Zweisprachigkeit in Böhmen: Deutsche Volksschulen und Gymnasien im Prag der Kafka-Zeit 9783412212858, 9783412205669, 1870191078


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Zweisprachigkeit in Böhmen: Deutsche Volksschulen und Gymnasien im Prag der Kafka-Zeit
 9783412212858, 9783412205669, 1870191078

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BAUSTEINE ZUR SLAVISCHEN PHILOLOGIE UND KULTURGESCHICHTE NEUE FOLGE Begründet von HANS-BERND HARDER (†) und HANS ROTHE Herausgegeben von KARL GUTSCHMIDT, roland Marti, PETER THIERGEN, LUDGER UDOLPH und BODO ZELINSKY

Reihe A: slavistische forschungen Begründet von Reinhold Olesch (†)

Band 70

Zweisprachigkeit in Böhmen Deutsche Volksschulen und Gymnasien im Prag der Kafka-Zeit

von

Ingrid Stöhr

2010 BÖH LAU V E R L A G K Ö L N WEIM AR WIEN

Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der Fritz Thyssen Stiftung für Wissenschaftsförderung

Ingrid Stöhr war wissenschaftliche Mitarbeiterin am Bohemicum RegensburgPassau der Universität Regensburg. Die Arbeit ist die geringfügig veränderte Version einer Dissertation, die im Jahr 2008 von der Philosophischen Fakultät IV – Sprach- und Literaturwissenschaften – der Universität Regensburg mit dem Titel „Bilingualismus und Sprach­ nationalismus in Böhmen. Prager deutsche Volksschulen und Gymnasien der Kafka-Zeit“ angenommen wurde.

Bibliographische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

© 2010 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln Weimar Wien Ursulaplatz 1, D-50668 Köln, www.boehlau.de Alle Rechte vorbehalten. Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig. Gesamtherstellung: Wissenschaftlicher Bücherdienst, Köln Gedruckt auf chlor- und säurefreiem Papier Printed in Germany ISBN 978-3-412-20566-9

Danksagung

Es ist mir eine Freude und ein Anliegen, all jenen Personen und Organisationen zu danken, die zum Entstehen der vorliegenden Arbeit beigetragen haben. An erster Stelle richtet sich mein herzlichster Dank an meinen Doktorvater Herrn Professor Dr. Marek Nekula. Er hat mir mit der Aufnahme in das Projekt ,Sprache und Identität. Franz Kafka im mitteleuropäischen sprachlichen und kulturellen Kontext‘ nicht nur die Chance gegeben, diese Arbeit zu verfassen, sondern sie durch seine Denkanstöße und kritischen Anmerkungen entscheidend bereichert. Ich danke ihm für die hilfsbereite und freundschaftliche Begleitung des Arbeitsprozesses. Der Fritz Thyssen Stiftung danke ich für das erwiesene Vertrauen und die finanzielle Förderung meiner Arbeit. Bedanken möchte ich mich ferner beim Stadtarchiv in Prag (Archiv hlavního města Prahy) und seinen Mitarbeitern, die mich in der Zeit meines Forschungsaufenthalts sehr freundlich unterstützten. Für die Übernahme des Zweitgutachtens bin ich Herrn Prof. Dr. Björn Hansen dankbar. Simona Švingrová, Franziska Schiegl und insbesondere Verena Bauer danke ich sehr für die kritische Lektüre des Manuskripts, anregende Diskussionen und nicht zuletzt ihre freundschaftlichen Aufmunterungen. Für den besten Ausgleich zum Schreiben danke ich den DJs und Jinx in Berlin. Von Herzen möchte ich meinen Geschwistern und meinen Eltern für ihre ganz besondere Unterstützung danken, ihnen widme ich diese Arbeit. Zum Entstehen der Dissertation hat in besonderem Maße mein Mann Tobias beigetragen, der mich stets bestärkt und ermutigt – und wohl so manches Mal auch ertragen hat. Danke!

Inhalt

DANKSAGUNG .................................................................................................... 5 1

EINLEITUNG ........................................................................................... 13 1.1

Projektrahmen und Zielsetzung ...................................................... 13

1.2

Aufbau der Arbeit........................................................................... 15

2

BEGRIFFSBESTIMMUNG.......................................................................... 22 2.1

Sprachnationalismus....................................................................... 22

2.1.1 Ideologie .................................................................................. 26 2.1.1.1 Definition....................................................................... 26 2.1.1.2 Ideologiewechsel im 18./19. Jahrhundert – die Entstehung des modernen Nationalismus ...................... 28 2.1.1.3 Rolle der Sprache .......................................................... 37 2.1.1.4 Situation in Böhmen ...................................................... 38 2.1.2 Identität .................................................................................... 44 2.1.2.1 Definition....................................................................... 44 2.1.2.2 Sprachliche Identität ...................................................... 47 2.1.2.3 Situation in Böhmen ...................................................... 49 2.1.3 Ethnizität – Nationalität ........................................................... 52 2.1.3.1 Definition....................................................................... 52 2.1.3.2 Situation in Böhmen ...................................................... 56 2.2

Bilingualismus................................................................................ 60

2.2.1 Individueller Bilingualismus.................................................... 62 2.2.1.1 Definition....................................................................... 62 2.2.1.2 Typen individueller Zweisprachigkeit........................... 63

8

Inhaltsverzeichnis

Kollektiver Bilingualismus ...................................................... 69 2.2.2 2.2.2.1 Definition....................................................................... 69 2.2.2.2 Der Diglossiebegriff und die soziale Zweisprachigkeit ........................................................... 72 2.2.2.3 Domänen des Sprachgebrauchs ..................................... 75 2.2.3 Bilingualismus an den Prager Schulen 1870-1910 .................. 78 2.2.3.1 Schulwesen als Domäne der Untersuchung................... 78 2.2.3.2 Historisches Datenmaterial und seine ,nationalen‘ Kategorien ..................................................................... 84 2.2.3.3 Zur Klassifizierung des individuellen Bilingualismus an den untersuchten Schulen ......................................... 89 3

DEUTSCH UND TSCHECHISCH IM SPIEGEL SOZIOSTRUKTURELLER RAHMENBEDINGUNGEN IM 19. JAHRHUNDERT – UNTER BERÜCKSICHTIGUNG EINER SOZIOLINGUISTISCHEN PERSPEKTIVE ........ 95 3.1

Demographische Faktoren.............................................................. 99

3.1.1 Im Habsburgerreich und in Böhmen........................................ 99 3.1.1.1 Die Völker Zisleithaniens und ihre Dynamik .............. 100 3.1.1.2 Verteilung der deutsch- und tschechischsprachigen Bevölkerung in Böhmen .............................................. 108 3.1.2 In Prag.................................................................................... 110 3.1.2.1 Absolute Größe der ,deutschen‘ Minderheit und der ,tschechischen‘ Mehrheit ............................................. 110 3.1.2.2 Verteilung der ,deutschen‘ Minderheit und der ,tschechischen‘ Mehrheit auf die Prager Stadtteile...... 116 3.2

Statusfaktoren ............................................................................... 124

3.2.1 Institutionell unterstützende Faktoren.................................... 124 3.2.1.1 Im Habsburgerreich und in Böhmen............................ 124 3.2.1.1.1 Gesetzgebung und Verwaltung............................. 124 3.2.1.1.2 Wirtschaft ............................................................. 134 3.2.1.2 In Prag ......................................................................... 143 3.2.1.2.1 Verwaltung ........................................................... 143 3.2.1.2.2 Wirtschaft und Kultur ........................................... 146 3.2.2 Wertigkeit der Sprachen ........................................................ 151 3.2.2.1 Im Habsburgerreich und in Böhmen............................ 151 3.2.2.2 In Prag ......................................................................... 153

Inhaltsverzeichnis

9

SCHULWESEN – INSTRUMENT SPRACHNATIONALER LENKUNG UND SPIEGEL DES ,SPRACHVERHALTENS‘ ................................................... 157

4 4.1

Im Habsburgerreich ...................................................................... 157

4.2

In den böhmischen Ländern ......................................................... 163

4.2.1 Historische Entwicklung des Schulwesens............................ 163 4.2.1.1 Vorherrschaft des Deutschen....................................... 163 4.2.1.2 Formale Gleichstellung................................................ 166 4.2.1.3 Umsetzung der sprachlichen Gleichberechtigung ....... 175 4.2.2 Schulsystem und Schultypen ................................................. 181 4.2.2.1 Schulverwaltung und Schulaufsicht ............................ 181 4.2.2.2 Primarschulwesen........................................................ 183 4.2.2.3 Sekundarschulwesen.................................................... 185 4.2.2.4 Privatschulwesen ......................................................... 189 4.3

Prag............................................................................................... 190

4.3.1 Volksschulwesen ................................................................... 191 4.3.1.1 Lehranstalten ............................................................... 191 4.3.1.2 Bedeutung und Agitation des Prager Magistrats ......... 203 4.3.1.3 Schüler – nach den offiziellen statistischen Angaben . 214 4.3.1.3.1 Neustädter Volksschule mit deutscher Unterrichtssprache ................................................ 216 4.3.1.3.2 Kleinseitner Volksschule mit deutscher Unterrichtssprache ................................................ 218 4.3.1.3.3 Josephstädter Volksschule mit deutscher Unterrichtssprache ................................................ 220 4.3.1.3.4 Altstädter Volks- und Bürgerschule für Mädchen mit deutscher Unterrichtssprache.......................... 222 4.3.1.3.5 Altstädter Volks- und Bürgerschule für Knaben mit deutscher Unterrichtssprache.......................... 224 4.3.1.3.6 Zusammenfassung ................................................ 226 4.3.2 Mittelschulwesen ................................................................... 229 4.3.2.1 Lehranstalten ............................................................... 229 4.3.2.2 Gymnasien................................................................... 236 4.3.2.2.1 Allgemeine Schülerschaft – nach offiziellen statistischen Angaben ........................................... 236 4.3.2.2.2 Schüler der ausgewählten Gymnasien – nach offiziellen Statistiken und Jahresberichten ........... 245

10

Inhaltsverzeichnis

4.3.3 5

Zusammenfassung ................................................................. 248

INSTITUTIONELLE UND INDIVIDUELLE VORAUSSETZUNGEN DES BILINGUALISMUS – AM BEISPIEL PRAGER DEUTSCHER UNTERRICHTSANSTALTEN ................................................................... 251 5.1

Untersuchungsobjekte und Materialgrundlage ............................. 251

5.1.1 Unterrichtsanstalten ............................................................... 251 5.1.1.1 Auswahl der Schulen ................................................... 251 5.1.1.2 Schulgeschichte und Struktur der Schulen .................. 252 5.1.1.2.1 Volksschulen ........................................................ 252 5.1.1.2.1.1 Deutsche Altstädter Volksschule für Knaben und Mädchen .................................................... 252 5.1.1.2.1.2 Tschechische Volksschule ,U sv. Havla‘ [St. Gallus] .............................................................. 255 5.1.1.2.1.3 Deutsche Privat-Volksschule für Knaben m. Ö. des Piaristenordens ................................. 256 5.1.1.2.2 Gymnasien ............................................................ 257 5.1.1.2.2.1 K. k. deutsches Staatsgymnasium in PragAltstadt ............................................................. 257 5.1.1.2.2.2 České akademické gymnázium [Tschechisches akademisches Gymnasium]..... 258 5.1.1.2.2.3 K. k. deutsches Staatsgymnasium in PragNeustadt, Graben .............................................. 261 5.1.2 Lehrer..................................................................................... 262 5.1.2.1 Ausbildung – Volks- und Bürgerschullehrer ............... 262 5.1.2.2 Ausbildung – Mittelschullehrer ................................... 267 5.1.3 Schülerschaft.......................................................................... 269 5.1.3.1 Volks- und Bürgerschulen ........................................... 269 5.1.3.1.1 ,Nationalität‘ ......................................................... 270 5.1.3.1.2 Religionsbekenntnis.............................................. 273 5.1.3.1.3 Sprachlich-territoriale Herkunft............................ 279 5.1.3.1.4 Sozialer Status der Eltern...................................... 284 5.1.3.1.4.1 Einteilung der Berufe in gesellschaftliche Schichten .......................................................... 284 5.1.3.1.4.2 Soziale Herkunft............................................... 296 5.1.3.2 Mittelschulen ............................................................... 302 5.1.3.2.1 ,Nationalität‘ ......................................................... 303 5.1.3.2.2 Religionsbekenntnis.............................................. 306 5.1.3.2.3 Sprachlich-territoriale Herkunft............................ 309

Inhaltsverzeichnis

11

Soziale Herkunft ................................................... 312 5.1.3.2.4 5.1.3.3 Zusammenfassung ....................................................... 319 5.1.4 Wahlfach Landessprache an den ausgewählten Mittelschulen ......................................................................... 321 5.1.4.1 Konzeption des Wahlfachunterrichts........................... 321 5.1.4.2 Teilnahme am Wahlfachunterricht .............................. 332 5.2

Sprachwirklichkeit nach den Ergebnissen offizieller Statistiken (Schematismen der Volks- und Bürgerschulen) ........................... 335

5.3

Sprachwirklichkeit nach den Angaben in den Schulkatalogen der Volksschulen .......................................................................... 338

5.3.1 Tschechischsprecher .............................................................. 339 5.3.1.1 Leistungsbewertung..................................................... 339 5.3.1.2 Religionsbekenntnis..................................................... 347 5.3.1.3 Sprachlich-territoriale Herkunft................................... 352 5.3.1.4 Soziale Herkunft .......................................................... 356 5.3.2 Deutschsprecher..................................................................... 363 5.3.2.1 sprachliche vs. nationale Identität................................ 363 5.3.2.2 Religionsbekenntnis..................................................... 369 5.3.2.3 Sprachlich-territoriale Herkunft................................... 374 5.3.2.4 Soziale Herkunft .......................................................... 381 5.3.3 Zusammenfassung ................................................................. 388 5.4

,Sprachverhalten‘ der Elite – Sprachwirklichkeit nach den Angaben in den Schulkatalogen der Mittelschulen ...................... 391

5.4.1 Tschechischsprecher .............................................................. 392 5.4.1.1 Leistungsbewertung..................................................... 392 5.4.1.2 Religionsbekenntnis..................................................... 398 5.4.1.3 Sprachlich-territoriale Herkunft................................... 403 5.4.1.4 Soziale Herkunft .......................................................... 407 5.4.2 Deutschsprecher..................................................................... 411 5.4.2.1 Leistungsbewertung..................................................... 412 5.4.2.2 Religionsbekenntnis..................................................... 415 5.4.2.3 Sprachlich-territoriale Herkunft................................... 418 5.4.2.4 Soziale Herkunft .......................................................... 422 5.4.3 Zusammenfassung ................................................................. 427

12

Inhaltsverzeichnis

FRANZ KAFKAS BILINGUALISMUS IM KONTEXT .................................. 431

6

7

6.1

An der Volksschule ...................................................................... 431

6.2

Am Gymnasium............................................................................ 436 SCHLUSS: BILINGUALISMUS UND SPRACHNATIONALISMUS – EIN WIDERSPRUCH IM PRAG DER KAFKA-ZEIT? ........................................ 447

ABBILDUNGSVERZEICHNIS............................................................................. 454 TABELLENVERZEICHNIS ................................................................................. 456 BIBLIOGRAPHIE .............................................................................................. 463 Quellenverzeichnis:................................................................................... 463 Literaturverzeichnis................................................................................... 468

1

Einleitung

1.1

Projektrahmen und Zielsetzung

Die vorgelegte Studie ist als Dissertation im Rahmen des von der Fritz Thyssen Stiftung geförderten und unter Leitung von Prof. Dr. Marek Nekula (Universität Regensburg) durchgeführten Projektes ,Sprache und Identität. Franz Kafka im mitteleuropäischen sprachlichen und kulturellen Kontext‘ entstanden.1 Sie konzentriert sich auf das Schulwesen, das nicht nur den herrschenden Sprachkonflikt, sondern auch die Entwicklung und Verbreitung des Bilingualismus in Böhmen reflektiert. Als Franz Kafka im Jahr 1889 in die deutsche Altstädter Volksschule in der Fleischmarktgasse in Prag eingeschult wird, steht der deutsch-tschechische Gegensatz im Raum. Die Antwort auf die Frage nach der Sprache – ob Umgangssprache oder Muttersprache oder aber auch gewählte Unterrichtssprache – wird im Kontext des sich auf beiden Seiten etablierenden Sprachnationalismus und der mit der neuen Konzeption der Nation verbundenen einsprachigen und homoglossischen Ideologie mit Argusaugen beobachtet. Die Entscheidung der Eltern, in welcher Sprache ihr Kind unterrichtet werden soll, wird oft als nationale Positionierung gewertet. Die Wahl der Ausbildungsinstitution hat aber kaum nur sprachpolitische Beweggründe. Denn schließlich wird bereits in der Volksschule der Grundstock für zukünftige Zweisprachigkeit gelegt und diese ist – ungeachtet der Ideologie des national orientierten Mittelstandes – nicht nur im Staatsdienst vorteilhaft. So stehen alle Eltern und mit ihnen auch Hermann und Julie Kafka vor der eigentlich privaten Frage nach der sprachlichen Sekundärsozialisation ihrer Kinder, die aber im sprachnationalen Diskurs in Prag zur Angelegenheit öffentlichen und ,nationalen‘ Interesses erhoben wird. Obgleich Kafkas ihre Kinder auf Institutionen mit deutscher Unterrichtssprache schicken, wird das Tschechische dennoch nicht vernachlässigt. Franz, Gabriele, Valerie und Ottla nehmen alle vier regelmäßig am relativ obligaten Tschechischunterricht teil. Dass Kenntnisse in beiden Landessprachen erworben werden, ist – wie sich zeigen wird – Ende des 19. Jahrhunderts bei den böhmischen Deutschen keine Selbstverständlichkeit, doch gerade unter den böhmischen Juden eröffnen sie eine Möglichkeit, der monolingualen sprachnationalen Festlegung auch durch flexible sprachliche Anpassungsfähigkeit zu entgehen. Die Schulzeit Franz Kafkas und seiner Schwestern 1

In den weiteren Teilprojekten werden Regionalismen in Kafkas Deutsch anhand nichtliterarischer Texte (Verena Bauer) (vgl. Bauer 2008) sowie die Innere und äußere Amtssprache in der Arbeiter-Unfall-Versicherungs-Anstalt für Böhmen (Simona Švingrová) (vgl. Švingrová 2008) behandelt. Ferner ist dem Projekt die Arbeit Boris Blahaks zu Regionalismen in Kafkas Deutsch anhand literarischer Texte angeschlossen.

14

Einleitung

fällt in eine Art Umbruchphase. Der deutsch-tschechische wie auch der bis in die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts in Böhmen weit verbreitete tschechischdeutsche Bilingualismus steht zunehmend unter dem Einfluss der ideologischen Aufladung von Sprache im aufkommenden modernen Nationalismus. In der Domäne Schulwesen ist der Wandel der qualitativen Ausprägung sowie auch der quantitativen Verbreitung des individuellen Bilingualismus in der Bevölkerung am deutlichsten zu verfolgen. Zum einen ist Schule als Institution ebenfalls vom deutsch-tschechischen Sprachenkampf gezeichnet, zum anderen stellt sie durch ihren Bildungsauftrag das Hauptinstrument des gesteuerten Spracherwerbs in der Sekundärsozialisation dar. Mit Gültigkeit der Schulpflicht in Böhmen wird zudem gewährleistet, dass im Rahmen der Volksschulen – im Unterschied zu den Gymnasien – nicht bereits selektierte Bevölkerungsschichten im Hinblick auf ihr ,Sprachverhalten‘ untersucht werden. Die Auswertungen zur Bilingualität der Volksschüler erlauben zwar keine direkte Projektion auf die böhmische Gesellschaft, zeigen aber zweifellos generelle Tendenzen der Qualität, der tatsächlichen Verbreitung und der grundsätzlichen Bereitschaft zu individueller Zweisprachigkeit in der Bevölkerung Böhmens auf. Dennoch bleibt zu betonen, dass die empirische Untersuchung auf eine Domäne – das Schulwesen – beschränkt ist und in anderen Domänen durchaus differierende Maßstäbe anzuwenden wären. Im Zentrum des Interesses steht das sich wandelnde ,Sprachverhalten‘ der böhmischen bzw. Prager Bevölkerung, das nur in Wechselwirkung mit der von Wien aus gelenkten Sprachpolitik, den soziostrukturellen Gegebenheiten und dem zeitgenössischen sprachnationalen Diskurs zu erfassen ist (vgl. Lüdi 2007: 23). Sprache ist hier – mehr denn je – nicht nur als Medium der Kommunikation zu betrachten, denn im zeitgenössischen Diskurs versteift man sich geradezu auf ihre Symbolfunktion als entscheidendes Kriterium der ,nationalen‘ Zuordnung. Für die Analyse des individuellen Bilingualismus in Böhmen bzw. Prag ist daher ein Blick auf die ideologische Instrumentalisierung von Sprache im Sinne des Sprachnationalismus notwendig. Politische, wirtschaftliche, kulturelle und gesellschaftliche Rahmenbedingungen, die auch das individuelle zeitgenössische Sprachverhalten beeinflussen, werden unter Fokussierung der sprachlichen Dimension und den Merkmalen diglossischer Verhältnisse bzw. deren Auflösung im Laufe der Zeit dargestellt. Ziel der Arbeit ist zum einen, den in Prag in den letzten Dezennien der Habsburger Monarchie vorhandenen individuellen Bilingualismus in diachroner Perspektive zu charakterisieren und gewissermaßen ein sozioökonomisches Profil seiner Träger zu erstellen. Zum anderen gilt es, Korrelationen zwischen der quantitativen und qualitativen Veränderung von individueller und von (intendierter und tatsächlicher) gesellschaftlicher Zweisprachigkeit im Kontext der modernen Nationsbildung in Böhmen aufzudecken. Bisherige Aussagen zur deutschtschechischen Zweisprachigkeit im 19. Jahrhundert – und dies trifft bis zu Nekulas Monographie (vgl. Nekula 2003) auch für Kafkas Biographien zu – stammen

Einleitung

15

häufig aus der Geschichtswissenschaft2 und konzentrieren daher ihr Augenmerk nicht auf die Sprachfähigkeiten der Bürger, sondern auf die Volkszählungen und andere Quellen, die einen lediglich deklarativen Charakter haben.3 In der Sprachkontaktforschung ist der Bilingualismus in Böhmen v.a. unter dem Aspekt der sprachlichen Phänomene infolge des deutsch-tschechischen Sprachkontakts (z.B. Entlehnungen, Interferenzen) untersucht worden.4 Aus historischsoziolinguistischer Perspektive beschreibt Leeuwen-Turnovcová die Entwicklung und Beibehaltung der Diglossie im tschechischen Böhmen des 19. Jahrhunderts unter Berücksichtigung von Gender-Aspekten (vgl. u.a. Leeuwen-Turnovcová 2005; 2006). Die vorliegende Arbeit stützt sich auf eine reiche, soziale und sprachliche Einzelheiten einschließende Datenmenge aus den Katalogen von Prager Volksschulen und Gymnasien, die eine Darstellung des ,Sprachverhaltens‘ und dessen Dynamik ermöglicht. Auf der Basis der Angaben in den Schulkatalogen setzten aus der Perspektive der historischen Soziolinguistik lediglich Nekula (2003) und Newerkla (1999) erste Akzente, wobei letzterer Schulen in Pilsen untersuchte und sein Interesse auf den Sprachgebrauch innerhalb der Einrichtungen konzentrierte.5 Nekulas Ansatz dagegen diente als erste Vorlage und entscheidende Anregung der hier durchgeführten Untersuchung zur Zweisprachigkeit in Prag.

1.2

Aufbau der Arbeit

Die Analyse des Themas setzt sich aus drei großen Teilen zusammen. Zunächst werden die zentralen Begriffe Sprachnationalismus6 und Bilingualismus7 be2

3 4

5

6

7

Vgl. z.B. Luft (2001); Burger (1995); Havránek (1993 u.a.); Cohen (1981) (und weitere Untersuchungen dieser Autoren); mit besonderer Berücksichtigung der Sozialgeschichte der Juden vgl. z.B. Wlaschek (1997); Kieval (1988). Vgl. hierzu die Ausführungen in Kapitel 2.2.3.2. Vgl. z.B. Skála (1989); Trost (1965); Kloferová (2005); Berger (2008) bzw. die Aufsatzsammlungen bei Havránek / Fischer (1965); Trost (2000); Eichler (2003). Newerkla (2004) liefert erstmals ein in chronologische Schichten gegliedertes etymologisches Wörterbuch der deutschen Lehnwörter im Tschechischen (und Slowakischen). Deutsch-tschechische Sprachwirklichkeit in der Domäne Verwaltung im 18. /19. Jahrhundert in einem dominant tschechischsprachigen Gebiet untersucht Berger am Beispiel der ostböhmischen Stadt Chrudim (vgl. Berger 1999). Die Annäherung an das Konzept des Sprachnationalismus und seine Auswirkung auf den Bilingualismus erfolgt über die Begriffe ,Ideologie‘, ,Identität‘, ,Ethnizität‘ und ,Nationalität‘, die v.a. mit Bezug auf Alter (1985); Anderson (1988); Calhoun (1997); Gellner (1991); Lemberg (1971) und Stukenbrock (2005) bestimmt und insbesondere auf Basis von Drabek (1996 u.a.); Hroch (1968 u.a.); Křen (2000) auf den böhmischen Kontext angewandt werden. Die diskursive Bedeutung der (sprachlichen) Identität (vgl. De Fina / Schiffrin / Bamberg 2006) kann hier mit Blick auf das Quellenmaterial kaum angewandt werden. Zentral für die Darstellung des Phänomens individueller und gesellschaftlicher Zweisprachigkeit sind v.a. Grosjean (1982 u.a.); Lüdi (1994 u.a.); Hamers / Blanc (2000); Kremnitz (1994 u.a.); Mackey (1968 u.a.).

16

Einleitung

stimmt und in den böhmischen Kontext eingebettet (vgl. Kapitel 2). Gegenstand des zweiten Komplexes (vgl. Kapitel 3 und Kapitel 4) sind die historischen, (schul-) politischen, ökonomischen und sozialen Zusammenhänge des Wandels der Zweisprachigkeit in Böhmen und speziell gegen Ende des 19. Jahrhunderts in Prag. Damit wird ein Überblick einerseits für das bessere Verständnis der Bedeutung sprachlicher Identität und andererseits des ,Sprachverhaltens‘ Franz Kafkas, seiner Familie und der jüdischen Bevölkerung geschaffen. Die historischen strukturellen Rahmenbedingungen, d.h. der jeweilige demographische und statusbezogene Stellenwert des Deutschen und Tschechischen in Zisleithanien, Böhmen und Prag sowie etwaige Verschiebungen im Laufe der Zeit werden soziolinguistisch formatiert.8 Ausgangspunkt hierfür bilden der klassische Begriff der Diglossie nach Ferguson sowie seine Erweiterung nach Fishman auf multilinguale Gesellschaften und seine dynamischen Interpretation europäischer Soziolinguisten (u.a. Aracil) (vgl. Kapitel 2.2.2.2). Die Darstellung des Schulwesens als zentraler Domäne der empirischen Untersuchung umfasst eine größere Zeitspanne als die Periode des tatsächlichen Wandels im ,Sprachverhalten‘ (ca. 1870-1900), da so Ursachen traditionellen ,Sprachverhaltens‘ und das Prestige des Deutschen und Tschechischen prägende Maßnahmen aufgezeigt werden können. Sie beginnt mit der Reformpolitik Maria Theresias und Josephs II. Ende des 18. Jahrhunderts, die um den Preis der sprachlichen Assimilierung die Emanzipationsbewegung der Juden einleitet, aber auch allgemein mit der Ablösung des Lateinischen als überregionaler, transnationaler Verkehrssprache durch das Deutsche eine Germanisierung der sprachlichen wie kulturellen Sphäre der gesamten Monarchie forciert. Über die v.a. mittels der Sprache ausgetragene, zunehmende Nationalisierung der Ethnien wird ein Bogen bis zum Höhepunkt der deutsch-tschechischen Auseinandersetzungen am Ende des 19. Jahrhunderts gespannt. Aus dem reichen Fundus historiografischer Werke zur Habsburger Monarchie9 greift die Beschreibung des sprachlichen Zustands in der Habsburger Monarchie, Böhmen und Prag v.a. zurück auf Stourzh (1985); Bosl (1968); Brix (1982); Albrecht (1992 u.a.); Cohen (1981 u.a.); Fischel (1901); Hlavačka (2006); Hora-Hořejš (1995 u.a.); Kořalka (1991 u.a.); Kučera (1999); Malý (1986 u.a.); Ledvinka / Pešek (2001); Rauchberg (1905a u.a.); Slawitschek (1910 u.a.); Urban (1994 u.a.); Urbanitsch (1980) und mit besonderer Berücksichtigung des Schulwesens v.a. auf Engelbrecht (1984 8

9

Die systematische Darstellung der strukturellen Rahmenbedingungen erfolgt in Anlehnung an externe Faktoren aus dem Modell der ethnolinguistischen Vitalität von Giles et al. (1977) sowie an Viereck et al (2002). Festzuhalten ist, dass es in der vorliegenden Arbeit nicht darum geht – und auch nicht möglich ist –, einen Vitalitätsindex beider Landessprachen zu entwickeln. Vgl. Achterberg (2005), der aktuell die Vitalität slavischer Idiome in Deutschland untersucht. Vgl. hierzu Newerkla (1999: 13-15), der die zentralen historiografischen und quellenkundlichen Werke mit besonderer Relevanz für den gesetzes- und bildungspolitischen Stellenwert der einzelnen Sprachen und ihrer Volksstämme in der Habsburger Monarchie und speziell in den böhmischen Ländern nennt.

Einleitung

17

u.a.); Burger (1995); Newerkla (1999 u.a.); Havránek (1996 u.a.); Frommelt (1963); Frumar (1920); Šafránek (1913) und Strakosch-Grassmann (1905). Die konkrete Prager Schullandschaft unter zusätzlicher Beachtung der Schülerschaft der Volks- und Bürgerschulen mit deutscher Unterrichtssprache sowie der für die empirische Untersuchungen ausgewählten Gymnasien wird in erster Linie mit Hilfe der offiziellen Statistik, d.h. den Angaben im Statistischen Handbüchlein (1872-1881) bzw. Statistischen Handbuch von Prag (1883-1912) nachgezeichnet. Im dritten Teil (vgl. Kapitel 4) wird schließlich die tatsächliche Entwicklung des individuellen Bilingualismus unter sozialen Gesichtspunkten empirisch untersucht. Seine Charakterisierung baut zunächst auf der Wahl der Sprache in der Schulausbildung (Unterrichtssprache, Pflicht- und Ergänzungsfach) und der bei der Einschulung von den Kindern bzw. Eltern proklamierten Muttersprache auf, die durch die Kombination der individuellen Benotung in den einzelnen Fächern mit den soziolinguistischen Parametern (Einschulungsjahr bzw. Schuljahr, sprachlich-territoriale Herkunft, Religionsbekenntnis, soziale Herkunft) zu den jeweiligen Schülern fortgesetzt und insbesondere auch im Zeitablauf betrachtet wird. Datenträger dieser Angaben sind sogenannte Kataloge über den Schulbesuch und Fortgang der Schüler von Prager Volksschulen und Gymnasien vorwiegend mit deutscher Unterrichtssprache. Sie stellen im Grunde Niederschriften in einem Fragebogen festgehaltener strukturierter Interviews dar. Zu Beginn eines jeden Schuljahres wurden je Schüler folgende Angaben festgehalten: Geburtsjahr, Geburts-/Wohnort, Heimatzuständigkeit, Beruf/Stand der Eltern, Religion, Muttersprache. Ergänzende Informationen liefern die sprachliche Ausrichtung der im Vorjahr besuchten Einrichtung (Schulwechsler) sowie Begründungen eines anstehenden Schulwechsels oder der Beendigung der Schullaufbahn. Diese ,kombinierten‘ Daten habe ich je Schüler in einer elektronischen Datenbank mit der speziell dafür ausgesuchten und adaptierten Software (SPSS) erfasst, um sie schließlich statistisch auswerten zu können.10 Die oben angeführten Parameter wurden im Stadtarchiv in Prag (Archiv hlavního města Prahy) als Primärdaten für nachstehende Volksschulen und Gymnasien je Schüler in die elektronische Datenbank aufgenommen:



10

Deutsche Altstädter Volks- und Bürgerschule in Prag (Jungen), Fleischmarktgasse 16, Prag, 23 Klassen im Zeitraum von 1875/76 bis 1899/1900 (insgesamt 1577 Schüler);

Grundsätzlich ist allerdings zu betonen, dass die Auswertung der Datenmenge zwar u.a. auf der Grundlage quantitativer Methoden (SPSS) erfolgt, in erster Linie aber Zusammenhänge und sich manifestierende Tendenzen der Zweisprachigkeit aufgezeigt werden sollen und nicht der Anspruch einer analytischen Statistik erhoben wird bzw. schon allein auf Grund der gelenkten Auswahl der einzelnen Schulen, der zu erfassenden Klassen und Schuljahre, die zum Teil zugunsten praktischer Vorteile variiert wurde, auch nicht erhoben werden kann.

18

Einleitung







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Deutsche Altstädter Volks- und Bürgerschule in Prag (Mädchen), Fleischmarktgasse 18, Prag, 51 Klassen im Zeitraum von 1871/72 bis 1902/03 (insgesamt 3196 Schülerinnen); Privat-Volksschule des Piaristenordens mit Öffentlichkeitsrecht, Herrengasse Nr. 1, Prag, 13 Klassen im Zeitraum von 1870/71 bis 1898/99 (insgesamt 1212 Schüler); Obecná škola u sv. Havla v Praze [Volksschule bei St. Gallus in Prag], Uhelný trh 425, Prag, 8 Klassen im Zeitraum von 1875/76 (in diesem Jahr Aufteilung in Jungen- und Mädchenschule) bis 1899/1900 (insgesamt 582 Schüler); Deutsches Staatsgymnasium Prag-Altstadt, 55 Klassen im Zeitraum von 1875/76 bis 1899/1900 (insgesamt 1884 Schüler); Deutsches Staatsgymnasium (am Graben) Prag-Neustadt, 50 Klassen im Zeitraum von 1874/75 bis 1909/1910 (insgesamt 2080 Schüler); České akademické gymnázium v Praze [Tschechisches akademisches Gymnasium in Prag], Na příkopě 20, Prag, 18 Klassen im Zeitraum von 1874/75 bis 1909/1910 (insgesamt 747 Schüler).

Auf der Basis der Schulkataloge der Volksschulen wurden für die Periode von 1870/71 bis 1899/1900 im Abstand von zwei bis drei Jahren die kombinierten Daten (s.o.) der dritten, in Ausnahmefällen der vierten Jahrgangsstufe gesammelt. Für die erste Hälfte der 1880er Jahre wurde dieses Intervall für die Einrichtungen mit deutscher Unterrichtssprache – an der tschechischen Vergleichsschule erschien dies auf Grund der sprachlich homogenen Schülerschaft nicht notwendig – aufgehoben und jedes Jahr dokumentiert. Denn im Jahr 1881/82 ist mit der Teilung der Universität in eine deutsche und eine tschechische Einrichtung der Ausbau des tschechischen Bildungswesens abgeschlossen, von da an ist die Lehre von der Grund- bis zur Hochschule in tschechischer Sprache gewährleistet. Dadurch wird eine Wende in der Entfaltung des Bilingualismus eingeleitet. Mit zwei sprachlich getrennten Bildungswegen fällt der Druck weg, sich die andere Landessprache anzueignen. Der individuelle Bilingualismus wird demzufolge gehemmt. Während man in Mähren im Jahr 1895 mit der Reform des Realschulgesetzes und der Verpflichtung zur Erlernung der jeweils anderen Landessprache der im Bildungswesen zunehmend institutionalisierten Einsprachigkeit begegnet, ,verbieten‘ die politischen Verhältnisse eine derartige Reaktion in Böhmen. Die sprachliche Separation des Bildungswesens bzw. die Herausbildung paralleler Strukturen tragen zu einer Verschärfung der sprachnationalen Identifikation der böhmischen Bevölkerung bei und verändern sowohl ihr ,Sprachverhalten‘ (Rückgang der Einschulung tschechischsprachiger Schüler an deutschen Volksschulen) als auch ihre Einstellung zum Bilingualismus. Abgesehen von den genannten Datenbündeln je

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Schüler wurden für die beiden deutschen Volksschulen, die Franz Kafka und seine Schwestern frequentierten, alle Schüler, die die jeweilige Einrichtung ab Mitte der 1880er Jahre besuchten und eine Angabe zur Muttersprache führten, diese in Kombination mit dem Religionsbekenntnis je Klasse und Schuljahr erfasst (21.388 Schülerinnen und Schüler). Im Falle der Gymnasien sind die Schulkataloge neben den Jahresberichten der einzelnen Institutionen von größter Bedeutung, da sie im Unterschied zu der Statistik in den Jahresberichten – die ähnlich wie die Schematismen der Volks- und Bürgerschulen nur eine absolute Zahl der Schüler benennen, die die zweite Landessprache erlernt haben – auch den Lernerfolg im Hinblick auf deren muttersprachlichen, konfessionellen, sprachlich-territorialen und sozialen Hintergrund erkennen und die sprachliche Situation in den Klassen rekonstruieren lassen. An den beiden Gymnasien mit deutscher Unterrichtssprache (insgesamt acht Jahrgangsstufen), wurden von 1874/75 bis 1909/10 je ausgewähltem Jahrgang die erste(n) Klasse(n) und sechsten Jahrgangsstufen in die Datenmenge aufgenommen.11 Wie an den Volksschulen erfolgte dies abgesehen von der ersten Hälfte der 1880er Jahre im Intervall von zwei bis drei Jahren. Ferner gehören die gesamten Angaben des Einschulungsjahrgangs Franz Kafkas am deutschen Altstädter Staatsgymnasium (1893) von der ersten bis zur achten Klasse zum gesammelten Datenmaterial. Für das tschechische Vergleichsgymnasium dagegen ist mit Verweis auf die sprachlich und auch konfessionell (fast) homogene Zusammensetzung der Schülerschaft eine Vergrößerung des Intervalls zwischen den ausgewählten Schuljahren und somit ein geringerer Umfang der Datenmenge (Schüler) gerechtfertigt.12 Während bisher Bilingualität im zweisprachigen Prag höchstens quantitativ und hier auch nur in seiner tschechisch-deutschen Ausprägung über die Zahl tschechischsprachiger Schulkinder an Einrichtungen mit deutscher Unterrichtssprache ,eingefangen‘ werden konnte, liefern diese kombinierten Datenbündel je Schüler aus den Schulkatalogen die Voraussetzung für eine bessere qualitative Einschätzung tschechisch-deutscher, v.a. aber auch deutsch-tschechischer Zweisprachigkeit und ihren Wandel im Laufe der entscheidenden Phase tschechischer (Sprach-) Nationsbildung Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts. Im Mittelpunkt der Betrachtungen steht der im Rahmen der Sekundärsozialisation durch die Institution Schule vermittelte Erwerb der jeweils anderen Landessprache, d.h. es geht in erster Linie um sukzessiven und gesteuerten Zweitspracherwerb des Deutschen bzw. des Tschechischen. Doch werden mittels des Parameters ,Geburtsort‘ bzw. der sprachlichen Zusammensetzung der dort ansässigen Bevöl11

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Für die deutsche Altstädter Anstalt wurde in den Schuljahren 1874/75 und 1877/78 statt der sechsten die vierte und 1879/80 die fünfte Jahrgangsstufe dokumentiert, da die Aufstockung bis zur sechsten Jahrgangsstufe erst in den 1880er Jahren erfolgt. In folgenden Schuljahren wurde jeweils die erste und sechste Jahrgangsstufe erfasst: 1874/75, 1881/82, 1885/86, 1893/94, 1900/01, 1909/10.

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kerung auch Hinweise berücksichtigt, die einen spontanen simultanen Spracherwerb vor Beginn der Schulzeit nicht ausschließen. Anhaltspunkt für die Einteilung der Geburtsorte nach sprachlichen Kriterien bieten die Gemeindelexika von Böhmen (1904), von Mähren (1906) und von Schlesien (1906), in denen ortsweise die Zahl der Einwohner nach der Umgangssprache entsprechend den Ergebnissen der Volkszählung enthalten ist. Auch wenn diese Angaben im Einzelfall sehr kritisch zu sehen sind (vgl. Kapitel 2.2.3.2), scheint ihre Verwendung zur generellen Charakterisierung der sprachlichen Umgebung gerechtfertigt und ist auch kaum ersetzbar. Die Geburtsorte werden differenziert in ,rein‘ deutsch-, ,rein‘ tschechischund gemischtsprachig.13 Die Stadt Prag wird auf Grund ihrer Sonderstellung, zum einen als Standort der betrachteten schulischen Einrichtungen, zum anderen als politisches Zentrum auch des deutsch-tschechischen Sprachenkampfes, gesondert angeführt. Allgemein sprachliche Vorkenntnisse – z.B. auch von Kindern aus gemischten Ehen – werden mittels der in den Schulkatalogen dokumentierten Noten indirekt bei der Einschätzung des Grads der Sprachbeherrschung einbezogen. Die in den Schulkatalogen enthaltene Angabe zum Beruf des Vaters erlaubt außerdem, die soziale Herkunft der Träger des Bilingualismus zu charakterisieren und so Einstellungen und Motivationen einer angestrebten Zweisprachigkeit aufzuzeigen. Zu diesem Zweck wurden die Berufsangaben unter Berücksichtigung von ,Bildung‘ und ,Besitz‘ fünf gesellschaftlichen Schichten zugeordnet (vgl. Kapitel 5.1.3.1.4.1). Die Aufteilung der Gesellschaft in die fünf verschiedenen Kategorien erfolgte im Wesentlichen in Anlehnung an die von Hubbard / Jarausch (1979) zusammengefassten Ergebnisse eines Historikerworkshops aus dem Jahr 1978. Cohen hat in Untersuchungen zur Studentenschaft in Prag und Wien diese Gliederung der Berufsgruppen – auf der Grundlage von Universitätsmatriken – angewandt und geringfügig erneuert (vgl. Cohen 1987; 1988). So unterscheide ich zwischen ,Besitzbürgertum‘, ,Bildungsbürgertum‘, ,traditionellem Kleinbürgertum bzw. altem Mittelstand‘, ,neuem Kleinbürgertum bzw. neuem Mittelstand‘ und ,Lohnarbeiter bzw. Unterschicht‘. Weder die fünf definierten gesellschaftlichen Schichten noch die ihnen jeweils zugeteilten Berufsgruppen lassen aber auf eine eindeutige Zugehörigkeit der in den Schulkatalogen genannten ca. 700 verschiedenen Tätigkeitsbezeichnungen schließen. Daher habe ich in einem zweiten Schritt, v.a. mit Hilfe eines zeitgenössischen Berufsratgebers (vgl. Berufswahl. Handbuch 1912-1913), die Berufe einzeln den jeweiligen Kategorien zugewiesen. Davon ausgehend war es möglich, die quantitative Verbreitung des individuellen Bilingualismus sozial zu differenzieren und das sich wandelnde sozioökonomische 13

,Rein‘ tschechischsprachige Geburtsorte – bzw. im Folgenden verkürzt auch als tschechischsprachig bezeichnet – weisen einen Anteil von maximal fünf Prozent ,Deutschen‘ auf, umgekehrt ,rein‘ deutschsprachige bzw. deutschsprachige einen Anteil von maximal fünf Prozent ,Tschechen‘. Geburtsorte mit einem dazwischen liegenden Mischverhältnis gelten als ,gemischtsprachig‘ (vgl. auch Kapitel 5.1.3.1.3: 279).

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Profil des Bilingualismus bzw. seiner Träger im Prag der Kafka-Zeit zu schärfen. Vor diesem Hintergrund kann nicht zuletzt auch die Einstellung der Familie Kafka gegenüber dem Deutschen und Tschechischen sowie die Entfaltung der Sprachkenntnisse Franz Kafkas – des in Prag geborenen Sohnes eines jüdischen, aus der tschechischsprachigen südböhmischen Provinz stammenden und sich in Prag nach und nach etablierenden Kaufmanns – in einem zeitgenössischen Vergleich beurteilt werden (vgl. Kapitel 5).

2

Begriffsbestimmung

2.1

Sprachnationalismus

Der Sprachnationalismus stellt eine Ideologisierung der Sprache dar, die das Zusammenleben verschiedener Ethnien prägt und verändert, indem Sprache ideologisch aufgeladen und für die Formierung und Steigerung nationaler Identität dienstbar gemacht wird (vgl. Stukenbrock 2005: 3). Der Sprache werden zugleich integrierende und abgrenzende Funktionen zugeschrieben, sie dominiert als Medium kollektiver Selbstdefinition gegenüber anderen gemeinschaftsstiftenden Kennzeichen wie Religion, Raum / Territorium, Geschichte etc. Als Dogma des Sprachnationalismus gilt die Deckungsgleichheit von Sprache und Nation und im Zuge der Politisierung dieser Gleichung auch des Nationalstaats (vgl. ebd.). Die noch in der Aufklärung vorherrschende Betrachtung der Sprache im Wesentlichen als Mittel zum Zweck, v.a. zur Aneignung von Bildung und Wissenschaft, wird mit Herder und dann in der Romantik auf einen „überzeichenmäßigen Charakter“ (Heintel 1972: 40) der Sprache ausgedehnt. Wörter sind ,nicht bloß Zeichen‘, sie sind gleichsam ,die Hüllen [...], in welchen wir die Gedanken sehen‘. [...] Nach Herder besitzt nun jede Nation ein eigenes Vorratshaus solcher zu Zeichen gewordener Gedanken – eben ,ihre Nationalsprache‘ (Burger 1995: 17, Herv. i.O.).

Sprache wird als Band zu den ,natürlichen‘ Ursprüngen der ,nationalen‘ Kultur gesehen, gleichzeitig das Fremde aber anerkannt und die Eigentümlichkeit einer jeden Sprache und Kultur geschätzt. Politisch aufgeladen wird diese Beziehung erstmals durch Fichte (vgl. Calhoun 1997: 134), in dessen Formel auch das Konzept der Sprachnation am prägnantesten zum Ausdruck kommt, nämlich dass „allenthalben, wo eine besondere Sprache angetroffen wird, auch eine besondere Nation vorhanden ist“ (Fichte, zwölfte Rede)14 (vgl. Burger 1995: 22). Nach dem in der Romantik verbreiteten genealogischen Mythos, in dem Sprache als ein Organismus15 verstanden wird, bilden alle Sprecher einer bestimmten ,natürlichen‘ Einzelsprache eine ,natürliche‘ Nation, deren ,natürliche‘ politische Erfüllung in nichts anderem als in dem entsprechenden Nationalstaat gefunden werden kann. Bisher bestehende sprachlich-kulturelle Normen – im vorliegenden Fall also die Multilingualität der Habsburger Monarchie – werden dementsprechend in der 14 15

Zit. nach URL: http://gutenberg.spiegel.de/?id=5&xid=653&kapitel=13&cHash=2bc0b435ddnat i12#gb_found, Stand: 02.08.2007. Eingeführt wird der Begriff der Sprache als ,organischer Form‘ von Friedrich Schlegel in seinem Werk Über die Sprache und Weisheit der Indier, 1808.

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Ideologie der (sprach-) nationalistischen ,Erneuerer‘ als ,unnatürlich‘16 disqualifiziert. Niederschlag finden diese Ansichten v.a. im Bildungswesen, so auch im Böhmen der Kafka-Zeit: Pedagogical critiques of bilingual education were reinforced by the romantic nationalist ideals of the early nineteenth century, which had stressed language as the embodiment of an essential national spirit. If character and personality itself were tied to language, having two mother tongues threatened to leave children with no stable character or identity at all (Zahra 2004: 506).

Im Sprachnationalismus wird Sprache eng mit politischen Strukturen verknüpft, dabei bleibt allerdings fraglich, ob es sich hier wirklich um politisches Handeln im eigentlichen Sinn des Wortes handelt. Dies scheint Daniel Blum, der in seiner Dissertation den Zusammenhang zwischen nationalen Bewegungen und Prozessen der Standardisierung von Sprachen in Jugoslawien17 und Indien behandelt, nahe zu legen: Sprachnationalismus bedient sich „der Sprache als Mittel zur Integration einer Gruppe in Abgrenzung zu anderen, braucht sie als eine wesentliche Grundlage politischen Handelns und ist daher gleichfalls ein Teil von Sprachpolitik sowie eine der Formen von Nationalismus“ (Blum 2002: 2). Unter „Sprachpolitik“ versteht er „politische Entscheidungen über den Status, das Corpus und die Verwendung von Sprachen im öffentlichen Leben und ihre Implementation“ (Blum 2002: 1). Er bezieht Sprachnationalismus folglich auf eine Sprachpolitik von oben, die er insbesondere mit Blick auf die Statusplanung (vs. Corpusplanung)18 mit Sprachplanung gleichsetzt. Sprachpolitik und Sprachnationalismus agieren bewusst mit zwei Grundfunktionen von Sprache. Zum einen setzt Sprachpolitik die symbolische Funktion von Sprache ein, sodass Sprache selbst zum Gegenstand sprachnationaler Entscheidungen wird, und zum anderen nutzt sie die kommunikative Funktion der Sprache aus, wodurch Sprache als Mittel der Politik zur Erreichung anderer nationaler Ziele verwendet wird (vgl. Blum 2002: 5). Im Gegensatz zu dem auf Sprachpolitik und Sprachplanung begrenzten Sprachnationalismus-Begriff fasst Anja Stukenbrock Sprachnationalismus in umfassenderem Sinn als Ideologisierung von Sprache auf, die Sprachplanung beinhalten und zu Sprachenpolitik i.S. sprachpolitischer Maßnahmen führen kann oder auch nicht, die sich aber auch in anderen Formen sprachlicher und sprachreflexiver Tätigkeit 16

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Vgl. hierzu auch die Dissertation von Andreja Zorić (2005), die Nationsbildung als „kulturelle Lüge“, also ,Täuschungen‘, ,Fälschungen‘ und ,Manipulationen‘ in der Entwicklung des tschechischen und kroatischen Nationalismus im 19. Jahrhundert untersucht. Sie versteht kulturelle Lüge als „eine mit der kulturellen Norm und Tradition eines Kollektivs nicht übereinstimmende absichtsvolle Verwendung eines kulturellen Kodes durch eine Minderheit“ (ebd.: 29), als ein Konzept, dass „die moralisch wertfreie Beschreibung der Dynamik kultureller Innovationen erlaube“ (ebd.: 81). Zu den Standardisierungsprozessen des Serbischen und Kroatischen vgl. das soziolinguistische Modell von Milrad Radovanović, der Integration, Variation, Polarisation, Desintegration und Promotion als die fünf Komponenten dieses Prozesses festlegt (vgl. Radovanović 1992). Blum verweist diesbezüglich auf Cobarrubias / Fishman (1983).

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Begriffsbestimmung mit sehr unterschiedlichen praktischen Konsequenzen niederschlagen kann (Stukenbrock 2005: 21).

Ich schließe mich der letzteren, erweiterten Auffassung an, da Sprachnationalismus die gesellschaftliche Wirklichkeit als Ganzes durchdringt. Beispielhaft hierfür ist gerade das Böhmen bzw. Prag der Jahrhundertwende (19. / 20.), als die zum Teil latente und zum Teil demonstrative Forderung nach einer Entscheidung für die eine und gegen die andere Sprache alle möglichen Lebensbereiche beherrscht und (sprach-) national indifferentem Handeln oder Personen gegebenenfalls auch nachträglich ein (sprach-) nationales Label aufgedrückt wird. Deutlich wird dies u.a. im Schulwesen, „a parent’s choice of a German or Czech school had become a matter of unprecedented personal, political, moral, and national significance“ (Zahra 2004: 502). Inwieweit das Wechselverhältnis zwischen der Ideologisierung der Sprache und dem individuellen sprachlichen Verhalten sich auf das Sprach- und damit auch das soziale Verhalten der böhmischen Bevölkerung auswirkt, kann anhand des hier verfügbaren Datenmaterials sicherlich nicht eindeutig von anderen Motiven für ein bestimmtes Sprachverhalten separiert werden. Allerdings können im empirischen Teil wenn auch keine Kausalitäten, so doch zumindest plausible Korrelationen zwischen der gesellschaftlichen Etablierung des Sprachnationalismus und dem Sprachverhalten der Schulkinder respektive Eltern aufgezeigt werden. Der erste Teil der vorliegenden Arbeit schafft hierfür den kulturhistorischen Hintergrund. Hier geht es in erster Linie um staatliche Sprachpolitik und ihre Umsetzung in den öffentlichen Institutionen wie der Schule unter den Rahmenbedingungen des sprachnationalen Diskurses. Über das kohärente Netz der sich gegenseitig bedingenden Faktoren Sprachplanung / Sprachpolitik, Sprachmanagement19 und Ideologisierung der Sprache / öffentlicher Diskurs werden damit Makro- und Mikroebene unter den gegebenen Rahmenbedingungen korreliert.20 Auf diese Weise lässt sich verfolgen, wie sich die soziale Wirklichkeit bzw. konkret das ,Sprachverhalten‘ der Prager Bevölkerung in der Kafka-Zeit im Kontext der Ideologisierung der Sprache und der in Diskurse gefassten sprachpolitischen Maßnahmen verändern. Während Stukenbrock als Ideologie-Analytikerin ihre Aufmerksamkeit auf die Architektur des Sprachnationalismus, die Beschaffenheit der einzelnen Ideologeme und deren Gesamtkonfiguration in verschiedenen Jahrhunderten richtet, befasse ich mich mit ihrer Form im 19. Jahrhundert. Auf Anfänge sprachbezogenen Nationalbewusstseins im tschechischen Kontext weist die Ende des 19

20

Sprachmanagement bezieht sich hier nicht nur auf sprachliche Entscheidungen bei institutionellen Einrichtungen (vgl. die Verwendung des Begriffs bei Neustupný / Nekvapil 2003), sondern auch auf individuelle Entscheidungen der Sprachplanung in der Bevölkerung. Zum Modell des Wechselverhältnisses zwischen Sprachpolitik – Sprachverhalten – Diskurse in einem gegebenen Kontext vgl. Lüdi (2007: 23).

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18. Jahrhunderts aufkommende literarische Gattung der ,Sprachverteidigungen‘ hin, wobei der Großteil der Apologien noch in deutscher Sprache verfasst ist (vgl. Schamschula 1990: 339-347). Josef Jungmanns in das Jahr 1806 datierte Aussage in seiner Abhandlung O jazyku českém, Tscheche sei der, der tschechisch spricht (und schließlich auch liest und schreibt) war und ist zwar sachlich als „Definition der Nation [...] untragbar“ (Střítecký 1990: 44), entwickelte sich allerdings im tschechischen nationalen Horizont bald zur Selbstverständlichkeit. Allerdings ist Jungmanns Entscheidung ohne den deutschen Kontext nicht vorstellbar, wo bereits seit der Mitte des 18. Jahrhunderts Nationsbildung auf der Basis einer gemeinsamen Sprache thematisiert wird (u.a. Herder, Fichte, Schlegel, Grimm). Zum Kernansatzpunkt der deutschen Nationsbildung und nach Gardt auch zum Ausgangspunkt sprachnationalistischer Argumentation wird die ins Mythologische und Sakrale ausgreifende Überhöhung der Muttersprache, die terminologisch völlig unspezifische Übereinanderblendung der Konzepte Volk, Nation, Geist, Seele, Wesen mit dem der Sprache zu Volksgeist, Sprachgeist, Sprachvolk, Nationalgeist, Nationalsprache, Volksseele, Sprachseele, Wesen der Sprache und des Vol21 kes etc. (Gardt 2000: 257-258, Herv. i.O.).

Muttersprache und Fremdsprache geraten zunehmend in ein oppositionelles Verhältnis, das im deutschen Fall historisch mit den Napoleonischen Kriegen und der beginnenden nationalistischen Radikalisierung ganz Europas zusammenhängt. Das Fremde entwickelt sich zur existentiellen Gefährdung des inneren Volks- und Sprachgeistes (vgl. Stukenbrock 2004: 245). Durch die Auseinandersetzung mit der äußeren Bedrohung und das Bedürfnis nach Abgrenzung zu anderen ,Sprachvölkern‘ – Stukenbrock spricht hier in Anlehnung an Cherubim (1983: 174) von einer „Psychologisierung der Muttersprache und nationaler Identität“ (Stukenbrock 2004: 245) – wird der Weg für eine homoglossische Ideologie geebnet. Aus tschechischer Perspektive wird mit den – im Grunde aufklärerischen Prinzipien folgenden – theresianisch-josephinischen Reformen eine Drohkulisse der Germanisierung konstruiert. Obgleich die den Reformen immanente Vorrangstellung des Deutschen u.a. im Staatsapparat und Schulwesen nicht national motiviert ist, sondern vielmehr im Sinne des aufgeklärten Absolutismus das pragmati21

Als weitere Merkmale des „systematischen Sprachnationalismus“ bestimmt Gardt „das emphatische Lob der eigenen Sprache und deren Hypostasierung, d.h. ihre Vergegenständlichung zu einer Größe, die aus ihren historischen und sozialen Bezügen herausgelöst ist und eine von ihren Sprechern irgendwie unabhängige Natur [...] besitzt“ (Gardt 2000: 247, Herv. i.O.). Ein letztes und zudem die Abgrenzung zu Sprachpatriotismus begründendes Kennzeichen ist die oftmals „pointiert bis aggressiv formulierte Behauptung der Überlegenheit der eigenen Sprache und damit auf Grund der erwähnten Übereinanderblendungen, der eigenen kulturell-ethnischen [...], politischen und anthropologischen Gemeinschaft über andere Gemeinschaften sowie [...] die Behauptung der Gefährdung der Integrität bzw. Identität der eigenen Sprach-, Volks- und Kulturgemeinschaft durch fremde Sprachen, Völker, Rassen, Nationen und Kulturen; als Folge dieser Behauptungen gilt die z.T. aggressive Abwertung des sprachlich (und zugleich kulturell-ethnisch, politisch und anthropologisch) Fremden“ (ebd.: 248).

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Begriffsbestimmung

sche Ziel einer modernen zentralisierten Staatsverwaltung mit einer Sprache verfolgt (vgl. Střítecký 1990: 42), werden die sprachpolitischen Maßnahmen im multilingualen Kontext der Habsburger Monarchie anders, eben sprachnational wahrgenommen. So steht einer wachsenden Pathetisierung der tschechischen Muttersprache, die als gefühltes Bindeglied des noch filigranen Konstrukts der Nation betrachtet wird, die Notwendigkeit von Deutschkenntnissen gegenüber. Die Fremdsprache wird zwar nicht zwingendermaßen als etwas ,Gefährliches‘ eingestuft, doch gilt sie fortan in jedem Falle als etwas Äußeres, Unverbundenes, ,Fremdes‘, das – mühsam erlernt – der emotional durchdrungenen Muttersprache, dem ,Eigenen‘, gegenübersteht. Der Schritt zur einsprachigen und homoglossischen Ideologie ist im sprachnationalen Diskurs und der fortschreitenden nationalen Bewegung in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts in Böhmen nur noch klein. Um das Konzept des Sprachnationalismus und insbesondere seine Auswirkungen auf die Zweisprachigkeit in Böhmen näher zu erfassen, sollen in diesem Kapitel die Begriffe ,Ideologie‘ und ,Nationalismus‘, sowie ,Identität‘ und ,Nationalität‘ / ,Ethnizität‘ und ihre Anwendung in der vorliegenden Arbeit dargelegt werden.

2.1.1 2.1.1.1

Ideologie Definition

Ideologie kann mit Lemberg als soziales Phänomen, als Resultat menschlicher Interaktion, die sie im Einzelnen wesentlich beeinflusst, verstanden werden (vgl. Lemberg 1971: 12, 320). Indem sie die (soziale) Umwelt deutet, gibt sie einer Gesellschaft, einer sozialen Gruppe sowie auch dem Individuum eine gewisse Orientierung bei der Wahrnehmung, Deutung und Bewertung der Umwelt, veranlasst zum Handeln und steuert Verhalten – sie agiert gewissermaßen als Leitsystem, das Werte und Normen festsetzt und auf gemeinsame Vorstellungen einschwört (ebd.: 12, 30, 320). Dabei besitzt sie jedoch keine universelle Gültigkeit, sondern ist an eine soziale Gruppe gebunden, für die sie sowohl als Integrationswie auch – nach außen – als Abgrenzungsmechanismus fungiert. Dominieren diese eine gemeinsame Ideologie tragenden Schichten oder Gruppen die Gesellschaft, so kommt es zur Strukturierung der Gesellschaft nach dem zentralen ideologisierten Kriterium, wie beispielsweise der Sprache (vgl. ebd.: 149-152). Mit Hilfe der Ideologie wird die Vielfalt der Informationen und Konzepte der Wirklichkeit reduziert. Folglich sind Ideologien als strukturierte Mengen kollektiver Vorstellungen bzw. Glaubensinhalte zu verstehen, die zugleich das Verhalten der sie tragenden Gruppen und der von ihr dominierten Gesellschaft strukturieren (vgl. Lüdi 2007: 22). Unumgänglich mit Macht verbunden übernehmen sie gesellschaftliche Funktionen wie Komplexitätsreduktion und Handlungsorientierung, an

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die ferner Faktoren wie Sozialisation, Integration und Legitimation anknüpfen (vgl. Freeden 1996: 22).22 Nach Freeden, der dafür den Begriff „thought behaviour“23 prägt, ist in der Ideologie das menschliche Verhalten mit dem Denken aufs Engste verschmolzen. In diesem Sinne resultieren Ideologien aus komplexen, historisch situierbaren diskursiven Praktiken, die ihrerseits „von im Werden begriffenen oder bereits bestehenden Macht-, Herrschafts- und Gewaltstrukturen ökonomischer, politischer oder auch kultureller Art herrühren“ (Zuckermann 1999: 23). Sie werden diskursiv für den öffentlichen Konsum konstruiert24 und im (kontrollierten) Diskurs durchgesetzt. Sie verknüpfen eine „bestimmte Konzeption der menschlichen Natur, der Gerechtigkeit, der Gesellschaft, der Freiheit, der Autorität etc. – und im Falle des Sprachnationalismus: der Sprache – miteinander“ (Stukenbrock 2005: 35; vgl. auch Freeden 1996: 76). In einem Wechselverhältnis mit dem soziohistorischen Kontext stehend reflektieren Ideologien einerseits die Gesellschaft und konstruieren sie andererseits mit25, wobei sie bzw. ihre Träger sich selbst einen angemessenen Platz im Diskurs zuweisen, der ihre Unverzichtbarkeit garantiert (vgl. Freeden 1996: 22; auch Lemberg 1971: 27). Neue Ideologien treten erst dann auf, wenn der Kanon traditioneller Lebensregeln und Werte seine unmittelbare und unhinterfragte Gültigkeit zu verlieren beginnt und sie Alternativen bieten können, das Vakuum zu füllen, das durch den Verlust der in der Tradition verankerten Wertorientierung und -ordnung entsteht (vgl. Dierse 1976: 178; Stukenbrock 2005: 37). Ideologien stellen in diesen Phasen gesellschaftlichen Umbruchs neue Orientierungssysteme bereit und fungieren als „maps of problematic social reality and matrices for the creation of collective conscience“ (Geertz 1964: 64). Wie der Sprachnationalismus im Böhmen des 19. Jahrhunderts eine dieser Orientierungskarten entwirft und die Muttersprache in einer nicht nur von Sprachenkämpfen, sondern auch von strukturellen Umbrüchen gezeichneten Gesellschaft zum zentralen Orientierungspunkt und zum Definiens 22

23

24 25

Diese Funktionen werden auch in dem weithin neutralen Ideologie-Begriff der amerikanischen Soziologie der 50er und 60er Jahre des 20. Jahrhunderts deutlich (vgl. u.a. Gross, / MacIver 1948; Kluckhohn 1951; Apter 1964), nach dem Ideologie ein jedes „System von Ideen, Meinungen, Einstellungen und Wertsetzungen [ist], das eigenes (politisches) Handeln legitimiert, fremdes als richtig oder falsch zu beurteilen erlaubt, den gegenwärtigen sozialen Zustand rechtfertigt oder Mittel und Ziele für seine Veränderung angibt und zur (Selbst-) Identifizierung und zum Zusammenhalt einer sozio-politischen Gruppe beiträgt“ (Dierse 1976: 178). Freeden (1996: 43). Mit diesem Begriff will Freeden die traditionelle Unterscheidung zwischen Denken und Handeln in Frage stellen. In Bezug auf Freeden stütze ich mich im Wesentlichen auf seine Darstellung bei Stukenbrock (vgl. 2005: 35-37). „[...] discourse is one of of the principal activities through which ideology is circulated and reproduced“ (Johnstone 2002: 45; vgl. auch Foucault 1972). Ideologie ist „als das geistig-kulturelle ,Abbild‘ des real Bestehenden [zu begreifen], welches dies Bestehende allerdings mitformt und strukturiert und sich dabei in mannigfachen, miteinander streitenden und konkurrierenden individuellen Äußerungen zu manifestieren pflegt“ (Zuckermann 199: 23).

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Begriffsbestimmung

einer neuen Gemeinschaftsvorstellung, d.h. der Nation wird, sollen die Ausführungen zum Nationalismus zunächst noch allgemein untermauern.

2.1.1.2

Ideologiewechsel im 18./19. Jahrhundert – die Entstehung des modernen Nationalismus

Im Fall des europäischen Nationalismus kommt es mit der Ablösung der dynastischen Reiche und der Säkularisation zu einem Ideologiewechsel. Die mit dem Übergang zur industriellen Produktion verbundene Auflösung gesellschaftlicher Strukturen erfordert die Integration aller Bevölkerungsschichten in eine mit gemeinsamem Bewußtsein und Willen erfüllte, arbeitsteilige Gesellschaft. Eine solche Integration konnte nur mit Hilfe einer Ideologie erfolgen, und diese Ideologie war der Nationalismus (Lemberg 1965: 10).

Das Aufkommen des Nationalismus und damit die Herausbildung der Nationen gilt als Epochenmerkmal des 19. Jahrhunderts.26 Wie zu sehen sein wird, geht er einerseits aus den sozioökonomischen Verhältnissen der Zeit hervor und bestimmt sie andererseits mit. In jedem Fall dominiert seine Entwicklung die gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und politisch-ideologischen Rahmenbedingungen, die mit dem ,Sprachverhalten‘ der Bevölkerung in einer Wechselwirkung stehen. In der Forschung besteht weder Konsens über den Begriff Nation noch über Nationalismus, noch darüber, ob eine theoretische Definition grundsätzlich möglich ist (vgl. Winkler 1985: 5). Beide besitzen vielfältige Erscheinungsformen, deren Typologisierung dementsprechend unterschiedliche Begriffspaare dienen, wobei sich die verschiedenen Nationsbegriffe nicht mit der Unterscheidung verschiedener Typen von Nationalismus decken (vgl. Stukenbrock 2005: 42; Barbour 1998: 52). Die Fülle der politischen Erscheinungen, die unter Nationalismus zusammengefasst werden, ist so mannigfaltig wie gegensätzlich – Befreiungs- und Emanzipationsbewegung wird ihm ebenso zugerechnet wie Unterdrückungsgewalt, AntiImperialismus oder Imperialismus. Nationalismus tritt auf als ,rechte‘ ebenso wie als ,linke‘ Ideologie. Aus diesem Grunde bezeichnet ihn Heinrich A. Winkler als coincidentia oppositorum und betont die Bedeutung des konkreten historischen Zusammenhangs27 (vgl. Winkler 1985: 5; auch Alter 1985: 10).

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Vgl. Polenz, der unter Nationalismus in epochenübergreifendem Sinn nicht nur „extreme, gruppenegoistische Ideologien“ versteht, sondern eine „neue Staatsideologie“, die sich „auch sprach(en)politisch [...] als zunehmende Intoleranz gegenüber Minderheitensprachen und Nachbarsprachen“ (Polenz 1999: 2-3) manifestiert. In der vorliegenden Arbeit interessiert in erster Linie seine Ausprägung im böhmischen Kontext im Laufe des 19. Jahrhunderts.

Begriffsbestimmung

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Peter Alter entwirft eine am funktionalen Charakter des Nationalismus ausgerichtete Typologie und unterscheidet zwei28, die jeweiligen historischen Erscheinungsformen zusammenfassenden Großgruppen von Nationalismus: den emanzipatorischen „Risorgimento-Nationalismus“ (Alter 1985: 33)29 und den radikalen, extremen, militanten, aggressiv-expansionistischen „integralen Nationalismus“ (ebd.: 43). Grundsätzlich sieht sich der Einzelne im Nationalismus mit Friedrich Meinecke nicht länger in erster Linie als Mitglied der Menschheit und damit als Weltbürger (Aufklärung), sondern fühlt sich als Angehöriger einer bestimmten Nation. Während im „integralen Nationalismus“ diese Nation absolut gesetzt und der „Kult der Nation [...] zum Selbstzweck“ (Alter 1985: 45) wird, dient der „Risorgimento-Nationalismus“ als Medium „zur politischen Zusammenfassung großer gesellschaftlicher Gruppen, zur Bildung von Nationen und zu deren Selbstidentifizierung im Nationalstaat“ (ebd.: 33). Der eigene Nationalstaat, das Ziel des „Risorgimento-Nationalismus“, ist im „integralen Nationalismus“ bereits verwirklicht.30 Für den böhmischen Kontext des 19. Jahrhunderts besitzt vorrangig der „Risorgimento-Nationalismus“ Gültigkeit, und zwar nicht in seiner „unifizierenden“ Form, wie dies etwa für die deutsche oder italienische Nationalbewegung zutrifft, sondern v.a. aus tschechischer Perspektive mit „sezessionistischen“ (ebd.: 39) Absichten. Im Folgenden gilt es, diesen näher zu betrachten. Der ,Risorgimento-Nationalismus‘ [...] zielt letzten Endes auf die Befreiung von politischer und sozialer Unterdrückung, er enthält unübersehbar Elemente einer liberalen Oppositionsideologie. Er ist Protestbewegung gegen ein bestehendes System politischer Herrschaft, gegen einen Staat, welcher der Entfaltung der eigenen Nation entgegensteht, die eigenen nationalen Traditionen zerstört. Vertreter dieses Nationalismus betonen das Recht jeder Nation, und darin eingeschlossen auch das Recht jedes Angehörigen der Nation auf autonome Entfaltung. Individuelle Freiheit und nationale Unabhängigkeit hängen in ihrer Sicht eng zusammen (Alter 1985: 33-34, Herv. i.O.).

Pauschal gesprochen ist der „Risorgimento-Nationalismus“ eine „politische Kraft mit emanzipatorischer Funktion“ (Alter 1985: 33), der sich aber, der Ausrichtung seiner emanzipatorischen Komponente folgend, differenzieren lässt. Je nachdem, ob diese primär auf gewisse Formen und Institutionen des Machterwerbs und der Machtausübung („politischer Nationalismus“) abzielt, speziell die Wirtschaftspolitik betrifft („ökonomischer Nationalismus“) oder aber sich das Bemühen um Unabhängigkeit auf Kultur und Sprache, Kunst, Literatur und Erziehung konzentriert 28 29

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Er erwähnt zudem einen ,Reform-Nationalismus‘, der aber auf Grund seines, auf Asien beschränkten Vorkommens, hier vernachlässigt werden kann (vgl. Alter 1985: 39-43). Sein historisches Modell ist der italienische Nationalismus im 19. Jahrhundert. Er wird vielfach auch als „liberaler Nationalismus“ (Carlton J. H. Hayes), als „genuiner Nationalismus“ oder als „Nationalismus in seiner originären Phase“ (Otto Dann) bezeichnet. „Zugespitzt formuliert: Der integrale Nationalismus ist überhaupt nur möglich in einer Welt der etablierten Nationalstaaten. Er stellt sich dar als eine Ideologie, die die Interessen des Nationalstaats rücksichtslos und expansiv behauptet“ (Alter 1985: 45).

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Begriffsbestimmung

(„kultureller Nationalismus“). Auf Grund der möglichen hervorstechenden Sonderrolle v.a. von Sprache oder Religion ist die Unterscheidung noch durch einen „religiösen“ und „sprachlichen“ Nationalismus zu ergänzen (vgl. ebd.: 38). Nimmt der sprachliche Nationalismus die radikale Form des integralen Nationalismus an, dann dient Sprache nicht mehr emanzipatorischen Zwecken, sondern wird, indem es als ,höchstes Gut‘ radikal durchgesetzt wird, zum Instrument xenophobischer Aktivität (vgl. Stukenbrock 2005: 45). Die bisherige Annäherung an das Phänomen des Nationalismus stützt sich wesentlich auf den Begriff der Nation. Was soll darunter verstanden werden? Benedict Anderson31 liefert mit seinem Entwurf der Nation als Imagined Community eine allgemeine Definition32, er bestimmt sie als „eine vorgestellte politische Gemeinschaft – vorgestellt als begrenzt und souverän“ (Anderson 1988: 15). Vorgestellt insofern, als dass „alle Gemeinschaften, die größer sind als die dörflichen mit ihren Face-to-face-Kontakten“ (ebd.: 16) nicht auf tatsächlicher Begegnung und Bekanntschaft basieren, sondern vielmehr „im Kopf eines jeden die Vorstellung ihrer Gemeinschaft existiert“ (ebd.: 15).33 Der Glaube an ihr Bestehen kann zwar durchaus realhistorische Verankerungen besitzen, sollten die faktischen Gegebenheiten aber nicht ausreichen, werden sie kreiert. So gehört die Erfindung historischer, sprachlicher, literarischer, kultureller, religiöser oder politischer Traditionen34 zu den fundamentalen Kennzeichen nationalistischer Bewegungen (vgl. Stukenbrock 2005: 56). Auf Grund des Vorstellungs- bzw. Schaffensaktes sollten die Gemeinschaften nach Anderson „nicht durch ihre Authentizität voneinander unterschieden werden, sondern durch die Art und Weise, in der sie vorgestellt werden“ (ebd.: 16). Charakterisiert wird der Vorstellungsinhalt durch die drei Wörter ,begrenzt‘, 31

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Benedict Anderson stellt den Nationalismus zwar „nicht in eine Reihe mit bewusst verfochtenen Ideologien [...], sondern mit den großen kulturellen Systemen, die ihm vorausgegangen sind und aus denen – und gegen die – er entstanden ist. Die religiöse Gemeinschaft und das dynastische Reich stellen in [diesem] Zusammenhang die beiden herausragenden kulturellen Systeme dar“ (Anderson 1988: 20; vgl. auch Smith 1991: vii). Funktionell, d.h. in ihrer Bedeutung als „unhinterfragbar gegebene Bezugssysteme“, sieht er diese den Ideologien gleich. Diese Definition stellt auch eine Überdachung für die bekannte Typologie Meineckes, die Unterscheidung in eine Kulturnation und Staatsnation oder für den an ihr angelehnten Ansatz von Hans Kohn, der eine subjektiv-voluntaristische (westeuropäische) und objektiv-deterministische (mittel- bzw. osteuropäische) Nation differenziert (vgl. hierzu auch Alter 1985: 19-24; Stukenbrock 2005: 57-58). Vgl. auch Seton-Watson (1977: 5): Eine Nation existiert, wenn „[…] a significant number of people in a community consider [imagine!] themselves to form a nation, or behave as if they formed one“. Der Begriff von der ,erfundenen Tradition‘ als historischer Fiktion, die die Ursprünglichkeit bestimmter Elemente in der eigenen Geschichte suggeriert, wurde von Eric J. Hobsbawm und Terence Ranger eingeführt (1983). Calhoun betont, dass ihr ,Erfindungscharakter‘ Traditionen keineswegs entwertet, denn wesentlich sei „not its antiquity but its immediacy and givenness“ (Calhoun 1997: 34) und damit ihre handlungsleitende Funktion.

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,souverän‘ und ,Gemeinschaft‘. Mit ,begrenzt‘ werden zwei Aspekte berührt: erstens die Existenz mehrerer Nationen, da sich keine von ihnen mit der Menschheit gleichsetze, und zweitens die Trennung der Nationen durch genau bestimmte, aber dennoch variable Grenzen (vgl. ebd.). Grenzen sind keine natürlichen, objektiven Realitäten, sondern Ergebnis menschlichen Handelns und seiner Vorstellung. Unter diesem Gesichtspunkt werden die politischen und ethnisch-kulturellen Grenzziehungen – die nach dem nationalistischen Prinzip (s.u.) ja identisch sein sollten – in der Habsburger Monarchie, in Böhmen und Prag Ende des 19. Jahrhunderts betrachtet. Das zweite Merkmal – ,souverän‘ – geht auf den Entstehungskontext des Begriffs, die Zerstörung der hierarchisch-dynastischen Reiche durch Aufklärung und Revolution, die als göttlich legitimiert gegolten hatten, zurück. Die Freiheit und als ihr Symbol der souveräne Staat ist somit erstrebenswertes Ziel (vgl. ebd: 16-17). In der Vorstellung der Nation stellen sie sicherlich eine entscheidende Komponente dar, auch für die Bestimmung des Nationalismus sind politische Souveränität und der unabhängige Nationalstaat von zentralem Wert. Der Risorgimento-Nationalismus schließt jedoch weitere Emanzipationskomponenten ein, sodass der Vorstellung einer politischen Nation durchaus jene einer sprachlich-kulturellen vorangehen kann. Die dritte Charakterisierung der Nation betrifft ihre Vorstellung als ,Gemeinschaft‘, da sie „unabhängig von realer Ungleichheit und Ausbeutung, als ,kameradschaftlicher‘ Verbund von Gleichen verstanden wird“ (ebd.: 17). Hier stellt sich die Frage nach den für die jeweilige Gemeinschaft zutreffenden Exklusions- und Inklusionsregeln, ob nach ökonomischen, sprachlichen, kulturellen, religiösen oder ethnischen Kriterien die Zugehörigkeit organisiert wird und das Nationalbewusstsein, das Gemeinschaftsgefühl, das ,Wir‘ und die ,Anderen / Fremden‘ bzw. wie das Verhältnis des Individuums zu seinem Kollektiv gestaltet wird (vgl. hierzu auch Stukenbrock 2005: 58-59). Im Folgenden sollen insbesondere anhand des Konzeptes von Gellner (1991) die Abhängigkeiten von Nationalismus, Nation, Nationalstaat, Sprache und historischem Kontext dargelegt werden. Wie aus den Ausführungen zur Nation deutlich wurde, ist der faktische Staatsbesitz zwar erstrebenswertes Ziel, aber keine notwendige Bedingung für die Existenz der Nation. Umgekehrt kann auch der Staat ohne eine einheitliche Nation existieren (vgl. Alter 1985: 17). „Nationen wie Staaten“ seien „historische Phänomene und keine universelle Notwendigkeit“, sie existierten weder „zu allen Zeiten“ noch „unter allen Umständen“ und seien auch nicht „dasselbe Phänomen“, schreibt Gellner, aber „dem Nationalismus zufolge sind beide füreinander bestimmt“ (Gellner 1991: 16, Herv. i.O.). So ergibt sich auch seine Definition des Nationalismus, der „vor allem ein politisches Prinzip ist, das besagt, politische und nationale Einheiten sollten deckungsgleich sein“ (ebd.: 8).35 Die Diskrepanz zwischen idealem und realem Verhältnis von Staat und Nati35

Calhoun kritisiert diese Definition als zu eng: „It doesn’t do justice to the extent to which nationalism and national identities shape our lives outside of explicitly political concerns – and espe-

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on und die dadurch erzeugte Spannung stellt demnach den Nährboden für den Nationalismus dar. Zusammenfassend hält Gellner fest: Nationalismus ist eine Theorie der politischen Legitimität, der zufolge sich die ethnischen Grenzen nicht mit den politischen überschneiden dürfen; insbesondere dürfen innerhalb eines Staates keine ethnischen Grenzen die Machthaber von den Beherrschten trennen (ebd.: 8-9).

Wenn es aber keinen Staat gibt, stellt sich die Frage nach der Übereinstimmung von Grenzen gar nicht, d.h. für staatenlose Gesellschaften existiert das Problem des Nationalismus nicht (vgl. Gellner 1991: 12, 14). „Der Staat konstituiert“ nach Gellner „eine sehr charakteristische und wichtige Ausformung der gesellschaftlichen Arbeitsteilung“, er ist „die Spezialisierung und Konzentration zur Aufrechterhaltung der Ordnung“ (ebd.: 12). Die Herausbildung des Staates wie auch die Entstehung einer Schrift- und Hochkultur setzt Gellner in einen großen, menschheitsgeschichtlichen Zusammenhang. In den von den Menschen durchlaufenen, drei grundlegenden Stadien, der voragrarischen, agrarischen und industriellen, ist die Existenz des Staates lediglich in der letzten, industriellen Phase eine unvermeidliche Notwendigkeit (vgl. ebd.: 13-14). Denn die Größe und der erreichte (oder zumindest angestrebte) Lebensstandard bedingen eine „unglaublich komplizierte(n) allgemeine(n) Arbeitsteilung und Zusammenarbeit“ (ebd.: 14), die langfristig in jedem Fall zentrale Organisation und einen gewissen Zwang und Kontrolle erfordere: den Staat. Auf der neben der Zentralisierung der Macht zweiten entscheidenden Form der Arbeitsteilung, der Zentralisierung der Kultur / Erkenntnis, basiert die andere notwendige Bedingung des Nationalismus. Anders als noch in der agrarischen Phase wird in der Industriegesellschaft die Kongruenz von Staat und Kultur zur Normvorstellung. Angewiesen auf ständiges und bewusst angestrebtes Wachstum (vgl. ebd.: 39) wird eine universelle, standardisierte Grundausbildung Voraussetzung für ihr effektives Funktionieren (vgl. ebd.: 48-49). Statt der bisher vorherrschenden lokalen Reproduktion (intra-community training) wird nun die zentralisierte Exo-Ausbildung36 zur obligatorischen Norm. Ein modernes ,nationales‘ Erziehungssystem, das dem Schutz und der Kontrolle des Staates untersteht und in einer ,Art Pyramide‘ aufgebaut ist37, soll die Vermittlung des standardmäßig ho-

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cially outside competition over the structuring of state boundaries“ (Calhoun 1997: 11). Er betrachtet es als unmöglich, die verschiedenen Ausformungen des Nationalismus anhand einer Variable zu erklären. Als universell sieht er lediglich seine diskursive Formierung, die – u.a. in Übereinstimmung mit Gellner – nur in der Moderne entstehen kann (vgl. ebd.: 22). „Es empfiehlt sich die Unterscheidung zwischen einer Ausbildung ,von Person zu Person, innerhalb der Gemeinschaft’ (intra-community training), die wir Akkulturation nennen, und spezialisierter Exo-Ausbildung (analog zur Exogamie), die auf Qualifikationen außerhalb der Gemeinschaft angewiesen ist und als eigentliche Ausbildung bezeichnet wird“ (ebd.: 51). „An der Basis liegen die Grundschulen mit Lehrern, die an höheren Schulen ausgebildet wurden; diese sind mit Lehrern besetzt, die an Universitäten ausgebildet wurden, die ihrerseits von den

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hen Niveaus der Schriftkunde und technischen Kompetenz gewährleisten. Mit dem Wandel der Ausbildung wird in der industriellen Gesellschaft die alte Stabilität der sozialen und ökonomischen Rollenverteilung aufgelöst, soziale und berufliche Positionen werden intergenerationell kaum mehr weitergegeben und auch innerhalb eines Lebens kann es häufiger zu einem Wechsel der Tätigkeit und der Stellung kommen (vgl. ebd.: 42). Exo-Ausbildung und Exo-Sozialisation schaffen die kulturellen Grundlagen, um den charakteristischen strukturellen Anforderungen der Industriegesellschaft gerecht zu werden (vgl. ebd.: 57). Die Exo-Sozialisierung, die eigentliche Ausbildung, ist heute die praktisch universale Norm. Die Menschen erwerben die Fertigkeiten und Sensibilitäten, die sie für ihre Mitmenschen erträglich machen, die sie für ihren Ort in der Gesellschaft befähigen, und die sie zu dem machen, ,was sie sind‘, indem sie von ihren Verwandtschaftsgruppen (heutzutage normalerweise natürlich von ihrer Kernfamilie) an eine Ausbildungsmaschine ausgeliefert werden, die allein fähig ist, die breite Ausbildung zu bieten, die für die allgemeine kulturelle Grundlage erforderlich ist (ebd.: 60).

Letztendlich verlangt die Industriegesellschaft eine radikale kulturelle Homogenisierung, die Auflösung der „früheren komplexen Struktur lokaler Gruppen, zusammengehalten durch Volkskulturen, die sich lokal und nach ihren eigenen Traditionen innerhalb dieser Mikro-Gemeinschaften selbst reproduzierten“ (ebd.: 89). So ist es nicht der Nationalismus, der die kulturelle Homogenität erzwingt, sie ist vielmehr eine der wesentlichen Begleitumstände der Industriegesellschaft, die als „eine von objektiven, unausweichlichen Imperativen erzwungene Homogenität [...] auf der Oberfläche die Form des Nationalismus“ (ebd.: 63) annehmen kann.38 Dementsprechend können Nationen nur „in Begriffen des Zeitalters des Nationalismus definiert werden, und nicht wie man hätte denken sollen, umgekehrt. [...] Es ist der Nationalismus, der die Nationen hervorbringt, und nicht umgekehrt“ (ebd.: 86-87). Allerdings, und dies gesteht Gellner auch zu, benutzt der Nationalismus hierzu bereits bestehendes kulturelles Erbe, das er jedoch sehr selektiv, willkürlich und manipulierend einsetzt. Sprache spielt dabei eine besondere Rolle. Um die in der Industriegesellschaft erforderliche explizite Kommunikation gewährleisten zu können, gilt die Ausbreitung eines durch das Schulwesen vermittelten und durch Akademien überwachten gemeinsamen Idioms, gewissermaßen einer Hochkultur, als Voraussetzung, als für alle verbindlich. Zur Bildung der Nation muss sich die Sprache jedoch noch als das eigentlich Verbindende etablie-

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Produkten der Eliteschulen geführt werden. Eine solche Pyramide bietet das Kriterium für die Mindestgröße einer lebensfähigen politischen Einheit” (ebd.: 56). Calhoun warnt davor, den Nationalismus ausschließlich als Ausdruck einer von der modernen Industrialisierung notwendig erzeugten Homogenisierung zu sehen und von Intellektuellen geschaffene, spezifische nationalistische Doktrinen zu ignorieren. „Such a view underestimates both the diversity of actual nationalist ideologies, and the capacity of nationalism to figure in different sorts of projects. It also implies, dubiously, that a ,post-industrial‘ world – or one in which fewer people were employed in heavy industry – would be a post-national world” (Calhoun 1997: 80).

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ren und dies ist Aufgabe des (Sprach-) Nationalismus (vgl. Stukenbrock 2005: 16). Die Vielfältigkeit segmentärer Gruppen39 mit ihrer jeweiligen Gruppenloyalität im vorindustriellen Zustand – als Verwandtschaft, unmittelbar erfahrene Traditionen, am meisten aber der alltägliche Kontakt und persönliche Beziehungen die Verbindungen der Menschen untereinander bestimmen und lokalübergreifende Kontakte auf Eliten beschränkt sind (vgl. u.a. Fishman 1972: 5-6) – gilt es also durch eine neue Vorstellung und neue Loyalitäten zu substituieren. Dazu müssen die segmentären Bevölkerungen über externe Agitation auf ein gemeinsames, subjektiv bedeutungsvolles, über den direkten Wahrnehmungshorizont hinausgehendes Charakteristikum – oder auch mehrere – eingeschworen werden. Sprache und Literatur sind nur eines von vielen potenziellen Einigungs- und gleichzeitig Abgrenzungsmerkmalen. Denn Nationsbildung, so Kelman, sei ein willkürlicher Prozess von Integration und Differenzierung, durch den sich Grenzen zwischen ,Ingroups‘ und ,Outgroups‘ herausbildeten, indem einige Verschiedenheiten minimiert, andere maximiert würden (vgl. Kelman 1972: IX). Die Erfahrung des Anderssein allein wirkt jedoch noch nicht trennend, sondern erst ihre Interpretation und Manipulation (vgl. Fishman 1972: 104), ihre Instrumentalisierung zur Herstellung von Konformität (vgl. Gellner 1991: 151) und zur Mobilisierung der Massen. Der tschechische Historiker Miroslav Hroch (1968; 1986; 1999) teilt den Zeitraum der politischen Mobilisierung sozialer Gruppen und Schichten bei den kleinen Völkern40 Europas im 19. Jahrhundert in drei klar voneinander abgrenzbare Phasen (vgl. Hroch 1968: 24-26; hierzu auch Zorić 2005: 47-63). Es geht dabei um die Herausbildung von auf einer gemeinsamen Sprache gründenden ,Sprachnationen‘, die im Gegensatz zu den auf mehr als einer Sprache bzw. auf einer Gesamtmenge von Traditionen basierenden ,Staatsnationen‘ stehen. Die erste der Phasen, der aufgeklärte Patriotismus, ist gekennzeichnet durch ein wissenschaftliches Beschäftigen mit der Sprache (und wird für die tschechische nationale Bewegung auf das letzte Drittel des 18. Jahrhunderts datiert). Gelehrte oder kulturbewusste Einzelpersonen wie Lehrer, Studenten, Geistliche, Journalisten oder Schriftsteller widmen sich dem Studium der Sprache und Geschichte, begeistern sich für die Kultur ihres Volkes, sowie für die Wirtschaft und Landschaft und 39 40

Den Begriff der „segmentären Gesellschaft“ prägt in entscheidender Weise Emile Durkheim (1893): De la division du travail social. Paris. Dabei lässt sich Nationswerdung kleiner Völker in multiethnischen Großreichen weiter differenzieren, je nachdem, ob Ethnien zum Zeitpunkt der nationalen Emanzipation eine vollständig ausgebildete Sozialstruktur haben oder nicht. Charakteristisch für Letztere ist, dass diese Ethnien den Prozess der nationalen Wiedergeburt mit einer ausgeprägten bilingualen Phase beginnen, nachdem die Oberschicht zunächst noch an die dominante Sprache und Kultur des Vielvölkerstaates assimiliert ist und erst nach und nach die eigene Sprache und Kultur wiederentdeckt (vgl. Hroch 1999: 81-82; Zorić 2005: 48).

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wollen darüber hinaus dem einfachen Volk durch erzieherische Aktivitäten im aufklärerischen Geiste nützlich sein. In diesem Sinne werden Grammatiken, Wörter- und Lehrbücher der ,Muttersprache‘ verfasst, Abhandlungen zu territorialen, staatsrechtlichen und -geschichtlichen Aspekten publiziert und nicht zuletzt kommt es zu historischen Legenden- und Mythenbildungen. Dagegen liegt den Wissenschaftlern jede systematische nationale Agitation dem Volk gegenüber fern. Vielmehr entwickeln sich die historiographischen und philologischen Forschungsinteressen zum Bindeglied zu den patriotischen Landesständen, die sich von den Studien zur Landesgeschichte und Volkssprache zusätzliches Gewicht für ihre Souveränitätsbestrebungen versprechen (vgl. auch Hroch 2003: 191). Eine breite öffentliche Wirkung und Mobilisierung wird erst in der darauffolgenden Phase, dem eigentlichen „Gärungsprozeß der nationalen Selbstbesinnung“ (ebd.), angestrebt. Das akademische Engagement wird von einer nationalbewussten Minorität, den sogenannten Patrioten, in eine intentionale politische Agitation eingebracht, um die nationale Bewusstseinsbildung voranzutreiben. Die Gründung volkssprachlicher Verlage, Zeitschriften, Theater und Vereine zur Pflege von Brauchtum und Wissenschaft sind Zeichen dafür, dass auch das sprachliche Bewusstsein der Bevölkerung sich ,nationalisiert‘. Konsequenterweise verlieren die staatsnationalistisch gesinnten adligen und geistlichen Akteure an Gewicht und die Loyalität zum bestehenden Staatswesen schwindet. Vorausgesetzt die zweite Phase erreicht die gewünschte Nationalisierung der gesellschaftlichen Öffentlichkeit, so entwickelt sich im letzten Schritt die nationale Bewegung schließlich zu einer alle Schichten umfassenden Volksangelegenheit. Nicht nur die Massen sind mobilisiert, sondern durch die Etablierung einer bürgerlichen Oberschicht vervollständigt sich die gesellschaftliche Sozialstruktur.41 Nun werden neben den sprachlich und kulturell dominierten nationalen Appellen verstärkt auch soziale, ökonomische und politische Forderungen laut. Die Mehrheit der jeweiligen ethnischen Bevölkerung übernimmt die nationalen Identitätskonzepte und konkretisiert ihre politischen (Autonomie-) Ansprüche, oftmals wird die nationale Souveränität erlangt. Gellner liefert mit seinem Verlaufsmuster nach dem Prinzip der ,Kommunikationsgrenzen‘ eine andere und doch ähnliche Einteilung für die Entwicklung des Nationalismus (vgl. Gellner 1991: 90-97).42 Im Gegensatz zu Hroch bietet er jedoch Erklärungsansätze für die Übergänge zwischen den einzelnen 41

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Hroch bezeichnet den vollzogenen Übergang in dieses dritte Stadium als „nationales Erwachen“ des Volkes, wobei er mittlerweile auf einem rein metaphorischen Verständnis dieser Bezeichnung besteht (vgl. King 2001: 124). Gellner wehrt sich gegen die Vorstellung, dass der Nationalismus „das Erwachen einer uralten, latenten, schlafenden Kraft“ repräsentiere. Er ist seiner Meinung nach die Konsequenz einer „neuen Form der sozialen Organisation, die sich auf zutiefst verinnerlichte, von schulischer Ausbildung abhängige Hochkulturen gründet, von denen jede von ihrem eigenen Staat beschützt wird“ (Gellner 1991: 76). Im Gegensatz zu Gellner (auch Breuilly und Hobsbawm) lehnt Hroch ab, dass Nationalismus mit politischer Selbständigkeit in Verbindung gebracht wird (vgl. Hroch 1994: 49).

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Phasen. Entscheidende Faktoren sind bei ihm die mit der Industrialisierung entstehende notwendige Mobilität und Kommunikation (vgl. auch Alter 1985: 84-85). Die neuen industriellen, urbanen Zentren ziehen Arbeitermassen an, lösen diese Bevölkerungsgruppen aus ihren lokalen Gemeinschaften, praktizieren eine dominante, ,fremde‘ Bürokratie und bewirken damit ein Bewusstwerden der eigenen Kultur. Denn erst in der unmittelbaren Konfrontation mit der herrschenden Hochkultur, die zudem insbesondere den gesellschaftlich höheren Schichten eigen ist, wird die einigende und auch abgrenzende Wirkung der eigenen Kultur geweckt, sie wird „zum Kern der eigenen Identität“ (Gellner 1991: 95). Durch das Bedürfnis nach sozialer Zugehörigkeit und der darausfolgenden kulturellen und ethnischen Identifizierung des anderen formiert sich eine neue, ,nationale‘ Gruppe, die sich um die (ehemals) niedrigere Volkskultur organisiert (vgl. ebd. 115). Das Konstrukt ,Nation‘ erhält Bestandskraft, die Menschen beginnen an ihre Einbindung in die Kategorie ,Nation‘ zu glauben – gestützt und gelenkt von den Führern der Bewegung (vgl. Hopf 1997: 4). Laut Fishman ist Nationalismus „not only a movement of the masses and for the masses but, rather, also a movement to replace one elite with another, one sociocultural philosophy with another and one political-operational system with another” (Fishman 1972: 60). Eliten zeichnen mitverantwortlich für die nationale Mobilisierung und ethnische Funktionalisierung, wenn sie keine nationale Programmatik entwickeln oder aber damit keine Resonanz finden, bleibt der Nationalismus ,stecken‘. Ethnographie, Geschichte und Volkssprache repräsentieren dabei die am häufigsten für die nationale Idee ausgewerteten, interpretierten und instrumentalisierten Bereiche (vgl. Fishman 1972: 15-16, 41; Giesen 1991: 14). Während sich die neue Elite zunächst noch der Sprache der höheren Kultur angepasst hatte und der Volkssprache, wenn auch erfüllt „von einem warmen und großzügigen Eifer für ihr Volk“ (Gellner 1991: 94), ohne langfristiges Kalkül in erster Linie wissenschaftliche Aufmerksamkeit schenkte, wird damit die Umwandlung in eine Hochkultur eingeleitet. Auslösungsmoment des funktionellen Bedeutungszuwachses der Volkssprache sind die den Nationalismus begleitenden Urbanisierungs- und Modernisierungsprozesse (vgl. u.a. Fishman 1972: 43). Besondere Relevanz gewinnt das Ausbildungssystem, die Pflege des kulturell / linguistischen Mediums und seine Ausbreitung werden zur zentralen Aufgabe der schulischen Erziehung (vgl. ebd.: 99).43 Nach Hobsbawm gilt, dass „linguistic nationalism was and is essentially about the language of public education and official use” (Hobsbawm 1990: 96) und dass „the admission of a language as a medium of secondary education is far more crucial to a national movement than its use in primary education, due to its 43

Die funktionelle Schlüsselrolle der Volkssprachenerziehung in Bezug auf Erwecken und Bestehen des Nationalismus führt Gellner zu der Schlussfolgerung, dass „modern loyalties are centered on political units whose boundaries are defined by the language [...] of an educational system“ (Gellner 1965: 163).

Begriffsbestimmung

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impact on the career perspectives of the affected national community” (ebd.: 118). Notwendige Voraussetzung für den Erfolg einer nationalen Bewegung ist zunächst jedoch die Mobilisierung der Bevölkerung und hier steht – insbesondere mit Blick auf die böhmischen und Prager Verhältnisse – das Volksschulwesen im Vordergrund: „There is, perhaps, no more powerful means of nationalizing a population than compulsory schooling through the medium of a ,national language‘” (Sayer 1996: 201). In diesem Sinne gehört die Durchsetzung der tschechischen Unterrichtssprache auf allen Ebenen des Bildungswesens zu den zentralen Zielen tschechisch-nationaler Politik.

2.1.1.3

Rolle der Sprache

Das soziale Verhalten in Bezug auf die Sprache, also das ,Sprachverhalten‘, die Bereitschaft, eine oder mehrere Sprachen zu lernen, wird von der ,Psychologisierung der Muttersprache‘ (vgl. Kapitel 2.1: 25) dominiert. Jeder Angehörige der Nation muss die sie (die Nation) konstituierende Sprache beherrschen. Doch schließt das postulierte Kernideologem des Sprachnationalismus, die Deckungsgleichheit von Nation und (Mutter-) Sprache (und Nationalstaat), zunächst Kompetenzen in weiteren Sprachen nicht aus. Eine Einsprachigkeitsideologie scheint dennoch im Rahmen sprachnationaler Bewegungen, so auch im Böhmen der Kafka-Zeit (vgl. Nekula / Fleischmann / Greule 2007: 7-12), ihren festen Platz zu haben. Grundsätzlich trägt Sprache mittels ihrer sozialintegrierenden Funktionen einen wesentlichen Anteil am Prozess der Vergesellschaftung. Dabei kann Sprache zum Gegenstand politischer Instrumentalisierung werden und je nachdem bestehende gesellschaftliche Verhältnisse aufrechterhalten oder verändern (vgl. Rindler-Schjerve 1997: 13). Die Bedeutung der Sprache wird im modernen Nationalismus – spätestens seit der Französischen Revolution einerseits und dem deutschen Idealismus und der deutschen Romantik (Herder, Fichte, Schelling) andererseits44 – nochmals verstärkt. Denn hier wird die Einheit von Volk und Staat propagiert, die Offenbarung des ,Volksgeistes‘ dabei hauptsächlich in der ,Volkssprache‘ gesehen und damit die eine Sprache zentral und exklusiv gesetzt. Konsequenz dessen sind in der sprachpolitischen Umsetzung nationale Einheitsstaaten mit der spezifischen Forderung nach einer einzigen Nationalsprache (vgl. hierzu Lüdi 2007: 18-21). Eine einsprachige und homoglossische Ideologie setzt sich durch. Nach Lüdi ist heute darunter „das Vorurteil“ zu verstehen, wonach es für den Menschen natürlich bzw. ‚normal‘ ist, nur eine, auf einem (Staats-) Gebiet dominante, Sprache zu sprechen, und dass es natürlich bzw. ‚normal‘ ist, dass in diesem (Staats-) Gebiet Menschen leben, die ebenso diese Sprache sprechen und dies möglichst exklusiv (ebd.: 13). 44

Zum Einfluss der Herderschen Ideen auf die Nationsbildung bei den Völkern der Habsburger Monarchie vgl. Sundhaußen (1973).

38

Begriffsbestimmung

Im Grunde ist die Geschichte der Entstehung von nationalen Einheitssprachen zunächst eine Geschichte der sprachlichen Unterordnung und Verdrängung im Dienste der Effektivierung45 der einheitsstaatlichen Kommunikation. Sie erzählt zugleich aber auch von der Etablierung einer neuen gesellschaftlichen Herrschaft, von Subordination und Kontrolle (vgl. Rindler-Schjerve 1997: 14). Sprache wird durch die Gesellschaft implizit instrumentalisiert, wenn sich über konventionalisierte Usancen der Intergruppen-Kommunikation diskursive Muster herausbilden, in denen sich die Herrschaftsbeziehungen zwischen den Gruppen ausdrücken und so die Verhältnisse des gesellschaftlichen Status quo reproduzieren (vgl. ebd.). Eine explizite Instrumentalisierung der Sprache erfolgt meist über Sprachpolitik und Sprachplanung, so z.B. wenn die Verwendung des Kodes einer nach gesellschaftlicher Hegemonie strebenden Gruppe per Gesetz verordnet wird oder – wie im späten Habsburgerreich46 – Diskursregelungen zum Ausgleich intergruppaler Interessenskonflikte festgelegt werden (vgl. ebd.). Gerade in der Epoche der sogenannten ,nationalen Wiedergeburt‘ wird die Gemeinsamkeit einer Eigenschaft – wie der Sprache – mythisiert und diese Homogenität gleicherweise zum Kult erklärt (vgl. Lemberg 1971: 199-200). Die Sprache wird in diesem Fall zur „Raison d’être von Nationalstaaten“ (ebd.) ernannt. Dementsprechend definieren und rechtfertigen sich die aus dem Risorgimento hervorgegangenen Nationalstaaten auch als Staaten von Sprachvölkern. Die ,eigene‘ Volkssprache aber musste – nicht nur im tschechischen Fall – erst wieder herausgebildet werden. Sprache ist in diesem Zusammenhang sowohl als „Motor eines beginnenden Nationalismus“ als auch als seine „Manifestation“ (Lüdi 2007: 17) zu bezeichnen, denn nun bildet „nicht nur das Volk seine Sprache, sondern umgekehrt, die Sprache ihr Volk“ (Lemberg 1971: 200).

2.1.1.4

Situation in Böhmen

Die Ablösung des ,alten‘ kulturellen Systems und die Gültigkeit der neuen national(istisch)en Ideologie, die insbesondere in sprachlich gemischten Gebieten zu Konflikten führt, tritt in Böhmen deutlich zu Tage. Solange für den österreichischen Nachfolgestaat des Heiligen Römischen Reiches die Dynastie und die christliche Gemeinschaft als Identifikationssymbole gelten, gibt es in Böhmen keine (im späteren Sinn) nationalen Probleme. Die gesellschaftlichen Konfliktlinien ziehen sich entlang der einzelnen ,Klassen‘ und trennen nicht zwingendermaßen Sprachgemeinschaften voneinander. Der Dynastie und der Kirche wird (noch) 45

46

Ende des 19. Jahrhunderts ist im böhmischen Kontext allerdings nicht mehr die effizientere Gestaltung der Kommunikation im Vordergrund zu sehen, wie sie womöglich noch im Rahmen der Josephinischen Reformen und der ,Germanisierung‘ u.a. der Verwaltung angestrebt wurde. Ganz offensichtlich überwiegt zu dieser Zeit die symbolische Funktion der Sprache gegenüber ihrer kommunikativen Funktion. Rindler-Schjerve (1997: 14) nennt hier als Beispiel die sprachpolitische Fixierung von Kommunikationsdomänen für die nach Autonomie strebenden Volksgruppen.

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keine nationale Zugehörigkeit zugerechnet. Doch durch die Verbreitung der Aufklärung47 unter Maria Theresia und Joseph II, die damit einhergehenden Reformen (u.a. Aufhebung der Leibeigenschaft, die v.a. noch in den böhmischen Ländern und Ungarn besteht, Steuerregulierung und Ausdehnung der Besteuerung auf Adel und Geistlichkeit, Aufbau einer zentralen Verwaltung inklusive des Beamtenstabs) und die Absicht der Errichtung eines zentral regierten Einheitsstaates mit deutscher Amtssprache werden der mächtige landeseigene Adel und sein historisches Bewusstsein angestachelt und geweckt. Folge ist die Neubegründung und Festigung eines politisch-kulturellen Sonderbewusstseins der böhmischen Länder. Insbesondere der intentional auf den Abbau regionaler Feudalinteressen ausgerichtete Wiener Zentralismus, der durch die Germanisierung der Verwaltung und Bildung begleitet wird, provoziert den böhmischen Adel48 und seine nationalböhmische bürgerliche Klientel. Mit dem ,böhmischen Vaterland‘ und seiner historischen Sonderstellung als rechtlicher Stütze entfaltet sich ein böhmischer Landespatriotismus (vgl. u.a. Sundhaußen 1973: 133-134; Bosl 1968: 17-18).49 Als nach französischem Vorbild das Deutsche zur Klammer einer neuen Gemeinschaft wird, beziehen sich auch die deutschsprachigen Böhmen auf ihre germanischen Vorfahren und auf ihre deutsche Sprachnation50, ebenso wie die nichtdeutschen nationalen Bewegungen in den Grenzen der Habsburger Monarchie ihre ,nationale Identität‘ fortan in ethnisch-sprachlichen Kategorien finden (vgl. Křen 2000: 33). Ein supraethnisches Österreichertum bietet keine Alternative. 47

48 49

50

Otto Urban (1994b: 1065) weist darauf hin, dass unter Berücksichtigung des sprachlichen Aspektes zwar von einer aufklärerischen Ideologie in Böhmen gesprochen werden kann, jedoch nicht von einer tschechischen Aufklärung. Die aufklärerischen Impulse wirken sich im tschechischsprachigen Milieu in vermittelter Form und mit einer gewissen Verspätung aus. Vgl. ebd. auch für weiterführende Literatur zur tschechischen nationalen Bewegung. Vgl. hierzu auch Agnew (1992), der „Noble Natio and Modern Nation“ am tschechischen Beispiel einander gegenüberstellt. Als einen wesentlichen Grund für die geringen Erfolgschancen des böhmischen Landespatriotismus führt Otto Urban (1994c: 261) die „grundverschiedenen Auffassungen vom Königreich Böhmen“ an, sodass eine Entwicklung zu einem „modernen ,Staatspatriotismus‘ im Sinne der ,Erneuerung‘ der Rechte der historisch-politischen Individualität des Königreichs Böhmen“ nicht zu erreichen war. Urban bemerkt weiter: „Der Versuch, diese traditionelle ,Indifferenz‘ des Landespatriotismus zu überwinden, führte mit einer gewissen Notwendigkeit zur Betonung der sprachlichen und kulturellen Besonderheit der Tschechen und bildete eine der wichtigsten Quellen des modernen tschechischen Nationalismus“ (ebd.). Die deutschsprachigen Bewohner Böhmens stellen unter den österreichischen Deutschen zunächst „kein Element sui generis“ dar, sie bilden im Grunde erst in der Auseinandersetzung mit den Tschechen ein „integriertes und spezifisches Ganzes“. An der Schwelle zum nationalen Zeitalter stellen sie schließlich nicht mehr als ein „Segment des österreichischen Deutschtums“ dar, „nämlich als böhmische, mährische und schlesische Deutsche“, deren gemeinsames charakteristisches Merkmal bereits in dieser Terminologie angezeigt wird: „Trotz der insgesamt vorherrschenden Gravitation nach Wien unterhielten die Deutschen engere Verbindungen zu Deutschland, und dieser Umstand wie auch die Vermischung mit den Tschechen trugen dazu bei, ihr Deutschtum stärker auszuprägen als in den eigentlichen österreichischen Ländern, zumindest potenziell“ (Křen 2000: 34).

40

Begriffsbestimmung Gegen alle diese Nationalismen [italienische, slawische, deutsche Einigungsbewegung, I.S.] vermochte Österreich keinen eigenen ,Nationalismus‘ zu stellen, sondern nur den staatlichen Patriotismus spezifisch anationaler Prägung, in dem sich die Loyalität gegenüber dem Hause Habsburg und traditionelle Regionalismen mit ,deutscher Lebensweise‘ und einem deutschen kulturellen und sprachlichen Milieu vermischten (ebd.: 33).

Vom Ideologiewandel erfasst schließen sich tschechisch- und deutschsprachige Böhmen in ihrer Konzeption der Sprachnation gleichermaßen aus.51 Die deutsche Nationalbewegung ist wie der tschechische Nationalismus mit den beschriebenen Klassifizierungen Peter Alters ausgedrückt, eine dominant sprachlich-kulturelle – wenn auch zu den ökonomischen und politischen Formen rege Interdependenz besteht – und verfolgt, obgleich nicht von Beginn an, sezessionistische Ziele.52 Berücksichtigt man auch den gegen Ende des 19. Jahrhunderts entstehenden jüdischen Nationalismus, so spaltet sich dieser zwar in einen politischen Zionismus (Theodor Herzl) und einen Kulturzionismus (Martin Buber), ist in seinem Denkmuster jedoch auch sprachlich-kulturell bestimmt (Hebräisch vs. Jiddisch).53 Cohen (1981) zeigt in seiner Monographie, dass – zumindest in Prag – die Dynamik der Entwicklung weg von einem böhmischen Landespatriotismus54 hin zu einer nationalen Bewegung primär von der tschechischsprachigen Bevölkerung ausgeht (vgl. Cohen 1981: 41). Aus tschechischer Perspektive werden von da an anders- bzw. deutschsprachige und auch jüdische ,Böhmen‘ von ihrer Nationsvorstellung ausgegrenzt.55 Nach Anna M. Drabek wird der dem Bohemismus oder böhmischen Landespatriotismus zugrunde liegende sprachneutrale, „politische[r] Nationsbegriff, [...] der in den böhmischen Ländern in der früheren Neuzeit bis hin 51

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Der Absagebrief Palackýs 1848 an die Versammlung der Frankfurter Paulskirche demonstriert deutlichst die Abwehr der Tschechen, das Deutsche als ihre Hoch- und Schriftsprache anzuerkennen und als ,deutsche Mundart‘ verstanden zu werden. Zorić weist darauf hin, dass im Hinblick auf die nationalen ,Wiedergeburtsbewegungen‘ als historischem und literarisch-kulturellem Konstrukt jene Nationen, die sich – wie die Tschechen – nur auf eine schwache staatsrechtliche Tradition berufen können, ganz naheliegend die sprachlich-kulturellen Aspekte für die Gemeinschaftsbildung betonen und demzufolge den Herderschen Sprach- und Kulturnationalismus bevorzugen. Dadurch könne zudem die erlöschende Staatstradition mittels demonstrierter sprachlich-kultureller Kontinuität überspielt bzw. der Anspruch auf einstige staatliche Souveränität legitimiert werden (vgl. Zorić 2005: 49). Zum Zionismus und der jüdischen Sprachendebatte auch in Bezug auf Franz Kafka und Prag vgl. ausführlicher u.a. Nekula (2003: 15-44), Kilcher (2007), Pawel (1994). Zu den verschiedenen Formen des Patriotismus vgl. Dann / Hroch (2003: 12-13), die mit „Reform-Patriotismus“ auch „Nationalbewußtsein“ als eine Ausprägung des Patriotismus einschließen. Diese Entwicklung hin zur Ausgrenzung auf Grundlage der Sprache spiegelt sich auch in der Schaffung nationalen Bewusstseins über die Konstruktion einer tschechischen Nationalgeschichte wider, wie sie einerseits auch die deutsche und andererseits die tschechische Ausgabe des historischen Werkes von Franz Palacký demonstrieren. Vgl. hierzu und bezüglich der Konstruktion einer historischen Dimension der tschechischen modernen nationalen Identität Hroch / Malečková (2004: hier 22).

Begriffsbestimmung

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zum Einsetzen der sogenannten nationalen Wiedergeburt in den ersten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts“ absolut überwiegt, durch einen „sprachlich-ethnischen“ Nationsbegriff abgelöst, nach dessen Auffassung „Sprache und Volkszugehörigkeit die wichtigsten, ja konstitutiven Merkmale“ (Drabek 1989: 44) von Nation darstellen.56 Die Einheit des Kollektivs wird primär mittels Sprache konstruiert, die komplexe soziale Wirklichkeit wird auf den deutsch-tschechischen, sprachlichen Gegensatz reduziert57 – im Laufe der Zeit sicher durch rassische und antisemitische Komponenten stärker angeheizt. Das Andere wird in seiner Andersartigkeit homogenisiert und als das Fremde definiert, zuerst diskursiv und dann auch strukturell. Die in den 1840er Jahren im Zusammenhang mit dem böhmischen Staatsrecht entstehende Idee kann noch als Vorstellung einer Staatsnation bezeichnet werden, die schließlich durch die Vorstellung der Sprachnation abgelöst wird.58 Anders ausgedrückt wird das Territorialprinzip durch das Sprachprinzip substituiert. Diese Wandlung zeigt, dass die inhaltliche Aufladung des Nationsbegriffs in Böhmen keineswegs stabil und unveränderbar ist, vielmehr kristallisieren sich im Laufe der nationalen Bewegung und dem Aufkommen des Nationalismus neue Wesensmerkmale heraus.59 Die Voraussetzungen für eine Etablierung nationaler Strebungen schafft wesentlich auch der einsetzende Prozess der Modernisierung mit. It was modernization that both generated a population capable of being nationalized and provided the practical instruments – schools and universities, newspapers and maga-

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Bugge weist in diesem Zusammenhang auch auf eine neue differenzierte Sichtweise hin: „the Czechs were called a nation (národ) when seen in an ethnic perspective and a nationality (národnost) when seen as one of two parts in the Czech/Bohemian political nation. This again demonstrates the distance to the old Landespatriotismus, which did not distinguish between ethnic and political” (Bugge 1994: 132). Unterstützt wird diese Tendenz dadurch, dass die politische und wirtschaftliche Macht in Österreich ,national‘ ungleich verteilt war, sodass die nationale und soziale Dimension eines politischen Streitpunktes kaum zu trennen waren (vgl. Bugge 1994: 316). Der sprachneutrale, politische Nationsbegriff verschwindet nicht schlagartig. So verhilft ihm die Idee des böhmischen Staatsrechts im Zusammenhang mit den konstitutionellen Forderungen der Tschechen und ihrer deutschsprachigen Landsleute im Königreich Böhmen noch in den 1840er Jahren zu neuer Bedeutung. Selbst im Jahr 1868 erklärt František Palacký anlässlich des 50. Gründungsjubiläums des Böhmischen Nationalmuseums die böhmische Nation zu einer seit vielen Jahren zweisprachigen Nation. Dennoch ist festzuhalten, dass dieser vom Wesensmoment der Sprache unabhängige Begriff zu dem Zeitpunkt keine Zukunft mehr hatte (vgl. Drabek 1989: 54). Hinsichtlich der Konzeption einer böhmischen, bilingualen Nation (Bolzano) schlussfolgert Peter Bugge in seiner Dissertation, dass diese trotz des eigentlich nichtethnischen böhmischen Staatsrechtprogramms niemals eine echte Chance hatte. Er führt dies zum einen auf die Dominanz eines bereits ethnizistischen Verständnisses von Tschechentum und Deutschtum zurück. Insbesondere begründet er es aber damit, dass die zur Diskussion stehenden Territorien während des 19. Jahrhunderts keinen eigenen Staat bildeten (vgl. Bugge 1994: 310-316).

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Begriffsbestimmung zines, theatres and museums, public buildings and public spaces – with which this project could be accomplished (Sayer 1996: 196).

Dass sich der moderne Nationalismus in Böhmen erst nach 1860 durchsetzt, ist auf mehrere Ursachen zurückzuführen. Bereits 1848 nimmt die nationale Bewegung in den von Prag ausgehenden politischen Forderungen nach „,vollkommenster Gleichstellung‘ [aller Nationalitäten], nach Anerkennung der Gleichberechtigung als ,Staatsprinzip‘“ (Stourzh 1985: 18) konkrete Formen an. Durch den Bach’schen Neoabsolutismus in den 1850er Jahren wird diese Entwicklung zwar nochmals ,eingefroren‘, ist aber nicht mehr aufzuhalten (vgl. Burger 1995: 32). Mit der zunehmenden Industrialisierung und Migration tritt der Nationalismus schließlich sichtbarer und intensiver denn je zu Tage. Hier greifen die nach Gellner entscheidenden Faktoren für die Entfaltung des Nationalismus, nämlich soziale und territoriale Mobilität und Kommunikation (vgl. Gellner 1991: 95). Die Masse an ,tschechischen‘ Bauern strömt in die Städte.60 Die immer akuter werdende Notwendigkeit der Tschechischsprecher, im Alltag mit staatlichen Behörden – ob Polizei, Schule etc. – in Kontakt zu treten, lässt die Frage der Sprache unmittelbar zur praktischen Angelegenheit werden. Eine Verschärfung erfährt die nationale Stimmung infolge des Engagements einer bürgerlichen Intellektuellenschicht und der Etablierung einer ,tschechischen‘ Mittelklasse.61 Denn das aufstrebende tschechischsprachige Bürgertum fühlt sich durch die von Wien vorgegebenen sprachlichen Rahmenbedingungen, die die Rolle des Deutschen als Prestigesprache stützen, an ihrem Weiterkommen gehindert (vgl. Sayer 1996: 196197).62 In diesem Zusammenhang spielt zudem die andauernde ökonomisch und staatlich unterstützte Dominanz deutschen Kapitals insbesondere in öffentlichen Institutionen eine Rolle. Auch in der ,freien Wirtschaft‘ muss sich das tschechische Kapital erst etablieren, das sich zunächst vornehmlich auf die Landwirtschaft 60

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Der Aufschwung städtischen Lebens fällt fast ausschließlich in die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts wie die folgenden Einwohnerzahlen Prags verdeutlichen: 1830: 103.670; 1851: 124.131 (die Prager Vororte hatten 1843 18.589 Einwohner); 1880 (samt Vororten): 276.260; 1900 (samt Vororten): 437.053 (vgl. Rauchberg 1905a: 133-135). Nach Urban zieht sich die Formierung einer sozial differenzierten tschechischen Gesellschaft über das ganze 19. Jahrhundert. Zu einer gewissen Stabilisierung, d.h. zu einem relativ festen Abschluss der tschechischen Gesellschaft nach außen als eigenständiger sozialer Gruppe, kommt es erst in den letzten zehn Jahren des 19. und am Anfang des 20. Jahrhunderts ( vgl. Urban 1978: 27). Allerdings betont Křen (1986), dass in Bezug auf die Völker Ostmitteleuropas und insbesondere die tschechische Nationalbewegung von einer „Einbahnstraßen“-Entwicklung (ebd.: 50) gesprochen werden könne, „die von der Entdeckung und Artikulation tschechischen Nationalbewußtseins über Autonomieforderungen direkt in den Anspruch auf einen selbstständigen Nationalstaat eingemündet hätte“ (ebd. 15). Vielmehr gab es im Rahmen der positivistischen Politik Überlegungen und Strategien, die eine Lösung der nationalen Interessen in der Reform oder Umstrukturierung der Habsburger Monarchie suchten. Jedoch scheiterte der ,positivistische‘ Versuch u.a. deshalb, weil die Radikalität der Basis der Parteien über eine etwaige Kompromissbereitschaft der Parteispitzen dominierte (vgl. ebd.: 57).

Begriffsbestimmung

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und mit ihr verbundenen Produktionen sowie die Nahrungsmittelindustrie stützt (vgl. Kořalka / Crampton 1980: 503). Sein wichtigster Vertreter ist die 1868 gegründete Živnostenská banka [Gewerbebank], die sich zum „eindruckvollsten Symbol der wirtschaftlichen Emanzipationsbestrebungen der tschechischen Minorität“ (März / Sochor 1973: 334) entwickelt. Ein rasches Wachstum der tschechisch kontrollierten Bankinstitute setzt erst um die Jahrhundertwende ein (vgl. ebd.: 360-361). Nicht weniger wichtig sind die Reformen in der politischen Organisation der Monarchie nach dem Niedergang des Bach’schen Neoabsolutismus, die erst das Aufblühen eines autonomen tschechischen kulturellen und politischen Lebens ermöglichen (vgl. Sayer 1996: 196-197). Schließlich spielt auch der einseitige österreichisch-ungarische Ausgleich von 1867 eine bedeutende Rolle, durch den die tschechische Nationalbewegung zur Form einer demokratischen Massenbewegung aufschwingt. In entscheidendem Zusammenhang mit der Herausbildung eines zunächst ethnischen und dann auch nationalen Bewusstseins steht – v.a. in der Anfangsphase der nationalen Bewegung – das geschriebene Wort.63 So fordert Zorić, die von Hroch unternommene Systematisierung der Nationsbildungsprozesse bei den kleinen Völkern der Habsburger Monarchie weiter zu differenzieren und um „den Aspekt der präexistenten Schriftsprache“ (Zorić 2005: 34) zu erweitern (vgl. ebd. 71-72). Doch bleibt zu berücksichtigen, dass auch eine solche präexistene Schriftsprache erst im Laufe des Nationsbildungsprozesses ,entdeckt‘ und mit ihrer Standardisierung begonnen wird. Sicherlich birgt der Nationalismus in Böhmen weitaus komplexere Ursachen und Strukturen als bisher gezeigt. Für die vorliegende Arbeit ist jedoch in erster Linie die historische Entwicklung des sprachnationalen Diskurses in Prag in seiner Bedeutung für das ,Sprachverhalten‘ der Bevölkerung, d.h. insbesondere die daraus entstehenden faktischen Rahmenbedingungen für einen möglichen Zweitspracherwerb von Interesse. Maßgeblich hierfür sind territoriale Gegebenheiten und gesetzliche Sprachregelungen ebenso wie struktureller Fortschritt und kulturelle Emanzipation. So gilt es, den sprachpolitischen und gesellschaftlichen Kontext – mit besonderer Berücksichtigung des Schulwesens – in der entscheidenden Phase der Nationalisierung in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts in einzelne ,Bauphasen‘ zu gliedern und die Beanspruchung der Einsprachigkeitsideologie zu konkretisieren.64 Um im empirischen Teil analysieren zu können, in welchem Ausmaß und von wem sie dann tatsächlich umgesetzt wurde bzw. warum und wer 63 64

Zur Bedeutung des geschriebenen Wortes und die frühe tschechische nationale Bewegung vgl. u.a. Anderson (1988: 82-83); Bugge (1994: 25-37, 307-308); Macura (1995: 50-54, 191-195). Obgleich die historische Darstellung auf einer im Rückblick konstruierten, ethnischen Perspektive basiert, wie sie etwa King (2001: insb. 125-126, 136) anprangert, soll dadurch, dass das Augenmerk gerade auf die bilinguale Bevölkerung in einer bestimmten Stadt gerichtet wird, die sich in gewisser Weise der eindimensionalen, nationalen Kategorisierung widersetzt, und dass ferner der Kontext für die Sprachwahl im Vordergrund steht, der Kritik Rechnung getragen werden.

44

Begriffsbestimmung

sich ihr widersetzte, werden zunächst Identität allgemein und dann die alles überragenden Kategorien der Zeit – Ethnizität / ethnische Identität bzw. Nationalität / nationale Identität – definiert.

2.1.2 2.1.2.1

Identität Definition

Der Begriff Identität dient in erster Linie dazu, in einer sich wandelnden Umgebung Ordnung und Beständigkeit zu schaffen (vgl. Lüdi 1994: 205). Zum einen erfasst er die sukzessiven „Ichs“ eines Individuums, d.h. seine verschiedenen Erscheinungsformen als Akteur in unterschiedlichen Rollen und sozialen Kontexten, in verschiedenen zeitlichen Abschnitten als Vergegenwärtigungen ein und desselben Individuums (vgl. ebd.; auch Oppenrieder / Thurmair 2003: 39-40). Zum anderen ist Identität auch eine conditio sine qua non der Gruppenbildung (vgl. Haarmann 1996: 222).65 Aus ihr ergibt sich die Mitgliedschaft des Individuums in einer z.B. linguistischen, sozialen oder ethnischen Gemeinschaft (vgl. Le Page / Tabouret-Keller 1985: 2). Konstruiert wird diese soziale Identität – nach Tajfel (1978: 63) „that part of an individual’s self-concept which derives from his or her knowledge of his or her membership in a social group (or groups) together with the values and emotional significance attached to that membership“ – mittels Selbst- und Fremdeinschätzung, wobei sich die beiden Sichtweisen nicht notwendigerweise decken müssen (vgl. Lüdi 1994: 205). Die Trennung in eine ,Außen-‘ und ,Innenperspektive‘ impliziert auch die Differenzierung zwischen ,öffentlicher‘ bzw. ,sozialer Identität‘ und ,persönlicher Identität‘. Damit wird die determinatorische Identifizierung einer Person durch andere von der eigenen ,Selbstverortung‘ unterschieden (vgl. Stienen / Wolf 1991: 83). Selbstkategorisierung setzt das Wissen um die Zugehörigkeit zu einer Gruppe auf der Basis der gemeinsamen Herkunft, distinktiver Merkmale und gruppenspezifischer Organisationsstrukturen voraus, die die Individuen im Zuge der Sozialisation erwerben (vgl. hierzu Barth 1969: 9-38). Das Individuum gewinnt die Fähigkeit, die Welt prinzipiell binär zu gruppieren: das, was er selbst ist und / oder sein möchte, steht dem, was er nicht selbst ist und / oder sein möchte, gegenüber. Es ergibt sich also ein Wechselspiel aus Abgrenzungsstrategien und Solidaritätssuche (vgl. Haarmann 1996: 222; Hahn 1999: 73-75). „Sich-Selbst-Identifizieren als reflexiver Akt hängt immer von der Konfrontation mit dem ,Anderen‘ ab, d.h. von der Unterscheidung vom Anderen und der Anerkennung durch das Andere“ (Stienen / Wolf 1991: 81). Damit ist Identität auch durch die soziale Umwelt mo65

Oppenrieder / Thurmair unterscheiden einen „personenbezogenen Typ von Identität“ und „gruppenbezogene ,Identitäten‘, also wesentliche Charakteristika, die eine Gruppe und das aus ihr hervorgehende Verhalten und die in ihr gehegten Einstellungen mitformen und gleichzeitig von anderen Gruppen abgrenzen“ (Oppenrieder / Thurmair 2003: 41).

Begriffsbestimmung

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tiviert und nur vor dem Hintergrund der je spezifischen Gesellschaftsformation erfassbar (vgl. ebd.). Die jeweiligen Gruppenidentitäten – also wesentliche Eigenschaften, die eine Gruppe und das aus ihr hervorgehende Verhalten und die in ihr gehegten Einstellungen mitformen und gleichzeitig von anderen Gruppen abgrenzen – sind in zweierlei Hinsicht maßgeblich an der Konstruktion individueller Identitäten beteiligt. Erstens manifestieren sich gruppenbezogene Identitäten im Verhalten des Gruppenmitglieds, und zweitens wird dessen individuelle Identität über soziale Prozesse im Rahmen einer Gruppe aufgebaut.66 Wie stark aber die individuelle Identität Charakteristika der Gruppe(n), der bzw. denen man sich zugehörig empfindet, übernimmt, ist variabel. Man kann dieser Gruppe auch von außen / fremd zugeordnet werden (vgl. Oppenrieder / Thurmair 2003: 41). Zudem ist in bestimmten Fällen eine eindeutige Kategorisierung nicht immer möglich. „Ethnic categorizations and racial ones do not line up, either, and the categorization scheme has no logical place for people of mixed backgrounds and mixed identites” (Johnstone 2002: 129).67 Fremdkategorisierung, also jemandes Identität feststellen bzw. ihn sozial zu identifizieren, heißt, ihn einer Vorstellungskategorie zuzuweisen. Grundlage dieser Allokation bildet eine Reihe von beobachtbaren Figuren und Interpretationsmustern, die für die jeweilige Kategorie charakteristisch sind (vgl. Lüdi 1994: 205). Dadurch, dass Kategorisierung in der Sprache ausgedrückt wird, nehmen die Merkmale sprachlicher Natur im Zuordnungsmechanismus eine Schlüsselrolle ein.68 Sprachliche Variablen wie Regionalismen oder beispielsweise ein Akzent konnotieren bestimmte soziale Bedeutungen, sie können quasi als deren Träger emblematisch identitäre Werte widerspiegeln und akzentuieren (vgl. Labov 1976: 187). Eine ähnliche Identifikationsfunktion weisen Stereotype69 auf, in denen Kategorien kognitiv mit spezifischen Merkmalen verbunden werden. Mittels dieser Merkmale wird das jeweilige Stereotyp abgerufen, das beispielsweise im Zusammenhang mit ethnischen Kategorisierungen meist nur auf sehr begrenztem Wissen basiert. Zudem werden in ethnisch heterogenen Gesellschaften gerade diese Kategorien ausgereizt und nicht selten Konflikte politischer oder sozialer Natur auf eine Ebene ethnischer / nationaler Forderungen verlagert (vgl. Hroch 1994: 51). Stereotype bergen einen Abgrenzungsmechanismus nach außen und schaffen gleichzeitig Solidarität innerhalb der Gruppe, dadurch erzeugen und 66 67 68 69

Zur entscheidenden Funktion sozialer Prozesse beim Aufbau individueller Identität vgl. bereits Erikson (1961) und Mead (1973). Zu dieser Kategorie sind gerade die Juden Böhmens und damit auch die Familie Kafka zu zählen. Vgl. ausführlicher Johnstone (2002: 45-47; 130); Lüdi (1994). Mit Quasthoff definiert ist ein Stereotyp „der verbale Ausdruck einer auf soziale Gruppen oder einzelne Personen als deren Mitglieder gerichteten Überzeugung. Es hat die logische Form eines Urteils, das in ungerechtfertigt vereinfachender und generalisierender Weise, mit emotionalwertender Tendenz, einer Klasse von Personen bestimmte Eigenschaften oder Verhaltensweisen zu- oder abspricht. Linguistisch ist es als Satz beschreibbar“ (Quasthoff 1973: 28).

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Begriffsbestimmung

festigen sie die soziale Identität (vgl. Quasthoff 1987: 781).70 Identitäten werden als einheitsstiftende Konstruktionen betrachtet, mit deren Hilfe Verhaltensweisen und Einstellungen verstehbar gemacht werden (vgl. Oppenrieder / Thurmair 2003: 41). Es gilt die Entwicklung der Gruppenidentität, wie sie die monoglossisch aufgefasste Nation konstruiert, am ,Sprachverhalten‘ der Bevölkerung insbesondere im Netzwerk Schule aufzuzeigen. Henri Tajfel hat eine Gruppentheorie entworfen, die v.a. für Sprachkonfliktsituationen, zu denen die deutsch-tschechische Kontaktsituation in der Kafka-Zeit sicherlich zu zählen ist, ihre Gültigkeit besitzt. Sie erklärt Gruppenidentitäten aus einer in erster Linie soziopsychologischen Perspektive und bezieht sich auf die Konzepte soziale Kategorisierung, soziale Identität, sozialer Vergleich und psychologische Distinktivität, die den Sprachgebrauch auf Gruppenebene steuern (vgl. Giles et al. 1977: 319). Der Entwurf Tajfels soll hier nur skizziert werden und die Möglichkeiten des Gruppenverhaltens in der deutschtschechischen Auseinandersetzung aufzeigen. Wenn ethnische Gruppen in Beziehung treten, kommt es bei den indviduellen Gruppenangehörigen immer zum Vergleich, zu sozialer Kategorisierung. Die gruppeneigenen Eigenschaften werden in der Gegenüberstellung mit jenen anderer Kollektive eingeschätzt, und zwar Wertachsen folgend, die auf dem Status bzw. den Positionen gründen, die von den Kollektiven dank ihrer ökonomischen, kulturellen und intellektuellen Ressourcen und damit auch dank ihrer politische Machtausübung in der Gesellschaft erreicht werden (vgl. Tajfel 1974). Im böhmischen Kontext wird die soziale Komplexität im öffentlichen Diskurs im wesentlichen auf einfache, sprachlich motivierte Kategorisierungen reduziert71. Zudem werden andere Kategorien wie z.B. der soziale Status über die Sprache ,gelesen‘, sodass im Prag der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts – vereinfachend und polarisierend ausgedrückt – die Kategorie ,Oberschicht‘ zugleich mit ,deutsch‘ und ,Arbeiterschicht‘ mit ,tschechisch‘ verbunden wird. Da jede Ethnie ein natürliches Streben nach einer positiven sozialen Identität in sich trägt, versucht sie im Falle der negativen Entsprechung eine Änderung der intergruppalen Situation herbeizuführen (vgl. Giles et al. 1977: 319). In diesem 70

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Die Identität eines Sprechers manifestiert sich ferner durch diskursive Schematisierungen, mittels morphologischer Markierungen wie Pronomen (wir vs. sie, diese vs. jene etc.) und Numerus etwa wird eine verbindende oder trennende Beziehung der Gesprächspartner und ihrer jeweiligen Gruppen geschaffen (vgl. Lüdi 1994: 206). Da die soziale Komplexität grundsätzlich über einfache, sprachlich motivierte Kategorisierungen kaum zu erfassen und über diese zu rekonstruieren ist, werden auch die einsprachig motivierten Kategorisierungen ,Deutsche‘ und ,Tschechen‘ in der vorliegenden Arbeit – sofern sie auf der Angabe der Umgangssprache in den österreichischen Volkszählungen beruhen – in Anführungszeichen gesetzt. Damit soll markiert werden, dass es sich um soziale, durch monoglossische Ideologie forcierte und etwa im Schulwesen oder in der Verwaltung institutionalisierte Gruppenkonstrukte (von außen und nach außen) handelt, die der individuell empfundenen Identität nicht entsprechen müssen oder sie stark reduzieren können.

Begriffsbestimmung

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Zusammenhang arbeitet Tajfel drei Strategien heraus: Erstens die kulturelle und psychologische Assimilierung an die dominante Gruppe und damit die Aufgabe der stigmatisierenden Gruppe – wobei in starren Gesellschaften (Rasse, Religion, ethnische Kriterien) die soziale Mobilität sehr eingeschränkt ist –, zweitens die Reethnisierung, d.h. ehemals negativ bewertete Charakteristika der eigenen Gruppe werden umdefiniert bzw. soziale und identitätsstiftende Elemente wiederbelebt (vgl. Achternberg 2005: 54) und drittens die Ghettoisierung mit der Loslösung von der superioren Gruppe und dem Schritt in die Autonomie. Giles et al. ergänzen noch eine vierte Alternative, und zwar den Verbleib in der inferioren Gruppe verbunden mit einer Revalorisierung der Gruppenmerkmale und die Herausforderung eines direkten Wettbewerbs mit der superioren Gruppe, der unter Umständen in der Übernahme ihrer Position endet (vgl. Giles et al. 1977: 319).72 Eine Veränderung der Gesellschaft ist unter diesen Umständen unausweichlich, die Legitimität der bisher dominanten Gruppe wird in Frage gestellt und damit nicht selten Gewalt provoziert (vgl. Zwickl 2005: 167).

2.1.2.2

Sprachliche Identität

„Language acts are acts of identity“ – so haben Le Page und Tabouret-Keller (1985) in ihrer Untersuchung zu Kreolsprachen und Kontaktvarietäten von Englisch in ehemaligen britischen Kolonien gezeigt. Dabei kann der Sprecher sowohl auf Grund seiner sprachlichen Kompetenzen wie auch seiner Inkompetenzen von außen als Mitglied einer Gruppe identifiziert werden oder diese aber auch als Mittel zur eigenen Identifikation mit einer Gruppe einsetzen. Mit der Identifikation – der Postulierung des ,Wir‘ und ,Sie‘ – wird der Frame der Beziehung festgelegt (vgl. Tabouret-Keller 1997: 315-316). Neben diesen linguistischen Merkmalen dient aber auch bereits der Name einer Sprache als Identifikationsgrundlage „a language’s name serves as a label covering any kind of intuitive knowledge of what the ,object‘ that it refers to may be“ (ebd.: 319). Die Sprache nimmt also Symbolcharakter für die jeweilige soziale Identität gesellschaftlicher Gruppen an (vgl. Rindler-Schjerve 1997: 19). Das Bekenntnis zu einer Sprache ebenso wie sprachliche Merkmale „are the link which binds individual and social identities together. Language offers both the means of creating this link and that of expressing it“ (Tabouret-Keller 1997: 317). So ist Sprache – zusammen mit anderen Kulturmustern (z.B. Abstammung, religiöse Bindungen) – nicht zuletzt durch ihre Vermittlungsfunktion gruppenspezifischer Praktiken an der Ausformung individueller wie auch sozialer Identität beteiligt. Allerdings entspricht ihr Stellenwert für die Identitätsfindung weder einer stabilen Komponente, noch kommt ihr unveränderliche Priorität zu, sie besitzt nicht 72

Diese vierte Alternative könnte auch als eine Variante der zweiten Strategie (Reethnisierung) Tajfels angesehen werden. Sie beschreibt die Situation der ,Tschechen‘ zum Ende der Monarchie bzw. dann in der neugegründeten Ersten Tschechoslowakischen Republik.

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Begriffsbestimmung

zwingendermaßen konstitutiven Charakter für den Aufbau einer Identität (vgl. Haarmann 1996: 226). Vielmehr kann im Laufe der Identitätsfindung eine Verschiebung von Prioritäten stattfinden, schließlich ist Identität nicht vorgegeben, sondern prozesshaft.73 „Als Produkt sozialer Bindungen ist die Herstellung und Darstellung von Identität ein permanenter sozialer Prozess“ (Stienen / Wolf 1991: 120). In Bezug auf die im vorliegenden Kontext bedeutsame ethnische Identität bedeutet dies, dass die sprachliche Identität nicht als eine integrative Komponente der Ethnizität vorgegeben, sondern potenziellen Wandlungen unterworfen ist. Dies betrifft das Individuum ebenso wie eine Gruppe in ihrer Gesamtheit. In einer mehrsprachigen Umgebung wirkt sich diese Variabilität der Sprachkomponente in der Identität möglicherweise im Trend zum Sprachwechsel aus (vgl. Haarmann 1996: 228). In Bezug auf einen möglichen Zweitsprach- oder auch nur Schriftstandarderwerb in der Schule kommt ebenfalls der Variablencharakter der Sprache zum Ausdruck. Das bisherige, lediglich in seiner gesprochenen Form beherrschte Idiom wird durch weitere Sprachkompetenzen ergänzt. Somit ist das Eigenprofil der sprachlichen Identität temporär gebunden. Aber nicht nur die Sprache stellt eine variable Komponente dar. Auch bei auf den ersten Blick konstanten Bestandteilen wie etwa der Abstammung kann zumindest der ihr zugewiesene Stellenwert im Laufe der Zeit variieren. Letztendlich bedeutet dies, dass sprachliche wie ethnische Identität dynamische Phänomene sind und als permanente Prozesse verstanden werden sollten (vgl. ebd.: 228-229). In ethnischen bzw. nationalen Großgruppen wird häufig nur einer Sprache identitätsstiftende Bedeutung zugesprochen. Durch Institutionalisierung dieser einen Sprache wird die Dynamik der sprachlichen Identität im politisch nationalen Kontext kontrolliert. So konkurrieren in der böhmischen Gesellschaft ,Deutsche‘ und ,Tschechen‘ miteinander um die Durchsetzung als politische Nation und damit die sprachliche Prägung des Staates. Neben dem funktionalen Wert der einheitlichen Sprache, eine bequeme Kommunikation zu gewährleisten, symbolisiert sie in erster Linie die Einheitlichkeit dieses Gebildes selbst – nach innen wie nach außen, rückblickend und vorausschauend (vgl. Oppenrieder / Thurmair 2003: 43; Macura 1995: 51).74 Gerade diese Art von Identitätsbildung, mit der die Abgrenzung durch eine charakteristische Eigenschaft betont wird, unterstützt das Entstehen der Vorstellung, „dass eine ,gesunde‘ sprachliche Identität auf Einsprachig73

74

Allein in jeder Interaktion wird sie immer wieder neu herausgebildet: „Identität ist ein Prozess der ständigen Neu-Festlegung auf nur eine Partikularform unter Verzicht auf alle anderen Identifikationsmöglichkeiten. Jede Festlegung, d.h. ,Form‘ von Identität ist damit unvollkommen, situativ, seht im Spannungs- und Abgrenzungsverhältnis zu allen anderen möglichen ,Formen‘, d.h. zur Welt der Anderen“ (Stienen / Wolf 1991: 81 nach Màrmora 1985). Sprache wirkt hier im Sinne einer narrativen Funktion von Identität: „(re)constructing the links between past, present, and future, and imposing coherence where there was none“ (Pavlenko / Blackledge 2004: 18) und öffnet die Perspektive um eine diachrone Dimension.

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keit“ (Oppenrieder / Thurmair 2003: 43, Herv. i.O.) beruht. Voraussetzung dafür, dass die sprachliche Identitätsbildung auf der Ebene der Gruppe gelingt, ist demnach die Anerkennung der identitätsstiftenden Funktion der einen Sprache auch durch das einzelne Gruppenmitglied. Mehrsprachigkeit wird als Kommunikationsmittel zwischen Großgruppen zwar akzeptiert, aber möglichst gesteuert durch gezielte Ausbildung und nur auf der sicheren Grundlage einer einzigen Muttersprache (vgl. ebd.). Die Rolle, die der Sprache in der Konstruktion der individuellen wie der gruppenbezogenen Identitäten beigemessen wird, beeinflusst somit auch die allgemeine Einstellung und Handhabung der Mehrsprachigkeit. Andere Sprachen als die allein zur identitätsstiftenden ernannte werden in Abhängigkeit von ihrem Prestige, ihrer Funktionalität bzw. ihrem ,Marktwert‘ (vgl. hierzu Coulmas 1992) unterschiedlich anerkannt. Zentral bleibt dabei die Toleranzgrenze, die heterogenen Komponenten der Identität zugesprochen wird, d.h. die Frage danach, wann Vielfalt aufhört und der Zerfall der Identität anfängt (vgl. Oppenrieder / Thurmair 2003: 44, 48). Die Sprachwahl und damit die gerade aktualisierte sprachliche Identität ist in multilingualen Kontexten nicht isoliert zu sehen: [I]n multilingual settings, language choice and attitudes are inseparable from political arrangements, relations of power, language ideologies, and interlocutors’ views of their own and others’ identities. Ongoing social, economic, and political changes affect these constellations, modifying identity options offered to individuals at a given moment in history and ideologies that legitimize and value particular identities more than others (Pavlenko / Blackledge 2004: 1-2).

Kenntnisse in mehreren Sprachen schaffen in jedem Fall eine Erweiterung der sprachlichen Identitätsvarianten und eröffnen die Möglichkeit, in der direkten Interaktion auf die sprachliche Identität des Gegenübers oder des Umfeldes zu reagieren.

2.1.2.3

Situation in Böhmen

Die Dynamik und Polyvalenz sprachlicher Identitäten wird besonders auch im mehrsprachigen Böhmen und Prag der Kafka-Zeit deutlich. Zu Beginn der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts findet ein Prozess statt, in dem sich die Prager Bevölkerung in eine ,tschechische‘ und eine ,deutsche‘ Gruppe trennt. As long as bilingualism was frequent and Czechs and Germans intermingled extensively in private life, individuals could move with surprising ease from one identity and affiliation to another. […] Yet the late 1850s and early 1860s marked a significant turning point, for at this time the Czech-German distinction first emerged as a social reality, and Bohemianism finally ceased to be a real option (Cohen 1981: 45).

Der öffentliche Diskurs wird fortan von der einsprachigen und homoglossischen Ideologie und der darauf beruhenden Konzeption der Nation dominiert (vgl. Nekula / Fleischmann / Greule 2007: 7). Öffentlicher Diskurs, Sprachpolitik und die

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permanente Präsenz des deutsch-tschechischen Sprachenkampfes stehen mit dem ,Sprachverhalten‘ der Bevölkerung in einer ständigen Wechselwirkung, sodass der außerordentliche Stellenwert der Sprache im böhmischen Kontext in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts beständig verstärkt wird. Folge dessen ist u.a., dass die Gruppenidentität – in diesem Fall die Zugehörigkeit zu einer Nation – auf die sprachliche Dimension reduziert wird, für sprachlich nicht abgrenzbare Ethnien bleibt wenig Platz übrig (vgl. Nekula 2006: 125). Sprachliche Identität wird ,eingefroren‘ (institutionalisiert) und mit nationaler Identität gleichgesetzt. Obwohl per Gesetz eine derartige Einteilung der Gesellschaft verhindert werden sollte, entscheidet in Böhmen dennoch primär „die Sprache bzw. die (uneingeschränkte und eingeschränkte) Sprachkompetenz oder -inkompetenz über die nationale bzw. sprachnationale Zugehörigkeit“ (ebd.: 125-126). Entsprechend dem Stereotyp von der ,Normalität‘ der Einsprachigkeit für die Nation wird die Auffassung einer sprachlich-eindimensionalen nationalen Identität vertreten. Die im Rahmen der nationalen Abgrenzungsstrategien zeitweise relevante religiöse Dimension, insbesondere auch gegenüber der jüdischen Bevölkerung, ist dabei sekundär und trägt oft noch einen sprachlichen Stempel, „seit der Formierung von Tschechen und Deutschböhmen als antagonistische sprachnationale Gruppen wurde Religion tendenziell als Vehikel des ethnischen Konflikts begriffen oder als antinationale Kraft abgelehnt“ (Schulze Wessel 2001: 180). Sowohl im tschechischen wie deutschen Kulturprotestantismus als auch im antigermanistischen Antisemitismus tritt diese Verwebung der Komponenten zu Tage.75 Ein Beispiel, dem aus der Perspektive der Fremdkategorisierung trotz entsprechender Tschechischkenntnisse und Selbstidentifizierung die Zugehörigkeit zur Gruppe verweigert wird, stellt der jüdische Literat Siegfried Kapper dar.76 Infolge ihrer lange Zeit 75

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Im tschechischen Kulturprotestantismus des 19. Jahrhunderts wird die durch Jan Hus und die böhmische Reformation mit heraufgeführte literarisch-künstlerische und wissenschafltiche Kultur als Horizont eigener nationaler Identität behauptet und gepflegt, sodass sich nationales historisches Überlegenheitsgefühl und kulturelles Selbstbewußtsein religiös legitimieren. Zum Begriff Kulturprotestantismus vgl. Evangelisches Kirchenlexikon (1962: 1522-1525). Auf deutschböhmischer Seite demonstriert die sogenannte, vom deutschnationalen Georg Ritter von Schönerer initiierte Los-von-Rom-Bewegung zur Zeit der Badenischen Sprachenverordnungen (1897) die Instrumentalisierung religiöser Identität im Sinne des Nationalen. Symptomatisch für diese Kampagne ist, dass die aus religiösen Impulsen entstandene Initiative des Evangelischen Bundes (gegr. 1887), in der ,tschechischen‘ Bevölkerung zu evangelisieren, unter deutschnationalem Druck abgebrochen werden muss (vgl. Gottas 1985: 589-590). Karel Havlíček lehnte die von Siegfried Kapper verfasste Gedichtsammlung České listy [Böhmische Blätter] in der tschechischen Zeitung Česká včela radikal ab, bezog sich dabei aber nicht nur auf die Ablehnung des literarischen Werkes sondern verallgemeinernd auf die Zugehörigkeit der Juden zu den ,Tschechen‘: „Nebot’ při Izraelitech se nesmí jenom ohled bráti na víru a náboženství [...], nýbrž hlavnĕ také na původ a národnost. A jak tu mohou Izraelité k českému národu náležeti, když jsou původu semitického? [...] Nesmí se tedy říci, že Židé v Čechách neb na Moravĕ bydlící jsou Čechové náboženství mosaického, nýbrž považovati je musíme za národ zvláštní semitický, který jen nahodile u nás bydlí a nĕkdy naší řeči rozumí neb ji umí.“ [Denn bei den Israeliten darf nicht nur der Glaube und die Religion, [...] sondern hauptsächlich soll auch die

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obligatorischen deutschen Schulausbildung werden Juden primär als ,Deutsche‘ wahrgenommen und kategorisiert; eine Mitgliedschaft in der ,tschechischen‘ Gruppe ist damit ausgeschlossen. Allerdings zeigen antisemitische Tendenzen in Kampagnen, Vereins- und Parteiprogrammen gegen Ende des 19. Jahrhunderts auf deutscher wie tschechischer Seite, dass neben der Sprache die religiöse Dimension in der ,fremden‘ Zuordnung zu einer größeren ethnischen Gesamtheit zunehmend zusätzliche Brisanz gewinnt (vgl. Maidl 2005: 45-46). Die Ideologie zur Konstruktion der monoglossischen und im böhmischen Kontext somit nationalen Identität bzw. das signifikante Gewicht der Sprache in der Herausbildung der kollektiven Identität wird auch in den ,öffentlichen Domänen‘ wie Verwaltung oder Vereinswesen und zum größten Teil auch Schule reflektiert, in denen nach und nach sprachlich exklusive Rahmenbedingungen geschaffen werden (vgl. Nekula / Fleischmann / Greule 2007: 7). Die Sprachenfrage herrscht aber nicht nur auf der Sprachplanungsebene, sondern dringt auch in die Sprachmanagementebene (vgl. Anm. 19: 24) ein. Hierzu gehört beispielsweise die Wahl der Sprache für die Sekundärsozialisation der Kinder – eine private Entscheidung, die v.a. im sprachlich gemischten Prag durch die nationale Interpretation der Umgebung zur öffentlichen Stellungnahme mutiert. Auch die bei anderen Gelegenheiten wie der Volkszählung oder Mitgliedschaften in Vereinen oder nur durch die Verwendung der Personennamen in der öffentlichen Kommunikation nach außen getragene sprachliche Identität wird in der Gesellschaft mit Argusaugen beobachtet und nicht selten als Scheinidentität diffamiert (vgl. Nekula 2006: 126).77 Zugleich wird bilingualen Sprechern, die meist jüdischer Herkunft sind, unter dem Vorwand der sprachlichen Ambivalenz die Zugehörigkeit zur monolingual aufgefassten Nation verweigert.78 Aus der Perspektive der Selbstkategorisierung wird die jüdische Identität nicht primär sprachlich bzw. multilingual charakterisiert, sondern an das Judentum geknüpft.79 Gerade diese Identifikationsprinzipien gilt es

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Herkunft und die Nationalität berücksichtigt werden. Wie können also die Israeliten der tschechischen Nation angehören, wenn sie semitischer Herkunft sind? [...] Man darf also nicht sagen, dass die in Böhmen oder Mähren wohnenden Juden Tschechen mosaischer Religion sind, sondern sie sind für eine besondere, semitische Nation zu halten, die nur zufällig bei uns wohnt und manchmal unsere Sprache versteht oder diese beherrscht.] (Havlíček 1986: 332; hier zit. nach Maidl 2005: 46-47). So klagt etwa auch Heinrich Rauchberg (u.a. Statistik-Professor von Franz Kafka) im Zusammenhang mit der Volkszählung im Jahr 1900 in seiner Monographie aus dem Jahr 1905 die jüdische Bevölkerung an, die auf Grund des Umtausches des nach außen getragenen Sprachlabels (von Deutsch in Tschechisch) wesentlich den Rückgang der deutschsprachigen Bevölkerung in Prag bedingten (vgl. Rauchberg 1905a: 154-158). Gerade die Kenntnis der Hand in Hand mit der Etablierung der monoglossischen Ideologie herausgebildeten ,Standardsprachen‘ ist für die bürgerliche Mittelklasse ausschlaggebendes Kriterium der Zugehörigkeit zu einer nationalen Gesellschaft (vgl. Nekula 2008: 37; Linke 1996). Marek Nekula führt dies für Franz Kafka mit Bezug auf Odradek, das „Sinnbild eines sinnlosen Wesens“ aus dessen Erzählung Die Sorge des Hausvaters aus (vgl. Nekula 2003: 15-18, hier 15). Im Zusammenhang mit der ostjüdischen Schauspieltruppe, die 1911-1912 in Prag gastiert,

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auch in der empirischen Untersuchung der Schülerschaft an den deutschen Einrichtungen in Prag zu verfolgen, denn „one major source of Czech resentment towards Jews in this period was their linguistic identification with the German ,overlords‘, and in particular their opting for German education“ (Sayer 1996: 170).

2.1.3 2.1.3.1

Ethnizität – Nationalität Definition

Die im Zuge des Nationalismus sich etablierenden Inklusions- und Exklusionsregeln entwerfen neue identifikatorische Konzepte, die die zu Regionalität, Stand und Konfession in Konkurrenz tretende Ethnizität und Nationalität implizieren. Nationalität erscheint nun als „ein spezifischer Code der Inklusion, mit dem Vergemeinschaftung sozial konstruiert wird“ (Giesen / Junge 1991: 256, Herv. i.O.). Sie setzt sich gegen alternative Inklusionskodes zur Konstruktion von Gemeinschaftlichkeit und zum Ausschluss Fremder bzw. Dritter von Kommunikation und Interaktion durch (vgl. ebd.). Für die Unterscheidung zwischen nationaler und ethnischer Gemeinschaft, zwischen Nation und Ethnos / Ethnie bzw. Nationalität und Ethnizität wird in der allgemeinen Diskussion als Kriterium insbesondere die im Begriff ,Nation‘ enthaltene politische Dimension (Nation als Träger der Souveränität) angeführt. Ethnizität dagegen wird als „familienübergreifend und familienerfassend“ (Elwert 1989: 33), als kulturell fundiert interpretiert, sie stiftet der sie tragenden Gruppe ebenfalls kollektive Identität.80 Allerdings sind ethnische Gruppen nicht an unveränderbaren ,kulturellen Inhalten‘ zu erkennen, noch stellen sie objektive und ursprüngliche Einheiten dar. Vielmehr werden sie – wie

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entwickelt auch Franz Kafka ein Gruppenzugehörigkeitsgefühl, das alle anderen nationalen Bindungen überragt und in folgendem Tagebucheintrag zum Ausdruck kommt: „Bei manchen Liedern, der Aussprache ,jüdische Kinderloch‘, manchem Anblick dieser Frau, die auf dem Podium, weil sie Jüdin ist uns Zuhörer weil wir Juden sind an sich zieht, ohne Verlangen oder Neugier nach Christen, gieng mir ein Zittern über die Wangen“ (Kafka Tagebücher 1990: 59) (vgl. auch Northey 1994: 31). Calhoun differenziert Nationalismus und Ethnizität – auch in Abgrenzung zu ,Verwandtschaft‘ – als Konstrukteure von Identität nach verschiedenen sozialen Solidaritätsformen und deren Ausdrucksweise: „Two closely related distinctions are crucial: between networks of social relationships and categories of similar individuals, and between reproduction through directly interpersonal interactions and reproduction through mediation of relatively impersonal agencies of largescale cultural standarization and social organization” (Calhoun 1997: 29). Während Nationalität als kategorische Identität primär durch standardisierte Vermittleragenturen reproduziert wird, zeichnet sich verwandtschaftliche Identität v.a. durch Netzwerke interpersoneller Beziehungen aus. Ethnizität dagegen sieht er in einer Mittelposition zwischen Verwandtschaft und Nationalität: „Ethnicity is thus not simply an extension of kinship, but the way in which collective identity gets constituted when kinship loyalities, traditions, and other means of passing on common culture confront a broader arena in which most interaction is not organized by the same kinship and culture as within the group“ (Calhoun 1997: 40).

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,Nationen‘ – über ,Abgrenzung‘ konstruiert. Indem in sozialen Prozessen Dichotomien zwischen dem ,Fremden‘ und ,Bekannten‘ geschaffen und aufrechterhalten werden, konstituiert sich ethnische Identität (vgl. Barth 1969: 11-15). […] we habitually refer to ethnic groups, races, tribes and languages as though they were objective units, only occasionally recalling to ourselves the ambiguity of their definitions, the porousness of their boundaries, and the situational dependency of their use in practice. The point is not that such categorical identities are not real, any more than that nations are not real; it is, rather, that they are not fixed but both fluid and manipulable. Cultural and physical differences exist, but their discreteness, their identification and their invocation are all variable (Calhoun 1997: 36).

Ethnizität birgt demnach keine organizistische Komponente, wie sie etwa in der Paternitätskategorie81 des Fishman’schen Ethnizitätskonzepts82 zum Ausdruck kommt. Dieser sieht das Bewusstsein und die Verbindlichkeit von Ethnizität als vielschichtig, zusammengesetzt aus „ererbten“ und „erworbenen“, „stabilen“ und „veränderlichen“ Aspekten, „existenziellen“ und „kontrastiven“ Charakteristika sowie „fassbaren“ und „unfassbaren“ Ansichten und bestimmt drei Erfahrungskategorien von Ethnizität: Paternität, Patrimonium und Phänomenologie (vgl. Fishman 1977: 16-17). Im Gegensatz zu Fishman ist nicht die vermeintlich biologische Ursprünge einer Gemeinschaft bergende Paternitätsdimension, sondern mit Blick auf das Konzept der ,imagined community‘ von Anderson, die letzte der drei Kategorien (Phänomenologie) als zentral einzustufen. Sie betrifft die dem abstammungsbezogenen Sein (Paternität) und Verhalten (Patriomonium) beigemessenen Bedeutungen. Damit rückt der schon von Max Weber festgestellte subjektive Charakter von Ethnizität in den Vordergrund: Wir wollen solche Menschengruppen, welche auf Grund von Aehnlichkeiten des äußeren Habitus oder der Sitten oder beider oder von Erinnerungen an Kolonisation und Wanderung einen subjektiven Glauben an eine Abstammungsgemeinsamkeit hegen, derart, daß dieser für die Propagierung von Vergemeinschaftungen wichtig wird, dann, wenn sie nicht ,Sippen‘ darstellen, ,ethnische‘ Gruppen nennen, ganz einerlei, ob eine Blutsgemeinsamkeit objektiv vorliegt oder nicht (Max Weber 1972: 237).

So entsteht Ethnizität zwar nicht aus dem ,Nichts‘, gründet aber nicht primär auf einem die Abstammungsgemeinschaft konstituierenden biologischen Erbe, sondern auf der Erfahrung kultureller und historischer Gemeinsamkeit. Dadurch stellt Ethnizität auch keine primordiale oder unveränderliche Kategorie menschlicher Identität dar, als vielmehr eine aus der subjektiven Wahrnehmung der Gemeinsamkeiten und vermeintlichen Traditionen hervorgehende soziale Konstruktion, 81

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Fishman spricht von einem die Abstammungsgemeinschaft konstituierenden biologischen Erbe, das über „Blut“, „Knochen“, „Essenz“, „Mentalität“, „Begabung“, „Sensitivität“ und „Neigungen“ von Generation zu Generation weitergegeben wird. Dieses Erbe könne nach außen oder auch von außen übersehen, heruntergespielt oder verleugnet werden, bleibe aber dennoch ursprünglich und begründe die Diskontinuität gegenüber Nichtmitgliedern (vgl. Fishman 1977: 17). Zur Darstellung seines Konzepts vgl. auch Stukenbrock (2005: 38-41).

