrscher- und Marienlob zu verstehen: der »maget« (MK: 61) wie auch dem »waren gotes frünt, künig Karlen« (MK: 63 f.) wird ein Näheverhältnis zu Gott zugestanden. Dem Höchsten jedoch kann man sich nur über die Dinge nähern, »in dingen du doch bist bekannt« (MK: 41), heißt es in MK, womit hier in einem engen Begriffsverständnis alles sinnlich Bemerkbare und vom Verstand Fassbare gemeint ist. Das Ding zu ergründen, sich ihm durch wissenschaftliche Vervollkommnung zu nähern und dabei ethisch zu bilden, wird zum Ziel menschlichen Wirkens und Seins. Karl wird demnach als ein Herrscher gelobt und seine Herrschaft damit bekräftigt, dass er durch die Förderung der Wissenschaften zugleich den Weg zu Gott, zur höchsten Erkenntnis fördert. Der Kaiser wäre damit weniger als irdisches Analogen zu Gott, denn als Mittlerfigur zur göttlichen Erkenntnis zu betrachten. Prag untersteht in der Zeit der Luxemburger einem gewaltigen Bildungsaufschwung, für den nur beispielhaft auf das Jahr 1348 als Gründungsjahr der Prager Universität referiert werden kann. MK muss auch im Rahmen dieser zeitgeschichtlichen kontextuellen Begebenheiten des 14. Jahrhunderts verstanden werden, die der Text sichtbar aufgreift, indem er in einer wettkampforientierten Auseinandersetzung zwischen Natur, Künsten (allgemeinen Wissenschaften) und Tugenden (ethischen Qualifikationen) die Frage nach deren Vorrang stellt. Der geforderte und abstrakt angedachte Neuanfang (die Schaffung des neuen, vollkommenen Menschen), so lässt sich MK entnehmen, ist von Karl IV. beispielhaft umgesetzt worden. Mit ihm bleibt das Ideal der geistigen Bildung, eine über Wissen geleitete Vervollkommnung des Menschen, zwar noch deutlich an die herrschende Elite gebunden, und es wäre zu Recht verfrüht, den Text einer aufklärerischen oder humanistischen Strömung zuzurechnen; dass MK jedoch bereits Ansätze und Impulse solcher Denkstrukturen entwirft und vertritt, scheint unverkennbar und trägt wesentlich zu seiner Modernität bei – Sieger bleibt die Theologie, aber sie hat Konkurrenz bekommen.

42 | Vgl. hierzu näher den Beitrag von Milan Tvrdík in diesem Band. 43 | Vgl. auch Stackmann, der von »eine[r] veränderte[n] Auffassung über das Verhältnis des Menschen zum Sakralen« spricht, dem der Mensch »mit stärkerer Betonung seiner Individualität und mit neuem Selbstbewusstsein« gegenübertritt (Stackmann 2006: 238).

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Gesicherte Aussagen über den Adressatenkreis des Textes sind nur schwer möglich, werden jedoch unweigerlich von der Tatsache aufgerufen, dass der lateinische Text des Alanus in deutsche Zunge übertragen wurde: Warum denkt Heinrich, der AC könne für einen breiten zeitgenössischen Rezipientenkreis von Interesse sein? Es ließe sich mutmaßen, dass MK ein Herrscherideal formuliert und sich entsprechend (im Sinne eines Fürstenspiegels) an den höfischen Adel richtet.44 Neben diesem Deutungsansatz, den die Mügeln-Forschung bisher konsensual vertritt, scheint der Text doch aber mehr zu sein: Mit ihm, und dafür möchte ich an dieser Stelle (in vermutlich nicht ungewagter Manier) plädieren, werden  – durch die Vorrang- bzw. Gleichstellung der Künste in Bezug auf Naturkausalitäten und Theologie – bereits grundsätzliche Gedanken eines Ideals der Bedeutung und Vermittlung von Wissen sowie Bildung formuliert, die MK in die Tradition eines bis heute in der europäischen Geistesgeschichte bedeutsamen Paradigmenwechsels stellen. Kann die Frage nach dem intendierten Publikum nicht abschließend geklärt werden, so lässt sich Heinrichs Text eines doch ganz sicher entnehmen: Weiter kann man den Wert der menschlichen Vernunft gegenüber einer rein affektiven ethischen Hinwendung zu Gott wohl kaum steigern, deutlicher kann man ein Bildungsideal in dieser Zeit wohl kaum artikulieren.

L iter atur Alain de Lille (1955) : Anticlaudianus. Texte critique avec une introduction et des tables. Hg. v. Robert Bossuat. Paris. Alanus ab Insulis (1966): Der Anticlaudian oder Die Bücher von der himmlischen Erschaffung des neuen Menschen: ein Epos des lateinischen Mittelalters. Übers. u. eingel. v. Wilhelm Rath. Stuttgart (auf den Text wird mit der Sigle AC verwiesen). Alt, Peter André (1995): Begriffsbilder: Studien zur literarischen Allegorie zwischen Opitz und Schiller. Tübingen. Czerwinski, Peter (1989): Exempel einer Geschichte der Wahrnehmung. Bd. 1: Der Glanz der Abstraktion. Frühe Formen von Reflexivität im Mittelalter. Frankfurt a. M.

44 | Hierfür sprechen auch die Apostrophen, die im Werk fortlaufend als rhetorisches Mittel in Anspruch genommen werden und mit denen diese spezifische Rezipientengruppe adressiert wird (s. als ein Beispiel: »darumb, ir fürsten, nu habt phlicht«, MK: 2284). Das Herrscherlob und die Sakralisierung Karls bestimmen auch Heinrichs Spruchwerk (vgl. Stolz 1994).

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Gierach, Erich (1944): Ein Vorbild für der Meide Kranz Heinrichs von Mügeln. In: Beiträge zur Geschichte der deutschen Sprache und Literatur 67, S. 243248. Heinrich von Mügeln (2003): Der Meide Kranz. In: Die kleineren Dichtungen Heinrichs von Mügeln. Zweite Abteilung. Hg. v. Karl Stackmann, mit Beiträgen v. Michael Stolz. Berlin, S. 47-203 (auf den Text wird mit der Sigle MK verwiesen). Heinzle, Joachim (Hg.): Literatur im Umkreis des Prager Hofs der Luxemburger. Berlin (= Wolfram-Studien 13). Helm, Karl (1897): Zu Heinrich von Mügeln. III. Heinrich von Mügeln, Heinrich von Neustadt und Alanus ab Insulis. In: Beiträge zur Geschichte der deutschen Sprache und Literatur 22, S. 135-149. Höffe, Otfried (2005): Art. »zôon politikon«. In: Ders. (Hg.): Aristoteles-Lexikon. Stuttgart. Huber, Christoph (1988): Die Aufnahme und Verarbeitung des Alanus ab Insulis in mittelhochdeutschen Dichtungen: Untersuchungen zu Thomasin von Zerklaere, Gottfried von Straßburg, Frauenlob, Heinrich von Neustadt, Heinrich von St. Gallen, Heinrich von Mügeln und Johannes von Tepl. München. Kibelka, Johannes (1963): Der ware meister: Denkstile und Bauformen in der Dichtung Heinrichs von Mügeln. Berlin. Köhler, Johannes (1991): Natur und Mensch in der Schrift ›De Planctu Naturae‹ des Alanus ab Insulis. In: Zimmermann / Speer: Mensch und Natur, S. 5766. Ochsenbein, Peter (1975): Studien zum Anticlaudianus des Alanus ab Insulis. Bern. Ochsenbein, Peter (1978): Art. »Alanus ab Insulis«. In: Kurt Ruh (Hg.): Die Deutsche Literatur des Mittelalters. Verfasserlexikon. Bd. 1. Berlin / New York, Sp. 97-102. Schlögl, Rudolf (2014): Anwesende und Abwesende. Grundriss für eine Gesellschaftsgeschichte der Frühen Neuzeit. Paderborn. Speer, Andreas (1991): Kosmisches Prinzip und Maß menschlichen Handelns. Natura bei Alanus ab Insulis. In: Zimmermann / ders.: Mensch und Natur, S. 107-128. Stackmann, Karl (21981): Art. »Heinrich von Mügeln«. In: Kurt Ruh (Hg.): Die Deutsche Literatur des Mittelalters. Verfasserlexikon. Bd. 3. Berlin / New York, Sp. 815-827. Stackmann, Karl (2006): Der meide kranz: Das ›nuwe ticht‹ Heinrichs von Mügeln. In: Zeitschrift für deutsches Altertum und Literatur 135, S. 217239.

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Stolz, Michael (1994): Heinrichs von Mügeln Fürstenpreis auf Karl IV. Panegyrik, Herrschaftslegitimation, Sprachbewußtsein. In: Heinzle: Literatur im Umkreis, S. 106-141. Volfing, Anette (1997): Heinrich von Mügeln. ›Der meide kranz‹: a commentary. Tübingen. Vollmann, Benedikt (1994): Prager Frühhumanismus. In: Heinzle: Literatur im Umkreis, S. 58-66. Zimmermann, Albert / Speer, Andreas (Hg.) (1991a): Mensch und Natur im Mittelalter. Bd. 1. Berlin. Zimmermann, Albert / Speer, Andreas (1991b): Vorwort. In: Dies.: Mensch und Natur, S. V-VIII.

Die deutschsprachige Übersetzung der Dalimil-Chronik Ein Versuch der politischen Legitimation der städtischen Eliten im Böhmen der Luxemburger? Éloïse Adde

Die Dalimil-Chronik ist die älteste in tschechischer Sprache geschriebene Chronik. Noch heute spielt sie eine wichtige Rolle als das zweite auf Tschechisch geschriebene Werk überhaupt. Das erste, die Alexandreida,1 wurde von einem unbekannten Verfasser zu Beginn des 14. Jahrhunderts geschrieben, in Anlehnung an die Romane von Gauthier von Châtillon (Latein) und Ulrich von Etzenbach (Deutsch) (vgl. Adde 2014a; 2014b). Die Chronik war aber insofern noch innovativer, als sie die tschechischen Angelegenheiten – und nicht die ›Taten‹ eines antiken und fremden Königs – behandelte. Der Autor plante, wie im Prolog (vgl. Brom 2009: 84)2 angekündigt, eine original tschechische Literatur zu begründen, um den ausländischen – vor allem den deutschen – literarischen Gepflogenheiten ein Ende zu setzen (vgl. Adde 2016b: 66-71).

1 | Es gibt ältere Zeugnisse der Benutzung der tschechischen Sprache vor allem im Kreis der liturgischen Literatur. Der älteste tschechische Text ist das Lied Hospodine, pomiluj ny [Kyrie eleison], das am Ende des 10. Jahrhunderts und Anfang des 11. Jahrhunderts verfasst wurde. Es ist aber mit acht Versen sehr kurz. Vgl. Hrabák 1959: 56 f., 59, 151. Andere kurze Texte wurden noch im 13. Jahrhundert auf Tschechisch geschrieben. Sie können in ihrer Bedeutsamkeit aber mit Texten wie der Alexandreida oder der DalimilChronik, die den Beginn der tschechischen Literatur markieren, nicht verglichen werden. 2 | Vlastimil Brom veröffentlichte in diesem Buch die originale alttschechische Version der Dalimil-Chronik nach der letzten Auflage samt ihrer Übersetzung in modernes Deutsch (Neuhochdeutsch), die Edition der mittelalterlichen deutschen Reimfassung sowie den Text des lateinischen Fragments. Zur letzten Auflage der Dalimil-Chronik vgl. Daňhelka et al. 1988.

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Obwohl der Name ihres Verfassers unbekannt ist, wird die Chronik seit dem 17. Jahrhundert allgemein als Dalimil-Chronik oder Chronik des sogenannten Dalimil bezeichnet.3 Sie wurde zwischen 1309 und 1313, d. h. im Kontext der Krise, die nach dem Tod Wenzels III.4 im Jahre 1306 ausbrach, geschrieben. Der Autor – ich werde ihn nachstehend Dalimil nennen – liefert seinen Lesern ein Zeugnis tschechischer Geschichte und betont die Notwendigkeit, alles zu tun, damit das Königtum Böhmen nicht in den Besitzungen des Hauses Habsburg aufgeht. Er beschreibt die zeitgeschichtliche Lage, die durch eine starke Unbeständigkeit geprägt war. Den Begriff »Interregnum«, den die Historiographie heute noch benutzt, für die Jahre 1306 bis 1310 zu verwenden, wäre aber nicht zutreffend. Wie im Fall des kaiserlichen Interregnums (1250-1273), dieser »kaiserlosen, schrecklichen Zeit« (Schiller o. J.: V. 16), in der jedoch zahlreiche Könige herrschten, hatte Böhmen in diesem Zeitraum zwei Könige, Rudolf von Habsburg (1306-1307) und Heinrich von Kärnten (1307-1310), und war keineswegs ein Land ohne Oberhaupt. Auch wenn diese Könige nicht geweiht wurden, verfügten sie über alle notwendigen Kompetenzen, um das Land zu beherrschen. Dalimil dramatisiert absichtlich die politische Lage, um die Notwendigkeit seines Programms zu unterstreichen. In seiner Chronik stellt er seine persönliche Weltanschauung und eine Reihe von Lösungen vor, die alle Merkmale eines politischen Programms aufweisen. Seiner Meinung nach entstand die Krise nicht aus den neueren Ereignissen, sondern aus zurückliegenden Veränderungen, die sich auf die böhmische Gesellschaft nachdrücklich ausgewirkt haben. Das Verhalten der böhmischen Herren, die ab dem 13. Jahrhundert allmählich auf ihre politische Teilhabe zu verzichten begannen und deshalb dem jüngst zum König erhobenen Herzog angeblich einen immer größeren Handlungsspielraum und weiträumige Machtbefugnisse überließen, führte laut Dalimil zu einer Verselbstständigung der königlichen Gewalt gegenüber dem Adel, der nach mittelalterlicher Vorstellung bei der Herrschaftsausübung eigentlich eng mit der Krone zusammenarbeiten sollte. Diese Entwicklung begünstigte seiner Ansicht nach die Einwanderung der Deutschen in Böhmen und die Herausbildung eines Bürgertums. Unter diesen Prämissen ist das Ergebnis eine stark deutschfeindliche Chronik, die noch im 19. Jahrhundert und

3 | Die Chronik wurde lange Kronika oder Kronika česká genannt. Zu Unrecht trug die Fürstenberger Handschrift den Titel Kronika Boleslavská. Da der tschechische Historiker Václav Hájek von Libočany († 1553) auch die Chronik des Boleslauer Kanonikers Dalimil von Mězeřice erwähnt, nahm der Historiker Tomáš Pešina von Čechorod (1629-1680) an, dass Dalimil der Autor der Chronik sei. Vgl. Bláhová 1995: 283; Jeřábek 1904: 62. 4 | Wenzel war der letzte Přemyslide. Er wurde im Jahre 1289 geboren und hatte, als er ermordet wurde, keine Kinder.

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zur Zeit der nationalen Wiedergeburt als Standarte der tschechischen Nation hochgehalten wurde. Trotzdem wurde sie früh ins Deutsche übersetzt. Zunächst in den Jahren 1330 bis 1346, und dann noch einmal um 1444. Doch mit welchem Ziel? Diese Frage soll hier im Mittelpunkt stehen. Im ersten Teil möchte ich versuchen, Dalimils Projekt und seine damit verbundene Absicht darzustellen. Dies ist notwendig, um den Sinn der deutschen Übersetzungen besser verstehen zu können, die ich schließlich im zweiten Teil analysieren möchte.

I.

D ie D alimil-C hronik : ein deutschfeindliches

Pamphle t ?

a. Das Bild der Deutschen bei Dalimil In den Achtzigerjahren des 20. Jahrhunderts schrieb die Germanistin Ingeborg Glier: »Die meisten deutschen Chronisten gehen glimpflicher mit den Juden um, als der Autor des ›Dalimil‹ mit den Deutschen.«5 (Glier 1987: 446) Ein solcher Kommentar ist für sich genommen bereits vielsagend. Obwohl sie nach dem Zweiten Weltkrieg, also nach dem Holocaust, schrieb, hat diese anerkannte Expertin der mittelalterlichen Literatur keine Hemmungen, das Los der Juden mit dem der Deutschen zu vergleichen. Natürlich geht es hier um in der Zeit des Mittelalters lebende Deutsche und Juden; in unserem Kontext ist es jedoch schwierig, nicht an die jüngere Geschichte zu denken, was aber auch zeigt, dass Dalimils Wörter sehr scharf und beleidigend wirken. Dalimil bringt seine Meinung über die Deutschen ganz unverblümt zum Ausdruck. Angehörige anderer Nationen oder Volksstämme treten je nach Zusammenhang ebenfalls in seiner Erzählung auf. Mit Polen oder Ungarn sind keine weiteren Assoziationen verknüpft, sie sind nur Nachbarn, gegen die man kämpft oder mit denen man verhandelt, nichts weiter (vgl. Adde 2011: 29-33). Nur die Deutschen zeichnen sich durch ein eigenes, schärfer umrissenes Bild aus. Sie gelten als Fremde par excellence und als Erzfeinde. Das Wort Němec – ›der Deutsche‹ – ist typisch für diesen Befund. Es fußt auf der Wurzel němý – ›stumm‹. Etymologisch ist der Deutsche also der Mann, der nicht spricht, den die Böhmen nicht verstehen! Diese Bezeichnung ist noch interessanter, wenn man sie mit einem anderen Wort, dem Wort jazyk – ›Nation‹ auf alttschechisch – vergleicht (vgl. Pečírková 1969: 128; Jungmann 1835: 575). Heute bedeutet jazyk ›die Sprache‹. Zur Zeit Dalimils war die tschechische 5 | Der tschechische Biologe und Philosoph Emanuel Rádl (1873-1942) hält Dalimil für den Spiegel der die Unfähigkeit der tschechischen Gesellschaft gespiegelt, Angehörige anderer Ethnien zu integrieren. Vgl. Rádl 1993.

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Sprache noch nicht fixiert. Die lateinischen Texte spielten deshalb eine wichtige Rolle in der Entwicklung der Vernakularsprache (was im Übrigen für alle europäischen Länder bzw. Sprachen im Mittelalter gilt). Zwei lateinische Wörter wurden benutzt, um die Nation zu bezeichnen: lingua und natio. Ab dem 12. Jahrhundert begann sich der Terminus natio auf Kosten von lingua durchzusetzen (vgl. Du Cange 1883-1887: 116), was die Chronicon Boëmorum (1125), Dalimils Hauptquelle, veranschaulicht: Ihr Autor, Kosmas von Prag, benutzt viermal das Wort lingua (vgl. Bretholz 1923: 4, 210, 251, 233) gegenüber der zehnmaligen Verwendung von natio (vgl. ebd.: 12, 19, 23, 54, 165, 191 f., 210, 242). Als erster Autor, der auf Tschechisch über die Nation schrieb, entschied sich Dalimil dazu, die tschechische Entsprechung für lingua, ›jazyk‹, und nicht die für natio, ›národ‹, zu benutzen (vgl. Bláhová 2008: 646, 651). Dalimils Chronik beinhaltet die ältesten Okkurrenzen der Idee der Nation und schließt zugleich die Deutschböhmen aus dieser Idee der Nation aus.

b. Deutschfeindlichkeit oder Bürgerfeindlichkeit? Dalimils Schrift thematisiert aber auch andere Probleme der böhmischen Gesellschaft. Der ethnische Konflikt geht Hand in Hand mit einem anderen Konflikt: jenem zwischen Adel und Bürgertum. Als geradezu xenophober und deutschfeindlicher Nationalist verteidigt Dalimil die Adelsprivilegien und sieht in den Bürgern eine gewisse Bedrohung für die böhmische Gesellschaft. Das Königreich Böhmen hatte im Mittelalter einen beträchtlichen deutschen Bevölkerungsanteil. Im Zuge der Ostsiedlung begannen zahlreiche Deutsche in den Fünfzigerjahren des 12. Jahrhunderts und während des gesamten 13. Jahrhunderts nach Böhmen umzusiedeln. Wie alle anderen slawischen Länder war Böhmen spärlich bevölkert – anders als der Norden Europas, in dem ein regelrechter Bevölkerungsdruck herrschte (vgl. Higounet 1989; Rösener 1985: 40-54, 198-222; 1992; Schlesinger 1975). In Böhmen wurden die Deutschen von den Zisterziensern, den örtlichen Herren, und schließlich auch vom Herzog unterstützt (vgl. Žemlička 2014; 2011: 55-59; Higounet 1989: 259 f.). Um das Jahr 1300 belief sich der Anteil der deutschen Bevölkerung in Böhmen auf ein Sechstel der Gesamtbevölkerung (1,5 Millionen Einwohner, vgl. Hoensch 2013: 100).6 Diese demographische Situation hatte die Urbanisierung Böhmens und das Entstehen des Bürgerturms zur Folge. Am Anfang des 14. Jahrhunderts war das böhmische Bürgertum daher ethnisch mehrheitlich deutsch. Die tschechischen Historiker Václav Vladivoj Tomek und Jaroslav Mezník haben gezeigt, wie es den deutschen Familien gelungen war, sich während der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts durchzusetzen (vgl. Mezník 1990b: 24; Tomek 1892: 179-586): 6 | Einige Historiker halten solche Kalkulationen für irrwitzig, vgl. Míka 1972: 207-210.

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Zwischen ca. 1300 und den Siebzigerjahren des 14. Jahrhunderts beherrschten sie den Bürgerrat der Prager Altstadt, der alles regelte, was sich auf Handel, Handwerk, Militär- und Rechtsangelegenheiten bezog. Ab dem Beginn des 14. Jahrhunderts zwangen sie sogar ihre Verwandten, die Funktion des rychtař, ›Vogts‹, des Vertreters des Königs in der Stadt, zu übernehmen, so dass sie keiner Gegenmacht mehr gegenüberstanden (vgl. Hoffmann 2009: 14, 404-416; Tomek 1892: 607). Diese Familien gründeten ihren Aufstieg auf ihren Reichtum, den sie durch den Ausbau ihrer Ländereien, vor allem aber durch die Bewirtschaftung der reichen Kuttenberger Silberbergwerke erworben hatten. Lange hatten Deutsche und Tschechen im Königreich in Frieden zusammengelebt. Die Chronisten des 12. und 13. Jahrhunderts hielten die Ankunft von Deutschen im Land nicht fest (vgl. Higounet 1989: 13).7 Den Deutschböhmen, wie sie genannt wurden, war an friedlichen Beziehungen mit den Tschechen und mit der starken Macht des Herrschers, ihres Beschützers, gelegen (vgl. Žemlička 2002: 393). Wie der Abt des Klosters Königsaal, Peter von Zittau (1275-1339), oder der Abt des Klosters Mühlhausen, Gerlach (1165-1228), fühlten sich die Deutschen in Böhmen auch mehr tschechisch als deutsch.8 Das böhmische Bürgertum besaß eine nur geringe Machtfülle. Obwohl die Bürger wohlhabend waren, spielten sie nicht die von ihnen erhoffte Rolle im politischen Bereich, der ein Monopol der Adeligen war. Aus diesem Grund organisierten die Prager und Kuttenberger9 Bürger am 15. Februar 1309 eine Verschwörung, die das Königtum und in erster Linie den König Heinrich von Kärnten stark erschüttern sollte. Die reichsten und mächtigsten bürgerlichen Familien der zwei Städte schlossen sich zusammen. Die Kuttenberger entführten Heinrich von Leipa10 (1275-1329), Johann von Warten7 | Třeštík betont einen Antagonismus schon in der Zeit Kosmas’ aufgrund der Konkurrenz mit Deutschen um die höchsten Vikariate. Vgl. Třeštík 1966: 78-88. Dies kann aber nicht mit der Lage im 14. Jahrhundert verglichen werden. 8 | Als Gerlach z. B. die Expedition nach Italien (1174) beschreibt, beklagt er die von Tschechen begangenen Diebstähle. Er benutzt aber das Possessivpronomen, als er über die Tschechen schreibt, was zeigt, dass er sie für seine Landsleute hält: »est gens nostra rapinis semper intenta«, vgl. Emler 1874: 469. 9 | Gegen Ende des 13. Jahrhunderts entwickelte sich Kuttenberg zu einer der lebhaftesten und wohlhabendsten Städte Böhmens. Kuttenberg gelang dies durch den Silberbergbau und die berühmte Prägung der Prager Groschen. Es war nach Prag die zweitgrößte Stadt Böhmens. Vgl. Vaníček 2002: 537-545; vgl. Bisingerová 2000. 10 | Heinrich von Leipa stammte aus dem westböhmischen Adelsgeschlecht von Leipa, einer Linie des alten Geschlechts von Ronow, das unter den ältesten und mächtigsten Familien mit den Hrabišici, Markvatici und Vítkovci stand. Er war der Anführer des böhmischen Adels und wurde königlicher Unterkämmerer und Marschall des böhmischen Königs Johann von Luxemburg.

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berg11 († 1316), Johann von Klinkenberg († 1345) und den örtlichen Vogt Jenslin († 1309) – alle übernachteten im Sedletzer Kloster,12 wo sie mit Verwaltungsangelegenheiten betraut waren. Die Prager Bürger tauchten plötzlich in der Prager Burg auf und inhaftierten den Vyšehrader Propst und Königsberater Peter Angeli von Pontecorvo13 († 1316), Raymond von Lichtenburg (1265-1329) und Hynek von Dubá14 (1267-1309), die, mit Heinrich von Leipa, den Großteil der Macht innehatten. Sie hatten das Land vollständig lahmgelegt und planten außerdem, die Kinder dieser mächtigen Persönlichkeiten mit ihren eigenen zu verheiraten. Die Aktion endete mit einem Misserfolg, da die Adeligen letztlich stärker waren, Verbündete im Bürgertum hatten und auch in politischen Angelegenheiten erfahrener waren (vgl. Šusta 2002: 15 ff., 25 ff.). Obwohl die Verschwörung eher eine politische Aktion war, ein Versuch der städtischen Eliten, mehr Macht zu gewinnen, bezeichnet sie Dalimil als ein Symptom der sozialen Störung (vgl. Adde 2016b: 150 f.). In seiner Logik ist das Bürgertum ausschließlich deutsch, ein Fremdkörper, die Konsequenz der Ostsiedlung. Bis zu einem gewissen Maß entsprach diese Beobachtung der Realität. Dalimils Interpretation aber war extrem. Nach seiner Sichtweise waren alle Bürger Deutsche und alle Adeligen Tschechen, was jedoch so nicht der Realität entsprach (vgl. Adde 2015: 417). Seine Beschreibung der Verschwörung unterschlägt z. B. die Namen der nichttschechischen Opfer, wie den von Johann von Klinkenberg, der Deutscher war, und Peter Angeli von Pontecorvo, der aus Italien stammte. Dalimil verfolgte das Ziel, das Bürgerturm als Feind der Nation zu verunglimpfen, um im Gegenzug den Adel als Garant für die Integrität des böhmischen Königreichs erscheinen zu lassen.