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die von Mitgliedern der In-group wie der Out-group bestätigt wird (vgl. Deumert 2004: 355).83 Sie schafft Zusammenhalt und Gruppensolidarität, die nicht zuletzt das Verhalten der Mitglieder prägt. Demnach ist Ethnizität auch ein Verhaltensund Handlungssystem. Es zählt nicht nur die Mitgliedschaft, sondern auch, wie die Mitglieder ihre Zugehörigkeit zum Ausdruck bringen, ihren Verpflichtungen „gut“ oder „schlecht“ nachkommen84, worauf sich Fishmans zweite Erfahrungskategorie (Patrimonium) bezieht (vgl. Fishman 1977: 20-21). In der vorliegenden Arbeit wird Ethnizität in erster Linie als methodisches Instrument eingesetzt, um die kulturelle Komponente kollektiver Identitätskonstruktion im Böhmen des 19. Jahrhunderts zu kennzeichnen. In diesem Sinne ist Ethnizität noch nicht ideologisch ,belastet‘. Erst mit der Mobilisierung und Steigerung von Symbolen erfolgt schließlich die Transformation der Ethnizität von einem sozialen Identitätskonstrukt zu einem Resultat ideologischer Wirklichkeitskonstruktion. So kann für den historischen Kontext der Untersuchung die ethnische Solidarität durchaus auch als Vorstufe der politischen, nationalen Solidarität betrachtet werden.85 Wie gestaltet sich die Verbindung von Sprache und Ethnizität? Auch wenn a priori keine feste Verknüpfung besteht und ihre Bedeutung je nach Gesellschaft und ethnischer Gruppe variieren kann (vgl. Erickson 1988: 95),86 ist die Sprache – zunächst durch ihre Kommunikationsfunktion – ein zentrales Mittel der Etablierung und Aufrechterhaltung einer gemeinsamen Kultur, das zugleich den Zugang zum sozialen Netz reguliert. Auf Grund dieser herausragenden Rolle wird Sprache letztlich zum Symbol der durch sie konstruierten gemeinsamen Wirklichkeit (vgl. Heller 2005: 1585). Nach Fishman ist Sprache ein Symbol87 par excellence und durch ihre wiederkehrende Verknüpfung mit Ethnizität dazu prädestiniert, vor

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Dieser konstruktivistische Ansatz wendet sich gegen ein „immanentes Verständnis völkischer Substanz, das dem Gemeinschaftshandeln von Wir-Gruppen vorausgesetzt [ist], und auch gegen politisch-romantische Vorstellungen eines ,Volksgeistes‘“ (Leggewie 1994: 51). Als Beispiel im Hinblick auf die Situation im Prag der Kafka-Zeit könnte die Frage der Schulwahl angeführt werden, d.h. ob Kinder tschechisch- bzw. deutschsprachige Schulen besuchen sollen. Obgleich Ethnizität nicht als Substanz des Nationalismus gesehen werden kann, gilt, dass „the various similarities and solidarities termed ‚ethnic‘ may well predispose people to nationalist claims, and may even predispose others to recognize those claims“ (Calhoun 1997: 36). Robert Le Page und Andrée Tabouret-Keller betonen ebenfalls, dass linguistische und ethnische Grenzen nicht zwingend übereinstimmen und prägen für das dennoch weitverbreitete politische Phänomen den Begriff „linguistic nationism“ (Le Page / Tabouret-Keller 1985: 234). „Symbols stand in a part-whole relation to their referents. Their preliminary function is to evoke the whole. All language stands in this very relation to the rest of reality: it refers to, it expresses, it evokes ,something‘ in addition to itself. However, in the process of symbolizing it tends also to become valued in itself” (Fishman 1977: 25).

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allen anderen Symbolen zum Schlüsselmerkmal schlechthin erhoben zu werden (vgl. Fishman 1977: 25-26).88 Allerdings müssen die Salienz („saliency“) von Sprache und Ethnizität nicht voneinander abhängen, sondern können auch frei variieren (vgl. ebd.: 34). Ethnische Salienz definiert Fishman als „degree of heightened manipulation or mobilization of ethnicity“ (ebd.: 22). Ethnizität wird salient, „when its activating suprarational power is recognized, organized and exploited” (ebd.: 35). Im Nationalismus erfolgt eine Intensivierung der ethnischen Salienz durch ausgeprägte, zielgerichtete Fokussierung und Steuerung – beispielsweise über das Symbol der Sprache. Sprache wird zu einem zentralen Politikum erhoben und als Hauptmobilisierungsfaktor zum Konstrukteur nicht nur der ethnisch-kulturellen, sondern auch einer politisch-nationalen Identität (vgl. ebd.: 32). Eine ,natürliche‘ Ethnizitätskonzeption wird so zur Ideologie89 erhöht, bzw. werden ruhende ethnische Phänomenologiegemeinschaften („quiescent ethnic phenomenology collectivities“) in dynamische ethnische Ideologiegemeinschaften („dynamic ethnic ideology collectivities“) transformiert (vgl. ebd.: 37). Genauso wie die organisierte Manipulation von Ethnizität ,erhöhtes‘ ethnisches Bewusstsein und damit Nationalität erzeugt, kann sie gesteigertes Sprachbewusstsein und damit Sprachloyalität erzielen. Dieser Prozess ist typisch für nationalistische Bewegungen: Nationalist movements heighten the existing indexical, part-whole and symbolic link between a language and its associated ethnocultural aggregate. Such movements and their leaders and activists not only utilize this link to mobilize populations but they also utilize it to provide their clienteles with a unifying superordinate reference (Fishman 1987: 639).

Stukenbrock stellt fest, dass Sprachnationalismus dann einsetzt, „wenn einem Kollektiv seine Ethnizität bewusst geworden bzw. bewusst gemacht worden ist, wenn die Ethnizität im Mobilisierungsprozess begriffen und die Sprache darin als Schlüsselmerkmal der Ethnizität ,erkannt‘ und etabliert ist“ (Stukenbrock 2005: 40-41). Die darauffolgende manipulierte Steigerung der Salienz von Sprache und Ethnizität könne dann als Sprachnationalismus bezeichnet werden, wenn sie sich auf die Ordnungsvorstellung Nation beziehe (vgl. ebd. 41), wenn also wie nach Gellner die ethnischen / kulturellen und nationalen / politischen Grenzen in Übereinstimmung gebracht werden sollen bzw. die vorrangig im kulturellen Sinn defi88

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Die ethnische Symbolkraft von Sprache kann auch durch ihre Abwesenheit zum Ausdruck kommen, indem eine Gruppe diesen Mangel als Schwächung ihrer ethnischen Bande empfindet (vgl. ebd.). Gerade die in der Paternitätsdimension Fishmans verankerte Vorstellung einer ,Blutsverwandtschaft‘ innerhalb einer ethnischen Gruppe kann als Teil der monoglossischen Ideologie gesehen werden. Umgeben von dem genealogischen Mythos, nach dem die Sprache als ein Organismus (Friedrich Schlegel) verstanden wird, der stirbt oder wiedergeboren wird durch ihre Sprecher (verstanden als tote oder lebendige Zellen des Organismus), mobilisiert der emotional aufgeladene Paternitätsrahmen zu kollektivem, einsprachigen Verhalten.

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nierte Ethnizität sich der primär politisch und territorial definierten Nationalität angleichen soll. Der Nationalismus birgt somit das Potenzial einer Politik, die ethnische Homogenisierung anstrebt und bezogen auf den Sprachnationalismus also auf sprachliche Homogenisierung abzielt. In dem Konstrukt der Sprachnation kann die politische Dimension der Nationalität mit der kulturellen Dimension der Ethnizität insofern gleichgesetzt werden, als sich die Bürger einer Nation über die gemeinsame ethnische Identifikation, die der Nationalstaat zu seiner Definition vereinnahmt hat, definieren und abgrenzen (vgl. Stienen / Wolf 1991: 167).

2.1.3.2

Situation in Böhmen

Wenn vom sprachnationalen Diskurs in Böhmen im 19. Jahrhundert die Rede ist, scheinen die Fronten geklärt: ,Tschechen‘ vs. ,Deutsche‘, die tschechische Sprache vs. die deutsche Sprache. Die Sprache ist im böhmischen Kontext als das zentrale Symbol der Ethnizität und schließlich der Nationalität etabliert, sie ist das entscheidende Instrument zur Konstruktion (ethnischer und nationaler) kollektiver Identität. Christoph Stölzl spricht von der Vollendung der „Perfektion des Junktims zwischen Sprachgebrauch und politisch verstandener Nationalität“ und bezeichnet damit den „Prozeß der Entmischung und Integralisierung der nationalen Identität, der die Menschen Böhmens nach 1848 von Jahrzehnt zu Jahrzehnt heftiger zwang, sich als eindeutige, integral verstandene ,Deutsche‘ oder ,Tschechen‘ zu deklarieren“ (Stölzl 1975: 25). Von besonderer Bedeutung ist in diesem Kontext die Aufnahme der Umgangssprache in die Erhebungen der österreichischen Volkszählung ab dem Jahr 1880 (vgl. Kapitel 2.2.3.2: 84). Andere potenzielle Kategorisierungen – Religionsbekenntnisse, Standes- und Klasseninteressen, lokale Gruppenloyalitäten und Gesamtstaatspatriotismus – werden im öffentlichen Diskurs zunehmend ethnischen Zuordnungen angepasst (vgl. Brix 2003: 51). Dementsprechend ist „Nationalitätenpolitik“ in Böhmen „als Konsequenz von Vorstellungen ethnischer Exklusivität [...] im wesentlichen Sprachenpolitik“ (ebd.: 48). Ethnische Kategorien werden im maßgeblich über die Sprache ausgetragenen Mobilisierungsprozess zu nationalen Kategorien transformiert, die schließlich eine politische Komponente innehaben. National Germans [...] developed out of ethnic Germans, and national Czechs out of ethnic Czechs. Every national Czech is necessarily an ethnic Czech too, […], but the reverse does not hold true; to qualify as a national Czech, the ethnic Czech must add a strong dose of political consciousness to his or her cultural and linguistic characteristics (King 2001: 123-124).

Der (Mutter-) Spracherwerb erhält im Kontext des Sprachnationalismus eine besondere Bedeutung, denn die Sprache wird im Prozess der Sozialisation nicht nur erlernt, sondern – im ideologischen Sinne – als im sozialen Kontext ,vererbt‘ betrachtet. Damit symbolisiert der Begriff ,Muttersprache‘ – entsprechend der ideologisierten Paternitätsdimension von Ethnizität – ein Blutband nicht nur zur Fami-

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lie, sondern auch zum Volk als solchem. Sprache impliziert hier die ganze Palette der zeitgenössisch aktualisierten und ideologisch aufgeladenen paternitären Merkmale, d.h. auch rassische und antisemitische, sodass eine Zugehörigkeit der jüdischen Bevölkerung zu einer der beiden Sprachnationen im Grunde von vornherein ausgeschlossen ist. Das ,Ausstoßen‘ der Juden aus dem sprachnationalen ,Körper‘ [erfolgt] unter dem Vorwand der sprachlichen Inkompetenz oder Teilkompetenz, die quasi die mentale sowie ,rassische‘ Nichtzugehörigkeit signalisiere. Dieser Vorwand wurde selbst dort hartnäckig benutzt, wo kein ,jüdischer‘ Akzent festgestellt werden konnte (Nekula / Koschmal 2006: VII).

Der konstruktivistische Charakter der sprachlich-eindimensionalen Aufteilung der böhmischen Gesellschaft zeigt sich gerade auch im Schulwesen. So werden im Unterschied zu den Kronländern Krain, Galizien und Bukowina in Böhmen keine ,gemischtsprachigen‘ Gymnasien eingerichtet, denn „aus der Sicht der Vertreter nationalpolitischer Interessen“ gilt „Mehrsprachigkeit [...] als Hindernis für die Schaffung von symbolischen und realen Räumen homogener ethnischer Identität (spaces of identity)“ (Brix 2003: 48). Unter Nationalisten bricht um Schulkinder ein wahrer Kampf aus (vgl. Zahra 2005; 2007), sie befürchten that children ,born‘ to their nation could be ,exchanged‘, ,lost‘, or ,stolen‘ from the nation through education in the ,wrong‘ national milieu or because their parents were indifferent to nationalism (Zahra 2007: 230).

Um dem entgegenzuwirken wird Eltern und Kindern, die sich selbst nicht in nationalen Begriffen definieren würden90 – hierzu zählen v.a. auch bilinguale Sprecher, die zum Teil eine sprachliche Festlegung verweigern – von nationalistischer Seite, d.h. ,von außen‘, ein nationales ,Label‘ aufgedrückt. Im Sinne der Einsprachigkeitsideologie klagen nationale Aktivisten und Pädagogen auch Eltern an, die sich zwar als ,Tschechen‘ oder ,Deutsche‘ identifizieren, ihre Kinder aber bilingual erziehen, willentlich ihre wahre Identität zu ignorieren (vgl. Zahra 2007: 231). So kehrt sich im sprachnationalen Diskurs mit seiner eindimensional konstruierten nationalen Identität „das ,Recht‘ auf den Gebrauch der Muttersprache“, wie Hannelore Burger schreibt, „gegen Ende des Jahrhunderts geradezu in eine ,Pflicht‘“ (Burger 1997: 41). Das Lernen der Sprache des Anderen gilt fast als Verrat am Vaterland. Wie stark diese Einsprachigkeitsideologie von der Prager Bevölkerung tatsächlich gelebt wird und welche Gruppen sich dennoch wagen, ,die‘ Zweitsprache (nicht eine ,neutrale‘ Fremdsprache wie Französisch) zu lernen, kann die Untersuchung der Schülerschaft an den Prager Schulen aufzeigen. Problematisch in der eindeutigen, sprachnationalen Aufteilung der böhmischen Gesellschaft gestaltet sich die bereits erwähnte ,Zuordnung‘ der Juden. Dass sie 90

Zu den nationalen Utraquisten vgl. ferner King (2003); Bryant (2002: 683-706); Luft (1994: 3754); Snyder (2003); Bahm (1998: 19-35).

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primär mit der deutschen Sprache verbunden werden, kann keineswegs als beabsichtigte nationale Positionierung gewertet werden. From the Jewish point of view, the use of German in one’s daily activities did not necessarily indicate a position on the nationality controversy. Rather it demonstrated allegiance to the goal of integration into Austrian state and society as well as to the means of attaining that goal. Hence, the willingness of Czech Jewish migrants to enter German-Jewish institutional life in Prague may have signaled nothing more than an implicit vote of confidence in the efficacy of the integration process (Kieval 1988: 16).

Die Konstruktion ihrer Ethnizität basiert nicht auf dem Schlüsselsymbol der Sprache, sondern der Religion. Obgleich sie sich selbst primär über die Religion wahrnehmen und ebenfalls so wahrgenommen werden, kommen bei der Innen- ebenso wie bei der Außenperspektive aber auch sprachliche und rassische Merkmale hinzu. „Czech-Jewishness as a problem of mixed identity” heißt dementsprechend der Titel eines Aufsatzes von Marie Zahradníková zur tschecho-jüdischen Bewegung, die – über die Sprache91 – eine Assimilierung an die tschechische Nation beabsichtigt, jedoch unter der Bedingung der Wahrung ihrer jüdischen Identität im Sinne jüdischer Religion und Traditionen (vgl. Zahradníková 2000: 169). Der Anteil derer, die eine bewusste Identifizierung mit einer der beiden Sprachnationen anstreben, ist unter der jüdischen Bevölkerung allerdings gering. Darauf weist nicht zuletzt hin, dass eine vergleichbare deutsch-nationale Bewegung unter den sogenannten ,deutschen‘, meist bilingualen Juden fehlt und auch die Mitglieder der tschecho-jüdischen Bewegung nur eine zahlenmäßig sehr kleine Subgruppe92 der böhmischen Juden repräsentieren93, die zudem keineswegs eine ,Tschechisierung‘ aller Juden des Landes fordern, sondern ihre Aktivitäten auf Bewohner in vorwiegend tschechischsprachigen Gebieten und Prag richten (vgl. Zahradníková 2000: 181). Feststeht, dass in jedem Falle aus der Innenperspektive eine Reduzierung der böhmischen Juden auf eine die Ethnizität oder gar die Nationalität stiftende Sprache ausgeschlossen ist. Selbst in der Ende des 19. Jahrhunderts aufkommenden Bewegung jüdischer Reethnisierung konkurrieren das Hebräische, das Jiddische und sogar sprachenföderalistische Konzepte

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93

Dabei geben die Juden nicht ihre ursprüngliche Sprache, sondern die deutsche Sprache und Kultur auf, die sie erst vor relativ kurzer Zeit angenommen hatten (vgl. Zahradníková 2000: 175). Auf der Basis von Mitgliedschaften in tschecho-jüdischen Organisationen wird von ca. 3500 Anhängern der Bewegung im Zeitraum von ihrer Gründung (1870er) bis zum ersten Weltkrieg bei einer Gesamtzahl von ca. 100.000 Juden in Böhmen und Mähren ausgegangen (vgl. Hamáčková zit. bei Zahradníková 2000: 167). Hillel J. Kieval teilt die böhmische jüdische Gemeinde in den letzten Dezennien des 19. Jahrhunderts in fünf Gruppen ein: 1. Tschechojuden, 2. Zionisten, 3. bilinguale, aber national indifferente Land- und Kleinstadtjuden, 4. ,Brückenbauer‘ zwischen deutscher und tschechischer Kultur, 5. Verteidiger der deutschen Kultur (vgl. Kieval 1988: 4-5).

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miteinander (vgl. Kilcher 2007: 70-71).94 Dennoch bleibt Sprache in der Außenperspektive, wo ,nationale‘ Kategorien alle anderen Kategorien überblenden, das dominierende Charakteristikum ethnischer und insbesondere nationaler Identitätskonstruktion. Die Verwebung von Antisemitismus und Antigermanismus im Prag der Kafka-Zeit zeigt, dass auch andere Identitätsbausteine wie ,Rasse‘ und ,Religion‘ zum Teil über die Sprache ,gelesen‘ werden (vgl. Nekula 2003: 133134). Jedoch ist es nicht Ziel dieser Arbeit, die die jüdische Ethnizität definierenden Faktoren zu bestimmen, vielmehr soll das tatsächliche ,Sprachverhalten‘ der Prager Bevölkerung unter dem Einfluss sprachnationaler Bewegung analysiert werden. Die jüdische Bevölkerungsgruppe bildet in gewissem Sinne eine Vergleichsgruppe zu den (unterschiedlich) sprachnational dominierten ,Tschechen‘ und ,Deutschen‘, die zwar mit ihnen den gleichen gesamtgesellschaftlichen, sprachnational beherrschten Kontext teilt, selbst aber nicht die Sprache als Schlüssel ihrer Ethnizität betrachtet und damit in Bezug auf ihr ,Sprachverhalten‘, d.h. das Lernen mehrerer Sprachen, möglicherweise eine gewisse Freiheit erfährt. Zusammenfassend kristallisiert sich mit der Nationsbildung im 19. Jahrhundert eine nationale Identität heraus, die sich primär über Sprache definiert und eine Revalorisierung der Gruppenmerkmale bewirkt. In der Folge treten die ,tschechische‘ und die ,deutsche‘ Gruppe miteinander in Wettbewerb. Der gegenseitige Abgrenzungsmechanismus wird auf ein Merkmal, die Sprache reduziert. Sie wird zum Symbol der ethnischen Phänomenologiegemeinschaft („quiescent ethnic phenomenology collectivities“, Fishman 1977: 37) und wird als solches zur Mobilisierung und als Konstrukteur einer politisch-nationalen Identität eingesetzt. Sprachliche Identität wird fortan als manifestierte nationale Identität interpretiert, womit die Forderung nach einer einsprachigen Positionierung durch die potenziellen Gruppenangehörigen einhergeht. Gerade im Hinblick auf diese eindeutige sprachliche Festlegung – und gegebenenfalls ihre Verweigerung – bietet sich das Schulwesen als Untersuchungsplattform an, um Motivationen des trotz allem präsenten individuellen Bilingualismus aufzudecken. Im Rahmen der Institution 95 Schule finden sich – zumindest in Prag –die Voraussetzungen zum Auf- und Ausbau potenzieller Bilingualität. Gleichzeitig ist das Individuum gezwungen, sich über die Wahl der Schule bzw. Unterrichtssprache sprachlich und damit auch national zu positionieren. Eine offensichtliche Entscheidung für Bilingualität – sei es die Gruppe von Schülern, die sich an deutschen Einrichtungen zum Tschechentum bekennt und so zur markierten Minderheit wird oder die ,deutschen‘ Schüler, 94

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Die verschiedenen religiösen Strömungen des Judentums können in der vorliegenden Arbeit, nicht zuletzt auf Grund der ,einfachen‘ Angabe ,jüdisch‘ in den Schulkatalogen und weiteren Statistiken, nicht berücksichtigt werden. Insbesondere in den überwiegend deutsch bewohnten Gebieten in Böhmen war das Angebot an Unterricht in tschechischer Sprache – wohl auch durch die geringe Nachfrage bedingt – sehr begrenzt.

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Begriffsbestimmung

die zwar keine tschechischen Schulen besuchen, aber beispielsweise jahrelang am Tschechischunterricht teilnehmen – kann durchaus wegen angeblicher sprachlicher Hybridität dem sprachnationalistischen Dogma nach zur nationalen Ausgrenzung führen. Dieser radikale Ansatz gilt sicher nicht für ,Tschechen‘ an tschechischen Schulen, die am Fremdsprachenunterricht in Deutsch teilnehmen, da das Deutsche in der Habsburger Monarchie zwar an Dominanz einbüßt, seine Vorrangstellung u.a. in der Verwaltung und seinen Status als Bildungssprache jedoch behauptet (vgl. Kapitel 3). Der Erwerb von Deutschkenntnissen in einem bestimmten Rahmen scheint trotz aller Ideologie noch förderlich und akzeptiert. Die sprachliche Entwicklung im Schulwesen lässt somit Aussagen darüber zu, inwieweit die institutionalisierte Vorgabe einer eindimensionalen sprachlichen Identität von der Bevölkerung angenommen und umgesetzt wird. Als allgemeine These ist zu formulieren, dass die Zahl der bilingualen Sprecher zwar rückläufig ist, sich aber weiterhin Prager Bevölkerungsteile für Deutsch und Tschechisch entscheiden. Eine eindimensionale Kategorisierung in Böhmen mit Blick auf den deutschtschechischen Sprachkonflikt widerspricht damit bis zum Ende der Habsburger Monarchie der sprachlichen Realität. Die Motivationen der Träger des Bilingualismus liegen sowohl in ökonomischen Vorteilen und Bildungszielen als auch in individuellen Motiven begründet, zum Teil allerdings auch darin, sich angesichts des Zwangscharakters der sprachnational eindimensionalen Identifikation je nach Situation eine flexible sprachliche Anpassungsfähigkeit zu erhalten. Im folgenden Kapitel gilt es nun, dem Bilingualismus als kollektivem wie individuellem Phänomen nachzugehen, um schließlich die individuelle Zweisprachigkeit und ihren Erwerb in den Kontext der untersuchten Schulen einzubetten.

2.2

Bilingualismus

Bilingualismus als eine Form von Mehrsprachigkeit impliziert, dass zwei Sprachen miteinander in Kontakt stehen. Mit Hamers / Blanc bezeichnet dies „the use of two or more codes in interpersonal and intergroup relations as well as the psychological state of an individual who uses more than one language” (Hamers / Blanc 2000: 6). Bilingualismus tritt folglich als kollektives wie als individuelles Phänomen auf. Die unterschiedlichen Wirklichkeiten der Zweisprachigkeit beziehen sich zum einen auf den Zugang einer Person zu mehr als einem linguistischen Kode (individueller Bilingualismus)96 und zum anderen auf die Präsenz zweier Sprachen in einer Gesellschaft (kollektiver Bilingualismus). Damit ist sowohl ihr Gebrauch auf einem Herrschaftsgebiet oder einem ,politisch‘ abgegrenzten Teil davon (territorialer Bilingualismus) als auch der Gebrauch innerhalb von Instituti-

96

Als alternative Bezeichnung für ,individuellen Bilingualismus‘ verwenden Hamers / Blanc (2000: 6) den Begriff „bilinguality“.

Begriffsbestimmung

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onen97 (institutioneller Bilingualismus) eingeschlossen. Für das funktionale Nebeneinander zweier – genetisch eng verbundener – Sprachen in einer Gesellschaft hat Ferguson (1959) den Begriff ,Diglossie‘ mit der in aller Regel hierarchisch gewerteten Unterscheidung ,high and low variety‘ geprägt, den Joshua Fishman (1967) auf alle Gesellschaften mit zwei Sprachen unterschiedlicher Funktion ausgeweitet hat.98 Dagegen beschreibt ,soziale Zweisprachigkeit‘ (Berruto 1995, nach Dittmar 1997) eine Situation, in der zwei elaborierte Kultursprachen nebeneinander benutzt werden, ohne dass eine funktionale Unterordnung besteht. Ein solcher gesellschaftlicher Bilingualismus, seine Ausprägung und dynamische Entwicklung, steht bei der Betrachtung der kollektiven Zweisprachigkeit im Mittelpunkt. Unter Gesellschaft sollen mit Kremnitz die nicht staatlich organisierten, nicht institutionalisierten Aspekte der Netzwerke verstanden [werden] [...], deren Gesamtheit einen Staat ausmachen kann. Die Bezeichnung Netzwerke soll deutlich machen, daß es sich dabei um lose miteinander verbundene Gruppen handelt, die im einzelnen ganz unterschiedliche Verhaltensformen und Wertmaßstäbe haben (können), die aber gewisse grundlegende Organisationsformen miteinander teilen (Kremnitz 1994: 71).

Die Gesellschaft kann sich folglich aus zwei (oder mehreren) Teilgesellschaften zusammensetzen, „die sich durch ihre ausschließliche oder vorherrschende sprachliche Praxis unterscheiden“ (ebd.).99 So gilt generell, dass die unterschiedlichen Blickwinkel auf das Phänomen des Bilingualismus – politisch, sozio-ökonomisch, juristisch, psychologisch etc. – der grundlegenden Dichotomie zwischen Individuum und Gesellschaft unterzuordnen sind (vgl. Lüdi / Py 1984: 5). Weder individuelle noch gesellschaftliche Zweisprachigkeit stellen feste Größen dar, die automatisch von Generation zu Generation weitergegeben werden. Sie unterliegen vielmehr persönlichen und sozialen Wandlungen, die individuell bereits in der Veränderung des Grads der Sprachbeherrschung bzw. gesellschaftlich in der Verdrängung einer Sprache aus bestimmten Domänen zum Ausdruck kommen können (vgl. Luchtenberg 1995: 44). So stellt Suzanne Romaine fest: „[B]ilingualism cannot be understood except in relation to social context” und betont ferner, dass „bilingualism must be treated as a dynamic phenomenon” (Romaine 1995: XIII). Individuelle Zweisprachigkeit muss nicht notwendig mit gesellschaftlicher Mehrsprachigkeit korrespondieren (vgl. u.a. Fishman 1967), doch scheint eine Verbindung nicht abstreitbar, zieht man etwaige politische, wirtschaftliche oder soziale Motivationen für einen persönlichen Zweitspracherwerb sowie die gesellschaftliche Machtverteilung als Anreiz oder Druckmittel in 97 98 99

Mit Institutionen sind im Folgenden weitgehend staatliche Institutionen auf verschiedenen Verwaltungsebenen zu verstehen. Zur sogenannten Innen- und Außendiglossie in Böhmen vgl. Leeuwen-Turnovcová (2001; 2005). Diese Situation tritt gerade dann ein, wenn in einer diglossischen Situation Mitglieder unterschiedlicher Sprachgruppen aufeinander treffen. Die ursprüngliche Definition der Diglossie nach Ferguson (s.u.) schließt gerade diesen Fall praktisch aus (vgl. Kremnitz 1994: 71).

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Begriffsbestimmung

Betracht (vgl. Romaine 1995: 23). Im Hinblick auf die Ziele der Arbeit werden zunächst individueller und kollektiver Bilingualismus separat dargestellt und anschließend die praktische Vorgehensweise mit Bezug auf die Situation in Böhmen und das Schulwesen im Prag der Kafka-Zeit erläutert.

2.2.1 2.2.1.1

Individueller Bilingualismus Definition

Nach Uriel Weinreich (1953) gilt im psycholinguistischen Sinne das mehrsprachige Individuum als Ort des Sprachkontakts und steht somit im Mittelpunkt der Betrachtung. Wer wird oder darf sich aber als bilingual bezeichnen? Eine verbindliche Begriffsbestimmung von Zweisprachigkeit fehlt, stattdessen gibt es verschiedene, ,enge‘ und ,weite‘, Definitionen.100 Erstere geht von einem idealen bilingualen Sprecher / Hörer aus und wurde von Bloomfield als eine „native like control of two languages“ (Bloomfield 1935: 56) definiert. Das extreme Gegenstück zu dieser Auslegung von individuellem Bilingualismus bieten die minimalistischen Definitionen von Haugen101 oder etwa Macnamara, für den bereits jeder bilingual ist, der geringfügige Kompetenzen in einer der vier Sprachfertigkeiten – Lesen, Schreiben, Sprechen oder Verstehen – in einer anderen als seiner Muttersprache besitzt (vgl. Macnamara 1967: 59-60). Dagegen wird in der heute gängigen ,weiten‘, funktional ausgerichteten Definition die Ansicht vertreten, dass zweisprachig ist, wer sich irgendwann in seinem Leben im Alltag regelmäßig zweier oder mehrerer Sprachvarietäten bedient und auch von der einen in die andere wechseln kann, wenn dies die Umstände erforderlich machen, aber unabhängig von der Symmetrie der Sprachkompetenz, von den Erwerbsmodalitäten und von der Distanz zwischen den be102 teiligten Sprachen (Lüdi 1997: 234).

Nach William Mackey muss Bilingualismus, um ihn erforschen zu können, als etwas absolut Relatives betrachtet werden. Denn der Punkt, an dem der Sprecher einer zweiten Sprache bilingual wird, ist entweder willkürlich oder unmöglich zu bestimmen. Er definiert ihn folglich – in Anlehnung an Weinreichs „the practice of alternately using two languages“ (Weinreich 1954: 5) – als die im psycholingu100 101

102

Auf eine ausführliche Diskussion der einzelnen Definitionen wird hier verzichtet. Vgl. hierzu u.a. Baeten Beardsmore (1982: 1-37); Hamers/Blanc (2000: 6-8). „Bilingualism [...] may be of all degrees of accomplishment, but it is understood here to begin at the point where the speaker of one language can produce complete meaningful utterances in the other language“ (Haugen 1953: 7, Herv. i.O.). In diesem Sinne vgl. Oksaar (1980: 43): „Mehrsprachigkeit definiere ich funktional. Sie setzt voraus, daß der Mehrsprachige in den meisten Situationen ohne weiteres von der einen Sprache zur andern umschalten kann, wenn es nötig ist. Das Verhältnis der Sprachen kann dabei durchaus verschieden sein – in der einen kann, je nach der Struktur des kommunikativen Aktes, u.a. Situationen und Themen, ein wenig eloquenter Kode, in der andern ein mehr eloquenter Kode verwendet werden.“ Ferner vgl. Haugen (1953: 6-7); Grosjean (1982: 231-233).

Begriffsbestimmung

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istischen Sinne verstandene Kompetenz, zwei Sprachen zu beherrschen.103 Es geht also nicht um eine ,ideale‘, sondern um eine reale ,approximative‘ Zweisprachigkeit (vgl. Lüdi / Py 1984: 5). In diesem Sinne ist das Phänomen Bilingualismus nicht auf der Grundlage von Dichotomien – dem Vorhandensein oder Nichtvorhandensein eines Faktors – zu beschreiben, sondern erst durch ein Kontinuum von Kriterien charakterisierbar, das die verschiedenen Ausprägungen der Zweisprachigkeit differenziert. Grosjean (1985)104 betont wie Lüdi (1984), dass bilinguale Sprecher ein einzigartiges ,Sprachverhalten‘ ausbilden und daher die Gleichung monolingual plus monolingual ergibt bilingual nicht aufgehen kann. Individueller Bilingualismus setzt sich aus der linguistischen Dimension von Zweisprachigkeit, der Sprachkompetenz und dem ,Sprachverhalten‘, der eigentlichen Verwendung beider Sprachen, zusammen (vgl. Mackey 2005: 1485).

2.2.1.2

Typen individueller Zweisprachigkeit

So vielfältig die Gründe für die Zweisprachigkeit eines Individuums sein können – ob freiwillig (integrativer Bilingualismus) oder notwendigerweise (instrumenteller Bilingualismus) (vgl. Baker 1996: 104-105)105 –, so unterschiedlich sind auch Zeitpunkt, Formen und Intensität des Kontaktes des Individuums mit den einzelnen Varietäten seines Repertoires. Faktoren auf der Makroebene, wie etwa Fluchtbewegungen und Migration, die sprachliche Heterogenität eines Gebiets / einer Stadt, die gezielt Zweisprachigkeit fördernde / hemmende Sprachpolitik einer Regierung oder auch verbreitete homo- / heteroglossische Sprachideologien in der Bevölkerung etc. beeinflussen eine mögliche Zweisprachigkeit genauso wie Tatsachen auf der Mikroebene, so zum Beispiel individuelle Motivationen und Begabungen für das Sprachenlernen, grenzüberschreitender Arbeitsplatzwechsel oder aber auch enge persönliche Beziehungen zu Anderssprachigen. Zudem stehen die Faktoren in einer ständigen Wechselwirkung zueinander und ihre Gewichtung bzw. Verteilung kann von Person zu Person erheblich variieren. Im Allgemeinen können jedoch verschiedene Typen individueller Zweisprachigkeit bestimmt werden. Zunächst kann nach der Art der in Kontakt stehenden Sprachen differenziert werden. Je nach Distanz zwischen den beteiligten Varietäten des Repertoires existiert eine typologische Unterscheidung in ,bilingual‘ und ,bidialektal‘.106 In Abhängigkeit vom Zeitpunkt des Sprachenlernens unterscheidet 103 104 105 106

„We shall therefore consider bilingualism as the alternate use of two or more languages by the same individual” (Mackey 1968: 555). „The bilingual is NOT the sum of two complete or incomplete monolinguals; rather, he or she has a unique and specific linguistic configuration“ (Grosjean 1985: 471; Herv. i.O.). Zu den Auswirkungen auf den Erfolg des Spracherwerbs vgl. Gardner / Lambert (1972) sowie Gardner (1985). Inwiefern von ,zweisprachig‘ die Rede sein kann, wenn die beiden Kodes eine historische / natürliche Sprache und einen ihrer Dialekte repräsentieren, darüber ist sich die Forschung nicht einig. Jedoch gibt es Ansätze, die zwei- bzw. mehrsprachige Kompetenz als Sonderfall der multilektalen Kompetenz eines jeden Sprechers zu betrachten. Dabei geht man davon aus, dass jeder

64

Begriffsbestimmung

man simultanes und sukzessives Aneignen einer zweiten Sprache bzw. zusammengesetzte und koordinierte Zweisprachigkeit.107 Ersteres bezeichnet die Situation bilingualen Erstspracherwerbs (vgl. Klein 1984: 23), d.h. ein Individuum bekommt von Beginn an in der primären Sozialisation zwei Sprachsysteme vermittelt. Für beide Sprachen entsteht ein mentales Konzept („compound bilingualism“, Ervin / Osgood 1954), während der koordinierte Zweisprachige sich bei den gleichen Wörtern in der jeweiligen Sprache auf zwei verschiedene Konzepte bezieht (vgl. u.a. Weinreich 1953: 9-10; Hamers / Blanc 2000: 163-167; Romaine 1995: 76-82).108 Er besitzt somit nicht zwei Erstsprachen, sondern hat auf der Basis einer bereits einigermaßen beherrschten Primärsprache eine Zweitsprache erworben (vgl. Dietrich 2004b: 312). Hinsichtlich des Lebensalters des Lernenden wird außerdem, in groben Kategorien ausgedrückt, in frühe Zweisprachigkeit (early / child bilingualism), Zweisprachigkeit in der Jugend (bilingualism in adolescence) und Zweisprachigkeit im Erwachsenenalter (late bilingualism) unterschieden (vgl. u.a. Romaine 1995: 165; Hamers / Blanc 2000: 28-29). Ferner spricht man von endogener Zweisprachigkeit, wenn Sprachgemeinschaften beider Sprachen in der sozialen Umgebung des Kindes präsent sind und von exogener Zweisprachigkeit, wenn eine der Sprachen lediglich einen offiziellen, institutionalisierten Status einnimmt, aber sie keiner Sprachgemeinschaft innerhalb der politischen Einheit als Kommunikationsmittel dient (vgl. Hamers / Blanc 2000: 29). Im Hinblick auf die späteren Ausführungen soll hier noch der Begriff Muttersprache behandelt werden. Per Definition bezeichnet sie die Sprache eines Individuums, „die es mit Mitgliedern einer kulturell homogenen Gemeinschaft als Erstsprache gemeinsam hat und zu der es auf dieser Grundlage eine spezifische, auch affektive Bindung empfindet“ (Dietrich 2004a: 308). Allerdings deutet diese Auslegung bereits an, dass sich der Begriff einem Missbrauch, wie er im Rahmen der ,Einsprachigkeitsideologie‘ auch praktiziert wurde, geradezu aufdrängt. Zudem stellt das Kriterium einer „spezifischen“ und „affektiven Bindung“ nicht nur in Bezug auf einen bilingualen Erstspracherwerb ein fragwürdiges und zugleich schwer operationalisierbares Definitionsmerkmal dar. Aus diesem Grund wird der Begriff Muttersprache im böhmischen Kontext zunächst im Sinne von Erstsprache verwendet, und zwar nicht für jedes Individuum, aber zumindest für die jeweiligen ethnischen Gruppen eigens thematisiert. Zur weiteren Charakterisierung des Bilingualismus können die jeweiligen Erwerbsmodalitäten herangezogen werden. Je nachdem, ob die Sprachkenntnisse in der Interaktion mit anderssprachigen Partnern oder aber weitgehend extrakommunikativ durch Unterricht gewonnen werden, unterscheidet man ungesteuerten und

107 108

– zumindest passiv – verschiedene Varianten seiner Muttersprache beherrscht (vgl. Lüdi / Py 1984: 6-7). Vgl. die kritische Darstellung bei Klein (1984: 24-25) und Diller (1970). Grosjean (1982: 240-258) kritisiert diese kognitive Gliederung mehrsprachiger Kompetenz, da sie schwer nachweisbar ist.

Begriffsbestimmung

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gesteuerten Spracherwerb (vgl. Klein 1984: 30).109 Mit Bezug auf diese unterschiedlichen Inputbedingungen entsteht auch die Problematik zwischen Zweitund Fremdsprache. Generell gilt die „ausschließlich oder überwiegend im Klassenzimmer gelernt[e]“ (Dietrich 2004b: 312; vgl. auch Kolde 1981: 6) Zweitsprache als Fremdsprache. Man könnte diesbezüglich weiter zwischen Primär- und Sekundärbilingualismus (vgl. u.a. Oksaar 1972: 500; Houston 1972: 203; Baetens Baerdsmore 1982: 8) differenzieren bzw. zwischen Zweisprachigkeit und Einsprachigkeit mit Fremdsprachenkenntnissen.110 Eine klare Trennung wird aber kaum möglich sein und ist theoretisch auch nicht sinnvoll, da individueller Bilingualismus hier nicht als Bündel distinktiver Merkmale gesehen wird, sondern als Synthese der einzelnen Kriterien (vgl. Lüdi / Py 1984: 8-9). So bezeichnet Haugen etwa das Lernen einer Fremdsprache als „pre-bilingual“ (Haugen 1953: 6)111 bzw. spricht Diebold hier von einem „incipient bilingualism“ insofern, als Fremdsprachenlerner potenzielle Benutzer einer Zweitsprache sind, sie aber nicht zwingend in ihrem alltäglichen Leben gebrauchen werden (vgl. Diebold 1961). Unter Berücksichtigung des Grads der Sprachbeherrschung ist eine weitere Gliederung in einen symmetrischen und asymmetrischen Bilingualismus möglich. Das Ausmaß des Ungleichgewichts wird im zweiten Fall entsprechend der linguistischen Kompetenzen – Grammatik, Vokabular, Phonologie – sowie der kommunikativen Kompetenzen, d.h. der jeweiligen Fertigkeiten im Sprechen, Lesen, Schreiben, Hören und der konkreten Interaktion (spezifische Fähigkeit zum ,zweisprachigen Sprechen‘), eingeschätzt (vgl. Mackey 2005: 1486-1487; Lüdi / Py 1984: 7). Eine andere Beurteilung der Sprachkompetenzen beruht auf ihrer Verwendung in einzelnen Domänen (Familie, Beruf, Studium etc.), die sich insbesondere auf das Lexikon des Sprechers auswirken kann (vgl. Kolde 1981: 6-7). Die Kenntnisse beider Kodes können schließlich von einem eher mäßigen Niveau in einer oder beiden Sprachen bis zu ihrer nahezu perfekten Beherrschung reichen.112 Als Vergleichspopulation zum Messen des Niveaus wurden lange Zeit ausschließlich monolinguale Sprecher und entsprechend ausgerichtete Tests herangezogen. In dieser Gegenüberstellung schnitten bilinguale Sprecher meist schlechter ab, allerdings fanden deren spezielle Bedürfnisse und Fertigkeiten darin auch keine Berücksichtigung (vgl. Grosjean 1985: 469, 472-473; Hamers / Blanc 2000: 33-45). Nur selten sind beide Sprachen in allen Aspekten und im Hinblick 109 110 111 112

Vgl. äquivalent bei Adler „ascribed“ (Adler 1977: 113) und „achieved“ (ebd.: 120) Bilingualismus. Gogolin (1987: 1) hat hierfür das Gegensatzpaar ,lebensweltliche‘ und ,akademische‘ Zweisprachigkeit eingeführt. „[...] pre-bilingual: a person who is no longer monolingual, but who has not acquired the power of uttering more than single words in the other language” (ebd.). Zur Problematik von Ambilingualismus und Equilingualismus vgl. Baetens Beardsmore (1982: 910). Für den Fall, dass eine Sprache lediglich verstanden wird, existieren auch die Bezeichnungen ,restriktiver‘ oder ,passiver‘ Bilingualismus bzw. wenn allgemein nur einzelne Sprachebenen beherrscht werden ,rezeptiver‘ bzw. ,Semibilingualismus‘ (vgl. ebd.: 10-16).

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Begriffsbestimmung

auf alle Fertigkeiten bzw. Anwendungsbereiche gleich stark ausgeprägt, sodass im Regelfall, durchaus von Sprachebene zu Sprachebene und je nach Kontext variierend, eine Sprache über die andere dominiert. Ein vollkommen symmetrischer Bilingualismus ist und bleibt ein Ideal. Die relative Natur der linguistischen Sprachkompetenzen kommen in der Unterscheidung ,ausgewogen‘ (balanced) und dominant bilingual zum Ausdruck (vgl. Lambert 1955) bzw. wird dem potenziellen Ungleichgewicht mit den Bezeichnungen ,starke‘ und ,schwache‘ Sprache Rechnung getragen (vgl. Kielhöfer / Jonekeit 1985: 12-13). Aus einer vornehmlich sozialpsychologischen Perspektive führen Hamers / Blanc noch Gruppenmitgliedschaft und kulturelle Identität des bilingualen Sprechers als relevante Dimension des individuellen Bilingualismus an. Sie unterscheiden ,bilinguality‘ je nachdem, ob der Zweisprachige sich beiden Gruppen und beiden Kulturen (,bicultural bilinguality‘)113, nur der Gemeinschaft und Kultur der Erstsprache (,monocultural bilinguality‘) oder nur jener der Zweitsprache (,acculturated bilinguality‘) zugehörig fühlt oder seine Mitgliedschaft in der Gemeinschaft der Erstsprache aufgibt und gleichzeitig die Anpassung an und die Identifikation mit der Umgebung der Zweitsprache scheitert (,deculturated bilinguality‘) (vgl. Hamers / Blanc 2000: 25-30; Grosjean 1982: 157-166).114 Auch wenn Sprachkenntnisse oftmals auch eine entscheidende Rolle bei der Herausbildung bikultureller Kompetenzen spielen und schließlich als Vermittler zwischen den verschiedenen kulturellen Identitäten fungieren115, ist eine zwingende Relation zwischen kultureller Identität bzw. Zugehörigkeitsgefühl zu einer Gemeinschaft und der Sprachkompetenz nicht gegeben (vgl. Hamers / Blanc 2000: 30; Haugen 1956). Nicht zuletzt wegen der sprachnational angespannten Rahmenbedingungen des historischen Kontexts der Untersuchung sei noch kurz auf die sogenannten negativen Folgen der individuellen Zweisprachigkeit verwiesen. Die positive Einstellung gegenüber und das Streben nach bilingualer Sprachkompetenz hat ihre Wur113

114

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LaFromboise / Coleman / Gerton (1993: 396-402) definieren fünf Modelle des ,Zweitkulturerwerbs‘: Assimilierung, Akkulturation, Alternation, Multikulturalismus, Verschmelzung. Einander nicht zwingend ausschließend beschreiben die Modelle Prozesse, durch welche – ausgehend von der Ursprungskultur – Kompetenzen in einer anderen Kultur, meist jener der Mehrheit, herausgebildet werden und besitzen sowohl für Gruppen als auch Individuen Gültigkeit. Um als Individuum ein Leben in zwei Kulturen effektiv meistern zu können, sehen sie es für notwendig in folgenden sieben Dimensionen entsprechende Kompetenzen zu entwickeln: (a) Kenntnis kultureller Glaubenssätze und Werte, (b) positive Einstellungen sowohl gegenüber der Mehrheits- als auch der Minderheitengruppe, (c) bikulturelle Wirkungskraft, (d) verbale und nichtverbale Kommunikationskompetenzen, (e) Rollenrepertoire und (f) Gefühl des Halts (,a sense of being grounded‘) (vgl. ebd.: 403-408). Eine ähnliche Unterscheidung treffen Lüdi / Py (1984: 43-45) im Zusammenhang mit Migration mit ,Integration‘, ,Ghettoisierung‘ und ,Assimiliation‘ und betonen die Rolle der Aufnahmegesellschaft für die jeweilige Entwicklung. „[…] each of a bilingual’s languages is the mediator between differing cultural identities within one and the same person” (Northover 1988: 207).

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zeln im Wesentlichen erst in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Fälle von (doppelter) Halbsprachigkeit116 auf Grund misslungener zweisprachiger Erziehung wurden nicht länger auf sprachliche, sondern soziale und psychologische Faktoren zurückgeführt.117 The real argument for semilingualism is when the speaker cannot function adequately in either of his languages and such cases are usually determined by social or psychological factors which are reflected linguistically but not determined by language (Baetens Beardsmore 1982: 12).

In ähnlicher Weise determinieren die individuelle wie gesellschaftliche soziokulturelle Bewertung zweier Sprachen und deren Relation zueinander, ob das Bild einer subtraktiven oder additiven Zweisprachigkeit118 überwiegt (vgl. Hamers / Blanc 2000: 29, 99-100, 106-108). Im letzteren Fall vermittelt die zweite Sprache seinem Sprecher zusätzliche kognitive und soziale Fähigkeiten, die im Gegensatz zur subtraktiven Form in keiner Konkurrenz zur ersten Sprache stehen. Die Zweisprachigkeit repräsentiert vielmehr die Realisierung zweier sich ergänzender linguistischer und sprachlicher Einheiten. Statt komplementärer Vereinigung birgt subtraktiver Bilingualismus einen gewissen Wettkampf der beteiligten Sprachen, der in der Vernachlässigung linguistischer Fertigkeiten auf Kosten der ersten Sprache endet. Gerade in Gesellschaften mit ethnischen Minderheiten beeinflusst der sozio-ökonomische Status der jeweiligen Sprachen sowie ihre gesellschaftliche sozio-kulturelle Valorisierung diese Entwicklung maßgeblich (vgl. Baetens Beardsmore 1982: 19-20). Als konstituierendes Element der individuellen Zweisprachigkeit gilt das bilinguale Verhalten, das sprachliches wie soziales Verhalten umfasst. Es betrifft einerseits den Gebrauch der beiden Sprachen, ihre Trennung und Vermischung und daraus resultierende Phänomene wie Code-Switching, Interferenzen oder Transfererscheinungen und andererseits die Wahl der Sprache in der Interaktion in Abhängigkeit von verschiedenen Faktoren wie dem Kommunikationspartner, der Umgebung, dem Thema, ob schriftlich oder mündlich etc. (vgl. Mackey 2005: 1487). Da sich im Hinblick auf das vorliegende Datenmaterial Aussagen über das bilinguale Verhalten in Spekulationen verlieren würden, soll dieses Thema nur am Rande erwähnt werden.

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„A ,semilingual‘ is considered to exhibit the following profile in both their languages: displays a small vocabulary and incorrect grammar, consciously thinks about language production, is stilted and uncreative with each language, and finds it difficult to think and express emotions in either language“ (Baker 1996: 9). Zur Kritik am Begriff Semilingualismus vgl. ebd. Für einen Überblick zu kognitiven Konsequenzen und Erklärungsansätzen zu den positiven und negativen Folgen individueller Zweisprachigkeit vgl. Hamers / Blanc (2000: 85-100). Erstmal traf Lambert (1974) diese Unterscheidung des Bilingualismus in Abhängigkeit vom soziokulturellen Milieu der zweisprachigen Erziehung und der individuellen Valorisierung der beiden Sprachen.

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Begriffsbestimmung

Ferner lassen sich auf der Basis des historischen Materials die konkreten individuellen Motivationen, die im Prag Ende des 19. Jahrhunderts zum Erwerb der jeweils anderen Landessprache anspornen, nicht erfragen und können damit auch schwer generalisiert und etwa zu ,Motivationsclustern‘ zusammengefügt werden. Allerdings erlauben die Informationen bezüglich der Wahl des freiwilligen Sprachunterrichts, d.h. die bewusste Entscheidung zum Ausbau der Bilingualität, in Kombination mit der sozialen Herkunft des Schülers auf Grundlage der Berufsangabe des Vaters zumindest im Hinblick auf spezifische Berufsbilder eine Annäherung an eine derartige Bündelung der Interessen. Schwer zu beurteilen ist die tatsächliche Ausprägung der Zweisprachigkeit auch in Bezug auf die Sprachkompetenzen. Während zu Phonologie gar keine Aussagen möglich sind, können Fertigkeiten im Lesen, Schreiben und Grammatik mittels der Noten in den jeweiligen Fächern zumindest begrenzt eingeordnet werden. Gleichzeitig muss aber mit den Noten als primärer Quelle die Einteilung der Fertigkeiten entsprechend der Verwendung der Sprachen in den verschiedenen Domänen entfallen. Indirekt kann über die Schulpläne und Lehrbücher, die das Niveau des Unterrichtsstoffes festlegen, das ,nackte‘ Notenbild ergänzt werden. Auch wenn die Bewertungsgrundlage für den Grad des Bilingualismus durch die Noten ausschließlich aus dem Bereich des gesteuerten Spracherwerbs, der Schule, stammt, gewährleisten sie auch eine Berücksichtigung ungesteuerter, vor und außerhalb der Schule angeeigneter Sprachkenntnisse. Zudem fließt der Aspekt endogener Zweisprachigkeit in die Untersuchung mit ein, da sowohl die soziale Umgebung jedes einzelnen Schülers mittels der Berufsangabe der Eltern und des Wohnortes in Prag als auch die territoriale Herkunft (Geburtsort) und v.a. die dortige sprachliche Verteilung der Bevölkerung als Indikatoren des individuellen Bilingualismus eingesetzt werden können. Die Beurteilung der potenziellen Bilingualität bezieht sich jedoch nur auf die Domäne Schule, denn historisches Sprachmaterial aus anderen Kontexten wird in der vorliegenden Arbeit nicht berücksichtigt. Aus Sicht der Differenzhypothese (vgl. Labov 1966)119 dürfte der in der Domäne Schule definierte individuelle potenzielle Bilingualismus auch darüber hinaus Gültigkeit besitzen, anhand des Materials kann dies jedoch nicht belegt werden. Daher konzentriert sich die Betrachtung der Bilingualität auf die ,Qualität‘ innerhalb der Schule. Die Noten liefern hierbei eine Bewertungsgrundlage, die im weiteren Sinne der Defizithypothese (vgl. Bernstein 1972) eine Einschätzung darüber erlauben, ob die Beherrschung des Tschechischen bzw. Deutschen bei den einzelnen Sprechern den Anforderungen eines elaborierten Kodes entspricht oder nicht. Die potenzielle Bilingualität ist demzufolge als ,relativ ausgeglichen‘ oder als ,asymmetrisch‘ zu bezeichnen. Die Unterscheidung, ob mit der jeweils zweiten Landessprache eine Zweit- oder 119

Zu Defizit- und Differenzhypothese vgl. Veith (2002: 120-121); Löffler (2005: 161-166), für eine ausführliche Darstellung der Theorie Bernsteins und seiner Rezeption vgl. Hager / Haberland / Paris (1973: 57-97).

Begriffsbestimmung

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Fremdsprache gelernt wird, kann nicht eindeutig, doch auf Basis der Bewertungen (Noten) der Sprachkenntnisse zumindest tendenziell getroffen werden. In jedem Falle wird erkennbar sein, ob und welche Sprache individuell dominiert. Außerdem geben die im Rahmen der Einschreibung dokumentierten Angaben zur Muttersprache Auskunft über das Bekenntnis jedes Schulkindes zu einer sprachlichen Identität, die sicherlich die Zugehörigkeit zur deutschen oder tschechischen Sprachgemeinschaft ausdrückt, allerdings nicht mit der nationalen Identität, der emotionalen Verbundenheit mit dem deutschen oder tschechischen Volk, gleichgesetzt werden kann. Dennoch ist dies die geläufige Interpretationsvariante der Kafka-Zeit. Wenn in der vorliegenden Untersuchung des Bilingualismus auf Grundlage der Daten in den Schulkatalogen die Schüler entsprechend ihrer Angabe zur Muttersprache in Deutsche und Tschechen eingeteilt werden, so steht die Sprachkompetenz und nicht eine etwaige zeitgenössische ,nationale‘ Deutung im Vordergrund.120

2.2.2 2.2.2.1

Kollektiver Bilingualismus Definition

Kollektiver Bilingualismus heißt nicht, dass notwendig jedes Mitglied einer Gemeinschaft beide Sprachen beherrscht. Anders als bei individueller Zweisprachigkeit ist bei der kollektiven Form des Phänomens – mit seinen ebenfalls vielfältigen Entstehungsgründen121 – auch die zeitliche Reihenfolge, in der die beteiligten Sprachen auftreten, kein begriffsbildendes Merkmal (vgl. Dietrich 2004a: 309). For a bilingual community to exist there must be at least two languages commonly used by some members of the community. Either the community is composed of two groups speaking two different languages as their mother tongue along with a small number of bilinguals speaking both languages, or a small number of both groups speaking a third common language, used as a lingua franca; or, as in the case of an exogenous language, some members of the community speak a second language that has no or few native speakers in the community. Any of these languages may be an official language of the community (Hamers / Blanc 2000: 31).

Von einem geographischen Standpunkt aus betrachtet liegt kollektive, territoriale Zweisprachigkeit vor, wenn in einem Herrschaftsbereich zwei Sprachen miteinander in Kontakt stehen.122 Kolde (1981: 9-10) unterscheidet hierbei zwischen 120

121 122

Werden ,Deutsche‘ und ,Tschechen‘ in einfache Anführungszeichen gesetzt, dann bilden die österreichischen Volkszählungen und die darin integrierte Frage nach der Umgangssprache die Kategorisierungsgrundlage bzw. wird generell der Deklarationscharakter einer ,nationalen‘ Identität betont. Für einen Überblick vgl. Hamers / Blanc (2000: 274-275). Nach Hamers / Blanc ist territorialer Bilingualismus ein Fall von Zweisprachigkeit, „in which each group finds itself mostly within its own politically defined territory, with the two (or more) languages having official status in their own territory; the official status of the other national language(s) varies considerably from country to country” (2000: 31).

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Begriffsbestimmung

„mehr-“ und „gemischtsprachig“, und zwar je nachdem, ob abgetrennte, jeweils einsprachige Gebiete in einem Staatengebilde koexistieren oder ob eine Kontaktsituation vorliegt, in der zwei Sprechergruppen auf ein und demselben Territorium, z.B. auch einer Stadt, leben und interagieren. Von institutionalisierter, weitgehend symmetrischer Zweisprachigkeit ist die Rede, wenn beide Sprachen in dem gegebenen Territorium die gleichen Rechte in der Verwendung im öffentlichen wie auch privaten Bereich genießen (,Kooffizialität‘) (vgl. Kremnitz 1994: 87). Die Organisation des offiziell bilingualen Staatsgebildes kann dabei zwei – die Symmetrie einschränkenden – Prinzipien folgen, zum einen dem Territorialitätsprinzip, d.h. die Kooffizialität der beiden Sprachen ist auf bestimmte Gebiete beschränkt und letztlich muss sich der Bürger der lokalen offiziellen Sprache anpassen.123 Zum anderen handelt es sich um das Personalitätsprinzip, wo der Einzelne in öffentlichen Angelegenheiten das Recht besitzt, die Verwendung der Sprache zu fordern, die er zuvor offiziell als seine Umgangssprache erklärt hat (vgl. Kremnitz 1994: 89-90). Laut Staatsgrundgesetz aus dem Jahr 1867 sollte in der Habsburger Monarchie die Gleichberechtigung aller landesüblichen Sprachen in Schule, Amt und öffentlichem Leben gelten (vgl. Kapitel 3.2). Gleichzeitig werden in Böhmen jedoch einzelne Regelungen nach dem Territorialitätsprinzip angedacht und beispielsweise im Schulwesen im Zusammenhang mit der Errichtung von Volksschulen umgesetzt (vgl. Kapitel 4.2.1.2: 171).124 In Mähren gewinnt infolge des mährischen Ausgleichs bzw. Pakts aus dem Jahr 1905125 das Personalitätsprinzip an Bedeu123

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125

Das territoriale Prinzip gehörte zu den grundlegenden Prinzipien des Sprachenrechts in der Tschechoslowakei. Die tschechoslowakische Sprache – faktisch sind damit das Tschechische und das Slowakische gemeint – wird als die staatlich offizielle Sprache und damit als offizielles Kommunikationsmedium auf der zentralen politischen und administrativen Ebene festgelegt. Das Deutsche kann lokal begrenzt den Status der Kooffizialität erlangen, sofern laut Volkszählungsergebnissen mindestens 20 Prozent der ansässigen Bevölkerung der deutschen Minderheit angehören (vgl. Malý 1991: 270-275; Kučera 1999: 24). Die generelle Organisation Böhmens nach dem Territorialitätsprinzip wird durchaus als Option, wie z.B. in den sogenannten Fundamentalartikeln aus dem Jahr 1871 erkannt, kann sich jedoch nicht durchsetzen (vgl. Malý 1991: 265-266). Vor dem Hintergrund der sprachlichen Verhältnisse in Böhmen entwickelt sich auf tschechischer Seite die These von der grundsätzlichen Zweisprachigkeit Böhmens – im Sinne von gemischtsprachig, demgegenüber steht die deutsche These vom Vorhandensein einsprachiger (rein deutscher) Gebiete – im Sinne eines mehrsprachigen Böhmen. In diesem Zusammenhang führt der jungtschechische Politiker Josef Kaizl um 1900 die terminologische Differenzierung in zweisprachige und einsprachige Gleichberechtigung ein. Das Reichsgericht bekennt sich zur ,tschechischen‘, der Verwaltungsgerichtshof theoretisch zur ,deutschen‘ Variante, mittels seiner Urteile zugunsten kleiner und kleinster Minderheiten berücksichtigt er aber mehrmals die tschechische Fassung (vgl. Stourzh 1985: 118-119). Diese drückt die Bedingungen des Personalitätsprinzips, die deutsche Fassung bzw. einsprachige Gleichberechtigung jene des Territorialitätsprinzips aus. Der sogenannte mährische Pakt umfasst vier vom Landtag beschlossene Teilgesetze: Eine neue Landesordnung, eine Landtagswahlordnung, ein Gesetz über den Gebrauch beider Landessprachen bei den autonomen Behörden sowie über die Organisation der Schulaufsichtsbe-

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tung. Das Recht auf die Verwendung der deklarierten Umgangssprache wird allerdings im Schulwesen im Hinblick auf die Zulassungsvoraussetzungen zur Pflicht und zur Bremse individueller Bilingualität (vgl. Zahra 2004). Über die nationale Trennung der Schulbehörden nach böhmischem Vorbild (1873) hinaus bestimmt das mährische Schulerrichtungsgesetz in der sogenannten ,lex Perek‘, dass in die Volksschule „in der Regel“ nur Kinder aufgenommen werden dürfen, „welche der Unterrichtssprache mächtig sind“ (zit. nach Burger 1995: 193; vgl. ebd.: 191-200). Dadurch ist die Zweisprachigkeit des Staatsgebildes – hier in Form des staatlichen Schulwesens – insofern begrenzt, als dass die Schulkinder respektive Eltern die Unterrichtssprache nicht frei wählen können, sondern zunächst bestimmte sprachliche Qualifikationen erfüllen müssen. Bestätigt wird diese Einschränkung des kollektiven Bilingualismus und sein negativer Effekt auf den Auf- oder Ausbau individueller Bilingualität in einem Urteil des Verwaltungsgerichtshofes im Jahr 1910. Dort wird konstatiert, dass „durch die Sprache auch die Nationalität gekennzeichnet“ (zit. nach Burger 1995: 196) und in der Folge bei der Aufnahme von Kindern an eine Schule auch die – üblicherweise vom Vater abgeleitete – Nationalität des Kindes maßgeblich wird. D.h., ein freies Wahlrecht der Unterrichtssprache existiert nicht mehr, vielmehr leitet der Verwaltungsgerichtshof davon das Recht eines jeden Volksstammes auf seine Angehörigen ab (vgl. Burger 1995: 196; Anm. 390: 211). Im Extremfall schließt hier ein parallel aufgebautes, deutsch-tschechisches Schulsystem – anders als in Böhmen – ebenfalls zwei (unfreiwillig) sprachnational getrennte Schülerschaften ein. Von der einmal definierten Nationalität leitet sich nicht das Recht der Person auf die potenzielle Verwendung ihrer Sprache bzw. auf die Wahl dieser oder jener Unterrichtssprache ab, sondern ergibt sich die Verpflichtung zu dieser einen Sprache. Individueller Bilingualismus ist in einer Situation mit kollektiver Zweisprachigkeit kein Muss und keine Selbstverständlichkeit. Sobald sich territoriale Gemischtsprachigkeit mit institutioneller Zweisprachigkeit verbindet, besteht für den Einzelnen, selbst in der Kommunikation mit den Institutionen (Schule, Verwaltung, Gesundheitssektor, Medien etc.), kein Zwang, die jeweils andere Sprache zu erlernen (vgl. Lüdi / Py 1984: 3). Die Sprecher beider Sprachen genießen de jure die gleichen Rechte. Der Staat, die Institutionen, die Gesellschaft werden als bilingual betrachtet – es herrscht soziale Zweisprachigkeit (vgl. Berruto 1995), während der Großteil der Bevölkerung monolingual sein kann. Allerdings muss der institutionellen Symmetrie keine soziale Symmetrie entsprechen, sodass die beiden Sprachen auf Grund unterschiedlichen Prestiges oder ungleicher sozialer, wirtschaftlicher oder politischer Machtverteilung zwischen den Sprechergruppen

hörden. Mittels der Einrichtung von zwei getrennten nationalen Katastern und der Zuordnung der Wahlberechtigten zum tschechischen bzw. deutschen Wahlkörper wird eine Trennung von Nation und Territorium praktiziert und das Personalitätsprinzip in den Vordergrund gerückt (vgl. Burger 1995: 189-191; Křen 2000: 261-262).

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de facto zu voneinander abweichenden Funktionen und Domänen eingesetzt werden (vgl. u.a. Mackey 1967: 12; Kremnitz 1994: 89-90). Hier deutet sich bereits v.a. im Hinblick auf Motivationen ein Zusammenhang zwischen Bilingualismus als individuellem und als gesellschaftlichem Phänomen insbesondere in einer diglossischen Situation an (vgl. Romaine 1995: 22).

2.2.2.2

Der Diglossiebegriff und die soziale Zweisprachigkeit

Der Begriff der Diglossie wird seit Ferguson (1959) zur Beschreibung funktioneller kollektiver Mehrsprachigkeit angewandt.126 Er findet typische Charakteristika einer Diglossie-Situation, indem er vier offensichtlich zu dieser Kategorie gehörende Sprachgemeinschaften und ihre jeweiligen Sprachen127 untersucht, und kommt schließlich zu folgender Definition: Diglossia is a relatively stable language situation in which, in addition to the primary dialects of the language (which may include a standard or regional standard), there is a very divergent, highly codified (often grammatically more complex) superposed variety, the vehicle of a large and respected body of written literature, either of an earlier period or in another speech community, which is learned largely by formal education and is used for most written and formal spoken purposes but is not used by any sector of the community for ordinary conversation (Ferguson 1959: 336).

Die klassische Interpretation von Diglossie bezieht sich somit auf eine relativ stabile Sprachsituation, die sich durch die komplementäre, funktionale Spezialisierung zweier Varietäten einer Einzelsprache auszeichnet. Eine gehobene Varietät (High variety, H), damit ist die in der Schule gelernte Standardvarietät mit gewöhnlich höherem sozialem Prestige gemeint, steht einer alltagsprachlichen, in erster Linie mündlich vermittelten, niederen Varietät (Low variety, L) gegenüber.128 Das hierarchische Verhältnis der beiden Varietäten wird von der Bevölkerung als unproblematisch eingestuft, bis gewisse Tendenzen auftreten: (a) more widespread literacy (whether for economic, ideological or other reasons), (b) broader communication among different regional and social segments of the community (e.g. for economic, administrative, military, or ideological reasons), (c) desire for a full-fledged standard ,national‘ language as an attribute of autonomy or of sovereignty (Ferguson 1959: 338).

126

127 128

Geprägt wird der Begriff bereits Ende des 19. Jahrhunderts. Der Terminus Diglossie (griech. Diglossos: ,zwei Sprachen sprechend‘) wird für die Bezeichnung der sprachlichen Situation Griechenlands mit jeweils zwei unterschiedlichen Funktionen gebrauchten Varietäten (Dialekt vs. Koiné) verwendet (vgl. Kremnitz 1994: 27-28). Ferguson bezieht sich in seinen Ausführungen auf das Arabische, das Moderne Griechisch, das Schweizerdeutsch und eine Kreolsprache auf Haiti (vgl. Ferguson 1959: 326). Im Einzelnen nennt Ferguson neun verschiedene Bereiche, in denen H- und L-Varietät differieren: Funktion, Prestige, literarisches Erbe, Erwerb, Standardisierung, Stabilität, Grammatik, Lexikon und Phonologie (vgl. Ferguson 1959: 328-336).

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Sobald sich nennenswerte soziale und politische gesellschaftliche Veränderungen abzeichnen – allerdings ist hier nochmals an die lange Dauer als Kriterium der Diglossie zu erinnern –, entsteht eine Bewegung zur Vereinigung der Sprache. Von Diglossie- zu Diglossiesituation unterschiedlich können sich H- oder LVarietät oder eine Mischform durchsetzen (vgl. ebd.).129 Die funktional-linguistisch dominierte Definition des Begriffs nach Ferguson wird sehr bald in verschiedene Richtungen ausgeweitet130, sodass die Bedingung einer genetischen Verwandtschaft zwischen der H- und der L-Varietät nicht mehr besteht, die Komplementarität der betroffenen Kodes von der klassischen Aufteilung in einen überlagernden, öffentlichen und einen unkodifizierten, informellen Kode variieren kann, der Anspruch auf Stabilität der Situation gelockert wird und auch keine ,nationalen‘ Gesellschaften, sondern nur Minderheiten betroffen sein können. Damit ist nur ein Teil der Gruppe (Minderheit)131 zum Beherrschen der H- und L-Varietät angehalten, während die Mehrheit die gruppeneigene Sprache in allen Domänen verwendet (vgl. Lüdi 1990: 314).132 In der nordamerikanischen Soziolinguistik etabliert sich ein eher deskriptives Konzept der Diglossie, dass hauptsächlich der Situation eines „within-group (or intragroup) multilingualism“ (Fishman 1965: 67) – d.h. innerhalb einer Gruppe werden funktionsabhängig zwei Sprachen eingesetzt133 – entspricht. Dagegen entwerfen europäische Soziolinguisten ein betont dynamisches Modell von Diglossie, das den bei historischen und sozialen Machtkonstellationen oft herrschenden konfliktuellen Charakter miteinander in Kontakt stehender Spra129

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133

Kritik an Fergusons Konzept ist in Bezug auf folgende Punkte geäußert worden: Die notwendig lange Dauer der Diglossie, die fehlende Berücksichtigung der jeweiligen Sprecher der H- und LVarietät, die wertende Bezeichnung ,High‘ vs. ,Low‘ sowie die Nichtbeachtung des konfliktuellen Potenzials der Diglossiesituation. Allerdings ist die Frage, ob Fergusons Konzeption tatsächlich typologisch und nicht doch historisch gedacht war (vgl. Kremnitz 2004: 160-161). Für einen Überblick vgl. Fasold (1995: 34-54); Lüdi 1990; Romaine (1995: 34-38); sowie für eine kritische Stellungnahme zu den einzelnen Erweiterungen des Konzepts vgl. Dittmar (1997: 139-152); Williams (1992). Minderheit bezieht sich nicht zwingend auf die quantitative Minderheit, sondern kann auch den zahlenmäßig zwar stärkeren, ökonomisch und gesellschaftlich (,qualitativ‘) aber einen niedrigeren Status innehabenden Bevölkerungsteil betreffen. „Let us stress that monolinguality is more commonly found in economically dominant groups whereas the members of minority or subordinate groups tend to be bilingual or multilingual“ (Hamers / Blanc 2000: 32). Auf Differenzierungen wie etwa Binnendiglossie (zwei Varietäten einer Einzelsprache) und Außendiglossie (zwei Sprachen) (vgl. Kloss 1976) soll weitgehend verzichtet werden. Für den böhmischen Kontext vgl. hierzu Leeuwen-Turnovcová (2001; 2005). Denn im Vordergrund dieser Arbeit steht der deutsch-tschechische bzw. tschechisch-deutsche Bilingualismus und in Bezug auf diesen die Frage nach dem diglossischen Charakter der böhmischen Gesellschaft. John J. Gumperz (1964) weitet den Begriff zunächst auf Gesellschaften aus, die verschiedene Dialekte, Register oder andere funktional differenzierte Varietäten gebrauchen, sich selbst aber nicht als zweisprachig ansehen. Joshua Fishman gibt die Bedingung der genetischen Verwandtschaft schließlich ganz auf und setzt die Prämisse, dass in praktisch jeder einigermaßen komplexen Gesellschaft Diglossieerscheinungen auftreten (vgl. Fishman 1967).

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chen134 in den Mittelpunkt rückt und damit „between-group (or intergroup) bilingualism“ (ebd.) betrifft. Es geht v.a. um multiethnische Gesellschaften, wie auch die Habsburger Monarchie eine darstellt, in deren Staatsgefüge zwei oder mehrere Gruppen mit unterschiedlichen Sprachen eingebunden sind. In der im Allgemeinen di- oder polyglossisch geregelten Intergruppen-Kommunikation herrscht eine soziolinguistische Asymmetrie, denn die Sprachen werden zwar nebeneinander verwendet, sind aber in ihrem Gebrauch und ihrem Prestige nicht gleichwertig (vgl. Rindler-Schjerve 1997: 18). Stabilität wird hier nicht durch komplementäre, funktionelle Abgrenzung der beteiligten Kodes erreicht, diese stellt nur eine Übergangsphase im Rahmen eines Verdrängungswettbewerbs dar, der in der Eliminierung einer Varietät endet. Zwei Szenarien sind hier möglich.135 Erstens, die herrschende Sprache (H-Varietät) setzt sich in allen Bereichen des Sprachgebrauchs allmählich durch, die gesamte Bevölkerung wird an das bisher geltende (sprachliche) Modell akkulturiert. Der Prozess wird als ,Substitution‘ bezeichnet. Im zweiten Fall, der ,Normalisierung‘, behauptet sich die beherrschte Sprache (L-Varietät) zunehmend und verdrängt schließlich die H-Varietät; damit hängt meist ein Wechsel oder zumindest eine Neuverteilung der Machtverhältnisse zusammen, da die herrschende Sprache generell von der sozial und politisch dominierenden Gruppe gesprochen wird. Auf dem Gebiet der böhmischen Länder entsteht mit der Gründung der Tschechoslowakei und der Erklärung des ,Tschechoslowakischen‘ zur Staatssprache eine derartige neue Konstellation der politischen und gesellschaftlichen Kräfte, sodass das Tschechische nun die Domänen der H-Varietät für sich beansprucht und dies politisch auch realisiert wird. So bezieht sich der Begriff ,Normalisierung‘ auf zwei Aspekte. Zum einen auf die Ausarbeitung referentieller sprachlicher Formen (und Normen), die als Normativierung bezeichnet wird, und zum anderen auf die – als bedeutender angesehene – gesellschaftliche Durchsetzung der betroffenen Sprache auf allen gesellschaftlichen und funktionalen Ebenen der Kommunikation. Vallverdú (1973: 138, zit. nach Kremnitz 1994: 35) spricht von der ,sozialen Ausweitung des Sprachgebrauchs‘. In der europäischen Konzeption wird Diglossie im Grunde als eine Ausdrucksform des Sprachkonflikts interpretiert (vgl. Kremnitz 1994: 33-35; Nelde 1980).136 Um den Begriff Diglossie in seiner rein Fergusonschen Bedeutung zu erhalten, nennt der italienische Soziolinguist Gaetano Berruto zur Beschreibung der sozia134 135

136

Zu Sprachkonflikt vgl. Mattheier (1987). Diese Entwicklung bezieht sich vorrangig auf historische Gegebenheiten und wird unter entsprechenden Prämissen betrachtet, wie etwa den zunächst geringen Organisationsgrad staatlicher Gebilde und die Beschränkung seiner Organisation auf eine Elite, sowie die lange Zeit nichtnationalen Grenzverläufe politischer Herrschaften. Der Verdrängungswettbewerb wird unter anderem durch den aufkommenden sprachlichen Nationalismus eingeleitet (vgl. Kremnitz 1994: 5052). Diese Position wurde insbesondere von katalanischen Soziolinguisten vertreten (vgl. Aracil 1965; Ninyoles 1975; aber auch Eckert 1980); für eine zusammenfassende Darstellung vgl. Kremnitz (1994: 33-37).

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len Differenzierung innerhalb von Sprachgemeinschaften neben der Diglossie drei weitere Konzepte: soziale Zweisprachigkeit, Dilalie und Bidialektalität. Während Dilalie als ein der Diglossie entgegengesetzter Begriff gilt, v.a. dadurch, dass die sich beträchtlich unterscheidenden Varietäten parallel in der Alltagskommunikation verwendet werden, bezieht sich Bidialektalität auf soziolinguistische Verhältnisse, in denen eine Standardvarietät und nahe verwandte regionale und soziale Varietäten involviert sind (vgl. Berruto 1995; nach Dittmar 1997: 151-152). Hier interessiert jedoch hauptsächlich seine Definition von sozialer Zweisprachigkeit, da nur diese Kategorie die Koexistenz zweier ,Abstandsprachen‘ bzw. ,Ausbausprachen‘ (vgl. Kloss 1967), wie es für das Deutsche und Tschechische zutrifft, einschließt. Soziale Zweisprachigkeit ist im Folgenden als Gegenstück – allerdings zum erweiterten Begriff der Diglossie nach Fishman – gemeint, gewissermaßen ein positiver Ausdruck seiner Definition ,ohne Diglossie‘ (s.u.). Mit Blick auf das vorliegende Thema gewinnt der Ansatzpunkt der europäischen Soziolinguistik an Bedeutung, da er Diglossie in historische Zusammenhänge einbettet und ihren Verlauf thematisiert. Aus der primär statischen, nordamerikanischen Konzeption ist insbesondere die Erweiterung Joshua Fishmans hervorzuheben, der das Verhältnis zwischen individuellem und sozialem / gesellschaftlichem Bilingualismus durch eine vierfache Beziehung kennzeichnet: 1. Bilingualismus mit Diglossie, 2. Bilingualismus ohne Diglossie, 3. Diglossie ohne Bilingualismus, 4. Weder Diglossie noch Bilingualismus (vgl. Fishman 1967). Allerdings finden sich in dieser Klassifizierung nach funktionaler Komplementarität und individuellen Kenntnissen der beteiligten Sprachen lediglich die vier modellhaften Extreme dieser Relation, die realisierten Formen dieser Kategorien liegen dazwischen: „Both diglossia and bilingualism are continuous variables, matters of degree rather than all-or-none phenomena“ (Fishman 1980: 6). Die Konstellation von Diglossie und Bilingualismus wird daher im Folgenden so verstanden, dass mit der ersten bis dritten Kategorie des Fishman’schen Modells ein Kontinuum möglicher Ausprägungen der gesellschaftlichen wie individuellen Zweisprachigkeit in Abhängigkeit von verschiedenen Faktoren, wie dem Anteil der bilingualen Bevölkerung, dem Grad ihrer Zweisprachigkeit und der jeweiligen Bedeutung der Sprachen und ihrer funktionalen Verteilung in der Gesellschaft, abgesteckt wird (vgl. Lüdi / Py 1984: 12-13). Die Veränderungen der sozialen wie individuellen Zweisprachigkeit in diesem Kontinuum sind für den böhmischen Kontext v.a. auch unter Berücksichtigung des dynamisierten, konfliktuellen Ansatzes zu betrachten.

2.2.2.3

Domänen des Sprachgebrauchs

Diglossie und das ihr zugrundeliegende Sprachwertsystem manifestiert sich am deutlichsten in der gebrauchsmäßigen Verteilung der Kontaktsprachen in der Gesellschaft. Zur Analyse der „funktionalen Abstufung der Diglossie“ (Newerkla

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1999: 17) führt Fishman (1965) den Begriff ,Domäne‘ ein.137 Er definiert sie zunächst als abstraktes Konstrukt, dass sich im Hinblick auf die Sprachwahl in mehrsprachigen Kontexten aus zueinander passenden Orten, Rollenbeziehungen der Gesprächspartner und Themen ergibt. Demnach existieren gewisse soziokulturelle und allgemein anerkannte Aktivitätssphären, für die jeweils eine der in Kontakt stehenden Sprachen als angemessen gilt und daher gewohnheitsmäßig verwendet wird. Ausgehend von der europäischen Soziolinguistik ist diese Überlegung noch durch den Aspekt zu ergänzen, dass diglossische Zustände zuweilen auch einer Sprachkonfliktsituation gleichen und somit die Sprachwahl in einzelnen Domänen durchaus von den politischen Machtverhältnissen abhängen kann (vgl. Kremnitz 1994: 34). Darüber hinaus gewinnt das Domänenkonzept v.a. dort an Bedeutung, wo nicht unterschiedliche Sprachkompetenzen die Wahl der Sprache entscheiden, d.h. in diglossischen Gesellschaften mit verbreitetem individuellen Bilingualismus. Im Rahmen direkter Befragungen können solch idealisierte, stabile Mehrsprachigkeitssituationen unterstellt und die entscheidenden Faktoren für die Sprachwahl isoliert werden.138 Im vorliegenden Fall muss allerdings diese Form der Datengewinnung entfallen und die Verteilung des Sprachgebrauchs auf der Basis geschichtlich belegter Sprachdokumentationen rekonstruiert werden (vgl. hierzu auch Newerkla 1999). Damit verbunden ist eine gewisse „Soziologisierung des Begriffs“ (Werlen 2004: 339) Domäne, da die Wahl der Sprache in den einzelnen Rollenkontexten wie auch der Bestandteil ,Thema‘ der Fishman’schen Definition in ihrem ursprünglich technischen Sinn kaum berücksichtigt werden können. Domäne wird allgemeiner als ein „Bereich des Sprachgebrauchs“ (ebd.) betrachtet. Ferner steht eine Domäne – und zwar ,Schule‘ – im Vordergrund der Betrachtungen. Stärker als andere Domänen repräsentiert sie eine Schnittstelle zwischen Makro- und Mikroebene. Sie gilt einerseits als klassische Domäne der H-Varietät in einer diglossischen Gesellschaft und bildet andererseits die Plattform zur Ausbildung bzw. zum Aufbau eines individuellen Bilingualismus. Wird die Vorherrschaft der H-Varietät in diesem Bereich schrittweise beschränkt, kann dies zu einer einschneidenden Verschiebung innerhalb der Diglossie führen. Denn sobald der Bereich der akademischen Ausbildung nicht mehr nur einer Sprache vorbehalten ist, wird die „Torhüter-“ (Dittmar 1997: 122) bzw. „gate-keeping-“ (Erickson / Shultz 1982) Funktion der H-Varietät aufgeweicht und sozialer Aufstieg nicht mehr strikt an ihre Kenntnis geknüpft. So können gerade die gesellschaftlichen Vorgaben im Rahmen des Bildungswesens nicht nur das Prestige der Sprachen entscheidend beeinflussen, sondern auch die sprachliche Praxis des Einzelnen (obgleich die konkreten 137

138

Fishman lehnt sich dabei an Georg Schmidt-Rohr (1933) an, der den Begriff erstmals gebrauchte, um die sprachliche Entwicklung Auslandsdeutscher in mehrsprachigen Gesellschaften zu vergleichen und dazu deren Sprachverwendung in Kontexten wie Familie, Spielplatz / Straße, Schule, Kirche, Literatur, Zeitung, Heer, Gericht und Verwaltung beschreibt. Für einen Überblick vgl. Werlen (2004: 336-337).

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Sprechereignisse einer Analyse entbehren müssen). Die Wahl der Schule bzw. der Unterrichtssprache sowie die Teilnahme am Sprachunterricht sind damit auch Indikatoren einerseits für ein gegebenenfalls gesteigertes soziales Prestige der jeweiligen Sprachen und andererseits für die Verbreitung der individuellen Sprachkenntnisse, die im vom Tschechischen und Deutschen geprägten Prag voraussichtlich auch im Alltag Anwendung finden. Umgekehrt gilt, dass die gesellschaftliche Zweisprachigkeit zwar ein Phänomen der Gesellschaft ist, doch wird sie konkret gelebt und erlebt von jedem Individuum einzeln (vgl. Kremnitz 1994: 54). Im Schulwesen tritt diese Wechselseitigkeit zwischen individuellem und gesellschaftlichem Bilingualismus, nicht zuletzt auf Grund seiner Funktion als Hauptinstrument des gesteuerten Zweitspracherwerbs, mit am deutlichsten zu Tage. Seine zentrale Position in nationalpolitischen Auseinandersetzungen (vgl. Luft 2001) gibt ferner Einblick in sich abspielende Substitutions- bzw. Normalisierungsprozesse. Einen Hinweis darauf bietet die sprachliche Organisation und ethnische Ausrichtung der schulischen Einrichtungen (vgl. Freeman 1998).139 In Abhängigkeit von Umfang und Zeitpunkt werden aus der Perspektive der Zweitsprachenvermittlung totale und partielle bzw. frühe und späte Immersionsprogramme sowie Submersions- und Spracherhaltungsprogramme unterschieden (vgl. u.a. Skutnabb-Kangas 1984). Immersion bezieht sich auf Unterrichtssituationen, in denen die Lehre in einigen (partielle) oder allen (totale) Fächern bereits ab der Vor- bzw. Grundschule (frühe) oder erst an der Hochschule (späte) in der Zweitsprache stattfindet. Die Erstsprache wird, wenn sie nicht wenigstens zum Teil als Vermittlungssprache dient, in jedem Fall im außerschulischen Bereich gestützt. Ziel dieses Ausbildungsplans ist der additive Bilingualismus (vgl. Hamers / Blanc 2000: 332-333). Das Gegenstück bildet das Programm der Submersion, das insbesondere Angehörige von Minderheiten betrifft. Der Unterricht wird ausschließlich in der Sprache der Mehrheit gewährleistet und kann schrittweise infolge zunehmender Vernachlässigung bzw. mangelnder Förderung der Erstsprache zu einem subtraktiven Bilingualismus (vgl. auch Anm. 118: 67) führen. Dabei handelt es sich im Wesentlichen nicht um ein linguistisches Phänomen, denn als ausschlaggebend für den Verlust an Sprachkompetenzen in der Erstsprache gelten in diesem Zusammenhang ihre niedrige sozio-ökonomische Wertigkeit und ihre soziale Geringschätzung (vgl. Romaine 1995: 219; Skutnabb-Kangas 1984). Ähnliche Konsequenzen birgt eine Ausbildungspolitik, die den Unterricht in der Erstsprache zwar zunächst anbietet, ihn aber als Übergangsphase bzw. Sprungbrett in die ,regulären‘ Mehrheitsklassen deklariert. Letztendlich wird mit diesem Vorgehen die Assimilation der jeweiligen 139

Zu der Vielfalt an Typen bilingualer Erziehung in der Schule vgl. Mackey (1970) und für eine Anwendung seiner Typologie auf das böhmische Schulwesen am Beispiel Pilsens vgl. Newerkla (1999). Zu bilingualer Ausbildung und Ausbildung Bilingualer vgl. auch Baker (1996) und Cummins (2000).

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Bevölkerungsteile angestrebt (vgl. Romaine 1995: 219). Spracherhaltungsprogramme implizieren, dass der Unterricht in (fast) allen Schultypen in der Sprache der Minderheit abgehalten und die Sprache der Mehrheit als Fremdsprache gelehrt wird. Sie können als „language shelter“ (Romaine 1995: 220) dienen oder aber auf Segregation ausgerichtet sein und die Ghettoisierung der Minderheit anstreben (vgl. ebd.). Auch wenn sich die Situationen in der Praxis komplexer gestalten, sind doch Tendenzen im Hinblick auf etwaige (intendierte) Klassifizierungen in H- und L-Varietäten oder gleichberechtigte Kultursprachen erkennbar. So dient die Domäne ,Schule‘ einerseits als Untersuchungsplattform des individuellen Bilingualismus und wird andererseits im Hinblick auf kollektive Zweisprachigkeit und diglossische Verhältnisse exemplarisch geprüft. Dem theoretischen, in Gesetzen und Verordnungen politisch definierten Status der beiden Landessprachen wird der tatsächliche Sprachgebrauch in der Domäne ,Schule‘ gegenübergestellt. Die Nachbildung der Verteilung des realen sprachlichen Gebrauchs wird von folgenden Fragen geleitet (vgl. auch Newerkla 1999: 18): Schulkinder welcher Muttersprache wählen die deutsche, welche die tschechische Unterrichtssprache? Wechseln Schüler/-innen (welcher Muttersprache) im Laufe ihrer Schulzeit von der einen zur anderen Unterrichtssprache? Wie steht es um sogenannte ,utraquistische‘ Schulen (d.h. mit zweisprachiger Unterrichtsführung) in Prag? Welche Aufmerksamkeit wird dem Unterricht in der zweiten Landessprache zugemessen (z.B. Stundendeputat, Qualifikation der Lehrkräfte)? In welchem Umfang wird das Angebot, die zweite Landessprache als relativ obligates Wahlfach zu erlernen, jeweils beim Deutschen und Tschechischen wahrgenommen? Zudem bietet die deklarierte Muttersprache auch einen Anhaltspunkt für den Sprachgebrauch in der außerschulischen Kommunikation. Dennoch wird Diglossie auf diese Weise nur indirekt140 betrachtet, indem das sprachpolitisch geschaffene Angebot mit der individuellen Nachfrage durch die Schüler respektive Eltern konfrontiert wird. Sicherlich sind die Wahl einer bestimmten sprachlichen Ausrichtung oder eines Wahlfaches oder auch die deklarierte Muttersprache nicht mit dem effektiven sprachlichen Verhalten einer Person gleichzusetzen. Doch weisen sie auf die Bereitschaft, sich diese Sprache anzueignen bzw. in der Domäne ,Schule‘ vorrangig einzusetzen, hin und können so auch eine Bereitschaft zum Codeswitching in der Domäne ,Schule‘ oder auch generell andeuten.

2.2.3 2.2.3.1

Bilingualismus an den Prager Schulen 1870-1910 Schulwesen als Domäne der Untersuchung

Im Zentrum der Untersuchung stehen Schüler (respektive ihre Eltern), die sich im Prag Ende des 19. Jahrhunderts in einer sich zunehmend sprachnational spalten140

Eine direkte Beobachtung der Performanz auf der Ebene des Kommunikationsaktes erlaubt das historische Datenmaterial nicht.

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den Gesellschaft, in der das Spracherhaltungsprogramm in eine sprachnationale Segregation mündet, für Bilingualität entscheiden bzw. bereits auf eine gewisse, ungesteuert erworbene Bilingualität zurückgreifen können und bereit sind, diese im Rahmen der Schule – gesteuert – auszubauen. Insbesondere interessiert, wie sich die Verteilung dieser individuellen Zweisprachigkeit im Laufe der letzten Jahrzehnte der Habsburger Monarchie verändert. Operationalisiert wird dieser Vorgang im Kontext der Institution Schule, die in der Verbreitung und Förderung von individueller Mehrsprachigkeit ein, wenn nicht das pädagogische Hauptinstrument darstellt. Ungesteuert vermittelte Bilingualität, wie etwa bei Kindern aus gemischtsprachigen Familien oder ,auf der Straße‘ beim Spiel etc., wird auf diese Weise zum Teil berücksichtigt, indem sich etwaige Vorkenntnisse in den jeweiligen Leistungsbewertungen niederschlagen. Das Bildungswesen stellt eine der wichtigsten Untersuchungsdomänen für die Entwicklung und den Wandel der sprachlichen Identität und des sozial relevanten ,Sprachverhaltens‘ der böhmischen (und Prager) Bevölkerung, in deren Kontext auch das ,Sprachverhalten‘ der Familie Kafka zu sehen und zu interpretieren ist, dar. Denn hier werden nicht nur die Grundlagen für weitere Fach- und Sprachkompetenzen gelegt, vielmehr reflektiert die Institution Schule – ihre Unterrichtssprache und ihr Fächerspektrum, das nicht automatisch die zweite Landessprache einschließt, sowie die Zusammensetzung des Lehrpersonals wie der Schülerschaft – die Wechselwirkung zwischen staatlicher Sprachplanung und individuellen Sprachentscheidungen. Nicht nur an den untersuchten Prager Elementar- und Mittelschulen kristallisiert sich infolge des im Artikel 19 (3) des Staatsgrundgesetzes von 1867 verankerten sogenannten ,Sprachenzwangsverbot‘ (vgl. hierzu Kapitel 4.2.1.2: 169) aus der Vielfalt an Typen bilingualer Erziehung in der Schule (vgl. Mackey 1970)141 eine zentrale Form des gesteuerten Zweitspracherwerbs heraus. Mit Ausnahme einiger weniger Privatschulen (z.B. Privatgymnasium der Straka’schen Akademie) gibt es ab den 1870er Jahren im Primar- und Sekundarschulwesen142 keine 141

142

Mackey wählt einen schultypologischen Zugang, der ausgehend von der Muttersprache sowohl die Unterrichtssprache in den einzelnen Fächern als auch den verschiedenen Jahrgangsstufen berücksichtigt. Er unterscheidet, ob eine (singulär) oder beide (dual) Sprachen als Vermittlungssprachen eingesetzt werden, ob eine Entwicklung von Schulstufe zu Schulstufe stattfindet und damit je nachdem Sprachtransfer oder der Erhalt beider Sprachen gefördert wird. Ferner differenziert er je nach Ausrichtung des verwendeten Sprachmittels zwischen Akkulturation und Irredentismus. Hinsichtlich der Verteilung der Sprachen auf die einzelnen Fächer spricht er gegebenenfalls von differierend (Sprache abhängig vom Fach) oder äqual. Den Grad eines potenziellen Sprachwechsels teilt er in komplett oder graduell auf. Basierend auf dem Modell von Mackey bettet Newerkla die aus diesen Faktoren entstehenden Kombinationen in verschiedene kontextuelle Settings ein, die jeweils den Sprachgebrauch in Familie, Schule, Gebiet und Staat charakterisieren, um so schließlich den tatsächlichen Sprachgebrauch an den Schulen greifbar machen zu können (vgl. Mackey 1970; Newerkla 2001: 353-357). Anders ist die Situation im Falle der von Vereinen oder anderen Corporationen erhaltenen Fachschulen. Hier werden selbst Mitte der 1890er Jahre einige noch mit Deutsch und

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,utraquistischen‘ Lehranstalten mehr, d.h. solche, die entweder nach Fächern differierend oder fachunabhängig die Unterrichtszeit aufteilend in beiden Landessprachen unterrichten. Je Schule wird eine Sprache von der ersten bis zur letzten Jahrgangsstufe als Vermittlungssprache benutzt. Damit entsprechen die Einrichtungen nach der Definition von Mackey / Siguán nicht den Voraussetzungen ,bilingualer Ausbildungssysteme‘: The term ,bilingual education‘ is used with reference to an education system with two languages as the medium of instruction, one of which is usually – but not always – the student’s first language. An education system using only one language which is not the student’s first language does not come under the above definition and cannot be regarded as a bilingual system. However, the students will become bilingual and in fact receive a bilingual education, even though the school system is not officially recognized as bilingual (Mackey / Siguán 1987: 45).

Entscheiden sich Eltern / Kinder für eine Sekundärsozialisation in der anderen Landessprache, so kann ein möglicherweise durch die Schule begünstigter Sprachtransfer (der Wechsel von der Erstsprache zur Unterrichtssprache) abgemildert und neben dem Erwerb der Zweit-/ Fremdsprache die Bewahrung der Erstsprache gefördert werden, indem diese als relativ obligates Unterrichtsfach143 belegt wird. Auf diese Weise werden auch in der Muttersprache schriftliche Fertigkeiten erlangt, damit die Wahrscheinlichkeit eines kompletten oder auch nur graduellen Sprachwechsels reduziert und die Chance auf einen ausgeglicheneren Bilingualismus gesteigert. Zusammengefasst ist der dominante Grundtyp der böhmischen Schullandschaft im untersuchten Zeitraum (1870-1910) eine Lehranstalt mit einer Unterrichtssprache und dem Angebot des Unterrichts in der anderen Landessprache.144 Damit endet die Vorgabe durch das Schulsystem. Denn, ob die eigene oder die andere Landessprache als Unterrichtssprache gewählt werden, ob im ersteren Fall die zweite Landessprache als Unterrichtsfach belegt oder ob im letzteren Fall

143 144

Tschechisch als Unterrichtssprache angeführt – z.B. für Kunst das Conservatorium der Musik (des Vereines zur Förderung der Tonkunst in Böhmen), die Malerakademie (der Gesellschaft patriotischer Kunstfreunde in Böhmen) sowie die Landesreit-, Landesfecht- und Landestanzschule oder für Landwirtschaft die Pomologische Schule in Troja bei Prag (Landesanstalt) oder für Industrie und Handel die Kunstgewerbeschule in Prag-Altstadt (Staatsanstalt) (vgl. Statistisches Handbuch 1898: 433-436). Zur Klassifizierung der Unterrichtsfächer vgl. Kapitel 4.2.1.2: 170. Aus der Sicht eines in Böhmen lebenden Schülers trifft der Typ einer Schule mit einer Unterrichtssprache bei gleichzeitigem Spracherhalt auf all jene Schulen zu, wo nach § 2 des Landesgesetzes Nr. 1 vom 18. Januar 1866 eine der beiden Landessprachen zur alleinigen Unterrichtssprache und nach § 4 die andere Sprache zum obligaten Unterrichtsgegenstand erklärt wird. Wird die eigene Muttersprache als Unterrichtssprache gewählt, kann von einer Ausrichtung auf Irredentismus, andernfalls auf Akkulturation gesprochen werden. Mit Aufhebung dieses sogenannten ,Sprachenzwangsgesetzes‘ im Staatsgrundgesetz (1867) fällt der verpflichtende Erhalt der eigenen bzw. der obligatorische Erwerb der jeweils anderen Landessprache weg, sodass sich bei Nichtbelegung des nun freiwilligen Sprachunterrichts in der anderen Landessprache statt der Bewahrung beider Sprachen ein Sprachtransfer einstellt (vgl. Newerkla 2001: 355).

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ein Sprachtransfer mit oder ohne Beibehaltung der Muttersprache als Unterrichtsfach stattfindet, liegt in Böhmen mit der gesetzlich gesicherten freien Wahl der Unterrichtssprache und dem Verbot des obligatorischen Sprachunterrichts in der anderen Landessprache allein im Ermessen der Schulkinder respektive ihrer Eltern. Allerdings umgehen einige, vornehmlich tschechische Eltern / Schulkinder diese Restriktion auf eine Unterrichtssprache, indem sie im Laufe der Schulzeit – oftmals nach Besuch der ersten beiden Jahrgangsstufen bzw. dann wieder zur fünften und sechsten Klasse (vgl. Kapitel 4.2.1.3: 178) – den Wechsel an eine Schule mit der anderen, meist von der tschechischen zur deutschen, Unterrichtssprache vollziehen. Sie schaffen damit in der staatlichen böhmischen Schullandschaft künstlich einen weiteren Typen bilingualer Erziehung, der sich durch eine duale Sprachverwendung mit einem durch den Schulwechsel ausgelösten abrupten Sprachwechsel145 auszeichnet. Dabei kann die ehemalige Unterrichtssprache als Fach bleiben (Bewahrung beider Sprachen) oder auch nicht (Sprachtransfer). Obgleich die böhmische und insbesondere die Prager Gesellschaft sich in den letzten Dezennien des 19. Jahrhunderts weiterhin durch einen kollektiven Bilingualismus auszeichnet, der auch durch das zweisprachige, aber getrennte Bildungswesen repräsentiert wird, entwickelt sich individueller Bilingualismus immer mehr zu einer freiwilligen Angelegenheit. Dabei stehen individueller und kollektiver Bilingualismus in einem wechselseitigen Verhältnis zueinander. Denn die private Entscheidung für oder gegen Zweisprachigkeit ist im Kontext der (einsprachigen) nationalen Ansprüche einerseits und der weitgehend (zweisprachigen) wirtschaftlichen Trends andererseits zu treffen. Der erfolgreiche Erwerb der Zweit- oder Fremdsprache ist schließlich auch von der bestehenden Infrastruktur abhängig, ob sich z.B. ein ,gemischtsprachiges‘ (bilinguales) Schulsystem oder zwei parallele (einsprachige) Schulsysteme herausbilden. Die Entwicklung in Böhmen nähert sich mit der Etablierung eines tschechischen Sekundarschulwesens und der Gründung tschechischer Hochschulen146 zunehmend letzterer Form. In die gleiche Richtung weist die Abschaffung eines obligatorischen Deutschunterrichts auf allen Schulebenen, aber auch die sich lockernde Verpflichtung zu Deutschkenntnissen, um die eigene soziale Mobilität zu wahren. So deutet sich im böhmischen Schulwesen ein Normalisierungsprozess an, wie ihn das dynamische Diglossiemodell der europäischen Soziolinguistik prägt.

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Ein Beispiel eines graduellen Sprachwechsels im böhmischen Kontext ergibt sich wiederum mit Bezug auf das erwähnte Landesgesetz (1866), als für jene Schüler, die dem Unterricht in der einen festgelegten Landessprache nicht folgen können, vorübergehend Abteilungen in der anderen Landessprache mit entsprechendem Sprachunterricht in der zukünftigen Unterrichtssprache eingerichtet werden (vgl. Newerkla 2001: 256). Zu nennen sind hier insbesondere das böhmische Schulaufsichtsgesetz 1873 sowie die Teilung der Prager Universität 1881/82 (vgl. ausführlicher in Kapitel 4.2.1).

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Die Institution Schule bietet die Möglichkeit, Auswirkungen gesellschaftlicher Veränderungen auf den individuellen deutsch-tschechischen und tschechischdeutschen Bilingualismus ,fassbar‘ und in bestimmter Weise auch ,messbar‘ zu machen. In diesem Sinne entsprechen die schulischen Einrichtungen einer Mesoebene, auf der einerseits makrosoziale Rahmenbedingungen implementiert werden und die andererseits den Raum für individuelle Entscheidungen auf der Mikroebene bildet. So können die im Kontext der untersuchten Prager Schulen erlangten Ergebnisse – dank der gründlichen Erforschung der Person Franz Kafkas, seiner Sprachkenntnisse, seines Bildungswegs, seiner Sozialisation, seines ,Sprachverhaltens‘ sowie seines sprachlichen und sozialen Umfelds – auf sein Beispiel zurückprojiziert werden und die Frage beantworten, inwieweit Kafka in sprachlicher Hinsicht ein prototypischer Böhme und inwieweit er ein prototypischer Prager seines Standes und seiner Konfession war. ,Sprachverhalten‘ kann hier nicht auf der Basis des tatsächlichen Gebrauchs, der etwaigen Trennung oder Vermischung der beiden Sprachen in der schriftlichen oder mündlichen Kommunikation gemessen werden. Gleichfalls schwierig erscheint eine Analyse der Sprachwahl in der konkreten Interaktion je nach Gesprächspartner, Umfeld oder Thema.147 Doch erlaubt das historische Material eine treffliche Annäherung an die Nachbildung sozialen bilingualen Verhaltens. Die Wahl der Schule bzw. der Unterrichtssprache ist zunächst eine private Angelegenheit der Eltern, es geht darum, in welcher sprachlichen Umgebung das Kind seine Sekundärsozialisation erfahren soll. Gleichzeitig handelt es sich bei der Schule um eine öffentliche Institution, die zudem einen Brennpunkt des zeitgenössischen sprachnationalen Diskurses darstellt. Der rein private Charakter der Entscheidung für oder gegen eine bestimmte Schule wird damit aufgehoben. Entstanden ist eine halbprivate und halböffentliche Situation – die unklare Trennung der beiden Bereiche gestaltet die Wahl m.E. um so schwieriger –, in der die Entscheidung für den Erwerb bzw. Ausbau der Fremd- bzw. Zweitsprache getroffen wird. Mit der Wahl zwischen ,Unterrichtssprache‘, ,relativ obligatem Wahlfach‘ oder ,weder noch‘ ist eine dynamische, das bilinguale Verhalten charakterisierende Abstufung der Bereitschaft, sich die zweite Landessprache anzueignen, möglich. Dabei interessieren nicht vorrangig die funktionalen Lehrmethoden, die nur am Rande erwähnt werden können, sondern vielmehr Hinweise auf von der Gemeinschaft vermittelte Einstellungen und gesellschaftliche Motivationen, die jeweils andere Sprache zu lernen. Zur Bestimmung der sprachpolitisch intendierten Regeln etwa in der Verwaltung oder bei der Lösung der Sprachenfrage im Schulwesen dienen Gesetze, Verordnungen und Vorschriften als Datenkorpus, in dem sich die politischen Zielsetzungen und Machverhältnisse widerspiegeln. In Bezug auf die sprachliche Wirk147

Um anzuzeigen, dass dieser sprachliche Aspekt des bilingualen Verhaltens nicht berücksichtigt wird, ist ,Sprachverhalten‘ in einfache Anführungszeichen gesetzt.

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lichkeit ist zwischen der Implementierung der verabschiedeten Regelungen, die wiederum den Aspekt der Machtfrage birgt, und der Wahrnehmung des potenziell geschaffenen Angebots durch die Bevölkerung zu unterscheiden. So zeigen etwa Schulstatistiken und Schematismen auf der einen Seite, inwieweit die deklarierte Gleichberechtigung von Sprachen – also soziale Zweisprachigkeit im Sinne Berrutos und keine Diglossie im Sinne Fishmans – gemessen an den demographischen Verhältnissen in Böhmen, der Anzahl der Einrichtungen mit ihrer jeweiligen Unterrichtssprache (Deutsch vs. Tschechisch) und der zumindest in Böhmen ,freiwilligen‘ Nachfrage nach der zweiten Landessprache umgesetzt wird. Auf der anderen Seite gewähren sie auch Einblick in die Nachfrage nach diesem Sprachgebrauch durch die Bevölkerung, die gewohnheitsmäßig bzw. meistens bewusst ihrem Sprachwertsystem folgend unter Berücksichtigung des Prestiges der Sprache eine Schule mit einer bestimmten Unterrichtssprache aussucht, denn die Wahl der Ausbildungsstätte ist im 19. Jahrhundert ein Hauptkriterium der sprachnationalen kollektiven Zugehörigkeit (vgl. Havránek 1993: 244). Zudem kann die in den Schulstatistiken über den jeweiligen Zweitspracherwerb z.T. festgehaltene Verteilung des individuellen Bilingualismus innerhalb der Gesellschaft als Indikator der Diglossie gesehen werden. Denn sein Ausmaß reflektiert einerseits im deutschen, andererseits im tschechischen Schulwesen die soziale Wertigkeit und das Prestige der beiden Sprachen – das durchaus auf der sozialen, wirtschaftlichen und politischen Macht seiner Sprecher beruhen kann – und deutet zumindest in einer konfliktträchtigen (im Gegensatz zur komplementären Aufteilung im Fishman’schen Modell), gemischten zweisprachigen Gesellschaft wie der deutschtschechischen im Prag der Kafka-Zeit eine hierarchische Gliederung der Sprachen an. Veränderungen der wirtschaftlichen und politischen Lage können hier unvermittelt den Prozess der sprachnationalen Selbstidentifikation, der Schulwahl bzw. des ,Sprachverhaltens‘ im weiten Sinne des Wortes dynamisieren (vgl. Kremnitz 2004: 162). Datenmaterial zur Analyse des individuellen Bilingualismus bieten in erster Linie Schulkataloge und Jahresberichte ausgewählter Institutionen mit deutscher Unterrichtssprache aus dem schulischen Umfeld Franz Kafkas sowie zum Vergleich einer tschechischsprachigen Einrichtung ebenfalls aus dem Alten Kern Prags148. Die Tatsache, dass in diesem Teil der Stadt auch der Großteil der jüdischen Einwohner lebt, erlaubt zudem eine besondere Berücksichtigung dieser Einwohnerschaft in Prag. Ziel ist es, zu der im Rahmen des historischen Korpus möglichen Untersuchung des ,Sprachverhaltens‘ der einzelnen mono- und bilingualen Sprecher, insbesondere ein dynamisches sozioökonomisches Profil der Träger des Bilingualismus im Böhmen der Kafka-Zeit zu erstellen sowie den Stellenwert des individuellen Bilingualismus vor dem Hintergrund der kollektiven Zweisprachigkeit der böhmischen Gesellschaft zu charakterisieren. 148

Vgl. hierzu die Ausführungen in Kapitel 5.1.1.1.

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2.2.3.2

Historisches Datenmaterial und seine ,nationalen‘ Kategorien

Bisher bildeten die Grundlage statistischer Berechnungen zur Einschätzung des individuellen Bilingualismus in zeitgenössischen wie auch neueren Arbeiten meist die Ergebnisse der österreichischen Volkszählung (vgl. u.a. Cohen 1981; Rauchberg 1905; Kořalka 1991)149 oder auf die Domäne Schule bezogen, offizieller und monarchieweit durchgeführter Schulstatistiken (vgl. u.a. Burger 1995; Havránek 1996).150 Eine ähnliche Ausgangslage und damit ebenfalls begrenzte Aussagekraft besitzen auch die etwa von Luft (2001) bearbeiteten Jahresberichte der Prager Gymnasien, die Angaben zur Sprache oder zum Religionsbekenntnis – wohl bewusst auf politische Korrektheit bedacht – nur getrennt und auch nur je Klasse beinhalten. Eine differenzierte quantitative und qualitative Einschätzung des individuellen Bilingualismus in Böhmen, der „von einer mehr oder weniger vollkommenen Beherrschung des Deutschen bis zum geradebrechten sogenannten Kucheldeutsch“ (Trost 1965: 25) reicht151, „immer ungleichmäßig“ (Trost 1980: 273) ist und von Pavel Trost ferner in „die Zweisprachigkeit der Tschechen, die Zweisprachigkeit der Deutschen und der Juden sowie die Zweisprachigkeit der ,Utraquisten‘“ (ebd.) unterteilt wird, existiert bisher nicht.152 Auf der Basis der Angaben in den Schulkatalogen setzten lediglich Nekula (2003) und Newerkla (1999) erste Akzente, wobei letzterer Schulen in Pilsen untersucht und sein Interesse auf den Sprachgebrauch innerhalb der Einrichtungen konzentriert. Die drei genannten Materialgrundlagen – Volkszählungen, Jahresberichte und Schulstatistiken, Schulkataloge – beziehen sich zwar indirekt jeweils auf die Kategorien ,Deutsche‘ und ,Tschechen‘, unterscheiden sich aber in ihren Erhebungsmethoden.153 Bei den Volkszählungen154 wird ab dem Jahr 1880 die Frage nach der Umgangssprache integriert, die anders als im ungarischen Teil der Habsburger Mo-

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Zur österreichischen Volkszählung vgl. insb. Brix (1982). Für zeitgenössische Monographien bzw. Quellen zum österreichischen Schulwesen vgl. Strakosch-Grassmann (1905); Fischel (1901/10). „‚Kucheldeutsch‘ ist ein sozial bedingter Jargon der Tschechen, die als Angestellte oder Bedienstete bei wirtschaftlich und gesellschaftlich höhergestellten Deutschen oder Juden täglich mit der deutschen Sprache in Berührung kamen“ (Skála 1966: 89). Auch Zeitgenossen haben sich – wohl aus ideologischen Gründen – nicht mit dem Umfang und Niveau der Zweisprachigkeit auseinandergesetzt: „Die Statistiker Österreichs bzw. Böhmens haben nicht gezählt, wieviele Personen in Prag beide Landessprachen und in welcher Qualität beherrschten. Auch für Verwaltungsfachleute, Politiker oder Journalisten bestand offensichtlich kein Bedarf, die Sprachenkompetenz zu kennen oder zahlenmäßig erfassen zu lassen“ (Luft 1996: 148). Zur indirekten Evozierung der (nationalen) Kategorien vgl. Quasthoff (1973); Nekvapil (1997); Nekula (2005). Vgl. Österreichisches statistisches Handbuch für die im Reichsrate vertretenen Königreiche und Länder. Statistik (1883-1914). Hg. von der k. k. Statistischen Central Commission. Wien: Hölder; Gerolds.

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narchie und ziemlich realitätsfern lediglich mit einer155 der acht landesüblichen Sprachen beantwortet werden darf.156 Weitergehende Differenzierungen beispielsweise nach der Umgangssprache in der Familie und jener im Berufsleben standen damit nie zur Diskussion, sodass bereits die Konzeption des Zensus einen die Eindeutigkeit und Aussagekraft seiner Ergebnisse beschränkenden polarisierenden Effekt birgt (vgl. Luft 1996: 146). Die statistische Erhebung wird durch die Gemeinden durchgeführt und schließt eine Revision zu Kontrollzwecken ein. Die Erhebungseinheit bildet die Wohnpartei, ihr wird dementsprechend der ,Anzeigezettel‘ zur Ausfüllung zugeteilt. Die Angaben in den Zählformularen bestimmen schließlich die Familienoberhäupter. Da aber dieses System der Selbstausfüllung ein gewisses Maß an Bildung voraussetzt, kann es ausschließlich in den städtischen Siedlungsformen und dort nur zum Teil praktiziert werden.157 Bei der zweiten, weitaus üblicheren Methode der Zählung werden eigens sogenannte ,Volkszählungskommissäre‘ bestellt. Von den Gemeinden vorgeschlagen und den staatlichen Behörden bestätigt gehen sie von Haus zu Haus und verfassen entsprechend der mündlichen Angaben der Familienoberhäupter die für die Zählung vorgesehenen ,Aufnahmebögen‘. An diesem Vorgehen bzw. der nationalen Zusammensetzung der ,Volkszählungskommissäre‘ wird häufig Kritik geübt, da sie immensen Einfluss auf die Angabe und Verzeichnung der Umgangssprache besitzen, die schließlich die Grundlage für vielerlei Ansprüche v.a. in den „nationalen Berührungszonen“ (Brix 1982: 253) darstellte (vgl. Brix 1982: 32-33).158 Die Zählungsergebnisse werden zu Berechtigungsausweisen für die Politik der nationalen Mehrheit, zur Lebensfrage für die Minderheiten, denn die örtliche oder provinzielle Gewährung von Rechten an diese (Sprachengebrauch bei den Behörden, Einrichtung von Schulen, Vertretung in den Verwaltungen) wird von ihrer ermittelten Kopfzahl abhängig gemacht (Hassinger 1925: 125).

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Es ist anzunehmen, dass es, wenn nicht gar administrativ und politisch erwünscht, so doch hilfreich und sehr bequem war, von einer fiktiven Einsprachigkeit der Bevölkerung oder zumindest einer klar dominanten Sprache auszugehen (vgl. Luft 1996: 148). Die in Zisleithanien landesüblichen Sprachen sind: Deutsch, Böhmisch-Mährisch-Slowakisch, Polnisch, Ruthenisch, Slowenisch, Serbisch-Kroatisch, Italiensisch-Ladinisch, Rumänisch. In Böhmen und Mähren anerkannte Landessprachen und damit ausschlaggebend für die rechtlichen Ansprüche der Sprachgemeinschaften sind Deutsch und Böhmisch-Mährisch-Slowakisch. Dieses Verfahren der Selbstausfüllung wird in Städten mit eigenem Status, in den Landeshauptstädten und in von der politischen Behörde bestimmten Gemeinden angewendet. Jedoch konnten Teile der Bevölkerung wegen mangelnder Bildung die Fragen der Volkszählung zum Teil gar nicht lesen, geschweige denn verstehen oder sinngemäß beantworten (vgl. Brix 1982: 33). Eine Trennung in Gebiete mit der Durchführung der Volkszählung mittels ,Anzeigezettel‘ und solche mittels ,Aufnahmebögen‘ kann auf Grund der nationalen Agitationen nicht vollzogen werden. Den Bemühungen um eine generell einheitliche Erhebung mittels Selbstausfüllung steht das immense Bildungsgefälle entgegen (vgl. Brix 1982: 33).

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Neben den städtischen Siedlungen in Nordwestböhmen kommt es gerade in Prag, wo eine rückläufige Zahl deutschsprachiger Bewohner lebt (vgl. Tabelle 3: 112), zu ,praktischen‘ Konflikten und zu den einzigen, konsequent verfolgten deutschböhmischen Beschwerden in Bezug auf die Durchführung der Sprachenzählungen in Böhmen (vgl. Brix 1982: 292). Nachdem die Spitze des Prager Stadtmagistrats bereits seit 1861 tschechisch dominiert ist, sieht sich die aus der natürlichen Bevölkerungsbewegung im Rückgang befindliche deutsche Bevölkerung in den 1880er und 1890er Jahren auch aus allen anderen Stellen des Stadtmagistrats verdrängt. Zudem verringert sich ihre zahlenmäßige Stärke (auch absolut) durch die im Rahmen der österreichischen Volkszählungen zunehmende Assimilierung der ursprünglich deutschsprachigen jüdischen Bevölkerung Prags an die tschechische Mehrheit (vgl. ebd.). Die tschechische Dominanz in der Prager Gemeinde hat zur Folge, dass auch die ,Volkszählungskommissäre‘ von tschechischer Seite bestimmt werden, was sich im Rahmen der zweiten Zählungsmethode durchaus auswirkt. Ein gewisser Druck, zu dem sich die Prager Zählungsorgane öffentlich bekennen, wurde doch ausgeübt, und zwar in der Richtung, daß die Zählungsorgane Prags und der Vororte nicht zuließen, daß bei den tschechischen Dienstmädchen, welche in deutschen Familien bedienstet waren, die deutsche Sprache als ihre Umgangssprache eingetragen werde, wie es ihre Dienstgeber in den Zählungsbogen taten (zit. nach Brix 1982: 294).

Eine weitere Interpellation der deutschen Seite zu Ungesetzlichkeiten in der Durchführung der Volkszählung (1890) betrifft die Sprachenerhebung in Prag. Dem tschechischen Stadtmagistrat wird vorgeworfen, mit Hilfe von Revisoren entgegen der gesetzlichen Verordnungen statt der ,Umgangssprache‘ die ,Muttersprache‘ zu erheben; „diese ,überprüfenden‘ Organe [hätten] in vielen konstatierten Fällen nach der Muttersprache und Abstammung oder schlechthin nach dem Heimatorte gefragt“ (zit. nach Brix 1982: 262). Abgesehen von diesem aktiven Handeln seitens des tschechischen Magistrats oder seiner Vertreter verändert selbst schon die Präsenz der tschechischsprachigen ,Volkszählungskommissäre‘ die Befragungssituation – nicht zuletzt v.a. bei der jüdischen Bevölkerung, die im nationalen Kräftemessen von beiden Seiten für sich beansprucht wird.159 Mit Labov gesprochen liegt hier eine ,formale Situation‘ (vgl. Labov 1971) vor, in der sich tschechischsprachiger Beamter und Prager Bürger gegenüberstehen. Dadurch verkehrt sich die aus Perspektive der Monarchie gültige soziale Situation in, der das Deutsche als H-Varietät betrachtet wird, ins Gegenteil und fördert den Kodewechsel zum Tschechischen. Die Angabe ‚Deutsch‘ als Umgangssprache besitzt keine Neutralität mehr. Daher wundert es nicht, dass sich in den Volkszählungen deutsche Muttersprachler zur tschechischen Um159

Nach Brix übt das jüdische Element „nahezu die Funktion eines Gradmessers der nationalen Kräfteverschiebungen“ aus, da es sich meist „aus wirtschaftlichem Interesse [...] der in einem Land, nicht unbedingt zahlenmäßig, vorherrschenden Sprache“ (Brix 1982: 257) anschließt.

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gangssprache bekennen oder sich nachträglich die bei der Volkszählung erhobene Angabe ‚Deutsch‘ auf ‚Tschechisch‘ korrigieren lassen, wie dies etwa der jüdische Spitzenhändler Wilhelm Feigl, Nachbar der Familie Kafka, praktiziert – u.a. auch aus Rücksicht auf seinen tschechischen Kundenkreis (vgl. Krolop 1968: 42-43). Eine neutrale Angabe zur Sprache ist zudem kaum mehr möglich, da die Aussage über die Umgangssprache und die sprachliche Identität oft – obwohl per Gesetz verboten – als nationales Bekenntnis bzw. als Aussage über die eigene nationale Identität gewertet wird und dadurch weitaus größerer Konformitätsdruck entsteht (vgl. auch Nekula / Fleischmann / Greule 2007: 9). Die Kategorien ‚Deutsche‘ und ‚Tschechen‘ basieren in diesem Falle also auf der deklarierten Umgangssprache. An der Familie Kafka zeigt sich deutlich, dass diese ‚nationale Identität‘ in gewisser Weise nicht nur erzwungen ist, sondern dass sie auch das Phänomen der Mehrsprachigkeit der Familie verschleierte. Eine wissenschaftliche Untersuchung der Zweisprachigkeit ist auf der Grundlage solcher Quellen kaum möglich. In den offiziellen Schematismen der Volks- und Bürgerschulen (1890 und 1900)160 wird die Zahl der Schulkinder je öffentlicher Einrichtung nach Geschlecht, Konfession (protestantisch, katholisch, israelisch) und Sprache (deutsch, böhmisch, deutsch-böhmisch) angegeben. Die Beschaffung der Materialien erfolgte in der Weise, dass jeder Leiter einer Volksschule einen Fragebogen über dieselbe auszufüllen hatte, auf welchem der allgemeine Charakter der Schule, ihre Einrichtung und der Umfang des Unterrichtes, das Lehrpersonal nach Namen und persönlichen Eigenschaften und der Schulbesuch nach allen für die Unterrichts-Verwaltung belangreichen Gesichtspunkten zu verzeichnen waren. Diese Fragebogen waren von den Bezirks-Schulinspectoren zu überprüfen und gelangten unter Vermittlung der Landes-Schulbehörden an die k. k. statistische CentralCommission, welche mit der Bearbeitung derselben und der Aufstellung der Volksschul-Statistik betraut war (Schematismus 1891: III).

Zur Gliederung der Schülerschaft nach den Sprachen wird festgehalten: Die Erhebung selbst hatte in der Weise stattgefunden, dass für jede einzelne Schule die Anzahl der Kinder anzugeben war, welche nur eine der in den Reichsrathsländern landesüblichen Sprachen sprechen und dann die Anzahl jener, welche sich mehrerer dieser Sprachen bedienten und zwar getrennt für jede einzelne an der betreffenden Schule vorkommende Combination von Sprachen (Schematismus 1891: VIII).

Es ist davon auszugehen, dass die Sprachkenntnisse der Schulkinder von den Klassenlehrern entweder eigenständig eingeschätzt oder – und dies erscheint wahrscheinlicher – durch Befragung der Schüler/-innen Eltern festgestellt wurden. Die Möglichkeit einer Mehrfachantwort entschärfte die Befragungssituation wesentlich und bewirkte außerdem, dass statt der nationalen die sprachliche Identität 160

Schematismus der Allgemeinen Volksschulen und Bürgerschulen in den im Reichsrathe vertretenen Königreichen und Ländern (1891, 1902). Hg. v. der k. k. Statistischen CentralCommission. Wien: Alfred Hölder.

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stärker in den Vordergrund trat. Die sprachnationalen Kategorien ,Deutsche‘ und ,Tschechen‘, werden theoretisch um die Kategorie der ,nationalen Utraquisten‘ ergänzt. Bis zur zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts bezeichnet ,Utraquismus‘ primär Zweisprachigkeit161. Durch die nationale Polarisierung erfährt der Begriff jedoch eine semantische Erweiterung und schließt fortan ,nationale Indifferenz‘ mit ein. Utraquisten in diesem Sinn waren diejenigen, welche sich weder als nationaldeutsch noch als nationaltschechisch, sondern höchstens als Böhmen oder Österreicher betrachteten und sich aus dem immer erbitterter geführten Nationalitätenkampf heraushielten (Trost 1980: 274).

Zu der Gruppe der ,nationalen Utraquisten‘ gehören also jene Prager und Böhmen, für die Sprache und kollektive (nationale) Identität, sprachliche Herkunft und subjektives nationales Bekenntnis und nationale Zugehörigkeit nicht zwingend eine Einheit darstellen.162 In jedem Falle ermöglichen die statistischen Angaben aus dem offiziellen Schematismus der Volks- und Bürgerschulen, die dank ihrer erneuten Durchführung zehn Jahre später (1900) auch eine Beurteilung der Entwicklung des sozialen Bilingualismus erlauben, bereits eine Annäherung an die territoriale Verbreitung des individuellen – auch Kafka eigenen – Bilingualismus in Böhmen und an seine Verteilung innerhalb der Religionsgemeinschaften. Sie bieten, da die Angaben je Schule erfasst sind und Franz Kafka im Jahr der ersten Erhebung des Volksschulschematismus 1889/90 gerade die erste Klasse besucht, eine hervorragende Vergleichsbasis für die vorliegende Arbeit. Bisher wurde in der Forschung diese Quelle in Bezug auf die Schullandschaft in Prag und speziell Franz Kafka kaum ausgewertet (vgl. Fleischmann 2007). Die Schulkataloge stellen schließlich in vielfacher Hinsicht eine einmalige Materialgrundlage für die Charakterisierung der sprachlichen Entwicklung, nicht nur 161

162

„Zunächst verstand man unter den ,Utraquisten‘ die Zweisprachigen, die Anfang des 19. Jahrhunderts neben den ,Stockböhmen‘ (einsprachig tschechischer Bevölkerungsteil) und den Deutschen die dritte sprachliche Gruppe bildeten. „Die Utraquisten waren die etwas besser gestellten städtischen Kleinbürger im Landesinnern; sie waren überwiegend ,von Haus aus‘ Tschechen, und das nach der Sprache und weniger nach der nationalen Gesinnung. Aber auch die Intelligenz tschechischer Herkunft, selbst wenn sie nationaltschechisch gesinnt war, muß in diesem Sinn den Utraquisten zugerechnet werden, denn die Angehörigen dieser Gruppe hatten ihre Bildung in deutschsprachigen Schulen erhalten und mußten sich im Beruf der deutschen Sprache bedienen“ (Trost 1980: 273). Die ,nationalen Utraquisten‘ stellen keine geschlossene Gemeinschaft dar. Jene, die ihre Identität vorrangig über konfessionelle, soziale oder regionale Zusammengehörigkeit gewinnen, stehen den bilingualen Vermittlern gegenüber, deren nationale Zugehörigkeit für sie selbst und für andere eindeutig ist, die sich aber nicht den Abgrenzungsnormen und Solidarisierungszwängen anpassen wollen. Aus sozialer Perspektive sind insbesondere drei Großgruppen betroffen: der Adel, die Prager und böhmischen Juden sowie die sozialdemokratische Arbeiterschaft (vgl. Luft 1996: hier 152-153).

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Franz Kafkas, im Kontext der Schule dar. Durch sie kann die konkrete Zusammensetzung der Klassen rekonstruiert werden, und zwar nicht auf Grund der sprachlichen Bekenntnisse, sondern auf Grund der sprachlichen Kenntnisse der einzelnen Schüler. Die infolge der Angabe der Muttersprache evozierten / aktualisierten eindimensionalen Kategorien ,Deutsche‘ und ,Tschechen‘ sind im Kontext der formalen Einschreibesituation an der deutschen Volksschule nicht uneingeschränkt zuverlässig (vgl. Kapitel 5.3.1: 338). Jedoch kann diese in erster Linie sprachliche – und nicht nur oftmals von den Lehrern als ,national‘ interpretierte – Identität durch die mittels der Noten festgehaltenen Sprachkenntnisse und weitere Angaben zur territorial-sprachlichen und sozialen Herkunft, die je Schüler ,in Kombination‘ erhalten sind, ergänzt werden. Denn die proklamierten ,Tschechen‘ und ,Deutschen‘ verfügen nicht nur über die jeweils ,andere‘, sondern auch über die ,eigene‘ Sprache in unterschiedlichem Ausmaß, sodass ihr Bilingualismus von der Ausrichtung und Intensität her sehr unterschiedlich ausgeprägt ist. Gerade in der Zeit des sprachnationalen Ringens ist dabei die Kombination des realen Bilingualismus, des deklarierten bzw. interpretierten nationalen Bekenntnisses und der religiösen Orientierung von Interesse. Ergänzt wird diese Zusammensetzung noch durch die jeweiligen Angaben zum Geburts- und Wohnort der Schulkinder sowie zum Beruf des Vaters, sodass die Entwicklung des individuellen tschechischdeutschen Bilingualismus allgemein in konfessioneller, sozialer, territorialer und sprachlicher Hinsicht charakterisiert werden kann. Am Beispiel der Familie Kafka gilt es, dieses Zusammenspiel in einer Mikrosituation zu betrachten und speziell im Hinblick auf die Dynamik sprachlicher Identität und die Motivationsgründe für den gesteuerten Zweitspracherwerb bzw. die Festigung eines bereits ,natürlich‘ erworbenen Bilingualismus durch die auf der Mesoebene im Rahmen der empirischen Analyse an den Schulen erlangten Ergebnisse zu bereichern.

2.2.3.3

Zur Klassifizierung des individuellen Bilingualismus an den untersuchten Schulen

In der vorliegenden Untersuchung der Schülerschaft an den deutschen Prager Volksschulen und Gymnasien handelt es sich in erster Linie um sukzessiven und gesteuerten Zweitspracherwerb (je nachdem Deutsch oder Tschechisch), denn im Mittelpunkt der Betrachtung steht der im Rahmen der Sekundärsozialisation durch die Institution Schule vermittelte Erwerb der jeweils anderen Landessprache. Allerdings ist im zweisprachigen Prag nicht von ausschließlich extrakommunikativ und allein im Schulunterricht erworbenen Sprachkenntnissen auszugehen. Man könnte sagen, dass zwar die Beschaffung der Materialgrundlage zur Analyse des individuellen Bilingualismus auf die Domäne Schule, den zentralen Bereich des gesteuerten Zweitspracherwerbs, begrenzt ist, mittels der Parameter ,Geburtsort‘ und ,Wohnort‘ aber Aspekte des simultanen und ungesteuerten Spracherwerbs nicht ausgeschlossen werden. Tschechische Politiker klagen an, dass die deutschen Volks- und Bürgerschulen von tschechischen Eltern zum Teil als

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,Sprachschulen‘ interpretiert werden und die Kinder ohne oder mit nur geringen Deutschkenntnissen dorthin geschickt werden.163 In diesem Falle wird über das sukzessive Aneignen der zweiten Sprache ein zusammengesetzter Bilingualismus angestrebt. Entsprechend dem Lebensalter der Kinder im Primarschulwesen ist deren potenzielle Zweisprachigkeit in die Kategorie des frühen (early / child) Bilingualismus einzuordnen. Gleiches gilt für die Gymnasien, da hier keine Schüler ohne Kenntnis der Unterrichtssprache zugelassen werden und damit gegebenenfalls ein individueller Bilingualismus bereits vorhanden ist, der noch weiter ausgebaut werden kann. Im Prag der Kafka-Zeit sind die Voraussetzungen für endogene Zweisprachigkeit erfüllt, wenn auch nicht zwingend der intime Familienkreis, so doch das allgemeine soziale Umfeld sowohl von der tschechischen als auch der deutschen Sprachgemeinschaft geprägt ist und in der Gesellschaft beide Sprachen als Kommunikationsmittel dienen. Die Betrachtung des individuellen (und auch des kollektiven) Bilingualismus wird auf die Sprachen Deutsch und Tschechisch beschränkt. Weitere gelehrte Fremdsprachen, wie etwa Französisch, werden nur in ihrer möglichen Konkurrenzfunktion als alternatives Wahlfach zur tschechischen oder deutschen Zweitsprache berücksichtigt, auch wenn in den Prager bürgerlichen Familien – etwa durch Gouvernanten – durchaus die Voraussetzungen für einen ungesteuerten Erwerb des Französischen gegeben waren. Die soziale Realität Prags schränkte allerdings Domänen für den aktiven Einsatz des Französischen deutlich ein. Zudem kann in der vorliegenden Arbeit eine etwaige bidialektale Zweisprachigkeit nicht berücksichtigt werden.164 Die gegebene Materialgrundlage kann eine Überprüfung der tatsächlichen Verwendung der Sprache im Alltag und damit auch eine Unterscheidung zwischen Zweitsprache und Fremdsprache (vgl. Kapitel 2.2.1.2: 65; Dietrich 2004b) kaum gewährleisten. Doch bietet die Bevölkerungsstruktur im Prag der Kafka-Zeit die sprachlichen Rahmenbedingungen, unter denen der Einsatz sowohl des Deutschen 163

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So heißt es etwa in einem Aufruf an die tschechischen Eltern, ihre Kinder in Einrichtungen mit tschechischer Unterrichtssprache einzuschulen: „Často se však stává, že čeští rodiče z nerozumné starostlivosti o budoucnost svých dítek dávají tyto do škol německých, a to jedině za tou příčinou, aby se dítky jejich přiučily němčině. [...] bud’ dávají čeští rodiče děti své do škol německých již v prvním roce školní návštěvy, jakmile totiž začne jejich školní povinnost aneb je tam posílají později ze třídy čtvrté nebo páté školy obecné.“ [Oft passiert es allerdings, dass tschechische Eltern aus widersinniger Besorgtheit um die Zukunft ihrer Kinderlein diese in deutsche Schulen geben, und das nur zu dem Zwecke, dass ihre Kinder Deutsch lernten. [...] entweder geben tschechische Eltern ihre Kinder bereits im ersten Jahr des Schulbesuchs, so wie ihre Schulpflicht beginnt, oder sie schicken sie erst später aus der dritten, vierten oder fünften Volksschulklasse dorthin. – Übersetzung I.S.] Vgl. AHMP: MHMP I, Hlavní spisovna 1784-1920, odd. C, 1891-1900, Sign. C 24/44, kt. 541. Vgl. hierzu Leeuwen-Turnovcová (2001; 2005), die zwischen Innendiglossie einerseits – in Bezug auf das Standard- bzw. Hochtschechische (spisovná čeština) und das Gemeintschechische (obecná čeština) – und Außendiglossie – in Bezug auf das Tschechische und Deutsche – andererseits unterscheidet.

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als auch des Tschechischen zum Alltag gehören kann (vgl. Kapitel 3.1.2), und die Benotung der Sprachkenntnisse in der Domäne Schule einen Anhaltspunkt für eine leistungsbetonte Differenzierung zwischen Fremd- und Zweitsprache. In der empirischen Studie werden daher Personen mit deutsch-tschechischen bzw. tschechisch-deutschen Sprachkenntnissen untersucht, unabhängig davon, ob sie sich die jeweils andere Sprache in erster Linie oder auch nur zum Teil als Zweitsprache (vgl. Kapitel 2.2.1.2: 65), d.h. ungesteuert und nach Abschluss des Erstspracherwerbs, oder als Fremdsprache, d.h. über gesteuerten Zweitspracherwerb primär vermittelt durch die Schule, angeeignet haben. Relevanz erhält diese Unterscheidung in Bezug auf den mittels der Noten festgestellten Grad der deutschtschechischen Sprachbeherrschung. Als Indikatoren eines Zweitspracherwerbs können die Sprachverteilung im Geburts- bzw. Wohnort sowie insbesondere bei der ,deutschen‘ Schülerschaft eine gewisse soziale Stellung (oft tschechischsprachige Haushaltshilfen) angesehen werden. Im Vergleich mit reinen Fremdsprachenlernern ist bei dieser in Ansätzen ,natürlich zweisprachigen‘ Gruppe, deren Bilingualität sich zunächst v.a. auf die gesprochene Sprache bezieht, auch ein höherer Grad an Sprachkompetenzen in Bezug auf die geschriebene Sprache zu erwarten. Daher wird im konkreten Kontext der Volksschulen und Gymnasien in Prag bei den deutschen Muttersprachlern an Institutionen mit deutscher Unterrichtssprache unterschieden zwischen jenen, die das Wahlfach Tschechisch belegen und denen, die sich durch besondere Leistungen in Tschechisch auszeichnen. Referenzwert hierfür bietet der Notendurchschnitt der Klasse (bis 1881/82) bzw. der tschechischen Muttersprachler (ab 1882/83) im Fach Tschechisch.165 Von der Teilnahme am Wahlfach ist lediglich auf eine grundsätzliche Bereitschaft zum Spracherwerb zu schließen, die mit Blick auf den kollektiven Bilingualismus und die Entscheidung für den Erwerb der deklarierten L-Varietät– ob als Zweit- oder Fremdsprache – und der so ausgedrückten höheren Wertigkeit (vgl. hierzu auch Kapitel 3: 97) als Hinweis auf den Wandlungsprozess einer diglossischen Gesellschaft interpretiert werden kann. Die ,qualifizierten‘ Schüler/-innen bilden eine Subgruppe der Wahlfachteilnehmer, die auf Grund ihrer bewerteten Sprachkenntnisse als – zumindest potenziell – bilingual einzustufen sind. Die Gruppe der tschechischen Muttersprachler an Volksschulen und Gymnasien mit deutscher Unterrichtssprache166 wird generell als bilingual betrachtet, denn diese Immersion im Rahmen der Sekundärsozialisation ist bis in die 1860er Jahre die allgemein anerkannte Grundlage für die Ausbildung tschechisch-deutscher Zweisprachigkeit in Böhmen (vgl. u.a. Burger 1995; Trost 1980). Was den Grad der Sprachbeherrschung angeht, denn nach obiger Definition steht ja nicht die Frage im Mittelpunkt, ob eine Person zweisprachig ist, sondern 165 166

Vgl. hierzu ausführlich Kapitel 5.3.2.1. Der umgekehrte Fall – d.h. deutsche Muttersprachler an Einrichtungen – existiert faktisch nicht (vgl. Kapitel 5.1.3.1.1; Kapitel 5.1.3.2.1).

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Begriffsbestimmung

auch wie zweisprachig sie ist, können die grundsätzlich verschiedenen Aspekte der Sprachkompetenz (Grammatik, Vokabular und Phonologie bzw. Verstehen, Sprechen, Schreiben und Lesen) zumindest für das Deutsche annäherungsweise mit Hilfe der Noten in den einzelnen Fächern (Rechtschreiben, Sprachlehre, schriftlicher Gedankenaustausch, gegebenenfalls Lesen und Rechnen) operationalisiert werden. Für das Tschechische existiert an den deutschsprachigen Institutionen lediglich ein Unterrichtsfach und damit auch nur eine Note.167 Da das vorhandene historische Datenmaterial allerdings eine detaillierte Analyse der jeweiligen Sprachkompetenzen nicht zulässt, soll der Grad der Zweisprachigkeit hauptsächlich in komparativer Art und Weise zwischen den ethnisch, sozial und regional bestimmten Gruppen dargestellt und vorrangig die starke bzw. schwache Sprache bzw. die Symmetrie oder Asymmetrie des vorhandenen Bilingualismus bestimmt werden. Die Noten der Schüler in den verschiedenen Disziplinen und in der jeweils anderen Landessprache bieten – auch unter Berücksichtigung sämtlicher Einwände und Einschränkungen, z.B. im Hinblick auf die subjektive Bewertung durch die Lehrer – ausreichend Grundlage, um die Verteilung der Sprachkompetenzen tendenziell im gegebenen Kontext einschätzen und damit ausgewogene oder dominant bilinguale Fertigkeiten feststellen zu können. Grundsätzlich ist immer zu berücksichtigen, dass der ,tschechische‘ Teil der Schüler an einer Einrichtung mit deutscher Unterrichtssprache viel stärker und intensiver mit seiner Zweit- oder Fremdsprache, dem Deutschen, konfrontiert wird, als die ,deutsche‘ Hälfte der Schüler, die im Kontext der Schule dem Tschechischen ,nur‘ in einem Fach, das zudem als Fremdsprachenunterricht konzipiert ist, begegnen.168 Bei 167 168

An den tschechischsprachigen Vergleichsschulen ist die Situation jeweils umgekehrt. Tschechisch wird differenziert unterrichtet und Deutsch nur in einem Fach. Auf der Grundlage der Analyse der an Kafkas Gymnasium (Deutsches Staatsgymnasium in der Altstadt) angewandten Tschechischlehrwerke kommt Nekula (2003: 143-151, hier 146) zu dem Schluss, dass der Tschechischunterricht zwar als Fremdsprachenunterricht konzipiert wurde, durchaus aber auch von vorschulischen Sprachkenntnissen ausgegangen ist. In den 1870er Jahren, als nur das tschechische akademische Gymnasium existiert (vgl. Kapitel 4.3.2.1), zeigt der statistische Ausweis über die Beteiligung an dem Unterricht in den relativobligaten Lehrgegenständen, dass die Schüler am deutschen Neustädter Staatsgymnasium am Graben im Fach ,böhmische Sprache‘ ab der fünften Klasse – offensichtlich entsprechend ihrer Sprachkenntnisse – in drei Gruppen aufgeteilt werden. Die erste Gruppe bilden die deutschen Muttersprachler von der fünften bis zur achten Klasse, die zweite und dritte Gruppe setzt sich aus den tschechischen Muttersprachlern einmal der fünften und sechsten und das andere Mal der siebten und achten Klasse zusammen. In den unteren Jahrgangsstufen findet der Unterricht je Klasse statt, eine Aufteilung nach der Muttersprache ist nicht ersichtlich (vgl. Jahresbericht deutsches NG 1875: 74). Ab dem Schuljahr 1875/76 wird bereits ab der dritten Klasse in eine „deutsche Abtheilung“ und eine „böhmische Abtheilung“ aufgeteilt (ebd. 1876: 74). Ab dem Schuljahr 1879/80 ist diese Unterscheidung wieder aufgehoben (vgl. ebd. 1879: 74) und davon auszugehen, dass der Tschechischunterricht am deutschen Gymnasium primär auf die deutschen Muttersprachler ausgerichtet ist. Für das ebenfalls relativ obligate Fach Französisch ist eine derartige Differenzierung nach der Muttersprache zu keinem Zeitpunkt gegeben und damit als erste Vermittlungssprache das Deutsche anzunehmen.

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tschechischen Schulkindern, die ihre gesamte Schullaufbahn in deutschen Institutionen absolvieren, zu Hause bzw. im außerschulischen Bereich primär ihre Muttersprache verwenden und diese gegebenenfalls auch als relativ obligates Wahlfach belegen, liegt somit aus der Perspektive der Zweitsprachenvermittlung eine totale frühe Immersion vor. Ihre Deutschkenntnisse werden in allen Fächern gefordert – Deutsch ist das alleinige Kommunikationsmittel zur Vermittlung des Unterrichtsstoffes – und können dadurch auch dort die jeweiligen Leistungen beeinflussen. Dabei wird unterstellt, dass die tschechischen Schüler sich freiwillig für eine tschechisch-deutsche Zweisprachigkeit entscheiden und damit einen additiven Bilingualismus anstreben. Sie wollen ihr Sprachrepertoire um das Deutsche erweitern und gleichzeitig die Kenntnisse ihrer Erstsprache, des Tschechischen, auf gleichem Niveau beibehalten bzw. auch – durch das Aneignen der Fertigkeiten im Lesen und Schreiben im Rahmen des relativ obligaten Tschechischunterrichts – weiterentwickeln. Aus der Sicht der deutschen Schüler kann nicht von einem Immersionsprogramm gesprochen werden, da sie an den untersuchten deutschsprachigen Institutionen Tschechisch ,bloß‘ in einem Fach als Sprachunterricht genießen und die spiegelbildliche Situation, d.h. deutsche Kinder an tschechischsprachigen Einrichtungen – wie zu sehen sein wird – kaum bis gar nicht auftritt.169 Zwar ist ,nationaler Utraquismus‘ nicht mit der Bikulturalität Hamers / Blancs (2000: 30) gleichzusetzen und damit kann auch nicht von mono- oder bikultureller Zweisprachigkeit gesprochen werden, doch beschreibt er gewissermaßen eine weitere Kategorie. Weder wird von seinen Vertretern mit dem Erwerb der zweiten Landessprache die eigene Kultur aufgegeben oder zusätzlich jene der zweiten Sprache erworben, noch verliert sich der Bilinguale im kulturellen Niemandsland. Vielmehr stehen andere als sprachnationale Kategorien und Unterscheidungsmerkmale und damit nicht die sich etablierenden sprachlich separierten National169

Sicherlich finden Submersionsprogramme, bei denen Kinder ethnischer Minderheiten mit Kindern der dominanten Gruppe unterrichtet werden, ohne dass die Minderheitensprache Berücksichtigung findet, gegen Ende des 19. Jahrhunderts keinesfalls staatliche Unterstützung. Im Grunde gilt die Förderung der Muttersprache bereits seit Maria Theresia als offizielles Ziel zisleithanischer Sprachenpolitik. Obgleich angesichts der gesellschaftlichen Rahmenbedingungen, der zunehmenden Bedeutung des Tschechischen und schließlich vor dem gesetzlichen Hintergrund des Sprachenzwangsverbots aus dem Jahr 1867 (vgl. hierzu Kapitel 4.2.1.2: 169) Fälle von Sprachwechsel erst recht bedeutend zurückgegangen sein dürften, sind sie selbst im Prag der Kafka-Zeit nicht auszuschließen. Zu denken ist hier beispielsweise an die Vertreter der deutschen Unterschicht (vgl. Binder 1996: 197), die meist außerhalb des Prager Zentrums und zudem verstreut im dominant tschechischsprachigen Gebiet angesiedelt sind. Dementsprechend besuchen die Kinder auch Schulen mit tschechischer Unterrichtssprache und nicht selten mag dies den Sprachwechsel zum Tschechischen und die Assimilierung an das Tschechentum (in der nächsten Generation) eingeleitet haben, da gerade die deutschsprachige Unterschicht einer Integration in das deutschsprachige liberale Verbandsleben entbehren musste (vgl. Cohen 1996b: 66). Die in der vorliegenden Arbeit untersuchten Schulen liegen jedoch im Zentrum von Prag, wo der Großteil der ,Deutschen‘ Prags lebt und damit keine vergleichbare ,sprachliche Isolierung‘ besteht. Zudem gibt es genügend Optionen zum Besuch einer Lehranstalt mit deutscher Unterrichtssprache.

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kulturen im Vordergrund. Beschränkt man ,utraquistisch‘ lediglich auf eine kulturelle, national indifferente Komponente, so wäre die Typologie Hamers / Blancs im böhmischen Kontext mit ,utraquistischer Zweisprachigkeit‘ zu ergänzen. In Bezug auf Prag und Böhmen betont Luft das gemeinsame Auftreten des individuellen Bilingualismus und Utraquismus: Die ,Leute zwischen den Nationalitäten‘ sowie ganze Sprach- und Kulturmilieus zwischen dem ,Deutschen‘ und dem ,Tschechischen‘ gehörten weit mehr zur gesellschaftlichen Realität in Prag vor und nach 1900 [...]. Es handelte sich bei den ,Menschen mit zwei Sprachkulturen‘ nicht um marginale Erscheinungen oder um Sonderexistenzen am Rande von Nationalgesellschaften, sondern um eine charakteristische und weitverbreitete, die historischen Bedingungen Böhmens wie der Habsburgermonarchie wesentlich prägende Lebensform (Luft 1996: 161).

Dennoch geht der Anteil zwischennationaler und zweisprachiger Gesellschaftsgruppen an der böhmischen Bevölkerung nach der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert beständig zurück (vgl. ebd.: 163). Allerdings weist Tara Zahra darauf hin, dass die Entwicklung zur Einsprachigkeit und die Aufgabe der sich über Jahrzehnte herausgebildeten Traditionen der Mehrsprachigkeit wie z.B. der ,Kindertausch‘ / ,Kinderhandl‘ in der tschechischen Arbeiterklasse und der Landbevölkerung weitaus weniger rasch voranschreiten. [...] many working-class and rural Czech-speaking parents were not easily convinced that they had a Czech national identity. It was even harder to persuade them that bilingualism or German schools were bad for their children, since bilingualism could still enhance a child’s social and cultural opportunities in the Bohemian lands (Zahra 2004: 505).

Diese Veränderung des ,Sprachverhaltens‘ der Prager Bevölkerung im Kontext des sich verschärfenden sprachnationalistischen Diskurses gilt es mit Berücksichtigung der soziostrukturellen Rahmenbedingungen des Deutschen und Tschechischen am Beispiel der Domäne Schule zu erörtern.

3

Deutsch und Tschechisch im Spiegel soziostruktureller Rahmenbedingungen im 19. Jahrhundert – unter Berücksichtigung einer soziolinguistischen Perspektive

Im Folgenden gilt es die Frage zu erörtern, ob und wie sich die sprachliche Situation im Böhmen des 19. Jahrhunderts mit dem klassischen Begriff der Diglossie von Ferguson und seiner Interpretation in Bezug auf multilinguale Situationen nach Fishman170 soziolinguistisch formatieren lässt. Eines der wesentlichen Merkmale einer diglossischen Sprachsituation ist Stabilität, ein eindeutig statischer Begriff. Die sprachliche Situation im Böhmen des 19. Jahrhunderts ist jedoch alles andere als stabil, sie ist hochgradig dynamisch. Bildhaft ausgedrückt verliert und erobert das Tschechische – wenn auch mit Rückschlägen – eine Domäne nach der anderen. Infolgedessen ändert sich auch die Verwendung der Varietäten in den einzelnen Bereichen. Dennoch ist bis Mitte des 19. Jahrhunderts bzw. bis in die 1860er Jahre die Unterscheidung in eine gehobene Varietät (High variety, H) und eine niedere Varietät (Low variety, L) auf die Stellung und den Gebrauch des Deutschen (als H) und Tschechischen (als L) in Böhmen bzw. in der tschechischen Sprachgemeinschaft applizierbar.171 In der Folgezeit, als die territorial-sprachliche Einheit entsprechend dem sprachnationalen Prinzip entflechtet wird – die ersten national autonomen Behörden sind die nach dem böhmischen Schulaufsichtsgesetz (1873) errichteten Ortsschulräte in gemischtsprachigen Gemeinden – ist dies kaum mehr möglich. In den Domänen Schule, Beruf, öffentlicher Verkehr und Kultur, die in einer Diglossiesituation mit komplementärer Verteilung der Funktionen klar in den Wirkungsbereich der H-Varietät fallen, etabliert sich die parallele Verwendung des Tschechischen. Gleichzeitig infiltriert es in anderen Domänen wie der Verwaltung und schränkt dort den Aktionsradius des Deutschen ein. Jedoch bleibt dem Tschechischen die Funktion der inneren Amtssprache mit dem Scheitern der Badenischen Sprachenverordnungen (1897) vorenthalten, sodass es bis zum Ende der Monarchie de jure zu keiner vollständigen Gleichberechtigung der beiden Landessprachen in der Administration kommt (politische Zentralämter, Eisenbahnverwaltung, Oberster Gerichts- und Kassationshof, Reichs- und Verwaltungsgericht, Dienst- und Befehlssprache des Militär). Die Vorherrschaft des Deutschen zeigt sich, abgesehen vom ausschließlich deutschen authentischen Reichsgesetzblatt, ferner darin, dass es in den Reichsratskammern die gebräuchliche Verhandlungssprache und in seinen Abordnungen 170 171

Vgl. hierzu die Ausführungen in Kapitel 2.2.2.2. Dabei ist Böhmen nur ein Beispiel von mehreren Ländern in der zisleithanischen Hälfte der Habsburger Monarchie. In Polen etwa ist die Situation sehr ähnlich.

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Deutsch und Tschechisch im Spiegel soziostruktureller Rahmenbedingungen

verpflichtend ist. Den Gebrauch und die Bedeutung des Tschechischen und Deutschen kennzeichnet demnach eine „soziolinguistische Asymmetrie“ (RindlerSchjerve 1997: 18), da zwar beide Sprachen in den Funktionsbereichen der HVarietät eingesetzt werden, die tschechische Sprache aber meist in geringerem Umfang. Die Anwendbarkeit des Diglossiebegriffs für die sich wandelnde Sprachsituation in Böhmen wird in einem weiteren Punkt problematisch, und zwar im Hinblick auf sich manifestierende regionale Unterschiede. Je nachdem, ob es sich um ,rein‘ deutsch-, ,rein‘ tschechisch- oder gemischtsprachige Gebiete handelt, differiert die Gewichtung der Sprachen und ihre Verteilung auf die einzelnen Domänen. In der autonomen Selbstverwaltung, insbesondere auf kommunaler Ebene werden dann auch typische Felder der H-Varietät, wie beispielsweise die (äußere und innere) Amtssprache in den lokalen Behörden, vom Tschechischen dominiert. Die heftigen Sprachkonflikte in den Orten und Gemeinden mit bedeutenden Anteilen beider Sprachgemeinschaften zeigen, dass von einer funktionalen Zuordnung der beiden Landessprachen zu H- und L-Varietät gewiss nicht die Rede sein kann. Vielmehr ist die Position der H-Varietät hart umkämpft und ihre parallele Besetzung wird auch nicht immer als Option ins Auge gefasst. Im Rahmen des dynamischen Modells der europäischen Soziolinguisten (vgl. Kapitel 2.2.2.2: 73) könnte dieser Konflikt aus tschechischer Perspektive als Verdrängungswettbewerb, aus deutscher Sicht als Substitutionsbestreben charakterisiert werden, allerdings besitzt diese Beschreibung nur partielle Gültigkeit, und zwar in den gemischtsprachigen Landesteilen. Unter Fokussierung der sprachlichen Dimension und ausgehend vom klassischen Begriff der Diglossie nach Ferguson und seiner Erweiterung nach Fishman auf multilinguale Gesellschaften lassen sich die oben skizzierten Entwicklungen, die von rechtlichen, sprachpolitischen Maßnahmen begleitet bzw. vor- und nachbereitet werden, folgendermaßen bezeichnen: als die Entwicklung von einer böhmischen Gesellschaft bzw. deutsch-tschechischen Sprachgemeinschaft, gekennzeichnet durch Diglossie und Bilingualismus, zu einer tschechischen Gesellschaft und Sprachgemeinschaft mit immer reduzierterer Diglossie bzw. zunehmender sozialer Zweisprachigkeit (vgl. Kapitel 2.2.2.2: 75), und wenn auch nicht ganz ohne, so doch mit einem massiven Schwund an Bilingualismus, wobei in der deutschen Gesellschaft und Sprachgemeinschaft die beiden Merkmale relativ schwächer ausgeprägt sind. Diglossie bezieht sich dabei auf die funktionale Verteilung des Sprachgebrauchs auf die verschiedenen Domänen und auf die jeweilige soziale und ökonomische Wertigkeit der beiden Landessprachen, während Bilingualismus als individuelle Zweisprachigkeit172 zu verstehen ist, die mit tschechischdeutschen Kenntnissen lange Zeit beim Großteil der (tschechischen) Sprachgemeinschaft weit verbreitet ist. Entsprechend dem dynamischen Diglossiemodell 172

Zur Definition des individuellen Bilingualismus vgl. Kapitel 2.1.1.

Deutsch und Tschechisch im Spiegel soziostruktureller Rahmenbedingungen

97

der europäischen Soziolinguistik (vgl. Kapitel 2.2.2.2: 73) zeichnet sich in dieser Entwicklung bereits der ,Normalisierungsprozess‘ ab – die Verdrängung der HVarietät (Deutsch) durch die beherrschte L-Varietät (Tschechisch) –, der schließlich mit der Umkehrung des politischen und gesellschaftlichen Kräfteverhältnisses durch die Gründung der Tschechoslowakei seinen Abschluss findet. Der Wandlungsprozess, der den Gebrauch des Deutschen und Tschechischen im Laufe der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts kennzeichnet, wird von extralinguistischen Faktoren einerseits mitausgelöst und andererseits ebenso reflektiert. Mit Hilfe einzelner Variablenkomplexe gilt es nun, die deutsch-tschechische Kontaktsituation in der Habsburger Monarchie, v.a. aber in Böhmen und Prag zu charakterisieren. Zum einen zählen hierzu Faktoren, die die demographische Entwicklung kennzeichnen. Zum anderen ist dies der Status des Deutschen und Tschechischen, der auf ihrer jeweiligen Einbettung in institutionelle Strukturen und ihrer Wertigkeit durch die sie gebrauchende Sprach- oder Sprechergemeinschaft beruht.173 Aus diachroner Perspektive werden Verschiebungen des Sprachgebrauchs in bestimmten Domänen offengelegt und die Konstellation des Deutschen und Tschechischen auf dem Weg von der Diglossie zur sozialen Zweisprachigkeit dargestellt. Auf diese Weise wird zudem der makrostrukturelle Rahmenkontext geschaffen, vor dessen Hintergrund die Analyse des individuellen Bilingualismus an den Prager Schulen zu sehen ist. Die demographischen Faktoren werden hinsichtlich der Anzahl der Sprecher einer Gruppe und deren Verteilung getrennt. In erster Linie entscheidend für die Durchsetzungsfähigkeit und das Ausmaß des Gebrauchs einer Sprache ist die absolute Größe der Sprachgemeinschaft, deren Aussagekraft durch eine ergänzende Differenzierung nach natürlicher Bewegung (Geburten, Todesfälle) und Migrationsbewegung präzisiert wird. Mit der Verteilung der Bevölkerung, d.h. der räumlichen Konzentration bzw. Isolation der Deutsch- und Tschechischsprecher, 173

Die Definition der Variablenkomplexe findet in Anlehnung an Ammon (1989) sowie an das Konzept der ethnolinguistischen Vitalität von Giles, Bourhis, Taylor (vgl. Giles et al. 1977) statt, wo sie in ihrer Kombination zur Beschreibung der Leistungs- und Entwicklungsfähigkeit einzelner Sprachen in multilingualen Gesellschaften dienen. Vgl. Bourhis (2001: 103) für eine systematische Darstellung der Variablenkomplexe des Modells der ethnolinguistischen Vitalität in aktualisierter Version. In der vorliegenden Darstellung konnten nicht alle einzelnen Variablen, v.a. auch wegen des historischen Charakters des Themas, berücksichtigt werden. Die Bestimmung des Status der beiden Sprachen orientiert sich an Viereck et al, die Dimensionen am Beispiel des Englischen ausführen– d.h. auf Basis der offiziellen Verwendung in öffentlichen Bereichen wie Politik, Verwaltung, Rechtsprechung sowie der Stellung im Bildungs- und Unterrichtswesen einerseits und der Präsenz in Massenmedien (Runfunk, Fernsehen, Presse, Buchpublikationen) andererseits (vgl. Viereck 2002: 193, 195, 238-245). Gleichzeitig kann eine Sprache durch die Verwendung in einer bestimmten Sprach- oder Sprechergruppe mit einer bestimmten Wertigkeit verbunden werden. So haftet beispielsweise der Sprache Afrikaans in Südafrika immer noch das „Stigma der Herrensprache“ (ebd. 241) an oder wird der Gebrauch des Englischen in Ländern mit Englisch als Zweitsprache getragen von bestimmten gesellschaftlich einflussreichen Schichten (vgl. ebd.: 199).

98

Deutsch und Tschechisch im Spiegel soziostruktureller Rahmenbedingungen

wird ein – insbesondere bei Assimilierungstendenzen – bedeutender Faktor der demographischen Stärke berücksichtigt (vgl. hierzu Giles et al. 1977: 312-315, Achterberg 2005: 58-63). Der Status der beiden Sprachen wird durch ihre Institutionalisierung auf verschiedenen Entscheidungsebenen der Politik, Wirtschaft und Kultur und damit gewissermaßen auch die offizielle, staatliche Unterstützung der Sprachgemeinschaft erfasst. Messbar ist dies auch an der Präsenz der jeweiligen Sprache im Bildungswesen, den Medien, im staatlichen Dienstleistungssektor, in Industrie und Handel, in den Religionsgemeinschaften und der Kulturlandschaft (vgl. Viereck et al. 2002: 240-258, Giles et al. 1977: 315-316,). Ergänzt wird dies durch die Konfiguration von Prestigevariablen im intergruppalen Kontext. D.h., die einer Gemeinschaft und ihrer Sprache zuerkannte Wertigkeit wirkt sich meist proportional auf die Verwendung der Sprache aus. In der vorliegenden Arbeit werden drei verschiedene Komponenten unterschieden. Die ökonomische Wertigkeit einer Sprache bzw. ihre „ökonomische Stärke“ bezieht sich faktisch auf „die Wirtschaftskraft ihrer Sprecher“ (Ammon 1991: 47). Als Indikator der ökonomischen Stärke einer Sprache kann beispielsweise das Bruttosozialprodukt je Einwohner eines Landes, multipliziert mit der Anzahl der Erstsprecher der Sprache, dienen (vgl. ebd.: 48).174 In Bezug auf Tschechisch und Deutsch in der Habsburger Monarchie, Böhmen und Prag soll zur Darstellung des Kontextes des individuellen Bilingualismus ausreichen, die ökonomische Wertigkeit der beiden Sprachen anhand der Kontrolle und Macht, die ihre Erstsprecher über das wirtschaftliche Leben besitzen, zu charakterisieren. Im Falle Prags wird die Darstellung der sozioökonomischen Wertigkeit konkretisiert, indem vereinfachend die berufliche Tätigkeit der Erstsprecher bzw. die quantitative Verteilung der beiden Landessprachen auf die gesellschaftlichen Schichten als Indikatoren herangezogen werden (vgl. Ammon 1989: 69).175 Entscheidend ist hierbei nicht nur, dass die Kenntnis der Gruppensprache generell als Voraussetzung für sozialen Aufstieg gelten 174

175

Um die internationale Stellung einer Sprache zu erfassen, gilt es die obigen Werte für jedes Land weltweit zu ermitteln und schließlich zu addieren (vgl. Ammon 1991: 48-49). Viereck et al. machen den aktuellen internationalen Status des Englischen an der Verbreitung als Erstsprache, Zweitsprache und Fremdsprache, an seiner Verwendung in internationalen Organisationen, als international anerkanntes Kommunikationsmittel in der Luft- und Seefahrt fest. Zudem sieht er die Buchproduktion in englischer Sprache sowie die Anzahl der aus dem Englischen gefertigten Übersetzungen als weiteres Indiz für die herausragende Rolle, die das Englische weltweit spielt. Nicht zuletzt bestätigt der Einfluss des Englischen auf andere Sprachen weltweit, der von keiner anderen Sprache in diesem Ausmaß erzielt wird, den internationalen Status des Englischen (vgl. Viereck et al. 2002: 240-258). In Bezug auf Tschechisch und Deutsch in der Habsburger Monarchie ist eine derartige Vorgehensweise an dieser Stelle jedoch nicht zu leisten, da hier lediglich der Kontext für die Entwicklung der individuellen Zweisprachigkeit dargestellt werden soll. Neben der sozialen Klasse der Sprecher nennt Ammon weitere Dimensionen sozio-kultureller Attribute, die sich auf die Wertigkeit einer Sprache auswirken, so z.B. das Alter und Geschlecht der Sprecher, die Struktur der Sprachgemeinschaft (städtisch, ländlich) oder die Religion der Sprecher (vgl. hierzu ausführlich Ammon 1989: 67-70).

Deutsch und Tschechisch im Spiegel soziostruktureller Rahmenbedingungen

99

kann, sondern dass gewöhnlich umgekehrt auch ein hohes sozioökonomisches Niveau der Sprecher positiv auf den Ethnolekt abfärbt. Dementsprechend entsteht ein negativer Effekt, wenn die Sprecher vorwiegend aus den unteren gesellschaftlichen Schichten stammen (vgl. Giles et al. 1977: 310-311, Achterberg 2005: 5456). Eine hohe Anzahl an Sprechern, also eine große numerische Stärke einer Sprache, muss noch keine ökonomische Stärke der Sprache garantieren und umgekehrt können wenige Sprecher in sozial angesehenen und mit Macht ausgestatteten Positionen ihrer Sprache ökonomische Stärke verleihen. Mit der sozialen Wertigkeit einer Sprache bzw. ihrer Sprecher wird sowohl das Selbstwertgefühlt der Gruppe als auch deren Fremdeinschätzung berücksichtigt. Die soziohistorische Wertigkeit einer Sprache basiert auf der gesellschaftlichen und politischen Entwicklung der jeweiligen Sprachgemeinschaft (vgl. Ammon 1989: 97-103). Da letztere, in engem Zusammenhang stehende Aspekte im Kontext des Sprachnationalismus (vgl. Kapitel 2.1) bereits für die deutsch-tschechischen Verhältnisse in Böhmen weitgehend behandelt wurden, werden sie an dieser Stelle nur noch kurz dargestellt. Die genannten Variablen erfassen sicherlich nicht sämtliche Einflussfaktoren, die den Gebrauch des Deutschen und Tschechischen bestimmen, zudem variiert ihre Gewichtung je nach spezifischer Sprachkontaktsituation. Einzelne Parameter können sogar ambivalente Effekte erzielen (vgl. Achterberg 2005: 62). Trotz dieser Einschränkungen bietet diese Strukturierung der Variablen einen Ansatzpunkt zur dynamischen Darstellung der Sprachverteilung des Deutschen und Tschechischen im konkreten böhmischen Kontext der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts.

3.1

Demographische Faktoren

3.1.1

Im Habsburgerreich und in Böhmen

Obgleich die Kritik an der Gültigkeit von Volkszählungsergebnissen im Allgemeinen (vgl. u.a. Fasold 1984: 113-120; Lieberson 1967: 138-141) und in der Habsburger Monarchie im Besonderen176 (vgl. Brix 1982; Rauchberg 1905a: 1320) bekannt und berechtigt ist, bleibt ihre Verwendung fast unausweichlich. Denn sie bieten nicht nur eine Datenmenge einzigartigen Ausmaßes, die die Vergleichbarkeit einzelner Territorien einschließt, sondern ermöglichen auf Grund ihrer regelmäßigen Erhebung auch diachrone Darstellungen (vgl. Lieberson 1967: 134136; Rauchberg 1905a: 18-20). Als „eine brauchbare Grundlage der Nationalitätenstatistik“ (Rauchberg 1905a: 18), die „wie alle statistischen Zahlen [...] nur Näherungswerte“ (ebd.: 19) enthalten, dienen sie im Folgenden der Präsentation 176

Brix spricht neben den in „allen übrigen Ergebungsrubriken in Volkszählungen ebenfalls auftretenden Fehlerquellen“ bei der „Nationalitätenstatistik noch von einer weiteren Einschränkung“, einem zweiten „politische[n], agitatorische[n] oder emotionale[n] Aspekt“ (Brix 1982: 435).

100

Deutsch und Tschechisch im Spiegel soziostruktureller Rahmenbedingungen

der demographischen Entwicklungen im zisleithanischen Teil der Monarchie, v.a. aber in Böhmen und in Prag. Allerdings bleibt stets zu beachten, dass „nur die Verbindung zur Problematik der Nationalitätenfrage die Zahlen der Umgangssprachenerhebungen erläutern kann“ (Brix 1982: 436). Die Frage nach der Umgangssprache wird zum Erhebungsjahr 1880 in die Volkszählung integriert177, und zwar mit der ursprünglichen Absicht der Regierung, die sprachlich-territoriale Verteilung der Bevölkerung für Verwaltungszwecke darzustellen (vgl. Brix 1982: 108109). Dass „mit der Einführung einer Sprachenstatistik [...] ein neuer Brennpunkt der nationalen Konflikte“ (Brix 1982: 112) geschaffen wird, dürfte den Verantwortlichen sicherlich bewusst gewesen sein, ob dies auch für das Ausmaß der nationalen Auseinandersetzungen gilt, ist schwer abzuschätzen.178 Zwei Bestimmungen bieten besonderen Zündstoff, zum einen die Reduzierung der Auswahlmöglichkeiten auf neun landesübliche Sprachen inklusive der Zusammenlegung verschiedener Idiome und sprachlicher Begriffe und zum anderen die Limitierung auf die Angabe nur einer Sprache. Bei ersterem sorgt u.a. das Fehlen einer jüdischen Option179 dafür, dass die jüdische Bevölkerung sich zum „Zankapfel nationaler Bestrebungen“ (Brix 1982: 110) entwickelt (vgl. auch Kieval 2000: 138). Forciert wird dies ferner durch die fehlende Rücksichtnahme auf mehrsprachige Bevölkerungskreise, die gerade für das jüdische Milieu in Böhmen häufig zutreffen. Von nun an begann das Bespitzeln der Nachbarn, ob hinter den Türen der jüdischen Familien auch jene Sprache gesprochen werde, die in die amtliche Liste eingetragen war; von nun an begannen die Juden im tschechischen Landesteil, sich die deutschen Zeitungen, die sie des Börsenteils wegen brauchten, in verschlossenen Umschlägen zusenden zu lassen. Die Folge all dessen für die Juden war eine noch weitere Einschränkung ihres ,utraquistischen‘ Spielraumes (Stölzl 1975: 50).

3.1.1.1

Die Völker Zisleithaniens und ihre Dynamik

Unter diesen Vorbehalten setzt sich die Bevölkerung der zisleithanischen Hälfte der Habsburger Monarchie von 1880 bis 1910 aus folgenden, auf der Angabe der Umgangssprache beruhenden Sprachgemeinschaften bzw. ,Nationalitäten‘ zusammen (vgl. Tabelle 1: 101). 177

178 179

Zu früheren, überwiegend ethnographischen Vorgehensweisen, deren Ausgangspunkt die Sprachverhältnisse in Kombination mit der Besiedlungsgeschichte eines Territoriums bildet – d.h. „Bewohner von Ortschaften, die, äußeren Einflüssen nachgehend, nachweislich ihre Sprache geändert hatten, [werden] der ursprünglichen Nationalität zugewiesen“ – vgl. Rauchberg (1905a: 1-13, hier 4). Zur Motivation der Einführung des Elements der Umgangssprache in die Erhebung und Vorwürfen v.a. nichtdeutschsprachiger Abgeordneter vgl. Brix (1982: 102-115). Gewissermaßen wird hier auch eine frühe jüdisch-nationale Bewegung unterbunden bzw. zumindest nicht gefördert, denn die Landesüblichkeit einer Sprache gilt als Voraussetzung für die mögliche Geltendmachung sprachlich-nationaler Rechte. Darauf können sich die Juden der Habsburger Monarchie nicht berufen.

101

Deutsch und Tschechisch im Spiegel soziostruktureller Rahmenbedingungen

Tabelle 1: Zahl und Anteil der ,Tschechen‘ und ,Deutschen‘ in der zisleithanischen Reichshälfte (österreichische Volkszählung 1851, 1880, 1890, 1900, 1910)180 1851 tsch. absolut Böhmen

Schlesien

tsch.

1890 dt.

tsch.

1910

1900 dt.

tsch.

dt.

tsch.

dt.

2621450

1693832

3470252

2054174

3644188

2159011

3930093

2337013

4241918

2467724

Zisleithanien

65,7%

26,7%

67,0%

25,6%

66,6%

25,5%

66,0%

25,5%

65,9%

24,8%

Kronland

59,8%

38,6%

62,8%

37,2%

62,8%

37,2%

62,7%

37,3%

63,2%

36,8%

1264027

497654

1507328

628907

1590513

664168

1727270

675492

1868971

719435

absolut Mähren

1880 dt.

Zisleithanien

31,7%

7,9%

29,1%

7,9%

29,1%

7,8%

29,0%

7,4%

29,0%

7,2%

Kronland

70,2%

27,6%

70,4%

29,4%

70,3%

29,4%

71,4%

27,9%

71,7%

27,6%

absolut

88068

209512

126385

269338

129814

281555

146265

296571

180348

325523

2,2%

3,3%

2,4%

3,4%

2,4%

3,3%

2,5%

3,2%

2,8%

3,3%

Kronland

20,1%

47,8%

23,0%

48,9%

22,0%

47,8%

22,0%

44,7%

24,3%

43,9%

absolut

Zisleithanien

11843

1515284

61257

2100874

93481

2364360

132968

2713923

122329

3130536

Zisleithanien

0,3%

23,9%

1,2%

26,2%

1,7%

27,9%

2,2%

29,6%

1,9%

31,5%

Kronland

0,8%

98,5%

2,8%

96,9%

3,8%

96,0%

4,7%

95,0%

3,7%

95,9%

absolut

2299

2344361

15686

2955571

14875

2992486

18801

3147940

22417

3307048

Zisleithanien

0,1%

37,0%

0,3%

36,9%

0,3%

35,4%

0,3%

34,3%

0,3%

33,2%

Kronländer

0,0%

25,0%

0,1%

25,9%

0,1%

24,2%

0,1%

23,5%

0,2%

22,6%

insgesamt

3987687

6333183

5180908

8008864

5472871

8461580

5955397

9170939

6435983

9950266

in % der einheim. Bev. Zisleithaniens

22,7%

36,1%

23,8%

36,7%

23,3%

36,0%

23,1%

35,6%

23,0%

35,6%

Niederösterreich

andere im Reichsrat vertretene Länder

Quelle: Vgl. Urbanitsch (1980: 38-49); Brix (1982: 436-449)

Die größte Gruppe bilden die ,Deutschen‘, die in den im Reichsrat vertretenen Ländern mit Ausnahme des Küstenlandes sowie der Kronländer Dalmatien und Krain immer einen Mindestanteil von knapp einem Fünftel der einheimischen Bevölkerung stellen.181 Insgesamt geben im Jahr 1880 37 Prozent, in den weiteren Erhebungen jeweils 36 Prozent der Einwohner Zisleithaniens die deutsche Umgangssprache an. Mit 24 Prozent (1880) bzw. 23 Prozent (1890, 1900, 1910) bildet die tschechischsprachige, hauptsächlich in den böhmischen Ländern und noch in Wien sesshafte Bevölkerung bereits die zweitstärkste Fraktion in Österreich182. Ihr folgt die leicht wachsende polnische Sprachgruppe (15 bis 18 %), die nur innerhalb Galiziens in der Mehrheit ist. Die viertgrößte, ruthenische Sprachgemeinschaft (konstant um 13 %) bildet gleichfalls einen Großteil der galizischen – vor180

181

182

In der Zeile ,Zisleithanien‘ bilden die Grundgesamtheit alle ,Tschechen‘ bzw. ,Deutschen‘ in Zisleithanien und es wird ihre Verteilung auf die einzelnen Kronländer dargestellt. Dagegen drücken die Angaben in der Zeile ,Kronland‘ die Anteile der ,Deutschen‘ und ,Tschechen‘ an der Bevölkerung in dem jeweiligen Kronland aus, d.h. die gesamte einheimische Bevölkerung (auch anderer Umgangssprache) eines Kronlandes formt die Grundgesamtheit. Vgl. hierzu die Auflistung der Zusammensetzung der Bevölkerung nach der Umgangssprache in den einzelnen Kronländern bei Brix (1982: 436-449) sowie Urbanitsch (1980: 38-49), der auch darauf hinweist, dass die deutschsprachige Bevölkerung lediglich im westlichen Teil der Habsburger Monarchie als „geschlossener Block“ (ebd.: 37) angesiedelt ist. Österreich bezieht sich hier und im Folgenden auf die zisleithanische Hälfte der Habsburger Monarchie.

102

Deutsch und Tschechisch im Spiegel soziostruktureller Rahmenbedingungen

wiegend ostgalizischen – Bevölkerung. Im Vergleich lebt nur ein Bruchteil der Ruthenen in der Bukowina, wo sie allerdings die größte Bevölkerungsgruppe bilden. Eine nennenswerte polnische Minderheit ist noch für Schlesien zu erwähnen, ihr Anteil an der dortigen Bevölkerung steigt zwischen 1880 und 1910 von 28 auf 32 Prozent an. Während die vorwiegend im Süden der Steiermark und Kärnten, in Krain und dem Küstenland ansässige, slowenische Sprachgemeinschaft zunächst noch fünf, 1910 dann vier Prozent der österreichischen Bevölkerung stellt, zählen zum serbisch-kroatischen (Dalmatien, Istrien) und zum italienischladinischen (Küstenland, Tirol, Dalmatien) Verbund jeweils nur knapp drei Prozent. Die kleinsten Einheiten in Zisleithanien bilden die fast ausschließlich in der Bukowina lebenden Sprachgruppen der ,Rumänen‘ (1 %) und ,Magyaren‘ (nur 0,05 bis 0,04 %) (vgl. Tabelle 1: 101). Was die Verteilung der jüdischen Bevölkerung in Österreich betrifft, so leben mehr als zwei Drittel der zisleithanischen Juden in Galizien (1880: 686596, 1910: 871895), wo sie etwa elf bis zwölf Prozent der Bevölkerung ausmachen. Zahlenmäßig zwar schwächer, aber im Verhältnis zur übrigen Bevölkerung stärker, ist die Gruppe der Juden in der Bukowina (12 bis 13 %). In Böhmen geht sowohl ihre absolute Zahl (1880: 94449 Personen, 1910: 85826) als auch ihr relativer Anteil an der dort ansässigen Bevölkerung zurück (1880: 1,7 %, 1910: 1,3 %) (vgl. Bihl 1980: 882). Im Jahr 1910 gibt die knappe Mehrheit der böhmischen Juden die tschechische Umgangssprache an (vgl. Bihl 1980: 904-905). Vor dem deutsch-tschechischen Hintergrund der Arbeit konzentriert sich die folgende Darstellung der einzelnen Faktoren im Wesentlichen auf die ,deutsche‘ und ,tschechische‘ Sprachgruppe unter besonderer Berücksichtigung der jüdischen Einwohner. Insgesamt verzeichnet die Bevölkerung im zisleithanischen Teil der Monarchie einen Zuwachs um 10.428.924 Menschen von 1851 bis 1910 (auf 27.963.872), das entspricht einem Anstieg um 59,5 Prozent. Allerdings sind die Ergebnisse von 1851 mit jenen der 1880er Jahre nur bedingt vergleichbar, da bei den Erhebungen vor 1880 auch Staatsfremde miteinbezogen werden. V.a. aber wird 1851 eine Darstellung der ethnographischen Verhältnisse der Monarchie angestrebt, sodass etwa die Juden gesondert angeführt werden, während es sich ab 1880 um eine reine Sprachenerhebung handelt (vgl. Urbanitsch 1880: 35-36). Dennoch wird aus den Zahlen ersichtlich, dass von 1851 bis 1880 die Zunahme der ,Deutschen‘ (26,5 %) und der ,Tschechen‘ (29,9 %) – obgleich die jüdische Bevölkerung hier nicht eingeschlossen ist – über dem prozentualen Anstieg der Gesamtbevölkerung (24,3 %) Zisleithaniens liegt. Dies ändert sich jedoch ab 1880. Bis zum Jahr 1910 erhöht sich die Zahl der einheimischen Staatsbürger Österreichs um 6.169.641 Personen (28,3 %), wobei die Zuwachsrate nach 7,7 Prozent in den 1880er Jahren im folgenden Jahrzehnt mit 9,6 Prozent am höchsten ist und zu Beginn des 20. Jahrhunderts wieder auf 8,7 Prozent absinkt. Die Entwicklung der deutsch-, sowie der tschechischsprachigen Bevölkerungsteile Österreichs dagegen fällt deutlich geringer aus, insbesondere im ersten Jahrzehnt, als ihre Wachstumsraten

103

Deutsch und Tschechisch im Spiegel soziostruktureller Rahmenbedingungen

bei nur 5,6 (,Deutsche‘) und 5,7 Prozent (,Tschechen‘) liegen. In den 1890er Jahren und noch mehr von 1900 bis 1910 nähern sich die Entwicklungen der beiden Sprachgruppen und der Gesamtbevölkerung wieder an. Insgesamt erhöht sich somit von der Mitte des 19. Jahrhunderts bis 1910 die absolute Größe sowohl der ,Deutschen‘ (um 3.617.083 Personen) als auch der ,Tschechen‘ (um 2.448.296) klar. Ihre Zuwachsraten sind jedoch etwas geringer als jene anderer Völker – v.a. die polnische Sprachgruppe (1880/1890: 14,8 %, 1890/1900: 14,5 %, 1900/1910: 16,6 %) setzt sich hier deutlich ab –, sodass auch ihr jeweiliger prozentualer Anteil an der österreichischen Gesamtbevölkerung leicht abnimmt (vgl. Tabelle 1: 101; Urbanitsch 1980: 38-39). Abgesehen von den Schwankungen der Bevölkerungsentwicklung im Laufe der Zeit sind auch regionale Unterschiede festzuhalten, wobei hier nur kurz auf die böhmischen Länder und Niederösterreich bzw. Wien eingegangen werden soll (vgl. hierzu auch Tabelle 1: 101; Tabelle 2: 103).183 Tabelle 2: Zuwachsraten der ,tschechischen‘ und ,deutschen‘ sowie der Gesamtbevölkerung Zisleithaniens. 1851-1880

1881-1890

1891-1900

1901-1910

tsch.

dt.

tsch.

dt.

tsch.

dt.

tsch.

dt.

Zisleithanien

29,9%

26,5%

5,7%

5,6%

8,4%

8,8%

8,5%

8,1%

Böhmen

32,4%

21,3%

5,0%

5,1%

7,8%

8,2%

7,9%

5,6%

Mähren

19,2%

26,4%

5,5%

5,6%

8,6%

1,7%

8,2%

6,5%

Schlesien

43,5%

28,6%

2,7%

4,5%

12,7%

5,3%

23,3%

9,8%

Niederösterreich

417,2%

38,6%

52,6%

12,5%

42,2%

14,8%

-8,0%

15,4%

Gesamtbevölkerung Zisleithanien

24,3%

7,7%

9,6%

8,7%

Quelle: Eigene Berechung auf Grundlage der Tabelle 1 (vgl. Tabelle 1: 101).

Als Heimat von etwa zwei Drittel der österreichischen ,Tschechen‘ verzeichnet Böhmen, trotz der zum Teil geringeren Zuwachsraten, auch den weitaus größten absoluten Anstieg dieser Sprachgruppe. Während die Zunahme der tschechischsprachigen Bevölkerung Österreichs 1880/1890 und 1890/1900 zu fast 60 Prozent in Böhmen stattfindet, 1900/1910 zu etwa 65 Prozent, trägt Mähren jeweils mit 28 bis 30 Prozent den zweitgrößten Anteil. Besonders auffällig ist die Entwicklung in Schlesien, wo – nach einer fulminanten Zuwachsrate von 43,5 Prozent von 1851 bis 1880 – Ende der 1880er Jahren kaum mehr ,Tschechen‘ (nur plus 3429 Personen) gezählt werden. Ganz im Gegenteil zu den beiden folgenden Jahrzehnten, hier verfünf- und verzehnfacht sich die Zunahme im Vergleich zu 1880/1890.184 183 184

Für eine umfassende Betrachtung der Entwicklung der Zahl der ,Deutschen‘ in Österreich vgl. Urbanitsch (1980: 39-56). Die zum Teil heftigen Schwankungen der Bevölkerungsentwicklung in Schlesien und auch in Mähren deuten an, dass Ende des 19. Jahrhunderts neben Migration und natürlicher Bevölk-

104

Deutsch und Tschechisch im Spiegel soziostruktureller Rahmenbedingungen

Ähnlich drastische Veränderungen sind für Niederösterreich, hauptsächlich aber Wien erkennbar. Bis zur Jahrhundertwende verzeichnet die tschechischsprachige Bevölkerungszahl fast überdimensionale Zuwachsraten, sinkt aber zu Beginn des Jahrhunderts ins Negative. Die Zahl der ,Tschechen‘ in Niederösterreich geht hier um 10639 Personen zurück. Was die ,deutsche‘ Sprachgruppe betrifft, so trägt Niederösterreich insbesondere ab 1880 mit zunächst 58,2 Prozent, in den 1890ern mit 49,3 Prozent und von 1900 bis 1910 mit 53,5 Prozent den Löwenanteil an der Vermehrung der ,Deutschen‘ in Zisleithanien. Erstaunlich ist, dass für die Abschnitte 1880/1890 (23,2 %) und auch für 1890/1900 (25,1 %) Böhmen die zweitgrößte Zunahme an deutschsprachiger Bevölkerung verzeichnet, dies sind in den 1880er Jahren mehr Menschen als in den übrigen Kronländern zusammen. Nach 1900 bricht dieser Trend in Böhmen jedoch ein, entgegen der allgemeinen Tendenz sinkt die Zuwachsrate der böhmischen ,Deutschen‘ deutlich auf 5,6 Prozent. Der entscheidende Einfluss auf das absolute Bevölkerungswachstum ist ohne Zweifel der natürlichen Bevölkerungsbewegung zu zurechnen, die sich aus der Differenz von Geburtenrate und Sterblichkeitsziffer ergibt.185 So bestätigen die Geburtenüberschussziffern (vgl. hierzu Tabelle 3 bei Urbanitsch 1980: 42-43) für Deutschösterreich186, die in den 1880ern noch relativ geringe Zuwachsrate der deutschsprachigen Bevölkerung und ihren bedeutenden Anstieg zur Jahrhundertwende. Neben einer konstanten bzw. leicht steigenden Geburtenziffer basiert diese Entwicklung maßgeblich auf dem seit den 1870er Jahren kontinuierlich vorherrschenden Rückgang der Sterblichkeitsrate, insbesondere bei den Säuglingen sinkt diese ab den 1890er Jahren merkbar ab (vgl. ebd.: 44; Rauchberg 1905a: 209). Im Gegensatz zu den anderen überwiegend ,deutsch‘ besiedelten Gebieten bricht in Niederösterreich bzw. Wien die Natalitätsrate dann in den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg drastisch ein, sodass für 1911 bis 1913 nur noch ein Geburtenüberschuss von 3,4 besteht (1901-05: 11,2) (vgl. ebd.). In den ,deutschen‘ und mehrheitlich ,deutschen‘ Bezirken Böhmens und Mährens ist die Geburtenüberschussziffer zu Beginn der 1870er Jahre zwar doppelt so hoch wie in Niederösterreich (vgl. ebd.), doch liegt sie hinter jener der dominant tschechischsprachigen Gebiete bis Ende der 1880er Jahre zurück (vgl. Rauchberg 1905a: 221-222). In Böhmen ändert sich dies in den beiden darauffolgenden Jahrzehnten (1890 bis 1910). Die Bevölkerung der ,deutschen‘ Bezirke weist nun die höchsten natürlichen Bevölkerungsgewinne auf, und zwar auf Grund steigender Geburtenzahlen, v.a. aber auch

185 186

erungsbewegung insbesondere dem Faktor Assimilierung entscheidende Bedeutung zukommt, auch wenn der Sprachwechsel meist nur im Rahmen der Volkszählung stattgefunden hat. Die Aufschlüsselung der einzelnen Ursachen für die demographische Entwicklung der mährischen und schlesischen Einwohnerschaft kann hier nicht geleistet werden (vgl. u.a. Herz 1909). Urbanitsch weist darauf hin, dass die offizielle Statistik das hierfür relevante Zahlenmaterial nur in regionaler und nicht in sprachlicher Aufgliederung bereithält (vgl. Urbanitsch 1980: 41). Darunter sind die mehrheitlich deutsch besiedelten Bezirke Zisleithaniens zu verstehen (vgl. Urbanitsch 1980: 42-43).

Deutsch und Tschechisch im Spiegel soziostruktureller Rahmenbedingungen

105

dank der Senkung der Säuglings- und Kindersterblichkeit (vgl. Rauchberg 1905a: 222; Urbanitsch 1980: 42-43). Gleichzeitig haben die tschechischsprachigen Landesteile mit einem absoluten Rückgang der Geburtenzahlen zu kämpfen, der auch durch die Besserung der Sterblichkeitsrate nicht vollends ausgeglichen werden kann (vgl. ebd.: 209; Urbanitsch 1980: 44-45).187 Vergleichbar mit Wien bzw. Niederösterreich, wenn auch nicht in dieser Heftigkeit, vermindert sich in den böhmischen Ländern die Geburtenüberschussziffer in den Jahren vor 1914 (vgl. Urbanitsch 1980: 42-43; Bohmann 1965: 41). Insgesamt stimmt der Trend der natürlichen Bevölkerungsvermehrung sowohl in Böhmen als auch in Niederösterreich mit den österreichweiten Zuwachsraten überein, denn ab 1885 liegt die Geburtenüberschussziffer in den beiden Kronländern stets unter dem Staatsdurchschnitt.188 Dennoch liegen die Wachstumsraten der Bevölkerung in Niederösterreich weit über dem zisleithanischen Mittelwert und in Böhmen bleibt sie in den 1880er Jahren trotz der positiven Bilanz der natürlichen Zunahme dahinter zurück (vgl. Tabelle 2: 103). Dementsprechenden Einfluss übt hier der zweite, für die Veränderung der Bevölkerungsverhältnisse maßgebliche Faktor aus, nämlich die jeweilige Wanderungsbewegung. So wundert es nicht, dass Niederösterreich von allen Ländern der Donaumonarchie im Zuge der Binnenwanderungsbewegungen im Grunde bis zum Ausbruch des Ersten Weltkriegs die meisten Zuwanderer gewinnt (vgl. Hecke 1916: 17-18; Helczmanovszki 1973: 122-124). Am anderen Ende, d.h. also mit einer

187

188

In Mähren und Schlesien verzeichnen die ,deutschen‘ und mehrheitlich ,deutschen‘ Bezirke auch in den 1890er Jahren sowie nach der Jahrhundertwende eine noch weitaus geringere natürliche Zunahme der Bevölkerung als die tschechisch- bzw. slavischsprachigen Landesteile, denn insbesondere in Schlesien hat die polnischsprechende Einwohnerschaft bedeutenden Anteil an dieser Entwicklung (vgl. Urbanitsch 1980: 42-43; Herz 1909: 646-647). In Mähren liegt zwar die Geburtenüberschussziffer auch konstant unter dem Staatsdurchschnitt, doch übertrifft die mährische Zuwachsrate an ,Tschechen‘ (8,6 %) – die mit einer extrem niedrigen Zuwachsrate an ,Deutschen‘ einhergeht (1,7 %) – für 1890/1900 jene Zisleithaniens (8,2 %). Hugo Herz führt dies auf die starke Abwanderung der ökonomisch stärkeren, deutschsprachigen Bevölkerung aus den Landstädten v.a. in neue Industriezentren und den sich daraus ergebenden schwächeren Assimilierungsdruck der slavischen Bevölkerungsteile zurück. Mittelfristige Konsequenz dessen ist die Übernahme der kommunalen Verwaltung durch die ,Tschechen‘ und „damit vollzog sich die eigentümliche Erscheinung, dass die notdürftig den deutschen Oberschichten angepassten slavischen Bevölkerungsteile fast unvermittelt zu ihrer altgewohnten Mundart zurückkehrten. Auf diese Weise sind die enormen Verluste an deutschen Sprachgenossen zu erklären“ (ders.: 635). Außerdem findet in einigen deutschen Sprachinseln eine Assimilierung an das Tschechentum statt (vgl. Herz 1909: 620, 634-635). In Schlesien verläuft diese Entwicklung anders, hier liegt die Geburtenüberschussziffer nur in den 1880er Jahren unter dem Mittelwert in Zisleithanien, in der Folgezeit dagegen meist sehr deutlich darüber. Dies dürfte auch mit ein Grund sein für die geringe Zuwachsrate der ,Tschechen‘ 1880/1890, die jedoch durch die Zuwanderer aus Galizien, die sich zunächst zum Teil zum Tschechentum bekennen und nun vermehrt die polnische Sprache angeben, verstärkt wird (vgl. Herz 1909: 622-623).

106

Deutsch und Tschechisch im Spiegel soziostruktureller Rahmenbedingungen

passiven Migrationsbilanz, wird Böhmen, direkt gefolgt von Mähren189, angeführt und nicht wenige ihrer Auswanderer zieht es nach Wien (vgl. Glettler 1972: 32; Rauchberg 1905a: 249). Zwischen 1880 und 1890 lassen sich 90 Prozent derer, die die böhmischen Länder verlassen, in Niederösterreich, hauptsächlich aber in der Reichshauptstadt nieder (vgl. Karníková 1965: 212-213)190. Bezeichnend hierfür ist, dass zwischen 1856 und 1910 rund ein Viertel der Einwohnerschaft Wiens direkt aus Böhmen, Mähren und Schlesien stammt und bei einem weiteren Viertel die Eltern oder bei noch mehreren die Vorfahren dort geboren sind (vgl. Glettler 1972: 32). Am meisten betroffen von den Wanderungsdefiziten191 sind die rein und überwiegend tschechischsprachigen Gebiete, in den 1880er Jahren brechen knapp 200.000 Menschen von dort auf. Bis 1900 (-143.067) und nochmals bis 1910 (-120.777) ist zumindest ein leichter Rückgang dieses Wegzugs zu vermerken. Die Entwicklung in den deutsch- und mehrheitlich deutschsprachigen Bezirken differiert zunächst. Während Letztere von 1881 bis 1890 ein Plus von 10.119 erzielen, haben Erstere eine negative Bilanz von -8.387. Im folgenden Jahrzehnt gewinnen beide zwar durch Wanderungsbewegungen an Bevölkerung (insgesamt 21.823), verlieren aber von 1901 bis 1910 mehr als das doppelte durch Wegzug (50.736) (vgl. Glettler 1972: 33; Rauchberg 1905a: 173-174). In diesem Zusammenhang gilt es ferner zu beachten, dass nur sehr wenige, und zwar die engbegrenzten Industriebezirke eine positive Wanderungsbilanz erzielen, während der Großteil Verluste verzeichnet.192 Zudem verstärkt die Migrationsbewegung primär sowohl die ,tschechischen‘ Mehrheiten als auch die ,tschechischen‘ Minderheiten, denn der Zuzug in tschechisches Sprachgebiet erfolgt fast ausschließlich aus ,tschechischen‘ Bezirken, in deutsches Sprachgebiet dagegen nur zum Teil aus ,deutschen‘, hauptsächlich aber auch aus ,tschechischen‘ Bezirken (vgl. Rauchberg 1905a: 177). Hier liegt auch ein Grund für die – trotz des bereits erwähnten, angestiegenen Geburtenziffernüberschusses – geringe Zuwachsrate der deutschsprachigen Bevölkerung in Böhmen (vgl. Tabelle 2: 103; Rauchberg 1905a: 167189

190

191

192

Böhmen teilt hier das Schicksal der meisten anderen Länder Österreichs, nur Niederösterreich, Salzburg, Triest, Tirol und Vorarlberg gewinnen etwa im Zeitraum von 1891 bis 1900 im wechselseitigen Bevölkerungsaustausch. Der österreichische Staat im Ganzen schließt dagegen mit einem Verlust von 398.441 Personen ab (vgl. Rauchberg 1905a: 174). Von 260.105 Personen wandern 237.303 nach Niederösterreich aus. Der soziale Wandel mit der sich herausbildenden bevölkerungsdominanten Arbeiterschaft in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts bleibt insbesondere in Wien nicht ohne sprachliche Auswirkungen und führt zur Umbildung des Neuwienerischen zum Jungwienerischen (vgl. Steinhauser 1952: 165). Die Bezirke in Böhmen, die eine negative Wanderungsbilanz vorweisen, sind außerdem durch eine etwas geringere Geburtenüberschussziffer als in den aufstrebenden Bezirken gekennzeichnet (vgl. Rauchberg 1905a: 172). Von 1890 bis 1900 haben nur 24 der 96 politischen Bezirke Böhmens ihre Bevölkerung durch Wanderung vermehrt. Hauptgebiete des Zuzuges sind das Prager Industriezentrum sowie das Industriegebiet des Erzgebirges (vgl. Rauchberg 1905a: 176). Zu Beginn des 20. Jahrhunderts breiten sich die Wanderungsverluste auf weitere Bezirke aus, gerade jene Bergbaubezirke mit ehemals hohen Zuwachsraten verzeichnen nun eine negative Bilanz (vgl. Hecke 1916: 34-35).

Deutsch und Tschechisch im Spiegel soziostruktureller Rahmenbedingungen

107

168). Je stärker das Mischverhältnis der beiden Ethnien ist, um so mehr Reibungsflächen entstehen und um so heftiger bricht schließlich der Sprachkonflikt in diesen Bezirken aus. Die geographische Nähe zu Niederösterreich bewirkt v.a. in den ,tschechischen‘ Gebieten Südmährens und Südböhmens besonders hohe Verluste (vgl. Karníková 1965: 213), dagegen kann sich in den innerböhmischen Bezirken die Anziehungskraft Prags stärker durchsetzen. Im westböhmischen Montanrevier und den nordöstlichen Textilbezirken verhindert wiederum der industrielle Aufschwung eine übermäßige Abwanderung der Bevölkerung in die Landes- oder die Reichshauptstadt (vgl. ebd.: 33; Rauchberg 1905a: 250-254), nur aus wenigen ,deutschen‘ Bezirken Westböhmens findet Abwanderung nach Wien statt (vgl. Hecke 1916: 37). Dass bei der Entscheidung zwischen Wien und Prag durchaus deren ,nationaler‘ Charakter eine Rolle spielen dürfte, darauf weist u.a. eine Gegenüberstellung hin, in der jeweils die zwanzig böhmischen Bezirke aufgelistet werden, die den stärksten Wegzug nach Prag und Wien verzeichnen. Während für Prag fast nur ,rein‘ tschechischsprachige Bezirke erscheinen, zieht es nach Wien auch Einwohner einiger deutsch- oder zumindest gemischtsprachiger Bezirke (vgl. Rauchberg 1905b: 124). Auch Cohen bemerkt, dass für die deutschsprachige Bevölkerung Westböhmens die vermeintlich größere Nähe zu Prag die Emigration nach Wien nicht verhindert (vgl. Cohen 1981: 96; Stölzl 1971: 177-180). Das niederösterreichische bzw. Wiener Tschechentum erfährt nach der Jahrhundertwende allerdings einen krassen Einbruch. Während zwar sowohl die Geburten- als auch die Wanderungsbilanz der Reichshauptstadt im Vergleich zu 1890/1900 zu Beginn des 20. Jahrhunderts etwas zurückgeht193, sinkt die Zuwachsrate der tschechischsprachigen Bevölkerung ins Negative ab, d.h., ihre absolute Größe verringert sich von 1900 bis 1910 (um 10.639 Menschen) (vgl. Tabelle 1: 101). Die Ursachen für diese Entwicklung sieht Glettler als zu vielschichtig an, als dass sie „aus einer einzigen Quelle“ hergeleitet „oder auf einen einzigen gemeinsamen Nenner“ (Glettler 1972: 44) reduziert werden könnten. Von Bedeutung ist neben den fast gängigen Manipulationen (vgl. hierzu Kapital 3.1.1.1) im Rahmen der Volkszählungserhebung die Tatsache, dass die freiwillige Assimilation an das Deutschtum zu Beginn des 20. Jahrhunderts einen kräftigen Schub erfährt, da nun die Mehrzahl der tschechischsprachigen Einwanderer der Hochphase die Bedingung der zehnjährigen Ansässigkeit in Wien als Grundvoraussetzung zum Erwerb des Bürgerrechtes erfüllt (vgl. ebd.: 43-44). Ferner macht Glettler auf eine hohe Fluktuation in der Wiener tschechischsprachigen Minderheit aufmerksam, denn die Wanderbewegung nach Wien ist beständig von einem Rückstrom in die böhmischen Länder begleitet – „sei es, daß man durch die Arbeit genügend Geld erspart hatte, um den heimatlichen Hof zu entschulden, sei es, um ein eige193

Der Anteil der Geburtenbilanz an der Zunahme der Bevölkerung ist erstmals höher als der Anteil der Wanderbewegung, diese sinkt auf ihren niedrigsten Wert seit 1869/1880 (vgl. Tabelle 3 bei Helczmanovszki 1973: 122-123).

108

Deutsch und Tschechisch im Spiegel soziostruktureller Rahmenbedingungen

nes Gewerbe aufzumachen“ (ebd.: 42). Die wachsende Eigenständigkeit der tschechischen Wirtschaft auf der einen Seite und die Anzeichen einer ökonomischen Krise in Wien ab etwa 1906 auf der anderen Seite haben möglicherweise den Zuzug nach Wien gebremst, den Rückzug nach Böhmen, Mähren und Schlesien dagegen gefördert (vgl. ebd.: 43, 54). Die genauen Zahlen lassen sich allerdings genauso wenig wie sämtliche Gründe dieses „von keiner Seite erwarteten Rückgang[s]“ (ebd.: 42) feststellen, dass aber noch andere Faktoren mitwirken, deutet bereits die Zuwachsrate bei der deutschsprachigen Bevölkerung an, die jene der Vorjahre übertrifft (vgl. Tabelle 2: 103).

3.1.1.2

Verteilung der deutsch- und tschechischsprachigen Bevölkerung in Böhmen

Nachdem bereits ein Überblick zur Verteilung der Völker der Habsburger Monarchie auf die einzelnen Kronländer geschaffen wurde, gilt es noch kurz die Verteilung der deutsch- und tschechischsprachigen Bevölkerung in Böhmen näher zu betrachten. Als Grundlage hierfür soll die Einteilung des Kronlandes in 219 Gerichtsbezirke194 dienen, sowie die Abstufung der sprachlichen Verhältnisse in ,rein‘ deutsch- bzw. tschechischsprachig, sofern weniger als 20 Prozent195 der jeweiligen einheimischen Bevölkerung die andere Landessprache als Umgangssprache angeben, außerdem in überwiegend deutsch- und in überwiegend tschechischsprachig, wenn der Anteil der jeweils anderen Sprachgruppe zwischen 20 und 50 Prozent beträgt196. Demnach zerfällt Böhmen in 80 ,rein deutsche‘ und 120 ,rein tschechische‘ Gerichtsbezirke, neun weitere Gerichtsbezirke weisen eine deutschsprachige und andere zehn eine tschechischsprachige Majorität auf (vgl. Rauchberg 1905a: 31).197 Allerdings konstatiert Rauchberg, dass selbst in diesen wenigen ,deutsch-tschechischen‘ Gebieten das Mischungsverhältnis nur einem formalen Rechenergebnis entspreche, da „die einzelnen Gemeinden und vollends die Ortschaften [...] in der Regel national ungemischt“ seien (ebd.: 32). Die geringe sprachliche Durchmischung der Bevölkerung, wie sie bereits die niedrige Zahl an ,deutsch-tschechischen‘ Gerichtsbezirken andeutet, wird durch deren räumliche 194

195

196

197

Maßgebend ist die Gebietseinteilung nach dem Stand vom 31. Dezember 1900. Die Gerichtsbezirke werden hier den politischen Bezirken vorgezogen, da sie kleinere Einheiten bilden und so ein exakteres Bild der jeweiligen sprachlichen Verhältnisse ermöglichen. Diese Grenze von 20 Prozent als Bedingung für die deklarierte ,Einsprachigkeit‘ eines Gebietes entspricht ebenfalls den ministeriellen Vorschlägen zur Differenzierung der sprachlichen Verhältnisse (vgl. Fischel 1902: 186; Rauchberg 1905a: 32). Wie zu sehen sein wird, ist die Zahl dieser ,gemischten‘ Gerichtsbezirke äußerst gering und reduziert sich bei einer weiteren Differenzierung auf die Ortschaften nochmals, sodass in der empirischen Untersuchung (vgl. Kapitel 5.3; Kapitel 5.4) die beiden Kategorien zu einer Kategorie mit einem Mischungsverhältnis von 20 bis 80 Prozent zusammengefasst wurden. Die 96 politischen Bezirke Böhmens teilen sich auf 30 ,rein‘ und sechs überwiegend deutschsprachige sowie 49 ,rein‘ und 11 überwiegend tschechischsprachige Bezirke auf (vgl. hierzu ausführlich Rauchberg 1905a: 32-35).

Deutsch und Tschechisch im Spiegel soziostruktureller Rahmenbedingungen

109

Verteilung nochmals bestätigt. Denn einer Konzentration der ,rein‘ und vorwiegend ,tschechischen‘ Gerichtsbezirke im Innern des Landes steht ein ,deutscher‘ Sprachgürtel an den Grenzen Böhmens gegenüber (vgl. ebd. 31). Die ,Tschechen‘ bilden folglich ein in sich vollkommen gerundetes Sprachgebiet, das sich im Südosten an den tschechischsprachigen Teil Mährens anlehnt, der im Gegensatz zu Böhmen von zahlreichen, zum Teil sehr weitläufigen ,deutschen‘ Sprachinseln198 durchsetzt ist (vgl. Rauchberg 1905a: 52-53). Für die deutschsprachige Bevölkerung Böhmens sind die geographischen Bedingungen etwas ungünstiger. Ihr Gebiet befindet sich in der Randlage und wird zudem an mehreren Stellen vom tschechischen Sprachgebiet unterbrochen.199 Während Prag den unumstrittenen Mittelpunkt des ,tschechischen‘ Böhmens bildet, trifft diese Eindeutigkeit für das ,deutsche‘ Böhmen nicht zu. Die räumliche Zersplitterung des deutschen Sprachgebiets verhindert aber auch die Etablierung eines anerkannten, alternativen ,deutschen‘ Zentrums (vgl. ebd.: 56). Eine tatsächliche sprachliche Mischung der Bevölkerung ergibt sich oft abseits der eigentlichen Sprachgrenze, wo meist ,rein tschechisches‘ und ,rein deutsches‘ Gebiet aufeinandertreffen, und zwar infolge besonderer wirtschaftlicher oder historischer Umstände. So errechnet Rauchberg für den Zeitraum von 1890 bis 1900 kaum Verschiebungen längs der deutsch-tschechischen Sprachgrenze. Im Gegensatz hierzu finden jedoch entscheidende Veränderungen der sprachlichen Zusammensetzung in den aufstrebenden Industriegebieten statt, die insbesondere auf den Zuzug der vorwiegend tschechischsprachigen Arbeitskräfte zurückzuführen sind (vgl. Rauchberg 1905a: 32, 87-94). Der großartige Aufschwung des städtischen Lebens fällt fast durchaus in die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts. Im Jahr 1830 existieren in Böhmen nur zwei Städte mit über 10.000 Einwohnern (Prag: 103.670 und Reichenberg: 10.933). Von den 1880 bestehenden 43 Städten mit über 10.000 Bürgern haben sich 38 erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts gebildet, manche – wie etwa die Prager Vororte – aus dem Nichts. Der Anteil der städtischen Bevölkerung erhöht sich von nur 3,8 Prozent im Jahr 1851 auf 17,0 Prozent zur Jahrhundertwende (vgl. Rauch198

199

Als Sprachinseln können nur jene Gebietsteile gelten, die eine andere sprachliche Mehrheit haben als ihre Umgebung. Ein fremdsprachiger Einschlag, der 50 vom Hundert nicht übersteigt, schafft zwar ein Mischgebiet, aber noch keine Sprachinsel oder Sprachzunge (vgl. Rauchberg 1905a: 52). Die zwei größten ,deutschen‘ Sprachinseln in Mähren sind Mährisch-Trübau und Iglau. Rauchberg unterteilt das deutsche Sprachgebiet in folgende sieben Abschnitte: das ,deutsche‘ Hauptgebiet des Nordwestens und Nordens (westlich und östlich der Elbe) – umfasst etwa zwei Drittel der Fläche und rund drei Viertel der Bewohner des deutschen Sprachgebiets Böhmens –, das nordwestböhmische Kohlenrevier, der Riesengebirgsdistrikt, der böhmische Teil des sog. Schönhengsterlandes (,deutsche‘ Sprachinsel mit Mährisch-Trübau als Mittelpunkt), Sprachzunge von Stecken (entspricht dem nach Böhmen übergreifenden Ausläufer der großen Iglauer ,deutschen‘ Sprachinsel, die Sprachzunge von Neuhaus-Neubistritz) und zuletzt das ,deutsche‘ südwestliche Grenzgebiet (gehört mit Ausnahme seines östlichen Endes dem Böhmerwald an) (vgl. Rauchberg 1905a: 54-87).

110

Deutsch und Tschechisch im Spiegel soziostruktureller Rahmenbedingungen

berg 1905a: 133-134). Ein Vergleich der ,deutschen‘ und ,tschechischen‘ Städte ohne Berücksichtigung Prags und seiner Vorstädte ergibt, dass erstere sowohl mehr Einwohner zählen als auch von 1880 bis 1890 ein deutlich rascheres Wachstum genießen. Was die jeweiligen sprachlichen Minderheiten in den Städten angeht, so sind zwischen ,Deutschen‘ und ,Tschechen‘ keine großen Unterschiede festzustellen. Die Gruppe der deutschsprachigen Einwohner in ,tschechischen‘ Städten ist etwas größer als umgekehrt, beide Minoritäten passen sich aber der Zunahme der Gesamtbevölkerung an. Dies unterscheidet sie von der Entwicklung auf dem Land, wo die Tendenz zur Assimilierung stärker verbreitet ist (vgl. ebd.: 135-137). Die einerseits weitgefächertere geographische Streuung der deutschsprachigen Bevölkerung und ihre andererseits verhältnismäßig stärkere Konzentration auf das städtische Leben kommt auch in der Anzahl der Städte mit über 20.000 Menschen zum Ausdruck: Wiederum abgesehen von Prag und seinem Umland gibt es sieben ,deutsche‘ Städte und nur zwei ,tschechische‘ Städte (vgl. ebd.: 135). Unter Einbeziehung der böhmischen Landeshauptstadt, dem Knotenpunkt des tschechischen Lebens, würde sich die Bilanz jedoch sehr schnell ändern. Aus der Perspektive Zisleithaniens besitzt das Deutsche die höchste demographische Wertigkeit200, da nicht nur die absolute Zahl der deutschen Erstsprecher überwiegt, sondern sie auch in allen Kronländern zumindest mit einer Minderheit präsent sind. In Böhmen gewinnt unter demographischen Gesichtspunkten das Tschechische an Bedeutung. Allerdings wird die Tragweite dieser Dominanz durch die geringe territoriale Gemischtsprachigkeit Böhmens und die kompakte Ansiedlung der deutschen Erstsprecher in den Randgebieten geschwächt. Die auf den ersten Blick höhere demographische Wertigkeit des Tschechischen in Böhmen wird damit relativiert.

3.1.2 3.1.2.1

In Prag Absolute Größe der ,deutschen‘ Minderheit und der ,tschechischen‘ Mehrheit

Ähnlich interpretationsoffen wie die absolute Größe der ,tschechischen‘ Minderheit in Wien gestaltet sich jene der ,deutschen‘ Minderheit in Prag, die nach den ethnographischen Erhebungen vor 1859 noch gar keine numerische Minderheit ist. 200

Zusammenfassend drückt die demographische Wertigkeit einer Sprache aus: “the number of people with whom one can communicate in the language and on their distribution” (Mackey 1989: 4), wobei im vorliegenden Kontext nur jene mit Deutsch bzw. Tschechisch als Erstsprache berücksichtigt wurden. Ammon differenziert, um die numerische Stärke einer Sprache zu definieren, weiter in monolinguale Muttersprachler, multilinguale Muttersprachler und NichtMuttersprachler mit Sprachkenntnissen unter zusätzlicher Berücksichtigung der grundsätzlichen kommunikativen Fähigkeiten (Hören, Sprechen, Lesen, Schreiben) (vgl. Ammon 1989: 61-67). Eine derart komplexe Analyse der demographischen Stärke des Deutschen und Tschechischen kann im vorliegenden Kontext nicht geleistet werden.

Deutsch und Tschechisch im Spiegel soziostruktureller Rahmenbedingungen

111

Denn nach den Bevölkerungsstatistiken aus dem Jahr 1848201 sollen in Prag 66.046 ,Deutsche‘ und 36.687 ,Tschechen‘ unter der christlichen Bevölkerung der vier historischen Stadtteile leben. Die Zahl der v.a. im alten Ghetto Josefov angesiedelten Juden beträgt demnach mehr als 6.400 (vgl. Cohen 1981: 20; Rauchberg 1905a: 3-4). Nicht nur, dass die Methode dieser Erhebung äußerst zweifelhaft ist202, vielmehr kann in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts auch kaum von einer ,deutschen‘ Gruppenidentität – „any sense of belonging to a distinct German group defined essentially by language or culture“ (Cohen 1981: 24) – gesprochen werden. Prag gleicht in dieser Zeit einer typischen Verwaltungs- und Handelsstadt der Habsburger Monarchie, in der das Deutsche in der Politik, Wirtschaft und Gesellschaft dominiert (vgl. Cohen 1981: 19-21) und „Czech-German linguistic and cultural differences largely followed status differences“ (ebd.: 26). Die Hegemonie der Deutschsprecher über die Anderssprecher wird nicht zuletzt über die Vorrangstellung des Deutschen im Bildungswesen geschaffen (vgl. Kapitel 4.2.1). In einer weiteren, allerdings immer noch sehr fragwürdigen statistischen Erhebung, diesmal des Kaiserlichen Statistischen Büros aus dem Jahr 1857 (vgl. Rauchberg 1905a: 10-12), wird im historischen Zentrum Prags bereits eine quantitative ,tschechische‘ Mehrheit von 40.216 gegenüber einer ,deutschen‘ Minderheit von 24.000 Personen und einer Gruppe von 7.706 Juden gezählt203. Im österreichischen Zensus des Jahres 1880 erklären schließlich 31.071 Einwohner Prags (I.VIII.) bzw. 38.591 Personen (inklusive der vier inneren Vorstädte) das Deutsche zu ihrer Umgangssprache (vgl. Tabelle 3: 112).

201 202

203

Vgl. Schnabel, Georg Norbert (1848): Tafeln zur Statistik von Böhmen. Prag: Calve, Tafel 8. Auf Grundlage der Kataloge über den Stand des Klerus aus dem Jahre 1847 bestimmt Schnabel allein über die vom Geistlichen hauptsächlich verwendete Sprache die sprachliche Zusammensetzung der Pfarrgemeindemitglieder (vgl. Cohen 1981: 20; Rauchberg 1905a: 3). Zit. nach Cohen (1981: 36) aus Tafeln zur Statistik der österreichischen Monarchie III (18551857), 1. Heft, 10, 48-49.

112

Deutsch und Tschechisch im Spiegel soziostruktureller Rahmenbedingungen

Tabelle 3: Demographische Entwicklung der Gesamtbevölkerung (1857 und 1869) sowie der ,deutschen‘ und ,tschechischen‘ Bevölkerung (1880 bis 1910) in den Prager Stadtvierteln und seinen Vororten204 1857

1869

gesamt

gesamt

1880 ,tsch.‘

1890 ,dt.‘

,tsch.‘

1900 ,dt.‘

,tsch.‘

1910 ,dt.‘

,tsch.‘

,dt.‘

Altstadt

43311

46060

33636

9696

33977

7818

33431

3894

31072

3885

Neustadt

64310

73277

61003

11903

62450

12058

72735

10412

71761

8650

Kleinseite

21054

22140

16419

4222

16645

3512

19086

1790

17910

2204

Hradschin

5504

5940

5226

530

5291

476

5331

397

4911

448

Josefstadt

8409

10296

6402

4058

8671

2666

8195

682

2633

678

142588

157713

122686

30409

127034

26530

138778

17175

128287

15865

Vyšehrad

2685

3460

3770

57

4514

19

5285

36

5210

26

Holešovice-Bubna

1795

3094

10169

446

14518

576

29813

717

38126

1291

Innenstadt I.-V.

Libeň Prag I.-VIII.

3804

5845

9299

159

12279

159

20715

330

26607

420

150872

170112

145924

31071

158345

27284

194591

18258

198230

17602

12048

13384

12748

1793

15048

2075

17138

2001

19773

2428

Smíchov

9147

15382

21520

3044

28911

3214

42965

3575

47334

3861

Kgl. Weinberge

1956

1274

12868

1672

29708

4250

47053

4769

69070

6886

4336

20062

1011

40023

923

58112

802

70171

Karolinental

Žižkov

1555

Vororte

23151

34376

67198

7520

113690

10462

165268

11147

206348

14730

Prag I.-VIII. und Vororte

174023

204488

213122

38591

272035

37746

359859

29405

404578

32332

Prag gesamt

174023

204488

259731

318714

398746

448055

Quelle: vgl. Havránek (1970: 73); Rauchberg (1905b: 65-66); Cohen (1981: 92-93); Statistisches Handbuch (1912: 60-61)

Entsprechend dieser Angabe im Rahmen der Volkszählung sinkt ihr Anteil an der Bevölkerung beständig, und zwar von 17,5 bzw. 15,3 Prozent (1880) auf 8,2 bzw. 7,0 Prozent (1910). Abgesehen davon, dass auch die absolute Zahl der ,Deutschen‘ abnimmt (auf 17.602 bzw. 32.332), bewirkt insbesondere der Anstieg der Bevölkerungszahl der Tschechen den relativen Rückgang der ,deutschen‘ Minderheit. Die Explosion der Bevölkerungszahlen demonstriert sehr deutlich, dass sich Prag binnen weniger Jahre von einer „österreichischen Provinzstadt in eine moderne Großstadt“ (Stölzl 1971: 152) entwickelt (vgl. hierzu Tabelle 3: 112; Karní204

Nur ,Prag gesamt‘ schließt sowohl das Militär als auch österreichische Staatsangehörige anderer Umgangssprache ein, ausgenommen für die Jahre 1857 und 1869, hier sind die Angaben ohne Militär. Havránek (1966) und Cohen (1981) beziehen sich beide auf die Zahlen der Zivilbevölkerung, wie sie in dem von der Statistischen Kommission für Prag und Vororte veranlassten Werk Sčítání lidu v Král. hlav. Městě Praze a obcech sousedních 31. prosince 1900 [Die Volkszählung vom 31. Dezember in der kgl. Hauptstadt Prag und in ihren Vororten] III. Hg. von Jan Srb (1902) enthalten sind. Rauchberg (1905b: 163-167), der sich in diesem Fall auf handschriftliche Mitteilungen der k. k. statistischen Zentralkommission stützt, bezieht sich hingegen auf die Summe der österreichischen Staatsangehörigen (also Zivilbevölkerung plus Militär), weshalb er zu etwas abweichenden Zahlen kommt (vgl. Urbanitsch 1980: 72 Anm. 109).

Deutsch und Tschechisch im Spiegel soziostruktureller Rahmenbedingungen

113

ková 1965: 142-144).205 Gegenüber 1857 leben im Jahr 1910 mehr als zweieinhalb mal so viele Menschen in Prag und seinen Vororten, im Vergleich zu 1850 (139.058 Personen) hat sich ihre Zahl sogar mehr als verdreifacht. In den 1850ern erhöht sich hauptsächlich die Einwohnerschaft in der Innenstadt (um mehr als 24.000), selbst in den 1860er Jahren hat sie mit einem Zuwachs von über 15.000 Bürgern noch wesentlichen Anteil an der Bevölkerungsvermehrung. Bereits im darauffolgenden Jahrzehnt verringert sich jedoch die Zahl der Innenstädter um drei Prozent und stagniert dann mehr oder weniger bis zur Jahrhundertwende. In der Altstadt, Kleinseite und auf dem Hradschin nimmt die Bevölkerung [...] seit den siebziger Jahren ohne Unterbrechung ab und wird dieser Process auch durch die in den letzten vier Jahren sehr rege Bauthätigkeit im südlichen Theile der Kleinseite nicht aufgehalten. Die Ursachen dieser Abnahme sind hier ziemlich leicht zu erklären. In diesen Stadttheilen, insbesondere in den beiden ersteren derselben, ist, ungeachtet sie eine bedeutende Verbauung aufweisen, eine ziemlich rege Baulust wahrnehmbar. Allein die neuen grossen modernen Bauten erstehen an Stelle der alten demolirten Häuser. Die Ursache hievon ist darin zu suchen, dass in den alten unbequemen Häusern die meisten Wohnungen von der ärmeren Volksclasse belegt waren, während die neuen Häuser, welche im Vergleich mit ihrer Grösse wenige, aber geräumige Wohnungen besitzen, von der wohlhabenderen Bevölkerung bezogen werden. Einen bedeutenden Einfluss auf die Abnahme der Bevölkerung in der Altstadt übt auch die Entwickelung des Handels, welcher sich in diesem Stadttheile in immer grösserem Umfange concentriert. Denn durch die Vermehrung der Verkaufsläden, Niederlagen, Schreibstuben und dgl., welche aus Wohnungen hergerichtet werden, nehmen letztere ab und mit ihnen naturgemäss auch die Zahl der Bevölkerung (Statistisches Handbuch Prag 1892: 25, Herv. i.O.).

Der nochmals deutliche Rückgang der Zahl der Innenstädter zu Beginn des 20. Jahrhunderts ist v.a. auf die Assanierungsmaßnahmen in der Josefstadt und der benachbarten Altstadt zurückzuführen (vgl. Ledvinka / Pešek 2002: 490-493). Sowohl in den bis 1901 eingemeindeten Vororten (Vyšehrad 1883, HolešoviceBubna 1884, Libeň 1901) als auch in den vier inneren Prager Vorstädten steigen die Einwohnerzahlen mit Zuwachsraten von zum Teil mehr als 50 Prozent sprunghaft an. Der Höhepunkt der relativen Bevölkerungsvermehrung ist in den 1870er Jahren anzusiedeln, als sich die Einwohnerzahl im VI.-VIII. Stadtbezirk fast und in den Vorstädten sogar mehr als verdoppelt. In jedem der folgenden Jahrzehnten bis 1910 vergrößert sich die Population der Vorstädte weiter um etwa 50.000 Menschen. Ähnliches gilt für die beiden eingemeindeten Randbezirke Holešovice und Libeň, wo insbesondere in den 1890er Jahren nochmals ein extremer Bevölkerungsschub stattfindet (um mehr als 24.000 Menschen). Insgesamt hat damit der enorme Wachstumsprozess der böhmischen Landeshauptstadt eine Umkehrung der Bevölkerungsmehrheiten eingeleitet: Während in den 1850er Jahren noch mehr als vier Fünftel der Prager in der Innenstadt (I.-V.) leben, be-

205

Mit dem sprunghaften Anstieg der Einwohnerzahl Prags dringen auch die Mundarten in die Stadt und führen zu einer beträchtlichen sprachlichen Heterogenität (vgl. Bauer 2008: 56-57).

114

Deutsch und Tschechisch im Spiegel soziostruktureller Rahmenbedingungen

trägt im Jahr 1910 ihr Anteil an der Einwohnerschaft der Landeshauptstadt nur noch etwa ein Drittel. Der rasante Anstieg der Bevölkerungszahlen in Prag beruht entscheidend auf der Wanderbewegung in das mittelböhmische Industriezentrum insbesondere aus den tschechischsprachigen Landesteilen (vgl. Janáček 1977: 329). Beispielsweise stammt bereits im Jahr 1880 nur noch ein Fünftel der Einwohner Prags und der vier inneren Vorstädte aus der jeweiligen Gemeinde. Drei Viertel der Bevölkerung sind dagegen in anderen Orten Böhmens geboren (vgl. Ledvinka / Pešek 2002: 480). Der Zuzug der Arbeitskräfte, hauptsächlich lediger junger Menschen oder neugegründeter Familien (vgl. Janáček 1977: 329), wirkt sich allerdings auch auf die natürliche Bevölkerungsvermehrung aus, so gehören die zahlenmäßig aufstrebenden Vororte Smíchov (7.), Königliche Weinberge (10.) und Žižkov (14.) für den Zeitraum von 1891 bis 1900 zu den politischen Bezirken mit den höchsten Geburtenüberschüssen in Böhmen. Dadurch, dass die Sterbeziffer allgemein rückläufig ist und auch zwischen den Bezirken weniger differiert, ist folglich für die positive Bilanz in erster Linie die höhere Anzahl an Geburten ausschlaggebend (vgl. Rauchberg 1905a: 169-172; Ledvinka / Pešek 2002: 480). Die Entwicklung in der Stadt Prag ist jener der Vororte entgegengesetzt, denn zum einen ist dort die Sterblichkeit die höchste ganz Böhmens206 (für den Zeitraum von 1881 bis 1900) und zum anderen zählt die Stadt zu den politischen Bezirken mit der geringsten Geburtenziffer207 (vgl. Rauchberg 1905a: 194-199, 214), in den 1870ern führt dies in der Innenstadt Prags zum Teil sogar zu Geburtendefiziten (vgl. Karníková 1965: 145; Havránek 1970: 84).208 Eine Aufteilung der Bevölkerungszunahme von 1881 bis 1900 in natürliche Vermehrung und Wanderbewegung (vgl. Tabelle 4: 115) bestätigt dies.

206

207

208

Im jährlichen Durchschnitt sterben 3,5 Prozent der Bevölkerung Prags. Kralowitz ist der Bezirk mit der mit Abstand niedrigsten Sterblichkeit (1,6 %), danach folgt Tepl mit bereits 2,3 Prozent (vgl. Rauchberg 1905a: 214). Rauchberg vergleicht hier die „besondere Geburtenziffer“, d.h. das Verhältnis der Geborenen nicht zur Gesamtbevölkerung sondern zu den im gebärfähigen Alter stehenden Frauen und definiert diese als die Frauen zwischen 14 und 45 Jahren (vgl. Rauchberg 1905a: 194). Der Rückgang der Volksdichte in der Innenstadt Prags ist zu einem geringen Teil auch durch die zunehmende Benutzung der Häuser zu Geschäfts- und Amtszwecken begründet und die Bevölkerung sich daher dort nur noch tagsüber aufhält, aber nicht mehr wohnt (vgl. Lehovec 1944: 83).

115

Deutsch und Tschechisch im Spiegel soziostruktureller Rahmenbedingungen

Tabelle 4: Zu- bzw. Abnahme der Bevölkerung Prags und seiner Vororte durch natür209 liche Bevölkerungsentwicklung und durch Wanderung von 1881 bis 1900 1881-1890 natürliche Bev.entwicklung Zuwachs

absolut

in Prozent

1891-1900

Wanderbewegung absolut

in Prozent

natürliche Bev.entwicklung absolut

in Prozent

Wanderbewegung absolut

in Prozent

3697

2,1%

1807

1,0%

5490

3,0%

13569

7,4%

Karolinental

24188

14,5%

39573

23,7%

12260

12,7%

6203

6,4%

Smíchov

21492

15,7%

10294

7,5%

18629

17,2%

13548

12,5%

14869

16,1%

21861

23,7%

9779

15,5%

10662

16,8%

Stadt Prag

Kgl. Weinberge Žižkov

Quelle: vgl. Rauchberg (1905b: 67-73)

So erzielt der politische Bezirk Stadt Prag seinen ohnehin geringen Zuwachs v.a. von 1891 bis 1900 nur dank eines mäßigen Zuzuges in sein Gebiet. Das heftige Wachstum in Karolinental210, Smíchov, den Königlichen Weinbergen und Žižkov dagegen wird zwar in den beiden Letzteren überwiegend durch Zuwanderung erlangt, allerdings unterstützt durch einen regen Geburtenüberschuss, der zwischen 1880/1890 und 1890/1900 zu einem Anstieg der jeweiligen Einwohnerzahl von minimal 12,7 Prozent (Karolinental 1890/1900) bis maximal 17,2 Prozent (Smíchov 1890/1900) führt. Dass die Stadt Prag und noch mehr die Vororte ihre Bevölkerung vorwiegend aus den tschechischsprachigen Landesteilen rekrutieren, darauf weisen die Geburtsorte der Bevölkerung im Jahr 1900: Die Hälfte bis zu zwei Drittel der jeweiligen Einwohnerschaft ist in ,rein‘ und (geringfügig) in vorwiegend ,tschechischen‘ Bezirken Böhmens geboren, nur 2,5 bis 5,0 Prozent stammen aus ,rein‘ und vorwiegend ,deutschen‘ Bezirken (vgl. Rauchberg 1905a: 240-241). Dementsprechend hat der massenhafte Zuzug in die böhmische Landeshauptstadt wesentlichen Einfluss auf die Entfaltung der beiden Sprachgemeinschaften in Prag und schafft auch den Kontext für die diskursive Präsentation Prags als ,tschechischer‘ Stadt. Spätestens mit dem Einzug der ,Tschechen‘ in den Prager Magistrat (vgl. Ledvinka / Pešek 2002: 456) übernimmt sie Vorbildfunktion für die tschechischsprachigen Landesteile in ganz Böhmen.

209

210

Die Angaben sind nur für die umfassenderen politischen Bezirke (Stadt Prag, Karolinental, Smíchov, Königliche Weinberge und Žižkov) gegeben, daher stimmen die Zahlen nicht mit den Angaben in Tabelle 3 (vgl. Tabelle 3: 112) überein. Der politische Bezirk Karolinental enthält für 1881 bis 1890 auch die Zahlen über die Zunahme der Bevölkerung in den Bezirken Königliche Weinberge (er wird 1885 abgetrennt) und zum Teil des politischen Bezirks Žižkov, der erst im Jahr 1898 aus den Gerichtsbezirken Žižkov und Řičan errichtet wird (vgl. Rauchberg 1905b: 69-73) – die Gemeinde Žižkov spaltet sich bereits 1875 von den Königlichen Weinbergen ab und wird 1881 zur Stadt erhoben.

116

Deutsch und Tschechisch im Spiegel soziostruktureller Rahmenbedingungen

3.1.2.2

Verteilung der ,deutschen‘ Minderheit und der ,tschechischen‘ Mehrheit auf die Prager Stadtteile

In Tabelle 3 (vgl. Tabelle 3: 112) ist zu verfolgen, wie sich die ,deutsche‘ Minderheit und die ,tschechische‘ Mehrheit – auf Grundlage der Angabe der Umgangssprache in den Volkszählungen von 1880 bis 1910 – auf die einzelnen Stadtteile Prags und seine Vororte verteilen und inwiefern sich ihre Größe im Zeitablauf verändert. Während im Jahr 1880 noch fast vier Fünftel der deutschsprachigen Gesamtbevölkerung211 in der Innenstadt leben, wohnt dreißig Jahre später nur noch knapp die Hälfte im Zentrum Prags. Ebenso viele sind in den vier inneren Vorstädten und zu einem sehr geringen Teil in den eingemeindeten Stadtteilen, am ehesten noch in Holešovice-Bubna, ansässig. An der innerstädtischen Bevölkerung entsprechen die 15.865 ,Deutschen‘212 im Jahr 1910 einem Anteil von 10,8 Prozent und in den aufstrebenden Vororten immerhin einem Anteil von 9,0 Prozent (16.467 Personen). Das bis in die zweite Hälfte des 19. Jahrhundert noch gültige Bild von der wesentlich ,deutsch‘ bestimmten Innenstadt Prags, die sich binnen weniger Jahre „zu einer Insel“ entwickelt, „die von einem immer enger werdenden Ring von Ballungszentren tschechischer Bevölkerung eingeschnürt“ (Stölzl 1971: 152) wird, zeichnet nicht mehr die Verhältnisse des Jahres 1910 ab.213 Allerdings konzentriert sich die deutschsprachige Bevölkerung auf einige Stadtteile, sowohl der Innenstadt als auch der Vorstädte. Über den gesamten Zeitraum hinweg ist die größte Zahl an ,Deutschen‘ in der Neustadt angesiedelt, wo sie zunächst noch fast ein Viertel, 1910 aber nur noch etwas mehr als zehn Prozent der dort ansässigen Bevölkerung ausmachen. Die Entscheidung zum Abriss des Prager Festungsgürtels (1866) und schließlich seine tatsächliche Durchführung in den 1870er Jahren sind nicht nur Grund dafür, dass in der Neustadt, anders als im restlichen innerstädtischen Prag, selbst im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts die Zahl der Wohnhäuser noch deutlich ansteigt, sondern tragen auch zu einer weiteren Attraktivitätssteigerung dieses Stadtteils bei. Denn zum einen wird auf den Flächen der ehemaligen Stadtbefestigung der größte Prager Park der Jahrhundertwende angelegt und zum anderen entstehen an der bisherigen Peripherie der Neustadt prachtvolle Mietshäuser und öffentliche Repräsentationsbauten. Während die obere Neustadt durch einen vorwiegend 211 212

213

Mit Gesamtbevölkerung Prags wird hier die Einwohnerschaft Prags (I.-VIII.) und seiner Vororte ohne das Militär bezeichnet. Zusätzlich zu der in der Volkszählung erhobenen Zahl der österreichischen Staatsangehörigen mit deutscher Umgangssprache sind für die deutsche Sprachgemeinschaft in Prag auch die aus dem wilhelminischen Deutschen Reich stammenden Sprecher zu berücksichtigen, deren Zahl sich auf etwa 1.000 Menschen beläuft (vgl. Ledvinka / Pešek 2002: 480). Auch wenn an dieser Stelle nochmals die Erhebungsmethode der Volkszählung und die zum Teil durchaus variabel praktizierte Angabe der Umgangssprache zu erwähnen sind, bleibt die Zahl der deklarierten ,Deutschen‘ außerhalb der Innenstadt beträchtlich und auch ihr Anteil an der dortigen Bevölkerung.

Deutsch und Tschechisch im Spiegel soziostruktureller Rahmenbedingungen

117

,tschechischen‘ Charakter geprägt ist214, bildet die ,untere Neustadt‘ das Hauptwohngebiet der Prager deutschsprachigen Bevölkerung. Die Lage der Prager Bahnhöfe in diesem Stadtteil hat wesentlichen Einfluss darauf, dass die ,untere Neustadt‘ die Rolle des Wirtschafts- und Verkehrszentrums von Prag beansprucht (vgl. Ledvinka / Pešek 2002: 468-469, 492-493). Josefstadt und Altstadt haben die höchsten Verluste an sich zur deutschen Umgangssprache bekennenden Einwohnern zu verbuchen (insgesamt 5.811 und 3.380 Personen). In dem territorial sehr begrenzten und bereits dicht bebauten Gebiet des ehemaligen Ghettos215 und Teilen der angrenzenden Altstadt findet in den Jahrzehnten bis zur Assanierung ein Bevölkerungsaustausch statt, der sich v.a. auch sprachlich niederschlägt: Die Zunahme der Bevölkerung in der Jo se f st a d t, wo in dem letzten Decennium keine Bauthätigkeit wahrnehmbar und deren Bevölkerungsdichtigkeit bereits vor einem halben Jahrhundert beispiellos gewesen ist, muss durch einen anderen Umstand erklärt werden. Dieser Stadttheil war nämlich in früheren Zeiten ausschliesslich von der jüdischen Bevölkerung bewohnt; in neuerer Zeit jedoch verlässt dieses immer wohlhabender werdende Element, [...], die beschränkten, unbequemen und auch ungesunden Wohnungen im ehemaligen Judenviertel, wo sich dann grösstentheils Arbeiterfamilien mit zahlreichen Aftermiethern und Bettgehern einmiethen. In dieser neuen Beschaffenheit und Zusammensetzung der Wohnparteien liegt auch unbestreitbar die Ursache der Bevölkerungszunahme der Josefstadt (Statistisches Handbuch Prag 1892: 25, Herv. i.O.).

Die Abwanderung der deutschsprachigen Josef- und Altstädter findet zu einem großen Teil in Richtung Königliche Weinberge statt. Sie verzeichnen den höchsten absoluten Zuwachs an ,Deutschen‘ (5.214 Personen von 1880 bis 1910) unter den Prager Stadtteilen und Vororten, sodass ihr Anteil an der gesamten deutschsprachigen Bevölkerung Prags von 4,3 Prozent (1880) auf 21,3 Prozent (1910) ansteigt. Die Königlichen Weinberge sind „zur Jahrhundertwende der großstädtischste Teil der Prager Agglomeration“ (Ledvinka / Pešek 2002: 500), dessen Ausbau ab den 1880ern durchaus mit Blick auf die mittleren und höheren Schichten konzipiert wird (vgl. Pešek / Šaman 1987: 69) und gerade auch deutschsprachige Prager und Zuwanderer anzieht (vgl. Cohen 1981: 166).216 Im Gegensatz hierzu bildet die 1875 von den Königlichen Weinbergen abgespaltete Gemeinde 214

215

216

Der selbstständige Gerichtsbezirk ,obere Neustadt‘ ist zwischen dem Moldau-Ufer (gegenüber von Smíchov) und dem Wenzelsplatz angesiedelt. Auf Grund der Nähe zu den dort ansässigen Universitätseinrichtungen leben auch viele ,tschechische‘ Studenten in der Gegend um die Brenntegasse und den Karlsplatz in diesem Stadtviertel (vgl. Ledvinka / Pešek 2002: 492; Skizze bei Cohen 1981: 21). Die Josefstadt weist die höchste Volksdichtigkeit in Prag auf, zu Beginn der 1890er Jahre werden hier 1822 Bewohner auf 1000 m² gezählt, an zweiter Stelle liegt Žižkov mit 1300 Bewohnern (vgl. Wohnverhältnisse 1895: 11). Der Anteil der deutschsprachigen Bevölkerung in den Königlichen Weinbergen beträgt immerhin zwischen 12,5 (1880) und 8,9 Prozent (1910).

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Žižkov mit einem ebenfalls rasanten Wachstum den charakteristisch proletarischen Vorort von Prag (vgl. Janáček 1977: 322; Šesták 2005: 5), in dem sich 1880 noch 4,4 Prozent der ansässigen Bevölkerung, zur Jahrhundertwende dagegen nur noch 1,4 Prozent zur deutschen Umgangssprache bekennen. Von 1900 bis 1910 verdoppelt sich die Anzahl der ,Deutschen‘ in Žižkov fast wieder und erreicht mit 1555 Personen ihren absoluten Höchststand. Jedoch treten diese 2,2 Prozent deutschsprachiger Einwohner im tschechisch geprägten Žižkov kaum zu Tage, vielmehr kritisiert die lokale Presse selbst zweisprachige Firmenschilder und fordert in der Öffentlichkeit die ausschließliche Verwendung des Tschechischen (vgl. Šesták 2005: 93). Auch wenn Prag insgesamt zu Beginn des 20. Jahrhunderts noch durch gesellschaftliche Zweisprachigkeit gekennzeichnet ist, kann man Žižkov – beispielhaft – als eine fortgeschritten normalisierte (vgl. Kapitel 2.2.2.2: 74) ,Enklave‘ sehen, in der die L-Varietät Tschechisch die H-Varietät Deutsch v.a. auch wegen ihrer numerischen Überlegenheit fast verdrängt hat. Das Zentrum der deutschsprachigen Minderheit bleiben nach den österreichischen Zensuserhebungen trotz der konstant rückläufigen Tendenzen die Alt- und Neustadt Prags. Schließt man noch die Königlichen Weinberge ein, so beherbergen diese drei Stadtteile (im gesamten Zeitraum von 1880 bis 1910) etwa drei Fünftel der deutschsprachigen Bevölkerung Prags. Gleichzeitig handelt es sich hierbei v.a. um Angehörige der Mittel- und Oberschicht, die unter Führung der Prominenz des Deutschen Casinos in einem verbindenden und zugleich exklusiven Netzwerk organisiert sind (vgl. Cohen 1981: 72-76, 123). Die wirtschaftliche Stärke und der weitgehend geschlossene Auftritt dieser ,deutschen‘ liberalen Gemeinschaft täuscht sicherlich etwas darüber hinweg, dass der Anteil der ,Deutschen‘ in den drei Stadtteilen jeweils nur knapp über (Altstadt: 10,9 %, Neustadt: 10,6 %) bzw. unter zehn Prozent (Kgl. Weinberge: 8,9 %) liegt. Beispielsweise gibt in Karolinental im Jahr 1910 auch jeder zehnte Bürger die deutsche Umgangssprache an und in Smíchov ist die absolute Größe der deutschen Minderheit (3861 Personen) vergleichbar mit jener in der Altstadt (3885 Personen). Doch gehören diese vorrangig der unteren Mittelschicht an oder stammen aus dem Arbeitermilieu, sodass ihnen auf Grund sozialer Klassendifferenzen eine Integration in die privilegierte deutschsprachige Kommunität um das Deutsche Casino verwehrt bleibt (vgl. Cohen 1981: 76, 190). Im zeitgenössischen öffentlichen Diskurs wird zunächst, v.a. von deutschliberaler Seite, die Existenz einer deutschsprachigen Unterschicht ausgeblendet und ein deutsches Selbstverständnis entwickelt, das das Deutsche ausschließlich als Sprache der gehobenen Gesellschaft impliziert. Demgegenüber steht die diskursive Fokussierung der tschechischen Seite auf die numerische Minderheit der ,Deutschen‘ in Prag – das Hauptargument beispielsweise in Fragen der Besetzung politischer Ämter oder der Gewährung finanzieller Subventionen. Konsequenz der eingeengten Perspektive des Deutschen Casinos ist, dass die restlichen zwei Fünftel der deutschsprachigen Bevölkerung Prags mit einer gesell-

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119

schaftlichen Abgrenzung zur deutschsprachigen Mittel- und Oberschicht konfrontiert sind und zudem – vergleichsweise stärker217 – verstreut auf die nach und nach eingemeindeten Stadtteile und die Vororte Prags, die ärmere Wohngegend218 der Landeshauptstadt leben (vgl. Cohen 1981: 123). Inmitten der sozial gleichgestellten tschechischsprachigen Arbeiterschaft und ohne Anschluss an die ökonomisch privilegierte deutschsprachige Schicht ist damit gerade bei den niederen Angestellten, Kleinhändlern und Arbeitern eine Assimilierung an das Tschechentum ein häufig verbreitetes Phänomen (vgl. auch Rauchberg 1905: 152). Individueller deutsch-tschechischer Bilingualismus, auch wenn er zunächst nur rudimentär vorhanden sein mag, fördert dabei die Anpassung an die sprachliche Mehrheit der Umgebung. Jedoch bleibt zu berücksichtigen, dass ein im Rahmen der österreichischen Volkszählungen festgestellter Sprachwechsel nicht bedingungslos als ,sicherer Indikator kultureller Assimilation‘ (vgl. Bratt Paulston 1988: 3-4) gilt. The growing power of the Czech majority in Prague, particularly after the early 1880s, placed strong pressures on many who might otherwise have identified with the Germans to adopt the language and culture of the Czechs and to identify with them. If a certain amount of bilingualism was common and basic cultural differences narrow, individuals needed in the long run some distinction in occupations or separation in social connections to encourage them to define or retain a German identity, to give them a real sense of belonging to a distinct gourp in society (Cohen 1981: 88).

Auch wenn das Umschwenken vom Deutschen zum Tschechischen bei der Frage nach der Umgangssprache nicht nur unter der jüdischen Bevölkerung Prags festzustellen ist (vgl. Cohen 1981: 100-101), so ist hier die Entwicklung der 1890er Jahre dennoch beeindruckend: Während 1890 noch 73,8 Prozent (12.588) der Juden Prags (I.-VII.) die deutsche Umgangssprache angeben, liegt ihr Anteil zehn Jahre später nur noch bei 45,3 Prozent (8.230) (vgl. Cohen 1981: 102).219 Dieser Rückgang betrifft insbesondere die innerstädtischen Viertel mit ihren vergleichsweise großen jüdischen Gemeinschaften. Im Jahr 1900 entscheidet sich schließlich nur noch in der Neustadt eine (knappe) Mehrheit der jüdischen Einwohner für die 217

218

219

Altstadt (1.420.884 m²) und Neustadt (3.476.693 m²) sowie der Vorort Königliche Weinberge (3.700.167 m²) umfassen zur Jahrhundertwende gemeinsam 28 Prozent der Gesamtfläche Prags (I.-VII.: 13.791.886 m²) und seiner Vororte (16.703.782 m²) (ohne Libeň) (vgl. Wohnverhältnisse 1895: 3-4), d.h. die restlichen zwei Fünftel der deutschsprachigen Bevölkerung leben auf das übrige, zweieinhalb mal so große Stadt- und Vorortsgebiet verteilt. „As new industries developed on Prague’s outskirts and as the city expanded territorially, the poorer segments of both the native and immigrant populations concentrated in the outlying areas, where they had lower housing costs and proximity to the factories” (Cohen 1981: 108; vgl. auch Karníková 1965: 222-223). Insbesondere mit Bezug auf die jüdische Bevölkerung ist jedoch nochmals zu betonen, dass diese sprachliche Angleichung nicht als das Ablegen einer deutschen nationalen Identifikation und die Annahme einer tschechischen Nationalität zu interpretieren ist, vielmehr beleuchten die statistischen Zahlen die Veränderung der gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Machtverhältnisse in Prag und das Taktieren der Juden in diesem nationalen Spannungsfeld (vgl. Stölzl 1975: 51; Bihl 1908: 906; Iggers 1986: 26).

120

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deutsche Umgangssprache (55,9 %), in der Altstadt und der Josefstadt dagegen hat sich deren relativer Anteil um mehr als die Hälfte verkleinert (vgl. Tabelle 5: 120). Tabelle 5: Angabe zur Umgangssprache der jüdischen Bevölkerung in Prag (I.-VII.) (1890 und 1900) 1890

1900

jüdische Bevölkerung Bevölkerung gesamt

jüdische Bevölkerung

Umgangssprache ,dt.‘

,tsch.‘ absolut absolut

% der Juden

% der ,Dt.‘

Bevölkerung gesamt

Umgangssprache ,dt.‘

,tsch.‘ absolut absolut

% der Juden

% der ,Dt.‘

Altstadt

42332

1622

4902

74,8%

62,7%

37888

3781

2146

36,2%

55,1%

Neustadt

75734

1472

5008

77,4%

41,5%

84462

4135

5239

55,9%

50,3%

Kleinseite

20447

47

61

56,5%

1,7%

21161

146

41

21,9%

2,3%

Hradschin

5805

23

6

20,7%

1,3%

5786

12

4

23,5%

1,0%

Josefstadt

11535

1118

2549

69,5%

95,6%

9047

1427

634

30,6%

93,0%

4546

12

0

0,0%

0,0%

5328

13

6

31,6%

16,7%

Holešovice

15352

164

62

27,4%

10,8%

30799

366

160

30,4%

22,3%

Prag (I.-VII.)

175751

4458

12588

73,8%

46,4%

194471

9880

8230

45,4%

45,9%

Vyšehrad

Quelle: Vgl. Cohen (1981: 102).

Das bereits im Jahr 1890 bestehende Übergewicht der ,tschechischen‘ Juden in Holešovice zeigt220, dass die sprachliche Anpassung der meist vom tschechischsprachigen Land stammenden jüdischen Bevölkerung an das ,tschechisch‘ dominierte Arbeitermilieu unmittelbar erfolgt bzw. die Neigung zum Deutschtum unter den jüdischen Zuzüglern auch nicht so stark ausgeprägt ist221: Die rapide Industrialisierung in Böhmen und Mähren in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts hatte potenziell revolutionäre Konsequenzen im Allgemeinen, aber mit besonderer Auswirkung auf das Prager Judentum. Erstens verdoppelte sich die jüdische Bevölkerung der Stadt in den letzten Jahrzehnten. Zweitens kamen die Zuwanderer vorwiegend aus der tschechischen Provinz; Tschechisch war ihre Alltagssprache, und ihre kulturelle Orientierung brachte sie unerbittlich in direkten Konflikt mit der traditionell deutsch-orientierten jüdischen Stammbevölkerung. Man kann also in gewisser Hinsicht von zwei jüdischen Gemeinden in Prag sprechen: auf der einen Seite die noch dominante, die dank der deutsch-jüdischen Schulen am deutschen Kulturbereich erzogen war und sich politisch mit dem österreichischen Liberalismus identifizierte, und auf

220

221

In die gleiche Richtung weist, dass sich im Jahr 1900 in den Königlichen Weinbergen noch fast die Hälfte der Juden zur deutschen Umgangssprache bekennt, in Karolinenthal aber nur noch etwas mehr als ein Drittel, in Smíchov weniger als ein Drittel und in Žižkov sogar kaum mehr als ein Zehntel (vgl. Rauchberg 1905a: 392-394). Dass dies jedoch nicht für die gesamte jüdische Bevölkerung aus den tschechischen Landesteilen gilt, zeigen die Zahlen zur Wanderungsbewegung in Verbindung mit der Umgangssprache für das Jahr 1900: von etwa 106.000 Migranten, die nach Prag (I.-VII.) ziehen, geben 5100 Deutsch als Umgangssprache an, der Großteil dieser Gruppe ist jüdischen Religionsbekenntnisses (vgl. Cohen 1981: 96).

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121

der anderen Seite eine neue, mit dem tschechischen Nationalismus sympathisierende (Pawel 1994: 34).

Mit Blick auf die noch 1890 vorherrschende Dominanz der deutschen Umgangssprache in den wohlhabenderen Vierteln der Innenstadt deutet sich bis in die 1890er Jahre auch ein Niederschlag dieser Zweiteilung der jüdischen Bevölkerung in ihrer gesellschaftlichen Schichtung an und damit verbunden eine Relation zwischen sozialer Stellung und der Wahl der Umgangssprache (vgl. auch Stölzl 1975: 51; Cohen 1981: 123). Allerdings sieht Kieval das Phänomen der deutschtschechischen Assimilierung nicht auf die unteren sozialen Schichten begrenzt, sondern schließt die breite Mittelklasse ein. Er betrachtet die gewerblich aktive und somit auf das wachsende tschechischsprachige Klientel angewiesene Mittelklasse sogar als demographische Basis des drastischen Rückgangs der Zahl ,deutscher‘ Juden zur Jahrhundertwende.222 In fact most of the Jewish newcomers to the Czech national camp were people who had a stake in the regional economy – small businessmen, shopkeepers, middle-class professionals, and the like. They were people of modest means, obviously bilingual, most often from a town outside of the capital, who may or may not have sent their children to provincial Czech gymnasia, may not have been interested in the nationality controversy themselves, but who shared at least one crucial characteristic: vulnerability, economic and psychological (Kieval 1988: 62-63).

Die Tatsache, dass die Juden sowohl 1890 als auch 1900 etwa 46 Prozent der ,offiziell‘ deutschsprachigen Bevölkerung Prags (I.-VII.) repräsentieren, weist einerseits auf den zahlenmäßigen Rückgang der deutschsprachigen Kommunität in Prag und andererseits auf die deutsch-tschechische Assimilierung auch unter deutschsprachigen Katholiken und Lutheranern hin (vgl. Cohen 1981: 108).223 Nur lässt sich dieser Prozess unter den Juden leichter verfolgen, da sie sich auch nach dem Wechsel der Umgangssprache in den Volkszählungen weiterhin durch ihr Religionsbekenntnis von der Masse katholischer ,Tschechen‘ unterscheiden. Zu berücksichtigen bleibt, dass die Größenordnung der tatsächlichen, nicht nur auf die Angabe der Umgangssprache beschränkten, deutsch-jüdischen Assimilierung in Prag insgesamt eher gering ausfällt: Yet at their peak before the Czech nationalist violence of December 1897, membership in all Czech Jewish groups in Prague amounted to no more than 2 or 3 percent of the 26.000 Jewish residents (Cohen 1981: 225).

In Tabelle 5 (vgl. Tabelle 5: 120) wird die Konzentration der jüdischen Einwohnerschaft auf drei Stadtviertel – Altstadt, Neustadt, Josefstadt – deutlich: 1890 leben dort 98 Prozent und zehn Jahre später 96 Prozent der Juden Prags (I.-VII.). 222 223

Kieval weist in diesem Zusammenhang auf den parallelen Rückgang ,deutscher‘ und den Anstieg ,tschechischer‘ Händler in der österreichischen Berufsstatistik hin (vgl. Kieval 1988: 63). Die Zahl der ,Deutschen‘ geht in Prag (I.-VII.) von 1890 bis 1900 um 9.197 Personen und jene der ,deutschen‘ Juden um 4.358 Personen zurück (vgl. Tabelle 3: 112; Cohen 1981: 102).

122

Deutsch und Tschechisch im Spiegel soziostruktureller Rahmenbedingungen

Die hohe Dichte der Juden im ehemaligen Ghetto erstaunt keineswegs. Infolge der josephinischen Reformen, der Gewährung der Freizügigkeit (1848) und der Berechtigung zum Besitz unbeweglicher Güter (1860) manifestiert sich schließlich der soziale Aufstieg jüdischer Geschäftsleute und Industrieller auch in der Übersiedlung aus der Josefstadt in die besseren Viertel Prags (vgl. Stölzl 1971: 89). Im Jahre 1857 wohnten noch 72 2 pct. der in Prag sesshaften Juden in der Josefstadt, im Jahre 1869 nur noch 41 7 pct.; im Jahre 1880 sank dieses Verhältniss auf 28 9 und im Jahre 1891 bis auf 21 6 pct. Aus der Josefstadt zog die jüdische Bevölkerung zunächst in die Altstadt, bald aber auch in die mit grösserem Comfort eingerichteten Häuser in der Neustadt und unter den Vorstädten vorzugsweise in die Kgl. Weinberge. Im J. 1869 betrug das jüdische Element in der Neustadt 2 8 pct. der Bevölkerung; gegenwärtig ist es auf 8 8 pct. gestiegen (Statistisches Handbuch Prag 1892: 57).

Kleinseite und Hradschin bleiben der jüdischen Bevölkerung jedoch verschlossen (vgl. Rybár 1991: 70; Havránek 1966: 201-202). Anders als etwa in Bezug auf den eindeutig ,tschechisch‘ dominierten Vyšehrad können hier keine sprachnationalen Ursachen vermutet werden, die einen Zuzug der traditionell eher über das Deutsche wahrgenommenen jüdischen Bevölkerung hätte dämpfen können, denn insbesondere für die Kleinseite weisen die Volkszählungsergebnisse eine durchaus beachtliche deutschsprachige Minderheit aus (vgl. Tabelle 3: 112). Ganz im Gegensatz zur Altstadt (1890: 62,7%, 1900: 55,1 %) und Neustadt (1890: 41,5%, 1900: 50,3 %) bekennen sich in der Kleinseite jedoch nur rund zwei Prozent (1890 und 1900) dieser ,Deutschen‘ zum mosaischen Glauben. Sicherlich wäre es zu weit gegriffen, in diesem Kontext unmittelbar antisemitische Handlungsweisen zu unterstellen, doch demonstrieren die Zahlen in jedem Falle eine potenzielle interne Abgrenzung auch in der deutschen Sprachgemeinschaft Prags, und zwar nach der Religion. Als bezeichnend hierfür könnte auch die Zunahme der absoluten Zahl ,tschechischer‘ und die Abnahme ,deutscher‘ Juden gesehen werden (vgl. Tabelle 5: 120). Mit Blick auf die Schulausbildung ,garantiert‘ der Besuch einer Einrichtung mit deutscher Unterrichtssprache in der Kleinseite somit ein primär deutschsprachiges und zugleich nichtjüdisches Umfeld. Insgesamt ist für Prag seit den 1850er Jahren im Zuge der Industrialisierung ein rasantes Wachstum festzustellen, das den fast vierfachen Anstieg der Bevölkerungszahlen einschließlich der Ausweitung des städtischen Territoriums umfasst. Ab Mitte der 1880er Jahre wohnen schließlich mehr Menschen in den nach und nach eingemeindeten Vororten Prags (VI.-VIII.) und den vier inneren Vorstädten als im historischen Zentrum der Landeshauptstadt (I.-V.). Infolge der dynamischen Entwicklung der Bevölkerungszahlen ändert sich auch die sprachliche Struktur der gesamten Stadt und einzelner Viertel. Während die Zahl der Tschechischsprecher von 1880 bis 1910 empor schnellt, verringert sich die absolute Größe der ,Deutschen‘. Diese leben 1910 auch nicht mehr wie noch im Jahr 1880 auf die Viertel der Innenstadt konzentriert, sondern sind zur Hälfte auch auf die inneren Vororte verstreut. Auf das gesamte Stadtgebiet verteilt sind die Prager

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123

,Deutschen‘ als „zerstreute Einsprengsel in einem tschechisch bestimmten Sprachraum“ (Binder 1996: 186) zu sehen. Die demographischen Faktoren zusammenfassend betrachtet ist das Deutsche in der Habsburger Monarchie die Umgangssprache der zahlenstärksten Gruppe, die zudem in etwa zwei Drittel der Kronländer Zisleithaniens bei mindestens 20 Prozent der jeweiligen Einwohnerschaft vertreten ist. Aus böhmischer Perspektive befinden sich die Deutschsprecher mit etwa 37 Prozent (1880 bis 1910) Bevölkerungsanteil in der quantitativen Minderheit, die lokal in Prag zum einen noch relativ schwächer und zum anderen – nach den Ergebnissen der Volkszählung – rückläufig ist (1880: 15,3 %, 1910: 7,4 Prozent der Bevölkerung Prags und seiner Vororte). Das Territorium Böhmens ist überwiegend in ,einsprachige‘ und nur zum Teil in den Übergangsregionen in gemischtsprachige Bezirke aufgeteilt. In der Landeshauptstadt gibt es zwar keine ,rein deutschen‘ Stadtviertel, doch zählen im historischen Zentrum Altstadt, Neustadt und bis zu ihrer Assanierung die Josefstadt sowie spätestens ab den 1890er Jahren die inneren Vororte Königliche Weinberge und Smíchov zu den bevorzugten Wohnorten der deutschsprachigen Minderheit. Dabei bleibt zu berücksichtigen, dass dennoch zur Jahrhundertwende in keinem Prager Stadtteil mehr als 12,5 Prozent (Neustadt) der Bewohner die deutsche Umgangssprache angeben. Wenn man die demographischen Gegebenheiten in Prag isoliert betrachtet – nach denen die Tschechischsprecher die deutliche absolute und relative Mehrheit besitzen, die tschechisch-deutsche Assimilierung schwindet (vgl. Cohen 1981: 110) und zudem die deutschsprachige Minderheit mit rückläufigen Tendenzen auf Grund geringer natürlicher Bewegung und abnehmender Migration nach Prag sowie verstärkter deutsch-tschechischer Assimilierung konfrontiert ist – so kann auf Basis der demographischen Tendenzen kaum auf einen weit verbreiteten individuellen tschechisch-deutschen Bilingualismus in der Prager Bevölkerung geschlossen werden. Vielmehr würde die zahlenmäßig schwächere Position der ,Deutschen‘ im überwiegend ,tschechischen‘ Prag eine deutsch-tschechische Zweisprachigkeit forcieren. Zumal trotz der Konzentration der ,deutschen‘ Bevölkerung in bestimmten Stadtteilen „selbst einzelne Straßen oder Mietshäuser [...] ethnisch heterogen“ (Binder 1996: 186) sind und der Sprachkontakt kaum zu vermeiden ist. Doch sind die demographischen Aspekte keineswegs allein ausschlaggebend für die Herausbildung von Bilingualität. Vielmehr ist – nicht nur in der Habsburger Monarchie – die politische Dimension des Sprachgebrauchs, d.h. letztendlich auch die Präsenz der beiden Sprachen in Domänen der H-Varietät, von wesentlicher Bedeutung für die Förderung potenzieller Mehrsprachigkeit.

124

Deutsch und Tschechisch im Spiegel soziostruktureller Rahmenbedingungen

3.2

Statusfaktoren

3.2.1

Institutionell unterstützende Faktoren

In staatlichen, regionalen und gesellschaftlichen Einrichtungen ist die Verwendung einer Sprache besonders der politischen Einflussnahme ausgesetzt. Grundsätzlich birgt die Institutionalisierung einer Sprache das Potenzial, ihre Kenntnis zu erzwingen und bei den Sprechern der L-Varietät Bilingualität zu fordern.224 In diesem Sinne war die Hegemonie des Deutschen u.a. in der Domäne Verwaltung lange Zeit Garant individueller tschechisch-deutscher Zweisprachigkeit. Im Folgenden gilt es, einen Überblick zur Stellung und Präsenz des Deutschen und Tschechischen auf Regierungsebene, in offiziellen Positionen, in der Wirtschaft, in den Medien und im kulturellen Bereich225 zu schaffen und somit die Aufweichung der Diglossiesituation bzw. den beginnenden Normalisierungsprozess in Böhmen zu erfassen. Ausgangspunkt bildet die Dezemberverfassung 1867, in der die Gleichberechtigung der einzelnen Volksstämme und ihrer Sprachen verankert wird.226 Sicherlich werden so nicht alle Faktoren erfasst, welche die offizielle und inoffizielle Benutzung der beiden Sprachen bestimmen. Dennoch liefert die Darstellung eine weitere wertvolle Charakterisierung der makrosoziologischen Rahmenbedingungen, die in einer zentralen Wechselwirkung mit der Ausbildung des individuellen Bilingualismus im Prag der Kafka-Zeit stehen.

3.2.1.1 3.2.1.1.1

Im Habsburgerreich und in Böhmen Gesetzgebung und Verwaltung

Bis zum neuen Staatsgrundgesetz (1867) ist das Deutsche nicht nur praktisch, sondern auch gesetzesmäßig abgesichert als die in der Staatsverwaltung dominierende Sprache (vgl. Malý 1991: 264-265). In der Dezemberverfassung wird schließlich die Gleichstellung der Sprachen rechtlich fixiert und damit ein diglossisches Verhältnis zwischen Tschechisch und Deutsch auf den ersten Blick theoretisch ausgeschlossen. Allerdings geht diese theoretische Parität nicht mit einer automatischen Umsetzung in der Praxis einher. Obgleich keine Sprache zur 224

225 226

Fishman setzt einen zeitlichen Rahmen von etwa drei Generationen an, bis es unter den Voraussetzungen einer stabilen Diglossie bei den Sprechern der L-Varietät nach einer bilingualen Übergangsphase zum Sprachwechsel zur H-Varietät kommt (vgl. Fishman 1980: 8-9). Die Situation in Bezug auf das Bildungswesen wird ausführlich in Kapitel 4 dargestellt. Hlavačka interpretiert den Artikel so, dass das gleiche Recht auf ,Wahrung und Pflege‘ der einzelnen Sprachen gesichert wird, nicht jedoch die ,gleiche Berechtigung‘ auf allen Ebenen des staatlichen Lebens, denn das würde heißen, dass alle zur Staatssprache erklärt würden (vgl. Hlavačka 2006: 137). Allerdings wird ja keine, auch nicht die deutsche Sprache zur Staatssprache ernannt, und im Artikel 19, Absatz 2 ist sehr wohl von der ,Gleichberechtigung aller landesüblichen Sprachen in Schule, Amt und öffentlichem Leben‘ die Rede.

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125

Staatssprache erklärt wird, genießt das Deutsche de facto eine Vorrangstellung, insbesondere in der Funktion als Dienstsprache der staatlichen Verwaltung (vgl. Stourzh 1985: 61, 83-84). Auch wenn dies v.a. auf praktische Gründe zurückgehen mag, wird sie dadurch auch zu einem Symbol der Habsburger Monarchie – „němčina jako jednací řeč úřadů sloužila i jako reprezentant státního celku dovnitř i navenek“ (Hlavačka 2006: 132) [das Deutsche als Geschäftssprache der Ämter diente ebenfalls als Repräsentant der staatlichen Einheit nach innen und nach außen – Übersetzung I.S.]. Dass diese Situation bis 1918 ein brisantes Thema darstellt, zeigen die zahlreichen Versuche seitens deutscher Politiker, hierfür nachträglich eine rechtliche Grundlage zu schaffen, bezeichnenderweise erst nachdem sie 1879 im Reichsrat gegenüber den Tschechen in die Minderheitsposition gelangen227 (vgl. Stourzh 1985: 84-91). Von tschechischer Seite werden dagegen permanent Forderungen zur Durchführung der sprachlichen Gleichberechtigung laut. Demzufolge mag die Privilegierung des Deutschen in den letzten Jahrzehnten der Habsburger Monarchie bedroht sein, doch wird sie zu keinem Zeitpunkt dauerhaft aufgehoben. Einen konkreten Ansatz, Gerechtigkeit in der Anwendung beider Sprachen in Böhmen zu erzielen und nach Hugo Hantsch sogar den „letzten praktischen Versuch einer konstruktiven Neuordnung der Monarchie vor dem Weltkrieg“ (Hantsch 1953: 61), bieten die sogenannten Fundamentalartikel der Regierung Hohenwart / Schäffle aus dem Jahr 1871. Die das böhmische Staatsrecht verteidigenden Bestimmungen228 hätten u.a. die Bildung territorialer Einheiten vorgesehen, die im Verwaltungs-, Gerichts- und Wahlwesen entsprechend der Mehrheit der Bevölkerung einsprachig gewesen wären, die Sprachenrechte der mit mindestens 20 Prozent vertretenen Minderheiten aber voll berücksichtigt hätten, d.h. etwa 227

228

Aus Protest gegen das Wahlsystem, das den (wohlhabenden) Deutschliberalen Mehrheiten sichert, boykottieren die tschechischen Abgeordneten zwischen 1863 und 1879 sowohl die Österreichischen Reichsrats- als auch die Böhmischen Landtagswahlen. Nach anfänglichen Teilerfolgen erweist sich diese Politik der passiven Resistenz für die Umsetzung ,tschechischer‘ Interessen als verderblich (vgl. Pech 1958: 434-452; Cohen 1981: 60; Malý 1987: 281). Unter Teilnahme der tschechischen Abgeordneten kommt es 1879 zur Bildung einer überwiegend feudalkonservativen Regierung unter Graf Eduard Taaffe. Die bisherige Dominanz der Deutschliberalen im Reichsrat ist beendet. Im böhmischen Landtag wird schließlich im Juni 1883 in den nach dem veränderten Wahlmodus (1882) abgehaltenen Landtagswahlen von einer tschechischen Koalition die Kontrolle übernommen (vgl. Cohen 1981: 144). Nach dem Scheitern des tschechisch-österreichischen Ausgleichs in Form der ,Fundamentalartikel‘ wird der Selbstverwaltung in Böhmen in der ,tschechischen‘ Öffentlichkeit verstärkt eine besondere Bedeutung im Sinne des ,historischen Staatsrechts‘ zugesprochen. Die in politischen bürgerlichen Kreisen oftmals geäußerte Forderung nach einer ,vollkommenen‘ Selbstverwaltung des Königreichs Böhmen ist im Grunde mit der Forderung nach der Erneuerung der ,tschechischen‘ Staatlichkeit gleichzusetzen (vgl. Malý 1986: 376). Die Forderung der ,tschechischen‘ Selbstverwaltung ist jedoch nicht auf ihre politische oder propagandistische Bedeutung zu reduzieren, denn die autonomen Institutionen spielen in Böhmen beim eigentlichen Aufbau der Grundvoraussetzungen des nationalen Wachstums auf kulturellem Gebiet, im Schulwesen, beim Städteaufbau etc. eine wichtige Rolle (vgl. ebd.: 384).

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mittels zweisprachiger Gemeindebekanntmachungen oder durch das Recht, sich in der lokalen Minderheitensprache an öffentliche Ämter zu wenden. Die ausnahmslose Beherrschung beider Sprachen sollte für sämtliche Landesorgane gelten. Im Landtag sollten durch die Errichtung zweier ,nationaler‘ Kurien jegliche Majorisierungsbestrebungen verhindert werden (vgl. Stourzh 1985: 201-202; Malý 1991: 265-266). Dass diese Vorschläge im österreichischen Ministerrat auf ablehnende Haltung stoßen und der Kurswechsel des Kaisers die Chance auf Sanktion vereitelt, deutet auf eine ,tatsächliche Ungleichheit‘ der beiden Sprachen hin. Das Deutsche füllt fast automatisch auf manchen Unklarheiten des Sprachenrechts beruhende Freiräume, die nach 1867 von den anderen landesüblichen Sprachen zum Teil vergeblich erkämpft werden. Im Kontext der Gesetzgebung ist hier auf die Sprache des Reichsrates hinzuweisen, denn keine der schriftlich fixierten Normen zur Tätigkeit des Reichsrates enthält Vorschriften zur Sprachenfrage229, damit ist auch die Verhandlungssprache nicht gesetzlich bestimmt. Während im Herrenhaus das Monopol der deutschen Sprache bis zum Ende der Monarchie gewahrt bleibt, wird die Dominanz des Deutschen im Abgeordnetenhaus im Laufe der Jahrzehnte zumindest geschwächt. Auch wenn insbesondere nach der BadeniKrise 1897 verstärkt Reden in nichtdeutscher und v.a. in tschechischer Sprache gehalten werden, erreichen die nichtdeutschen Abgeordneten erst im Jahr 1917 ihr seit langem angestrebtes Ziel, die Dokumentation sämtlicher Vorträge in den stenographischen Protokollen in der Originalsprache (vgl. Bernatzik 1911: 972-974; Stourzh 1985: 91-93). Der explizite Vorrang des Deutschen kommt auch in den Regelungen zur sprachlichen Gestaltung des Reichsgesetzblattes zum Ausdruck. Denn anders als im kaiserlichen Patent aus dem Jahr 1849 (vgl. Stourzh 1985: 3435) wird im Gesetz von 1869 nur noch der deutschen Version der Authentizitätsgrad verliehen. Das Reichsgesetzblatt wird zwar weiterhin in allen landesüblichen Sprachen herausgegeben, jedoch werden diese Fassungen als offizielle Übersetzungen des authentischen deutschen Textes angesehen (vgl. ebd.: 93; Bernatzik 1911: 974-976). Demgegenüber steht die Sprache des böhmischen Landesgesetzblattes. Böhmen ist eines der drei Kronländer, die landesgesetzlich (1867) die authentische Ausgabe des Gesetzestextes festlegt, und zwar mit einer strikten Gleichberechtigung des Deutschen und Tschechischen (vgl. Bernatzik 1911: 977-978). In anderen Kronländern, wie beispielsweise Galizien, genießt die deutsche Sprache allerdings auch auf dieser Landesebene eine privilegierte Stellung, denn selbst dort, wo das Deutsche keine Verhandlungssprache des Landtages ist, erscheint das Landesgesetzblatt in deutscher Sprache (vgl. ebd.: 976-977). Wenn auch nicht per Gesetz, 229

Eine Ausnahme gibt es und zwar ist gesetzlich festgeschrieben, dass die Delegation des Reichsrates im Schriftverkehr mit der Delegation des ungarischen Reichstages sich der deutschen Sprache zu bedienen hat. Der Vorrang des Deutschen ist hier folglich gesetzlich fundiert (vgl. Stourzh 1985: 91).

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so doch in seiner Geschäftsordnung vom 2. März 1864 beschließt der böhmische Landtag die Gleichberechtigung beider Landessprachen für die Landtagsverhandlungen, der Landesausschuss folgt diesem Prinzip im Oktober 1871 (vgl. Slawitschek 1913: 211).230 Die vollständige Parität beider Landessprachen wird schließlich in der neuen Geschäftsordnung aus dem Jahr 1899 garantiert. Danach werden mündliche und schriftliche Anträge von der Landtagskanzlei in die andere Landessprache übersetzt, Protokolle in beiden Landessprachen verfasst und bei Abstimmungen erfolgt die Fragestellung ebenfalls in deutscher und tschechischer Sprache. Als authentischer Text des Antrages gilt der Originaltext (vgl. Slapnicka 1987: 158).231 In der öffentlichen Verwaltung ist die Sprachenfrage unter dreierlei Gesichtspunkten zu betrachten. Erstens in ihrer Funktion als äußere Amtssprache, d.h. als Verständigungsmittel zwischen den Staatsbürgern und den Behörden. In der Dezemberverfassung wird das Interesse der Bürger, in ihrer Sprache mit den offiziellen Stellen zu kommunizieren, rechtlich geschützt (vgl. Stourzh 1985: 100-102). De facto besitzt das Deutsche auch in diesem Bereich noch länger das Übergewicht. Unter anderem begünstigt der oftmals mündliche Kontakt in dieser Beziehung v.a. aus praktischen Gründen auch nichtdeutsche Sprachen (vgl. Bernatzik 1911: 881). Zweitens ist die Sprache des inneren Dienstes zu beleuchten. Zum einen handelt es sich hierbei um die innere Amtssprache im engeren Sinn „als Sprache einer einzelnen Behörde in allen nicht zum Verkehr mit der Öffentlichkeit oder zur Einsicht der Öffentlichkeit bestimmten Fällen“ (Stourzh 1985: 101) und zum anderen um die amtliche Korrespondenzsprache, d.h. den Schriftverkehr mit über- und untergeordneten oder gleichgestellten Behörden und Ämtern (vgl. ebd.: 100-101). Um der Funktionstüchtigkeit der Verwaltung willen herrscht das absolute Primat der deutschen Sprache. Die Regierung sieht im Staatsgrundgesetz für diesen Bereich auch keinen Anspruch auf Gleichberechtigung gegeben (vgl. ebd.: 102), womit de jure und de facto eine Domäne der H-Varietät exklusiv vom Deut230

231

Im Einzelnen wird festgelegt, dass die Sprache der Eingabe die weitere Erledigung der Angelegenheit sprachlich bestimmt, dass alle Zirkularien, Instruktionen, Kundmachungen etc. in beiden Landessprachen zu erlassen sind. Bei Landesinstituten, die exklusiv für eine Nationalität bestimmt sind, erfolgt die Anpassung an die entsprechende Sprache (vgl. Slawitschek 1913: 211-212 Anm. 3). Ein Antrag unter Führung des tschechischen Abgeordneten Wenzel Seidl zur Durchführung der Gleichberechtigung der Landessprachen in den Ämtern wird bereits im Jahr 1861 gestellt. Er sieht eine Dreiteilung Böhmens in Gebiete mit tschechischer, deutscher und gemischtsprachiger Amtsführung vor. Unabhängig davon sollten Eingaben in beiden Landessprachen möglich sein, die dann auch in der Sprache der Eingabe beantwortet würden. Neben der Gleichstellung des Deutschen und Tschechischen sowohl als äußerer als auch als innerer Amtssprache wird darin ferner die umfassende individuelle Zweisprachigkeit der Beamten gefordert. Der Staatsminister Anton von Schmerling lehnt diesen Antrag mit Verweis auf verfahrensrechtliche Verstöße ab, da die Sprachenfrage nicht zu den Kompetenzbereichen der Landtage zähle. Die von Seidl geäußerten Forderungen bilden gerade nach 1867 das Objekt heftiger Auseinandersetzungen (vgl. Slawitschek 1910: 804-805).

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schen besetzt wird. Der dritte Aspekt der Sprachenfrage bezieht sich auf die sprachliche Qualifikation der Beamten, wobei hier neben den Sprachkenntnissen auch das Sprachbekenntnis Bedeutung gewinnt. Denn Letzteres wird als Zugehörigkeit der Person zu einem bestimmten Volksstamm interpretiert und der Beamte ist somit nicht nur Bindeglied zwischen Behörde und Staatsbürger, sondern zugleich auch Repräsentant einer Nationalität. Für nationalpolitische Gruppen bedeutet die sprachliche Qualifikation der Beamten oftmals den Schlüssel zum Anteil an der staatlichen Macht (vgl. ebd.: 101-102).232 Im weitesten Sinn zur öffentlichen Verwaltung zählend ist auch die Sprache des Militärs zu erwähnen. Neben Heer und Marine, den gemeinsamen Einrichtungen der Österreich-ungarischen Doppelmonarchie, gibt es auch zwei getrennte Landwehren (1868). Als Kommandosprache fungiert in der österreichischen Landwehr, einer Institution allein der zisleithanischen Reichshälfte, die Sprache des stehenden Heeres, also das Deutsche. Sie nimmt auch die Position der inneren Dienstsprache der Landwehr ein. Lediglich im Rahmen der Regimenter kommen die nichtdeutschen Sprachen in Abhängigkeit von deren ,nationaler‘ Zusammensetzung zum Zug (vgl. ebd.: 103, auch Anm. 58), sodass letztendlich im Militär allein das Deutsche weiterhin die klassische Rolle der H-Varietät ausfüllt. Im Bereich der Selbstverwaltung findet der häufigste Kontakt mit den Staatsbürgern auf der untersten Stufe, in den kommunalen Institutionen statt. Dabei ist zu berücksichtigen, dass die Gemeindeselbstverwaltungen seit den 1860er Jahren von zentraler Bedeutung für die Entfaltung der nichtdeutschen Nationen sind, indem ihre Ämter ,erreichbar‘ sind und zudem über die Finanzierungskompetenzen, z.B. in Bezug auf das Volksschulwesen, Einflussnahme versprechen (vgl. Klabouch 1968: 93-94). In Böhmen sind die Gemeinden berechtigt, die deutsche oder tschechische Amtssprache zu wählen, die dann für alle ihr untergeordneten Organe obligatorisch ist. Gleichzeitig ist die Gemeinde verpflichtet, in einer anderen landesüblichen Sprache abgefasste Eingaben anzunehmen, deren Erledigung jedoch wieder in ihrer festgelegten Amtssprache erfolgen kann (vgl. Slawitschek 1913: 70-71). Dennoch besteht kein Zweifel daran, dass das Selbstbestimmungsrecht der Gemeinden „im Interesse der nationalen Majoritäten benützt, manchmal ausgenützt und zuweilen missbraucht“ (Stourzh 1985: 113, 120) wird.233 Der 232

233

Für einen chronologischen Überblick sämtlicher Entwürfe und Anträge von 1849 bis 1910, die sich bei Annahme auf die Regelung der Sprachenfrage bei den autonomen Behörden in Böhmen ausgewirkt hätten, vgl. Slawitschek (1910: 804-827). Hierzu ist die Aktion der Prager Stadtgemeinde, sämtliche Straßenschilder nur noch in tschechischer Sprache zu markieren (1894), zu zählen. Der Deutsche Verein für städtische Angelegenheiten in Prag kann dieses Vorgehen gerade noch abwenden, indem er auf die Forderung der Gemeinde, die tschechischen Straßennamen als Eigennamen zu sehen und deshalb in ihrer tschechischen Form auch in anderen Sprachen zu verwenden, verweist. Die Klage ist erfolgreich, da die gleichberechtigte Verwendung des Deutschen mit dem Tschechischen in der Straßenbezeichnung in Prag nicht gewährleistet werden könnte und damit einen Verstoß gegen Artikel 19 (1867) vorliegt (vgl. Stourzh 1985: 112-113).

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Verwaltungsgerichtshof beginnt ab den 1880er Jahren in seiner Spruchpraxis zum Sprachenrecht der autonomen Verwaltung generell die jeweiligen Minderheiten zu schützen (vgl. ebd.: 108). Auf tschechischer Seite setzt sich seit etwa 1886 die Forderung nach einer durchgehenden Zweisprachigkeit Böhmens ohne territoriale Abgrenzungen durch (vgl. ebd.: 230-231). Erschwert wird die Durchsetzung der sprachlichen Gleichberechtigung auf Gemeinde- und Bezirksebene durch die Tatsache, dass bis zum Ende der Monarchie keine gesetzliche Regelung existiert, die ,Gemischtsprachigkeit‘ anhand prozentualer Anteile definiert und daran verwaltungstechnische Bedingungen knüpft. Zumindest auf Ebene der Landesbehörden sind im zweisprachigen Böhmen Mittel und Personal auf die parallele Berücksichtigung beider Landessprachen ausgerichtet, sodass hier nach Stourzh eine im Bereich der äußeren Amtssprache „vollkommene“ (ebd.: 121) bzw. symmetrische Zweisprachigkeit der Ämter herrscht, die nach 1900 auch de facto weitgehend umgesetzt wird (vgl. Švingrová 2008). In den staatlichen oder ,landesfürstlichen‘ Behörden, die eng an Weisungen der Wiener Zentralstellen gebunden sind, beschränkt sich die Zweisprachigkeit im Wesentlichen auf den Bereich der äußeren Amtssprache. Den Anordnungen aus der Reichshauptstadt folgend werden aus praktischen Gründen, seit der Ära Schmerling (1861) aber auch schon mit Verweis auf das Prinzip der nationalen Gleichberechtigung, nichtdeutsche landesübliche Sprachen bereits lange vor den Taaffe-Stremayerschen Sprachenverordnungen (1880) berücksichtigt. In Böhmen schafft 1871 ein Erlass des Innenministeriums die erste allgemeine Normierung der äußeren Amtssprache, die nun zusammengefasst und verbessert wird (vgl. Stourzh 1985: 125). Dennoch bleiben dem Tschechischen selbst in der Kommunikation nach außen weiterhin Ämter versperrt. So findet erst Ende der 1890er Jahre eine Ausdehnung auf die den Ministerien für Finanzen, Handel und Ackerbau im Königreich Böhmen unterstehenden Behörden statt (vgl. Sutter 1960: 239). Im Bereich der inneren Amtssprache der politischen Behörden ist eine deutliche Hierarchie festzustellen. Gegen diese Privilegierung des Deutschen gerichtet treten im Jahr 1897 die sogenannten Badenischen Sprachenverordnungen in Kraft. Von besonderer Brisanz sind die Bestimmungen zur Parität des Deutschen und Tschechischen im inneren Amtsverkehr sowie die Voraussetzung der sprachlichen Qualifikation der Beamten. Alle nach dem 1. Juli 1901 eingestellten Beamten sollten die Kenntnis beider Landessprachen in Wort und Schrift nachweisen (vgl. ebd.: 238-240). Allerdings werden die Verordnungen auf Grund heftigsten Widerstandes bereits am 24. Februar 1898 durch Badenis Nachfolger Paul Gautsch aufgehoben. Dessen Einführung einer regionalen Differenzierung in ein- und gemischtsprachige Amtsbezirke für die Bereiche der inneren Kommunikation234 und damit die Ausgrenzung der tschechischen Amtssprache aus den deutschsprachigen Gebieten sowie die Beschränkung der Sprachkenntnisse auf die tatsächlichen Be234

Für die äußere Amtssprache gilt weiterhin die allgemeine Zweisprachigkeit der Institutionen.

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dürfnisse hat ebenfalls nicht sehr lange Bestand. Denn bereits am 14. Oktober 1899 wird mit den Clary’schen Sprachenverordnungen der Rechtszustand vor 1897 wieder hergestellt und damit die Verhältnisse entsprechend der TaaffeStremayrschen Verordnungen von 1880 (vgl. Stourzh 1985: 126-127 Anm. 115). Die innere deutsche Amtssprache wird in der staatlichen Verwaltung wieder zum rechtlichen Tabu, das in der Praxis nicht mehr ganz rekonstruierbar ist (vgl. Hlavačka 2006: 141). Im Vergleich zu den autonomen Behörden sieht Stourzh die staatliche und politische Verwaltung verstärkt als „Hüter der sprachlichen Gleichberechtigung“ (Stourzh 1985: 126-127), da sie für die Rechte lokaler sprachlicher Minderheiten gegenüber den oftmals von nationalem Prestigestreben gelenkten autonomen Organen eintreten, allerdings betrifft dies (fast) ausschließlich die Kommunikation nach außen. Ähnliche Verhältnisse treffen für das Gerichtswesen zu. Bereits im Jahr 1852 wird in Böhmen das Deutsche als innere Dienstsprache235 für alle Gerichte normiert. Zudem öffnen die teilweise noch aus dem 18. Jahrhundert stammenden gesetzlichen Normen Interpretationsmöglichkeit zur ,Landesüblichkeit‘ von Sprachen, die den Wirkungsbereich des Tschechischen auch im Bereich der gerichtlichen Korrespondenz gegenüber den Parteien einzuschränken vermögen (vgl. Stourzh 1985: 140, 156-157). Im Rahmen der Taaffe-Stremayrschen Sprachenverordnungen wird schließlich die Verwendung beider Landessprachen im Verkehr der Gerichte mit Parteien und Zeugen bzw. im Strafprozess mit Angeschuldigten und Zeugen für das ganze Land reguliert (vgl. ebd.: 159). Im Laufe der 1880er Jahre werden auf Verordnung des Justizministers Alois Pražák außerdem die bisher üblichen Übersetzungen tschechischer Erledigungen ins Deutsche abgeschafft und somit die Gleichberechtigung wieder einen Schritt vorangetrieben (vgl. ebd.: 160-161; Malý 1991: 266), allerdings gelingt der deutschböhmischen Opposition diese Besserstellung des Tschechischen im sogenannten böhmischen Ausgleich von 1890 wieder zu dämpfen. Indem die Ratsstellen am Oberlandessgericht in zwei Gruppen aufgeteilt werden, von der Erstere mit zweisprachigen und Letztere mit nur einsprachig deutschen Richtern besetzt werden muss, und in gleicher Weise getrennte Kommissionen für Personal- und Disziplinarangelegenheiten und getrennte Disziplinarsenate eingeführt werden, wird faktisch eine Sonderstellung der deutschsprachigen Gebiete in Böhmen anerkannt (vgl. Stourzh 1985: 162). Auch wenn zur Jahrhundertwende die erneute Einführung des Deutschen als alleiniger innerer Dienstsprache infolge der Aufhebung der Badenischen Sprachenverordnungen insbesondere in den tschechischsprachigen Landesteilen praktisch „immer mehr zur Fiktion“ (ebd.: 165)236 wird, entspricht dies zwar einer fakti235 236

Gegenüber der ,Sprache des inneren Dienstes‘ steht die ,Sprache der Gerichte gegenüber den Parteien‘. Abgesehen von der Funktion als innerer Amtssprache in den Gerichten findet auch die Korrespondenz zwischen den Gerichten und staatlichen Behörden in den tschechischsprachigen Gebieten und sogar jene mit den Gerichten und Behörden in den deutschsprachigen Gebieten auf

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schen, aber keiner rechtlichen sprachlichen Gleichberechtigung. Außerdem erkennen sowohl Reichsgericht als auch der Oberste Gerichtshof erst zu Beginn des 20. Jahrhunderts die zweisprachige Gleichberechtigung237 Böhmens an und heben damit (zumindest theoretisch) die privilegierte deutsche Einsprachigkeit im Gerichtswesen auf.238 Die offizielle Hegemonie der deutschen Sprache in Österreich kommt auch in anderen Gebieten staatlichen Lebens, wie etwa dem Eisenbahn- und Postwesen zum Ausdruck. Im Jahr 1884 führt das Handelsministerium Deutsch als innere Amtssprache in der staatlichen Eisenbahnverwaltung ein (vgl. Malý 1991: 267). In der Bekanntmachung vom 16. Januar 1896 wird diese Vorherrschaft nochmals bestätigt. Das Handels- und Eisenbahnministerium ordnet an, dass bei den Staatsbahnen im Innern als auch in der Korrespondenz mit Zivil- und Militärbehörden das Deutsche zu verwenden sei. Obgleich nach der 1890 von der Generaldirektion der Bahn erlassenen Regelung den Bahndirektionen in Prag, Pilsen und Olmütz die zweisprachige innere Amtsführung vor Ort erlaubt ist und auch praktiziert wird, hat das Deutsche die Position der offiziellen Sprache der Bahn inne (vgl. Hlavačka 2006: 142). Gleiches gilt für das Post- und Telegrafenwesen, deren innere Amtssprache – ohne dass dazu eine Vorschrift existiert – bis 1897 ausschließlich dem Deutschen vorbehalten ist. Den Umschwung für das Tschechische bringen die Badenischen Sprachenverordnungen (1897), deren erneute Aufhebung dann in der Praxis nicht mehr vollständig umsetzbar ist (vgl. Okey 2001: 307). Offiziell bleibt zu Beginn des 20. Jahrhunderts jedoch das Primat der deutschen Sprache erhalten (vgl. ebd.: 142-143). Am wenigsten überraschen und aufrütteln mag die Vorrangstellung des Deutschen in den Spitzen der staatlichen Verwaltung in Wien.239 Obgleich keine gene-

237 238

239

Tschechisch statt. Selbst die in tschechischer Sprache verfassten Noten an oberste Gerichtsinstanzen einschließlich des Wiener Justizministeriums werden ohne Protest angenommen (vgl. Hlavačka 2006: 140-141). Am Beispiel der Arbeiter-Unfall-Versicherungs-Anstalt, dem späteren Arbeitgeber Franz Kafkas, zeigt Švingrová, dass faktisch neben dem Deutschen auch das Tschechische nach 1897 in der Kommunikation zwischen der Arbeiter-Unfall-Versicherungs-Anstalt in Prag und der k. k. Statthalterei als zuständiger politischer Landesbehörde, d.h. als innere Amtssprache, eingesetzt wird (vgl. Švingrová 2008). Vgl. hierzu Anm. 124: 70. Im Grunde bedeutet dies im Idealfall eine Förderung des individuellen Bilingualismus unter Juristen bzw. Richtern, die sich fortan je nach Fall bzw. Kläger vor Gericht sprachlich anzupassen hatten. Grundsätzlich hat die Doppelgleisigkeit des österreichischen Verwaltungssystems nicht nur zur Folge, dass repräsentative, staatliche und bürokratische, landesherrliche Organe nebeneinander bestehen, sondern sich auch zwei getrennte Beamtenapparate herausbilden. Sie unterscheiden sich nicht nur in der Dienststellung einschließlich der Gehaltsregelung und fachlichen Qualifikation, sondern auch in der nationalen Zusammensetzung und Gesinnung. Im Bereich des Selbstverwaltungsapparates ist die ,Treue zum Kaiser‘ wenig ausgeprägt, vielmehr sind ihre Vertreter der nationalen Propaganda ausgesetzt (vgl. Malý 1986: 382).

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rellen Regelungen zur äußeren Amtssprache240 existieren, ergibt sich aus der Tradition der Staatsverwaltung einerseits und dem Wunsch der Parteien nach Erledigung ihrer Anliegen andererseits der Brauch, Eingaben in den verschiedenen landesüblichen Sprachen anzunehmen, ihre Bearbeitung jedoch in deutscher Sprache zu erledigen. Lediglich im Büro des tschechischen Landsmannministers wirkt das Tschechische auch auf höchster politischer Ebene (vgl. Stourzh 1985: 139140). Im Grunde nimmt das Deutsche in diesen Funktionen die Rolle einer Staatssprache ein, diese privilegierte Stellung offiziell aber keiner Sprache zugesprochen wird. Ein Blick auf den riesigen Sprachenapparat der Europäischen Union demonstriert eindrucksvoll, welcher Aufwand erforderlich ist, allein die Gleichberechtigung mehrerer offizieller ,Amtssprachen‘ zu gewährleisten. Die Privilegierung des Deutschen in der Habsburger Monarchie geht zudem über die Vorrangstellung einiger ,Arbeitssprachen‘241 auf europäischer Ebene hinaus, denn in den Wiener Zentralbehörden ist das Deutsche nicht nur auf die innere Amtssprache beschränkt. Dadurch, dass letztendlich nur die ,Eingabe‘ in nichtdeutschen Sprachen möglich ist und jegliche ,Ausgabe‘ – u.a. ja auch das authentische Reichsgesetzblatt – vorwiegend in deutscher Sprache erfolgt, dominiert das Deutsche auch im Bereich der äußeren Amtssprache. Ohne Zweifel muss hier nicht der Vorwurf nationalpolitisch geleiteten Verhaltens zutreffen, vielmehr ist eine an der Praxis orientierte und v.a. effektive Arbeitsweise zu vermuten, die durch eine (wohl niemals in Erwägung gezogene) Gleichbehandlung aller Sprachen erheblich erschwert worden wäre. Doch von einer Gleichberechtigung aller Sprachen kann dann auch nicht die Rede sein. Zusammenfassend ist in Bezug auf die institutionell unterstützenden Faktoren festzuhalten, dass die deutsche Sprache auf allen Ebenen der Verwaltung eine Vorrangstellung innehat, ohne Zweifel die Position einer H-Varietät einnimmt und ihre Kenntnis im gesamten Zeitraum nur zum Vorteil und oftmals auch Voraussetzung für eine Tätigkeit im staatlichen Dienst ist. Während deutsche Einsprachigkeit selbst in den letzten Dezennien der Monarchie theoretisch kein Hindernis darstellt, beeinträchtigt tschechische Einsprachigkeit soziale Mobilität, da die Position der inneren Amtssprache zumindest per Gesetzeslage ausschließlich dem Deutschen vorbehalten ist. Dennoch gewinnt das Tschechische gegenüber dem Deutschen in der staatlichen Verwaltung in Böhmen im Laufe der Jahrzehnte auch mehr an Bedeutung (vgl. Švingrová 2008). Ein Schritt zur Durchführung der im Staatsgrundgesetz (1867) festgelegten Gleichberechtigung sind die TaaffeStremayerschen Sprachenverordnungen (1880). Nach den gescheiterten Funda240

241

Ausnahme bildet das Patentamt, es regelt als einzig zentrales Amt die äußere Amtssprache: Dienst-, Geschäfts- und Verhandlungssprache ist das Deutsche, Eingaben in den landesüblichen Sprachen sind jedoch möglich. Ihre Erledigung erfolgt zwar in deutscher Sprache, aber unter Beigabe einer Übersetzung (vgl. Stourzh 1985: 139). Zur tatsächlichen Verwendung der Sprachen innerhalb der europäischen Institutionen vgl. z.B. Schlossmacher (1996); Schreiner (2006); Wu (2004).

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mentalartikeln aus dem Jahr 1871 erfolgt darin endgültig eine offizielle Anerkennung des Tschechischen, und zwar als äußerer Amtssprache, in der Praxis ist sie bereits weitgehend eingeführt, nun aber auch rechtlich gestützt und einklagbar. Dies muss allerdings keine extra Motivation zur Ausbildung eines individuellen deutsch-tschechischen Bilingualismus bedeuten. Denn die externe Zweisprachigkeit der Institutionen kann intern, wie z.B. in der Arbeiter-Unfall-VersicherungsAnstalt in Prag, wo Franz Kafka arbeitet, über die territoriale Aufteilung der Zuständigkeitsbereiche unter dem Aspekt der sprachlichen Mehrheit der Einwohnerschaft geregelt werden und nicht gezwungenermaßen über die Bilingualität der Beamten (vgl. Nekula 2003: 155-173). Sicherlich sind die Badenischen Sprachenverordnungen (1897) trotz ihrer kurzen Geltungsdauer als Höhepunkt eines tschechischen Zwischenspiels einzustufen. Schließlich bedingt allein die Durchsetzung der Sprachforderungen von tschechischer Seite eine konsequente Mobilisierung der Bevölkerung, politische Macht und gezielte Druckausübung, die sich im Laufe der 1890er entfalten und immerhin kurze Zeit von Erfolg gekrönt sind – „the nineties became increasingly turbulent and the turbulence culminated in the troubles which followed the famous Badeni Language Decrees“ (Wiskemann 1967: 43). In gleicher Weise demonstriert allerdings die erneute Absetzung des Tschechischen als innerer Amtssprache und die Aufhebung der sprachlichen Qualifikation für Beamte das immer noch herrschende Übergewicht des Deutschen. Nicht zu vergessen ist allerdings der zunehmende Einfluss der tschechischen Sprache ,an der Basis‘, und zwar in den Gemeinden, den kleinsten autonomen Verwaltungseinheiten. Hier wird die Amtssprache von der Kommune gewählt, sodass zum einen böhmenweit die quantitative Mehrheit der tschechischsprachigen Bürger zum Tragen kommt und zum anderen dieser Bereich auch für nationales Prestigestreben besonders anfällig ist. Da bei Verwaltungsangelegenheiten gerade zwischen Gemeinde und ,Normalbürger‘ am ehesten Kontakte entstehen, ist die Bedeutung des Tschechischen insbesondere auf lokaler Ebene, wie etwa der Prager Gemeinde, nicht zu unterschätzen. Die diglossischen Verhältnisse sind somit auf Ebene der Monarchie mit der unbestrittenen Dominanz des Deutschen in der Domäne Verwaltung am stärksten ausgeprägt. In Böhmen verliert sich diese Dominanz je niedriger die betroffene Ebene der Verwaltungshierarchie angesiedelt ist und auf territorial tschechischsprachige Einheiten trifft. Dies führt dazu, dass – wie in Prag – das Deutsche in der Domäne Verwaltung nach dem Personalitätsprinzip (vgl. Anm. 124: 70) verwendet wird, allerdings die Position der H-Varietät auf dieser Ebene bereits deutlich vom Tschechischen dominiert wird. Diglossie wird hier durch soziale Zweisprachigkeit verdrängt. Generell weist dies darauf hin, dass Böhmen in Bezug auf (,Außen-‘)Diglossie (vgl. Anm. 164: 90) und deren Wandel nicht als ,kompakter Raum‘, sondern je nach sprachlich-territorialem Gebiet differenziert zu betrachten ist.242 242

Eine differenzierte Analyse der diglossischen Verhältnisse in den jeweiligen Landesteilen –

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3.2.1.1.2

Wirtschaft

Der politische (Sprach-) Nationalismus, der sich von tschechischer Seite die Durchsetzung der Gleichberechtigung der beiden Landessprachen in Böhmen auf die Fahne schreibt und auf deutscher Seite weiterhin von der Überlegenheit des Deutschen als Vermittlungssprache in der Habsburger Monarchie überzeugt ist und notfalls die territoriale Abspaltung der deutschsprachigen Gebiete in Böhmen fordert, ist auch im Wirtschafts- und Kultursektor ,lesbar‘. Sprachnationale Segregationsbestrebungen bewirken den Auf- und Ausbau paralleler ökonomischer und kultureller Infrastrukturen, nicht zuletzt auch durch die Teilung oder ,nationale Beschlagnahmung‘ bereits bestehender Einrichtungen. Aus soziolinguistischer Perspektive erobert hier das Tschechische Domänen der H-Varietät. Der Mitte des 19. Jahrhunderts aufkommende Wirtschaftsnationalismus243 wird zum integralen Bestandteil der nationalen Bewegungen (vgl. Albrecht 2006: 173). Dem offensiven Charakter des ,tschechischen‘ Wirtschaftsnationalismus steht eine überwiegend defensive Form auf deutschböhmischer Seite gegenüber. Denn hier geht es in erster Linie um die Sicherung der bestehenden Strukturen und den Schutz des traditionellen deutschen Besitzes an Boden und Immobilien, auf dem Kapital-, Waren- und Arbeitsmarkt gegenüber der expandierenden ,tschechischen‘ Konkurrenz (vgl. Kubů 2004: 79). Von tschechischer Seite gilt die zu erreichende wirtschaftliche Unabhängigkeit „as a prelude to [...] political power“ (Albrecht 1992: 69). Denn schon allein die generelle Dependenz des Wahlrechts von der Steuerleistung erfordert einen Zuwachs an ,tschechischer‘ ökonomischer Macht, um aussichtsreich am politischen Leben teilnehmen zu können (vgl. Stölzl 1971: 165). Bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts ist für den Wirtschaftssektor in Böhmen der auffällige Gegensatz zwischen Landesinnerem und den Randgebieten charakteristisch, dabei umschlossen die überwiegend deutschsprachigen nordwest- bis nordöstlichen Manufakturgegenden ein vornehmlich tschechischsprachiges Agrargebiet. Sprachliche Unterschiede fielen demnach weitgehend mit wirtschaftlichen zusammen. Eingeleitet wird der Wandel durch die aufkommende Industrialisierung und Modernisierung, neue Produktionstechniken und die Öffnung des österreichischen Marktes (vgl. Stölzl 1971: 147). Das erfolgreiche Zusammenspiel von ,deutschem‘ Großkapital und zentralistischem, neoabsoluten System in den 1850er Jahren lässt aber keinen Zweifel daran, dass ein tschechisches, wirtschaftliches Nationalprogramm nicht ohne eine breite materielle Basis verwirklicht werden würde (vgl. ebd.: 136).

243

deutsch- oder tschechischsprachig oder mit unterschiedlicher Intensität gemischtsprachig – kann an dieser Stelle nicht geleistet werden. Zu verschiedenen Definitionen des Wirtschaftsnationalismus vgl. Schultz (2004). Im Folgenden wird damit vereinfachend das Verhalten bezeichnet, das die Angehörigen einer nationalen Gemeinschaft gegenüber Vertretern einer anderen nationalen Gemeinschaft im Wirtschaftsleben bevorzugt (vgl. Kubů 2006: 73). Zum Wirtschaftsnationalismus in Böhmen vgl. Albrecht (2006).

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Auch der österreichische Liberalismus gründet schließlich auf der politischen Herrschaft des ,deutschen‘ Großbürgertums, das durch die große Wirtschaftskrise infolge des Wiener Börsenkrachs 1973 zunächst finanziell und schließlich auch politisch-weltanschaulich erschüttert wird und 1879 die parlamentarische Führung in Österreich und 1883 auch im böhmischen Landtag verliert (vgl. Stölzl 1975: 42). Trotzdem gelingt den ,Tschechen‘ kein radikaler Vorstoß – weder auf politischer und noch weniger auf wirtschaftlicher Ebene. Die Ausbildung von Eliten und die gezielte Förderung ,tschechischen‘ Besitz- und Unternehmertums gehört zu den Kernpunkten des nationalen Programms der ,tschechischen‘ Bourgeoisie. Gegen Ende der 1880er Jahre setzt auch auf wirtschaftlichem Gebiet eine Dynamisierung des tschechischen Emanzipationsprozesses ein, sodass die beiden folgenden Jahrzehnte sogar als ,volkswirtschaftliche tschechische Wiedergeburt‘ (vgl. Bráf 1923: 169) bezeichnet werden (vgl. Kubů 2004: 75). Zur Ausnutzung der wachsenden ökonomischen Leistungsfähigkeit Böhmens verfolgen tschechische Nationalisten zweierlei Programme, um der etablierten ,deutschen‘ Unternehmenswelt Konkurrenz zu bieten. Selbsthilfe und Protektionismus à la ,svůj k svému‘ (jeder zu seinesgleichen) lauten die Parolen für die wirtschaftliche Emanzipation der ,Tschechen‘. Die Umsetzung im Sinne einer nationalen Wirtschaftspolitik wird jedoch erschwert durch die schwache Präsenz der ,Tschechen‘ in der höheren Verwaltung und den staatlichen Autoritätsinstanzen sowie auf Grund des territorial nicht geschlossenen Wirtschaftsraumes. Differenzierte Unternehmenssteuern, gesonderte Tarifregelungen, spezielle Subventionen oder dergleichen fallen ohne Gesetzgebungsautorität weg. Nationale Wirtschaftspolitik muss demnach weitgehend auf Freiwilligkeit, die Mitarbeit der ,tschechischen‘ Produzenten, Investoren und Konsumenten beruhen (vgl. Albrecht 1992: 69-70, 75). Selbsthilfe fordert nicht nur individuelle Eigeninitiative, sondern schließt gleichfalls kollektive Unterstützung über Verbände, Ausbildungsinstitutionen und Kooperationen ein – und diese sind gewiss nur in einer ,tschechischen‘ Version vorstellbar. Angesichts der rasanten ökonomischen Entwicklung ist es – auch vor dem Hintergrund nationaler Interessen – ein Anliegen der bürgerlichen Vertreter die klassischen ,tschechischen‘ Wirtschaftszweige, v.a. das Handwerk, zu schützen. Zentraler Anknüpfungspunkt ist hierfür der noch unter einem landespatriotischen Etikett im Jahr 1833 gegründete Gewerbeverein (Průmyslová jednota). Bereits in der neoabsolutistischen Zeit arbeiten die tschechischen bürgerlichen Nationalen an einer Nationalisierung des Vereins, die zum einen durch den Mitgliederzulauf ,tschechischer‘ Handwerker und Kleinhändler und zum anderen infolge der Errichtung der Handelskammern (1850) und dem damit verbundenen Abgang des ,deutschen‘ Großbürgertums, für das diese neue Brücke zwischen politischer Verwaltung und Wirtschaft nun attraktiver ist, weitgehend gelingt (vgl. Stölzl 1971: 136-137; Urfus 1964: 26-27). Die Gewährleistung tschechischsprachiger Ausbildungsmöglichkeiten nimmt von Anfang an einen zentralen Platz in der

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Tätigkeit des Gewerbevereins ein. Ziel ist die Eröffnung einer Industrieschule mit tschechischer Unterrichtssprache für die, wie u.a. beim Bau des Nationaltheaters oder über die Initiative des Schulvereines bei Volksschulen, in der Bevölkerung gesammelt wird – „ein demonstrativ nationales Unternehmen“ also (Stölzl 1971: 137; vgl. Purš 1988: 36, 39). Zur Realisierung dieses Projektes kommt es bereits im Jahr 1857 (vgl. ebd.: 141). Im gleichen Jahrzehnt wird auch begonnen, wirtschaftliche Grundlagenliteratur in tschechischer Sprache zu verfassen (u.a. František L. Chleborád, František L. Rieger, Antonín Skřivan) (vgl. Albrecht 1992: 6970). Von großer Bedeutung für die Herausbildung des tschechischen Wirtschaftsbürgertums ist das Prager ständische Polytechnikum244, das – trotz deutscher Unterrichtssprache – bereits in den 1850er Jahren als „Hochburg nationalen Gedankenguts“ (Stölzl 1971: 164) galt. Tschechisch wird hier im Rahmen der grundlegenden Reform des Jahres 1863, in der das Polytechnikum u.a. Hochschulniveau erreicht, als gleichberechtigte Unterrichtssprache eingeführt. Sprachliche Uneinigkeiten sind sechs Jahre später der Auslöser für die Teilung des Polytechnikums in ein deutsches und ein tschechisches Institut (vgl. u.a. Sekyrková 2003) – erste parallele Strukturen im höheren Bildungswesen sind damit etabliert. Das Engagement, im Wirtschaftssektor eine eigene Elite zu schaffen, wird insbesondere durch die 1862 gegründete Vereinigung böhmischer Geschäftsleute Merkur markiert. Seit 1867/1868 ist Merkur unter tschechischer Kontrolle und wandelt mit einer Satzungsänderung, die das Tschechische zur Verhandlungssprache im Verwaltungsausschuss bestimmt, den ehemals utraquistischen Verein zu einem tschechischen. Nicht zufällig entsteht 1867 in Prag der Deutsche Kaufmännische Verein (vgl. Jakubec 2004: 109-110). Merkur ist federführend bei der Gründung der Českoslovanská akademie obchodní (Tschechoslavische Handelsakademie) in Prag 1872, wo eine höhere kaufmännische Ausbildung in tschechischer Sprache geboten wird (vgl. Purš 1988: 44-45; Nefe 1986: 124-138). Bis dahin wurde das Tschechische an der Deutschen Handelsakademie in Prag nur als unverbindliche Fremdsprache gepflegt (vgl. Jakubec 2004: 113). In den kommenden Jahrzehnten folgt die Errichtung weiterer Handelsakademien mit tschechischer und auch solcher mit deutscher Unterrichtssprache in den größeren böhmischen Städten (vgl. Albrecht 1992: 72; Nefe 1986: 138-140). Absolventen der tschechischen Fachhochschulen und Akademien gehören zu den besten der Monarchie und tragen zur Formierung eines neuen tschechischen Bildungsbürgertums bei (vgl. Kořalka 2003: 80).245 Nicht zu vergessen ist die Teilung der Prager Karl-Ferdinand244 245

Zur Geschichte des Prager Polytechnikums, das 1875 verstaatlicht wird, vgl. Jílek / Lomič (1973). Zu Beginn des 20. Jahrhunderts führen die erhöhten Anforderungen an die fachlichen Kenntnisse der Lehrer an den Handelsakademien zur Errichtung eines außerordentlichen Lehrstuhls für Handelswissenschaften an der Tschechischen Technischen Hochschule in Prag (1909) (vgl. Jakubec 2004: 114).

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Universität, wo fortan ,tschechische‘ Wirtschaftsprofessoren, die oftmals in der Politik engagiert sind, auf eine ganze Generation ,tschechischer‘ Studenten zur Schaffung einer nationalen Ökonomie Einfluss nehmen können (vgl. Luft 1988; ders. 2006).246 In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts entwickelt sich Böhmen zweifelsohne zum industriellen Schwerpunkt Österreichs und ist Schauplatz einer stürmischen Entfaltung kapitalistischer Regsamkeit (vgl. Prinz 1968: 202-216; Rudolph 1976; Brusatti 1973). Das Gründungsfieber, das nach der Lösung der deutschen und der ungarischen Herrschaftsfrage 1867 im Donaureich ausbricht, führt u.a. zu einer rapide wachsenden Zahl an Aktiengesellschaften. Die lediglich spekulativen Absichten zahlreicher Initiatoren führen dazu, dass der Großteil der jungen Kapitalunternehmen den Börsenkrach des Jahres 1873 nicht überlebt. In Prag beispielsweise können sich von mehr als zwanzig Banken nur vier behaupten (vgl. Novotný / Šouša 2004: 52). Auch die erst 1871 gegründete Prager Börse leidet sehr unter der Krise. Das allgemeine Interesse am Börsenhandel geht stark zurück. Zudem verlagern sich die Börsengeschäfte nach Wien, dem Sitz der wichtigsten börsennotierten Unternehmen aus der Industrie, dem Handels- und Finanzwesen. Infolge des Börsenkraches und des sinkenden Geschäftsvolumens erleben auch die ,tschechischen‘ Börsianer und auch die tschechische Sprache einen Rückschlag. Der ,deutsche‘ Einfluss, der durch die zahlreichen jüdischen Börsenmitglieder nochmals gesteigert wird, überwiegt nun an der Börse. Die bisher ,tschechische‘ Spitze der Prager Börsenkammer wird durch eine ,deutsche‘ ersetzt, die Räte ,deutscher‘ Nationalität besitzen in der Kammer die Zweidrittelmehrheit und Deutsch ist die Amtssprache (vgl. Kárník 2004: 96-97). Im Gegensatz hierzu steht der Bedeutungsgewinn des Tschechischen in der Kommunikation in der Handels- und Gewerbekammer247. Infolge der Senkung

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So hat etwa die – auf dem eigens dafür eingerichteten Prager Messegelände stattfindende – Jubiläumsausstellung des Jahres 1891 nicht nur das Ziel, den Anspruch Prags auf den Rang eines internationalen Handels- und Industriestandorts zu unterstreichen, sondern auch die Bedeutung der tschechischen Sprache ,nach außen‘ zu transportieren. In der 1896 gegründeten Zeitschrift Obzor národohospodářský bezeichnet der Herausgeber Josef Gruber und der tschechische Ökonom Albín Bráf die Jubiläumsausstellung sogar als Wendepunkt der öffentlicher Wahrnehmung wirtschaftlicher Themen und ihrer nationalen Bedeutung. Nach der Absage der überwältigenden Mehrheit deutscher Aussteller wird die Veranstaltung zu einer Demonstration der erfolgreichen national tschechischen wirtschaftlichen Entwicklung. Im Gegenzug organisieren die Deutschböhmen 1906 eine Ausstellung in Reichenberg, die der deutschböhmischen nationalen Präsentation dient (vgl. Albrecht 1992: 81-82 Anm. 20; Purš 1988: 54-56). Die Handels- und Gewerbekammern werden ursprünglich als Beratungsinstitutionen des Handelsministeriums angesehen (Gesetz 1850, Novellierung 1868). Allmählich wandeln sie sich jedoch zu Selbstverwaltungsinstitutionen. Von den 26 österreichischen Handels- und Gewerbekammern sind fünf in Böhmen, deren Tätigkeit sich auf ein bestimmtes Gebiet und auf alle Kategorien von Industrie, Handel und Bergbau erstreckt und einen verhältnismäßig breiten Komplex von Verwaltungs-, Beratungs-, Unterstützungs- und Gründungsaufgaben bis hin zur Politik

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der Steuerleistung von acht auf fünf Gulden in der neuen Wahlordnung von 1882 erhöht sich die Anzahl der Einzelhändler und Gewerbetreibenden und die ,tschechischen‘ Vertreter gewinnen die Mehrheit in der Kurie in Pilsen (1882), in Budweis (1882) und in Prag (1884), Reichenberg und Eger bleiben ,deutsch‘ dominiert (vgl. Albrecht 1997: 298-299). In der Landeshauptstadt reagieren die ,Deutschen‘ darauf mit der Sezession und gründen den Deutschen Handwerkerverein in Prag (vgl. Jakubec 2004: 107). Auf der Ebene der Handelsgremien248 findet 1884 ebenfalls eine sprachnationale Segregation statt, diesmal von tschechischer Seite ausgehend. Neben dem Prager Handelsgremium, das 1884 noch je 200 ,Tschechen‘ und ,Deutsche‘ sowie 400 Juden zu seinen Mitgliedern zählt, wird im gleichen Jahr das tschechische Nové obchodní grémium (Neues Handelsgremium) errichtet, das unter anderem die tschechische Sprache in der Korrespondenz, auf Firmenschildern etc. einführt (vgl. Jakubec 2004: 108). Ab den 1880er Jahren entstehen zahlreiche berufliche Assoziationen, die eine Emanzipation der tschechischen Kaufmannschaft anstreben und in der Verwendung der tschechischen Sprache eine notwendige Voraussetzung sehen (vgl. ebd.: 111-112). Mit dem Ziel der Förderung der wirtschaftlichen Entwicklung des eigenen Volkes in Industrie, Handwerk und Landwirtschaft werden auf tschechischer wie deutscher Seite außer den Schulvereinen auch wirtschaftliche ,Schutzvereine‘ gegründet249, die beispielsweise über Subventionen und finanzielle Beihilfe ihre Mitglieder unterstützen (vgl. Hořejš 2004: 203, 215). Zu den Anliegen des aufkommenden Vereinswesens zählt ohne Zweifel, die eigene Landessprachen in möglichst vielen Organisationen zu implementieren und großzügig zu verbreiten, gerade die v.a. in den Grenzgebieten ansässigen ,Schutzvereine‘ verfolgen dies meist in sehr konfrontativer und aggressiver Weise. Die Verteilung und das Wachstum der Fabrikbetriebe während des letzten Jahrzehnts der Donaumonarchie dokumentiert bei einer Gegenüberstellung von Wien / Niederösterreich und Prag / Böhmen klar die Dominanz Böhmens (weniger Prags) als führendes Industrieland der Monarchie (vgl. Otruba 1987: 64, 83). Mo-

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umfasst (vgl. Jakubec 2004: 106-107). Für eine Analyse der böhmischen Handelskammern im Licht der deutsch-tschechischen Beziehungen vgl. Albrecht (1997). Damit sind Gewerbegenossenschaften gemeint, die versuchen, Gewerbetreibende mit verbindlicher und obligatorischer Mitgliedschaft zu schützen und unterstützen. Zunächst sind sie nach territorial-professionellem, später nach territorial-nationalem Prinzip organisiert (vgl. Jakubec 2004: 108). Aus gesellschaftlicher Perspektive sind die Schutzvereine vorwiegend in der Mittelschicht anzusiedeln, im Arbeitermilieu ist ihre Agitation eingeschränkt (vgl. Beneš 2002: 31-32). Auf beiden Seiten entwickeln sich die jeweiligen lokalen Minderheiten zum bevorzugten Terrain der alltäglichen tschechisch-deutschen Konfrontation. Am kleinen Körper dieser nationalen Bruchstücke, die nicht einmal jeweils ein Zehntel der Bevölkerung ausmachen, bildet sich der „Wasserkopf des Nationalitätenkampfes“ jener Zeit, nämlich eine „Fülle von Organisationen“, die sich nur auf die Unterstützung der Minderheiten spezialisieren und in deren Aktivitäten die beiden Nationen als Ganzes hineingezogen werden – Politiker- und Pressevereinigungen, Vereine und Selbstverwaltungskörperschaften (vgl. Křen 2000: 255-256).

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tor zur Bildung tschechischen Wirtschaftskapitals ist die spezialisierte landwirtschaftliche Industrie (v.a. Mühlen-, Brau-, Zuckerindustrie), die, um die eigene finanzielle Ausstattung gewährleisten zu können, Aktiengesellschaften und später ebenfalls gesonderte Finanzierungsinstitute ins Leben ruft (vgl. Stölzl 1971: 157165). Sie wirkt auch wesentlich bei der Gründung der selbständigen ,tschechischen‘ Živnostenská banka (1868) mit, die bis in die neunziger Jahre als „,Girozentrale‘ zwischen den kleinen örtlichen tschechischen Vorschußkassen und der Nationalbank“ (Otruba 1987: 66) fungiert. Die lokalen Kreditgenossenschaften sollen im Rahmen des ,Selbsthilfe-Programms‘ eine größere Unabhängigkeit der ,tschechischen‘ Kleinunternehmer garantieren und sicherstellen, „that the profit of Czech labor remained in Czech hands“ (Albrecht 1992: 72; vgl. Rudolph 1976: 122). Im Vergleich zu den ,deutschen‘ Finanzinstituten bleibt der Geschäftsumfang der Živnostenská banka zwar lange Zeit irrelevant250, doch ist ihre nationale Bedeutung an der Basis kaum zu überschätzen (vgl. Otruba 1987: 66; Wiskemann 1967: 39-40)251. Der ökonomische Aufstieg der tschechischen Sprache bzw. die zunehmende wirtschaftliche Bedeutung ihrer Sprecher deutet sich zudem in der wachsenden Anzahl ,tschechischer‘ Banken an. Bis Anfang der 1890er Jahre werden die meisten Banken in Böhmen nur deutsch protokolliert252, danach größtenteils nur mehr tschechisch, im Versicherungswesen findet diese Entwicklung noch extremer statt. Zusätzlich lassen sich in ihrem Funktionärskader überwiegend deutsch gebliebene Unternehmen doppel- und mehrsprachig protokollieren. Bis zur Jahrhundertwende bildet sich nicht nur ein sozial, sondern auch ein sprachlich differenziertes Bankenwesen heraus. So versuchen beispielweise wirtschaftliche Interessensverbände, im Vorfeld politischer Parteien, Mitglieder zur Geldanlage bei ,ihren‘ Instituten zu zwingen, d.h. Bauern bei Raiffeisenkassen, Gewerbetreibende bei Volkskreditbanken, Arbeiter bei Sparvereinen – jeweils mit der richtigen Geschäftssprache. Zunächst kann sich liberales und individuelles Denken, gelenkt von natürlichem Gewinnstreben, diesen gesellschaftspolitischen Zwängen meist erfolgreich widersetzen (vgl. Otruba 1987: 65-68). Besonders ausgeprägt ist das Maß an nationaler Toleranz und Ausgleichsbereitschaft unter den Vertretern der Agrarwirtschaft. Bis in die 1880er Jahre kann 250

Erst nach 1900 erhöhen sich ihre Industriebeteiligungen wesentlich (vgl. Otruba 1987: 66, 7273). 251 So muss der fachlich zwar qualifizierte und in Zeiten der Börsenkrise stabilisierend agierende Direktor Johann Moser 1880 schließlich seinen Rücktritt erklären, denn sein „deutschnationales Auftreten“ wird von den Hauptaktionären und -einlegern der Živnostenská banka, den tschechischen Vorschusskassen, „als unerträglich empfunden“ (Novotný / Šouša 2004: 52). 252 Otruba berücksichtigt in seiner Statistik die Zahl der Unternehmen hinsichtlich ihrer nationalen Firmenbezeichnung sowie der nationalen Zusammensetzung des Führungsstabes, wie sie im Compaß, dem Finanziellen Jahrbuch für Österreich-Ungarn veröffentlicht werden, sowie hinsichtlich ihrer jeweiligen wirtschaftlichen Bedeutung gemäß der Bilanzsumme der einzelnen Institute. Er erkennt die Zweifelhaftigkeit einer ,nationalen Interpretation‘ von Namen an, rechtfertigt das Vorgehen jedoch für die Feststellung von Tendenzen (vgl. Otruba 1987: 63).

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sich dieser „bäuerliche Landespatriotismus“ (Heumos 1987: 91) behaupten. Demonstrativ wird bei Veranstaltungen, z.B. dem gesamtböhmischen Agrarkongress in Prag 1879, nationale Versöhnlichkeit proklamiert. Gerade unter dem Einfluss der nationalradikaleren jungtschechischen Politiker gelingt der sprachnationalen Ideologie nach und nach, auch in der ,tschechischen‘ Bauernschaft Anhänger zu finden (vgl. Havránek 1999: 24). Zudem ist die Verständigungsbereitschaft ,deutscher‘ und ,tschechischer‘ Landwirte vorwiegend immobil und defensiv und ohne eigener politischer Partei fehlt den Bauern bis in die 1890er Jahre auch eine reale politische Gestaltungsmöglichkeit (vgl. Heumos 1987: 92-93, 98-99; Bugge 1994: 314). Bezeichnend für den eingeschränkten Aktionsradius der landwirtschaftlichen Vereine ist auch die Teilung des Landeskulturrats für das Königreich Böhmen253 Mitte der 1880er Jahre. Der intern ausgehandelte Kompromiss der Bauernbewegung kann sich gegen die Intentionen der nach der Wahlreform von 1882 neuen ,tschechischen‘ Mehrheit im böhmischen Landtag und deutschnationaler Mitglieder nicht durchsetzen. Im Jahr 1884 treten die ,deutschen‘ Delegierten unter Führung des Großgrundbesitztums aus dem Landeskulturrat aus und gründen zwei Jahre später den Deutschen Landwirtschaftlichen Zentralverband (vgl. ebd. 96-97), im Jahr 1891 folgt schließlich die endgültige sprachnationale Teilung des Landeskulturrates (vgl. Stourzh 1985: 210). Erst um 1896/97 kehrt die ,tschechische‘ Bauernschaft zu einer nüchternen, distanzierten Einschätzung der nationalen Parolen zurück und erlangt mit der Gründung der Tschechischen Agrarpartei254 (1899) endlich politische Selbständigkeit, allerdings können die nationalen Wogen kaum mehr geglättet werden (vgl. Heumos 1979: 229-230). Auf deutscher Seite folgt der Schritt in die Unabhängigkeit vom deutschnationalen Lager sogar erst Anfang des 20. Jahrhunderts (vgl. Heumos 1987: 99). Im Gegensatz zum Agrarsektor gewinnt in den meisten wirtschaftlichen Bereichen nach 1900 die nationale Pflicht bzw. der nationale Druck weitgehend die Oberhand. Das protektionistische Programm ,svůj k svému‘ wird bereits in den 1880er Jahren, insbesondere bei kleinen und mittelständischen Unternehmen sowie im Kleinhandel, aufgegriffen (vgl. Purš 1988: 53). Moderate Konzepte, die nur für einen begrenzten Zeitraum die Privilegierung ,tschechischer‘ Unternehmer und ihrer Produkte proklamieren, um eine ausreichende Konkurrenzfähigkeit mit ,deutschen‘ Wettbewerbern herzustellen (vgl. u.a. Bráf 1911), werden von den

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Seit 1769 organisieren sich ,tschechische‘ und ,deutsche‘ Bauern auf gesamtböhmischer Ebene in überregionalen landwirtschaftlichen Vereinen, zunächst in der patriotisch-ökonomischen Gesellschaft und ab 1872 im Landeskulturrat. 1882 zählt dieser 190 tschechisch, 150 deutsche und etwa 30 utraquistische Vereine. Politisch hat der Landeskulturrat kaum Einfluss, er entspricht vielmehr einem Beratungsorgan des Ackerbauministeriums als einer agrarischen Interessensvertretung, in dem die Großgrundbesitzer stimmangebend sind (vgl. Heumos 1987: 93-94). Zur Bildung der politischen Lager in Böhmen und den Widerhall des Wirtschaftsnationalismus in ihren Programmen und Aktivitäten vgl. Kubů (2004: 86-105).