11 | Das Geschlecht von Wartenberg war eine Linie des Geschlechts von Markvatici. Johann war oberster Mundschenk des böhmischen Königs Heinrich von Kärnten (1308-1310). 12 | Das Sedletzer Kloster war aufgrund der Nutzung der Kuttenberger Silberwerke und des seitens des Abtes Heidenreich († 1320) gegebenen Impulses zu Beginn des 14. Jahrhunderts eine bedeutende Institution geworden Vgl. Hynková 2000. 13 | Er war der Sohn des italienischen Magisters Angelus de Pontecorvo, der Mitte des 13. Jahrhunderts nach Böhmen gekommen und nach dem Tod seiner Frau Petronia von Lomnice Priester geworden sein soll. Peter war von 1255 bis 1262 päpstlicher Kollektor für Böhmen, Polen und Ungarn. Politisch begabt, trat er in die königliche Kanzlei ein und wurde einer der einflussreichsten Männer Böhmens. 14 | Das Geschlecht Berka von Dubá war, wie die Herren von Leipa, ein Zweig des Geschlechts von Ronow.

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II.

D ie mit tel alterlichen deutschspr achigen Ü berse t zungen

a. Präsentation der Übersetzungen Da wir nun Dalimils Absicht kennen, erscheint es auf den ersten Blick vielleicht befremdlich, warum seine Chronik gleich zweimal ins Deutsche übersetzt wurde. Die Reimübersetzung Di tutsch kronik von Behem lant ist die ältere von beiden, sie wurde in den Jahren 1330 bis 1346 geschrieben.15 Glier (1987: 445) bezeichnet sie als ein »Unikum der deutschen Geschichtsschreibung«. Die andere, die Prosaübersetzung Di pehemische Cronica dewcz entstand spätestens im Jahr 1444. Während die Prosaversion die Gliederung des Ausgangstexts nicht einhält, folgt sie ihr im inhaltlichen Auf bau jedoch stringent. Auch wenn diese Inhaltstreue ein bemerkenswertes Phänomen und ein Zeugnis des Werkerfolgs ist, ist sie für uns nicht wirklich interessant, da sie keinen eigenen Blickwinkel bietet. Die Reimübertragung dagegen ist viel freier, obwohl sie bei der Einteilung in Kapitel und Verse der Urschrift folgt und auf den ersten Blick den Eindruck einer bloßen Kopie erweckt (vgl. Hilsch 1991: 115). Bis zum Kapitel 66 hält sich der Übersetzer ziemlich genau an die tschechische Vorlage; Kapitel 67 und die auf Kapitel 92 folgenden Texte gestaltet er jedoch wesentlich freier, um in den letzten Kapiteln eigenes Wissen hinzuzufügen. Schließlich verfasst er, offenbar nach Abschluss der Übersetzung, einen eigenen knappen Abriss der böhmischen Geschichte!16 Auf dieser Grundlage – und auch, weil die Prosaübersetzung außerhalb unseres zeitlichen Kontexts steht  – möchte ich mich im Folgenden auf die Reimchronik konzentrieren.

b. Die Rehabilitation des deutschböhmischen Gemeinwesens Der Autor der Reimübersetzung hatte, wie gesagt, einen eigenständigen Blickwinkel und bemühte sich auch, dies kundzutun. Deswegen wich er mehrfach von seiner Vorlage ab, was sich ganz einfach feststellen lässt, wenn man die Anzahl der in beiden Chroniken verwendeten Verse ermittelt und miteinander vergleicht. Während der tschechische Dalimil 5569 Verse zählt, hat die Reim-

15 | Die Reimübersetzung ist in einer einzigen Handschrift erhalten, die im Archiv der Prager Burg / B ibliothek des Metropolitankapitels (Sign. G 45, Bl. 7r-103r) aufbewahrt wird. Zu Handschrift und Text, vgl. Brom 2004; 2009; Jireček 1877; Kelle 1868: 162 ff. (Nr. 2); Podlaha 1922: 110 f. 16 | Prag, Archiv der Prager Burg /  B ibliothek des Metropolitankapitels, Sign. G 45, Bl. 1v-6v. Vgl. Brom 2005; 2009: 29 ff.; Hilsch 1991: 107; Loserth 1876.

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bearbeitung 7515 Verse, was ein Verhältnis von 1 zu 1,7 ergibt (1 zu 9,1, wenn der Abriss hinzugerechnet wird; vgl. Hilsch 1991: 106). Manchen Kapiteln wurde besondere Aufmerksamkeit gewidmet: Was Kapitel 88 betrifft, beträgt das Verhältnis 1 zu 3,1; bei Kapitel 102 1 zu 3,3 (vgl. Brom 2009: 24). Einen großen Teil dieser Zusätze bilden Gebete (ebd.: 18), aber nicht ausschließlich. Der deutschböhmische Verfasser wollte ein anderes Bild der Deutschböhmen bzw. der in Böhmen lebenden Deutschen entwerfen. Während die Dalimil-Chronik fremdenfeindliche, vornehmlich deutschfeindliche Züge enthält, werden die Deutschen in der Übersetzung verteidigt. Der deutsche Autor löschte das nationalistische Vorwort,17 diesen »offensiven Anfang«, wie ihn Miroslav Šváb (1966: 175) nennt, was bei der Prosaübersetzung nicht der Fall war. Des Weiteren veränderte er auch in systematischer Weise den Wortschatz. In der alttschechischen Vorlage werden alle Deutschen, ganz gleich ob sie aus Böhmen sind oder nicht, unterschiedslos als Němci bezeichnet. Dalimil erkannte die Identität und die Existenz der deutschböhmischen Gemeinde nicht an. Als Deutschböhme, der er selbst war, führte der Verfasser der Reimübersetzung eine Unterscheidung zwischen den beiden Gruppen ein. Je nach Situation übersetzte er das Wort Němci als Tutschin, nämlich dann, wenn es sich um Deutschböhmen handelte, oder aber als vremd (›fremd‹) bei auswärtigen Reichsdeutschen. Tabelle 1 Alttschechische Vorlage

Reimübersetzung

V radu počě Němcě pojímati (63 / 3)

Er nam zcu sinem rad / fromd an der sinen Stad (63 / 5)

města i vsi počě Němcóm dávati (86 / 6)

Den Tutschin gab er / stete vnd dorfer (86 / 9-10)

Quelle: eigene Darstellung auf Basis von Brom 2009: 372 f., 512 f. 17 | Der sogenannte Dalimil schreibt: »Leeres Gerede will ich straffen, sofern ich kann, / dennoch beabsichtige ich den vollständigen Sinn darzulegen, / damit hier jeder mit umso größerer Freude lernen könnte, sich um seine Zunge eifriger zu bemühen. / Denn ein Weiser wird noch weiser, wenn er eine weise Rede hört, / und ein Besorgter wird dadurch seiner Sorgen los. / Ich lege dir dieses in rauher Form vor und bitte einen Fähigeren darum, / dass er um der Ehre unseres Landes willen, und auch um unsere Feinde zu übertreffen, meine Rede durch schönen Reim berichtigt / und sie mit klarem Klang versieht, ohne dass er mich dabei tadeln würde / mit den Worten: ›Er mischt sich hier ohne notwendige Kenntnisse ein.‹ / Ich bekenne das selber sehr wohl; / nur das, dass ich auf meine ›Zunge‹ sehr achte, / hat mich dazu bewogen / und zu diesem Unterfangen gebracht.« Brom 2009: 103.

D ie deutschsprachige Überset zung der Dalimil-Chronik

Diese Unterscheidung wird nicht nur auf der Wortebene deutlich. Auch inhaltlich zeigt sich, dass der Übersetzer eine Grenze zwischen diesen beiden Gruppen ziehen wollte. Insbesondere das Kapitel 42 über Ulrichs Ehe mit Beatriz ist in dieser Hinsicht vielsagend. Ulrich war der (tschechischen) Bäuerin zum ersten Mal in Postelberg begegnet, als er von der Jagd zurückkehrte. Die tschechischen Herren waren aber mit Ulrichs Entscheidung, sie zu heiraten, nicht einverstanden, da sie einer niedrigen sozialen Schicht angehörte. Dalimil lässt Ulrichs Vorhaben aber als eine für alle günstige Entscheidung erscheinen, was gerade im Hinblick auf den von ihm später behandelten Tod Wenzels III. und die unmittelbar danach anstehende Königswahl vielsagend ist: Tabelle 2 Alttschechische Vorlage

Neuhochdeutsche Übersetzung

Reimübersetzung

Radějí sě chci s šlechetnú sedlkú českú smieti než králevú německú za ženu jmieti. Vřet každému srdce po jazyku svému, a pro to Němkyně méně bude přieti lidu mému. Němkyni německú čeled bude jmieti a německy bude učiti mé děti.

Ich will vielmehr mit einer tschechischen Bäuerin freudig leben, als eine deutsche Königstochter zur Ehefrau haben. Jedem einzelnen brennt sein Herz nach seiner Zunge. Deshalb wird eine Deutsche meinem Volk wenig günstig gesinnt sein. Eine Deutsche wird deutsche Gefolgsleute bei sich haben und meine Kinder wird sie deutsch lehren.

Vil mer wil ich lachin da mit einer bemischin puorin, wen eines fremden königes tochter gewin. Einem iclichin ist daz Hercze czu siner zcungin groz, dar vmb wirt ein vremde nummi min genoz, noch minen lutin wirt sy nit getrwe. Fremdes gesinde wirt habin ein fromdein, min Kinder wirt sy deutsch lerin vnd ir gewonheit virkerin.

(42 / 21-28)

(42 / 22-30) Quelle: eigene Darstellung auf Basis von Brom 2009: 274-277. Alle Übers. ins Neuhochdeutsche É. A., jeweils basierend auf ebd.

In diesem Fall scheint der mittelalterliche Übersetzer die gleiche Meinung wie Dalimil zu haben. Er ersetzte aber, wo es möglich war, das Wort deutsch durch vremd und fügte noch einen Satz (vnd ir gewonheit virkerin) hinzu, der klar den Unterschied zwischen Reichsdeutschen und Deutschböhmen herausstrich, die seiner Meinung nach dieselben Gewohnheiten wie die Tschechen besaßen. Ganz anders handelt er jedoch, wenn Dalimil die böhmischen Deutschen verunglimpft. In seinem Bericht über die (angebliche) Grausamkeit des Her-

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zogs Sobieslaw gegenüber den einheimischen Deutschen und ihrer Vertreibung (68 / 0) betitelt Dalimil diesen Herzog als »Freund der Tschechen«; der Übersetzer nennt ihn den »Tutschin vient (Feind) im lande« (68 / 0, Brom 2009: 392 f.) und bringt anschließend noch seine eigene Meinung deutlich zum Ausdruck: Tabelle 3 Reimübersetzung

Neuhochdeutsche Übersetzung

Wer dy Tutschin smecht und in Behem lant echt, den hab ich nit vor frum.

Wer die Deutschen schmäht und in Böhmen ächtet, der ist in meinen Augen nicht rechtschaffen.

Quelle: eigene Darstellung auf Basis von Brom 2009: 396 f.

Die Vertreibung der Deutschen ist eine ewige Schande für den Herzog: »da von er ymmer ist geschant« (ebd.: 402 f.). Zu noch größeren Änderungen sah sich der Deutschböhme bei der Schilderung König Přemysl Otakars II. (ab Kap. 89) veranlasst. Während Dalimil den König kritisierte, weil er sein Volk und die böhmischen Herren vergessen und nur die Deutschen gefördert habe und diese Tatsache auch als Grund seines Sturzes ansah, verherrlicht und lobt ihn unser Autor gerade deswegen: Tabelle 4 Reimübersetzung

Neuhochdeutsche Übersetzung

Er wolt dy Tutschin mem mit richtum und mit ern in seinem lant vil gern.

Er wollte die Deutschen durch Reichtum und Ehrversprechen bewegen, in sein Land zu kommen.

Quelle: eigene Darstellung auf Basis von Brom 2009: 514 f.

In die letzte Schlacht (Marchfeld, August 1278) ging der König vor allem mit Deutschen und nur mit wenigen Tschechen, was Dalimil beanstandet und der Übersetzer lobt: Tabelle 5 Reimübersetzung

Neuhochdeutsche Übersetzung

Mit den Tutschin er gink die er im czu eigin vink, doch also dar czu er tet in lib spat und fru.

Er ging mit den Deutschen, die er sich zu eigen machte. Jedoch sorgte er auch von früh bis spät für sie.

Quelle: eigene Darstellung auf Basis von Brom 2009: 518 f.

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Danach, und obwohl Dalimil den Tod Otakars nur beiläufig erwähnt,18 holt der Übersetzer hierfür sehr viel weiter aus: Tabelle 6 Reimübersetzung

Neuhochdeutsche Übersetzung

Do virschied er leidir. Di Deutschen ir cleidir vor leid mugin riszin und ir zcung biszin, ouch von den ougin zcer deiszin und ubir dy wang waszir giszin, wan er waz der Tutschin ere. Darum im Got sin lebin mer oben hoch in den landen, der tufil wirf zcu schänden! Di Tutsche al mit nomen wunschin im dez, unde sprechen: amen.

Hier kam er leider um. Die Deutschen mögen ihre Kleider deswegen vor Leid zerreißen, sich in ihre Zunge beißen und aus verweinten Augen Tränen über die Wangen ergießen; denn er war die Ehre der Deutschen. Gott möge ihm dafür sein Leben mehren hoch oben in seinem Reich. Der Teufel wird zu Schanden! Alle, die Deutsche heißen, wünschen ihm das und sprechen: Amen.

Quelle: eigene Darstellung auf Basis von Brom 2009: 551

Während Dalimil im Kapitel 88 die Hungersnot, die nach Přemysls Tod (1278) einsetzte, als Strafe für dessen schlechte Regierung auslegt, weist der Übersetzer die Schuld den Böhmen zu, weil sie ihren König vergessen und verraten hätten (vgl. ebd.: 528 f.).

c. Der soziale Hintergrund Dalimil benutzte, wie gesagt, die ethnische Unterscheidung, um das mehrheitlich deutsche Bürgertum zu verurteilen. Seine Chronik stützt die Adelsideologie, die sich erst zu dieser Zeit zu konstituierten begann (vgl. Adde 2015; Uhlíř 1985). Wie viele seiner Zeitgenossen sah Dalimil in den Bürgern eine neue Kraft, die die bis jetzt vorherrschende soziale Ordnung bedrohte (vgl. Adde 2016b: 146-152; Mezník 1993; Uhlíř 1988). Obwohl dem Bürgertum eine echte politische Tradition und effektive Interventionsorgane fehlten, so dass es für den Adel noch keine wirklich gefährliche Konkurrenz war, hat es sich, wie bereits erwähnt, sehr rasch emporgearbeitet. In der alttschechischen Chronik definiert sich das Bürgertum nicht über seinen sozialen Rang, sondern vielmehr in moralischer Hinsicht. So wie der Fremde nicht eine Person sei, die aus einem anderen Land stammt, sondern ein Verräter, der seine Heimat verlassen 18 | 86 /  6 8: »a pohřiechu ten tu snide« / »und er kam hier leider um«, ebd.: 520.

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hat (vgl. Adde 2011: 26 ff.; 2016b: 111-115), so sei der Bürger im Wesentlichen ein Nichtadeliger, der ein Adeliger sein und das Gesellschaftsgefüge auseinanderdriften lassen wolle. Das ›Wesentliche‹ des Bürgerturms stütze sich auf diese angeblich boshafte Absicht. Aus diesem Grund bemüht sich Dalimil, die Unterschiede zwischen den Bürgern und den anderen Nichtadeligen zu verringern und jene zwischen Bürgern und Adeligen zu übertreiben, auch wenn Adel und Bürgertum sich in Wirklichkeit sehr nahe standen und verwandt waren.19 Erst im weiteren Verlauf des 15. Jahrhunderts begann der Adel, sich den anderen gegenüber zu verschließen (vgl. Klecanda 1928: 25; Mezník 1990a: 9). Zur Zeit Dalimils konnten die Bürger sehr einfach Adelige werden. Es genügte, ein Landgut zu kaufen und auf die bürgerliche Lebensweise zu verzichten.20 Der in Böhmen vorherrschende ethnische Kontext verstärkte aber Dalimils Bemühungen um Separierung offensichtlich sogar. In seinem Wortschatz werden die Bürger als chlapové bezeichnet. Chlap heißt auf alttschechisch ›Bauer‹. In der adeligen Literatur wurde dieses Wort im Allgemeinen für alle Nichtadeligen benutzt, hatte aber eine sehr pejorative Konnotation.21 Als Deutschböhme war der Übersetzer auch ein Anhänger der deutschböhmischen städtischen Eliten. Viele seiner Bemerkungen deuten darauf hin, dass er in Prag lebte oder die Stadt ziemlich gut kannte. Es muss sich um einen Kleriker gehandelt haben, der jedoch die Interessen des Bürgertums verteidigte (vgl. Brom 2009: 19).22 Darüber hinaus können wir auch feststellen, dass er kein Mitglied des Adels war, da er im Gegensatz zu seiner Vorlage die adeligen Wappen und Namen verwechselt (vgl. Hroch 1913-1914: 5; Hebert 1952). Darum übersetzt er nicht einfach chlap durch ›Bauer‹, sondern ›burgirn‹, wenn es eindeutig um Bürger geht. Tabelle 7 Alttschechische Vorlage

Reimübersetzung

a ta příhoda jiným chlapóm vnadu dala

Und dy gesschicht bi irn iarn gab andirn burgirn kunheit

19 | Zum allgemeinen Fehlen einer klaren Grenze zwischen Adeligen und Bürgern bis zum 14. Jahrhundert, was besonders die Verwandtschaft und den Lebensstill betrifft, vgl. Morsel 1996: 35 ff., 45; 2004; Andermann /  J ohanek 2001. 20 | Zum Fall der Stadt Brünn vgl. Mezník 1962: 273 f. 21 | Zum Fall der Alexandreida, vgl. Adde 2014b: 1172. Das kann man auch im Werk Neuer Rat Smils Flaška von Pardubitz feststellen. Vgl. im Allgemeinen Macek 1997: 14. 22 | Peter Hilschs Ansicht zufolge war er ein Angehöriger des Kreuzordens mit dem roten Stern, des einzigen genuin böhmischen (Hospital-)Ordens, vgl. Hilsch 1991: 111.

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Alttschechische Vorlage

Reimübersetzung

Však za chlapie syny své dcery otdati musichu

Er tochtir der burgir sun

Quelle: eigene Darstellung auf Basis von Brom 2009: 565 ff.

Adelsfeindliche Bemerkungen des Verfassers der Reimübersetzung konnten nicht ausfindig gemacht werden, doch werden die deutschen Bürger gegen Dalimil mehrmals verteidigt oder entschuldigt: Während im tschechischen Text »deutsche Städter« den feindlichen König Albrecht von Habsburg nach Böhmen rufen (91 / 3-4), ist es beim Übersetzer nur »ein burgir« (91 / 5) (Brom 2009: 536 f.). Statt der »Deutschen aus den Städten« (95 / 23) sind es nur »ettlich burgir« (95 / 46) (ebd.: 556 f.). Als der Meißner Markgraf mit seinen Truppen vor Prag lag, wollten sich nicht zwei Prager Patrizierfamilien, die Welflovici und die Ot Kamene, mit den Feinden Böhmens (wie bei Dalimil, 99 / 15), sondern nur »Wolfel Camerer aleine« (99 / 25), verbünden (ebd.: 568 f.). Im Kapitel 86 änderte der Übersetzer den Titel: Dalimils Titel »Ot násilé, ješto král českým pánóm činil« [Von der Gewalt, die der König den böhmischen Herren zufügte] wurde durch »Wi konig Ottakir dar nach mit Rudolfo geschach« ersetzt (ebd.: 512 f.). Der Übersetzer entschied sich also dazu, die Klage des Adels an dieser Stelle zunächst außen vor zu lassen.

d. Zugehörigkeit zur böhmischen Landgemeinschaft Die Reimübersetzung ist eine Überarbeitung der Dalimil-Chronik, die von einem Deutschen vorgenommen wurde, der sich jedoch selbst ausdrücklich als Böhme betrachtet. Unser Autor denkt und fühlt wie ein böhmischer Patriot (vgl. Hilsch 1991: 109), auch gegenüber den auswärtigen Deutschen, spricht sich aber klar gegen jede Herabsetzung der in Böhmen lebenden Deutschen aus. Vor diesem Hintergrund scheint seine Übersetzung eher ein Versuch zu sein, der deutschböhmischen städtischen Gemeinde ihren Platz im gesellschaftspolitischen Spektrum, und zwar in der Landgemeinschaft, zuzuteilen. Bei Dalimil war der Adel die einzige Gruppe, die seinem Regierungsideal entsprach. Wie bereits in der Einführung gesagt, wollte Dalimil zeigen, dass die Wurzeln der Krise sehr alt waren, dass sie aus der Zeit stammten, als der Adel von seiner Aufgabe (mit dem Prinzen zu herrschen) abließ und der Herzog im Jahre 1198 / 1212 König23 wurde. Das 13. Jahrhundert war eine Epoche großer Ver23 | Im September 1198 erwarb Ottokar von Philipp von Schwaben, dem römisch-deutschen König, als Belohnung für seine Gefolgschaft die Königswürde und wurde wenige Tage später in Boppard gekrönt. Dabei handelte es sich erstmals in der Geschichte Böhmens nicht um eine persönliche, sondern um eine erbliche Krone. Vgl. Žemlička 2002; Moraw 2006. Das Privilegium datiert auf das Jahr 1198, ist uns jedoch durch eine Kopie aus

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änderungen (vgl. Klapště 2012; Žemlička 2014) – Urbanisierung im Rahmen der Ostsiedlung, Bereicherung durch die Entdeckung der Kuttenberger Silberbergwerke, politische und territoriale Expansion unter Přemysl Ottokar II. –, aber auch der Unbeständigkeit: plötzlicher Tod benannten Ottokars, erschwerter Herrschaftsantritt Wenzels II.,24 und noch im 14. Jahrhundert: die Ermordung Wenzels III. und schließlich die Zeit des Interregnums. Einesteils äußerte Dalimil eine gerechtfertigte, jedoch übertriebene Angst; anderenteils benutzte er diese Art der ›Stimmungsmache‹ auch, um den Adel als politischen Partner des Königs erscheinen zu lassen. Während der König potenziell schwach, zu jung und letzten Endes sterblich sei, repräsentiere seiner Meinung nach der Adel die ewige Gemeinschaft (Communitas non moritur), die den Tod ihrer Mitglieder immer überlebe, was auch Kantorowicz (vgl. 1957) in seiner Analyse über die »zwei Körper des Königs« andeutet. Zur Frage der Thronbesteigung schreibt Dalimil: Tabelle 8 Alttschechische Vorlage

Neuhochdeutsche Übersetzung

Kteréž kniežě po přirození vzchodí, když jeho zabijú, mátě jho druhé neurodí. Ale které kniežě volenie rodí, toho kniežěcie smrt nemnoho škodí. Neb někteří jich smrti žádajú, ti najviece, již k témuž čáku jmajú. Vězte, když volením kde kniežě móž býti, toho kniežěte nikto nemóž zbaviti.

Wo ein Herrscher natürlich aufkommt, wird ihn, wenn man ihn tötet, seine Mutter nie mehr wieder gebären. Wo sich jedoch der Herrscher aus der Wahl ergibt, da schadet der Tod des Fürsten wenig, denn seinen Tod wünschen Manche; diejenigen am meisten, die auf denselben Posten hoffen. Wisset wohl, falls irgendwo der Herrscher durch Wahl festgelegt werden kann, kann diesen Herrscher niemand loswerden.

Quelle: eigene Darstellung auf Basis von Brom 2009: 382 ff.

Dalimil leugnet die Probleme, die das Reich regelmäßig gelähmt hatten (Interregnum der Jahre 1250-1273, vgl. Kaufhold 2000; Prietzel 2004) und hält das Wahlprinzip für ein Unterpfand der politischen Stabilität. Ganz bewusst verbindet er das Wahlprinzip mit dem Vorgehen der Wählerschaft, die der Landdem Jahre 1212 bekannt – der Goldenen Sizilianischen Bulle, die von Friedrich II. verfasst wurde, das böhmische Erbkönigtum endgültig anerkannte und Ottokar als »vornehmsten Reichsfürsten« bezeichnete. Vgl. Wihodam 2005a; 2005b; Žemlička 2006; 2008. 24 | Ottokar starb am 26. August 1278. Zur Schlacht auf dem Marchfeld vgl. Žemlička 2011: 443-476.

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gemeinschaft der Herren entspricht, der das Recht, den König zu wählen, im Jahre 1198 / 1212 bestätigt wurde. Dies schwingt vor allem im Zusammenhang mit der Krise von 1306 bis 1310 mit. Der Adel war aus den aus der Entführung König Wenzels II. (1278-1283) und des Interregnums (1306-1310) resultierenden politischen Krisen wesentlich stärker hervorgegangen. Während der ersten Krise repräsentierte er den Staat und die Nation im Land, das er de facto beherrschte; ebenso im Ausland, wo er die Verhandlungen zur Rückkehr des jungen Königs mit Otto V. führte;25 während der zweiten Krise verdrängte er letztlich den tschechischen Klerus und führte an seiner statt die Verhandlungen mit Heinrich VII., um die Luxemburger ins Land zu holen (vgl. Šusta 2002: 62-79; Pauly 2013). Seine Macht wurde immer stärker, insbesondere unter Karl IV., der seine Majestas Carolina aufgeben musste,26 und erreichte am Ende des 15. Jahrhunderts mit der – kurzlebigen – Vladislavischen Landesordnung ihren Höhepunkt (vgl. Pánek 2001).27 Obgleich er an einer neuartigen Unterteilung der Machtsphären arbeitete, präsentiert Dalimil seine Konzeption als Rückkehr zum ältesten – und deshalb rechtsgültigen und auch wünschenswertesten – Regierungsstil und zum angeblichen Vertrag, der den Herzog bzw. den König an die Adeligen binden sollte (vgl. Adde 2016c: 126-136). Seine diesbezüglich getroffenen Aussagen spiegeln demnach auch seine eigene Weltanschauung wider und machen deutlich, dass er die Interessen des Adels zu unterstützten gewillt war. Trotz seiner politischen Schwäche wurde das Bürgertum, das über mehr materielle Mittel als der Adel verfügte, zu einer wirtschaftlich immer einflussreicheren Gesellschaftsschicht, mit der man nun rechnen musste. Und obwohl es wirtschaftlich den Vorrang innehatte, wurde es von politischer Partizipation ausgeschlossen, wogegen es auch Widerstand zu äußern begann. Erst im 25 | Die Königswitwe Kunigunde bat den Verbündeten der Přzemysliden, Otto V., Markgraf von Brandenburg, um Hilfe. Wenzel II. war noch zu jung, um zu regieren. Otto V. zog nach Böhmen. Da er auf intensive innere Machtkämpfe traf, entführte er Wenzel und Kunigunde. Die böhmischen Herren mussten allein das Land regieren und mit Otto verhandeln, um Wenzel nach Prag zurückzubringen, was im Jahre 1283 geschah. Wenzel II. konnte erst im Jahr 1288 tatsächlich die Macht übernehmen. Vgl. Vaníček 2002: 368-386. 26 | Die Maiestas Carolina war das Gesetzbuch, das Karl IV. 1351 bis 1354 für das Königreich Böhmen entwerfen ließ. Die auf der Basis einheimischen Rechts und der Konstitutionen von Melfi Friedrichs II. (1231) erarbeiteten 127 Artikel sollten die Macht des Königs stärken, weshalb die böhmischen Landstände so lange Widerstand leisteten, bis Karl IV. das Projekt 1355 fallen ließ. Zur Edition des Textes siehe Hergemöller 1995; zur Analyse des Inhalts vgl. Kejř 1989; Schlotheuber 2009; 2011. 27 | Diese Ordnung regelte seitdem die wechselseitigen Rechte und Pflichten der böhmischen Stände und des Königs.

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15. Jahrhundert, im Rahmen des Hussitismus, wurde das Bürgertum schließlich politisch integriert (vgl. Mezník 1997: 74).28 In dieser Hinsicht scheint die Reimübersetzung ein Versuch zu sein, die gegenwärtigen politischen Verhältnisse im Interesse dieses wirtschaftlich aufstrebenden Bürgertums zu verbessern. Dalimils manichäischem Modell, das sich an zwei einzelnen, sich gegenüberstehenden Gruppen (dem tschechischen Adel auf der einen und dem deutschen Bürgertum auf der anderen Seite) orientiert, stellte der Übersetzer eine Alternative entgegen, indem er es um eine dritte Gruppe, die der Deutschböhmen, also der deutschen Bürger, die sich böhmisch fühlten, ergänzte. Im Vergleich zur Prager-Kuttenberger Verschwörung (1309) stellt sein Modell jedoch einen weitaus weniger aggressiven Versuch zur Legitimation der städtischen deutschböhmischen Eliten zur Zeit der adeligen Vorherrschaft dar.

S chlussbemerkung Trotz ihrer bemerkenswerten Deutsch- und Bürgerfeindlichkeit wurde die Dalimil-Chronik zweimal ins Deutsche übersetzt, zuerst um 1330 bis 1346 (Reimübersetzung), dann um 1444 (Prosaübersetzung). Obwohl beide Übersetzungen aus dem gleichen Milieu, dem Prager deutschböhmischen Bürgertum, stammen, erfüllen sie unterschiedliche Funktionen. Während sich die Reimfassung stark für die Verteidigung der deutschböhmischen Kommunität engagiert und die Vorlage durch Varianten ergänzt, bleibt die Prosaversion der Vorlage gänzlich treu. Die Reimübersetzung wurde bereits kurze Zeit nach der alttschechischen Chronik geschrieben, so dass ihr Autor sich im nahezu gleichen Kontext wie Dalimil bewegte. Dalimil und seiner Darstellung aller Deutschen als ausnahmslose Erzfeinde des Landes wollte ihr Autor eine andere Weltanschauung gegenüberstellen und seinen Lesern aufzeigen, dass die Deutschböhmen sich von den auswärtigen Deutschen unterschieden und darüber hinaus auch böhmische Patrioten waren. Schlussendlich verband den Reimübersetzer mehr mit dem Dalimil-Autor (mehr als mit dem Prosaübersetzer), als es auf den ersten Blick erscheinen mag. Beide stammten nicht nur aus Prag und verfügten über eine ähnliche Bildung, sie engagierten sich auch politisch, benutzten die gleichen Argumente und waren böhmische Patrioten. Vor allem standen sie vor demselben Problem. Obwohl beide Sprecher einer genau umrissenen sozialen Gruppe waren (des Adels bei Dalimil, der Bürger beim Übersetzer), gaben sie vor, auch umfassendere Interessen wie das Allgemeinwohl zu vertreten, wenngleich sich dahinter tatsächlich die Interessen ihres jeweils eigenen Standes verbargen. 28 | Ferdinand Seibt bezeichnet Hussitismus als »ständische Revolution«, vgl. Seibt 1987: 96.

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Die Prosaübersetzung bringt deshalb keine nennenswerten Veränderungen mit sich, weil sie in einem ganz anderen Kontext geschrieben wurde. Der mit dem Hussitismus einhergehende gesellschaftliche Wandel führte letztlich zur politischen Partizipation der städtischen Eliten und ließ die zwischen Dalimil und dem Reimübersetzer bestehenden Differenzen bald überholt erscheinen. So wurde die Dalimil-Chronik in späterer Zeit zu einem reinen Unterhaltungswerk und fungierte ab dem 15. Jahrhundert darüber hinaus als kanonischer Text der tschechischen Literatur (vgl. Adde 2016b; 2017; Šťastný 2006; 2008).

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Der alttschechische Tristan-Roman Ein ambitioniertes Werk des ausgehenden 14.  Jahrhunderts1 Kristýna Solomon

»Verzeihen Sie mir, sagte Charlotte, wie ich dem Naturforscher verzeihe; aber ich würde hier niemals eine Wahl, eher eine Naturnotwendigkeit erblicken, und diese kaum: denn es ist am Ende vielleicht gar nur die Sache der Gelegenheit. Gelegenheit macht Verhältnisse wie sie Diebe macht.« G oethe : Wahlverwandtschaf ten (G oethe 1911: 26)

I.

D ie S toff tr adition und die B edeutung B öhmens

Die Geschichte von Tristan und Isolde gehört zu den meistverbreiteten literarischen Stoffen des europäischen Mittelalters. Tristan – der realhistorische Name – weist auf eine keltische Tradition hin, als Heimat des Epos kommen Irland, Wales, Cornwall oder die Bretagne infrage (vgl. Huber 2001: 16). Die Ursprünge der Tristan-Literatur müssen in Frankreich gesucht werden, wobei ein großer Teil der Überlieferung im Dunkeln liegt. Das Fragment von Berol, welches auf einen Zeitpunkt nach 1190 datiert wird, beruft sich auf eine Vorlage, die sog. Estoire. Das Bruchstück ist nur in einer Handschrift aus dem 13. Jahrhundert überliefert und beinhaltet einige Listenepisoden an Markes Hof, die Rückgabe Isoldes an Marke nach der Waldepisode sowie die Rache Tristans (vgl. ebd.: 18). Sein sprunghafter Erzählstil deutet auf eine mündliche Tradition hin (vgl. ebd.). Die spätere Bearbeitung des Tristan-Romans stammt aus der Feder des Thomas von Britannien (zwischen 1155 und 1170), eines gebildeten Franzosen, welcher in England wirkte. Sein über 3000 Verse zählender Tristan-Roman, den 1 | Der Aufsatz erscheint im Rahmen des internen Projekts FPVČ2018 / 13.

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man in der zweiten Hälfte des 12. Jahrhunderts beheimatet, ist fragmentarisch erhalten geblieben und stellt das erste Glied der höfischen Linie dar. Diese Linie wird dadurch gekennzeichnet, dass die drastischen Elemente der Vorstufen eliminiert werden, und es zeigt sich angeblich eine Tendenz zur Verfeinerung und Psychologisierung (vgl. ebd.: 20). Der Text bietet einen wichtigen Anhaltspunkt bezüglich der Ausgestaltung des Romans von Gottfried von Straßburg. In dieser Hinsicht sind die Abschiedsszene und die Episode über Isolde Weißhand von großer Bedeutung (vgl. Tomasek 2007: 250-260). Das 1995 veröffentlichte Carlisle-Fragment trieb die Diskussion bezüglich der Frage voran, inwieweit Gottfried Thomas folgt (vgl. ebd.: 255). Das Bruchstück enthält die Schilderung von der Wirkung des Trankes bis hin zur Hochzeitsnacht. Es ist darauf hingewiesen worden, dass Gottfried Änderungen vorgenommen und Episoden gedehnt habe.2 Die erste deutsche Bearbeitung des Stoffes liefert Eilhart von Oberg. Sein Tristan-Roman ist nach Tomasek ein Segment der Vor-Thomas’schen Stufe (vgl. ebd.: 261). Den Export des Stoffes verdankt man höchstwahrscheinlich regen politischen Beziehungen der Welfendynastie mit dem anglonormannischen Hof.3 Eilhart diente nun ein französischer Text als Vorlage. Seine Fassung wird um 1170 datiert.4 Der Originaltext lässt sich nur schwer rekonstruieren, weil die vollständigen Handschriften spätere Abschriften sind (vgl. Huber 2001: 18). Eilharts Minnekonzeption unterscheidet sich wesentlich von der der Thomas’schen Linie: Die ausdrücklich der Macht des Minnetrankes zuzuschreibende Liebe wird als Sünde wahrgenommen, das versöhnende Ende soll nicht als Plädoyer für das Liebespaar verstanden werden, sondern als »Garantie, dass der Konflikt nicht gesellschaftstypisch ist« (Stein 1984: 373). Der um 1210 von Gottfried von Straßburg gedichtete Tristan repräsentiert den Höhepunkt mittelalterlicher Dichtkunst. Das Handlungsschema folgt Thomas, jedoch stellt Gottfrieds Text alles andere als nur eine Umdichtung des Vorbildes dar: »Im Bereich der afrz. Fragmente könnte der Eindruck entstehen, daß Gottfried wohl kürzere Passagen aus Thomas fast wörtlich in seinen Text eingeschmolzen hat, daß er aber im ganzen sehr stark ändert und erweitert.« (Bonath 1985: 14) Anhand der relativ schmalen gemeinsamen Textbasis lassen sich Textpassagen vergleichen, welche am Ende des Romans situiert sind. Im Vergleich zwischen Gottfrieds Gesamttext und der Vorlage zeigt nur ein Bruchteil deutliche Übereinstimmungen. Zu Episoden, die sich ›decken‹, gehören die Entde-

2 | Zu den Neuerungen Gottfrieds gehört z. B. der eingeschobene Minneexkurz, dazu Tomasek 2007: 256. 3 | Heinrich der Löwe heiratete Mathilde, dazu Huber 2001: 17. 4 | Zu der Datierungsproblematik vgl. ebd.

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ckungsszene im Garten, der Abschied Tristans von Isolde und Tristans dilemmatischer Monolog.

II.

B öhmen als wichtige S tation der R ezep tion

Was die Rezeption des Stoffes anbelangt, spielt das Gebiet Böhmens eine wichtige Rolle.5 Gottfrieds Fragment wurde im 13. Jahrhundert von zwei deutschen Autoren vollendet. Die erste Bearbeitung verfasste Ulrich von Türheim (vgl. u. a. Meissburger 1954, Kerth 1981), die zweite Heinrich von Freiberg (vgl. Sedlmeyer 1976, Grotheus 1991, Schausten 1999), welcher nachweislich in regem Kontakt mit den böhmischen adeligen Höfen stand. Im Prolog zum Tristan erwähnt Heinrich seinen Mäzen Raimund von Lichtenberg: »ein ritter vrech und gar kurteys und ist ein Luchtenburgonoys. von Luchtenburc ist er genant. sin nam in eren ist bekant und ist genennet er Reymunt.« (Zit. nach Buschinger 1993: 73-77)

Für das böhmische Adelsgeschlecht von Lichtenburg, dem Raimund angehörte (vgl. Bechstein 1877: 21), lässt sich im 13. Jahrhundert eine Bindung an den Hof der böhmischen Könige nachweisen. Raimund war der jüngste Sohn des Smil von Lichtenburg, der zuerst die Gunst Wenzels I. genossen hatte und später zu den Beratern Königs Ottokar II. gehörte. Raimund selbst ist als Unterkämmerer Wenzels III. bezeugt (vgl. ebd.). Das Geschlecht ist im südöstlichen Böhmen in der Nähe von Deutschbrod zu situieren. Die Endstation der Rezeption auf dem Gebiet Böhmens stellt der von einem Anonymus auf Tschechisch verfasste Tristan-Roman dar, welcher – im Kontext der in der Nationalsprache geschriebenen Literatur – eine Sondererscheinung darstellt, vornehmlich weil dieser alle auf Deutsch verfassten Prätexte integriert und einen relativ kohärenten Gesamttext darbietet.

5 | Zur Rezeption im Spätmittelalter s. Mergell 1949, Grubmüller 1985, McDonald 1990, Strohschneider 1991, Müller 1992, Wyss 2010.

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III.

D as kulturell- politische K lima in B öhmen in der z weiten H älf te des 14.  J ahrhunderts

In den folgenden Zeilen werfe ich einen Blick auf das politische Klima sowie den literarischen Betrieb Böhmens in der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts, um die Sonderposition des alttschechischen Tristan-Romans besser illustrieren zu können. Das nach 1350 datierte Werk fällt in die letzten Jahre der Regierungszeit Karls IV. oder in die erste Herrschaftsphase unter seinem Sohn Wenzel IV. Während Karls Herrschaft, welche durch politische Erfolge sowie kulturellen Aufschwung gekennzeichnet war, etablierte sich Böhmen als eine der führenden politisch-kulturellen Mächte Europas. Wenzel konnte diesen Trend infolge einer angespannten innen- und außenpolitischen Situation nicht fortsetzen. Die internationale Politik wurde durch das päpstliche Schisma erschüttert und Wenzel, der sich nicht sicher war, welche Seite er unterstützen sollte, lavierte zwischen beiden päpstlichen Kandidaten. Der Verfall der Kirche gab den Reformatoren der vorhussitischen Ära einen klaren Impuls, nach einer Reinigung der Kirche zu rufen (vgl. Machala 2015: 29). Die sozialen Unruhen spiegelten sich auch in der Literatur der Zeit wider. Logischerweise bestand ein Bedarf nach moralisierender didaktischer und satirischer Literatur, wobei es für diese Epoche typisch ist, dass sich der niedere Adel, auf welchen sich Wenzel politisch ebenfalls stützte, und später auch das Bürgertum literarisch zu emanzipieren suchte. Zu den Lieblingsgattungen gehörten Exempla (Olmützer Geschichten, Gesta Romanorum). Es ist nicht überraschend, dass in dieser turbulenten Zeit religiöse Themen aktuell waren, was u. a. durch zahlreiche Legenden belegt werden kann (beispielsweise die Prokoplegende, die Legendensammlung des Passionals, die Hieronymuslegende, die Brünner oder Kleinere Katharinenlegende, dazu Baumann 1978: 171–182). In unserem Zusammenhang spielt Das Leben der Hl. Katharina (vgl. Vilikovský 1946) eine wichtige Rolle, weil hier Christus mit Tristan und Katharina mit Isolde verglichen werden, wenn die unio mystica Gottfried’scher Prägung geschildert wird (dazu Solomon 2016: 161 f.). Die höfische Epik der Zeit weist einige Übersetzungen deutscher Texte ins Tschechische auf, wobei das Alexander-Epos den wichtigsten Repräsentanten darstellt. Der Roman galt als Muster für weitere Bearbeitungen ritterlich-höfischer Literatur. In diesem Zusammenhang ragt Herzog Ernst hervor. Beliebt war auch die Dietrich-Thematik, welche durch zwei Texte vertreten ist: Růžová zahrada veliká (Der große Rosengarten), Růžová zahrada malá (Der kleine Rosengarten oder Laurin), s. Baumann 1978: 159-160. Obwohl die höfische Epik bloß ein Bruchstück der in der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts in Böhmen entstandenen Prosa darstellt, sollte diese aus verschiedenen Gründen nicht außer Acht gelassen werden. Erstens bildet sie eine wichtige Station der kontinuierlich durch ganz Europa wandernden narrati-

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ven Stoffe. Zweitens werden in Böhmen in einer relativ kurzen Zeit Werke vornehmlich deutscher Provenienz aus unterschiedlichen Entwicklungsstufen im Hinblick auf das neue soziokulturelle Klima adaptiert. Drittens kann erst infolge des Einbezugs der auf Deutsch / Tschechisch / Lateinisch geschriebenen Literatur die Bedeutung Böhmens als multikultureller Raum anerkannt werden. Im Folgenden lege ich den Fokus nun auf den dieser Tradition angehörenden, von einem tschechischen Anonymus verfassten Tristan-Roman.

IV.

W issenschaf tliches I nteresse am Tristan -R oman

Der alttschechische Tristan-Roman stellte in der Forschung leider nur ausnahmsweise ein Thema dar, was zum Teil der Tatsache zuzuschreiben ist, dass die tschechische Literaturwissenschaft, den Emanzipationsversuchen der Nationalbewegung und später der sozialistischen Dogmatik folgend, kaum Raum für die Rezeption der ursprünglich auf Deutsch bearbeiteten Literatur gesehen hat. Der Roman stand daher eine Zeit lang am Rande des Interesses und wurde als Unterhaltungsliteratur von geringer Qualität abgetan. Dementsprechend waren die Bewertungen eines aus deutschsprachigem Raum übernommenen höfischen Romans schonungslos. In einem der ersten Tristram-Aufsätze schreibt Gebauer wie folgt: »(Fast) alles, was der tschechische Autor geleistet hat, ist voll von Fehlern und nicht lobenswert.« (Gebauer 1879: 137; Übers. K. S.)6 Er kritisiert vor allem die inneren Widersprüche, die zugunsten einer mechanischen Aneinanderreihung unterschiedlicher Traditionen entstanden seien (vgl. ebd.: 137 ff.). Die führenden Literaturgeschichten der 1950er bis 1970er Jahre untermauern das Dogma: »Die höfische Poesie fiel in die Hände der Autoren zweiten Ranges, welche sich keine größeren künstlerischen Ziele setzten und sich lediglich darauf beschränkten, Unterhaltungsliteratur zu produzieren; so gaben sie sich mit der Übertragung deutscher Prosa ins Tschechische zufrieden.« (Hrabák 1959: 132; Übers. K. S.)7 Erst in jüngerer Zeit wurde der Text zum Teil rehabilitiert, jedoch steht er weiterhin außerhalb des Fokus breiterer Forschungskreise.

6 | »Ve všem jiném, co je vzdělavatele českého dílem, jen chyby a nešvary pokárání hodné nalézáme a nic chvalitebného.« 7 | »Rytířská poesie se dostávala do rukou básníků druhého řádu, kteří si nekladli vyšší umělecké cíle a omezovali se jen na to, aby splnili požadavek zábavnosti; spokojovali se především přetlumočením oblíbené četby z němčiny.«

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V.

Tristan als B estandteil europäischer Tr adition

Der Beitrag sieht sich nun als Plädoyer für die Anerkennung des Tristan-Romans als konstitutiven Bestandteil europäischer Erzähltradition und gleichzeitig für das Konzept interkultureller Mediävistik: »Denn […] eine mediävistische Forschung unter dem Leitbegriff der Interkulturalität [könnte] dazu anhalten, bereits gewonnene Erkenntnisse und Forschungsresultate neu zu bündeln, schärfer zu konturieren und darüber zu neuen Antworten und Fragen zu gelangen.« (Sieburg 2011: 12) Der alttschechische Tristan-Roman geht auf alle verfügbaren Traditionen zurück und repräsentiert ein Konglomerat der spielmännischen und höfischen Überlieferungslinien. Vorlagen bilden die Versionen von Eilhart, Gottfried und Heinrich. Jedoch soll das Werk nicht als zufällig zusammengestelltes Patchwork betrachtet werden, sondern als Resultat eines reflektierten interpretatorischen Lektüreprozesses, welcher das geistige Klima der Zeit wiedergibt. Diese These werde ich im Folgenden insofern erhärten, als ich das Verhältnis des alttschechischen Textes zu dessen Vorlagen im Hinblick auf die ausgewählten Problembereiche genauer betrachte. Insbesondere fokussiere ich auf die Darstellung des Liebestodes. Das In- und Nebeneinander von Liebe und Tod, die stetige Verflechtung jener anthropologischen Konstanten in der narrativen sowie reflexiven Ebene, prägen Gottfrieds Tristan-Version (vgl. Ridder 1999: 305). Im Prolog zu Tristan wird die Handlungsebene mit der Rezeptionsebene programmatisch verbunden, was am deutlichsten in der Brot-Metaphorik (vgl. Köbele 2004: 224) veranschaulicht wird: »Deist aller edelen herzen brôt. hie mite sô lebet ir beider tôt. wir lesen ir leben, wir lesen ir tôt und ist uns daz süeze alse brôt.« (Zit. nach Krohn 2003: 233-236)

Durch das an die christliche Eucharistie erinnernde Bild wird der Leser kompromisslos in das Geschehen einbezogen und für eine neue Minneauffassung sensibilisiert. Das geistliche Brot, welches in der Bibeltradition die Heilige Schrift symbolisiert, kann erst von einer Gemeinde rechten Glaubens geschätzt werden (vgl. Okken 1986: 41). Diese wird bei Gottfried durch »edele herzen« (Krohn 2003: 22) repräsentiert. Die Aufnahme des Brotes, welche im Akt des Hörens / Lesens erfolgt, bewirkt eine »innere Verwandlung« (Haug 2000: 78) und gleichzeitig eine zyklische Wiederbelebung der Liebesgeschichte durch das Rezipieren, welche die Endgültigkeit des Todes relativiert. Das im Prolog angedeutete Programm wird später in der Minnegrotten-Episode realisiert. Die al-

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legorische Architektur der Minnegrotte mit dem Akzent auf dem Kristallbett ist die Materialisierung der innerlich vollzogenen unio mystica (vgl. Boor 1973: 63). Nach Gottfried ist nun die Minne die einzig wahre Form der Existenz, welche imstande ist, alle Gesetze des Diesseits infrage zu stellen und dessen Grenze zu sprengen. Wie bereits angedeutet, schöpft der Tscheche aus Gottfrieds Roman, indem er einige Erzählstränge der Vorlage einbaut (Hochzeitsnacht, Mordanschlag an Brangäne, Listen und Gegenlisten, Belauschen im Garten) und somit einen unmittelbaren intertextuellen Bezug herstellt und dementsprechend zudem den – wenn auch nicht quantitativ vorherrschenden, so doch nicht zu unterschätzenden – ideologischen Hintergrund definiert. Es bleibt nun die Frage zu beantworten, wie er den Märtyrertod wahrnimmt.

VI.

D er L iebestod

Im letzten Abenteuer mit dem Schwager Kaedin wird Tristan tödlich verletzt. Sobald die Möglichkeit einer selbstständigen Genesung unrealistisch erscheint, lässt er nach der blonden Isolde schicken, welche ihn heilen kann. Als Signal für die Ankunft der blonden Isolde solle man weiße Segel hissen. Als Tristan die weißhändige Isolde nach der Farbe der Segel fragt, antwortet sie sofort, sie wären schwarz, woraufhin er stirbt. Hier fällt eine Umdeutung der Vorlagen auf, denn weder Eilhart noch Heinrich definieren das Handeln Isoldes zwangsläufig als einen kaltblütigen Racheakt: »do log sü ser, 8 daß eß ir syd ward gar layd. 9 an aller schlacht falschait 10 [do sprach die frawe herre alß eß ain weipplich hertz riet]11 sprach sü so tumlichen12 und sagt im tovgelichen,13 daß segel wär wisß nit.« (Zit. nach Buschinger 2004: 9586-9591)

8 | Do loug sie leidir vil sere [nach D; K. S.] / daß sie im lag vil sere [nach B; K. S.] 9 | Fehlt in DB; K. S. 10 | Fehlt in D; K. S. 11 | Nach B; K. S. 12 | Sie sprach gar torlichen [nach D; K. S.]. 13 | [fehlt in B; K. S.] / saite im werlichen [nach D; K. S.].

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Während der Autor der Vorlage der Rekapitulation von Tristans Heldentaten viel Raum widmet, lenkt der Tscheche die Aufmerksamkeit auf den Streit beider Isolden, in dem es darum geht, welche Frau den Verstorbenen intensiver beweint. Die soziale Dimension des Todes spielt im tschechischen Text eine wesentlich wichtigere Rolle. Nach dem Hund, welcher als Sinnbild für die Liebe dem Paar nachstirbt, folgen die Klagen und die (nicht-)realisierten Selbstmordversuche der treusten Gesellen des Paares: Kurvenal will sein Leben durch einen Sprung ins Meer beenden, was letztendlich verhindert wird, Brangäne lässt sich einmauern. Zur Trauergesellschaft werden Repräsentanten aller sozialen Schichten eingeladen, was ebenfalls eine Ergänzung des Tschechen ist. Nachdem König Marke die Wahrheit über die durch den Trank bewirkte Schicksalshaftigkeit der Minne erfährt, lässt er die Liebenden zusammen begraben und entzieht sich der Welt. Heinrichs Romanschluss ist eine Reminiszenz an Gottfried, was u. a. formal unterfüttert ist (vgl. das mit der Eucharistie assoziierte Reimpaar tôt / brôt, das bei Heinrich durch das jeweils alternierende refrainmäßige Reimpaar Ysot / tot / not ersetzt wird). Die Idee der transzendenten Liebe in Form bildhafter Metaphorik kommt hier wieder zu Wort. Auf die Gräber von Tristan und Isolde wird eine Weinrebe und ein Rosenstock gepflanzt, welche sich nach dem Tod infolge der Wirkung des Trankes verflechten. Die bis über den Tod hinaus dauernde Liebe wird nun besiegelt. »uf Tristan den werden liez der kunic uz erkorn pelzen einen rosen dorn, Marke, der sich da het begeben. und einen grunen winreben liez er uf Ysoten pelzen« (zit. nach Buschinger 1993: 6822-28).