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aggressiveren Methoden wie absoluten Boykottaufrufen255 – ,Čechové, kupujte u Čechů!‘ [Tschechen, kauft bei Tschechen!] genauso wie ,Deutsche, kauft bei Deutschen!‘ – verdrängt: nur ,tschechische‘ Produkte und nur in ,tschechischen‘ Läden zu erstehen, das Geld nur bei ,tschechischen‘ Finanzinstituten anzulegen oder zu leihen und nur die Dienste ,tschechischer‘ Handwerker und Firmen zu nutzen. Die Forderungen der Deutschnationalen unterscheiden sich kaum, allerdings spielt hier der Schutz des Arbeitsmarktes eine noch größere Rolle – ,deutsche‘ Arbeit nur an ,deutsche‘ Arbeiter. Zudem sollte die Vermietung von Wohnungen an ,tschechische‘ Lehrer und Beamte vermieden werden (vgl. Kubů 2004: 77). Zunächst führt aber selbst die herbe Rhetorik im Einzelhandel zu keinem durchschlagenden Erfolg und verändert das traditionelle Verkaufsverhalten der Menschen kaum, zehrt dagegen sehr an den deutsch-tschechischen und tschechisch-jüdischen Beziehungen. Denn gerade in der Geschäftswelt wird der deutsch-tschechische Konflikt durch antisemitische Parolen angeheizt und Deutsches und Jüdisches nicht selten über einen Kamm geschoren (vgl. Albrecht 1992: 76; Bugge 1994: 314-315).256 Statt positiver Auswirkungen im Sinne einer, gegebenenfalls sogar nur kurzfristigen, protektionistischen Selbsthilfe erzeugt folglich die nationale Wirtschaftsbewegung überwiegend negative Effekte im böhmischen Geschäftsklima. Während ,tschechische‘ Kaufmänner im Einzelhandel v.a. ab den 1890er Jahren dominieren, haben sie im Großhandel bis zum Ende der Monarchie Schwierigkeiten, sich außer in einzelnen Sparten – Zucker, Maschinen, Eisenwaren, Zement, Material- und Kolonialwaren – durchzusetzen. Diese Geschäfte bleiben vorwiegend in den Händen des ,deutschen‘ und ,deutsch‘-jüdischen Kapitals (vgl. Jakubec 2004: 106). Otruba charakterisiert die Entwicklung in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wie folgt: Das liberale Marktdenken der sechziger und siebziger Jahre wirkte in der Bevölkerung trotz der ,Großen Depression‘ und der Zusammenbrüche noch lange weiter. Weder nationales noch Klassendenken konnten den Konsumenten davon überzeugen, daß ein Deutscher nur bei Deutschen, ein Tscheche nur bei Tschechen und nicht bei einem Juden einkaufen dürfe, wenn dieser eine Ware billiger oder wohlfeiler anbot. Viele sahen es noch lange nicht ein, daß man sich je nach Nationalität für ein deutsches oder tschechisches Bankinstitut entscheiden müsse und dementsprechend bei Abschluß einer Versicherung ebenso zu verfahren habe. Das änderte sich erst mit den neunziger Jahren und wurde seit der Jahrhundertwende ein Zwang, der aus dem Traum eines ,geschlossenen wirtschaftlichen Kreislaufes‘ – gewissermaßen einer wirtschaftlichen Autarkie innerhalb des eigenen nationalen oder auch politischen Lagers – geboren wurde (Otruba 1987: 65).

Zusammenfassend ist festzuhalten, dass im ,tschechischen‘ Wirtschaftsnationalismus die Forderung nach der Akzeptanz der tschechischen Sprache – in der Positi255 256

Zu Boykottaktionen vgl. u.a. Albrecht (2001: 47-67); King (2003: 124-147). Zur Entstehung des wirtschaftlichen Antisemitismus der Tschechen vgl. u.a. KestenbergGladstein (1968: 38-40); Wlaschek (1997: 59-70); Kieval (1988: 66-71); Riff (1976).

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on einer H-Varietät – an zentraler Stelle steht, sie wird als Schlüssel zur nationalen Gleichheit und der gesellschaftlichen Aufstiegsmöglichkeiten gesehen (vgl. Albrecht 2006: 177). Die ,tschechische‘ Wirtschaftselite ist bis zum Ende der Monarchie eine offene soziale Gruppe. Zugang kann durch Bildung, Organisationstalent oder Erfindungsreichtum erlangt werden. Politisch nationales Engagement ist dabei nicht immer notwendige Voraussetzung (vgl. Štaif 2004: 46). Indem soziale Mobilität gewährleistet wird, fördert der wirtschaftliche Emanzipationsprozess auch die Herausbildung einer differenzierten ,tschechischen‘ Gesellschaft. Nichtsdestotrotz ziehen ,tschechische‘ Kaufleute lange noch die „,sichere‘ Beamtenlaufbahn“ (Jakubec 2004: 116) für ihre Söhne vor, statt eine möglicherweise steilere Karriere im Handel zu unterstützen. Sicherlich gewinnt das Tschechische in der wirtschaftlichen Sphäre im Zuge der Nationalbewegung an Ansehen. Es entstehen Wirtschaftsverbände, Finanzinstitutionen, praktisch-orientierte Ausbildungseinrichtungen etc., die durchaus bewusst mit der tschechischen Sprache verbunden werden. Gleichzeitig bleibt das ,tschechische‘ Unternehmertum weitgehend auf Böhmen und auf Klein- und Mittelbetriebe beschränkt. Im Außenhandel spielt es kaum eine Rolle (vgl. Albrecht 1992: 77-78). Damit mangelt es dem Bedeutungsgewinn des Tschechischen im Wirtschaftssektor, so wie er im zeitgenössischen öffentlichen Diskurs konstruiert wird, zum Teil an Substanz. Ohne Zweifel floriert die Industrie in Böhmen, die Zahl der Werke steigt beständig. Allerdings steht der hohen Konzentration an Fabriken in Böhmen die niedrige Quote an großen Versicherungsanstalten, Banken und Aktiengesellschaften gegenüber. Auch wenn die Zahl der ,tschechischen‘ Institutionen in den letzten Dezennien der Monarchie deutlich steigende Tendenzen ausweist, reichen deren Bilanzsummen bei weitem nicht an jene der ,deutschen‘ Wiener Institutionen heran (vgl. Otruba 1966: 66-67, 78-82). Demnach hat Böhmen zwar bis zum Ende der Monarchie den Rang des industriellen Kernlands inne, seine Verwaltung wird jedoch von Wien aus gelenkt (vgl. ebd.: 73). Die ,mächtigere‘ Sprache in der Wirtschaft – nicht zuletzt dank ihrer weiterhin bestehenden institutionellen Verankerung – bleibt das Deutsche, das Tschechische kann sich insbesondere auf lokaler Ebene zunehmend durchsetzen. Dabei bleibt generell zu berücksichtigen, dass in der Wirtschaftsdomäne bis in die 1890er Jahre primär das Streben nach Profitmaximierung und Verlustminimierung vorherrscht und ethnische Differenzen in der Gewinn- und Verlustrechnung nicht zwingendermaßen einen festen Posten innehaben.

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3.2.1.2 3.2.1.2.1

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In Prag Verwaltung

Prag nimmt im österreichischen Gemeinderecht als Stadt mit eigenem Statut (1850) eine besondere Stellung ein.257 Von der Bezirksebene ausgenommen untersteht sie direkt dem Landtag bzw. Landesausschuss (vgl. Gluth 1907: 118-119). Der Organismus der Prager Gemeinde setzt sich aus dem Stadtverordnetenkollegium, dem Stadtrat, dem Bürgermeisteramt und dem Magistrat zusammen. Dabei entspricht der Stadtrat einem engeren Ausschuss (24 Mitglieder) des Stadtverordnetenkollegiums (90 Mitglieder), einer Gesamtvertretung Prags in Form einer Versammlung. In der Praxis ist der Stadtrat, dessen Sitzungen nicht öffentlich sind, das wichtigste Organ der Kommunalverwaltung. So werden beispielsweise selbständige Anträge der Stadtverordneten nicht zur Abstimmung im Plenum zugelassen, sondern es wird über sie im Kreis des Stadtrates entschieden. Unter dem Magistrat ist die Gesamtheit der städtischen Beamten, die unter der Leitung des Bürgermeisters die Geschäfte des von der Staatsregierung übertragenen Wirkungskreises258 und der Lokalpolizei259 erledigt, zu verstehen. Selbst die Macht des Bürgermeisters hängt wesentlich von seinem Einfluss auf einzelne Stadtratsmitglieder ab. Nur in der Zusammensetzung der verschiedenen Kommissionen – Wirtschafts-, Finanz-, Schul-, Organisationskommissionen etc. – besitzt er das letzte Wort und kann somit die Beratungen und späteren Vorlagen für den Stadtrat lenken (vgl. Slawitschek 1913: 73-74; Horáček 1907: 76, 80-81; Gluth 1907: 120127). Nachdem in der Ära Bach in der Prager Verwaltung ausnahmslos die deutsche Sprache eingekehrt ist – z.B. finden die Beratungen des Stadtrats zu der Zeit auf Deutsch und unter Kontrolle des deutschsprachigen Bürgertums statt (vgl. Ledvinka / Pešek 2002: 450) – leiten die ersten Kommunalwahlen vom 11. März 257

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In Böhmen besitzt nur noch Reichenberg auch ein eigenes Statut, in anderen Kronländern ist dies weiter verbreitet (vgl. Slawitscheck 1913: 72-73). Für eine chronologische Darstellung der internen wirtschaftlichen und politischen Faktoren, die die Entwicklung der Städte in der Habsburger Monarchie von 1800 bis 1918 beeinflussen, vgl. Maier (2005: 33-36). Zu den Geschäften des übertragenen Wirkungskreises gehören die Kundmachung der Gesetze und Verordnungen, die Erhebung und Abfuhr der direkten Steuern, die Erledigung der Militärkonskription, die Ausstellung von Heimatscheinen, die Aufsicht auf Maß und Gesicht und die Berichterstattung an den Statthalter über alle Vorkommnisse, welche für die Staatsgewalt von Interesse sind (vgl. Bernatzik 1911: 199). Die wirkliche Handhabung der Lokalpolizei liegt nur zum Teil in Händen des Magistrates, zum anderen Teil ist sie einem staatlichen Organ, der Polizeidirektion übertragen. Die der Gemeinde zugewiesenen Aufgaben zeigen, dass unter Polizei nicht nur obrigkeitliche Funktionen, sondern auch Maßnahmen gemeinwirtschaftlicher Natur begriffen werden. So zählen zu den der Gemeinde zugewiesenen Lokalpolizeiangelegenheiten genauso die Erhaltung der Straßen, Beleuchtung, Wasserleitungen wie die Pflege der Badeanstalten etc. Die ,klassischen‘ sicherheitspolitischen Aufgaben fallen den staatlichen Organen, also der Polizeidirektion zu (vgl. Gluth 1907: 131-132).

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1861260 mit dem Sieg der tschechischen Bourgeoisie eine Wende ein. Die Politik der nächsten Jahrzehnte ist durchaus mit dem Motto „Mit einem Wort: Prag muß tschechischer werden“ (Vlček 1868: 1) zu beschreiben. In den Ratsversammlungen wird unmittelbar auf Zweisprachigkeit umgestellt und auch nur in der Originalsprache des Redners protokolliert. Tschechisch gilt fortan als gleichberechtigte, zweite innere und äußere Amtssprache in allen städtischen Behörden und Institutionen (vgl. Lánik 1998: 148).261 Demonstrativ für diese Änderungen leistet der ,tschechische‘ Bürgermeister Prags, František Pštross, seinen Amtseid gegenüber dem von Wien eingesetzten k. k. Statthalter in tschechischer Sprache ab (vgl. Ledvinka / Pešek 2002: 456). In der Folgezeit wird schnell und wirksam eine städtische Verwaltungsreform abgewickelt, die der neuen Stadtführung weit selbständigeres Agieren erlaubt (vgl. ebd.: 456-457). Praktisch dominiert nun das Tschechische die Kommunikation des Prager Magistrats. Denn entsprechend dem Gleichberechtigungsprinzip ist die Sprache der Eingabe ausschlaggebend für die weiteren Verhandlungen262, Schriftstücke, Stellungnahmen und den endgültigen Bescheid. Auch die Korrespondenz mit anderen Behörden und der Statthalterei wird durch die Sprache der Eingabe bestimmt und diese erfolgen meist auf Tschechisch. Sichtbar wird der Einzug des Tschechischen im Prager Rathaus anhand der zweisprachigen Formulare, Vordrucke, Konskriptionsprotokolle etc. Jeder neu angestellte Beamte ist verpflichtet, tschechische Sprachkenntnisse mündlich und schriftlich nachzuweisen. Stadtratsdekrete und Verordnungen des Prager Magistrats werden vorwiegend bis ausschließlich in tschechischer Sprache verfasst (vgl. Hlavačka 2006: 146). Nicht unbedeutend sind in der Kommunalpolitik auch die antisemitischen Ressentiments, die – im Gegensatz zur klerikal-sozialen Färbung

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Die ,tschechische‘ Partei ,Pokrok k lepšímu / Fortschritt zum Besseren‘ erlangt 52 der insgesamt 90 Stadtverordnetenmandate, die ,deutsche‘ Mittelpartei nur zehn, dagegen gehen 28 Mandate auf ,gemeinsame‘ Kandidaten – zur Demonstration ihrer nationalen Unparteilichkeit hatten die beiden politischen Gruppierungen je eine Reihe Persönlichkeiten der jeweils anderen ,Nationalität‘ aufgestellt. Mit insgesamt 75 ,tschechischen‘ Stadtverordneten dominieren ,tschechische‘ Interessen schließlich bei der Wahl der 24 Stadträte und führen zur Ernennung des ,tschechischen‘ Bürgermeisters František Pštross. Die anfängliche tschechisch-deutsche Harmonie wird schließlich endgültig zerschlagen, als die radikaleren ,tschechischen‘ Stadträte beginnen, nationalistische Forderungen durchzudrücken (vgl. Lánik 1998: 148; Cohen 1981: 46-48; Ledvinka / Pešek 2002: 455-456). Im Vergleich mit der tschechischen Amtssprache vor 1848 – analysiert am Beispiel der ostböhmischen Stadt Chrudim – weist Berger der Zweisprachigkeit nach der Revolution einen völlig anderen Charakter zu. „Das Tschechische kehrt nicht nur zurück, sondern hat den Anspruch, alle Funktionsbereiche abzudecken, der Wechsel zwischen beiden Sprachen ist also nicht mehr funktional bedingt, sondern macht einen eher willkürlichen Eindruck. In formaler Hinsicht verändert sich die tschechische Amtssprache deutlich, sie wird modernisiert und grenzt sich bewusst von der deutschen Amtssprache ab“ (Berger 2005: 271). Die Gemeinde Prag bildet hier insofern eine Ausnahme, als dass in allen anderen böhmischen Gemeinden diese Regel nur greift, wenn die Sprache der Eingabe von mindestens 20 Prozent der anwesenden Bevölkerung als Umgangssprache angegeben wird (vgl. Hlavačka 2006: 147).

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145

in Wien – in der böhmischen Landeshauptstadt national, also tschechisch-deutsch geprägt sind (vgl. Ledvinka / Pešek 2002: 512). By the early 1880s middle-class politicians in Bohemia generally denied the ability of members of one national group to represent the other fairly, and Prague’s Czech city officials made little show of evenhandedness (Cohen 1981: 145).

Im Jahr 1882 kommt es sogar zum (fast) vollständigen Rückzug der Vertreter der deutschsprachigen Minderheit – oder deren Verdrängung – aus dem Prager Stadtverordnetenkollegium263, sodass trotz des noch auf der Gemeindeordnung von 1850 beruhenden Privilegienwahlrechts die ,Deutschen‘ als starke Einheit unter den Steuerzahlern politisch nicht mehr vertreten sind (vgl. Melinz / Zimmermann 1996: 26-27).264 Praktische Folge einer fehlenden ,deutschen‘ Opposition ist, dass „antagonismus mezi českou a německou elitou v komunální politice zmiz[í]“ [der Antagonismus zwischen der tschechischen und deutschen Elite in der Kommunalpolitik verschwindet] (Lánik 1998: 158) und letztendlich das Tschechische die einzige Sprache unter den Stadtverordneten ist. Niederschlag finden die nationalen Differenzen auch bei den Verwaltungsangestellten der Prager Stadt- und Landesregierungen, denn um 1900 ist der Anteil der Deutschsprechenden hier bereits zu einer kleinen Minderheit zusammengeschmolzen (vgl. Cohen 1996b: 60). Um angesichts des rasanten Bevölkerungswachstums Prags und seiner Vorstädte und der dringenden Notwendigkeit, ,deutsche‘ Interessen in der lokalen Politik besser verteidigen zu können, wird mit Unterstützung des Deutschen Casinos im Jahr 1893 ein Verein für deutsche Gemeindeangelegenheiten gegründet (vgl. ebd.: 166-167). Im Unterschied zur altliberalen Gewohnheit stiller und privater Verhandlungen schlägt der deutsche Gemeindeverein einen aktivistischen und volksorientierten Weg ein. Die wachsende Mitgliederzahl im Laufe der 1890er Jahre weist auf das Bedürfnis einer ,deutschen‘ Präsenz in kommunalen Fragen hin (vgl. ebd. 168). Ohne Zweifel hat 263

264

Auslöser für den Rückzug der Honoratioren ist die Antrittsrede des Bürgermeisters Tomáš Černý, der Prag als ,golden‘ und ,slavisch‘ charakterisiert. Im Jahr 1885 wird nochmals ein ,Deutscher‘ gewählt, der drei Jahre lang zum Kreis der Honoratioren zählt. Ab 1888 ist seine Zusammensetzung national homogen – ,tschechisch‘ (vgl. Lánik 1998: 158). Das Wahlsystem in Prag ist dreiklassig und nach festen Zensuskategorien abgestuft. Ausschlaggebend ist zunächst die Steuerleistung. Im ersten Wahlkörper sind nur direkte Steuerzahler mit einem Zensus von mindestens 200 k (v.a. Hausbesitzer), im zweiten von mindestens 40 k und im dritten von mindestens 10 k (v.a. Kleingewerbetreibende) wahlberechtigt. Außer den direkten Steuerzahlern sind noch so genannte in Prag ansässige und heimatszuständige Honorationen und Gemeindeangehörige mit bestimmten persönlichen Voraussetzungen (zumeist ein Amt oder akademischer Grad) im zweiten Wahlkörper wahlberechtigt. Jeder Wahlkörper wählt ein Drittel der Stadtverordneten auf drei Jahre, jedes Jahr ein Drittel der Mitglieder. Reformiert wird das Wahlrecht nur gering im Jahr 1883, als die notwendige Steuerleistung von acht auf fünf Gulden reduziert wird und damit gewiss der Wählerkreis in der tschechischsprachigen Bevölkerung vergrößert wird. Die Reformansätze der Jahrhundertwende zur Einführung einer weiteren Kurie, in der auch die breiten Schichten der Bevölkerung ein aktives Wahlrecht ausüben könnten, scheitern (vgl. Horáček 1907: 76-80; Gluth 1907: 111-118).

146

Deutsch und Tschechisch im Spiegel soziostruktureller Rahmenbedingungen

in der Prager Politik auch der Wechsel von den Alttschechen, die gemeinsam mit den Großgrundbesitzern bis in die 1890er Jahre die meisten tschechischen autonomen Körperschaften besetzen, zu den politisch und national radikaleren Jungtschechen zu einer weiteren Verschärfung des deutsch-tschechischen Klimas in der Landeshauptstadt beigetragen (vgl. Lánik 1998: 161; Hlavačka 2006: 22). Nachdem die Badenischen Sprachenverordnungen (1897) einmal implementiert waren, kann ihre erneute Aufhebung (1898) das Tschechische auch in den staatlichen Behörden Prags nicht mehr komplett aus der Domäne der inneren Amtssprache verdrängen. Beispielhaft ist hier die Prager Polizeidirektion265 zu nennen, die bis 1897 ihre Amtsgeschäfte ausschließlich auf Deutsch erledigt. Danach ist eine Rückkehr nicht mehr realisierbar, vielmehr wird ein „Zustand der vollkommenen Willkür eines jeden einzelnen Beamten, jeder amtiert in jeder Angelegenheit, wie er will“ (zit. nach Hlavačka 2006: 194 Anm. 11) nach Wien gemeldet (1908). Angesichts der zunehmenden Zahl auch staatlicher ,tschechischer‘ Beamter tritt das Tschechische in der Praxis in den staatlichen Behörden in Prag verstärkt als innere Amtssprache auf (vgl. Hlavačka 2006: 141). Zusammenfassend ist festzuhalten, dass auf lokaler Ebene in Prag seit den Kommunalwahlen 1861 das Tschechische die dominante Sprache ist und ein fast aggressiver ,Normalisierungsprozess‘ die Zurückdrängung des Deutschen aus den Bereichen der H-Varietät bewirkt. Die Vorherrschaft der ,Tschechen‘ im Prager Rathaus ermöglicht, nicht nur eine Gleichberechtigung der beiden Landessprachen herbeizuführen, sondern auch die numerische Mehrheit der tschechischsprachigen Bevölkerung gegenüber der deutschsprachigen Minderheit auszuspielen. Weitaus mehr Eingaben in tschechischer Sprache bedeuten auch eine verstärkte Verwendung des Tschechischen als innere Amtssprache. Die Badenischen Sprachenverordnungen führen außerdem dazu, dass sich das Tschechische auch in Prag aus den staatlichen Stellen nicht mehr vollkommen verdrängen lässt. Da es in der Domäne Verwaltung ja durchaus per Gesetz anerkannt und faktisch eingesetzt wird, kann – trotz der de jure Beschränkung des Tschechischen auf den Bereich der äußeren Amtssprache – nicht von einem „domain-restrictred status“ (Mackey 1989: 13) des Tschechischen gesprochen werden. Die Gleichstellung in der Funktion als innerer Amtssprache ist ihm allerdings vorenthalten, sodass in Abhängigkeit von den zugewiesenen Funktionen (vgl. Mackey 1989: 17; Ammon 1989: 26) das Deutsche einen höheren rechtlichen bzw. administrativen Status besitzt.

3.2.1.2.2

Wirtschaft und Kultur

Die bereits erwähnte beginnende Institutionalisierung des Tschechischen auf wirtschaftlichem Gebiet in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts spielt sich in Prag in konzentrierter Form ab. Denn die böhmische Landeshauptstadt ist sowohl wirt265

Die Sicherheitspolizei wird seit dem Jahr 1869 vom Staat besorgt (vgl. Horáček 1907: 93).

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147

schaftlicher Knotenpunkt als auch häufigster Sitz der einzelnen Organisationen und damit auch Schauplatz der sprachnationalen Separations- und Ausbaubestrebungen. Das betrifft den Austragungsort der tschechischnationalen Selbstdarstellung im Rahmen der Jubiläumsausstellung 1891, den Standort der Živnostenská banka (1868) und die Etablierung des technisch und praktisch orientierten Ausbildungssystems in tschechischer Sprache (u.a. Tschechisches Polytechnikum 1869, Tschechoslavische Handelsakademien 1872) genauso wie die Errichtung paralleler Vereinstrukturen, wie zum Beispiel die Gründung des Deutschen Kaufmännischen Vereins (1867) analog zum Ende der 1860er Jahre bereits ,tschechisch‘ dominierten Merkur oder des Deutschen Handwerkervereins, nachdem die ,Tschechen‘ die Mehrheit in der Prager Handels- und Gewerbekammer (1884) bilden bzw. von ,tschechischer‘ Seite die Bildung des Nové obchodní grémium (1884) analog zum Prager Handelsgremium.266 Die zunehmende Kontrolle der ,Tschechen‘ über ehemals bilinguale gesellschaftliche und professionelle Einrichtungen – die Böhmische Museumsgesellschaft, die Königlich Böhmische Gesellschaft der Wissenschaften, den Gewerbeverein – führt erst nach 1860 zu einer Reaktion der ,deutschen‘ Gemeinschaft in Prag. Sie setzt sich in der Folgezeit gegen die ,Übernahmen‘ zur Wehr und gründet auch eigene exklusiv deutsche Organisationen (vgl. Cohen 1981: 63). Die Segregation entlang ethnischer Linien wird nun auch in gemeinnützigen Vereinen zum Usus, zu den Ersten gehören die Singgesellschaften, Turnvereine und Berufsorganisationen (vgl. ebd.: 63). Während jedoch die tschechische Vereins- und schließlich auch Parteienlandschaft eine ideologische und auch soziale Diversifizierung kennzeichnet, sind die Organisationen auf deutscher Seite bis Ende der 1880er geprägt durch „uniformity and solidarity which reflected the values and needs of a largely middle- and upperstrata minority which was trying to stave off political, numerical, and economic decline“ (ebd.: 59). Erst der fortschreitende Niedergang der Macht und des Einflusses der deutschliberalen Kräfte in Österreich führt zur Einsicht, dass für das Überleben der ,Deutschen‘ in Prag auch die Integration einer breiteren Massenbasis, d.h. auch der unteren Schichten notwendig ist (vgl. ebd.: 59-60). Dem Trend der deutsch-tschechischen Aufspaltung in öffentlichen Einrichtungen widersetzen sich weitgehend die jüdische Religionsgemeinschaft und die katholische Kirche267 sowie die jeweils angebundenen wohltätigen Vereine. Die wenigen Protestanten in Prag dagegen haben zwei getrennte Kirchen (vgl. ebd.: 65, 218-223). Die Entstehung der tschecho-jüdischen Bewegung und ihr Bemühen um die Schließung 266 267

Vgl. hierzu die Ausführungen in Kapitel 3.2.1.1.2. Allerdings ist festzuhalten, dass zum einen eine „close identification of the Cahtolic Church in the Bohemian capital with Czech political and social interests“ (Cohen 1981: 221) dominiert und zum anderen die deutsch jüdische Elite der deutschen Sprache innerhalb der Glaubensgemeinschaft, in der Verwaltung oder auch hinsichtlich der Ausbildung der Rabbis, eine eindeutige Vorrangstellung gewährt. Die Gleichstellung der beiden Sprachen wird hier erst nach 1918 geschaffen (vgl. ebd.: 223).

148

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jüdischer Privatschulen mit deutscher Unterrichtssprache oder etwa der Streit um das Predigen in der Synagoge in tschechischer Sprache bewirken, dass sprachnationale Zwistigkeiten ebenfalls in die jüdische Gemeinde eindringen (vgl. Nekula 2003: 19-21). Auch für die katholische Kirche ist die äußere sprachnational institutionelle Einheit nicht handlungsleitendes Prinzip (vgl. Kaiserová 2003; Schulze Wessel 2001). Die in den öffentlichen Institutionen praktizierte Separation beherrscht nach Cohen jedoch nicht das Alltagsleben der ,Deutschen‘ und ,Tschechen‘ in Prag (vgl. Cohen 1981: 123-139). Während das ,gesellschaftliche Beisammensein‘ in Kneipen und Cafés noch ethnisch spezifischen Charakter aufweist, sind die Zielgruppen der Geschäftsinhaber, Handwerker etc. sowohl ,tschechische‘ als auch ,deutsche‘ Kunden, für die der Service auch in der jeweiligen Landessprache angeboten wird (vgl. ebd.: 126, 130). Die Boykottaufrufe, die in der gemischtsprachigen Hauptstadt wie in den Grenzlandgebieten laut werden, bleiben selbst in Zeiten der Badenikrise ohne große Wirkung. „Czechs and Germans in Prague apparently continued to traffic in each other’s businesses after each new outbreak of nationalist violence even if some occasionally felt obliged to enter by the back door” (ebd.: 240). Auf weitere Ausführungen zur institutionellen Unterstützung der beiden Landessprachen in Prag in Bezug auf den Wirtschaftssektor kann hier verzichtet werden, da diese bereits im böhmischen Kontext ausreichend umrissen wurden. An dieser Stelle ist nur noch auf die Modernisierungsmaßnahmen hinzuweisen (vgl. hierzu u.a. Horáček1907: 87-91; Lánik 1998: 177-215; Ledvinka / Pešek 2002: 473-489), die die urbanistische Entwicklung Prags vorantreiben und vom ,tschechischen‘ Magistrat initiiert werden. Zwar wird der Einzug der Elektrizität in Prag oder der Ausbau einer modernen Kanalisation nicht ,national‘ gefeiert, doch der Bau der ersten neuzeitlichen Steinbrücke Prags, der ersehnten Verbindung des Industriegebiets am linken Ufer mit dem Zentrum der Stadt rechts der Moldau, wird sehr wohl zum Anlass für eine politische Demonstration des Tschechentums genommen. Die Palacký-Brücke wird künstlerisch (Bedřich Münzberger) u.a. mit rotem Sandstein, blauem Granit und weißem Carrara-Marmor entworfen, sodass die nationale Farbsymbolik268 der Brücke bereits ohne die in den 1880er und 1890er von Josef Václav Myslbek entworfenen Skulpturen aus der tschechischen Mythologie an ihrer ,Sprache‘ keine Zweifel lässt (vgl. Ledvinka / Pešek 2002: 483-484).269 Zu erwähnen sind ferner noch die Streikwellen der Industriearbeiter 268

269

Nekula weist darauf hin, dass die Protestfarben als Anspielung entweder auf die französische Trikolore und die demokratische Tradition der Französischen Revolution oder auf die russische Trikolore und das Slaventum gesehen werden können, dass sie aber in jedem Falle die bewusste Abgrenzung zu den böhmischen Landesfarben, die beide Sprachnationen einschließen, suchen (vgl. Nekula 2004: 173 Anm 12). Vgl. hierzu Nekula, der die Palacký-Brücke im polemischen Dialog mit der Karlsbrücke, die noch als Symbol der Rekatholisierung nach der Schlacht am Weißen Berg (1620), der Herrschaft

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149

und Handwerker und die Demonstrationen der Studenten- und Arbeiterschaft, mit denen die zunehmende nationale Anspannung der 1890er Jahre eingeleitet wird (vgl. ebd.: 511; Lánik 1998: 160-161). Während im wirtschaftlichen Bereich in Prag trotz nationaler Agitation der Geschäftssinn doch noch eine gemeinsame Sprache finden lässt, ist in Prag die Konfrontation auf kulturellem Gebiet kaum überwindbar. Das Streben nach Eigenständigkeit der ,tschechischen‘ Bevölkerungsmehrheit in Böhmen tritt hier – mehr noch als auf politischer und ökonomischer Ebene – eindrucksvoll zu Tage. In der Öffentlichkeit scheint die Kultur während der ganzen zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts eine weitaus größere Bedeutung für die Stärkung und Festigung des tschechischen Nationalbewusstseins innezuhaben als die tschechische Politik. Daher ist es nicht erstaunlich, dass im Unterschied zu Budapest, wo das prunkvolle ungarische Parlament zum sichtbaren Nationalsymbol wird, in Prag das Nationaltheater diese nationale Symbolfunktion erfüllt (vgl. Kořalka 2003: 80). Bereits bei der Grundsteinlegung (1868) wird das Tschechische Nationaltheater als Monumentalbau der monolinguistischen Ideologie zelebriert270 und von Beginn an durch die Standortwahl – in räumlicher Opposition zum Prager Schloss, dem kaiserlichen Herrschaftssitz, semantisch aufgeladen (vgl. Nekula 2007: 100; Marek 1995: 170-171). In ähnlicher Weise wird der öffentliche Raum in Prag mittels der Taufe des neuen Prager Stadtviertels mit dem Namen Žižkov, durch die Inszenierung der Beerdigungen ,nationaler‘ Persönlichkeiten (Václav Hanka, Karel Havlíček Borovský, Božena Němcová) oder die Enthüllung des Denkmals für die Schlüsselfigur der tschechischnationalen Wiedergeburt (Josef Jungmann) (1878) von den Vertretern der monolinguistischen nationalen Ideologie beschlagnahmt (vgl. hierzu Nekula 2007). Neben dem Tschechischen Nationaltheater, das 1881 und nach dem verheerenden Brand nochmals 1883 mit der tschechischen Oper Libuše von Bedřich Smetana eröffnet wird, zählt auch der Neubau des Böhmischen Landesmuseums (1886-1891) zu den architektonischen Meilensteinen des ,tschechischen‘ Emanzipationsprozesses (vgl. Ledvinka / Pešek 2002: 489). Anfang des 20. Jahrhunderts fügt sich noch das kommunalpolitisch bedeutende Gemeindehaus (1905-1911) in die Reihe der nationalen Monumentalbauten ein. Weitere institutionelle Repräsentanten der tschechischen Sprache sind u.a. die 1890 gegründete Tschechische Akademie der Wissenschaften und Künste sowie insbesondere die sich etablierende tschechischsprachige Presse. Nach 1848 setzt böhmenweit eine Lawine neuer tschechischer Zeitungen und Zeitschriften ein, deren Publikation in den neoabsolutistischen 1850er Jahren eingestellt wird. Per

270

der Habsburger Dynastie und der deutschen Kultur gesehen wird, charakterisiert (vgl. Nekula 2004: 167-177; 2007: 101-103). Anlässlich der Grundsteinlegung wird eine dreitätige nationale Feierlichkeit organisiert, deren Höhepunkt der Festzug von Karolinental zum Moldauufer, in Anlehnung an die mittelalterlichen Krönungsprozessionen, bildet. Nicht zu vergessen ist die über dem Baldachin thronende Wenzelskrone (vgl. Bartoš 1933: 212-215).

150

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Pressegesetz wird ab dem Jahr 1862 weitgehende Pressefreiheit garantiert, die allerdings in den ersten drei Jahrzehnten nicht nur durch finanzielle Kautionen für politische Tageszeitungen und Zeitschriften, sondern auch durch gerichtliche Angriffe auf Redaktoren, Herausgeber und Druckereibesitzer beschränkt wird. Dennoch entwickeln sich die Printmedien besonders in Prag zum wichtigsten Kommunikations- und Agitationsmittel im tschechisch nationalen Milieu (vgl. Kořalka 2003: 79). In der zweiten Hälfte der 1880er Jahren erscheint die in Prag herausgegebene literarische Produktion bereits zu etwa mehr als drei Viertel auf Tschechisch und zu einem Fünftel auf Deutsch. Von den 1892 in der Landeshauptstadt veröffentlichten 226 Zeitungen und Zeitschriften sind 172 in tschechischer, 42 in deutscher Sprache und 11 tschechisch-deutsch (vgl. Lánik 1998: 249). Zweifelsohne hat das Tschechische seine Position in der Prager Medienlandschaft gefestigt, doch kaum auf Kosten des Deutschen, das hier im Vergleich zum Bevölkerungsanteil der ,Deutschen‘ in Prag noch überproportional vertreten ist. Die institutionelle Unterstützung der beiden Landessprachen durch das jeweils ,eigene‘ Vereinswesen wurde im böhmischen Kontext bereits erwähnt und trifft für Prag umso mehr zu. Der unglaubliche Aufschwung der Aktivitäten freiwilliger Vereine in den 1860er Jahren hat einerseits wesentlichen Anteil an der Herausbildung der bürgerlichen ,tschechischen‘ Gesellschaft und andererseits bilden die deutschen Vereine mit das Fundament des „selective survival of Germans in certain social strata” (Cohen 1981: 123). Dem 1861 gegründeten Deutschen Casino auf ,deutscher‘ Seite steht die Bürgerressource (Měšťanská beseda)271 als soziales Zentrum der nationalbewussten ,Tschechen‘ gegenüber, die offiziell bis 1882, faktisch aber nur bis Anfang der 1860er bilingual ist (vgl. Cohen 1981: 39-40, 78; Malý 1991: 198). Die von den Alttschechen geprägte Bürgerressource hat keine derart unangefochtene gesellschaftliche Vorrangstellung wie das Deutsche Casino, der ,tschechischen‘ Mittelklasse stehen bald auch klerikal-konservative und jungtschechische Alternativen offen (vgl. Cohen 1981: 171). Der rasche Aufbau eines funktionierenden Vereinswesens bereits ab Mitte der 1850er Jahre ist schließlich auch die Voraussetzung für die schnelle Entwicklung politischer Organisationen am Ende des Jahrzehnts (vgl. ebd.: 37).272 Infolge des 1867 erlassenen Versammlungsrechtes erweitert sich der Wirkungskreis und die Bandbreite der Vereine

271 272

Zur sozialen Zusammensetzung der Mitgliedschaft in den beiden Organisationen vgl. Cohen (1981: 67, 171-172). Für die Prager Deutschen stellen die Vereine nicht nur funktionelle Netzwerke zur Organisation ihres politischen, gesellschaftlichen und kulturellen Lebens dar. „Prague Germans looked to such bodies to perform special functions in building and preserving a community life and in sustaining ethnic identity. The other bodies in which public life was carried on in Prague – the organs of local government and religious institutions – were either ethnically neutral or increasingly Czechdominated” (Cohen 1981: 52-53).

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151

nochmals273, die sprachnationale Separation etabliert sich als charakteristisches Kennzeichnen274. Zusammenfassend ist klar geworden, dass die demographische, wirtschaftliche und kulturelle Entwicklung in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts das Erscheinungsbild Prags – auch sprachlich – sehr wandelt. Praha jako celek už [1900] nebyla dvojjazyčná, nebyla městem, v němž česky na veřejnosti mluvili jen příslušníci nižších společenských vrstev a s nimi několik stovek uvědomělých českých vlastenců. Úspěšný vzestup českého národního hnutí, posilovaný mohutným přílivem lidí z českých venkovských oblastí a počeštěním většiny pražského měšťanstva, přeměnil Prahu v českou národní metropoli a jazykově české město (Kořalka 2003: 87). [Prag als Ganzes war bereits nicht mehr zweisprachig, es war keine Stadt mehr, in der Tschechisch in der Öffentlichkeit nur von den Angehörigen der unteren gesellschaftlichen Schichten und einigen hundert bewussten tschechischen Patrioten gesprochen wurde. Der erfolgreiche Aufstieg der tschechischen Nationalbewegung, verstärkt durch den gewaltigen Zuzug der Menschen aus den tschechischen Landesteilen und der Tschechisierung der Mehrheit der Prager Bevölkerung, verwandelte Prag in eine tschechisch-nationale Metropole und sprachlich in eine tschechische Stadt. – Übersetzung I.S.]

3.2.2 3.2.2.1

Wertigkeit der Sprachen Im Habsburgerreich und in Böhmen

Der Status einer Sprache steht in der Habsburger Monarchie und in Böhmen, so zeigten die bisherigen Ausführungen, in engem Zusammenhang mit ihrer Institutionalisierung in formellen Domänen wie Verwaltung, Wirtschaft und Kultur – je mehr und je mannigfaltiger sie verwendet wird, um so breitere gesellschaftliche Funktionen werden ihr zugeschrieben. Grundsätzlich gilt, wenn ein Ethnolekt in der Öffentlichkeit präsent und durch staatliche Behörden anerkannt ist, führt dies zu seiner Entstigmatisierung und fördert sein Prestige in der Gesellschaft (vgl. Achterberg 2005: 69). Die offizielle Anerkennung und Gleichberechtigung der Landessprachen der Habsburger Monarchie wird durch Artikel 19 des Staatsgrundgesetzes gewährleistet, doch eine faktische Statusnivellierung der jeweiligen Sprachen wird damit nicht automatisch erreicht. Mit der Reformpolitik Maria Theresias und Josephs II wird das Deutsche zur mächtigsten Sprache der Habs273

274

Die ,deutsche‘ Vereinsaktivität expandiert nach 1879 als Reaktion auf die neue politische Situation, so sind im Jahr 1890 etwa 130 der etwa 700 unabhängigen und in Prag registrierten Vereine einer ,deutschen‘ Gemeinschaft von weniger als 40.000 Menschen zuzurechnen (vgl. Cohen 1981: 158-159). Gegen Ende des 19. Jahrhunderts wirken in Prag und seinen Vorstädten bereits mehr als 1000 ,tschechische‘ Vereine und Organisationen (vgl. Kořalka 2003: 79). „With few exceptions, German interest groups organized separately from their Czech counterparts in Prague. Ethnic conflict was so pervasive among the middle and lower-middle classes that the parallel Czech and German groups apparently had little to do with each other“ (Cohen 1981: 256-257).

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burger Monarchie aufgebaut, sie ist Bildungs-, Verwaltungs- und Gerichtssprache und v.a. auch primäre Sprache des Herrscherhauses. Deutschkenntnisse sind Voraussetzung für den gesellschaftlichen Aufstieg. Über Jahrzehnte hinweg wird die deutsche Sprachgemeinschaft mit sozialem Prestige, Autorität und Macht verknüpft, diese Verbindung wird gepflegt und zementiert. Die demographische Stärke der ,Deutschen‘ in Zisleithanien und ihre Präsenz in den einzelnen Kronländern, vornehmlich in den oberen gesellschaftlichen Schichten, trägt zur Konservierung des Ansehens des Deutschen auch nach 1867 bei. Die faktische Behandlung des Deutschen als Staatssprache signalisiert seine politische, die finanzielle Dominanz der Wiener Großbanken seine wirtschaftliche und die Nachfrage nach dem Deutschen in den Bildungseinrichtungen aller Ebenen und Länder seine kulturelle Wertigkeit. Die tschechische Sprachgemeinschaft ist im Kontext des Staatsgrundgesetzes 1867 verfassungsmäßig als nationale Gruppe rechtlich anerkannt und geschützt und durch seine zentrale Symbolfunktion für die tschechische Gruppenidentität auch die tschechische Sprache. Ihr Sprachstatus hat sich im Zuge der tschechischen Wiedergeburt von einem betont wissenschaftlichen (Dobrovský) zu einem überwiegend national-politischen gewandelt, anstatt ein Gegenstand romantischantiquarischen Interesses zu sein, wird das Tschechische zum Mobilisierungsfaktor aktiver Politik (vgl. Křen 2000: 84-85). Unter Berufung auf das böhmische Staatsrecht wird dem Tschechischen seitens der Protagonisten der tschechischen Politik auch der entsprechende soziohistorische Status zugesprochen.275 Auch wenn letztendlich keine territoriale Lösung für die Länder der böhmischen Krone gefunden wird, erlangen die Tschechen auf ziviler Ebene durchaus nationale Autonomie – in Form lokaler Selbstverwaltungen, autonomer politischer Parteien, einer eigenen Presse und eigener Banken, und nicht zu vergessen durch das tschechischsprachige Bildungssystem276 (vgl. auch Bugge 1994: 319). Der Machtzuwachs der ,Tschechen‘ in Wirtschaft und Politik – zumindest auf lokaler Ebene – führt ohne Frage zur Steigerung der Wertigkeit der tschechischen Sprache in der ökonomischen Sphäre. Nichtsdestotrotz bleibt die Bedeutung der ,Tschechen‘ auf Regierungsebene, in Bildung und Wissenschaft und im Ökonomiesektor immer 275 276

Zur mit dem böhmischen Staatsrecht verbundenen Vision eines nationalen Staates, „in dem die Nation und ihre Sprache ihr eigener Herr sein sollten“ vgl. Křen (2002: 119-129, hier 128). Das tschechischsprachige Bildungswesen erfährt auch Anerkennung durch die anderen slavischen Völker, deren Studenten in Prag und Brünn studieren. „The Czechs’ attainments became a paradigm for the historically disadvantaged peoples of Austria and Hungary of what secondary and higher education could contribute to nation-building“ (Cohen 1996a: 240). Gleichzeitig wird das Erlernen des Tschechischen v.a. auf deutschnationaler Seite als sinnlos angesehen. Sutter führt das Beispiel des Rektors der Grazer Universität, Friedrich Thaner, an, der zwar von der „Gleichwertigkeit der Sprachen“ ausgeht, dem Deutschen aber eine außerordentliche Bedeutung als „Verkehrs- und Verständigungsmittel“ zuspricht, die von keiner slavischen Sprache geleistet werden könne, überhaupt seien slavische Sprachkenntnisse für Deutsche kein Vorteil (vgl. Sutter 1960: 86-87).

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153

noch hinter jener der ,Deutschen‘ in der Habsburger Monarchie und in gewissem Maße auch in Böhmen zurück.277 Whatever the accomplishments of the Czechs and their national movement, many of the German middle class in Prague as well as the other mixed cities of the Bohemian Lands continued to view Czechs as socially and economically inferior and politically immature (Cohen 1981: 156).

3.2.2.2

In Prag

In der böhmischen Landeshauptstadt hat das Tschechische mit der Vorherrschaft im Magistrat zumindest auf Kommunalebene in politischer Hinsicht seit Anfang der 1860er Jahre eine mächtige Position aufgebaut. Die Verwendung der deutschen Sprache in der Gemeindepolitik wird damit zwar eingeschränkt, erfährt aber offiziell keine Beschneidung ihrer Rechte und im Vergleich zur höheren ,deutschen‘ Wiener Politik mag der Prager Lokalpolitik noch immer etwas Provinzielles anhaften. Im Folgenden soll exemplarisch die sozioökonomische Wertigkeit der beiden Landessprachen auf Basis der ethnischen Struktur der gesellschaftlichen Schichten (vgl. Viereck et al. 2002: 199; Ammon 1989: 67) – auch im Hinblick auf die konkreten schichtspezifischen Motivationen für Zweisprachigkeit – dargestellt werden. Im Gegensatz zum Prestige der deutschen Sprache, deren Kenntnis zum ,guten Ton‘ der Erfolgreichen und Gebildeten des 19. Jahrhunderts gehört, hängt dem Tschechischen der Ruf nach: ,S češtinou nedojde se daleko‘ [Mit dem Tschechischen kommt man nicht weit]. Hier deutet sich die Relevanz von in der Bevölkerung eines Landes herrschenden Spracheinstellungen für die Wertigkeit der jeweiligen Sprachen an (vgl. Ammon 1989: 97-101). Das Deutsche profitiert von dieser ,zugesprochenen‘, relativ höheren Wertigkeit bis zum Ende der Monarchie, auch wenn seine Basis durch den Aufstieg des Tschechischen und seine Institutionalisierung in den verschiedenen Domänen wie Verwaltung oder Schulwesen in Realität – zumindest – zu bröckeln beginnt. Ein Einstellungswandel gegenüber dem Tschechischen wird von tschechisch-nationaler Seite forciert und ist letztendlich auch Voraussetzung für den Prozess der modernen tschechischen Nationsbildung, bleibt allerdings im Wesentlichen auf die tschechische Sprachgemeinschaft begrenzt. Im Zuge der mit Jungmann einsetzenden Gegenpropaganda versuchen tschechische Nationalisten, Landwirte und Angehörige der städtischen niederen Mittelschicht zu überzeugen, „that they would have greater opportunities for social and economic advancement in a Czech society than as German-speakers in a Germandominated society“ (Cohen 1981: 36). Der hier eingeleitete und ab Mitte des 277

Grundlage dieser Feststellung bietet die Sprachwirklichkeit, wie sie in den vorhergehenden Ausführungen dargelegt wurde. Keinesfalls soll das Bemühen um Sprachgerechtigkeit, die „Gleichberechtigung und Gleich-gültigkeit von acht verschiedenen Sprachen in ,Schule, Amt und öffentlichem Leben‘“ (Burger 1995: 239, 242) in der Habsburger Monarchie geschmälert werden.

154

Deutsch und Tschechisch im Spiegel soziostruktureller Rahmenbedingungen

19. Jahrhunderts forcierte Konstruktionsprozess bewirkt, dass sich um 1900 eine tschechische Gesellschaft ausgebildet hat, die in ihrer Struktur mit der deutschsprachigen Gesellschaft vergleichbar ist (vgl. u.a. Otruba 1987: 75; Cohen 1996b: 60). Bis zur Aktivierung der tschechischen Lehre an der Prager Universität 1882/1883 und der parallel verlaufenden Erweiterung des mittleren Schulwesens sind „die tschechischen Gebildeten Diletanten und eigentlich gewissermaßen Abtrünnige der deutschen Bildung“ (Urban 1994: 14). In den folgenden Jahrzehnten etabliert sich jedoch die erste Generation ,tschechischer‘ Lehrer und Studenten, Repräsentanten einer höheren tschechischen Bildung. „Diese ,Kulturrevolution‘“ bringt der nationalen Bewegung „psychologisch gesehen riesige Vorteile“ (ebd.) und fördert auch die dynamische Entwicklung des ,tschechischen‘ Kulturlebens (vgl. auch Cohen 1996a: 245-246). Obgleich die Anzahl der ,Tschechen‘ nach 1850 in allen, lange Zeit ,deutsch‘ dominierten Berufen steigt und spätestens ab den 1890er Jahren von einer ökonomischen Vorherrschaft der Deutschsprachigen Prags objektiv nicht mehr die Rede sein kann, charakterisiert die Prager Deutschen eine immer noch privilegierte Eigenwahrnehmung, sie sehen „sich selbst als prestigeträchtige Mittel- und Oberschicht an, welche Ansprüche auf soziale und kulturelle Überlegenheit über die Tschechen beansprucht[e]“ (Cohen 1996b: 58-60, hier 58). Daneben zeichnet die quantitative Verteilung der beiden Landessprachen auf die gesellschaftlichen Schichten für den differierenden sozioökonomischen Status der beiden Landessprachen verantwortlich, der sich zudem auf ,Traditionalität‘ beruft (vgl. Ammon 1989: 69). Auch wenn sich etwa ein Drittel der deutschsprachigen Bevölkerung Prags sehr wohl den Unterhalt als Arbeiter, Tagelöhner, Kleinproduzenten, Hausierer, kleine Geschäftsinhaber oder niedere Angestellter verdienen muss und damit finanziell, hinsichtlich ihrer Bildung und ihres Lebensstils keinesfalls zur ,deutschen‘ Mittelklasse zu zählen sind (vgl. Cohen 1981: 116; Binder 1996: 196), prägen sie kaum das Bild der ,Prager Deutschen‘278 – und deren Bemühungen um eine Integration der unteren ,deutschen‘ Schichten in die elitäre Gesellschaft um das Deutsche Casino lässt lange auf sich warten. Grund hierfür ist v.a. auch, dass „the social boundaries […] were crucial to the formation and survival of a German group identity in Prague” (Cohen 1981: 278). Um 1900 gehören bis zu zwei Drittel der erwerbstätigen ,deutschen‘ Stadtbewohner dem Besitz- und Bildungsbürgertum an oder den wohlhabenderen Fachangestellten, die sich mit dem Bürgertum identifizieren.279 Dies reicht dafür aus, dass das ,deutsche Bürgertum‘ aus der Sicht der

278

279

Binder verweist hier auf Kisch, der aus einer sehr emotionalen Perspektive heraus die damalige deutsche Prager Gesellschaft als fast ausschließlich bestehend „,aus Großbürgern, Besitzern von Braunkohlegruben, Aufsichtsräten, leitenden Angestellten, Hopfenhändlern‘‚ die zwischen Saaz und Nordamerika hin und her fuhren, ‚Zucker-, Textil und Papierfabrikanten, in deren Kreis Professoren, Offiziere und Staatsbeamte verkehrten‘“ beschreibt (Binder 1996: 191-192). Vgl. Cohen (1981: 111-123) für ein Berufsprofil der ,deutschen‘ Minderheit in Prag.

Deutsch und Tschechisch im Spiegel soziostruktureller Rahmenbedingungen

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,Deutschen‘, aber auch in den Augen der ,Tschechen‘, als das eigentliche Wesen der Prager ,Deutschen‘ nicht an Gültigkeit verliert (vgl. Cohen 1996b: 61-62). Im Kontrast hierzu steht die ,tschechische‘ Gesellschaft Prags. Der Großteil ihrer Ober- und Mittelschicht bildet sich gerade erst heraus, dagegen rekrutiert sich fast die ganze Unterschicht Prags aus der tschechischsprachigen Bevölkerung. Beispielhaft ist das Tschechische als ,Dienstbotensprache‘ zu nennen. Die Anzahl der ,tschechischen‘, meist vom Land kommenden und kaum Deutsch sprechenden Frauen in den Haushalten der ,deutschen‘ Mittelschicht in Prag ist so groß280, dass ihre Anwesenheit sogar die Kritik der ,deutschen‘ Politiker auf sich zieht. Sie befürchten darin eine Bedrohung der ethnischen Reinheit der ,deutschen‘ Haushalte (vgl. Cohen 1981: 116). Die Konnotation zwischen Sprache und Schichtzugehörigkeit, zwischen Tschechisch und unteren gesellschaftlichen Klassen und Deutsch und bessergestellten Familien muss erst im Laufe der Zeit aufgeweicht werden. Deutlich wird die gesellschaftlich höhere Wertschätzung des Deutschen auch unter der jüdischen Bevölkerung, deren durch Germanisierung gekennzeichneter Emanzipationsprozess281 dafür sicherlich die Basis schaffte. Vor diesem Hintergrund ist ebenfalls die ausgesprochene institutionelle Identifizierung der Juden mit dem Deutschtum zu verstehen, wie sie etwa die deutschen jüdischen Volksschulen bzw. auch der sich kaum vermindernde Vorzug der Lehranstalten mit deutscher Unterrichtssprache, die deutsche Ausbildung der Rabbis und die allgemeine Dominanz des Deutschen in den Verwaltungsstrukturen der jüdischen Gemeinden zum Ausdruck bringen (vgl. Kieval 1988: 36). Dem zunehmenden politischen Status der ,Tschechen‘ und des Tschechischen wird Rechnung getragen, indem die Mehrheit der Juden beispielsweise in den Kommunalwahlen den ,deutschen‘ Kandidaten ihre Unterstützung entzieht und im Rahmen der Volkszählungen statt der deutschen nun die tschechische Umgangssprache angibt (vgl. Cohen 1981: 224). Die Überzeugung von der ,traditionellen Bildungssprache‘ wandelt sich jedoch nicht: [W]hile many Prague Jews at the turn of the century found it politically expedient to vote for Czech candidates and indicate Czech language in the census, the great majority, rich and poor, was no more ready to abandon its old belief in the superior value of German learning than to drop its long-standing deference to a German-speaking, liberal middle-class elite (Cohen 1981: 225). 280

281

Ein Vergleich zwischen den deutschen und tschechischen Haushalten mit Dienstboten in Wien und Prag, wobei der ethnische Anteil der ,Deutschen‘ in Prag (7,5 %) dem der Wiener ,Tschechen‘ (7,2 %) an der jeweiligen Gesamtbevölkerung fast gleichkommt, deckt auch den Unterschied im sozialen Status der bessergestellten Schichten (mit Dienstboten) der beiden Minoritäten auf. Beachtenswert ist v.a. der große Prozentsatz der Prager deutschen Haushalte mit zwei, drei oder gar vier Dienern, der den der Wiener ,Tschechen‘ in der gleichen Kategorie um das Vierfache übertrifft (vgl. hierzu auch Havránek 1966: 196-197; Glettler 1972: 231). Zum Emanzipationsprozess der Juden, der mit dem Toleranzpatent Josephs II 1782 einsetzt, vgl. unter besonderer Berücksichtigung der sprachlichen Assimilierung zusammenfassend Nekula (2003: 19-21).

156

Deutsch und Tschechisch im Spiegel soziostruktureller Rahmenbedingungen

Abschließend ist festzuhalten, dass die Wertigkeit der tschechischen Sprache in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts mit seinem Einzug ins Prager Rathaus, seiner Relevanz in wirtschaftlichen Fragen und seiner Präsenz im Bildungssektor kräftigen Aufschwung erfährt. Insbesondere in der Lokalpolitik geschieht dies auf Kosten des Deutschen, doch erschüttert dieser Verlust an politischer Macht kaum die gesellschaftliche Stellung des Deutschen – mag man das Fundament hierfür als besonderes Selbstbewusstsein oder als gewisse Ignoranz der deutschsprachigen Minderheit in Prag betiteln. In jedem Fall versteht sich „die deutsche Minoriät“, auch noch in der Endphase der Donaumonarchie, „obwohl sie im Magistrat der Stadt nichts mehr zu sagen hat[ten], als staatstragendes Element [...], das die Landesverwaltung kontrolliert[e]“, sie ist „von ihrer kulturellen Führungsrolle überzeugt [...] und sich infolge ihrer Verbindungen zum deutschen Reich und zur Hauptstadt Wien, insbesondere in den Bereichen des Theaters, der Hochschulen, des Vortragswesens, der Publikationsorgane, des Militärs, des Handels und der Industrie, eine mögliche Bedrohung durch den nationalen Gegner nicht einzugestehen bereit [...]“ und hat nach Binder dazu „auch bis zum Ausbruch des Ersten Weltkriegs keinen wirklich Anlaß“ (Binder 1996: 191).

4

Schulwesen – Instrument sprachnationaler Lenkung und Spiegel des ,Sprachverhaltens‘

4.1

Im Habsburgerreich

Im Folgenden wird mittels der Analyse der domänenspezifischen Entwicklung des Tschechischen und Deutschen im Schulwesen der Rahmen für die empirische Untersuchung (ca. 1870-1900/10) des tatsächlichen Wandels im ,Sprachverhalten‘ der Prager Bevölkerung geschaffen. Eingesetzt wird mit der Reformpolitik Maria Theresias und Josephs II. Ende des 18. Jahrhunderts, die nicht nur um den Preis der sprachlichen Assimilierung die Emanzipationsbewegung der Juden einleitet, sondern auch allgemein mit der Ablösung des Lateinischen als überregionaler, transnationaler Verkehrssprache durch das Deutsche eine Germanisierung der sprachlichen wie kulturellen Sphäre der gesamten Monarchie forciert. Die einschlägigen, monarchieweit relevanten Bestimmungen und Gesetze für die Einführung eines einheitlichen Schulwesens unter staatlicher Leitung werden v.a. in Bezug auf die böhmischen Länder betrachtet. Ferner gilt es, das Schulsystem und die verschiedenen Schultypen kurz vorzustellen, da gerade in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts eine Neuordnung des Schulwesens erfolgt. Bis in die zweite Hälfte des 18. Jahrhunderts hinein übt die Staatsgewalt im Habsburgerreich auf die Entwicklung der Volksschule einen sehr geringen Einfluss aus. Wesentliche Antriebskraft im schulischen Bereich ist bis zu diesem Zeitpunkt die Kirche (vgl. Mayrhofer / Pace 1898: 559). Mit dem Regierungsantritt Maria Theresias setzt sich das Interesse und die Verantwortungsbereitschaft des Staates auf dem Gebiet der Bildung durch, sodass Schule zum Politikum erklärt wird (vgl. Hanzal 1976: 221; Engelbrecht 1984: 490). Charakteristisch für die daraufhin eingeleitete Schulreform sind einerseits das Bestreben, die katholische Kirche, die bisher weitgehend für das Schulwesen verantwortlich zeichnet, aus ihrer Sonderstellung zu drängen und stattdessen eine vollständige staatliche Kontrolle des Bildungswesens zu errichten, sowie andererseits die Schule den Bedürfnissen eines aufgeklärten und absolutistischen Staates unterzuordnen. Dem Utilitätsprinzip folgend soll demnach das Schulwesen primär dem praktischen Zweck dienen, Staatsdiener und Beamte etc. zu formen, außerhalb dieses Staatsziels wird höhere Bildung nicht gefördert (vgl. Hanzal 1976: 221; Engelbrecht 1984: 69, 160). „It fit logically into the policies of Maria Theresa and Joseph II to close many secondary schools deemed superfluous and to reduce instruction in the universities of Graz and Innsbruck” (Cohen 1996a: 15). Statt gesellschaftlicher ,Breitenbildung‘ im sekundären Bildungssektor zielt die Regierung vorrangig ab auf die Eindämmung der Kostenexplosion im weiterführenden Schulwesen sowie

158

Schulwesen

die Beschränkung des Zugangs zu höherer Bildung für Angehörige der Grundund Mittelschicht (vgl. Grimm 1995: 59). Die Entscheidung zur und v.a. auch die Durchführung der grundlegenden Reform des allgemeinen Bildungswesens geht auf mehrere Faktoren zurück. Zunächst handelt es sich bei ihren Initiatoren – Maria Theresia, Joseph II, Leopold II – um Herrscherpersönlichkeiten, die bildungspolitischen Anliegen gegenüber nicht nur offen sind, sondern ihnen sogar besonderes Gewicht zumessen. Außenpolitische Niederlagen führen ferner zu der Erkenntnis, dass entsprechend dem preußischen Vorbild eine bessere Ausbildung sowohl der Offiziere (Gründung von Militär- und Ingenieurakademien) als auch des gemeinen Soldaten nottut. Infolge der im Jahr 1749 eingeführten Verwaltungsreform wird außerdem, den Zielsetzungen des monarchischen Absolutismus entsprechend, ein zentralisierter Behördenapparat – mit vorwiegend Deutsch als Kommunikationsmittel – aufgebaut, der auch in Bezug auf die schulischen Belange erfolgreich genützt werden kann. In kirchenpolitischer Hinsicht sind v.a. die Beseitigung der Steuerfreiheit der Kirche, die Auflösung des Jesuitenordens durch päpstliches Dekret im Jahr 1773282 sowie die Anordnung Josephs II (1781) zur Auflösung der Klöster, deren Mitglieder nur eine kontemplative religiöse Lebensweise führen, bedeutend. Mit dem drastischen Rückgang der Stifte geht jedoch auch eine Verarmung der österreichischen Bildungslandschaft einher. Das Toleranzpatent aus dem Jahr 1781 beeinflusst insofern das Schulwesen, als dass die mit den (beinahe) gleichen Rechten wie die Katholiken ausgestatteten Religionsgemeinschaften sich organisieren und eigene Schulen gründen (vgl. Engelbrecht 1984: 69-75). Die Neugestaltung und der Ausbau des Erziehungssystems stellen v.a. im Primarbereich ein dringliches Anliegen der absolutistischen Herrscher dar. Im späten 18. Jahrhundert wird zwar auch der Lehrplan für das akademische Sekundar- und das höhere Schulwesen modernisiert und der Einfluss der Kirche begrenzt, allerdings werden gleichzeitig keine Anstrengungen unternommen, das Netzwerk an Gymnasien und Universitäten zu vergrößern (vgl. Cohen 1996a: 15; Grimm 1995: 40-63).283 Damit steht der obligatorischen, staatlich geförderten Grundbildung eine elitäre Weiterbildung gegenüber. Zentrales Organ für die Umsetzung der von den aufgeklärten Herrschern propagierten allgemeinen Volksbildung stellt zunächst die 1760 geschaffene Studien282

283

Das Vermögen des Jesuitenordens wird beschlagnahmt und ein Studienfonds begründet, zu dessen Verwaltung von Maria Theresia die allein von ihr abhängige Studienhofkommission eingesetzt wird. Damit sind erstmals die notwendigen finanziellen Mittel vorhanden, um die Neuerungen v.a. im Primarschulwesen in die Praxis umzusetzen (vgl. Preissler 1967: 133; Grimm 1995: 44). Ganz im Gegenteil reduziert die Regierung die Zahl an Gymnasien und Lateinschulen in den 1770ern, als viele kleinere Schulen geringerer Qualität geschlossen und der Jesuitenorden verbannt werden – z.B. in Böhmen von 44 im Jahr 1773 auf 13 im Jahr 1777, ehemals tschechische Einrichtungen werden in diesem Zusammenhang in deutsche Hauptschulen umgewandelt oder ganz aufgelöst (vgl. Strakosch-Grassmann 1905: 115-117; Drabek 1996: 339).

Schulwesen

159

hofkommission284 dar, die als Planungs-, Lenkungs- und Verwaltungsinstitution in völliger Unabhängigkeit von anderen Behörden und als Vertretung der einzelnen Landes-Studienkommissionen agieren soll (vgl. Engelbrecht 1984: 84-86; Fiedler 1967: 25). Die theoretische Grundlage für ein einheitliches staatliches Primarschulwesen schafft der von Maria Theresia nach Wien berufene Saganer Abt und schon in seiner Heimat aktive Schulreformator Johann Ignaz Felbiger (vgl. hierzu Böhm 1995: 138-141) mit der bereits 1774 in Kraft tretenden Allgemeinen Schulordnung für die deutschen Normal-, Haupt- und Trivialschulen in sämmtlichen k. k. Erblanden. Neben drei Arten von Elementarschulen – der Normalschule in jeder Provinz (gleichzeitig Ausbildungsstätte für Lehrer), der Hauptschule in größeren Städten und der gemeinen deutschen Schule oder Trivialschule in allen Orten mit Pfarr- oder Filialkirchen – werden in den 24 Paragrafen die allgemeinen Richtpunkte der neuen Ordnung definiert. Auf deren Grundlage besitzt der Staat jederzeit Eingriffsmöglichkeiten, nicht nur in Bezug auf die staatlichen Schulträger, sondern auch bei inhaltlichen Komponenten im pädagogischen Bereich. Der Kirche wird dagegen deutlich die Schulhoheit des Staates vor Augen gehalten (vgl. hierzu Engelbrecht 1984: 103-106; Mayrhofer / Pace 1898: 560-561). Um eine dauerhafte Beständigkeit des Reformwerkes zu sichern, gestaltet Felbiger ein gewisses Kontrollsystem mittels regelmäßiger Berichterstattung an höhere Instanzen und obligatorischen Visitationen der Aufsichtsorgane, sodass er gleichzeitig „das bürokratische Zeitalter im Schulwesen“ (Engelbrecht 1984: 109) einläutet. Voraussetzung für die neue Methode der Lehre in großen Gruppen und zur flächendeckenden Verbreitung der Schulbildung sind viele und v.a. auch günstige Schulbücher, hierzu wird Anfang der 1770er Jahre ein eigener Schulbuchverlag in Wien gegründet (vgl. ebd.: 88). Die allerhöchste Entschließung Josephs II. vom 26. September 1784 bildet die Grundlage für den Ausbau des Elementarschulwesens in Österreich, indem sie die Zahl der Schulen und Lehrer sowie deren Finanzierungsbestimmungen exakt festlegt. Demnach ist die Errichtung von Trivialschulen nicht an eine Pfarrei gebunden, sondern gilt auch für Gemeinden, die „zwar keine Seelsorger, aber doch eine solche Volksmenge“ haben, „daß sie von 90 bis 100 schulfähige Kinder zählen, von denen keines über eine halbe Stunde in die Schule zu gehen hat“ (zit. nach Grimm 1995: 206). Mit dieser Regelung geht Joseph II in Bezug auf die Dichte des Schulnetzes sogar über die in der Allgemeinen Schulordnung festgeschriebenen Grundsätze hinaus (vgl. ebd.: 207 Anm. 222). Für die Erhaltung der Schulen sind Grundobrigkeit, Gemeinde und Patron gemeinschaftlich zuständig (vgl. ebd.: 206-207). Weitere, durchaus rigorose Entscheidungen Josephs II beziehen sich auf 284

1791 wird die Studienhofkommission aufgelöst und damit die Hofkanzlei zur obersten Unterrichts- und Kultusbehörde, dies repräsentiert auch nach außen hin, dass Unterricht und Erziehung wieder an Stellenwert verlieren. Im Jahr 1808 stellt Kaiser Franz I die Studienhofkommission als Zentralbehörde für das Studienwesen in sämtlichen Provinzen wieder her. Sie existiert bis zum Jahr 1848 und gilt als direkte Vorläuferin des Unterrichtsministeriums (vgl. Musil 1948: 8).

160

Schulwesen

den sogenannten Schulzwangerlass (1781), einer Maßnahme zur Verbesserung des Schulbesuchs, bei der den Eltern Strafsanktionen angedroht werden, sollten sie nicht für das Erscheinen ihrer Jüngsten (6. bis 12. Lebensjahr) in der Schule sorgen. Als Kontrollinstrument wird im selben Jahr eine Schulmatrik, d.h. eine regelmäßige Aufzeichnung aller schulpflichtigen Kinder eingerichtet. Gleichzeitig bemüht sich Joseph II um die Einführung des unentgeltlichen Unterrichts an Trivialschulen, was letztendlich in einer Beitragszahlung der Kinder vermögender Eltern endet (vgl. Mayrhofer / Pace 1898: 560-561; Engelbrecht 1984: 118-119). Die gesetzliche Grundlage für das Volksschulwesens bis zum Jahr 1869 prägt weitgehend die Politische Verfassung der deutschen Schulen für die k. k. österreichischen Provinzen mit Ausnahme von Ungarn, Lombardie, Venedig und Dalmatien aus dem Jahr 1805 (vgl. Gernert 1993: 71-437). Es gibt wiederum drei Typen von Lehranstalten, und zwar ein- bis zweiklassige Trivialschulen überall dort, wo ein Pfarrbuch geführt wird285, dreiklassige Hauptschulen in jedem Kreis bzw. eine vierklassige Normalschule oder Musterhauptschule in den Hauptstädten, die der Vorbereitung zum Eintritt in eine Mittelschule dienen und schließlich Gymnasien und Realschulen zur Vorbereitung auf die polytechnischen Institute bzw. späteren technischen Universitäten in den Städten. Ausschlaggebend für die geringe Entwicklung des Primarschulwesens in diesem Zeitraum ist die Tatsache, dass der Staat sich zwar die oberste Leitung der Schulaufsicht vorbehält, die unmittelbare Aufsicht über Trivialschulen und ländliche Schulen der Ortsseelsorger ausübt und so zur Konfessionalisierung des niederen Schulwesens führt; d.h., dass Reformen zwar von der Regierung ununterbrochen erwogen, aber bis 1848 nur sehr vereinzelt realisiert werden (vgl. Newerkla 1999: 48-49; Zeissl 1948: 169-172; Frommelt 1963: 46).286 Eine derartige Stagnation ist für das Mittelschulwesen bis zum Revolutionsjahr 1848 charakteristisch. Die ab dem Schuljahr 1775/76 gültige, neue verbindliche Norm für alle österreichischen Gymnasien ist motiviert durch politische und finanzielle, aber keineswegs pädagogische Reformabsichten. So setzt die konservativ-katholisch gesinnte Maria Theresia den vom Piaristenpater Gratian Marx aus-

285

286

Die Umsetzung dieser Verordnung verläuft jedoch schleppend. Im Jahr 1857 besuchen immer noch nur 60 Prozent der schulpflichtigen Kinder monarchieweit tatsächlich eine Schule (vgl. Zeissl 1948: 173). „Der Einfluß der Kirche hatte im Verein mit dem politischen Konservatismus den Rückgang des obligatorischen Schulbesuches, das Zurückbleiben im Inhalt der Schulbildung, die Erschwerung des Vordringens der westeuropäischen Literatur, die Verfolgung progressiven Denkens sowie eine Verhärtung der Germanisierung zur Folge. Die Kirche arbeitete stets mit den konservativen Kräften in Regierung und Gesellschaft zusammen und behauptete im 19. Jahrhundert die Kontrolle über die Volksschulen. Die suchte den Schulbesuch einzuschränken und hemmte die Heranbildung der Lehrer sowie die Emanzipation der Lehrer von der Abhängigkeit von der Pfarre“ (Čapková 1992: 352-353).

Schulwesen

161

gearbeiteten Gymnasialplan287 durch, der wenig Neuerungen enthält und vielmehr vom „Gedanken der Kontinuität, Sparsamkeit und raschen Umsetzbarkeit in die Schulwirklichkeit“ (Grimm 1995: 79) geleitet ist. Unter den schulpolitisch engagierten Monarchen Maria Theresia und Joseph II regiert noch das Primat der Verbreitung einer allgemeinen Volksbildung, ab der Jahrhundertwende tritt schließlich ein gewisser Stillstand im Bereich des Schulwesens ein. Probleme, wie der Mangel an ausgebildeten Lehrkräften auf Grund der gravierenden Defizite im Bereich der Sekundarschullehrerbildung und des Fehlens adäquater Bildungseinrichtungen und des knappen finanziellen Etats der Regierung, mit denen das Volksschulwesen bereits zu kämpfen hat, treffen die Gymnasien verstärkt (vgl. Frommelt 1963: 40; Grimm 1995: 52-53). Daher kehrt auch eine Reihe ehemals säkularisierter Gymnasien wieder unter die Leitung religiöser Orden – Benediktiner, Piaristen, Zisterzienser, Prämonstratenser – zurück und damit auch ein Faktor, der die uneinheitliche Entwicklung und unterschiedlichen Ressourcen der einzelnen Einrichtungen begründet. Denn trotz zentraler Studienhofkommission besitzen die Orden Autonomie in Fragen der Anstellung und Ausbildung der Lehrer sowie der Erhaltung und Ausstattung ihrer Institutionen (vgl. Grimm 1995: 64-67). Einschneidende Änderungen im Sekundarschulwesen finden in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts nicht statt, das Gymnasium hat lediglich seine Aufgabe als hauptamtliche Produktionsstätte für Staatsangestellte zu erfüllen. Erst die geistigen Umbrüche des Revolutionsjahres leiten auch im Bereich der höheren Bildung eine umfassende äußere und innere Neuordnung ein. Engelbrecht teilt die Entwicklung der Bildungspolitik in Österreich mit Beginn der Revolution 1848 bis zum Ende der Monarchie in sechs verschiedene Phasen ein (vgl. Engelbrecht 1986: 25-31).288 In der Revolution 1848/49 setzen sich zum ersten Mal auf breiter Front artikulierte und schriftlich fixierte Forderungen nach nationaler Gleichberechtigung durch, deren Realisierung im Schulwesen zu einem zentralen politischen Streitthema wird. Bildung erfährt nicht zuletzt durch die neue Trägerschicht staatlicher Kompetenz eine gesteigerte Wertschätzung. Bereits in dieser beginnenden Phase deutet sich ein liberales, die Interessen des Bürgertums vertretendes Bildungskonzept an, das, obgleich es zunächst nicht über Programme und Provisorien hinausreicht, bereits die Voraussetzungen für die Neuordnung von Unterricht und Erziehung in den folgenden Jahrzehnten schafft (vgl. ebd.: 25-27). In der folgenden neoabsolutistischen Phase (1849/52-1860) wird 287

288

Maria Theresia beauftragt den Piaristenpater Marx – ohne ihre Berater zu informieren – im August 1775 mit der Ausarbeitung des Planes, nachdem ihr das vom Professor für Universal- und Literaturgeschichte an der Universität Wien, Ignaz Mathes von Heß, vorgelegte Konzept im Zeichen der deutschen und französischen Aufklärungspädagogik zu liberal und zu kostspielig ist und der konservativ geprägte Entwurf des Philologen, Funktionärs und Beraters der Monarchin, Franz Adam Kollar keine echte Alternative bietet (vgl. hierzu ausführlich Grimm 1995: 68-103). Für eine Periodisierung der österreichischen Bildungsgeschichte in einem größeren zeitlichen Rahmen vgl. Engelbrecht (1992).

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entsprechend dem Streben nach einem modernen, zentralistisch geführten, österreichischen Einheitsstaat auch eine monarchieweit gültige Normierung des Bildungswesens angesteuert. Dabei sollen auf eine vaterländisch-religiöse Erziehung ausgerichtete Lehrinhalte für ein übernationales österreichisches Staatsbewusstsein und damit für eine ideologische Fundierung der neoabsolutistischen Staatskonzeption sorgen. Die für den Einheitsstaat proklamierte einheitliche Sprache, das Deutsche, führt im Unterrichtswesen zu dessen erneuter, unangefochtener Vorrangstellung und einer Verdrängung der nichtdeutschen Sprachen, deren Pflege zwar gesetzlich zugesichert, in der Domäne Schule aber auf das Niveau der Trivialschulen begrenzt wird (ebd.: 10, 27-28). Die dritte, mehr föderalistisch geprägte Phase (1860-67), ist von einer zunehmenden Autonomie der Länder, die bisher nur die Rolle von Verwaltungssprengeln innehatten, geprägt. Zwar sind die Rahmenbedingungen für allgemeine Schulangelegenheiten weiterhin staatlich vorgegeben, doch deutet sich mit der heftigen Diskussion über die jeweilige Unterrichtssprache – ob im Primarschulwesen oder an den Universitäten – ein Aufweichen der Spitzenposition des Deutschen im Bildungsbereich an (vgl. ebd.: 28). Noch überwiegen bürokratische Lenkungsmaßnahmen gegenüber Veränderungen institutioneller Art, doch dies ändert sich in der bildungspolitisch offensivsten, der liberalen Phase (1867-79). Unter dem wieder errichteten Unterrichtsministerium und der Leitung deutschliberaler Politiker aus der gebildeten Mittelschicht etabliert sich ein leistungsorientiertes, in höheren Ausbildungsebenen zum Teil elitär geprägtes, vor allen Dingen jedoch säkularisiertes Schulwesen. Kompetenzen staatlicher Kontrolle und Länderautonomie sind genau abgegrenzt. Sowohl Primar- als auch Sekundarschulwesen erhalten, mitunter der fortschreitenden Industrialisierung angepasste, neue Strukturen und Lehrinhalte (vgl. ebd.: 28-29). Auch unter dem Eindruck zunehmender nationaler Interessen und einer sprachnationalen Separation im Bildungswesen zeichnet sich bereits ein Gründungsboom von Schulbauten ab, der in der bildungspolitisch ruhigeren, konservativ-katholischen Phase (1880-97) nochmals zunimmt.289 In der letzten, der nationalistischen Phase (1897-1918) gerät die Bildungspolitik in erster Linie auf Grund der verschärften nationalen Gegensätze in Bewegung, bleibt aus demselben Grunde oftmals aber auch ohne Einigung und ergebnislos. Ausnahmen hiervon bilden die Verbesserung der Mädchenbildung und die Einführung des Realgymnasiums (1908) als konkurrenzfähige Alternative zum bisherigen Gymnasium. Engelbrecht sieht in der anschwellenden Gewichtung nationaler Bedürfnisse im Laufe der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts auch die Ursache dafür, dass die Bildungspolitik der ausgehenden Monarchie auf die Beamtenebene verlagert [wird] [...], zu einer administrativen Angelegenheit ab[sinkt]. Die einmal festgelegten Positionen [werden] nur geringfügig verlassen und notwendig gewordene zeitbedingte Rege289

Vgl. hierzu die Entwicklung der Schülerzahlen an Gymnasien und Realschulen sowie an Universitäten bei Cohen (1996: 56).

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Schulwesen

lungen möglichst unauffällig im bestehenden Bildungssystem vorgenommen [...]. [...] die ein halbes Jahrhundert früher festgelegten Bildungsstrukturen [können] nicht verlassen werden (ebd.: 31).

Folge dessen ist, dass letztendlich die in der Revolution entworfene Konzeption des Schulwesens am Ende der Monarchie in großen Teilen realisiert und erkennbar ist und dennoch ein Mit- oder zumindest Nebeneinander der Sprachen und ihrer Sprecher im Rahmen der Habsburger Monarchie scheitert. Den aufstrebenden Nationalismen versuchte man, sowohl durch die Fixierung von Sprachgesetzen als auch durch die Förderung des Ausbaus nicht standardisierter Sprachen zu begegnen. [...] An den Ausbau dieser Sprachen knüpfte sich eine muttersprachliche Schulpolitik, die in der Koexistenz zweier oder mehrerer Sprachen das bewußtseinsmäßige und ideologische Terrain aufbereiten sollte, auf dem es den Fortbestand des Vielvölkerstaates zu sichern galt. Die Eskalation im 1. Weltkrieg zeigt, daß der eher toleranzorientierten Sprachpolitik der Habsburger in dieser Hinsicht kein Erfolg beschert war: einerseits erwiesen sich die politisch-sozialen Programme, in die diese Sprachpolitik eingebunden war, als nicht tragfähig, um dieser Sprachpolitik zum Erfolg zu verhelfen; und zum anderen muß eingeräumt werden, daß eine auf multiethnische Koexistenz bedachte Sprachpolitik die erwachenden und sich politisch formierenden Nationalismen unter den Völkern der Monarchie nicht einzudämmen vermochte (Rindler-Schjerve 1997: 16).

4.2

In den böhmischen Ländern

4.2.1 4.2.1.1

Historische Entwicklung des Schulwesens290 Vorherrschaft des Deutschen

Der soziale Wandel, der infolge der Niederschlagung der großen Ständeerhebung von 1618/20 und im Zuge des sich etablierenden zentralistisch-absolutistischen Herrschaftssystems einsetzt und schließlich das Tschechische in die Position der L-Varietät und das Deutsche in jene der H-Varietät führt, vollzieht sich etappenweise. So sind Kenntnisse des Tschechischen beim Amtsantritt Maria Theresias 1740 im Königreich Böhmen noch weit verbreitet (vgl. Berger 1999), doch hat die tschechische Sprache bereits ihre angesehene Stellung im öffentlichen Leben eingebüßt. Mit der Auflösung der böhmischen Hofkanzlei 1749 verliert das Tschechische auch seinen Status als Staatssprache und ist bis 1848 nur noch landesübliche Sprache (vgl. Malý 1991: 262). Die Veränderungen der innenpolitischen, sozialen, kulturellen und religiösen Verhältnisse begünstigen das Deutsche in den Domänen der H-Varietät, als Schrift- und Bildungssprache – mit Ausnahme insbesondere religiös-volkstümlicher Literatur, die es weiterhin in tschechischer Sprache gibt – und als Kommunikationsmittel der öffentlichen Verwaltung wie der 290

Vgl. hierzu die zusammenfassende Darstellung bei Newerkla (1999: 44-60) und für die Zeit Maria Theresias und Josephs II Drabek (1996: 329-344) mit jeweils weiteren, auch zeitgenössischen Literaturangaben.

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Justiz (vgl. Drabek 1996: 329; Trost 1965: 24-25; Fischel 1901: XX-XXVII; Berger 2000: 836-842). Dennoch weist Maria Drabek darauf hin, dass im späten 17. und in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts die tschechische Sprache nie gänzlich aus den Schulen und der pädagogischen Praxis verschwunden [war]. Ihre Domänen waren in jenem Zeitraum vor allem die Dorfschulen auf den Grundherrschaften, wo Pfarrer, Kaplan oder Chormeister den Unterricht erteilten. Aber auch an etlichen städtischen Schulen, Gymnasien und Priesterseminaren war die Unterrichtssprache um die Mitte des 18. Jahrhunderts Tschechisch oder wurde neben dem Deutschunterricht auch Tschechischunterricht erteilt, und zwar auch dann, wenn es sich um mehrheitlich oder teilweise deutschsprachige Städte und Orte handelte 291 (Drabek 1996: 330).

Während Maria Theresia zu Beginn ihrer Amtszeit zur Förderung des Unterrichts in der Muttersprache, also auch des Tschechischen, auffordert und dies zudem mit konkreten Maßnahmen unterstützt, wie etwa der Einführung des Tschechischunterrichts am Wiener Neustädter Kadettenhaus (spätere k. k. Theresianische Militärakademie) im Jahr 1752 und drei Jahre später an der Adeligen Militärakademie auf der Wiener Laimgrube oder bereits 1746 als freiwillige Fremdsprache am Collegium Theresianum (spätere k. k. Theresianische Akademie zu Wien) (vgl. Newerkla 1996: 15-46; Fischel 1901: XXIX). Ferner befürwortet sie – insbesondere an den von Piaristen geleiteten Institutionen292 – neben der deutschen „auch [der] böhmischen Muttersprache eine größere Berücksichtigung im Lehrplane angedeihen zu lassen“ (Fischel 1901: XXIX). Nicht zuletzt verlangt sie noch zum Schuljahr 1765/66, den Tschechischunterricht in den Schulen der Prager Kleinseite, insbesondere auch am dortigen Gymnasium nachhaltig einzuführen (vgl. ebd.).293 Doch die Wende in ihrer Schul- und Sprachpolitik hat zu diesem Zeitpunkt bereits ihren Anfang genommen. Der Auslöser hierfür ist eine außenpolitische Konsequenz des Siebenjährigen Krieges, und zwar der endgültige Verlust von Schlesien. Die neu etablierte, fünfte europäische Großmacht Preußen verstärkt aus österreichischer Sicht das Bedürfnis, innere Reformen mit einer zentralisierten und gestrafften Verwaltung voranzutreiben. So propagiert Maria Theresia in der Folgezeit wiederholt294 die Ausbreitung der deutschen Sprache, womit auch die Anordnung einhergeht, „in den böhmischen Erbländern [...] nur der deutschen Sprache kundige Lehrer an[zu]stellen“ (Fischel 1901: XXX). Das Programm der 1774 in Kraft tretenden Allgemeinen Schulordnung ist grundsätzlich nicht gegen den 291 292 293

294

Vgl. auch Berger (1999; 2005), der die Situation beispielhaft in Chrudim analysiert. Im Reskript vom 27. November 1747 – vgl. Fischel (1901: XXIX). Allerdings herrscht starker Mangel an zeitgemäßen, qualitativ guten Tschechischlehrbüchern, sodass im Unterricht auf Komenskýs Janua linguarum aus dem Jahr 1631 zurückgegriffen werden muss (vgl. Drabek 1996: 337 Anm. 30). In den Hofdekreten vom 23.02.1765, 09.11.1770 und 06.07.1771 (vgl. Fischel 1901: 23-24 Nr. 37-39).

Schulwesen

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Unterricht in der tschechischen Sprache gerichtet, sondern fördert – zumindest kurz- und mittelfristig – die Lehre in der Muttersprache. Die Bezeichnung „deutsch“ in Bezug auf das gesamte Schulwesen ist als Gegensatz „zur verknöcherten lateinischen Schulbildung“ (Fischel 1901: XXX) zu verstehen und nicht als Absicht der Wiener Regierung, das Grundschulwesen umfassend und radikal einzudeutschen. Das in Ergänzung zur Schulordnung herausgegebene ,Methodenbuch‘ sieht erst die Vermittlung ausreichender Kenntnisse in der Muttersprache vor, bevor spätestens im letzten Halbjahr der Haupt- und Normalschule zum Deutschen als primärer, wenn nicht gar einziger Unterrichtssprache zu wechseln ist. Die zentralistische und dem Utilitätsprinzip untergeordnete Ausrichtung der Bildungspolitik bleibt im Wesentlichen bis 1848 bestehen (vgl. Engelbrecht 1984: 130, 344 Anm. 232; Drabek 1996: 333-334; Hanzal 1976: 222-228, 229231). Obgleich die Schulreformen Maria Theresias die (Grund-)Kenntnis der jeweiligen Muttersprache, also auch des Tschechischen fördern,, bewirken sie langfristig das Primat des Deutschen im Schulwesen. Sicherlich legt der für die Durchführung der Schulreform in Böhmen und Mähren beauftragte Ferdinand Kindermann (vgl. Drabek 1996: 334 Anm. 16), aufgeklärter Pädagoge und als solcher Anhänger der Ideen Komenskýs, großen Wert darauf, dass der Unterricht in den ersten Jahren in der Muttersprache erteilt wird. Dennoch bleibt die Lehre in den höheren Klassen der deutschen Sprache vorbehalten und selbst in tschechischsprachigen Gebieten wird nur auf dem Niveau der Trivialschulen in Tschechisch unterrichtet.295 Obgleich zunächst in Prag (Hauptschule St. Heinrich) Pädagogikkurse für tschechische Lehrer und Katecheten eingerichtet werden und der Prager Schulverlag nun auch tschechische Lehr- und Lesebücher sowie Fachbücher und Kalender u.a. für den Lehrkörper herausgibt, hängt die sprachliche Qualifikation auf lange Sicht vom privaten Engagement der Lehrer ab. Denn eine Version der Allgemeinen Schulordnung für tschechische Schulen fehlt und somit auch die gesetzliche Regelung für den Unterricht in tschechischer Sprache. Die Ausbildung der Lehrer findet ausschließlich an den deutschsprachigen Normalschulen statt, ob und wie gut die Absolventen danach das Tschechische beherrschen, interessiert kaum. Beider Landessprachen mächtige Lehrer sind zwar durchaus erwünscht und werden schließlich auch mit finanziellen Zulagen belohnt, doch wird das Tschechische nicht in die Lehrerausbildung integriert (vgl. Fischel 1901: XXXII-XXXIII; Drabek 1996: 333-336; Hora-Hořejš 1996: 39-46, 107). Im höheren Schulwesen wird das Tschechische im Zuge seiner Reorganisation 1776/77 auf Grundlage des vom Piaristenpaters Gratianus Marx ausgearbeiteten 295

Hora-Hořejš (1996: 117) ergänzt jedoch: „Rozmach školství však i přes nesporně negativní tendenci germanizace sehrál významnou roli v procesu vytváření novodobého českého národa“ [Der Aufschwung des Schulwesens spielt jedoch über die fraglos negativen Tendenzen der Germanisierung hinaus eine bedeutende Rolle im Prozess der Herausbildung der neuzeitlichen tschechischen Nation – Übersetzung I.S.].

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Studienplanes ganz aus dem Lehrplan gestrichen. Deutsch ist fortan die einzig lebende Sprache, die an den Lateinschulen gelehrt wird. Seine ausreichende Kenntnis wird zudem zur Aufnahmebedingung.296 Das Tschechischangebot beschränkt sich auf Winkelschulen und vereinzelte, privat tätige Gymnasiallehrer297 (vgl. Drabek 1996: 339-340). Mit der Einführung des Deutschen als Vorlesungssprache an den Universitäten im Jahr 1784 wird schließlich die Germanisierung des höheren Bildungswesens vervollständigt. Allein bischöfliche Priesterseminare und die Lehrkanzeln für Pastoraltheologie bedienen sich weiterhin auch der tschechischen Sprache (vgl. Drabek 1996: 342-343). Im Wesentlichen herrscht diese Eindeutschungspolitik des böhmischen Schulwesens bis 1848 vor. Außer an den Trivialschulen wird nur auf Deutsch gelehrt. Auch an den Berufsschulen dominiert das Deutsche, seine Kenntnis zählt zu den Voraussetzungen für die Erlangung des Handwerksmeisters (vgl. Havránek 1993: 239). Versuche von verschiedenen Seiten, das Tschechische auf den unterschiedlichen Schulebenen wieder einzuführen, bleiben, abgesehen von einer verbesserten Positionierung als Freifach298, praktisch ohne Erfolg (vgl. Drabek 1996: 343-344).

4.2.1.2

Formale Gleichstellung

Das Revolutionsjahr 1848 läutet zumindest auf dem Papier eine entscheidende Änderung der Stellung der beiden Sprachen im Schulwesen ein und kratzt damit auch an der Exklusivität einer deutschen H-Varietät in dieser Domäne. Mit dem kaiserlichen Handschreiben vom 8. April 1848, der sogenannten Böhmischen Charte bzw. mit dem darauffolgenden Erlass des Unterrichtsministeriums vom 14. April 1848 wird der Forderung nach Gleichstellung des Deutschen und Tschechischen als Unterrichtssprache „im Volksschulunterricht und in den Gymnasialstudien“ nachgegeben (Strakosch-Grassmann 1905: 183; vgl. auch Burger 1995: 32-34). Während im September 1848 Tschechisch noch als an tschechischen Gymnasien obligater und an deutschen Gymnasien freier Unterrichtsgegenstand eingeführt wird und überdies in tschechischsprachigen Gebieten in einigen Fächern als Unterrichtssprache fungieren soll (vgl. Fischel 1901: LIII; Šafránek 1919: 131-

296 297

298

Vgl. hierzu Anm. 283: 158. Als einer von diesen erhielt Karel Ignác Thám 1803 die Genehmigung des böhmischen Guberniums, am Altstädter und Kleinseitner Gymnasium Tschechischunterricht erteilen zu dürfen (vgl. Drabek 1996: 339-340). Entsprechend der Verfügung der Studienhofkommission vom 23. August 1816 gilt für „Gymnasien in blos böhmischen oder sogenannten utraquistischen Ortschaften“ im Hinblick auf die Einführung des Tschechischunterrichts folgende Regelung: „Sind die Schüler in diesen Gymnasien, welche die Kenntnis der böhmischen Sprache schon aus den Trivialschulen oder von der häuslichen Erziehung mitbringen, auch in böhmischen Übersetzungen und Aufsätzen üben zu lassen“ (Fischel 1901: 45 Nr. 120; vgl. auch Newerkla 1999: 49).

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133)299, zeichnet sich bereits zu Beginn der neoabsolutistischen Phase eine zunehmende Distanzierung der Regierung von der Durchführung tatsächlicher sprachlicher Gleichberechtigung ab (vgl. Stourzh 1985: 41; Newerkla 1999: 5253). Als mit dem Silvesterpatent 1851 selbst die oktroyierte Märzverfassung (4. März 1849) aufgehoben wird, die noch das Prinzip nationaler und sprachlicher Gleichberechtigung garantiert, ist auch im Bildungswesen ein erneuerter Rückschritt nicht abzuwenden (vgl. Strakosch-Grassmann 1905: 173-232; Šafránek 1919: 142-145). Allerdings kommt dem „Bildungswesen eine viel zu große Bedeutung zu, als daß man es in vormärzliche Formen zurückpressen und mit dem beabsichtigten einheitlichen Staat auch die einheitliche Sprache – vor allem als Unterrichtssprache – hätte durchsetzen können“ (Burger 1995: 34). Die Schulpolitik des Unterrichtsministers von 1848 bis 1860 schwankt zwischen Maßnahmen zur Pflege der slavischen Sprachen wie etwa der Errichtung von Lehrstühlen für slavische Philologie und der eindeutigen Privilegierung des Deutschen. Der Elementarunterricht wird zwar weiterhin in der Sprache der Mehrheit der Einwohner eines Ortes, gegebenenfalls auch in zwei Sprachen erteilt, jedoch zieht das Deutsche an den böhmischen Gymnasien wieder als die dominante Sprache der höheren Stufen ein. So sehen die neuen ministeriellen Vorschriften aus dem Jahr 1854 vor, an Gymnasien nur Schüler aufzunehmen, die einen deutschen Hauptschulabschluss und Lateinkenntnisse auf Basis des Deutschen vorweisen können. An den Realschulen wird ebenfalls ein bestimmtes Niveau an Deutschkenntnissen vorausgesetzt. Infolgedessen wird Ende der 1850er Jahre an 37 von 46 Mittelschulen der böhmischen Länder nur deutsch und an den Übrigen zweisprachig unterrichtet. Universitäre Weiterbildung ist abgesehen von sehr vereinzelten Vorlesungen auch nur in deutscher Sprache möglich (vgl. Fischel 1901: LVIII-LIX; Kuz’min 1987: 116-117). Zwar bewirkt die revolutionäre Mehrheit der tschechischen Studenten der Prager Universität noch im Revolutionsjahr 1848 eine Umsetzung der proklamierten Gleichstellung der Sprachen in der Lehre (vgl. Engelbrecht 1984: 27), doch bleibt die Position der Prüfungssprache im Rahmen der Lehramtsausbildung „zum Nachweis der allgemeinen Bildung“ (Stourzh 1985: 39-40) sowie allgemein als Prüfungssprache an der Universität bis zum Jahr 1866 ausschließlich dem Deutschen vorbehalten (vgl. Cohen 1996a: 47).300 Dadurch sinkt der Besuch tschechischer Vorlesungen nach anfänglicher Euphorie an der Prager Universität 299

300

Erlass des Unterrichtsministeriums vom 18./20. September 1848. Vgl. Fischel (1901: 69-70 Nr. 175). Die tschechische Sprache wird an zehn Gymnasien Böhmens als Pflichtgegenstand eingeführt und zugleich als Unterrichtssprache in Religion, Geschichte, Geographie und Naturkunde erlaubt (vgl. Kuz’min 1987: 116). Am Prager polytechnischen Institut dagegen verabschiedet der böhmische Landtag bereits im Jahr 1863 eine neue Regelung, die die Gleichstellung des Deutschen und Tschechischen sowohl in der Lehre als auch der Administration anordnet. Hier folgt der formalen Gleichstellung unmittelbar die tatsächliche Umsetzung. Die ,utraquistische‘ Ära der Institution dauert jedoch nur bis zum Jahr 1869, als schließlich die Teilung in eine tschechische und eine deutsche Einrichtung erfolgt (vgl. hierzu Jílek / Lomič 1973: 467-471).

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wieder radikal.301 Die Zahl tschechischer Professoren und Vorlesungen in tschechischer Sprache steht erst nach der Konstituierung der tschechischen Universität 1882 in einem angemessenen Verhältnis zur Anzahl der Studenten.302 Erst im Jahr 1859, nach einer außenpolitischen Niederlage Österreichs, folgt eine erfolgreiche303 Kurskorrektur in der Sprachpolitik des Unterrichtswesens. Als Wendepunkt gilt die kaiserliche Entschließung vom August 1859 (vgl. Fischel 1901: 103 Nr. 239), in der die obligate Verwendung der deutschen Unterrichtssprache in der gymnasialen Oberstufe aufgehoben wird und stattdessen nur mehr ausreichende Deutschkenntnisse von Absolventen verlangt werden. Der erste Schritt zur Aufhebung der einheitlichen, monarchieweit gültigen sprachlichen Bindung im höheren Bildungswesen ist getan (vgl. Burger 1995: 35). Dennoch gelten weiterhin die alten Ideale: gründliche Kenntnis des Deutschen sowie der nichtdeutschen Mutter- bzw. Landessprache (vgl. Newerkla 1999: 54), womit letztendlich ein tschechisch-deutscher und ein auf Freiwilligkeit beruhender deutsch-tschechischer Bilingualismus angestrebt wird. Bis zum Jahr 1867 muss die zentralistische Ausrichtung des Kaisertums auf Verlangen seiner Nationalitäten zurückgenommen werden und die Kronländer erringen eine immer größere Selbstständigkeit in der Bildungspolitik. Nicht zuletzt deshalb, weil das Ministerium für Kultus und Unterricht 1860 der Auflösung verfällt und seine Aufgaben und Angelegenheiten eine Unterabteilung des Staatsministeriums übernimmt. Das zugewiesene Beratungsorgan, ein Unterrichtsrat ohne Exekutivgewalt, wird sogar erst 1864 aktiviert (vgl. Musil 1948: 14-15; Šafránek 1919: 175-179). Im gleichen Jahr wird im böhmischen Landtag der Gesetzesentwurf zur Durchführung der Gleichberechtigung der beiden Landessprachen in Volks- und Mittelschulen initiiert und erhält 1866 – trotz heftiger Proteste von deutschböhmischer Seite, wo es auch zum ,Sprachenzwangsgesetz‘ deklariert wird – als Landesgesetz 301

302

303

Während sich 1848 noch Hunderte von Studenten für die Vorlesung des Landesanwalts Dr. jur. Joseph Frič einschreiben, sind es im Jahr 1855 nur noch zwei (vgl. Havránek 2001: 648). Die in slavischer Sprache gehaltenen juridischen Vorlesungen an den Universitäten (u.a. Prag) werden 1854 zum Großteil wieder ausgelassen, denn das Finanzministerium verweigert die Bereitstellung der finanziellen Mittel für dieselben (vgl. Strakosch-Grassmann 1905: 185). Im Jahr 1876 unterrichten 65 deutsche und zwölf tschechische Professoren und nur 16 Prozent der Vorlesungen sind auf Tschechisch (vgl. Havránek 2001: 648). Die vollständige Konstituierung der tschechischen Universität ist im Jahr 1891 mit der Teilung der theologischen Fakultät abgeschlossen (vgl. ebd.: 650). Leeuwen-Turnovcová weist darauf hin, dass die lange andauernde Absenz einer tschechischsprachigen Hochschulbildung und der daraus entstehende Mangel tschechischsprachiger intellektueller Eliten nicht nur eine deutsch-tschechische Außendiglossie, sondern auch eine böhmischspezifische Innendiglossie (Hochtschechisch und Gemeintschechisch) begründet (vgl. Leeuwen-Turnovcová 2001; 2005). Ansätze, die Stellung des Tschechischen an den Gymnasien auf politischen Druck hin zu verbessern, indem es 1856 per Ministeriumserlass zum obligaten Fach aller deutschböhmischer Gymnasiasten erklärt wird, scheitern an ihrer inkonsequenten Durchführung (vgl. Frommelt 1963: 109, Newerkla 1999: 53-54).

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schließlich die kaiserliche Sanktion (vgl. Fischel 1901: 142 Nr. 288).304 Formal heißt dies, dass die beiden Landessprachen an den jeweils anderssprachigen Gymnasien obligate Lehrgegenstände darstellen und darüber hinaus ,in der Regel‘ nur eine Landessprache als Unterrichtssprache zu verwenden ist (vgl. Stourzh 1985: 166-167). Daraufhin werden von 25 bisher deutsch- oder zweisprachigen Gymnasien 13 als Mittelschulen mit tschechischer Unterrichtssprache reorganisiert (vgl. Kuz’min 1987: 118; Šafránek 1919: 190-194). An vielen deutschen Gymnasien in Böhmen bleibt das Tschechische trotz dieser Verordnung oft nur ein theoretisches Pflichtfach (vgl. Havránek 1993: 241-242). Die in den Gesetzen indirekt verankerte Förderung des Bi- und Multilingualismus der böhmischen Bevölkerung wird jedoch mit dem neuen Staatsgrundgesetz vom 21. Dezember 1867 gebremst. Im „meistgenannten, meistumstrittenen und meistinterpretierten Artikel der Dezemberverfassung“ (Stourzh 1985: 9), der „Charta des zisleithanischen Nationalitätenrechts“ (Stourzh 1967: 138), dem Artikel 19, geht insbesondere der dritte Absatz auf ein Sonderinteresse deutschböhmischer Abgeordneter zurück und ist als Reaktion auf das oben erwähnte Landesgesetz von 1866 zu verstehen (vgl. Burger 1995: 38). Dementsprechend als ,Sprachenzwangsverbot‘ betitelt soll damit verhindert werden, deutschböhmische Gymnasiasten zum Unterricht in tschechischer Sprache zu verpflichten. Bereits im folgenden Jahr wird per Erlass des Unterrichtsministeriums (vgl. Fischel 1901: 157-158 Nr. 314) und im Landesgesetz (vgl. ebd: 157 Nr. 313) das ungeliebte ,Sprachenzwangsgesetz‘ außer Kraft gesetzt und somit gewissermaßen die rechtlich fördernde Grundlage der Mehrsprachigkeit in Böhmen aufgehoben. Von der Volksschule bis zum Gymnasium darf die zweite Landessprache nicht mehr als Pflichtfach angesetzt werden.305 Zwar können die Landessprachen so theoretisch nicht aus dem Lehrplan, praktisch aber aus der Schulwirklichkeit gedrängt werden (vgl. Engelbrecht 1984: 299). Dem Dilemma – auf der einen Seite sprechen im Hinblick auf beruflichen und wirtschaftlichen Erfolg v.a. im Mittelschulwesen ausreichend rationelle Gründe für die Kenntnis der zweiten Landessprache, auf 304

305

„§1 Beide Landessprachen im Königreiche Böhmen sind gleichberechtigt, in der Schule als Unterrichtssprache zu dienen. §2 Unterrichtssprache an den öffentlichen Schulen in Böhmen soll in der Regel nur eine der beiden Landessprachen sein. §4 In den Mittelschulen (Gymnasien und Realschulen) mit böhmischer Unterrichtssprache ist die deutsche Sprache und in derlei deutschen Schulen die böhmische Sprache ein obligater Lehrgegenstand“ (Fischel 1901: 142 Nr. 288). In Mähren wird diese Bestimmung zumindest für das Realschulwesen im Jahr 1895 novelliert und die jeweils andere Landessprache als unbedingt obligates Unterrichtsfach festgesetzt. Das ,Sprachenzwangsverbot‘ habe für das Realschulwesen keine Gültigkeit, da es sich nicht um eine Pflichtschule handle. Böhmen und Schlesien halten dagegen an ihren 1874 bzw. 1870 beschlossenen Realschulgesetzen bis an das Ende der Monarchie fest, sodass die zweite Landessprache nur als freier Lehrgegenstand unterrichtet wird (vgl. Stourzh 1985: 187-188; Fischel 1901: 161-162 Nr. 322 und 324, 168-169 Nr. 338, 182 Nr. 365, 212-213 Nr. 413).

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der anderen Seite steht der gesetzliche Schutz vor einer obligatorischen Beherrschung – versuchen die Schulbehörden mittels des Einteilungsschemas der Lehrgegenstände auszuweichen. So werden die Unterrichtsfächer nämlich in unbedingt obligate, bedingt obligate und freie Gegenstände eingeteilt. Insbesondere die mittlere Kategorie (relativ obligate) bietet einen attraktiven Ausweg. Denn relativ obligat ist jener Gegenstand, den die Eltern bzw. deren Stellvertreter für ihre Kinder wählen können. Entscheiden sie sich für die Teilnahme am Unterricht, so gilt er als obligat und zählt – anders als freie Gegenstände – zur Gesamtbewertung eines Schülers. Allerdings erfährt diese Bedeutung in Böhmen bereits wieder eine Einschränkung, indem hier – im Gegensatz zu anderen Kronländern – die Note in der zweiten Landessprache für die Berechnung der Durchschnittsnote und des Rangplatzes innerhalb der Klasse nur bei günstigem Erfolg miteinbezogen wird (vgl. Mayrhofer / Pace 1898: 915-919; Stourzh 1985: 185; Šafránek 1919: 349350).306 Die Effektivität des optionalen Unterrichts in der zweiten Landessprache ist an deutschen Gymnasien – mit Ausnahme von Prag – minimal, allerdings ist das Niveau des Deutschunterrichts an tschechischen Gymnasien, der stark frequentiert wird, auch sehr niedrig (vgl. Havránek 1993: 242). Mit der verfassungsrechtlichen Verankerung der Gleichberechtigung der einzelnen Volksstämme und ihrer Sprachen kommt es zur „allmählichen sprachkulturellen Segregation“ (Nekula 2003: 132), die sich auch im Schulwesen in der schrittweisen Aufteilung der sprachlich abgegrenzten Nationalitäten auf die nach ebenfalls sprachlichem Prinzip getrennten Institutionen abzeichnet (vgl. ebd.). In der Epoche der liberalen Schulgesetzgebung (1868-1879) folgt nochmals eine Festigung dieser Tendenzen (vgl. hierzu Burger 1995: 39-49).307 Noch nicht so entscheidend hierfür ist das sogenannte Schule-Kirche-Gesetz vom 25. Mai 1868 (RGBl. Nr. 48), das jeglichen Einfluss einer Konfessionsgemeinschaft auf den Bereich des Religionsunterrichts beschränkt und das bisher herrschende Modell einer gemischten staatlich-kirchlichen Schulaufsicht durch eine vollkommen Weltliche ersetzt. Auch der Lehrberuf wird allen, unabhängig von der Konfession, zugänglich (vgl. Engelbrecht 1986: 112-114). Das Reichsvolksschulgesetz vom 14. Mai 1869 (vgl. Fischel 1901: 162 Nr. 326; Gernert 1993: 443-454) dagegen trägt (v.a. durch seine § 59 und § 62) in Kombination mit dem ,Sprachenzwangsverbot‘ zu einer Vertiefung des gesellschaftlichen Nebeneinanders, teilweise sogar Gegeneinanders, der Bevölkerung bei. Denn die Gemeinden, finanziell zuständig für die Volksschulen, sind dem böhmischen Schulerrichtungs306

307

Dass die Gewichtung des Faches Einfluss auf den Lernfleiß hat, steht in der Diskussion um die Einführung des obligaten Unterrichts in der zweiten Landessprache an den Gymnasien in Mähren fest: „Der bisher geübte relativ obligate Unterricht kann nicht viel besser sein wie der eines Freigegenstandes und man mag sagen, was man will, einem Freigegenstande wenden die Schüler weniger Fleiß zu als einem obligaten“ (Blösl 1911: 38). Zur allgemeinen Entwicklung des tschechischen Schulwesens von 1867-1914 vgl. auch Kopáč (1968).

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und Erhaltungsgesetz vom 19. Februar 1870 (vgl. Mayrhofer / Pace 1898: 665, 670-671) entsprechend zur Gründung neuer Ausbildungsstätten verpflichtet, sobald im Umkreis von einer Stunde im fünfjährigen Durchschnitt mehr als 40 Kinder gezählt werden können und im Umkreis von vier Kilometern keine Volksschule mit der landesüblichen Sprache zu finden ist. Sprengstoff bietet diese Regelung insbesondere in Gebieten mit deutsch- und tschechischsprachigen Einwohnern, zu denen infolge der Arbeitsplatz bedingten Migration v.a. die deutschböhmischen Industrie- und Bergbauregionen zählen, wo des Öfteren nun für jede Ethnie eine Schule mit eigener Unterrichtssprache – sogenannte Nationalitäten- oder auch Minoritätenschulen – gefordert werden. Die ab 1880 gegründeten nationalen Schulvereine, wie der Deutsche Schulverein308 einerseits und Ústřední matice školská andererseits309, engagieren sich ungemein für die Errichtung zunächst privater Volksschulen. Um schließlich die gesetzlich vorgeschriebene Mindestzahl von 40 Kindern zu erreichen und den Staat bzw. die Gemeinde damit zur Übernahme der Einrichtung zu zwingen, wird nicht selten zu unlauteren Methoden wie Androhen der Wohnungskündigung oder der Arbeitsentlassung gegriffen.310 Gerade die jüdischen Kinder, obgleich der Anteil der Juden an der böhmischen Be308

309 310

Zur Tätigkeit des deutschen Schulvereines in Böhmen vgl. Perko (1904). Zu Prag schreibt er dort: „Die oberste Regel bei der Verwendung der Vereinsmittel, in jenen Orten zuerst Hilfe zu bringen, in denen schwache und fremdartigen Einflüssen ausgesetzte Reste deutschen Kulturlebens gefährdet waren, wurde auch in Böhmen getreulich befolgt. Demnach befanden sich unter den zuerst Bedachten auch die Deutschen Prags. Während die tschechische Gemeindevertretung der Landeshauptstadt das slavische Schulwesen auf jede erdenkliche Art zu heben verstand und namentlich eine Reihe von Kindergärten unterhielt, um die Kleinen schon im zartesten Lebensalter dem tschechischen Volkstum zu gewinnen, wurden die deutschen Schulen arg vernachlässigt. So bestand nicht ein einziger deutscher Kindergarten. Bei dem Umstande, daß die Deutschen in Prag zumeist verstreut lebten, brachten die Kinder deutscher unbemittelter Eltern, die tagsüber ihrem Berufe nachgehen mussten, infolge des Umgangs mit der überwiegenden tschechischen Volksjugend eine geringe Fertigkeit in der deutschen Sprache in die Schule mit, ja manche deutsche Kinder gingen durch den Eintritt in die tschechischen Gemeindekindergärten und später in die tschechischen Schulen dem deutschen Volke ganz verloren. Diesen folgenschweren Uebelstand suchte man durch Gründung deutscher Kinderheime zu beheben. Ein zu diesem Zwecke gebildeter Verein übernahm diese Aufgabe, welche der Schulverein durch namhafte Geldspenden unterstütze, sodaß in Kürze drei Kindergärten in Prag und je einer in Weinberge und Žižkow erstehen konnten. Bald nach diesem Werke ging der Schulverein unter Mitwirkung der Prager Ortsgruppe an die Gründung einer selbständigen dreiklassigen Volksschule in Holleschowitz bei Prag. Dies Unternehmen gedieh gleich anfangs so günstig, daß die Schule in kurzer Zeit, zu einer fünfklassigen erweitert, im eigenen Hause untergebracht werden konnte, was um so mehr zu begrüßen war, als schon dieser ersten Schulgründung seitens der tschechischen Gemeindegrößen die unglaublichsten Schwierigkeiten in den Weg gelegt wurden“ (Perko 1904: 391). Zur Konstruktion von Feindbildern auf beiden Seiten vgl. Zaffi / Zaoral (1995). Dergleichen Druckausübung wird nicht nur den Schulvereinen, sondern zum Teil auch öffentlichen Organen vorgeworfen, sodass im September 1885 das Unterrichtsministerium den Statthalter von Böhmen auffordert, das freie Selbstbestimmungsrecht der Eltern in der Schulwahl zu sichern und gegebenenfalls die bereits vorgenommenen Einschreibungen nochmals zu wiederholen (vgl. Burger 1995: 93-94).

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völkerung nur etwa fünf Prozent beträgt, bilden bei der Entscheidung für die eine oder andere ,Nationalitätenschule‘ oftmals das Zünglein an der Waage (vgl. Kieval 2000: 142). Burger weist darauf hin, dass paradoxerweise gerade diese strikten Vorschriften die hohe Schuldichte und damit das vergleichsweise hohe Bildungsniveau in Böhmen zur Folge haben (vgl. Burger 1995: 45-46, 87-93).311 Im Zusammenhang mit der Errichtung von Nationalitätenschulen bieten insbesondere die ,nationale‘ Zugehörigkeit der Kinder bzw. deren Feststellung sowie die Berechnung der Kinderzahl im fünfjährigen Durchschnitt nationalen Zündstoff. Mangels jeder Durchführungsbestimmung, weder zum Verfassungsartikel 19 (3) noch zum Reichsvolksschulgesetz, kristallisiert sich das Administrativverfahren zur Errichtung von Nationalitätenschulen erst und ausschließlich im Rahmen der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ab 1884 heraus. Denn bis zum Ende der Monarchie scheitern alle Bemühungen, eine gesetzliche Fundierung der ,Minoritätsschule‘ zu schaffen (vgl. Burger 1995: 101-102, 105-111; Stourzh 1985: 170-172). Als einzig maßgebendes Kriterium für die Bestimmung der Nationalität erkennt der Verwaltungsgerichtshof die (protokollierte) Willenserklärung der Eltern an.312 Bei Erfüllung der formalen Bedingungen (40 schulpflichtige Kinder, 5-jähriger Durchschnitt) können sie unter ausdrücklicher Berufung auf die Verfassungsbestimmung die Errichtung einer Schule in der Sprache ihrer Nationalität von der jeweiligen Gemeinde erwirken. In der Folgezeit führt dies dazu, dass vermehrt ,Nationalitätenschulen‘ eröffnet und die bis dahin in gemischtsprachigen Gebieten durchaus häufig angesiedelten ,utraquistischen‘ Schulen, d.h. mit tschechischer und deutscher Unterrichtssprache, zurückgedrängt werden (vgl. Engelbrecht 1984: 298; Burger 1995: 101-102). Auf diese Weise geht ein wertvoller Ort zur Ausbildung eines deutsch-tschechischen und tschechisch-deutschen Bilingualismus verloren. In Bezug auf die Schulwahl bzw. die Unterrichtssprache zählt für den Verwaltungsgerichtshof als Richtschnur ebenfalls nur der Wille der Eltern und die Befähigung der Kinder, den Schulunterricht in der einen oder anderen Sprache zu empfangen, so darf beispielsweise einem tschechischsprachigen Kind mit entsprechenden Deutschkenntnissen313 der Besuch einer Einrichtung mit deutscher Unterrichtssprache nicht verwehrt werden (vgl. 311

312 313

Vgl. in Bezug auf die gut ausgebaute Schullandschaft in den böhmischen Ländern auch Prinz (1969), der allerdings ebenfalls auf den Zusammenhang von Industrialisierung und der fortschrittlichen Entwicklung des Schulwesens in den böhmischen Ländern hinweist und in der Politisierung der Schulpolitik und des daraus entstehenden „Bildungswettbewerbs zwischen den Tschechen und den Deutschen“ die Forcierung „eines ohnehin vorhandenen Trends“ (Prinz 1969: 50) sieht. Vgl. den Erlass des Verwaltungsgerichtshofes vom 3. Januar 1881 bei Mayrhofer / Pace (1898: 508-509 Anm. 2). Gerade mit Verweis auf diese Forderung nach ausreichenden Deutschkenntnissen wird von tschechischer Seite versucht, eine Regelung zu schaffen, um ,abtrünnigen‘ tschechischen Eltern zu verbieten, ihre Kinder auf Schulen mit deutscher Unterrichtssprache zu senden (vgl. AHMP: MHMP I, Hlavní spisovna 1784-1920, odd. C, 1891-1900, Sign. C 24/3, kt. C 538).

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Stourzh 1985: 169). Fakt ist, dass keine gesetzliche Vorschrift besteht, welche die Eltern in Schulgemeinden mit verschiedensprachigen Schulen in der Wahl der Unterrichtssprache für ihre Kinder beschränken würde (vgl. Mayrhofer / Pace 1898: 685 Anm. 1). Die Bestimmungen des Reichsvolksschulgesetzes aus dem Jahr 1869 bleiben im Wesentlichen bis zum Ende der Monarchie gültig (vgl. Strakosch-Grassmann 1905: 310). Seine Novellierung im Jahr 1883 führt nur zu geringfügigen Änderungen. Der überkonfessionelle Charakter der Volksschule wird leicht eingeschränkt, indem die Konfession des Schulleiters fortan dem Religionsbekenntnis der Mehrzahl der Schüler entsprechen muss. Ferner wird mit den sogenannten Schulbesuchserleichterungen v.a. den feudalen und bäuerlichen Forderungen nachgegeben und der verpflichtende achtjährige Schulbesuch314 um zwei Jahre verkürzt, allerdings wird in Böhmen (und Kärnten) davon kaum Gebrauch gemacht. Außerdem werden Bürger- und Volksschulen offiziell getrennt und das Bürgerschulwesen315 stärker auf die Anforderungen der Industrie und Landwirtschaft ausgerichtet sowie als Vorbereitung für die Lehrerbildungsinstitute eingesetzt (vgl. StrakoschGrassmann 1905: 305; Engelbrecht 1986: 118-119; Frumar 1920: 275-276).316 Von entscheidender Bedeutung für die zunehmende sprachnationale Segregation im Schulwesen ist das böhmische Schulaufsichtsgesetz vom 24. Februar 1873 (vgl. Fischel 1910: 1901: 178-179 Nr. 356), das nicht nur im Schulbereich die Entwicklung zur Anerkennung der nationalen Autonomie einläutet (vgl. Stourzh 1967: 143). Dieses Prinzip der ,nationalen Autonomie‘ überstieg das bis dahin geübte Prinzip der ,Sprachkenntnis‘ in einem Ausmaß, daß das Nationalitätenrecht in eine neue Entwicklungsphase eintrat, in der die individuelle nationale Bestimmung zu einer notwendigen Grundlage für politische Organisationsformen wurde (Brix 1982: 37).

Nach § 21 umfasst ein Schulbezirk in der Regel sämtliche Schulgemeinden317, deren Schulen innerhalb eines und desselben politischen Bezirkes gelegen sind. Wenn die Schulgemeinden der Unterrichtssprache nach jedoch verschieden sind, so werden zwei, ein deutscher und ein tschechischer Schulbezirk gebildet. Im Falle, dass die Zahl der Schulgemeinden zur Errichtung eines eigenen Schulbezirkes nicht ausreicht, werden diese dem nächsten gleichsprachigen Schulbezirke 314 315 316

317

Im Grunde besteht kein eigentlicher Schulzwang, sondern lediglich eine Unterrichtspflicht, die jedoch die meisten im Rahmen der Schule erfüllen (vgl. Engelbrecht 1984: 115). Für die besondere Bedeutung der Bürgerschulen in der Mädchenbildung vgl. Friedrich (1999: 6166) bzw. allgemein Scheipl / Seel (1985: 70-74). In Prag werden zudem laut Stadtratsbeschluss vom 12.07.1883 achtklassige Volksschulen in fünfklassige Volks- und dreiklassige Bürgerschulen umgewandelt (allerdings erst nach und nach verwirklicht), ferner wird darin festgelegt, dass Schüler der fünften Klasse Volksschule ohne Aufnahmeprüfung eine Bürgerschule besuchen können (vgl. Frumar 1920: 276, 282-283). „,Schulgemeinde‘ ist die aus einer oder mehreren Ortsgemeinden gebildete locale Schulconcurrenz, welche auch mehrere Schulen umfassen kann“ (Mayrhofer / Pace 1898: 684 Anm. 2).

174

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zugewiesen. Zudem werden in Orten mit Schulen beider Landessprachen, deren Schulsprengel318 nicht lokal abgegrenzt werden können, jeweils ein Ortsschulrat für die Einrichtungen mit deutscher und mit tschechischer Unterrichtssprache gewählt319 (vgl. Rauchberg 1905a: 396). Die Mitglieder dieses Gremiums müssen zudem der Nationalität angehören, für die die Schule bestimmt ist. Auf der Ebene der Bezirksschulräte wird das gleiche Prinzip angesetzt, sodass in Prag – also auf einem Territorium – eine deutsche und eine tschechische Vertretung institutionalisiert werden. In Böhmen insgesamt bestehen auf Grundlage dieser Bestimmungen im Jahr 1900 50 deutsche und 64 tschechische Schulbezirke, national aufgeteilt und damit gleichnamig, aber mit alleiniger Ausnahme von Prag je eigenem abgegrenztem Schulsprengel sind 17 Schulbezirke (vgl. Rauchberg 1905a: 397; Burger 1995: 41-42; Mayrhofer / Pace 1898: 516).320 Auf der einen Seite entsteht damit erstmals ein legaler Schutz gegen nationale Majorisierung (vgl. Stourzh 1985: 203), auf der anderen Seite wird der gesetzliche Grundstein für eine sprachnational getrennte Entwicklung im Schulwesen gelegt (vgl. Burger 1995: 42). Im Jahr 1890 wird diese Regelung auf Grund einer Regierungsvorlage vom 14. Mai 1890 auch auf den Landesschulrat ausgedehnt (vgl. Slapnicka 1987: 158). Die liberale Mittel- und Hochschulpolitik der 1870er Jahre ist sicherlich in keiner Weise mit den Germanisierungstendenzen des Bach’schen Neoabsolutismus zu vergleichen, dennoch ist eine Privilegierung der deutschsprachigen Bevölkerung kaum abzustreiten (vgl. Strakosch-Graßmann 1905: 286-287; Burger 1995: 66-67): Gewiß kam es im Verteilungskampf um die knappe Ressource Bildung zu einer eindeutigen und einseitigen Bevorzugung der Deutschösterreicher, gewiß profitierten diese am meisten von den Investitionen, die die deutschliberalen Regierungen in den 1870er Jahren im Bildungswesen tätigten: ihnen kam der größte Teil der Universitätsgründungen und Erweiterungen, der neuerrichteten Gymnasien, Realschulen und Staatsgewerbeschulen zu. Doch am grundsätzlichen Recht auf Unterricht in der Muttersprache – zumindest im Bereich der Elementarbildung – hielten auch die Deutschliberalen fest (Burger 1995: 78).

Obgleich also das tschechische Schulwesen mit den Bestimmungen des Schulaufsichtsgesetzes de jure seine Autonomie erlangt, wird diese de facto erst 1881/82 mit der Teilung der Prager Universität erreicht. In der Entschließung vom 318

319

320

„,Schulsprengel‘ hingegen ist das jeder einzelnen Schule zu dem Zwecke zugewiesene Territorium, um den Kindern einerseits die Aufnahme in eine bestimmte Schule zu sichern, andererseits um dieselben eventuell zum Besuche dieser bestimmten Schule verhalten zu können“ (Mayrhofer / Pace 1898: 684 Anm. 2). Derartige Gemeinden verbleiben in ihrem bisherigen Schulbezirk, sofern dieser nicht national aufgeteilt ist. Gibt es aber einen tschechischen und einen deutschen Schulbezirk, so entscheidet der Landesschulrat über die Zugehörigkeit der Gemeinde (vgl. Rauchberg 1905a: 396-397). Für eine Auflistung der Schulbezirke und der jeweiligen zugehörigen Gemeinden sowie der Mitglieder des Landes- und Bezirksschulrates vgl. Popis obecného školství v království českém (1894: für Prag 138-139).

175

Schulwesen

11. April 1881 ordnet der Kaiser die Trennung in eine deutsche und eine tschechische Universität an und das Reichsgesetz vom 28. Februar 1882 bestimmt schließlich Deutsch und Tschechisch an den jeweiligen Institutionen zur ausschließlichen Unterrichtssprache (vgl. Fischel 1901: 193-194 Nr. 380). Ab diesem Zeitpunkt ist der komplette Bildungsweg in tschechischer Sprache absolvierbar und die volle Autonomie der Tschechen in der Domäne Bildungswesen erreicht.321 Für den deutsch-tschechischen und tschechisch-deutschen Bilingualismus ist insgesamt festzustellen, dass die gesetzlichen und institutionellen Vorgaben zwar – anders als in Transleithanien, wo Ungarisch zur Pflichtsprache wird – die Entscheidung für die jeweils andere Landessprache und somit für potenzielle Zweisprachigkeit offen lassen. Gleichzeitig bieten sie dieser Freiheit jedoch keinerlei Schutz vor dem sich verschärfenden deutsch-tschechischen Konflikt und der von nationalistischer Seite propagierten monoglossischen Ideologie. „If Czech and German politicans agreed on anything, it was on the role that the school played in determining an individual’s primary linguistic preference“ (Kieval 2000: 138).

4.2.1.3

Umsetzung der sprachlichen Gleichberechtigung

Nachdem seit der Dezemberverfassung 1867 die Gleichberechtigung der Landessprachen formal verankert ist, scheint sie sich im Bildungswesen mit der Teilung der Universität 1881/82 endgültig zu verwirklichen und damit das Tschechische in dieser Domäne tatsächlich als H-Varietät in Konkurrenz zum Deutschen zu treten. Ein paralleles Ausbildungssystem ist geschaffen, in dem Deutsch und Tschechisch gleichgestellt, zugleich aber getrennt und vollständig autonom sind. Jedoch gilt diese Parität der beiden Sprachen in der Domäne Schule nur ,nach außen‘ – es existieren zwei sprachlich getrennte Ausbildungsmöglichkeiten. Die Ausgestaltung – ,nach innen‘ – zeigt, dass weiterhin eine asymmetrische Verteilung der beiden Landessprachen vorherrscht. In einem ersten Punkt drückt sich diese Ungleichheit im Missverhältnis der Anzahl deutscher und tschechischer Volks- und Bürgerschulen im Vergleich mit den jeweiligen Bevölkerungsanteilen aus. Im Volksschulwesen ist die schleppende Verwirklichung der versprochenen Gleichberechtigung nicht nur Anfang der 1880er zu erkennen – Burger spricht hier für das Jahr 1881 von 2286 tschechischen überfüllten und 2073 unausgelasteten deutschen Einrichtungen (vgl. Burger 1995: 92) – sondern tritt diese auch um die Jahrhundertwende noch deutlich zu Tage. So gibt es im Jahr 1900 zwar mehr tschechische Volksschulen, aber proportional zu den Volkszählungsergebnissen müsste es noch weitaus mehr Einrichtungen mit tschechischer Unterrichtssprache geben (vgl. Tabelle 6: 176) (vgl. auch

321

Gellner (1991: 56) geht sogar soweit, dass durch die Teilung der Universität 1881/82 die tschechische politische Einheit erst ihr existentielles Mindestmaß behauptet.

176

Schulwesen

Kořalka 1991: 128; Nekula 2003: 131 Anm. 20).322 Auch unter Berücksichtigung der Größe der Einrichtungen, indem man die Anzahl der Klassen im tschechischen (10209) und deutschen (6751) Schulbezirk gegenüberstellt (vgl. Rauchberg 1905a: 404), bleibt die Unausgewogenheit noch deutlich bestehen (60 vs. 40 %).323 Diesem Verhältnis entspricht auch die Versorgung mit Lehrkräften, 60 Prozent (10596 Personen) der böhmischen Lehrerschaft arbeitet in tschechischen, 40 Prozent (6959 Personen) in deutschen Schulbezirken (vgl. ebd.: 405). Die Klassenstärke ist dementsprechend im Durchschnitt an tschechischen Einrichtungen höher (57 in den tschechischen vs. 52 Schüler in den deutschen Schulbezirken) (vgl. ebd.). Tabelle 6: Öffentliche Volks- und Bürgerschulen nach der Unterrichtssprache im Vergleich mit den ,nationalen‘ Bevölkerungsverhältnissen in Böhmen 1900324 Bürgerschulen

Volksschulen

Klassen (inkl. Parallel- u. Bürgerschulklassen)

Umgangssprache

Unterrichtssprache tschechisch

243

58%

2933

57%

10209

60%

63%

deutsch

176

42%

2179

43%

6751

40%

37%

Quelle: Schematismus (1902: 807); Rauchberg (1905b: 10).

Was das Mittelschulwesen betrifft, so steht die nationale Struktur des Schulnetzes in den böhmischen Ländern auch hier im Vergleich mit dem Bevölkerungsanteil in einem Missverhältnis. Im Jahr 1880 wird nur an 37 Prozent der Gymnasien und Realschulen auf Tschechisch gelehrt und selbst dreißig Jahre später liegt dieser Anteil mit 51 Prozent immer noch über zehn Prozent unter der relativen Größe der tschechischen Einwohner (60 %) (vgl. Kuz’min 1987: 122; Burger 1995: 130-137). 322

323

324

Auch wenn 1913 der Anteil der öffentlichen Volksschulen mit deutscher Unterrichtssprache in Österreich „fast genau dem Bevölkerungsquotienten“ (Urbanitsch 1980: 81) entspricht, wird an Privatanstalten und Bürgerschulen weiterhin ungleichmäßig oft in Deutsch unterrichtet (vgl. ebd.). Damit kann faktisch immer noch nicht von einer tatsächlichen Gleichstellung der Sprachen der Habsburger Monarchie, also auch nicht des Deutschen und Tschechischen, gesprochen werden. Selbst unter Hinweis auf den im Vergleich an deutschen Schulen übermäßig erforderlichen ungeteilten Unterricht in einklassigen Volksschulen kann hier nicht die Schlussfolgerung von Rauchberg gelten, „daß die deutschen Schulbezirke trotz der durch die geographischen Verhältnisse bedingten größeren Schuldichtigkeit eine geringere Schulausrüstung besitzen wie die tschechischen und daher noch manches Versäumnis nachzuholen haben“ (Rauchberg 1905a: 405). Zum Vergleich: Auch wenn die Angaben für das Schuljahr 1870/71 nicht in gleicher Weise nach Bürger- und Volksschulen differenziert sind, wird deutlich, dass sich das Verhältnis an deutschen und tschechischen Einrichtungen bis zur Jahrhundertwende kaum geändert hat. 1870/71 gibt es in Böhmen 2186 (56 Prozent) Volks- und Bürgerschulen mit tschechischer und 1712 (43 Prozent) mit deutscher Unterrichtssprache sowie 39 (1 Prozent) utraquistische Volks- und Bürgerschulen (vgl. Šafránek 1919: 256-257).

177

Schulwesen

Einen weiteren Hinweis auf die asymmetrische Gestaltung in der Domäne Schulwesen bieten die Angaben über den Schulbesuch. So zeigen die Schülerzahlen nach der Muttersprache je Unterrichtsanstalt im Statistischen Handbuch von Prag, dass weitaus mehr tschechischsprachige Kinder deutsche Unterrichtsanstalten besuchen als umgekehrt (vgl. Tabelle 7: 177; auch Havránek 1996: 191).325 Bemerkenswert ist zudem, dass dieses Ungleichgewicht auch zur Jahrhundertwende noch deutlich zu erkennen ist, denn tschechische Muttersprachler stellen immer noch knapp ein Drittel der Schülerschaft an Prager Volksschulen mit deutscher Unterrichtssprache. Allerdings steht außer Frage, dass dieser Anteil – auch an den deutschen Gymnasien und Realschulen – zunehmend geringer wird (vgl. Tabelle 7: 177).326 Tabelle 7: Schulkinder nach der Muttersprache an den öffentlichen Volksschulen, Gymnasien und Realschulen (differenziert nach der Unterrichtssprache) in Prag 1880/81, 1889/90, 1899/1900 (in absoluten Zahlen und in %) 1880/81 tschechisch

1889/90 deutsch

Volksschulen tschechisch

tschechisch 13235 100%

deutsch

1545

Gymnasien tschechisch

675

deutsch

357

Realschulen tschechisch

562

100%

0

0%

deutsch

322

43%

435

57%

100%

1

0%

23% 1196

77%

40%

1573 100% 240

14%

992 100% 193

24%

1899/1900 deutsch

tschechisch

deutsch

14

0%

16540

100%

13

0%

2293

60%

952

33%

1961

67%

3

0%

1753

100%

1

0%

1419

86%

142

11%

1022

81%

2

0%

2639

100%

0

0%

628

76%

266

21%

973

79%

Quelle: Vgl. Statistisches Handbuch (1882: 192); (1892: 360-362, 367-368); (1903: 380-82, 386-387); eigene Berechnung.

Einen weiteren Hinweis für die Wertigkeit der deutschen Sprache gibt die im Laufe der 1880er Jahre steigende Zahl derjenigen an, die in Prag von Tschechischen auf eine der Volksschulen mit deutscher Unterrichtssprache wechseln (vgl. Tabelle 8: 178). Am häufigsten geschieht dies in den mittleren Jahrgangsstufen, d.h., nach den ersten beiden Grundschuljahren in einer tschechischen Anstalt besuchen sie dann die dritte bis sechste Klasse einer deutschen Schule. Dabei nehmen tschechische Eltern in Kauf, dass ihre Kinder an den deutschen Volksschulen ihre Schullaufbahn meist nicht problemlos fortsetzen können, denn der Großteil der tschechischen Schüler wird nach dem Übertritt an die deutsche Einrichtung mit der Begründung mangelnder Sprachkenntnisse oftmals um mindestens eine Klasse zurückgestuft. Die Führung der Prager Gemeinde ist beständig darum bemüht, „an den competenten Stellen zu erwirken, dass böhmische Kinder nicht in deutsche Schulen aufgenommen würden, was zum Nachtheile der geistigen Ent325 326

Vgl. hierzu auch die Ausführungen zur Prager Schullandschaft Kapitel 4.3. Für eine ausführliche Analyse der Schülerschaft an den Prager Mittelschulen vgl. Kapitel 4.3.2.

178

Schulwesen

wickelung derselben geschieht“ (Verwaltungsbericht 1891: 127). Der Anstieg der Zahl der Schulwechsler von Tschechischen an deutsche Anstalten zum Schuljahr 1886/87 und nochmals zum Schuljahr 1889/90 erfolgt jeweils kurz nach dem Scheitern eines Ansuchens der Prager Gemeinde beim k. k. Landesschulrat, wodurch dem Stadtrat bei der Aufnahme der Kinder in die Volksschule das Recht auf Einflussnahme gesichert werden sollte (vgl. ebd.: 126-127). Tabelle 8: Wechsel tschechischer Schulkinder an Volksschulen mit deutscher Unterrichtssprache in Prag 1884 bis 1890 (in absoluten Zahlen)327 Neustädter Volksschule Jungen 1884/85 1885/86 1886/87 1887/88 1888/89 1889/90

20 15 28 45 39 67

Kleinseitner Volksschule

Mädchen Jungen Mädchen 37 30 63 71 82 118

22 12 23 24 20 45

In Prozent der eingeschriebenen Schulkinder 7% 7% 1884/85 6% 6% 1885/86 11% 12% 1886/87 14% 14% 1887/88 14% 12% 1888/89 19% 23% 1889/90

7 11 17 22 17 42

Altstädter Volks- Altstädter Volksu. Bürgerschule u. Bürgerschule Jungen

Mädchen

24 36 49 49 31 60

31 24 38 58 93 104

3% 5% 6% 7% 4% 7%

3% 2% 4% 6% 8% 9%

Josefstädter Volksschule Jungen Mädchen 6 6 11 8 7 14

9 6 16 6 6 22 2% 2% 4% 2% 2% 7%

Das Beispiel Prag zeigt folglich, dass die Nachfrage nach den beiden Landessprachen – hier ausgedrückt durch die Wahl der Unterrichtssprache – über alle Schultypen hinweg in keinem Gleichgewicht steht. Selbst nach der Teilung der Universität 1881/82 und der damit erreichten endgültigen Autonomie der Tschechen im Bildungswesen genießt das Deutsche in der böhmischen Bevölkerung weiterhin eine Vorrangstellung. Kurzfristig werden die Zahlen der in deutschen Einrichtungen eingeschulten Tschechen nach unten gedrückt. Die nationale Euphorie, das Bedürfnis, nationale Werte zu realisieren, stehen im ersten Moment im Vordergrund. Mittelfristig erfolgt jedoch die Ernüchterung auf die ,nationalen‘ Errungenschaften Anfang der 1880er Jahre (Tschechisches Nationaltheater, Tschechische Universität, Verwaltung), denn faktisch kann von Beginn an auch nicht von einem qualitativ gleichwertigen Ausbildungsniveau die Rede sein. Schließlich muss die neue Hochschule erst fachlich und personell aufgebaut werden (vgl. Havránek 1997). Nicht zu vergessen sind die Konsequenzen für das tschechische Mittel- und auch Volksschulwesen, das bereits vor der Teilung ganz im Gegensatz zu vielen deutschen Schulen mit überfüllten Einrichtungen zu kämpfen hat (vgl. Burger 1995: 92) und in keinem Falle einem Ansturm tschechi327

Für die Zahlen vgl. AHMP: MHMP I, Hlavní spisovna 1784-1920, odd. C, 1891-1900, Sign. C 24/3, kt. C 538; vgl. hierzu auch Rozvoj školství (1891: 52-53).

Schulwesen

179

scher Schüler qualitativen Unterricht bieten kann. Diese realen Umstände sowie die Tatsache, dass Deutsch weiterhin als H-Varietät in Verwaltung und Wirtschaft dominiert (vgl. Kapitel 3.2), können die Wahl deutscher Schulen seitens der Tschechen erklären. Betrachtet man als Nächstes die Wahl der jeweils anderen Landessprache als Unterrichtsgegenstand an den böhmischen Volks- und Bürgerschulen, so wird diese Asymmetrie wiederum bestätigt. Auf der Grundlage des ,Sprachenzwangsverbots‘ ist ein verpflichtender Unterricht in der zweiten Landessprache generell ausgeschlossen, allerdings existieren auch keine weiteren gesetzlichen Vorschriften, die ihre Stellung als Lehrgegenstand fixieren würden. Im § 6 des Reichsvolksschulgesetzes328 wird der Landesschulbehörde die Entscheidung über die Unterrichtssprache und über die Unterweisung in einer zweiten Landessprache zugebilligt, allerdings nach Anhörung der Schulerhalter, d.h. meistens der Gemeinden (vgl. Stourzh 1985: 62). Gleichzeitig stellt die Lehre neben der Errichtung der Gebäude einen erheblichen Kostenfaktor für die Gemeinden dar, sodass diese v.a. in gemischtsprachigen Gebieten keine neutrale Instanz bilden. Infolgedessen legt der Verwaltungsgerichtshof auch in Bezug auf die Stellung der jeweils anderen Landessprache als Unterrichtsgegenstand den Willen der Eltern als ausschlaggebendes Kriterium fest, dieser solle bestimmen, ob sie als obligater, bedingt (oder relativ) obligater oder freier Lehrgegenstand oder überhaupt nicht gelehrt wird (vgl. Engelbrecht 1984: 298). Praktische Folge dieser freiwilligen Regelung ist, dass im Jahr 1910 in Böhmen weder an öffentlichen Volks- noch Bürgerschulen – ob tschechisch- oder deutschsprachig – ein verbindlicher Unterricht in der zweiten Landessprache stattfindet.329 Überhaupt lernen nur noch etwa 14 Prozent aller Volks- und Bürgerschüler in Böhmen die zweite Landessprache (vgl. Österreichisches Statistisches Handbuch 1912: 373).330 Dass das Deutsche selbst zu dieser Zeit (um 1910) dennoch vergleichsweise höheres Ansehen genießt, zeigt die Gegenüberstellung des unverbindlichen Unterrichts in Deutsch mit jenem in Tschechisch an Volks- und Bürgerschulen in Böhmen (Tabelle 9: 180). Während an deutschen Volksschulen fast kein Tschechisch (4 %) gelehrt wird, findet zumindest in fast einem Drittel der tschechischen Einrichtungen Deutschunterricht statt. Besondere Beachtung verdient allerdings die Situation an den Bürgerschulen, denn an fast allen (99 %) tschechischen Institutionen kann Deutsch als

328 329

330

Das Reichsvolksschulgesetz (RVG) wird im Folgenden ohne zusätzliche Hinweise zitiert nach Mayrhofer / Pace (1898: 567-638). Vgl. Österreichisches Statistisches Handbuch (1912: 371). In Mähren findet vereinzelt, in Schlesien an allen slavischen Bürgerschulen (vier tschechische und eine polnische) und an fast allen slavischen und einigen deutschen Volksschulen noch verbindlicher Unterricht in der zweiten Landessprache statt. In Mähren besuchen 16 Prozent, in Schlesien 45 Prozent den Unterricht in einer zweiten Landessprache (vgl. Österreichisches Statistisches Handbuch 1912: 373).

180

Schulwesen

Zweitsprache gewählt werden.331 Im Vergleich zur Elementarausbildung steigt in der weiterführenden Bürgerschule zwar auch die Nachfrage nach Tschechisch (25 %), doch scheint der Status des Deutschen, seine Kenntnis als Voraussetzung für sozialen Aufstieg und wirtschaftlichen Erfolg auch in nichtakademischen Kreisen, weiterhin unerreicht (vgl. Fleischmann 2007: 184-185).332 Tabelle 9: Volks- und Bürgerschulen in Böhmen nach ihrer Unterrichtssprache und dem Unterricht in der jeweils anderen Landessprache 1910 (in % und in absoluten Zahlen) Unterrichtssprache

unverbindlicher Unterricht in der zweiten Landessprache an deutschen Schulen

an tschechischen Schulen

Tschechisch

Deutsch

deutsch

tschechisch

Volksschulen

2319

3261

83

4%

679

21%

Bürgerschulen

236

374

59

25%

371

99%

Quelle: Österreichisches Statistisches Handbuch 1912: 371.

In die gleiche Richtung weist das unterschiedliche Stundendeputat, das den beiden Landessprachen jeweils zugewiesen wird: Während an den hier exemplarisch untersuchten deutschen Volksschulen der ,Böhmisch‘-Unterricht nur mit einer Stunde angesetzt ist, wird Deutsch an der tschechischen Einrichtung dreimal wöchentlich unterrichtet. Wie die jeweiligen Jahresberichte zeigen, ist an den Gymnasien die Situation sehr ähnlich. Im betrachteten Zeitabschnitt wird das Tschechische an den beiden Institutionen mit deutscher Unterrichtssprache über alle Klassen hinweg je mit zwei Wochenstunden gelehrt, dagegen erhält das Deutsche am Tschechischen akademischen Gymnasium in der Unterstufe einen Raum von vier und in der Oberstufe (ab der 5. Klasse) von drei Wochenstunden. Daraus wird deutlich, dass Stellung und Wert der beiden Landessprachen in der Kommunikationsgemeinschaft letztendlich unterschiedlich eingeschätzt werden. Diese Divergenz ist auch als Hinweis auf den sich asymmetrisch gestaltenden Bilingualismus in beiden Bevölkerungsgruppen zu sehen (vgl. u.a. Trost 1965, 1980; Luft 1996; Nekula 2003).

331

332

Wie in Böhmen ist in Mähren Deutsch an tschechischen Bürgerschulen als unverbindliches Unterrichtsfach sehr begehrt (100 Prozent); das Tschechische wird im Vergleich zu Böhmen sowohl an den Bürgerschulen (62 Prozent) als auch an den Volksschulen (16 Prozent) stärker, während das Deutsche an den tschechischen Volksschulen relativ schwächer nachgefragt wird (13 Prozent) (vgl. Österreichisches Statistisches Handbuch 1912: 371). Ein ähnliches Ungleichgewicht herrscht an den Prager Gymnasium in Bezug auf die Teilnahme am Unterricht in der zweiten Landessprache. Vgl. hierzu die Ausführungen in Kapitel 5.1.4.

181

Schulwesen

4.2.2 4.2.2.1

Schulsystem und Schultypen Schulverwaltung und Schulaufsicht

Bereits in der Mitte des 18. Jahrhunderts beginnen die Bemühungen des Staates um eine planmäßige und auf Vereinheitlichung hin angelegte Weiterentwicklung des Bildungswesens. Dadurch, dass der Ausbau der Schulverwaltung noch in einer Zeit absolutistischen Denkens beginnt, ist sie dirigistisch und hierarchisch angelegt und wird erst nach der Einführung verfassungsmäßiger Zustände in der unteren und mittleren Ebene mit demokratischen Elementen ergänzt (vgl. Engelbrecht 1984: 86). Die oberste Leitung und Aufsicht des gesamten Unterrichts- und Erziehungswesens – mit Ausnahme des Religionsunterrichts – steht laut Artikel 17 des Staatsgrundgesetzes von 1867 dem Ministerium für Cultus und Unterricht zu, das nach seiner Einrichtung im Jahr 1848 von 1860 bis 1867 kurzzeitig aufgelöst wird (vgl. Musil 1948: 14).333 In den 1870er Jahren kristallisiert sich mit der Einrichtung von Departments eine im Grunde bis 1918 gültige, feste innere Ordnung des Ministeriums heraus. Diese Abteilungen fungieren als Steuerungszentralen der ihnen übertragenen Bereiche, z.B. des Volksschulwesens (Dep. X) oder des Mittelschulwesens (Dep. VII) und gewährleisten die Umsetzung der Reichsratsbeschlüsse und der Weisungen eines zumeist parteipolitisch oder zumindest weltanschaulich orientierten Ministers in verbindliche Verordnungen und Erlässe (vgl. ebd.: 17-18). Einer direkten Verbindung des Ministeriums zu den Unterrichtsanstalten ist jedoch bereits ab 1849 eine mittlere Ebene der Schulverwaltung und Schulaufsicht zwischengeschaltet. Im Rahmen des Schule-Kirche-Gesetzes 1868 findet schließlich eine klare Regelung der Schulverwaltung statt, die zwar mit dem Unterrichtsministerium an der Spitze, dem Landesschulrat als oberster Landesbehörde, einem Bezirksschulrat für jeden Schulbezirk und einem Ortsschulrat für jede Schulgemeinde hierarchisch aufgebaut ist, deren nähere Zusammensetzung und die Definition ihrer Wirkungsbereiche aber der Landesgesetzgebung überlassen sind. Dadurch nimmt der Landesschulrat neben seiner Lenkungsfunktion zwischen Ministerium und Unterrichtsanstalten auch eine kreative Stellung ein und kann unter Einhaltung der gesetzlichen Vorgaben selbsttätig vorgehen. Die Amtszeit des Landesschulrats beträgt sechs Jahre. Seine Mitglieder setzen sich aus dem Chef der politischen Landesbehörde, dem Referenten für administrative und ökonomische Schulangelegenheiten, (in Böhmen) sechs Delegierten des Landtagsausschusses (je drei ,tschechischen‘ und drei ,deutschen‘), den Landesschulinspektoren, (in Böhmen) zwei katholischen und einem evangelischen Geistlichen sowie einem Vertreter des israelitischen Glaubensbekenntnisses, (in Böhmen) vier Mit333

Diese staatliche Oberaufsicht wird im Gesetz vom 25. Mai 1868 im § 9 nochmals bestätigt. (vgl. Mayrhofer / Pace 1898: 497).

182

Schulwesen

gliedern des Lehrstands – „zwei der böhmischen und zwei der deutschen Nationalität“ (Mayrhofer / Pace 1898: 548) – und zwei, einem ,tschechischen‘ und einem ,deutschen‘ Abgeordneten der Landeshauptstadt, die von der Gemeindevertretung gewählt werden. Nach den einschlägigen Bestimmungen der Schulaufsichtsgesetze obliegen ihm folgende Aufgaben: die Überwachung der Bezirks- und Ortsschulräte; die Aufsicht und Leitung der Gymnasien und Realschulen, der Privatund ,Spezialschulen‘ und der Lehrerbildungsanstalten für Volksschulen; die Überprüfung der gesetzlich vorgeschriebenen Befähigungsnachweise der an Privatmittelschulen angestellten Direktoren und Lehrer; die Begutachtung von Lehrplänen und Lehrmitteln für Volks-, Mittel- und Fachschulen; die Erstattung von Jahresberichten über den Zustand des gesamten Schulwesens. Innerhalb des Landesschulrates bilden sich in Böhmen zwei sprachnational getrennte Sektionen, die innerhalb ihres Wirkungskreises selbstständig Beschlüsse fassen. Ihnen gehören die jeweiligen ,tschechischen‘ bzw. ,deutschen‘ Vertreter der Positionen im Landesschulrat an. Die Vertreter der Religionsgemeinschaften sind Mitglieder beider Sektionen, wodurch bei ihnen die Kenntnis beider Landessprachen erforderlich ist. In gemeinsamen Plenarsitzungen – deren Verkehrssprachen Deutsch und Tschechisch sind – werden schließlich deutsch-tschechische Schulangelegenheiten, u.a. die Errichtung der sogenannten Minoritätsschulen beschlossen. Die Landesschulinspektoren, wiederum aufgeteilt nach Schultypen, widmen sich dabei nicht nur der Kontrolle der Lehranstalten, sondern sollen auch zur Verbesserung des Schulwesens beitragen, einerseits durch Eingaben und Anträge der Lehrpersonen, andererseits durch direkten Kontakt und offene Aussprache mit diesen (vgl. Engelbrecht 1984: 88-91, 109; Zeissl 1948: 175; Mayrhofer / Pace 1898: 497-498, 544559). Die nächsten Ebenen der Bezirks- und Ortsschulräte setzen sich in ähnlicher Weise wie die Landesschulräte unter der Leitung des politisch Verantwortlichen für den Bezirk bzw. – im Falle einer autonomen Stadt – des Bürgermeisters zusammen. Für Böhmen gilt die Regelung, dass in Orten, die keinen eigenen Schulbezirk bilden, in denen jedoch sowohl deutsche als auch tschechische Schulen angesiedelt sind, ohne dass eine lokale Abgrenzung der Schulsprengel möglich wäre, je ein eigener Ortsschulrat zu bestellen ist. Ferner entfällt in böhmischen Städten, die einen eigenen Schulbezirk bilden (z.B. Prag) die Errichtung von Ortsschulräten, die Verwaltung des öffentlichen Volksschulwesens wird dann von der Gemeindevertretung bzw. ihren Exekutivorganen besorgt. Die Aufgaben des Bezirksschulrates sind begrenzt auf vorschulische Einrichtungen und den Primarbereich. Wesentlichen Einfluss in dieser lokalen Schulbehörde hat der Bezirksschulinspektor, der über Anträge, Berichte und Gutachten die jeweilige Vorgehensweise lenkt. Auf der untersten Entscheidungsebene ist der Ortsschulrat zuständig für die öffentlichen Volksschulen einschließlich der Fortbildungs- und Arbeitsschulen für Mädchen und deren zweckmäßige und gesetzlich vorgeschriebene Einrichtung im jeweiligen Ort bzw. der Schulgemeinde. Auch für die Besoldung der Lehrer

183

Schulwesen

zeichnet die durch den Ortsschulrat vertretene Gemeinde verantwortlich (vgl. Engelbrecht 1984: 91, 107; Zeissl 1948: 186; Mayrhofer / Pace 1898: 500-544).

4.2.2.2

Primarschulwesen

Ausschlaggebend für die Form und Struktur des elementaren Schulwesens in den letzten Jahrzehnten der Monarchie ist das Reichsvolksschulgesetz (1869)334, dessen Neuerungen sich zum Teil auf die u.a. von Franz Serafin Exner bereits 1848 ausgearbeiteten Reformpläne des niederen Schulwesens stützen (vgl. Böhm 1995: 148-150). In der Folge etabliert sich ein interkonfessioneller Schultyp, der als öffentliche Einrichtung unabhängig von ständischen Unterschieden die Aufgabe hat, die Kinder sittlich-religiös zu erziehen, deren Geistesthätigkeit zu entwickeln, sie mit den zur weiteren Ausbildung für das Leben erforderlichen Kenntnissen und Fertigkeiten auszustatten und die Grundlage für Heranbildung tüchtiger Menschen und Mitglieder 335 des Gemeinwesens zu schaffen (§ 1 RVG).

Das Primarschulwesen gliedert sich offiziell in „allgemeine Volksschulen“ (statt bisheriger Trivial- bzw. Pfarr- und Nebenschulen) und „Bürgerschulen“336, (statt bisheriger Hauptschulen).337 Letztere kann entweder in Verbindung mit einer Volksschule bestehen, die zugleich die Ansprüche einer Bürgerschule erledigt, dazu aber acht Klassen umfasst oder als eine selbstständige, dreiklassige Institution, die jedoch erst im Anschluss an eine fünfjährige Volksschulbildung besucht werden kann (vgl. Engelbrecht 1984: 115, 385 Anm. 15).338 Der neue Typus der Bürgerschule (vgl. hierzu Šafránek 1919: 275-281) soll „[d]enjenigen, welche eine Mittelschule nicht besuchen, eine über das Lehrziel der allgemeinen Volksschule hinausreichende Bildung“ (§ 17 RVG) vermitteln. Sie profiliert sich „als eine den örtlichen Industrieverhältnissen angepasste Form zur Heranbildung einer breiten Mittelschicht technischer Spezialisten“ (Prinz 1969: 51-52), die insbesondere auf 334 335 336

337

338

Für die Struktur des Primarschulwesens vor dieser Zeit vgl. Hanzal (1976: 228-239); Zeissl (1948: 176-177). Zu den Bedingungen der Errichtung einer Volksschule vgl. die Ausführungen unter Kapitel 4.2.1.2. Als Bürgerschulen werden bisher Hauptschulen, die sich um zwei oder drei Jahrgänge der Unterrealschule erweitern, genannt. Sie dienen der Bildung für die Kreise der niederen städtischen und ländlichen Gewerbe (vgl. Helfert 1861: 400-405). Bisher wird das Primarschulwesen nach der Politischen Verfassung der deutschen Schulen für die k. k. österreichischen Provinzen mit Ausnahme von Ungarn, Lombardie, Venedig und Dalmatien vom 11. August 1805 gegliedert. Vgl. hierzu Frommelt (1963: 36-49; Newerkla 1999: 48-49; Teige 1920: 13-14). Das Schuljahr an den Volks- und Bürgerschulen in Prag dauert 10 Monate von Mitte September bis Mitte Juli. Schulfrei ist an folgenden Tagen: am Namenstag der Majestät, Weihnachten vom 24.12. bis 01.01., von Gründonnerstag bis Osterdienstag; am Dienstag nach Allerheiligen und an Allerseelen; während der Woche gewöhnlich mittwochs und Samstag Nachmittag (vgl. Frumar 1920: 280-281).

184

Schulwesen

die Bedürfnisse der kleinen und mittleren Handels- und Gewerbetreibenden zugeschnitten ist. Allerdings hat sie, v.a. wenn sie in direkter Konkurrenz zu einem ausreichenden Angebot an Mittelschulen steht, wie dies etwa in Prag der Fall ist, mit einem negativen Ruf zu kämpfen: „Ve městech, kde byly zřizovány školy střední, byly měšťanské školy chápány jako školy chudých a slabých žáků“ [In Städten, wo Mittelschulen errichtet wurden, begriff man die Bürgerschulen als die Schulen der armen und schwachen Schüler] (Veselá 1992: 54). Das Fächerspektrum an den Volksschulen339 erstreckt sich auf Religion, Sprache (und Aufsatzlehre), Rechnen (Arithmetik), das Wissenswerteste aus der Naturkunde (Naturgeschichte und Naturlehre), Geographie und Geschichte mit besonderer Rücksichtnahme auf das Vaterland und dessen Verfassung, (Schön-) Schreiben, geometrische Formenlehre (Zeichnen), Gesang, Leibesübungen sowie weibliche Handarbeiten und Haushaltungskunde für Mädchen, nur für die Bürgerschulen wird zudem Buchhaltung aufgelistet (vgl. § 3 RVG bzw. § 27 RVG für die Bürgerschulen). Die genaue Festsetzung der ,Normal-Lehrpläne‘ sowie nachträgliche Änderungen des Lehrstoffes sind unter Berücksichtigung ministerieller Vorgaben Sache der Landesschulbehörde, darunter fallen auch die Bestimmungen hinsichtlich einer etwaigen Einführung des Unterrichtes in der zweiten Landessprache.340 Allerdings ist zu bemerken, dass ,Böhmisch‘ bzw. Tschechisch weder im Lehrplan für allgemeine Volksschulen mit deutscher Unterrichtssprache in Böhmen (1885, 1913) erwähnt wird, noch in den Schulkatalogen oder Zeugnissen wie alle anderen Fächer vorgedruckt zu finden ist. In den Lehrplänen für alle Volks- und Bürgerschulen aus dem Jahr 1874 wird entsprechend dem § 17 des Reichsvolksschulgesetzes lediglich für die Bürgerschulklassen die Kategorie „Nichtobligate Fächer“ angeführt und darunter werden für „nichtdeutsche Bürgerschulen die deutsche Sprache“ und „fremde lebende Sprachen“ genannt. In Bezug auf einen konkreten Lehrplan wird über Antrag des Lehrkörpers wieder auf die Landesschulbehörde verwiesen, die den nichtobligatorischen Unterricht zu genehmigen hat (vgl. Lehrpläne 1874: 4, 107; Fleischmann 2007: 189).341 Voraus339

340 341

In Bezug auf den Lehrplan besteht allerdings kein wesentlicher Unterschied zwischen achtklassiger Volks- oder Bürgerschule: Die Bürgerschule „repräsentiert die höchste Kategorie der Volksschule und ist somit weder eine Fachschule, noch ein regelmäßiges Vorbereitungsinstitut für irgend eine höhere Lehranstalt. Sie unterscheidet sich von der achtklassigen Volksschule lediglich durch jene Erweiterung und Vertiefung des Unterrichts, welche die höhere Befähigung ihrer Lehrer und durch die günstigeren äußeren Einrichtungen ermöglicht wird“ (Lehrplan 1874: 2-3). Vgl. hierzu die Verordnung des Ministers für Cultus und Unterricht vom 18. Mai 1874 an die Landesschulbehörden (vgl. Lehrplan 1874: 1-5). Beispielsweise wird an den Volks- und Bürgerschulen mit tschechischer Unterrichtssprache in Prag der Unterricht in Deutsch und Französisch vom Stadtrat grundsätzlich unterstützt. So fasst der Stadtrat 1874/75 den Beschluss, dass auf der tschechischen Altstädter Bürgerschule für Jungen der Französischunterricht eingeführt wird, ein Jahr später auch an der Mädchenschule und den weiteren entstehenden Bürgerschulen. An jeder Schule entsteht eine Abteilung und bis 1882/83 erhält die Lehrkraft eine entsprechende Entlohnung für diesen Unterricht. Anfang des Schuljahres 1883/84 streicht der Stadtrat diese Bezahlung und überlässt es dem Willen der Eltern,

185

Schulwesen

setzung für die Ausdehnung der Lehre auf weitere – im Reichsvolksschulgesetz nicht explizit genannte – Fächer ist immer die Verfügbarkeit und Qualifikation entsprechender Lehrkräfte (§ 3 RVG) und gegebenenfalls die Bereitwilligkeit der Gemeinde, die finanziellen Kosten zu tragen. Im Allgemeinen richtet sich die Zahl der Lehrkräfte nach der Größe der Schülerschaft: „erreicht die Schülerzahl in drei aufeinander folgenden Jahren im Durchschnitte 80, so muß unbedingt für eine zweite Lehrkraft, und steigt diese Zahl auf 160, für eine dritte gesorgt und nach diesem Verhältnisse die Zahl der Lehrer noch weiter vermehrt werden“ (§ 11 RVG).342 Das Format der Volksschule reicht von der ungeteilten einklassigen bis zur achtklassigen Volksschule mit jeweils eigenem Lehrplan (vgl. Lehrplan 1874: 5; § 7 RVG).