Überraschenderweise dient die Metaphorik in Heinrichs Text nicht dazu, die weltliche Liebe zu vergöttlichen, sondern, im Gegenteil, die Tristanminne als Negativexemplum (vgl. Schausten 1999: 274) darzustellen. Die weltliche Minne wird nun im Epilog als Kehrseite der Christusminne denunziert, welche für Heinrich die vollkommenste Form von Liebe darstellt. Es ist die überwiegende Tendenz des tschechischen Autors, die in den Vorlagen vorkommenden reflexiven Passagen auszusparen. Dementsprechend geht er auf die Rosenstock / Weinrebe-Metaphorik nicht ein, er lässt ebenso die von Kurvenal artikulierte Weltabsage nicht erklingen. Der Roman wird mit der Resignation Markes und der Übergabe der Regierung an Kurvenal abgeschlossen. Im Gegensatz zu Gottfried, welcher sein elitäres Publikum sorgfältig durch den Roman begleitet, lässt der Tscheche den Leser im Stich. Dies hat zur Folge,

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dass die Botschaft des Textes weniger radikal erscheint: Den Roman liest man weder als Plädoyer für die vergöttlichte Tristanminne Gottfried’scher Prägung noch als programmatische Schrift für die Weltabsage. Dieser Feststellung liegt zugrunde, dass das Zielpublikum viel heterogener war und die im Roman angesprochenen existentiellen Themen bei den verschiedenen Schichten unterschiedlich Anklang gefunden haben. Das Publikum in Hinsicht auf die Diesseits / Jenseits-Fragen in einer äußerst sensiblen Zeit zu instruieren, wäre ein heikles Unternehmen gewesen.

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Die niederrheinische Wenzelslegende Der selige Wentzelao Václav Bok

Die Legenden über den hl. Wenzel (Václav), den böhmischen Fürsten aus der Dynastie der Přemysliden, der 929 oder 935 von seinem jüngeren Bruder Boleslav I. ermordet wurde, gehören zum Kernbestand der mittellateinischen Epik Böhmens. Wenzel wurde bald zum Patron der Přemysliden, im 13. Jahrhundert auch zum Schutzheiligen der böhmischen Adelsgemeinde und bald zum Landespatron. Bereits im 12. Jahrhundert war das bis heute allgemein bekannte tschechische Wenzelslied entstanden, das den Heiligen bittet, er möge sein Volk, die Gegenwärtigen und auch ihre Nachkommen, nicht untergehen lassen. Das Abfassen von lateinischen Wenzelslegenden erlebte zwei zeitliche Höhepunkte, und zwar das 10. Jahrhundert (damals wurden auch zwei altkirchenslawische Wenzelslegenden verfasst) und das 13. und 14. Jahrhundert.1 Seit dem Beginn des 13. Jahrhunderts wurde der Name Václav zum wichtigsten Namen in der herrschenden böhmischen Přemyslidendynastie. Diese Tradition übernahmen auch die Luxemburger, als sie 1310 in der Person Johanns von Luxemburg, dem Gemahl der Přemyslidin Elisabeth, den böhmischen Thron bestiegen.2

1 | Über die Wenzelslegenden sowie über ihre stellenweise sehr komplizierten und kontrovers diskutierten Datierungen und Beziehungen besteht eine kaum überschaubare tschechische Forschungsliteratur, zumal die Wenzelslegenden des 10. Jahrhunderts eine der wenigen Quellen für die älteste Geschichte Böhmens sind. Von der Forschungsliteratur zu den Wenzelslegenden sind für den deutschen Leser sprachlich zugänglich: Pekař 1906; Blaschka 1934; 1956; Graus 1980; Seibt 1982; Bok 1998; Nechutová 2007: 38-54; 146 ff. 2 | Nachdem Johanns erster Sohn Václav (* 1316) in Frankreich den Namen Karl angenommen hatte, wurde auch Johanns Sohn aus der zweiten Ehe, der spätere Herzog von Luxemburg Wenzel (1337-1383), nach dem böhmischen Schutzheiligen getauft. Ähnlich war es bei Karl IV. der Fall: Nach dem frühen Tod seines erstgeborenen Sohnes Václav

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Karl  IV., mit Taufnamen Václav, versuchte, das Römische Reich und das Königreich Böhmen zu verbinden, was auf mehreren Ebenen seinen Ausdruck fand.3 Dazu gehörte auch die Verknüpfung des Kults Karls des Großen und des hl. Wenzel. Karl schrieb um 1349 eine lateinische Wenzelslegende,4 die in die zu Beginn der 70er Jahre des 14. Jahrhunderts entstandene sog. Pulkava-Chronik (vgl. Emler / Gebauer 1893) integriert und mit ihr ins Tschechische und Deutsche übersetzt wurde. 1350 gründete Karl in Prag-Neustadt Kirche und Kloster der Augustiner-Chorherren mit den Patrozinien Jungfrau Maria und Karl der Große, wenige Jahre später (1354) in Ingelheim am Rhein, dem vermeintlichen Geburtsort Karls des Großen, ein kleines Kapitel zu Ehren des hl. Wenzel und des hl. Karl (vgl. Seibt 2003: 382; Spěváček 1978: 136 f.). Die Augustiner-Chorherren von Ingelheim sollten in engen Kontakten zu den Pragern stehen und unter ihren Mitgliedern sollten sich auch solche mit Kenntnissen der tschechischen Sprache befinden. Die Prager Karlskirche (der umliegende Teil der Prager Neustadt wurde später als Karlshof bezeichnet, tschechisch bis heute Karlov bzw. Na Karlově), ein in Böhmen ungewöhnlicher gotischer Zentralbau, ist architektonisch vom Aachener Dom abgeleitet (vgl. Vlček / Sommer / Foltýn 1997: 565). 1362 ließ Karl IV. im oberen Umgang des Aachener Doms einen Wenzelsaltar errichten. In der erhaltenen Stiftungsurkunde bestimmt der Kaiser, dass der von den böhmischen Königen einzusetzende Altarist eine feierliche Messe am Tag des hl. Wenzel sowie Gedächtnismessen für Karl und seine Verwandten halten solle und dass er Tschechisch können müsse, um den aus Böhmen nach Aachen kommenden Pilgern geistlichen Beistand leisten zu können (vgl. Hilger 1973: 231 f.). Kurz vor 1457 wurde von einem niederrheinischen Meister ein (neuer) Altarschrein gemalt. Sein Hauptbild stellt die Kreuzigung Christi dar. Links vom Kreuz stehen die Jungfrau Maria und der hl. Wenzel, unter ihnen kniet Karl IV. (mit einem unüblichen Wappen, in dem der böhmische Löwe und der Reichsadler kombiniert sind). Rechts vom Kreuz stehen Johannes Evangelista und der hl. Veit, ihnen zu Füßen kniet Ladislaus Postumus († 1457) mit dem kombinierten Wappen von Böhmen und Ungarn. Auf den Innenflügeln des Altars sind alle übrigen Landesheiligen Böhmens dargestellt: Siegismund und Ludmila, Adalbert (Vojtěch) und Prokop. Auf den Außenseiten der Altarflügel befinden sich u. a. Karl der Große und Wenzel. Mit der Urkunde vom (1350-1351), gab er auch seinem zweiten Sohn, dem späteren deutschen König Wenzel (* 1361), den gleichen Namen. 3 | Dazu insbesondere Spěváček (1978), das Kapitel: Die Grundprinzipien der Konzeption des böhmischen Staats und des Römischen Reiches, S. 112-162. 4 | Ihr Editor datierte die Entstehung der Legende in die Jahre 1355-1358 (vgl. Blaschka 1934: 24), Hledíková (vgl. 2010: 249) verschiebt die Abfassung von Karls Legende in die Zeit um 1349.

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30. Juli 1455 wurde Siegismund von Iglau, Priester der Diözese Olmütz, von Ladislaus Postumus, König von Böhmen und Ungarn, zum Aachener Wenzelsaltar präsentiert (vgl. ebd.: 232). Außer dem Altar, der bis 1734 im Aachener Dom stand und dessen Schrein heute in der Schatzkammer des Doms auf bewahrt wird, ist auch ein zum Altar gehörendes Missale aus dem Jahre 1498 mit dem Bild des hl. Wenzel erhalten (vgl. ebd.: 212). Dies zeigt, dass zumindest bis zum Ende des 15. Jahrhunderts in Aachen der Kult des hl. Wenzels gepflegt wurde. Dadurch kann der hl. Wenzel wohl auch in Aachen und seiner Umgebung zu gewisser Bekanntheit gelangt sein, die man allerdings nicht überschätzen sollte. Es überrascht aber nicht, dass am Niederrhein zwei deutschsprachige Legenden über den böhmischen Landesheiligen entstanden und tradiert wurden. Eine davon ist die hier zu untersuchende Legende Der selige Wentzelao.5 Die Legende Der selige Wentzelao ist in sechs Handschriften überliefert (die Siglen sind von mir eingeführt): • Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz, Ms. germ. qu. 1687, f. 172va-174va. Papier, 339 Blätter, Legendar, 1463, ripuarisch. Provenienz: Beginenkonvent Schele in Köln, das 1426 die Augustinerregel annahm, wohl auch dort entstanden (vgl. Williams-Krapp 1986: 198). Die Sigle: Be. • Bonn, Universitäts- und Landesbibliothek, cod. S 2054, f. 213r-217v. Papier und Pergament, 222 Blätter, Legendar, 15. Jahrhundert, westniederdeutsch. Provenienz: Augustiner-Chorfrauenstift Nazareth in Geldern (vgl. Gattermann 1993: 195 f.). Die Sigle: Bo. • Darmstadt, Universitäts- und Landesbibliothek, cod. 144, f. 171vb-174va. Papier und Pergament, 305 Blätter, Legenden und Predigten über Heilige, 1471, ripuarisch. Provenienz: wohl in Köln geschrieben (vgl. WilliamsKrapp 1986: 66).6 Die Sigle: Da. • Düsseldorf, Universitäts- und Landesbibliothek, Ms. C 20, f. 245rb-247va. Papier, 247 Blätter, Legendar, 1459, niederfränkisch mit ripuarischen Formen. Aus dem Beginenkonvent »im Kettwig« in  Essen (vgl. ebd.: 69; Gattermann 1993: 411 f.). Die Sigle: Dü. • Hamburg, Staats- und Universitätsbibliothek, Cod. theol. 1731 4°, f. 233rb237ra. Papier, 350 Blätter, Ende 15. Jahrhundert, mittelfränkisch. Provenienz: unbekannt, die Handschrift wurde zuletzt in der Bibliothek des Erzbischofs von Köln auf bewahrt (vgl. Williams-Krapp 1986: 207). Die Sigle: Ha. • Paris, Bibliothèque Nationale de France, cod. all. 35, f. 445ra-446vb. Papier und Pergament, 514 Blätter, Legendar, 1460, mehrere Schreiberhände. Pro5 | Die andere ist die bisher unedierte Legende mit dem Incipit Men lest van Wenselaus (vgl. Williams-Krapp 1986: 470). 6 | Vgl. das Digitalisat der Wenzelslegende: http://tudigit.ulb.tu-darmstadt.de/show/ Hs-144/0173 (28.9.2017).

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venienz: wahrscheinlich aus einem Klarissenkloster im Raum Trier, was durch den darin enthaltenen Trierer Kirchenkalender, die Trierer Heiligen, die umfangreichen Legenden über den hl. Franziskus und die hl. Klara sowie durch die Erwähnung einer Schreiberin begründet wird (vgl. ebd.: 81). Eine eingehende Beschreibung der Handschrift hatten Paul Wüst (am 28. / 29. Juli 1905) und Walther Dolch (am 25. Juli 1906) für das Deutsche Handschriftenarchiv geschaffen.7 Aus ihren Beschreibungen ergeben sich auch gewisse Beziehungen der Handschrift nach Köln. Herr Prof. Dr. Helmut Tervooren bestimmte freundlicherweise die Sprache der Wenzelslegende für den vorliegenden Aufsatz und kam zu folgendem Schluss: »Sicher ist der Text vom Niederrhein, eine Übergangslandschaft zwischen Ripuarisch und Niederländisch. […] Der Text ist am Niederrhein entstanden, zwischen Kleve und Krefeld, eventuell Neuß […].«.8 Die Sigle: (Pa). Alle Handschriften der Legende Der selige Wentzelao sind in Legendaren überliefert, die jedoch sonst einen unterschiedlichen Inhalt haben, was darauf hinweist, dass die Legende für keines davon verfasst wurde und dass sie am Niederrhein möglicherweise auch selbstständig im Umlauf war. Die meisten überlieferten Legendare mit dieser Wenzelslegende stammen aus Frauenkonventen, was sowohl mit der allgemein reichen Abschreibetätigkeit in den Frauenklöstern des Rheinlandes als auch mit den seit der ersten Hälfte des 15. Jahrhunderts verlaufenden Klosterreformen in den Ordenshäusern der Augustinerinnen und Klarissen zusammenhängt, bei denen auf das Abschreiben von religiösen Texten ein besonderer Nachdruck gelegt wurde. Die Tatsache, dass die Wenzelslegende Der selige Wentzelao bisher aus sechs Handschriften bekannt ist, belegt ihre relativ große Verbreitung – zumal mit einigen verlorenen Textzeugen zu rechnen ist – , und zwar in einem geographisch relativ engen Gebiet des Niederrheins. Die ripuarische Mundart bzw. Färbung der meisten Texte weist auf die Entstehung der Legende in dieser Region hin. Für die Bestimmung der Entstehungszeit der Legende ergeben sich aus ihrem Text keine Hinweise. Weil die älteste datierbare Handschrift (Dü) aus dem Jahre 1459 stammt und dabei bereits mehrere Lesarten aufweist, ist das Abfassen der Legende spätestens um die Mitte des 15. Jahrhunderts zu datieren. Fünf Textzeugen der Legende stehen sich textlich sehr nahe. Die unda7 | Die beiden Beschreibungen befinden sich heute in der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Handschriftenarchiv. Sie sind unter der URL-Adresse zugänglich: http://dtm.bbaw.de/HSA/Paris_700413820000.html. Anfang und Ende der Legende über den hl. Wenzel URL: http://dtm.bbaw.de/HSA/700413820109.html [beide 28.09.2017]. 8 | Für die freundliche Bestimmung der Sprache der Legende (brieflich am 05.10. 2017) danke ich Herrn Prof. Dr. Helmut Tervooren herzlich.

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tierte Handschrift aus Geldern (Bo) arbeitet den Wortlaut der Legende derart um, dass man über eine Redaktion sprechen muss (näher dazu weiter unten). Der Vergleich der fünf übrigen Handschriften zeigt eine große Stabilität des Textes. Die Lesarten betreffen nur Kleinigkeiten, der Inhalt der Legende wird keineswegs geändert. Eine größere Anzahl von individuellen Varianten weisen die Handschriften Dü (1459) und Da (1471) auf. Einige Lesarten der aus Essen stammenden Handschrift Dü sind dialektale Varianten zu den ripuarischen Texten der Legende, beispielsweise wird in Dü für die Aussätzigen der Ausdruck malaitzen statt des ussetzigen verwendet, für die adversative Konjunktion nhd. aber das Wort mer gebraucht (aber auch sonder ist darin vertreten). Aus der Tatsache, dass der Text von Dü (1459) mehrere individuelle Lesarten gegenüber den etwas jüngeren Textzeugen Pa (1460), Be (1463) und Ha (undatiert) hat, die den ursprünglichen Wortlaut wohl relativ getreu überliefern, ist ersichtlich, dass die Handschrift Dü nicht die Vorlage für diese Handschriften sein konnte9 und dass zumindest noch eine ältere Handschrift existiert haben muss. Besonders die Handschriften Pa und Be haben einen sehr ähnlichen, fast identischen Wortlaut und überliefern wohl sehr gut den ursprünglichen Text. Dass jedoch keine dieser beiden Handschriften das ›Original‹ ist, zeigen ihre, wenn auch seltenen kleinen Abschreibefehler, die aber bereits von den Schreibern selbst korrigiert wurden. Solche Korrekturen müssen verständlicherweise anhand einer Vorlagehandschrift durchgeführt worden sein, die jedoch kaum für die beiden erhaltenen Handschriften dieselbe war. Diese Korrekturen sind auch ein Beleg dafür, dass auch diese beiden Handschriften Abschriften sind, und zwar von nicht erhaltenen Vorlagehandschriften. Somit ist mit einigen verschollenen Handschriften der Legende Der selige Wentzelao zu rechnen. Als Leithandschrift für die Edition wurde die Wenzelslegende der Pariser Handschrift (Pa) gewählt. Der darin enthaltene Text der Legende ist etwas älter und etwas besser als der des zweitbesten Textzeugen, der Berliner Handschrift (Be). Mit ihrer Mundart passt die Wenzelslegende der Pariser Handschrift sehr gut in die angenommene Entstehungslandschaft der Legende.

E inrichtung der E dition Der Text wurde transliteriert. Die Punkte über y wurden nicht berücksichtigt. Die Kürzel sind ohne Kennzeichnung aufgelöst, Konjekturen anhand anderer Handschriften erscheinen kursiv. Für die Eigennamen wurden Majuskeln verwendet, für die Appellativa Minuskeln. Die Wortgrenzen wurden nicht geändert, belassen wurden auch die getrennt vom Verbstamm (bzw. vom deverba9 | Der Text in der Handschrift Ha hat einige wenige Lesarten, die sie mit der Hs. Da (1471) verbinden.

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tiven Substantiv) stehenden trennbaren Präfixe und Negationspartikeln. Die Satzgrenzen richten sich in der Edition möglichst nach den Großbuchstaben der Handschrift. Es wurde die größtmögliche Übersichtlichkeit und Sparsamkeit des Apparats angestrebt. Die Lesarten der anderen Handschriften wurden nur dann aufgenommen, wenn Auslassungen oder Hinzufügungen vorliegen oder wenn das gleiche Wort in sehr abweichenden grammatischen Formen erscheint. Unterschiedliche Schreibungen ein und desselben Wortes konnten nicht registriert werden, weil dies den Apparat zu sehr belasten würde; die Phonologie und Graphematik der einzelnen Handschriften divergiert entsprechend der Gewohnheiten des betreffenden Skriptoriums und des Dialekts stellenweise beträchtlich. Die unterschiedliche Graphemik wurde lediglich bei den Eigennamen angegeben. Die Interpunktion wurde modernisiert.

Te x t der L egende D er selige W entzelao Paris, Bibliothèque Nationale de France, cod. all. 35, f. 445ra-446vb.

[445ra] Van deme selygen Wentzelao10

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Der selige Wentzelao11 was geboren van edelem geslechte der hertzogen. Syne moder was eyne heydynnen, sonder syn vader was eyn goit kirsten man inde eyn hertzoge. Euer dyt 12 heilge kint wart 13 zo der scholen gesant inde wart geleirt in den vryen kůnsten. Inde hei vlyssichde14 sich van synen kyntlichen dagen vp tzo behalden syne ionfferlicheit. Inde do hey voert op woys inde quam tzo syme menlichen alder, so hoyte hey sich also sere van sunden, so dat wanne in doychte, dat hei geuallen was in eyne degeliche sunde, tzo hantz geynck hey tzo deme preister inde bychte dat 15 op synen kneen. Inde her na, as nu der hertzoge syn vader gestoruen was, so vergaderde sich alle dat volck tzo samen inde koeren in tzo eyme vursten in de stat syns vaders, we wail hey dat 16 noede dede. Inde dar na heylt hey sich sere wyslichen inde oitmoedich17 in der verhauenre

10 | Van deme selygen wentzelao Pa Van dem seligen wentzelao Be Van deme seligen wentzelao Ha Van dem selygen merteler wenzelaus Da Van deme seligen wentzelae Dü 11 | wentzelao Pa Be Ha ] wentzelaus Da wentzelae Dü 12 | Euer dyt Pa Euer dit Be Ha Da] Ew mer dit Dü 13 | wart Pa Be Ha Dü ] waer oberhalb der Zeile hinzugefügt Da 14 | vlyssichde sich Pa Ha vlüssichde sich Be vlyssigede sich Da ] vlychtichde sich Dü 15 | dat Pa Be Ha Dü ] die Da 16 | we wail hey dat Pa we wail hei dat Da wie wail he dat Be ] wie wail dat hie Dü wie wail dat he Ha 17 | oitmoedich Pa Da oitmodich Be ] oitmoedelick Dü oitmoedelich Ha

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glorien. Hey bewysde sich allen mynschen mynlichen. Hey vysenteirde de seichen. Hey cleyte de nackden. Hey spysde de hongerigen. Inde hey was vol van allen18 wercken der barmhertzicheit. Inde we wal hey was barmhertzich tzo allen mynschen, so was hey eme seluer doch tzo mail hart. Hey was van ynbuyssen angedayn mit ouergulden conyncklichen cleyderen, sonder op syme bloissen licham droych hey eyn heren cleit. Man leist [445rb] van eme, dat hey in der wynter zyt tzo der mydder naicht op plach tzo stain inde geynck mit bloissen voissen in de kirche. Dyt 19 oyfde 20 hey also dycke inde steitlichen, dat eme dat bloit vloys van synen voyssen, also dat man syne bloedige voistrappen 21 dyckwile sporen moichte. Hey was also seir oitmoedich, dat hey mench werck dede, dat synen knechten geboirde. Hey plach ouch des nachtes heymelichen op tzo staen inde geynck op dat velt inde mede da weis inde dreschde den in de moyl yn inde boyck da van ostien inde plach de omb tzo deylen in de kirchen. Des gelichs plach hey ouch tzo doyn in deme herfste, as de drůůen ryff synt. So nam hey de d[r]ůůen 22 inde parsde de myt synen eygen henden inde gaff den wyn den preisteren, dat sy da myt mysse doyn soulden. Hey hatte ouch also grois medelyden mit den armen, dat hey in tzo hulpen plach tzo komen mit synre eygenre personen. Hey vysenteirde steitlichen de seychen. Hey intfeynck de vssetzigen 23 inde de pylgeren. Hey plach zo begrauen de doden, de gedoyt waren,as eyn ander Thobias. Hey was ouch also barmhertzich 24 inde goederteiren, so wanne dat man eynigen mysdedigen mynschen verordelen soulde, des en moichte hey neit hoeren inde geynck dan tzo hantz vs. Hey was ouch also seir oitmoidich, dat man leyst van eme, dat hey hatte eynen buschs, da neymant in yn dorste houltz 25 haůwen. Dar in geynck der selige [445va] man sere dycke heymelichen des nachtes inde nam also vyl hoůltz vp syne schůlderen, as hey gedragen mochte, inde gaff dat den armen. Inde dyt selue wercke dede hey also dycke inde also vyl, dat der busschs de důynre wart. Inde as dyt myrckden syne knechte, so sachten sy it yrme heren Wentzellao 26 . Inde saychten 27: »Here, in dem busschs wirt vyl houltz gehaůwen inde wir en wyssen neit, wer it doyn mach.« Do saychte hey in weder: »Ich beuelen 28 , dat ir den

18 | allen Pa Be Ha Da ] den Dü 19 | Dyt Pa Da dit Be] Dat Dü Ha 20 | oyfde Pa Ha oifde Da oyfte Dü ] oiffende Be 21 | voistrappen Pa Be Ha Da ] voitstappen Dü 22 | důůen Pa ] drůůen Ha Da druuen Be Dü 23 | vssetzigen Pa Be Ha vssetzygen Da ] malaitzen Dü 24 | also barmhertzich Pa Be Ha also barmhertich Dü ] also seir barmhertzich Da 25 | houltz Pa Ba Ha Dü ] eynich houltz Da 26 | wentzellao Pa Be wentzelao Dü Ha wenzelao Da 27 | saychten Pa saichten Be Ha sachten Dü ] sprachen Da 28 | beuelen Pa Be Da] beuelen v Dü beuelen ůch Ha

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buschs hoedet vlyslichen. Inde is it, dat ir eymant da ynne vynt, den soylt ir also sere slayn myt roeden inde mit stecken vp synen ruggen, dat hey der mysdait vort me schuwen mach, sonder huedet vch, dat ir in neit in sleit vp syn houfft off onder syn angesichte. Inde as ir dat hait gedaen, so geyfft eme dat houltz, dat hey gehauwen hait, inde layst in gayn mit vreden.« Do de dienre dyt gebot intfangen hatten, do daden sy vlysslichen den buschs hoeden. Inde as it quam vmb de mydder naycht, so stoent der selige Wentzelaus 29 vp ind dede snode cleyder an inde geynck in den vurgesachten verbodennen buschs inde heyue eyn groisse boirden houltz inde laichte de vp syne schulderen. Inde as 30 in he ouer ervulgden de vur gesachte hoyder, so angryffen sy in inde slogen in also sere, dat eme dat bloyt ouer synen ruggen vloys, inde sy en wysten neit, dat yt ir here was. Dit leit hey geduldenclichen inde nam dat [445vb] houltz inde bracht it den armen. Inde de selůe wercke dede hey dicke. Hey was ouch van groisser lydesamheit, want do dat geruchte synre groisser heyllicheit kundich wart in allen landen. Inde den kirsten slogen alle dynck tzo gelucklicheit, de onder desme hertzoge gereyeirt woirden. Syn eygen broder, de genant 31 was der wrede Boezelaůs 32, deser nam rait mit synen rytteren, want hey sere benyde de goede wercke syns broders inde begerde syn rych tzo besytzen na syme dode. Inde hey machde eyne wirtschaff inde noidichde synen broder Wentzelaum 33 tzo der wirtschaff onder eyme schyne der vruntschaff. Inde do hey gebeden was inde komen woůlde, so bekante hey de tzo komende dynck, de da gescheyn soulden, as eyn prophete inde hey saynde 34 alle syne vrunt inde alle de geloůůyge mynschen, de do in der stat Praga wonden. Inde etzlichen synre vrunde cuyssede hey inde gesaynde sy, off hey nummerme weder komen in soulde 35 inde sy nummerme gesien in soulde. Inde also gienck hey tzo syme broder. Inde syn broder quam eme tzo gemoete as eyn ander Iůdas 36 inde kussde synen broder. Inde as sy vaste sayssen in der wirtschaff, so geynck der wrede Boezelaus 37 tzo rayde mit synen quaden rytteren, we hey mochte den heilgen Wentzelaum 38 doeden sonder geruchte off vp loyff des volcks. Hie ynbynnen was eyn van den

29 | wentzelaus Pa Be Ha Dü ] wenzelaus Da 30 | as in he ouer ervulgden – he von der gleichen Hand über der Zeile nachgetragen Pa ] als in hie ouer ervulgden Da als in hie ouer ervolgden Ha als in hir ouer vervolgeden Dü ] as in ouer ervulgden Be 31 | genant Pa Be Ha Da ] genomt Dü 32 | boezelaůs Pa boezelaus Be Ha Dü bozelaus Da 33 | bentzelaum Pa Be Ha Dü wenzelaum Da 34 | saynde Pa Ha Da Dü ] gesaynde Be 35 | ind si nummerme gesien en soulde am Rand von der gleichen Hand hinzugefügt Be 36 | iůdas Pa Be Ha judas Dü yudas Da 37 | boezelaus Pa Dü boezelaůs Ha boeselaus Be bozelaus Da 38 | wentzelaum Pa Be Ha Dü wenzelaum Da

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quaden vngelouuygen inde lusterde 39 eme in syne ore, dat hey syn pert sadelde [446ra] inde rede ewech inde vluewe. Inde hey verstoynt van gode, dat eme der dach behalden was inde ingesat, dat hey komen soulde tzo der wirtschaff der hemelscher tayffelen. Inde sprach: »Wir willen hude dryncken den kelch der passien in de ere des heylgen Mychaelis 40, vp dat hey vnse selen brenge in dat paradys 41.« Inde as it quam vmb trynt de důnckheit der naycht, so bereyten de boesen ere laygen, vp dat sy doden moichten den onnoeselen inde den reynen van henden inde van hertzen. Inde want hey de 42 gewoende hatte vp tzo staen tzo der mydder naycht 43 inde tzo der kirchen alleyne plach tzo gayn, also heylte hey ouch 44 nu syn gewoende. Inde syn broder quam eme tzo gemoete. Inde der knecht Christi groyte synen broder na gewoenlichen seden, as hey plach. Doe antwerde eme weder der boese vervulger inde sprach: »Ich hayn dir gesteren gedeynt, sonder nu wyl ich dir alsus dienen!« Inde zoich syn swert vss inde sloich synen broder vp syn houft. Inde dat swert spranck van dem houffde inde in hatte in noch neit gewoent. Inde hey sloich noch 45 eynen 46 slach inde der in mochte yn ouch neyt quetzschen. Inde tzo deme dirden slage spranck eme dat swert vss der hant. Do nam der selige Wentzelaus 47 dat swert vp in syne hant inde sprach: »Nu sich, du alre wreyste vyant inde neit myn broder. Dyn swert mochte nů důrch gayn dyn hertze, dat du [446rb] in mich wouldes slayn, sonder48 dat sy vere 49 van mir. Dar omb nůym nu dyn swert inde vollenbrenge, dattu willen hattes.« Do reyff hey synen boesen knechten inde sy sloegen in mit eren swerden inde staychen 50 mit eren geleyen inde ersloegen in doit. Inde also voir syne sele tzo der hemelscher wirtschaff. Syn heyllich licham wart begrauen van den kirstenen inde vyl myrackel geschagen by syme graue. Man leyst ouch, dat syn bloit neit en moichte aff gewesschen werden noch aff gedruget van vyl raynen, as off yt

39 | lusterde Pa Be Dü lůsterde Ha ] růynde Da 40 | mychaelis Pa Be Ha Dü michaelis Da 41 | paradys Pa Be Ha Dü ] ewige paradys Da 42 | de Pa Da die Be Ha ] eyn Dü 43 | tzo der mydder naycht Pa zo der mydder naicht Be tzo der mitter nacht Ha zo der mydder nacht Da ] to mydde nacht Dü 44 | heylte hey ouch Pa hielte he ouch Be Ha hielte hie oec Dü ] heilte ouch Da 45 | noch oberhalb der Zeile von der gleichen Hand hinzugefügt Pa 46 | eymen Pa ] eynen Be Ha Da Dü 47 | wentzelaus Pa Be Ha Dü wenzelaus Da 48 | sonder Pa Be Ha Da ] mer Dü 49 | werre ] verre Be Ha Da Dü 50 | staychen mit Pa staichen myt Be staichen myt Da ] staichen in mit Ha staicken in myt Dü

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wrayche intgayn 51 synen doitsleger inde tzo eyme zeychen synre myrackel. Inde vnse here moicht wail sprechen tzo syme broder dat wort, dat hey tzo Cayn 52 sprach: «Sych, de stymme des bloitz dyns broders royft tzo myr van der erden.« It geschach eyns, do der selige Wentzelaus 53 noch leyffde, dat hey mit anderen vursten geladen was in des konyncks hoff inde hey geynck alre eychterste hynder den anderen vursten. Inde heromb woirden 54 de ander vursten tzornich inde satten vp, dat sy eme geyne stat tzo sytzen halden yn woulden. Do geynck hey gerynge yn. Inde man sach an syme houfde eyn gulden cruce blencken inde de engel voelgden eme na. Inde do der keyser dat sach, do stoent hey selue gerynge vp ind intfienck in mit groisser eirwerdicheit inde hey heylte in van der zyt an in groisser eren vur alle den anderen vursten inde [446va] heren. Der heilge Wentzelaus 55 hatte eynen dienre, den hey tzo male leiff hatte ind in vur synen alre getruwesten vrunt heylte ind der seluer eme ouch alre heymlichste was. De 56 vurgenante 57 dienre, do syn here erslagen was, quam hey tzo dienen syme broder, dem wreden Boetzelao 58 . Inde hey plach dyckewyle tzo verzellen de heillicheit syns heren vur eme inde vur alle deme gesynde. Inde ass dit hoirte dese Boezelaus 59, so geboit hey desen knecht tzo hangen, want hey en moichte neit horen sagen van der heillicheit syns broders. Inde as dyt geschach, dat hey na syme wreden gebode gehangen wart, so heynck dese knecht zwey iair lanck leuendich an dem ghalgen ouermytz de verdienste syns heren Wentzelao 60 . Dar na ouer etzliche zyt, do de kirsten woulden dyt heilge licham ouer voeren in de stat Praga, do vůnden sy, dat alle syne wonden waren gesont gemacht volkomenclichen. Inde as sy myt 61 deme lycham quaymen an eyn wasser, do was dat wasser also ouervloedich grois, dat sy da neit wail in moichten ouerkomen. Inde sy reyffen an syn hulpen inde alzo hantz sagen sy den wayn, da der 62 heilge licham vp lach, vp der anderre syden des wassers inde sy quaymen ouch alle

51 | wrayche intgayn Pa wraiche intgayn Be wrayche intgain Ha wraicke intgayn Dü ] wraiche reyff intgaen Da 52 | cayn Pa Be Ha Dü cayin Da 53 | wentzelaus Pa Be Ha Dü wenzelaus Da 54 | woirden de ander Pa Ha worden die ander Be worden den ander Da ] woirden ander Dü 55 | wentzelaus Pa Be Ha Dü wenzelaus Da 56 | De Pa Die Be Der Ha Dey Dü ] Dese Da 57 | vurgenante Pa Be Da vůrgenante Ha ] vurgenomde Dü 58 | boetzelao Pa Be boezelao Ha Da Dü 59 | boezelaus Pa Be Da boetzelaus Ha Dü 60 | wentzelao Pa Be Ha Dü wenzelao Da 61 | myt deme lycham quaymen Pa myt dem licham quamen Be Da myt deme licham quaymen Ha ] quamen myt deme licham Dü 62 | der Pa Be Ha Da ] dat Dü

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ouer sonder letzonge. Inde do sy mit dem heilgen licham quaymen in de stat 63 van Praga, do wart der duyster kerker der gevangen verluycht mit eyme won[446vb]derlichen lychte. Inde it wart eyne groisse ertbeuynge inde de bende der geuangenen sprongen alle op. Inde de doeren des kerckers geyngen vp, also dat sy vry ewech gayn moichten. In der na vulgender nacht erscheyn onse here Christus nackt gecruciget dem konynge Dacio. Inde der konynck vraychde yn, waromb hey anderwerff gecruciget were. Do antwerde onse here inde sachte: »Dyne sunden crucigen mich anderwerff. Inde it in sy dan, dat du bouwes eyne kirche in de ere myns heylgen dieners Wenzelao 64, so in salt du geyne genade moigen vercrygen vur dyne sůnden, de du gedaen hais.« Inde do der konynck intspranck van deme slaiffe, do was hey vervoirtende 65 van deme gesichte. Inde hey dede 66 machen eyne schone kirche van wonderlicher groisden. Inde ordenneirde da ynne tzo wonen broeder van sente Benedyctus orden. Inde hey begaiffde dat cloister myt vyl erffs inde goeden inde satte dar in dat wirdyge heyltům des seligen Wentzelao 67, da got durch wirckde vyl myrackel tzo eren deme gloriosen merteler Christi. 68

Die Legende Der selige Wentzelao ist in allen Handschriften als ein Ganzes geschrieben, ohne jedwede Gliederung (Absätze, Zwischenüberschriften oder Initialen). Dies könnte zwar durch die Aufnahme der Legende in Legendare bedingt sein, aber viel wahrscheinlicher ist es, dass auch der ursprüngliche Text der nicht besonders langen Legende nicht weiter untergliedert war. Kurzer Inhalt der Legende: Wenzels Abstammung aus fürstlichem Haus, seine Jugendzeit und Regierungsantritt – seine christlichen Tugenden, besonders Frömmigkeit, Enthaltsamkeit, Barmherzigkeit und Demut (mit breiter Schilderung der Episode, wie Wenzel wiederholt in seinem eigenen Wald für arme Leute Holz beschafft und dafür gemäß eigenem Gebot von den Wächtern verprügelt wird) – die Einladung Wenzels zum Festmahl seines Bruders Boleslav – die Ermordung Wenzels durch Boleslav und sein Gefolge – Wenzel am Kaiserhof – die Geschichte von Wenzels treuem Diener – die Translation Wenzels nach Prag (samt den dabei geschehenen Wundern) – die Vision des dänischen Königs. Die Folge der Geschehnisse stimmt mit mehreren Wenzelslegen-

63 | stat van praga Pa Ha Dü ] stat praga Be Da 64 | wenzelao Pa wentzelao Be Dü Ha wenzelai Da 65 | vervoirtende Pa Be Ha vervortende Da ] vntvruchtende Dü 66 | Inde hey dede Pa ende he dede Be ind hey dede Ha ind hei dede Da ] Ende dede Dü 67 | wentzelao Pa Be wentzelaus Ha Dü wenzelai Da 68 | Christi Pa Da Ha ] nicht in Be ] Christi. Amen. Dü

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den überein; ungewöhnlich ist jedoch die Platzierung von Wenzels Besuch am Kaiserhof 69 erst nach der Schilderung von Wenzels Tod. Wenzel wird in der Legende Der selige Wentzelao vor allem als Heiliger und Märtyrer geschildert, nicht so sehr als Herrscher, wenn man von der kurzen Erwähnung absieht, dass er sich vor dem Urteilsspruch über einen Verbrecher entfernte, aber auch dies wird von der Legende ausdrücklich der Barmherzigkeit Wenzels zugeordnet. Diese allgemeine religiöse Auffassung der Gestalt Wenzels bildete sich in jüngeren lateinischen Legenden aus Böhmen heraus und war auch für das kirchliche Milieu am Niederrhein gut geeignet; die eventuell in der Vorlage enthaltenen realhistorischen Episoden aus dem entfernten Böhmen (z. B. der Märtyrertod von Wenzels Großmutter Ludmila oder Wenzels Streit mit dem Fürsten von Kouřim) wurden als für den frommen Zweck unwesentlich ausgelassen. Die Form des Namens des Heiligen ist in der Legende Der selige Wentzelao offensichtlich aus einem lateinischen Text übernommen, wo sie im Ablativ stand, vielleicht »De sancto Wenceslao« oder ähnlich. Dies ist einerseits verständlich, weil man ja die Form des Namens nicht genau kannte, andererseits könnte ein gebildeter Bearbeiter diese Form des Ablativs unschwer in den Nominativ Wenceslaus überführen. Der Verfasser der deutschen Legende hielt möglicherweise die Form Wenceslao für den Nominativ, was auf einen relativ niedrigen Bekanntheitsgrad des Heiligen im Entstehungsgebiet der Legende verweisen könnte. Trotzdem erscheinen an einigen Stellen der Legende auch der richtige lateinische Nominativ und Akkusativ (nicht jedoch Genitiv), nur die Darmstädter Handschrift verwendet die lateinischen Kasus konsequent und richtig, mit der Überschrift: »Van dem selygen merteler Wenzelaus« beginnend. Wenzels Bruder Boleslav wird in der Legende Boezelaus (oder sehr ähnlich) genannt, möglicherweise dem Wort böse angeglichen. Andere Personen aus Böhmen (Wenzels Eltern und sein Diener) haben in der Legende keine Namen. Von den Ortsnamen wird lediglich Prag genannt. Es wird nicht einmal der Name des Landes erwähnt, in dem Wenzels Eltern und dann Wenzel selbst herrschen. Die Legende ist in kurzen Sätzen formuliert, ihre Lexik ist relativ einfach, es werden keine besonderen Vergleiche (der Vergleich Wenzels zu Tobias erscheint bereits in einigen lateinischen Legenden aus Böhmen) oder bildhaften Formulierungen verwendet. Die Sätze werden einander vorwiegend parataktisch zugeordnet, die Nebensätze in selten vorkommenden Satzgefügen haben einen übersichtlichen Satzbau. Auch wenn ab und zu eine etwas kompliziertere Formulierung erscheint, zeigt der Gesamtcharakter des Textes, dass er für 69 | Nur die Handschrift aus Geldern spricht richtig und konsequent über den Kaiserhof, in den übrigen fünf Handschriften wird bei der ersten Erwähnung über den Königshof gesprochen, erst in der zweiten Erwähnung über den Kaiserhof.

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das Vorlesen (und Zuhören) bestimmt war und dass er im Klostermilieu als sog. Tischlektüre benutzt wurde.70 Eine besondere Stellung hat die aus Geldern stammende Handschrift (Bo). Der Name Wenzel ist darin konsequent zu Wendelin verändert und der Text ist stilistisch und teilweise auch inhaltlich überarbeitet. Manches wird ausgelassen, einige Sätze werden gekürzt, der Stil wird noch weiter vereinfacht. Einige Beispiele einer solchen Vereinfachung seien hier angeführt: »Inde do hey voert op woys inde quam tzo syme menlichen alder, so hoyte hey sich also sere von sunden« (Pa f. 445ra) – »Doe hi was geworden tot enen man, doe heuet hi hem voer sunden gehuet« (Bo f. 213v); »Des gelichs plach hey ouch tzo doyn in deme herfste, as de drůůen ryff synt. So nam hey de drůůen inde parsde de myt synen eygen henden« (Pa f. 445rb) – »Des gelichs in den heruest, dan nam hi druuen ende parsde die mit synre hant« (Bo f. 214r); »Inde as it quam vmb de mydder naycht, so stoent der selige Wentzelaus vp ind dede snode cleyder an« (Pa f. 445va) – »Totter midder nacht nam sunte Wendelyn snoeder cleyder aen« (Bo f. 214v). In der Gelderner Handschrift sind die sich wiederholenden Formulierungen beseitigt  – die ursprüngliche Gestalt der Legende erwähnt an zwei Stellen, dass Wenzel die Kranken besuchte: »Hey vysenteirde de seichen« (Pa f. 445ra) und »Hey vysenteirde steitlichen de seychen« (Pa f. 445rb), in der Gelderner Handschrift wird die zweite Stelle ausgelassen. Der Text der Legende aus Geldern (Bo) hat auch einige inhaltliche Abweichungen von den übrigen Texten. Nur hier wird der Vater des Heiligen namentlich genannt, und zwar im Satz: »Als syn vader die hertoch Wladislao gestoruen was« (Bo f. 213v). Die Quelle dafür war sicher ein weiterer lateinischer Text, weil in den übrigen bisher bekannten deutschen Legenden, von denen einige aus geographisch und mundartlich entfernten Gebieten stammen, Wenzels Vater entweder gar nicht oder mit seinem richtigen Namen Vratislav genannt wird.71 Auf eine lateinische Vorlage weist auch hier die wohl aus dem lateinischen Ablativ übernommene Form Wladislao hin. Ein inhaltlicher Unterschied ist auch die Bezeichnung der Person, die Wenzel vor von seinem Bruder ausgehender Gefahr warnt – in der Gelderner Handschrift ist es ein Christ: »een van den gelouigen« (Bo f. 215v), in den übrigen fünf Handschriften »eyn van den quaden 70 | Aufgrund von ähnlichen sprachlichen Zügen schließen auf die Verwendung zur Tischlektüre auch die Editoren des Legendars Der Heiligen Leben (vgl. Brand et al. 1996: xv). 71 | Der Name von Wenzels Vater – Vratislav – erscheint nur in der im Elsass entstandenen Legende »Mjn aller liebsten, wir súllent andehtiklich begon«, Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz, Ms. mgq 190, f. 45v-49v, hier f. 49r; in der kürzenden bairischen Übertragung der Legende Oriente iam sole – Augsburg, Universitätsbibliothek, Cod. III. 1.2° 22, f. 343ra-344ra, hier f. 343ra – wird er fälschlicherweise als Wentzeslaus bezeichnet.

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vngelouuygen« (Pa f. 445vb), was als lectio difficilior und als ursprünglich anzusehen ist. Die Gelderner Handschrift bzw. schon ihre anzunehmende Vorlage hatte die Veränderung entweder aufgrund einer logischen Überlegung oder nach einer anderen Quelle vorgenommen.72 Während in den übrigen Texten der Legende Der selige Wentzelao Boleslav bei seiner Attacke auf Wenzel das Schwert dreimal entgleitet, entgleitet es ihm es in der Gelderner Handschrift gleich beim zweiten Schlag (Bo f. 216r). Höchstwahrscheinlich handelt es sich wieder um eine Reduzierung der Gelderner Handschrift, denn in allen lateinischen Legenden entgleitet Boleslav das Schwert erst beim dritten Schlag. In der Translation Wenzels kommen in der Gelderner Redaktion zwei Tatsachen vor, die der dominikanischen Lesung aus dem Jahre 1300 (darüber unten mehr) entsprechen, während sich die ursprüngliche Fassung der Legende Der selige Wentzelao von diesem lateinischen Text unterscheidet. Nicht besonders beweiskräftig, aber doch zu verzeichnen ist die unterschiedliche Formulierung, wann die Translation Wenzels stattfand – der Wortlaut der Handschrift aus Geldern steht der dominikanischen Lesung von 1300 sehr nahe: »Nae langer tyt« (Bo f. 217r) – »Post multum vero temporis cursu« (Reichert 1898: 300), während in den ursprünglichen Texten der niederrheinischen Legende die Zeit der Translation noch unbestimmter bleibt: »Dar na ouer etzliche zyt« (Pa f. 446va). Die Vision des dänischen Königs geschah der Handschrift Bo zufolge in der gleichen Nacht, als der Leichnam Wenzels nach Prag übertragen wurde, laut der ursprünglichen niederrheinischen Fassung war es erst in der Nacht nach der Translation. Es zeigt sich somit, dass der Bearbeiter des Textes aus Geldern oder vielmehr bereits seine Vorlage noch einen weiteren Text über Wenzel benutzt hat. Es ist schwer zu begreifen, warum in der Gelderner Handschrift konsequent Wendelyn statt Wenzel steht. Obwohl der iroschottische Missionar Wendelin in der nahen Erzdiözese Trier verehrt wurde, kannte der Bearbeiter wohl seinen Namen, aber nicht die mit Wendelin verbundene Geschichte (das einzige Bindeglied wäre, dass auch Wendelin aus einer Herrscherfamilie stammte, sonst war sein Schicksal völlig anders). Vielleicht hatte den Bearbeiter die Nähe der beiden Namen von Heiligen, die er beide nicht besonders gut kannte, verwirrt. Höchstwahrscheinlich verlief die Entwicklung dieser Redaktion so, dass in der angenommenen Vorlage der Gelderner Handschrift noch Wenzel stand und dass darin einige weitere bzw. andere Tatsachen über den Heiligen aus einer anderen lateinischen Quelle aufgenommen wurden und dass erst die Gelderner Handschrift den Namen Wenzel zu Wendelin veränderte. Wie bei anderen deutschen Legenden über den hl. Wenzel diente als Vorlage für das Abfassen der Legende Der selige Wentzelao ein nicht ermittelter lateinischer Text, der wohl in einem längeren Prozess durch eine Kombination aus 72 | So wird Wenzel beispielsweise in der Legende Oriente iam sole durch einen »fidelium quispiam« gewarnt (vgl. Pekař 1906: 416).

Die niederrheinische Wenzelslegende Der selige Wentzelao

böhmischen lateinischen Wenzelslegenden des 13. und 14. Jahrhunderts entstanden war. Dies wird anhand einiger Episoden sichtbar, die erst in jener Zeit in den Textbestand dieser Legenden gelangt sind. Zu solchen Episoden gehört diejenige über den hl. Wenzel am Kaiserhof. Sie erscheint zum ersten Mal in der Legende Ut annuncietur I (vgl. Podlaha 1917: 22 f.), die wohl zwischen den Jahren 1230 und 1250 entstanden ist (vgl. Devos 1964: 194). Die Legende Der selige Wentzelao enthält auch die Episode über die Vision des dänischen Königs Erik († 1250), der als Buße eine Kirche zu Ehren des hl. Wenzel erbauen soll. Diese Geschichte, die in die lateinischen Wenzelslegenden offensichtlich aus der Chronik Martins von Troppau gelangte, erschien zuerst in der nach 1277 verfassten Legende Oriente iam sole (vgl. Kølln 1986: 48) und wurde dann in allen nachfolgenden Legenden tradiert. In der Legende Oriente iam sole (vgl. ebd.: 91 ff.), in Devos’ Variante der Legende Ut annucietur I (vgl. Devos 1964: 126 ff.), in der Legende Ut annucietur II aus der Zeit kurz nach der Mitte des 14. Jahrhunderts (vgl. Podlaha 1917: 59-62) sowie in einigen weiteren Legenden wird diese Episode ziemlich breit, etwa im Umfang einer Druckseite, geschildert. In der nichtapprobierten Lesung der böhmischen Dominikaner Sanctus Wenceslaus athleta Christi egregius aus dem Jahre 1298 wurde sie auf vier längere Sätze reduziert, wobei König Erik nur noch als König von »Dacie« erscheint (vgl. Reichert 1898: 292 f.; Kølln 1986: 70 f.). In der approbierten Lesung von 1300 Sanctus Wenceslaus dux Boemorum (vgl. Kølln 1986: 71 f.) wurde dieser gekürzte Text ein wenig stilistisch umgearbeitet. In der gekürzten Fassung wurde diese Episode in zahlreichen Legenden- und Breviartexten weiter tradiert (vgl. ebd.: 72-77). Die ursprüngliche Fassung der Legende Der selige Wentzelao entspricht fast wortgenau der Lesung von 1330: »Cui interroganti, cur esset iterum crucifixus, dominus respondit: ›Tua me paccata iterum crucifigunt‹« (vgl. ebd.: 72) – »[…] der konynck vraychde yn, waromb hey anderwerff gecruciget were. Do antwerde onse here inde sachte: ›Dyne sunden crucigen mich anderwerff‹« (Pa f. 446vb), während die Lesung von 1298 über »zweimal« nicht spricht. In der ursprünglichen Fassung der niederrheinischen Legende findet man jedoch zwei Abweichungen von der dominikanischen Lesung von 1300 – die Vision des dänischen Königs findet erst in der Nacht nach der Translation statt und Christus erscheint dem König »nackt gecruciget« (Pa f. 446vb). In der Redaktion aus Geldern wird die Nacktheit Christi nicht erwähnt, es steht hier lediglich: »gecruyst« (Bo f. 217r), und die Vision geschah im Einklang mit der lateinischen Vorlage am Tag der Translation des hl. Wenzel. Beide Änderungen der Gelderner Handschrift oder vielmehr ihrer Vorlage können jedoch einfach als Ergebnis einer logischen Überlegung erklärt werden. In vielen Wenzelslegenden, angefangen von den denen, die im 10. Jahrhundert entstanden, entgleitet Boleslav das Schwert, mit dem er Wenzel angreift, oder aber Wenzel entreißt es ihm aus der Hand. Wenzel gibt dem Bruder das

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Schwert zurück und sagt dabei, er könne nun seinen Bruder erschlagen, aber er werde das nicht tun und reicht das Schwert Boleslav, damit dieser seine böse Tat vollende. In den Legenden des 13. und 14. Jahrhunderts, Oriente iam sole und Ut annuncietur II (vgl. Pekař 1906: 417, bzw. Podlaha 1917: 38 f.) wird es auf diese Weise geschildert. Der Wortlaut in der Legende Der selige Wentzelao entspricht ziemlich genau der Formulierung in der Legende Oriente iam sole: »Vide, crudelissime hostis et non frater, quia ecce gladius tuus posset intrare cor tuum, quem in me accuisti! Sed absit, ut sanguinis fratris reus effciar; tu pocius, ut placet, perfice, quod cepisti.« (Pekař 1906: 417) – »Nu sich, du alre wreyste vyant inde neit myn broder. Dyn swert mochte nů důrch gayn dyn hertze, dat du in mich wouldes slayn, sonder dat sy vere van mir. Dar omb nůym nu dyn swert inde vollenbrenge, dattu willen hattes.« (Pa f. 446ra-rb). Sehr nahe stehen sich die Formulierungen der beiden Legenden auch bei Wenzels Abschied von den Prager Freunden: »[…] hey saynde alle syne vrunt inde alle de geloůůyge mynschen, de do in der stat Praga wonden. Inde etzlichen synre vrunde cuyssede hey inde gesaynde sy, off hey nummerme weder komen in soulde inde sy nummerme gesien in soulde.« (Pa f. 445vb)  – »valefaciens universis fidelibus Christi, qui tunc Prage commorabantur, osculo quibusdam dato tamquam irreversurus et oculis carneis numquam eos visurus procedit.« (Pekař 1906: 416). Mit ähnlichen Worten wird dies auch in der Legende Ut annuncietur II erzählt, die allerdings laut Forschungsliteratur in gewissem Maße von der Legende Oriente iam sole abhängig ist (in Ut annuncietur I kommt diese Szene nicht vor): »valedicens vniversis, qui tunc Prage erant fidelibus, tamquam non reuersurus et oculis carneis numquam illos amplius visurus osculo quibusdam dato eciam blandissimo« (Podlaha 1917: 34). Die Episode über die Verprügelung Wenzels durch die Hüter seines eigenen Waldes erscheint erst in der Legende Ut annuncietur II, die aus der ersten Hälfte des 14. Jahrhunderts stammt. Diese Legende ist rhetorisch reich ausgeschmückt, was auch für diese Episode gilt (vgl. ebd.: 18 f.). Für die umfangreiche, aber stilistisch schlichte Erzählung dieser Episode in der Legende Der selige Wentzelao vermochte ich keine direkte lateinische Vorlage zu finden. Von mehreren Stellen, die sich zum Vergleich anbieten, sollen hier nur einige wenige angeführt werden. Boleslavs Hass gegen Wenzel ist nicht nur dadurch motiviert, dass er die Regierung an sich reißen möchte, sondern auch dadurch, dass er den Bruder um seine guten Taten beneidet: »want hey sere benyde de goede wercke syns broders inde begerde syn rych tzo besytzen na syme dode« (Pa f. 445vb). Eine entsprechende Formulierung findet sich lediglich in der Legende Karls IV. Crescente religione christiana: »Ipse vero frater suus Boleslaus bonis eius actibus invidens, terrena concupisciens et celestia despiciens, eius principatum desiderans« (Blaschka 1934: 70). In der Legende Der selige Wentzelao wird auch das Schicksal von Wenzels treuestem Diener geschildert, der in fast allen lateinischen Legenden Podiven heißt, in der nieder-

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rheinischen jedoch namenlos bleibt. Laut der niederrheinischen Legende tritt dieser nach Wenzels Tod in die Dienste Boleslavs ein und lobt ständig die Heiligkeit Wenzels. Boleslav, der dies nicht hören mag, lässt ihn deshalb hängen, aber der Diener bleibt dank der Verdienste des hl. Wenzel zwei Jahre lang am Galgen lebendig. (Weiter wird er in der Legende nicht mehr erwähnt.) In einigen böhmischen Legenden geht der Diener Podiven zuerst ins Exil, nach der Rückkehr erschlägt er den Anführer von Boleslavs Gefolge, wird dafür gehängt, bleibt drei Jahre lang am Galgen, wobei ihm Haare und Bart weiter wachsen. Schließlich wird er in der St.-Veits-Kirche begraben. (vgl. Emler / Gebauer 1873: 222 f.; Podlaha 1917: 53 f.; Pekař 1906: 429). Gewisse Ähnlichkeiten mit der Legende Der selige Wentzelao finden sich in der Legende Karls IV. Auch hier wird Podiven deshalb gehängt, weil er Wenzel lobt. Karls Legende hat mit der niederrheinischen auch gemeinsam, dass Podiven zwei Jahre lang am Galgen hängt (vgl. Blaschka 1934: 76). Nach der Legende Von sant Wentzlaus dem künig, die dank dem sie enthaltenden, sehr erfolgreichen Legendar Der heiligen Leben eine weite Verbreitung erfuhr, ist die Legende Der selige Wentzelao die am meisten überlieferte deutschsprachige Legende über den böhmischen Landesheiligen. Sie ist bis jetzt aus sechs Textzeugen bekannt, einige weitere verschollene Handschriften sind mit großer Wahrscheinlichkeit anzunehmen. Diese am Niederrhein entstandene Legende basiert auf einem unbekannten lateinischen Legenden- oder Breviartext, der Ergebnis einer langen Entwicklung der böhmischen lateinischen Wenzelslegenden war und in dem die Legenden des 13. und 14. Jahrhunderts, insbesondere Oriente iam sole, Ut annuncietur II, die dominikanische Lesung von 1300 sowie die Legende Karls IV., ihre Spuren hinterlassen haben.