4.2.2.3

Sekundarschulwesen

Das Sekundarschulwesen in der Habsburger Monarchie teilt sich im engeren Sinne auf die drei Schultypen Gymnasium, Realschule und Realgymnasium auf. In einem weiteren Sinne und der Absicht der Vermittlung einer höheren allgemeinen Bildung folgend zählen hierzu auch die höheren Mädchenschulen und Lyzeen (vgl. Mayrhofer / Pace 1898: 906). Grundlage des österreichischen und damit auch böhmischen Gymnasialwesens ist in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts343 der 1848/49 von Franz Seraphin Exner, Sekretär im Unterrichtsministerium Sommaruga, und Heinrich Bonitz, an die Universität Wien berufener preußischer Gymnasiallehrer, ausgearbeitete Entwurf der Organisation der Gymnasien und Realschulen in Oesterreich (O. E.)344. Demzufolge sei der Zweck der Gymnasien, eine höhere allgemeine Bildung unter wesentlicher Benützung der alten klassischen Sprachen und ihrer Literatur zu gewähren und auf diese Weise auf das Universitätsstudium vorzubereiten (vgl. Mayrhofer / Pace 1898: 909; Zeissl 1948: 173175; Meister 1963: 93-102). In Anlehnung an eine Vorlage aus dem Sommer 1848 sieht der sogenannte Organisationsentwurf eine Aufstockung der Gymnasialausbildung von sechs auf acht Jahre und die Gliederung in ein Unter- und Obergym-

342 343 344

ihre Kinder gegen eine monatliche Gebühr von 50 kr. am Französischunterricht teilnehmen zu lassen. Erst 1902/03 wird die Bezahlung der Französischlehrer wieder von der Gemeinde übernommen (vgl. Frumar 1920: 313). Der Deutschunterricht an tschechischen Schulen stellt einen häufig diskutierten und auch kritisierten Gegenstand dar. Die tschechische Lehrerschaft in Prag engagiert sich etwa dafür, dass der Unterricht im Deutschen zwar nicht aufgehoben, so doch auf die höheren Klassen begrenzt werde, um in den niedrigeren Stufen eine vollkommene Ausbildung der Fertigkeiten in der Muttersprache zu gewährleisten (vgl. Frumar 1920: 297-298). Im Gegenzug gilt für den von den Landesbehörden bewilligungspflichtigen Abbau von Lehrstellen an einer Schule ein fünfjähriger Durchschnitt (vgl. § 11 RVG). Für die Entwicklung des Mittelschulwesens in Böhmen vor dieser Zeit vgl. Hanzal (1976: 239256). Der Entwurf der Organisation der Gymnasien und Realschulen in Oesterreich bzw. seine Vorbemerkungen werden im Folgenden mit O. E. abgekürzt und der Einfachheit halber nach ihrem Abdruck bei Engelbrecht (1986: 525-530) zitiert.

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nasium vor (vgl. O. E. bei Engelbrecht 1986: 525; Springer 1948: 114-115).345 Diese Aufteilung des Gymnasiums soll die Möglichkeit bieten, nach erfolgreicher Absolvierung der ersten vier Jahre mit einer in sich geschlossenen Ausbildung zwischen dem Übertritt in eine Realschule, dem Eintritt in die praktische Berufswelt oder der Fortsetzung der Gymnasiallaufbahn zu wählen (vgl. ebd.). Neben der Etablierung des Gymnasiums als achtjähriger Bildungsanstalt wird ferner die bisher dominant neuhumanistische Ausrichtung der höheren Schule durch die modernen realistischen Wissenschaften erweitert. Das Curriculum wird zu einem „utraquistisch um die Pole der alten Sprachen sowie der Mathematik aufgebaute[n] Gymnasiallehrplan“ (Engelbrecht 1986: 148) umstrukturiert und umfasst folgende acht obligatorische Fächer: Religion, Latein, Griechisch, Unterrichtssprache, Geschichte und Geographie, Mathematik, Philosophische Propädeutik, Naturgeschichte und Physik. Die Wochenstundenzahl in den einzelnen Klassen liegt zwischen 22 und 25 Stunden.346 Zusätzlich können ,freie Gegenstände‘ belegt werden, die sowohl Bereiche der musischen Bildung und der körperlichen Ertüchtigung (Kalligraphie, Zeichnen, Gesang, Gymnastik) als auch moderne Fremdsprachen (Französisch, Englisch usw.) abdecken.347 Die zweite Landessprache zählt an den böhmischen Gymnasien zu den bedingt obligaten Lehrgegenständen348 (vgl. Engelbrecht 1986: 148, 157; Mayrhofer / Pace 1898: 917-918). Zur

345

346 347

348

Der ,Organisationsentwurf‘ wird zunächst provisorisch eingeführt und erhält am 9. Dezember 1854 die kaiserliche Sanktion. Nach einem ersten Durchlauf der achtjährigen Ausbildung, d.h. im Jahr 1857 arbeitet zwar eine extra einberufene Kommission nochmals einen Modifikationsentwurf mit restaurativem Charakter aus, der sich allerdings in der Öffentlichkeit nicht durchzusetzen vermag. Auch die 1870 vom Unterrichtsminister Stremayr einberufene Gymnasialenquete scheitert letztendlich, obgleich eine Reform der Gymnasien formal durch die ausschließliche Zuständigkeit des Reichsrats formal einfacher erscheint als etwa der Volksschulen, doch ist v.a. Böhmen bestrebt, ein reichseinheitliches Gesetz zu verhindern, um mehr Landesautonomie im Gymnasialwesen zu gewinnen. Dass die Bestimmungen des ,Organisationsentwurfes‘ wesentliche Bedeutung haben, zeigt außerdem die Tatsache, dass selbst die 1884 neu erlassenen Lehrpläne nur geringfügige Änderungen in der Stundentafel und den Lehrzielen des Gymnasiums mit sich bringen (vgl. hierzu ausführlicher Burger 1995: 50-53; Engelbrecht 1986: 147-152). Vgl. Mayrhofer / Pace (1898: 923-924 Anm. 1) für die Übersicht eines Lehrplanes der obligatorischen Fächer in den einzelnen Klassen. Die Erlaubnis zur Teilnahme an den Freifächern wird vom Lehrkörper unter Berücksichtigung der Leistungen in den Pflichtgegenständen erteilt oder auch nicht. In der Regel sollen die Schüler erst ab der vierten Jahrgangsstufe zum Erlernen einer modernen Fremdsprache zugelassen werden (vgl. Mayrhofer / Pace 1898: 919-920 Anm. 1). „Jeder directe oder indirecte Zwang Zur Erlernung der zweiten Landessprache hat zu entfallen. Wenn jedoch die Eltern oder Vormünder bei Beginn eines Schuljahres ausdrücklich erklären, daß ihre Söhne oder Mündel die zweite Landessprache zu erlernen haben, so tritt zwar diese Sprache nach § 20 P. 2 O. E. für die Schüler in den Kreis der obligaten Lehrgegenstände, die Fortgangsnote aus diesem Gegenstande hat aber auf die Feststellung der allgemeinen Zeugnisclasse nur nach der günstigen, nicht aber nach der ungünstigen Seite hin einen Einfluß“ (Mayrhofer / Pace 1898: 918 Anm. 1).

Schulwesen

187

Bestimmung der Unterrichtssprache ist der Erhalter des Gymnasiums berechtigt. Als Grundsatz gilt hierbei, daß der Unterricht in der Sprache ertheilt werden soll, durch welche die Bildung der Schüler am besten gefördert werden kann, die demnach den Schülern so bekannt und geläufig ist, daß sie den Unterricht mittelst derselben mit ganzem Erfolge empfangen (Mayrhofer / Pace 1898: 913).

Demnach sind Gymnasien mit zwei Unterrichtssprachen zwar praktisch erlaubt, gehören in Böhmen am Ende des 19. Jahrhunderts jedoch nicht der Schulwirklichkeit an.349 Das Bestehen einer Maturitätsprüfung ist in Hinkunft Voraussetzung für den Besuch aller Universitätsfakultäten. Die Klassifikation in den einzelnen Fächern erfolgt entsprechend der vom Unterrichtsministerium festgelegten Notenskalen:

• • •

Sitten: lobenswert, befriedigend, entsprechend, minder entsprechend, nicht entsprechend; Fleiß: ausdauernd, befriedigend, hinreichend, ungleichmäßig, gering; Fortgang: vorzüglich, lobenswert, befriedigend, genügend, nicht genügend, ganz ungenügend (vgl. Mayrhofer / Pace 1898: 963).

Wenn ein Schüler die ,erste Fortgangsklasse mit Vorzug‘, d.h. die höchste der vier möglichen Abstufungen in der Gesamtbewertung erhält, so bedeutet dies, dass er erstens ein tadelfreies Sittenzeugnis (d.h. keine minder entsprechende Sittennote) vorweist und zweitens keine Note schlechter als ,befriedigend‘ lautet und mindestens ein ,vorzüglich‘ erscheint und zudem jedes vorkommende ,befriedigend‘ durch ein ,vorzüglich‘ aufgewogen wird. Treffen diese Bedingungen nicht zu, ist aber auch kein Prädikat schlechter als ,befriedigend‘, so greift die einfache ,erste Fortgangsklasse‘. Bereits bei einer Bewertung mit ,nicht genügend‘ wird der Schüler in die zweite allgemeine Fortgangsklasse eingestuft und tritt sie bei mehr als der Hälfte oder in der Mehrzahl der obligaten Fächer auf, so bleibt nur die ,dritte Fortgangsklasse‘ und damit die Wiederholung der Jahrgangsstufe, ohne dass noch eine Chance auf eine Wiederholungsprüfung gegeben wird (vgl. ebd.: 964-965). Die Schülerschaft an den Gymnasien teilt sich auf in erstens öffentliche (ordentliche) Schüler, in zweitens Privatisten, d.h. jene, die zwar in das Schülerverzeichnis eines öffentlichen Gymnasiums eingetragen sind, jedoch häuslichen Unterricht empfangen und sich an der Anstalt nur den Semesterabschlussprüfungen unterziehen, und drittens in außerordentliche Schüler (Hospitanten, Gäste), die den Unterricht nur in einigen obligaten Fächern besuchen (vgl. Mayrhofer / Pace 1898: 945). Für den Besuch staatlicher Mittelschulen ist ein Schulgeld zu entrichten, das 349

Zur Anerkennung der Notwendigkeit eines Unterrichts in der Muttersprache an den Gymnasien vgl. auch Burger (1995: 50-51).

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vom Unterrichtsministerium bestimmt wird und für Prag im Jahr 1886 auf zwanzig Gulden festgesetzt wird. Ein Nachlass des gesamten oder halben Betrages kann unter der Voraussetzung hervorragender Leistungen und besonderer Bedürftigkeit gewährt werden (vgl. ebd.: 937-940). Als wesentliches Problem in der Umsetzung des Planes in die Schulwirklichkeit gestaltet sich zunächst der Mangel an qualifizierten Lehrkräften und Lehrbüchern. Doch werden an den Universitäten zügig Seminare zur Ausbildung von Gymnasiallehrern eingerichtet, deren Besuch durch die Vergabe von Stipendien gefördert wird. Ferner erfolgt die Aufhebung des Monopols des Schulbücherverlags, um die Edition von neuen Lehrbüchern zu fördern sowie die Herausgabe eines Fachblatts (1850-1919) durch das Ministerium, das regelmäßig über die Fortschritte in Wissenschaft, Methodik und Didaktik informiert (vgl. Mayrhofer / Pace 1898: 929-933). Während der Organisationsentwurf als Voraussetzung für die Zulassung zur ersten Klasse des Gymnasiums (oder der Realschule) lediglich den erfolgreichen Abschluss der Volksschule fordert, wird ab dem Jahr 1870 von den Unterrichtsbehörden die Einführung einer Aufnahmeprüfung angeordnet, auch um den elitären Charakter der Mittelschulen in Anbetracht des ständig zunehmenden Schülerstromes zu schützen (vgl. Engelbrecht 1986: 159). Im Organisationsentwurf wird ebenfalls die Idee einer Neuordnung des Realschulwesens aufgegriffen (vgl. Šafránek 1919: 353-357).350 In deren Rahmen sollen gerade die lebenden Fremdsprachen – statt der antiken Sprachen – zusammen mit der verstärkten Vermittlung mathematischer, naturwissenschaftlicher und zeichnerischer Kenntnisse die Basis einer den wachsenden Ansprüchen des industriellen Zeitalters angepassten, höheren Bildung schaffen (vgl. Engelbrecht 1986: 153). Obgleich die Realschule laut Staatsgrundgesetz (1867) Ländersache ist351, basiert ihre Gestaltung auf der von Leopold Hasner 1868 eingebrachten Regierungsvorlage352 (vgl. Mayrhofer / Pace 1898: 1029). Zwar handelt es sich bei der Realschule letztendlich um eine vollwertige lateinlose Sekundarschule, die in der inneren Organisation und der Qualifikation der Lehrer weitgehend dem Gymnasium angeglichen ist, doch berechtigt die ebenfalls in allen Kronländern eingeführte Maturitätsprüfung nur zum Besuch einer technischen Hochschule. Für einen Zugang zu Universitätsstudien sind weitere Ergänzungsprüfungen in allen Gymnasialfächern zu absolvieren (vgl. Engelbrecht 1986: 155, 162-163, 404). Was die Bestimmung der Unterrichtssprache der Institutionen betrifft, so obliegt dies wie350

351

352

Für eine kurze historische Skizze der Entwicklung des Realschulwesens von ihren Anfängen unter Maria Theresia mit der 1771 errichteten ,Real-Handlungs-Akademie‘ in Wien bis zur oben genannten Organisation der Realschulen nach dem Entwurf von Hasner 1868 vgl. Mayrhofer / Pace (1898: 1026-1029). Für Böhmen greift hier das Landesgesetz vom 13. September 1874, LGBl. Nr. 56. Hinsichtlich der Veränderungen einzelner Paragraphen dieses Realschulgesetzes vgl. Mayrhofer / Pace (1898: 1030). Hinsichtlich der Fächerstruktur vgl. Mayrhofer / Pace (1898: 1031-41; Springer 1948: 116).

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derum den Erhaltern der Anstalt. Kommt hier jedoch keine Einigung zustande, so trifft für Böhmen der Unterrichtsminister diese Entscheidung (vgl. Mayrhofer / Pace 1898: 1033). Dagegen ist die Frage des obligaten bzw. nichtobligaten Unterrichts in einer weiteren Landessprache dem Ermessen der Landesbehörde überlassen (vgl. hierzu Burger 1995: 46-49).353 Der Schultyp des Realgymnasiums, im Organisationsentwurf als eine Kombination der Unterrealschule und des -gymnasiums angedacht, jedoch als ,Zwitter‘ verschrien, entsteht aus der Not der Überfüllung der bestehenden Gymnasien und Realschulen.354 Zudem sehen v.a. kleinere Städte, die auch bereitwillig die wesentlichen finanziellen Lasten für Errichtung und Erhalt der Schule tragen, darin die Chance, Zugang zu einer höheren Bildung zu bieten (vgl. Šafránek 1919: 243244; Engelbrecht 1986: 156). Unter Realgymnasium ist im 19. Jahrhundert also eine Unterstufenform zu verstehen, die für sich allein, oder in Verbindung mit einem Obergymnasium oder einer -realschule bestehen kann (vgl. Šafránek 1919: 245; Engelbrecht 1986: 158, 405). Auf Dauer vermag sich dieser Schultyp jedoch nicht zu behaupten. Im Jahr 1908 wird im Rahmen der Mittelschulreform eine andere, achtklassige Form des Realgymnasiums eingeführt (vgl. hierzu Engelbrecht 1986: 185-189).

4.2.2.4

Privatschulwesen

Zunächst stellt die private Gründung einer Erziehungsanstalt und die Erteilung von Unterricht ein allgemeines Recht der Staatsbürger dar. In dem im Jahr 1850 erlassenen provisorischen Gesetz über den Privatunterricht (vgl. bei Mayrhofer / Pace 1898: 910-912 Anm. 2) wird lediglich festgelegt, dass der Institutsleiter „in wissenschaftlicher Beziehung diejenige Befähigung nachweisen [muss], welche von einem Lehrer an einer gleichartigen Staatsschule gefordert wird“, moralisch und politisch „unbescholten“ ist (§ 3), und die entsprechenden finanziellen Mittel zum Erhalt der Einrichtung vorweisen kann (§ 6). Der Anspruch, sich als Gymnasium oder Realschule zu bezeichnen, ist zugleich mit einer verpflichtenden Angleichung des Lehrplans und der Lehrmittel an die Verhältnisse an Staatsschulen verbunden. Verzichtet man auf eine solche Bezeichnung, so steht die Organisation und Gestaltung des Curriculums frei (§§ 4, 5, 8). Die Ausstellung staatsgültiger Zeugnisse ist noch an das vom Ministerium für Cultus und Unterricht zuerkannte Öffentlichkeitsrecht, das Privatschulen in den Rang öffentlicher Gymnasien oder Realschulen erhebt (§ 15), geknüpft. Die zur vorliegenden Untersuchung gehörende Volksschule der Piaristen in Prag ist mit dem Öffentlichkeitsrecht ausgestattet. Im Gegensatz zu staatlichen Schulen unterliegen die privat geführten Einrichtun353

354

Für einen Überblick hinsichtlich der böhmischen Gymnasien und Realgymnasien mit tschechischer Unterrichtssprache in allen oder zumindest einigen Fächern einschließlich ihres Gründungsjahres und Errichters vgl. Řezníčková (2007: 199-200). Das erste Realgymnasium wird in Tabor in den 1860er Jahren auf Initiative des Direktors Václav Křížek gegründet (vgl. Kopáč 1968: 28).

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gen nicht dem Verbot, die zweite Landessprache als Pflichtgegenstand anzubieten. So zählt an der Straka’schen Akademie, der privaten gymnasialen Ausbildungsstätte mit Öffentlichkeitsrecht des böhmischen Adels in Prag, die zweite Landessprache für alle Zöglinge zu den obligatorischen Fächern (vgl. Luft 2001: 115). Dass auch an der Piaristenvolksschule der Tschechischunterricht zu den Pflichtfächern zählt, ist nicht anzunehmen, da er zwar von den meisten, aber nicht allen Schülern besucht wird, nur eine Stunde pro Woche erteilt wird und diese zudem für den Nachmittag von drei bis vier angesetzt ist.355 Schüler, die den Unterricht in der zweiten Landessprache nicht wählen, könnten somit nach Hause gehen. Neben Religionsgemeinschaften entwickeln in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts insbesondere Gemeinden und Städte im mittleren Schulwesen eine rege Aktivität in der Errichtung von Schulen. Meist wird jedoch nach der Neugründung der Einrichtung versucht, Staat oder Land zur Übernahme zu bewegen und so die finanziellen Belastungen abzuschütteln (vgl. Engelbrecht 1986: 165-166). Eine ähnliche Vorgehensweise ist bereits im Zusammenhang mit den Anfang der 1880er entstehenden Schulvereinen und der Errichtung der sogenannten Minoritätsschulen für das Volksschulwesen erwähnt worden (vgl. Kapitel 4.2.1.2).356 Grundsätzlich gilt für Böhmen, dass nach Erlass des Schule-KircheGesetzes und des Reichsvolksschulgesetzes in den 1870er Jahren ein bedeutender Rückgang der katholischen und jüdischen privaten Volksschulen einsetzt (vgl. Šafránek 1919: 385), „the state schools had a good reputation, were free of charge and, therefore, were attended by 99 per cent of children“ (Havránek 1993: 244). Nicht zuletzt auch deshalb, da sich nach Erscheinen der liberalen Verfassungsgesetze um 1870 die Tendenz zur Verstaatlichung der privaten Anstalten verstärkt (vgl. Springer 1948: 116).

4.3

Prag

Význam a vliv královského hlavního města Prahy ve školství vůbec má sice počátky své v oboru školství národního, šířil se však postupně i na školství vyšší, zvláště na školy střední a odborné i pronikl posléze až ku školám vysokým. Zájem hlavy království na veškerém školském vzdělání mládeže jeví totiž patrné stopy ve všech školských odvětvích do té míry, že Praha stala se po pravdě svědomím kulturních potřeb nejen svého obyvatelstva, ale celého národa. Již napřed však třeba konstatovati, že skutečný vliv repraesentace města na správu školských záležitostí neodpovídá výjimečnému významu, jaký město Praha ve školství zaujalo (Dějiny školství 1920: 26). [Die Bedeutung und der Einfluss der königlichen Hauptstadt Prag auf das Schulwesen im Allgemeinen beginnt zwar auf dem Gebiet des nationalen Schulwesens, weitete sich 355 356

Vgl. AHMP: NR: Fonds der Privat-Volksschule des Piaristenordens für Knaben mit Öffentlichkeitsrecht, Prag-Neustadt, Herrengasse 1, Nr. 2218, 1870-1919. Klassenbuch, 1879/1880, Kl. 3. Zum Rückgang der sogenannten Judenschulen in Böhmen insbesondere im Zusammenhang mit den antisemitischen Ausschreitungen Ende der 1890er Jahre vgl. Rauchberg (1905a: 399-400, 429-430).

191

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aber nach und nach auf das höhere Schulwesen, insbesondere die Mittel- und Fachschulen aus und drang nicht zuletzt bis zu den Hochschulen vor. Das Interesse der Spitze des Königreichs an jedweder Schulbildung für die Jugend hinterlässt nämlich insofern offensichtliche Spuren in allen Schulzweigen, als dass Prag wahrhaftig zum Gewissen der kulturellen Bedürfnisse nicht nur seiner Einwohnerschaft, sondern der ganzen Nation wurde. So ist bereits im Voraus festzustellen, das der eigentliche Einfluss der Stadtvertretung im Rahmen der Verwaltung schulischer Angelegenheiten nicht der außergewöhnlichen Stellung entspricht, welche die Stadt im Schulwesen eingenommen hat. – Übersetzung I.S.]

4.3.1 4.3.1.1

Volksschulwesen Lehranstalten

Die Veränderungen im Bildungssektor in Prag werden in der 1891 erschienenen Beschreibung der Entwicklung des Schulwesens in der Hauptstadt in fünf Stufen eingeteilt (vgl. Rozvoj školství 1891). Die erste Phase reicht bis zum Jahr 1774, in dem mit der neuen Schulordnung von Ignaz Felbiger die zweite, bis 1787 andauernde Stufe eingeleitet wird. Die folgende dritte Periode erstreckt sich schließlich bis zum Jahr 1847. Als nächster Einschnitt wird das Jahr 1864 gesehen, in dem mit dem Landesgesetz vom 13. September das Pfarrpatronat aufgelöst wird und so die gesamten Kosten für das Schulwesen auf die Gemeinde übergehen. Hier beginnt die fünfte und bis in das Erscheinungsjahr der Analyse 1891 reichende Phase (vgl. Rozvoj školství 1891: 7-8, 17).357 In der ersten Phase (bis 1774) gibt es in Prag folgende 22 tschechische Schulen, die in Pfarr- und Klosterschulen differenziert und nach Schulsprengel358 gegliedert werden (vgl. Rozvoj školství 1891: 8; Frumar / Neťukaj 1920: 54): A. Pfarrschulen a. Altstadt 1. Teinvolksschule [Týnská obecná škola] 2. Volksschule bei St. Castulus [Obecná škola u sv. Haštala] 3. Volksschule bei St. Agnes [Obecná škola u sv. Anežky] 4. Volksschule bei St. Valentin [Obecná škola u sv. Valentina] 357

358

Die Abgrenzung der einzelnen Phasen wird mit Ausnahme der als entscheidend betrachteten Einführung der Allgemeinen Schulordnung 1774 und des Revolutionsjahres 1848 nicht näher diskutiert. Den Einschnitt im Jahr 1787 könnte die allerhöchste Entschließung vom 11. Februar des Jahres begründen, mittels der das Schulpatronat begründet wird (vgl. Mayrhofer / Pace 1898: 561). Frumar teilt die Periode nach dem Reichsvolksschulgesetz 1869 jeweils der veränderten Gesetzeslage folgend in drei weitere Abschnitte ein, nämlich 1870-1873, 1873-1883 und 18831913 (vgl. Frumar 1920). Prag ist also in verschiedene Schulsprengel aufgeteilt, die zunächst aus den früheren Pfarrschulen bzw. Pfarrgemeinden entstehen. Im Laufe der Zeit werden sie den Änderungen der Einwohnerzahlen in den einzelnen Stadtteilen angepasst oder erfahren Verschiebungen auf Grund neuerrichteter Schulen (vgl. Frumar 1920: 280). Für eine Einteilung der Schulsprengel in Prag zum 31. Dezember 1890 vgl. Verwaltungsbericht Beilage (1894: 17-21).

192

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5.

Volksschule bei der Hl. Mutter Gottes am Tümpel [Obecná škola u Matky Boží na Lůži] 6. Volksschule bei St. Martin in der Mauer [Obecná škola u sv. Martina ve zdi] 7. Volksschule beim Hl. Größeren Kreuz [Obecná škola u sv. Kříže Většího] b. Neustadt 8. Volksschule bei St. Peter [Obecná škola u sv. Petra] 9. Volksschule bei St. Clemens [Obecná škola u sv. Klimenta] 10. Volksschule bei St. Heinrich [Obecná škola u sv. Jindřicha] 11. Volksschule bei St. Stephan [Obecná škola u sv. Štěpána] 12. Volksschule bei St. Adalbert dem Kleineren (in Podskalí) [Obecná škola u sv. Vojtěcha Menšího] 13. Volksschule bei St. Adalbert dem Größeren (in Jircháře) [Obecná škola u sv. Vojtěcha Většího] c. Kleinseite 14. Volksschule bei St. Niclas [Obecná škola u sv. Mikuláše] B. Klosterschulen a. Altstadt 15. Volksschule beim Seminar des Hl. Wenzel in der Dominikanerstraße (ehemals Betlehemsstraße) [Obecná škola při semináři sv. Václava v ulici Dominikánské (dříve Betlemské)] b. Neustadt 16. Volksschule bei den Ursulinerinnen [Obecná škola u Voršilek] c. Kleinseite 17. Volksschule bei den Englischen Fräulein [Obecná škola u Anglických Panen] 18. Volksschule bei den Malthesern [Obecná škola u Maltézů] 19. Volksschule bei den Jesuiten im Seminar bei St. Peter und Paul [Obecná škola u Jesuitů při semináři u sv. Petra a Pavla] d. Hradčany 20. Volksschule bei St. Rochus [Obecná škola u sv. Rocha] 21. Volksschule bei St. Veit [Obecná škola u sv. Víta] 22. Volksschule bei den Ursulinerinnen [Obecná škola u Voršilek] In der zweiten Phase (1774-1787) finden im Prager Schulsektor folgende Schließungen und Neueröffnungen statt: In der Altstadt werden die Pfarrschulen bei St. Agnes, bei St. Valentin und der Hl. Mutter Gottes am Tümpel sowie die Klosterschule beim Seminar des Hl. Wenzel in der Dominikanerstraße (ehemals Betlehemsstraße) geschlossen; ebenso die Neustädter Pfarrvolksschule bei St. Adalbert dem Kleineren in Podskalí und die Klosterschulen in der Kleinseite (bei den Jesuiten im Seminar bei St. Peter und Paul) und dem Hradschin (bei St. Rochus und

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den Ursulinerinnen). Zu den neu eingerichteten Bildungsinstitutionen zählen die 1782 zur Hl. Geist-Kirche überführte Pfarrschule des Hl. Größeren Kreuzes, die der Teinschule angeschlossene Mädchenschule der Hl. Mutter Gottes am Tümpel, die als Filialschule von St. Niklas zu den Karmelitern überführte Schule bei St. Johannes in der Kleinseite sowie die 1782 gegründete, eigene Schule der israelitischen Gemeinde, die bis zum Jahr 1861 bestehen wird (vgl. Rozvoj školství 1891: 8). Mit der Eröffnung der Normalschule 1775 in der Karmelitergasse in der Kleinseite wird das moderne Schulwesen in Prag eingeleitet (vgl. Teige 1920: 14). Im Laufe des folgenden Zeitabschnitts (1787-1847) kommen zwölf Schulen in den Grenzen der Prager Gemeinde hinzu, die um weitere sechs Schulen mit Prager Patronat ergänzt werden. Nachstehende Einrichtungen haben erstmals ihre Schulpforten geöffnet (vgl. Rozvoj školství 1891: 9; Frumar / Neťukaj 1920: 57): A. Pfarrschulen a. Altstadt 1. Für die neue Pfarrei bei St. Franz [u sv. Františka] (69-I, statt der ehemaligen Schule bei St. Valentin) 2. Für die neue Pfarrei bei Hl. Geist [u sv. Ducha] (894-I, statt der ehemaligen Schule beim Hl. Größeren Kreuz) 3. Für die neue Pfarrei bei St. Gallus [u sv. Havla] (539-I, in den Räumen des Klosters) 4. Im Dominikanerkloster bei St. Aegid [u sv. Jiljí] (234-I, statt der Betlehemschule) b. Neustadt 5. Für die neue Gemeinde bei St. Trinitas [u nejsv. Trojice] (955-I, statt der aufgelösten Schule bei St. Martin in der Wand) 6. Für die Pfarrfilialkirche bei St. Trinitas [u nejsv. Trojice], Schule am Hrádek (statt der Schule bei St. Adalbert dem Kleineren); ab 1787 im Emauskloster angesiedelt, nach 1830 in 432-II; c. Kleinseite 7. Für die neue Pfarrgemeinde bei St. Maria Schnee [u P. Marie Sněžné ](752-II) 8. Für die neue Pfarrgemeinde bei St. Thomas [u sv. Tomáše] (im Augustinerkloster) 9. Für die neue Pfarrgemeinde bei St. Veit [u sv. Víta] (40-III) 10. Für die neue Pfarrgemeinde in Strahov auf Pohořelec (155-IV) B. Klosterschulen 11. Hauptschule bei den Piaristen [u Piaristů] (892-II) C. Evangelische Schulen 12. Evangelische Schule bei St. Michael [u sv. Michala] (153-II) D. Neueröffnete Schulen außerhalb des Gebietes der Prager Gemeinde 13. In Smíchov bei St. Philipp und Jakob [u sv. Filipa a Jakuba] (1787)

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14. In Libeň (1787) 15. In Dolní Chabry (1790) 16. In Volšany (1837) 17. In Kojetice (ca. 1810) 18. In Velká Ves (1787) Die vierte Phase (1847-1864) steht bereits im Zeichen der Forderungen nach nationaler Gleichberechtigung. Noch in der Zeit des Bach’schen Neoabsolutismus wird die tschechische staatliche Hauptschule (856-II) gegründet. Ursprünglich sollte sie noch im Jahr 1848 in der damaligen Pfarrschule bei St. Maria Schnee, günstig zwischen Alt- und Neustadt gelegen, ihre Pforten öffnen, doch auf Grund von Lehrermangel, d.h. Lehrern, die in tschechischer Sprache unterrichten können, kommt es erst im Jahr 1853 zur tatsächlichen Einrichtung der tschechischen Hauptschule (vgl. Rozvoj školství 1891: 16). Ferner werden die tschechischen Volksschulen zu St. Trinitas, St. Peter und St. Maria de Victoria zu Hauptschulen hochgestuft.359 Nachdem der Prager Magistrat 1861 in die Hände der tschechischen Mehrheit übergeht, wird am 2. Oktober 1862 die Verlautbarung veröffentlicht, an sämtlichen Pfarrhaupt- und Trivialschulen in Prag, sowie an der Teiner Haupt- und Mädchenschule das Tschechische als Unterrichtssprache und das Deutsche als Obligatfach ab der dritten Klasse einzuführen. Die Gründung der deutschen Pfarrschule bei St. Maria de Victoria und der deutschen Haupt- und Mädchenschule in der Altstadt (I-1000), an denen wiederum das Tschechische als Pflichtfach ab der dritten Klasse gelehrt wird, ist ebenfalls Inhalt des Stadtratsbeschlusses (vgl. Rozvoj školství 1891: 9; Frumar / Neťukaj 1920: 224; StrakoschGraßmann 1905: 334-335; Šafránek 1919: 180-181). Ab dem Schuljahr 1862/63 teilt sich die Schullandschaft folglich wieder in Einrichtungen mit deutscher und mit tschechischer Unterrichtssprache, dennoch gilt noch für längere Zeit, dass „český lid byl navyklý viděti v německých školách něco vyššího a lepšího, než byly školy české, a proto chodilo i dále mnoho českých dětí do škol německých“ (Frumar / Neťukaj 1920: 225) [das tschechische Volk daran gewöhnt war, in den deutschen Schulen etwas Höheres und Besseres zu sehen als in den tschechischen Schulen und deshalb viele tschechische Kinder weiterhin in deutsche Schulen gingen – Übersetzung I.S.]. Im Laufe der fünften Phase (1864 bis zur Erscheinung der zeitgenössischen Analyse 1891) etabliert sich – nach und nach360 – eine relativ dichte Volksschul359

360

Frumar / Neťukaj vergleichen zudem die Schüler- und Klassen der Einrichtungen aus dem Jahr 1818 und 1857. Zu den Pfarr- und Hauptschulen mit mehr als 600 Schulkindern zählen demnach im Jahr 1857 die Teinhauptschule für Jungen (673 Schüler), die Pfarrschule beim St. Heinrich (732), die Pfarrschule bei St. Stephan (912), die Hauptschule bei St. Trinitas (657), die Hauptschule bei St. Peter (743), sowie die Hauptschulen bei St. Maria de Victoria (776) und am Hrádek (792) (vgl. Frumar / Neťukaj 1920: 57). Noch im Januar 1873 liefert die Zeitschrift Posel z Budče eine niederschmetternde Charakterisierung des Prager Schulwesens: „Mnohé venkovské školy mají již páté a šesté třídy, kdežto v

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195

landschaft in Prag. Mitte der 1870er Jahre beginnt man, gemischte Schulen nach dem Geschlecht zu trennen (1874 nach Bezirksschulratsbeschluss die Schulen bei St. Gallus, St. Aegid, Hl. Geist und St. Franz) und so entstehen auch eigenständige Mädchenschulen (z.B. 1874 Volksschule bei St. Thomas). Im Laufe des Jahrzehnts führt dies dazu, dass einige Schülerinnen von den deutschen Privatschulen in die tschechischen Klassen wechseln (vgl. Frumar 1920: 262-263). Ferner werden dreiklassige Volksschulen auf vier-, fünf- und sechsklassige Volksschulen aufgestockt und zahlreiche Gebäude renoviert bzw. gekauft.361 Im Schuljahr 1889 umfasst das Prager Schulwesen nachstehende öffentliche Schulen mit tschechischer Unterrichtssprache:362 1. Altstädter Volks- und Bürgerschule für Jungen [Staroměstská obecná a měšťanská škola chlapecká]363, Jakubská ul. 977-I 2. Altstädter Volksschule für Mädchen [Staroměstská obecná škola dívčí], Jakubská ul. 977-I 3. Altstädter Bürgerschule für Mädchen [Staroměstská měšťanská škola dívčí] [1876] (ab 1885 ist die Altstädter Volksschule mit der Bürgerschule für Mädchen verbunden), Jakubská ul. 977-I 4. Neustädter Volks- und Bürgerschule für Jungen [Novoměstská obecná a měšťanská škola chlapecká] [1877] (ab 1887 ist die Neustädter Bürgerschule mit der Volksschule bei St. Trinitas vereint; die Neustädter Volksschule wird fortan separat aufgeführt), Vladislavská ul. 47-II 5. Neustädter Volksschule für Jungen [Novoměstská obecná škola chlapecká] [1887], Hopfenštoková ul. 1442-II 6. Neustädter Volks- und Bürgerschule für Mädchen [Novoměstská obecná a měšťanská škola dívčí] [1877], Školská ul. 685-II

361 362

363

Praze byly dosud jen o třech třídách školy: u sv. Františka, Jiljí, Ducha, Jindřicha, Tomáše a u Maltézů, ostatní měly jen 4 třídy a pro celou Prahu byla jen jedna občanská škola u sv. Jakuba. Byly tu jednotlivé třídy až se 150 žáky v těsné světnici. Přímo hrozné místnosti byly u Maltézů, u sv. Tomáše, Františka, Jiljí a jinde“ [Viele Landschulen haben bereits eine fünfte und sechste Klasse, während in Prag die Schulen bislang nur drei Klassen hatten: bei St. Franz, Aegid, Geist, Heinrich, Thomas und bei den Malthesern, die anderen hatten nur 4 Klassen und in ganz Prag gab es nur eine Bürgerschule bei St. Jakob. Hier gab es auch einzelne Klassen mit bis zu 150 Schülern auf engstem Raum. Geradezu schrecklich waren die Räumlichkeiten bei den Malthesern, bei St. Thomas, Franz Aegid und anderen – Übersetzung I.S.] (zit. nach Frumar 1920: 253). Für die einzelnen Schulen vgl. Frumar (1920: 262-265; 279). Die Jahreszahlen in eckigen Klammern weisen auf die Gründung der Schule hin, sofern sie nach dem Jahr 1871 stattgefunden hat. Vgl. hierzu Rozvoj školství (1891: 35-52); Frumar (1920: 308). Die Entwicklung der Schullandschaft in Prag wurde bis zum Ende des Zeitraums der hier vorliegenden empirischen Untersuchung, d.h. bis zum Jahr 1900, auf Grundlage der Angaben in den statistischen Handbüchern von Prag und den Verwaltungsberichten von Prag ergänzt (vgl. Verwaltungsbericht 1890–1897; Statistická příruční knížka 1872-1881; Statistisches Handbuch 1884-1903). Die Adressen beziehen sich auf die Angaben im Volksschulschematismus für das Jahr 1900 (vgl. Schematismus 1902: 248-252). Ab dem Schuljahr 1872/73 werden die Begriffe Pfarr- und Hauptschulen von den Bezeichnungen Volks- und Bürgerschulen abgelöst, die auch in der folgenden Darstellung verwendet werden.

196 7.

8.

9.

10.

11.

12. 13. 14.

15. 16. 17.

18.

19. 20.

21.

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Volksschule bei St. Gallus für Mädchen und Jungen [Obecná škola u sv. Havla, dívčí a chlapecká] (ab 1875 nur für Jungen; ab 1903 mit Bürgerschulklassen), Uhelný trh 425-I Volksschule bei St. Aegid für Mädchen und Jungen [Obecná škola u sv. Jiljí, dívčí a chlapecká] (ab 1875 nur für Mädchen; 1881 bis 1883 wieder für Mädchen und Jungen), Uhelný trh 425-I Volksschule bei St. Franz für Mädchen und Jungen [Obecná škola u sv. Františka, dívčí a chlapecká] (ab 1875 nur für Jungen), Křižovnická ul. 82-I Volksschule bei St. Castulus für Mädchen und Jungen [Obecná škola u sv. Haštala, dívčí a chlapecká] (ab 1875 nur für Jungen; ab 1881 wieder für Mädchen und Jungen), Dušní ul. 886-I Volksschule bei Hl. Geist für Mädchen und Jungen [Obecná škola u sv. Ducha, dívčí a chlapecká] (ab 1875 nur für Mädchen; wird dann unter Volksschule für Mädchen bei St. Franz geführt), Rudolfovo nábřeží 82-I Volksschule bei St. Peter für Mädchen und Jungen [Obecná škola u sv. Petra, dívčí a chlapecká] (ab 1886 nur für Jungen), Biskupská ul. 1276-II Volksschule bei St Peter für Mädchen [Obecná škola u sv. Petra, dívčí] [1886], Klimentská ul. 1550-II Volksschule bei St. Heinrich für Mädchen und Jungen [Obecná škola u sv. Jindřicha, dívčí a chlapecká] (ab 1876 nur für Mädchen; 1884 wieder für Mädchen und Jungen; ab 1890 wieder nur für Jungen; ab 1891 mit Bürgerschulklassen), Svatojindřišský sad 966-II Volksschule bei St. Heinrich für Mädchen [Obecná škola u sv. Jindřicha, dívčí] [1890] (ab 1891 mit Bürgerschulklassen), Půjčovní ul. 966-II Volksschule bei St. Maria-Schnee für Mädchen [Obecná škola u P. Marie Sněžné, dívčí], Spálená ul. 48-II Volksschule bei St. Trinitas für Jungen [Obecná škola u nejsv. Trojice, chlapecká] (ab 1887 verbunden mit der Neustädter Bürgerschule), Vladislavská ul. 47-II Volksschule bei St. Stephan für Mädchen und Jungen [Obecná škola u sv. Štěpána, dívčí a chlapecká] (ab 1890 nur für Jungen), Štěpánská ul. 1286II Volksschule bei St. Stephan für Mädchen [Obecná škola u sv. Štěpána, dívčí] [1890], Štěpánská ul. 1286-II Volksschule am Hrádek für Mädchen und Jungen [Obecná škola na Hrádku, dívčí a chlapecká] (ab 1886 nur für Jungen; ab 1901 mit Bürgerschulklassen), Na Hradku 1673-II Volksschule bei St. Adalbert für Mädchen und Jungen [Obecná škola u sv. Vojtěcha, dívčí a chlapecká] (ab 1905 mit Bürgerschulklassen), Pštrosova ul. 202-203-II

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22. Volksschule bei St. Maria de Victoria für Mädchen und Jungen [Obecná škola u Matky Boží Vítězné, dívčí a chlapecká] (ab 1875 nur für Jungen; ab 1887 mit Bürgerschulklassen), Malá Strana 535-III 23. Volksschule bei St. Niclas für Jungen [Obecná škola u sv. Mikuláše, chlapecká] (ab 1887 mit Bürgerschulklassen), Malá Strana 36-III 24. Volksschule bei St. Thomas für Mädchen [Obecná škola u sv. Tomáše, dívčí] (ab 1887 mit Bürgerschulklassen), Jozefská ul. 35-III 25. Volksschule bei den Malthesern für Mädchen und Jungen [Obecná škola u Maltézů, dívčí a chlapecká] (ab 1875 nur für Mädchen), Malá Strana 472-III 26. Volksschule auf dem Hradschin für Mädchen und Jungen [Obecná škola Hradčanská, dívčí a chlapecká] (ab 1902 mit Bürgerschulklassen), Pohořelec 111-IV 27. Volksschule auf dem Vyšehrad für Mädchen und Jungen [1883] (ab 1886 nur für Mädchen), Botičská ul. 1673-II 28. Volksschule für Jungen beim Jl. Kreuze dem Größeren [Obecná škola u sv. Kříže Většího chlapecká] [1894], Staré Město 886-I 29. Volks- und Bürgerschule für Jungen ,Na Karlově‘ [Obecná a měšťanská škola na Karlově, chlapecká] [1895], Sokolská třída 1878-II 30. Volks- und Bürgerschule für Mädchen ,Na Karlově‘ [Obecná a měšťanská škola na Karlově, dívčí] [1895], Táborská ul. 1878-II 31. Volksschule für Mädchen und Jungen in Bubny [Obecná škola Bubny, dívčí a chlapecká] [1885] (ab 1888 nur für Jungen; bis 1894), Vinařská ul. 490-VII 32. Volks- und Bürgerschule für Mädchen in Bubny [Obecná a měšťanská škola Bubny, dívčí] [1888], Vinařská ul. 490-VII 33. Volks- und Bürgerschule für Jungen in Bubny [Obecná a měšťanská škola Bubny, chlapecká] [1895], Vinařská ul. 370-VII 34. Selbständige Volksschule für Jungen in Bubny [Samostatná obecná škola Bubny, chlapecká] [1896], Vinařská ul. 370-VII 35. Selbständige Volksschule für Mädchen in Bubny [Samostatná obecná škola Bubny, dívčí] [1895], Vinařská ul. 490-VII 36. Volksschule für Mädchen in Holešovice [Obecná škola Holešovice, dívčí] [1885], Jablonského ul. 333-VII 37. Volksschule für Jungen in Holešovice [Obecná škola Holešovice, chlapecká] [1885], Jablonského ul. 333-VII 38. Bürgerschule für Jungen in Holešovice [Měšťanská škola Holešovice, chlapecká] [1888] (bis 1899), Jablonského ul. 333-VII 39. Gemischte Volksschule ,na Maninách‘ in Holešovice [Smíšená obecná škola na Maninách, Holešovice], [1891] (ab 1898 nur für Jungen, ab 1899 mit Bürgerschulklassen), Libeňská ul. 790-II 40. Volks- und Bürgerschule für Mädchen ,na Maninách‘ [Obecná a měšťanská škola na Maninách, Holešovice, dívčí] [1898], Osadní ul. 790-II Ferner zählen dazu nachstehende Schulen mit deutscher Unterrichtssprache:

198

Schulwesen

41. Altstädter Volksschule für Jungen und Mädchen (ab 1876 mit Bürgerschulklassen; ab 1879 nur noch für Jungen), Fleischmarktgasse 1000-I 42. Altstädter Volks- und Bürgerschule für Mädchen [1879], Fleischmarktgasse 1000-I 43. Neustädter Volksschule für Mädchen und Jungen [1879], Wladislawgasse (Jungen) – Brenntegasse (Mädchen) 48-II 44. Volksschule bei St. Maria de Victoria für Mädchen und Jungen (ab 1879 Kleinseitner Volksschule), Karmelitergasse 472 und 535-III 45. Josephstädter Volksschule für Mädchen und Jungen [1873], Johannesplatz 873-I In Bezug auf das Privatschulwesen soll hier nur die fünfte Phase bzw. die auch für die empirische Untersuchung relevante Periode von 1870 bis 1900 kurz betrachtet werden. In diesem Zusammenhang interessieren auch nur jene Privatschulen mit dem Charakter von Volks-, Bürger- oder Mittelschulen, wohingegen private Industrial-, Sprach- und Musikschulen etc. vernachlässigt werden.364 Im Jahr 1872 sind in Prag 53 private Volksschulen angesiedelt, und zwar neun mit tschechischdeutscher, sieben mit tschechischer und 37 mit deutscher Unterrichtssprache. Insgesamt frequentieren 2016 Jungen und 3641 Mädchen diese Einrichtungen. Nach dem Religionsbekenntnis setzen sich die Schulkinder aus 4006 Katholiken, 312 Evangelischen und 1339 Juden zusammen. Damit besuchen Anfang der 1870er Jahre etwa ein Drittel der schulpflichtigen Jungen und die Hälfte der Mädchen in Prag Privatschulen, die wiederum überwiegend auf Deutsch unterrichten (vgl. Frumar 1920: 256-257). Bis zum Jahr 1881 sinkt die Zahl der Privatanstalten auf nur 22 Institutionen. Der größte Rückgang erfolgt gleich zu Anfang der Periode, d.h. von 1872 auf 1873, hier gehen die Einrichtungen für Jungen von 15 auf vier und jene für Mädchen von 31 auf 23 zurück, die gemischten Schulen verringern sich zudem von sechs auf drei. Im Bereich des Bürgerschulwesens ist keine derart einschneidende Entwicklung, aber dennoch eine eindeutig fallende Tendenz zu erkennen, so geht die Zahl der Einrichtungen von elf (1872) auf sieben (1881) zurück, zwischenzeitlich (1876-78) gibt es sogar nur fünf private Bürgerschulen. Im statistischen Ausweis über das Privatschulwesen im Jahr 1889 wird schließlich nur noch eine Bürgerschule angeführt, und zwar für Mädchen. Dass die Zahl der Privatschulen in diesem Ausmaß zurückgeht, kann durch mehrere Faktoren erklärt werden. Erstens werden die öffentlich staatlichen Volksschulen für die oftmals Privatschulen besuchende jüdische Bevölkerung nach der Säkularisierung des Schulwesens mit dem Schule-Kirche-Gesetz (1868) attraktiver (vgl. Kieval 2000: 142-144).365 Zweitens bewirkt das Reichsvolksschulgesetz (1869) eine qualitative 364 365

Vgl. hierzu für einen knappen Überblick kurz vor Beginn des Betrachtungszeitraums Frumar / Neťukaj (1920: 192). Zur genauen Situation der jüdischen Privatschulen in Prag gibt es kaum Literatur. Feststeht, dass die jüdische Gemeinde Ende der 1860er Jahre noch 15 Privat-Volksschulen unterhält, 1885 nur noch fünf und 1895 wird gar keine mehr erwähnt (vgl. Kieval 2000: 143-144).

Schulwesen

199

Verbesserung des öffentlichen Schulwesens und steigert das Ansehen der staatlichen Einrichtungen bei den Eltern (vgl. Frumar 1920: 256-257). Drittens entzündet das böhmische Schulaufsichtsgesetz (1873) einen Konkurrenzkampf zwischen deutsch- und tschechischsprachiger Schulinfrastruktur. Die Steigerung der Anzahl an Volksschulen mit eigener Unterrichtssprache wird daraufhin zur nationalen Prestigeangelegenheit. Das deutliche Übergewicht an Privatschulen mit deutscher Unterrichtssprache in Prag (z.B. existieren in Prag im Jahr 1883 nur zwei tschechische, aber 19 deutsche Einrichtungen) (vgl. Frumar 1920: 264-265) steht durchaus im Zusammenhang mit dem tschechisch dominierten Prager Magistrat. Denn die Finanzierung im öffentlichen Primarschulwesen wäre von der Gemeinde zu leisten. Zu den beständigsten Privatschulen zählen insbesondere die Klosterschulen, und zwar Folgende: die tschechische Mädchenschule bei St. Anna, dann die Schulen bei den Piaristen, bei den Ursulinerinnen (seit 1674), den Englischen Fräulein (seit 1746) und den Barmherzigen Schwestern und schließlich das Mädchenlyzeum. Es handelt sich dabei durchgängig um deutsche Schulen, zu denen 1889/90 die Unterrichtsanstalt des deutschen Schulvereins in Holešovice366 hinzukommt. Zu den Privatschulen gehören auch die deutsche Schule der evangelischen Gemeinde sowie die Jungenschule im Waisenhaus St. Johannes. Aufforderungen bezüglich einer Übernahme oder finanziellen Unterstützung dieser deutschen Privatanstalten schmettert die Prager Gemeinde beständig ab. Ihr Hauptargument dabei ist der hohe Anteil der tschechischen Kinder an deutschen öffentlichen wie privaten Einrichtungen, das demonstriere allzu deutlich die ausreichende Versorgung der deutschen Sprachgemeinschaft mit Lehranstalten (vgl. Rozvoj školství 1891: 68; Frumar 1920: 265). Die Tatsache, dass mehr Privatschulen für Mädchen existieren, liegt darin begründet, dass Jungen für eine Weiterbildung das Mittelschulwesen offen steht, während das Angebot für Mädchen hier sehr begrenzt ist (vgl. Rozvoj školství 1891: 67-68). So besuchen auch Gabriele und Valerie Kafka im Anschluss an die deutsche Altstädter Volksschule die private höhere Töchterschule der Adele Schembor (vgl. Wagnerová 1997: 98-99, 208 Anm. 9). Die Größe der Anstalten ist sehr unterschiedlich, sie reicht von kleinen Instituten mit weniger als zehn Schulkindern bis zu den mehrere Hundert Mädchen und Jungen umfassenden, traditionellen Einrichtungen. Einen Überblick über die einzelnen Privatschulen in Prag, ihre Unterrichtssprache und Schülerschaft von 1880 und 1900 bietet Tabelle 10 (vgl. Tabelle 10: 201). Die Zahl der Schüler an privaten Unterrichtsanstalten sinkt gegen Ende des Jahrhunderts. Ihr Anteil an der Prager Schülerschaft (Schüler an den deutschen und tschechischen öffentlichen Volks- und Bürger-, Übungs-, Privat- und Mittelschulen) geht bei einer insgesamt wachsenden Schülerzahl (1888/89: 17870 Per366

Die Errichtung der Schule führt in den beiden Schuljahren 1890 bis 1892 zu einem kurzfristigen Anstieg der Schülerzahlen an privaten Einrichtungen,

200

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sonen; 1895/96: 18859 Personen) von neun auf sieben Prozent zurück. Im privaten Schulwesen, insbesondere den traditionsreichen, von katholischen Orden geleiteten Einrichtungen mit staatlicher Anerkennung (Öffentlichkeitsrecht), sehen insbesondere die Eltern der weiblichen Jugend eine strenge, gesittete und auch gehütete Erziehung ihrer Töchter gesichert. Die selbst Ende des 19. Jahrhunderts stabilen und zum Teil sogar steigenden Schülerzahlen sowohl in den deutschen als auch den tschechischen Schulen zeigen dies (vgl. Tabelle 10: 201). An den reinen Mädchenschulen sind im Jahr 1899 auch 67 Prozent der Privatschulkinder eingeschrieben, während ihr Anteil an den reinen Jungenschulen nur knapp 12 Prozent beträgt und davon besitzt den Löwenteil die etablierte und elitäre Piaristenvolksschule (fast zwei Drittel). In der Ausbildung der Knaben spielt demnach das Privatschulwesen zur Jahrhundertwende kaum eine Rolle, dagegen bildet es bei der Erziehung der Mädchen bis zur Etablierung eines fundierten, öffentlich geförderten Bildungswesens, das sich erst im 20. Jahrhundert durchsetzen wird, die einzige attraktive Alternative. Vergleichbar mit der Situation an den öffentlichen Schulen besuchen Privatschulen mit tschechischer Unterrichtssprache abgesehen von sehr wenigen, vereinzelten Ausnahmen ausschließlich tschechische Muttersprachler, während sich die Schülerschaft an den deutschsprachigen Institutionen aus deutsch-, tschechisch- und zweisprachigen Schulkindern zusammensetzt (vgl. Tabelle 11: 202).367 Anders als im staatlichen Schulsektor existieren im Privatschulwesen auch zur Jahrhundertwende noch utraquisitsche Einrichtungen mit zum Teil sogar steigenden Schülerzahlen. Allerdings ist zu berücksichtigen, dass es sich hierbei um gewisse Spezialschulen handelt, an denen etwaige sprachnationale Agitationen nur von sekundärer Bedeutung sind: die Privatinstitute für Blinde und Taubstumme sowie die Volksschule des Privatwaisenhauses St. Johannes der Täufer, die zudem ab dem Schuljahr 1886/87 nur noch mit deutscher Unterrichtssprache geführt wird.

367

Für die Schülerzahlen vgl. Statistisches Handbuch 1889, 1894, 1897, 1899 sowie für die Schuljahre 1889/90 und 1890/91: AHMP: MHMP I., Hlavní spisovna 1784-1920, C24/44, kt. 541.

201

Schulwesen

Tabelle 10: Übersicht zu den Privatschulen und deren Besuch (Anzahl der Schulkinder) in Prag von 1880/81 bis 1899/1900368 Name

Adr.

1880 1881 1882 1883 1884 1885 1886 1887 1888 1889 1890 1891 1892 1893 1894 1895 1896 1897 1898 1899

I. mit dem Charakter von Volksschulen für Knaben Florian Seidel m. ÖR, dt.

I-461

43

50

40

31

28

19

24

29

10

18

21

21

9

8

14

Piaristen-Collegium m. ÖR, dt. (1)

II-892

387

414

387

378

365

337

340

350

350

361

362

350

345

321

328

324

323

315

277

251

Privatwaisenhaus St. Johannes der Täufer m.ÖR; tsch.-dt. (2)

II-466

69

72

89

93

86

83

98

97

114

116

114

120

101

117

106

121

128

128

151

129

14

6

7

11

12

8

9

14

15

14

12

18

21

26

15

7

4

4

5

32

20

2

2

2

4

Verein zum Wohl entlass. Züchtlinge, tsch. M. Fröhlich m. ÖR, dt. (3)

I-745

Fr. Hauser m. ÖR, tsch.

II-715

M. Robitschek, dt.

I-735

L. Holzner, dt.

I-700

25

24

I-700

7

11

Abr. Steiner, dt. ab 1882/83

Name

35

16

I-922

Adr.

1880 1881 1882 1883 1884 1885 1886 1887 1888 1889 1890 1891 1892 1893 1894 1895 1896 1897 1898 1899

II. mit dem Charakter von Volksschulen für Mädchen

705

655

464

461

582

557

633

478

453

591

592

476

472

472

432

412

410

Ursulinerinnen m. ÖR, dt. (4)

II-139

Ursulinerinnen m. ÖR, tsch.

II-139

engl. Fräulein m. ÖR, dt. (5)

III-43

314

291

304

256

336

292

303

315

288

274

273

300

286

302

286

262

162

barmherz. Schwester, dt.

III-542

425

450

371

362

378

410

399

406

392

455

456

418

419

449

492

465

dt. Mädchenlyceum, m. ÖR, dt.

II-56

97

103

105

90

88

78

81

92

97

118

115

117

Vorbereitungsschule an der städt. böhm. höheren Töchterschule, tsch.

II-683684

66

70

0

116

126

136

143

Marienanstalt, tsch.

II-527

5

3

6

11

9

6

Marienanstalt, dt. (6)

II-527

10

26

22

21

26

19

76

71

85

100

53

154

137

453

449

428

426

120

118

114

123

148

145

143

142

129

8

20

24

23

25

36

30

35

28

18

21

104

102

78

78

82

63

92

279

279

286

299

203

251

223

72

68

II-981

75

77

84

69

75

79

68

78

91

II-530

242

302

313

320

230

222

241

251

269

262

243

260

257

Schulschwestern vom Hl. Herz Jesu, dt.

Smich.

25

60

58

52

52

56

60

54

60

56

45

81

81

124

121

155

Vinzenzia Wietz, dt.

I-562

12

15

22

12

7

8

9

5

12

8

16

13

10

58

39

41

56

50

56

50

51

54

68

45

41

48

42

10

10

I-230

ab 1888/89

II-935

I-627

Josef Wagner m. ÖR, dt. (8) ab 1896/97

III-16

Anna Brunner m. ÖR, tsch.

II-525 II-1180

10

13

11

12

N. Holzner m. ÖR, dt.

I-701

55

60

42

29

Jos. Lwowský m. ÖR, dt.

III-183

51

50

35

22

7

A. Pisařovic, tsch.-dt.

II-1176

19

21

M. Werthmüller, dt.

II-1049

14

13

Kath. Funk, dt

II-822

5

4

Jenny Kirschbaum/Emilie Benešovský/Marie Platzschek/Antonia Böhler m. ÖR, dt. (9)

II-792

368

22

22

59

56

III-266

A. Fammler, dt

ab 1887/88

332

145

Schwestern bei St. Anna m. ÖR, tsch. (7)

ab 1886/87

387 29

Wilhelmine Schin m. ÖR, dt.

Jul Fischel m. ÖR, dt.

399

5

1

22

28

24

4

2

2

11

4

3

II-742

Mit „m. ÖR." wird gekennzeichnet, dass die Einrichtung das Öffentlichkeitsrecht besitzt; die Angabe „dt." bzw. „tsch." hinter dem Namen der Institution gibt die Unterrichtssprache an.

202 Name

Schulwesen Adr.

1880 1881 1882 1883 1884 1885 1886 1887 1888 1889 1890 1891 1892 1893 1894 1895 1896 1897 1898 1899

III. mit dem Charakter von Volksschulen für Mädchen und Jungen Evang. Schule bei St. Michael m. ÖR, dt.

II-153

Dt. Volksschule in Holešovice m. ÖR, dt. (10)

VII-132

287

263

251

231

218

235

247

276

278

273

299

328

182

270

254

234

172

214

234

243

252

167

272

223

222

211

203

265

313

322

288

263

241

229

231

115

204

218

199

110

72

68

95

68

Volksschule der barmh. Schwestern d. hl. Carl Bor. m. ÖR, tsch. (11)

Karol.

62

62

99

110

Jos. Heinricht m. ÖR, dt

II-277

192

175

156

52

Dt. Freischule (dt. Schulpfennigverein), dt.

II-308

82

76

60

56

33

Privatinstitut für Blinde, tsch.-dt. Privatinstitut für Taubstumme, tsch.-dt. IV. mit dem Charakter von Bürgerschulen Jenny Kirschbaum/Emilie Benešovský/Marie II-792 Platzschek/Antonia Böhler m. ÖR, dt. (9) ab 1887/88 II-742

169

engl. Fräulein, dt.

III-43

Privatvolksschule und höhere Töchterschule des Jos. Wagner, dt.

III-266

Ros. Kellner für Mä m. ÖR, dt.

I-558

153

Jos. Lwowský m. ÖR für Mä, dt.

III-183

75

B. Taška für Mä, dt. (12)

II-37

94

J. Frey m. ÖR für Jungen und Mädchen, dt.

I-735

38

M. Fröhlich m.ÖR für Jungen, dt.

I-745

10

174

158

176

127

143

103

175

114

173

80

157

82

180

265

74

57

59

59

57

54

57

165

157

158

155

161

159

160

159

68

160

160

131

114

96

131

40

31

31

31

26

24

24

2

2

211

296

242

116

120

119

111

80

65

60

56

119

130

105

100

118

119

117

119

79

V. mit dem Charakter von Mittelschulen Lehrerinnenbildungsanst. der armen Schulschwestern zu St. Anna, tsch.

II-53031

76

56

60

69

69

80

80

80

Unterrealschule und -gymnasium Jos. Slanský, dt.

I-99

33

20

21

24

22

24

24

15

höhere Töchterschule der Bertha Taška, dt. (13)

II-109

55

63

57

75

70

höhere Töchterschule der Adele Schembor, dt.

II-893

80

Quelle: Vgl. die Angaben zu den Privatschulen im Statistischen Handbuch Prag (1883-1903).

(1) bis zum Schuljahr 1882/83 unter den privaten Bürgerschulen angeführt (2) ab dem Schuljahr 1886/87 nur noch mit deutscher Unterrichtssprache (3) bis zum Schuljahr 1882/83 unter den privaten Bürgerschulen angeführt; ab 1889/90 wieder unter den privaten Bürgerschulen (4) die zum Teil höheren Schülerinnenzahlen sind dadurch bedingt, dass in diesen Fällen die Schülerinnen der Industrialschule und die Kindergartenkinder einschließen; vgl. hierzu Statistisches Handbuch (1889: 357 Anm. 9) (5) ab dem Schuljahr 1896/97 auch unter den Bürgerschulen geführt (6) ab dem Schuljahr 1889/90 werden unter "Marienanstalt, II-527" zwei getrennte Anstalten geführt (7) 1889/90 mit tschechischer, deutscher und französischer Unterrichtssprache angeführt; (8) ab dem Schuljahr 1889/90 unter den Bürgerschulen als Privat-Volksschule und höhere Töchterschule des Jos. Wagner angeführt; (9) bis zum Schuljahr 1895/96 als Volks- und Bürgerschule in der Kategorie der Bürgerschulen angeführt, danach getrennt jeweils unter Volkschulen und unter Bürgerschulen:

40

203

Schulwesen

1887/88 Benešovský erstmals angeführt, Kirschbaum nur noch in Klammern angegeben; ab 1888/89 nur noch Benešovský angeführt; 1890/91 wird zwar die Institution angeführt, jedoch keine Schülerzahlen; ab 1892/93 Marie Platschek angeführt; ab 1899/1900 Antonia Böhler angeführt; (10) ab dem Schuljahr 1888/89 als Volksschule des dt. Schulvereins angeführt; (11) ab dem Schuljahr 1886/87 mit dt. Unterrichtssprache angeführt; (12) ab 1881/82 unter den Mittelschulen angeführt; (13) bis 1880/81 unter den Bürgerschulen angeführt; Tabelle 11: Verteilung der Privatschüler nach ihrer Muttersprache auf die Privatschulen mit tschechischer und deutscher Unterrichtssprache in Prag von 1888/89 bis 1895/96 1888/89

1889/90

1890/91

1891/92

1892/93

1893/94

Muttersprache der Schüler:

tsch.

tschechische Privatschulen

10%

deutsche Privatschulen

36% 44%

9% 37% 43%

8% 38% 41%

8% 37% 45%

5% 33% 48%

5% 33% 44%

Privatschüler gesamt

1585

1573

1775

1765

1620

1471

dt.

0%

tsch. tsch. +dt.

0% 11%

dt.

0%

tsch. tsch. +dt.

0% 13%

dt.

0%

tsch. tsch. +dt.

0% 13%

dt.

0%

tsch. tsch. +dt.

0% 14%

dt.

0%

tsch. tsch. +dt.

0% 17%

dt.

0%

1894/95

tsch. tsch. +dt.

0% 16%

dt.

0%

1895/96

tsch. tsch. +dt.

0% 18%

dt.

0%

0%

6% 32% 46%

5% 31% 45%

5%

1394

1275

Quelle: Vgl. Statistisches Handbuch 1889, 1894, 1897, 1899 sowie für die Schuljahre 1889/90 und 1890/91: AHMP: MHMP I., Hlavní spisovna 1784-1920, C24/44, kt. 541.

4.3.1.2

Bedeutung und Agitation des Prager Magistrats

Was den Einfluss der Stadt Prag auf die Entwicklung der Prager Schullandschaft betrifft, so übernimmt der Prager Magistrat 1848 mehrere Funktionen des politischen Senates – u.a. die Schulverwaltung – und hat diese als lokale zentrale politische Behörde auch nach der Gemeindeordnung aus dem Jahre 1850 inne.369 Gleichzeitig ist die Stadtführung – bis zum Schule-Kirche-Gesetz 1868 weitgehend vergeblich – bemüht, die Macht des Klerus im Zusammenhang mit der Schulaufsicht einzuschränken (vgl. Jelínek 1997: 103-104). Zudem prägt die gesamte Schulverwaltung ein sehr starker, von Wien ausgehender Zentralismus, der sich nicht zuletzt in der Festlegung der Schulhilfsmittel wie Kreide etc. äußert (vgl. Horák 1920: 26-28). Gestärkt wird die Position der Stadt durch die Ablösung des Schulpatronats vom Pfarrpatronat und dessen Übertragung auf die Gemeinde im Jahr 1864. Dadurch geht sowohl das Recht zur Vergabe von Lehrstellen als auch die wirtschaftliche Last zur Errichtung und Erhaltung der Schulen auf die Gemeinden über. Auf diese Weise ist die Landeshauptstadt unter der Oberaufsicht des Landesschulrats einerseits bezüglich der Aufwendungen und andererseits in der Verwaltung des nationalen Schulwesens weitgehend autonom (vgl. Horák 369

tsch. +dt.

Allerdings wird von Wien aus bestimmt, dass im Prager Gemeinderat 50 der 90 Sitze von deutschen eingenommen werden (vgl. Frumar / Neťukaj 1920: 207).

204

Schulwesen

1920: 26-27; Frumar / Neťukaj 1920: 226-228). Allerdings nur bis zum Reichvolksschulgesetz 1869370 bzw. dem Schulaufsichtsgesetz im Jahr 1873, als mit der Einrichtung zweier Bezirksschulräte für Prag die Verantwortung für die Angelegenheiten der tschechischen und deutschen Schulen getrennt und zudem die Anzahl der Vertreter der Stadt in den beiden Gremien je auf ein Drittel371 reduziert werden.372 „Tu vlastně provedeno bylo první dělení veřejné správy dle národnosti v království českém na prospěch Němců“ (Horák 1920: 31) [Hier wurde im Grunde zum ersten Mal die öffentliche Verwaltung im böhmischen Königreich zu Gunsten der Deutschen nach der Nationalität geteilt – Übersetzung I.S.]. Die aus Prager Sicht als zentralistisch empfundene Ausrichtung der neuen Schulordnung des Jahres 1869, verbunden mit steigenden Ausgaben für das Schulwesen, führt zu einer Protestaktion der Prager Gemeinde. Sie verweigert ihre Mitgliedschaft in den Schulbehörden. Folge dessen ist eine Stagnation des Schulwesens in Prag von 1870 bis 1873, da neue Gesetze ohne Beteiligung der lokalen Verwaltung schwer einzuführen sind. Ab Januar 1873 wird dem passiven Widerstand wieder das aktive Mitspracherecht vorgezogen (vgl. Frumar 1920: 248-252, 257, 260). Entscheidend ist für das deutsche Schulwesen in Prag, dass der Einfluss der seit 1860 tschechisch dominierten Stadtverwaltung373 eingeschränkt wird, indem mit dem 370

371

372

373

Der Zeitabschnitt bis zur Neuordnung des Volksschulwesens 1869 ist auch als „Periode der Schulkommissionen“ [doba školních výborů] (Frumar / Neťukaj 1920: 226) bekannt, die für Schulen mit mehreren Schulgemeinden gebildet werden. Diesbezüglich wird in der Denkschrift des deutschen Vereins für städtische Angelegenheiten in Prag 1896 beklagt, „dass die Gemeinde in den deutschen Bezirksschulrath, welcher gesetzlich der erste Hüter und Förderer des deutschen Schulwesens in Prag sein soll, nicht nur keinen deutschen Gemeindegenossen, sondern sogar wiederholt Männer von ausgesprochener und eingestandener deutsch-feindlicher Gesinnung entsendet“. Damit werde im Grunde gegen § 7 des Schulaufsichtsgesetzes verstoßen, da in Prag der Bezirksschulrat zugleich die Position des Ortsschulrates einnehme und damit die Regelung, dass „in gemischtsprachigen Bezirken die Mitglieder jener Nationalität entnommen werden [müssen], für welche die betreffende Schule bestimmt ist“ (Denkschrift 1896: 9), in Kraft trete (vgl. ebd.: 9-10). In den Bestimmungen aus dem Reichsvolksschulgesetz des Jahres 1869 stellen die Stadtvertreter im – für tschechische und deutsche Schulen noch gemeinsamen – Schulrat noch die Hälfte der Mitglieder (vgl. Horák 1920: 31; Frumar 1920: 257). Im Jahr 1861 finden die ersten Gemeinderatswahlen in Prag statt, aus denen eine tschechische Mehrheit mit dem Bürgermeister František Pštros an ihrer Spitze hervorgeht (vgl. Rozvoj školství 1891: 18; Ledvinka / Pešek 2002: 486). Für Differenzen zwischen dem Prager Stadtrat und dem k. k. Bezirksschulrat ist entsprechend dem Schulaufsichtsgesetz (§ 29) aus dem Jahr 1873 der k. k. Landesschulrat zuständig. Dass eine Schlichtung zwischen den sprachnationalen Polen mit dem Stadtrat auf der einen und dem deutschen k. k. Bezirksschulrat auf der anderen Seite nicht nur in Bezug auf Sprache im Kontext konkreter Schulentscheidungen notwendig ist, zeigt der Beschluss vom 30. Januar 1883. Darin weist der k. k. Landesschulrat darauf hin, dass die Prager Stadtführung, sobald sie nicht als autonomes Organ, sondern als Schulverwaltungsbehörde fungiere, sich in Betreff der Geschäftszwecke auch den für die Schulbehörden in Böhmen bestehenden Normen zu richten habe und dementsprechend die Amtskorrespondenz in der Sprache des jeweiligen Bezirksschulrats zu führen habe und Eingaben an den k. k. Landesschulrat in Angelegenheiten der deutschen Schulen in deutscher, in Angelegenheiten der tschechischen Schulen in

Schulwesen

205

Schulaufsichtsgesetz 1873 die Verwaltung an den deutschen (staatsnahen) Bezirksschulrat übergeht. Jedoch liegt die entscheidende Aufgabe der Finanzierung weiterhin bei der Stadt.374 Eine weitere Beschneidung der Kompetenzen erfährt die Stadt Prag in der definitiven Ernennung der Lehrerschaft. Statt unbegrenzter Auswahl ist der Stadtrat ab 1875 gesetzlich an drei vom Bezirksschulrat zu äußernde Vorschläge gebunden (vgl. Horák 1920: 31). Trotz der Finanzierungspflicht wird der Einfluss der Gemeinde zunehmend verringert, so etwa durch die per Landesgesetz 1894 verordnete Aufhebung der Autonomie bei der Verteilung freiwilliger finanzieller Zulagen für Lehrer, durch den Ausschluss aus dem Entscheidungskomitee für Beförderungen (1903) oder durch die 1905 eingeführte Genehmigungspflicht fast aller Ausgaben für das Schulwesen durch den Landesschulrat (vgl. ebd.).375 Doch ist der tschechischer Sprache zu verfassen seien (vgl. AHMP: MHMP I, Presidium rady a magistrat 1881-1885, odd. C, 1881-1885, Sign. C10/4, kt. 215). Dass dem dennoch nicht immer Folge geleistet wird zeigt eine Beschwerde des deutschen k. k. Bezirksschulrats in der gleichen Sache im Jahr 1890 (vgl. AHMP: MHMP I, Hlavní spisovna 1784-1920, odd. C, 1881-1890, Sign. C19/3, kt. 251). 374 Bereits am 12. Juli 1861 kommt es im tschechisch dominierten Magistrat zum Beschluss des Stadtrats, eine Sonderkommission einzusetzen, welche die bisherigen Verhältnisse an den Hauptund Trivialschulen feststellen soll. Die daraus hervorgehenden Forderungen des Kommissionsmitglieds und Schulrates Wenzig werden 1861 in einer Denkschrift zusammengefasst, in der eine massive Förderung und Durchsetzung des Tschechischen im Prager Schulwesen gefordert wird: an allen städtischen Pfarrhaupt- und Trivialschulen ebenso wie an der Teinhauptschule mit dem Schuljahr 1862 das Tschechische als Unterrichtssprache und das Deutsche als obligatorisches Unterrichtsfach einzurichten; an einer oder zwei der genannten Schulen (St. Maria de Victoria in der Kleinseite und in der Teinhauptschule in der Altstadt) eine deutsche Parallelklasse zu eröffnen und zwar für Schüler aus mehreren Schulkreisen, die entsprechend dem Willen der Eltern deutsch unterrichtet werden sollen und diese Sprache auch ausreichend verstehen; die Teiner Unterrealschule als tschechische Einrichtung auszurufen; an der Teiner Realschule einstweilen einen Lehrer anzunehmen, der in tschechischer Sprache unterrichten kann; alle Lehrer an den städtischen Unterrichtsanstalten aufzurufen, sich binnen Jahresfrist über ihre Eignung zur Erteilung des Unterrichts in tschechischer Sprache auszuweisen, widrigenfalls sie, wenn ihnen nicht eine andere Anstellung verschafft würde, pensioniert würden; Allerdings genehmigt die Statthalterei in Prag unter der Regierung Schmerling diese Beschlüsse nicht (vgl. Rozvoj školství 1891: 19; Frumar / Neťukaj 1920: 210, 214-215; Strakosch-Graßmann 1905: 334-335). 375 Vgl. hierzu auch Strakosch-Graßmann (1905: 335-336), der – aus subjektiv deutscher Perspektive – auflistet, zu welchen Ungerechtigkeiten gegenüber dem Prager deutschen Schulwesen und seiner Lehrerschaft die bisher mächtige Stellung des Stadtrats in diesen Bereichen geführt hat. Beispielsweise klagt auch der deutsche Verein für städtische Angelegenheiten an, dass der Prager Stadtrat von 1883 an bis zum Landesgesetz vom 13. Mai 1894 den deutschen Lehrpersonen, die der tschechischen Sprache nicht mächtig sind, keine Zulagen erteilt, wie sie die tschechischen Lehrer erhalten (vgl. Antwort Gegendenkschrift 1896: 19). Selbst nach Erlass des Landesgesetzes werden deutsche Lehrer weiterhin benachteiligt, so z.B. bei der neuen gesetzlichen Regelung, Unterlehrer mit mindestens zehn Dienstjahren zu Lehrern zu befördern, die umgehend bei allen

206

Schulwesen

tschechisch dominierte Magistrat in Prag – nicht anders als spiegelbildlich die vorwiegend deutschen Ortsschulräte in den zunehmend gemischtsprachigen Grenzgebieten – primär an der Prosperität des tschechischen Schulwesens in Prag und weniger am Ausbau der Institutionen mit deutscher Unterrichtssprache interessiert. In diesem Sinne wird von deutscher Seite die bereits erwähnte Dichte des deutschen Privatschulwesens als Indiz des Mangels an öffentlichen Einrichtungen mit deutscher Unterrichtssprache interpretiert (vgl. Strakosch-Graßmann 1905: 335; Denkschrift 1896: 6-7). Unbeeindruckt verweist die Prager Stadtgemeinde auf die hohen Zahlen tschechischer Kinder an den deutschen Schulen. Dies zeige deutlich, dass das öffentliche deutsche Schulwesen in Prag ausreichend ausgebaut sei (vgl. Rozvoj školství 1891: 68) – für die Grundgesamtheit an deutschen Muttersprachlern in Prag, allerdings nicht für die Masse an Schulkindern, die eine Ausbildung in deutscher Sprache begehren. In der ersten Hälfte der 1870er Jahre376 sorgt die Aufhebung des Schulgeldes an allen Prager Volks- und Bürgerschulen dafür, dass zahlreiche schulpflichtige Kinder aus den umliegenden, vorwiegend tschechisch dominierten Gemeinden in die städtischen Schulen drängen – auch in jene mit deutscher Unterrichtssprache. Infolgedessen ergibt sich die Notwendigkeit, zahlreiche Parallelklassen einzurichten und das Lehrpersonal bedeutend aufzustocken. Die finanziellen Lasten hierfür liegen bei der Prager Gemeinde, sodass diese bereits zum Schuljahr 1877/78 das Schulgeld erneut einführt, Kinder aus mittellosen Familien jedoch befreit werden können. Ein erneuter Vorstoß in diese Richtung im Jahr 1892/93 wird nach Berechnung der finanziellen Ausfälle für die Gemeinde ebenfalls abgelehnt (vgl. Verwaltungsbericht 1896: 299-300; Frumar 1920: 295-296). Vergleichbar mit den Regelungen zur Errichtung von Volksschulen existieren auch gesetzliche Voraussetzungen zur Zuerkennung von Parallelklassen. Entscheidend ist insbesondere der sogenannte Durchschnittszählungs-Erlass vom 18. Juni 1884, der bestimmt, dass nicht die jeweilige Klassengröße, sondern die Gesamtzahl der zu der Schule gehörigen schulpflichtigen Kinder maßgebend ist (vgl. Verordnungsblatt 1885: 81-82). Dadurch wird die hohe Schülerzahl in den unteren Klassen, die gerade an den Prager Einrichtungen mit deutscher Unterrichtssprache oft über 100 reicht, durch die naturgemäß niedrigere Zahl der Schüler in den oberen Klassen, die in den Bürgerschulklassen zum Teil sogar nur zwischen 20 und 30 beträgt377, ausreichend gedrückt, um die Zulassung von Parallel-

376

377

tschechischen Kandidaten, aber nur bei zwei von elf deutschen Kandidaten durchgeführt wird (vgl. ebd.: 20). 1873 wird das Schulgeld in Prag per Stadtratsbeschluss aufgehoben. Die Hoffnung, dass der Landtag nach dem Vorbild anderer Landtage das Schulgeld allgemein abschafft, erfüllt sich allerdings nicht (vgl. Frumar 1920: 295-296). Vgl. hierzu die Schulkataloge der von mir untersuchten Einrichtungen mit deutscher Unterrichtssprache in Prag von 1875 bis 1900 – AHMP: NR: Fonds der deutschen Volks- und Bürger-

Schulwesen

207

klassen in den unteren Jahrgangsstufen gesetzlich abwehren zu können. Denn der erforderliche Durchschnitt von 80 Kindern wird nicht erreicht (vgl. auch Denkschrift 1896: 19). Zudem ist die Verrechnung der Volks- und Bürgerschulen gesetzeswidrig, da die Bürgerschulen ausdrücklich als ,selbstständige Schulen‘ verankert sind (vgl. Antwort Gegendenkschrift 1896: 26). Die Prager Stadtgemeinde stellt weiterhin Überlegungen an, um die Zahl der tschechischen Schüler zu verringern, die bzw. deren Eltern sich für deutsche Einrichtungen zu Beginn oder – mittels eines Schulwechsels – während der Schulzeit entscheiden. Zu diesem Zwecke wird nicht nur ein Maßnahmenkatalog entworfen, sondern werden auch die Daten der Schüler gesammelt, die tschechischer Muttersprache sind und deutsche Unterrichtsanstalten besuchen. In einer Denkschrift des Prager Stadtrats an den Landesschulrat vom 5. Dezember 1891 wird dementsprechend zum wiederholten Male gefordert378, das freie Wahlrecht der Eltern einzuschränken und die vorhandenen Sprachkenntnisse der Schüler im Hinblick auf die Unterrichtssprache als entscheidendes Kriterium festzulegen – und dementsprechend tschechischen Schulkindern, die des Deutschen nicht ausreichend mächtig sind, den Besuch der Einrichtungen mit deutscher Unterrichtssprache zu verbieten und insgesamt den Einfluss des Stadtrats bei der Schuleinschreibung zu erneuern. Gleichfalls wird heftig kritisiert, dass tschechische Schulkinder, die von tschechischen Lehranstalten an deutsche Schulen wechseln, sehr häufig um – zum Teil sogar mehrere – Klassen zurückgestuft werden. Des weiteren wird verlangt, grundsätzlich einen Schulwechsel im laufenden Schuljahr zu unterbinden, eine erneute Einschreibung erst nach einer gültigen Abmeldung an der bisherigen Schule zu erlauben und „aby učitelstvu a zřízencům školním přísně bylo zakázáno

378

schule für Mädchen, Prag-Altstadt, Fleischmarktgasse 1, Nr. 1052, 1861-1945. Schulkatalog, 1880/81-1898/99. So legt am 13. Oktober 1884 der tschechische Abgeordnete Dr. Jan Kvíčala im böhmischen Landtag einen Antrag vor, der in seinem ersten Paragraphen bestimmt, dass Kinder lediglich in solche Schulen aufgenommen werden dürften, deren Unterrichtssprache ihnen geläufig sei. Kvíčala führt v.a. pädagogische Gründe für diesen Vorstoß an, da Kinder eine möglichst vollkommene Ausbildung nur in der Muttersprache erlangen könnten (vgl. Burger 1995: 106). Im Verwaltungsbericht der königlichen Hauptstadt Prag für die Jahre 1887 bis 1889 wird über die Bemühungen der Prager Gemeinde, die Aufnahme tschechischer Kinder in deutsche Schulen zu verhindern, ferner Folgendes resümiert: Das in dieser Sache eingeleitete neuerliche Ansuchen (1886) beim Landesschulrat wird abermals abgelehnt; der darauffolgende Rekurs des Stadtrats (18.10.1887) gegen diesen negativen Bescheid des Landesschulrats (15.9.1887) beim k. k. Ministerium für Cultus und Unterricht wird ebenfalls abgewiesen und zwar mit der Begründung, dass dem Stadtrat eine Beeinflussung bei der Aufnahme der Kinder in die Volksschulen nicht zustehe. Doch befürchtet die Prager Gemeinde, dass die zunehmenden Übertritte tschechischer Kinder weitere Einrichtungen deutscher Schulen bedingen werden (Finanzierung!). Daher wird beschlossen, am 23.10.1889 beim böhmischen Landtag eine Petition zu überreichen und zwar dahingehend, dass ein Gesetz erlassen werde, demzufolge in Volks- und Bürgerschulen nur solche Kinder aufgenommen werden dürften, die der Unterrichtssprache mächtig sind; am 29.10.1889 überreicht der Abgeordnete Dr. Šolc diese Petition (vgl. Verwaltungsbericht 1891: 127-128).

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jakýmkoli spůsobem (sic!) lákati české děti do německé školy“379 [der Lehrerschaft sowie den Schulleitern strengstens zu verbieten, tschechische Kinder auf irgendeine Weise in die deutschen Schulen zu locken – Übersetzung I.S.]. Die „poměry nepřirozené“ [unnatürlichen Zustände] (ebd.), die im Prager Schulwesen angesichts der hohen Anzahl tschechischer Schüler an deutschen Einrichtungen herrschen, sollte eine Darstellung ihrer Entwicklung in den vergangenen Jahren belegen (vgl. Tabelle 8: 178; Kapitel 4.2.1.3).380 Neben diesem offiziellen Weg, eine Reduzierung der Zahl tschechischer Kinder an deutschen Schulen zu erreichen, nimmt die Prager Gemeinde auch ,im Kleinen‘ konkrete Schritte vor, um gezielt auf die ,abtrünnigen‘ Eltern einzuwirken.381 Um zunächst die Namen der Schulwechsler rechtzeitig – d.h. vor Schulbeginn – festzustellen, dient der Prager Gemeinde die Schulkinderbeschreibung, die nach § 27 des Schulaufsichtsgesetzes 1873 in Städten, die einen eigenen Schulbezirk bilden, der Gemeindevertretung obliegt. Diese Konskription hat sich nach § 21 des Landesgesetzes vom 19. Februar 1870 auf alle im schulpflichtigen Alter stehenden Kinder des Schulbezirkes, d.h. vom vollendeten sechsten bis zum vollendeten vierzehnten Lebensjahr, zu erstrecken und nach § 1 der Verordnung des k. k. Ministers für Cultus und Unterricht vom 20. August 1870 unmittelbar vor Beginn jedes Schuljahres zu erfolgen (vgl. Verwaltungsbericht 1896: 298; Mayrhofer / Pace 1898: 709-710). Die Prager Stadtgemeinde integriert nun in die Anmeldeformulare nicht nur die Frage nach der Schule, welche das Kind besuchen wird, sondern führt auch die Rubrik ,Muttersprache‘ und ,Religionsbekenntnis‘

379 380

381

AHMP: MHMP I, Hlavní spisovna 1784-1920, odd. C, 1891-1900, Sign. C 24/3, kt. C 538. In der Denkschrift werden lediglich die Bewegungen der Schülerzahlen von 1887-1890 genannt; die Angaben für die Jahre 1884-1886 entstammen der gleichen Akte der Stadtgemeinde wie die Denkschrift. Vgl. AHMP: MHMP I, Hlavní spisovna 1784-1920, odd. C, 1891-1900, Sign. C 24/3, kt. C 538; vgl. hierzu auch Rozvoj školství (1891: 52-53). Auf der anderen Seite wird der Prager Gemeinde von tschechischen, patriotischen Parteien vorgeworfen, die Germanisierung der tschechischen Schuljugend zu unterstützen. Unter anderem werden folgende Punkte angeklagt: „[...] na českých školách měšťanských vyučuje se němčině více hodin než češtině, a sice v I. a II. třídě jest 5 hodin němčiny a jen 4 hod. češtiny a ve III. třídě 4 hodiny němčiny a jen 3 hodiny češtiny“ [an den tschechischen Bürgerschulen werden der Lehre des Deutschen mehrere Stunden als dem Tschechischen gewidmet und zwar werden in der I. und II. Klasse 5 Stunden Deutsch und nur 4 Std. Tschechisch und in der II. Klasse 4 Stunden Deutsch und nur 3 Stunden Tschechisch unterrichtet – Übersetzung I.S.] (Školství pražské 1892: 8); „[…] že má pražská obec na svých českých školách také učitele, kteří, aby se svým představeným zavděčili, posílají beze studu své děti do škol německých, nebo učitele, kteří modlí se v české škole s dětmi po německu ,Vater unser‘ a nestydí se ve spolku učitelském doporoučeti českým rodičům, aby s dětmi v rodině mluvili německy“ [dass die Prager Gemeinde an ihren tschechischen Schulen auch Lehrer hat, die, um ihrem Vorgesetzten gefällig zu sein, ihre Kinder ohne Scham in deutsche Schulen schicken, oder Lehrer, die in der tschechischen Schule mit den Kindern das ,Vater unser‘ auf Deutsch beten und sich nicht schämen, im Lehrerverein tschechischen Eltern zu empfehlen, mit ihren Kinder in der Familie Deutsch zu sprechen – Übersetzung I.S.] (ebd.: 9-10).

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an.382 In dieser Kombination bieten die Informationen die beste Ausgangsbasis für eine nationale Agitation seitens des Stadtrates.383 In Prag wird die Anmeldung der schulpflichtigen Kinder folgendermaßen durchgeführt: In der zweiten Hälfte des Monats August wird in sämtlichen Wohnhäusern eine nach der Zahl der dort wohnenden schulpflichtigen Kinder zu bestimmende Anzahl von Meldezetteln zugestellt. Diese gilt es, für jedes Kind von den Eltern oder Vertretern unter Verantwortlichkeit des Hausbesitzers auszufüllen. Am Ende des Monats werden die bestätigten Zettel durch Magistratsangestellte gesammelt und an die betreffenden Schulleitungen abgegeben, worauf vom k. k. Bezirksschulrat auf Grund der von den Schulleitungen erlangten Ausweise eine Übersicht der Ergebnisse der Konskription schulpflichtiger Kinder für das beginnende Schuljahr zusammengestellt wird. Zur Sicherung der Richtigkeit der Angaben wird die Nichtbeachtung dieser Vorschriften mit einer Strafe geahndet und eine eigene lokale Kommission zur Überprüfung eingesetzt; zudem sind jegliche Änderungen des Standes und der Bewegung der eingeschriebenen Kinder bei der Schulleitung unverzüglich zu melden (vgl. Verwaltungsbericht 1896: 298-299). Obgleich der Landesschulrat bereits am 14. Juli 1887 eine Verordnung veröffentlicht, in welcher der Gemeinde das Recht, im Rahmen der Konskription der schulpflichtigen Kinder gleichzeitig die Angabe zur zukünftigen Anstalt des Zöglings mitzuerheben, untersagt wird (vgl. Denkschrift 1896: 8), stehen sie bis zu einem erneuten Beschluss des Landesschulrats vom 24. Juni 1895 (Z. 18741) auf Antrag des Deutschen Vereins für städtische Angelegenheiten in Prag auf den Meldezetteln.384 In seinem Erlass stellt der Landesschulrat fest, dass entsprechend der gültigen Gesetze die Erhebung der schulpflichtigen Kinder jährlich durch den jeweiligen Ortsschulrat bzw. in den städtischen Bezirken durch die Stadtvertretungen durchzuführen sei – ohne Unterschied der Religion und der Herkunft. Zweck dieses Verfahrens sei die Sicherung des Unterrichts für jedes Kind. Die hierzu notwendigen Daten setzten sich wie folgt zusammen: Vor- und Nachname des Kindes, Geburtsdatum und -ort, Adresse, gegebenenfalls Kostgeber und Erziehungsberechtigte sowie die Angabe der zukünftigen Schulgemeinde. Alle weiteren Fragen – nach dem Religionsbekenntnis, der Heimatzuständigkeit, der Muttersprache oder der Nationalität des Kindes, sowie der zuletzt besuchten Einrichtung – seien nicht zweckmäßig und daher wegzulassen. Für den Fall, dass ihnen für den öffentlichen Unterricht Bedeutung zugemessen werde, habe der Schulleiter die Informationen bei der Aufnahme der Kinder an seine Anstalt festzustellen. Diese 382 383

384

Vgl. AHMP: MHMP I, Hlavní spisovna 1784-1920, odd. C, 1891-1900, Sign. C24/44, kt. 541. In diesem Sinne klagt der deutsche Verein für städtische Angelegenheiten in Prag die Aufnahme der Muttersprache und des Religionsbekenntnisses in die Konskriptionsbögen als „nur zum Terrorismus gegen den Besuch der deutschen Schulen“ (Antwort Gegendenkschrift 1896: 21) dienende Fragen an. Vgl. hierzu AHMP: MHMP I, Hlavní spisovna 1784-1920, odd. C, 1891-1900, Sign. C24/44, Kt. 541.

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Bestimmungen seien bereits im darauffolgenden Schuljahr 1895/96 mittels neuer Meldezettel umzusetzen.385 Nach Aufforderung des deutschen Bezirksschulrats in Prag (10. Oktober 1895) mit Verweis auf diesen Beschluss führt der Prager Magistrat die neuen Anmeldeformulare schließlich um ein Jahr verspätet ein.386 Angesichts der veränderten Bedingungen wird eine Kommission eingesetzt, die in Bezug auf die Absichten der bisher – im Grunde illegalen – Erhebung der Muttersprache keine Zweifel lässt:387 avšak radě městské záleží na tom, aby měla otázku 5tou (stran mateřské řeči) zodpovězenou ještě před zápisem a to za tou příčinou, aby jí byla známa jména těch českých rodičů, které hodlají děti své posílati do německých škol, i aby za tou příčinu mohla rada městská na rodiče takové učinkovat k tomu cili, aby děti své ponechali v českých ško388 lách [aber dem Stadtrat liegt daran, dass er die 5. Frage (bzgl. der Muttersprache) noch vor der Einschreibung beantwortet habe und zwar zu dem Zwecke, damit ihm die Namen jener tschechischen Eltern, die sich entscheiden, ihre Kinder in deutsche Schulen zu schicken, bekannt seien und der Stadtrat diesbezüglich auf die Eltern einwirken könne, um zu erreichen, dass sie ihre Kinder in den tschechischen Schulen beließen – Übersetzung I.S.].

Dementsprechend werden abschließend die Fragen aufgeworfen, wie in Zukunft die Namen besagter Eltern in Erfahrung gebracht und schließlich ihr Verhalten gelenkt werden können. Im Kreis der Kommission regt Schulrat Dr. Srb dazu an, den Eltern neben dem obligaten Anmeldeformular des Landesschulrats, ein zweites, freiwillig auszufüllendes Formular mit den entsprechenden Rubriken zuzustellen. Da die Beantwortung der Fragen dadurch eine private Angelegenheit bliebe und kein Zwang bestehe, könne niemand, auch nicht die Schulbehörden, den Stadtrat davon abhalten. Falls der Stadtrat bei dieser Vorgehensweise den Vorwurf der nationalen Agitation seitens deutscher Zeitungen fürchte, könnten die zusätzlichen Formulare alternativ im Namen des statistischen Büros – zur allgemeinen Datensammlung bestimmt – ausgegeben werden. Im Grunde sei jedoch davon auszugehen, dass die überwiegende Mehrheit der Eltern die Informationen preisgeben werde und die noch fehlenden Angaben problemlos von den Magistratsangestellten bei der Einsammlung der Anmeldungen auf inoffiziellem Wege (z.B. über den Hausmeister, wenn dieser Tscheche ist) in Erfahrung gebracht werden könnten. In diesem Zusammenhang wird auch die notwendige Verschwiegenheit 385 386 387

388

Vgl. ebd. Vgl. ebd. In seiner Denkschrift sieht der deutsche Verein für städtische Angelegenheiten das Problem noch enger, in seinen Augen ist bereits durch „die Beibehaltung der Rubrik mit der Frage an die Eltern, in welche Schule das Kind im nächsten Jahre geschickt werden soll, [...] der Agitation gegen den Besuch der deutschen Schulen Thür und Thor geöffnet“ (Denkschrift 1896: 9). In jedem Falle bietet sie eine nicht zu verachtende Angriffsfläche auf das freie Wahlrecht der Eltern in der sprachnational gespannten Atmosphäre Prags am Ende des 19. Jahrhunderts. AHMP: MHMP I, Hlavní spisovna 1784-1920, odd. C, 1891-1900, Sign. C24/44, Kt. 541.

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der Kommission und der beauftragten Vertreter der Gemeinde betont, die Angelegenheit solle auch nicht öffentlich im Stadtrat vorgetragen werden. Maßnahmen im Sinne des Mottos „České dítě patří do české školy“ [Ein tschechisches Kind gehört in die tschechische Schule – Übersetzung I.S.] betreffen u.a. die Verteilung von Agitationsmaterial insbesondere in der ärmeren Schicht, wo ohne Zweifel die Knüpfung finanzieller Unterstützung an den Besuch tschechischer Schulen einschlagende Wirkung erzielt haben dürfte. Neben Unternehmern und Vorständen öffentlicher Anstalten sollen v.a. auch Schulleiter tschechischer Einrichtungen in die Agitation einbezogen werden, um Druck auf Eltern wie Schüler auszuüben. Ähnlich gelte es, auch Katecheten anzuweisen, in der Schule, aber auch außerhalb in diesem Sinne zu wirken, genauso wie Kindergartenleitungen, Pflegerinnen und Erzieherinnen. Inoffiziell seien auch tschechische Zeitungen dazu zu animieren, kurz vor Beginn der Einschreibungsfrist massiv für tschechische Schulen zu werben, was zudem mittels öffentlicher Plakate unterstützt werden solle389 (vgl. auch Antwort Gegendenkschrift 1896: 22). Obgleich die Durchführung der genannten Aktionen hier nicht im Einzelnen überprüft wird, so deuten die Denkschriften des deutschen Vereines für städtische Angelegenheiten in Prag (vgl. Denkschrift 1896; Antwort Gegendenkschrift 1896) und sogar die Gegendenkschrift der tschechischen Seite (Odpověd’ na pamětní spis 1896; vgl. hierzu Burger 1995: 170; Strakosch-Grassmann 1905: 336-337) an, dass auch in Prag ein reger ,Kampf um die Kinder‘ herrscht, nicht zuletzt, da in der Landeshauptstadt ein Angebot an Schulen mit deutscher oder tschechischer Unterrichtssprache besteht und (theoretisch) die Wahlmöglichkeit für die Eltern in jedem Fall gegeben ist.390 In der Auseinandersetzung zwischen der finanziell für das Volksschulwesen zuständigen Prager Gemeinde, deren Führungsriege tschechisch dominiert ist, und dem deutschen Bezirksschulrat als Vertreter des deutschsprachigen Schulwesens in Prag geht es v.a. auch um die Regelung der überfüllten 389 390

Vgl. AHMP: MHMP I, Hlavní spisovna 1784-1920, odd. C, 1891-1900, Sign. C24/44, Kt. 541. Die Beanspruchung der Kinder als ,nationalen Besitz‘ seitens der deutschen und tschechischen Nationalisten und eine dementsprechende Zurechtweisung nichtloyaler Eltern wird auch in den folgenden Jahrzehnten fortgesetzt und in Mähren 1905 sogar zum legalen Recht erklärt (Lex Perek), infolgedessen „the nation’s rights to educate children often trumped parental rights“ (vgl. Zahra 2004: hier 502). Im Jahr 1906 beschließt der Tschechische Nationalrat in Prag angesichts des geringen Erfolgs der bisherigen Maßnahmen, tschechische Eltern davon abzuhalten, ihre Kinder auf deutsche Schulen zu schicken, zu drastischeren Mitteln zu greifen. Auf Grundlage der Schuleinschreibungslisten der deutschsprachigen Ausbildungsstätten werden tschechisch klingende Namen herausgefiltert und mit Hilfe der Bezirksämter angeschrieben. In den Briefen wird der Ausschluss aus der nationalen Gemeinschaft angedroht, sofern nicht die nationale Pflicht – das Kind in eine tschechische Schule zu geben – erfüllt wird (vgl. ebd.: 508-509). In diesem Zusammenhang ist zu bedenken, dass die Schreibweise der Namen zu der Zeit keineswegs als zuverlässiger Indikator einer etwaigen Nationalität gesehen werden kann und dies noch weniger, da in den meisten Fällen die Listen von Dritten erstellt werden und der Name somit sehr variabel, anpassungsfähig und gewissermaßen auch manipulierbar ist. Dass diese nationale Agitation geheim bleiben könnte, stand somit außer Frage.

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Schulwesen

Klassen an den deutschen Volksschulen. Gefordert wird die Genehmigung von Parallelklassen, ohne dass „um jede Schulclasse zwischen Schulbehörde und Gemeinde nach Beginn und während des Schuljahres gestritten wird und die rechtswirksame Erledigung erst nach Schluss des Schuljahres erfolgt“ (Denkschrift 1896: 13). Diesen Prozess, ebenso wie die Errichtung einer zweiten deutschen Bürgerschule für Knaben und Mädchen in der Neustadt391 versucht der Stadtrat mittels zahlreicher Beschwerden und Petitionen zu verhindern oder zumindest zu bremsen (vgl. Verwaltungsbericht 1897: 220-221; Denkschrift 1896: 7-8). Beispielsweise besteht die Prager Gemeinde auch auf die Ausweisung der über 14 Jahre alten Schulkinder aus den deutschen Schulen, da für sie keine Schulpflicht mehr bestehe. Laut dem deutschen Verein für städtische Angelegenheiten in Prag ist „eine solche Ausweisung von Schülern, die gerne lernen möchten, sonst in ganz Oesterreich nicht vorgekommen“ (Antwort Gegendenkschrift 1896: 19). Abgesehen davon versucht die Prager Gemeinde mittels zahlreicher Petitionen an die landtägliche Schulkommission ihren Einfluss im deutschen Bezirksschulrat zu erhöhen. Ziel ist eine gesetzliche Änderung der Zusammensetzung dieses Organs, die den Vertretern der Stadt die Mehrheit im deutschen Bezirksschulrat sichert (vgl. Antwort Gegendenkschrift 1896: 1-9). Im Kontext der Diskussion um die Schuleinschreibung und möglicherweise des Durchschnittszählungs-Erlasses (1884) ist an dieser Stelle auch kurz auf die in den Schulkatalogen dokumentierte Angabe zur Muttersprache hinzuweisen, die wesentlicher Bestandteil der späteren Untersuchung der Sprachkenntnisse der Schüler der ausgewählten Volks- und Bürgerschulen sowie Gymnasien darstellt. Ihre Dokumentation beginnt nämlich erst ab Mitte der 1880er Jahre und weist zudem in der Anfangszeit noch einzelne Lücken auf. Bis zum Ende des Beobachtungszeitraums erscheint die Frage nach der Muttersprache – zumindest an den Volksschulen – niemals im tabellarischen Vordruck der Schulkataloge (oder gar den Zeugnisvorlagen), sondern wird vom Lehrer gewissermaßen ,nebenbei‘ in der Spalte Anmerkungen oder neben dem Namen des Schülers oder dem Religionsbekenntnis festgehalten. Im Grunde greift hier die in der äußerlichen sprachnationalen Separation sich manifestierende ,nationale Frage‘ in das interne Schulleben ein. Zum Teil verwenden die Lehrer sogar den Begriff ,deutsche‘ bzw. ,tschechische / böhmische Nationalität‘, so z.B. auch der Lehrer Franz Kafkas, Matthias Beck.392 Hinweis auf eine gewisse Relevanz der deutsch-tschechischen Auseinandersetzung geben auch einige Anmerkungen der Lehrer zu einzelnen

391

392

Bereits in den 1870er zieht sich die Errichtung der neuen deutschen Volksschule für Mädchen und Jungen in der Neustadt infolge der Beschwerdeführung des Prager Stadtrats, die allerdings vom Landesschulrat immer wieder abgelehnt werden, über mehrere Jahre hin, sodass die Schule nicht 1875/76 sonder erst 1878/79 eröffnet wird (vgl. Rozvoj školství 1891: 24). Vgl. AHMP: NR: Fonds der deutschen Volks- und Bürgerschule für Knaben, Prag-Altstadt, Fleischmarktgasse 1, Nr. 2420, 1870-1945. Schulkatalog, 1885/86, Kl. 3a.

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Schülern, z.B. „Hetzt böhm. Schüler auf die deutschen Kinder“393. Auffällig ist, dass im Verordnungsblatt (1885)394 für das Volksschulwesen, das alle Erlässe zu dessen Regelung jährlich veröffentlicht, eine verpflichtende Angabe der Muttersprache in den Schulkatalogen nicht erwähnt wird und dennoch an allen untersuchten Anstalten in etwa ab 1885/86 diese Information gesammelt wird. Mögliche Auslöser dieses Verhaltens könnten die sprachnationalen Auseinandersetzungen um die Errichtung von Parallelklassen oder neuen Einrichtungen sein, die eine gewisse Mindestanzahl an Schülern der Sprache dieser einen Nationalität erfordern. In gleicher Weise könnte – mit oder ohne Druck seitens der Prager Gemeinde – die zunehmend ausführlichere statistische Dokumentation des Prager Schulwesens und die damit verbundene Forderung nach den individuellen Daten der Schulkinder durch die Statistische Kommission als Ausgangspunkt interpretiert werden. In jedem Falle zeigen handschriftliche Ergänzungen der Lehrkräfte in den Schulkatalogen, dass sie diese Angabe als ,Muttersprache‘ oder gar ,Nationalität‘ auffassen. Abschließend bleibt festzuhalten, dass die Führung des tschechisch dominierten Magistrats im Bereich des Volksschulwesens in Prag eine Politik im Sinne der sprachnationalistischen Ideologie verfolgt. Dazu gehört die Reduzierung der Zahl tschechischer Kinder an deutschen Volksschulen und die Schmälerung der Bedeutung des Deutschunterrichts an den tschechischen Institutionen. Die Finanzierungspflicht der Gemeinde bietet zunächst ein Instrument, um deutsche Schulpolitik in der böhmischen Landeshauptstadt – z.B. die Errichtung neuer Schulbauten oder weiterer Parallelklassen an Einrichtungen mit deutscher Unterrichtssprache – zu verzögern und zu hemmen. Ferner versucht die Prager Gemeinde auf inoffiziellem Wege das ,Sprachverhalten‘ national zu lenken, indem sie gezielt die tschechischen Eltern eruiert, die sich für eine deutsche Ausbildung entscheiden und Druck auf sie ausübt. Die diskutierten ,Bespitzelungsmethoden‘, die Ansätze zur Manipulation der offiziellen Statistik und die Mobilisierung der involvierten Pädagogen demonstriert nicht nur die der Schul- und Sprachwahl zugewiesene nationale Bedeutung. Vielmehr wird dadurch ebenfalls klar, dass die Entscheidung für eine bestimmte Schule und Unterrichtssprache freiwillig, aber in höchstem Grade beobachtet und zum Teil auch angegriffen wird. Abgesehen von den demographischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Transformationsprozessen im Zuge der Industrialisierung (vgl. Kapitel 3) hat sicherlich die lokale politische Führung Einfluss auf das rasche Anwachsen der tschechischen Volksschullandschaft im Betrachtungszeitraum (1870 bis 1900/10) und auf die ab Mitte der 1880er Jahre weitgehende Stagnation des Ausbaus des deutschen Volksschulwesens.

393 394

AHMP: NR: Fonds der deutschen Volks- und Bürgerschule für Knaben, Prag-Altstadt, Fleischmarktgasse 1, Nr. 2420, 1870-1945. Schulkatalog, 1887/88, Kl. 3a. Auch in anderen Jahrgängen ist keine derartige Regelung veröffentlicht.

214

Schulwesen

4.3.1.3

Schüler – nach den offiziellen statistischen Angaben

Im Folgenden wird der domänenspezifische Hintergrund für die Analyse des individuellen Bilingualismus und seine Verbreitung (vgl. Kapitel 5.3) im Prager Kontext konkretisiert. Ausgangspunkt hierfür bietet das Statistische Handbuch von Prag, das ab 1883/84 die Schulkinder der einzelnen Volksschulen nach der Muttersprache und ab 1886/87 – separat – auch nach dem Religionsbekenntnis anführt. Auf Grundlage einer Vollerhebung der jährlichen Angaben wird die Entwicklung der Schülerzahlen an allen öffentlichen Volks- und Bürgerschulen mit deutscher Unterrichtssprache in Prag (I.-VII.) bis 1899/1900 dargelegt.395 Es handelt sich um folgende Anstalten: die Neustädter Volksschule für Jungen und Mädchen, die Kleinseitner Volksschule bei St. Maria de Victoria für Jungen und Mädchen, die Josephstädter Volksschule für Jungen und Mädchen sowie die Altstädter Volks- und Bürgerschule für Jungen und jene für Mädchen. Auch wenn zu bedauern ist, dass die entsprechenden Angaben für die früheren Jahre nicht bekannt sind, so setzt der Betrachtungszeitraum dennoch kurz nach der bedeutenden Teilung der Prager Universität ein, umfasst die ,Hochphase‘ der sprachnationalen, deutsch-tschechischen Auseinandersetzungen in den letzten beiden Dezennien des 19. Jahrhunderts und die Periode der anschwellenden antisemitischen Strömungen und schließt zudem die Volksschuljahre (1889-1893) Franz Kafkas ein. Auf die detaillierte Darstellung der Volks- und Bürgerschulen mit tschechischer Unterrichtssprache wird verzichtet, da zum einen die Untersuchung des Bilingualismus vorwiegend auf dem Material deutscher Volksschulen basiert und zum anderen an den tschechischen Anstalten kaum ein Wandel in der Zusammensetzung der Schülerschaft in Bezug auf Muttersprache und Religionsbekenntnis stattfindet. Die diesbezüglich in den 1890er Jahren auch für die Volks- und Bürgerschulen im Statistischen Handbuch für Prag festgehaltenen Daten zeigen, dass deutsche Muttersprachler nur sehr vereinzelt tschechische Anstalten besuchen und in der Summe in diesem Jahrzehnt nie über 16 Schüler/-innen hinauskommen. Hinsichtlich des Religionsbekenntnisses lässt sich feststellen, dass zwar ein leichter Anstieg der Zahl jüdischer Schüler/-innen zur Jahrhundertwende stattfindet (1889/90: 49; 1899/1900: 179), doch im Vergleich statt 96 immer noch 90 Prozent der jüdischen Volks- und Bürgerschüler/-innen die Einrichtungen mit deutscher Unterrichtssprache wählen (vgl. Statistisches Handbuch 1892-1903). Aus diesen Gründen scheint die Konzentration auf die deutschen Volks- und Bürgerschulen gerechtfertigt. Zunächst zeigen die muttersprachlich und konfessionell undifferenzierten Angaben der Schülerzahlen für die deutschen Volksschulen in Prag von 1871/72 bis 395

Die Darstellungen erfolgen auf Grundlage einer Vollerhebung der Angaben im Statistischen Handbuch 1892-1903 für die Schuljahre 1889/90 bis 1899/1900. Für den früheren Zeitraum (1883/84 bis 1888/89) stammen die Zahlen aus AHMP: MHMP I, Hlavní spisovna 1784-1920, odd. C, 1891-1900, C24/3, kt. 538. Sie existieren nur für die Schulen mit deutscher Unterrichtssprache.

Schulwesen

215

1882/83396, dass das öffentliche Volksschulwesen mit deutscher Unterrichtssprache im Schuljahr nach der Teilung der Universität einen Einbruch der Schülerzahlen erfährt (von 4010 auf 3792 Kinder), der bis in die zweite Hälfte der 1880er Jahre anhält (1887/88: 3537 Kinder). Zum einen ist zu vermuten, dass das Hoch der tschechisch nationalen Bewegung in Prag zu Beginn des Jahrzehnts und unter Umständen auch die Eingemeindung der Vororte Vyšehrad (1883) und Holešovice-Bubny (1884) und damit der Verstärkung des tschechischen Elements in Prag bereits eine leichte Abwanderung unter der deutschen Bevölkerung einleitet bzw. deren Zuzug in die böhmische Landeshauptstadt abschreckt und nach Wien verlagert. Zum anderen dominiert unter der tschechischen Bevölkerung in diesen Jahren die Realisierung nationaler Werte und damit die Wahl der tschechischen Unterrichtssprache. Allerdings scheint sich diese Einstellung angesichts der bestehenden Dominanz des Deutschen auf politischem, wirtschaftlichem und auch gesellschaftlichem Terrain (vgl. hierzu Kapitel 3) kurzfristig wieder zu ,normalisieren‘ (1889/90: 3884 Kinder). Der Anteil der Schüler mit tschechischer Muttersprache nimmt relativ und absolut wieder zu (1890/91: 41 % bei 1593 Schulkindern). Mittelfristig geht die Bedeutung des öffentlichen deutschen Volksschulwesens jedoch zurück (1899/1900: 2932 Kinder), dies zeigt sich in einer sinkenden Nachfrage sowohl der ,Tschechen‘ (1899/1900: 952 Kinder) als auch ,Deutschen‘ (1899/1900: 1961 Kinder) (vgl. Abbildung 1: 216; vgl. auch Cohen 1981: 110).397 Nach dem Religionsbekenntnis teilt sich die Schülerschaft an den deutschen Unterrichtsanstalten in etwa zur Hälfte in Kinder mit katholischem und jüdischem Glauben. Von 1886/87 bis Anfang der 1890er überwiegt leicht der katholische Anteil, nach einem knappen Vorsprung im Jahr 1892/93 (um 0,5 %) – hier geht die absolute Zahl der katholischen Schüler im Vergleich zum Vorjahr um fast 200 Schüler zurück (von 1950 auf 1755) – bilden ab dem Jahr 1894/95 die jüdischen Schüler konstant die Mehrheit (51,7 %), mit steigender Tendenz gegen Ende des Jahrhunderts.398 Wie sich die Verhältnisse an den einzelnen Einrichtungen mit deutscher Unterrichtssprache entwickeln, soll im Folgenden kurz dargestellt werden.

396 397

398

Die Schulkinder werden je Einrichtung, aufgeteilt nach Jungen und Mädchen, angegeben (vgl. Statistická příruční knížka 1872-1881; Statistisches Handbuch 1883, 1884). Schulkinder nichtdeutscher und nichttschechischer Muttersprache sowie nichtjüdischen und nichtkatholischen Glaubensbekenntnisses werden im Folgenden auf Grund ihres geringen Anteils von weniger als einem Prozent vernachlässigt. Das ,Zwischenhoch‘ der Katholiken ist unter Umständen nur auf einen Druckfehler im Statistischen Handbuch zurückzuführen (vgl. Anm. 403: 220), sodass die jüdische Schüler bereits ab 1892/93 die dauerhafte Mehrheit an den deutschen Volks- und Bürgerschulen in Prag bildet.

216

Schulwesen

Abbildung 1: Schulkinder nach der Muttersprache und dem Religionsbekenntnis an den Volks- und Bürgerschulen mit deutscher Unterrichtssprache in Prag von 1883/84 bis 1899/1900 (in %) 80%

70%

Anteil der Schulkinder

60%

50%

40%

30%

20%

10%

18 99 /1 90 0

18 98 /9 9

18 97 /9 8

18 96 /9 7

18 95 /9 6

18 94 /9 5

18 93 /9 4

18 92 /9 3

18 91 /9 2

18 90 /9 1

18 89 /9 0

18 88 /8 9

18 87 /8 8

18 86 /8 7

18 85 /8 6

18 84 /8 5

18 83 /8 4

0%

Schuljahr tschechisch

deutsch

katholisch

mosaisch

Quelle: Vgl. Statistisches Handbuch 1887-1903; eigene Berechnung.

4.3.1.3.1

Neustädter Volksschule mit deutscher Unterrichtssprache

Die Neustädter Volksschule mit deutscher Unterrichtssprache in Prag (vgl. Abbildung 2: 217) besuchen zu Beginn des betrachteten Zeitraums 921 Jungen und Mädchen (1883/84), ihr Maximum erreicht die Schülerschaft mit 979 Kindern im Jahr 1890/91 und sinkt bis zur Jahrhundertwende auf eine minimale Größe von 765 Kindern. Diese Entwicklung entspricht genau den durchschnittlichen Tendenzen der Schülerzahlen an den deutschen Prager Volks- und Bürgerschulen. Was die Verteilung nach dem Religionsbekenntnis betrifft, so geben bis zum Schuljahr 1892/93 fast drei Viertel der Schülerschaft (ca. 71 bis 75 %) katholisch als Religionsbekenntnis an. Zum Ende des Jahrhunderts nimmt ihr Anteil nahezu kontinuierlich ab und sinkt auf 61 Prozent im Jahr 1899/1900, was jedoch – im Gegensatz zur Gesamtentwicklung an den Volks- und Bürgerschulen mit deutscher Unterrichtssprache – für die Neustädter Einrichtung noch immer eine überwiegende Mehrheit an katholischen Schülern bedeutet. Die Zusammensetzung der Schülerschaft nach der Muttersprache dagegen ist im gleichen Zeitabschnitt von keiner einheitlichen Tendenz, allerdings auch von keinen großen Veränderungen gekennzeichnet. Der Anteil der deutschen Muttersprachler bewegt sich zwischen 50 (1889/90) und 62 Prozent (1893/94), Minimum und Maximum liegen folglich nur fünf Jahre auseinander. Sie gründen insbesondere auf dem Zu- und Abgang tschechischer Muttersprachler, deren Zahl 1889/90 um knapp 60 Schulkinder auf 463 ansteigt und zum Schuljahr 1893/94 um 70 Schulkinder auf 330 sinkt und auf diesem Niveau in etwa bleibt (+/- 20). Die Abnahme tschechischer Muttersprach-

217

Schulwesen

ler im zweiten Fall wird außerdem durch eine leichte Zunahme der deutschen Schulkinder begleitet (von 488 auf 527 – auch das absolute Maximum), sodass sich daraus der minimale Anteil tschechischer Muttersprachler an der deutschen Neustädter Volksschule ergibt. Im Vergleich mit der Gesamtentwicklung an den Volks- und Bürgerschulen mit deutscher Unterrichtssprache in Prag liegt der Anteil tschechischer Muttersprachler an der Neustädter Einrichtung über den gesamten Zeitraum hinweg in etwa 10 Prozent über dem Durchschnitt. Mit Blick auf Religionsbekenntnis und Muttersprache lässt sich feststellen, dass ähnlich wie in der Gesamtentwicklung zumindest parallele Tendenzen von jüdischen und deutschen auf der einen und katholischen und tschechischen Schulkindern auf der anderen Seite vorhanden sind und diese in etwa mit dem zeitlichen Verlauf der Gesamtentwicklung übereinstimmen. Insbesondere in der Phase von 1890/91 bis 1893/94 verzeichnen Erstere Zuwachs, während Letztere kontinuierlich weniger werden. Zum Schuljahr 1896/97 tritt dann der entgegengesetzte Fall ein, der Anteil jüdischer und deutscher Schulkinder sinkt leicht, während katholische und tschechische Schulkinder zunehmen. Fazit: Neustädter Volksschule – katholisch und deutsch dominiert, aber katholische Schülerschaft über längeren Zeitraum bereits rückläufig, während die Zahl der Juden wächst; das Verhältnis Deutscher und Tschechen verläuft gegen Ende des Jahrhunderts relativ gleichmäßig; der Anteil der katholischen und tschechischen Schülerschaft liegt etwas über dem Durchschnitt aller Volksschulen mit deutscher Unterrichtssprache, die Entwicklungstendenzen stimmen allerdings überein; Abbildung 2: Deutsche Neustädter Volks- und Bürgerschule – Schüler/-innen nach der Muttersprache und dem Religionsbekenntnis von 1883/84 bis 1899/1900 (in %) 80%

70%

Anteil der Schulkinder

60%

50%

40%

30%

20%

10%

Schuljahr tschechisch

deutsch

katholisch

Quelle: Vgl. Statistisches Handbuch 1887-1903; eigene Berechnung.

mosaisch

18 99 /1 90 0

18 98 /9 9

18 97 /9 8

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18 95 /9 6

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18 90 /9 1

18 89 /9 0

18 88 /8 9

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18 86 /8 7

18 85 /8 6

18 84 /8 5

18 83 /8 4

0%

218

Schulwesen

4.3.1.3.2

Kleinseitner Volksschule mit deutscher Unterrichtssprache

Die Größe der Schülerschaft an der zahlenmäßig kleinsten399, der Kleinseitner Volksschule mit deutscher Unterrichtssprache in Prag (vgl. Abbildung 3: 220), verringert sich im Laufe des betrachteten Zeitraums um mehr als ein Drittel, von (maximal) 466 im Schuljahr 1883/84 auf 305 Schulkinder zur Jahrhundertwende. Entsprechend der Tendenz der Gesamtentwicklung (und auch den Bewegungen an der Neustädter Volksschule) nimmt die Zahl der Schulkinder Mitte der 1880er deutlich ab (von 466 auf 318), steigt um 1890 nochmals an (1891/92: 414), um danach langsam, aber beständig abzusinken. Unter Berücksichtigung der Muttersprache wird diese Entwicklung wesentlich von der tschechischsprachigen Schülerschaft verursacht. Dies ist kaum erstaunlich, da die Kleinseitner Volksschule trotz ihrer deutschen Unterrichtssprache eine Mehrheit an tschechischen Schülern besitzt.400 Die Verteilung auf Deutsche und Tschechen ist über die gesamte Zeitspanne hinweg relativ konstant, wobei zu Ersteren meist zwischen 35 und 45 Prozent der Schülerschaft zählen. Der abrupte Rückgang der Zahl deutscher Schulkinder zum Schuljahr 1883/84 (von 235 auf 153) ist allen Volksschulen mit deutscher Unterrichtssprache gemein und könnte auf eine Abwanderungswelle deutschsprachiger Bevölkerungsteile aus Prag hinweisen, denn zumindest im Falle der Kleinseite ist die potenzielle Assimilierung einer jüdischen Bevölkerung ausgeschlossen (vgl. Kapitel 3.1.1.2). Desgleichen findet an allen öffentlichen deutschen Volksschulen gegen Ende des Jahrzehnts ein auffälliger Anstieg an tschechischen Muttersprachlern statt – an der Kleinseitner wird das Maximum im Schuljahr 1891/92 (65 %) erreicht401 –, der eine gewisse Ernüchterung gegenüber den nationalen Erfolgen Anfang der 1880er signalisiert. Mit dem politischen Machtgewinn der radikaleren Jungtschechen und einer erneuten Demonstration nationaler Stärke im Rahmen der Jubiläumsausstellung (1891) wird diese Tendenz wieder etwas relativiert. Die deutlich steigende Tendenz zur Jahrhundertwende – nach dem Scheitern der Badenischen Sprachenverordnungen – beruht sowohl auf einer erneuten Zunahme der tschechischen (von 153 auf 186) als auch einer Abnahme der deutschen Muttersprachler (von 144 auf 119). Die Aufteilung der Schülerschaft nach dem Religionsbekenntnis lässt ebenfalls eine Besonderheit der Einrichtung erkennen, denn als einzige staatlich öffentliche Volksschule402 mit deutscher Unterrichtssprache in Prag wird sie fast ausschließ399 400 401 402

Zum Schuljahr 1871/72 ist die deutsche Kleinseitner Volksschule mit 423 Kindern noch die zahlenmäßig stärkste deutsche Volksschule (vgl. Statistisches Handbüchlein 1873: 92). Eine Ausnahme hiervon ist das erste dokumentierte Schuljahr (1883/84), in dem mit 235 Schulkindern die Deutschen noch eine knappe Mehrheit (gegenüber 231 Tschechen) bilden. Die Grundlage hierfür wird zwei Jahre zuvor geschaffen, als sich die Zahl der tschechischen Muttersprachler um 50 erhöht. Insbesondere Privatschulen mit Öffentlichkeitsrecht für Mädchen, die von kirchlichen Trägern geleitet werden, unterrichten auch ausschließlich katholische Schülerinnen (vgl. Fleischmann 2007: 193).

Schulwesen

219

lich von Katholiken besucht. Ihr Anteil beträgt zwischen 92 (1898/99) und 98 Prozent (1886/87 bis 1889/90), während auf der anderen Seite 24 Schulkinder mosaischen Bekenntnisses im Jahr 1898/99 bereits das Maximum darstellen. Hauptursache hierfür ist die Tatsache, dass in der Schulgemeinde kaum jüdische Bevölkerung angesiedelt ist, so gibt etwa das Statistische Handbuch für den Stadtteil Kleinseite im Jahr 1890 nur 112 Personen mosaischen Glaubensbekenntnisses an – im Gegensatz zu über jeweils 6500 in der Altstadt und der Neustadt (vgl. Statistisches Handbuch 1892: 63; Kapitel 3.1.1.2). Was die jährlichen Veränderungen der Zusammensetzung der Schülerschaft an der Kleinseitner Volksschule angeht, betreffen diese mit Ausnahme der beiden auffälligen Entwicklungen zu Beginn und am Ende des Betrachtungszeitraumes vorrangig die tschechische und die katholische Schülerschaft. Auf Grund der geringen Zahl jüdischer Kinder ist jegliche Parallelität im konfessionellen und sprachlichen Mischungsverhältnis wenig aussagekräftig. Im Gegensatz zur durchschnittlichen Zusammensetzung an den deutschen Prager Volks- und Bürgerschulen liegt mit der Kleinseitner Volksschule eine fast rein katholische Einrichtung vor, die ab Mitte der 1880er einen relativ konstanten Anteil an deutschen Muttersprachlern vorweist, diese befinden sich jedoch im gesamten Betrachtungszeitraum den tschechischen Muttersprachlern gegenüber in der Minderheit. Die in der zweiten Hälfte der 1890er Jahre sich abzeichnende Angleichung der Deutschen und Tschechen endet mit dem Jahr 1899/1900 und dem erneuten Übergewicht der tschechischsprachigen Schülerschaft. Ihr Anteil liegt im Vergleich mit der Gesamtentwicklung an den Volks- und Bürgerschulen mit deutscher Unterrichtssprache in Prag etwa 20 Prozent über dem Durchschnitt. Fazit: Kleinseitner Volksschule – fast rein katholische Schule, auch mit einer Mehrheit an tschechischen Muttersprachlern; sehr geringer Anteil an jüdischen Schülern; Anteil der deutschen Muttersprachler in absoluten Zahlen relativ konstant;

220

Schulwesen

Abbildung 3: Deutsche Kleinseitner Volksschule – Schüler/-innen nach der Muttersprache und dem Religionsbekenntnis von 1883/84 bis 1899/1900 (in %) 100% 90% 80%

Anteil der Schulkinder

70% 60% 50% 40% 30% 20% 10%

99

98

97

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18 97 /

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18 92 /

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89

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18 90 /

18 89 /

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18 87 /

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85

18 85 /

18 84 /

18 83 /

84

0%

Schuljahr tschechisch

deutsch

katholisch

mosaisch

Quelle: Vgl. Statistisches Handbuch 1887-1903; eigene Berechnung.

4.3.1.3.3

Josephstädter Volksschule mit deutscher Unterrichtssprache

Die Josephstädter Volksschule mit deutscher Unterrichtssprache in Prag (vgl. Abbildung 4: 222) ist nach der Volksschule in der Kleinseite die Unterrichtsanstalt mit den wenigsten Schülern und Schülerinnen. Der Verlauf der Gesamtschülerzahlen ist vergleichbar mit jenem der anderen Einrichtungen, denn auch hier geht die Größe der Schülerschaft im Laufe der 1880er zunächst zurück (von 622 im Jahr 1883/84 bis auf 547 im Jahr 1888/89), erreicht im Jahr 1891/92 einen neuen Höhepunkt (592) und tritt anschließend in eine andauernde Regressionsphase ein. Zur Jahrhundertwende besuchen noch 402 Schulkinder die Institution. Die Schulkinder mosaischen Glaubensbekenntnisses bilden von 1883/84 an eine deutliche Mehrheit (zwischen 73 und 84 %). Eine Ausnahme hiervon ist das Jahr 1893/94, als ein plötzlicher Abfall auf 62 Prozent dokumentiert ist. Im darauffolgenden Jahr ist allerdings wieder exakt das Vorjahresniveau von 81 Prozent erreicht.403 Im Vergleich mit der gesamten Schülerschaft an den deutschen Prager Volks- und Bürgerschulen ist der Anteil der Schulkinder mosaischen Bekenntnisses an der Josephstädter Volksschule dauerhaft 20 bis 30 Prozent höher. Dies 403

Ein Druckfehler im Statistischen Handbuch kann hierbei nicht ausgeschlossen werden und ist sogar naheliegend. Daher wird dieser extreme Ausschlag in der folgenden Analyse vernachlässigt. Er würde bedeuten – da die Zahl der mosaischen Schulkinder und tschechischen Muttersprachler drastisch zurückgeht, jene der katholischen Schulkinder und deutschen Muttersprachler aber deutlich ansteigt – dass plötzlich einige katholische, deutsche Muttersprachler eintreten und jüdische, tschechische Muttersprachler austreten, denn die Gesamtzahl der Schülerschaft ändert sich kaum.

Schulwesen

221

entspricht der Tatsache, dass 33 Prozent der Josephstädter Bevölkerung sich im Jahr 1890 zum Judentum bekennen (vgl. Statistisches Handbuch 1892: 63).404 Auffällig ist, dass sich die Juden auf Grund ihrer dominierenden Zahl in jedem Fall auf deutsche wie tschechische Muttersprachler aufteilen. Die deutsche Schülerschaft überwiegt in der gesamten Periode. Ihr maximaler Anteil mit 79 Prozent liegt am Anfang des Zeitabschnitts. Danach folgt allerdings – wie in der Gesamtentwicklung – ein lange andauernder Rückgang bis 1890/91 auf 55 Prozent, der sowohl durch eine Abnahme deutscher (um 154) als auch eine Zunahme tschechischer Muttersprachler (um 120) bedingt ist. Letztere wird sicherlich durch die Eingemeindung des vorrangig tschechischen Holešovice-Bubny (1884) und die Zuteilung des neuen Prager Stadtviertels zur Schulgemeinde der Josephstädter Einrichtung im Rahmen des deutschen Prager Schulbezirks beeinträchtigt (vgl. Verwaltungsbericht Beilage 1894: 3).405 Den krassen Anstieg deutscher Muttersprachler zum Schuljahr 1893/94 auf wiederum 73 Prozent rufen die entgegengesetzten Entwicklungen auf beiden Seiten hervor (Abnahme der Tschechen um 86; Zunahme der Deutschen um 83). Im weiteren Verlauf bleibt die Zahl tschechischer Muttersprachler bis zur Jahrhundertwende relativ beständig (ca. 135). In gleicher Weise stabil ist die Zahl der Katholiken – im Laufe der 1890er immer ca. 110 Schulkinder – und somit ihre Zunahme durch den deutlichen Rückgang der Juden begründet (von 458 in 1891/92 auf 308 in 1899/1900). Tendenziell verlaufen die Veränderungen in der religiösen und sprachlichen Mischung der Schülerschaft parallel, der Rückgang mosaischer Schulkinder wird begleitet von einer Abnahme deutscher Muttersprachler. Mit der heranrückenden Assanierung der Josefstadt schlägt sich hier offensichtlich der Wegzug der bessergestellten ,deutschen‘ Juden in die neuen Wohngegenden der Königlichen Weinberge und der Neustadt in der zweiten Hälfte der 1890er Jahre nieder. Es steht außer Frage, dass diese zu den Wohlstandsvierteln in Prag zählen, gleichfalls lebt dort aber auch schon eine jüdische Kommunität, deren Anziehungskraft in Zeiten des wachsenden Antisemitismus sicher nicht zu unterschätzen ist. Fazit: Josephstädter Volksschule – jüdisch und deutsch dominiert, mit einem ,klassischen‘ Anstieg der tschechischen Muttersprachler um 1890/91, der allerdings zum Schuljahr 1893/94 wieder abrupt endet; Anteil der Tschechen und Katholiken relativ konstant, dagegen beständige Abnahme der Deutschen und Juden, dadurch leichte Annäherung, wobei der jüdisch-deutsche Charakter der Anstalt 404

405

Im Vergleich zur religiösen Zusammensetzung der anderen Stadtviertel, in denen die jüdische Bevölkerung bis auf die Neu- (9 Prozent) und Altstadt (16 Prozent) nur null bis zwei Prozent beträgt, weist die Josefstadt den relativ größten Anteil an jüdischen Einwohnern aus, allerdings ist dieser binnen 10 Jahren gegenüber dem Jahr 1880 um 12 Prozent, um mehr als 1000 jüdische Bewohner, gesunken (vgl. Statistisches Handbuch 1892: 63; Tabelle 5: 120). Schon der unmittelbare Anstieg der Gesamtschülerzahl an der Josephstädter Volksschule vom Schuljahr 1882/83 (464 Kinder) zum Folgejahr (622 Kinder), also zeitgleich mit der Eingemeindung, verweist auf die Nachfrage nach deutscher Schulbildung in Holešovice-Bubny.

222

Schulwesen

weiterhin deutlich überwiegt; Aufteilung nach der Muttersprache liegt in etwa im Durchschnitt der deutschen Volksschulen in Prag; Abbildung 4: Deutsche Josephstädter Volksschule – Schüler/-innen nach der Muttersprache und dem Religionsbekenntnis von 1883/84 bis 1899/1900 (in %) 90% 80%

Anteil der Schulkinder

70% 60% 50% 40% 30% 20% 10%

18 99 /1 90 0

18 98 /9 9

18 97 /9 8

18 96 /9 7

18 95 /9 6

18 94 /9 5

18 93 /9 4

18 92 /9 3

18 91 /9 2

18 90 /9 1

18 89 /9 0

18 88 /8 9

18 87 /8 8

18 86 /8 7

18 85 /8 6

18 84 /8 5

18 83 /8 4

0%

Schuljahr tschechisch

deutsch

katholisch

mosaisch

Quelle: Vgl. Statistisches Handbuch 1887-1903; eigene Berechnung.

4.3.1.3.4

Altstädter Volks- und Bürgerschule für Mädchen mit deutscher Unterrichtssprache

Die deutschen Altstädter Volks- und Bürgerschulen für Jungen und Mädchen sind bereits seit den 1870er Jahren die zahlenmäßig stärksten Lehranstalten mit deutscher Unterrichtssprache. An der Mädchenschule (vgl. Abbildung 5: 224) sind ab Mitte der 1870er Jahre meist über 1000 Schülerinnen eingeschrieben. Gegen Ende des Jahrhunderts sinkt ihre Zahl – wie an den anderen deutschen Schulen – schrittweise auf etwa 800. Von 1893/94 bis 1897/98 verzeichnet die Schule den heftigsten Einbruch, die Besuchszahlen sinken von 1016 auf 804, wobei der Rückgang in den ersten beiden Jahren fast ausschließlich tschechische Muttersprachlerinnen betrifft. Der seit Mitte der 1880er Jahre bestehende jüdische Charakter der Schule verstärkt sich im Zeitverlauf, der Anteil der Juden an der Schülerschaft steigt von 57 auf 69 Prozent. Dieser basiert auf relativ stabilen Schülerinnenzahlen, die sich zu Beginn um 620 bewegen, 1889/90 ihr Maximum (663 Jüdinnen) erreichen und dann – aber nur sehr leicht – zurückgehen (558 Jüdinnen zur Jahrhundertwende). Dadurch, dass im Gegenzug die Zahl katholischer Schülerinnen, die ebenfalls 1889/90 mit 502 Mädchen ihren Höchststand erreicht, aber weitaus deutlicher abnimmt (257 zur Jahrhundertwende), gewinnt die jüdische Schülerschaft ein klareres Übergewicht.

Schulwesen

223

In Bezug auf die Muttersprache ist die Verteilung an der Mädchenschule noch eindeutiger, denn der Anteil der deutschen Muttersprachlerinnen bewegt sich zwischen 65 (1884/85 und 1890/91) und 75 Prozent (1895/96 bis 1898/99) und ist ebenfalls mit relativ konstanten Besuchszahlen (1883/84: 727; 1889/90: 788 – Max.; 1899/1900: 607) der Deutschen und einer starken Abnahme der tschechischen Muttersprachlerinnen (1883/84: 315; 1889/90: 389 – Max.; 1899/1900: 213) verbunden. Auch wenn auf Grund der jeweiligen deutlichen Mehrheit von deutschen und jüdischen Schülerinnen und des offensichtlichen Rückgangs tschechischer wie katholischer Schülerinnen davon auszugehen ist, dass parallele Tendenzen in den beiden ,Paarungen‘ bestehen, zeigt die Entwicklung der Jahre 1886/87 bis 1890/91, dass insbesondere Änderungen in der deutsch-katholischen Schülerschaft stattfinden.406 Im Vergleich mit der gesamten Schülerschaft an den deutschen Prager Volks- und Bürgerschulen ist der Anteil deutscher Muttersprachlerinnen an der Einrichtung bis zu 10 Prozent und jener der Schülerinnen mosaischen Glaubensbekenntnisses um 9 bis 16 Prozent höher, der Anteil tschechischer und katholischer Mädchen liegt dementsprechend unter dem Durchschnitt. Fazit: Altstädter Volks- und Bürgerschule für Mädchen – Schülerinnen mehrheitlich deutscher Muttersprache und fast ebenso klar vorrangig jüdisch; nach kurzer Annäherung Ende der 1880er und Anfang der 1890er intensiviert sich deren Dominanz gegen Ende des Jahrhunderts;

406

So bleiben beispielsweise die Zahlen der tschechischen und jüdischen Schülerinnen zum Schuljahr 1887/88 in etwa gleich, während sowohl deutsche (um 42) als auch katholische (um 40) Schülerinnen weniger werden (ähnliche Situation zum Schuljahr 1890/91). Im Folgejahr 1888/89 verzeichnen zwar alle Kategorien Zuwachs, doch die Zahl deutscher (um 62) und katholischer (um 80) Mädchen steigt um einiges stärker an als jene tschechischer (um 30) und jüdischer (um 9).

224

Schulwesen

Abbildung 5: Altstädter Volks- und Bürgerschule für Mädchen – Schülerinnen nach der Muttersprache und dem Religionsbekenntnis von 1883/84 bis 1899/1900 (in %) 80%

70%

Anteil der Schulkinder

60%

50%

40%

30%

20%

10%

18 99 /1 90 0

18 98 /9 9

18 97 /9 8

18 96 /9 7

18 95 /9 6

18 94 /9 5

18 93 /9 4

18 92 /9 3

18 91 /9 2

18 90 /9 1

18 89 /9 0

18 88 /8 9

18 87 /8 8

18 86 /8 7

18 85 /8 6

18 84 /8 5

18 83 /8 4

0%

Schuljahr tschechisch

deutsch

katholisch

mosaisch

Quelle: Vgl. Statistisches Handbuch 1887-1903; eigene Berechnung.

4.3.1.3.5

Altstädter Volks- und Bürgerschule für Knaben mit deutscher Unterrichtssprache

An der deutschen Altstädter Volks- und Bürgerschule für Knaben in Prag (vgl. Abbildung 6: 225) entwickeln sich die Schülerzahlen im Trend der anderen Einrichtungen mit deutscher Unterrichtssprache. Im Schuljahr 1883/84, unmittelbar nach der Teilung der Universität, geht die Zahl der Schüler an der deutschen Anstalt um über 200 (1882/83: 949, 1883/84: 745) zurück, steigt aber bis 1891/92 (822 Jungen) wieder leicht an. Zunächst ist hierfür ein schwungvoller Anstieg tschechischer Muttersprachler verantwortlich (von 149 auf 227 zum Schuljahr 1884/85), dem schließlich nach einer fünfjährigen Regressionsphase (von 625 auf 526 zum Schuljahr 1886/87) ein Zuwachs deutscher Muttersprachler folgt. Im Laufe der 1890er Jahre verringert sich die Schülerzahl – sowohl Deutsche (um 73) als auch Tschechen (um 128) betreffend – wieder kontinuierlich bis auf 621 im Schuljahr 1899/1900.407 Die Verteilung nach dem Religionsbekenntnis gleicht der Situation an der Altstädter Mädchenschule, denn die jüdische Schülerschaft besitzt vom ersten Jahr (1886/87) an die Mehrheit, die – auf einer relativ stabilen Schülerzahl von etwa 420 bis 450 Jungen beruhend – im Laufe der Zeit von 55 auf 69 Prozent ausgebaut wird. Der Einbruch der katholischen Schülerschaft ist bei den Jungen im Gegen407

Eine Ausnahme bildet das Jahr 1895/96, als im allgemeinen Aufwärtstrend der deutschen Schulen Mitte der 1890er nochmals ein Zuwachs (um 47 auf 708) – aufgeteilt auf deutsche und tschechische Muttersprachler sowie Juden und Katholiken – zu verzeichnen ist.

225

Schulwesen

satz zur Mädchenschule (1895/96 bis 1897/98) Anfang der 1890er anzusiedeln, als ihre Zahl binnen zwei Jahren von 331 (1891/92) auf 233 (1893/94) sinkt. Gegen Ende des Jahrhunderts bleibt eine fallende Tendenz bestimmend. Wiederum vergleichbar mit den Verhältnissen an der Mädchenschule ist die Dominanz der deutschen Muttersprachler an der Altstädter Volks- und Bürgerschule für Knaben. Ihr Anteil bewegt sich zwischen 68 (1888/89) und 84 Prozent (1899/1900). Obgleich auch an der Jungenschule die Vermutung nahe liegt, dass deutsche und jüdische Schülerschaft nicht zuletzt infolge ihrer Größe tendenziell dieselben Änderungen durchlaufen, kann es mit Hilfe dieses Materials nicht eindeutig belegt werden. Gegenüber der Gesamtentwicklung der Schülerschaft an den deutschen Volks- und Bürgerschulen in Prag lässt sich für die Unterrichtsanstalt in der Altstadt feststellen, dass der Anteil tschechischer Muttersprachler meist deutlich unter dem Durchschnitt (um 5 bis 16 %) und der Anteil der Schulkinder mit mosaischer Religion in diesem Maße über dem Durchschnitt (um 7 bis 16 %) liegt. Damit wird auch die Altstädter Jungenschule vorrangig und jährlich zunehmend von deutschen und jüdischen Schulkindern besucht. Fazit: Altstädter Volks- und Bürgerschule für Knaben – Schüler mehrheitlich und zunehmend deutscher Muttersprache und mosaischen Glaubensbekenntnisses; dominierende Mehrheit jüdischer und deutscher Schüler, deren absolute Anzahl relativ konstant bleibt, ist wesentlich von Abnahme katholischer und tschechischer Schüler bestimmt; Abbildung 6: Deutsche Altstädter Volks- und Bürgerschule für Jungen – Schüler nach der Muttersprache und dem Religionsbekenntnis von 1883/84 bis 1899/1900 (in %) 90% 80%

Anteil der Schulkinder

70% 60% 50% 40% 30% 20% 10%

Schuljahr tschechisch

deutsch

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Quelle: Vgl. Statistisches Handbuch 1887-1903; eigene Berechnung.

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226

4.3.1.3.6

Schulwesen

Zusammenfassung

Dadurch, dass an den beiden Institutionen in der Altstadt sehr ähnliche Verhältnisse herrschen und sie während des ganzen Betrachtungszeitraums in etwa die Hälfte der Schülerschaft an den Einrichtungen mit deutscher Unterrichtssprache stellen, bestimmen sie wesentlich den Trend der Gesamtentwicklung. Abgesehen davon, dass der deutsche und jüdische Charakter an den Altstädter Schulen ausgeprägter ist und in der Gesamtschau die jüdische Schülerschaft erst zum Schuljahr 1894/95 die absolute und dauerhafte Mehrheit erreicht, stimmt die ,Rangordnung‘ – betrachtet man die Gruppen einzeln – in der Gesamtentwicklung nur mit jener der Altstädter Einrichtungen überein. Entsprechend der Anzahl der Schulkinder ergibt sich nachstehende Reihe: deutsch – jüdisch – katholisch – tschechisch. An den drei anderen Schulen ist die Verteilung nach dem Religionsbekenntnis einschneidender, sodass an erster Stelle der Folge sich die katholische (– tschechische – deutsche – jüdische: Kleinseitner Volksschule; – deutsche – tschechische – jüdische: Neustädter Volksschule) oder die jüdische (– deutsche – tschechische – katholische: Josephstädter Volksschule) Gruppe befindet. Das heißt, auch wenn in der Gesamtentwicklung der Schülerschaft an den deutschen Prager Volks- und Bürgerschulen der Anteil der Deutschen immer zwischen 19 und 36 Prozent über jenem der Tschechen liegt, so ist die Situation an den einzelnen Einrichtungen doch sehr unterschiedlich. Die Neustädter und etwas gemäßigter die Kleinseitner Volksschule können am ehesten – in sprachnationaler Hinsicht – als ,gemischte‘ Schulen bezeichnet werden, denn die jeweiligen Anteile bewegen sich im groben Rahmen von 40 bis 60 Prozent. Dabei gilt jedoch nochmals hervorzuheben, dass an der Schule in der Kleinseite, einer Einrichtung mit deutscher Unterrichtssprache, die tschechische Schülerschaft die Mehrheit besitzt, die sich auf Grund der geringen Zahl jüdischer Schüler vorrangig auch aus der katholischen Schülerschaft rekrutiert. Die Schulen in der Altstadt sowie die Josephstädter Volksschule dagegen haben dauerhaft eine eindeutige deutsche Mehrheit, die den Anteil der Tschechen um meist mehr als 50 Prozent übertrifft. Hiervon auszunehmen sind die Jahre 1890 bis 1892 an der Einrichtung in der Josefstadt, als sich die beiden sprachnationalen Gruppen kurzfristig stark annähern und der Anteil der Deutschen auf 56 bis 58 Prozent sinkt. Der Anstieg tschechischer Muttersprachler ist in dieser Zeit jedoch an allen Anstalten mit deutscher Unterrichtssprache zu beobachten und ist mit einer gewissen Ernüchterung nach der „frische[n] Konjunktur tschechischen Siegesbewusstseins“ (Stölzl 1975: 51) Anfang der 1880er, verstärkt durch das Scheitern eines böhmischen Ausgleichs und die sozialen Unruhen in Prag Anfang der 1890er Jahre, zu erklären. Mit der Etablierung der jungtschechischen Partei und der Forderung zur Einführung des Tschechischen als innerer Amtssprache, die schließlich in den Badenischen Sprachenverordnungen gipfelt, entscheiden sich im Laufe der 1890er Jahre weniger tschechische Muttersprachler für eine deutsche Schulausbildung. Dass ihr Gesamtrückgang an den deutschen Unter-

Schulwesen

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richtsanstalten dennoch mäßig ausfällt, ist einerseits durch die weiterhin noch gültige Dominanz des Deutschen auf wirtschaftlichem, gesellschaftlichem und politischem Gebiet (vgl. Kapitel 3.2) und den Optionen, die eine deutsche Schulbildung bietet, zu erklären. Andererseits könnte sicherlich auch die über die Angabe der Muttersprache ,nach außen‘ transportierte Assimilierung zum Tschechentum seitens der jüdischen Schulkinder eine mäßigende Wirkung auf ein zu rasches Absinken der Zahl tschechischer Muttersprachler haben.408 Mit Blick auf die Streuung des Religionsbekenntnisses in der Gesamtentwicklung zeigt sich ein sehr ausgeglichenes Verhältnis von Katholiken und Juden an den deutschen Prager Schulen, die jeweiligen Anteile bewegen sich zwischen 44 und 55 Prozent. Jedoch ist eine derartige Parität der Schülerschaft beider Religionsbekenntnisse an keiner der Volks- und Bürgerschulen mit deutscher Unterrichtssprache in Prag vorhanden. Vielmehr besteht immer eine deutliche Mehrheit der Schülerschaft des einen oder anderen Glaubens. Meist wird deren Dominanz im Laufe des Betrachtungszeitraums sogar verstärkt.409 An der Neustädter und insbesondere der Kleinseitner Volksschule überwiegt im Gegensatz zu den anderen Unterrichtsanstalten die katholische Schülerschaft, die v.a. aber an Erstgenannter im Laufe der Zeit zurückgeht, während die Zahl der Juden zunimmt und so die Neustädter nicht nur in sprachnationaler sondern auch konfessioneller Hinsicht als ,gemischt‘ bezeichnet werden kann. Die Volksschulen mit deutscher Unterrichtssprache in Prag besitzen demnach kein einheitliches, für alle Einrichtungen gültiges Gefüge, sondern jede Schule hat ihren eigenen Charakter, der im Laufe des Betrachtungszeitraumes zwar seine Ausprägung wandelt, jedoch verändert sich an keiner Anstalt besagte ,Rangordnung‘.410 Auffällige Bewegungen der Schülerzahlen betreffen meist alle Einrichtungen, womit ein ,Austausch‘ der Schülerschaft innerhalb der deutschen Volks- und Bürgerschulen sehr unwahrscheinlich ist. Bei einer Betrachtung der jährlichen Veränderungen der Zusammensetzung der Schülerschaft ergibt sich, dass über den Zeitraum von 1883/84 bzw. 1886/87 bis 1899/1900 kein direkter Zusammenhang zwischen Religionsbekenntnis und Muttersprache bestehen muss, doch tendenziell bei Bewegungen in der katholischen bzw. jüdischen Schülerschaft Änderungen mit gleichem Vorzeichen in der tschechischen bzw. deutschen Schülerschaft zu beobachten sind.411 408 409 410 411

Diese Vermutung bestätigen die Analysen der kombinierten Angaben ausgewählter dritter Klassen in den Schulkatalogen vgl. Kapitel 5.3.1.2. Lediglich an der Neustädter Volksschule kann man von einer Annäherung sprechen, die jedoch entscheidend auf die bedeutende Abnahme der katholischen Schülerschaft zurückgeht. Ausnahme bildet das bereits erwähnte Schuljahr 1893/94 an der Josephstädter Volksschule (vgl. hierzu auch Anm. 403). Diese Entwicklungen ist für das Schuljahr 1889/90 denkbar, als sowohl die Anzahl katholischer (von 1863 auf 1990) als auch jüdischer (von 1712 auf 1814) Schulkinder bedeutend ansteigt und dies mit einer Zunahme vorrangig tschechischer Muttersprachler einhergeht (von 1339 auf 1545). Ferner verläuft der krasse Rückgang der Katholiken zum Schuljahr 1892/93 parallel zur Ab-

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Schulwesen

Abschließend ist festzustellen, dass die Zahl tschechischer Muttersprachler an den deutschen Prager Volks- und Bürgerschulen zwar leicht abnimmt, sich diese Reduktion aber auf alle Einrichtungen verteilt und Ende des Jahrhunderts immer noch die Eltern von knapp 1000 tschechischen Schulkindern eine Grundschulbildung in deutscher Sprache für ihren Nachwuchs wählen. Die Entscheidung tschechisch sprechender Eltern – nicht nur in den jüdischen, sondern auch in einigen christlichen Familien –, die Kinder in die deutschen Schulen zu schicken, hatte auch noch andere, ältere Wurzeln. Im 19. Jahrhundert nämlich eröffnete die deutsche Bildung gute und breitgefächerte Existenzperspektiven in der Doppelmonarchie ebenso wie im benachbarten Deutschland, wenn diese auch in Prag und Böhmen selbst im Rückgang begriffen sein mochten (Havránek 1996: 193).

Zu Beginn des 20. Jahrhundert verliert auch dieser ,Trumpf‘ der deutschen Sprache seine Schlagkraft, denn bis 1910 geht die Zahl tschechischer Muttersprachler an den deutschen Volks- und Bürgerschulen Prags auf nur 375 Schulkinder zurück und ist damit eindrucksvolles Indiz der sinkenden Assimilierungsrate der Tschechen an das Deutschtum (vgl. Cohen 1981: 110). Dass Bewegungen in der sprachnationalen Verteilung der Schülerschaft auch durch eine Änderung der Angabe der Muttersprache seitens der jüdischen Schulkinder verursacht werden, kann zwar nicht widerlegt, allerdings auch nicht zwingend bestätigt werden.412 Ohne Zweifel steht jedoch der stabile Anteil der jüdischen Kinder an den deutschen Volksschulen im Gegensatz zum einschneidenden Rückgang der jüdischen ,Deutschen‘ im Rahmen der Volkszählung (vgl. Tabelle 5: 120). Unübersehbar machten sich beim Bekenntnis der Umgangssprache seitens der jüdischen Haushalte anläßlich der Volkszählung [...] verschiedene psychologische wie auch ökonomische Faktoren geltend. Der Einfluß dieser Faktoren war jedoch nicht so stark, daß er die viel bedeutendere Entscheidung über die Unterrichtssprache bestimmt hätte,

412

nahme der tschechischsprachigen Schüler, der Anteil mosaischer und deutschsprachiger Schulkinder geht zwar auch zurück, doch jeweils nur sehr gering. Eine ähnliche Parallelität ist in den folgenden Jahren erkennbar, als bis zum Schuljahr 1895/96 die Zahl tschechischer Muttersprachler um weitere etwa 250 Schüler sinkt und gleichzeitig über 200 Katholiken weniger die deutschen Einrichtungen besuchen. Die Bewegungen in der jüdischen und der deutschen Schülerschaft sind dagegen sehr gemäßigt, Letztere verzeichnen in dieser seit 1890/91 andauernden Regressionsphase der tschechischen Muttersprachler zum Teil sogar Zuwachs (zum Schuljahr 1892/93). Als atypische Beispiele können angeführt werden, dass etwa zum Schuljahr 1888/89 die Zahl mosaischer Schulkinder sinkt (um 27), während die Zahl deutscher (um 42) und auch tschechischer Muttersprachler steigt (um 29). Dagegen steigt zwei Jahre später die Zahl mosaischer Schulkinder (um 49), aber die deutschen Muttersprachler werden weniger (um 10), die tschechischen mehr (um 53). Ähnliche Verläufe weisen die Schuljahre 1893/94 – die Zahl mosaischer Schulkinder sinkt (um 71), jene deutscher Muttersprachler steigt (um 72) und die der Tschechischen sinkt (um 152) – sowie das Schuljahr 1894/95, als die Zahl mosaischer Schulkinder wieder steigt (um 26), deutsche (um 95) wie auch tschechische Muttersprachler weniger werden (um 45). Inwiefern dies zutrifft, gilt es an den einzelnen untersuchten Schulen anhand der kombinierten Daten in den Schulkatalogen zu prüfen. Vgl. Kapitel 5.3.

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in der ihre Kinder erzogen wurden. Die Angehörigen der jüdischen Minderheit versuchten ihre Kinder für eine weitergehende geographische Mobilität vorzubereiten, und insbesondere bei den Töchtern war damit zu rechnen, daß sie sich nach der Heirat im deutschen Kulturmilieu wiederfinden würden (Havránek 1996: 192).

Obgleich die Kleinseitner Volksschule mit ihrer Mehrheit an tschechischen Muttersprachlern und die fast paritätisch gemischte Neustädter Volksschule hervorstechen, ist an jeder Unterrichtsanstalt ein bedeutender Teil der Schülerschaft tschechischer Muttersprache, der sich gegen Ende des Jahrhunderts sogar teilweise nochmals erhöht oder zumindest auf einem gewissen Niveau einpendelt. Dass Schulkinder an den deutschen Einrichtungen auf Grund ihrer Muttersprache abgelehnt würden, ist nicht wahrscheinlich. Im Gegenteil lassen die historischen Belege über das Bemühen des tschechischen Magistrats um die Einführung eines Verbots, Kinder tschechischer Muttersprache auf deutsche Schulen zu schicken, vermuten, dass um Schulkinder egal welcher Muttersprache geworben wird, insbesondere auch angesichts der sinkenden Besuchszahlen an den deutschen Unterrichtsanstalten. In Bezug auf das Religionsbekenntnis kann noch eher über separatistische Tendenzen gesprochen werden413, denn mit Ausnahme der Neustädter Volksschule besteht immer das deutliche Übergewicht einer Religionsgemeinschaft. Paradebeispiel hierfür ist die fast rein katholische Schülerschaft der Kleinseitner Volksschule.

4.3.2 4.3.2.1

Mittelschulwesen Lehranstalten

Im Folgenden wird die Entwicklung der Schülerzahlen an den öffentlichen Mittelschulen mit deutscher und tschechischer Unterrichtssprache in Prag414 von 1871/72 bis 1909/10 unter Berücksichtigung der angegebenen Muttersprache und dem Glaubensbekenntnis betrachtet.415 Es handelt sich um folgende Anstalten:

413

414

415

Diesbezüglich ist nochmals darauf hinzuweisen, dass für die Wahl der Schule – nicht der Unterrichtssprache – in erster Linie der Wohnort bzw. die Zugehörigkeit zu einer Schulgemeinde zählt, sodass insbesondere an den Grundschulen die Aufteilung der Schülerschaft nach dem Religionsbekenntnis (und auch der Muttersprache) im Wesentlichen auch auf die jeweiligen Verhältnisse der Schulgemeinde zurückzuführen sind. Allerdings ist über die gezielte Wahl des Wohnortes diese Regelung umgehbar. Anders als bei den Volks- und Bürgerschulen werden bei den Mittelschulen – auf Grund ihrer größeren Bedeutung für die Entwicklung der Schülerzahlen in Prag I.-VII. – auch die Einrichtungen in den Vororten Prags einbezogen. Dadurch, dass die ausgewählten Mittelschulen ab 1880 nur den Bereich der Gymnasien betreffen, werden Realschulen und Realgymnasien nur am Rande betrachtet. Die Darstellungen in den Abbildungen und Tabellen erfolgen für die Schuljahre 1871/72 bis 1909/1910 – sofern nicht anders angezeigt – auf Grundlage der Angaben in Statistická příruční knížka 1872-1881 bzw. Statistisches Handbuch 1884-1912. Für eine Fokussierung auf das Prager Mittelschulwesen im Schuljahr 1900/01 vgl. Havránek (1996: 193-195).

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A. Gymnasien mit tschechischer Unterrichtssprache:416 1. k. k. akademisches Ober-Gymnasium in I-190 [c. k. akademické vyšší gymnasium], ab 1892/93 unter I-995, ab 1904/05 unter I-77 angeführt; [1871/72] 2. k. k. Neustädter Ober-Gymnasium in I-900 [c. k. vyšší gymnasium na Novémměstě] (ab 1886/87 unter II-1121 angeführt); bis zum Schuljahr 1881/82 wird die Anstalt als zweites tschechisches k. k. Realgymnasium geführt; [1882/83] 3. k. k. Neustädter Gymnasium in der Korngasse (bzw. Jiráskovo gymnasium) [c. k. novoměstské gymnasium v Žitné ulici] [1884/85] 4. k. k. Ober-Gymnasium in der Kleinseite in III-34 [c. k. vyšší gymnasium na Malé Straně], bis 1894/95 als k. k. Mittelschule in der Kleinseite in der Kategorie der Realgymnasien geführt, im Schuljahr 1895/96 wird diese in ein Obergymnasium und eine Oberrealschule geteilt; [1895/96] 5. k. k. Ober-Gymnasium in den Königlichen Weinbergen [c. k. vyšší gymnasium v Královských Vinohradech] [1893/94] B. Gymnasien mit deutscher Unterrichtssprache: 1. k. k. Ober-Gymnasium in Žižkov [c. k. vyšší gymnasium v Žižkově] [1905/06] 2. k. k. Altstädter Ober-Gymnasium in I-1012, 1892/93 unter I-606a angeführt; 1877/78 als Untergymnasium und 1878/79 als Realgymnasium, erst ab 1879/80 als Gymnasium geführt; [1879/80] 3. k. k. Ober-Gymnasium in der Kleinseite in III-529 [1871/72] 4. k. k. Neustädter Ober-Gymnasium (auf dem Graben) in II-892 [1871/72] 5. k. k. Neustädter Gymnasium in der Stefansgasse [1884/85] 6. k. k. Gymnasium in Smíchov [1880/81] 7. k. k. Staatsgymnasium in den Königlichen Weinbergen [1898/99] Nicht berücksichtigt werden das deutsche Mädchenlyzeum sowie das Privatgymnasium mit Öffentlichkeitsreich der Straka’schen Akademie. A. Realschulen mit tschechischer Unterrichtssprache: 1. k. k. Ober-Realschule in der Altstadt [c. k. vyšší reálná škola na Starém městě] [1897/98] 2. k. k. Ober-Realschule in II-518 [c. k. vyšší reálná škola] [1871/72] 3. k. k. Ober-Realschule in der Kleinseite [c. k. vyšší reálná škola na Malé Straně] [1895/96] 416

Die Jahreszahlen in eckigen Klammern geben jeweils das erste Jahr an, in dem die Einrichtung im Statistischen Handbuch mit einer Angabe zu den Schülerzahlen geführt wird. Für alle Anstalten, die nach 1871/72 gegründet wurden, entspricht dies auch dem Entstehungsjahr.

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4. 5. 6. 7. 8. 9.

k. k. Realschule in Holešovice-Bubny [c. k. reálná škola v Holešovicích-Bubnech] [1902/03] Städtische Ober-Realschule in Karolinental [Městská reálná škola v Karlíně] [1880/81] k. k. Ober-Realschule in den Königlichen Weinbergen [c. k. vyšší reálná škola v Královských Vinohradech] [1895/96] k. k. Realschule in Žižkov [c. k. reálná škola v Žižkově] [1898/99] k. k. Realschule in Vršovice [c. k. reálná škola ve Vršovicích] [1908/09] k. k. Realschule in Libeň [c. k. reálná škola v Libni], 1908/09 als Realgymnasium gegründet; [1909/10]

B. Realschulen mit deutscher Unterrichtssprache: 1. k. k. erste Oberrealschule in II-134 [1871/72] 2. k. k. zweite Oberrealschule in III-506, ab 1903/04 in III-621; [1873/74] 3. Staatsrealschule in der Heinrichsgasse [1899/1900] 4. k. k. Ober-Realschule in Karolinental [1880/81] C. Realgymnasien mit tschechischer Unterrichtssprache: 1. k. k. erstes Ober-Realgymnasium [c. k. první vyšší reálné gymnasium] in II-76, ab 1890/91 in der Brenntegasse; 1871/72 als k. k. Unter-Realgymnasium in II-864 gegründet; [1871/72] 2. k. k. Realgymnasium in Libeň [c. k. reálné gymnasium v Libni] [1908/09] 3. k. k. Realgymnasium in Smíchov [c. k. reálné gymnasium v Smíchově] [1883/84] 4. Städtisches Oberrealgymnasium [Městské vyšší reálné gymnasium] in III-457; zum Schuljahr 1895/96 Teilung in ein Ober-Gymnasium und eine Ober-Realschule in der Kleinseite; [1871/72] 5. k. k. zweites Ober-Realgymnasium [c. k. druhé vyšší reálné gymnasium] in II-900; zum Schuljahr 1882/83 als Ober-Gymnasium in der Neustadt (Heinrichsgasse) aufgelistet; [1874/75] D. Realgymnasien mit deutscher Unterrichtssprache: 1. k. k. Altstädter Unter-Realgymnasium in I-307; 1878/79 als Realgymnasium und zum Schuljahr 1879/80 in der Kategorie der Gymnasien angeführt; [1877/78] 2. k. k. Unter-Realgymnasium in III-528; zum Schuljahr 1873/74 als zweite Ober-Realschule in III-506 aufgelistet; [1871/72] E. Höhere Töchterschulen und Mädchenlyzeen:

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1.

Städtische höhere Töchterschule (tschechisch) [Městské vyšší dívčí škola], zum Schuljahr 1890/91 schließt hier die Mittelschule für Mädchen des Minervavereins an in II-683/84; [1871/72]417 2. Deutsches Mädchen-Lyzeum in II-56, zum Schuljahr 1904/05 gibt es eine gymnasiale Abteilung des Lyzeums (von Privatverein erhalten, aber mit Öffentlichkeitsrecht); [1877/78] 3. Mädchen-Lyzeum in Holešovice-Bubny [Dívčí lyceum v Holešovicích-Bubnech] (tschechisch) [1909/10] 4. Mädchen-Lyzeum in den Königlichen Weinbergen [Dívčí lyceum v Královských Vinohradech] (tschechisch) [1908/09] Die Institution des Minervavereins mit tschechischer Unterrichtssprache418 wird in den Statistischen Handbüchern unter den öffentlichen Mittelschulen, überwiegend aber getrennt von den Gymnasien, Realschulen und -gymnasien und zusammen mit dem Deutschen Mädchen-Lyzeum419 (und am Ende des Betrachtungszeitraums den weiteren Lyzeen) aufgelistet. In der allgemeinen Betrachtung der Schülerschaft an den Mittelschulen sind sie demzufolge mit eingeschlossen.420 Dagegen werden sie – auch um der Vergleichbarkeit willen – nicht in die Analyse der im Übrigen ausschließlich für Knaben zugänglichen Gymnasien einbezogen. Hierfür spricht ferner der unterschiedliche Stundenplan an den Mittelschulen für Mädchen und Jungen.421 Zudem wird auf eine ausführliche Analyse der weiblichen 417

418

419

420

421

Ab 1891/92 wird die Einrichtung zum Teil auch unter den Gymnasien angeführt, ebenso wie ab 1905/06 das Privatgymnasium für Mädchen in den Königlichen Weinbergen, das jedoch nicht als öffentliche Einrichtung zählt und daher vernachlässigt wird. Die tschechische Mehrheit im Prager Magistrat ab dem Jahre 1861 verwirklicht zum Schuljahr 1863/64 die Idee einer modernen und bürgerlichen Eliteschule mit tschechischer Unterrichtssprache für Mädchen. Allerdings muss die Einrichtung zunächst als Privatinstitut und nicht als Städtisch-öffentliches gegründet werden (vgl. Soukupová 1996: 202). Zu den ersten Erfolgen der Frauenbewegung zählt u.a. die ab 1878 gültige Zulassung von Mädchen zur Matura an den Gymnasien. In der Folgezeit treibt das Unterrichtsministerium die Eingliederung der höheren Frauenbildung in das allgemeine Mittelschulwesen voran (vgl. Springer 1948: 117). Die Schülerinnen der Minerva haben die Möglichkeit, ihr Abitur am Tschechischen akademischen Gymnasium abzulegen (vgl. Almanach 1986: 45). Die neben den Höheren Töchterschulen bestehenden sechsklassigen Mädchenlyzeen erhalten erst im Jahre 1900 ihr Provisorisches Statut und werden von da an in die Kategorie der Mittelschulen eingereiht (vgl. Friedrich 1999: 113-119). Trotz des neuen Statuts im Jahr 1912 wandeln sich die meisten Lyzeen nach dem Muster der Knabenschulen in achtklassige Mittelschulen um (vgl. Springer 1948: 118). Im Übrigen hat ein kurzer Vergleich der Schülerschaft an den Mittelschulen einmal inklusive und einmal exklusive der Mädcheninstitutionen ergeben, dass keine wesentliche Änderungen stattfinden, denn es existieren Einrichtungen je mit deutscher und tschechischer Unterrichtssprache, deren Entwicklung durchaus im Trend der Jungenschulen verläuft. „Organisation und Lehrplan der höheren Töchterschulen und Mädchenlyceen sind den Mittelschulen insbesondere den Realschulen entlehnt und den Bedürfnissen weiblicher Bildung angepasst“, dabei gilt als Zweck der „Anstalten für den höheren weiblichen Unterricht [...] nicht so sehr eine bestimmte Berufsbildung, als eine entsprechende Vorbereitung des Mädchens für seinen künftigen Beruf als Gattin und Mutter“ (Mayrhofer / Pace 1898: 1055). Als obligate

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233

Schülerschaft im sekundären Bildungsbereich verzichtet422, da sie für die Einordnung des Gymnasiums Franz Kafkas und der ausgewählten Vergleichsinstitutionen in die Prager schulspezifischen Verhältnisse nicht relevant ist. Dass der Zugang auch zu höherer Bildung zunehmend von breiteren Bevölkerungsschichten angestrebt wird, demonstriert die steigende Zahl der Mittelschüler, die sich im Laufe des Betrachtungszeitraums von 1871/72 (3727 Mittelschüler/innen) bis 1909/10 (10747 Mittelschüler/-innen) beinahe verdreifacht.423 Während die Zahl der deutschen Muttersprachler nur um 1408 Schüler/-innen zunimmt, verzeichnen die tschechischen Muttersprachler ein Plus von 5638 (vgl. Abbildung 7: 234).

422

423

Fächer werden in der Regel Religion, die Unterrichtssprache und moderne Sprache sowie Geographie, Geschichte, Mathematik, Physik, Naturgeschichte und Zeichnen gelehrt. Turnen, Gesang, Stenographie und weibliche Handarbeiten zählen meist zu den nichtobligaten Unterrichtsgegenständen (vgl. ebd.). Im Provisorischen Statut des Jahres 1900 wird schließlich die Vorbereitung auf eine berufliche Ausbildung als Zweck des Lyzeums – zumindest theoretisch – in die Bestimmungen integriert (vgl. Friedrich 1999; 117-118). An der tschechischen Minerva wie auch an den Anfang des 20. Jahrhunderts errichteten zwei Lyzeen mit tschechischer Unterrichtssprache sind über den gesamten Zeitraum von 1871/72 bis 1909/10 kaum (maximal drei) Schülerinnen deutscher Muttersprache eingeschrieben. Auch am deutschen Mädchenlyzeum ist der Anteil an Schülerinnen tschechischer Muttersprache sehr begrenzt. Lediglich kurz nach der Gründung der Institution – von 1879/80 bis 1881/82 – stellen sie über zehn Prozent der Schülerschaft, danach liegt ihr Anteil meist bei zwei bis fünf Prozent (für die Zahlen vgl. Statistická příruční knížka 1872-1881 sowie Statistisches Handbuch 1883-1912). In der Mädchenbildung kann somit fast von einer sprachnationalen Trennung der Schulsysteme gesprochen werden. Im Vergleich mit den slavischen Völkern der Habsburger Monarchie steigert sich die Einschreibungsrate im Mittelschulwesen im späten 19. Jahrhundert, neben den Polen, bei den Tschechen am schnellsten (vgl. Cohen 1996a: 142-143).

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Abbildung 7: Schüler/-innen nach der Muttersprache an den Gymnasien, Realschulen, Realgymnasien und Töchterschulen in Prag von 1871/72 bis 1909/10 (in absoluten Zahlen) 9000 8000

Anzahl der Schulkinder

7000 6000 5000 4000 3000 2000 1000

18

71 18 /72 72 18 /73 73 18 /74 74 18 /75 75 18 /76 76 18 /77 77 18 /78 78 18 /79 79 18 /80 80 / 18 81 81 18 /82 82 18 /83 83 18 /84 84 18 /85 85 18 /86 86 / 18 87 87 18 /88 88 18 /89 89 18 /90 90 18 /91 91 18 /92 92 18 /93 93 18 /94 94 18 /95 95 18 /96 96 18 /97 97 18 /98 18 98/ 99 99 /1 9 19 00 00 19 /01 01 19 /02 02 19 /03 03 19 /04 04 19 /05 05 19 /06 06 / 19 07 07 19 /08 08 19 /09 09 /1 0

0

Schuljahr tschechisch

deutsch

andere

Quelle: Vgl. Statistisches Handbuch 1872-1912; eigene Berechnung.

In Bezug auf die Verteilung der Schüler/-innen nach der Muttersprache an den nach der Unterrichtssprache differenzierten Mittelschulen (vgl. Abbildung 8: 236) zeigt sich, dass – wie an den Volksschulen – kaum bis keine deutschen Muttersprachler (zwischen 5 und 11 Schulkinder)424 Anstalten mit tschechischer Unterrichtssprache besuchen. Dagegen ist über den gesamten Zeitraum hinweg eine beachtliche, allerdings im Laufe der Zeit sich mehr als halbierende Zahl (von 706 auf 295 Schulkinder) tschechischer Muttersprachler an deutschsprachigen Lehranstalten eingeschrieben. Der Abnahmeprozess des relativen Anteils an der Schülerschaft kann in drei Phasen eingeteilt werden. Die Erste beginnt nach einem starken Abfall von 19 auf 12 Prozent Anfang der 1870er und verbleibt auf diesem Niveau etwa bis Anfang der 1880er. Während einer Übergangszeit von etwa drei Jahren (1881/82 bis 1883/84) sinkt der Anteil auf 7 bis 8 Prozent und hält diese Position bis zur Jahrhundertwende, die gleichzeitig die dritte Periode mit einem Rückgang zunächst auf 5, dann auf 4 und 3 Prozent einläutet. Bei einem Blick auf die absoluten Zahlen sticht insbesondere das Jahr 1880/81 und das Folgejahr ins Auge, denn zunächst geht die Zahl tschechischer Muttersprachler an deutschen Mittelschulen um mehr als 200 in die Höhe und sinkt aber bereits ein Jahr später fast 424

Ausnahme bildet das Schuljahr 1905/06, als im Gründungsjahr des Tschechischen Obergymnasiums in Žižkov dort einmalig 130 Schüler mit deutscher Muttersprache angegeben werden. Auf Grund ihrer niedrigen Anzahl und des verschwindend kleinen Anteils an der Mittelschülerschaft wird die Gruppe deutscher Muttersprachler an tschechischen Lehranstalten in der bildlichen Darstellung vernachlässigt.

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wieder auf ihr altes Niveau zurück. Während der Anstieg in erster Linie mit der Gründung des Deutschen Gymnasiums in Smíchov und v.a. der Deutschen Oberrealschule in Karolinental zusammenhängt, für die sich trotz der Eröffnung der Städtischen Tschechischen Oberrealschule in Karolinental im gleichen Jahr immer noch 122 tschechische Muttersprachler entscheiden425, verteilt sich der folgende Rückgang auf sämtliche Institutionen mit deutscher Unterrichtssprache. Als naheliegender Grund für diese Entwicklung erscheint die Teilung der Universität zu diesem Zeitpunkt, denn dadurch werden die in tschechischer Sprache unterrichtenden Mittelschulen attraktiver für die sich entfaltenden tschechischen Kreise des bildungsorientierten Bürgertums, das bisher eine deutsche Sekundärbildung bevorzugt. Diese Entwicklung ist – bestätigt durch den Rückgang der tschechischen Muttersprachler an deutschen Einrichtungen – in einem längerfristigen Kontext zu sehen. Der Einbruch der Schülerzahlen (um fast 200 Schüler) im Folgejahr 1881/82 am bislang noch einzigen Gymnasium mit tschechischer Unterrichtssprache, dem k. k. tschechischen akademischen Gymnasium in der Altstadt, würde dem völlig entgegenlaufen. Allerdings wird in Archivmaterialien426 die Eröffnung eines k. k. tschechischen Untergymnasiums in der Korngasse zum Schuljahr 1881/82 dokumentiert, auf das mit höchstem Erlass die Schüler aus den vier Nebenabteilungen des akademischen Gymnasiums, die in der Oberen Neustadt und den Weinbergen wohnen, geschickt werden. Im Statistischen Handbuch (1888: 184) wird in der Korngasse erst zum Schuljahr 1884/85 ein k. k. böhmisches Gymnasium angeführt. Die fehlende Angabe dieser Einrichtung im Statistischen Handbuch für 1881 bis 1883 würde jedenfalls das paradoxe Absinken der Zahl tschechischer Gymnasiasten nach Teilung der Universität erklären. Unter Berücksichtigung der Mutter- und Unterrichtssprache stellen die tschechischen Schüler/-innen an den tschechischen Lehranstalten den größten Anteil der Mittelschüler Prags, der von 52 (1871/72) auf 72 Prozent (1909/10) ansteigt. In Relation mit den Volkszählungsergebnissen aus dem Jahr 1910 – wo allerdings nach der Umgangssprache gefragt wird (!) – zeigt sich, dass die Mittelschulen immer noch relativ häufiger von deutschen Muttersprachlern frequentiert werden, denn inklusive der tschechischen Muttersprachler an den deutschen Einrichtungen erreichen die Tschechen einen Anteil von insgesamt 75 Prozent, während die Größe der ,tschechischen‘ Bevölkerung auf dem Gebiet der betrachteten Schulen (Prag I.-VIII. und vier Vororte) bei 93 Prozent (vgl. Statistická zpráva 1912: 54, 60-61, zit. nach Cohen 1891: 92-93) liegt.427 Die deutschen Muttersprachler bilden

425

426 427

Im Zusammenhang mit den neuen Schulbauten in Karolinental schreibt Iggers: „Die meisten Eltern haben keinen anderen Wunsch, als die Kinder Deutsch lernen zu lassen, damit sie’s weiter bringen wie sie selbst“ (Iggers 1986: 217). Vgl. AHMP: MHMP I, Hlavní spisovna 1784-1920, odd. C, 1881-1890, Sign. C 19/113, kt. 254. Diese Differenz von 18 Prozent zeigt im Vergleich zu 1880/81 keine Veränderung. Allerdings findet eine Verschiebung in der Wahl der Unterrichtssprache statt, der Anteil tschechischer Mut-

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bis Mitte der 1890er Jahre einen relativ konstanten Anteil von etwa einem Drittel428, das durchgängig Mittelschulen mit deutscher Unterrichtssprache wählt. Obgleich bis zum Ende des Betrachtungszeitraums relativ gesehen eindeutig eine fallende Tendenz vorherrscht (1909/10: 23 %), nimmt die absolute Zahl der deutschen Mittelschüler/-innen zu. Ursache hierfür ist die Gründung von Mittelschulen in den vorrangig tschechisch dominierten Vorstädten und der damit verbundene einseitige Anstieg der tschechischen Schülerschaft. Abbildung 8: Schüler/-innen nach der Muttersprache an den nach der Unterrichtssprache differenzierten Mittelschulen von 1871/72 bis 1909/10 (in %) 80%

70%

Anteil der Schulkinder

60%

50%

40%

30%

20%

10%

18

71 /

18 72 72 18 / 73 73 18 / 74 74 18 / 75 75 18 / 76 76 18 / 77 77 18 / 78 78 18 / 79 79 18 / 80 80 18 / 81 81 18 / 82 82 18 / 83 83 18 / 84 84 18 / 85 85 18 / 86 86 18 / 87 87 18 / 88 88 18 / 89 89 18 / 90 90 18 / 91 91 18 / 92 92 18 / 93 93 18 / 94 94 18 / 95 95 18 / 96 96 18 / 97 97 18 / 98 18 98/ 99 99 /1 9 19 00 00 19 / 01 01 19 / 02 02 19 / 03 03 19 / 04 04 19 / 05 05 19 / 06 06 19 / 07 07 19 / 08 08 19 / 09 09 /1 0

0%

Schuljahr alle tschechischen Muttersprachler an Mittelschulen mit tschechischer Unterrichtssprache alle tschechischen Muttersprachler an Mittelschulen mit deutscher Unterrichtssprache alle deutschen Muttersprachler an Mittelschulen mit deutscher Unterrichtssprache

Quelle: Vgl. Statistisches Handbuch 1872-1912; eigene Berechnung.

4.3.2.2 4.3.2.2.1

Gymnasien Allgemeine Schülerschaft – nach offiziellen statistischen Angaben

Im Folgenden wird die sprachliche und konfessionelle Zusammensetzung der Schülerschaft am Schultyp Gymnasium herausgegriffen, da sie den Prager Kontext für die zur Analyse des Bilingualismus ausgewählten gymnasialen Institutionen schaffen. Besonderes Augenmerk gilt den Anstalten mit deutscher Unterrichtssprache, da sich nur hier die Schülerschaft aus Deutschen und Tschechen zusammensetzt. Ein Überblick zur Verteilung der Schüler/-innen auf die einzelnen

428

tersprachler an deutschen Lehranstalten geht eindeutig zurück (1880/81: 13 Prozent; 1909/10: 3 Prozent). Der kurzfristige Anstieg im Schuljahr 1877/78 ist auf die Eröffnung des Mädchenlyzeums und die 247 deutschen Schülerinnen (gegenüber nur 12 Tschechischen) zurückzuführen.

237

Schulwesen

Mittelschultypen im Zeitverlauf weist auf die Bedeutung der gymnasialen Bildung im Sekundarschulwesen hin (vgl. Abbildung 9: 237). Abbildung 9: Anteiliger Besuch der jeweiligen Mittelschultypen – Gymnasien, Realschulen, Realgymnasien, Töchterschulen – in Prag von 1871/72 bis 1909/1910 (in %) 60%

Anteil der Schulkinder

50%

40%

30%

20%

10%

18

18

71

/7 2

72 18 /73 73 18 /74 74 18 /75 75 18 /76 76 18 /77 77 18 /78 78 18 /79 79 18 /80 80 18 /81 81 18 /82 82 18 /83 83 18 /84 84 18 /85 85 18 /86 86 18 /87 87 18 /88 88 18 /89 89 18 /90 90 18 /91 91 18 /92 92 18 /93 93 18 /94 94 18 /95 95 18 /96 96 18 /97 97 18 /98 18 98/ 99 99 /1 9 19 00 00 19 /01 01 19 /02 02 19 /03 03 19 /04 04 19 /05 05 19 /06 06 19 /07 07 19 /08 08 19 /09 09 /1 0

0%

Schuljahr Gymnasien - gesamt

Realschulen - gesamt

Realgymnasien - gesamt

Töchterschulen - gesamt

Quelle: Vgl. Statistisches Handbuch 1872-1912; eigene Berechnung.

Der Anteil der Gymnasiasten an den Mittelschülern insgesamt429 bewegt sich zwischen minimal 29 (1874/75) und maximal 48 Prozent (1884/85, 1887/88, 1888/89) und stellt zwischen 1877/78 und 1896/97 die relative Mehrheit der Schülerschaft im Sekundarschulwesen. Die Überzahl an Gymnasialschülern in diesem Zeitraum liegt an der fast explosiven Zunahme infolge mehrerer Neugründungen bzw. Aufstufungen von Realschulen/-gymnasien zu Gymnasien sowohl mit tschechischer (1882/83 Neustädter Obergymnasium, 1884/85 Neustädter Gymnasium in der Korngasse, 1893/94 Obergymnasium in den Königlichen Weinbergen, 1895/96 Obergymnasium in der Kleinseite) als auch mit deutscher Unterrichtssprache (1884/85 Neustädter Gymnasium in der Stefansgasse). Ab Mitte der 1890er beginnt der ebenfalls durch neue Anstalten unterstützte Aufschwung der Realschulen (1895/96 k. k. böhmische Ober-Realschule in der Kleinseite und k. k. böhmische Ober-Realschule in den Königlichen Weinbergen, 1898/99 k. k. böhmische Realschule in Žižkov, 1899/1900 Deutsche Staatsrealschule in der Heinrichsgasse), sodass fortan zunehmend der Anteil der Realschüler überwiegt.430

429 430

Hier sind die Mädchen an den Gymnasien und Töchterschulen miteinbezogen (vgl. Abbildung 7: 234; Abbildung 8: 236). Die erneute Zunahme der Zahl der Gymnasiasten geht auf weitere, neu eingerichtete Institutionen (Tschechische Obergymnasium in Žižkov 1905/06, das Privatgymnasium für Mädchen in den

238

Schulwesen

Bei einer Betrachtung der Schüler unter dem Aspekt der Muttersprache (vgl. Abbildung 10: 239)431 wird deutlich, dass das Gymnasium unter den deutschen Muttersprachlern bis zur Jahrhundertwende der meist favorisierte Mittelschultyp ist, der Anteil der deutschen Gymnasiasten unter den Mittelschülern deutscher Muttersprache bildet von 1879/80 bis 1896/97 sogar die absolute Mehrheit. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts wählt zunächst – auch auf Grund des Angebots an neu entstandenen Einrichtungen – eine knappe relative Mehrheit deutscher Muttersprachler die Realschule als sekundäre Bildungsstätte432, doch deutet sich gegen Ende des Betrachtungszeitraums bereits wieder eine relativ stärkere Nachfrage nach gymnasialer Ausbildung an. Unter den tschechischen Muttersprachlern besitzt das Gymnasium nicht dieselbe Popularität.433 Insbesondere mit der Mitte der 1890er Jahre einsetzenden Gründung neuer Realschulen v.a. mit tschechischer Unterrichtssprache explodiert die Zahl tschechischer Realschüler, jedoch verringert sie sich an den deutschen Einrichtungen. D.h., dass das verbesserte und umfangreichere Angebot an Lehranstalten mit tschechischer Unterrichtssprache durchaus die Entscheidung tschechischer Eltern und Schüler beeinflusst und nicht zuletzt die lange unantastbare Qualität und der Ruf einer deutschen Ausbildung gegenüber der tschechischen Variante an Boden verliert, auch wenn der Abschluss an der lateinlosen Sekundarschule ,nur‘ zum Besuch einer Technischen Hochschule berechtigt.

431

432 433

Weinbergen sowie die gymnasiale Abteilung des deutschen Mädchenlyzeums im gleichen Jahr) zurück. In der Einzelbetrachtung des Schultyps Gymnasium werden die Institutionen für Mädchen (die Mittelschule für Mädchen des Minervavereins, das Privatgymnasium in den Weinbergen sowie das Mädchenlyzeum) nicht miteinbezogen. Daher ergibt sich auch der leicht abweichende Verlauf des Anteils der Gymnasiasten an den Mittelschülern in der Abbildung 10 im Vergleich zu Abbildung 9 insbesondere gegen Ende des Betrachtungszeitraums, als sowohl die gymnasiale Abteilung des Mädchenlyzeums als auch das Privatgymnasium gegründet wird. Zwischen 1900/01 und 1907/08 besuchen zwischen 43 und 47 Prozent der deutschen Muttersprachler eine Realschule. Demgegenüber steht ein Anteil von 39 bis 42 Prozent Gymnasiasten. Ab Anfang der 1880er bis Mitte der 1890er entscheidet sich immerhin die relative Mehrheit der tschechischen Mittelschüler für das Gymnasium (zwischen 35 und 40 Prozent).

239

Schulwesen

Abbildung 10: Anteil der Gymnasiasten an den Mittelschülern insgesamt und nach der Muttersprache von 1871/72 bis 1909/1910 (in %) 70%

Anteil der Schulkinder

60% 50% 40% 30% 20% 10%

18 71 18 /72 72 18 /73 73 18 /74 74 18 /75 75 18 /76 76 18 /77 77 18 /78 78 18 /79 79 18 /80 80 18 /81 81 18 /82 82 18 /83 83 18 /84 84 18 /85 85 18 /86 86 18 /87 87 18 /88 88 18 /89 89 18 /90 90 18 /91 91 18 /92 92 18 /93 93 18 /94 94 18 /95 95 18 /96 96 18 /97 97 18 /98 18 98/ 99 99 /1 9 19 00 00 19 /01 01 19 /02 02 19 /03 03 19 /04 04 19 /05 05 19 /06 06 19 /07 07 19 /08 08 19 /09 09 /1 0

0%

Schuljahr

Anteil der ,tschechischen‘ Gymnasiasten an den ,tschechischen‘ Mittelschülern Anteil der Gymnasiasten an den Mittelschülern

Anteil der ,deutschen‘ Gymnasiasten an den ,deutschen‘ Mittelschülern

Quelle: Vgl. Statistisches Handbuch 1872-1912; eigene Berechnung.

Als einzig auffällige gegenläufige Entwicklung bei tschechischen und deutschen Muttersprachlern lässt sich die starke Abnahme des Anteils tschechischer Gymnasiasten (von 38 auf 27 %) und die Zunahme unter deutschen Gymnasiasten (von 51 auf 57 %) zum Schuljahr 1872/73 festmachen, die sich fast ausschließlich am Neustädter Ober-Gymnasium mit deutscher Unterrichtssprache abspielt. Infolge dieser Veränderung sinken auch die absoluten Zahlen tschechischer Gymnasiasten hinter jenen der deutschen zurück (vgl. Abbildung 11: 240). Dabei geht der Rückgang der Schüler am k. k. akademischen Gymnasium, dem bislang noch Einzigen mit tschechischer Unterrichtssprache, in erster Linie auf die Gründung des zweiten k. k. böhmischen Realgymnasiums zum Schuljahr 1874/75 zurück, denn dorthin werden die Schüler der Parallelabteilungen des akademischen Gymnasiums geschickt.434 Die im Vergleich zu den tschechischen Muttersprachlern abrupte Zunahme an deutschen Gymnasiasten zum Schuljahr 1879/80 (von 48 auf 61 %) (vgl. Abbildung 10: 239) dagegen ist durch keine tatsächlichen Bewegungen, sondern durch die Aufstockung des deutschen Altstädter Realgymnasiums zu einem Gymnasium und damit durch einen Schülertausch zwischen den verschiedenen Schultypen bedingt. Fortan besteht kein Realgymnasium mehr mit deutscher Unterrichtssprache, sodass ab 1879/80 nur noch sehr vereinzelt deutsche Muttersprachler – nämlich jene ein oder zwei Schüler an den tschechischen Real434

Zum Schuljahr 1875/76 reduziert sich demnach die Zahl der Parallelklassen am k. k. akademischen Gymnasium von vier auf nur eine Paralellklasse, doch bereits vier Jahre später ist das alte Niveau wieder erreicht und wird in den folgenden zwei Schuljahren mit sechs und sieben Parallelklassen noch weit übertroffen. Vgl. AHMP: MHMP I, Hlavní spisovna 1784-1920, odd. C, 1881-1890, Sign. C 19/113, kt. 254.

240

Schulwesen

gymnasien – in dieser Kategorie gezählt werden. Ähnlich verhält es sich umgekehrt mit dem vergleichsweise stärkeren Anstieg der Zahl tschechischer Gymnasiasten zum Schuljahr 1882/83 (von 20 auf 35 %) (vgl. Abbildung 10: 239), als das Zweite tschechische Ober-Realgymnasium in der Neustadt zum Gymnasium erklärt wird. Ab diesem Zeitpunkt gibt es mehr Gymnasiasten tschechischer Muttersprache als deutscher (vgl. Abbildung 11: 240). In den folgenden Jahren stimmen die tendenziellen Bewegungen meist überein und differieren andernfalls nur unbedeutend um einige wenige Prozente. Abbildung 11: Gymnasiasten in Prag nach der Muttersprache von 1871/72 bis 1909/1910 (in absoluten Zahlen) 2500

Anzahl der Schulkinder

2000

1500

1000

500

18 71 18 /72 72 18 /73 73 18 /74 74 18 /75 75 18 /76 76 18 /77 77 18 /78 78 18 /79 79 18 /80 80 18 /81 81 18 /82 82 18 /83 83 18 /84 84 18 /85 85 18 /86 86 18 /87 87 18 /88 88 18 /89 89 18 /90 90 18 /91 91 18 /92 92 18 /93 93 18 /94 94 18 /95 95 18 /96 96 18 /97 97 18 /98 18 98/ 99 99 /1 9 19 00 00 19 /01 01 19 /02 02 19 /03 03 19 /04 04 19 /05 05 19 /06 06 19 /07 07 19 /08 08 19 /09 09 /1 0

0

Schuljahr tschechisch

deutsch

andere

Quelle: Vgl. Statistisches Handbuch 1872-1912; eigene Berechnung.

In der Kombination der Muttersprache mit der gewählten Unterrichtssprache (vgl. Abbildung 12: 241) interessiert hauptsächlich die Entwicklung der Zahl tschechischer Muttersprachler an deutschen Gymnasien (vgl. Abbildung 12: 241)435. Während im ersten Jahr des Betrachtungszeitraums sich die Zahl tschechischer Gymnasiasten fast gleichmäßig auf die deutschen (31 %) und tschechischen (35 %) Einrichtungen aufteilt, sinkt der Anteil tschechischer Gymnasiasten mit dem bereits erwähnten abrupten Rückgang tschechischer Schulkinder am deutschen Neustädter Gymnasium zum Schuljahr 1872/73 auf 15 Prozent. Der weitere Verlauf entspricht in etwa den bereits im Zusammenhang mit dem gesamten Mittelschulwesen diskutierten drei Phasen (vgl. Abbildung 8: 236).436 Ein umfassender Rück435 436

Auf die Darstellung der deutschen Muttersprachler an tschechischen Gymnasien wird auf Grund ihrer geringen Anzahl verzichtet. Das kurzfristige Anschwellen deutscher wie tschechischer Muttersprachler an den Anstalten mit deutscher Unterrichtssprache zum Schuljahr 1880/81 hängt mit der Gründung des deutschen Gymnasiums in Smíchov (112 Deutsche, 55 Tschechen) sowie der Etablierung der Altstädter

241

Schulwesen

gang tschechischer Schüler an deutschen Gymnasien beginnt erst Ende der 1890er Jahre und setzt sich verstärkt nach der Jahrhundertwende fort. Auf den ersten Blick scheint die Teilung der Universität 1881/82 also keine Auswirkung auf die Wahl deutscher Institutionen seitens tschechischer Muttersprachler zu haben. Jedoch ist auf den zweiten Blick zu erkennen, dass genau zu dieser Zeit die Zahl der ,tschechischen‘ Gymnasiasten rapide in die Höhe schnellt (1881/82: 485 Schüler, 1885/86: 1603 Schüler) und offensichtlich die neben dem traditionellen akademischen Gymnasium neu gegründeten Einrichtungen mit tschechischer Unterrichtssprache (1881/82 Neustädter Gymnasium in der Korngasse, 1882/83 Neustädter Obergymnasium) den deutschen Institutionen (1884/85 auch um das Neustädter Gymnasium in der Stefansgasse erweitert) vorgezogen werden. Nachdem die neue tschechische Hochschule auch fachlich und personell ausgebaut ist (vgl. Havránek 1997), wirkt sich diese qualitativ gleichwertige Alternative zur deutschen Universität auch auf die Zahl der tschechischen Muttersprachler an den deutschen Anstalten aus. Spätestens jetzt entspricht die Wahl der tschechischen Unterrichtssprache nicht mehr nur einer nationalen Pflichterfüllung, sondern erfüllt auch die Bildungsansprüche der ,tschechischen‘ Elite. Abbildung 12: Anteil der Schüler nach der Muttersprache an den öffentlichen Gymnasien in Prag differenziert nach der Unterrichtssprache von 1871/72 bis 1909/1910 (in %) 70%

60%

Anteil der Schulkinder

50%

40%

30%

20%

10%

18 71 18 /72 72 18 /73 73 18 /74 74 18 /75 75 18 /76 76 18 /77 77 18 /78 78 18 /79 79 18 /80 80 18 /81 81 18 /82 82 18 /83 83 18 /84 84 18 /85 85 18 /86 86 / 18 87 87 18 /88 88 18 /89 89 18 /90 90 18 /91 91 18 /92 92 / 18 93 93 18 /94 94 18 /95 95 18 /96 96 18 /97 97 18 /98 18 98/9 99 9 /1 9 19 00 00 19 /01 01 19 /02 02 19 /03 03 19 /04 04 19 /05 05 19 /06 06 19 /07 07 19 /08 08 19 /09 09 /1 0

0%

Schuljahr tschechische Muttersprachler an den Gymnasien mit tschechischer Unterrichtssprache deutsche Muttersprachler an den Gymnasien mit deutscher Unterrichtssprache

tschechische Muttersprachler an den Gymnasien mit deutscher Unterrichtssprache

Quelle: Vgl. Statistisches Handbuch 1872-1912; eigene Berechnung.

An allen Gymnasien mit deutscher Unterrichtssprache dominieren eindeutig die deutschen Muttersprachler, ihr jeweiliger Anteil liegt insbesondere ab Mitte der Einrichtung als Gymnasium zusammen (plus 76 Deutsche, 27 Tschechen). Bezüglich des krassen Rückgangs tschechischer Muttersprachler an tschechischen Einrichtungen vgl. Anm. 426 und die diesbezüglichen Ausführungen.

242

Schulwesen

1880er dauerhaft deutlich bei über 80 Prozent. Mit Blick auf die Verteilung der tschechischen Muttersprachler auf die einzelnen Gymnasien mit deutscher Muttersprache (vgl. Abbildung 13: 242437) fällt auf, dass mit Ausnahme des k. k. Neustädter Gymnasiums in der Stefansgasse für den Abschnitt von 1887/88 bis 1897/98438, keine Einrichtung durch eine besonders hohe Anzahl tschechischer Muttersprachler hervortritt. Vielmehr scheint sich ihre immer geringer werdende Zahl relativ gleichmäßig auf die einzelnen Institutionen aufzuteilen. D.h., dass auf der einen Seite, ähnlich wie an den Volksschulen, auch an den deutschen Gymnasien um tschechische Muttersprachler geworben wird und diese auf der anderen Seite die Breite des Angebots wahrnehmen und sich aller Voraussicht nach individuell für eine Institution entscheiden, und nicht als ,sprachnationale‘ Gruppe eine Einrichtung bestimmen. Abbildung 13: Tschechische Muttersprachler an den einzelnen Gymnasien mit deutscher Unterrichtssprache in Prag von 1879/80 bis 1909/10 (in %) 50% 45% 40%

Anteil der Schulkinder

35% 30% 25% 20% 15% 10% 5%

18 79 /8 18 0 80 /8 18 1 81 /8 18 2 82 /8 18 3 83 /8 18 4 84 /8 18 5 85 /8 18 6 86 /8 18 7 87 /8 18 8 88 /8 18 9 89 /9 18 0 90 /9 18 1 91 /9 18 2 92 /9 18 3 93 /9 18 4 94 /9 18 5 95 /9 18 6 96 /9 18 7 97 /9 18 8 9 18 8/9 99 9 /1 90 19 0 00 /0 19 1 01 /0 19 2 02 /0 19 3 03 /0 19 4 04 /0 19 5 05 /0 19 6 06 /0 19 7 07 /0 19 8 08 /0 19 9 09 /1 0

0%

S chuljahr

k .k. Altst. O .-G ., dt. k .k. O .-G . a.d. Kleins., dt.

k.k. N eust. O .-G . auf d. G raben, dt. k.k. G . in Sm íchov, dt.

k.k . N eust. G . in d. Stefansgasse, dt. k.k . Staats-G . in d.k gl. W einb., dt.

Quelle: Vgl. Statistisches Handbuch 1872-1912; eigene Berechnung.

Ab dem Schuljahr 1901/02 wird im Statistischen Handbuch für Prag auch das Religionsbekenntnis der Mittelschüler angegeben, zudem wird in der u.a. mit 437

438

Die Darstellung beginnt erst mit dem Jahr 1879/80, um v.a. gegen Ende des Betrachtungszeitraums das Bild zu entzerren. In den Jahren bis 1879/80 teilen sich die 150 bis 200 tschechischen Muttersprachler in einem Verhältnis von etwa drei zu zwei auf das deutsche Neustädter Gymnasium am Graben sowie das deutsche Kleinseitner Gymnasium auf. In diesem Zeitraum besuchen 31 bis 44 Prozent der tschechischen Muttersprachler an Gymnasien mit deutscher Unterrichtssprache das Neustädter Gymnasium in der Stefansgasse.

Schulwesen

243

,Nationalität‘ benannten Spalte zwischen ,Böhmen‘, ,jüdischen Böhmen‘, ,Deutschen‘ und ,jüdischen Deutschen‘ sowie ,anderen‘ differenziert. Dabei ist äußerst auffällig, dass alle Gymnasiasten mosaischen Glaubensbekenntnisses, die eine Lehranstalt mit tschechischer Unterrichtssprache wählen, sich ausschließlich als tschechische Muttersprachler deklarieren und umgekehrt, all jene, die sich für deutsche Gymnasien entscheiden, immer Deutsch als Muttersprache angeben.439 Im Laufe des Jahrzehnts steigt die Gesamtzahl sowohl der jüdischen (1901/02: 483; 1909/10: 567) als auch der katholischen Gymnasiasten (1901/02: 2138; 1909/10: 2559) relativ in gleichem Maße an (vgl. Tabelle 12: 244).440 Während an den tschechischen Lehranstalten der Anteil katholischer Gymnasiasten konstant bei 96 Prozent liegt, zählen an den deutschen Institutionen nur noch 57 bis 59 Prozent zu den Katholiken, denen mit 41 bis 43 Prozent auch eine bedeutend große jüdische Schülerschaft gegenübersteht (vgl. Tabelle 12: 244). Ausgehend von allen Schülern mosaischen Glaubensbekenntnisses lässt sich, im Hinblick auf deren Verteilung auf die Einrichtungen nach der Unterrichtssprache und damit auch auf die Verteilung nach der Muttersprache, eine gewisse Regelmäßigkeit erkennen: Dauerhaft besuchen zwischen 85 und 87 Prozent der Juden die Institutionen mit deutscher Unterrichtssprache und bekennen sich folglich auch zur deutschen Muttersprache. Zweifellos genießt die deutsche Unterrichtssprache im Anschluss an die Volksschule auch unter den jüdischen Gymnasiasten den absoluten Vorrang vor dem Tschechischen. Betrachtet man die Verteilung der Schüler nach dem Religionsbekenntnis auf die einzelnen Institutionen (vgl. Tabelle 13: 244)441, so zeigt sich für dieses Periode von 1901/02 bis 1909/10, dass das k. k. tschechische Gymnasium in der Kleinseite – ähnlich wie die deutsche Kleinseitner Volksschule – gar keine Juden zu seinen Schülern zählt und an der dort ansässigen deutschen Lehranstalt442 sich ihr Anteil mit Ausnahme des Jahres 1901/02 auf maximal 3 Prozent beläuft und damit wiederum zwei fast rein katholische Unterrichtsanstalten in der Kleinseite vorliegen. An den restlichen tschechischen gymnasialen Sekundärschulen ist jeweils zumindest ein geringer Prozentsatz an jüdischen Mitschülern vertreten, an den weiteren Gymnasien mit deutscher Unterrichtssprache besitzt die Schülerschaft mosaischen Glaubensbekenntnisses zum Teil sogar eine deutliche absolute Mehrheit (Altstädter Gymnasium, Neustädter Gymnasien) bzw. einen repräsentativen Anteil. Die Kleinseitner Institutionen stellen somit Ausnahmen dar.443 Hier ist 439 440 441 442 443

Gleiches gilt für die jüdischen Schulkinder in den Realschulen und Realgymnasien. An den Realschulen dagegen nimmt sowohl die absolute Zahl der jüdischen Kinder (1901/02: 723; 1909/10: 628) als auch ihr relativer Anteil ab (1901/02: 16 %; 1909/10: 12 %). ,Andere‘ Religionsbekenntnisse werden auf Grund ihres geringen Anteils vernachlässigt. Aus Gründen der Tradition studieren besonders viele Adelige und Söhne von Diplomaten an der Anstalt in der Kleinseite (vgl. Gröschl 1951: 2). Auch an der tschechischen Ober-Realschule in der Kleinseite beträgt der Anteil der Schüler mosaischen Bekenntnisses von 1901/02 bis 1909/10 nur ein Prozent. Gleichfalls gilt dies für die

244

Schulwesen

Unterricht in tschechischer oder deutscher Unterrichtssprache in konfessionell fast homogener Umgebung verfügbar. Dass dies in Zeiten antisemitischer Propaganda weder bei der jüdischen noch bei der katholischen Schülerschaft die individuelle Wahl der Einrichtung beeinflusst, ist äußerst unwahrscheinlich. Vielmehr deutet die relativ konstante konfessionelle Zusammensetzung der Schülerschaft an den einzelnen Einrichtungen darauf hin, dass man die Optionen zur ,Vermeidung‘ bzw. zum ,Rückzug‘ in die eigene Gruppe gerne wahrnimmt. Tabelle 12: Schüler nach dem Religionsbekenntnis an den nach der Unterrichtssprache differenzierten Gymnasien in Prag von 1901/02 bis 1909/10 (in % und in absoluten Zahlen) 1901/02

1902/03

1903/04

1904/05

1905/06

1906/07

1907/08

1908/09

1909/10

79%

80%

80%

78%

79%

79%

79%

79%

79%

3%

3%

3%

2%

3%

3%

3%

3%

3%

18%

18%

18%

19%

18%

18%

17%

17%

18%

deutsche Gymnasien 559 katholisch

605

588

600

615

632

629

654

633

419

412

420

451

459

465

466

465

482

tschechische Gymnasien 1579 katholisch

1596

1668

1582

1750

1774

1845

1862

1926

64

73

77

82

81

76

81

84

85

alle Gymnasien katholisch evangelisch mosaisch

jüdisch

jüdisch

Quelle: Vgl. Statistisches Handbuch 1903-1912; eigene Berechnung.

Tabelle 13: Schüler nach dem Religionsbekenntnis an den einzelnen Gymnasien in Prag von 1901/02 bis 1909/10 (in %) 1901/02

1902/03

1903/04

1904/05

1905/06

1906/07

1907/08

1908/09

1909/10

kath. ev. jüd. kath. ev. jüd. kath. ev. jüd. kath. ev. jüd. kath. ev. jüd. kath. ev. jüd. kath. ev. jüd. kath. ev. jüd. kath. ev.

jüd.

tschechische Gymnasien k.k. akad. O.-G.

93% 2%

5% 92% 1%

7% 92% 2%

6% 93% 1%

6% 93% 1%

7% 94% 1%

5% 94% 2%

4% 94% 2%

4% 94%

1%

4%

k.k. Neust. O.-G.

91% 4%

4% 92% 2%

6% 91% 2%

7% 88% 2%

9% 90% 3%

7% 88% 3%

8% 87% 3%

9% 87% 3% 10% 87%

3%

9%

k.k. Neust. G., Korng.

92% 2%

5% 92% 3%

5% 93% 3%

4% 92% 3%

4% 92% 3%

5% 92% 4%

4% 93% 3%

4% 94% 3%

4% 94%

2%

4%

k.k. O.-G., Kleinseite

98% 2%

0% 99% 1%

0% 99% 1%

0% 99% 1%

0% 99% 1%

0% 99% 1%

0% 98% 2%

0% 98% 2%

0% 99%

1%

0%

k.k. O.-G., kgl. Weinb.

94% 1%

4% 94% 2%

3% 93% 2%

5% 94% 1%

5% 94% 1%

4% 94% 1%

4% 95% 2%

4% 94% 2%

4% 94%

2%

4%

95% 2%

2% 94% 3%

2% 91% 4%

4% 93% 3%

3% 91%

5%

3%

k.k. O.-G., Žižkov deutsche Gymnasien k.k. Altst. O.-G.

35% 3% 61% 43% 2% 55% 37% 2% 61% 30% 3% 67% 32% 3% 65% 32% 3% 65% 32% 3% 65% 34% 4% 63% 28%

k.k. O.-G., Kleinseite

88% 2% 10% 95% 2%

k.k. Neust. O.-G., Graben

34% 6% 60% 36% 5% 59% 34% 4% 62% 34% 3% 63% 31% 4% 65% 32% 4% 64% 32% 3% 64% 37% 3% 60% 36%

k.k. Neust. G., Stefansgasse

40% 8% 52% 39% 8% 52% 41% 8% 50% 42% 7% 50% 39% 6% 55% 38% 6% 55% 33% 8% 59% 31% 8% 59% 31% 10% 59%

k.k. G., Smichov

74% 1% 25% 72% 1% 26% 70% 3% 27% 72% 2% 26% 71% 4% 25% 72% 5% 22% 73% 5% 22% 72% 5% 22% 71%

3% 25%

k.k. Staats-G., kgl. Weinb.

53% 6% 41% 58% 5% 37% 60% 3% 37% 57% 4% 40% 60% 2% 38% 60% 2% 38% 60% 3% 37% 62% 3% 34% 59%

2% 38%

3% 94% 3%

3% 93% 3%

4% 93% 4%

4% 96% 2%

2% 96% 2%

1% 95% 4%

1% 94%

tschechische Realschule in Žižkov. Unter den Realschulen mit deutscher Unterrichtssprache weist auch die Einrichtung in der Kleinseite, die zweite deutsche Ober-Realschule den geringsten Anteil an jüdischen Kinder auf (1901/02: 19 %; 1909/10: 9%) (vgl. Statistisches Handbuch 19071912; eigene Berechnung).

6% 65% 4%

1%

2% 62%

245

Schulwesen Quelle: Vgl. Statistisches Handbuch 1872-1912; eigene Berechnung.

4.3.2.2.2

Schüler der ausgewählten Gymnasien – nach offiziellen Statistiken und Jahresberichten

Zur besseren Einordnung der auf Basis der Schulkataloge in der Datenbank gesammelten Angaben werden im Folgenden die Schüler der drei Gymnasien – k. k. deutsches Staatsgymnasium, Altstadt – k. k. deutsches Staatsgymnasium, Neustadt am Graben – k. k. tschechisches akademisches Gymnasium – separat dargestellt. Die sprachliche Zusammensetzung der Schülerschaft auf Grundlage der Angaben im Statistischen Handbuch von Prag kann dank der erhaltenen Jahresberichte der Gymnasien um eine konfessionelle Gliederung ergänzt werden.444 Die beiden deutschen Gymnasien unterscheiden sich kaum in der sprachlichen Verteilung ihrer Schüler. Beide Anstalten kennzeichnet v.a. ab Mitte der 1880er Jahre eine überragende deutsche Mehrheit.445 An der Altstädter Einrichtung ist der Anteil der tschechischen Muttersprachler bei fast identischen absoluten Zahlen wegen der zahlenmäßig kleineren Schülerschaft meist etwas höher (vgl. Abbildung 14: 247). Ausnahme bilden die Schuljahre kurz vor der Umwandlung der Anstalt von einem Realgymnasium in ein Gymnasium (1879/80). Danach steigt einerseits die Zahl deutscher Muttersprachler innerhalb weniger Jahre sprunghaft an (1879/80: 191; 1883/84: 376), und andererseits geht jene der tschechischen Muttersprachler, nicht zuletzt auch im Kontext der Teilung der Prager Universität, langfristig zurück. Ab Ende der 1890er Jahre, als die Badenischen Sprachenverordnungen zwar wieder aufgehoben, doch faktisch nicht mehr aus dem Alltag verdrängt werden können, reicht der Anteil der tschechischen Muttersprachler an beiden Institutionen nicht mehr über die Zehn-Prozent-Marke. Am k. k. tschechischen akademischen Gymnasium ändert sich die sprachliche Zusammensetzung wie an allen anderen Mittelschulen mit tschechischer Unterrichtssprache nicht. Denn die Zahl der deutschen Muttersprachler an der tschechischen Traditionsschule beläuft sich in den 1870er Jahren auf maximal sieben Schüler und in den folgenden Jahrzehnten auf nur noch höchstens zwei Knaben je

444

445

Jeder Jahresbericht enthält einen Abschnitt ,Statistische Notizen‘, in der die Zahl der Schüler u.a. nach dem Religionsbekenntnis angegeben wird. Im Übrigen trifft dies auch auf die Muttersprache zu, allerdings wurde hier auf die bereits gesammelten Daten im Statistischen Handbuch zurückgegriffen. Eine stichprobenartige Überprüfung hat gezeigt, dass die Angaben weitgehend übereinstimmen. Am tschechischen Gymnasium wird die Religionsangabe erst ab dem Schuljahr 1877/78 geführt, zudem waren die Jahrgänge 1879/80, 1886/87, 1890/01 nicht zugänglich (vgl. Jahresbericht deutsches AG 1872-1910; Jahresbericht deutsches NG 1871, 1874-1910; Jahresbericht tschechisches AG 1877-1910). Dadurch, dass das Neustädter Gymnasium am Graben in den 1870er Jahren neben dem Kleinseitner Gymnasium das Einzige mit deutscher Unterrichtssprache in Prag ist, wird es in dieser Zeit von 54 bis zu 71 Prozent der deklarierten tschechischen Schüler an deutschen gymnasialen Anstalten besucht.

246

Schulwesen

Schuljahr. Ihr Anteil an der Schülerschaft beträgt somit maximal zwei, meist aber null Prozent (vgl. Abbildung 14: 247). In Bezug auf die konfessionelle Schichtung der Schülerschaft (vgl. Abbildung 15: 248) ist die Situation am tschechischen Gymnasium ähnlich eindeutig. Mit maximal 23 Knaben erreichen die Schüler mosaischen Bekenntnisses höchstens einen Anteil von sieben Prozent, der sich ab Mitte der 1890er Jahre etwa für ein Jahrzehnt festigen kann. Im Gegensatz hierzu stehen die Verhältnisse an den Anstalten mit deutscher Unterrichtssprache, die zum Teil auch untereinander stark differieren. Das k. k. deutsche Altstädter Gymnasium weist – noch in seiner Zeit als Realgymnasium – eine katholische Mehrheit von durchschnittlich zwei Drittel auf. Im Jahr vor der Erhebung zum Gymnasium gewinnt schließlich die jüdische Schülerschaft das Übergewicht (1878/79: 53 %) und behält dieses bis zum Ende des Betrachtungszeitraums bei. Bis in die zweite Hälfte der 1880er Jahren ist die Zusammensetzung relativ ausgewogen, doch im folgenden Jahrzehnt – als auch Franz Kafka zu den Schülern des Altstädter Staatsgymnasiums zählt – dominiert der Anteil der jüdischen Kinder, und zwar durch die Abwanderung bzw. Meidung der Schule durch die katholischen Zöglinge, ihre Zahl geht von 218 (1883/84) auf 26 (1897/98) zurück. Dieser regelrechte Absturz beginnt im Jahr der Eröffnung des k. k. deutschen Neustädter Gymnasiums in der Stefansgasse, das sich von Beginn an bis zur Jahrhundertwende als das beliebteste Gymnasium unter den tschechischen Muttersprachlern herauskristallisiert (vgl. Abbildung 13: 242). Auf Grund der fehlenden Daten zum Religionsbekenntnis der Schulkinder des Stefansgymnasiums kann über Tendenzen zur Erzwingung einer weiteren konfessionell homogenen Einrichtung wie in der Kleinseite nur spekuliert werden.446 In jedem Falle erzielt jedoch das Fernbleiben der katholischen Kinder genau diesen Effekt an der Altstädter Einrichtung. Am Höhepunkt des deutsch-tschechischen Konfliktes, der Badeni-Krise (1897), die zu antideutschen, aber auch antisemitischen Ausschreitungen führt, ist das Altstädter Gymnasium ein fast rein jüdisches Gymnasium (1894/95, 1896/97, 1897/98: 82 %). Die Ereignisse der Makroebene finden damit relativ unmittelbar Niederschlag auf der Mesoebene, inwieweit sich dies in sprachlicher Hinsicht auf die Mikroebene auswirkt, wird anhand der Untersuchung des Bilingualismus geklärt werden (vgl. Kapitel 5.3). Die Annäherung der beiden Gruppen ab Ende der 1890er Jahre erfolgt auch nur durch den einschneidenden Rückgang der Zahl jüdischer Kinder von 233 (1894/95) auf 75 (1901/02). Eine Bewegung, die auch für das Grabengymnasium gilt und sicherlich zu einem großen Teil durch die Eröffnung des k. k. deutschen Staatsgymnasiums 446

Nicht zuletzt auch deshalb, da die Zahl der jüdischen Schulkinder am Grabengymansium und kurzzeitig auch am Altstädter Gymnasium zurückgeht. Dagegen sprächen ebenfalls die Daten zur konfessionellen Verteilung am Stefansgymnasium ab 1901/02, allerdings geht die Schülerzahl bis dahin derart deutlich zurück, dass sie für die 1880er und 1890er kaum Gültigkeit besitzen können.

247

Schulwesen

in den Königlichen Weinbergen (1898/99) bedingt ist. In der Zeit zuvor sind die Entwicklungen an den beiden untersuchten deutschen Gymnasien oftmals gegenläufig, wobei hier nur von Tendenzen die Rede sein kann. Denn an der Neustädter Anstalt spielt sich alles in einem relativ gemäßigten Rahmen ab, die katholischen Schüler sind zwar bereits ab 1876/77 dauerhaft in der Minderheit, ihr Anteil beträgt durchschnittlich aber 39 Prozent und fällt kaum unter ein Drittel. Parallele Veränderungen in der konfessionellen und sprachlichen Zusammensetzung der Schülerschaft sind wegen der jeweils eindeutigen Mehrheit der deutschen Muttersprachler an den beiden Institutionen und der nicht kombinierten Angaben in den offiziellen Statistiken und den Jahresberichten kaum nachvollziehbar (vgl. hierzu Kapitel 5.3; Kapitel 5.4). Abbildung 14: Schüler nach der Muttersprache an den drei ausgewählten Gymnasien in Prag von 1871/72 bis 1909/10 (in %)

Anteil der Schulkinder

100%

80%

60% 40%

20%

18 71 /7 2 18 73 /7 4 18 75 /7 6 18 77 /7 8 18 79 /8 0 18 81 /8 2 18 83 /8 4 18 85 /8 6 18 87 /8 8 18 89 /9 0 18 91 /9 2 18 93 /9 4 18 95 /9 6 18 97 /9 8 18 99 /1 90 0 19 01 /0 2 19 03 /0 4 19 05 /0 6 19 07 /0 8 19 09 /1 0

0%

Schuljahr

k.k. dt. AG - tsch. Msler

k.k. dt. AG - dt. Msler

k.k. dt. NG - tsch. Msler

k.k. dt. NG - dt. Msler

Quelle: Vgl. Statistisches Handbuch 1872-1912; eigene Berechnung.

k.k. tsch. AG - tsch. Msler

k.k. tsch. AG - tsch. Msler

248

Schulwesen

Abbildung 15: Schüler nach dem Religionsbekenntnis an den drei ausgewählten Gymnasien in Prag von 1872/73 bis 1909/10 (in %) 100%

Anzahl der Schulkinder

80%

60%

40%

20%

0

8

6

19

09 /1

07 /0 19

19

05 /0

4

2

03 /0 19

00

01 /0

/1 9 99 18

19

8

6

97 /9 18

18

93 /9 18

95 /9

4

2

0

91 /9 18

18

89 /9

8

6

87 /8 18

4

85 /8 18

18

83 /8

2

0

81 /8 18

8

79 /8 18

77 /7 18

4

75 /7 18

2

73 /7 18

71 /7 18

6

0%

Schuljahr

k.k. dt. AG - kath.

k.k. dt. AG - jüd.

k.k. dt. NG - kath.

k.k. dt. NG - jüd.

k.k. tsch. AG - kath.

k.k. tsch. AG - jüd.

Quelle: Vgl. Jahresbericht deutsches AG 1873-1910; Jahresbericht deutsches NG 1875-1910; Jahresbericht tschechisches AG 1878-1910; eigene Berechnung.

4.3.3

Zusammenfassung

Die Ausführungen zum Schulwesen in Prag haben gezeigt, dass das tschechische Ausbildungssystem unter den tschechischen Muttersprachlern an Bedeutung gewinnt. Dass diese Entwicklung durch nationale Kampagnen, verschiedene Arten der Druckausübung und nicht zuletzt durch den tschechisch dominierten Magistrat in Prag vorangetrieben wird, ist nicht zu bestreiten. Doch weist die bei den Volksund Bürgerschulen und den Gymnasien447 bestehende Minderheit tschechischer Muttersprachler, die weiterhin die deutsche Unterrichtssprache wählt, darauf hin, dass erstens eine Entscheidung für die deutschen Lehranstalten grundsätzlich weiterhin möglich ist und daraus ergibt sich zweitens, der Wechsel zur tschechischen Unterrichtssprache durchaus auch auf freiwilliger Basis stattfindet. Den Aufschwung des tschechischen Bildungswesens demonstrieren sowohl die steigenden Schülerzahlen, ob im Volks- oder im Mittelschulwesen, als auch die zahlreichen Schulgründungen auf allen Ebenen. Dagegen sinkt an den Volks- und Bürgerschulen mit deutscher Unterrichtssprache die Gesamtzahl der Schüler, wobei sich die Verhältnisse der Tschechen und Deutschen, sowie der Juden und Katholiken ab Mitte der 1890er Jahre kaum ändern, also keine spezielle Gruppe den Rückgang verursacht, sondern das deutsche Elementarbildungswesen in Prag 447

Gleiches gilt für die Realschulen. Da der Schultyp des Realgymnasiums ab 1879/80 nur noch mit tschechischer Unterrichtssprache besteht, entfällt hier die Wahlmöglichkeit zwischen deutscher und tschechischer Ausbildung.

Schulwesen

249

gegenüber der aufsprießenden tschechischen Variante zurückbleibt. Die verblassende Attraktivität deutscher Schul- und Ausbildungsangebote für die zunehmend national bewusster werdenden Tschechen (vgl. auch Havránek 1996: 200) drücken in gewisser Weise ebenfalls die Tendenzen im Mittelschulwesen aus, wo zunehmend Anstalten mit tschechischer Unterrichtssprache und die Schülerschaft tschechischer Muttersprache quantitativ dominieren, während sich beispielsweise die Zahl deutscher Mittelschüler ab Mitte der 1880er Jahr kaum noch bewegt. In die gleiche Richtung weist der eindeutige Rückgang tschechischer Muttersprachler an den deutschen Einrichtungen. Trotzdem bleibt zu erwähnen, dass auch im Jahr 1909/10 noch vier Prozent aller tschechischen Mittelschüler sich für eine deutsche Sekundarbildung entscheiden, wohingegen der entsprechende Anteil bei den deutschen Muttersprachlern sich immer noch auf null Prozent beläuft. Demnach wird die tschechische Bildung für tschechische Muttersprachler attraktiver, in keinem Falle aber für die Deutschen. Im Hinblick auf die Bevölkerungsgruppe mosaischen Glaubensbekenntnisses zeigt die Analyse der konfessionellen Gliederung der Schülerschaft, dass unabhängig vom Schultyp, egal ob Volks- oder Mittelschulwesen, in jüdischen Kreisen auch noch um die Jahrhundertwende und darüber hinaus das deutsche Ausbildungssystem bevorzugt wird.448 An den Volks- und Bürgerschulen steigt die Zahl jüdischer Schulkinder an tschechischen Einrichtungen zwar leicht an, bleibt aber im Vergleich zu ihrer Anzahl an den deutschen Institutionen (noch) vernichtend klein (179 gegenüber 1605 im Schuljahr 1899/1900). An den Gymnasien verzeichnen die Juden an den deutschen Anstalten den stärkeren absoluten Anstieg und behalten ihre Mehrheit von 85 Prozent gegenüber 15 Prozent jüdischer Gymnasiasten an tschechischen Einrichtungen dauerhaft bei.449 Ansätze konfessioneller Separation sind in den Einrichtungen aller Ausbildungsebenen und beider Unterrichtssprachen in der Kleinseite zu erkennen. Wenn auch auf Volksschulebene noch das Argument des Schulsprengels und damit der geringen Zahl jüdischer Einwohner in der Schulgemeinde greift, basiert die Wahl der Mittelschule auf den individuellen Entscheidungen der Eltern und ihrer Kinder. Gerade an den deutschen Schulen lässt sich erkennen, dass weniger die Muttersprache als das Religionsbekenntnis ein potenzielles Entscheidungskriterium darstellt. Denn deut-

448

449

Generell liegt der Anteil der jüdischen Kinder an der Schülerschaft im Mittelschulwesen und auch der universitären Bildung deutlich über ihrem Anteil an der österreichischen Bevölkerung (vgl. hierzu Cohen 1996a: 140-169). Ähnlich stabil ist die Situation an den Realschulen, wo ihre absolute Zahl im Laufe des ersten Jahrzehnts des 20. Jahrhunderts zwar um etwa 100 abnimmt, aber auch die tschechischen Anstalten einen leichten Rückgang verbuchen und somit weiterhin über 80 Prozent der jüdischen Realschüler sich für Deutsch als Lehrsprache entscheiden. Realgymnasien existieren zu diesem Zeitpunkt bereits nicht mehr mit deutscher Unterrichtssprache und dementsprechend wenige jüdische Schüler (nur ein bis zwei Prozent) sind an diesem Schultyp zu finden.

250

Schulwesen

sche Lehranstalten mit rein deutscher Schülerschaft existieren nicht, mit (fast) rein katholischer Schülerschaft schon, in der Kleinseite. Während die jüdische Bevölkerung insgesamt an der in deutscher Sprache gehaltenen Lehre festhält, beginnt sie sich in den Volkszählungen bereits deutlich zu tschechisieren (vgl. auch Cohen 1981: 224-225; Havránek 1996: 200). Demzufolge steht bei den jüdischen Einwohnern Prags der gewählten deutschen Unterrichtssprache in den Volkszählungsergebnissen immer häufiger die deklarierte tschechische Umgangssprache gegenüber (vgl. hierzu Rauchberg 1905a: 391-394; ders. 1905b: 162-167; Kapitel 3.1.2).

5

Institutionelle und individuelle Voraussetzungen des Bilingualismus – am Beispiel Prager deutscher Unterrichtsanstalten

5.1

Untersuchungsobjekte und Materialgrundlage

5.1.1 5.1.1.1

Unterrichtsanstalten Auswahl der Schulen

Materialgrundlage für die empirische Untersuchung des individuellen Bilingualismus und seine Verbreitung in den letzten Dezennien des 19. Jahrhunderts in Prag bieten die – jährlich neu verfassten und jeden einzelnen Schüler inklusive seiner sozioökonomischen Daten und Noten anführenden – Kataloge ausgewählter Volksschulen und Gymnasien. Dadurch, dass sich erst ab den 1860er Jahren ein tschechischsprachiges Schulwesen etablieren kann und das gesamte Bildungssystem in den folgenden Jahrzehnten unter den Rahmenbedingungen des politisch ausgetragen Sprachenkampfes funktional, territorial und ‚national‘ wesentlich ausgebaut wird, verändert sich auch das ,Sprachverhalten‘ und die Einschulungspraxis der böhmischen Bevölkerung im Hinblick auf die Schulen mit deutscher und tschechischer Unterrichtssprache in dieser Zeit maßgeblich. Eine Begrenzung der empirisch fundierten Analyse auf die Periode von 1870 bis 1900 bzw. 1910 scheint daher gerechtfertigt. Zudem ist dies die Zeit, die für Franz Kafkas Bildungsweg unmittelbar relevant ist. Durch die Person Franz Kafkas als einem potenziell, deutsch-tschechisch bilingualen Prager wird der Ausgangspunkt der Materialgrundlage festgelegt: die deutsche Altstädter Volks- und Bürgerschule für Jungen am Fleischmarkt und das k. k. deutsche Altstädter Staatsgymnasium im Goltz-Kinský-Palais auf dem Altstädter Ring. Daran schließt die Auswahl der deutschen Altstädter Volks- und Bürgerschule für Mädchen, ebenfalls am Fleischmarkt, an, die Gabriele und Valerie Kafka ab der ersten und Ottilie Kafka aber der vierten Klasse besuchen. Um einerseits Franz Kafkas Schulen und deren Besonderheiten im Kontext zu sehen und andererseits eine breitere Untersuchungsbasis der individuellen Zweisprachigkeit unter gleichen lokalen Verhältnissen zu schaffen, wurden weitere Prager Schulen berücksichtigt. Bei den Volksschulen handelt es sich um die deutsche Privat-Volksschule des Piaristenordens mit Öffentlichkeitsrecht (d.h. staatlich anerkannt) sowie die tschechische Volksschule ,U sv. Havla‘ [St. Gallus]. Erstere bietet sich als Vergleichseinrichtung an, da sie ebenfalls im Zentrum Prags liegt und neben der Altstädter Volksschule und jener im ehemaligen jüdischen Ghetto Josefov gelegenen Schule ähnlich stark von jüdischen Kindern (darunter

252

Institutionelle und individuelle Voraussetzungen des Bilingualismus

weiteren Vertretern der Prager deutschen Literatur) frequentiert wird. Die Auswahl der zweiten Schule ist durch ihr Einzugsgebiet begründet. In Prag existieren seit dem Schulaufsichtsgesetz aus dem Jahr 1873 im Gegensatz zum Gebiet des restlichen Böhmens zwei Schulbezirke, ein ,tschechischer‘ und ein ,deutscher‘, die wiederum nach Schultyp und Geschlecht in einzelne Schulgemeinden mit abgetrenntem Einzugsgebiet aufgeteilt sind. Die öffentliche Volksschule ,U sv. Havla‘ in der Altstadt hätte für Franz Kafka die ,tschechische‘ Alternative dargestellt. Ähnliche Kriterien galten für die Auswahl der weiteren Gymnasien, obgleich hier das Angebot um der temporären Vergleichbarkeit willen sich bereits auf wenige Einrichtungen beschränkt. Denn vom Schultyp Gymnasium, zu dem die Altstädter Anstalt zumindest ab Ende der 1870er Jahre zu zählen ist, bietet sich mit tschechischer Unterrichtssprache lediglich das traditionsreiche akademische Gymnasium an. Zwar nimmt die lange Zeit einzig gymnasiale Einrichtung, in der in tschechischer Sprache gelehrt wird, eine gesellschaftlich exponierte Rolle ein, doch kann sie gerade deswegen auch als ,das‘ tschechische Pendant der etablierten Vermittler ,der‘ deutschen Bildung gesehen werden. Dass sich die Institution im Sinne der Einsprachigkeitsideologie von tschechisch nationaler Seite besonders – zudem auf Kosten eigener Bildungsideale – instrumentalisieren ließe, kann zweifellos ausgeschlossen werden. Die Vergleichsbasis im Hinblick auf die Untersuchung des individuellen Bilingualismus ist somit gegeben. Auch auf Seite der Gymnasien mit deutscher Unterrichtssprache bieten sich für die gesamte Periode von Anfang der 1870er bis 1910 im Grunde nur zwei Möglichkeiten, das ,Kleinseitnergymnasium‘ und das ,Grabengymnasium‘, wobei auf Grund seiner Ansiedlung in der Neustadt und der dadurch bedingten sozialen und religiösen Zusammensetzung der Schülerschaft (vgl. Kapitel 3.1.2.2) sich Letzteres als Vergleichsinstitution für die Altstädter Einrichtung und zur Erweiterung der Datengrundlage anbietet. Im Folgenden werden die einzelnen Anstalten mit deutscher Unterrichtssprache kurz vorgestellt.

5.1.1.2 5.1.1.2.1

Schulgeschichte und Struktur der Schulen Volksschulen

5 .1.1 .2.1 .1 Deutsche Altstädter Volk ssch ule fü r Knab en und Mädchen Die deutsche Altstädter Volks- und Bürgerschule für Knaben und jene für Mädchen liegen beide in der I. Schulgemeinde des deutschen Schulbezirks in Prag.450 Im September 1861 wird – zunächst nur für Jungen – die vierklassige öffentliche

450

Hinsichtlich der Aufteilung Prags in Schulbezirke und -gemeinden vgl. Kapitel 4.2.1.2.

Institutionelle und individuelle Voraussetzungen des Bilingualismus

253

(katholische)451 Volksschule mit deutscher Unterrichtssprache eingerichtet. Ihre Gründung geht – ebenso wie jene einer zweiten, in deutscher Sprache lehrenden Volksschule (St. Maria de Victoria, Kleinseite) – auf einen Stadtratsbeschluss aus diesem Jahr zurück, in dem auch die tschechischsprachige Mehrheit die Führung des Prager Magistrats übernimmt (vgl. Jahresbericht AS VS 1877: 4-5). Entsprechend der weiteren Bestimmungen des tschechisch dominierten Stadtverordnetenkollegiums wird an der deutschen Schule Tschechisch ab der dritten Klasse als Pflichtgegenstand eingeführt. Noch hat das Sprachenzwangsverbot (1867) keine Gültigkeit und noch wird tschechisch-deutsche, aber auch ganz eindeutig deutschtschechische Zweisprachigkeit als ,normal‘ und erstrebenswert betrachtet. Dennoch deutet sich in dem Kommentar des zum Direktor der Schule ernannten Realschullehrers Franz Sperk über die geringe Schülerzahl im ersten Jahr bereits eine vom sprachnationalen Diskurs gefärbte Einstellung zum Bilingualismus an. Hier ist zu ergänzen, dass die Altstädter Volksschule auf Grund notwendiger Baumaßnahmen erst Mitte Oktober, also ein Monat später als die anderen Prager Volksschulen, ihre Pforten öffnen konnte. Die Eröffnung der Schule in einem Zeitpunkte, wo bereits die Schüler anderweitig unterbracht waren, der gelinde Zweifel in das Zustandekommen einer deutschen Schule überhaupt; ferner die schon damals bestandene und im gegenwärtigen Augenblicke noch immer herrschende Gleichgiltigkeit vieler Eltern, – namentlich der deutschen, – bei der Wahl einer Schule für ihre Kinder; und endlich der in Prag unter den deutschen fast allgemein herrschende, sozusagen in Fleisch und Blut übergangene, aber durchaus unberechtigte, weil durch gar nichts gerechtfertigte Grundsatz: Man müsse die Kinder zuerst im slavischen Idiom unterrichten lassen – also die Kinder in böhmische Schulen schicken, – dass sie dadurch befähigt werden, alle anderen Sprachen, – auch die deutsche – leichter, richtiger und schneller zu erlernen: trug Schuld, dass bei der Eröffnung der Schule nicht mehr als 63 Schüler für alle vier Klassen die Aufnahme ansuchten – (und darunter waren viele Kinder böhmischer Eltern) – freilich eine Zahl, die damals zu allerhand Glossen von Seite der Feinde der deutschen Schule Veranlassung gab (Jahresbericht AS VS 1877: 12).

Die Befürchtungen des Direktors erweisen sich in der Folgezeit als völlig unbegründet, denn bereits zwei Jahre später werden die Räumlichkeiten im provisorisch umgebauten Teynhof in der Altstadt zu klein – von 400 Bewerbungen können aus Platzgründen nur 367 angenommen werden –, sodass der Stadtrat 1863 den Bau eines eigenen Gebäudes auf einem Grundstück der Gemeinde (Nr. 1000I) genehmigt und zugleich der parallelen Unterbringung einer dreiklassigen Mädchenschule zustimmt. Ihre Leitung übernimmt zunächst der bisherige Direktor der böhmischen Mädchenvolksschule zu St. Jacob, Jacob Heinrich, ab 1867/68 ist dann Franz Sperk sowohl für die Knaben- als auch die Mädchenschule (bis 1895) zuständig. Die Sorge um die Pflege der tschechischen Muttersprache im Sinne 451

Im Zusammenhang mit der Eröffnung der Knabenschule weist der Direktor auf die an „kath. Schulen übliche Weihe“ durch den Herrn Canonicus Heinrich hin (vgl. Jahresbericht deutsche AS VS 1877: 13).

254

Institutionelle und individuelle Voraussetzungen des Bilingualismus

einer ,sprachnationalen‘ Identität, die jedoch noch keinen Bilingualismus ausschließt, kommt auch in der Rede des ,tschechischen‘ Prager Bürgermeisters Bĕlský zur Eröffnung der Mädchenvolksschule zum Ausdruck: Es gereicht mir aber zu einer besondern Beruhigung und Befriedigung, dass die an dieser Schule angestellten Lehrer beider Landessprachen mächtig sind. Es ist fürwahr ein nicht zu übersehender und nicht zu unterschätzender Factor, dass ein grosser Theil der Zöglinge dieser Anstalt die čechische Sprache zu ihrer Muttersprache haben und diese Sprache besser als die deutsche sprechen, und es wird daher, meine Herren Lehrer, Ihre Aufgabe sein, b e i d e m U n t e r r i c h t e z u m V o r t h e i l e d e r s e l b e n , d i e M u t t e r s p r a c h e d e r S c h ü l e r z u p f l e g e n . Es widerspricht dies nicht dem Character der Schule als einer deutschen, wenn man in derselben die čechische Sprache pflegt. Es wird dies ferner dem Wunsche vieler Eltern entsprechen und schreibt dies auch das Schulgesetz vor (Jahresbericht AS VS 1877: 16, Herv. i.O.).

Der Andrang auf die Schule verstärkt sich in den folgenden Jahren. Mit der Aktivierung des k. k. deutschen Bezirksschulrates in Prag infolge des Schulaufsichtsgesetzes sind die Voraussetzungen geschaffen, dieser verstärkten Nachfrage durch die Teilung von überfüllten Klassen in parallele Abteilungen leichter Rechnung zu tragen (vgl. ebd.: 19).452 Bis 1877 wächst die Zahl der Klassen auf 33 an. Außerdem wird die Altstädter Schule 1875/76 zur Bürger- und Volksschule für Mädchen und Jungen erhoben. Bereits ein Jahr später wird an der Mädchenschule eine dritte Bürgerschulklasse eröffnet. Die Schülerzahlen steigen sprunghaft an.453 Im Schuljahr 1878/79 wird die Anstalt nach dem Geschlecht geteilt, Franz Sperk zum Direktor der Mädchenvolksschule und Franz Ertl zum Leiter der Volksschule für Knaben ernannt. Mitte der 1880er Jahre wird Ertl durch Franz Fieger abgelöst, der nach zehnjährigem Vorstand an der Jungenvolksschule 1895 noch für zwei Jahre auf den Direktorenposten der Mädchenanstalt wechselt, wo er schließlich von Hugo Ullmann ersetzt wird, während Direktor Mellautner die Leitung der Volksschule für Knaben inne hat. Zur Zeit von Franz Kafkas Einschulung Ende der 1880er Jahre umfasst die deutsche Altstädter Volks- und Bürgerschule für Knaben 13 Schulklassen (inkl. fünf Parallelklassen) mit durchschnittlich 66 Schülern. Verhältnisse, die vom ehemaligen Mitschüler Franz Kafkas, Hugo Hecht, wie folgt charakterisiert werden: Zu unserer Schulzeit war es [das Schulgebäude] fast modern, nur war der Hof für die vielen Schüler zu klein, um allen in der 10-Uhr-Pause den Aufenthalt in frischer Luft zu 452

453

Der Ausbau des deutschen Schulwesens Mitte der 1870er Jahre steht ferner im Zusammenhang mit der Ernennung Prof. Joh. Liebleins zum Bezirksschulinspektor für die deutschen Volks- und Bürgerschulen Prags und seiner Vororte und seines Reformdranges (vgl. Jahresbericht deutsche AS VS 1877: 19). Im Schuljahr 1876/77 bestehen beispielsweise Mädchenklassen mit über 100 Schülerinnen, die auf Grund eines nichterreichten Dreijahresdurchschnittes nicht geteilt werden dürfen. Teilweise werden sogar einzelne Klassen in externe Gebäude ausgelagert (vgl. Jahresbericht AS VS 1877: 20).

Institutionelle und individuelle Voraussetzungen des Bilingualismus

255

gestatten. Wie halfen sich damals die Schulbehörden? Es wurde niemand auf den Hof hinausgelassen. Wir verbrachten die Pausen auf den Gängen oder in den Klassenzimmern (Hecht 1996: 28).

Ab dem Schuljahr 1893/94 reduziert sich die Anzahl der Klassen auf zwölf (bleibt dann konstant), deren Stärke bis zur Jahrhundertwende auf unter 60 Schüler sinkt. Die Mädchenanstalt ist etwas größer, bis 1892/93 sind dort meist zwischen 15 und 16 Klassen untergebracht. In der Folgezeit bis zur Jahrhundertwende, als auch Franz Kafkas Schwestern Valerie und Gabriele an der deutschen Altstädter Volksund Bürgerschule eingeschrieben sind, gibt es 14 Schulklassen mit anfangs noch über 70 Schülerinnen, deren Zahl Ende der 1890er aber auf durchschnittlich knapp 60 Schülerinnen sinkt.454 Ein punktueller Blick auf die Volks- und Bürgerschullandschaft in Prag (1.-7. Bezirk) im Jahr 1890, nachdem auch zahlreiche Einrichtungen mit tschechischer Unterrichtssprache etabliert sind (vgl. Kapitel 4.3.1.1) sieht folgendermaßen aus: Es gibt zwölf deutsche öffentliche Volks- und Bürgerschulen, 16 deutsche Privatschulen sowie 42 tschechische öffentliche Volks- und Bürgerschulen und fünf tschechische Privatschulen (vgl. Schematismus 1891: 776-777). Das für die deutsche Altstädter Volks- und Bürgerschule für Mädchen und Jungen relevante Einzugsgebiet überschneidet sich mit jenem von sechs tschechischen Volks- und drei tschechischen Bürgerschulen.455

5 .1.1 .2.1 .2 Tschechische Volksschu le ,U sv . Havla‘ [St. Gallu s] Die Volksschule mit tschechischer Unterrichtssprache ,U sv. Havla‘ [St. Gallus] in der Altstadt gehört zu den zwölf Schulen, die zwischen 1787 und 1847 in den Grenzen der Prager Gemeinde gegründet werden456 (vgl. Rozvoj školství 1891: 9; Frumar / Neťukaj 1920: 54, 57). Im Laufe der 1860er Jahre sinkt dort die Anzahl der Schüler und Schülerinnen von weit über 200 auf knapp 150, die von drei Lehrkräften und einer Industriallehrerin unterrichtet werden (vgl. Frumar 1920: 244-247). Im April 1874 beschließt der tschechische k. k. Bezirksschulrat, dass die gemischten Schulen bei ,sv. Havla‘, ,sv. Jiljí‘, ,sv. Ducha‘ und ,sv. Františka‘ nach dem Geschlecht getrennt werden; ferner sollen dreiklassige Schulen um eine 454 455

456

Vgl. AHMP: NR: Fonds der deutschen Volks- und Bürgerschule für Mädchen, Prag-Altstadt, Fleischmarktgasse 1, Nr. 1052, 1861-1945. Schulkatalog, 1871/72-1898/99. Bei den Volksschulen handelt es sich um folgende: I. Staromĕstský II. U sv. Františka III. U sv. Havla / U sv. Jiljí (Mädchen) IV. U sv. Kříže Vĕtšího / U sv. Haštala (Mädchen) V. U sv. Petra VI. U sv. Jindřicha XVIII. Bubenský. Da bei den Bürgerschulen die Grenzen der Schulgemeinden von Jungen und Mädchen meist nicht übereinstimmen, werden die Gemeinden extra aufgeführt. Die Bürgerschulen auf die Knaben bezogen betreffen die Gemeinden: IV. U sv. Jakuba V. U sv. Jindřicha VI. U sv. Kříže Vĕtšího X. Bubenský und auf die Mädchen bezogen die Gemeinden: 5. U sv. Jiljí 6. Staromĕstský 7. U sv. Jindřicha 11. Bubenský (vgl. Dějiny školství 1920: Příloha [Beilage]). Leider konnte für diese Volksschule keine Jahresberichte bzw. Chroniken ausfindig gemacht werden, sodass ein historischer Abriss der Geschichte der Einrichtung nur sehr begrenzt möglich ist.

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Institutionelle und individuelle Voraussetzungen des Bilingualismus

vierte Klasse und je nach räumlicher Verfügbarkeit um eine fünfte Klasse aufgestockt werden. In diesem Prozess wird die Volksschule ,U sv. Havla‘ zum Schuljahr 1874/75 zur vierklassigen, reinen Knabenvolksschule. Zudem beantragt der k. k. Bezirksschulrat beim Prager Stadtrat eine bessere Unterbringung der Schüler. Zwei Jahre später wird die Einrichtung einer fünften Klasse genehmigt (vgl. Frumar 1920: 262). Insgesamt gehört die Anstalt ,U sv. Havla‘ zu den kleineren tschechischen Volksschulen – z.B. hat 1876/77 die Volksschule ,U matky boží Vítězné‘ neun oder ,U sv. Štěpana‘ sogar zwölf Klassen (vgl. ebd. 263). Zum Schuljahr 1883/84 steigen die Schülerzahlen an der Anstalt sprunghaft auf über 300 Knaben an, da an der nahegelegenen Volksschule ,U sv. Jiljí‘ erst jetzt die Geschlechtertrennung umgesetzt wird. Sie wird zur reinen Mädchenschule, während die Jungen zur Volksschule ,U sv. Havla‘ wechseln (vgl. ebd.: 263, 270-274). In den folgenden Jahren werden dort zwischen 350 und 450 Knaben von sechs bis sieben Lehrern unterrichtet, auch wird im Jahr 1887/88 eine sechste Jahrgangsstufe eingerichtet. Diese wird allerdings bereits Ende der 1890er Jahre – bedingt durch die sinkenden Schülerzahlen auf knapp 330 – wieder abgeschafft (vgl. Dolenský 1920: 320-329). Im Gegensatz zur Mädchenschule ,U sv. Jiljí‘ (1902/03) wird die Jungenschule am Uhelný trh [Kohlenmarkt] nicht zur Bürgerschule ausgebaut, sondern bleibt bis zum Ausbruch des Krieges eine fünfklassige Volksschule mit tschechischer Unterrichtssprache und etwas mehr als 200 Schülern (vgl. ebd. 330-342).

5 .1.1 .2.1 .3 Deutsche Priv at-Volksschu le fü r Kn aben m. Ö. des Piaristenordens Die deutsche Volksschule der Piaristen m. Ö. wird 1766 vom seit Mitte des 18. Jahrhunderts in Prag ansässigen Orden als private Einrichtung in der Herrengasse gegründet (vgl. Zemek / Bombera / Filip 1992: 106). Sie hat zu Franz Kafkas Schulzeit den Ruf der teureren Einrichtung für die Söhne der finanziell besser gestellten deutschen und deutsch-jüdischen Gesellschaft des ,Stadtparks‘. Zu den bekanntesten Schülern auch des zunächst noch von den Piaristen geleiteten Gymnasiums (später Staatsgymnasium am Graben) gehören Max Brod, Egon Erwin Kisch, Oskar Kraus, Fritz Mauthner, Gustav Meyrink, Leo Perutz, Rainer Maria Rilke, Johannes Urzidil und Franz Werfel (vgl. Pleticha 2001: 8). Anders als die Leitung des Gymnasiums bleibt die Volksschule über den gesamten Betrachtungszeitraum hinweg in den Händen des Piaristenordens. Bis zum Schuljahr 1882/83 wird neben der Volks- auch eine Bürgerschule bei den Piaristen erwähnt (vgl. z.B. Statistisches Handbuch 1881: 196). Die Abschaffung der Bürgerschulklassen wirkt sich zunächst jedoch nicht auf die Schülerzahlen aus, so besuchen bis Anfang der 1890er Jahre durchschnittlich über 350 Schüler die fünfklassige Piaristenvolksschule. Zur Jahrhundertwende sinkt ihre Zahl dagegen deutlich ab, auf nur mehr 251 Knaben im Schuljahr 1899/1900 (vgl. ebd. 1881 bis 1901).

Institutionelle und individuelle Voraussetzungen des Bilingualismus

5.1.1.2.2

257

Gymnasien

5 .1.1 .2.2 .1 K. k. deutsches Staatsg ymn asiu m in Prag -Altstadt Das spätere k. k. deutsche Staatsgymnasium in Prag-Altstadt wird zunächst als weiteres Realgymnasium mit deutscher Unterrichtsprache geplant, und zwar nicht in der Altstadt, sondern auf der Kleinseite. Initiiert wird die Einrichtung dieser deutschen Anstalt aufgrund der weiterhin starken Nachfrage nach deutscher Mittelschulbildung im Jahr 1871 vom damaligen Direktor der k. k. Lehrerbildungsanstalt und späteren k. k. Landesschulinspektor Michael Achtner (vgl. Jahresbericht deutsches AG 1873: 5). Obgleich die Genehmigung zunächst verzögert (vgl. auch Strakosch-Grassmann 1905: 282) und erst nach Beginn des Schuljahres erteilt wird, übertreffen die Schüleranmeldungen das zugelassene Maximum, sodass bereits im ersten Jahr eine Aufteilung in Parallelklassen erfolgt (vgl. Jahresbericht deutsches AG 1873: 5). Am Ende des Schuljahres 1872/73 trifft die hohe Verordnung ein, in der das deutsche Staatsrealgymnasium den III. Bezirk (Kleinseite) mit dem I. (Altstadt) vertauschen sollte.457 Daraufhin werden die Pläne eines Neubaus auf der Kleinseite verworfen und das den gräflichen Herren Harbuval-Chamare gehörige Haus Nr. 7 in der Bartholomäusgasse angemietet. Nach notwendigen Umbaumaßnahmen erfolgt zum März 1874 die Übersiedlung von den provisorisch zur Verfügung gestellten Räumen in der Lehrerbildungsanstalt in die Altstadt. Nachdem Michael Achtner sehr kurz nach Eröffnung der neuen Anstalt die Beförderung zum Landesschulinspektor erhält, wird nach kurzer Zeit der Professor des akademischen Gymnasiums in Wien, Phil. Dr., k. k. Johann Konrad Hackspiel458 zum Direktor des deutschen Realgymnasiums in der Altstadt ernannt. Er wird diesen Posten – nur mit sehr kurzen krankheitsbedingten Unterbrechungen (vgl. ebd. 1885: 86) – bis zu seiner Versetzung in den Ruhestand im März 1899 innehaben (vgl. ebd. 1873: 6-7; 1901: 42). In den beiden folgenden Jahren werden zunächst die dritte und dann die vierte Klasse eingerichtet, die Prima und Sekunda muss jeweils in Parallelklassen aufgeteilt werden (vgl. ebd. 1874: 24; 1875: 27). Zum Schuljahr 1875/76 werden auf Grund der steigenden Schülerzahlen ferner weitere Räumlichkeiten angemietet (vgl. ebd. 1876: 37). Eine andere Neuerung dieses Jahres betrifft den mosaischen Religionsunterricht, der fortan in den Räumen des deutschen Staats-Realgymnasiums – also nicht wie bisher außerhalb und für Schüler verschiedener deutscher Mittelschulen Prags gemeinsam – erteilt wird (vgl. ebd.: 38-39). Ende der 1870er Jahre zieht die Anstalt nicht nur in den Kinský-Palais am Altstädter Ring um, sondern erhält zum Schuljahr 1879/80 au457

458

„Hiebei war unzweideutig das Princip massgebend, die deutschen Mittelschulen derselben Kategorie in den einzelnen Theilen der Provinicialhauptstadt zweckentsprechender zu vertheilen und nach und nach jedem derselben den Genuss der Wohlthat höherer deutscher Cultur leichter zugänglich zu machen“ (Jahresbericht deutsches AG 1874: 23). Im Juli 1890 wird J. K. Hackspiel ferner zum Mitglied des k. k. Landesschulrates für Böhmen ernannt und bekommt 1896 den Titel des Regierungsrates verliehen (vgl. ebd. 1901: 43).

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Institutionelle und individuelle Voraussetzungen des Bilingualismus

ßerdem die Genehmigung zur Eröffnung einer Quinta und dem sukzessiven Ausbau bis zur Oktava. Damit wird das Realgymnasium zu einem reinen Gymnasium mit deutscher Unterrichtssprache erhoben (vgl. ebd. 1880: 52), das schließlich auch Franz Kafka von 1893/94 bis 1900/01 besuchen wird. Sein hoher Anteil an jüdischen Schülern wird von Emil Utitz in der Erinnerung als eine Besonderheit des Instituts im alten Österreich der Jahrhundertwende betrachtet (vgl. Utitz 1996: 39). Nach einer wohlbestandenen Aufnahmeprüfung traten wir ins Altstädter Staatsgymnasium ein. Brod hat es als strengstes in Prag bezeichnet, und darin hatte er recht. [...] Das Altstädter Staatsgymnasium war im Kinský-Palais untergebracht [...]. Es hatte – und hat noch heute – einen prächtigen Herrschaftstrakt an der Straßenfront und ausgedehnte Hintergebäude, die zwei weite Höfe einschlossen. Auf diesen verbrachten die Schüler die 10-Uhr-Pause. Unter Aufsicht der Professoren. Die meisten Schüler brachten das ,Gabelfrühstück‘ – zweites Frühstück – von zu Hause mit. Die Söhne der wohlhabenden Eltern konnten es sich leisten, ihr Gabelfrühstück beim Schuldiener Kletetschka zu kaufen (Hecht 1996: 29; vgl. auch Brod 1966: 21).

Im Betrachtungszeitraum findet noch ein Wechsel im Amt des Direktors statt, und zwar übernimmt nach kurzer krankheitsbedingter Stellvertretung Hackspiels (ab September 1898) durch den Senior der Lehrerschaft, Professor Emerich Müller, der bisherige Professor am k. k. Maximiliansgymnasium in Wien, Dr. Anton Frank, die Leitung der Anstalt (vgl. ebd. 1900: 70). Als Realgymnasium wird die Anstalt in den 1870er Jahren durchschnittlich von etwa 210 Schülern besucht, die in drei bis sieben Klassen unterrichtet werden. Nach seiner Umwandlung in ein reines Gymnasium steigen die Schülerzahlen rasch an, sodass bis Mitte der 1890er Jahre jährlich im Durchschnitt rund 320 Knaben meist auf zehn oder elf Klassen aufgeteilt unterrichtet werden. In der Folgezeit (ab 1896), also auch noch zu Franz Kafkas Schulzeit (1893-1901) frequentieren weitaus weniger Schulkinder das deutsche Staatsgymnasium in der Altstadt, in nur mehr acht Klassen werden durchschnittlich knapp 160 Schüler gelehrt (vgl. Statistisches Handbuch 1871-1912).

5 .1.1 .2.2 .2 České akademické g ymn áziu m [Tschechisches ak ademisches Gy mn asiu m] Das k. k. tschechische akademische Gymnasium ist heute die älteste und traditionsreichste Schule der Tschechischen Republik. Es wird im Jahr 1556 beim Jesuitenkolleg im Klementinum gegründet459 und erlangt durch die Anbindung an die Universität zugleich seinen Namen ,akademisch‘. Während bis zur Regierungszeit Josephs II – zumindest in den unteren Klassen – das Tschechische als Verständigungssprache benutzt wird, setzt sich in der Zeit des aufgeklärten Absolutismus auch hier die deutsche Sprache durch. Dennoch zeigen erhaltene Schülerverzeich459

Im Schuljahr 1882/83 zieht es in ein Mietshaus am Smetana Ufer um. 1902 erhält das Gymnasium schließlich sein eigenes neues Gebäude (vgl. Almanach 1986: 44, 52).

Institutionelle und individuelle Voraussetzungen des Bilingualismus

259

nisse, dass die Mehrheit der Schüler weiterhin primär aus tschechischsprachiger Umgebung stammt (vgl. Almanach 1986: 17-18). Die tschechische Sprache wird an der Einrichtung weiterhin gepflegt, insbesondere auch nach der Verordnung aus dem Jahr 1816, nach der bei einer Mehrheit an tschechischsprachigen Schülern auch Lehrer mit guten Tschechischkenntnissen einzusetzen seien. Ferner engagieren sich für das Tschechische Persönlichkeiten wie Josef Jungmann, der ab 1815 am akademischen Gymnasium wirkt.460 Auch andere Professoren der Anstalt hatten Lehrbücher in tschechischer Sprache herausgegeben (z.B. Mathematik – Stanislav Vydra, Physik – Jiljí Chládek) (vgl. ebd.: 26). Die Gründung der Bruderschaft des Hl. Wenzel im Revolutionsjahr auf dem Hof des Gymnasiums deutet den an der Schule herrschenden patriotischen Geist an. Nach Niederschlagung der Revolution wird das Tschechische im Unterricht am akademischen Gymnasium in Prag dennoch soweit wie möglich gefördert und gefordert (zwischenzeitlich sogar zum Pflichtfach und zur Unterrichtssprache erklärt). Auch nach außen besitzt das Gymnasium den Ruf einer ,tschechischen‘ Anstalt. K tomu konci budiž gymnázium staroměstské (tj. akademické) považováno za české, čímž to se docílí, že do něho jen žákové vstoupí, kteří české řeči tak dostatečně vědomi jsou, aby jazykem českým mohli se vyučovati. [...]. K obsazování učitelských míst na gymnáziu staroměstském bude se k tomu hleděti, aby, co možná takoví muži byli zvoleni, kteří jsou češtiny dobře znalí, zároveň ale ve vědeckém i učitelském ohledu výteč461 ní, a o vědecký pokrok žákův svých svědomitě pečlivi In diesem Sinne sei das Altstädter (d.h. akademische) Gymnasium als tschechisch anzusehen, was dadurch erreicht wird, dass nur Schüler eintreten, die der tschechischen Sprache so ausreichend mächtig sind, um darin unterrichtet zu werden. [...] Bei der Besetzung der Lehrstellen am Altstädter Gymnasium wird darauf geachtet werden, dass möglichst solche Personen ausgewählt werden, die das Tschechische gut können und gleichzeitig aus wissenschaftlicher und didaktischer Sicht ausgezeichnet sind und sich sorgfältig um den wissenschaftlichen Fortschritt ihrer Schüler kümmern – Übersetzung I.S.].

Obgleich sich infolge des Verbots der tschechischen (patriotischen) Schülerzeitung des akademischen Gymnasiums (1853) (vgl. ausführlich Almanach 1986: 2831) der Germanisierungsdruck an der Anstalt wieder erhöhte, weist die Schulstatistik für das Jahr 1854 von 456 Schülern immer noch 400 als ,Tschechen‘ aus (vgl. ebd.: 27). Das Übergewicht an tschechischsprachigen Schülern zieht sich durch die gesamte Geschichte der Anstalt. Die Ereignisse tschechischen nationalen Charakters der zweiten Hälfe des 19. Jahrhunderts spiegeln sich auch in der Chronik der Schule wider – zu nennen sind hier beispielsweise die Teilnahme an nationalen kulturellen Aktionen, am Begräbnis František Palackýs (1876), an der Jubiläumsausstellung (1891) und der Unterstützung der Eröffnung der privaten

460 461

Von 1834-1844 ist Jungmann der erste weltliche Präfekt der Anstalt (vgl. Almanach 1986: 27). Kommentar des ersten Direktors des Gymnasiums und Dramatikers, Václav Kliment Klicpera, in der Prager Presse im Jahr 1851, zit. nach Almanach (1986: 26).

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Institutionelle und individuelle Voraussetzungen des Bilingualismus

Mädchenschule ,Minerva‘ mit tschechischer Unterrichtssprache in Prag (vgl. ebd.: 45). Geführt wird die Anstalt im Betrachtungszeitraum (1870-1910) zunächst von Tomáš V. Bílek, der 1867 von der Leitung des Gymnasiums in Hradec Králové an das akademische Gymnasium in Prag berufen wird. Nach dessen Pensionierung übernimmt zum Schuljahr 1872/73 der ehemalige Direktor des k. k. deutschen Gymnasiums auf der Kleinseite, JUDr. Matěj Kawka, Schulrat und k. k. Bezirksschulinspektor sowie Mitglied des Rates der Gemeindeältesten die Leitung der Anstalt (vgl. Almanach 1900: 29). Ab Mitte der 1880er Jahre tritt an seine Stelle Josef Baudiš, Schriftsteller, Mathematiker und Schulinspektor (vgl. ebd.: 32). Aus gesundheitlichen Gründen steht er der Institution nur bis 1889/90 vor. Interimsdirektor für ein Jahr wird Jan Slavík, der wiederum schon ein Jahr später zum Schulinspektor ernannt und daher kurzfristig von Tomáš Hlavín vertreten wird. 1892 übernimmt schließlich Jaroslav Sobička, bisher Professor des Real- und Obergymnasiums in Prag das Rektorat des akademischen Gymnasiums (vgl. Jahresbericht AkG 1892: 35). Als dieser zum Landesschulrat erhoben wird, folgen zwei sehr kurze Amtsperioden an der Spitze des akademischen Gymnasiums. Die erste Vertretung Sobičkas zum Schuljahr 1899/1900 übernimmt Prof. František Žlábek, der bereits im ein Jahr später durch den neuernannten Rektor Dr. František Krsek, Professor des k. k. Real- und Obergymnasiums in Kolin, ersetzt wird (vgl. ebd. 1902: 16). Allerdings wird dieser bereits am Ende des Schuljahres zum Landesschulrat befördert, sodass im Schuljahr 1901/02 Antonín Truhlář462, bisher Professor am k. k. akademischen Gymnasium die Position des Direktors besetzt. Nach dessen Beurlaubung und seiner endgültigen Pensionierung geht die Leitung der tschechischen Altstädter Anstalt an Albert Dohnal, der bisher als Professor am k. k. Gymnasium in der Truhlářská Straße, Prag Neustadt, unterrichtete (vgl. Jahresbericht AkG 1907: 21).463 Bis zum Schuljahr 1881/82 ist das akademische Gymnasium das einzige Gymnasium mit tschechischer Unterrichtssprache in Prag, erst in den darauffolgenden Jahren werden zwei weitere tschechische Gymnasien in der Neustadt gegründet (vgl. Kapitel 4.3.2.1). Bis Mitte der 1890er Jahre, als schließlich der Ausbau der tschechischen Gymnasiallandschaft nochmals einen bedeutenden Schub erfährt, 462

463

Antonín Truhlář ist auch Autor von Tschechischlehrwerken, die zu Franz Kafkas aktiver Schulzeit am deutschen Staatsgymnasium in Prag-Altstadt verwendet werden (vgl. Truhlář, Antonín (1886): Výbor z literatury české. III. díl Doba nová. Za čítanku pro vyšší třídy škol středních sestavili A. T., J. [Josef] G. [Grim] a J. [Jan] P. [Pelikán] [Auswahl aus der tschechischen Literatur. III. Teil. Neuzeit. Als Lesebuch für die Oberklassen des Gymnasiums zusammengestellt von ...]. Praha: Bursík & Kohout). In diesem Zusammenhang wurden sie von Marek Nekula ausführlich analysiert (vgl. Nekula 2003: 146-151). Kateřina Řezníčková bietet einen Überblick der von 1867 bis 1918 am tschechischen akademischen Gymnasium tätigen Professoren inklusive der unterrichteten Fächer, ihrer vorangegangenen Wirkungsstätte und der gegebenenfalls folgenden Stelle (vgl. Řezníčková 2007: 210-212).

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werden am akademischen Gymnasium zwischen 400 und 600 Schüler – bis auf sehr vereinzelte Ausnahmen – tschechischer Muttersprache meist in 15 Klassen unterrichtet. Danach sinkt ihre Zahl beständig ab und liegt am Ende des Betrachtungszeitraums (1909/10) bei ,nur‘ 277 Schülern, die auf neun Klassen aufgeteilt werden (vgl. Statistisches Handbuch 1871-1912).

5 .1.1 .2.2 .3 K. k. deutsch es Staatsg ymn asiu m in Prag -Neu stadt, Graben Das k. k. deutsche Staatsgymnasium in Prag-Neustadt – auch Grabengymnasium genannt – geht aus der vom Piaristenorden (seit 1752 in Prag) im Jahr 1778 im Bereich seines Klosters zusammen mit einer Volksschule eröffneten Anstalt hervor. Ursprünglich war das Gymnasium an der Kirche des Hl. Ignaz gelegen, von den Jesuiten geleitet und nach deren Aufhebung (1773) kurzzeitig geschlossen worden. Auf Druck der Bürger war es zur Neueröffnung des Gymnasiums verbunden mit seiner Verlagerung zu den Piaristen gekommen (vgl. Zemek / Bombera / Filip 1992: 70, 106-107). Piaristenvolksschule und -gymnasium liegen an der Ecke Am Graben – Herrengasse, wo im Jahr 1820 ein neues Gymnasialgebäude erbaut wird (vgl. Jahresbericht deutsches NG 1878: 2). In den 1850er wird das Gymnasium um eine zweiklassige Unterrealschule erweitert, die jedoch 1871 wieder aufgehoben bzw. in Bürgerschulklassen umgewandelt wird. Das Lehrpersonal wird zunächst von Ordensmitgliedern gestellt464, ab dem Jahr 1850 beginnen zunehmend weltliche Kräfte den Unterricht zu übernehmen (vgl. ebd.: 3, 15). So gilt nicht erst für Anfang der 1860er Jahre: „Die Lehrer waren geistliche Herren, aber der Unterricht war schon ziemlich verweltlicht. [...] Wir wurden nicht mit allzu viel Frömmigkeit geplagt“ (Mauthner 2001: 16). Auch wenn Fritz Mauthner kein begeisterter Piaristenschüler war, so charakterisiert seine Erinnerung Anfang der 1860er Jahre die Periode vor der Gültigkeit des Sprachenzwangsverbots (1867) und der relativ zwanglosen Entwicklung v.a. tschechisch-deutscher Zweisprachigkeit, die offensichtlich wesentlich über gesteuerten Spracherwerb, also die Schule erfolgt: Mehrere der Geistlichen, die am Untergymnasium unterrichteten, waren nach ihrer politischen und nationalen Gesinnung Tschechen. Nun war unser Piaristengymnasium offiziell eine deutsche Schule. In den beiden untersten Klassen gab es [...] tschechische Parallelklassen, in denen die tschechischen Kinder ein wenig an die deutsche Unterrichtssprache gewöhnt wurden. Später saßen Deutsche und Tschechen in derselben Klasse beisammen, ungefähr in gleicher Stärke. Es braucht nicht erst gesagt zu werden, daß unter solchen Umständen auch bei besseren Lehrern die sprachliche Langsamkeit der einen Hälfte ein Hemmschuh für den gesamten Unterricht geworden wäre. Von den nationalen Kämpfen Böhmens, die damals schon sehr lebhaft waren und bereits auf die 464

Mitglieder des Piaristenordens sind ab den 1880er Jahren für den Religionsunterricht am tschechischen akademischen Gymnasium, am deutschen Gymnasium auf der Kleinseite, am deutschen Altstädter Gymnasium und am tschechischen Pädagogikinstitut für Mädchen in der Altstadt zuständig (vgl. Zemek / Bombera / Filip 1992: 119).

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österreichische Politik Einfluß nehmen mochten, wußten wir in unserm jugendlichen Alter noch nicht viel, die deutschen Knaben jedenfalls viel weniger als die tschechischen. Wir lernten voneinander in den Pausen die ,zweite Landessprache‘, in welcher wir uns ja nach dem Schulregulativ mündlich und schriftlich sollten ausdrücken können wie in der Muttersprache (Mauthner 2001: 19-20).

Der Andrang auf das Gymnasium wächst Anfang der 1870er Jahre, sodass Parallelklassen eingerichtet und im Jahr 1874 ein drittes Stockwerk aufgesetzt wird (vgl. Jahresbericht deutsches NG 1878: 15, 18). Ein entscheidendes Ereignis dieses Jahres ist auch der Wechsel der Trägerschaft, denn im September 1874 geht die gymnasiale Einrichtung der Piaristen in unmittelbare Staatsregie über, zum Direktor wird der bisherige Leiter der k. k. deutschen Lehrerinnen-Bildungsanstalt in Prag, Dr. Andreas Bauer, ernannt (vgl. ebd.). Sein Nachfolger im Jahr 1885/86, k. k. Regierungsrath Dr. Franz Pauly, bleibt aus schweren gesundheitlichen Gründen nur wenige Monate im Amt (vgl. ebd. 1886: XXVI). Zum kurzfristigen Stellvertreter wird Theol. Dr. Cand. Laurenz Hafenrichter, ehe zum Schuljahr 1886/87 Dr. Josef Walter, früherer Direktor des Staatsgymnasiums in Böhmisch-Leipa zur Leitung des deutschen Neustädter Gymnasiums bestimmt wird (vgl. ebd. 1887: 36). Nach seiner Erkrankung und darauffolgenden Pensionierung im Januar 1900 wird ein Jahr später Dr. Heinrich Rotter, bisher Professor am k. k. Staatsgymnasium mit deutscher Unterrichtssprache in Prag-Kleinseite, zum Direktor der Neustädter Anstalt ernannt (vgl. ebd. 1901: 45). Im Laufe des Schuljahres 1909/10 sucht dieser auch wegen Krankheit um die Versetzung in den bleibenden Ruhestand an und wird zum 1. Januar 1910 von Moritz Strach, dem bisherigen Leiter des Staatsgymnasiums in Prachatizt, im Amt als Direktor abgelöst (vgl. ebd. 1910: 23). Mit dem Übergang des deutschen Neustädter Gymnasiums in Staatsregie steigt die Schülerzahl sehr rasch an und bewegt sich bis Mitte der 1890er Jahre zwischen mehr als 400 und knapp 600 Schülern, die in mindestens zehn, meist aber 13 Klassen unterrichtet werden. Bereits Anfang der 1890er Jahre beginnt ein schleichender Rückgang, der sich bis über die Jahrhundertwende hinaus sukzessive fortsetzt, 1903/04 sind sogar nur noch 166, generell etwa 200, Schüler eingeschrieben, darunter kaum mehr Knaben tschechischer Muttersprache (vgl. auch Kapitel 4.3.2.2.2). Es gibt nur noch acht Klassen, d.h. keine Parallelklassen mehr (vgl. Statistisches Handbuch 1871-1912).

5.1.2 5.1.2.1

Lehrer Ausbildung – Volks- und Bürgerschullehrer

Das Reichsvolksschulgesetz (1869) leitet für den Lehrberuf im Primarbereich eine Wende ein. Zum einen herrscht infolge der Einführung der achtjährigen Schulpflicht, der Herabsetzung der Klassenschülerhöchstzahl, der Neugründung von Volksschulen etc. ein massiver Mangel an Lehrkräften und zum anderen wird die Lehrtätigkeit auf Grundlage des Gesetzes professionalisiert und damit auch ent-

Institutionelle und individuelle Voraussetzungen des Bilingualismus

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scheidend aufgewertet (vgl. Battista 1948: 148-149). Engelbrecht spricht ihm für die Zeit vor der Schulreform gar die Bezeichnung Beruf im Sinne von „occupation“ (Engelbrecht 1986: 63) ab, da keine normierte Ausbildung existiert, es an ständiger Fortbildung mangelt und die Lehrer auch nicht von ihrem Einkommen (Schulgeld, Sammlungen) leben können (vgl. ebd.). Ausgangspunkt zur Verbesserung des Lehrerstandes ist die Institutionalisierung von (unentgeltlichen) staatlichen Lehrer- und Lehrerinnenbildungsanstalten, aber auch der im Reichsvolksschulgesetz angeordnete Aufbau einer Fortbildungsinfrastruktur über Schulzeitschriften, Lehrerbibliotheken, periodische Konferenzen und Weiterbildungskurse465 (vgl. Gönner 1967: 165-166; Zeissl 1948: 182). Die Lehrerbildungsanstalten (vgl. hierzu Organisationsstatut 1874) sind – in der Regel nach vierjährigem Besuch – sowohl mit einer schriftlichen und mündlichen Reifeprüfung als auch mit praktischer Lehrerfahrung abzuschließen. Voraussetzungen für die Aufnahme in den ersten Jahrgang einer Lehrerbildungsanstalt ist neben dem Mindestalter von 15 Jahren, physischer Tüchtigkeit und sittlicher Unbescholtenheit eine entsprechende Vorbildung, die in einer Aufnahmeprüfung in den obligaten Lehrgegenständen der Bürgerschule (Religion, Unterrichtssprache, Geographie und Geschichte, Naturlehre, Rechnen, geometrische Formenlehre, Turnen) nachgewiesen werden muss. Ausnahme hiervon bilden Bewerber mit einem Maturitätszeugnis der Mittelschule, sie werden unverzüglich in den obersten Jahrgang der Lehrerbildungsanstalt aufgenommen (vgl. Tomaschek 1912: 11-12). Die Unterrichtssprache der Lehrerbildungsanstalt wird auf Vorschlag der Landesschulbehörde vom Unterrichtsminister festgesetzt. „Wo es das Bedürfnis erheischt, soll den Zöglingen auch die Gelegenheit zur Ausbildung in einer zweiten Landessprache geboten werden, damit sie die Befähigung erlangen, eventuell auch in dieser zu lehren“ (Organisationsstatut 1874: 11)466. Im Gegensatz zur früheren Volksschulleh-

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In Böhmen gibt es zu Beginn des 20. Jahrhunderts acht Lehrerbildungsanstalten (Budweis, Eger, Komotau, Leitmeritz, Mies, Prag, Reichenberg, Trautenau) und eine Lehrerinnenbildungsanstalt in Prag. Ferner gibt es private Anstalten mit Öffentlichkeitsrecht in Aussig, Budweis, Eger, Leitmeritz und Reichenberg (vgl. Tomaschek 1912: 11). Die behördlichen Bestimmungen für diese Anstalten sind in dem Organisationsstatut der Bildungsanstalten für Lehrer und Lehrerinnen an öffentlichen Schulen enthalten, die erste Version wird 1874 (vgl. Organisationsstatut 1874) nach einem fünfjährigen Versuchszeitraum nach dem Reichsvolksschulgesetz entworfen und erfährt 1886 eine Novellierung (vgl. hierzu Teml 1974: 94-95; Gönner 1967: 157-166; 174-183; Mayrhofer / Pace 1898: 764-822). Allerdings bleiben auch nach 1886 die Hauptmängel des 1869 geschaffenen Bildungsganges bestehen: erstens der fachliche Übergang von der Bürgerschule bzw. der achtklassigen Volksschule auf die Lehrerbildungsanstalten, zweitens die Überlastung des letzten Jahrgangs mit umfassender Wiederholung des alten und der Lehre neuen Unterrichtsstoffes und zusätzlicher praktischer Übungen (vgl. Grönner 182-183). In der novellierten Fassung aus dem Jahr 1886 wir im § 20 über die „zweite Sprache“ u.a. vermerkt: „Neben der Unterrichtssprache kann jede andere Landessprache als Lehrgegenstand [...] eingeführt werden. Die nähere Bestimmung hierüber steht nach Anhörung der Landesschulbehörde dem Unterrichtsminister zu. In Lehrerbildungsanstalten mit nichtdeutscher Unterrichtssprache ist die deutsche Sprache gemäß den betreffenden Landesgesetzen und besonderen

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Institutionelle und individuelle Voraussetzungen des Bilingualismus

rerausbildung im Rahmen der zweijährigen ,Präparandien‘467 (vgl. Battista 1948: 145) gilt es nun, eine „bestimmte Allgemeinbildung“ und „zweckentsprechende Berufsbildung“ (ebd.: 148) zu vermitteln.468 Mit der abschließenden Reifeprüfung für Volksschulen (und ihrem Bestehen) geht die Berechtigung zur Anstellung als provisorischer Lehrer einher, die gewöhnlich nach zweijähriger Dienstzeit in die Lehrbefähigungsprüfung469 für Volksschulen mündet (vgl. Battista 1948: 149; Gönner 1967: 164-165; Mayrhofer / Pace 1898: 822-829). Für jeglichen Unterricht in einer – neben der Unterrichtssprache – zweiten Landessprache, d.h. auch der deutschen Sprache an nichtdeutschen allgemeinen Volksschulen, sind ebenfalls Prüfungen in schriftlicher und mündlicher Form abzulegen (vgl. Mayrhofer / Pace 1898: 827).470 Von zukünftigen Bürgerschullehrkräften, sogenannten Fachlehrern, wird ab 1883 eine zusätzliche Ausbildung verlangt. Nach dreijähriger Praxis im Schuldienst und entsprechender Vorbereitung kann aus einer oder mehreren Fachgruppen471 die Prüfung zur Erlangung des Lehrbefähigungszeugnisses für Bürgerschulen abgelegt werden (vgl. hierzu Mayrhofer / Pace 1898: 829-838). Dies öffnet

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Ministerialverordnungen als Unterrichtsgegenstand zu behandeln“ (Mayrhofer / Pace 1898: 774). Gleiches gilt für Lehrerinnenbildungsanstalten (vgl. ebd.: 785). Die bisherigen Präparandenkurse waren allzu oft ein „vernachlässigtes Anhängsel an die Normalschule“ (Teml 1974: 93), d.h., sie waren weder selbständig organisiert noch hatten sie einen eigenen Lehrkörper, sondern bestanden in erster Linie aus Hospitationen in der Normalschule, um in die praktische Lehrtätigkeit einzuführen und nicht selten nebenbei fehlende Kenntnisse nachzuholen (vgl. ebd.: 92-93). Die Allgemeinbildung bezieht sich auf die Gegenstände: Religion, Sprach- und Aufsatzlehre und Literaturkunde, Geographie, Geschichte und vaterländische Verfassungslehre, Mathematik, Naturgeschichte, Naturlehre, Schreiben, Zeichnen, Musik und Leibesübungen, Landwirtschaftslehre (nur für Lehramtskandidaten), fremde Sprachen und weibliche Hausarbeiten sowie Haushaltungskunde (nur für Lehramtskandidatinnen). Die berufsbildenden Fächer erstrecken sich auf Erziehungs- und Unterrichtslehre und Hilfswissenschaften sowie Geschichte der Pädagogik (vgl. Battista 1948: 149; ausführlich auch Gönner 1967: 159-162; 178-183). Zur Verteilung der den einzelnen Fächern zugewiesenen Stunden je Jahrgang und deren Veränderung im Organisationsstatut 1874 und schließlich der nochmaligen Novellierung 1886 vgl. Veselá (1992: 56). Die Prüfungskommission (je Unterrichtssprache), v.a. bestehend aus Direktoren und Lehrkräften der Lehrerbildungsanstalten, wird auf Vorschlag der Landesschulbehörde vom Unterrichtsministerium auf drei Jahre ernannt (vgl. Mayrhofer / Pace 1898: 823). Hier werden die Ergebnisse der Prüfung aber nur im Falle einer positiven Bewertung, d.h. mindestens ,befriedigend‘, in das Zeugnis aufgenommen (vgl. ebd.). Die einzelnen Fachgruppen umfassen folgende Gegenstände: 1. Unterrichtssprache, Geographie und Geschichte; 2. Naturgeschichte, Naturlehre, als Ergänzung Mathematik oder geometrisches Zeichnen; 3. Mathematik, Freihandzeichnen und Schönschreiben, als Ergänzung Naturlehre oder geometrisches Zeichnen; Pädagogik wird zusätzlich zu jeder Fachgruppe geprüft (vgl. Tomaschek 1912: 12). Den Kandidaten aller Fachgruppen ist es gestattet, die Lehrbefähigung in einer zweiten Landessprache als weiterem Lehrgegenstand zu erwerben. Für die Befähigung, die gewählte Fachgruppe auch in der zweiten Landessprache unterrichten zu dürfen, muss eine Ergänzungsprüfung abgelegt werden, Gleiches gilt für die Qualifikation zum Unterricht in der französischen, italienischen und englischen Sprache (vgl. ebd.: 12-13; Mayrhofer / Pace 1898: 830, 834-835).

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auch den Zugang zu einer Anstellung als Übungsschullehrer oder Hauptlehrer an Lehrerbildungsanstalten (vgl. Tomaschek 1912.: 13). Mit dem Jahr 1883 rücken die Lehrer in ihrer dienstrechtlichen Stellung auch endgültig in das Heer der öffentlich Bediensteten ein, sie werden aufgegliedert in Oberlehrer (Direktor einer Volksschule), Lehrer, Unterlehrer sowie Bürgerschuldirektor und -lehrer.472 In Prag erfolgt die definitive Anstellung der Lehrkräfte unter Mitwirkung des Bezirksschulrats (Vorschlagsrecht) und der Gemeindevertretung (Präsentationsrecht) durch die Landesschulbehörde (vgl. Mayrhofer / Pace 1898: 851-853). Die Bezahlung ist durch ein Gehaltssystem geregelt. In Böhmen werden zum Zweck der Bemessung der einzelnen Stufen die Ortsgemeinden bei den Volksschulen in fünf, bei den Bürgerschulen in vier Klassen eingeteilt. An Volksschulen liegt das Gehalt in Böhmen zwischen 500 und 800 fl., an Bürgerschulen zwischen 700 und 900 fl. (vgl. ebd. 867-869) und wird von der Gemeinde oder öffentlichen Schulfonds geleistet (vgl. Engelbrecht 1986: 64). Abgesehen vom Grundgehalt und entsprechenden zeitlich und erfolgsbedingten Erhöhungen473 bekommen Schulleiter noch Funktionszulagen und Lehrer Aktivitätszulagen, die je nach Einsatzort variieren und in Prag zur Jahrhundertwende beispielsweise mit etwa 40 Prozent des Grundgehalts angesetzt sind (vgl. Tomaschek 1912: 13). Doch bleibt der finanzielle Aspekt unter der Lehrerschaft v.a. auch im Vergleich mit weitaus günstiger gestellten Verwaltungsbeamten ein beständiger Beschwerdefaktor. Während der Lehrberuf im Primarschulbereich von der Grundund Mittelschicht noch als Aufstiegschance wahrgenommen wird, genießt er vonseiten des situierten Bürgertums weniger Ansehen (vgl. Engelbrecht 1986: 69). Dies können die Berufsbezeichnungen der Eltern jener Lehrkräfte der hier untersuchten Volks- und Bürgerschulen, die Ende des 19. Jahrhunderts die Lehrer- und Lehrerinnenbildungsanstalt in Prag besuchten474, nur zum Teil bestätigen.475 Denn die schichtspezifische Einordnung der Lehramtskandidaten entsprechend der elterlichen Berufstätigkeit (vgl. hierzu Kapitel 5.1.3.1.4.1) deutet eine überwiegende 472

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An den böhmischen Bürgerschulen fehlt die Kategorie der Unterlehrer. Per Landesgesetz wird im Jahr 1894 auch an den zweiklassigen Volksschulen die sukzessive Auflassung der Unterlehrerstellen angeordnet (vgl. Mayrhofer / Pace 1898: 848). Aushilfslehrer, d.h. noch ungeprüfte Lehrkräfte dürfen als ,Substitut‘ nur in Ermangelung geprüfter Kandidaten auf kurzfristig vakante Stellen eingesetzt werden (vgl. ebd.: 848-849). An Volksschulen beträgt die erste, fünfte und sechste je 50 fl., an Bürgerschulen je 80 fl. Die zweite, dritte und vierte sind an beiden Einrichtungen je 100 fl. hoch (vgl. Mayrhofer / Pace 1898: 873-877). Die Lehrerinnenbildungsanstalt in Prag tritt im Schuljahr 1870/71 mit drei Jahrgängen und einer fünfklassigen Übungsschule ins Leben. (vgl. Jahresbericht deutsche LBA 1877: 22). Für die Lehrer- und Lehrerinnenbildungsanstalten existieren ähnliche Kataloge wie für die Volksschulen, darin sind wiederum neben den biographischen Angaben v.a. die Leistungen in den einzelnen Fächern dokumentiert. Allerdings fehlt eine Angabe zur Muttersprache. Vgl. AHMP: NR: Fonds der k. k. deutschen Lehrerbildungsanstalt in Prag (Kleinseite), Nr. 1070, 1868-1927 (1945). Schulkataloge, 1872-1910 sowie AHMP: NR: Fonds der k. k. deutschen Lehrerinnenbildungsanstalt in Prag (Kleinseite), Nr. 1069, 1872-1921 (1927). Schulkataloge, 18721910.

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Institutionelle und individuelle Voraussetzungen des Bilingualismus

Zugehörigkeit zum traditionellen Kleinbürgertum und zum besitzenden Bürgertum, aber auch zur neuen, sich v.a. aus Beamten zusammensetzenden Mittelschicht an.476 Während an der Lehrerbildungsanstalt kaum ein Vertreter des Bildungsbürgertums zu finden ist, zeigt die Streuung der sozialen Herkunft an der Einrichtung für Mädchen477, dass die Lehrtätigkeit für die Töchter des gebildeten Standes eines der wenigen Berufsfelder bietet, das eine über den Elementarunterricht hinausreichende Ausbildung einschließt und die späteren Aufgaben nicht auf das häusliche Umfeld begrenzt.478 Der Lehrberuf stellt Ende des 19. Jahrhunderts für die weiblichen Abkömmlinge der gebildeten Schicht eine akzeptierte und auch angesehene Option dar.479 Allgemein hat die Einführung einer soliden Ausbildung der Lehrerschaft sowie das gesellschaftliche Engagement der neuen Generation an Lehrkräften, z.B. im aufkommenden Vereinswesen, der Stellung des Volksschullehrers eine höhere Wertschätzung verliehen (vgl. Engelbrecht 1986: 70). Mit der Entstehung moderner Massenparteien setzt auch eine Politisierung der Lehrerschaft an den Volksschulen ein, denn sie bilden die direkte Verbindung zur Umsetzung bildungspolitischer Ziele und können über parteipolitisch besetzte Schulverwaltungen, in deren Kompetenzbereich die Anstellung und Beförderung der Lehrer fällt, leicht unter Druck gesetzt werden (vgl. ebd.: 77-78). Dass folglich insbesondere im Volksschulwesen im Prag der Kafka-Zeit zusätzlich zur ,natürlichen‘ Sympathie oder Antipathie zwischen Lehrer/in und Schüler/in auch die deklarierte oder aber extern zugewiesene sprachnationale Orientierung des Einzelnen in der Benotung der Leistungen zum Teil eine Rolle gespielt haben mag, ist nicht auszuschließen. Allerdings fehlen zum einen die Daten, um die hier betroffenen Volksschullehrer genauer zu charakterisieren bzw. ihr Profil zu erstellen480, zum anderen wäre es auch schwierig, beispielsweise das Gewicht politischer Überzeugungen bei der Bewertung der schulischen Erfolge einzelner Klassenmitglieder zu operationalisieren. Dass es sich folglich bei der Bewertung der 476

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Folgende Berufe sind vertreten: Grundbesitzer und Wirtschaftsbesitzer (Besitzbürgertum); Landwirt, Viehhändler, Strumpfwarenfabrikant (traditionelles Kleinbürgertum); Bahnbeamter, Landesbuchhaltungsbeamter, Fabrikbeamter, Offizial, Beamter, Privatbeamter, Oberlehrer (neues Kleinbürgertum). Neben Vertretern des traditionellen (z.B. Handelsmann, Färber) und neuen Kleinbürgertums (z.B. Rechnungsoffizial, Beamter) gibt es auch Angehörige des Bildungsbürgertums (z.B. k. k. Professor, k. k. Gerichtsrat, k. k. Baurat, k. k. Oberst, Direktor der k. k. Lehrerbildungsanstalt, Musikinstitutsinhaber, Sekretär). Mädchen aus niedrigeren Schichten hatten so gut wie keine Möglichkeit, nach der Volks- bzw. Bürgerschule noch weitere Bildungswege einzuschlagen (vgl. Scheipl / Seel 1987: 70-71). Für Lehrerinnen gilt eine Zölibatsklausel, sodass sich die Frauen zwischen Beruf und Heirat / Familie zu entscheiden hatten. Im Übrigen bedürfen die Unterlehrer ohne definitive Anstellung auch erst einer Genehmigung der Schulbehörde, ehe sie sich verehelichen können (vgl. Mayrhofer / Pace 1898: 865). Hinweise auf Religionszugehörigkeit oder gar ,Nationalität‘ bzw. die Muttersprache der jeweiligen Personen konnten in den gesichteten Unterlagen, wie etwa noch erhaltenen Qualifikationstabellen, Gehaltslisten, Schulrechtsverfahren oder den Katalogen der Lehrerbildungsanstalten in Prag nicht ausreichend gefunden werden.

Institutionelle und individuelle Voraussetzungen des Bilingualismus

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Deutsch- und Tschechischkenntnisse der Schüler um subjektive Einschätzungen der einzelnen Lehrer handelt, steht außer Frage. Die Lehrer schränken daher ganz offensichtlich die objektive Gültigkeit der auf die Sprachkompetenzen bezogenen Untersuchung ein. Dennoch erscheint die Analyse des Bilingualismus auf der Basis der Noten als ein überzeugendes Novum, da tatsächlich die Sprachkenntnisse im Vordergrund stehen und nicht etwa das Bekenntnis zu einer Sprache, das häufig und trotz Verbot als Nationalitätsbekundung interpretiert wird.

5.1.2.2

Ausbildung – Mittelschullehrer

Die Informationslage zu den Gymnasiallehrkräften ist zwar dank der erhaltenen Jahresberichte besser, so sind beispielsweise die verschiedenen Fächerkombinationen bekannt. Ferner werden dort Beförderungen, Versetzungen oder Neuzugänge dokumentiert. Im Falle des Todes einer Lehrkraft gibt der traditionell im Jahresbericht abgedruckte Nekrolog Auskunft über den gesamten Ausbildungsweg der Person. Jedoch sind damit auch nicht die Voraussetzungen für die systematische Erfassung des sozioökonomischen Profils der einzelnen Lehrer gegeben, sodass im Mittelschulwesen die gleiche Einschränkung wie für das Volksschulwesen gilt. Die einschneidende Neuordnung der Ausbildung der Mittelschullehrerschaft geht bereits auf das Jahr 1849 zurück, als eine Prüfungsordnung für Gymnasialund Realschullehrer erlassen wird. Zunächst nur provisorisch eingeführt, wird sie Mitte der 1850er Jahre endgültig rechtskräftig und fordert den Abschluss einer akademischen Ausbildung an der Universität (vgl. Preissler 1967: 142; Springer 1948: 116). Der Nachweis einer examinierten Lehrbefähigung trifft insbesondere das aus den Reihen geistlicher Orden stammende Lehrpersonal, das bisher ohne staatlich geprüfte Qualifikation einen Großteil der Mittelschulen geleitet hat. In der Folgezeit ziehen sich die Orden wegen zu hoher finanzieller und personeller Lasten schrittweise aus dem Sekundarschulwesen zurück, sodass die Übergangsphase vom Ordens- zum Laienlehrer durch einen starken Lehrermangel und den dadurch notwendigen Einsatz zahlreicher ,ungeprüfter‘ Lehrer geprägt ist (vgl. Engelbrecht 1986: 64-65; Gönner 1967: 166-167). Doch bereits mittelfristig ist der Lehrberuf an Gymnasien, Realschulen und Realgymnasien an einen hohen Leistungsstandard gebunden. Die Lehrkräfte werden unterteilt in wirkliche (ordentliche) Lehrer, Hilfslehrer (Supplenten, d.h. nur zeitlich begrenzt eingesetzt) und Nebenlehrer, die nur nicht obligate Gegenstände unterrichten. Ferner bilden die Religionslehrer eine eigene Kategorie (vgl. Mayrhofer / Pace 1898: 980-981). Zunächst gilt als Voraussetzung für die Unterrichtstätigkeit an einer Mittelschule die eigene Absolvierung einer solchen, wobei das Zeugnis einer Realschule ohne entsprechende Nachprüfungen lediglich zum Studium und schließlich zur Lehre der mathematisch-naturwissenschaftlichen Fächer Zugang bietet (vgl. Tomaschek 1912: 16). Das folgende Lehramtsstudium erstreckt sich auf durchschnittlich fünf Jahre. Gewählt werden können folgende Fächerkombinationen: a) Latein (L) und Griechisch (G) bzw. L und eine lebende Sprache (sofern diese

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Institutionelle und individuelle Voraussetzungen des Bilingualismus

Gegenstand des Lehrplanes an Mittelschulen ist); b) Unterrichtssprache (US) und eine zweite lebende Sprache; c) Geschichte (Gs) und Geographie (Go) bzw. Gs und US als Hauptfächer und Go als Nebenfach; d) Mathematik und Physik als Hauptfächer; e) Geometrie und Mathematik (M) als Hauptfächer; f) in verschiedenen Kombinationen als Haupt- oder Nebenfächer: Naturgeschichte (Ng), Go, Physik (Ph), M, geometrisches Zeichnen; g) Chemie (Ch) und Ng bzw. Ch und M sowie Ph als Nebenfächer; h) in verschiedenen Kombinationen als Haupt- oder Nebenfächer zu Philosophie als Hauptfach: altklassische Sprache(n), lebende Sprache(n), Gs, Go, Ng, M, Ph. Zulässig ist auch die Verbindung einer lebenden Sprache (nicht US) oder der Ng oder der Ch als Hauptfach mit Turnen (vgl. Tomaschek 1912: 15). Abgesehen von der Fachprüfung wird u.a. von jedem Examenskandidaten verlangt, „in Bezug auf die Sprache, deren er sich bei dem Unterrichte bedienen will, und, wenn diese nicht die deutsche ist, auch in Bezug auf die deutsche Sprache den in Art. V angegebenen Forderungen [zu] genügen“ (Mayrhofer / Pace 1898: 985). Diese beziehen sich auf „einige Correctheit im Gebrauche derselben und die Fähigkeit, in deutscher Sprache geschriebene wissenschaftliche Werke seiner Fächer zu verstehen“ (ebd.: 986). Mit dem Zeugnis über die vollständige wissenschaftliche Lehramtsprüfung, bestehend aus Haus- und Klausurarbeiten sowie einer mündlichen Prüfung (vgl. hierzu Mayrhofer / Pace 1898: 987-992), kann der Kandidat in das (unentgeltliche) Probejahr eintreten, wo er zunächst hospitierend am Unterricht teilnimmt und schließlich unter der Verantwortung des zugeteilten Fachlehrers einen Teil der Lehre übernimmt (vgl. Preissler 1967: 143). Danach wird er zum Supplenten bestellt und je nach Anzahl der geleisteten Wochenstunden entlohnt. Erst mit einer definitiven Anstellung wird das Recht auf ein regelmäßiges Grundgehalt der IX. Rangklasse (um 1910 ca. 2800 K) inklusive fünfmaliger Zulagen im Abstand von fünf Jahren sowie einer vom Einsatzort abhängigen Aktivitätszulage erworben (vgl. Tomaschek 1912: 16).481 Die VIII. Rangklasse wird nach dem zehnten, die VII. Rangklasse nach dem 20. Dienstjahre erreicht, dagegen bleibt die Beförderung in die VI. Rangklasse als besondere Auszeichnung den Direktoren vorbehalten (vgl. ebd.: 17). Diese werden an Staatsgymnasien auch durch allerhöchste Entschließung ernannt, bei wirklichen Lehrern erfolgt dies durch den Kultusminister. Hilfs- und Nebenlehrer werden wiederum vom Direktor vorgeschlagen und schließlich vom Landesschulrat bestellt (vgl. Mayrhofer / Pace 1898: 1006). Auf Grund der zu wenigen offenen Planstellen sind viele der voll ausgebildeten Lehrkräfte gezwungen, sich längerfristig mit der unsicheren und schlecht bezahlten Anstellung als Hilfslehrer oder Supplent zu begnügen (vgl. Engelbrecht 1986: 65). Ähnlich wie im Primarschulbereich erfährt auch die Weiterbildung im 481

Rechtliche Grundlage hierfür bietet das Gehaltsgesetz von 1873, das zwar eine besoldungsrechtliche Besserstellung der Lehrerschaft bewirkt, allerdings keine vergleichbaren Aufstiegschancen wie in anderen staatlichen Dienstsparten bietet. Durchschnittlich ist das Jahreseinkommen eines Mittelschullehrers das Zweifache eines Volksschullehrers (vgl. Engelbrecht 1986: 65, 71).

Institutionelle und individuelle Voraussetzungen des Bilingualismus

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Sekundarschulwesen in den letzten Dezennien des 19. Jahrhunderts einen starken Aufschwung. Neben Ferienfortbildungskursen und wissenschaftlichen Reisen wir ebenfalls Zugriff zu akademischen Werken erleichtert und aktiv gefördert (vgl. ebd.: 66-68). Nach Engelbrecht stammen auch die Mittelschullehrer zum Großteil aus einfachen Verhältnissen, allerdings mit einer geringfügigen Verschiebung nach oben (vgl. ebd.: 70).482 In ihrer Position als Mittelschullehrer genießen sie allmählich eine recht befriedigend gestaltete soziale und rechtliche Stellung, sie bleiben in „einer behäbigen Existenz geistig und gesellschaftlich gesichert“ und auf ihren „,systemisierten Posten‘ eigentlich auf Lebenszeit bestellt“ (Springer 1948: 119). Öffentliche Anerkennung gewinnen die Mittelschullehrer v.a. auch durch ehrenamtliches Engagement, so bekleiden sie etwa häufig politische Mandate, Positionen in Archiven und Museen (vgl. Engelbrecht 1986: 70). Im Gegensatz zur Lehrerschaft an den Volksschulen ziehen sie sich allerdings – nicht zuletzt auf Grund der zahlenmäßig geringen Stärke ihrer Vereine – erfolgreich vor der parteipolitischen Einflussnahme der modernen Massenparteien auf standespolitische Fragen zurück (vgl. ebd.: 82). So widmen sich sowohl der ab 1888 regelmäßig veranstaltete ,deutsch-österreichischen Mittelschultag‘ als auch die Artikel in den publizistischen Medien der Mittelschullehrer eher praxisbezogene Themen (vgl. ebd.: 83-84)483, umso mehr als der Ausbildung selbst lange Zeit die „Gefahr der Intellektualisierung droht“ (Springer 1948: 119).

5.1.3 5.1.3.1

Schülerschaft Volks- und Bürgerschulen

Die Datengrundlage zur Untersuchung des Bilingualismus bilden im Primarschulwesen die Schüler der dritten Klassen. Diese Jahrgangsstufe bietet sich an, da hier der Unterricht in der zweiten Landessprache, sofern sie von den Eltern bzw. Schulkindern als relativ obligates Fach gewählt wird, beginnt. Im Gegensatz zu den Überblicksdarstellungen zum Prager Schulwesen (vgl. Kapitel 4.3.1.3) wurden die individuellen Schülerdaten nicht für jedes Schuljahr gesammelt, sondern im zwei- bis dreijährigen Abstand. Ausnahme hiervon bilden die Jahre von 1880 bis 1885, hier sind die Schüler der dritten Klassen jährlich dokumentiert. Im Folgenden geht es darum, das in der Datenbank erfasste Material ,vorzustellen‘, d.h. die Schüler je Einrichtung nach ihrer Muttersprache, ihrer territorialen Herkunft bzw. der sprachlichen Verteilung der Bevölkerung in ihrem Geburtsort, ihrem Religionsbekenntnis sowie ihrer gesellschaftlichen Schichtzugehörigkeit entspre482

483

Zur Überprüfung der Gültigkeit dieser Aussage für die Lehrerschaft an den untersuchten Einrichtungen müsste gegebenenfalls in den Matriken der Universität nach den einzelnen Personen geforscht werden. Allerdings ist dies im Rahmen der vorliegenden Arbeit nicht möglich. Als der Verein deutscher Mittelschullehrer in Nordböhmen sich von dem ersten publizistischen Organ der Mittelschullehrer abspaltet, entsteht eine Zeitschrift, die ebenfalls in ganz Zisleithanien publiziert wird und stärker deutschnational ausgerichtet ist (vgl. Engelbrecht 1986: 84).

270

Institutionelle und individuelle Voraussetzungen des Bilingualismus

chend der beruflichen Tätigkeit ihrer Eltern zu charakterisieren. Auch wenn beispielsweise die Angabe zur Muttersprache erst ab Mitte der 1880er Jahre erscheint, bezieht sich die Darstellung auf den gesamten Zeitraum, um insbesondere für die spätere Analyse Transparenz und Übersichtlichkeit zu gewährleisten. In den abgebildeten Graphen sind die Jahrgänge, in denen die Daten aufgenommen wurden, mit einem Symbol sowie der Angabe der Grundgesamtheit n (Anzahl der aufgenommenen Schüler) in der Zeitachse gekennzeichnet.484 Die weiteren Werte wurden zur besseren Veranschaulichung über Interpolation berechnet und können daher weitere Schwankungen verdecken. Insbesondere in Bezug auf das Religionsbekenntnis und die Muttersprache ist ein Vergleich mit der allgemeinen Situation an der jeweiligen Schule (vgl. Kapitel 4.3.1.3) und eine Einordnung der untersuchten dritten Klassen in die Entwicklung der gesamten Einrichtung möglich.

5.1.3.1.1

,Nationalität‘

An der deutschen Altstädter Volks- und Bürgerschule für Knaben, die auch Franz Kafka besucht, spiegelt die Zusammensetzung der Schülerschaft nach der Muttersprache auf Basis der Daten der Drittklässler (vgl. Abbildung 16: 272) in etwa die Gesamtsituation an der Schule wider (vgl. Abbildung 6: 225). Es besteht ein deutliches Übergewicht an Schülern deutscher Muttersprache. Auch wenn ihre absolute Zahl leicht zurückgeht, steigt ihr Anteil von 68 Prozent Mitte der 1880er Jahre auf 84 Prozent zur Jahrhundertwende an. Dementsprechend stellen die tschechischen Muttersprachler im Schuljahr 1899/1900 nur noch elf Prozent der Drittklässler im Gegensatz zu 28 Prozent Mitte der 1880er Jahre. Mit Ausnahme von 1885/86 und 1889/90 ist der Anteil deutscher Muttersprachler in den dritten Klassen durchschnittlich etwas höher als an der gesamten Einrichtung (zwischen 2 und 9 %). Der auffällige Rückgang der Schüler mit der Angabe ,Deutsch‘ zum Schuljahr 1889/90 ist einerseits durch eine deutliche Abnahme ihrer Anzahl und andererseits eine einmalige Zunahme tschechischer Muttersprachler begründet. Jedoch ist diese Entwicklung auf die dritte Jahrgangsstufe begrenzt, denn mit Blick auf die gesamte Einrichtung steigt der Anteil der ,Deutschen‘ (vgl. Abbildung 6: 225). An der deutschen Altstädter Volksschule für Mädchen differiert die Situation in den dritten Klassen (vgl. Abbildung 17: 272) von der Verteilung an der gesamten Schule v.a. bis 1889/90 etwas stärker (8 bis 27 %) (vgl. Abbildung 5: 224). Während im Durchschnitt mindestens zwei Drittel aller Schülerinnen sich zur deutschen Muttersprache bekennen, liegt ihr Anteil in der jeweils dritten Jahrgangsstufe nur bei maximal 62 Prozent. Dagegen bekennen sich in diesem Zeit484

Bei der Berechnung des prozentualen Anteils bilden die Grundgesamtmenge alle dokumentierten Schüler, d.h. auch jene mit einer anderen Angabe zur Muttersprache als deutsch oder tschechisch (,sonstige‘), die seltenen Fälle in denen beide Sprachen angegeben wurden (,zweisprachig‘) und auch jene v.a. vor 1885, die keine Angabe zur Muttersprache haben. In der Abbildung wird jedoch nur der Verlauf zur Angabe ,deutsch‘, ,tschechisch‘ und ,keine Angabe‘ dargestellt, die anderen können auf Grund ihrer geringen Größe vernachlässigt werden.

Institutionelle und individuelle Voraussetzungen des Bilingualismus

271

raum über 40 Prozent der Drittklässlerinnen zur tschechischen Muttersprache. Grund hierfür ist, dass sich die sprachliche Zusammensetzung ein und derselben Klasse an der Altstädter Volksschule in Abhängigkeit von der Jahrgangsstufe verändert. Während im ersten und zweiten Schuljahr der Anteil der ,deutschen‘ Mädchen immer relativ hoch ist, sinkt er in der Mittelstufe teilweise sogar auf bis zu 50 Prozent ab. In der Oberstufe, den Bürgerschulklassen, dagegen sind kaum noch ,tschechische‘ Muttersprachler eingeschrieben (vgl. Fleischmann 2007: 190). Der überdurchschnittliche Anteil an (katholischen) Schülerinnen mit tschechischer Muttersprache in der dritten bis fünften Klasse entsteht durch den Zulauf ,tschechischer‘ Mädchen, die von anderen Einrichtungen an die deutsche Altstädter Volksschule wechseln.485 Geht man davon aus, dass an der zuvor besuchten Volksschule auf Tschechisch unterrichtet wird, so deutet dieses Verhalten einerseits auf die gesellschaftliche und ,nationale‘ Wertsteigerung der tschechischen Sprache hin, die aber andererseits die Notwendigkeit deutscher Sprachkenntnisse nicht schmälert. Denn, nachdem in den ersten beiden Klassen das Basiswissen in der Muttersprache erworben wird, gilt es, ab der dritten Klasse den Erwerb des Deutschen an der deutschen Volksschule zu perfektionieren. Im Laufe der 1890er Jahre und mit abnehmender Schülerzahl variiert die sprachliche nationale Verteilung zwischen den einzelnen Klassen immer weniger, die Werte der dritten Klassen gleichen sich damit dem Durchschnitt der Schule an, sodass auch hier das ausgewählte Datenmaterial die ganze Anstalt repräsentiert. Für die deutsche Volksschule der Piaristen mit Öffentlichkeitsrecht gestaltet sich eine Darstellung der Schülerschaft nach der Muttersprache besonders schwierig, da ab Mitte der 1880er Jahre, als an den anderen Prager Elementarschulen die Angabe zur Muttersprache geführt wird, die Kataloge der Piaristenschule nicht mehr erhalten sind. Aus diesem Grund existieren für die Zeitspanne von 1885/86 bis 1892/93 keine Daten zu den Schülern an der Anstalt des Piaristenordens. Doch zeigt die Verteilung der Schüler nach der Muttersprache in der zweiten Hälfte der 1890er Jahre (vgl. Abbildung 18: 273), dass kaum ,Tschechen‘ die Privatschule mit Öffentlichkeitsrecht besuchen (maximal 9 % im Schuljahr 1895/96). Was die Vergleichsschule ,U sv. Havla‘ mit tschechischer Unterrichtssprache betrifft, so wird in den gesichteten Schulkatalogen im gesamten Untersuchungszeitraum keine Angabe zur Muttersprache gemacht. Allerdings ist aus den Statistischen Handbüchern Prags bekannt, dass kaum bzw. keine deutschen Muttersprachler an dieser (und auch kaum einer anderen) tschechischen Volksschule eingeschrieben sind. Eine ausdrückliche Dokumentation der Muttersprache je Schüler war somit überflüssig.

485

Auch die jüngste Schwester Franz Kafkas, Ottilie, wechselt erst im Schuljahr 1901/02 zur vierten Klasse von der tschechischen Altstädter Volksschule an die deutsche Altstädter Volksschule. Vgl. AHMP: AHMP: NR: Fonds der deutschen Volks- und Bürgerschule für Mädchen, Prag-Altstadt, Fleischmarktgasse 1, Nr. 1052, 1861-1945. Schulkatalog, 1901/02.

272

Institutionelle und individuelle Voraussetzungen des Bilingualismus

Abbildung 16: Deutsche Altstädter Volks- und Bürgerschule für Jungen – Schüler ausgewählter dritter Klassen nach ihrer Muttersprache (in %) 100% 90% 80%

Anteil in %

70% 60% 50% 40% 30% 20% 10%

74 1 18 75 874 /7 /7 5 6 (n =2 10 ) 18 76 /7 7 18 18 77 78 /7 /7 8 9 (n =1 79 ) 18 79 /8 0 18 18 80 81 /8 /8 1 2 18 (n =1 82 89 /8 3 ) 18 (n =1 83 90 /8 4 ) 18 (n =1 84 45 /8 5 ) (n =1 25 ) 18 85 /8 6 18 18 86 87 /8 /8 7 8 (n =1 09 ) 18 188 8/ 89 89 /9 0 (n =8 7) 1 18 91 890 /9 /9 1 2 (n =1 06 ) 18 92 /9 3 1 8 18 94 93/9 /9 4 5 (n =9 6) 18 95 /9 6 18 189 6/ 97 97 /9 8 (n =6 2) 18 99 189 8/ /1 99 90 0 (n =7 9)

73

18 73 /

72

18 72 /

18 71 /

18 70 /

71

0%

Schuljahr tschechisch

deutsch

keine Angabe

Quelle: Vgl. AHMP: Deutsche Volks- und Bürgerschule für Knaben, Altstadt. Schulkataloge 18751900; eigene Berechnung.

Abbildung 17: Deutsche Altstädter Volks- und Bürgerschule für Mädchen – Schülerinnen ausgewählter dritter Klassen nach ihrer Muttersprache (in %) 100% 90% 80%

Anteil in %

70% 60% 50% 40% 30% 20% 10%

18 71 /7 2

(n =1 24 ) 18 72 /7 3 18 73 /7 4 18 18 74 75 /7 /7 5 6 (n =2 15 ) 18 76 /7 7 18 18 77 78 /7 /7 8 9 (n =1 81 ) 18 18 79 80 /8 /8 0 1 (n 18 =2 81 20 /8 2 ) (n 18 =2 82 08 /8 3 ) (n 18 =2 83 04 /8 4 ) (n 18 =1 84 97 /8 5 ) (n =2 06 ) 1 18 88 86 5/ /8 86 7 (n =1 38 ) 18 87 /8 8 18 18 88 89 /8 /9 9 0 (n =1 29 ) 18 90 /9 1 1 18 89 92 1/ /9 92 3 (n =1 23 ) 18 93 /9 4 18 18 94 95 /9 /9 5 6 (n =9 6) 18 18 96 97 /9 /9 7 8 (n 18 =7 98 5) /9 9 (n =8 8) 18 99 /1 90 0

0%

Schuljahr tschechisch

deutsch

keine Angabe

Quelle: Vgl. AHMP: Deutsche Volks- und Bürgerschule für Mädchen, Altstadt. Schulkataloge 18711899; eigene Berechnung.

Institutionelle und individuelle Voraussetzungen des Bilingualismus

273

Abbildung 18: Deutsche Volksschule der Piaristen m. Ö. für Jungen – Schüler ausgewählter dritter Klassen nach ihrer Muttersprache (in %) 100% 90% 80%

Anteil in %

70% 60% 50% 40% 30% 20% 10%

18 70 /7 1

(n =1 37 ) 18 71 /7 2 18 18 72 73 /7 /7 3 4 (n =1 40 ) 18 74 /7 5 1 18 76 875 /7 /7 6 7 (n =1 27 ) 1 8 18 78 77/ 78 /7 9 18 (n =9 79 0) /8 0 18 ( 80 n=9 2) /8 1 18 (n =9 81 0) /8 2 18 ( 82 n=8 8) /8 3 18 ( 83 n=8 5) /8 4 18 ( 84 n=8 1) /8 5 (n =8 6) 18 85 /8 6 18 86 /8 7 18 87 /8 8 18 88 /8 9 18 89 /9 0 18 90 /9 1 18 91 /9 2 18 189 2/ 93 93 /9 4 (n =5 9) 1 8 18 95 94/ 95 /9 6 (n =7 4) 18 96 /9 7 18 189 7/ 98 98 /9 9 (n =6 18 3) 99 /1 90 0

0%

Schuljahr tschechisch

deutsch

keine Angabe

Quelle: Vgl. AHMP: Privat-Volksschule des Piaristenordens für Jungen m. Ö. Schulkataloge 18701899; eigene Berechnung.

5.1.3.1.2

Religionsbekenntnis

Die Verteilung der Schülerschaft der ausgewählten dritten Klassen nach dem Religionsbekenntnis lässt sich wie im Falle der Angabe der Muttersprache für den Zeitraum ab Mitte der 1880er Jahre mit der Gesamtsituation an der Schule vergleichen.486 Diese Gegenüberstellung zeigt für die deutsche Altstädter Volksschule für Knaben, dass in allen dokumentierten dritten Jahrgangsstufen durchschnittlich mehr Schüler mosaischen Glaubensbekenntnisses und weniger Schüler katholischer Religion als an der gesamten Schule gezählt werden (vgl. Abbildung 19: 277; Abbildung 6: 225). Zur Jahrhundertwende und auch Mitte der 1890er Jahre ist der Unterschied verschwindend gering (1 bis 3 %), allerdings variieren die Anteile Ende der 1880er und auch im Schuljahr 1897/98 zwischen sieben und 14 Prozent. Grund hierfür ist, dass der Anteil der jüdischen Schüler in den unteren Jahrgangsstufen deutlich höher ist als in den oberen Volksschulklassen und der Bürgerschule.487 Von der ersten bis zur vierten Klasse bewegt sich der Anteil der 486

487

Die Schulkinder mit evangelischem Religionsbekenntnis und jene ohne Angabe bzw. einem anderen als dem katholischen und mosaischen Religionsbekenntnis werden in der Abbildung zwar je Einrichtung dargestellt, allerdings beträgt ihr Anteil an keiner Einrichtung und zu keinem Zeitpunkt mehr als zwei Prozent, sodass sie in der Analyse vernachlässigt werden. Ausnahme hiervon bilden die evangelischen Schüler, die an der Volksschule mit tschechischer Unterrichtssprache zum Teil einen fünfprozentigen Anteil besitzen. Die folgenden Berechnungen basieren auf den Angaben zur Religion und zur Muttersprache in den Schulkataloge aller Klassen von 1884/85 bis 1899/1900 der deutschen Altstädter Volksschule in Prag. Vgl. AHMP: NR: Fonds der deutschen Volks- und Bürgerschule für Knaben, PragAltstadt, Fleischmarktgasse 1, Nr. 2420, 1870-1945. Schulkatalog, 1884/85-1899/1900.

274

Institutionelle und individuelle Voraussetzungen des Bilingualismus

jüdischen Kinder größtenteils zwischen 60 und 75 Prozent (1884/85 bis 1899/1900), in den höheren Jahrgangstufen reicht er dagegen nur selten über die 60 Prozent hinaus. Durchschnittlich ist hier etwa nur noch die Hälfte der Schüler mosaischen Glaubensbekenntnisses.488 Gerade in den Schuljahren 1887/88, 1891/92 und 1897/98 weisen die dritten Klassen von allen Jahrgangsstufen verhältnismäßig am meisten Juden aus (72 %). Die Tatsache, dass die ersten Klassen – auch in den Vorjahren – ebenfalls eine deutliche Mehrheit an Kindern mosaischen Bekenntnisses besitzen (1887/88: 68 %) spricht gegen eine massive Verschiebung aus religiösen Aspekten, wie sie etwa ein verändertes Einschulungsverhalten der Eltern auslösen könnte. Vielmehr zeichnet der hohe Anteil jüdischer Kinder in den niedrigeren Jahrgangsstufen, die überwiegend deutscher Muttersprache sind (vgl. Anm. 488: 274), für dieses Auseinanderklaffen der Daten der Drittklässler mit der Gesamtsituation an der Schule verantwortlich. Die in den Anfangsklassen sehr starke Mehrheit jüdisch-deutscher Schüler intensiviert sicherlich den für die Schulwahl der Eltern entscheidenden konfessionellen und sprachlichen Charakter der Schule. Die Werte auf Grundlage der dritten Klassen für die 1870er und die erste Hälfte der 1880er Jahre – also für jenen Zeitraum ohne Vergleichsbasis zur gesamten Einrichtung – zeigen eine ganz abwechslungsreiche Entwicklung. Denn bis 1884/85 überwiegt an der deutschen Altstädter Volksschule die katholische Schülerschaft bzw. ist ihr Anteil nur etwas geringer (maximal bis zu 9 % 1883/84) als jener Schüler mosaischen Glaubensbekenntnisses. Die Zahlen deuten somit an, dass sich die Institution bzw. ihre Schülerschaft in den letzten Dezennien des 19. Jahrhunderts von einer dominant Katholischen zu einer überwiegend Jüdischen wandelt. 488

1884/85 und 1885/86, als die Muttersprache in den Schulkatalogen zum ersten Mal und zum Teil noch unvollständig dokumentiert wird, liegt der Anteil der jüdischen Schüler in der dritten und vierten Klasse noch unter 50 Prozent, wohingegen sich in den ersten beiden Klassen mit einer jeweiligen Mehrheit von etwa zwei Dritteln bereits die zunehmende Zahl jüdischer Kinder an der Altstädter Volksschule abzeichnet. Nach der Muttersprache sind an der deutschen Altstädter Volksschule für Jungen die Unterschiede zwischen den Klassen nicht derart markant. Nur zwischen 1888/89 und 1895/96 ist der Anteil der deutschen Muttersprachler in den ersten drei Jahrgangsstufen deutlich größer (ca. 80 %) als in den übrigen Klassen. Am geringsten ist er meist in der fünften Jahrgangsstufe und der ersten Bürgerschulklasse (ca. 60 Prozent). An der deutschen Altstädter Volksschule für Mädchen zeigt ein Vergleich der sprachlich-religiösen Zusammensetzung der ersten Volksschul- mit der dritten Bürgerschulklasse, dass die katholischdeutschen Schülerinnen zwar nie mehr als ein Viertel der neueingeschulten Mädchen bilden, aber in der Bürgerschule bis Anfang der 1890er Jahre zum Teil in der Mehrheit sind. Danach steigt auch hier der Anteil der deutsch-jüdischen Mädchen auf knapp die Hälfte an – in der ersten Klasse allerdings auf knapp 80 Prozent. Katholisch-tschechische Schülerinnen spielen in der Volksschulklasse kaum eine Rolle, in der Bürgerschulklasse erreichen sie zumindest bis Ende der 1880er Jahre einen Anteil von zum Teil über 20 Prozent. Der Anteil tschechisch-jüdischer Mädchen liegt in beiden Jahrgangsstufen meist unter 10 Prozent. Demnach ist die deutsche Muttersprache kennzeichnend für die Schülerinnen aller Klassen, für die einfache weiterführende Schule dagegen entscheiden sich mehr katholische denn jüdische Schüler.

Institutionelle und individuelle Voraussetzungen des Bilingualismus

275

An der deutschen Altstädter Volksschule für Mädchen findet eine ähnliche Verschiebung des Religionsbekenntnisses statt, allerdings zeitlich leicht verschoben. Hier scheinen die Schülerinnen mit jüdischem Glauben erst Ende der 1880er die Mehrheit zu bilden, der erste erfasste Wert existiert für 1889/90 (jüdisch: 56 %, katholisch: 43 %) (vgl. Abbildung 20: 278). Im Vergleich zu den Verhältnissen an der gesamten Schule differieren die Religionsangaben der Drittklässlerrinnen anders als an der Jungenanstalt und auch im Unterschied zur Angabe der Muttersprache (v.a. in den 1880er Jahren) nur geringfügig (0 bis 8 %) (vgl. Abbildung 5: 224). Bezieht man diese Parallele auch auf die 1870er Jahre, so zeigt sich hier bis zur Jahrhundertwende eine noch deutlichere Umkehr der Verhältnisse nach dem Religionsbekenntnis ab als an Franz Kafkas Schule, denn während der Anteil der katholischen Schülerinnen 1870/71 81 Prozent beträgt, bekennt sich im Schuljahr 1898/99 nur noch ein Drittel der Mädchen zum Katholizismus. Im Gegenzug wächst der Anteil der jüdischen Schülerinnen von 17 auf 64 Prozent. Gabriele, Valerie und Ottilie Kafka werden somit Ende des Jahrhunderts in eine Volksschule mit einer eindeutigen Mehrheit an Mädchen mit jüdischem Religionsbekenntnis eingeschult. Die Tatsache, dass auch an der deutschen Volksschule des Piaristenordens zu Beginn der 1870er Jahre eine mehrheitlich katholische Schülerschaft (87 %, nur 3 % jüdisch) unterrichtet wird, diese zur Jahrhundertwende dagegen nur noch einen Anteil von 40 Prozent gegenüber 60 Prozent jüdischer Schüler bilden (vgl. Abbildung 21: 278), deutet auf das Religionsbekenntnis als potenziellen Einflussfaktor bei der Wahl der Schule seitens ,deutscher‘, nichtjüdischer Eltern hin. Da es sich bei der Piaristenvolksschule um keine rein staatliche Einrichtung handelt und somit der ,Zwang‘ der Schulsprengel wegfällt, wird die Entscheidung für die Einrichtung mit deutscher Unterrichtssprache und für eine vorwiegend jüdischdeutsche Schülerschaft bewusst getroffen. Sicherlich wird dabei der gute und strenge Ruf der Anstalt als Qualitätssiegel interpretiert und das zu leistende Schulgeld (vgl. Pleticha 2001: 8) auch als Garant einer exklusiven sozialen Zusammensetzung der Schülerschaft gesehen.489 Doch lässt die deutlich sinkende Zahl deutsch-katholischer Knaben an der Volksschule ebenfalls vermuten, dass manche katholische Eltern die Piaristenvolksschule wegen ihres hohen Anteils an Schülern mosaischen Glaubensbekenntnisses meiden. Als in den 1890er Jahren antisemitische Boykottaufrufe forciert werden, die Diskussion um jüdische Ritualmörder fast zum Alltag gehört und schließlich die Gewalt gegen Juden in den Ausschreitungen infolge der Badeni-Krise (1897) und der Hilsner-Affäre (1899) ihren Höhepunkt finden (vgl. Riff 1976: 11-16; Kieval 2000: 183-197)490, geht auch der Anteil der katholischen Deutschen an der Piaristenvolksschule zurück 489 490

Vgl. die Schilderung der Schülerschaft von Egon Erwin Kisch an seinem ersten Schultag an der Piaristenanstalt (vgl. Kisch 2001: 23). Die liberale deutsche Elite um das Deutsche Casino in Prag dagegen wehrt beharrlich antisemitische Tendenzen ab (vgl. Cohen 1981: 177-178).