L iter atur Blaschka, Anton (1934): Die St. Wenzelslegende Kaiser Karls  IV. Einleitung, Texte, Kommentar. Prag. Blaschka, Anton (1956): Kaiser Karls IV. Jugendleben und St.-Wenzels-Legende. Weimar. Bok, Václav (21998): ›Wenzel‹ (›Václav‹). In: Burghart Wachinger  /  Gundolf Keil / Kurt Ruh / Werner Schröder / Franz Josef Worstbrock (Hg.): Die deutsche Literatur des Mittelalters. Verfasserlexikon, Bd. 10. Berlin / New York, Sp. 855-862. Brand, Margit / Freienhagen-Baumgardt, Kristina / Meyer, Ruth / WilliamsKrapp, Werner (Hg.) (1996): Der Heiligen Leben. Bd. 1: Der Sommerteil. Tübingen.

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Zu den Figuren der imitatio in zwei alttschechischen Verslegenden des 14.  Jahrhunderts Jan K. Hon

Die Heiligenverehrung hatte im Spätmittelalter eine starke Konjunktur – das scheint genauso unumstritten zu sein wie die wichtige Rolle, die sie in der Politik Karls IV. spielte. Es ist auch keine neue Erkenntnis, dass im Zusammenhang damit die Hagiographie  – insbesondere die volkssprachige  – im spätmittelalterlichen Böhmen eine unübersehbare Blüte erlebte.1 Angesichts der Selbstverständlichkeit, mit der diese Allgemeinplätze hingenommen werden, ist es jedoch verwunderlich, dass bis heute keine systematische Darstellung der spätmittelalterlichen Legendistik aus Böhmen vorliegt. Der folgende Versuch kann diese Forschungslücke freilich nicht füllen, er möchte jedoch anhand von zwei Beispielen auf einen Aspekt hinweisen, der bei einer breiter angelegten weiteren Erforschung des bohemikalen hagiographischen Materials eine wichtige Rolle spielen dürfte. Anlass dafür ist eine zunächst recht oberflächliche Beobachtung: Die zwei hier betrachteten Verslegenden aus dem 14. Jahrhundert – nämlich die alttschechische (›Stockholmer‹) Legende von der Heiligen Katharina und die Legende von den zehntausend Rittern – betreiben einen auffälligen Aufwand, die Heiligen, über die sie erzählen, auch auf der Handlungsebene (also nicht etwa in metatextuellen Kommentaren) explizit als Fürsprecher und Heilsvermittler für ihre Nachfolger außerhalb der erzählten Welt auftreten zu lassen. Sie bedienen sich dabei jeweils desselben Grundmusters, das in beiden Fällen die Stofftradition vorgibt: Bevor die Gefolterten den Märtyrertod erleiden, bitten sie Gott um das Heil für ihre Verehrer und legen zugleich dar, welche religiösen Praktiken ihre Verehrer kennzeichnen. Die Stimme Gottes bestätigt alsdann vom Himmel, dass die Bitte erhört wird, und die Märtyrer können endlich sterben. Dadurch entsteht ein bemerkenswerter transdiegetischer Konnex: Die Protagonisten der Erzählung etablieren in der erzählten Welt einen Kult, der 1 | Vgl. in jüngerer Zeit etwa Jiroušková 2016: 623-626.

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außerhalb dieser fortgesetzt werden soll – und durch ›paratextuelle‹ Hilfsmittel auch gleich fortgesetzt werden kann, etwa wenn dem Leser am Schluss ein Gebet beigesteuert wird, das genau jene Formeln aufgreift, die die Heiligen in der Erzählung ihren Verehrern in der Außenwelt vermacht haben.2 Dieser Figur liegt offenbar ein bestimmtes Konzept der als imitatio verstandenen Bezugnahme auf die Heiligen zugrunde: Die in den Fürbitten formulierten kultischen Praktiken sollen als Instrumente der Nachfolge der Märtyrer dienen, deren eigene Imitabilität wiederum in ihrer imitatio Christi begründet ist – eine Form des doppelten imitabile also, die dem Erzählen über Heilige generell eignet.3 Wie die breite Überlieferung der beiden Stoffe – insbesondere die zahlreichen Katharinenlegenden – im europäischen Mittelalter zeigt, ist diese Figur keineswegs ein Spezifikum der alttschechischen Hagiographie allein. Sie fällt in den tschechischen Texten jedoch durch Ausmaße und Formen auf, die – soweit ich sehe – weder in der deutschen noch in der lateinischen Überlieferung ihresgleichen finden. Das legt wiederum die Vermutung nahe, dass das Problem der Imitabilität in den tschechischen Legenden deutlich in den Vordergrund tritt und dass diese Texte daher jene Schichten des legendarischen Erzählens besonders zur Schau stellen, die der Bezugnahme des Publikums auf die Heiligen dienen sollen. Um diese Aspekte der impliziten Funktionalität der Hagiographie soll es im Folgenden gehen. Ich sehe diesen Versuch u. a. als eine Gelegenheit, die alttschechischen Texte in eine mediävistisch-komparatistische Perspektive zu rücken, die auch funktionale Aspekte berücksichtigt. Gleichzeitig sollen die verhältnismäßig wenig bekannten alttschechischen Texte an die aktuelle Debatte um das legendarische Erzählen angebunden werden, die insbesondere in der germanistischen Mediävistik intensiv geführt wird. Sie sind nämlich – das wird gleich deutlich – in engem Kontakt mit der deutschsprachigen Literatur ihrer Zeit entstanden und bieten somit immerhin eine gute Gelegenheit, bei der aktuellen Theoriebildung auch rezeptionsästhetische Aspekte zu berücksichtigen.

2 | So ist es z. B. in manchen deutschen Fassungen der Katharinenlegende – etwa im Passional (vgl. Köpke 1852: 688, V. 9-53 und 690, V. 15-41) oder im sog. Märterbuch (vgl. Gierach 1928: V. 25472-25516 und 25535-25550). In sog. Legendenpredigten – etwa im Bebenhauser Legendar (ich konnte das Exemplar der Müncher Staatsbibliothek Cgm 257 einsehen) – fehlt zwar ein solches Gebet, doch es lässt sich vermuten, dass in solchen Fällen der eigentliche pragmatische Kern der Befassung mit der Heiligen in der Liturgie verankert war. 3 | Vgl. zu diesem Prinzip in den Katharinenlegenden Weitbrecht 2012; für eine systemtheoretische Bestimmung des Problems der Imitabilität vgl. Strohschneider 2010: dort insb. 147 ff. und 161.

Zu den Figuren der imitatio in zwei alttschechischen Verslegenden

I.

W ucherung der I mitabilität : D ie ›10.000 R it ter ‹

Der verstärkte Fokus auf die Imitabilität der Heiligen lässt sich besonders deutlich an der tschechischen Bearbeitung der Legende von den zehntausend Rittern zeigen.4 Im Kern der Handlung dieser Legende steht die Aufforderung Kaiser Hadrians5 an ein Ritterheer, seinem heidnischen Gott Opfer darzubringen; zehntausend Christen unter den anwesenden Rittern verweigern die Opferdarbringung und werden dafür mit dem Tod bestraft. Während aber die meisten Bearbeitungen6 ausführlich schildern, wie die christlichen Ritter zueinander sowie zum Christentum gekommen sind und was sonst dem Martyrium alles vorausging, hält die tschechische Bearbeitung diese Ereignisse äußerst knapp und scheint sich hauptsächlich für zwei andere Momente der Erzählung zu interessieren, die wiederum in den anderssprachigen Fassungen eher kurz geraten: für den Tod der Ritter und vor allem für ihre abschließenden Fürbitten. Das ist deshalb wichtig für die implizite Funktionalität der Legende, weil gerade in der Verbindung des Martyriums und der Fürbitten die Modellierung der Heiligen als ›doppeltes imitabile‹ begründet ist, wie noch näher zu zeigen ist: Der Märtyrertod etabliert die Heiligen als Nachfolger Christi, die Fürbitten machen es wiederum anderen Menschen möglich, zu den Nachfolgern der Märtyrer gezählt zu werden. Beides bedarf einer näheren Betrachtung. Dass der Märtyrertod ein Akt der Nachfolge Christi ist, versteht sich in der christlichen Tradition eigentlich von selbst. Doch damit wollen sich die Legenden von den 10.000 Rittern offenbar nicht zufrieden geben – und die tschechische Bearbeitung erst recht nicht. In allen Fassungen wird betont, dass das Martyrium der 10.000 Ritter nicht nur die Nachfolge Christi bedeutete, sondern dass es wie der Tod Jesu auch wirklich war. In der mittelhochdeutschen Versfassung heißt es etwa sowohl in der vorred 4 | Die Legende ist in mehreren Redaktionen überliefert; vgl. zusammenfassend Zatočil 1968: 214. Ich zitiere im Folgenden die Kremsmünsterer Handschrift nach der diplomatischen Ausgabe Vondráks (vgl. 1889). Als Entstehungszeit der Fassung vermutet Vondrák das Ende des 14.  Jahrhunderts (vgl. ebd.: 25), während er die vermutliche ursprüngliche Fassung auf die erste Hälfte des 14. Jahrhunderts datiert (vgl. ebd.: 24); vgl. zur Überlieferung der Legende neben Zatočil und Vondráks Einleitung (ebd.: 21-25) auch Truhlář 1888; 1889. Lenka Jiroušková (Würzburg / F reiburg i. Br.) danke ich für den Hinweis auf weitere, bislang unbekannte Textzeugnisse. 5 | So in der tschechischen Bearbeitung; in der anderssprachigen Überlieferung handelt es sich um Hadrian und Antonius, die nach der Legende zusammen regierten. 6 | Ich gehe von den deutschen und niederländischen Fassungen aus, die Zatočil (vgl. 1968: 165-224) neben einer der tschechischen Redaktionen und der lateinischen Fassung nach den Acta Sanctorum abdruckt. Vgl. zur deutschsprachigen Überlieferung Williams-Krapp 1999; 1989.

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als auch in der Aufforderung des Königs, die Ritter zu töten, sie sollen »gemartert« werden »Got geleich« (Zatočil 1968: 171, V. 21 f.) bzw. »als Christ gemartert wer« (ebd.: 177, V. 346 f.). Aber auch ohne diese direkten Bemerkungen sind die Parallelen zum Tod Jesu offensichtlich: Die Ritter werden gekreuzigt, und das auf einem Berg (in der Regel Ararat) hinter der Stadt, sie bekommen vor der Hinrichtung Dornenkronen aufgesetzt, die Erde bebt. Der tschechische Text erweitert diese Passage erheblich,7 und das nicht nur indem er die Drastik der Tortur eindrücklich vor Augen führt,8 sondern auch in der Anlehnung an das Evangelium. Hier bebt nicht nur die Erde – entsprechend der Schilderung des Todes Jesu nach Matthäus bewegen sich auch die Felsen, die Gräber öffnen sich, die Toten auferstehen und offenbaren sich »vielen« Menschen.9 Zuvor wird außerdem geschildert, dass die durstenden Ritter

7 | Die Textproportionen der tschechischen Bearbeitung in der Fassung der Kremsmünsterer Handschrift sind selbsterklärend: Für alles, was dem Martyrium der Ritter vorausgeht, braucht der Text nicht viel mehr als einhundert Verse – praktisch so viel, wie er auf die Folterung selbst verwendet, bevor er in zweihundert Versen, also einer Hälfte des gesamten Umfangs, die abschließenden Fürbitten schildert. 8 | »Die einen kreuzigten sie, / andere warfen sie auf grob behauene Stämme, / so dass die Äste ihre Kehle durchdrangen, / anderen zerschmetterten sie das Herz, / einige köpften sie, / einige flochten sie in Räder ein. / Andere wiederum schindeten sie / und zogen das lebendige Gedärm aus ihnen heraus. / So eine Drangsal fügten sie ihnen zu, / bis alle Menschen ob ihres Leids weinen mussten.« – »[G]edny krzyzowachw, / Drwhe na o ſ trwy methachw, / Yax nyekterym ſ wk hrdlo prodrzyel, / Drwhym gych frdeczko rozdrzyel, / Nyekterym hlawy ſ yechyechv, / Take nyektere w kola pletyechw. / Pak nyektere opak drzyechw, / Zywa trzyewa z nych wlaczyechw. / Takw tryzyen nad nymy pachachw, / Az gych mvky w ſ yczkny plakachw.« Vondrák 1889: 34, V. 157-166. Alle Übersetzungen J. K. H. 9 | »Der Fels begann abzurutschen, / die Gräber sich zu öffnen, / Tote stiegen [aus den Gräbern] heraus / und offenbarten sich vielen. / Die Menschen waren in großer Angst, / alle fürchteten sich sehr. / Die Erde bebte in den Wurzeln, / wie wenn Gott gestorben wäre.« – »Skale ſ ye pocze fyedaty, / Rowowe ſ ye odwyeraty, / Mrtwy lyde wzhrowow (sic) [Kommentare in runden Klammern hier und im Folgenden nach Vondrák, J. K. H.] w ſ tawachw, / Mnohym ſ ye vydyety davachw. / Byechw lyde whroznem ſ trachw, / W ſ yczkny ſ ye velmy bachw. / Potrzye ſ ye ſ ye zemye zkorzyen, / Yako by byl bwoh wmrzyel.« Ebd.: 35, V. 185-200. Vgl. Mt. 27,51 f.: »Et terra mota est et petrae scissae sunt et monumenta aperta sunt et multa corpora sanctorum qui dormierant surrexerunt et exeuntes de monumentis post resurrectionem eius venerunt in sanctam civitatem et apparuerunt multis.«

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statt Wasser Essig – mit Beifuß und Galle vermischt – bekamen,10 und es wird auch mehrmals ausdrücklich betont, dass all dies ganz wie beim Tod des Heilands gewesen sei.11 Diese Übersättigung mit Versatzstücken aus dem Evangelium mutet geradezu als eine Art Verschmelzung mit der Szene des Todes Jesu an – und diese Tendenz kulminiert wohl in einem Moment, in dem nicht nur das Setting, sondern auch die zeitliche Rahmung dem Bericht des Evangeliums angepasst wird. Wie alle Synoptiker berichten, bricht, während Jesus schon am Kreuz hängt, um die »sechste Stunde« eine Finsternis aus, die bis zur »neunten Stunde« dauert und dem Tod des Heils unmittelbar vorausgeht. Die alttschechische Legende adoptiert genau diese Zeitangaben für die letzten Momente vor dem Tod der Ritter: »Die Sonne verlor ihre Schönheit, der Tag verwandelte sich in nächtliche Dunkelheit. Es war finster von der sechsten bis zur neunten Stunde, das sollt ihr für die ganze Wahrheit halten. Die Gesellen konnten nicht einander sehen, jeder meinte, es wäre der Jüngste Tag gekommen. Es donnerte schrecklich und es gab unruhigen Wind und Blitze.« Ebd.: V. 193-200.12

Und wie im Evangelium, in dem diese Finsternis zwischen der sechsten und der neunten Stunde die letzten Worte Jesu einleitet, bereitet sie auch hier die letzten Worte der Ritter vor, nämlich die bereits erwähnten abschließenden Fürbitten – die sich im Unterschied zu den Evangelien allerdings über eine gute Hälfte des gesamten Textes erstrecken. Diese Anlehnung an die Zeit der biblischen Ereignisse zeigt, dass es bei der Inszenierung des Martyriums wohl um etwas mehr geht als nur um eine Ansammlung von Anspielungen auf die biblischen Ereignisse. Indem nicht nur 10 | »Sie reichten ihnen kein Wasser, / sondern vermischten Beifuß und [Galle] / mit Essig« – »Wodycze gym nepodachw, / Ale pelynyk s lwczy (sic) smye ſ ychw /  ſ wocztem«, Vondrák 1889: 35, V. 174 ff. Vgl. Mt 27,48 bzw. Mk 15,36. 11 | Vgl. neben dem Zitat in Anm. 9: »Wie Gott an seinem Körper / für uns litt, so litten – merke wohl – / auch sie« – »Tak yako bvoh na ſ wem tyele / Trpyel pro ny, to vyez czyele, / Tez gh ſ w ony w ſ ye trpyely«, Vondrák 1889: 34, V. 153 ff.; »Wie es beim Tod Gottes geschah, so geschah es auch zu dieser Zeit« – »Yax czo ſ ye przy bozy ſ mrty dalo / Tez ſ ye ge ſ t w tw dobw stalo«, ebd.: 35, V. 183. 12 | »Slwncze ſ w [sic, J. K. H.] kra ſ w potraty, / V noczny tmv ſ ye den obraty. / Byela (sic) ge ſ t tma od ſ ye ſ te [h]odyny [Korrektur J. K. H.] az do devate, / Tho za celw prawdw mate. / Nycz drwh drwha newydye ſ y (sic), / By ſ wdny den przy ſ yel, kazdy mnye ſ ye; / Tak byl od hroma hrozny hrzmet, / Nepokoyny vyetr y ble ſ tk (sic).«

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dieselben Motive wie in der Bibel in Szene gesetzt werden, sondern die Ereignisse auch zur selben Zeit wie der nahende Tod Jesu stattfinden, entsteht eine temporale Verschränkung zwischen den geschilderten und den biblischen Ereignissen, die nicht nur auf eine bloße symbolische Repräsentation der Erlösungstat Jesu hinausläuft, sondern diese vielmehr präsent machen und gewissermaßen fortsetzen soll. Es ist insofern nur folgerichtig, dass sich die Ritter explizit »in dieser Stunde« (»tw hodynw«, ebd.: 36, V. 206), in der Jesus in den Evangelien den Vater anrief, unisono an den Heiland wenden mit der Bitte, er möge seines eigenen Martyriums gedenken: »Allmächtiger Gott, begehrter himmlischer Vater, gedenke deiner Geburt und deines heiligen Martyriums, des schrecklichen Todes, den du für uns, deine Christen, erlitten hast; siehe auf uns, Schöpfer, jetzt, um deines heiligen Martyriums willen, um unserer Qualen willen, die wir für dich an unserem Leib und Leben erleiden.« Ebd.: V. 209-218; Hervorh. J. K. H.13

Dieses Gebet setzt die temporale Verschränkung des Martyriums mit dem Tod Jesu fort, indem der Zeitpunkt, zu dem das Gebet stattfindet (»siehe auf uns, Schöpfer, jetzt«), abermals hervorgehoben wird, und auch syntaktisch und rhetorisch wird das Martyrium der Ritter mit dem Tod Jesu zusammengeschweißt, indem die zwei Adverbialbestimmungen »um deines heiligen Martyriums willen« (»Pro twe swate vmvczenye«) und »um unserer Qualen willen« (»Pro naſye mvky «) juxtaponiert und alliteriert werden. In dieser temporalen und rhetorischen Verschmelzung beider Ereignisse ist nun aber noch eine weitere Verbindung begründet, nämlich jene zwischen den beiden Polen der Heiligen als doppeltes imitabile. Es ist symptomatisch, das es bis zu diesem Punkt in dem Text ausschließlich darum geht, das Martyrium der Ritter in die unmittelbare Nähe der Heilstatt Jesu zu rücken. Sobald der Text diesen Punkt erreicht und somit diese Verknüpfung etabliert hat, geht es im Folgenden nicht mehr um das Heil der Ritter selbst, sondern um das ihrer Verehrer. Ab jetzt treten die Ritter in ihrem Gebet als Fürsprecher für

13 | »[B]oze w ſ yemohwczy, / Kraly nebe ſ ky zadwczy, / Zponen (sic) na ſ we narozyenye / Y na ſ we ſ wate vmvczenye, / Na hro ſ nv (sic) ſ mrt, ge ſ to ſſ za ny / Trpyel, za ſſ we krzye ſ tany; / Vezrzy, tworcze, na ny nynye / Pro twe swate vmvczenye, / Pro na ſ ye mvky, ge ſ to trpyme za tye / Na ſſ wem tyele y na zyvotye.«

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andere Menschen bei Gott auf, 14 und zwar wieder unter erheblicher Erweiterung dieser Figur gegenüber den anderssprachigen Fassungen.15 Im alttschechischen Text listet die folgende Passage eine lange Reihe von Möglichkeiten auf, wie unterschiedliche Menschen die heiligen Ritter für sich als Fürsprecher gewinnen können. Sie liest sich wie eine Gebrauchsanweisung, die möglichst alle Bereiche der Heiligenfrömmigkeit abdeckt, und lässt sich in die folgenden sechs Abschnitte aufteilen, die meist mit dem wiederholten Ausruf »Wir bitten dich« eingeleitet werden. Die ersten zwei Abschnitte (Vondrák: 36 f., V. 223-256) richten sich allgemein an alle, die den Heiligen durch einen rituellen Akt (Gebet, Almosen, Fasten usw.) Ehre erweisen. All diesen Menschen soll zuteilwerden, dass sie der Gnade Gottes »dienen«16 (ebd.: 37, V. 251 f.), und falls ein solcher Mensch vor Gericht stehe oder sich sogar in einem Irrtum befinde, soll er aus einer solchen Probe »wie aus reinem Wasser«17 hervortreten (ebd.: V. 255 f.). Die anschließenden Fürbitten scheinen dann jeweils unterschiedliche soziale Schichten ins Visier zu nehmen. Der dritte, längere Abschnitt (ebd.: V. 257-297) wendet sich offenbar an den Ritterstand: alle »Diener« (»ſ luhy«) der 10.000 Märtyrer, die sich in »Kämpfen«, »Turnieren«, »Streiten« sowie »Tjosten«18 befinden (ebd.: V. 259-264), sollen vor ihren Feinden beschützt werden, damit sie nicht vorzeitig sterben und vor ihrem Tod noch Beichte leisten und die Kommunion empfangen können, so dass sie in Gottes »Königreich ohne jegliche Todessünde«19 eintreten (ebd.: 38, V. 284 f.). Es soll ihnen darüber hinaus ge14 | »Erhöre nun, lieber Schöpfer, / durch unsere Kraft, / worum wir deine Gnade bitten, / während wir in unserem großen Leid verweilen« – »W ſ ly ſſ tworcze myly / Nynye za na ſ ye ſ yly / Czoz pro ſ yme na twe mylo ſ ty, / G ſ wcze w ſ wey velyke bolefty«, ebd.: V. 219-222. 15 | Die deutschen, niederländischen, aber auch die Brünner alttschechische Fassung beinhalten alle ein relativ knappes Schlussgebet, das mehr oder weniger das wiedergibt, was an der entsprechenden Stelle in den Acta Sanctorum steht: »Domine Deus, memento nostri in hoc patibulo crucis et suscipe petitionem nostram et ea quae a te poscimus; ut quicumque memoriam passionis nostrae cum jejunio clebraverint et silentio, mereantur a te consequi fructuosam mercedem, tribuendo eis sanitatem corporum et medicamentum animarum; er in domibus eorum bonorum omnium ubertatem concede, diesque jejunii nostrae passionis unum annum poenitentialem concludat se observantibus. Hoc exposcimus a te, dominator Domine Deus. Dissipa Domine omnem occupationem sathanae et omnem immundum spiritum et omnem infirmitatem expelle, quia gloriosum et laudabile est nomen per cuncta saecula saeculorum.« (Zatočil 1968: 223) 16 | »By […] ſ lwzyl twy mylosty«. 17 | »yako z czy ſ te vody«. 18 | »w […] bogych […] twrnegych […] zlem potkany […] klany«. 19 | »do kralow ſ tweho […] bez hrzyechw smrttelneho«.