276

Institutionelle und individuelle Voraussetzungen des Bilingualismus

und die jüdische Gruppe übernimmt die deutliche Mehrheit (vgl. Abbildung 21: 278). In Bezug auf die deutsche Altstädter Mädchenschule bieten in dieser Hinsicht die privaten, von katholischen Orden geleiteten Einrichtungen mit Öffentlichkeitsrecht eine Alternative. An diesen Lehranstalten werden ausschließlich Töchter katholischer Religion unterrichtet. Ihre Schülerzahlen bleiben ab Mitte der 1890er Jahre stabil oder steigen sogar leicht an, während an der überwiegend von jüdischen Schülerinnen besuchten Altstädter Schule die Gesamtzahl der Mädchen und insbesondere jene der Katholischen zurückgeht (vgl. Tabelle 10: 201; Abbildung 19: 277). Das Einschulungsverhalten der jüdischen Bevölkerung, d.h. die Wahl der deutschen Unterrichtssprache, steht im Gegensatz zu der ,sprach-politischen‘ Assimilierung, wie sie im Rahmen der Volkszählung mit der Angabe der tschechischen Umgangssprache stattfindet. Einerseits deklarieren sich viele Juden „sicherheitshalber als ,Tschechen‘“, finden aber andererseits den „deutsche[n] Bildungsweg für die nächste Generation“, Franz Kafkas Generation, „letztlich weniger riskant als eine völlige Tschechisierung“ (Stölzl 1975: 51). Demnach geben die Ergebnisse der Volkszählung zum 31. Dezember 1900 nicht zu erkennen, dass der Anteil der Juden an der deutschsprachigen Bevölkerung – wie es der Anteil der jüdischen Schüler in Anstalten mit deutscher Unterrichtssprache andeutet (vgl. Abbildung 2: 217) – steigt. Im Jahr 1900 geben im Vergleich zur Erhebung zehn Jahre vorher (71 %, d.h. 12588 Personen) nur noch 46 Prozent (8230 Personen) der jüdischen Bevölkerung Prags ,offiziell‘ die deutsche Umgangssprache an (vgl. Cohen 1981: 101; Tabelle 5: 120).491 Trotz dieses enormen Rückgangs ändert sich ihr ,offizieller‘ Anteil an den ,Deutschen‘ Prags nicht.492 Das variable Verhalten der Juden in Bezug auf die Angabe der Umgangssprache ist bisher eines der wesentlichen Argumente, um die Zweisprachigkeit dieser Bevölkerungsgruppe zu unterstreichen. Nicht zuletzt auf Grundlage der Einschulungspraxis der Prager jüdischen Bevölkerung (vgl. hierzu Rauchberg 1905a: 147-160) kommt Rauchberg zu dem Schluss, dass die Familiensprache der jüdischen Familien in Böhmen noch immer ganz überwiegend die deutsche ist, daß es aber viele von ihnen gleichwohl für rätlich gehalten haben, sich bei der Volkszählung zur Sprache der Mehrheit zu bekennen, in deren Mitte sie leben. [...] In den deutschen Städten fast gänzlich deutsch, zeigen sie in den vorwiegend tschechischen Städten Neigung, sich der tschechischen Mehrheit anzuschließen. In Budweis ist erst etwa ein Zehntel zu den Tschechen übergegangen, in Pilsen fast ein Viertel, in Prag bereits die größere Hälfte, und wir haben gesehen, daß der Durchschnitt für ganz 491

492

Allerdings weist Cohen auch auf besonderen Verhältnisse in der Innenstadt Prags hin: „Since German loyalties persisted so strongly among the Jews in the most affluent inner-city areas, the sampled inner-city parishes had disproportionately large Jewish contingents among their German residents: 66 percent compared to their share of 46 percent among all German citizens in Prague I-VII” (Cohen 1981: 114). Der Anteil der Juden an den Deutschen Prags (I-VII) beträgt sowohl 1890 als auch 1900 46 Prozent (vgl. Cohen 1981: 92-93, 101; Tabelle 5: 120).

277

Institutionelle und individuelle Voraussetzungen des Bilingualismus

Böhmen den Prager Zahlen beiläufig entspricht. Dabei fällt es auf, wie verschieden die Ziffern für die einzelnen Prager Vororte lauten, obwohl die Verhältnisse tatsächlich wohl kaum voneinander abweichen. In Kgl. Weinberge hat sich noch fast die Hälfte der Juden, mehr wie in der Stadt Prag, zur deutschen Umgangssprache bekannt, in Karolinenthal etwas mehr als ein Drittel, in Smichow weniger als ein Drittel, in Žižkow kaum mehr als ein Zehntel (Rauchberg 1905a: 391-394).

Der geringe Anteil jüdischer Schüler an der tschechischen Volksschule ,U sv. Havla‘ ist nur die Konsequenz dessen, dass in jüdischen Familien eine primär ,deutsche‘ Sekundärsozialisation angestrebt wird, unabhängig davon, welche ,nationale Identität‘ in Form der Umgangssprache man ,nach außen‘ demonstriert. Wie auch an allen anderen Volks- und Bürgerschulen mit tschechischer Unterrichtssprache in Prag (vgl. Kapitel 4.3.1.3: 214) ändert sich in der Einrichtung ,U sv. Havla‘ die Zusammensetzung der Schülerschaft nach dem Religionsbekenntnis kaum. Der Anteil der Katholiken liegt beständig über 90 Prozent. Erst ab Mitte der 1890er Jahre bildet sich eine kleine Gruppe jüdischer Schüler. Nachdem lange Zeit kaum ein Schüler sich zum Judentum bekennt, gehören zur Jahrhundertwende immerhin vier Prozent der Schülerschaft an der tschechischen Schule der jüdischen Glaubensgemeinschaft an (vgl. Abbildung 22: 279). Abbildung 19: Deutsche Altstädter Volks- und Bürgerschule für Jungen – Schüler ausgewählter dritter Klassen nach ihrem Religionsbekenntnis (in %) 90%

80%

70%

Anteil in %

60%

50%

40%

30%

20%

10%

75 18 / 7 74 6 / (n 7 5 =2 10 ) 18 76 /7 18 7 78 18 / 7 77 9 / (n 7 8 =1 79 ) 18 79 /8 18 0 81 18 / 8 80 2 / 18 ( 81 82 n=1 89 /8 3 ) 18 (n =1 83 90 /8 4 ) 18 ( 84 n=1 45 /8 5 ) (n =1 25 ) 18 85 /8 18 6 87 18 / 8 86 8 / (n 8 7 =1 09 ) 18 1 89 88 /9 8/8 0 (n 9 =8 7) 18 91 18 / 9 90 2 / (n 9 1 =1 06 ) 18 92 /9 3 18 1 94 89 /9 3/9 5 (n 4 =9 6) 18 95 /9 6 18 1 97 89 /9 6/9 8 (n 7 =6 2) 18 99 1 /1 89 90 8 0 /99 (n =7 9)

2/ 73

3/ 74

18

18 7

1/ 72

18 7

18 7

18 7

0/ 71

0%

S c h u lja h r

k a th o lis c h

m o s a is c h

e v a n g e lis c h

s o n s tig e o d e r k .A .

Quelle: Vgl. AHMP: Deutsche Volks- und Bürgerschule für Knaben, Altstadt. Schulkataloge 18751900; eigene Berechnung.

278

Institutionelle und individuelle Voraussetzungen des Bilingualismus

Abbildung 20: Deutsche Altstädter Volks- und Bürgerschule für Mädchen – Schülerinnen ausgewählter dritter Klassen nach ihrem Religionsbekenntnis (in %) 90%

80%

70%

60%

Anteil in %

50%

40%

30%

20%

10%

18 71 /

72

(n =1 24 ) 18 72 /7 3 18 73 /7 18 4 75 18 /7 7 4 6 / (n 75 =2 15 ) 18 76 /7 18 7 78 18 /7 7 7 9 (n /78 =1 81 ) 18 80 18 /8 7 9 1 18 (n /80 =2 81 20 /8 2 ) 18 (n =2 82 08 /8 3 ) 18 (n =2 83 04 /8 4 ) 18 (n =1 84 97 /8 5 ) (n =2 06 ) 18 86 18 /8 8 5 7 / (n 86 =1 38 ) 18 87 /8 18 8 89 18 /9 8 8 0 (n /89 =1 29 ) 18 90 /9 18 1 92 18 /9 9 1 3 (n /92 =1 23 ) 18 93 /9 4 18 1 95 89 /9 4/9 6 (n 5 =9 6) 18 1 97 89 /9 6/9 8 18 (n 7 =7 98 5) /9 9 (n =8 8) 18 99 /1 90 0

0%

S c h u lja h r

k a th o lis c h

m o s a is c h

e v a n g e lis c h

s o n s tig e o d e r k .A .

Quelle: Vgl. AHMP: Deutsche Volks- und Bürgerschule für Mädchen, Altstadt. Schulkataloge 18711899; eigene Berechnung

Abbildung 21: Deutsche Volksschule der Piaristen m. Ö. für Jungen – Schüler ausgewählter dritter Klassen nach ihrem Religionsbekenntnis (in %) 100%

90%

80%

70%

Anteil in %

60%

50%

40%

30%

20%

10%

/7 2 3/ 187 74 2 (n /73 =1 40 ) 18 74 /7 18 76 18 5 / 7 75 7 (n /76 =1 27 ) 18 1 78 87 /7 7/ 18 9 (n 78 =9 79 0) /8 18 0 (n =9 80 2) /8 18 1 (n =9 81 0) /8 2 18 ( 82 n=8 8) /8 18 3 (n =8 83 5) /8 4 18 ( 84 n=8 1) /8 5 (n =8 6) 18 85 /8 18 6 86 /8 18 7 87 /8 18 8 88 /8 18 9 89 /9 18 0 90 /9 18 1 91 / 18 1 92 93 89 /9 2/ 4 93 (n =5 9) 18 1 95 89 /9 4/ 6 95 (n =7 4) 18 96 /9 7 18 1 98 89 /9 7/ 9 98 (n =6 3) 18 99 /1 90 0 19 00 /0 1

18 71

18 7

18 7

0/ 71

(n

=1 3

7)

0%

S c h u lja h r

k a th o lis c h

m o s a is c h

e v a n g e lis c h

s o n s tig e o d e r k .A .

Quelle: Vgl. AHMP: Privat-Volksschule des Piaristenordens für Jungen m. Ö. Schulkataloge 18701899; eigene Berechnung.

279

Institutionelle und individuelle Voraussetzungen des Bilingualismus

Abbildung 22: Tschechische Volksschule ,U sv. Havla‘ für Jungen – Schüler ausgewählter dritter Klassen nach ihrem Religionsbekenntnis (in %) 100%

90%

80%

70%

Anteil in %

60%

50%

40%

30%

20%

10%

18 97 /9 18 8 99 1 /1 89 90 8 0 /99 (n =7 9)

18 89 /9 0 18 90 /9 1 18 91 /9 2 18 1 93 89 /9 2/9 4 (n 3 =8 4) 18 94 /9 5 18 1 96 89 /9 5/9 7 (n 6 =7 8)

18 84 /8 5 18 1 86 88 /8 5/8 7 6 (n =8 3) 18 1 88 88 /8 7/8 9 (n 8 =8 3)

18 80 /8 1 18 81 /8 2 18 1 83 88 /8 2/8 4 (n 3 =7 9)

18 71 /7 2 18 72 /7 3 18 73 /7 4 18 18 75 74 /7 6 /75 (n =5 3) 18 76 /7 7 18 77 /7 8 18 1 79 87 /8 8/7 0 (n 9 =4 3)

0%

S c h u lja h r

k a th o lis c h

m o s a is c h

e v a n g e lis c h

s o n s t ig e o d e r k .A .

Quelle: Vgl. AHMP: Česká obecná škola u sv. Havla. Schulkataloge 1875-1900; eigene Berechnung.

5.1.3.1.3

Sprachlich-territoriale Herkunft

Zum Merkmal der sprachlich-territorialen Herkunft der Schüler ist zunächst festzuhalten, dass nicht die lokale Bestimmung des Geburtsortes im Vordergrund steht, sondern vielmehr dessen sprachlicher Charakter interessiert. Anhaltspunkt hierfür bietet die sprachliche Zusammensetzung der Einwohnerschaft auf Basis der entsprechend den Ergebnissen der Volkszählung verfassten Gemeindelexika von Böhmen (1904), von Mähren (1906) und von Schlesien (1906). Da im Zentrum der Untersuchung primär die Sprachkenntnisse und nicht territoriale Aspekte stehen, werden die im deutschsprachigen Ausland geborenen Schulkinder auch zu den ,deutschsprachigen Gebieten‘ gezählt. Demgemäß werden auch die Geburtsorte im Folgenden nach dem Anteil an Einwohnern unterschieden, der sich in der Volkszählung zur deutschen Umgangssprache bekennt. Obgleich diese Angaben im Einzelfall ja sehr vorsichtig zu behandeln sind, dürften sie die sprachliche Umgebung der Herkunftsorte der Schulkinder ausreichend beschreiben. So wird unterschieden zwischen mehrheitlich deutsch- und vorwiegend tschechischsprachigen sowie gemischtsprachigen Gebieten.493 Die Stadt Prag wird auf Grund ihrer Sonderstellung, zum einen als Standort der betrachteten schulischen Einrichtungen, zum anderen als politisches Zentrum auch des deutsch-tschechischen Spra493

Im Folgenden werden Gebiete / Geburtsorte mit einem Anteil von maximal fünf Prozent ,Deutschen‘ als ,tschechischsprachig‘, mit einem Anteil von maximal fünf Prozent ,Tschechen‘ als ,deutschsprachig‘ bezeichnet. Geburtsorte mit einem dazwischen liegenden Mischverhältnis gelten als ,gemischtsprachig‘.

280

Institutionelle und individuelle Voraussetzungen des Bilingualismus

chenkampfes, gesondert angeführt. ,Sonstige‘ steht für Orte, die im anderssprachigen Ausland liegen, für solche, deren sprachliche Verteilung nicht bestimmt werden konnte, da es beispielsweise mehrere Orte desgleichen Namens, aber unterschiedlichen sprachlichen Charakters in den böhmischen Ländern gibt oder die gar nicht in den Gemeindelexika aufgeführt werden, ferner auch für jene Fälle, in denen kein Geburtsort dokumentiert ist. Der Großteil der Schülerschaft kommt an allen untersuchten Anstalten aus der Landeshauptstadt Prag494, er beläuft sich meist auf weit mehr als die Hälfte der Schulkinder. Doch sind sowohl zwischen den einzelnen Einrichtungen als auch im Zeitablauf Unterschiede erkennbar. Während an den Altstädter Volksschulen v.a. in den 1870er Jahren der Anteil der in Prag Geborenen am höchsten ist (1878/79: 73 % bei den Jungen und 1875/76 sowie 1878/79: 80 % bei den Mädchen) (vgl. Tabelle 14: 283; Tabelle 15: 283), erreicht er an der Piaristenvolksschule zunächst Anfang der 1880er und dann wieder zur Jahrhundertwende seinen Spitzenwert (1882/83: 78 %; 1898/99: 79 %) (vgl. Tabelle 16: 284). Den maximalen (1893/94: 83 %) und durchschnittlich auch höchsten Anteil der Schüler mit Geburtsort Prag weist die Volksschule mit tschechischer Unterrichtssprache auf. Die restlichen Schüler dieser Anstalt stammen überwiegend aus tschechischsprachigen Gebieten (vgl. Tabelle 17: 284), sodass die territoriale Herkunft der Schulkinder und Tschechisch als Angabe zur Muttersprache harmonieren. Gegebenenfalls überrascht hier der nur mäßige Anteil der auf dem tschechischsprachigen Land geborenen Schüler und dies in Zeiten der Industrialisierung und einer zunehmenden Wanderungsbewegung v.a. aus den tschechischen Sprachgebieten in die – meist deutsch geprägten – wirtschaftlichen Zentren und insbesondere nach Prag. Doch liegt dies im Standort der Schule in der Altstadt begründet, denn „die eigentliche Bühne für die großstädtische Entwicklung der Landeshauptstadt“ (Rauchberg 1905a: 167) und somit Anziehungspunkt für die Arbeiterschaft sind die tschechischsprachigen Bezirke um Prag, die im Laufe der 1890er Jahre außerordentliche Zuwachsziffern verzeichnen. Während die Bevölkerung in der Stadt Prag um 10 Prozent zunimmt, steigt sie etwa in den Königlichen Weinbergen um knapp 40 Prozent, in Žižkov um mehr als 32 Prozent, in Smíchov um fast 30 Prozent und in Karolinental um immerhin 20 Prozent (vgl. Rauchberg 1905a: 166-167; Tabelle 4: 115).495 Den494

495

Mit Prag wird hier Prag I-V, d.h. Altstadt [Staré město], Neustadt [Nové město], Kleinseite [Malá strana], Hradschin [Hradčany] und Josefstadt [Josefov], bezeichnet. Die ab den 1880er Jahren nach und nach eingegliederten und später zu Groß-Prag (1922) gehörenden Vorstädte wie Wyschehrad [Vyšehrad], Bubna-Holleschowitz [Bubna-Holešovice], Königliche Weinberge [Královské Vinohrady], Žižkov, Lieben [Libeň], Karolinental [Karlín], Nusle und Smichov [Smíchov] wurden gesondert aufgenommen und fallen ausschließlich in die Kategorie mit 0,019,9 % Anteil deutschsprachiger Einwohner. Neben Pilsen und Budweis sind dies zudem die einzigen tschechischsprachigen Bezirke, die Zuwachsraten verzeichnen. Von den 27 politischen Bezirken Böhmens, die von 1891 bis 1900 eine Abnahme der Bevölkerung verzeichnen, liegen 21 im tschechischen Sprachgebiet und zwar meist in der südlichen, überwiegend agrarischen Hälfte des Landes. Aber auch im Norden sind

Institutionelle und individuelle Voraussetzungen des Bilingualismus

281

noch weist die ab den 1880er Jahren verfügbare Angabe zur Heimatzuständigkeit496 der Drittklässler an der Volksschule ,U sv. Havla‘ darauf hin, dass bei zwei Drittel bis drei Viertel der Schüler in der Generation der Väter oder Urgroßväter eine Migration nach Prag stattgefunden hat, denn sie sind nicht nach Prag ,zuständig‘ (vgl. Tabelle 17: 284). An den deutschen Altstädter Volksschulen zeichnet sich diesbezüglich eine eindeutige Tendenz ab, in den 1870er und Anfang der 1880er Jahre werden die Einrichtungen noch von einem relativ großen Anteil an Abkömmlingen eingesessener Prager Familien besucht; an der Mädchenschule bilden sie im Schuljahr 1870/71 sogar über die Hälfte der Drittklässlerinnen (vgl. Tabelle 14: 283; Tabelle 15: 283). Gegen Ende des Jahrhunderts weist ihr sinkender Anteil auf die Migrationsbewegung nach Prag hin – v.a. auch der jüdischen Einwohner Böhmens, da die beiden Altstädter Unterrichtsanstalten ja überwiegend von Schulkindern mosaischen Glaubensbekenntnisses besucht werden (vgl. Abbildung 5: 224; Abbildung 6: 225). Dagegen scheint sich die Volksschule der Piaristen, deren Schülerzahl sich im Laufe der Zeit stark verringert (vgl. Tabelle 10: 201), als Einrichtung der ursprünglichen Prager Familien zu etablieren. Denn im Gegensatz zu den deutschen Volksschulen in der Altstadt sind an der Piaristenvolksschule zur Jahrhundertwende fast die Hälfte der Schüler nach Prag ,zuständig‘ (vgl. Tabelle 16: 284). Anders als Berlin, Wien oder Budapest besitzt Prag bis zu den Umbrüchen des Ersten Weltkrieges kaum wirtschaftliche Magnetwirkung auf Juden aus Polen und Russland. 94 Prozent der Prager Juden zur Jahrhundertwende sind in Böhmen geboren (vgl. Cohen 1981: 78). Während an der tschechischen Volksschule kaum Geburtsorte mit deutschsprachiger Mehrheit zu finden sind (vgl. Tabelle 17: 284), bilden umgekehrt an den Anstalten mit deutscher Unterrichtssprache die Schüler mit ,tschechischer‘ territorialer Herkunft regelmäßig einen Mindestanteil von zwölf Prozent. Insbesondere an der Altstädter Volksschule für Knaben gilt dieses Minimum nur für die 1870er Jahre, in den folgenden Jahrzehnten stammt durchschnittlich ein Viertel der Schülerschaft aus einer tschechischsprachigen Umgebung. An der Mädchenschule ist ihr Anteil nicht so hoch, allerdings wird dies durch die größere Zahl an gebürtigen Pragerinnen wieder ausgeglichen. Dagegen verliert der Anteil der Schüler mit ,tschechischem‘ Geburtsort an der Piaristenvolksschule in den 1880er Jahren maßgeblich an Gewicht (sinkt auf 12 %) und steigt bis zum Ende des Jahrhunderts kaum mehr an.

496

die tschechischsprachigen Bezirke stärker von der Landflucht betroffen, als die deutschen (vgl. Rauchberg 1905a: 164-165). Die Heimatsberechtigung wird, sofern sie nicht durch einen besonderen Rechtsakt geändert wird, von Generation zu Generation weitervererbt. So lässt eine Diskrepanz von Geburtsort und Heimatgemeinde auf eine Wanderungsbewegung in der Familie schließen. Erst im Jahr 1896 wird die ,Ersitzung des Heimatsrechts‘ eingeführt, sie soll die rechtliche Zugehörigkeit zu einer Gemeinde mit den tatsächlichen Lebensverhältnissen in größere Übereinstimmung bringen (vgl. Rauchberg 1905a: 224).

282

Institutionelle und individuelle Voraussetzungen des Bilingualismus

Der Anteil der Schulkinder aus deutschsprachigen Gebieten bewegt sich an den Volksschulen mit deutscher Unterrichtssprache zwischen drei und 13 Prozent. Auch hier weist die Altstädter Einrichtung für Knaben zwar nicht den maximalen, so aber doch den beständigsten Anteil auf (7 bis 12 %) (vgl. Tabelle 14: 283). An der Mädchenschule ist eine gewisse Entwicklung zu erkennen, die sowohl für die in deutsch- als auch in tschechischsprachiger Umgebung geborenen Kinder gilt. Bis Anfang der 1880er Jahre gibt es zwar einen Zuzug aus diesen Gebieten, allerdings dominieren eindeutig die gebürtigen Pragerinnen. Aus Orten mit deutschsprachiger Mehrheit stammt zunächst nur ein vernichtend geringer Teil von drei bis sechs Prozent der Mädchen. Im Laufe der 1880er nimmt ihre Zahl zu und erreicht schließlich zur Jahrhundertwende ihren Spitzenwert von 13 Prozent, wobei immerhin 22 Prozent aus vorwiegend tschechischsprachigen Gegenden kommen (vgl. Tabelle 15: 283). An der Piaristenvolksschule variieren die Werte am heftigsten, nur in den 1870er Jahren ist ein relativ hoher und beständiger Anteil von neun bis zwölf Prozent an Schulkindern aus deutschsprachigen Gebieten erkennbar. Während sie Mitte der 1880er und im Laufe der 1890er nochmals diese Werte erreichen, sinkt ihr Anteil zur Jahrhundertwende – mit einem gleichzeitigen Anstieg der in Prag Geborenen – auf drei Prozent ab (vgl. Tabelle 16: 284). Insgesamt spiegeln die Werte, um so mehr, da es sich um Anstalten mit deutscher Unterrichtssprache handelt, doch einen relativ geringen Zuzug aus deutschsprachigen Gebieten nach Prag wider. Rauchberg führt diese geringe Zuwanderung hauptsächlich auf wirtschaftliche Gründe zurück. Der florierende Arbeitsmarkt in der deutschsprachigen nördlichen Hälfte Böhmens zieht Menschen an und fördert keinesfalls eine Abwanderung nach Prag. Auf die migrationswilligen Bewohner der südlichen deutschsprachigen Bezirke übt dagegen Wien eine stärkere Anziehungskraft aus als Prag. Daher beschränke sich „das eigentliche Rekrutierungsangebot Prags auf den tschechischen, vorwiegend agrarischen Kern des Landes“ (Rauchberg 1905a: 306). Dass aber auch die zunehmende Präsenz und Machtdemonstration der Tschechen in Prag die Wanderungsbewegung der böhmischen ,Deutschen‘ eher in andere österreichische Städte lenkt als in die Landeshauptstadt Böhmens ist dabei nicht zu vergessen (vgl. Cohen 1981: 96-97; Kapitel 3.1.1.2). Auffällig und äußerst gering und damit auch in gewisser Weise vernachlässigbar ist der Anteil der Schulkinder, die aus gemischtsprachigen Gebieten stammen. An allen untersuchten Anstalten liegt ihr Anteil meist zwischen null und zwei Prozent. Ausnahme bildet das Schuljahr 1883/84 an der Piaristenvolksschule, als einmalig fünf Prozent der Knaben aus Gebieten mit 20,0 bis 79,9 Prozent Anteil deutschsprachiger Einwohner kommt. Dass an der tschechischen Vergleichsschule (fast) keine Kinder aus deutsch-tschechischen Landesteilen stammen, kann abermals als ein Hinweis auf die Vorrangstellung des Deutschen gewertet werden. Denn Kinder, bei denen bereits in der Primärsozialisation ein verstärkter Kontakt mit beiden Landessprachen zu vermuten ist, wird bei der Schulwahl (fast) immer die deutsche Option bevorzugt. Generell ist der geringe Anteil an der Schüler-

283

Institutionelle und individuelle Voraussetzungen des Bilingualismus

schaft aus gemischtsprachigen Landesteilen auch darin begründet, dass lediglich 18 Prozent der böhmischen Bevölkerung in gemischtsprachigen Bezirken leben, während 27 Prozent in deutschsprachigen und 55 Prozent in tschechischsprachigen Bezirken angesiedelt sind (vgl. Rauchberg 1905a: 162).497 Tabelle 14: Deutsche Altstädter Volks- und Bürgerschule für Jungen – Schüler ausgewählter dritter Klassen nach der sprachlich-territorialen Herkunft (in %) deutschsprachig

gemischtsprachig

tschechischsprachig

Prag

sonstige

Heimatzuständigkeit nach Prag

1875/76 (n=210)

10%

1%

14%

70%

5%

0% (keine Angabe)

1878/79 (n=179)

7%

1%

14%

73%

5%

35%

1881/82 (n=189)

10%

1%

17%

66%

6%

23%

1882/83 (n=190)

8%

1%

19%

68%

4%

23%

1883/84 (n=145)

9%

1%

23%

63%

4%

26%

1884/85 (n=125)

8%

0%

27%

62%

2%

21%

1887/88 (n=109)

7%

0%

24%

65%

4%

28%

1889/90 (n=87)

8%

0%

31%

55%

6%

26%

1891/92 (n=106)

12%

2%

22%

62%

2%

16%

1894/95 (n=96)

10%

1%

25%

59%

4%

20%

1897/98 (n=62)

8%

2%

16%

73%

2%

18%

10%

1%

28%

54%

6%

14%

Schuljahr

1899/1900 (n=79)

Quelle: Vgl. AHMP: Deutsche Volks- und Bürgerschule für Knaben, Altstadt. Schulkataloge 18751900; eigene Berechnung.

Tabelle 15: Deutsche Altstädter Volks- und Bürgerschule für Mädchen – Schülerinnen ausgewählter dritter Klassen nach der sprachlich-territorialen Herkunft (in %) deutschsprachig

gemischtsprachig

tschechischsprachig

Prag

sonstige

1871/72 (n=124)

6%

3%

19%

72%

1%

57%

1875/76 (n=215)

3%

0%

13%

80%

3%

0% (keine Angabe)

1878/79 (n=181)

6%

1%

14%

80%

0%

46%

1880/81 (n=220)

6%

1%

15%

74%

4%

32%

1881/82 (n=208)

5%

1%

19%

71%

3%

34%

1882/83 (n=204)

4%

1%

15%

76%

3%

31%

1883/84 (n=197)

8%

1%

16%

68%

7%

22%

1884/85 (n=206)

7%

0%

23%

65%

4%

23%

1886/87 (n=138)

7%

1%

16%

72%

4%

29%

1889/90 (n=129)

8%

2%

21%

64%

5%

16%

1892/93 (n=123)

10%

2%

24%

61%

3%

24%

1895/96 (n=96)

11%

0%

18%

66%

5%

14%

1897/98 (n=75)

8%

1%

16%

60%

15%

8%

1898/99 (n=88)

13%

1%

22%

64%

1%

19%

Schuljahr

497

Heimatzuständigkeit nach Prag

Die Angaben beziehen sich auf die mittlere Bevölkerung der einzelnen sprachlich verschiedenen Gebietsabschnitte von 1881 bis 1890 nach Rauchberg.

284

Institutionelle und individuelle Voraussetzungen des Bilingualismus

Quelle: Vgl. AHMP: Deutsche Volks- und Bürgerschule für Mädchen, Altstadt. Schulkataloge 18711899; eigene Berechnung.

Tabelle 16: Deutsche Volksschule der Piaristen m. Ö. für Jungen – Schüler ausgewählter dritter Klassen nach der sprachlich-territorialen Herkunft (in %) deutschsprachig

gemischtsprachig

tschechischsprachig

Prag

sonstige

Heimatzuständigkeit nach Prag

1870/71 (n=137)

12%

2%

19%

60%

7%

0% (keine Angabe)

1873/74 (n=140)

11%

1%

26%

54%

7%

0% (keine Angabe)

1876/77 (n=127)

11%

1%

17%

61%

10%

0% (keine Angabe)

1878/79 (n=90)

9%

1%

19%

67%

4%

0% (keine Angabe)

1879/80 (n=92)

7%

0%

17%

74%

2%

0% (keine Angabe)

1880/81 (n=90)

10%

1%

12%

74%

2%

0% (keine Angabe)

1881/82 (n=88)

13%

0%

13%

69%

6%

0% (keine Angabe)

1882/83 (n=85)

8%

1%

12%

78%

1%

0% (keine Angabe)

1883/84 (n=81)

5%

5%

16%

74%

0%

0% (keine Angabe)

1884/85 (n=86)

13%

1%

15%

69%

2%

0% (keine Angabe)

1893/94 (n=59)

12%

3%

19%

64%

2%

20%

1895/96 (n=74)

11%

0%

16%

68%

5%

31%

1898/99 (n=63)

3%

2%

14%

79%

2%

43%

Schuljahr

Quelle: Vgl. AHMP: Privat-Volksschule des Piaristenordens für Jungen m. Ö. Schulkataloge 18701899; eigene Berechnung.

Tabelle 17: Tschechische Volksschule ,U sv. Havla‘ für Jungen – Schüler ausgewählter dritter Klassen nach der sprachlich-territorialen Herkunft (in %) deutschsprachig

gemischtsprachig

tschechischsprachig

Prag

sonstige

Heimatzuständigkeit nach Prag

1875/76 (n= 53)

2%

0%

26%

66%

6%

0% (keine Angabe)

1879/80 (n= 43)

2%

0%

21%

72%

5%

0% (keine Angabe)

1883/84 (n= 79)

1%

1%

15%

81%

1%

35%

1886/87 (n= 83)

0%

0%

20%

78%

1%

29%

1888/89 (n= 83)

2%

0%

18%

80%

0%

31%

1893/94 (n= 84)

1%

0%

13%

83%

2%

23%

1896/97 (n= 78)

1%

0%

26%

71%

3%

28%

1899/1900 (n= 79)

0%

0%

20%

77%

3%

24%

Schuljahr

Quelle: Vgl. AHMP: Česká obecná škola u sv. Havla. Schulkataloge 1875-1900; eigene Berechnung.

5.1.3.1.4

Sozialer Status der Eltern

5 .1.3 .1.4 .1 Einteilung der Beru fe in gesellschaftliche Schichten Die Berufsbezeichnung des Erziehungsberechtigten, also primär des Vaters, gegebenenfalls der Mutter oder des Stiefvaters, gilt als Indikator der sozialen Schichtzugehörigkeit der Schulkinder. Im Zentrum des Interesses steht die quantitative Verteilung der Eltern (potenziell) bilingualer Schüler auf verschiedene Berufsklassen. Damit soll geprüft werden, ob die mit diesem Indikator gefasste soziale Her-

Institutionelle und individuelle Voraussetzungen des Bilingualismus

285

kunft der Träger des deutsch-tschechischen und tschechisch-deutschen Bilingualismus Rückschlüsse auf Einstellungen und Motivationen einer angestrebten Zweisprachigkeit zulässt. Mit der zunehmenden Nivellierung der ständischen Unterschiede im Laufe des 19. Jahrhunderts und der daraus folgenden rechtlichen Gleichstellung wird der Beruf schließlich ausschlaggebend für den sozialen und wirtschaftlichen Aufbau der Gesellschaft: „er stellte nicht nur die Erwerbsquelle dar, sondern prägte auch in zunehmendem Maße die soziale Position des einzelnen in der Gesellschaft“ (Durdik 1973: 247). Although far from unambiguous, occupation has become the single most meaningful indicator of stratification in modern society. Understood as a societal role with social, political and financial (economic) consequences, Beruf describes a person’s place within both the class structure and the prestige hierarchy of a community while also offering some clues to his relationship to political authority (Hubbard / Jarausch 1979: 10, Herv. i.O.).

Die Aussagekraft zeitgenössischer Berufserhebungen, wie sie in Österreich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts in Verbindung mit der allgemeinen Volkszählung durchgeführt wurden498, bleibt aber selbst in ihrer modifizierten Form ab dem Jahr 1890 für die soziale Schichtung der Gesellschaft begrenzt. Zwar besteht eine Neuerung darin, dass sich die Umfragen nicht mehr länger nur auf die Erfassung der berufstätigen Personen beschränken, sondern durch die Zuzählung der Personen ohne eigenen Beruf zu der „sozialen Schicht ihres Ernährers“ (Rauchberg 1905a: 456) bereits ein genaueres Bild der sozialen Gliederung der Gesamtbevölkerung liefern. Dennoch prägen v.a. die einzelnen Wirtschaftszweige den Aufbau des Berufsschemas: vier Hauptberufsklassen (Land- und Forstwirtschaft; Industrie; Handel und Verkehr; Öffentlicher Dienst, freier Beruf und berufslose Selbstständige) sind wiederum in 29 Hauptberufsgruppen (z.B. Forstwirtschaft, Fischerei und Wasserkultur, Bergbau) und 173 Berufsarten unterteilt. Letztere bestanden v.a. aus der Aufzählung aller bekannter Gewerbe (z.B. Schneider, Schuhmacher, Tischler) sowie aus einer detaillierteren Untergliederung nach Produktionszweigen (vgl. z.B. Österreichische Statistik 1894 sowie Durdik 1973: 250-251).499 Für die soziale Stellung maßgebend ist „der Arbeitsrang, die Stellung als Unternehmer oder Selbständiger, fernerhin als Angestellter, Arbeiter, Taglöhner, endlich als

498

499

Vgl. hierzu wie auch zu früheren Erhebungen, die in erster Linie die ständische Gliederung der Bevölkerung widerspiegeln, Durdik (1973: 245-251) sowie mit zusätzlicher Berücksichtigung territorialer und sprachlicher Aspekte Rauchberg (1905a: 449-457, 519-522, 531-533), Bolognese-Leuchtenmüller (1978: 99-149). Die aggregierten Daten bezogen sich in der Österreichischen Statistik letztendlich immer auf den Betrieb, sodass beispielsweise ein in einer Lederfabrik tätiger Tischler der Lederindustrie zugerechnet wurde. Diese Verzerrung gewann gegen Ende des 19. Jahrhunderts insofern an Gewicht, als der Produktionssektor enorm wuchs und Technologie und Arbeitsteilung sich stark weiterentwickelten (vgl. Hubbard / Jarausch 1979: 11).

286

Institutionelle und individuelle Voraussetzungen des Bilingualismus

mithelfendes Familienmitglied mit nicht näher bestimmbarem Arbeitsrang“ (Rauchberg 1950a: 456).500 Wenn auch diese Differenzierung des Standes der Individuen entsprechend ihres Verhältnisses zum Arbeitgeber bzw. ihrer Einkommensquelle grundsätzlich sinnvoll erscheint, ist bei der Auswertung der Angaben zu berücksichtigen, dass the application of this concept by the census authorities is occasionally contradictory and misleading. Some of the questionable assignments result from genuine methodological dilemmas but others from ideological bias and the desire to minimize the size of the working class (Hubbard / Jarausch 1979: 13).

So zählen zur Kategorie der Selbständigen beispielsweise nicht nur Personen in Unternehmerstellung, sondern auch alle, die von Renten und Unterstützungen leben, Anstaltsinsassen und Personen ohne Berufsangabe. Ähnlich setzt sich die Gruppe der Angestellten aus höheren Staatsbeamten und dem ,kleinen‘ Postmeister zusammen (vgl. ebd.; Horská 1972: 658). Obgleich diese ideologisch motivierten ,Verzerrungen‘ die soziale Schichtung der Gesellschaft betreffen, weist der Aufbau des Berufsschemas insgesamt deutlich auf eine Aufteilung der Bevölkerung in Wirtschaftszweige als wesentliches Ziel der Berufserhebung hin – „categories describe economic function rather than social class“ (Hubbard / Jarausch 1979: 10).501 Im Gegensatz zur Österreichischen Statistik, die die Berufsverteilung einer Gesamtbevölkerung ausweist, handelt es sich bei den Schulkatalogen um eine nominale Auflistung von Individuen und ihren Berufen, die nur einen Teil der Bevölkerung repräsentiert. Insbesondere im Falle der Volksschulen dürfte aber die soziale Struktur der deutschsprachigen Bevölkerung in Prag erfasst werden. Erstens basiert die Untersuchung hier mit Gültigkeit der Schulpflicht502 auf einer Stichprobe von Volksschülern, die sich nicht wie an Gymnasien entweder durch außerordentliche Leistung qualifizieren müssen oder dank gesellschaftlicher Privilegien Zutritt zur Bildungseinrichtung erlangen. Zweitens wird mit der deutschen Altstädter Volks- und Bürgerschule für Knaben und jener für Mädchen die jeweils einzige öffentliche Institution mit deutscher Unterrichtssprache in der Altstadt Prags untersucht und mit der deutschen Privat-Volksschule mit Öffentlichkeits500 501

502

Die Kategorie „mithelfendes Familienmitglied mit nicht näher bestimmbarem Arbeitsrang“ wird erst ab 1900 geführt (vgl. Cohen 1981: 288). Für eine genauere Analyse der österreichischen Berufsstatistiken aus der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts und ihre begrenzte Aussagekraft zur Sozialstruktur der Gesellschaft und deren Entwicklung vgl. Horská (1972). So weist Pavla Horská beispielsweise auf die Gliederung der Gruppe Selbständiger nach dem Alter hin, die ab dem Jahr 1890 möglich ist, und stellt fest, dass die Zugehörigkeit zur regierenden Klasse der Bourgeoisie nicht bei jeder Altersstufe der Bevölkerung gleich ist und dass der sogenannte soziale Aufstieg auch an das Alter gebunden ist [že příslušnost k vládnoucí třídě buržoasie není ve všech věkových ročnících obyvatelstva stejná a že tzv. sociální vzestup je vázán také věkem] (Horská 1972: 658). Die sechsjährige Schulpflicht wird bereits 1774 in der Allgemeinen Schulordnung für die deutschen Normal-, Haupt- und Trivialschulen in sämmtlichen k. k. Erblanden unter Maria Theresia als wünschenswert eingeführt (vgl. u.a. Newerkla 1999: 45-46).

Institutionelle und individuelle Voraussetzungen des Bilingualismus

287

recht des Piaristenordens für Knaben auch eine schülerstarke Institution mit deutscher Unterrichtssprache in der Schulgemeinde der Neustadt. Da deutschsprachige Eltern ihre Kinder so gut wie nie (vgl. Tabelle 7: 177) an Volksschulen mit tschechischer Unterrichtssprache einschreiben, stellen die ausgewählten Einrichtungen in diesen beiden Stadtteilen zentrale Anlaufstellen im Hinblick auf eine Grundschulbildung in deutscher Sprache dar. Gefestigt wird diese territoriale Eingrenzung durch das Landesgesetz vom 19. Februar 1870 (vgl. Kapitel 4.2.1.2: 170), das in den §§ 9 und 10 die Zuweisung von Ortschaften, Ortschaftsteilen oder Häusern zu einer öffentlichen Volksschule zum Gegenstande hat. Berücksichtigt man ferner, dass in der Altstadt und der Neustadt der Großteil der deutschsprachigen Bevölkerung Prags lebt (vgl. Tabelle 3: 112), so bieten die Berufsangaben in den Schulkatalogen eine gerechtfertigte Ausgangsbasis zur Charakterisierung des sozialen Hintergrunds der potenziell deutsch-tschechisch bilingualen Sprecher. Der tschechisch-deutsche Bilingualismus kann mittels der Daten von der ebenfalls in der Altstadt angesiedelten Volksschule ,U sv. Havla‘ sozial näher beleuchtet werden. Der Vergleich der beruflichen Struktur der Eltern von Kindern mit Deutschunterricht an der tschechischen Volksschule mit jener von tschechischen Kindern an deutschen Schulen liefert einen Hinweis auf die soziale Motivation zum Erwerb der deutschen Sprache. Denn schließlich besteht ein Unterschied darin, ob das Deutsche als ein – noch dazu relativ obligates – Fach unter vielen gewählt oder ob ihr die weitaus intensivere Stellung der Unterrichtssprache zugesprochen wird. Problematisch gestaltet sich die geringe Spezifizierung der Berufsbezeichnungen, sodass die einfachen Angaben ,Fabrikant‘, ,Kaufmann‘ oder ,Beamter‘ ohne Kenntnis über Besitz, Einkommen oder Anzahl der Beschäftigten eine weite Bandbreite umfassen (vgl. Jarausch 1979: 623-624). Dementsprechend kann es sich bei der Klassifizierung503 der über 700 in den Schulkatalogen der Volksschulen und Gymnasien genannten Tätigkeitsbezeichnungen nur um eine – aber in jedem Falle wertvolle – Annäherung an die Schichtung der sozialen Gruppen und letztendlich deren Sprachverhalten handeln.504 Die Aufteilung der Gesellschaft in fünf verschiedene Schichten erfolgte im Wesentlichen in Anlehnung an die von Hubbard / Jarausch zusammengefassten 503

504

Wesentliches Hilfsmaterial für die Klassifizierung der zahlreichen Berufsangaben stellte das Handbuch zur Berufswahl dar (vgl. Berufswahl. Handbuch 1912-1913). Zwar erschienen die sechs Hefte dieser Reihe zur Berufsorientierung junger Menschen erst Anfang des 20. Jahrhunderts, doch gelten die einzelnen Beschreibungen der Berufe und insbesondere die zum Teil angegeben Gehaltsaussichten und Rangklassen im öffentlichen Dienst sowie in Militärberufen noch in etwa für die Verhältnisse Ende des 19. Jahrhunderts. Sie liefern damit einen wertvollen zeitgenössischen Einblick in die Berufsstruktur dieser industriellen Umbruchsphase. In moderneren Schichtungsmodellen wird soziale Ungleichheit in westlichen Industriegesellschaften vorwiegend auf Grundlage dreier Dimensionen bzw. der drei ,klassischen‘ Schichtindikatoren analysiert: Bildung, Beruf und materieller Wohlstand. Bei der Ermittlung der Ursachen sozialer Ungleichheit ist das in der jeweiligen Gesellschaft herrschende Ausmaß an sozialer Mobilität von entscheidender Bedeutung. Vgl. hierzu Klein (2005: 227-387).

288

Institutionelle und individuelle Voraussetzungen des Bilingualismus

Ergebnisse eines Historikerworkshops aus dem Jahr 1978. Cohen (vgl. 1987; 1988) hat in Untersuchungen zur Studentenschaft in Prag und Wien diese Gliederung der Berufsgruppen – auf der Grundlage von Universitätsmatriken – angewandt und geringfügig erneuert. So wird im Folgenden zwischen ,Besitzbürgertum‘, ,Bildungsbürgertum‘, ,traditionellem Kleinbürgertum bzw. altem Mittelstand‘, ,neuem Kleinbürgertum bzw. neuem Mittelstand‘505 und ,Lohnarbeiter bzw. Unterschicht‘ differenziert.506 Mit diesem Aufbau wird weitgehend eine zeitgenössische Wahrnehmung der sozialen Lagen507 der Gesellschaft umgesetzt, die auch das soziale Bewusstsein der damaligen Bevölkerung widerspiegelt (vgl. Cohen 1987: 298), indem sowohl die verschiedenen Bildungsstufen als auch das jeweilige Einkommen und gegebenenfalls das soziale Ansehen eines Berufes als wesentliche Ordnungsmerkmale fungieren. Da beispielsweise in Bezug auf das Beamtentum die erforderliche Schulbildung und das tatsächlich erreichte Gehalt nicht zwingend korrelierten508, wird im Folgenden mit ,sozialem Status‘ insbesondere die materielle Komponente des Begriffs und das auf Wohlstand begründete Prestige eines Berufes betont.

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Zur Aufteilung des Mittelstandes in ,alten‘ und ,neuen Mittelstand‘ vgl. ausführlicher Schmoller (1897). Eine nennenswerte Veränderung ist, dass Hubbard / Jarausch (1979) bzw. Hubbard (1976) den ,freien Berufen‘ (Rechtsanwalt, Apotheker, Gelehrte, Künstler, Schriftsteller etc.) eine eigene Kategorie zuweisen, während Cohen sie zunächst dem Bildungsbürgertum (vgl. Cohen 1987) und schließlich Teile dem neuen Mittelstand zuordnet (vgl. Cohen 1988). Jarausch (1982) übernimmt bei seiner Untersuchung der sozialen Herkunft der Studentenschaft an der Universität in Bonn im Wesentlichen die Kategorien von Hubbard (1976), statt einer extra Kategorie der ,freien Berufen‘ teilt er das Bildungsbürgertum in „Higher Officials“ und „Professionals“ (Jarausch 1982: 121, 124). In der vorliegenden Untersuchung wird diesbezüglich im Wesentlichen das Schema von Cohen (1988) übernommen. Der Unterschied zwischen sozialer Lage und Schicht, wie ihn bereits Theodor Geiger (1932) als einer der ersten Vertreter der Schichtungssoziologie beschreibt, wird im Folgenden vernachlässigt. Demnach stellt Schicht ein Zusammenspiel von objektiv beschreibbarer sozialer Lage und einem Schichtbewusstsein dar, das im historischen Rückblick freilich nicht statistisch erfasst werden kann. (vgl. Georg 2004: 378). Während gegen Ende des 19. Jahrhunderts die qualitativen Anforderung an die Beamten beständig anwachsen und ein Studium nicht mehr mit Verweis auf ausreichende praktische Erfahrung erlassen wird, wie das v.a. Mitte des 19. Jahrhunderts sehr geläufig war, stagnieren die Gehälter bereits seit dem Jahr 1873 (vgl. Megner 1985: 23-29, 97, 108). Dieser „Intellektualisierung der Beamtenschaft“ (ebd.: 24) steht „die große Bedeutung von Einkommen und Vermögen in der Ära des Liberalismus“ (ebd.: 323) gegenüber. In diesem Zusammenhang weist Megner auf eine um 1860 entworfene „Schichtung der österreichischen Gesellschaft [...] nach dem Einkommen“ hin, in der das durchschnittliche Jahreseinkommen zwar in „unzulässiger monokausaler Weise“ (ebd.: 322) als Zuordnungskriterium verwendet wird, aber dadurch auch die steigende soziale Wertschätzung materiellen Besitzes demonstriert. Kennzeichnend ist diesbezüglich auch, dass Mitte des 19. Jahrhunderts der Staatsdienst seinen monopolähnlichen Charakter auf ,zivilem‘ Wege den sozialen Aufstieg zu schaffen, verliert. Im Zuge der Industrialisierung bieten Handel und Industrie materiell weitaus lukrativere Chancen, sich in der gesellschaftlichen Hierarchie hochzuarbeiten (vgl. ebd.: 262).

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Das ,Bildungsbürgertum‘ grenzt sich vom ,Besitzbürgertum‘ dadurch ab, dass eine akademische Qualifikation als notwendige Bedingung der Zugehörigkeit gilt. Sozialer Status und Bildung bestimmen hier einander, wohingegen im ,Besitzbürgertum‘ eine wissenschaftliche Ausbildung nicht verpflichtend ist (z.B. wird der soziale Status durch Erbschaft erlangt). Im Laufe der Industrialisierung nimmt allerdings nicht nur der Symbolwert von Bildung zu, auf dem durchaus eine privilegierte Stellung begründet werden kann509, sondern werden auch praktische Kenntnisse immer stärker geschätzt und genutzt, eine „gediegene Ausbildung“ (Engelbrecht 1986: 23) zählt sozusagen als Selbstverständlichkeit.510 Wirtschafts- und Bildungsbürgertum stellen nur in einer relativ kurzen Zeit nach 1848 zwei völlig getrennte Sozialkörper innerhalb einer bestimmten städtischen Gesellschaft dar. Schon bald kommt es insbesondere in Klein- und Mittelstädten zu einer „schleichenden inneren Integration von ,Besitz‘ und ,Bildung‘“ (Urbanitsch 2006: 54). ,Nach unten‘, v.a. gegenüber dem ,Neuen Kleinbürgertum‘, zeichnet sich die schmale, universellen Denk- und Handlungsmustern zugetane bildungsbürgerliche Oberschicht durch die Erfordernis einer umfassenden Schulbildung, meist verbunden mit dem Besuch einer Hochschule, aus. Die Abgrenzung zum ,alten‘, handwerklich-gewerblichen Mittelstand ist deutlich.511 Weder die fünf definierten gesellschaftlichen Schichten noch die ihnen jeweils zugeteilten Berufsgruppen lassen auf eine eindeutige Zugehörigkeit aller Berufsangaben schließen. Daher sollen die einzelnen Gruppen und etwaige Besonderheiten kurz beschrieben werden. Maßgeblich für die Zugehörigkeit zum ,Besitzbürgertum‘ ist offensichtlich materieller Wohlstand, unabhängig davon, ob er auf ländlichen oder städtischen Besitztümern oder Führungspositionen in Industrie, Handel oder Finanzwesen basiert (z.B. Gutsbesitzer, (Groß-) Grundbesitzer, Realitätenbesitzer, Hausbesitzer, Bergwerksbesitzer, Färbereibesitzer, Fabrikdirektor, Generaldirektor der Bahn, Großhändler, Großindustrieller, Bankier, Bauunternehmer). Wenn auch v.a. mit Bezug auf das Schank- und Gastgewerbe die Größe des Unternehmens eine entscheidende Rolle spielt und hier selbst eine Fachausbildung nicht obligatorisch ist (vgl. Chudaczek 1913: 71-72), so werden ausgewiesene Eigentümer von Kaffeehäusern und Gasthöfen (nicht ,einfache‘ Gastwirte, die eher zum traditionellen 509

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„Middle-class society in nineteenth-century Central Europe generally awarded power and social honors on the basis of a composite test of occupation, wealth, life-style, and personal cultivation. The middle classes honored individuals’ Bildung und Besitz […] which presumably reflected individual achievement in a competitive society, not the happenstance of birth” (Cohen 1981: 57). Stölzl dokumentiert, dass bereits in den 1850er Jahren die Anziehungskraft und das Prestige einer (zu dieser Zeit v.a. ,deutschen‘) Gymnasialbildung unter dem Eindruck des raschen ökonomischen Fortschritts zurückgeht. Im Gegenzug gewinnen die technischen Lehrantstalten und der Praxisbezug an Attraktivität. Zudem bieten die Aufstiegskanäle auf der Basis technischkaufmännischer Ausbildung größere Ideologiefreiheit als der Eintritt in den Staatsdienst, der lange Zeit mit einer fast zwangsläufigen Germanisierung verbunden ist (vgl. Stölzl 1971: 70-71). Zur Veränderung der professionellen Struktur während des Übergangs von der Agrar- zur Industriegesellschaft vgl. Matějček (1993).

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Mittelstand zu rechnen sind) in das Besitzbürgertum eingereiht. Ferner zählen zum Besitzbürgertum ,Private‘, ,Prager Bürger‘, ,Pensionäre‘, ,Rentiers‘ und ,Urlauber‘, die offensichtlich ihren Lebensunterhalt aus dem Ertrag ihres Vermögens bestreiten. Besondere Erwähnung verlangt die Bezeichnung ,Fabrikant‘. Im späten 18. und im 19. Jahrhundert wurden manche der nicht direkt einem traditionellen Handwerk zuordenbaren Gewerbetreibenden (z.B. Brenner), soweit sie etwas herstellten, gern als ,Fabricanten‘ bezeichnet.512 Fabriken in ihrer modernen Bedeutung und damit auch dem Besitzbürgertum entsprechendes Eigentum ist darunter nicht zu verstehen (vgl. Lorenzen-Schmidt 1995: 5).513 Aus diesem Grund wurden mit Ausnahme der im Kontext der Industrialisierung als Fabrikanten im heutigen Sinn zu verstehenden ,Maschinen-‘, ,Metall-‘ und ,Zuckerfabrikanten‘ die genauer spezifizierten Fabrikanten (Strohhut-, Liqueur-, Spiritus-, Mieder-, Strumpfwaren-, Leder-, Wäsche-, Granatwarenfabrikanten) in der Kategorie der ,selbständig Gewerbetreibenden‘ der ,alten Mittelschicht‘ zugeordnet. Als „Kernmasse“ des ,Bildungsbürgertums‘ bezeichnet Ulrich Engelhardt (1986: 22) die Inhaber akademischer oder wenigstens präakademischer Bildungspatente (Hochschul- oder zumindest Gymnasialabsolventen). Zweifellos zählen hierzu die meist – beamteten oder doch quasibeamteten sowie ,freien‘ – Repräsentanten mehr oder minder traditionell ,gelehrter‘ Berufe, also Theologen, Juristen, Mediziner, Gymnasial- und Hochschullehrer, zudem höher gebildete Schriftsteller, Redakteure, Journalisten, außerdem auch Vertreter der vergleichsweise neuen Gebildetenprofessionen wie Ingenieure, 514 Architekten usw. (Urban 1997: 204).

Auch wenn Urban offen lässt, inwieweit hier wenigstens partielle Gruppen der Wirtschaftsbürgertums einzubeziehen sind, deren Leistungen sich auf einer höheren (zumeist) technischen oder ökonomischen Bildung gründet (vgl. Urban 1997: 204), werden in der vorliegenden Kategorisierung die leitenden Angestellten515 512 513

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Mit Bezug auf Prag vgl. hierzu auch Cohen (1981: 116). In den Schulkatalogen scheint weitgehend in ,Fabrikanten‘ und ,Fabrikbesitzer‘ unterschieden worden zu sein, allerdings ist diese Differenzierung v.a. auch in ihrer Vollständigkeit schwer nachprüfbar. Wie bereits erwähnt werden in der vorliegenden Untersuchung Redakteure, Journalisten und Künstler unter den freien Berufe im ,neuen Kleinbürgertum‘ eingeordnet, da zwar eine gewisse Bildung vorausgesetzt werden kann, eine ,höhere Bildung‘ ohne detailliertere Angabe des Berufes kaum überprüfbar ist. Davon ausgegangen werden kann bei ,Chefredakteuren‘, ,Oberregisseuren‘ und ,Theaterdirectoren‘, die daher in das Bildungsbürgertum unter den ,leitenden Angestellten‘ eingereiht werden. Anders als bei Cohen (1987; 1988) oder bei Hubbard / Jarausch (1979), die die ,leitenden Angestellten‘ dem Besitzbürgertum zuordnen, diese Vorgehensweise aber auch nicht näher begründen. Grundsätzlich steht der Höhe des Gehaltes die erforderliche Fachausbildung gegenüber. Auf Grund der zunehmenden Intellektualisierung höherer Posten, wie sie etwa auch in der Beamtenschaft gegen Ende des Jahrhunderts stattfindet (vgl. Megner 1985: 24), werden die leitenden Angestellten zunächst in das Bildungsbürgertum eingereiht, allerdings bleibt mit der Unter-

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nicht ins Besitz-, sondern ins Bildungsbürgertum eingereiht. Denn in den letzten Dezennien des 19. Jahrhunderts ist das Ausbildungssystem bereits so weit fortgeschritten, dass die Besetzung leitender Positionen durchaus von einer gewissen fachlichen Qualifikation der Bewerber geleitet sein dürfte.516 Dementsprechend werden auch technische und nicht genauer spezifizierte Ingenieure sowie Architekten als Absolventen einer technischen Hochschule ebenfalls zum Bildungsbürgertum gezählt. Eine akademische Ausbildung ist zweifelsohne Voraussetzung für den Beruf im höheren Justizdienst (vgl. Tomaschek 1913: 31-32)517, für die „Ausübung der Heilkunde“ (Chudaczek 1913: 85) – vom Zahnarzt bis zum Apotheker – (vgl. ebd.: 85-89) und höhere Geistliche. Ferner stellen Regierungs- (Lokal, Hof, Justiz, Forst) und höhere Staatsbeamte (1.-8. Rangklasse)518 einen wesentlichen Teil des Bildungsbürgertums. In Bezug auf das Militär werden die Offiziere des Soldatenstandes519 – wobei zwischen den sogenannten a-Offizieren (d.h. Generale und Stabsoffiziere, 1.-8. Rangklasse) und b-Offizieren (Oberoffiziere, 9.-11. Rangklasse) unterschieden wird (vgl. Thom 1912: 6-7) – und die höheren Militärbeamten (1.-8. Rangklasse) zum Bildungsbürgertum gerechnet. Mittels der Eintei-

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scheidung von verschiedenen Berufsgruppen innerhalb dieser Schicht die Möglichkeit einer Abgrenzung dieses ,Grenzfalles‘ erhalten. Vgl. auch Kořalka (1997: 214), der im Rahmen seiner Untersuchung des tschechischen Bildungsund Kleinbildungsbürgertums am Beispiel der Stadt Tabor ähnlich verfährt, d.h. leitende Angestellte und höhere Privatbeamte in die Gruppe der Bildungsbürger einordnet. Unter Berücksichtigung der Perspektiven der aktuellen Situation im Lebenszyklus (vgl. Hubbard / Jarausch 1979: 11) wurden ,Advokateurs-Candidaten‘ ebenfalls ins Bildungsbürgertum eingereiht. Vgl. die Vorrückungstabelle für Beamte, in der deutlich wird, dass „die Absolvierung einer mittleren Lehranstalt und eines Hochschulkurses sowie die erfolgreiche Ablegung einer Staatsprüfung an einer Hochschule” (Tomaschek 1913: 4) Voraussetzung ist, um sich überhaupt die Möglichkeit offen zu halten, in die 8. Rangklasse vorzurücken (vgl. auch Megner 1985: 141142). Die für das preußische Beamtentum zutreffende und gebräuchliche Terminologie akademisch (,höherer‘) und nichtakademisch gebildeter (,niederer‘) Beamten ist allerdings für Österreich bis etwa 1870/1880 nicht in letzter Konsequenz anwendbar, da Akademiker im Staatsdienst zwar höhere Beamte waren, doch dies umgekehrt nicht zwingendermaßen zutrifft (vgl. Megner 1985: 20-21). Ab dem Jahr 1873 wurde nicht mehr in ,Diätenklassen‘ sondern in ,Rangklassen‘ aufgestiegen (vgl. ebd.: 291). Als Voraussetzung für den Offiziersstand gilt eine akademische Grundbildung. So ergänzen sich „die Berufsoffiziere [...] grundsätzlich aus den Militärakademien und den Kadettenschulen, ausnahmsweise durch Übersetzung von Reserveoffizieren“ (Thom 1912: 7). – Voraussetzung für den Eintritt in eine Kadettenschule ist die Absolvierung mindestens der vier unteren Klassen einer öffentlichen oder mit dem Rechte der Öffentlichkeit ausgestatteten Mittelschule (vgl. Thom 1912: 26). „In den Kadettenschulen werden die Zöglinge für den Truppendienst im Wirkungskreise des Subalternoffiziers vorbereitet. [...] Das Lehrziel der Kadettenschulen fällt hinsichtlich des Maßes der allgemeinen Bildung dem Wesen nach mit jenem der Oberstufe der Zivilrealschulen überein“ (Thom 1912: 25). „Die Militärakademien haben die Bestimmung, die Akademiker zu Offizieren auszubilden und ihnen überdies jene wissenschaftliche Grundlage zu bieten, die zur späteren Frequentierung der Militärfachbildungsanstalten [...] erforderlich ist“ (Thom 1912: 29). Obgleich diese Gruppe allgemein zum Bildungsbürgertum gezählt wird, so gibt es doch auch Fälle, in denen Knaben, die den Anforderungen einer zivilen Höheren Schule nicht gewachsen waren auf Kadettenschulen auswichen (vgl. Megner 1985: 221, insb. Anm. 33).

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lung in verschiedene Berufsgruppen ist allerdings weiterhin die Möglichkeit zur Differenzierung des Bildungsbürgertums in einen ,wissenschaftlichen‘, einen ,ökonomischen‘ und einen ,militärischen‘ Zweig gegeben. Das Kleinbürgertum umfasst auf der einen Seite die ,alte Mittelschicht‘, d.h. den vorindustriellen Bauernstand, die Handwerker- und Kaufmannsschicht sowie Angehörige des niederen geistlichen Dienstes (katholische / evangelische Pfarrer, Kaplan, auch Ober-/ Cantor, Vorbeter, Tempelbeamter). Der sich wandelnde soziale Status einzelner Berufe im Zuge der Industrialisierung und Einführung neuer Technologien in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts (vgl. Hubbard / Jarausch: 10), von der neben der Arbeiterschaft insbesondere das handwerkliche Gewerbe betroffen ist (z.B. Schneider, Seifensieder, Schuster) (vgl. Stölzl 1971: 166), kann nicht berücksichtigt werden. Über die Einkommensverhältnisse im Handwerk ist im Vergleich zu jenen der Beamten wenig bekannt. Sicher dürfte sein, daß das Einkommensniveau im Landhandwerk unter dem des Stadthandwerks lag; [...] Ein Tischlermeister in einem südböhmischen Dorf, der einen Gesellen beschäftigte, verdiente um die Jahrhundertwende weniger als ein Schlosser- oder Bäckergeselle in Prag (Heumos 1984: 173).

Obgleich einige Eltern ihre Kinder bei ,Kostgebern‘ unterbringen, um so die Schulsprengelvorschriften zu umgehen und sie auf städtische Schulen schicken zu können, kann bei der überwiegenden Mehrheit der untersuchten Schulkinder von den in Prag sesshaften Handwerkerfamilien, also dem Stadthandwerk ausgegangen werden. Sicherlich bestehen auch innerhalb des Handwerkertums und der selbständig Gewerbetreibenden Ungleichheiten in Bezug auf Wohlstand und Ansehen, die jedoch zugunsten einer übersichtlicheren Darstellung der statistischen Auswertungen nicht berücksichtigt werden können. So reichen die in der Kategorie der selbständigen Handwerker und Gewerbeleute aufgenommenen Berufsangaben vom Nähmaschinenbauer und Ofner bis zum Tischler und Goldarbeiter und vom Fiakerbesitzer bis zum Hühneraugenoperateur.520 Der Handel ist ebenfalls stark differenziert. ,Kaufmann‘ kann sich sowohl der ,Detail-‘ als auch der ,Großhändler‘ nennen, womit bedeutende Unterschiede in Fragen ökonomischer Potenz und gesellschaftlichen Prestiges einhergehen (vgl. Lorenzen-Schmidt 1995: 5).521 Dergleichen kann in der vorliegenden Untersu520

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Zu den gewerblichen Berufen vgl. insbesondere Chudaczek (1913). Unter Aus- und Fortbildung wird angeführt: „Zur Erlernung eines Gewerbes ist mindestens eine gute Volksschulbildung nötig, ja auch der Besuch einer Bürgerschule außerordentlich wünschenswert. [...] Die Ausbildung eines Lehrlings kann bei einem Gewerbetreibenden, in einer Fabrik oder in einer Fachschule erfolgen. [...] Die Lehrzeit wird durch das Statut jener Genossenschaft, der der Lehrherr angehört, oder durch den Lehrvertrag bestimmt und beträgt bei nicht fabriksmäßigen Gewerben jedoch nicht weniger als wie 2 und nicht mehr als 3 Jahre.“ (Chudaczek 1913: 5, Herv. i.O.). So schreibt der Berufsratgeber in Bezug auf eine Anstellung im Detailhandel: „Als Voraussetzung für die Aufnahme in derartige Berufe werden keine großen Anforderungen bezüglich der Schulbildung gestellt. Wer die Volksschule absolviert hat, wird, wenn er nur sonst aufgeweckt

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chung auf Grund der Materiallage kaum unterschieden werden, allerdings erlaubt eine Unterkategorie nicht weiter spezifizierter ,Kauf- und Handelsmänner‘ gegebenenfalls eine isolierte Betrachtung dieser Gruppe Handeltreibender. Die zweite Hälfte des Kleinbürgertums, den ,neuen Mittelstand‘, bilden nichtakademische Regierungs- und Staatsbeamte (9.-11. Rangklasse)522, Büroangestellte, niedere Erziehungsbeamte und Vertreter freier Berufe (Künstler, Journalisten etc.).523 Bei Letzteren ist selbstverständlich der persönliche Bekanntheitsgrad bzw. der des Instituts für die Bezahlung ausschlaggebend, außerdem ist im künstlerischen Milieu eine akademische Bildung durchaus gewöhnlich. Doch erscheint mit Blick auf die durchschnittliche Zusammensetzung der Gruppe524 eine Zuordnung zum neuen Kleinbürgertum durchaus sinnvoll, da auch die ausgewiesenen Führungskräfte wie ,Chefredakteure‘ und ,Oberregisseure‘ bereits ins Bildungsbürgertum eingereiht wurden. Zum neuen Mittelstand zählen ferner Militärangehörige, die nach ihrer Stellung niedere Rangklassen (9.-11. Rangklassen) besetzen oder „Gagisten ohne Rangklasse“ (Thom 1912: 6) sind. An der Grenze zur untersten sozialen Schicht ist schließlich die Gruppe der Unterbeamten525 sowohl hinsichtlich der Bezahlung als auch der geforderten Bildung anzusiedeln. Ein Großteil dieser Stellen wurde den sogenannten ,Zertifikatisten‘ zugesprochen, ausgedienten Unteroffizieren, denen auf Positionen dieser Kategorie bei allen Staatsbehörden im weiten Sinn (damit ist z.B. auch die Bahn eingeschlossen) Vorrang gewährt werden musste (vgl. Megner 1985: 228-229). Was allerdings die schulische Qualifikation betrifft, so war „[b]ei den Zertifikatisten [...] Volksschul- oder Hauptschulbildung die Regel“ (Megner 1985: 29).526 Zu den Unterbeamten und Perso-

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und willig ist, gern für solche Stellungen engagiert" (Tomaschek 1913b: 11). Mit der Gewerbenovelle aus dem Jahr 1907 wird die Ausübung eines freien Handelsgewerbes allerdings an einen Befähigungsnachweis und damit ein gewisses Ausbildungsniveau geknüpft (vgl. Chudaczek 1913: 37). Für die bereits in den 1850er Jahren beginnende Verschlechterung der ökonomischen Situation der Beamten und die daraus entstehende Diskrepanz zwischen prätendierter sozialer Stellung und wirtschaftlicher Lage des Beamten-Korps vgl. Stölzl (1971: 115-118). Der Lebensstandard der meisten tschechischen Schriftsteller, Journalisten, Bürger- und Volksschullehrer, Sekretäre tschechischer Bezirks- und Stadtvertretungen sowie ein Großteil der Privatbeamten hielt sich nach Kořalka „in bescheidenen kleinbürgerlichen Schranken, aber die gesellschaftliche und kulturelle Aktivität dieser sozialen Schicht war übermäßig hoch und befruchtend“ (Kořalka 1997: 211). Als Beispiel ist das Theater anzuführen. So gibt Tomaschek selbst für Kapellmeister, Regisseure und Solisten nur etwa 100 bis 300 K monatlich gesicherte Mindestgage an (vergleichbar mit einem Beamten der 10./11. Rangklasse), wobei er einen höheren Bildungsgrad für diese Berufe als unerlässlich betrachtet. Dagegen reicht für Mitglieder des Chors, Balletts und Orchesters eine Volksschulbildung aus (vgl. Tomaschek 1913b: 19-20). Im Staatsdienst wurde erst im Jahr 1908 die Kategorie der inhomogenen, abstrakt zu verstehenden ,Dienerschaft‘, die beispielsweise auch Polizeiwachtmeister einschloss, in ,Unterbeamte‘ einerseits und ,Diener‘ andererseits aufgespalten. Bei der Staatsbahn existierte diese Differenzierung schon länger (vgl. Megner 1985: 73-76, 291-296). Auch wenn ,Diurnisten‘ keine definitive Anstellung hatten und finanziell ungesichert waren, sind sie trotz ihrer Bezahlung wie Tagelöhner auf Grund ihrer Qualifikation – immerhin wurden ihnen

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nen in vergleichbarer Stellung wird das Gros des Sicherheitspersonals (Wachmänner, Nachtwächter, Wachtmeister, Polizist, Oberwachtmeister, Wachinspektor etc.) (vgl. Megner 1985: 292), niedere Angestellte im öffentlichen Dienst (z.B. Postmeister, (Ober-) Lokomotivführer, (Ober-) Kondukteure, Stationschef der Bahn, Werksmeister, Magazineur – vgl. Tomaschek 1913: 37, 41) gerechnet, ebenso wie Wirtschaftsschätzer und Konzeptspraktikanten (vgl. Tomaschek 1913: 19). Die unterste Schicht rekrutiert sich allgemein aus Arbeitern (Fabrik, Handel, Landwirtschaft etc.), Handwerksgesellen und -gehilfen, Dienern527 sowie niedrigen Angestellten staatlicher Betriebe, die sozial zur Dienerkategorie zu zählen sind (vgl. Megner 1985: 292). In der Regel absolvieren ihre Mitglieder die Volksschule, der je nach Beruf eine gesonderte fachbezogene Lehrzeit folgt. Der Faktor, dass bei Handwerkern das Gesellendasein auch eine notwendige Durchgangsstation zum Meister ist, wird bei seiner Zuordnung zur Unterschicht vernachlässigt. Denn nach Stölzl nimmt der Geselle ab Mitte des 19. Jahrhunderts infolge seiner geringen Entlohnung zunehmend den sozialen Status eines lebenslangen Lohnarbeiters an (vgl. Stölzl 1971: 122). Ausgehend von diesen sozialen Schichten auf der Grundlage der Berufe der Erziehungsberechtigten ist es möglich, den Bilingualismus aus zweierlei Perspektiven näher zu betrachten. Zum einen ermöglicht die Gliederung der (potenziell) bilingualen Sprecher in verschiedene soziale Schichten und Berufskategorien, das Auftreten des Bilingualismus in einen gesellschaftlichen Zusammenhang zu stellen.528 So liefert die Verteilung der Zweisprachigkeit auf und innerhalb der einzelnen Schichten einen Hinweis auf den „Marktwert“ (Coulmas 1992) der Sprache für bestimmte Berufsgruppen. Außerdem kann mittels des Vergleichs der sozialen Herkunft der Schülerschaft der einzelnen Institutionen eine etwaige, von der Sprachwahl (relativ) unabhängige, ,standesgemäße‘ Trennung der schulischen Einrichtungen aufgedeckt werden. Damit ist gemeint, ob einerseits eine Schule auf Grund ihres besonderen Rufes von Eltern mit besserem sozialen Hintergrund bevorzugt gewählt wird und sich andererseits die Institution für die Aufnahme von Schulkindern aus höheren Schichten einsetzt, die nicht in den vorgesehenen Schulsprengeln wohnen. In erster Linie drängt sich eine solche Vermutung im Zusammenhang mit der Volksschule der Piaristen auf, die als Privatschule (mit Öffentlichkeitsrecht) keinen Schulsprengelvorschriften unterliegt. Jedoch bleibt zu berücksichtigen, dass eine derartige Entwicklung der sozialen Zusammensetzung der Schülerschaft Ende des 19. Jahrhunderts in keinem Falle isoliert von der Un-

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die Aufgaben von Beamten anvertraut (vgl. Megner 1985: 301-303) – zumindest in den Übergangsbereich von neuem Kleinbürgertum und Unterschicht einzuordnen. Für eine hierarchische Abstufung der Dienerschaft vgl. Megner (1985: 291). Cohen (1994; 1981: 123-139) liefert bereits eine Charakterisierung des Zusammenhangs von Beruf und Sprachkontakt in Bezug auf Prag, die mit dem reichhaltigen Datenmaterial der vorliegenden Untersuchung wertvoll ergänzt werden kann.

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terrichtssprache und dem konfessionellen Bekenntnis der Schüler interpretiert werden kann. Zum anderen öffnet der soziale Hintergrund eines Schülers den Blick auf verschiedene mögliche Motivationen, sich trotz des nationalen Spannungsfeldes die zweite Landessprache anzueignen – seien sie wirtschaftlicher Natur, den besseren Karriereaussichten dienend, auf gewissen Bildungsidealen beruhend oder zumindest ein gewisses Niveau an gesellschaftlichem Wohlstand andeutend529. Eine Betrachtung der Gruppe Zweisprachiger im Zeitablauf lässt zudem erkennen, wie sich das Verhältnis von Bilingualismus und sozialer Mobilität entwickelt. – Kristallisieren sich z.B. Deutschkenntnisse konstant als unabdingbar für den sozialen Aufstieg heraus? Findet ein Wandel der gesellschaftlichen Zusammensetzung der Gruppe bilingualer Sprecher statt, sowohl in Bezug auf eine Verschiebung zwischen den Schichten als auch auf den jeweiligen quantitativen Anteil? – Auf der Basis der weitgehend sozialhistorisch gesicherten Kategorisierung der Berufsbezeichnungen kann somit das sozioökonomische Profil der Träger des Bilingualismus im Prag der Kafka-Zeit bedeutend geschärft werden. Auf Grundlage dieser Zuordnung der Berufe zu gesellschaftlichen Schichten (vgl. Tabelle 18: 296) gilt es, die soziale Zusammensetzung der Schüler der einzelnen Einrichtungen im Zeitablauf zu betrachten.

529

Die Anstellung von Dienstmädchen, die oft tschechischsprachiger Herkunft waren und somit in primär deutschsprachigen Haushalten einen ungelenkten Spracherwerb förderten, war zwar ein Zeugnis eines gewissen Wohlstandes, jedoch noch kein Privileg der Reichen (vgl. Kořalka 1997: 212).

296

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Tabelle 18: Übersicht der nach sozialen Schichten gegliederten Berufskategorien 0

keine Angabe, nicht bestimmt

100 110 120 130 140

Besitzbürgertum Grundbesitzer / Landbesitzer / Realitätenbesitzer Fabrikbesitzer / -direktor, Großhändler Unternehmer Private

200 210

230 240 250 260

Bildungsbürgertum höhere Militärbeamte a-Offiziere (vom Feldmarschall bis zum Oberst - nach Thom (1912: 6-7) ist dies 1.-6. Rangklasse, Beamte des Kriegsministeriums von der 1.-7. Rangklasse) b-Offiziere (vom Oberstleutnant bis zum Leutnant - nach Thom (1912: 6-7) ist dies 7.-11. Rangklasse, untere Beamte des Kriegsministeriums) Regierungsbeamte (Lokal, Hof, Justiz, Forst) / höhere Staatsbeamte (1.-8. Rangklasse) / Repräsentant / Abgeordneter, inkl. Mittelschullehrer Arzt / Zahnarzt / Apotheker / nicht klassifizierte Dr. im höheren Justizdienst (Rechtsanwalt, Advokat, Advokat in der Ausbildung, Notar) leitende Angestellte Architekten Ingenieure / höhere Geistliche / Institutsinhaber (Musik, Sprachen, Privatschulen)

300 310 320 330 340 350 360

traditionelles Kleinbürgertum bzw. alter Mittelstand Bauer / Pächter Gutsverwalter / Verwalter selbständiger Handwerker / Gewerbetreibender Kleinkaufmann (Schnittwarenhändler, Manufakturenwarenhändler, Agent...) Kaufmann, Handelsmann im niederen geistlichen Dienst

400 410 420 430 440 450 460

neues Kleinbürgertum bzw. neuer Mittelstand Grundschullehrer, niedere Erziehungsbeamte Angestellte im Finanzwesen, Industrie, staatl. Betrieben niedere Regierungs- und Staatsbeamte (Post, Bahn, Justiz), inkl. Lehrer; (9.-11. Rangklasse) freie Berufe (selbständige Lehrer, Künstler, Journalisten, ...) niedere Militärbeamte und sonstiges Militär Unterbeamte bzw. Personen mit vergleichbarer Stellung

500 510 520 530 540 550 560

Lohnarbeiter bzw. Unterschicht Fabrikarbeiter / Bergarbeiter / landwirtschaftlicher Arbeiter Handwerksgesellen / -gehilfen Arbeiter Handel und Büro (inkl. Reisender) Ungelernte und sonstige Arbeiter Diener, Hausbetreuung niedrige Angestellte staatlicher Betriebe – sozial zur Dienerkategorie zählende Dienstzweige

211

212 220

5 .1.3 .1.4 .2 Soziale Herkun ft Ein erster schulübergreifender Blick auf die soziale Verteilung der Drittklässler/innen lässt erkennen, dass an allen Einrichtungen eindeutig die Vertreter des traditionellen Kleinbürgertums dominieren. Ihr durchschnittlicher Anteil beträgt zwischen 50 (deutsche Piaristenvolksschule) und 58 Prozent (deutsche Altstädter Volksschule für Jungen) (vgl. Tabelle 19: 301). An Letzterer stellen sie zum Teil

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297

bis zu zwei Drittel der Schülerschaft (1889/90: 67 %) (vgl. Tabelle 20: 301), ein ähnlicher Spitzenwert wird an der Volksschule ,U sv. Havla‘ mit tschechischer Unterrichtssprache erreicht (1888/89: 66 %) (vgl. Tabelle 23: 302). Ein zweiter, grober Blick auf die diachrone soziale Zusammensetzung der dritten Jahrgangsstufen an den einzelnen Volksschulen deutet an, dass sich zum einen kaum eine lineare Entwicklung innerhalb einer gesellschaftlichen Schicht abzeichnet, d.h., dass sich beispielsweise im Laufe der Jahre ein zunehmender Anteil an Abkömmlingen des Bildungsbürgertums abzeichnen würde. Vielmehr wechseln sich Höchst- und Niedrigstwerte – in allen sozialen Schichten – oftmals ab.530 Zum anderen ändern sich die sozialen Mehr- und Minderheitsverhältnisse an den einzelnen Anstalten kaum. Allerdings differieren die einzelnen Volksschulen untereinander. Die Dominanz des traditionellen Kleinbürgertums ist allen Einrichtungen noch gemein. Doch bereits die durchschnittlich zweitgrößte Gruppe bildet sich an der Altstädter Jungenschule (14 %) sowie an der Piaristenvolksschule (15 %) aus den Angehörigen des neuen Kleinbürgertums, während an der Mädchenschule (17%) und der tschechischen Volksschule (21 %) ihre Mitglieder aus der Unterschicht stammen. An beiden Anstalten wird die Kategorie des neuen Kleinbürgertums von der drittstärksten Partei repräsentiert (10 und 7 %), während sich diese umgekehrt an der Altstädter Jungenschule (7 %) aus der Unterschicht rekrutiert. Die Piaristenvolksschule nimmt bereits hier eine Sonderstellung ein. Denn diese dritte Gruppe gehört an der privaten Institution mit Öffentlichkeitsrecht nicht nur dem Bildungsbürgertum an, sondern der durchschnittliche Anteil des Bildungsbürgertums (14 %) überragt auch bei Weitem den Anteil der aus dem Bildungsbürgertum stammenden Zöglinge der anderen drei Volksschulen (3-4%), wo diese jeweils die viertgrößte Fraktion stellen. An der Piaristenvolksschule stammt diese wiederum aus dem Besitzbürgertum (9%) und erst die durchschnittlich kleinste Gruppe der Piaristenschüler wird der Unterschicht zugerechnet (7 %). In gewisser Weise noch vergleichbar sind diesbezüglich die Verhältnisse an der Altstädter Knabenvolksschule, wo immerhin genauso viele Schüler aus dem Besitzbürgertum wie aus der Unterschicht kommen (7 %). An der Mädchenvolksschule und der tschechischen Einrichtung dagegen bilden die Angehörigen der besitzenden Schicht einen durchschnittlich sehr geringen Anteil von nur drei bzw. zwei Prozent (vgl. Tabelle 19: 301). An den einzelnen Einrichtungen lässt sich die Schülerschaft wie folgt charakterisieren: Die deutsche Altstädter Volksschule für Knaben (vgl. Tabelle 20: 301) ist gekennzeichnet durch den dauerhaft höchsten Anteil an Schülern aus dem Kleinbürgertum (zwischen 1878/79: 65 % und 1889/90: 79%), zu dem auch Franz Kafka als Sohn eines Kaufmanns zu zählen ist. Obgleich die Zahl der Drittklässler an der Altstädter Jungenschule im Laufe des Betrachtungszeitraums drastisch zurück530

Eine gewisse Ausnahme hiervon bildet die Piaristenvolksschule (s.u.).

298

Institutionelle und individuelle Voraussetzungen des Bilingualismus

geht, ändert sich die soziale Zusammensetzung kaum. Lediglich innerhalb des traditionellen Kleinbürgertums löst die Gruppe der Kauf- und Handelsmänner jene der Handwerker und Gewerbetreibenden an der Spitze ab. Hinsichtlich des Bildungsbürgertums und auch des neuen Kleinbürgertums fällt auf, dass im Jahr der ersten Erhebung (1875/76) jeweils die Höchstwerte erreicht werden. Während beim Bildungsbürgertum dieser auf b-Offizieren, Regierungsbeamten, Medizinern, leitenden Angestellten und Architekten sowie Ingenieuren gründet, sticht die Berufsgruppe der niederen Regierungs- und Staatsbeamten beim neuen Kleinbürgertum hervor. Allerdings ist dies nur ein einmaliges Phänomen, ab Ende der 1880er Jahre arbeiten nur noch bis zu sechs Elternteile im niederen Staatsdienst. Es erstaunt sicherlich etwas, dass kaum Kinder aus akademischen Familien die Altstädter Einrichtung besuchen und ihr Anteil im Laufe der 1890er Jahre sogar noch abnimmt, obgleich ja die als bildungsliebend bekannte jüdische Bevölkerungsgruppe die immer deutlichere Mehrheit der Schülerschaft bildet. Grund hierfür ist, dass im Zentrum Prags auch viele Handwerker und Kaufleute angesiedelt sind und sich in der Neustadt und den Königlichen Weinbergen bereits neue attraktive Wohngebiete herausgebildet haben. Für die in der Altstadt gelegene Pfarrgemeinde St. Gallus531 konstatiert Cohen: Here more academics, state bureaucrats, and lawyers resided, due to the proximity of the main building of the Charles Ferdinand University, the German Technical College, and the city hall. Yet the centuries-old open markets on Havelská and Rytířská streets and continuing craft production in the neighborhood also gathered a considerable number of small grocers, hawkers, and craftsmen here (Cohen 1981: 112).

Gleichzeitig gilt es auch festzuhalten, dass kaum ,Arbeiterkinder‘ an der Altstädter Jungenschule eingeschrieben sind. Ihr Anteil verringert sich ebenfalls – nach einer gewissen Hochphase Ende der 1880er und Anfang der 1890er (9 bis 11 %) – zur Jahrhundertwende (5 %). Dabei setzt sich die Unterschicht hier v.a. aus den Berufsgruppen der Handwerksgehilfen und der Arbeiter (im Handel und Büro) zusammen und betrifft kein Dienstpersonal. Am anderen Ende der sozialen Schichten ist noch das besitzende Bürgertum zu nennen, das sich primär aus den Reihen der Fabrikdirektoren und Großhändler rekrutiert, insgesamt aber auch nur einen geringen Anteil der Schüler ausmacht. An der Altstädter Jungenvolksschule gehört demzufolge nur etwas mehr als ein Viertel der Schüler nicht der Mittelschicht an. Berücksichtigt man noch, dass durchschnittlich 10 Prozent der Schüler keiner gesellschaftlichen Klasse zugeordnet werden konnten, so erscheint die Zahl derer, die aus der Ober- und der Unterschicht stammen äußerst gering. Noch kleiner ist damit die Zahl der Söhne der Bildungsbürger, die hier nochmals an letzter Stelle stehen.

531

17 Prozent der Mitglieder der Pfarrgemeinde St. Gallus geben in der Volkszählung 1900 die deutsche Umgangssprache an (vgl. Cohen 1981: 112).

Institutionelle und individuelle Voraussetzungen des Bilingualismus

299

An der deutschen Altstädter Mädchenvolksschule (vgl. Tabelle 21: 302) kommen ähnlich wenige Schülerinnen aus der Schicht des Bildungsbürgertums, ihr Anteil ist wie an der Jungenanstalt in den 1870er Jahren noch am höchsten (7 %) und ist auf alle Berufsgruppen mit Ausnahme der Offiziere verteilt. Am schwächsten vertreten ist an der Mädchenanstalt die traditionell besitzende Klasse, ihr Anteil beträgt abgesehen von 1897/98 (8 %) weniger als fünf Prozent. Durchschnittlich zählen demnach nur sechs Prozent der Altstädter Volksschülerinnen zur gesellschaftlichen Oberschicht (vgl. Tabelle 19: 301). Dies legt die Vermutung nahe, dass sich die sozial besser gestellten Eltern nicht für die staatlichen Institutionen entscheiden, sondern v.a. in der Ausbildung ihrer Töchter die privaten Einrichtungen der katholischen Orden in Prag bevorzugen.532 Allerdings ist dieses Angebot primär auf Schülerinnen katholischen Glaubensbekenntnisses beschränkt (vgl. Fleischmann 2007: 193). Die absolute Mehrheit gehört an der Mädchenanstalt der Mittelschicht an, und zwar zwischen 55 (1871/72) und 75 Prozent (1898/99) der Schülerinnen. Auch hier überwiegt das traditionelle Kleinbürgertum deutlich gegenüber dem neuen Kleinbürgertum und weist zudem in seinen Reihen eine ähnliche Verschiebung der Berufsgruppen auf wie an der Altstädter Jungenschule, d.h., die Größe der Kaufmanns- und Handelsschicht nähert sich jener der Handwerkszunft an. Anders als an der Knabenanstalt besuchen weitaus mehr Mädchen aus Arbeiterfamilien die staatliche Volksschule in der Altstadt. Es handelt sich dabei wiederum vorwiegend um Handwerksgehilfen sowie Büro- und Handelsarbeiter, die allerdings durch die Berufsgruppen des Dienstpersonals und der niedrig Angestellten ergänzt werden. Insgesamt ist die soziale Struktur der Schülerschaft an der deutschen Altstädter Mädchen- im Vergleich zur Jungenschule etwas nach unten verschoben: Es gibt nur eine sehr kleine Oberschicht, eine reduzierte Mittelschicht und dafür eine durchschnittlich mehr als doppelt so große Unterschicht (vgl. Tabelle 19: 301). Einen etwas elitären Charakter spiegelt die Schülerschaft an der deutschen privaten Volksschule des Piaristenordens mit Öffentlichkeitsrecht wider (vgl. Tabelle 21), denn hier gehört durchschnittlich fast ein Viertel der Schülerschaft der Oberschicht an (23 %) (vgl. Tabelle 19: 301). Anfang der 1880er Jahre stammt mit 21 Prozent sogar die zweitgrößte Gruppe aus dem Bildungsbürgertum, deren Anteil Mitte der 1890er Jahre zwar deutlich geringer ausfällt (8 %), jedoch zur Jahrhundertwende wieder auf 17 Prozent ansteigt. Das Besitzbürgertum erreicht auch zu Beginn der 1880er Jahre seine höchsten Werte, sinkt allerdings 1898/99 auf ein Minimum von drei Prozent ab. Der Großteil der Knaben an der Privat-Volksschule stammt dennoch aus der Mittelschicht, wobei hier das traditionelle Kleinbürgertum insbesondere nach 1880/81 (36 %) beständig an Bedeutung gewinnt (1898/99: 60 %), während das neue Kleinbürgertum eher fallende Tendenzen aufzeigt 532

Vgl. hierzu die Entwicklung der Schülerzahlen an den privaten Einrichtungen der Ordensschwestern unter „II. Privatschulen mit dem Charakter von Volksschulen für Mädchen“ (vgl. Tabelle 10: 201).

300

Institutionelle und individuelle Voraussetzungen des Bilingualismus

(1870/71: 23 %; 1898/99: 10 %). Letzteres rekrutiert sich hauptsächlich aus der Berufsgruppe der niederen Regierungs- und Staatsbeamten, deren schwindende Zahl auch den Rückgang bedingt. Innerhalb der traditionellen Mittelschicht findet hier die bereits fast ,klassische‘ Verschiebung der Berufsgruppen von den Handwerkern zu den Kaufleuten am ausgeprägtesten statt.533 Kinder aus Arbeiterfamilien werden – auch aus finanziellen Gründen – am seltensten auf die Piaristenvolksschule geschickt. Während Anfang der 1870er Jahre v.a. Söhne von Büround Handelsarbeitern sowie niedrigen Angestellten noch zum Teil über zehn Prozent der Schülerschaft bilden, ist im Schuljahr 1898/99 nur noch ein Junge, der katholische Karl Schmid deutscher Muttersprache und Sohn eines Bankdieners, als Vertreter der Unterschicht übrig. Die Volksschule ,U sv. Havla‘ mit tschechischer Unterrichtssprache (vgl. Tabelle 23: 302) bildet das Gegenstück zur deutschen privaten Piaristenvolksschule. Zunächst ist die Oberschicht kaum an der Anstalt vertreten (maximal 8 % 1896/97), dagegen stammt abgesehen von der zweiten Hälfte der 1880er Jahre aber etwa ein Viertel der Jungen aus der Unterschicht. Die stärkste Berufsgruppe bilden hier – neben dem Dienstpersonal – die Handwerksgehilfen. Anders als an den deutschen Volksschulen findet an der tschechischen Einrichtung innerhalb des dominierenden traditionellen Kleinbürgertums keine Verschiebung in Bezug auf die Berufsgruppen statt. Zwar verzeichnet die Kaufmannsschicht einen leichten Zuwachs, doch nimmt die Zahl der Handwerker ebenfalls zu. Das neue Kleinbürgertum ist im Vergleich zu den anderen Volksschulen an der tschechischen Einrichtung am schwächsten vertreten. Es rekrutiert sich hauptsächlich aus niederen Regierungs- und Unterbeamten sowie teilweise aus kleinen Angestellten. Die soziale Herkunft der Schüler der Volksschule ,U sv. Havla‘ konzentriert sich damit auf die Unterschicht und das Kleinbürgertum, wobei sich Letzteres immer noch mehr aus den traditionellen Handwerksmeistern als den Kauf- und Handelsmännern sowie der wachsenden Beamtenschaft zusammensetzt. In Bezug auf die Altstadt zeichnet sich auf Grund der Angaben in den Schulkatalogen eine gesellschaftliche Struktur ab, in der das Kleinbürgertum dominiert. Dabei löst die Kaufmannsschicht die Handwerkerzunft im Laufe der letzten Dezennien des 19. Jahrhunderts als stärkste Berufssparte ab534, allerdings vorwiegend 533

534

Die Handwerker haben einen maximalen Anteil am traditionellen Bürgertum ganz zu Beginn des Betrachtungszeitraums von 52 Prozent, die Branche der Kauf- und Handelsmänner erreicht hier immerhin 31 Prozent. Dagegen liegt deren maximaler Anteil bei 87 Prozent im Schuljahr 1883/84 (1898/99: 79 %), in dem die Handwerkszunft lediglich 4 Prozent erreicht (1898/99: 18 %). Diese Entwicklung steht an den Einrichtungen mit deutscher Unterrichtssprache sicherlich in einem Zusammenhang mit der Zunahme der jüdischen Schülerschaft. Da den Juden lange die Mitgliedschaft in Handwerkszünften verweigert wird, entwickeln sich Handel und Finanzwesen als ihre zentralen Tätigkeitsfelder. Als die letzten Restriktionen bezüglich Besitz und Beruf für die jüdische Bevölkerung aufgehoben werden (1859/59), ändert sich die Erwerbsstruktur der Juden kaum mehr (vgl. Cohen 1981: 77-78). Mit der Verschiebung innerhalb der traditionellen Mittelschicht vom Handwerkertum zur Kaufmannszunft kommt die Mehrheit der jüdischen Schüler auch in der sozialen Struktur der Anstalten mit deutscher Unterrichtssprache zum Aus-

301

Institutionelle und individuelle Voraussetzungen des Bilingualismus

unter den deutschen bzw. auch jenen tschechischen Muttersprachlern, die ihre Kinder auf Volksschulen mit deutscher Unterrichtssprache schicken. Die neue Mittelschicht, deren Stellung auf einer gewissen akademischen Ausbildung basiert, bleibt auf einen im Vergleich bedeutend geringeren Personenkreis begrenzt und weist eher fallende Tendenzen auf und dies, obwohl in der Altstadt viele Institutionen und damit potenzielle Arbeitgeber angesiedelt sind. Unter- und Oberschicht halten sich im Zentrum etwa die Waage, allerdings deutet bereits die soziale Herkunft der Schüler ,U sv. Havla‘ an, dass die Mehrheit der Arbeiterkinder aus dem tschechischsprachigen Milieu stammt. Die Volksschule der Piaristen wird dagegen mit ihrer verstärkt in der oberen Hälfte der gesellschaftlichen Hierarchie angesiedelten Schülerschaft zum einen dem privaten Charakter der Einrichtung gerecht und weist zum anderen auf die in der Prager Neustadt lebenden wohlhabenderen Schichten hin. Tabelle 19: Durchschnittlicher Jahreswert der sozialen Herkunft der Schulkinder ausgewählter dritter Klassen an den untersuchten Volksschulen (in %) Altstädter Volksschule Altstädter Volksschule (Jungen) (Mädchen)

Volksschule der Piaristen m. Ö.

Volksschule ,U sv. Havla‘

Besitzbürgertum

7%

3%

9%

2%

Bildungsbürgertum

4%

4%

14%

3%

traditionelles Kleinbürgertum

58%

55%

50%

57%

neues Kleinbürgertum

14%

10%

15%

7%

Unterschicht

7%

17%

7%

21%

Quelle: Übersicht auf Grundlage der Angaben in Tabelle 20: 301; Tabelle 21: 302; Tabelle 22: 302; Tabelle 23: 302.

Tabelle 20: Deutsche Altstädter Volks- und Bürgerschule für Jungen – Schüler ausgewählter dritter Klassen nach der sozialen Herkunft (in %) 1875/76 (n=210)

1878/79 (n=179)

1881/82 (n=189)

1882/83 (n=190)

1883/84 (n=145)

1884/85 (n=125)

1887/88 (n=109)

1889/90 (n=87)

1891/92 (n=106)

1894/95 (n=96)

1897/98 (n=62)

1899/1900 (n=79)

Besitzbürgertum

4%

10%

8%

6%

10%

8%

4%

5%

5%

8%

5%

8%

Bildungsbürgertum

9%

5%

4%

3%

5%

5%

4%

5%

8%

1%

3%

3%

traditionelles Kleinbürgertum

53%

52%

62%

56%

55%

54%

55%

67%

60%

59%

61%

56%

neues Kleinbürgertum

18%

13%

12%

17%

17%

18%

13%

13%

9%

15%

13%

11%

Unterschicht

7%

7%

5%

8%

7%

6%

11%

9%

10%

8%

6%

5%

keine Zuordnung

9%

13%

10%

11%

6%

10%

14%

2%

8%

8%

11%

18%

Quelle: Vgl. AHMP: Deutsche Volks- und Bürgerschule für Knaben, Altstadt. Schulkataloge 18751900; eigene Berechnung.

druck. Umgekehrt findet diese Verschiebung an der tschechischen Vergleichsschule, wo auch kaum jüdische Kinder eingeschrieben sind, nicht statt.

302

Institutionelle und individuelle Voraussetzungen des Bilingualismus

Tabelle 21: Deutsche Altstädter Volks- und Bürgerschule für Mädchen – Schülerinnen ausgewählter dritter Klassen nach der sozialen Herkunft (in %) 1871/72 1875/76 1878/79 1880/81 1881/82 1882/83 1883/84 1884/85 1886/87 1889/90 1892/93 1895/96 1897/98 1898/99 (n=124) (n=215) (n=181) (n=220) (n=208) (n=204) (n=197) (n=206) (n=138) (n=129) (n=123) (n=96) (n=75) (n=88) Besitzbürgertum

4%

1%

4%

3%

4%

3%

2%

1%

1%

3%

3%

1%

8%

Bildungsbürgertum

7%

7%

3%

4%

4%

7%

3%

2%

4%

5%

3%

2%

1%

1% 5%

traditionelles Kleinbürgertum

42%

63%

56%

54%

50%

51%

58%

53%

64%

57%

47%

59%

56%

65%

neues Kleinbürgertum

13%

10%

10%

12%

9%

9%

11%

11%

10%

5%

14%

9%

9%

10%

Unterschicht

25%

12%

16%

18%

17%

16%

16%

17%

14%

21%

15%

16%

20%

14%

keine Zuordnung

9%

7%

11%

10%

16%

13%

11%

15%

7%

8%

17%

13%

5%

6%

Quelle: Vgl. AHMP: Deutsche Volks- und Bürgerschule für Mädchen, Altstadt. Schulkataloge 18711899; eigene Berechnung.

Tabelle 22: Deutsche Volksschule der Piaristen m. Ö. für Jungen – Schüler ausgewählter dritter Klassen nach der sozialen Herkunft (in %) 1870/71 1873/74 1876/77 1878/79 1879/80 1880/81 1881/82 1882/83 1883/84 1884/85 1893/94 1895/96 1898/99 (n=137) (n=140) (n=127) (n=90) (n=92) (n=90) (n=88) (n=85) (n=81) (n=86) (n=59) (n=74) (n=63) Besitzbürgertum

6%

10%

6%

11%

7%

12%

11%

12%

11%

7%

10%

7%

3%

Bildungsbürgertum

12%

6%

14%

14%

15%

21%

18%

16%

12%

12%

8%

8%

17%

traditionelles Kleinbürgertum

42%

51%

46%

40%

43%

36%

42%

55%

57%

52%

58%

62%

60%

neues Kleinbürgertum

23%

19%

17%

17%

18%

16%

11%

7%

14%

16%

14%

11%

10%

Unterschicht

11%

7%

12%

10%

5%

8%

7%

4%

4%

9%

5%

3%

2%

keine Zuordnung

7%

6%

5%

8%

11%

8%

10%

6%

2%

3%

5%

9%

8%

Quelle: Vgl. AHMP: Privat-Volksschule des Piaristenordens für Jungen m. Ö. Schulkataloge 18701899; eigene Berechnung.

Tabelle 23: Tschechische Volksschule ,U sv. Havla‘ für Jungen – Schüler ausgewählter dritter Klassen nach der sozialen Herkunft (in %) 1875/76 (n=53)

1879/80 (n=43)

1883/84 (n=79)

1886/87 (n=83)

1888/89 (n=83)

1893/94 (n=84)

1896/97 (n=78)

1899/1900 (n=79)

Besitzbürgertum

0%

0%

1%

2%

2%

1%

4%

1%

Bildungsbürgertum

4%

2%

4%

2%

2%

4%

4%

3%

traditionelles Kleinbürgertum

45%

63%

56%

55%

66%

62%

47%

59%

neues Kleinbürgertum

8%

0%

9%

14%

6%

1%

6%

10%

Unterschicht

25%

21%

23%

14%

12%

21%

29%

22%

keine Zuordnung

19%

14%

8%

11%

11%

11%

9%

5%

Quelle: Vgl. AHMP: Česká obecná škola u sv. Havla. Schulkataloge 1875-1900; eigene Berechnung.

5.1.3.2

Mittelschulen

Im Sekundarschulwesen basiert das Datenmaterial auf den Angaben jeweils der ersten und sechsten Klassen eines Jahrgangs. Da die zweite Landessprache ebenfalls an den Gymnasien in Böhmen zu den relativ obligaten Lehrgegenständen zählt und damit zunächst freiwillig gewählt wird, zeigt sich in der ersten gymnasi-

Institutionelle und individuelle Voraussetzungen des Bilingualismus

303

alen Jahrgangsstufe am deutlichsten, wer sich für eine Vertiefung der Sprachkenntnisse im Tschechischen bzw. Deutschen entscheidet. Eine Belegung des Faches auch in der sechsten Klasse demonstriert bereits eine ausdauernde Motivation und garantiert – auch unter Berücksichtigung der erzielten Leistungen – eine sehr fundierte Kenntnis der jeweils anderen Sprache. Wie für die Volksschulen, so gilt auf für die Gymnasien, dass die Daten je Schüler abgesehen von 1880 bis 1885 nicht jährlich sondern nur für alle zwei bis drei Jahre gesammelt wurden. Der Zeitraum variiert allerdings etwas und reicht von Mitte der 1870er Jahre bis 1910. Die Darstellungsweise ist jener für die Volksschulen angepasst (vgl. Kapitel 5.1.3.1: 269).

5.1.3.2.1

,Nationalität‘

Die sprachnationale Zusammensetzung am k. k. deutschen Staatsgymnasium in der Altstadt535 wird durch die Schüler der ersten und sechsten Klassen – v.a. ab dem Schuljahr 1884/85, als die Muttersprache fast aller bekannt ist – durchaus wiedergegeben (vgl. Abbildung 14: 247; Abbildung 23: 304). Lediglich im Schuljahr 1896/97 und gegen Ende des Betrachtungszeitraums differieren die Verhältnisse um bis zu 10 Prozent, der Anteil der tschechischen Muttersprachler an der gesamten Schülerschaft ist im Vergleich tatsächlich (1896/97: 12 %, 1906/07: 9 %, 1909/10: 8 %) (vgl. Abbildung 14: 247) geringer als durch die erste und sechste Jahrgangsstufe repräsentiert (1896/97: 22 %, 1906/07: 19 %, 1909/10: 17 %). Für das k. k. deutsche Staatsgymnasium in der Neustadt (am Graben) gilt noch mehr, dass die Schülerschaft der ersten und sechsten Klassen in Bezug auf ihre Angaben zur Muttersprache die sprachnationale Aufteilung an der gesamten Einrichtung abbildet (vgl. Abbildung 14: 247; Abbildung 24: 305). Denn ab dem Schuljahr 1885/86, als für jeden ,ausgewählten‘ Erst- und Sechstklässler eine Angabe zur Sprache dokumentiert ist, bis zum Schuljahr 1909/10 besteht nur ein Unterschied von maximal sechs Prozent. Zum Ende des Betrachtungszeitraums ist zu berücksichtigen, dass der Anteil der tschechischen Muttersprachler an der gesamten Einrichtung geringere Werte aufzeigt, während sich auf Basis der stichprobenartigen Angaben in den Schulkatalogen eine steigende Tendenz ergibt. Das k. k. tschechische akademische Gymnasium in der Altstadt wird in Bezug auf die sprachnationale Verteilung an der Schule durch die ersten und sechsten Klassen am exaktesten dargestellt. Denn die Zahl der deutschen Muttersprachler an der tschechischen Traditionsschule beläuft sich in den 1870er Jahren auf maximal sieben Schüler und in den folgenden Jahrzehnten auf nur noch höchstens zwei Knaben je Schuljahr. Ihr Anteil an der Schülerschaft beträgt somit maximal zwei, meist aber null Prozent – wie auch in den ausgewählten ersten und sechsten 535

Erst zum Schuljahr 1879/80 wird die Altstädter Einrichtung zum Gymnasium mit deutscher Unterrichtssprache erhoben, bis dahin zählt sie zu den deutschen Realgymnasien Prags.

304

Institutionelle und individuelle Voraussetzungen des Bilingualismus

Klassen des Gymnasiums (vgl. Abbildung 14: 247; Abbildung 25: 305). Dies ist die Regel an den Gymnasien mit tschechischer Unterrichtssprache, auch an den anderen Mittelschulen in Prag sind nur sehr vereinzelt deklarierte deutsche Muttersprachler eingeschrieben (vgl. Kapitel 4.3.2.2.1: 236). Diese ,muttersprachliche‘ Einheit in der Klasse stellt nicht nur die Konzeption des Deutschunterrichts als Fremdsprachenunterricht außer Frage, sondern begrenzt den Spracherwerb, zumindest im Klassen- und Schulverband, auf die gesteuerte Vermittlung durch den Unterricht. Die Situation am Altstädter und Neustädter Gymnasium mit einer jeweils großen Mehrheit an deutschen Muttersprachlern unterscheidet sich hiervon kaum, doch schafft die Minderheit an deklarierten tschechischen Muttersprachlern zumindest die potenzielle Möglichkeit, das Tschechische auch außerhalb des Unterrichts zu benutzen oder auch nur zu hören. Im Sprachunterricht wirkt sich dies – zwar nur in den 1870er Jahren, als auch der Anteil der tschechischen Muttersprachler an deutschen Gymnasien höher ist – in Form getrennter Unterrichtsgruppen aus. Tschechisch wird etwa am deutschen Staatsgymnasium am Graben auf verschiedenen Jahrgangsebenen in mehreren Abteilungen gelehrt – einmal für tschechische und einmal für deutsche Muttersprachler (vgl. Kapitel 5.1.4). Hinweis auf frühere Sprachkontakte und ein gemischtsprachiges Umfeld gibt die sprachliche Verteilung im Geburtsort der Schüler. Abbildung 23: Deutsches Staatsgymnasium in der Altstadt – Schüler ausgewählter erster und sechster Klassen nach ihrer Muttersprache (in %)536 100%

90%

80%

70%

Anteil in %

60%

50%

40%

30%

20%

10%

19 07 / 19 1 08 09 90 /1 8/ 0 09 (n =4 7)

19 01 /0 19 2 03 19 /0 02/ 4 0 (n 3 =3 9) 19 04 / 19 1 05 06 9 /0 05 7 /06 (n =3 1)

18 94 /9 18 5 96 18 /9 95/ 7 9 (n 6 =4 6) 18 1 98 89 /9 7/ 9 98 (n =6 6) 1 19 89 00 9/1 /0 90 1 (n 0 =2 7)

18 89 / 18 1 90 91 89 /9 0/ 2 91 (n =8 7) 18 93 1 /9 89 4 2/ (n 93 =1 12 )

18 74 /7 5

(n =1 05 ) 18 75 /7 18 6 77 1 /7 87 8 6/ (n 77 =1 44 ) 18 79 1 /8 87 0 8/ (n 79 =1 51 ) 18 81 18 / 8 18 82 0/8 82 ( 1 /8 n=9 0) 18 3 ( n= 83 10 /8 4 0) (n 18 =1 84 04 / ) 18 85 (n 85 =9 /8 1) 6 (n 18 =1 86 38 /8 ) 7 (n =9 8) 18 88 1 /8 88 9 7/ (n 88 =1 00 )

0%

S c h u lja h r

t s c h e c h is c h

536

d e u ts c h

k e in e A n g a b e

ts c h e c h is c h - g e s a m t

d e u ts c h - g e s a m t

Die Angaben der Grundgesamtmenge n beziehen sich bei allen Gymnasien lediglich auf die Darstellungen der ersten und sechsten Klassen, der Verlauf von „tschechisch – gesamt“ und „deutsch – gesamt“ basiert auf der Gesamtschülerzahl der Einrichtung, wie sie im Statistischen Handbuch 1883-1912 bzw. im Statistická příruční knížka 1872-1881 angegeben werden (vgl. Abbildung 14: 247).

305

Institutionelle und individuelle Voraussetzungen des Bilingualismus

Quelle: Vgl. AHMP: Deutsches Staatsgymnasium, Prag-Altstadt. Schulkataloge 1874-1910; eigene Berechnung.

Abbildung 24: Deutsches Staatsgymnasium in der Neustadt (am Graben) – Schüler ausgewählter erster und sechster Klassen nach ihrer Muttersprache (in %) 100% 90% 80% 70%

Anteil in %

60% 50% 40% 30% 20% 10%

18 18 74 75 /7 /7 5 6 (n =1 71 1 18 87 ) 77 6/ 77 /7 8 (n =1 7 18 5) 18 78 79 /7 /8 9 0 (n =1 60 1 18 88 ) 81 0/ 81 /8 18 2 (n =1 82 /8 08 3 ) 18 ( n= 83 16 /8 3) 18 4 ( n= 84 19 /8 2) 18 5 ( n= 85 17 /8 6 9) (n =1 3 18 1) 86 /8 18 7 18 87 88 /8 /8 8 9 (n =1 6 18 2) 89 /9 18 0 18 90 91 /9 /9 1 2 (n =1 4 18 9) 18 9 93 2/ 93 /9 4 (n =1 1 18 9) 94 /9 18 5 18 95 96 /9 /9 6 7 (n =1 0 18 5) 18 97 98 /9 8 /9 9 (n 18 =65 ) 99 19 /1 00 90 /0 0 1 (n =4 19 7) 01 /0 19 2 19 02 03 /0 3 /0 4 (n =4 19 8) 04 /0 19 5 19 05 06 /0 6 /0 7 (n =5 19 6) 07 /0 19 8 19 08 09 /0 9 /1 0 (n =5 0)

0%

Schuljahr tschechisch

deutsch

keine Angabe

tschechisch - gesamt

deutsch - gesamt

Quelle: Vgl. AHMP: Deutsches Staatsgymnasium, Prag-Neustadt (Graben). Schulkataloge 1875-1910; eigene Berechnung.

Abbildung 25: Tschechisches akademisches Gymnasium in der Altstadt – Schüler ausgewählter erster und sechster Klassen nach ihrer Muttersprache (in %) 100% 90% 80% 70%

Anteil in %

60% 50% 40% 30% 20% 10%

18 74 /7 5

(n =1 08 ) 18 75 /7 6 18 76 /7 7 18 77 /7 8 18 78 /7 9 18 79 /8 0 18 18 80 81 /8 /8 1 2 (n =1 39 ) 18 82 /8 3 18 83 /8 4 18 18 84 85 /8 /8 5 6 (n =1 73 ) 18 86 /8 7 18 87 /8 8 18 88 /8 9 18 89 /9 0 18 90 /9 1 18 91 /9 2 18 18 9 93 2/ 93 /9 4 (n =1 35 ) 18 94 /9 5 18 95 /9 6 18 96 /9 7 18 97 /9 8 18 98 /9 9 18 99 19 /1 00 90 /0 0 1 (n =1 22 ) 19 01 /0 2 19 02 /0 3 19 03 /0 4 19 04 /0 5 19 05 /0 6 19 06 /0 7 19 07 /0 8 19 19 08 09 /0 9 /1 0 (n =7 0)

0%

Schuljahr

tschechisch

deutsch

keine Angabe

tschechisch - gesamt

deutsch - gesamt

Quelle: Vgl. AHMP: České akademické gymnázium, Praha-Staré město. Schulkataloge 1874-1910; eigene Berechnung.

306

5.1.3.2.2

Institutionelle und individuelle Voraussetzungen des Bilingualismus

Religionsbekenntnis

Für die Gymnasien wird in den statistischen Handbüchern von Prag, anders als bei den Volks- und Bürgerschulen, erst nach der Jahrhundertwende das Religionsbekenntnis der Schüler mit angegeben. Daher kann ein Vergleich der Schüler der ausgewählten ersten und sechsten Klassen mit der Gesamtsituation an der Einrichtung höchstens für den Beginn des 20. Jahrhunderts gezogen werden. Am deutschen Altstädter Staatsgymnasium überwiegt ähnlich wie an der deutschen Volksschule für Knaben in der Altstadt zunächst die Schülerschaft katholischen Religionsbekenntnisses, und zwar mit 58 Prozent gegenüber 39 Prozent Juden im Schuljahr 1874/75. Doch bereits Ende der 1870er Jahre zeichnet sich eine zunehmende Mehrheit an Schülern mosaischen Glaubens ab. Nachdem Anfang der 1880er und nochmals 1884/85 die Zahl der Katholiken jene der Juden übersteigt, setzt sich schließlich bis zum Ende des Betrachtungszeitraums dauerhaft eine Mehrheit an jüdischen Schülern durch. Im Schuljahr 1896/97 erreicht ihr Anteil einen Spitzenwert von 85 Prozent (vgl. Abbildung 26: 308). Dass die Verteilung nach dem Religionsbekenntnis auf Basis der Schüler der ersten und sechsten Jahrgangsstufe – trotz der wegen der schwachen Klassenstärke sehr geringen Grundgesamtmenge – nach 1900 die Verhältnisse an der gesamten Schule erfasst, bestätigt der Vergleich mit der Gesamtsituation (vgl. Tabelle 13: 244). Mit Ausnahme des Schuljahres 1906/07, wo auf Grundlage der Erst- und Sechstklässler neun Prozent mehr Juden ermittelt werden, differieren die Angaben in den anderen Fällen lediglich um zwei bis sechs Prozent. Der Anteil der evangelischen Schüler bewegt sich über die drei Jahrzehnte hinweg zwischen null und sechs Prozent, lediglich im Schuljahr 1909/10 sind neun Prozent der Erst- und Sechstklässler Protestanten. Zusammenfassend gilt, dass sich das deutsche Staatsgymnasium in der Altstadt ab Mitte der 1880er Jahre als Einrichtung mit einer konstanten und deutlichen Mehrheit an Schülern mosaischer Religion etabliert. Das deutsche Staatsgymnasium in der Neustadt am Graben (vgl. Abbildung 27: 308) wird ebenfalls von einer dominant jüdischen Schülerschaft besucht, allerdings sind die Verhältnisse ausgeglichener als an der Altstädter Einrichtung. In den 1870ern sind die Gruppen der Katholiken und der Juden fast gleich groß. Im Gegensatz zum Altstädter Gymnasium bricht an der Neustädter Anstalt bereits zu Beginn der 1880er Jahre die Zahl der Katholiken ein, sodass mit Ausnahme des Schuljahres 1891/92 (jüdisch: 44 %, katholisch: 53 %) in den folgenden Jahrzehnten eine sichere Mehrheit jüdischer Schüler (zwischen 53 und 69 %) das Gymnasium besucht. Der Anteil der katholischen Schüler sinkt dementsprechend auch kaum unter ein Drittel ab. Auch die evangelischen Schüler sind relativ konstanter vertreten, ihr Anteil beträgt zwischen zwei und acht Prozent. Im Vergleich mit der gesamten Schülerschaft des Gymnasiums (nach 1900) ist die Differenz zu den Erst- und Sechstklässlern hier größer als an der Altstädter Einrichtung, sie variiert zwischen fünf und elf Prozent, wobei zur Jahrhundertwende und 1906/07 der Anteil der Katholiken überdurchschnittlich groß ausfällt und 1903/04 sowie

Institutionelle und individuelle Voraussetzungen des Bilingualismus

307

1909/10 jener der Juden (vgl. Tabelle 13: 244). Insgesamt ist die Schülerschaft am deutschen Staatsgymnasium am Graben nach dem Religionsbekenntnis beständig gut gemischt, es besteht zwar eine jüdische Mehrheit, doch bekennt sich meist mindestens ein Drittel der Schüler zum katholischen Glauben. Dennoch geht Mitte der 1890er Jahre, wiederum in Zeiten verstärkt antisemitischer Propaganda, die Zahl der Katholiken auffällig zurück.537 Dass zum Schuljahr 1898/99 und zur Jahrhundertwende allgemein die Schülerzahlen absinken und auch weniger jüdische Schüler die Anstalt besuchen, hängt sicherlich mit dem 1898/99 eröffneten Staatsgymnasium mit deutscher Unterrichtssprache in den Königlichen Weinbergen zusammen. Dort bildet sich im ersten Jahrzehnt seines Bestehens ein beständiges Übergewicht an katholischen Schülern heraus (vgl. Tabelle 13: 244). Trotz der eindeutigen Mehrheitsverhältnisse kann von einer religiösen Separation nicht die Rede sein. Allerdings betrifft die Wahl des Gymnasiums bereits eine Gesellschaftsschicht, in der die Eltern oft selbst eine fundierte Bildung genossen haben und die dergleichen auch für ihre Kinder anstreben. Politischer Populismus findet hier kaum fruchtbaren Boden538 und nur in Einzelfällen mag das Glaubensbekenntnis den Ausschlag für ein bestimmtes Gymnasium gegeben haben. Am tschechischen akademischen Gymnasium (vgl. Abbildung 28: 309) ist die Verteilung der Schülerschaft nach dem Religionsbekenntnis ähnlich eindeutig wie nach der Muttersprache. Fast ausschließlich katholische Schüler sind an der tschechischen Mittelschule eingeschrieben. Dennoch ist festzustellen, dass ihr Anteil im Laufe des Betrachtungszeitraums leicht zurückgeht (1874/75: 98 %, 1909/10: 91 %), und sich gleichzeitig eine zumindest sichtbare Gruppe an jüdischen Schülern bildet (1874/75: 0 %, 1909/10: 7 %). Der Anteil evangelischer Schüler liegt relativ konstant bei ein bis zwei Prozent. Auch der Vergleich mit der Gesamtsituation an der Schule bestätigt den zwar sehr kleinen, aber doch erkennbaren Anteil der Juden an der Schülerschaft (vgl. Tabelle 13: 244). Dennoch bleibt das akademische Gymnasium mit tschechischer Unterrichtssprache bzw. seine Schülerschaft genauso dominant katholisch wie tschechisch.

537

538

Im Schuljahr 1891/92 besuchen noch 79 Schüler katholischer Religion die ersten und sechsten Klassen des Neustädter Grabengymnasiums, 1893/94 nur noch 46 und 1898/99 schließlich nur noch 22 Jungen. Gerade in Prag geht die altliberale Führungsschicht um Franz Schmeykal konsequent gegen jede Äußerung von Judenfeindlichkeit in den deutschen Organisationen vor bricht schließlich Ende der 1880er Jahre mit der völkischen Bewegung. Bis 1914 gelingt es dem deutschen Establishment tatsächlich, einen „gesellschaftlichen cordon sanitaire rund um die völkischen Studenten an der Universität“ (Stölzl 1975: 54) zu ziehen, die aus der deutschböhmischen Provinz nach Prag strömen (vgl. Cohen 1981: 181-182, 199-200). Allerdings ist die Zugehörigkeit zum Großbürgertum Voraussetzung für diesen Schutzschild (vgl. Stölzl 1975: 76).

18 18 74 75 /7 /7 5 6 (n =1 71 ) 18 18 76 77 /7 /7 7 8 (n =1 75 ) 18 18 78 79 /7 /8 9 0 (n =1 60 ) 18 18 80 81 /8 /8 1 2 (n 18 = 10 82 8) /8 3 (n 18 =1 83 63 /8 ) 4 ( n= 18 84 19 /8 2) 5 (n 18 = 85 17 /8 9) 6 (n =1 31 ) 18 86 /8 7 18 18 8 7/ 88 88 /8 9 (n =1 62 ) 18 89 /9 0 18 18 9 91 0/ 91 /9 2 (n =1 49 ) 18 18 92 93 /9 /9 3 4 (n =1 19 ) 18 94 /9 5 18 18 95 96 /9 /9 6 7 (n =1 05 ) 18 18 97 98 /9 8 /9 9 (n =6 5) 18 99 19 /1 90 00 0 /0 1 (n =4 7) 19 01 /0 2 19 19 02 03 /0 3 /0 4 (n =4 8) 19 04 /0 5 19 19 05 06 /0 6 /0 7 (n =5 6) 19 07 /0 8 19 19 08 09 /0 9 /1 0 (n =5 0)

Anteil in % (n =1 05 ) 18 75 /7 6 18 18 7 77 6/ 77 /7 8 (n =1 44 ) 1 18 87 79 8/ 79 /8 0 (n =1 51 ) 18 18 80 81 /8 /8 1 2 18 (n 82 =9 /8 0) 3 (n 18 =1 83 00 /8 4 ) (n 18 =1 84 04 /8 ) 5 18 (n =9 85 1) /8 6 (n =1 18 86 38 /8 ) 7 (n =9 8) 18 18 87 88 /8 /8 8 9 (n =1 00 ) 18 89 /9 0 18 18 90 91 /9 1 /9 2 (n =8 7) 18 18 92 93 /9 /9 3 4 (n =1 12 ) 18 94 /9 5 18 18 95 96 /9 6 /9 7 (n =4 6) 18 18 97 98 /9 8 /9 9 (n =6 6) 18 99 19 /1 90 00 0 /0 1 (n =2 7) 19 01 /0 2 19 19 02 03 /0 3 /0 4 (n =3 9) 19 04 /0 5 19 19 05 06 /0 6 /0 7 (n =3 1) 19 07 /0 8 19 19 08 09 /0 9 /1 0 (n =4 7)

18 74 /7 5

Anteil in %

308 Institutionelle und individuelle Voraussetzungen des Bilingualismus

Abbildung 26: Deutsches Staatsgymnasium in der Altstadt – Schüler ausgewählter erster und sechster Klassen nach dem Religionsbekenntnis (in %) 100%

90%

80%

70%

60%

50%

40%

30%

20%

10%

0%

Schuljahr

Quelle: Vgl. AHMP: Deutsches Staatsgymnasium, Prag-Altstadt. Schulkataloge 1874-1910; eigene Berechnung. katholisch

katholisch jüdisch

jüdisch evangelisch

evangelisch sonstige oder k.A.

Abbildung 27: Deutsches Staatsgymnasium in der Neustadt (am Graben) – Schüler ausgewählter erster und sechster Klassen nach dem Religionsbekenntnis (in %) 80%

70%

60%

50%

40%

30%

20%

10%

0%

Schuljahr

Quelle: Vgl. AHMP: Deutsches Staatsgymnasium, Prag-Neustadt (Graben). Schulkataloge 1875-1910; eigene Berechnung.

sonstige oder k.A.

Institutionelle und individuelle Voraussetzungen des Bilingualismus

309

Abbildung 28: Tschechisches akademisches Gymnasium in der Altstadt – Schüler ausgewählter erster und sechster Klassen nach dem Religionsbekenntnis (in %) 100% 90% 80% 70%

Anteil in %

60% 50% 40% 30% 20% 10%

18 74 /7 5

(n =1 08 ) 18 75 /7 6 18 76 /7 7 18 77 /7 8 18 78 /7 9 18 79 /8 0 1 18 88 81 0/ 81 /8 2 (n =1 32 ) 18 82 /8 3 18 83 /8 4 18 18 84 85 /8 /8 5 6 (n =1 73 ) 18 86 /8 7 18 87 /8 8 18 88 /8 9 18 89 /9 0 18 90 /9 1 18 91 /9 2 18 18 92 93 /9 /9 3 4 (n =1 35 ) 18 94 /9 5 18 95 /9 6 18 96 /9 7 18 97 /9 8 18 98 /9 9 18 9 19 9/ 19 00 00 /0 1 (n =1 22 ) 19 01 /0 2 19 02 /0 3 19 03 /0 4 19 04 /0 5 19 05 /0 6 19 06 /0 7 19 07 /0 8 19 19 08 09 /0 9 /1 0 (n =7 0)

0%

Schuljahr

katholisch

jüdisch

evangelisch

sonstige oder k.A.

Quelle: Vgl. AHMP: České akademické gymnázium, Praha-Staré město. Schulkataloge 1874-1910; eigene Berechnung.

5.1.3.2.3

Sprachlich-territoriale Herkunft 539

Dadurch, dass das Netz der Mittelschulen trotz des Baubooms im Laufe der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts so manchen Landstrich Böhmens nicht erfasst, sind im Vergleich zu den Volksschulen weitaus mehr Schüler gezwungen, ihre Heimatgemeinde in Richtung Schulstandort zu verlassen (vgl. Řezníčková 2007: 106). Unter diesen ist Prag mit einer Auswahl an mehreren Gymnasien, Realschulen und Realgymnasien als die prestigereichste Option anzusehen. Die Gymnasiasten ziehen dann während des Schuljahres zu Verwandten oder anderen Kostgebern oder nehmen, wenn sie aus dem näheren Umland kommen, lange Wegstrecken zur Schule auf sich (vgl. ebd. 109). Dementsprechend stammt zwar ein Großteil der Gymnasiasten an allen drei untersuchten Anstalten aus Prag, doch ist ihr Anteil nicht so überwältigend wie an den Volksschulen. Zudem besitzen die Prager nicht in jedem Schuljahr die Mehrheit, zum Teil sind mehr Schüler in tschechischsprachigen Gebieten geboren als in der Landeshauptstadt. Die Gymnasien mit deutscher Unterrichtssprache besucht ferner eine nicht zu verachtende Schülerzahl aus Orten mit hauptsächlich deutschsprachiger Einwohnerschaft. Vergleichbar mit den Volksschulen sind an den untersuchten Mittelschulen kaum Kinder aus gemischtsprachigen Gebieten vertreten (0 bis maximal 5 %), sodass diese Gruppe auch hier in der Analyse vernachlässigt werden kann (vgl. Tabelle 24: 311; Tabelle 25: 312; Tabelle 26: 312).

539

In Bezug auf die Bestimmung der sprachlichen Verteilung im Geburtsort gilt für die Gymnasien die gleiche Handhabung wie für die Volksschulen (vgl. Kapitel 5.1.3.1.3: 279).

310

Institutionelle und individuelle Voraussetzungen des Bilingualismus

Am deutschen Altstädter Staatsgymnasium steigt der Anteil der in Prag geborenen Schüler – allerdings mit keinem streng linearen Verlauf – von etwa einem Drittel in den 1870er Jahren auf fast zwei Drittel zum Schuljahr 1909/10 an (vgl. Tabelle 24: 311).540 Am deutschen Neustädter Gymnasium besitzen die gebürtigen Prager einen konstanteren und im Durchschnitt auch höheren Anteil an der Schülerschaft, meist kommt etwa die Hälfte der Jungen aus der Landeshauptstadt.541 In einer deutschsprachigen Umgebung sind überwiegend zwischen 11 und 23 Prozent der Schüler an den deutschen Gymnasien geboren. Nur gegen Ende des Betrachtungszeitraums sinkt ihr Anteil drastisch ab, so beträgt dieser im Schuljahr 1906/07 an der Altstädter Einrichtung542 nur noch sechs und 1909/10 an der Neustädter Anstalt gar nur mehr zwei Prozent.543 Während am Neustädter Gymnasium dafür zunehmend mehr Schüler aus tschechischsprachigen Gegenden stammen, zeigt deren Anteil am Altstädter Gymnasium gegen Ende des Betrachtungszeitraums auch fallende Tendenz544, dagegen nimmt die Zahl der Prager zu. Dennoch bleibt festzuhalten, dass gerade bis Ende der 1880er Jahre häufig mehr Schüler aus tschechischsprachigen Gebieten als gebürtige Prager das Altstädter Gymnasium besuchen (1874/75, 1877/78, 1881/82, 1883/84, 1888/89). Dergleichen trifft auf das Neustädter Gymnasium nur für das Schuljahr 1906/07 zu, als der Anteil der Prager auf 39 Prozent absackt, dafür aber 43 Prozent der Schüler im tschechischen Sprachgebiet geboren sind (vgl. Tabelle 25: 312). Insgesamt scheint sich zu Beginn des 20. Jahrhunderts das Neustädter Gymnasium als primäre Anlaufstelle für die nach deutscher Mittelschulbildung strebende Bevölkerung aus den tschechischsprachigen Landesteilen zu etablieren, eine Position, die bis Anfang der 1890er Jahre die Altstädter Einrichtung innehat. Am tschechischen akademischen Gymnasium zeichnet sich in Bezug auf die sprachlich-territoriale Herkunft der Schüler ein sehr eindeutiger Verlauf ab. Die Schülerschaft setzt sich nur aus zwei Gruppen zusammen, zum einen sind dies die Prager und zum anderen die aus tschechischsprachiger Umgebung stammenden 540 541

542

543

544

Beispielsweise sinkt der Anteil der Prager im Schuljahr 1896/97 bereits auf 35 Prozent ab, liegt aber zwei Jahre später bereits wieder bei 62 Prozent Am deutschen Altstädter Staatsgymnasium sind durchschnittlich 42 Prozent, am deutschen Neustädter Gymnasium 49 Prozent der Erst- und Sechstklässler in Prag geboren (vgl. hierzu Tabelle 24: 304; Tabelle 25: 304). Am deutschen Altstädter Staatsgymnasium ist bereits im Schuljahr 1888/89 der Anteil der aus dem deutschsprachigen Gebiet stammenden Schüler einmal auf acht Prozent gesunken, bildet dann zur Jahrhundertwende jedoch nochmals mehr als ein Fünftel der Schülerschaft (vgl. Tabelle 24: 304). Dass die Zahl derer, die nur für den Schulbesuch – ob aus überwiegend deutsch- oder tschechischsprachigen Gebieten – nach Prag ziehen, abnimmt, wird auch durch den Rückgang der nicht in Prag, sondern meist noch im Geburtsort des Kindes lebenden Elternteile bestätigt. (In der Datenbank wurde der Wohnort der Eltern ebenfalls erfasst, wenn er sich von jenem des Kindes unterschied). Ausnahme hiervon bildet das Schuljahr 1896/97, als der Anteil der Schüler aus tschechischsprachigen Landesteilen einmalig auf 52 Prozent hochschnellt.

311

Institutionelle und individuelle Voraussetzungen des Bilingualismus

Schüler. Während der Anteil Letzterer schrittweise von 58 Prozent im Schuljahr 1874/75 auf 36 Prozent im Schuljahr 1909/10 beständig abnimmt, verzeichnet die Gruppe der Prager – fast spiegelverkehrt – einen konstanten Zuwachs, von 27 Prozent im Schuljahr 1874/75 auf 56 Prozent im Schuljahr 1909/10 (vgl. Tabelle 26: 312). Hier kommt einerseits die höhere Konzentration der besitzenden Bürger tschechischer Muttersprache in der Landeshauptstadt, die sich den Besuch eines Gymnasiums für ihre Zöglinge leisten können, und andererseits die starke Wanderbewegung der tschechischsprachigen Bevölkerung nach Prag zum Ausdruck. Eine fundierte (humanistische) Ausbildung in der Landeshauptstadt ist finanziell nicht für alle erschwinglich, doch erstrebenswert ist sie durch ihre Bedeutung für den sozialen Aufstieg in jedem Fall. Tabelle 24: Deutsches Staatsgymnasium in der Altstadt – Schüler ausgewählter erster und sechster Klassen nach der sprachlich-territorialen Herkunft (in %) deutschsprachig

gemischtsprachig

tschechischsprachig

Prag

1874/75 (n=105)

21%

1%

39%

30%

9%

1877/78 (n=144)

18%

2%

41%

29%

10%

1879/80 (n=151)

20%

2%

32%

40%

6%

1881/82 (n=90)

23%

2%

40%

26%

9%

1882/83 (n=100)

18%

2%

31%

39%

10%

1883/84 (n=104)

17%

1%

39%

37%

6%

1884/85 (n=91)

21%

3%

29%

41%

7%

1885/86 (n=138)

17%

1%

37%

41%

4%

1886/87 (n=98)

18%

0%

37%

42%

3%

1888/89 (n=100)

8%

0%

46%

34%

12%

1891/92 (n=87)

13%

0%

38%

41%

8%

1893/94 (n=112)

17%

2%

27%

47%

7%

1896/97 (n=46)

11%

2%

52%

35%

0%

1898/99 (n=66)

20%

3%

14%

62%

2%

1900/01 (n=27)

22%

4%

22%

48%

4%

1903/04 (n=39)

21%

5%

28%

41%

5%

1906/07 (n=31)

6%

3%

23%

58%

10%

1909/10 (n=47)

11%

0%

23%

64%

2%

sonstige

Quelle: Vgl. AHMP: Deutsches Staatsgymnasium, Prag-Altstadt. Schulkataloge 1874-1910; eigene Berechnung.

312

Institutionelle und individuelle Voraussetzungen des Bilingualismus

Tabelle 25: Deutsches Staatsgymnasium in der Neustadt (am Graben) – Schüler ausgewählter erster und sechster Klassen nach der sprachlich-territorialen Herkunft (in %) deutschsprachig

gemischtsprachig

tschechischsprachig

Prag

sonstige

1875/76 (n=171)

20%

2%

27%

45%

6%

1877/78 (n=175)

16%

2%

33%

43%

5%

1879/80 (n=160)

11%

1%

18%

64%

6%

1881/82 (n=108)

14%

1%

29%

51%

6%

1882/83 (n=163)

13%

0%

29%

53%

5%

1883/84 (n=192)

14%

1%

27%

54%

5%

1884/85 (n=179)

14%

3%

28%

49%

6%

1885/86 (n=131)

14%

2%

28%

52%

5%

1888/89 (n=162)

20%

1%

28%

48%

3%

1891/92 (n=149)

19%

1%

32%

43%

5%

1893/94 (n=119)

21%

0%

27%

46%

6%

1896/97 (n=105)

22%

1%

28%

42%

8%

1898/99 (n=65)

14%

0%

26%

54%

6%

1900/01 (n=47)

15%

2%

30%

51%

2%

1903/04 (n=48)

15%

0%

31%

48%

6%

1906/07 (n=56)

13%

0%

43%

39%

5%

1909/10 (n=50)

2%

4%

38%

52%

4%

Quelle: Vgl. AHMP: Deutsches Staatsgymnasium, Prag-Neustadt (Graben). Schulkataloge 1875-1910; eigene Berechnung.

Tabelle 26: Tschechisches akademisches Gymnasium in der Altstadt – Schüler ausgewählter erster und sechster Klassen nach der sprachlich-territorialen Herkunft (in %)

1874/75 (n=108)

4%

gemischtsprachig 0%

1881/82 (n=139)

2%

1%

1885/86 (n=173)

2%

1893/94 (n=135)

deutschsprachig

tschechischsprachig 58%

Prag

sonstige

27%

11%

53%

35%

9%

2%

53%

36%

7%

4%

2%

45%

46%

3%

1900/01 (n=122)

1%

3%

43%

46%

7%

1909/10 (n=70)

1%

4%

36%

56%

3%

Quelle: Vgl. AHMP: České akademické gymnázium, Praha-Staré město. Schulkataloge 1874-1910; eigene Berechnung.

5.1.3.2.4

Soziale Herkunft

Die gesellschaftliche Struktur der böhmischen und insbesondere auch der Prager Bevölkerung bedingt, dass an den Mittelschulen mit tschechischer Unterrichtssprache und damit fast ausschließlich Schülern tschechischer Muttersprache die unteren sozialen Schichten stärker repräsentiert sind als an den Pendants mit deutscher Unterrichtssprache (vgl. Řezníčková 2007: 103; Havránek 2000: 61-62). Allerdings stammen auch nicht alle Prager Deutschen aus der Mittel- und Oberschicht, obgleich deren Konzentration im Prager Stadtzentrum und damit dem direkten Umfeld der untersuchten Schulen nicht zu bestreiten ist (vgl. Binder 1996: 195).545 Bei den Gymnasiasten, die nicht zuletzt die zukünftige gesellschaft545

Vgl. hierzu auch die Ausführungen in Kapitel 3.2.2.2.

Institutionelle und individuelle Voraussetzungen des Bilingualismus

313

liche Elite repräsentieren, ist der Charakter der gehobenen sozialen Herkunft nochmals verstärkt (vgl. auch Springer 1948: 120). Denn der Besuch eines Gymnasiums ist zum einen mit einer hohen finanziellen Belastung und zum anderen mit ausgezeichneten Leistungen verbunden. Letztere sind dauerhafte Voraussetzung für jene Schüler, die vom Schulgeld befreit sind und von einem Stipendium profitieren. Schon die bestandene Aufnahmeprüfung an ein Gymnasium bewirkt im Bewusstsein so manchen Schülers einen Aufstieg in der sozialen Hierarchie. So erinnert Antonín Novotný, ein Schüler des tschechischen akademischen Gymnasiums: Bylo nám vyplnit blankety nacionálií, pak ještě nějaké papíry a dotazníky a nakonec formulář legitimace, zázračného to dokumentu, který nás proměnil v osobnosti individuálních existencí, nedocela bezvýznamných. Po jejím předložení budeme zdarma vpuštěni do muzea, výstavy nám poskytnou slevu vstupného a kdož ví, kolik jiných výhod se nám teď dostane. Nejsme více žáky, jsme opravdovými studenty, pročež naše sebevědomí náramně narostlo. Když úřední formality byly vyřízeny, byl nám přečten ještě disciplinární řád, zvěstující mezi jiným, že ,plody ducha svého na veřejnosti vydávati‘ smíme jedině se svolením ústavního ředitelství. Tedy tak vynikající výkony jsou od nás očekávány! Kdyby nikdy, teď jsme určitě věděli: nejsme více dětmi, jsme pány primány a tato hodnost byla námi vysoko ceněna (Novotný 2000: 94-95). [Wir sollten Vordrucke mit unseren Personalangaben ausfüllen, dann noch einige Papiere und Fragebögen und schließlich das Formular für die Ausweiskarte, das Wunderdokument, das uns in Persönlichkeiten nicht ganz unbedeutender individueller Existenzen verwandelte. Nach ihrer Vorlage würden wir kostenlos ins Museum gelassen, für Ausstellungen gewährten sie uns einen Nachlass auf den Eintrittspreis und wer weiß, wie viele andere Vorteile uns noch beschert würden. Wir sind keine Schüler mehr, sondern wirkliche Studenten, weswegen unser Selbstbewusstsein gewaltig gewachsen ist. Als die offiziellen Formalitäten erledigt waren, wurde uns noch die Disziplinarordnung vorgelesen, die unter anderem verkündete, dass ,die Früchte unseres Geistes‘ nur mit Genehmigung der Anstaltsdirektion ,an die Öffentlichkeit weitergegeben‘ werden dürften. Es wurden also außerordentliche Leistungen von uns erwartet! Wenn bisher noch nicht, jetzt wussten wir bestimmt: wir sind keine Kinder mehr, wir sind Primaner und diese Eigenschaft wurde von uns sehr hoch geschätzt – Übersetzung I.S.].

Auf den ersten Blick unterscheidet sich die soziale Herkunft der Primaner und Sextaner der untersuchten Gymnasien nicht wesentlich von jener der Volksschüler im Prager Zentrum. Denn auch an den Gymnasien dominieren die Vertreter des traditionellen Kleinbürgertums mit durchschnittlich 42 (tschechisches akademisches Gymnasium), 48 (deutsches Neustädter Gymnasium) und 53 Prozent (deutsches Altstädter Gymnasium) die soziale Struktur der Schülerschaft deutlich (vgl. Tabelle 27: 317; Tabelle 19: 301). Obgleich das Niveau etwas geringer ist als im Primarschulwesen, werden insbesondere am deutschen Altstädter Staatsgymnasium Ende der 1880er bis Ende der 1890er über mehrere Jahre ähnliche Spitzenwerte von bis zu zwei Drittel der Schüler erreicht (vgl. Tabelle 28: 318). Während jedoch die Schulkinder aus der Unterschicht an den Volksschulen durchschnittlich bereits die zweitstärkste Fraktion stellen, stammt am Gymnasium die kleinste Gruppe aus dem Arbeitermilieu (5 %). Dagegen rangieren hier an zweiter Stelle

314

Institutionelle und individuelle Voraussetzungen des Bilingualismus

die Abkömmlinge aus dem Bildungs- und neuen Kleinbürgertum mit durchschnittlich jeweils 18 Prozent. Kinder also, deren Eltern ihre soziale Stellung vorwiegend auf Grundlage ihrer akademischen Voraussetzungen erreicht haben. Gerade in diesen Gesellschaftsschichten scheint Bildung als Garant für soziale Mobilität erkannt und als dementsprechend erstrebenswert deklariert zu sein. Dass auch unter der materiell wohlhabenden Bevölkerung Bildung nicht ignoriert oder mindergeschätzt wird, zeigt die mäßige Zunahme der Schüler aus dem Besitzbürgertum im Vergleich zur Situation an den Volksschulen (vgl. Tabelle 27: 317). Auch wenn die soziale Struktur an den einzelnen Gymnasien nicht großartig differiert, sind einige unterschiedliche Schwerpunkte festzumachen. Aus diachroner Perspektive lässt sich wie an den Volksschulen wiederum am ehesten an der Einrichtung mit tschechischer Unterrichtssprache eine weitgehend lineare Entwicklung innerhalb einer Gesellschaftsschicht erkennen, aber auch an den deutschen gymnasialen Anstalten sind die Schwankungen geringer als im Primarschulwesen. Am deutschen Staatsgymnasium in der Altstadt (vgl. Tabelle 28: 318) überwiegt mit Ausnahme des Schuljahres 1900/01 (48 %) beständig die Schülerschaft aus dem Kleinbürgertum (zwischen 62 % und 83 %). Anders als an den Volksschulen bilden die Kauf- und Handelsmänner, bereits von Beginn an, die mit Abstand stärkste Berufsgruppe im traditionellen Kleinbürgertum, womit in ihren Reihen eine höhere Nachfrage546 nach humanistischer Bildung als unter den Handwerkern demonstriert wird.547 Besonders auffällig im alten Mittelstand ist der drastische Rückgang der Söhne aus der Landwirtschaft, sie werden ab Anfang der 1890er Jahre nur noch sehr vereinzelt auf das Gymnasium geschickt.548 Das neue Kleinbürgertum bildet sich über den gesamten Zeitraum hinweg vorwiegend aus niederen Regierungsbeamten, Angestellten und Grundschullehrern und stellt meist ein Drittel der aus dem Mittelstand kommenden Schüler. Die Schicht des Bildungsbürgertums ist im Vergleich mit den beiden anderen Gymnasien an der Altstädter Einrichtung im Durchschnitt am schwächsten repräsentiert (15 %). Anfang der 1880er etabliert sich ein konstanter Anteil von etwa einem Fünftel an Knaben aus bildungsbürgerlichem Haus. Die Aufsplitterung nach Berufsgruppen zeigt, dass die Väter insbesondere im Regierungs- und Staatsdienst tätig sind. Zur Jahrhundertwende schwanken die Werte relativ stark (1898/99: 12 %, 1900/01: 22 %, 1903/04: 13%), die Eltern sind auf alle Berufsgruppen mit Ausnahme der leiten546 547

548

Durchschnittlich gehören 25 Schüler eines Schuljahres der Kaufmannsschicht an und nur zehn Schüler stammen aus der Handwerkszunft. Auf der einen Seite eigentlich erstaunlich, denn man könnte vermuten, dass die Praxisnähe des Handels eher auf Realschulen und Realgymnasien schließen ließe. Auf der anderen Seite scheint gerade in der Handelsriege das Streben nach sozialem Aufstieg besonders intensiv und eine gute Schulbildung als Schlüssel dazu gesehen. In den betrachteten Schuljahren von 1893/94 bis 1909/10 arbeiten die Eltern von maximal zwei Schülern der Primaner und Sextaner in der Landwirtschaft, in den Schuljahren vorher haben durchschnittlich acht Gymnasiasten einen solchen sozialen Hintergrund.

Institutionelle und individuelle Voraussetzungen des Bilingualismus

315

den Angestellten und der Architekten / Ingenieure (etc.) verteilt. Wenn auch aus der Unterschicht die durchschnittlich kleinste Gruppe der Altstädter Schüler stammt (5 %), so zeigt diese im Gegensatz zur Besitzenden, der zweitkleinsten Fraktion, eher steigende und Letztere fallende Tendenz, denn sowohl 1906/07 als auch 1909/10 gehört keiner der Erst- und Sechstklässler mehr dem Besitzbürgertum an. Von den 1870ern bis in die 1880er bilden v.a. die Grund-, Land- und Fabrikbesitzer sowie Großhändler und Private noch einen Anteil von bis zu 12 Prozent der Schüler. Aus den Reihen der Lohnarbeiter versuchen vorwiegend im Handel und Büro tätige Väter ihren Söhnen eine gymnasiale Ausbildung zu ermöglichen, sie machen durchschnittlich 50 Prozent der Unterschichtkinder aus. Anfang des 20. Jahrhunderts ist somit die soziale Struktur am deutschen Staatsgymnasium in der Altstadt vom Kleinbürgertum einschließlich eines wachsenden neuen Mittelstandes bestimmt. Die Oberschicht ist ohne Vertreter des Besitzbürgertums auf das Bildungsbürgertum beschränkt und verzeichnet keinen nennenswerten Zuwachs, sondern scheint sich vielmehr aus dem Tief der 1890er Jahre wieder zu erholen. Kinder aus dem Arbeitermilieu bilden an der Altstädter Einrichtung dauerhaft eine kleine, aber beständige Minderheit. Ähnlich wie die Piaristenvolksschule sticht das deutsche Staatsgymnasium in der Neustadt (vgl. Tabelle 29: 318) v.a. mittels seiner durchschnittlich breiten Ober- (31 %) und schmalen Unterschicht hervor (4 %) (vgl. Tabelle 27: 317). Den dominierenden gesellschaftlichen Stand bildet hier jedoch auch das Kleinbürgertum (63 %) (vgl. Tabelle 27: 317), wobei zur Jahrhundertwende sich ein tendenzieller Rückgang sowohl in der alten als auch der neuen Mittelschicht abzeichnet. Der durchschnittliche Anteil des Kleinbürgertums sinkt unter 60 Prozent und steigt erst im Schuljahr 1909/10 wieder an. Die Hauptberufsgruppen sind vergleichbar mit jenen am Altstädter Gymnasium. Unangefochten an der Spitze steht wieder die Handelszunft (37 Personen)549, die zudem durch eine nennenswerte Gruppe an Kleinkaufleuten (7 Personen) unterstützt wird. Die zweitgrößte Partei im traditionellen Kleinbürgertum stellen erneut die Handwerker (11 Personen). In der neuen Mittelschicht sind auch am Grabengymnasium die niederen Regierungsund Staatsbeamten und Angestellten am häufigsten vertreten (8 Personen). Gleichfalls zählen die höheren Beamten (1.-8. Rangklasse) zur zentralen und v.a. dauerhaften Stütze des Bildungsbürgertums (8 Personen), das ferner fast über den gesamten Betrachtungszeitraum hinweg durch Vertreter aller anderen Berufsgruppen ergänzt wird. So stammt etwa ab Mitte der 1880er Jahre durchschnittlich fast ein Viertel der Schüler aus dieser bildungsorientierten Schicht. Obgleich das Besitzbürgertum am Neustädter Gymnasium mit durchschnittlich 11 Prozent (vgl. Tabelle 27: 317) die zweitkleinste Gruppe darstellt, ist sie im Gegensatz zur Altstädter deutschen wie auch tschechischen Anstalt nicht vernichtend klein und scheint v.a. zur Jahrhundertwende und in der Folgezeit – mit Ausnahme des 549

Damit wird die durchschnittliche Anzahl der in dieser Berufsgruppe tätigen Väter angezeigt.

316

Institutionelle und individuelle Voraussetzungen des Bilingualismus

Schuljahres 1909/10 – recht stabil und sogar wachsend. Tragende Berufsgruppen sind wieder Grund-, Land- und Immobilienbesitzer sowie Fabrikbesitzer, Großhändler und Private. Der geringe Anteil der Unterschicht bildet sich wie an der Altstädter Einrichtung hauptsächlich aus den Arbeitern in Handel und Büro; die noch an den Volksschulen relativ häufig vertretene Sparte der Handwerksgehilfen tritt an den deutschen Gymnasien kaum mehr in Erscheinung. Im Vergleich mit den beiden anderen Anstalten hat das Neustädter Gymnasium, wenn man so will, wieder den elitärsten Charakter, allerdings sind auf der Ebene der Sekundarschulen nur relativ sanfte Abweichungen in der sozialen Struktur der Schülerschaft festzustellen. Dies bestätigt gerade die soziale Herkunft der Jungen am tschechischen akademischen Gymnasium (vgl. Tabelle 30: 319). Denn, obgleich hier der durchschnittliche Anteil der Unterschicht am größten ist (8 %), und zudem das Besitzbürgertum das Schlusslicht der Klassentabelle bildet (vgl. Tabelle 28: 318), fällt dieser Unterschied in der Gesamtbetrachtung kaum ins Gewicht. Im Gegenteil ist hervorzuheben, dass bei einer Kombination der primär auf akademischer Bildung basierenden Schichten – also des Bildungs- und des neuen Kleinbürgertums – sich am tschechischen Traditionsgymnasium mit durchschnittlich 41 Prozent die größte Fraktion ergibt. Die Tatsache, dass beide Gesellschaftsschichten offensichtlich durch steigende Tendenzen gekennzeichnet sind, weist auf die herausragende Bedeutung der Schulbildung als sozialem Sprungbrett v.a. in der tschechischsprachigen Bevölkerung hin. Gleichzeitig demonstriert dies auch ein neues Nationalbewusstsein der gebildeten Mittelklasse, denn am akademischen Gymnasium wird schließlich eine ,tschechische‘ Bildung vermittelt. Zur Zusammensetzung des Bildungsbürgertums ist noch anzumerken, dass neben dem Regierungs- und Staatsdienst (6 Personen) auch die Berufsgruppen der Mediziner (4 Personen) und Juristen (5 Personen) vertreten sind. In der neuen Mittelschicht dominiert dagegen wieder die Riege der Regierungs- und Staatsbeamten (13 Personen) sowie ein wachsender Anteil an Unterbeamten und Grundschullehrern (je 3 Personen). Die Entwicklung des traditionellen Kleinbürgertums ist an der Einrichtung mit tschechischer Unterrichtssprache durch zweierlei gekennzeichnet. Erstens ist ein relativ konstanter Rückgang zu erkennen, der Anteil der Schüler aus der alten Mittelschicht sinkt auf unter ein Drittel der Schülerschaft (1874/75: 48 %, 1909/10: 30 %).550 Zweitens dominiert hier anders als an den deutschen Anstalten über den gesamten Zeitraum hinweg die Handwerkszunft (27 Personen), die insbesondere in den Anfangsjahren (einschließlich 1885/86) durch einen relativ starken Anteil 550

Cohen stellt fest, dass sich die Dominanz der Angehörigen des Kleinbürgertums, insbesondere der alten Mittelschicht auch in Bezug auf die Studentenschaft der tschechischen Universität in Prag fortsetzt und dies „gave a special character to the Czech educated elements and to Czech society and politics then and into the 1920s“ (Cohen 1988: 41). Gleichfalls verschiebt sich unter den Studenten das Verhältnis innerhalb der Mittelschicht zugunsten des neuen Kleinbürgertums (vgl. ebd.: 44) wie dies auch für die Schüler des tschechischen akademischen Gymnasiums konstatiert wurde.

317

Institutionelle und individuelle Voraussetzungen des Bilingualismus

an Bauern und Pächtern (16 Personen) unterstützt wird.551 Sicherlich stammen einige Schüler auch aus Kaufmannsfamilien, doch ist ihr Anteil vergleichsweise verhalten (8 Personen). Die weite Verbreitung des Handwerks unter den Prager ,Tschechen‘ deutet sich auch in der Präsenz von Söhnen an, deren Väter ihren Unterhalt als Handwerksgehilfen verdienen. Neben den Arbeitern im Handel und Büro sowie den niederen Angestellten sind Fabrik- und landwirtschaftliche Arbeiter unter den Eltern der Kinder an der tschechischen Einrichtung zu finden (je 2 Personen). Die soziale Struktur der Schülerschaft des tschechischen akademischen Gymnasiums zeichnet sich somit durch eine wachsende, auf Bildung basierende Oberschicht, durch eine Verschiebung in Richtung akademisch orientierte Berufe innerhalb der Mittelschicht und die vergleichsweise noch am stärksten vertretene Unterschicht aus. Ohne nun durch Kombination der väterlichen Berufsangabe mit der Muttersprache des Schülers auch die tschechischsprachigen Schülern an den beiden deutschen Schulen heranzuziehen, deutet allein die Entwicklung am akademischen Gymnasium Ende des 19. Jahrhunderts bereits die massive Etablierung einer tschechischen Mittelschicht und die zunehmende Präsenz der ,Tschechen‘ im ehemals deutsch dominierten Staatsdienst an (vgl. auch Cohen 1981: 117). Tabelle 27: Durchschnittlicher Jahreswert der sozialen Herkunft der Schüler ausgewählter erster und sechster Klassen an den untersuchten Gymnasien (1874/75 bis 1909/10) (in %) Besitzbürgertum

Bildungsbürgertum

traditionelles Kleinbürgertum

neues Kleinbürgertum

Unterschicht

Deutsches Staatsgymnasium in der Altstadt

7%

15%

53%

17%

5%

Deutsches Staatsgymnasium in der Neustadt (am Graben)

11%

20%

48%

15%

4%

Tschechisches Akademisches Gymnasium in der Altstadt

7%

19%

42%

22%

8%

Quelle: Übersicht auf Grundlage der Angaben in Tabelle 28: 318; Tabelle 29: 318; Tabelle 29: 318; Tabelle 30: 319.

551

Auch unter den Studenten der tschechischen Universität ist der Bauernstand mit beispielsweise 25 Prozent im Jahr 1889/90 stark vertreten (vgl. Havránek 1987: 114).

318

Institutionelle und individuelle Voraussetzungen des Bilingualismus

Tabelle 28: Deutsches Staatsgymnasium in der Altstadt – Schüler ausgewählter erster und sechster Klassen nach der sozialen Herkunft (in %) Besitzbürgertum

Bildungsbürgertum

traditionelles Kleinbürgertum

neues Kleinbürgertum

Unterschicht

keine Zuordnung

1874/75 (n=105)

10%

13%

48%

17%

4%

9%

1877/78 (n=144)

12%

12%

58%

9%

4%

5%

1879/80 (n=151)

7%

16%

51%

18%

1%

7%

1881/82 (n=90)

9%

20%

47%

19%

3%

2%

1882/83 (n=100)

12%

21%

47%

15%

3%

2%

1883/84 (n=104)

8%

17%

48%

20%

2%

5%

1884/85 (n=91)

5%

20%

49%

16%

2%

7%

1885/86 (n=138)

7%

16%

54%

15%

6%

3%

1886/87 (n=98)

7%

17%

53%

14%

5%

3%

1888/89 (n=100)

6%

11%

66%

13%

2%

2%

1891/92 (n=87)

7%

9%

62%

16%

6%

0%

1893/94 (n=112)

4%

14%

67%

13%

2%

0%

1896/97 (n=46)

7%

7%

61%

22%

4%

0%

1898/99 (n=66)

9%

12%

55%

18%

6%

0%

1900/01 (n=27)

7%

22%

30%

19%

11%

11%

1903/04 (n=39)

5%

13%

49%

18%

10%

5%

1906/07 (n=31)

0%

10%

52%

26%

6%

6%

1909/10 (n=47)

0%

17%

60%

13%

6%

4%

Quelle: Vgl. AHMP: Deutsches Staatsgymnasium, Prag-Altstadt. Schulkataloge 1874-1910; eigene Berechnung.

Tabelle 29: Deutsches Staatsgymnasium in der Neustadt (am Graben) – Schüler ausgewählter erster und sechster Klassen nach der sozialen Herkunft (in %) Besitzbürgertum

Bildungsbürgertum

traditionelles Kleinbürgertum

neues Kleinbürgertum

Unterschicht

keine Zuordnung

1875/76 (n=171)

8%

19%

47%

15%

2%

10%

1877/78 (n=175)

8%

18%

49%

22%

1%

2%

1879/80 (n=160)

8%

18%

55%

16%

2%

2%

1881/82 (n=108)

6%

18%

61%

13%

0%

2%

1882/83 (n=163)

9%

17%

51%

18%

3%

2%

1883/84 (n=192)

13%

20%

45%

14%

5%

4%

1884/85 (n=179)

13%

13%

57%

11%

4%

1%

1885/86 (n=131)

13%

21%

52%

11%

4%

0%

1888/89 (n=162)

15%

17%

44%

19%

4%

1%

1891/92 (n=149)

9%

25%

44%

19%

3%

0%

1893/94 (n=119)

8%

20%

49%

17%

6%

0%

1896/97 (n=105)

8%

19%

50%

17%

6%

0%

1898/99 (n=65)

14%

23%

48%

11%

3%

2%

1900/01 (n=47)

17%

30%

47%

6%

0%

0%

1903/04 (n=48)

19%

19%

46%

13%

4%

0%

1906/07 (n=56)

16%

29%

29%

18%

9%

0%

1909/10 (n=50)

6%

22%

48%

14%

6%

4%

Quelle: Vgl. AHMP: Deutsches Staatsgymnasium, Prag-Neustadt (Graben). Schulkataloge 1875-1910; eigene Berechnung.

319

Institutionelle und individuelle Voraussetzungen des Bilingualismus

Tabelle 30: Tschechisches akademisches Gymnasium in der Altstadt – Schüler ausgewählter erster und sechster Klassen nach der sozialen Herkunft (in %) Besitzbürgertum

Bildungsbürgertum

traditionelles Kleinbürgertum

neues Kleinbürgertum

Unterschicht

keine Zuordnung

1874/75 (n=108)

4%

20%

48%

14%

9%

5%

1881/82 (n=139)

9%

9%

52%

22%

7%

0%

1885/86 (n=173)

8%

14%

46%

23%

8%

2%

1893/94 (n=135)

5%

25%

41%

21%

7%

1%

1900/01 (n=122)

9%

21%

36%

20%

11%

2%

1909/10 (n=70)

7%

26%

30%

31%

6%

0%

Quelle: Vgl. AHMP: České akademické gymnázium, Praha-Staré město. Schulkataloge 1874-1910; eigene Berechnung.