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gönnt werden, dass sie mit drei Tagen Vorlauf über ihren nahenden Tod erfahren, damit sie sich auf ihn entsprechend vorbereiten können (ebd.: V. 292-297). Der vierte Abschnitt (ebd.: V. 298-306) richtet sich wohl an den Adel: Wer immer eine Kirche oder einen Altar den Rittern zu Ehren errichten lasse oder zu diesem Zweck Geld oder ein Dorf spende, dem soll seine Schuld vergeben und er vor jeder weiteren Sünde geschützt werden. Adressat des fünften Abschnittes (ebd.: 38 f., V. 307-347) dürften vor allem Bürger oder der niedere Adel sein: Wer immer das Martyrium der Ritter an den Wänden seines Hauses »Ölfarben [?] oder Kohle aufgezeichnet, / aus Holz geschnitzt, / im Stein gemetzelt / oder in einem Buch im Schrank verborgen«20 habe (ebd.: 39, V. 310-313), dessen Haus und alle, die in ihm verweilen, sollen vor jedem Unglück und der Macht des Teufels geschützt werden. Der letzte, sechste Abschnitt (ebd.: 40, V. 348-367) macht schließlich die Verehrung der Märtyrer vom sozialen Status bzw. Besitz ganz unabhängig: Wer immer »alle Tage […] / fromm, mit Demut, / mit Paternoster und reinem Opfer«21 eine Kirche besuche (ebd.: V. 356-359), die den Rittern geweiht ist oder zumindest einen den Rittern geweihten Altar oder ihre Reliquien beinhaltet, der soll ebensolchen Lohn bekommen, »wie wenn er deiner Liebe [d. h. der Liebe Gottes, J. K. H.] dienen würde«22 (ebd.: V. 364). Sobald die Ritter all diese Fürbitten ausgesprochen haben, bestätigt eine Stimme aus dem Himmel: »Alles, worum ihr gebeten habt, / wisst, das habt ihr erlangt. / Für wen immer ihr auch bittet / und eure Häupter zu Gott erhebt / der wird von Gott erhört, / sei er ein Armer oder ein Herr, / eine Jungfrau oder eine Dame – / sie alle werden geliebt«23 (ebd.: 40 f., V. 380-387), ihre Seelen werden von Engeln in den Himmel erhoben, und auf die Erzählung folgt ein Schlussgebet (ebd.: 41, V. 402-410), in dem ein »wir« darum bittet, zu »Dienern« der Ritter zu werden und somit das Himmelreich zu erreichen. Die Kremsmünsterer Handschrift der alttschechischen Legende enthält außerdem einen Nachtrag »des Schreibers«, der seine Leser dazu aufruft, für ihn zu beten, und ihnen seinerseits dasselbe verspricht, solange sie bereit seien, der folgenden »Rede« – einer geistlichen Auslegung des Begriffs »Rittertum« – zuzuhören (ebd.: V. 1-3). Und auch diese »Rede« stellt ihrerseits heilsbringende Wirkung in Aussicht.24 20 | »Ma ſ ty neb czrnydlem p ſ ano, / Aneb z drzyewa virzezano, / Neb z kamene vyryto, / Neb na knyhach w ſſ krzyny ſ kryto«. 21 | »Na w ſ aky den […] / S nabozen ſ twym a ſ pokorw, / S paterzy y ſ czy ſ tw offyerw«. 22 | »Yako by twey mylo ſ ty ſ luzyl«. 23 | »To w ſ ye, czo ſ te pro ſ ily, / Wyezte, ze ſ te w ſ ye obdrzyely: / Za kohoz vy pro ſ yte, / Swe hlawy k bohw zwodyte, / Ten ge ſ t kazdy w ſ ly ſ an, / Lecz bwd chwdy lecz bwd pan; / Bwd panna nebo pany: / G ſ w w·ſ yczny v mylowany.« 24 | »Seufzt mit aufrechtem Herzen zu Gott, / auf dass [er] euch heile… [Auslassung nach Vondrák, J. K. H.], / in gutem Zustand bewahre / und euch diese Rede / euren

Zu den Figuren der imitatio in zwei alttschechischen Verslegenden

Wie man sieht, folgen die Fürbitten jeweils demselben Muster: Es werden Andachtspraktiken genannt, deren Durchführung mit einem Heilsversprechen verbunden ist. Die in Aussicht gestellten Manifestationen des Heils haben zwar häufig einen durchaus ›praktischen‹ Charakter, etwa wenn Schutz vor Gefahren oder Minderung der notwendigen Buße versprochen wird – aber auch in diesen Fällen geht es am Ende immer um das Seelenheil des Menschen, der sich als Nachfolger der heiligen Ritter verstehen will: die Minderung der Buße ist etwa als eine Minderung der Sündenlast formuliert, der Schutz vor einem plötzlichen Tod soll wiederum sicherstellen, dass der Mensch sich auf das Hinscheiden vorbereiten kann – und ebenfalls möglichst rein ins Jenseits eintritt. Dass diese heilsversprechenden Andachtspraktiken dabei als eine Einladung zur imitatio der Märtyrer zu verstehen sind, ist nicht nur strukturell begründet, indem – wie ich zu zeigen versucht habe – die Ritter als Nachfolger Jesu inszeniert und deren Verehrer die logische nächste Stelle in einer Kette der Imitabilität zu besetzen haben. Der Begriff der Nachfolge wird vielmehr explizit ins Spiel gebracht, und das gleich am Anfang der Fürbitten, nämlich in jenem einführenden Teil, der die allgemeine Verehrung der Heiligen thematisiert, bevor dann die konkreten, nach sozialem Status organisierten Andachtspraktiken genannt werden. Dort heißt es ausdrücklich, dass die Fürbitte all jenen gilt, die den Rittern »folgen« und ihres Leids »gedenken« (ebd.: 37, V. 243 f.).25 So ist bereits das Gedenken an das Martyrium, also eine recht allgemein formulierte spirituelle Befassung mit diesem, als Nachfolge zu verstehen – und die weiteren Auflistungen scheinen eine Art Katalog der zur Verfügung stehenden Umsetzungen dieser spirituellen Bezugnahme zu bieten. Ausgangspunkt ist jedenfalls die Vorstellung, dass jegliche geistliche Bezugnahme auf die Heiligen als imitatio der Heiligen verstanden werden kann. In diesem Punkt beansprucht nun die Legende implizit eine besondere performative Kraft für sich, da sie eine solche spirituelle Befassung mit den Heiligen überhaupt erst veranlasst – sie nimmt geradezu die Funktion einer Schnittstelle an, welche den Kontakt zwischen den Heiligen und ihren Verehrern zustande bringt, indem sie einerseits die Heiligkeit der Ritter vor Augen führt und andererseits ihre Imitabilität aufzeigt. Auf diese Weise macht sie die Heiligen und ihr Martyrium verfügbar26 – und reflektiert diese Selbstauffassung Seelen zum Heil zu hören gebe, / und auf dass er mir gönne, / dass auch ich wie ihr / durch diese Rede Heil für meine Seele erlange.« – »K bohw prawym ſ rdczem wzdychayte, / By va ſſ v ſ drawye… [Auslassung nach Vondrák, J. K. H.], / Va ſſ w dobrem ſ tawye potwrdye, / Dal ſ ly ſ yety to pravenye / Wa ſſ ym dw ſ yem na ſ pa ſ enye / A mnye take, bych vam prawye / Dobyl ſ we dw ſ y zdravy.« Ebd.: 41 f., V. 4-10. 25 | »Ktoz naboznye na ſ ledwge / Nafye mvky pamatwge«; Hervorh. J. K. H. 26 | Damit soll nicht mit Jolles (vgl. 1982) gesagt werden, dass die Legende Heilige tatsächlich im ontogischen Sinne »bildet« (ebd.: 41) – hier geht es vielmehr um die implizi-

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auch indirekt dort, wo die Ritter behaupten, dass allein schon der Besitz eines Buchs, das die Legende enthält, heilsvermittelnd wirken könne.27 Es ist bezeichnend, dass dabei nicht genau zwischen dem Text und seinem Träger und sogar anderen Repräsentationen der Heiligen wie Wandmalereien unterschieden wird. Und gerade in diesem Kontext gewinnt auch der zuvor erwähnte Schreiberzusatz in der Kremstmünsterer Handschrift an Bedeutung. Denn er lässt sich als eine historisch-reale Spur der Überzeugung betrachten, dass tatsächlich jegliche Befassung mit dem Text – nicht nur eine spirituelle, sondern sogar auch eine materielle (in diesem Fall also sowohl das Abschreiben des Textes als auch das Gedenken an den Abschreiber) – das Potenzial birgt, den Menschen zum Teil einer Kette der Heilsvermittlung zu erheben. Insgesamt zeigen die zahlreichen Erweiterungen der tschechischen Bearbeitung, dass die imitatio als Prinzip der Heilsvermittlung nicht nur als sehr facettenreich umsetzbar verstanden wurden, sondern dass dessen Inanspruchnahme – wohl gerade aufgrund dieser flexiblen, dehnbaren Auffassung – eine starke Tendenz zur Wucherung hat: Punktuelle Anspielungen auf das Evangelium provozieren weitere Angleichung an den heiligen Prätext, eine schlichte Fürbitte für Heiligenverehrer kann Anlass zu beliebig erweiterbaren Variationen der infrage kommenden Andachtsmodalitäten geben.

II.

H eilige K atharina : I mitatio und ästhe tische E rfahrung

Die Beobachtung, dass die imitatio als heilsvermittelndes Prinzip in sehr facettenreichen Weisen imaginiert wurde und dass die imaginierten Möglichkeiten auch – allgemein gesprochen – jegliche Befassung mit Texten über Heilige bzw. ihren Trägern einschlossen, bringt mich zum zweiten Beispiel, nämlich der alttschechischen ›Stockholmer‹ Legende von der Heiligen Katharina.28 Obwohl dem Katharinenstoff eine deutlich komplexere Handlung29 zugrunde liegt als den te Auffassung der eigenen Funktionalität, die sich an den Legenden ablesen lässt. Vgl. hierzu Strohschneider 2010: 161 f., sowie ders. 2014: 179 f. 27 | Vgl. oben Anm. 20. 28 | Der Text ist in einer einzigen Handschrift vom Anfang des 15.  Jahrhunderts überliefert. Ich folge der Ausgabe Vážný 1959. 29 | Die Handlung der Legende nach dem alttschechischen Text: Katharina ist die Tochter einer Adelsfamilie in Alexandrien und so sagenhaft schön und klug, dass der Kaiser Maxentius sie mit seinem Sohn vermählen will. Doch Katharina hat, inspiriert durch einen Einsiedler, bereits einen anderen Bräutigam ins Auge gefasst, nämlich Jesus Christus, und so lässt sie sich nicht einmal von ihrer Mutter zu der lukrativen Eheschließung überreden. Nach deren Tod erfährt der Kaiser, dass sich in Alexandrien das Christen-

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Erzählungen von den 10.000 Rittern, wird die heilsbringende Kraft mithilfe derselben Muster etabliert: Auch Katharina erbittet unmittelbar vor ihrem Tod von Gott Beistand für ihre Verehrer und auch sie vermacht diesen entsprechende Andachtspraktiken. Und auch in den Katharinenlegenden gehört diese Art der Heilsvermittlung zum integralen Bestandteil der Stofftradition, wobei die reiche Überlieferung eine Vielfalt von Möglichkeiten der praktischen ImitatioUmsetzung zeitigt.30 Der Text der alttschechischen Katharinenlegende erweitert jedoch die Möglichkeiten der Imitabilität um eine weitere Dimension. In ausdrücklichem Anschluss an die Traditionen der deutschen höfischen Literatur lotet der tschechische Text nämlich das Potenzial der ästhetischen Erfahrung im Hinblick auf die Imitabilität und Heilsvermittlung aus. Das Schlussgebet Katharinas in der alttschechischen Fassung ist zwar deutlich kürzer als das der 10.000 Ritter, in einem wichtigen Punkt stimmen jedoch beide Apostrophen Gottes überein: Auch Katharina knüpft das Heilsversprechen an den Besitz einer »Aufzeichnung« ihres Martyriums – sei es »im Haus«, sei es auf »einem Blatt«.31 Wie im Fall der Ritterlegende beansprucht tum zu verbreiten anfängt, und zieht dorthin, um den heidnischen Kult zu erneuern. Bei der Gelegenheit fordert Katharina den Kaiser in einer Disputation heraus, in der sie das Christentum gegen das Heidentum verteidigt. Der Kaiser ist ratlos und muss seine Gelehrten zur Hilfe rufen – doch auch diese können Katharina nicht widerstehen und bekehren sich schließlich zum Christentum. Der Kaiser lässt Katharina einkerkern und quälen. Währenddessen bekehren sich – und erleiden den Märtyrertod – immer weitere Menschen, einschließlich der Kaiserin selbst. Und bevor schließlich auch Katharina gemartert wird, lässt sie sich von Gott versprechen, dass alle Menschen, die sie ehren, seine Gnade finden werden. Daraufhin wird Katharina enthauptet und ihr Leichnam von Engeln auf den Berg Sinai gebracht. 30 | Vgl. oben Anm. 2. 31 | »Noch bitte ich dich [Jesus Christus / Gott] darum: / bei wem auch immer mein Martyrium / – sei es im Haus, sei es auf Blatt – aufgezeichnet ist, / oder welche Bücher auch immer / darüber gemacht werden – / gib, Gott, jenen ihren Lohn, / auf dass ihrem Haus / durch plötzlichen Tod oder Donnerschlag / kein Schaden widerfahre, / sondern immer nur Gutes geschehe / und nichts Böses schade / und in jenem Haus auch / kein entstelltes Kind geboren werde, / sondern nur eines voller Güte, / das zu einem edlen Menschen heranwachse, / der nach seinen ehrenvollen Taten / mit allem Guten gesegnet ist.« – »Ješče tebe [Jezu Kriste / Hospodine] proši z toho: / kdež mé muky budú u koho / psány v domu neb na listě, / nebo které knihy jistě / o nich budú učiněny, / rač jim dáti jich odměny, / Bože aby sě v tom domu / z náhlej smrti i ot hromu / ijednéj škody nestalo, / než sě vždy vše dobré dálo / a nic zlého neškodilo, / ni sě v něm kdy urodilo / dietě čím kak potvořené, / ale v dobrotě szořené / jsa, vznikl v člověka sličného, / jenž by podlé činu cného / byl ve všecko dobré sbožen.« Ebd.: V. 3364-3380; Hervorh. J. K. H.

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die Erzählung über die heilige Katharina in diesem Punkt einen besonderen performativen Charakter, denn wer diese Verse liest oder ihnen zuhört, erfüllt ja schon die Bedingung, das Leben Katharinas in seinem Haus »auf Blatt« zu haben. Die Katharinenlegende geht jedoch noch einen Schritt weiter, indem sie nicht nur den Besitz einer solchen »Aufzeichnung«, sondern auch die weitere Produktion solcher Aufzeichnungen zu einer heilsbringenden Tat erhebt.32 So wird die Performativität bereits auf der Handlungsebene auch auf den Bereich der Textproduktion ausgeweitet. Ob sich der tschechische Anonymus von seinem Werk tatsächlich eigenes Seelenheil versprach wie etwa der Schreiber der Kremsmünsterer Ritterlegende,33 lässt sich freilich nicht überprüfen. Die ästhetischen Ansprüche, die sich in seinem Text beobachten lassen, zeugen jedoch davon, dass er die kreative Arbeit an seiner Dichtung durchaus ernst nahm. Die Ambitionen des Textes werden deutlich, ja geradezu offensiv ausgestellt und stehen im auffälligen Kontrast zum Programm des sermo humilis, dem Legenden in der Regel folgen oder zumindest zu folgen behaupten.34 Das lässt sich sowohl anhand des sprachlichen Stils als auch anhand intertextueller Verweise, insbesondere auf Gottfrieds ›Tristan‹, deutlich zeigen.35 Die auffälligste Stelle ist in dieser Hinsicht jene, an der die unio Katharinas mit Jesus mit der Liebe zwischen Tristan und Isolde36 verglichen wird: »Ach, die Liebe schlug reichlich all ihre Zelte dort auf – nur so konnte die Gott liebe Magd die Schläge überstehen! Der Trank der lieben Izalde war ihr vorher gereicht worden, als sich im Traum ihre Vermählung mit jenem Tristran vollzogen hatte, 32 | Vgl. die hervorgehobene Stelle in Anm. 31. 33 | Vgl. oben Anm. 24. 34 | Vgl. zu diesem Paradox Köbele 2012; 2014. 35 | Zum kulturhistorischen Kontext der Legende vgl. Vilikovský 1948; Škarka 1959; Lehár 1983: 158-185; Thomas 1998. 36 | Der Tristan-Stoff war in Böhmen offenbar bekannt, wie die alttschechische TristanBearbeitung zeigt, die Eilharts, Gottfrieds und Heinrichs Fassungen als Vorlagen kombiniert; sie war aber sicherlich nicht die Referenz des Verfassers der Katharinenlegende, dafür ist sie zu sehr von Eilhart geprägt, insbesondere in der entscheidenden Minne­ trank-Szene, die ausschließlich Eilhart folgt. Vgl. zur Tristan-Rezeption in Böhmen zuletzt Solomon 2016; zum Verhältnis des alttschechischen Tristan zu seinen Vorlagen vgl. Bamborschke 1969: 72-112.

Zu den Figuren der imitatio in zwei alttschechischen Verslegenden der Herrscher über alles ist und neben dem es keinen Mächtigeren gibt. Das Entzünden des Heiligen Geistes brannte in ihrem Herzen. Daher – obwohl ihre klaren Augen bitterlich Tränen vergossen – überstand ihr Herz die Qual und Not zu jener Zeit und kam in keinen Zweifel, außer dass sie zu Gott seufzte.« Vážný 1959: V. 2381-2398. 37

Die Stelle bietet deutlich mehr als nur eine Anspielung auf den Tristan Gottfrieds. Wie gleich die ersten zwei Verse zeigen, arbeitet der Text mit Gottfried’schen ästhetischen Konzepten produktiv weiter. Denn auch das Bild der Liebe, die ihre Zelte aufschlägt, muss bei näherem Hinsehen von Gottfried stammen, allerdings nicht als eine direkte Übernahme, sondern als Transformation jener rätselhaften Wortschöpfung, welche die Minne als »aller herzen lâgerîn« (Tr.: V. 11711) bezeichnet. Die Bedeutung dieses Bildes bei Gottfried ist zwar umstritten, und man hat das Wort lâgerîn lange als »Nachstellerin« übersetzt, was mit dem tschechischen Text freilich wenig zu tun hätte. Wenn man es jedoch zusammen mit Haug und Scholz als »Belagerin« versteht, wofür übrigens gute Gründe vorgelegt wurden (vgl. Haug 2012: 522), liegt der Zusammenhang mit dem Aufschlagen von Zelten auf der Hand. Ein Vergleich der Kontexte der beiden Textstellen bekräftigt diesen Zusammenhang: An beiden Stellen geht es um eine Liebes-unio,38 beide bauen diesen Gedanken um die Metapher einer militärischen Eroberung des Herzens auf.39 Das wird kaum ein Zufall sein, sondern vielmehr ein Zeichen dafür, dass der tschechische Autor Gottfrieds Bilder nicht nur übernahm, sondern sie aufzuschlüsseln und kreativ neu zu kodieren imstande war, dass er sich also nicht nur einzelne ästhetische Elemente von Gottfried anzueignen vermochte, sondern vielmehr ganze ästhetische Prinzipien übertragen und neu besetzen konnte. Dazu gehört auch, 37 | »Ach, toť milost tu bohatě / bieše stany všě rozbila, / ež ta panna Bohu milá / muože strpěti to bitie! / Drahé Izaldy napitie / bieše jí dřieve zavdáno, / když ve snách by dokonáno / jejie sľúbenie s Tristranem, / jenž jest nade vší věcí pánem, / mimoňž mocnějšieho nenie. / Ducha svatého rozženie / v jejie srdečku hořieše. / Protož, kakž hořce nořieše / slzy z svú jasnú očicí, / však tú mukú i tú čticí / jejie srdečko v ten čásek / nerozpáči sě za vlásek, / jedno ež vzdycháše k Bohu.« 38 | Vgl.: »si wurden ein und einvalt, / die zwei und zwîfalt wâren ê« (Tr.: V. 11716 f.). 39 | Vgl.: »dô stiez [Minne; J. K. H.] ir sigevanen dar« (ebd.: V. 11714). Insofern könnte die Stelle in der Katharina-Legende der Gottfriedphilologie als ein weiteres Indiz für die Lesart von Haug und Scholz dienen.

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dass der tschechische Autor Gottfrieds Wortschöpfungen nicht nur kreativ rekodierte, sondern an mindestens einer prominenten Stelle sogar einen eigenen Neologismus präsentiert, nämlich in der Beschreibung von Katharinas Martyrium, die der Erwähnung des Minnetranks unmittelbar vorausgeht. Die Stelle gehört zweifellos zu den bekanntesten Passagen des Textes und wurde auch bereits entsprechend oft interpretiert. Sie sei hier trotzdem in ihrer ganzen Länge angeführt, da es im Folgenden auf den genauen Wortlaut ankommen wird: »In treuer Liebe zu ihrem Freund trug sie Streifen in sechs Farben, wie es sich für eine treue Geliebte gehört. Die erste Farbe trug sie in Eile: ihre Wangen, die weiß und rot geblüht hatten, verwandelten sich nun in dem Kummer – wobei sie nicht das Blut verloren, sondern ihre Schönheit verdeckten – und wurden grün vor rechter Scham, da sie vor den irrgläubigen Heiden entblößt stand. Voller wahrer inniger Liebe faltete sie die Hände, schloss die Augen, neigte den Kopf und verstummte. Die bösen Heiden peitschten sie gewaltig, und von den Schlägen sprossen aus ihren klaren Augen Blitze in heißen Tränen über ihre Wangen hinweg, verursacht durch die unvorstellbare Pein. Die zweite Farbe trug sie ohne jegliche Befleckung und um anderer Hoffnungen willen. Wahrlich, welcher Geliebten war jemals ihr Gatte lieber als dieser Herrlichen, deren weißer nackter Körper vor den Heiden strahlte und an ihm die rote Farbe ihres Bluts blühte, mit dem die verdammten Knechte ihr reines Weiß begossen?

Zu den Figuren der imitatio in zwei alttschechischen Verslegenden Dazwischen konnte man viele blühende Rosen von der Haut und dem Fleisch erblicken, die die Haken von den Knochen abrissen und draußen liegen ließen: dort starben sie ab und wurden schmerzlich schwarz. Die fünfte Farbe trug sie kummervoll um der Treue willen und ganz ihrem Gatten zuliebe als beständige treue Dienerin. Viele Blutergüsse, die die Peitschen verursachten, rieben ihr den Schmerz zum Herzen empor, 40 und wie sie sich unter der Haut verbreiteten, erschienen sie blau und erstreckten sich zwischen den einzelnen Schlägen, die ihr der Peiniger verpasst hatte. Ich möchte es kaum glauben, dass es heutzutage eine geben könnte, die eine so beständige Liebe hätte und ihrem Gatten so zugetan wäre, dass sie für ihn nur einen der Schläge erleiden würde, derer die heilige Katharina, die schöne Tochter ihrer Mutter, hunderte erlitt. Dann gelangte sie in die sechste Farbe, um sich zu bekleiden, als ihre begehrten Haare ebenfalls litten und mehr glänzten als alles Gold der Welt. Sie zitterten in klagevoller Angst an ihren Schultern und dort, wo sich die Peitschen mit den Haaren verflochten, rissen sie diese mitsamt der Haut heraus; und als sie dann zurück gehauen wurden, blieben sie in ihrem Fleisch stecken, aus dem heraus sie durch das Blut leuchteten. 40 | Vgl. zu dem von mir hervorgehobenen Wort unten.

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Jan K. Hon So glänzten die Farben alle nebeneinander, hier im Fleisch, dort im Bluterguss [Regenbogen] 41, weiß, schwarz und grün, blau, gelb und rot, jede in ihrer eigenen Substanz.« Vážný 1959: V. 2301-2380 42

Die Forschung hat sich häufig mit der Frage beschäftigt, was die einzelnen Farben symbolisieren.43 Diese Frage ist sicherlich legitim, sie kann m. E. aber nicht beantwortet werden, ohne dass man sich gleichzeitig fragt, was die Farben als ›Symbole‹ konstituiert, ob sie als ›Symbole‹ jeweils auf derselben Ebene ange41 | Vgl. zu der Doppeldeutigkeit Bluterguss /  R egenbogen unten. 42 | »Toť tu dle svého přietele / z šesti barev čistá mesla / u věrnéj milosti nesla, / jakož věrná milá svého / nositi jmá dle milého. / První barvu nesla v spěchu, / ež tě líčci, ješto ktviechu / u biele i v červenosti, / tě sě obě v téj žalosti / změnivše, však krve nezbyvše, / ale krásu svú pokryvše, / zelenásta pravým studem, / ež před tiem pohanským bludem / stáše obnažena jsúci. / U pravé milosti vrúcí, / spenši svoji ruce k sobě, / zatvořivši oči obě, / hlavu schýlivši, sě tiši. / Nad níž ti pohani liší / divoké bitie tvořiechu, / od nichžto ran sě nořiechu / blesky z jejie očí jasnú / v horkých krópkách, čilú ne č asnú, / přěs tě líčci dle bolesti. / Druhú barvu bez všiej pesti / nesla dle jiných nadějí. / Ba, kteréj jest kdy milejí / byl který chot než té drahé, / ež jejie bělúcie nahé / tělo před pohanstvem stkvieše, / na němžto črvená ktvieše / barva ot jejie krve svaté, / kterú ty panošě klaté / zkropichu tu bělost stkvúcí? / Mezi tiem pak mnohú ktvúcí / róži bieše toho časa / znáti z kuože i od masa, / jakž jě udice zahnavše, / mnohé od kostí vydravše / ostavily biechu svrchu: / ty pak zmrtvěvše na vrchu / črnáchu sě bolestivě. / Pátú barvu žalostivě / nesla dle ustavičnosti / svému choti vše k libosti / jako jistá věrná sluha. / Nejedna batožná duha, / bolest jí k srdečku vzdřehši, / pod koží krví naběhši, / modráše sě, stezku stáhši, / mezi rány sě rozpřáhši, / kadyž mukař bičem mieřil. / Nesnad bych již tomu věřil, / by nynie která bez omyla / tak věrnéj milosti byla / a svému choti tak přála, / by proň jednéj ráně stála, / ješto svatá Kateřina, / rozkošná dci mateřina, / mnoho set na sobě jměla. / V šestú barvu bieše dospěla, / by sě oděla v též časy, / v něž jejie žádúcie vlasy / tu také trpiechu za to, / jěž sě dráže než vše zlato / stkviechu, což ho jest na světě. / Ty sě v žalostivé přietě / chvějiechu po jejie pleci, / a kdež ti bičové mecí, / mezi ně sě zapletiechu, / tu jě i s pltí vytrhniechu; / pak zvězením jdúce zasě / ostaniechu jí u mase, / v němž sě skrze krev bleskniechu. / Tak sě ty barvy leskniechu / všecko druha přémo druze, / zde u mase, onde v duze, / biele, črně i zeleně, / modřě, žlutě i črveně, / každá v svéj vlastnéj postatě.« 43 | Vgl. zuletzt Thomas 1998: 104 ff.; zusammenfassend mit Angaben zur älteren Forschung Vážný 1959: 256; vgl. allgemeiner zu den Farben in der Katharinenlegende Petrů 1996.

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siedelt sind, in welchem Verhältnis sie zueinander stehen und was für ihren ›symbolischen‹ Wert die Tatsache bedeutet, dass sie in einen narrativ-dynamischen Zusammenhang eingebettet sind. Schon ein flüchtiger Blick auf die Passage zeigt dabei, dass man es hier mit keinem einfachen allegorischen System zu tun hat, in dem auf der einen Seite die Farben als Signifikanten, auf der anderen ihre ›eigentlichen‹ Signifikate stehen würden. Allein schon der Eingang unterläuft eine solche Erwartung von klaren Zuschreibungen, indem zwar von einer »ersten Farbe« – nämlich Grün, wie sich später zeigt – gesprochen wird, zuvor aber noch zwei weitere Farben – nämlich Weiß und Rot – erwähnt werden, die an dieser Stelle zwar offenbar noch nicht ›zählen‹, später aber dennoch hinzukommen. Und ein paar Verse weiter wird eine zweite Farbe angekündigt, es werden aber sogleich vier Farben genannt, nämlich Weiß, Rot, die Farbe der »blühenden Rosen« und Schwarz, bevor überraschenderweise wiederum eine fünfte Farbe avisiert wird, obwohl ja fünf Farben bereits genannt worden sind. Dass es ausgerechnet Rosa ist, das nicht zu den bislang genannten Farben zählt, stellt man erst nachher, in der abschließenden, rekapitulierenden Auflistung der insgesamt sechs Farben fest. Außerdem haben die Farben einen jeweils unterschiedlichen Ursprung und Status: Das anfängliche Grün wird etwa als Ausdruck eines momentanen emotionalen Zustands Katharinas inszeniert, während etwa Weiß und Rot inhärent zum Körper der Heiligen gehören; Rot ist aber gleichzeitig ambivalent besetzt – einmal als die Farbe der Wangen am unversehrten Körper vor dem Martyrium, das zweite Mal aber als die Farbe des im Martyrium vergossenen Bluts. Die blaue Farbe wird wiederum – wie zuvor schon die grüne – nur indirekt, in Form des Verbs modrati sě (»blau erscheinen«) und mithilfe der Blutergüsse an den Körper ›herangetragen‹, während das am Schluss erwähnte Gold streng genommen gar nicht als Farbe des Körpers, sondern nur als Vergleichsreferenz für den Glanz der Haare vorkommt. Falls hier also eine mögliche Allegorese impliziert wird, so wird sie sofort auch infrage gestellt durch etwas, was ich ›semiotische Destabilisierung‹ nennen würde, infolge derer nicht klar festzulegen ist, was worauf verweist. Gerade diese (durchaus Gottfried’sche!)44 Destabilisierung scheint mir aber ein wichtiges Element der symbolischen Transposition des Martyriums darzustellen, denn erst durch sie kann das Martyrium nicht bloß als ein interpretierbarer Sachverhalt, sondern vielmehr als ein ästhetisches, wenn nicht gleich sinnliches Erlebnis erfahren werden. In diesem Zusammenhang ist charakteristisch, dass der zentrale Vers dieser Passage auch die bereits erwähnte Wortschöpfung verwendet, nämlich das Wort vzdřehnúti, das ich oben mit »em-

44 | In diese Richtung weist etwa Köbele 2004.

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porreiben« übersetzt habe.45 Das Verb wird hier als Bezeichnung für jenen Moment verwendet, in dem der Schmerz zum Herzen der Heiligen durchdringt – angesichts der mit dem Herzen verbundenen Konnotationen also vermutlich genau jenen Moment, in dem die Tortur der Heiligen zur Berührung mit der Transzendenz wird. Das stellt freilich eine schwer fassbare Transformation dar, und so ist es auch kein Wunder, dass die Sprache keinen Begriff dafür parat hat. Die Sprache, so könnte man schlussfolgern, muss selbst transzendiert werden, um sich der Transzendenz anzunähern. Für diese Bemühungen, den Leser mittels der performativen Kraft der poetischen Sprache in eine möglichst enge Berührung mit dem Martyrium der Heiligen zu versetzen, ist aber ein weiteres Element der zitierten Passage vielleicht noch wichtiger: Das Wort duha, das hier für den Bluterguss verwendet wird, also für genau jenen ›Träger‹, der den Schmerz nach der Darstellung des Textes ins Herz Katharinas »emporreibe«, bedeutete im Alttschechischen nicht nur »blauer Fleck«, sondern bezeichnete auch den Regenbogen.46 Diese Doppeldeutigkeit erzeugt einen erstaunlichen Effekt. Denn das, was auf der Handlungsebene Katharina widerfährt, sind tatsächlich Blutergüsse – der Leser jedoch, der das Martyrium mittels der poetisch-symbolischen Transposition zu ›erfahren‹ hat, ist durchaus mit einem Regenbogen konfrontiert, der aus all den erwähnten Farben von Katharinas Martyrium besteht. Und so wird die Möglichkeit hergestellt, dass derselbe, von der duha getragene Schmerz, den die Heilige in ihrem Herzen erlebt, auch dem Leser in sein Herz »emporgerieben« wird, und das zwar auf einer anderen Ebene, als auf welcher Katharina selbst ihr Leid erlebt, aber trotzdem vielleicht auf einer Ebene, die doch mehr als nur symbolisch verstanden werden will. Die Schlussverse »So glänzten die Farben nebeneinander, / hier im Fleisch und dort im Bluterguss / Regenbogen« (»Tak sě ty barvy leskniechu / všecko druha přémo druze, / zde u mase, onde v duze«) könnten als eine Bestätigung der Parallelsetzung von beiderlei Leid-Erlebnissen gelesen werden: Die Farben, die das Martyrium repräsentieren, würden demnach hier (bei Katharina in der Handlung) im Fleisch erlebt werden, dort aber (jenseits der Erzählung, in ihrer spirituellen Transposition) in einem Regenbogen. *** Das Besondere an dieser Aneignung der Gottfried’schen Poetik ist nicht deren Sakralisierung (bzw.: Re-Sakralisierung?) allein. Dafür bietet die deutsche Lite45 | Vgl. die hervorgehobene Stelle in Anm. 42 (V. 2348). Die Wurzel dřeh kommt vermutlich von drhnúti (»reiben«), das Präfix vz- bezeichnet generell eine Bewegung in die Höhe. Vgl. auch Vážný 1959: 291. 46 | Ins moderne Tschechisch ist nur diese letztere Bedeutung übergegangen.

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ratur viele ältere Beispiele – man denke nur an Konrad von Würzburg oder Rudolf von Ems.47 Das eigentlich Auffällige ist die konkrete Funktionalisierung der sakralisierten Gottfried’schen Poetik, nämlich ihre Einbettung in den impliziten pragmatischen Rahmen der legendarischen Heilsvermittlung. Gerade vor dem Hintergrund der alttschechischen Legende von den zehntausend Märtyrern stellt sich die Frage, ob es sich hierbei nicht um einen spezifisch ›böhmischen‹ Charakterzug der Hagiographie handeln könnte. Eine solche Frage lässt sich selbstverständlich nicht ohne die Berücksichtigung weiterer Textbeispiele beantworten – und es wäre naiv zu erwarten, dass dabei nur ein und dieselbe Tendenz bestätigt und nicht mehr Variabilität ins Spiel gebracht würde. Dennoch lassen sich vielleicht zumindest vorläufig einige allgemeinere Schlussfolgerungen formulieren. Die hier analysierten Beispiele machen deutlich, dass die spätmittelalterlichen Legenden noch weiter grundlegend auf ihre Medialität hin untersucht werden müssen. Solche Untersuchungen können sich dabei nicht auf die hier präsentierten rhetorischen und poetischen Mittel im Dienst der Heilsvermittlung beschränken. Man muss nicht gleich die ganze Medialitätsforschung der letzten Jahre herauf beschwören, um in Bezug auf die hier präsentierten Texte zu sehen, dass das Problem der Heilsvermittlung durch hagiographische Texte deutlich komplexer ist, u. a. auch deshalb, weil es Aspekte der realhistorischen literarischen Kommunikation betrifft, die großenteils einfach nicht mehr rekonstruierbar sind. Umso mehr müssen aber die konkreten Überlieferungskontexte bei der Textinterpretation berücksichtigt werden, wie es z. B. der Schreibernachtrag in der Kremsmünsterer Ritterlegende zeigt. Ernst zu nehmen sind aber auch etwa die Verweise der Texte auf weitere, außertextuelle Formen der Heiligenrepräsentation wie die in den Texten erwähnten Wandmalereien oder Statuen. Vermutlich kann man nämlich die historischen Vorstellungen von der heilsbringenden Kraft dieser Erzähltexte gar nicht gebührend rekonstruieren, ohne zuvor ihr Verhältnis zu anderen künstlerischen Ausdrücken der Heiligenverehrung ergründet zu haben. Das Gebot der 10.000 Ritter, ihr Martyrium auf Wänden aufzeichnen zu lassen, darf etwa nicht nur als 47 | Vgl. Wachinger 1975. Es wäre gerade angesichts dieser älteren Gottfried-Rezeption sogar zu fragen, ob es sich im Fall des tschechischen Textes nicht eher um eine sekundäre Rezeption, sozusagen eine Rezeption der bereits bestehenden Gottfried-Rezeption, als um eine direkte Anlehnung an Gottfrieds Tristan handeln könnte. Andererseits scheinen mir die hier genannten Gottfried’schen Elemente so eng mit dem Tristan-Text verbunden zu sein, dass kaum etwas – abgesehen freilich von der Chronologie der Literaturgeschichte – weitere Variablen für das intertextuelle Verhältnis zwischen den beiden Texten notwendig macht, zumal die tschechische Tristan-Übertragung des 14.  Jahrhunderts eindeutig bezeugt, dass Gottfried in der spätmittelalterlichen tschechischen Literatur durchaus produktiv rezipiert wurde.

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eine bloße im Text imaginierte religiöse Praxis verstanden, sondern müsste vielmehr mit Blick auf die relativ zahlreichen überlieferten Wandmalereien in Böhmen untersucht werden.48 Mit anderen Worten: Die hier aufgezeigten poetologischen und rhetorischen Aspekte der Heilsvermittlung durch Hagiographie scheinen nur ein Bestandteil eines größeren historischen praxeologischen Zusammenhangs zu sein. Das sollte andererseits nicht die Notwendigkeit infrage stellen, diesen Teilaspekt weiterhin in literarhistorischer Perspektive zu untersuchen, denn auch hier gilt es, noch einiges zu klären. Immerhin dürften die Analysen etwa gezeigt haben, dass die Texte ihr heilsvermittelndes Potenzial, das auf der in ihnen inszenierten Imitabilität gründet, nicht nur als eine abstrakte »Produktion von Präsenz«49 imaginieren, die den Leser etwa »überwältigen« soll,50 indem die Zeichenhaftigkeit der Texte außer Kraft gesetzt wird. Insbesondere die Katharinenlegende zeigt paradoxerweise, dass der Text die Intensität, mittels derer er das Martyrium der Heiligen erfahrbar machen will, nicht durch die Suspendierung seiner Zeichenhaftigkeit zu erreichen sucht, sondern vielmehr durch eine Steigerung des semantischen Potenzials, das die Zeichen des Textes bergen. Im Kern dieser Steigerung stehen dabei Sinn-Übertragungen, also hermeneutische Operationen schlechthin. Sind aber die Kategorien der (zu deutenden) Sinnübertragung und der (zu erlebenden) Intensität überhaupt miteinander vereinbar? Vielleicht liegt gerade in diesem Paradox ein wichtiger Schlüssel zum (Selbst-)Verständnis der mittelalterlichen Legenden: in der Überzeugung, dass sich so etwas Referentielles wie ein Erzähltext im Leben seines Menschen so unmittelbar auswirken kann.51 48 | Mit den komplexen Beziehungen innerhalb der Überlieferung des Stoffes in Text und Bild beschäftigt sich derzeit intensiv Lenka Jiroušková (Würzburg / F reiburg i. Br.). Ich danke ihr und Jan Dienstbier (Prag) für Hinweise auf bestehende Wandmalereien aus dem Spätmittelalter. 49 | Vgl. grundsätzlich dazu Gumbrecht 2004. 50 | Vgl. Strohschneider 2010: insb. 153-157. 51 | Ein Versuch, diese Paradoxie literaturtheoretisch komplex zu fassen, muss hier ausbleiben, soll er nicht den berechtigten Vorwurf einer viel zu dünnen Materialbasis auf sich ziehen und ein allzu großes Risiko der Banalisierung eingehen. Die systemtheoretischen Überlegungen Peter Strohschneiders zeigen, wie schwierig so ein Unterfangen ist, wenn man die »für uns fundierend[e] Epistemik« (Strohschneider 2014: 154) nicht suspendieren will und trotzdem die Spuren eines Charismas von Legenden nicht nur dort zu sehen bereit ist, wo sich die Texte explizit mit der Wirksamkeit von Textmaterialität (vgl. ebd.: 129-190) oder mit Momenten einer ›nichthermeneutischen‹ Überwältigung durch Texte befassen (vgl. ders. 2010; 2014: 193-217) – sondern wenn man es etwa wagen möchte, den Spuren des Charismas konkreter Texte als historischer Artefakte nachzugehen. Vielversprechend erscheinen mir in diesem Kontext Niklaus Largiers Überlegun-

Zu den Figuren der imitatio in zwei alttschechischen Verslegenden

Den beiden alttschechischen Legenden scheint es darauf jedenfalls sehr angekommen zu sein.

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Škarka, Antonín (1959): Úvod. In: Dvě legendy z doby Karlovy. Prag, S. 93-118. Solomon, Kristýna (2016): Tristan-Romane: Zur spätmittelalterlichen Rezeption von Gottfrieds Tristan in den böhmischen Ländern. Göppingen. Strohschneider, Peter (2010): Weltabschied, Christus-Nachfolge und die Kraft der Legende. In: Germanisch-romanische Monatsschrift 60, H. 4, S. 143163. Strohschneider, Peter (2014): Höfische Textgeschichten. Über Selbstentwürfe vormoderner Literatur. Heidelberg Thomas, Alfred (1998): Anne’s Bohemia. Czech Literature and Society, 13101420. Minneapolis / London. [Tr.:] Gottfried von Straßburg (2012): Tristan und Isold. 2 Bde. Hg. v. Walter Haug u. Manfred Günter Scholz. Berlin Truhlář, Josef (1888): Staročeský passional z r. 1395. In: Listy filologické 15, H.  3 / 4, S.  242-259. Truhlář, Josef (1889): K legendě o 10.000 rytířích. In: Listy filologické 16, H. 2, S. 116-120. Vážný, Václav (Hg.) (1959): Život svaté Kateřiny. In: Dvě legendy z doby Karlovy. Prag, S. 119-284. Vilikovský (1948): Legenda o svaté Kateřině. In: ders.: Písemnictví českého středověku. Prag, S. 176-200. Vondrák, Václav (1889): Kremsmünsterská legenda o 10.000 rytířích. In: Listy filologické 16, H. 1, S. 21-45. Wachinger, Burghart (1975): Zur Rezeption Gottfrieds von Straßburg im 13. Jahrhunderts. In: Wolfgang Harms / Peter L. Johnson (Hg.): Deutsche Literatur des späten Mittelalters. Hamburger Colloquium 1973. Berlin. Weitbrecht, Julia (2012): Imitatio und Imitabilität. Zur Medialität von Legende und Legendenspiel. In: Beiträge zur Geschichte der deutschen Sprache und Literatur 134, H. 2, S. 204-219. Williams-Krapp, Werner (1989): Art. »Otte II«. In: Kurt Ruh (Hg.): Die deutsche Literatur des Mittelalters. Verfasserlexikon, Bd. 7, Sp. 203 f. Williams-Krapp, Werner (1999): Art. »Zehntausend Märtyrer«. In: Burghardt Wachinger (Hg.): Die deutsche Literatur des Mittelalters. Verfasserlexikon, Bd. 10, Sp. 1517-1520. Zatočil, Leopold (1968): Germanistische Studien und Texte I. Beiträge zur deutschen und niederländischen Philologie des Spätmittelalters. Brünn.

Kurzbiographien der Autorinnen und Autoren

Dr. Eloïse Adde studierte mittelalterliche Geschichte (Paris I) und tschechische Literatur (Paris IV) und schrieb ihre Dissertation über das Thema La chronique de Dalimil et les débuts de l‹historiographie nationale tchèque en langue vulgaire au 14e siècle. Sie arbeitet seit 2013 als wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Universität Luxemburg, wo sie mit dem Projekt The Europe of the Luxembourg Dynasty. Governance, Delegation and Participation between Region and Empire (1308-1437) betraut ist. In ihrer Forschung beschäftigt sie sich insbesondere mit Böhmen im 14. und 15. Jahrhundert und der luxemburgischen Dynastie. Université du Luxembourg Institut d’Histoire Maison des Sciences Humaines 11, Porte des Sciences 4366 Esch-sur-Alzette Luxemburg

Dr. Amelie Bendheim studierte Germanistik, Romanistik und Bildungswissenschaften an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz und der Université de Bourgogne (Dijon). Sie promovierte in einem binationalen Dissertationsverfahren (Mainz/Luxemburg) mit einer medienhistorischen Studie zu Erzählanfängen und Textrahmungen im 13. Jahrhundert. Sie ist seit 2016 als wissenschaftliche Mitarbeiterin in der germanistischen Mediävistik am Institut für Deutsche Sprache, Literatur und für Interkulturalität der Universität Luxemburg tätig. Ihre Forschungsschwerpunkte liegen im Bereich der historischen Narratologie und Poetik, der höfischen Epik des Mittelalters, der interkulturellen Mediävistik sowie der Mittelalterdidaktik.

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Prag in der Zeit der Luxemburger Dynastie

Université du Luxembourg Institut für deutsche Sprache, Literatur und für Interkulturalität Maison des Sciences Humaines 11, Porte des Sciences 4366 Esch-Belval Luxemburg

Prof. Dr. Václav Bok absolvierte das Studium der Geschichte, Germanistik und Bohemistik an der Philosophischen Fakultät der Karlsuniversität Prag. Als Hochschullehrer war er in der Ausbildung von Deutschlehrern tätig, zuerst an der Pädagogischen Hochschule in Plzeň, dann an der Pädagogischen Fakultät der Südböhmischen Universität in České Budějovice, zeitweise hielt er als externer Mitarbeiter Vorlesungen in der älteren deutschen Literatur an der Prager Karlsuniversität. Seit 2004 ist er Professor Emeritus. Sein Forschungsgebiet ist die deutsche Literatur des Mittelalters und der Frühen Neuzeit, die in Böhmen entstanden oder rezipiert wurde, insbesondere hagiographische Werke und Chroniken. Prachatická 8 370 05 České Budějovice Tschechische Republik

Dr. Jan K. Hon studierte Germanistik und Bohemistik an den Universitäten in Prag, Erlangen und München. An der Ludwig-Maximilians-Universität München (LMU) wurde er mit einer rezeptionsästhetisch angelegten Arbeit zum deutschen Prosaroman im Fach Deutsche Sprache und Literatur des Mittelalters promoviert. Seit 2012 arbeitet er als wissenschaftlicher Assistent am Institut für Deutsche Philologie der LMU München und forscht derzeit vorwiegend auf den Gebieten der heilsvermittelnden Erzähltexte und der interkulturellen Kontakte im Mitteleuropa des Mittelalters und der Frühen Neuzeit. Ludwig-Maximilians-Universität München Institut für Deutsche Philologie Schellingstr. 3 RG 80799 München Deutschland

Prag in der Zeit der Luxemburger Dynastie

Sen.-Prof. Dr. Michel Pauly studierte Geschichte, Romanistik und Politikwissenschaft in Luxemburg und Tübingen; promovierte und habilitierte sich an der Universität Trier. Seine Forschungsschwerpunkte sind mittelalterliche Stadt- und Hospitalgeschichte, die Dynastie der Luxemburger im 14. Jh., Migrationsgeschichte. Von 2003-2017 war er Professor für transnationale Luxemburger Geschichte an der Universität Luxemburg, von 2006-2016 Vorsitzender der Internationalen Kommission für Städtegeschichte. Als Seniorprofessor am Institut für Geschichte der Universität Luxemburg ist er weiterhin in Forschung und Lehre tätig. Université du Luxembourg Institut für Geschichte Maison des Sciences Humaines 11, Porte des Sciences 4366 Esch-Belval Luxemburg

Prof. Dr. Dr. h.c. Hans-Joachim Solms studierte Germanistik und Sozialwissenschaften an der Rheinischen-Friedrich-Wilhelms-Universität zu Bonn und wurde dort 1984 mit einer Arbeit zur frühneuhochdeutschen Entwicklung der starken Verben promoviert. Nach der 1990 ebenfalls in Bonn erfolgten Habilitation führte ihn der Weg über eine erste Professur in Osnabrück (1993-1996) auf den Lehrstuhl ‹Geschichte der deutschen Sprache und älteren deutschen Literatur’ an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg (MLU). Er ist zudem Direktor des An-Instituts ‹Deutsche Sprache und Kultur’ am Standort Wittenberg der MLU sowie Ordentliches Mitglied der Sächsischen Akademie der Wissenschaften zu Leipzig. Im Jahr 2015 erhielt er die Ehrendoktorwürde der Staatlichen Linguistischen Brjussov-Universität Yerevan (Armenien). Seine Forschungsschwerpunkte liegen im Bereich der Sprachgeschichte des Mittel- und Frühneuhochdeutschen. Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg Germanistisches Institut Ludwig-Wucherer-Str.2 06108 Halle Deutschland

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Prag in der Zeit der Luxemburger Dynastie

Dr. Kristýna Solomon studierte Germanistik und Anglistik an den Universitäten in Olomouc und Berlin (FU). 2005 wurde sie an der Palacký Universität Olomouc promoviert. In der mediävistisch angelegten Dissertation widmete sie sich der Problematik der weiblichen Stimme im klassischen Minnesang. Seit 2007 arbeitet sie als wissenschaftliche Assistentin am Lehrstuhl für Germanistik, forscht und unterrichtet auf den Gebieten der Lyrik und Erzähltexte des Hohen Mittelalters (Tristan-Romane), Rezeption der mittelalterlichen Literatur etc. Sie war an den internationalen Projekten GLITEMA und TALC_ME, welche europäische Mediävistik-Studierende vernetzt haben, beteiligt. Seit 2016 ist sie Institutsleiterin am Lehrstuhl für Germanistik der Palacký Universität. vedoucí katedry germanistiky KG FFUP Křižkovského 10 77180 Olomouc Tschechische Republik

Prof. Dr. Milan Tvrdík studierte Germanistik und Bohemistik an der Karls-Universität Prag. Er habilitierte sich 2004 mit einem Beitrag zur Geschichte des deutschen Schrifttums insbesondere in Österreich und in den böhmischen Ländern. Seit 2013 lehrt und forscht er als Professor für Neuere deutschsprachige Literaturwissenschaft an der Universität Prag. Seine Forschungsfelder sind: Prager deutsche und deutsch-böhmische Literatur, österreichische Literatur, deutschsprachige Literatur der Schweiz und Wissenschaftsgeschichte. 2013 wurde ihm das Österreichische Ehrenkreuz für Wissenschaft und Kunst verliehen. Univerzita Karlova v Praze Philosophische Fakultät Institut für Germanische Studien Náměstí Jana Palacha 2 11638 Praha 1 Tschechische Republik

Prag in der Zeit der Luxemburger Dynastie

Dr. Lenka Vodrážková studierte Germanistik und Geschichte an der Karls-Universität in Prag, wo sie zunächst als Assistentin, seit 2004 als Oberassistentin am Institut für Germanische Studien tätig ist. Ihre Forschungsschwerpunkte sind: Die Wissenschaftsgeschichte der Germanistik in den böhmischen Ländern, die Deutsche Sprache in Böhmen, bes. in der Zeit des Humanismus sowie deutschsprachige Handschriften des Späten Mittelalters und der Frühen Neuzeit. Univerzita Karlova v Praze Philosophische Fakultät Institut für Germanische Studien Náměstí Jana Palacha 2 116 38 Praha 1 Tschechische Republik

Prof. Dr. Manfred Weinberg absolvierte das Studium der Germanistik, Biologie, Philosophie und Pädagogik an der Universität Bonn. Nach diversen Lehrund Forschungstätigkeiten an der Universität Konstanz, ist Weinberg seit 2010 Professor für Neuere deutsche Literaturwissenschaft am Lehrstuhl für germanische Studien der Karls-Universität Prag. Er ist Leiter der Kurt Krolop Forschungsstelle für deutsch-böhmische Literatur. Zu seinen Forschungsfeldern zählen: Prager deutsche und deutsch-böhmische Literatur, Inter-/Transkulturalität, Gedächtnis/Erinnerung. Univerzita Karlova v Praze Philosophische Fakultät Institut für Germanische Studien Náměstí Jana Palacha 2 11638 Praha 1 Tschechische Republik

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Literaturwissenschaft Achim Geisenhanslüke

Wolfsmänner Zur Geschichte einer schwierigen Figur März 2018, 120 S., kart. 16,99 € (DE), 978-3-8376-4271-1 E-Book PDF: 14,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-4271-5 EPUB: 14,99 € (DE), ISBN 978-3-7328-4271-1

Götz Großklaus

Das Janusgesicht Europas Zur Kritik des kolonialen Diskurses 2017, 230 S., kart., z.T. farb. Abb. 24,99 € (DE), 978-3-8376-4033-5 E-Book: 21,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-4033-9

Elisabeth Bronfen

Hollywood und das Projekt Amerika Essays zum kulturellen Imaginären einer Nation Januar 2018, 300 S., kart. 29,99 € (DE), 978-3-8376-4025-0 E-Book: 26,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-4025-4

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Literaturwissenschaft Yves Bizeul, Stephanie Wodianka (Hg.)

Mythos und Tabula rasa Narrationen und Denkformen der totalen Auslöschung und des absoluten Neuanfangs März 2018, 178 S., kart. 29,99 € (DE), 978-3-8376-3984-1 E-Book: 26,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-3984-5

Michael Gamper, Ruth Mayer (Hg.)

Kurz & Knapp Zur Mediengeschichte kleiner Formen vom 17. Jahrhundert bis zur Gegenwart 2017, 398 S., kart., zahlr. Abb. 34,99 € (DE), 978-3-8376-3556-0 E-Book kostenlos erhältlich als Open-Access-Publikation ISBN 978-3-8394-3556-4

Dieter Heimböckel, Georg Mein, Gesine Lenore Schiewer, Heinz Sieburg (Hg.)

Zeitschrift für interkulturelle Germanistik 8. Jahrgang, 2017, Heft 2: Vielfältige Konzepte – Konzepte der Vielfalt. Zur Theorie von Interkulturalität 2017, 204 S., kart. 12,80 € (DE), 978-3-8376-3818-9 E-Book: 12,80 € (DE), ISBN 978-3-8394-3818-3

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