5.1.3.3

Zusammenfassung

Der Vergleich der Daten der ausgewählten Klassen mit den Angaben in den offiziellen Statistiken hat ergeben, dass die dritten bzw. ersten und sechsten Jahrgangsstufen weitgehend Gültigkeit für die Schülerschaft der einzelnen Anstalten besitzen. Die deutsche Altstädter Volksschule für Knaben und jene für Mädchen sowie die deutsche Privat-Volksschule der Piaristen zählen zu den deutschen Anstalten mit einer eindeutigen Mehrheit an deutschen Muttersprachlern. Während die Angabe der Sprache für die Piaristenschule erst ab Anfang der 1890er Jahre erhalten ist, kann für die Altstädter Einrichtungen ab Mitte der 1880er Jahre eine weitgehende (relative) Zunahme der deutschen Schülerschaft festgestellt werden, die an der Knabenschule stärker und stabiler verläuft als an der Mädchenschule. Auffällig ist der kurzfristige Anstieg der tschechischen Schulkinder um das Jahr 1890. Der Großteil der Volksschüler ist in Prag geboren. Anders als an der tschechischen Volksschule, wo kaum Jungen aus deutschsprachigen Gebieten eingeschrieben sind, bildet umgekehrt der Anteil der Schulkinder aus tschechischen Landesteilen an den deutschen Volksschulen die zweitgrößte Gruppe. An keiner der betrachteten Anstalten kommt eine wesentliche Schülerzahl aus den gemischtsprachigen Landesteilen. Alle drei betrachteten Volksschulen mit deutscher Unterrichtssprache wandeln sich etwa ab Mitte der 1880er Jahre von Einrichtungen mit katholischer Mehrheit in vorwiegend von jüdischen Kindern besuchte Volksschulen. Die tschechische Volksschule ,U sv. Havla‘ dagegen bleibt bis zur Jahrhundertwende eindeutig katholisch. Die herrschende Gesellschaftsschicht an allen untersuchten Volksschulen ist und bleibt das (traditionelle) Kleinbürgertum. Während an der tschechischen Volksschule und der Altstädter Mädchenschule die Unterschicht noch eine wesentliche Rolle spielt, zeichnet sich insbesondere die Piaristenvolksschule durch eine breite Oberschicht aus. Das Bildungsbürgertum und die neue Mittelschicht treten v.a. in den staatlichen Einrichtungen kaum in Erscheinung. Im Unterschied zu den Volksschulen ist an den deutschen Gymnasien der Anteil der tschechischen Muttersprachler von Beginn an und über den gesamten

320

Institutionelle und individuelle Voraussetzungen des Bilingualismus

Zeitraum hinweg gering. Maximal ein Fünftel der Schüler gibt Tschechisch als Muttersprache an. Grund hierfür ist sicherlich die zu leistende Aufnahmeprüfung, in der ebenfalls eine profunde Kenntnis der Unterrichtssprache verlangt wird.552 Die elitäre Bedeutung der humanistischen Bildungsanstalt kommt auch durch die territoriale Herkunft der Schüler zum Ausdruck, die erst gegen Ende des Betrachtungszeitraumes überwiegend in Prag geboren sind. Denn nur die Besten der Besten und jene, die es sich leisten können, besuchen die Anstalten. Der hohe Wert, der von der sprachnational gespaltenen Gesellschaft einer ,deutschen‘ Bildung auch in den letzten Dezennien des 19. Jahrhunderts noch zugeschrieben wird, deutet sich in dem hohen Anteil der in tschechischen Landesteilen geborenen Schüler an. Zum einen handelt es sich hierbei um jüdische Schüler, die sich ,nach außen‘ über die Angabe der tschechischen Umgangssprache bereits assimiliert haben, allerdings in der tatsächlichen Sprachwahl in der Domäne Schulwesen noch das Deutsche bevorzugen. Zum anderen sind dies katholische, tschechische Schüler, für die das Deutsche sozialen Aufstieg und auch im Hinblick auf ein weiteres Universitätsstudium geografische Mobilität verspricht. Gleichfalls ist jedoch zu erwähnen, dass bis Mitte der 1880er Jahre die meisten Schüler des tschechischen akademischen Gymnasiums aus tschechischsprachigen Gebieten stammen und eine ,tschechische‘ gymnasiale Bildung wählen. Unter Einbeziehung der Sprachangaben der Schulkinder entwickeln die Gymnasien mit deutscher Unterrichtssprache ähnlich wie die Volksschulen ein deutsch-jüdisches Image. Allerdings liegt der Anteil der Schüler mosaischen Glaubensbekenntnisses bereits von Anfang an, d.h. ab Mitte der 1870er, über 40 Prozent.553 Die Schülerschaft des tschechischen Gymnasium reiht sich dagegen nahtlos in die sprachliche und religiöse Zusammensetzung der Volksschüler in ,U sv. Havla‘ ein, sie ist eindeutig tschechisch-katholisch. Der elitäre Charakter des Gymnasiums kommt durch die gesellschaftliche Schichtzugehörigkeit der Schüler zum Ausdruck. Angehörige der Unterschicht sind kaum an der tschechischen und noch weniger an den deutschen Anstalten vertreten. Das Neustädter Gymnasium sticht ähnlich wie die Piaristenvolksschule durch eine besonders breite Oberschicht heraus, das deutsche Altstädter Gymnasium ist die meistgewählte Institution in den kleinbürgerlichen Kreisen und das tschechische Traditionsgymnasium weist durch seinen hohen Schüleranteil aus weitgehend akademischen Familien auf die Relevanz von Schulbildung – auch tschechischer – für den sozialen Aufstieg in der tschechischen Gesellschaft hin.

552

553

Eingeführt wird die Aufahmeprüfung an Gymnasien als Ergebnis der Gymnasial-Enquete von 1870, deren Leidtragende häufig Schüler mit anderer als deutscher Muttersprache sind (vgl. Burger 1995: 53). Die überproportionale Präsenz der Juden im mittleren und höheren Schulwesen im Vergleich mit ihrem Anteil an der Bevölkerung ist ein typisches Phänomen in Böhmen und generell der Monarchie (vgl. Cohen 1996a: 146-147).

Institutionelle und individuelle Voraussetzungen des Bilingualismus

5.1.4 5.1.4.1

321

Wahlfach Landessprache an den ausgewählten Mittelschulen Konzeption des Wahlfachunterrichts

Jahresberichte, Lehrpläne und -bücher ermöglichen selbst im über hundertjährigen Rückblick den allgemeinen Charakter des Sprachunterrichts sowie seine konkreten Inhalte an den untersuchten Schulen – hier interessieren in erster Linie jene mit deutscher Unterrichtssprache – zu rekonstruieren.554 Insbesondere die Jahresberichte der Gymnasien vermitteln Einblick in den Aufbau des Lehrstoffes und geben jährlich auch ein Verzeichnis der eingesetzten Lehrwerke an. Leider sind derartige Quellen für die Volksschulen in Prag nicht erhalten.555 Auch in den Lehrplänen für Volks- und Bürgerschulen mit deutscher Unterrichtssprache in Böhmen wird bezüglich der Inhalte des Sprachunterrichts im relativ obligaten Fach Tschechisch höchstens auf die Landesbehörde verwiesen (vgl. Lehrpläne 1874: 107) bzw. werden die freien Fächer gar nicht erwähnt (vgl. Lehrpläne 1885, 1913), während in allen Pflichtfächern je Volksschultyp und Jahrgangsstufe der Stoff detailliert aufgelistet wird. Aus diesem Grund beschränken sich die folgenden Ausführungen auf den Zweitspracherwerb an den Gymnasien.556 Gemäß dem ,Sprachenzwangsverbot‘ (1867) (vgl. hierzu Kapitel 4.2.1.2: 169) zählt der Sprachunterricht in der zweiten Landessprache an den böhmischen Gymnasien zu den relativ obligaten Unterrichtsgegenständen. Dennoch lässt sich zwischen der Handhabung dieses Faches an den Lehranstalten mit deutscher und tschechischer Unterrichtssprache ein bedeutender Unterschied festmachen. Denn während Tschechisch bei Ersteren im Jahresbericht neben Französisch, Turnen, Gesang und Stenographie unter den ,Freien Gegenständen‘ rangiert, wird das Deutsche bei Letzteren mit den Pflichtfächern auf eine Stufe gestellt „Předměty povinné a německý jazyk“ [Pflichtfächer und die deutsche Sprache]557 (vgl. auch Nekula 2003: 141) – und dies ändert sich bis zum Schuljahr 1909/10 nicht (vgl. Jahresbericht tschechisches AG 1910: 20).558 Eine weitere ,äußere‘ Ungleichheit 554 555 556 557

558

Vgl. hierzu Nekula (2003: 142-151), der dies am Beispiel von Franz Kafkas Gymnasium, dem deutschen Staatsgymnasium in Prag-Altstadt, durchgeführt hat. Gleiches gilt für Pilsen, wo Newerkla ebenfalls bedauert, keine Quellen über die an den Grundschulen verwendeten Lehrbücher gefunden zu haben (vgl. Newerkla 1999: 117). Eine Bibliografie aus tschechischer Sicht generell zum Schul- und Bildungswesen in tschechischer Sprache, aber auch Lehrbücher und tschechische Zeitschriften bietet Jelínek (1972). Bis zum Schuljahr 1874/75 gilt das auch für das ,Böhmische‘ am deutschen Staatsgymnasium am Graben in Prag-Neustadt, danach wird es jedoch nur noch unter den ,freien Gegenständen‘ geführt (vgl. z.B. Jahresbericht deutsches NG 1874: 17). Im Jahresbericht des tschechischen akademischen Gymnasiums wird auch der Erlass des Unterrichtsministeriums vom 16. September 1876, Nr. 6022 und des k. k. Landesschulrates vom 20. September 1876, Nr. 19644 angeführt, der bestimmt, dass der Unterricht in der zweiten Landessprache in Bezug auf die Unterrichtsstunden als Pflichtfach behandelt werden soll (vgl. Jahresbericht tschechisches AG 1877: 62). Während dies an der tschechischen Einrichtung bis zum Ende des Betrachtungszeitraums der Fall ist, wird zu diesem Zeitpunkt an den deutschen Gymnasien das Tschechische schon nur mehr mit zwei Wochenstunden bedacht, nur bis 1874/75

322

Institutionelle und individuelle Voraussetzungen des Bilingualismus

besteht darin, dass an den deutschen Gymnasien meist eine Lehrkraft den Großteil des Tschechischunterrichts bestreitet und nur einzelne Klassen gegebenenfalls von weiteren Lehrern übernommen werden. Am deutschen Staatsgymnasium in PragAltstadt ist der hauptamtliche Tschechischlehrer zu Beginn der 1870er Jahre Joseph Mann, gefolgt von Joseph Linhart bis Anfang der 1880er. Dieser wird schließlich vom Lehrbuchautor Josef Masařík abgelöst. Mitte der 1880er Jahre übernimmt zum ersten Mal Dr. Wenzel Rosický, der spätere Tschechischlehrer Franz Kafkas, den Unterricht und bleibt bis 1910 der maßgebliche Vermittler der tschechischen Sprache am Altstädter Gymnasium (vgl. Tabelle 31: 322). Am deutschen Staatsgymnasium am Graben in Prag-Neustadt zeichnet Josef Seidel von Anfang der 1870er Jahre bis zum Schuljahr 1886/87 maßgeblich für die Lehre des Tschechischen verantwortlich. Unter seiner Regie existiert bis einschließlich zum Schuljahr 1880/81 in den höheren Klassen (5.-8.) eine Aufteilung der Tschechischlerner in eine ,deutsche‘ und eine ,böhmische Abteilung‘, die separat unterrichtet werden. Für eine kurze Übergangszeit wird der Unterricht im Tschechischen von mehreren Lehrkräften geleistet (Franz Stark, Wendelin Kleprlik und Johann Schmidt). Ab 1890/91 besetzt Franz Matoušek die Rolle des hauptamtlichen Tschechischlehrers und füllt diese in den letzten Jahren des Betrachtungszeitraums alleine aus (vgl. Tabelle 32: 324). Tabelle 31: Tschechischlehrer am deutschen Staatsgymnasium in Prag-Altstadt von 1872 bis 1910 Deutsches Staatsgymnasium, Prag-Altstadt Schuljahr 1872/73 1873/74 1874/75 bis 1878/79 1879/80 1880/81 1881/82 1882/83 1883/84 1884/85 1885/86 1886/87 1887/88 1888/89 1889/90 1890/91

Tschechischlehrer Joseph Mann, Lehrer an der Übungsschule der k.k. deutschen Lehrerbildungsanstalt, Nebenlehrer (Gesang) Joseph Mann Joseph Linhart, k.k. Gymnasialsupplent (Latein, Geschichte)

Josef Masařík, wirklicher Lehrer am dt. Staatsgymnasium PragKleinseite (approbiert für Latein und Griechisch am Untergymnasium), Hilfslehrer für das böhmische Sprachfach

Klassen / Abteilungen 1.-2. Kl. 1.-3. Kl. 1.-4. Kl. 1.-5. Kl. 1.-6. Kl. 1.-7. Kl. 1.-8. Kl. 5 Abteilungen

Wenzel Rosický, Phil. Dr., wirklicher Lehrer (Mathematik, Physik, Stenographie)

5 Abteilungen

Wenzel Rosický (jetzt k.k. Professor)

6 Abteilungen

Wenzel Rosický Josef Quaisser, supplierender Lehrer (Latein, Griechisch, Deutsch, Kalligraphie)

1. Kl. a, 2.-6. Kl. 1. Kl. b

werden dem Tschechischen dort drei Wochenstunden gewidmet (vgl. Jahresbericht deutsches NG: 74).

323

Institutionelle und individuelle Voraussetzungen des Bilingualismus Deutsches Staatsgymnasium, Prag-Altstadt Schuljahr 1891/92 1892/93 1893/94 1894/95 1895/96

1896/97 1897/98 1898/99 1899/1900

1900/01 1901/02 1902/03 1903/04 1904/05 1905/06 1906/07 1907/08

1908/09

1909/10

Tschechischlehrer Wenzel Rosický Josef Quaisser (jetzt k.k. Professor) Wenzel Rosický Josef Quaisser Wenzel Rosický Josef Quaisser Wenzel Rosický Josef Quaisser Wenzel Rosický Josef Quaisser Gustav Adolf Lindner, Phil. Dr. k.k. Professor (Latein, Deutsch, Griechisch) Wenzel Rosický Josef Quaisser

Klassen / Abteilungen 4.-6. Kl. 1.-3. Kl. 1., 5.-6. Kl. 2.-4. Kl. 2., 5.-6. Kl. 1., 3.-4. Kl. 1., 3., 5.-6. Kl. 2., 4. Kl. 4.-6. Kl. 2.-3. Kl. 1. Kl. 1., 3.-6. Kl. 2. Kl.

Wenzel Rosický

1.-6. Kl.

Wenzel Rosický Josef Quaisser Gustav Adolf Lindner Hugo Ostermann, Phil. Dr. k.k. Professor (Griechisch, Deutsch, Geschichte und Geographie)

5.-6. Kl. 1.-2. Kl. 3. Kl.

Wenzel Rosický

1.-6. Kl.

Wenzel Rosický Josef Quaisser

2.-8. Kl. 1. Kl.

Wenzel Rosický

1.-8. Kl.

Wenzel Rosický Hugo Ostermann Wenzel Rosický Hugo Ostermann Wenzel Rosický Karl Klatovský, Phil. Dr., k.k. Professor (Geschichte, Geographie, Deutsch) Wenzel Rosický Gustav Fleischmann, Phil. Dr., supplierender Lehrer (Geographie, Geschichte) Wenzel Rosický Ferdinand Schulz, k.k. Supplent (Geographie und Geschichte) Leo Zeckendorf, Supplent am dt. Staatsgymnasium in Smichov

2.-8. Kl. 1. Kl. 1., 3.-8. Kl. 2. Kl. 1.-2., 4.-8. Kl.

Quelle: Vgl. Jahresbericht deutsches AG 1873-1910.

4. Kl.

3. Kl. 1.-3., 5.-8. Kl. 4. Kl. 5.-8. Kl. 1.-2. Kl. 3. Kl.

324

Institutionelle und individuelle Voraussetzungen des Bilingualismus

Tabelle 32: Tschechischlehrer am deutschen Staatsgymnasium in Prag-Neustadt (am Graben) von 1870 bis 1910 Deutsches Staatsgymnasium am Graben, Prag-Neustadt Schuljahr 1870/71

1873/74

1874/75

Tschechischlehrer

Klassen / Abteilungen

Ladislaus Wolek (Piarist) (Latein, Deutsch) Raym. Wychodil (Piarist) (Mathematik) Josef Seidl, k.k. Professor (Geschichte) Josef Langhammer (Latein, Deutsch, Geschichte) Kanut Bittner (Piarist) (Religion, Latein) Josef Seidl Wenzel Barborka, Supplent Kanut Bittner

2a Kl. 2b Kl. 5.-8. Kl. 3.-4. Kl. 1a Kl. 4.-8. Kl. 1b, 2.-3. Kl. 1. Kl. 5./6. Kl.-7./8. Kl. (böhm. Abt.), 5.-7. Kl. (dt. Abt.) 2.-4. Kl. 1.-2. Kl., 3.-8. Kl. (böhm. Abt.) 3.-8. Kl. (dt. Abt.) 1.-2. Kl., 5.-8. Kl. (je dt. und böhm. Abt.) 3.-4. Kl. 1.-2. Kl., 5.-8. Kl. (je dt. und böhm. Abt.) 4. Kl. 3. Kl. 1.-4. Kl., 5.-8. Kl. (je dt. und böhm. Abt.) 1.-8. Kl., keine Aufteilung mehr 1b-8. Kl. 1a Kl. 1b-8. Kl. 1a Kl. 2a, 3.-8. Kl. 1., 2b Kl. 2a, 3.-8. Kl. 2b Kl. 1. Kl. 2.-8. Kl. 1. Kl. 1a, 2. Kl. (1. Sem.); 3b Kl. (2. Sem.) 1b, 3. Kl. (1.Sem.); 1.-3a Kl. (2. Sem.) 4.-8. Kl. 3., 5.-8. Kl. 1.-2. Kl. 4. Kl. 1., 4a, 5. Kl. 2.-3., 4b, 6.-8. Kl. 2., 5. Kl. 1., 3.-4. Kl., 6.-8. Kl. 1.-2. Kl., 4.-8. Kl. 3. Kl. 4.-8. Kl. 1., 3. Kl. (1. Sem.) 1., 3. Kl. (2. Sem.) 2. Kl.

Josef Seidl 1875/76 u. 1876/77

Adalbert Princ, Supplent Josef Seidl Prokop Villašek, Supplent (Latein, Geschichte)

1877/78

Josef Seidl

1878/79

Josef Seidl

Theodor Kopetzky, Supplent (Latein, Geschichte, Deutsch)

Theodor Kopetzky Josef Deil, k.k. Professor (Deutsch, Geschichte) 1879/80 1880/81 1881/82 1882/83 1883/84 1884/85 1885/86

1886/87 1887/88

Josef Seidl Josef Seidl August Mrazek, Supplent (Mathematik) Josef Seidl August Mrazek Josef Seidl August Mrazek Josef Seidl August Mrazek Vincenz Vřešťal, Hilfslehrer Josef Seidl Georg Bayer, Hilfslehrer (Geographie, Geschichte) Franz Stark, Supplent (Geographie, Geschichte, Mathematik) Johann Schmidt, Supplent (Deutsch, Geographie, Geschichte)

1888/89

1889/90 1890/91 1891/92 1892/93

Wendelin Kleprlik, Supplent (Mathematik, Naturgeschichte) Franz Stark Johann Schmidt Wendelin Kleprlik Franz Stark Franz Matoušek, k.k. Gymnasiallehrer (Griechisch) Franz Stark Franz Matoušek Franz Matoušek Wilhelm Lubich, Supplent (Mathematik, Naturgeschichte) Franz Matoušek Wilhelm Lubich Heinrich Löwner, Supplent (Latein, Griechisch) Karl Richter (Latein, Deutsch, Griechisch)

325

Institutionelle und individuelle Voraussetzungen des Bilingualismus Deutsches Staatsgymnasium am Graben, Prag-Neustadt Schuljahr 1893/94

1894/95

1895/96

1896/97 1897/98 1898/99 1899/1900 1900/01 u. 1901/02 1902/03 1903/04 bis 1909/10

Tschechischlehrer

Klassen / Abteilungen

Franz Matoušek Wilhelm Lubich Karl Richter Franz Matoušek Karl Richter Franz Martin, Supplen (Mathematik, Naturgeschichte) Franz Matoušek Karl Richter Karl Krispin, k.k. Professor (Latein, Griechisch)

3.-8. Kl. 1a, 2. Kl. 1b Kl. 3.-8. Kl. 1. Kl. 2. Kl. 2.-8. Kl. 1b Kl. 1a Kl.

Franz Matoušek

1.-8. Kl.

Franz Matoušek Josef Deil Franz Matoušek Josef Deil Franz Matoušek Josef Deil Franz Matoušek Karl Krispin

3.-8. Kl. 1.-2. Kl. 4.-8. Kl. 1.-3. Kl. 1.-2., 5.-8. Kl. 3.-4. Kl. 2.-8. Kl. 1. Kl.

Franz Matoušek

1.-8. Kl.

Quelle: Vgl. Jahresbericht deutsches NG 1871, 1874-1910.

Am tschechischen akademischen Gymnasium dagegen gibt es in jedem Schuljahr eine Vielzahl an Deutschlehrern, fast für jede Klasse wird eine eigene Lehrkraft angeführt.559 Diese unterrichten jedoch ausnahmslos auch andere Lehrgegenstände, sodass selbst ohne eine explizite Angabe der Muttersprache davon ausgegangen werden kann, dass es sich bei den Deutschlehrern nicht um (rein) deutsche Muttersprachler handelt. Am tschechischen Gymnasium würde der gesamte Deutschunterricht auch kaum von einer einzelnen Person geleistet werden können, da über den gesamten Zeitraum hinweg je Klasse ein eigener Kurs zustande kommt – was nicht selten zwei Kurse pro Jahrgangsstufe in den unteren Klassen ausmacht –, während an den Anstalten mit deutscher Unterrichtssprache die höheren Klassen durchgängig zusammengelegt werden (meist 5. und 6. sowie 7. und 8. Klasse) und ,nur‘ fünf bis sechs Tschechischkurse bestehen. Obgleich der Unterricht des Tschechischen an den beiden deutschen Gymnasien mit zwei Wochenstunden an Umfang und Intensität nicht an den Deutschunterricht am akademischen Gymnasium mit bis zur vierten Klasse vier Wochenstunden (gegenüber nur drei Wochenstunden in der Unterrichtssprache Tschechisch!), die in den höheren Jahrgangsstufen (5.-8.) auf drei verkürzt werden560, heranreicht, nimmt das Tschechische unter den freien Lehrgegenständen dennoch eine besondere Stellung ein. 559

560

Nicht zuletzt auf Grund der großen Zahl an Deutschlehrern über den 40-jährigen Zeitraum hinweg wird für das tschechische akademische Gymnasium in Prag auf eine detaillierte Darstellung verzichtet. Die breite Streuung der Deutschlehrer über das gesamte Lehrerkollegium gilt für den gesamten Zeitraum. Erst zum Schuljahr 1909/10 wird der Deutschunterricht bereits ab der dritten Klasse auf drei Stunden reduziert. In den ersten beiden Gymnasialklassen bleibt der Umfang bei vier Unterrichtsstunden (vgl. Jahresbericht tschechisches AG 1910: 20-21).

326

Institutionelle und individuelle Voraussetzungen des Bilingualismus

So schlussfolgert Nekula aus dem Vergleich des Tschechischen mit dem Französischen auf Grundlage der Lehrpläne und Lehrbücher am deutschen Staatsgymnasium in Prag-Altstadt zu Kafkas Schulzeit, dass der Unterricht im Tschechischen sich durch eine weitaus größere Intensität auszeichnet, was sich u.a. auch darin zeigt, dass es bereits ab der dritten und nicht wie das Französische erst aber der fünften Klasse gelehrt wird (vgl. Nekula 2003: 139-140).561 Auch beim Vergleich mit den obligaten Fächer ist der Umfang des Tschechischunterrichts am Gymnasium durchaus ernst zu nehmen: Deutsch wurde mit 4 Wochenstunden unterrichtet (ab der 4. Klasse 3 Wochenstunden), Latein mit 8 Wochenstunden (ab der 3. Klasse 6 Wochenstunden, ab der 7. Klasse 5 Wochenstunden), Griechisch (erst ab der 3. Klasse) 5 Wochenstunden (in der 4. und 7. Klasse 4 Wochenstunden), Religion 2 Wochenstunden, Geographie und Geschichte 3 Wochenstunden, Mathematik 3 Wochenstunden (in der 5. Klasse 4 Wochenstunden), Biologie 2 Wochenstunden, Physik 2 Wochenstunden (nur in der 3., 7. Klasse; 3 Wochenstunden in der 4. Klasse), Philosophie (nur in der 7. Klasse) 2 Wochenstunden. Interessant ist vor allem der Vergleich mit dem Deutschen, dessen Anteil – obwohl Unterrichtsfach sowie Unterrichtssprache – den des Tschechischen nicht wesentlich überstieg, obwohl Teile des Unterrichts auch rhetorische Übungen, Geschichte der deutschen Literatur verbunden mit deren Lektüre (Nibelungenlied, Walther von der Vogelweide, Wieland, Klopstock, Lessing, Herder, Schiller, Kleist, Goethe, Grillparzer...), Grundlagen der Dichtung u. dgl. waren (Nekula 2003: 140).

Die Anforderungen im relativ obligaten tschechischen Sprachunterricht sind allerdings nicht so hoch gesteckt wie im Pflichtfach Deutsch, darauf weist die Anzahl der schriftlichen Schul- und Hausarbeiten hin (vgl. Nekula 2003: 139-140). So haben etwa nach Ministerialerlass vom 13. Oktober 1892 (Z. 22228) beim „böhmischen Sprachunterrichte [...] die häuslichen schriftlichen Arbeiten zu entfallen; alle 4 Wochen ist eine schriftliche Schularbeit zu geben“ (Jahresbericht deutsches NG 1893: 55), während im Deutschen in der ersten Klasse alle acht Tage, in der 561

Das Wahlfach Französisch wird am deutschen Staatsgymnasium am Graben in Prag-Neustadt zum ersten Mal bereits im Schuljahr 1878/79 aufgehoben, „nachdem mehreren Schülern die angemeldete Theilnahme an dem französischen Unterrichte wegen minder günstigen Erfolgen in den Hauptfächern verwehrt werden musste, [...] entfiel heuer der Unterricht für die höhere Abtheilung wegen zu geringer Anzahl der Schüler“ (Jahresbericht deutsches NG 1879: 56). Ab dem Schuljahr 1881/82 wird Französisch an der Neustädter Einrichtung gar nicht mehr angeführt. Anfang der 1890er Jahre ist die Nachfrage nach dem Französischen auch am deutschen Altstädter Gymnasium derart niedrig, sodass von 1890/91 bis 1892/93 das Wahlfach an den deutschen Gymnasien nicht mehr angeboten wird. Mitte der 1890er Jahre schließen sich dann die Gymnasien mit deutscher Unterrichtssprache (Altstadt, Neustadt-Graben, Neustadt-Stefansgasse, Kleinseite) zusammen und bieten einen gemeinsamen ,erweiterten‘ Französischkurs an, der drei Wochenstunden umfasst und am Altstädter Gymnasium gehalten wird (vgl. Jahresbericht deutsches AG 1895: 77). In den folgenden Jahren bis 1910 wird dieses Angebot – immer für alle vier Einrichtungen – auf drei Kurse à drei Wochenstunden ausgebaut. Die Anzahl der Französischlerner aus den vier Gymnasien bleibt jedoch immer weit hinter der Zahl der Tschechischlerner nur des Altstädter Gymnasiums zurück. Das kann allerdings auch heißen, dass zumindest ab Ende der 1890er Jahre möglicherweise eine relativ kleine Gruppe interessierter Schüler einen intensiven Französischunterricht genießen konnte.

Institutionelle und individuelle Voraussetzungen des Bilingualismus

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zweiten bis fünften Klasse monatlich zwei und von der sechsten bis achten Klasse im dreiwöchigen Turnus eine Arbeit abgegeben werden muss. Obgleich das Deutsche an den Gymnasien mit tschechischer Unterrichtssprache ebenfalls zu den relativ obligaten Lehrgegenständen zählt, wird dort durchschnittlich von der ersten bis zur achten Klasse alle 14 Tage eine Schul- oder Hausarbeit verlangt (vgl. Jahresbericht tschechisches AG 1893), d.h. also weitaus öfter als im Fach Tschechisch an den deutschen Gymnasien. Auch im Hinblick auf die Stellung der zweiten Landessprache als Maturitätsfach ist an den betrachteten Einrichtungen mit deutscher auf der einen und mit tschechischer Unterrichtssprache auf der anderen Seite im Laufe der Zeit eine unterschiedliche Entwicklung zu erkennen. Anfang der 1870er Jahre wird das Fach ,Böhmisch‘ (Tschechisch) am deutschen Staatsgymnasium in Prag-Neustadt nicht nur noch im Rahmen des Abiturs (optional) geprüft, sondern wird die Aufgabenstellung zudem unterteilt in a) für Kandidaten deutscher Muttersprache und b) Kandidaten böhmischer Muttersprache. Dabei müssen Erstere beispielsweise am Ende des Schuljahres 1871/72 den Text ,Hanibal’s und Scipio’s Ausgang‘ aus dem Lesebuch von Dr. Pfannerer (II. Teil) ins Tschechische übersetzen, während Letztere einen Aufsatz zum Thema ,Zásluhy Jungmannovy o jazyk a literaturu českou‘ [Die Verdienste Jungmanns um die tschechische Sprache und Literatur – Übersetzung I.S.] zu verfassen haben (vgl. Jahresbericht deutsches NG 1871: 18). Bereits im Jahresbericht für das Schuljahr 1873/74 wird nur noch ein Thema gestellt (vgl. ebd.: 79) und dies vermutlich nur noch für tschechische Muttersprachler, denn 1875/76 ist die Maturitätsprüfung aus dem Böhmischen ausdrücklich für Abiturienten tschechischer Muttersprache bestimmt (vgl. ebd. 1874: 24). Das bleibt jedoch nicht so, vielmehr wird der Tschechischunterricht am deutschen Gymnasium in der Folgezeit primär auf die deutschen Muttersprachler ausgerichtet (vgl. auch Anm. 168). Ende der 1880er Jahre sind im Jahresbericht des deutschen Neustädter Gymnasiums auch wieder Abituraufgaben „aus der böhmischen Sprache“ dokumentiert, die meist Übersetzungen von Lesebuchtexten betreffen.562 Ab Mitte der 1890er Jahre – und dies gilt nach Nekula (2003: 141) auch für das deutsche Staatsgymnasium in der Altstadt – wird das Tschechische nicht mehr als Abiturfach angeführt.563 Am tschechischen akademischen Gymnasium in Prag 562

563

1887/88: „Lampel’s deutsches Lesebuch II. Cl. Nro. 216, Absatz 1. und 2. zu übersetzen“ (Jahresbericht deutsches NG 1888: 53). 1888/89: „,Aus dem Leben Kaiser Josefs II.‘ (Lesebuch von K. Schiller)“ (ebd. 1888: 46). 1889/90: „Tieftrunks ,Böhmisches Lesebuch‘ I. Theil, 6. Aufl., S. 89, Nro 85: ,Josef II‘“ (ebd. 1889: 55). 1890/91: „Lesebuch von Kosina und Bartoš p. 284: ,Der Untergang König Ludwigs bei Mohacs‘“ (ebd. 1891: 80). 1891/92: „Kámen (aus dem Jahresberichte des Gymnasiums in Schlan (1891) vom Prof. Dr. Marek)“ (ebd. 1892: 48). Gemäß des Ministerialerlasses vom 30. April 1889, Z. 13730 erhalten Schüler, die sich der Maturitätsprüfung in der zweiten Landessprache nicht unterziehen, auf ihr Verlangen auf dem Abiturzeugnis nur noch eine Durchschnittsnote aus dieser mit dem Beisatze ,auf Grund der Se-

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Institutionelle und individuelle Voraussetzungen des Bilingualismus

dagegen wird das Deutsche Ende der 1890er Jahre und selbst zu Beginn des 20. Jahrhunderts noch im Rahmen des Abiturs geprüft.564 Zudem werden hier von den Schülern keine Übersetzungen, sondern freiformulierte Texte (,Abhandlungen‘) verlangt.565 Von der fünften bis zur achten Klasse werden am tschechischen Gymnasium die verschiedenen Textformen wie Schilderung, Inhaltsangabe, Beschreibung, Charakterschilderung, Abhandlung und auch Übersetzungen geübt.566 Im Gegensatz zu den deutschen Einrichtungen stehen am akademischen Gymnasium mit tschechischer Unterrichtssprache in der achten Klasse nicht nur in den Lesebüchern abgedruckte Auszüge aus der deutschsprachigen Literatur, sondern ein ganzes Werk auf dem Lehrplan (z.B. G. E. Lessing: Minna von Barnhelm, F. Schiller: Jungfrau von Orleans) (vgl. Jahresbericht tschechisches AG 1904, 1905). Die Intensität des Deutschunterrichts (vgl. u.a. Stundendeputat, Lehrpersonal, Maturitätsfach) an tschechischen Gymnasien dürfte zwar den Tschechischunterricht an deutschen Gymnasien übertreffen, doch zeigt der in den Jahresberichten klassenweise dokumentierte Lehrplan, dass sich die Schüler auch im tschechischen Sprachunterricht mit einigen Anforderungen konfrontiert sahen. Die Darstellungsweise des Lehrstoffs erhellt zudem dessen Struktur in den einzelnen Abteilungen. In der ersten Hälfte der 1870er Jahre gilt am deutschen – zu dieser Zeit noch – Realgymnasium in der Altstadt folgender Lehrplan: 1. Klasse: Das Nötigste vom Nomen, Adjektiv, Hilfsverbum, Pronomen und Verbum zur Bildung einfacher Sätze. (Ab 1874/75 wird ,Häusliches Präparieren und Memorieren‘ noch ergänzt). – Alle 14 Tage eine Schularbeit.567

564

565

566

567

mestralleistungen‘ und zwar nur dann, „wenn sie wenigstens die letzten vier Semester hindurch den Unterricht in diesem Gegenstande ordnungsgemäß in dem für die höchste Stufe dieses Unterrichtes an der betreffenden Lehranstalt vorgeschriebenen Ausmaße genossen und das Lehrziel erreicht haben“ (Jahresbericht deutsches NG 1889: 46). Im Schuljahr 1908/09 wird keine Abiturprüfung aus dem Deutschen mehr aufgelistet, allerdings auch nicht aus der Mathematik, nur für Latein, Griechisch und Tschechisch sind Abiturprüfungen dokumentiert. Allerdings wird das Deutsche in den unteren Klassen (1.-4.) weiterhin mit vier und in den oberen Klassen (5.-8.) mit drei Wochenstunden als relativ obligates Fach unterrichtet (vgl. Jahresbericht tschechisches AG 1909: 56, 37). So lautet z.B. das Thema zum Ende des Schuljahres 1880/81: „Was für einen Nutzen gewährten die Nationalspiele den Griechen? Abhandlung“ (Jahresbericht tschechisches AG 1881: 42), zum Schuljahr 1892/93: „Der Mensch – ein Herr der Natur trotz seiner natürlichen Schwäche (Abhandlung)“ (ebd. 1893: 48) und ein Jahr später: „Reisen führt zur Heimatskunde, und Heimatskunde in Österreich unfehlbar zur Heimatsliebe“ (ebd. 1894: 75); im Schuljahr 1899/1900 lautet die anspruchsvolle Aufgabe: „Die Errichtung des Volkstribunates in Rom. Geschichtliche Abandlung“ (ebd. 1900: 47) und 1906/07: „Österreich – ,ein Land des Pfluges und Gedichtes, ein Land des Schwertes und des Lichtes‘. Abhandlung“ (ebd. 1907: 51). So müssen beispielsweise im Schuljahr 1892 in der fünften und sechsten Klasse 16, in der siebten 14 und in der achten Klasse elf Themen bearbeitet werden (vgl. Jahresbericht tschechisches AG 1892: 48-50). 1876/77 ist nur alle drei Wochen, dann wieder alle zwei Wochen eine Schularbeit abzugeben.

Institutionelle und individuelle Voraussetzungen des Bilingualismus

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2. Klasse: Fortsetzung der regelmäßigen Formenlehre über das Verbum und Substantivum. Übriges wie in der ersten Klasse. 3. Klasse: Fortsetzung der regelmäßigen Formenlehre über das Adjektivum und Pronomen. Übriges wie in der ersten Klasse. 4 Klasse: Fortsetzung der regelmäßigen Formenlehre über das Numerale und Verbum. Übriges wie in der ersten Klasse (vgl. Jahresbericht deutsches AG 1876: 27-28). Die sehr groben Inhalte werden Anfang der 1880er Jahre präzisiert. 1. Klasse: Anleitung zum richtigen Lesen und Schreiben. Tempus- und Moduslehre des Hilfszeitwortes býti [sein] in Verbindung mit den Adjektiven nach der nominalen Deklination. Regelmäßige Formenlehre der Substantiva und der aktiven Verben in alle Zeiten und Arten. 2. Klasse: Wiederholung. Fortsetzung der regelmäßigen Formenlehre der Substantiva in Verbindung mit den Arten der Adjektiven und aktiven Verben. 3. Klasse: Wiederholung und Ergänzung. Unregelmäßige Formen des Nomen und Numerale. Das Verbum bis zum Passivum. 4. bis 5. Klasse: Wiederholung. Bildung der Passivformen des Verbum. Iteration und Frequentation der Verba. Partizipialkonstruktion. Syntaktische Regeln zur Bildung der Satzverbindungen und Satzgefüge. 6. bis 8. Klasse: Einübung von Phrasen unter steter Bezugnahme auf die analoge Ausdrucksweise im Deutschen und Lateinischen. Übersicht der Literaturgeschichte von den ältesten Zeiten bis zur Gegenwart in steter Verbindung mit den Biographien hervorragender Schriftsteller. Lektüre und Erklärung ausgewählter Musterstücke aus der älteren und neueren Literatur. In den letzten vier Abteilungen wird durchwegs, in der ersten vom zweiten Semester ab, alle zwei Wochen eine Hausarbeit, alle vier Wochen eine Schularbeit gegeben (vgl. u.a. Jahresbericht deutsches AG 1882: 31). Im Gegensatz zum Lehrplan der 1890er Jahre568, den Nekula für Kafkas Schulzeit analysiert hat (vgl. Nekula 2003: 142-143), ist der Unterricht bis zum

568

1. Abteilung: Anleitung zum richtigen Lesen und Schreiben. Tempus- und Moduslehre des Hilfszeitwortes býti [sein] in Verbindung mit den Adjektiven nach der nominalen Deklination. Harte Deklination der Substantiva und das regelmäßige Verbum im Präsens. 2. Abteilung: Adjektiva einer Endung und dreier Endungen. Weiche Deklination der Substantiva nebst Ergänzung der Deklination. Komparation der Adjektiva und Adverbia. 3. Abteilung: Das Pronomen und Numerale. 4. Abteilung: Ergänzung der Flexion des Verbums im Präsens und Bildung der Perfekt- und Futurform (Verba perfectiva und imperfectiva). Anwendung der Präpositionen beim Nomen. 5. Abteilung: Syntax: Transgressiv, Infinitiv, Imperativ, Casuslehre. 6. Abteilung: Wiederholung der Grammatik. Übersetzung aus dem Deutschen in das Böhmische. Einübung von Phrasen unter steter Bezugnahme auf die analoge Ausdrucksweise im Deutschen und Lateinischen. Literaturgeschichte der Neuzeit im Anschluss an die Lektüre ausgewählter Musterstücke aus der neueren Literatur.

330

Institutionelle und individuelle Voraussetzungen des Bilingualismus

Schuljahr 1887/88 noch auf nur fünf (statt der späteren sechs) Abteilungen aufgeteilt. Trotz der kürzeren Lehrzeit deuten die Lehrinhalte in den 1880er Jahren ein vergleichsweise langsameres Vorgehen an. So wird etwa mit der Deklination der Adjektive erst in der zweiten Abteilung begonnen. Auch die Numerale und unregelmäßigen Formen des Nomen erscheinen nicht wie in den 1890ern in der zweiten, sondern in der dritten Abteilung, die Bildung der Passivformen des Verbs wird sogar erst in der vierten Abteilung vorgesehen. Dagegen werden syntaktische Regeln zur Verbindung von Satzgefügen bereits um eine Stufe früher, in der vierten Abteilung, durchgenommen. Übersetzungen vom Deutschen ins Tschechische dagegen werden im Lehrplan der 1880er Jahre nicht explizit erwähnt. Nekula weist darauf hin, dass der Tschechischunterricht am deutschen Gymnasium zwar mit Anfängern rechnet, denn man beginnt „mit den elementarsten Satzmustern mit dem Verb býti, d.h. mit den sog. Kopulasätzen, und man entschlüsselt die Grammatik – ausgehend vom Verb – im Hinblick auf eine Minimalverständigung“ (Nekula 2003: 142) und sieht eine Einführung ins Lesen und Schreiben des Tschechischen vor. Doch zeigt die bereits angedeutete, zunehmende Straffung des Lehrplans im Laufe der 1890er Jahre, wie sie auch in der Vorziehung der Übersetzung vom Deutschen ins Tschechische von der sechsten in die fünfte Abteilung oder des Transgressiv von der fünften in die vierte Abteilung (jeweils 1897/98) oder der Bildung von Perfekt und Futur (Perfektiva und Imperfektiva) von der vierten in die dritte Abteilung zum Ausdruck kommt, dass der Unterricht im Wesentlichen auf eine Kerngruppe von Schülern ausgerichtet ist, die sich über die gesamte gymnasiale Schulzeit dem Tschechischen widmet bzw. entsprechende Vorkenntnisse besitzt (vgl. ebd.: 143). Lediglich in Bezug auf die zu verfassenden Hausund Schularbeiten ist eine auffällige Lockerung im Tschechischunterricht zu erkennen, denn in den 1890er Jahren muss im Gegensatz zum früheren wöchentlichen bzw. zwei- oder dreiwöchigen Turnus nur noch alle vier Wochen eine Schularbeit abgegeben werden. Am deutschen Staatsgymnasium am Graben in Prag-Neustadt weist der Tschechischunterricht v.a. in den 1870er Jahren eine etwas abweichende Struktur auf. Zunächst wird in bis zu acht Abteilungen unterrichtet, die zudem bis 1879/80 in den höheren Stufen nach deutschen und tschechischen Muttersprachlern getrennt sind.569 Für Letztere ist aber bereits ab der fünften Abteilung der Unterricht auf die Lektüre und Erklärung von Musterstücken aus den verschiedenen Literaturepochen begrenzt. Bis zum Schuljahr 1873/74 schließt dies sogar altböhmische Laut- und Formenlehre sowie Texte aus der ältesten Literatur ein (vgl. Jahresbericht deutsches NG 1874: 15). Bei den deutschen Muttersprachlern zählen dagegen auch in den höheren Stufen Grammatikübungen, Tempus und Moduslehre

569

In den letzten 5 Abteilungen ward durchgehends alle 2 Wochen, (in der sechsten beziehungsweise alle 3 Wochen) abwechselnd eine Haus- und eine Schularbeit gegeben (vgl. Jahresbericht deutsches AG 1891: 48). 1875-1877 sogar bereits ab der dritten Klasse (vgl. u.a. Jahresbericht deutsches NG 1876: 74).

Institutionelle und individuelle Voraussetzungen des Bilingualismus

331

sowie Wortbildung zum Lehrstoff; v.a. mit weniger fortgeschrittenen Schülern wird speziell nochmals die Formenlehre geübt. Daneben werden hier wie an der Altstädter Einrichtung Phrasen und ihre deutschen Ausdrucksweisen gesammelt und memoriert und Musterstücke aus der neueren Literaturperiode gelesen und erklärt. Gesondert zu erwähnen sind Gesprächsübungen in den deutschen Abteilungen, die ab der fünften Klasse durchgeführt werden. Übersetzungen aus dem Tschechischen ins Deutsche zählen bereits ab der dritten Klasse zum Lehrplan (vgl. u.a. ebd.: 74). In den 1880er Jahren ist kein spezielles Angebot für tschechische Muttersprachler am deutschen Staatsgymnasium in der Neustadt mehr zu erkennen. Der Unterricht findet nun, wie am Altstädter Gymnasium in den 1880er Jahren, auch nur mehr in fünf Abteilungen statt, arbeitet ebenfalls mit Masaříks570 böhmischer Schulgrammatik und ist den Inhalten entsprechend stärker als Fremdsprachenunterricht konzipiert. Anders als an der Altstädter Einrichtung sieht der Lehrplan am deutschen Staatsgymnasium in der Neustadt auch keine explizite Einführung in das Tschechische für absolute Neuanfänger vor, beginnt aber dennoch mit den Grundlagen, der regelmäßigen Formenlehre bis zur weichen Deklination (1. Abteilung), der Lehre vom Nomen (2. Abteilung) und vom Verbum und der Anwendung der Präpositionen (3. Abteilung). Dies wird in der vierten Abteilung fortgesetzt und aus der Syntax mit der Lehre von der Partizipialkonstruktion ergänzt. Von Anfang an werden in jeder Abteilung Übersetzungen mündlich und schriftlich geübt. Ab der fünften Abteilung werden Grammatik und Syntax wiederholt und wiederum werden ausgewählte literarische Stücke übersetzt und erklärt. Mit Gesprächsübungen gilt es, die Sprachfertigkeiten der Schüler zu trainieren (vgl. u.a. Jahresbericht deutsches NG 1889: 40-41). Gerade diese praktische Ausrichtung des Tschechischunterrichts am deutschen Neustädter Gymnasium kommt auch im Wechsel zum Lehrbuch von Wladimir Hanaček571 für die ersten und zweiten Klassen (1900/01) zum Ausdruck, denn der Autor nimmt darin – bereits im ausgehenden 19. Jahrhundert – „als Zielsetzung den später in der Fremdsprachendidaktik so oft gebrauchten Begriff der communicative competence vorweg. Und dieser neue Zugang zum Sprachunterricht war im Vergleich zur bisher angewandten grammatisierenden Unterrichtsmethode von sichtbar höherem Erfolg gekrönt“ (Newerkla 1999: 152-153, Herv. i.O.).

570

571

Masařík, Josef (1879-99): Böhmische Schulgrammatik. Für deutsche Mittelschulen und LehrerBildungsanstalten bearbeitet. 1.-6. Aufl. (vgl. Newerkla 1999: 120). Anfang der 1880er Jahre ist Masařík Tschechischlehrer am deutschen Staatsgymnasium in Prag-Altstadt (vgl. Tabelle 31: 304). Hanaček, Wladimir (1898): Lehrbuch der böhmischen Sprache. I. Theil (1. und 2. Classe). Wien: A. Hölder und ders. (1900): Lehrbuch der böhmischen Sprache. II. Theil (3. und 4. Classe). Wien: A. Hölder. Beide wurden bis 1920 mit geringen Veränderungen immer wieder aufgelegt (vgl. Newerkla 1999: 261-262).

332

Institutionelle und individuelle Voraussetzungen des Bilingualismus

Ohne weiter auf inhaltliche Details des Tschechischunterrichts an den untersuchten Gymnasien mit deutscher Unterrichtssprache einzugehen572, lässt sich feststellen, dass der regelmäßige Besuch des relativ obligaten Lehrgegenstandes über die gymnasiale Schulzeit hinweg, wie ihn auch Franz Kafka pflegte, durchaus zu einer profunden Kenntnis der tschechischen Sprache führte. Sicherlich mögen Absolventen tschechischer Schulen mit ihren Deutschkenntnissen theoretisch mehr brilliert haben, da insbesondere in Bezug auf Stundendeputat, Lehrpersonal und zu erbringende Leistungen (Abiturfach, Anzahl der Schul- und Hausarbeiten) Unterschiede in der Handhabung der zweiten Landessprache als relativ obligatem Fach an deutschen und tschechischen Gymnasien auszumachen sind. Doch haben die Ausführungen gezeigt, dass der Tschechischunterricht im Laufe der Zeit nicht nur methodisch modern gestaltet (z.B. mit Hanaček) und gemäß den Anforderungen des Alltags im zweisprachigen Prag die praktische Anwendung der Sprache in den Vordergrund gestellt wurde. Zudem vermittelte der Tschechischunterricht auch einen Einblick in die tschechische Kultur und Literatur, der zum Teil auf den gleichen Lehrwerken wie an den tschechischen Gymnasien basierte. Jedoch zeigen die folgenden Ausführungen, dass dieses Angebot eines mitunter anspruchsvollen tschechischen Sprachunterrichts nur von einer relativ kleinen Gruppe an Schülern wahrgenommen wurde.

5.1.4.2

Teilnahme am Wahlfachunterricht

Der relativ obligate Unterricht in der zweiten Landessprache stellt an den ausgewählten Gymnasien die einzige Option für einen gesteuerten Spracherwerb der jeweils anderen Sprache dar. Denn im Mittelschulwesen findet – wie im Volksschulwesen – eine Entwicklung zu ,einsprachigen‘ Anstalten statt (vgl. Kapitel 4.3.1.3; 4.3.2.2.1). Auch wenn Gymnasien mit zwei Unterrichtssprachen praktisch erlaubt sind (vgl. Mayrhofer / Pace 1898: 913), gehören sie im staatlichen Schulwesen in Böhmen und Prag am Ende des 19. Jahrhunderts nicht der Schulwirklichkeit an. Vergleichbar mit der Situation an den Volksschulen, wird auch an den untersuchten deutschen Gymnasien in der Altstadt und der Neustadt (am Graben) der relativ obligate Tschechischunterricht schwächer besucht als der analoge Deutschunterricht am tschechischen akademischen Gymnasium. An Letzterem belegen vom Schuljahr 1885/86 bis 1909/1910 mindestens 90 Prozent aller eingeschriebenen Schüler das Wahlfach Deutsch, wobei zwischen den einzelnen Jahrgangsstufen leichte Unterschiede festzumachen sind.573 In der Unterstufe (1.-2. Klasse) 572 573

Für eine Analyse der im Tschechischunterricht an Einrichtungen mit deutscher Unterrichtssprache verwendeten Lehrbücher vgl. u.a. Nekula (2003: 143-151) und Newerkla (1999). Die folgenden Zahlen und Anteile auch für die deutschen Gymnasien wurden auf Grundlage der Angaben in den jeweiligen Jahresberichten zur Schülerzahl in den einzelnen Klassen und zum Besuch des Wahlfaches berechnet. Für das tschechische akademische Gymnasium wird die Frequentation des Deutschunterrichts in den früheren Jahresberichten nicht ausgewiesen (vgl.

Institutionelle und individuelle Voraussetzungen des Bilingualismus

333

wird Deutsch durchgehend von allen Schülern belegt, in der Mittelstufe (3.-5. Klasse) und Oberstufe (6.-8. Klasse) geht die Beteiligung zum Teil geringfügig zurück, z.B. in der Mittelstufe im Schuljahr 1899/1900 auf 93 Prozent und in der Oberstufe im Schuljahr 1909/10 auf 84 Prozent. Auch wenn Deutsch am tschechischen Gymnasium kein Pflichtfach ist und nicht sein darf, wird es von den Schülern und Eltern faktisch als solches behandelt. Die Frequentation des Tschechischunterrichts an den beiden Gymnasien mit deutscher Unterrichtssprache ist im Durchschnitt nicht nur weitaus geringer, sondern variiert sowohl im Laufe der Jahrzehnte als auch innerhalb der Jahrgangsstufen (vgl. Jahresbericht deutsches AG 1873-1910; Jahresbericht deutsches NG 1873-1910). Zu Beginn der 1870er Jahre ist der Wunsch nach Tschechischkenntnissen noch relativ stark ausgeprägt – etwa zwei Drittel der Schüler am deutschen Neustädter Gymnasium und sogar knapp vier Fünftel am deutschen Altstädter (Real-) Gymnasium lernen Tschechisch. Allerdings sinkt das Interesse in den folgenden Schuljahren abrupt ab, insbesondere an der Altstädter Einrichtung, hier frequentiert ab 1875/76 nur noch etwa ein Drittel der Schüler den Tschechischunterricht. Die relativ unveränderte Zusammensetzung der Schülerschaft nach der Muttersprache in dieser Zeit (vgl. Abbildung 14: 247) schließt aus, dass etwa der Schulwechsel tschechischer Muttersprachler an das 1874/75 neu gegründete, Zweite Böhmische Oberrealgymnasium, die relativ schwache Nachfrage hätte begründen können. Auch in Bezug auf das Religionsbekenntnis findet kein Wandel der Zusammensetzung der Schülerschaft statt, der Anteil der katholischen Schüler beträgt weiterhin knapp zwei Drittel (vgl. Abbildung 9: 237). Zum Schuljahr 1874/75 wird am deutschen Altstädter Realgymnasium der Unterricht im Freigegenstand ,Böhmisch‘ sogar zum ersten Mal einem eigentlichen Mitglied des Lehrkörpers übertragen. Bisher wurde der Unterricht aushilfsweise von einem Übungslehrer der k. k. deutschen Lehrerbildungsanstalt abgehalten (vgl. Jahresbericht deutsches AG 1875: 28). Möglicherweise ist das Böhmische Realschulgesetz (1874) für den Rückgang der Nachfrage nach der zweiten Landessprache ausschlaggebend, denn dort wird nochmals der freiwillige Charakter dieses Sprachunterrichts in Böhmen betont (vgl. Stourzh 1985: 187). Zudem praktiziert die liberale Mittel- und Hochschulpolitik der 1870er Jahre eine offensichtliche Privilegierung der deutschsprachigen Bevölkerung, als Beispiel ist hier die Genehmigung von Schulbauten zu nennen (vgl. Strakosch-Graßmann 1905: 287288), sodass das Tschechische in der Domäne Bildungswesen einen Rückschlag erhält. Die niedrige Nachfrage nach dem Tschechischunterricht dauert bis Anfang der 1880er Jahre an. Es ist durchaus vorstellbar, dass die Etablierung der tschechischen Sprache als anerkannte Wissenschaftssprache infolge der Teilung der Universität wieder zu einer Attraktivitätssteigerung des relativ obligaten Unterrichts im Tschechischen führt. Ab Ende der 1890er Jahre – nachdem mit den BadeniJahresbericht tschechisches AG 1885-1910; Jahresbericht deutsches AG 1873-1910; Jahresbericht deutsches NG 1873-1910).

334

Institutionelle und individuelle Voraussetzungen des Bilingualismus

schen Sprachenverordnungen (1897) kurzzeitig die Parität des Deutschen und Tschechischen auch im inneren Amtsverkehr sowie eine sprachliche Qualifikation der Beamten eingeführt wird – nehmen sogar wieder knapp zwei Drittel der Schüler des Altstädter Gymnasiums am Tschechischunterricht teil. Am Neustädter Gymnasium schwankt das Interesse am Unterricht in der zweiten Landessprache weniger, durchschnittlich eignen sich zwei bis knapp drei Fünftel das Tschechische an.574 Allerdings variiert der Besuch des Tschechischunterrichts in den einzelnen Jahrgangsstufen an der Neustädter Einrichtung extremer als an der Altstädter. Je höher die Klasse, um so weniger Nachfrage nach Tschechisch. Am Neustädter Gymnasium wählen ab Ende der 1870 Jahre bis zu Beginn des 20. Jahrhunderts weniger als 30 Prozent der Oberstufenschüler das Tschechische; am Altstädter Gymnasium liegt ihr Anteil Anfang der 1880er Jahre sogar unter 20 Prozent, steigt in der Folgezeit allerdings wieder stark an, auf beispielsweise über zwei Fünftel im Schuljahr 1888/89. Ohne Zweifel spielt hier das Angebot weiterer moderner Fremdsprachen eine Rolle, die in den höheren Jahrgangsstufen einer Vertiefung der tschechischen Sprachkenntnisse vorgezogen werden. Insgesamt weist die unterschiedliche Belegung des relativ obligaten Lehrgegenstandes ,zweite Landessprache‘ an den deutschen und dem tschechischen Gymnasium darauf hin, dass das ,Sprachverhalten‘ der Eliten erkennbar auf die staatliche Sprachpolitik reagiert und eine tatsächliche Durchführung der Gleichberechtigung des Deutschen und Tschechischen sich positiv auf die Ausbildung eines deutsch-tschechischen Bilingualismus hätte auswirken können. Auch wenn tschechische Sprachkenntnisse ab Mitte der 1880er Jahre von den Schülern der deutschen Gymnasien höher eingeschätzt werden, bleiben profunde Deutschkenntnisse über den gesamten Zeitraum hinweg die erste Wahl. Im gesamten Mittelschulbereich (Gymnasien, Realschulen, Realgymnasien) in Prag entscheiden sich von 1871/72 bis 1909/10 kaum bis keine deutschen Muttersprachler für Anstalten mit tschechischer Unterrichtssprache. Dagegen ist über den gesamten Zeitraum hinweg eine beachtliche, allerdings im Laufe der Zeit sich mehr als halbierende Zahl tschechischer Muttersprachler an deutschsprachigen Lehranstalten eingeschrieben (vgl. Kapitel 4.3.2.2). Das Beispiel des traditionsreichen akademischen Gymnasiums zeigt jedoch, dass das relativ obligate Wahlfach Deutsch an den tschechischen Einrichtungen von fast allen belegt wird. Mit dem Ausbau des 574

In etwa dürfte damit die Hälfte der Schüler deutscher Muttersprache Ende der 1890er Jahre das Wahlfach Tschechisch belegen. Auch wenn die beiden untersuchten Gymnasien in Prag allein auf Grund der konfessionellen Zusammensetzung ihrer Schülerschaft nicht repräsentativ sein können für ganz Prag oder Böhmen, deutet sich in der tatsächlichen Nachfrage nach dem Unterricht in der zweiten Landessprache an, dass der „Versöhnungswillen der Nationalitäten“ in Böhmen nicht unbedingt kleiner war als in Mähren – wie Burger die im Grunde gleich hohe Bereitschaft von etwa 50 Prozent der deutschen Muttersprachler an mährischen Gymnasien Tschechisch zu lernen interpretiert (vgl. Burger 1995: 158) –, sondern dass im böhmischen öffentlichen Diskurs das Gegeneinander von Deutschen und Tschechen weitaus intensiver produziert als es in der Bevölkerung faktisch gelebt wurde.

Institutionelle und individuelle Voraussetzungen des Bilingualismus

335

weiterführenden Schulwesens steht der Zugang zu höherer Bildung zunehmend breiteren Bevölkerungsschichten offen – die Zahl der Mittelschüler verdreifacht sich beinahe im Laufe des Betrachtungszeitraums (von 3727 auf 10747 Mittelschüler/-innen). Grundsätzlich werden damit auch bessere Voraussetzungen für die Fortsetzung des in der Volksschule begonnenen gesteuerten Spracherwerbs in der zweiten Landessprache geschaffen. Allerdings deutet sich auch ein Absinken des Niveaus der tschechisch-deutschen Zweisprachigkeit an, denn trotz einer explodierenden Zahl an tschechischen Mittelschülern geht ihre absolute Zahl an den Einrichtungen mit deutscher Unterrichtssprache klar zurück. Der Erwerb des Deutschen wird weiterhin nachgefragt, – wenn man so will – eine Stufe tiefer, statt über die Unterrichtssprache (als potenzielle Zweitsprache) nur noch im Rahmen des Wahlfaches (als Fremdsprache).

5.2

Sprachwirklichkeit nach den Ergebnissen offizieller Statistiken (Schematismen der Volks- und Bürgerschulen)

Die Ergebnisse der in den Schematismen der Volks- und Bürgerschulen publizierten offiziellen Daten zur Mehrsprachigkeit in der böhmischen Bevölkerung575 aus den Jahren 1890 und 1900 verdeutlichen eindrucksvoll (vgl. Tabelle 33: 337), dass die u.a. von Franz Kafka und seinen Schwestern besuchte deutsche Altstädter Volks- und Bürgerschule für Jungen bzw. für Mädchen im Hinblick auf die Sprachkenntnisse der Schüler und Schülerinnen eine Sonderrolle einnimmt (vgl. hierzu Fleischmann 2007: 192-194). Die statische Betrachtung der Ergebnisse aus dem Jahr 1890 zeigt, dass der Anteil der Schulkinder der Altstädter Institution, die nach der Sprache bei ,deutsch und böhmisch‘, also als ,zweisprachig‘ eingeordnet werden (Jungen: 87%, Mädchen: 88%), klar über dem Durchschnitt in Prag (24%) und in Böhmen (4%) und auch aller deutschen Schulen in Prag (72%) liegt. Die Zöglinge der deutschen Piaristenvolksschule dagegen unterschreiten mit 59 Prozent den Mittelwert des Prager deutschen Schulbezirks. In der zehn Jahre später stattfindenden Erhebung verschärft sich dieser Gegensatz nochmals. Die Zahl ‚Zweisprachiger‘ an den Altstädter Volksschulen nimmt trotz ihres hohen Ausgangswertes weiterhin zu, während sie in Prag – im deutschen Schulbezirk sowie gesamt – und auch böhmenweit zurückgeht. Dagegen sind unterdurchschnittlich wenige Kinder mit nur tschechischen Sprachkenntnissen an den Altstädter Volksschulen angeführt – null bzw. bei den Mädchen zwei Prozent im Vergleich zu durchschnittlich acht Prozent an den deutschen Schulen in Prag.576

575 576

Zur Erhebung der Daten vgl. die Ausführungen in Kapitel 2.2.3.2. Ein Vergleich mit der Verteilung innerhalb aller deutscher Schulbezirke, d.h. böhmenweit wäre nicht vollkommen einwandfrei, da in gemischtsprachigen Gebieten einige Schulen mit tschechischer Unterrichtssprache deutschen Schulbezirken zugeteilt werden und somit nur ,Tschechisch‘ als Sprachangabe nicht überraschen muss.

336

Institutionelle und individuelle Voraussetzungen des Bilingualismus

Im Statistischen Handbuch wird an den Altstädter Einrichtungen für die beiden Erhebungsjahre (1889/90, 1899/1900) ein Anteil von 30 und 16 Prozent (Jungen) bzw. 33 und 26 Prozent (Mädchen) tschechischer Muttersprachler sowie jeweils ein zunehmendes Übergewicht der Kinder mosaischen Glaubensbekenntnisses dokumentiert (vgl. Abbildung 5: 224; Abbildung 6: 225). Unter Berücksichtigung der generell sinkenden Schülerzahlen an deutschen Einrichtungen weisen die in den Volksschulschematismen belegten Sprachkenntnisse auf die ausgeprägte Pflege eines potenziellen deutsch-tschechischen Bilingualismus in der bleibenden, vorrangig deutsch-jüdischen Schülerschaft der Altstädter Volksschulen hin. Ähnlich ist die Situation an der deutschen Josephstädter Volksschule: Mit einer überwiegend jüdisch-deutschen Schülerschaft (vgl. Abbildung 4: 222) liegt der Anteil der ,Zweisprachigen‘ bei 84 (1889/90) bzw. 82 Prozent (1899/1900). Dass auch die bleibende, katholisch-deutsche Schülerschaft das Tschechische verstärkt erlernt, zeigt der hohe Anteil ,zweisprachiger‘ Schulkinder (1889/90: 77 %, 1899/1900: 94 %) an der fast rein katholischen deutschen Kleinseitner Volksschule. Allerdings ist dieser Tatsache auf Grund der Dominanz der tschechischen Muttersprachler an der Anstalt nur begrenzte Gültigkeit zu zurechnen (vgl. Abbildung 3: 220).577 Nicht zuletzt auch deshalb, da an der deutschen Neustädter Volksschule, die ebenfalls von vielen Katholiken besucht wird, der Anteil ,Zweisprachiger‘ 1899/1900 nur bei 45 Prozent liegt (vgl. Schematismus 1902: 248-249). Der Ausnahmecharakter der Schule Franz Kafkas und seiner Schwestern hinsichtlich der potenziellen Zweisprachigkeit der Schülerschaft ist jedoch unbestreitbar und steht im Gegensatz zu der selbst sehr auffälligen Entwicklung an der Volksschule des Piaristenordens. Auf Grundlage der beiden Erhebungen 1890 und 1900 ist festzustellen, dass sich die Sprachkenntnisse der Schülerschaft – bzw. zumindest die als offiziell deklarierten Angaben – binnen der zehn Jahre von 1890 bis 1900 extrem wandeln. Dem Trend gemäß sinkt die Zahl ‚zweisprachiger‘ Schüler an der Piaristenvolksschule, allerdings gleich auf nur noch zwölf Prozent (vgl. Tabelle 33: 337). Erstaunlich ist zudem, dass der Anteil der jüdischen Schulkinder weiterhin bei 63 Prozent liegt. Damit weicht die Piaristenschule wie die Altstädter Volksschulen (jeweils 68 %) von der durchschnittlichen konfessionellen Verteilung im deutschen Prager Schulbezirk (38 %) stark ab, positioniert sich aber anders als die ,bilinguale‘ Schülerschaft der Altstädter Lehranstalten als einsprachig ,deutsch‘. Durch diese Abgrenzung entsteht der Eindruck, dass bei der wohlhabenden, deutsch-jüdischen Gesellschaftsschicht, deren Zöglinge bevorzugt die Piaristenvolksschule besuchen (vgl. Kapitel 5.1.3.2.4), zur Jahrhundertwende das Potenzial zur flexiblen Anpassung der sprachlichen Identitäten vernachlässigt

577

Im Schuljahr 1899/1900 zählen 61 Prozent der Schulkinder zu den tschechischen Muttersprachlern, wobei Keines im Volksschematismus ,nach der Sprache‘ nur ,Tschechisch‘ angibt, aber 16 Kinder nur ,Deutsch‘ deklarieren (vgl. Schematismus 1902: 248-249).

337

Institutionelle und individuelle Voraussetzungen des Bilingualismus

wird, zugunsten eines im Sinne der monoglossischen Ideologie nationalen Bekenntnisses zum Deutschen.578 Die Volks- und Bürgerschulen mit tschechischer Unterrichtssprache in Prag kennzeichnet eine weitgehende sprachliche und konfessionelle Homogenität ihrer Schülerschaft (vgl. Kapitel 4.3.1.3). Abgesehen von den möglichen sprachnationalen Hindernissen genießt die ,tschechische‘ Schulbildung auch nicht den Status einer ,deutschen‘ Schulbildung, sodass sowohl keine Deutschen als auch kaum Juden Einrichtungen mit tschechischer Unterrichtssprache besuchen. Laut offizieller Statistik sind nie mehr als zwei Prozent der Schüler an einer tschechischen Volksschule in Prag mosaischen Bekenntnisses und genauso wenige protestantische Schüler sind zu zählen. Die Einordnung ,nach der Sprache‘ in den Volksschulschematismen reflektiert ebenfalls diese Einheitlichkeit, denn mit Ausnahme kleiner tschechischer Privat-Volksschulen579 gibt es keinen erwähnenswerten Anteil an Schülern mit ausgewiesenen deutsch-tschechischen Sprachkenntnissen (vgl. Tabelle 33: 337). Die für die vorliegende Arbeit ausgewählte tschechische Volksschule ,U sv. Havla‘ reiht sich hier nahtlos ein – sie wird ausschließlich von katholischen Schülern mit tschechischen Sprachkenntnissen besucht (vgl. Schematismus 1891: 273-275; 1902: 249-252). Tabelle 33: Sprachliche und konfessionelle Verhältnisse nach den offiziellen Statistiken 1890 und 1900 an den untersuchten Volksschulen im Vergleich (in %) einzelne Schulen

Prag

Böhmen

Altstädter (Mädchen)

dt. tsch. Prag gesamt Schulbezirk Schulbezirk

Böhmen

Altstädter (Jungen) 1890

Piaristen

1900

1890

1900

1890

1900

1890

1900

1890

1900

13%

10%

10%

4%

41%

88%

19%

27%

0%

0%

0%

0%

2%

0%

0%

0%

8%

6%

99%

99%

87%

90%

88%

96%

59%

12%

72%

66%

1%

1%

1890

1900

1890

1900

6%

7%

33%

34%

70%

77%

63%

62%

24%

17%

4%

4%

SPRACHKENNTNISSE deutsch tschechisch dt. + tsch.

RELIGIONSBEKENNTNIS katholisch

40%

31%

40%

31%

34%

35%

61%

58%

98%

96%

86%

87%

96%

96%

jüdisch

58%

68%

59%

68%

65%

63%

35%

38%

0%

1%

12%

10%

2%

2%

2%

1%

1%

1%

2%

1%

4%

4%

1%

3%

2%

3%

2%

1%

evangelisch

Quelle: Vgl. Angaben zu Böhmen im Schematismus 1891, 1902; eigene Berechnung.

578

579

Die auf Basis ausgewählter dritter Klassen festgestellten Sprachkenntnisse der Piaristenschüler deutet allerdings nicht zwingend auf einen tatsächlichen, plötzlichen Schwund an potenzieller Zweisprachigkeit hin, allerdings sind tschechische Muttersprachler und damit Vertreter eines tschechisch-deutschen Bilingualismus kaum mehr an der Schule vertreten (vgl. Kapitel 5.3). Zu nennen sind hier folgende Privat-Volksschulen für Mädchen mit Öffentlichkeitsrecht: Erstens die Privatschule der Congregation der Schulschwestern (1890 geben 5 von 5 Schülerinnen deutsch-tschechische Sprachkenntnisse an, 1900 15 von 26) und zweitens die Schule der Gemeinde Prag, allerdings nur für das Jahr 1890 (24 von 82 Mädchen mit deutsch-tschechischen Sprachkenntnissen), zur Jahrhundertwende sind nur noch drei aus 129 Mädchen übrig (vgl. Schematismus 1891: 273-275; 1902: 249-252).

338

5.3

Institutionelle und individuelle Voraussetzungen des Bilingualismus

Sprachwirklichkeit nach den Angaben in den Schulkatalogen der Volksschulen

Die statistische Auswertung der in der elektronischen Datenbank gesammelten Angaben aus den Schulkatalogen der von mir detailliert untersuchten Einrichtungen bestätigt die Entwicklung auf Grundlage der offiziellen statistischen Zahlen (vgl. Schematismus 1891, 1902; Statistisches Handbuch 1872-1912). Gleichzeitig erlauben die in den Schulkatalogen dokumentierten individuellen Daten jedoch eine genauere Differenzierung und Charakterisierung der potenziell bilingualen Sprecher, da Informationen zu Muttersprache, Religionsbekenntnis, Beruf des Vaters oder Geburtsort und die Leistungsbewertung im Fach Deutsch und ,Böhmisch‘ / Tschechisch pro Schüler und in Kombination enthalten sind. Unter Berücksichtigung der Unterrichtssprache der Einrichtung ist es dadurch möglich, die sozialen Zusammenhänge einer potenziellen deutsch-tschechischen und tschechisch-deutschen Zweisprachigkeit diachron und in Abhängigkeit von sprachpolitischen Rahmenbedingungen näher zu charakterisieren. Ausgangspunkt bildet gewissermaßen die Entscheidung der Eltern für einen bestimmten sprachlichen Rahmen, in dem das Kind seine Sekundärsozialisation erfahren soll und ob damit der Grundstock für einen möglichen Bilingualismus gelegt und gegebenenfalls gefestigt wird oder nicht. Gegenstand der Analyse sind zunächst die ,Angaben über die Sprache‘, d.h. die von den Schülern bzw. Eltern bei der Einschulung proklamierte Muttersprache des Zöglings, deren Angabe an den deutschen Schulen seit Mitte der 1880er Jahre erscheint, im Verhältnis zu den weiteren soziolinguistisch relevanten Parametern. Stellt man sich die Situation etwa am Tag der Einschreibung vor, so fungieren die Schulkataloge im Grunde als Niederschriften strukturierter Interviews, die in einem Fragebogen festgehalten werden. Eine solche Befragung wird mit Labov sprachwissenschaftlich als eine formale Situation interpretiert (vgl. Labov 1971: insb. 203-204), die vor dem Hintergrund diglossischer Verhältnisse in der Regel den Kodewechsel zur höheren Varietät, im Kontext der deutschen Volksschule also zum Deutschen, nach sich zieht. Dieser Wechsel kann sich durchaus auf die ,Angaben über die Sprache‘ auswirken. Daher stellt sich die Frage, in welchem Fall eine authentische Aussage der Schüler / Eltern zur Sprache anzunehmen ist. Die Angabe ,Tschechisch‘ als Muttersprache kann man, wie bereits Nekula (2003: 134-135) feststellt, als glaubwürdig akzeptieren. Denn im Kontext der deutschen Volksschule im Böhmen des ausgehenden 19. Jahrhunderts wäre ein Bekenntnis zur deutschen Muttersprache der erwartete, situationskonforme, neutrale, unmarkierte Regelfall.580 Mit Fishman gesprochen wendet sich der deutsche Kommunikationsteilnehmer (der Lehrer als Repräsentant der Institution ,deutsche Schule‘) an den zweiten Kommunikations580

Im Kontrast hierzu sind die Angaben zur Umgangssprache bei den Volkszählungen zu nennen (vgl. Kapitel 2.2.3.2: 84).

Institutionelle und individuelle Voraussetzungen des Bilingualismus

339

teilnehmer auf Deutsch (alle Informationen werden auf Deutsch dokumentiert), und zwar mit einer Frage nach der Sprache. In dieser formellen, auf Deutsch gestalteten Kommunikationssituation, macht der zweite Kommunikationsteilnehmer (Schüler, Eltern...) eine Aussage über die Sprache. Wenn unter diesen Bedingungen die Angabe ,Tschechisch / Böhmisch‘ erfolgt, dann ist dies eine bewusste, im Hinblick auf den oben angeführten Kontext, situationsnichtkonforme, markierte Aussage. Daher können die Schüler, die sich als tschechische Muttersprachler verstehen als solche auch verstanden werden. Dagegen ist unter den realen politischen Gegebenheiten in Prag und der Agitation des tschechisch dominierten Magistrats (vgl. Kapitel 4.3.1.2) zu vermuten, dass so mancher tschechischer Muttersprachler die im gegebenen Zusammenhang konforme Angabe macht und sich als Deutscher deklariert. Im Allgemeinen wird damit eine nur begrenzte Validität der quantitativen Ergebnisse in den Statistiken deutlich, die in der vorliegenden Untersuchung der Sprachkenntnisse der Schüler aber durch qualitative Aspekte bereichert werden können. In diesem Zusammenhang sind neben den bekennenden tschechischen Muttersprachlern auch die deklarierten Deutschen, die in ihren Leistungen im Fach Tschechisch sich an den Durchschnittsleistungen der tschechischen Muttersprachler messen lassen können, genauer zu betrachten.581 Diese haben nicht zwingend alle zur konformen Angabe Deutsch als Muttersprache gewechselt, sondern repräsentieren auch deutsche Muttersprachler mit tschechischen Zweitsprachkenntnissen.

5.3.1 5.3.1.1

Tschechischsprecher Leistungsbewertung

Im Zentrum der Analyse stehen zunächst die Schüler der ausgewählten dritten Klassen, die bei der Einschreibung Tschechisch als ihre Muttersprache angeben. Dass ihre Zahl an den Volksschulen mit deutscher Unterrichtssprache im Betrachtungszeitraum (ca. 1870 bis 1900) stark rückläufig ist, wurde bereits ausführlich dargestellt (vgl. Kapitel 4.3.1.3). Im Folgenden geht es vorrangig darum, den Grad der Sprachbeherrschung einzuschätzen und der Antwort auf die Frage, wie zweisprachig eine Person ist, unter Berücksichtigung der Noten in den Deutschfächern näher zu kommen. Die Gültigkeit der Angabe Tschechisch als Muttersprache bestätigen die erzielten Leistungen der deklarierten tschechischen Schulkinder an den deutschen Altstädter Volksschulen im relativ obligaten Wahlfach Tschechisch. Sie schneiden durchschnittlich deutlich besser ab als ihre deutschen Mitschüler/-innen (vgl. Tabelle 34: 346; Tabelle 35: 346).582 581 582

Dieser Kontext wurde bereits in Fleischmann (2007: 196-197) erfasst, auf Grund seiner Bedeutung für die folgende Analyse erscheint die wiederholte Darstellung jedoch gerechtfertigt. Ausnahmen hiervon bilden an der deutschen Altstädter Volksschule für Jungen die Schuljahre 1883/84 und 1894/95. Das Schuljahr 1883/84 stellt allerdings einen Sonderfall dar. Zum einen ist

340

Institutionelle und individuelle Voraussetzungen des Bilingualismus

An der deutschen Altstädter Volksschule für Jungen und jener für Mädchen sind die grundsätzlichen Tendenzen ähnlich. In ihrer Muttersprache verbessern sich die Noten der tschechischen Schulkinder zum Ende des Jahrhunderts (AS-VS Ju 1899/1900: 1.1, AS-VS Mä 1898/99: 1.2)583, in der Unterrichtssprache Deutsch dagegen verschlechtert sich das Niveau (AS-VS Ju 1899/1900: 3.6, AS-VS Mä 1898/99: 3.4). Im Vergleich hierzu ist bei den deutschen Muttersprachlern zwar auch eine Steigerung im Tschechischen festzustellen, im Fach Unterrichtssprache allerdings ändern sich die durchschnittlichen Jahresleistungen nicht. Die Anforderungen im relativ obligaten Wahlfach Tschechisch scheinen Ende des Jahrhunderts leichter zu bewältigen zu sein, während der Unterricht im Deutschen nicht für Deutsche, aber für Tschechen schwerer wird. Angesichts der politisch angeheizten Situation sind sprachnationale Ursachen nicht auszuschließen. Nachdem die Badenischen Sprachenverordnungen im Raum stehen und damit auch die Notwendigkeit einer schriftlichen Bestätigung über ein bestimmtes Niveau an tschechischen Sprachkenntnissen für den Staatsdienst und diese Bedingung sogar kurzzeitig obligat ist, dürfte das Wahlfach zweite Landessprache an den deutschen Schulen einen enormen Bedeutungsgewinn erfahren. Einerseits ist die Verbesserung durch ein verstärktes Bemühen der Schulkinder, sich das Tschechische anzueignen, erklärbar. Andererseits können auch Tschechischlehrer – staatliche Beamte an deutschen Institutionen – die Sicherung solcher Tschechischkenntnisse durch eine gutwillige Benotung in ihrem Fach vorantreiben oder – beispielsweise auch einer Anweisung ,von oben‘ folgend – schon die Bereitschaft, das Tschechische lernen zu wollen, positiv bewerten. Inwieweit nationale Faktoren die zunehmend schlechteren Leistungen der tschechischen Schulkinder in den Deutschfächern beeinflussen, ist schwer zu

583

nur die Muttersprache von weniger als der Hälfte der Schüler bekannt und zum anderen existiert in diesem Jahr neben „tschechisch“ und „deutsch“ auch die bilinguale Angabe „deutschtschechisch“ (bei sechs katholischen und sieben jüdischen Kindern), die in den folgenden Jahren im Zusammenhang mit der Muttersprache jedoch völlig verschwindet. Schließlich widerspricht eine derartige multiple Auslegung der Muttersprache der Ideologie des Sprachnationalismus. Im Schuljahr 1894/95 ist die Muttersprache aller bekannt und die Notenverteilung zwischen Tschechen (2.1) und Deutschen (1.9) im Fach Tschechisch erscheint dementsprechend paradox. Umso mehr, als einige der in ihrer Muttersprache schlecht abschneidenden Tschechen zuvor Volksschulen mit tschechischer Unterrichtssprache besuchten und in Prag oder tschechischsprachigen Gebieten geboren wurden und somit die Anforderungen des Tschechischunterrichts an der deutschen Altstädter Volksschule sicherlich meistern müssten. Das ebenfalls relativ schlechtere Abschneiden dieser Schüler in den Deutschfächern im Vergleich zu ihren tschechischen Schulkollegen deutet darauf hin, dass der Unterricht in der zweiten Landessprache für Deutsche und damit als Fremdsprachenunterricht konzipiert ist und zumindest fundamentale Deutschkenntnisse Vorraussetzung für gute Leistungen selbst von tschechischen Muttersprachlern sind (vgl. auch Fleischmann 2007: 198 Anm. 27). Auffällig ist an der Mädchenschule, dass in den Schuljahren 1889/90 und 1892/93 nur etwa zwei Drittel der tschechischen Muttersprachler den Tschechischunterricht besuchen, in den übrigen Jahren nähert sich die Quote den 100 Prozent. In den beiden Jahren ist das Durchschnittsniveau in Tschechisch geringfügig schlechter.

Institutionelle und individuelle Voraussetzungen des Bilingualismus

341

beurteilen. In jedem Fall kann diese Entwicklung als ein Hinweis auf die partielle Verdrängung der lange Zeit gesellschaftlich mächtigeren deutschen Sprache aus der tschechischen Nationalgemeinschaft interpretiert werden. Denn bis Mitte der 1880er Jahre ist die Durchschnittsleistung der Tschechen in den Deutschfächern nie schlechter als 2.5 (AS-VS Mä), bei den Jungen ist das Niveau generell etwas niedriger und übertrifft nach 1883/84 die 3.0 Marke nicht mehr.584 Im Gegensatz hierzu steht die Situation vor und kurz nach der Teilung der Universität, als zwar die Muttersprache nur weniger Schulkinder bekannt ist, aber dafür diese deklarierten Tschechen sich in ihren Leistungen kaum von den durchschnittlichen Leistungen aller Schulkinder unterscheiden und zum Teil sogar besser sind (AS-VS Ju: 1881/82: 2.3 ggü. 2.3, 1882/83: 2.1 ggü. 2.4; AS-VS Mä: 1880/81: 2.3 ggü 2.4). Demnach schlägt sich der Aufstieg der tschechischen Sprache als Nationalsymbol und seine Realisierung als anerkannte Wissenschaftssprache auch in einem relativ schlechteren Niveau der Deutschkenntnisse tschechischer Muttersprachler Ende des 19. Jahrhunderts nieder. Für die deutsche Volksschule der Piaristen (vgl. Tabelle 36: 347) ist leider die Muttersprache der Schüler erst ab dem Schuljahr 1893/94 verfügbar. Erstaunlich ist hier, dass die wenigen tschechischen Drittklässler sowohl 1893/94 als auch 1895/96 nicht nur in den Deutschfächern im Durchschnitt schlechter sind als ihre deutschen Schulkollegen, sondern auch im relativ obligaten Wahlfach Tschechisch, in ihrer Muttersprache (!).585 Zur Jahrhundertwende ist dagegen eine ähnli584

585

Ausnahme hiervon bildet das Jahr 1891/92, als der Durchschnitt der Tschechen in Deutsch nicht nur bei erstaunlichen 2.3 liegt, sondern auch nur 0.1 schlechter ist als bei den deutschen Muttersprachlern. Da weder die soziale noch die konfessionelle Zusammensetzung der Tschechen in diesem Schuljahr sich von den übrigen Jahren außerordentlich unterscheidet und gleichfalls Deutsche wie Tschechen und auch die Angehörigen der verschiedenen gesellschaftlichen Schichten durchgängig deutlich bessere Leistungen liefern, könnten neben den überdurchschnittlichen Drittklässlern dieses Schuljahres auch die beiden Klassenlehrer Matthias Beck und Johann Schuda zum hervorragenden Abschneiden beigetragen haben. Im Schuljahr 1893/94 ist das schlechte Abschneiden der tschechischen Muttersprachler auf familiäre Ursachen eines Schülers, Karl Krátký, zurückzuführen, die beiden anderen tschechischen Piaristenschüler, Franz Němec und Karl Žebrák, schließen jeweils mit 1.0 in Tschechisch ab. Karl Krátký ist als Waise bei einem Kostgeber untergebracht und wird von seinem Vormund während des Schuljahres, zum dritten Quartal, auf die Piaristenschule geschickt. Er wird in den Deutschfächern – mit Ausnahme von Schönschreiben und Lesen (3.0) – sowie in Rechnen und eben auch in Tschechisch in den beiden bleibenden Vierteljahren mit ,nicht ausreichend‘ bewertet. Auf Grund der niedrigen Zahl tschechischer Muttersprachler kann dieser Einzelfall, bei dem private Umstände vermutlich Auslöser für die allgemein schwachen Schulleistungen sind, nicht ausgeglichen werden. Grundsätzlich ist jedoch davon auszugehen, dass die tschechischen Schüler – wie die beiden obigen Beispiele zeigen – in ihrer Muttersprache auch im Schuljahr 1893/94 an der Piaristenschule besser abschneiden. Im Schuljahr 1895/96 ist das paradoxe Verhältnis der Noten in Tschechisch von deklarierten deutschen und tschechischen Muttersprachlern nicht offensichtlich. Von den sieben tschechischen Muttersprachlern sind vier im Fach Tschechisch schlechter als der Durchschnitt der deutschen Muttersprachler. Zwei davon sind katholischer und zwei mosaischer Religion, zudem stammen sie aus tschechisch- oder sogar gemischtsprachigen Geburtsorten. Diese vier tschechischen

342

Institutionelle und individuelle Voraussetzungen des Bilingualismus

che Entwicklung wie an den Altstädter Volksschulen zu erkennen: Die Jahresdurchschnittsnoten in Tschechisch fallen im Vergleich zu den Vorjahren außerordentlich gut aus. Im Unterschied zu den Altstädter Volksschulen trifft die positive Bewertung hier allerdings auch auf die Deutschnoten zu, sodass an der Piaristenvolksschule im Schuljahr 1898/99 das Niveau mit 1.5 in Tschechisch und 1.7 in den Deutschfächern das Beste, jemals Erzielte ist. Da das Fach Deutsch an den Institutionen mit deutscher Unterrichtssprache aufgeteilt auf mehrere Disziplinen gelehrt wird, ist es möglich, die Sprachkompetenzen der tschechischen Muttersprachler in ihrer Zweitsprache, dem Deutschen, differenziert zu betrachten. Grundlage bietet die Auswertung der Jahresdurchschnittsleistungen in den Deutschfächern Lesen, Sprachlehre, Rechtschreiben, schriftlicher Gedankenaustausch und Schreiben. Laut Lehrplan gilt es im Deutschunterricht generell Folgendes zu erreichen: ein „klares Verständnis der Mittheilungen anderer in der Unterrichtssprache; Fähigkeit, sich mündlich und schriftlich richtig und fließend auszudrücken; Fertigkeit im ausdrucksvollen Lesen des Gedruckten und Geschriebenen“ (Lehrpläne 1885: 67). Im Einzelnen werden im dritten Schuljahr folgende Anforderungen gestellt: L e s e n . Wie auf der vorigen Stufe mit gesteigerten Anforderungen [Neben der deutschen Druckschrift die lateinische. Lautrichtiges Lesen mit genauer Beachtung der Satzzeichen; Wort- und Sacherläuterungen; Wiedergabe des Gelesenen nach gestellten Fragen; Memorieren von passenden Musterstücken aus dem Lesebuche]. S p r a c h ü b u n g e n . Fortgesetze orthographische Übungen wie auf der vorigen Stufe [Rücksicht auf Dehnung, Schärfung, Silbentrennung und Großschreibung]. Der einfache Satz, Erweiterung desselben durch eine Beifügung, ausgedrückt durch ein Beiwort. Das Hauptwort, Zahlbiegung; das Eigenschaftswort beifügend, Steigerung; das persönliche Fürwort im 1. Fall der Ein- und Mehrzahl; das Zeitwort, Nenn- und Auslageform, die drei Hauptzeiten und die Mitvergangenheit; das bestimmte und unbestimmte Zahlwort. Wortbildung durch den Ablaut, durch Ableitung und Zusammensetzung. Schriftliche Übungen wie auf der vorigen Stufe [planmäßig geleitete Übungen im Abschreiben; Niederschreiben bekannter Wörter und Sätzchen aus dem Gedächtnisse und nach Dictaten]; außerdem schriftliche Wiedergabe kurzer Lesestücke nach gegebenen Fragen (Lehrpläne 1885: 67-68, Herv. i.O.). S c h r e i b e n . Ziel: Aneignung einer deutlichen und gefälligen Handschrift. [...] Fortgesetzte Übung der deutschen Currentschrift (Lehrpläne 1885: 72-73, Herv. i.O.).

Schüler schneiden auch in den Deutschfächern unterdurchschnittlich, auch schlechter als ihre tschechischen Schulkollegen, ab. Demnach könnte das Deutsche an der Piaristenvolksschule im Tschechischunterricht eine bedeutende Rolle spielen, insbesondere auch auf Grund der geringen Zahl an tschechischen Piaristenschülern, auf die im relativ obligaten Wahlfach Tschechisch, das offenbar als Fremdsprachenunterricht konzipiert ist (vgl. Nekula 2003: 146), kaum Rücksicht genommen wird. Hierfür sprechen ebenfalls die sehr guten Deutschnoten der tschechischen Schüler Němec (1.2) und Žebrák (1.4) im Schuljahr 1893/94. In Bezug auf eine ähnliche Situation an der deutschen Altstädter Volksschule für Jungen vgl. Anm. 582: 304.

Institutionelle und individuelle Voraussetzungen des Bilingualismus

343

Die eindeutig besten Leistungen werden allgemein und auch von den tschechischen Muttersprachlern an den drei deutschen Einrichtungen im Fach Lesen erzielt. Die Notenspanne des durchschnittlichen Gesamtniveaus an den deutschen Volksschulen reicht von 1.3 bis 2.3, bei den tschechischen Schülern586 von 1.5 bis 2.8. Im Gegensatz hierzu stehen die Lehrgegenstände Rechtschreiben und Sprachlehre, in denen die Ergebnisse allgemein, insbesondere aber bei den tschechischen Schulkindern deutlich schwächer sind.587 In beiden Fächern erreichen diese ab Mitte der 1880er Jahre bestenfalls noch die Note befriedigend588 mit zur Jahrhundertwende nochmals absinkender Tendenz. Ähnliches gilt für das Unterrichtsfach Schriftlicher Gedankenaustausch, in dem nur geringfügig bessere Leistungen erlangt werden.589 In Bezug auf das Fach Schreiben ist zu ergänzen, dass die tschechischen Muttersprachler hier oftmals besser abschneiden als ihre deutschen Mitschüler/-innen. Letztere scheinen dem (Schön-) Schreiben wenig Bedeutung beizumessen, denn sie erzielen hier im Vergleich zu den anderen Fächern die relativ schlechtesten Bewertungen. Dass die tschechischen Schulkinder im Fach Lesen gut abschneiden, sie entsprechend der Anforderungen des Lehrplanes Texte verstehen und inhaltlich wiedergeben können sowie phonetisch überzeugen, reflektiert ohne Zweifel die Präsenz des Deutschen in Prag. Auch wenn die böhmische Landeshauptstadt sich tendenziell immer mehr von einem gemischtsprachigen zu einem zweisprachigen Territorium mit weitgehend parallelen deutsch-tschechischen Strukturen entwickelt (vgl. Kapitel 3.2.1.2; Kapitel 3.2.2.2), ist der Prager Alltag im Zentrum der Stadt kaum rein deutsch oder tschechisch vorzustellen (vgl. auch Cohen 1981: 126-131). Vielmehr ist bei den tschechischen Muttersprachlern in Prag das Deutsche schon während der Primärsozialisation aktuell, zwar nicht in der engen Familie, aber in der nächsten Umgebung. Auf diese Weise werden für die mündliche Alltagskommunikation hinreichende Fertigkeiten entwickelt, die eine wirkungsvolle Verständigung erlauben. Die konkrete Lesekompetenz wird zwar erst in der Schule vermittelt, doch ist dank dieser natürlich erworbenen Vorkenntnisse der Nachteil der tschechischen Schüler gegenüber den deutschen Muttersprachlern bei der Sprachdekodierung (Lesen) geringer einzuschätzen als etwa bei der Sprachenkodierung (Schreiben). Denn erst die Konfrontation mit den Anforderungen der schriftlichen Kommunikation an sprachliche Ausarbeitung und sprachliche Rich586 587

588

589

Hier bezieht sich die Spanne der Jahresdurchschnittsleistung auf Jahrgänge mit mindestens sieben deklarierten tschechischen Schülern. Das Gesamtniveau der Jahresdurchschnittsleistungen bewegt sich in Rechtschreiben zwischen 1.7 und 3.2, in Sprachlehre zwischen 2.0 und 3.0, bei den tschechischen Muttersprachlern schwankt es in Rechtschreiben zwischen 1.9 und 4.0 und in Sprachlehre zwischen 2.4 und 4.0. Ausnahme hiervon bildet das Schuljahr 1891/92 an der deutschen Altstädter Volksschule für Jungen, als die Jahresdurchschnittsleistung der tschechischen Muttersprachler in deutscher Rechtschreibung und Sprachlehre jeweils gerade noch mit gut (2.4) bewertet werden kann. Die Notenspanne des Gesamtniveaus reicht im Fach Schriftlicher Gedankenaustausch von 1.8 bis 2.9, bei den tschechischen Schulkindern von 2.2 bis 4.0.

344

Institutionelle und individuelle Voraussetzungen des Bilingualismus

tigkeit deckt Einschränkungen im Wortschatz und eine Begrenztheit der verfügbaren grammatischen Muster auf. Im Fach Schriftlicher Gedankenaustausch haben die tschechischen Schüler theoretisch noch stärkeren Einfluss auf die Wahl der verwendeten Ausdrücke aus dem jeweils individuell vorhandenen Repertoire, sie erzielen hier durchschnittlich auch bessere Leistungen als in Sprachlehre und Rechtschreiben. In den schwachen ortographischen und grammatikalischen Sprachkompetenzen der tschechischen Schüler schlägt sich die Konzeption des Deutschunterrichts für Muttersprachler an den deutschen Volksschulen am stärksten nieder. In diesem Bereich wäre eine gesonderte Berücksichtigung der Bedürfnisse der tschechischen Schüler und eine auf den bereits vorhandenen tschechischen Muttersprachkenntnissen aufbauende Vermittlung der deutschen Grammatik von großem Vorteil. Insgesamt weisen die Noten der tschechischen Schulkinder in der Unterrichtssprache Deutsch darauf hin, dass sich der Bedeutungsgewinn der tschechischen Sprache gegen Ende des 19. Jahrhunderts und ein zumindest demographisch und lokalpolitisch bedingter Bedeutungsverlust der deutschen Sprache nicht nur in der geringeren Zahl tschechischer Muttersprachler an deutschen Volksschulen niederschlägt (vgl. Kapitel 4.3.1.3), sondern sich auch auf das Niveau der Deutschkenntnisse jener Schüler negativ auswirkt, die sich für Einrichtungen mit deutscher Unterrichtssprache entscheiden. Der individuelle tschechisch-deutsche Bilingualismus geht damit quantitativ wie qualitativ zurück. Zusammenfassend zeichnet die tschechischen Muttersprachler an den deutschen Altstädter Volksschulen ein von Beginn an asymmetrischer tschechischdeutscher Bilingualismus aus, dessen Ungleichgewicht sich im Laufe der Zeit klar verschärft. Entscheidend sind hier weniger die Leistungen im relativ obligaten Fach Tschechisch – also in ihrer Muttersprache, sondern insbesondere die deutlich schlechteren Bewertungen in der Unterrichtssprache, ihrer Zweitsprache, dem Deutschen. Nach der Etablierung der tschechischen Universität im Laufe der 1880er Jahre beginnt die Verschlechterung des Niveaus, das im Kontext der Badenischen Sprachenverordnungen ab Mitte der 1890er Jahre nochmals absackt. Der Erwerb des Deutschen als Zweitsprache ist Ende des 19. Jahrhunderts für die Tschechen an deutschen Volksschulen kein Automatismus mehr. Zieht man zudem in Betracht, dass diese in ihrer Muttersprache im einstündigen relativ obligaten Wahlfach Tschechisch kaum gefordert und gefördert werden, hat die tschechisch-deutsche Zweisprachigkeit nicht nur an ihrer Verbreitung, sondern auch an ihrem Niveau eingebüßt. Wie sind nun die deutschen Sprachkenntnisse der Tschechen an der tschechischen Volksschule ,U sv. Havla‘ (vgl. Tabelle 37: 347) einzuschätzen? Die durchschnittliche Bewertung sowohl im relativ obligaten Wahlfach Deutsch als auch in den obligaten Tschechischfächern fällt hier relativ schlechter aus, im Schuljahr 1899/1900 ist die Jahresdurchschnittsleistung in beiden Sprachen sogar nur noch befriedigend. Ein Vergleich zwischen den Noten der tschechischen Muttersprach-

Institutionelle und individuelle Voraussetzungen des Bilingualismus

345

ler an der tschechischen Volksschule in Deutsch und den Noten der deutschen Muttersprachler an den deutschen Volksschulen in Tschechisch zeigt, dass das relativ obligate Wahlfach Deutsch deutlich strenger als das relativ obligate Wahlfach Tschechisch bewertet wird. Anders als an den deutschen Einrichtungen verbessert sich an der Lehranstalt ,U sv. Havla‘ das Notenniveau in der zweiten Landessprache zur Jahrhundertwende keineswegs. Ganz im Gegenteil verschlechtern sich die durchschnittlichen Jahresleistungen in Deutsch im Laufe der 1890er Jahre (1893/94: 2.1, 1896/97: 2.3, 1899/1900: 2.6). Folglich wird das Wahlfach Deutsch zwar während des gesamten Betrachtungszeitraums von (fast) allen Schülern der tschechischen Volksschule ,U sv. Havla‘ besucht, allerdings deuten die Leistungsbewertungen ein Absinken des Niveaus der Deutschkenntnisse zur Jahrhundertwende an. Der gesteuerte Spracherwerb des Deutschen ist an den tschechischen Anstalten primär als Fremdsprachen- und nicht als Zweitsprachenerwerb zu deklarieren. Der Deutschunterricht in der tschechischen Institution ist ausschließlich an tschechische Schüler gerichtet und wird von tschechischen Lehrkräften gehalten. Mit der zunehmenden Bedeutung der tschechischen Sprache in der wirtschaftlichen, lokalpolitischen und kulturellen Prager Öffentlichkeit und der Herausbildung weitgehend sprachnational paralleler Infrastrukturen kann das Deutsche aus der Sozialisation der tschechischen Muttersprachler immer stärker ausgeblendet werden. Der natürliche Zweitspracherwerb des Deutschen in der Primärsozialisation wird dadurch gehemmt und etwaige Vorkenntnisse an Volksschulen mit tschechischer Unterrichtssprache nur bedingt gefördert. Somit ist bei den Schülern an tschechischen Volksschulen zunehmend von tschechischen Muttersprachkenntnissen und deutschen Fremdsprachen- statt Zweitsprachenkenntnissen auszugehen.

346

Institutionelle und individuelle Voraussetzungen des Bilingualismus

Tabelle 34: Deutsche Altstädter Volks- und Bürgerschule für Jungen – Schüler ausgewählter dritter Klassen nach ihrer Muttersprache und den Jahresdurchschnittsleistungen in Tschechisch und den Deutschfächern (ohne Schreiben)590 tschechisch

Muttersprache: Sprachunterricht:

deutsch Tsch.

n

Dt.

Gesamtniveau

Tsch.

n

Dt.

n

1875/76

1,3

1

3,4

1

n

Tsch.

n

Dt.

n

2,0

207

2,3

208

1878/79

2,0

1

3,3

1

2,0

2

1,9

2

1881/82

1,5

9

2,3

9

2,7

21

2,5

21

2,0

173

2,5

173

2,1

185

2,3

1882/83

1,9

12

2,1

12

2,2

26

2,0

26

186

2,2

187

2,4

187

1883/84

2,4

14

2,8

14

2,3

27

2,2

1884/85

1,6

35

3,0

35

2,3

79

2,3

27

2,2

136

2,3

137

79

2,0

118

2,5

1887/88

1,9

19

3,5

19

2,5

87

119

2,5

89

2,3

106

2,6

1889/90

2,0

27

3,1

27

2,3

108

56

2,4

56

2,1

83

2,6

1891/92

1,7

18

2,3

18

83

2,1

84

2,2

86

1,9

103

2,2

105

1894/95

2,2

18

3,6

1897/98

1,2

8

3,0

18

2,1

70

2,3

73

2,0

89

2,5

93

8

1,6

51

2,0

52

1,5

61

2,1

1899/1900

1,1

8

3,6

62

8

1,5

63

2,2

63

1,4

74

2,4

74

Quelle: Vgl. AHMP: Deutsche Volks- und Bürgerschule für Knaben, Altstadt. Schulkataloge 18751900; eigene Berechnung.

Tabelle 35: Deutsche Altstädter Volks- und Bürgerschule für Mädchen – Schülerinnen ausgewählter dritter Klassen nach ihrer Muttersprache und den Jahresdurchschnittsleistungen in Tschechisch und den Deutschfächern (ohne Schreiben) tschechisch

Muttersprache: Sprachunterricht:

Tsch.

n

Dt.

deutsch n

Tsch.

n

Dt.

Gesamtniveau Tsch.

n

Dt.

n

1871/72

n

1,8

123

2,2

124

1875/76

1,6

211

1,9

213

1878/79

1,8

179

2,2

179

1880/81

2,3

7

2,3

7

2,6

19

2,2

19

2,1

218

2,4

218

1881/82

1,3

2

1,7

2

1,6

21

1,6

21

1,8

199

2,1

204

2,2

199

2,5

201

1882/83

590

1883/84

1,5

51

2,5

59

2,1

82

2,1

84

1,9

172

2,3

192

1884/85

1,7

90

2,4

91

2,2

99

1,9

100

2,0

200

2,2

203

1886/87

1,7

50

2,8

52

2,2

77

2,3

82

2,0

127

2,5

134

1889/90

1,8

34

2,9

54

2,4

61

2,1

69

2,2

95

2,4

123

1892/93

1,8

27

2,6

40

1,9

75

1,8

82

1,9

102

2,1

122

1895/96

1,4

20

2,9

20

2,0

70

2,0

74

1,8

90

2,2

94

1897/98

1,8

22

3,2

22

2,2

53

2,5

53

2,1

75

2,7

75

1898/99

1,2

22

3,4

24

1,6

58

2,1

63

1,5

80

2,4

87

Das Fach ,Schreiben‘ wird bei der Berechnung der Jahresdurchschnittsleistung ausgeschlossen, da es im Wesentlichen um ,Schönschreiben‘ geht und dessen Relevanz für die Sprachkenntnis als gering eingeschätzt wird. Generell gilt für die Berechnung des Klassendurchschnitts je Schuljahr, dass bei Schülern, die mindestens ein Viertel- bzw. an den Gymnasien ein Halbjahr am jeweiligen Unterricht teilnahmen, aus praktischen Gründen der Durchschnitt dieser Leistung als durchschnittliche Jahresleistung in den Gesamtdurchschnitt der Klasse eingeht. Volksschulkinder, die beispielsweise in einem Vierteljahr wegen Krankheit nicht bewertet wurden, konnten auf diese Weise ohne große Umstände berücksichtigt werden. Zudem schwankt das Leistungsniveau eines Schulkindes in einem Fach im Laufes eines Schuljahres meist maximal zwischen zwei Noten.

347

Institutionelle und individuelle Voraussetzungen des Bilingualismus

Quelle: Vgl. AHMP: Deutsche Volks- und Bürgerschule für Mädchen, Altstadt. Schulkataloge 18711899; eigene Berechnung.

Tabelle 36: Deutsche Volksschule der Piaristen m. Ö. für Jungen – Schüler ausgewählter dritter Klassen nach ihrer Muttersprache und den Jahresdurchschnittsleistungen in Tschechisch und den Deutschfächern (ohne Schreiben) tschechisch

Muttersprache: Sprachunterricht:

n

Dt.

n

2,0

132

2,6

135

1873/74

1,7

138

2,3

138

1876/77

2,6

122

2,7

123

1878/79

2,0

90

2,1

90

1879/80

2,3

89

2,3

90

2,2

84

1,8

89

1881/82

2,1

83

2,3

88

1882/83

1,9

84

2,0

84

1883/84

1,8

80

1,9

80

1884/85

2,5

83

2,3

84

1

Dt.

2,3

n

1

Tsch.

3,0

n

1

Dt.

Gesamtniveau

1870/71

3,0

n

deutsch Tsch.

1880/81

Tsch.

2,5

n

1

1893/94

2,3

3

2,4

3

2,0

56

2,0

56

2,0

59

2,0

59

1895/96

2,6

7

2,9

7

2,1

57

2,1

57

2,3

72

2,3

72

1898/99

1,5

2

1,7

2

1,5

60

1,7

60

1,5

62

1,7

62

Quelle: Vgl. AHMP: Privat-Volksschule des Piaristenordens für Jungen m. Ö. Schulkataloge 18701899; eigene Berechnung.

Tabelle 37: Tschechische Volksschule ,U sv. Havla‘ für Jungen – Schüler ausgewählter dritter Klassen nach ihrer Muttersprache und den Jahresdurchschnittsleistungen in Deutsch und den Tschechischfächern (ohne Schreiben) tschechisch / Gesamtniveau

Muttersprache: Sprachunterricht:

Dt.

n

Tsch.

n

1875/76

2,1

50

2,4

53

1879/80

2,4

42

2,3

42

1883/84

2,3

70

2,2

76

1886/87

2,2

80

2,1

80

1888/89

2,7

81

2,5

82

1893/94

2,1

81

2,5

84

1896/97

2,3

77

2,6

78

2,6 76 2,7 79 1899/1900 Quelle: Vgl. AHMP: Česká obecná škola u sv. Havla. Schulkataloge 1875-1900; eigene Berechnung.

5.3.1.2

Religionsbekenntnis

Eine Differenzierung der tschechischen Muttersprachler nach dem Religionsbekenntnis zeigt zunächst, dass die überwiegende Mehrheit katholischen Bekenntnisses ist. An der Altstädter Volksschule für Mädchen bilden die jüdischen Tschechinnen maximal ein Drittel (vgl. Tabelle 39: 351), an der deutschen Piaristenvolksschule gibt – trotz der jüdischen Mehrheit an der Schule ab Mitte der 1880er Jahre (vgl. Abbildung 21: 278) – mit Ausnahme des Jahres 1895/96 keiner der

348

Institutionelle und individuelle Voraussetzungen des Bilingualismus

Juden die tschechische Muttersprache an (vgl. Tabelle 40: 351). An der deutschen Altstädter Volksschule für Jungen variiert die konfessionelle Verteilung unter den tschechischen Schülern am heftigsten, in den Schuljahren 1889/90 und 1891/92 ist sogar die Mehrheit der Tschechen mosaisch (vgl. Tabelle 38: 351). Generell ist demnach der tschechisch-deutsche Bilingualismus überwiegend katholisch geprägt. Das kurzzeitig verstärkte Auftreten unter den jüdischen Schulkindern Ende der 1880er und zu Beginn der 1890er Jahre an den Altstädter Einrichtungen ist zum einen mit der Migration tschechischer Juden nach Prag591 und zum anderen im Zusammenhang mit dem wachsenden Selbstbewusstsein und der Hebung der tschechischen Elite zu sehen. Dadurch wird ein Kontext geschaffen, in dem auch die Juden sich intensiver der tschechischen Seite zuwenden (vgl. Zahradníková 2004: 170). Unterstützung erfährt die tschechische Sprache im jüdischen Milieu zudem durch die tschecho-jüdische Bewegung, deren Aufschwung in den 1880er Jahren einsetzt, die noch Anfang der 1890er ihre politische Orientierung mit dem Gewinn der Jungtschechen bestätigt sieht und Mitte des Jahrzehnts ihren Höhepunkt erfährt (vgl. ebd.: 174). Der Besuch tschechischer Schulen zählt in der Bewegug als wichtigster Ansatzpunkt für die Akkulturierung an das Tschechentum (vgl. Kieval 1988: 25-27). Demnach kann der Rückgang der Zahl tschechischer Juden an den deutschen Altstädter Volksschulen in der Hochphase des Tschechojudentums zum Teil auch durch den Schulwechsel der – nicht dem bildungsbürgerlichen, deutsch geprägten Judentum angehörenden – Abkömmlinge an Einrichtungen mit tschechischer Unterrichtssprache erklärt werden. Hierfür spricht auch die Gesamtzahl jüdischer Schüler an tschechischen Volksschulen in Prag im Jahr 1900, denn im Vergleich zur Erhebung im Jahr 1890 hat sich die Zahl der Juden dort um mehr als 200 Prozent gesteigert, während an den deutschen Einrichtungen die Zahl jüdischer Kinder um mehr als zehn Prozent sinkt (vgl. Schematismus 1891, 1902). Unter Umständen ist diese Entwicklung zur Jahrhundertwende, als die Erhebungen für den Schematismus der Volksschulen durchgeführt werden, bereits wieder etwas gedämpft, wie dies auch das erneute leichte Anwachsen der jüdischen Schülerinnen an der Altstädter deutschen Volksschule andeutet. Denn mit der Radikalisierung der politischen Szene, der Aufnahme antisemitischer Parolen in politische Parteiprogramme, wirtschaftlichen Boykottaufrufen und gewalttätigen Ausschreitungen erfolgt auf tschecho-jüdischer Seite spätestens nach der Hilsner-Affäre 1899 mit der Inszenierung eines Ritualmordprozesses, eine gewisse Ernüchterung (vgl. Zahradníková 2004: 186). Von einer absoluten Kehrtwendung der bereits stark assimilierten Tschechojuden ist sicherlich nicht auszugehen, allerdings von einer gedämpften oder sogar verlorenen Euphorie für das Tschechentum, die bei 591

Der Anstieg tschechischer Muttersprachler aus tschechischsprachigen Gebieten (vgl. Tabelle 42: 304) wird vorrangig durch jüdische Schüler verursacht, so sind 1889/90 sechs von zehn, 1891/92 vier von vier und 1894/95 sechs von acht Jungen aus Gebieten mit fast nur tschechischsprachiger Bevölkerung mosaischen Glaubens.

Institutionelle und individuelle Voraussetzungen des Bilingualismus

349

der entsprechenden sprachlichen Voraussetzung durchaus die Schulwahl zugunsten der deutschen Volksschule lenken konnte. In Bezug auf das sprachliche Niveau zeigt der Bilingualismus katholischer und jüdischer Tschechen unterschiedliche Tendenzen. Im relativ obligaten Wahlfach Tschechisch schneiden die katholischen Schulkinder meist besser ab oder zumindest ebenfalls sehr gut, wenn der Durchschnitt der jüdischen Tschechen nur auf einzelnen, sehr guten Schülern beruht (z.B. AS-VS Ju 1897/98, 1899/1900, ASVS Mä 1895/96, vgl. Tabelle 38: 351 und Tabelle 39: 351). In den Deutschfächern dagegen erlangen die jüdischen Tschechen immer bessere Noten als ihre katholischen Mitschüler/-innen.592 Zum Teil sind sie in den Deutschfächern sogar besser als in ihrer deklarierten Muttersprache (z.B. AS-VS Ju 1882/83, AS-VS Mä 1880/81, 1883/84, VS PS 1895/96). Ferner ist die Notendifferenz bei den jüdischen Tschechen in den beiden Sprachen durchgehend593 und deutlich geringer als bei den katholischen Tschechen.594 Gleiches gilt für die jüdischen Tschechen an der tschechischen Volksschule ,U sv. Havla‘ (vgl. Tabelle 41: 352), die nur vereinzelt und erst im Laufe der 1890er

592

593 594

Ausnahme hiervon bildet das Schuljahr 1887/88 an der deutschen Altstädter Volksschule für Jungen, als die fünf jüdischen Tschechen nur einen Durchschnitt von 3.7, die 14 katholischen Schüler von 3.4 in den Deutschfächern erzielen. Von den fünf Juden ist nur einer besser als der katholische Durchschnitt und zwar Emil Rosenberg mit 2.8, er besucht die deutsche Altstädter Volksschule ab dem Schuljahr 1886/87 und muss dem Alter nach – er wurde 1883/84 eingeschult – bereits eine Klasse wiederholt haben. Entsprechend dem üblichen Vorgehen der Zurückstufung tschechischer Kinder könnte dies durchaus auch die dritte Klasse an der Altstädter Volksschule sein. Die vier anderen Knaben besuchen die Altstädter Volksschule erst ab dem Schuljahr 1887/88 oder kommen sogar erst im Laufe des Schuljahres hinzu. Keiner der fünf Knaben ist in Prag geboren und keiner lebt bei seinem leiblichen Vater. Die sehr guten Leistungen in Tschechisch lassen vermuten, dass die Jungen zuvor tschechische Volksschulen oder eine der letzten jüdischen Privatschulen mit tschechischer Unterrichtssprache in einer ,rein‘ tschechischsprachigen Region besuchten und nach deren Schließung oder allgemein zum besseren Deutschlernen ,in die Stadt‘ auf die deutsche Schule geschickt werden. Ausnahmen hiervon bilden die Schuljahre 1884/85 und 1887/88 an der deutschen Altstädter Volksschule für Jungen und 1880/81 an der für Mädchen. Am Beispiel der deutschen Altstädter Volksschule ist zu ergänzen, dass grundsätzlich gilt, wenn die Schüler in den Deutschfächern mit einer Zwei oder besser abschneiden, sie auch in Tschechisch eine Eins vor dem Komma erreichen. Zu dieser Vorzugsgruppe unter den deklarierten Tschechen gehören über den gesamten Betrachtungszeitraum absolut 16 katholische und 15 jüdische Schüler, die relativ gesehen jedoch nur 13 Prozent der katholischen, aber ein Drittel der jüdischen Tschechen ausmachen. Dabei erzielen die Juden durchschnittlich geringfügig bessere Ergebnisse (in Deutsch um 0.2, in Tschechisch um 0.1 Notenpunkte). Unter den restlichen tschechischen, Nicht-Vorzugs-Schülern, sind die durchschnittlichen Leistungen in Deutsch identisch, in Tschechisch dagegen ist die katholische Gruppe um 0.4 Notenpunkte besser. Demnach sind für alle katholischen Tschechen stabile Kenntnisse in ihrer Muttersprache bezeichnend, während bei den Juden dies v.a. auf die allgemein guten Schüler zutrifft, diese Gruppe aber relativ groß ist.

350

Institutionelle und individuelle Voraussetzungen des Bilingualismus

Jahre in Erscheinung treten.595 Allerdings ist hier die durchschnittliche Notendifferenz zwischen Deutsch und Tschechisch auch bei den katholischen Schülern relativ gering, in den 1890er Jahren sind zudem ihre Leistungen in Deutsch besser als in den obligaten Tschechischfächern. Im Vergleich zu den jüdischen Schülern ist das Niveau jedoch geringer, im Deutschen liegen die katholischen Schüler zwischen Zwei und Drei, die jüdischen zwischen Eins und Zwei. Dieser auffällige Unterschied lässt vermuten, dass zumindest vereinzelt doch auch an den tschechischen Volksschulen potenziell Bilinguale zu finden sind, und zwar vorrangig in der Schülerschaft mit jüdischem Religionsbekenntnis. Insgesamt ergibt sich damit unter Berücksichtigung der konfessionellen Verhältnisse für den Bilingualismus der Tschechischsprecher an den deutschen Volksschulen folgendes Profil. Der tschechisch-deutsche Bilingualismus ist während des gesamten Betrachtungszeitraums trotz der jüdischen Mehrheit an den ausgewählten Einrichtungen vorwiegend katholisch geprägt, nur Ende der 1880er Jahre wird diese Dominanz durch eine bedeutende Anzahl jüdischer Tschechen geschwächt. Diese verhindert – zumindest an der Altstädter Volksschule für Jungen – ein noch abrupteres Absinken der tschechisch-deutsch Bilingualen infolge des einschneidenden Rückgangs an katholischen Tschechen. In beiden konfessionellen Gruppen ist die Zweisprachigkeit analog zur Angabe der Muttersprache asymmetrisch tschechisch-deutsch. Jedoch zeigen Einzelfälle sowie die allgemeine Tendenz, dass unter den jüdischen Tschechen die Sprachkenntnisse ausgeglichener sind. Zum einen sind sie in ihrer deklarierten Muttersprache kaum schlechter als die katholischen Tschechen, zum anderen übertreffen sie diese aber in den Deutschfächern deutlich. Während ihr Notendurchschnitt hier zwischen Zwei und Drei liegt, erreichen die katholischen Tschechen insbesondere ab Mitte der 1880er Jahre kein besseres Ergebnis mehr als eine Drei, meist sogar nur eine Vier.596 Den tschechisch-deutschen Bilingualismus der katholischen Schüler kennzeichnet damit eine starke Asymmetrie, die sich im Laufe der Zeit verstärkt. Der tschechisch-deutsche Bilingualismus der jüdischen Schüler ist quantitativ nicht sehr weit verbreitet, qualitativ jedoch charakterisiert ihn ein höheres Niveau und eine geringere Asymmetrie der Sprachkenntnisse.

595

596

Im Schuljahr 1899/1900 ist vorrangig der Schüler Eugen Vonásek für die schlechte Jahresdurchschnittsleistung der jüdischen Schüler verantwortlich. Er erreicht auch das Klassenziel nicht und wird für den Aufstieg in die nächst höhere Stufe als „nicht geeignet“ erklärt. Ausnahme bildet hier das Schuljahr 1898/99 an der (elitären) deutschen Piaristenvolksschule. Die beiden katholischen Tschechen schneiden in den Deutschfächern mit einer ausgezeichneten 1.7 ab. Allerdings zeigt eine differenzierte Analyse der beiden aus der Oberschicht stammenden Knaben, Ferdinand Opitz und Eugen Lenz, dass es sich – zumindest bei Ersterem um einen Ausnahmeschüler handelt, er erzielt in Tschechisch die Note 1.3 und in Rechnen 1.0.

351

Institutionelle und individuelle Voraussetzungen des Bilingualismus

Tabelle 38: Deutsche Altstädter Volks- und Bürgerschule für Jungen – tschechische Schüler ausgewählter dritter Klassen nach ihrem Religionsbekenntnis und den Jahresdurchschnittsleistungen in Tschechisch und den Deutschfächern (ohne Schreiben) 1875/76

1878/79

1881/82

1882/83

1883/84

1884/85

1887/88

1889/90

1891/92

1894/95

1897/98

1899/1900

Sprachunterricht: Tsch. Dt. Tsch. Dt. Tsch. Dt. Tsch. Dt. Tsch. Dt. Tsch. Dt. Tsch. Dt. Tsch. Dt. Tsch. Dt. Tsch. Dt. Tsch. Dt. Tsch. Dt. katholisch

jüdisch

1,3

3,4

2,0

1

n

3,3

1,5

1

2,3

1,8

9

2,2

2,3

9 2,1

1,9

2,8

3

n

2,8

12

1,7

3,0

1,9

32 2,8

2

1,2

3,4

1,8

14 2,7

1,6

3

3,2

1,6

13 3,7

2,2

5

2,5

2,2

8 2,9

1,8

14

4,0

1,2

10 2,1

2,3

10

3,3

1,2

7 3,2

1,0

8

4,0 6

1,5

1,0

1

2,2 2

Quelle: Vgl. AHMP: Deutsche Volks- und Bürgerschule für Knaben, Altstadt. Schulkataloge 18751900; eigene Berechnung.

Tabelle 39: Deutsche Altstädter Volks- und Bürgerschule für Mädchen – tschechische Schülerinnen ausgewählter dritter Klassen nach ihrem Religionsbekenntnis und den Jahresdurchschnittsleistungen in Tschechisch und den Deutschfächern (ohne Schreiben) 1880/81

1881/82

1883/84

1884/85

1886/87

1889/90

1892/93

1895/96

1897/98

1898/99

Sprachunterricht: Tsch. Dt. Tsch. Dt. Tsch. Dt. Tsch. Dt. Tsch. Dt. Tsch. Dt. Tsch. Dt. Tsch. Dt. Tsch. Dt. Tsch. Dt. katholisch jüdisch sonstige und k. A.

2,2

2,3

1,3

5

n 2,5

1,7 2

2,1 2

n

1,5

2,5

1,7

2,4

1,7

2,9

1,8

3,2

1,8

2,7

48

56

81

82

39

41

22

39

20

31

1,7

1,6

1,8

1,8

1,7

2,5

1,9

2,3

1,9

2,2

14

7

3

8 2,8

11

12

4,0 1

n

8

3,1

2,3

1

1

1,4

3,0

1,8

19 1,0

3,7

14 2,1

1,5

1

17

2,3

1,0

2,5

3,1

1,0

6 2,1

6

2

katholisch jüdisch

n

1893/94

Tsch.

Dt.

Tsch.

Dt.

Tsch.

Dt.

Tsch.

Dt.

3,0

2,3

2,3

2,4

2,3

3,2

1,3

1,7

1

3

4 2,8

n

1898/99

1895/96

2 2,6

3

Quelle: Vgl. AHMP: Privat-Volksschule des Piaristenordens für Jungen m. Ö. Schulkataloge 18701899; eigene Berechnung.

3,3 1

Tabelle 40: Deutsche Volksschule der Piaristen m. Ö. für Jungen – tschechische Schüler ausgewählter dritter Klassen nach ihrem Religionsbekenntnis und den Jahresdurchschnittsleistungen in Tschechisch und den Deutschfächern (ohne Schreiben) 1880/81

3,7

15

Quelle: Vgl. AHMP: Deutsche Volks- und Bürgerschule für Mädchen, Altstadt. Schulkataloge 18711899; eigene Berechnung.

Sprachunterricht:

1,3

352

Institutionelle und individuelle Voraussetzungen des Bilingualismus

Tabelle 41: Tschechische Volksschule ,U sv. Havla‘ für Jungen – Schüler ausgewählter dritter Klassen nach ihrem Religionsbekenntnis und den Jahresdurchschnittsleistungen in Deutsch und den Tschechischfächern (ohne Schreiben) 1875/76 Sprachunterricht: T sch. katholisch

jüdisch sonstige und k. A.

n

1879/80

1883/84

1886/87

1888/89

1896/97

1899/1900

T sch.

D t.

T sch.

D t.

T sch.

D t.

T sch.

D t.

T sch.

D t.

T sch.

D t.

T sch.

D t.

2,4

2,2

2,3

2,4

2,2

2,3

2,2

2,3

2,5

2,7

2,5

2,1

2,6

2,3

2,7

2,6

51

48

73

67

79

78

72

69

1,0

2,9

2,0

39

76

83

80

1,0

1,0 1

n 2,2 n

1893/94

D t.

1,1 2

2,3

2,7 3

2,6

3,0

1,8

2

1,9 4

2,4

2,5 3

74 1,2 3

2

2,6

2,5

3 2,7

1

2,9 4

Quelle: Vgl. AHMP: Česká obecná škola u sv. Havla. Schulkataloge 1875-1900; eigene Berechnung.

5.3.1.3

Sprachlich-territoriale Herkunft

In der allgemeinen Präsentation des Materials (vgl. Kapitel 5.1.3.1.3) wurde bereits deutlich, dass der Großteil der Schülerschaft an allen untersuchten Institutionen aus Prag stammt. Dieses Übergewicht an gebürtigen Pragern trifft auch auf die tschechischen Muttersprachler zu. Ihre Leistungen dominieren den Durchschnitt in Tschechisch und Deutsch auf Seite der deklarierten Tschechen. So weicht an der deutschen Altstädter Volksschule für Jungen (vgl. Tabelle 42: 355) die durchschnittliche Jahresnote der tschechischen Prager kaum vom jährlichen Niveau aller tschechischen Muttersprachler ab. Gleichzeitig brillieren die in Prag, einem gemischtsprachigen Territorium geborenen Schüler im Sprachunterricht nicht besonders auffällig. Im Schuljahr 1884/85 erzielen sie sogar die schlechtesten Ergebnisse in Tschechisch. Dagegen überzeugen sie 1887/88, 1891/92 und 1897/98 mit überdurchschnittlichen Leistungen in den Deutschfächern.597 Die relative Auswirkung der sprachlichen Verteilung im Geburtsort auf die Sprachkenntnisse der Schulkinder ist wegen der fehlenden Vergleichsgruppe schwer festzustellen, da kaum Knaben aus ,rein‘ deutschsprachigen Orten kommen. Zudem schneiden diese wenigen Tschechen in den Deutschfächern nicht bzw. nur geringfügig besser ab als ihre übrigen tschechischen Mitschüler.598 Allerdings deutet der meist hervorragende Jahresdurchschnitt der Tschechen aus tschechischsprachigen Orten im relativ obligaten Wahlfach Tschechisch und ihre meist unterduchschnittlichen Ergebnisse in Deutsch einen gewissen Zusammenhang an. Hervorzuheben ist hier auf der einen Seite das Schuljahr 1894/95, als sie einen Anteil von mehr als zwei Fünftel bilden und die Prager in Tschechisch um 0.9 Notenpunkte übertreffen. Auf der anderen Seite stehen die Schuljahre 1887/88 597

598

Der Vergleich zwischen den jährlichen Durchschnittsleistungen unter Berücksichtigung der sprachlichen Verteilung im Geburtsort beschränkt sich auf die Schuljahre 1883/84 bis 1899/1900, da nur hier eine relevante Bezugsgruppe für die Prager Schüler existiert. Änliches gilt für die Schüler aus gemischtsprachigen Gebieten, deren Anzahl ebenfalls sehr gering ist und die zwar im Schuljahr 1889/90 mit den besten Leistungen in Tschechisch (1.3) und zweitbesten Leistungen in Deutsch (2.5) überzeugen, genauso aber die durchschnittlich schlechtesten Leistungen abliefern können, wie etwa 1894/95 und 1897/98 (Tabelle 42: 304).

Institutionelle und individuelle Voraussetzungen des Bilingualismus

353

sowie 1889/90, in denen sie ebenfalls einen ansehnlichen Teil der Schülerschaft stellen, in Tschechisch sehr gut bis durchschnittlich abschneiden, in den Deutschfächern aber die vergleichsweise schlechteste Leistung erbringen. Eine generelle Abhängigkeit zwischen sprachlicher Verteilung im Geburtsort und den bewerteten Sprachkenntnissen ist an der deutschen Altstädter Jungenschule jedoch nicht zu erkennen. An der deutschen Altstädter Volksschule für Mädchen herrscht eine ähnliche Situation. Wiederum lässt das Übergewicht der Prager Schülerinnen nur ansatzweise Relationen zwischen der Ausprägung des Bilingualismus und der sprachlichen Verteilung im Geburtsort feststellen (vgl. Tabelle 43: 355).599 Eine gewisse Ausnahme bilden die Schuljahre 1884/85, 1889/90 und 1892/93, als die Mädchen aus tschechischsprachigen Orten je einen Anteil von mindestens einem Fünftel der tschechischen Schülerschaft bilden. Im Vergleich mit den übrigen sprachlichterritorial definierten Gruppen zeichnet sich ein etwas verwunderliches Bild ab, denn die durchschnittlichen Jahresleistungen der Tschechinnen mit tschechischem Geburtsort liegen im Fach Tschechisch (1.9, 2.1, 2.0) unter dem jeweiligen Durchschnitt der tschechischen Muttersprachler aus Prag (1.7, 1.7, 1.7) und aus gemischtsprachigen Gegenden (1.5, 1.6, 1.9). In den Deutschfächern dagegen erzielen sie keine deutlich schlechteren Ergebnisse (2.5, 2.9, 2.9) als Schülerinnen aus Prag (2.4, 3.0, 2.6) und zum Teil auch aus deutsch- und gemischtsprachigen Gegenden. Die Situation im Fach Tschechisch erscheint umso paradoxer, denn die Mädchen aus ,rein‘ tschechischsprachigen Gebieten sollten doch ihre Muttersprache beherrschen. Grund hierfür könnte sein, dass das Deutsche als Vermittlungssprache im Tschechischunterricht sich nachteilig für tschechische Muttersprachler gegenüber ihren deutschsprachigen Schulkolleginnen nachteilig auswirkt und hier insbesondere für solche aus überwiegend tschechischsprachigen Landesteilen. In den auffälligen Schuljahren 1889/90 und 1892/93 besucht jeweils etwa ein Drittel der tschechischen Muttersprachlerinnen aus Prag und den tschechischsprachigen Gebieten nicht den Unterricht im Tschechischen. Die Noten in den Deutschfächern dieser Mädchen liegen unter dem Durchschnitt aller tschechischen Mädchen, sodass es sich keinesfalls um besonders gute Schülerinnen handelt. Vorstellbar ist, dass diese Mädchen bzw. ihre Eltern einen Unterricht in ihrer Muttersprache, der primär als Fremdsprachenunterricht konzipiert ist und auf die Bedürfnisse deutscher Muttersprachlerinnen eingeht, boykottieren. Die relativ schlechten Leistungen der ,echten‘ (katholischen) Tschechinnen aus tschechischsprachigen Gebieten, die am Wahlfach teilnehmen, demonstrieren gerade eine solche Benachteiligung. Denn Ende der 1880er und Anfang der 1890er zählen ihre Eltern bereits zur Generation, die vom Aufschwung im tschechischsprachigen 599

Vor diesem Hintergrund erscheint auch eine separate Betrachtung der Schüler aus deutsch- und gemischtsprachigen Gebieten nicht sinnvoll. Bei einer Ausgangsbasis von nur einzelnen Schülern dominieren primär die jeweiligen individuellen Begabungen, allgemeingültige Relationen sind nicht verifizierbar.

354

Institutionelle und individuelle Voraussetzungen des Bilingualismus

Bildungssektor profitieren konnte, zudem wechselten die Schülerinnen zum Teil selbst von tschechischen Landschulen an die deutsche Altstädter Volksschule und sollten deshalb der eigenen Muttersprache mächtig sein. Zudem deutet der Notenunterschied zwischen den katholischen und jüdischen Tschechinnen aus tschechischsprachigen Gebieten auf die Rolle der deutschen Sprache im Tschechischunterricht hin. Denn diese sechs tschechischen Jüdinnen erreichen mit 2.0 (1889/90) sogar den Durchschnitt der deutschen Muttersprachler in Deutsch (vgl. Tabelle 35: 346) und mit 1.9 in Tschechisch ein bedeutend besseres Niveau als ihre acht katholischen Mitschülerinnen, die in ihrer Muttersprache nur mit kläglichen 2.3 abschneiden und in den Deutschfächern mit 3.5 knapp das Klassenziel erreichen. Schlussfolgernd ist festzustellen, dass an der deutschen Altstädter Volksschule die Gestaltung und Ausrichtung des Wahlfaches Tschechisch auf Schulkinder mit deutscher Muttersprache die Förderung tschechischer Kinder nicht berücksichtigt, nicht im Deutschunterricht, aber auch nicht im Unterricht in ihrer Muttersprache. Tschechische Muttersprachler in ,rein‘ tschechischsprachigen Gebieten geboren, die ohne profunde deutsche Sprachkenntnisse auf Einrichtungen mit deutscher Unterrichtssprache geschickt werden, wie dies oft von tschechischen Politikern beklagt wird, laufen durchaus Gefahr eines nur partiellen Spracherwerbs im Deutschen wie im Tschechischen. Insbesondere auf tschechische Kinder katholischen Bekenntnisses treffen diese Anzeichen einer gewissen Semilingualität zu. An der deutschen Volksschule der Piaristen erschwert die geringe Anzahl der deklarierten tschechischen Muttersprachler eine eigenständige Analyse. Allerdings unterstützen die schlechten Leistungen der Tschechen in ihrer Muttersprache die getroffenen Vermutungen. Selbst die Tschechen aus tschechischsprachigen Gebieten reichen mit 2.4 im Schuljahr 1895/96 nicht an das Niveau 2.1 der Deutschen im Wahlfach Tschechisch heran (vgl.Tabelle 36: 347; Tabelle 44: 356). Beim Fremdsprachenunterricht in Deutsch an der tschechischen Volksschule ,U sv. Havla‘ (vgl. Tabelle 45: 356) ist kein Vorteil der Schüler aus Gebieten mit deutschsprachigen Bewohnern zu erkennen. Ganz im Gegenteil zählen die Kinder aus ,rein‘ tschechischsprachigen Geburtsorten, denen die deutsche Sprache erwartungsgemäß am unbekanntesten sein dürfte, meist zu den besten Schülern in Deutsch (1875/76: 1.9; 1883/84: 2.2; 1886/87: 2.1; 1888/89: 2.3; 1893/94: 2.1; 1899/1900: 2.4)600. Lediglich in den Schuljahren 1879/80 (3.2) und 1896/97 (2.7) sind sie deutlich schlechter als der Durchschnitt (2.4 bzw. 2.3). Die Schüler aus Prag dominieren das Notenniveau auf Grund ihrer zahlenmäßigen Überlegenheit und schwanken in Deutsch während des gesamten Betrachtungszeitraums nur zwischen 2.1 und 2.7. Im Gegensatz hierzu stehen die Kinder mit territorialgemischtsprachiger Herkunft, sie erzielen sowohl hervorragende Leistungen (z.B. 600

Schüler aus deutschsprachigen Gebieten und ohne Angabe zum Geburtsort erbringen teilweise zwar bessere Leistungen, auf Grund ihrer geringen Zahl von maximal vier Schülern laufen sie jedoch außer Konkurrenz.

355

Institutionelle und individuelle Voraussetzungen des Bilingualismus

1896/97: 1.8) als auch die schwächsten Ergebnisse (z.B. 1888/89: 3.4). Insgesamt zeigen die Leistungen der Schüler unter dem Aspekt der sprachlichen Verteilung im Geburtsort im Zeitablauf keinen prägnanten Verlauf, mal stammen die relativ besten Schüler in Deutsch aus tschechischsprachigen, mal aus gemischtsprachigen Gegenden. Damit scheint das weitere sprachliche Umfeld in der Primärsozialisation kaum Auswirkungen auf die Leistungen im relativ obligaten Wahlfach Deutsch zu haben, unter Umständen auch deshalb, weil ein direkter früher Sprachkontakt nicht stattfindet. Tabelle 42: Deutsche Altstädter Volks- und Bürgerschule für Jungen – tschechische Schüler ausgewählter dritter Klassen nach der sprachlich-territorialen Herkunft und den Jahresdurchschnittsleistungen in Tschechisch und den Deutschfächern (ohne Schreiben) 1875/76

1878/79

1881/82

1883/84

1882/83

1884/85

1887/88

1889/90

1891/92

1894/95

1897/98 1899/1900

Sprachunterricht: Tsch. Dt. Tsch. Dt. Tsch. Dt. Tsch. Dt. Tsch. Dt. Tsch. Dt. Tsch. Dt. Tsch. Dt. Tsch. Dt. Tsch. Dt. Tsch. Dt. Tsch. Dt. 2,0

deutschsprachig

n

gemischtsprachig

n

3,3

2,0

1 2,0

sonstige und k. A.

2,7

1,3

1 1,0

tschechischsprachig n Prag

1,3 3,4

2,4

1,5

1

3,1

2,0

2 1,0

1,4

1

n

3,4

2,3

1

2,4

1 2,2

2,0

7

2,6

1,2

4 2,2

2,4

11

2,9

2,9

1,8

10

1,5

3,0

1,0

3,8

2,0

1,3

2,4

3,3

3,4

2,0

1,9

4,3

3,1

2,0

2,3

1,7

4 1,8

9

1

4,1

1,3

1

10 3,3

1,0

2,1 1

2,5

2,2

12

1

1,5

3

4

27

n

3,6 1

5

3,3 2

2,3

2,2

1,3

3,0

1,0

8 2,6

11

3

3,7 2 2,9 3

4,1

1,1

9

2,8

1,2

6

3,9 5

2,9 2

Quelle: Vgl. AHMP: Deutsche Volks- und Bürgerschule für Knaben, Altstadt. Schulkataloge 18751900; eigene Berechnung.

Tabelle 43: Deutsche Altstädter Volksschule für Mädchen – tschechische Schülerinnen ausgewählter dritter Klassen nach der sprachlich-territorialen Herkunft und den Jahresdurchschnittsleistungen in Tschechisch und den Deutschfächern (ohne Schreiben) 1880/81 Sprachunterricht: Tsch. deutschsprachig gemischtsprachig

sonstige und k. A.

1881/82 Tsch.

Dt.

1883/84

2,8

2,1 1

2,2

n

2,3 6

1,3

1,7 2

1886/87

1889/90

1892/93

Dt.

Tsch.

Dt.

Tsch.

Dt.

Tsch.

Dt.

Tsch.

Dt.

1,7

2,4

2,0

2,8

1,8

3,2

1,8

2,8

3,0

1,9

1,8

2,7

1,5

2,2

1,0

1,9

1,6

2,9

1,9

2

3

2

3

1,9

2,1

2,1

2,9

2,0

2,9

6

7

14

18

6

10

1,4

2,5

1,7

3,0

1,7

2,6

3

n

n

1884/85

Tsch.

n

tschechischsprachig n Prag

Dt.

2

2

2 1,9

2 2,5

1,2

20 1,7

1

2,4 6

2,4

1,8

2,9

2,2

43

61

62

37

39

14

29

15

23

1,5

2,3

1,8

2,7

1,7

2,9

2,0

3,0

1

2

3

3,6

1897/98 Tsch.

Dt.

1898/99 Tsch.

Dt.

1,3

4,0

1

2,6

3

1,3

4

37

5

Dt.

1

1,3 3

1895/96 Tsch.

1,0

2 1,6

2,1

1 1,5

3,0

1,7

2,6

1,6

16 1,0 2

4,9 3

1,0

3,1

4

5

3,1

1,3

3,4

15

16

2,7

1,0

3,4

15 4

Quelle: Vgl. AHMP: Deutsche Volks- und Bürgerschule für Mädchen, Altstadt. Schulkataloge 18711899; eigene Berechnung.

1

356

Institutionelle und individuelle Voraussetzungen des Bilingualismus

Tabelle 44: Deutsche Volksschule der Piaristen m. Ö. für Jungen – tschechische Schüler ausgewählter dritter Klassen nach der sprachlich-territorialen Herkunft und den Jahresdurchschnittsleistungen in Tschechisch und den Deutschfächern (ohne Schreiben) 1880/81 Sprachunterricht: gemischtsprachig

Tsch.

1893/94

Dt.

1895/96

Tsch.

Dt.

Tsch.

Dt.

1,0

1,3

3,0

2,9

1

n

3,0

3,0

2,3

3,0

3,0

1

n

1,8

2

2,1 1

2,5

1,0

1

1,3 1

3,0

sonstige und k. A.

Dt.

1,7

4

n

Prag

Tsch.

1 2,4

tschechischsprachig

1898/99

3,2 1

n

Quelle: Vgl. AHMP: Privat-Volksschule des Piaristenordens für Jungen m. Ö. Schulkataloge 18701899; eigene Berechnung.

Tabelle 45: Tschechische Volksschule ,U sv. Havla‘ für Jungen – Schüler ausgewählter dritter Klassen nach der sprachlich-territorialen Herkunft und den Jahresdurchschnittsleistungen in Deutsch und den Tschechischfächern (ohne Schreiben) 1875/76 Sprachunterricht: Tsch. deutschsprachig

2,6 3,2 n

tschechischsprachig

n

Prag sonstige und k. A.

n n

Dt.

Tsch.

Dt.

2,3

2,3

2,0

2,9

2,2

1

n

gemischtsprachig

1879/80

Tsch.

Dt.

1886/87 Tsch.

Dt.

1888/89

2,4

1,9

12

11

2,5

2,2

35

33

2,2

2,1

2,6

3,2

Dt.

Tsch.

Dt.

Tsch.

Dt.

1,8

3,7

1,0

2,6

2,5

2,2

8

7

2,3

2,3

2,3

62

57

2,3

1,2

1,0

2

1

2,3

3,4

2,4

2,3

2,2

3,0

3

2,1

30 2,5

2,4

5

7 2,2

2,8

1,6

2,1

2,2

2,3 63

2,6

2,3

9

8

2,5

2,7

2,3

Tsch.

1,8

2,1

2,9

2,7 14

2,1

2,5

2,2

2,8

2,4

8

6

2,7

2,7

70

67

55

54

61

60

2,7

2,3

2,5

2,0

2,0

1,9

2

2

Soziale Herkunft

Eine Differenzierung der tschechischen Muttersprachler nach der gesellschaftlichen Schichtzugehörigkeit basierend auf der Berufsangabe des Vaters zeigt zunächst, dass im Vergleich mit der allgemeinen Situation an der Schule (vgl. Tabelle 19: 301) das Bildungsbürgertum (1 %) und neue Kleinbürgertum (11 %) unter den tschechischen Schulkindern der deutschen Altstädter Volksschule für Jungen schwächer, die Unterschicht (13 %) dagegen stärker vertreten ist.601 Im Vergleich mit der sozialen Struktur an der tschechischen Volksschule ,U sv. Hav601

2,7 8

Quelle: Vgl. AHMP: Česká obecná škola u sv. Havla. Schulkataloge 1875-1900; eigene Berechnung.

5.3.1.4

Dt.

2,5

6

7 2,5

1899/1900

1

4

2,3

66 2,5

1

1

5

13

1896/97

1,8 2

2,0 2

2,3

1893/94

Tsch.

1

2

3

1883/84

Bei der Piaristenvolksschule trifft – unter Berücksichtigung der geringen Zahl deklarierter Tschechen (insgesamt 13) – unter den tschechischen Muttersprachlern ein ebenfalls relativ höherer Unterschichtenanteil (15 %) zu. An der tschechischen Volksschule sind nur tschechische Muttersprachler eingeschrieben, sodass Übereinstimmung vorliegt.

2

Institutionelle und individuelle Voraussetzungen des Bilingualismus

357

la‘ zeigt sich jedoch, dass der Anteil der tschechischen Muttersprachler aus dem Arbeitermilieu an der deutschen Anstalt (13 %) immer noch weit unter dem Durchschnittsniveau von ,U sv. Havla‘ (21 % – vgl. auch Tabelle 19: 301) liegt. Im Gegenzug wird im tschechischen Besitzbürgertum und neuen Kleinbürgertum relativ häufiger eine deutsche Schulausbildung gewählt602, während die dünne Schicht des tschechischen Bildungsbürgertums eine tschechische Volksschulbildung vorzieht. Das soziale Muster der Tschechen an der deutschen Altstädter Volksschule differiert damit leicht von jenem an der tschechischen Volksschule ,U sv. Havla‘, die Entscheidung für die deutsche Unterrichtssprache ist – soweit dies im Vergleich der Jungenschulen festgestellt werden kann – auf die Kreise der besitzenden Klasse und den bildungsorientierten Aufsteigern konzentriert, während in der etablierten tschechischen Elite auf der einen Seite und der mittellosen Gesellschaftsschicht die Grundschulbildung in tschechischer Sprache favorisiert wird. Je nach sozialer Herkunft lassen sich auch Unterschiede in Bezug auf die Sprachkenntnisse der Schulkinder feststellen. An der deutschen Altstädter Volksschule für Jungen (vgl. Tabelle 46: 361) ist das traditionelle Kleinbürgertum auch unter den tschechischen Muttersprachlern mit einem durchschnittlichen Anteil von 55 Prozent die am stärksten vertretene Schicht.603 Ihre Leistungen sowohl in der Unterrichtssprache Deutsch als auch im Wahlfach Tschechisch sind meist604 besser als der Durchschnitt der tschechischen Muttersprachler605. Ausnahme bildet das Schuljahr 1887/88, als die Zahl tschechischer Muttersprachler insbesondere in der traditionellen Mittelschicht plötzlich einbricht und die Verbleibenden in Tschechisch die besten Leistungen, in Deutsch aber die schlechtesten Ergebnisse erzielen. Dieses Auseinanderklaffen der Noten in Tschechisch und Deutsch ist insofern nicht verwunderlich, als überdurchschnittliche Leistungen in der Unterrichtssprache bessere Bewertungen im Wahlfach bedingen, eine umgekehrte Relation aber nicht gilt (vgl. Anm.: 594: 349). Im Gegensatz hierzu steht das in Tschechisch überwiegend unterdurchschnittliche Notenniveau der Schüler aus dem neuen Kleinbürgertum606 – je Schuljahr gehören diesem allerdings nur maximal 602

603

604

605 606

Durchschnittlich sieben Prozent der tschechischen Muttersprachler an der deutschen Altstädter Volksschule gehören dem Besitzbürgertum und elf Prozent dem neuen Kleinbürgertum an, während ihr Anteil an der tschechischen Volksschule nur zwei bzw. sieben Prozent beträgt. Eine Ausnahme bildet das Schuljahr 1887/88, als der drastische Rückgang der Zahl tschechischer Muttersprachler wesentlich auf das traditionelle Kleinbürgertum beschränkt ist (vgl. Tabelle 46: 304), allgemein der Anteil dieser Gesellschaftsschicht an der Schule aber nicht sinkt (vgl. Tabelle 19: 301). Nur in den Schuljahren 1889/90, 1891/92 und 1899/1900 ist der Durchschnitt der tschechischen Schüler aus dem traditionellen Kleinbürgertum geringfügig schlechter als der allgemeine Durchschnitt der tschechischen Muttersprachler. In diesem Kapitel bezieht sich der Durchschnitt, sofern nicht anders vermerkt, auch im Folgenden nur auf die deklarierten tschechischen Muttersprachler. Von 1882/83 bis 1891/92 erzielen die Angehörigen der neuen Mittelschicht die schlechtesten Leistungen bzw. sind schlechter als der Durchschnitt (1894/95).

358

Institutionelle und individuelle Voraussetzungen des Bilingualismus

drei der tschechischen Drittklässler an. Auch in den Deutschfächern können nur einzelne von ihnen607 überdurchschnittlich gute Noten erlangen. Gleiches gilt für die Kinder aus dem Arbeitermilieu, deren Leistungen in Tschechisch und in den Deutschfächern sich aber ab Ende der 1880er verbessern.608 Die relativ kleine und vorwiegend nur in den 1880er Jahren vertretene, tschechischsprachige Oberschicht liegt in beiden Sprachen609 über dem Durchschnitt der tschechischen Muttersprachler. Zusammenfassend kennzeichnet den tschechisch-deutschen Bilingualismus an der deutschen Altstädter Volksschule insbesondere ein kleinbürgerlicher Charakter, der allerdings auf den traditionellen Mitgliedern der Schicht – hauptsächlich katholischen Handwerkern, jüdischen Handels- und Kaufmännern, sowie einigen Bauernsöhnen – beruht. In diesen Reihen wird, wie die im Vergleich aller tschechischer Muttersprachler überdurchschnittlichen Leistungen zeigen, auch im Elternhaus das Beherrschen beider Landessprachen als dringlich erachtet und dementsprechende Fortschritte beobachtet. Auf eine Verbreitung tschechischdeutscher Bilingualität in der gesellschaftlichen Oberschicht weisen an der Altstädter Schule nur in den 1880er Jahren insbesondere Schüler aus dem Besitzbürgertum hin, vorrangig Söhne von Fabrikbesitzern und -direktoren katholischen Bekenntnisses. Lediglich 1889/90, als der Anteil der jüdischen Kinder an der deutschen Altstädter Volksschule steigt (vgl. Abbildung 6: 225), sind auch die drei Schüler aus der Oberschicht mosaischer Religion. Der Notendurchschnitt in den Deutschfächern ist deutlich besser.610 Erstaunlich ist, dass gerade in der neuen, über Bildung zu sozialer Mobilität gelangenden kleinbürgerlichen Schicht, Bilingualität qualitativ am schwächsten ausgeprägt ist. In der Unterschicht ist die Situation ähnlich, allerdings lassen die ärmeren Verhältnisse auch nur begrenzte Fördermöglichkeiten des Elternhauses vermuten. Zudem zeigen einzelne überdurchschnittliche Leistungen von Arbeiterkinder in den 1890er Jahren, dass Eltern besonders begabter Sprösslinge, verbunden mit der Hoffnung auf sozialen Aufstieg, doch noch der deutschen Schulbildung den Vorzug geben. An der deutschen Altstädter Volksschule für Mädchen ist unter den tschechischen Muttersprachlerinnen ebenfalls der Anteil der Kinder aus der Unterschicht relativ höher (26 %), im Durchschnitt aller untersuchten Drittklässlerinnen beträgt er nur 17 Prozent (vgl. Tabelle 19: 301). Alle anderen gesellschaftlichen Katego607

608 609

610

Als Beispiel ist der in Prag geborene, jüdische Arthur Lebenhart im Schuljahr 1891/92 zu nennen, der in den Deutschfächern mit einem Durchschnitt von 1.4 glänzt, in Tschechisch aber mit 2.0 zu den relativ schlechteren Schülern zählt (vgl. Tabelle 46: 304). Besonders zu erwähnen ist der katholische, in Prag geborene Josef Schmidt, der im Schuljahr 1891/92 in den Deutschfächern einen Durchschnitt von 1.0 erreicht. Ausnahme in den 1880er Jahren ist das Schuljahr 1884/85, als die Angehörigen des Besitzbürgertums mit 1.8 leicht unter dem Durchschnitt liegen. In den 1890er Jahren erreichen die beiden Schüler aus der Oberschicht das Klassenziel in den Deutschfächern nicht. In den 1890er Jahren stammen die beiden Jungen ebenfalls aus Fabrikbesitzerfamilien, sie sind wieder katholischen Bekenntnisses.

Institutionelle und individuelle Voraussetzungen des Bilingualismus

359

rien dagegen sind relativ schwächer vertreten.611 Aus der Oberschicht besuchen über den gesamten Betrachtungszeitraum hinweg nur fünf deklarierte Tschechinnen die Altstädter Schule, von denen zudem nur drei, darunter die einzige Jüdische (1886/87), am Unterricht in ihrer Muttersprache teilnehmen (vgl. Tabelle 47: 362). Die Leistungen der Schülerinnen sind in Tschechisch immer und in den Deutschfächern überwiegend unterdurchschnittlich. Wie an der Altstädter Jungenschule, bilden die Mädchen aus dem traditionellen Kleinbürgertum nicht nur die stärkste Gruppe, sondern erzielen auch – mit Ausnahme des Jahres 1880/81 – in beiden Sprachen die stabilsten und meist überdurchschnittliche Leistungen. Ähnlich positiv schneidet an der Lehranstalt für Mädchen die – zwar kleine – Gruppe aus der neuen Mittelschicht ab.612 Die deutlich schwächsten Ergebnisse erlangen die Kinder aus der Unterschicht. In Tschechisch liegen sie zumindest ab Anfang der 1890er Jahre im Durchschnitt, in den Deutschfächern aber erreichen sie diesen nicht.613 Ferner ist an der Mädchenschule auffällig, dass in den Schuljahren 1889/90 und 1892/93 jeweils etwa nur zwei Drittel der deklarierten Tschechinnen ihre Muttersprache als Wahlfach belegen. Sie sind überwiegend katholischer Religion. Ihre Väter gehören fast ausschließlich dem traditionellen Kleinbürgertum und der Unterschicht, insbesondere der Handwerkszunft an.614 Insgesamt ist der tschechisch-deutsche Bilingualismus an der deutschen Altstädter Mädchenanstalt, v.a. in der kleinbürgerlichen Schicht, auf einem sehr guten bis guten Niveau in Tschechisch und guten bis befriedigenden Leistungen in Deutsch zu finden. Dabei unterscheidet die große Mehrheit der katholischen Mädchen mit handwerklichem oder gewerblichem Familienhintergrund sich von der jüdischen Gruppe, deren Väter Kaufmänner oder im Handel tätig sind, durch etwas bessere Noten in Tschechisch (durchschnittlich 0.1 Notenpunkte), aber doch deutlich schlechtere Noten in den Deutschfächern (durchschnittlich 0.5). Demnach stammen aus der jüdischen, mittelständischen Kaufmanns- und Handelsriege die als Tschechinnen deklarierten Mädchen mit den ausgeglichensten und besten 611 612

613

614

Nur je ei1 Prozent der deklarierten Tschechinnen stammt aus dem Besitz- und Bildungsbürgertum, 52 Prozent aus der alten und 7 Prozent aus der neuen Mittelschicht. In den Deutschfächern liegen sie ab dem Schuljahr 1883/84 immer über dem Durchschnitt und in Tschechisch schneiden sie schlimmstenfalls um 0.2 Notenpunkte schlechter ab als der Durchschnitt der Tschechinnen (1881/82; 1892/93). Ausnahme bildet das Schuljahr 1880/81, als die drei tschechische Schülerinnen sowohl in Tschechisch als auch den Deutschfächern überdurchschnittlich gut abschneiden (vgl. Tabelle 47: 304). Eine weitere Ausnahme ist das Schuljahr 1898/99, als in den Deutschfächern ein Durchschnitt von 3.3 erzielt wird. Allerdings wird dieses überdurchschnittliche Ergebnis nur dank einer besonders guten Schülerin (2.2) erlangt, der unter den fünf betroffenen deklarierten Tschechinnen einzigen jüdischen Schülerin, Marie Eisner, die die dritte Klasse an der deutschen Altstädter Anstalt bereits zum zweiten Mal besucht. Diese beiden Schuljahre kennzeichnen einen Zeitabschnitt, in dem die Zahl tschechischer Muttersprachler an der gesamten deutschen Altstädter Volksschule für Mädchen nochmals kräftig angestiegen ist (bis 1890/91), binnen zweier Schuljahre dann aber relativ abrupt absinkt (vgl. Abbildung 5: 224).

360

Institutionelle und individuelle Voraussetzungen des Bilingualismus

tschechisch-deutschen Sprachkenntnissen. Bei den einzelnen Mädchen aus dem tschechischen Bildungs- und Besitzbürgertum und v.a. auch bei der relativ großen Zahl der Arbeiterkinder ist der Bilingualismus den Noten entsprechend nicht nur auf einem niedrigeren Niveau, sondern auch stärker asymmetrisch. Während in Tschechisch die Leistungen kaum schlechter als bei den Mädchen aus der Mittelschicht ausfallen, ist in den Deutschfächern die Differenz oft deutlich. An der deutschen Piaristenvolksschule (vgl. Tabelle 48: 362) ist auf Grund der geringen Anzahl deklarierter Tschechen, die zudem zerstreut auf die gesellschaftlichen Kategorien sind, eine soziale Charakterisierung des tschechisch-deutschen Bilingualismus kaum möglich. Lediglich im Schuljahr 1895/96 deutet sich auch hier das Übergewicht der Vertreter der traditionellen Mittelschicht an. Das sehr ausgeglichene Niveau der einzelnen Schüler in Tschechisch und in den Deutschfächern weist daraufhin, dass es sich vorwiegend um isolierte, individuelle Leistungen handelt und kaum allgemeingültige Aussagen getroffen werden können. Im Vergleich mit den deutschen Altstädter Volksschulen differieren die Verhältnisse an der tschechischen Volksschule ,U sv. Havla‘.615 Der Anteil der Kinder aus der Oberschicht – alle sind katholischen Bekenntnisses – ist zwar auch hier sehr gering (vgl. Tabelle 19: 301), doch ihre Leistungen im Wahlfach Deutsch wie in der Unterrichtssprache Tschechisch sind insbesondere bei den Söhnen aus dem Bildungsbürgertum616 (v.a. höherer Justizdienst, höhere Regierungs- und Staatsbeamte) hervorragend (vgl. Tabelle 49: 363). Im Unterschied zur deutschen Altstädter Jungenanstalt zeichnen sich die tschechischen Muttersprachler aus dem neuen Kleinbürgertum an der tschechischen Volksschule ebenfalls durch meist überdurchschnittliche Leistungen in beiden Sprachen aus. Dagegen erzielen die Schüler aus der traditionellen Mittelschicht in beiden Sprachen maximal nur durchschnittliche Leistungen617, während sie an den deutschen Einrichtungen zu den Besten zählten. Die Kinder aus der Unterschicht, die an der tschechischen Anstalt die zweitgrößte Gruppe bilden, schneiden wie an den Schulen mit deutscher Unterrichtssprache, in Deutsch und in den Tschechischfächern am schwächsten ab. Die Bewertung der Fremdsprachenkenntnisse in Deutsch ist in allen Gesellschaftsklassen dem Niveau der Leistungen in der Muttersprache angepasst, die Differenz beträgt höchstens 0.5 Notenpunkte und dies nur sehr selten. Generell lässt sich aus der sozialen Struktur an der tschechischen Volksschule in Kombination mit der Bewertung im Wahlfach und der Unterrichtssprache 615

616

617

An dieser Stelle gilt es nochmals darauf aufmerksam zu machen, dass nur tschechische Muttersprachler die Volksschule ,U sv. Havla‘ besuchen und somit die gesamte Schülerschaft der ausgewählten dritten Klassen betrachtet wird. Einzige Ausnahme bilden im Schuljahr 1875/76 die beiden außerhalb Prags geborenen Schüler Max Brabec und Antonín Svoboda katholischer Religion, die jeweils in beiden Fächern sehr schlechte Leistungen erzielen. Ausnahme bildet die Jahresdurchschnittsnote 2.6 in Deutsch im Schuljahr 1888/89 gegenüber einem Gesamtdurchschnitt von 2.7, der insbesondere durch die befriedigenden Leistungen der Unterschichtkinder (3.3) gedrückt wird.

361

Institutionelle und individuelle Voraussetzungen des Bilingualismus

schlussfolgern: Je höher die gesellschaftliche Stellung und der Bildungsanspruch der Eltern ist, umso bessere Sprachkenntnisse erlangen die Kinder. Die Gegenüberstellung der sozialen Struktur der tschechischen Muttersprachler an den deutschen Volksschulen und an der tschechischen Einrichtung weist darauf hin, dass spätestens ab den 1890er Jahren, die dünne Schicht des tschechischen Bildungsund Besitzbürgertums sowie die Angehörigen der neuen Mittelschicht nicht mehr zwingend eine deutsche Schulbildung als entscheidenden sozialen Mobilitätsfaktor sehen. Die tschechische Muttersprache ist in den etablierten eigenen Reihen (nicht mehr) nur Symbol der Nationalität. Das schlechte Abschneiden der Sprösslinge aus der unteren Schicht – an allen betrachteten Einrichtungen in beiden Sprachfächern – dagegen deutet auf bereits durch soziale Herkunft vorgegebene, ungleiche Bildungsvoraussetzungen hin. Vereinzelt überdurchschnittliche Schüler aus dieser Gesellschaftsschicht an den untersuchten deutschen Volksschulen lassen vermuten, dass hier die deutsche Sprache durchaus noch als Tor zum Ausbruch aus gesellschaftlich vorbestimmten Hierarchien gesehen wird. Tabelle 46: Deutsche Altstädter Volks- und Bürgerschule für Jungen – tschechische Schüler ausgewählter dritter Klassen nach der sozialen Herkunft und den Jahresdurchschnittsleistungen in Tschechisch und den Deutschfächern (ohne Schreiben) 1875/76

1878/79

1881/82

1882/83

1883/84

1884/85

1887/88

1889/90

1891/92

1894/95

1897/98 1899/1900

Sprachunterricht: Tsch. Dt. Tsch. Dt. Tsch. Dt. Tsch. Dt. Tsch. Dt. Tsch. Dt. Tsch. Dt. Tsch. Dt. Tsch. Dt. Tsch. Dt. Tsch. Dt. Tsch. Dt. 2,1

Besitzbürgertum

n

Bildungsbürgertum

n

trad. Kleinbürgertum

n

neues Kleinbürgertum

n

Unterschicht keine Zuordnung

2,4

1,8

2

2,9

1,5

1

2,0

3,3

1,5

1

2,3

1,8

5 1,0

1,8

2,0

1 2,0

2,7

1,6

1,7

2,0

2,7 5

3,0

2,8

1,5

1,8

3,1

2,9

2,5

3,2

2,3

3,0

1,7

2,3

4,6

1,0

1

3,5

2,0

2,2

3,9

1,4

2,4

12 2,0

1,8

4,5 1

2,6

1,4

1,5

2,4

1,0

3,8

3,0

1,2

1,2

3,5 5

3,0 3

4,8

3,8

2,7 3

1,0

1 2,4

4

1,1

3

1 1,3

3,2

11

1

3 3,4

4

1,9

3 3,6

1,8

3,1

18

5 3,0

5

2,1

2

5 2,7

3

3,8 5

3,1

1,9

2,1 3

3,2

1,7

3

3 2,3

3,0

2,0

1,8

1

18

1

2 2,1

2

2,4

1

1

n

2,0 9

2,7 2

1 1,3 3,4

n

1,8

3

2,9 1

4,3

1,5

2

Quelle: Vgl. AHMP: Deutsche Volks- und Bürgerschule für Knaben, Altstadt. Schulkataloge 18751900; eigene Berechnung.

4,2 1

1,0

3,2 2

362

Institutionelle und individuelle Voraussetzungen des Bilingualismus

Tabelle 47: Deutsche Altstädter Volks- und Bürgerschule für Mädchen – tschechische Schülerinnen ausgewählter dritter Klassen nach der sozialen Herkunft und den Jahresdurchschnittsleistungen in Tschechisch und den Deutschfächern (ohne Schreiben) 1880/81

1881/82

1883/84

1884/85

1886/87

1889/90

1892/93

1895/96

1897/98

1898/99

Sprachunterricht: Tsch. Dt. Tsch. Dt. Tsch. Dt. Tsch. Dt. Tsch. Dt. Tsch. Dt. Tsch. Dt. Tsch. Dt. Tsch. Dt. Tsch. Dt. Besitzbürgertum

4,0

Bildungsbürgertum

n

trad. Kleinbürgertum

n

neues Kleinbürgertum Unterschicht keine Zuordnung

2,0

2,6

1

2

n 3,3

3,5

1 2,6

2,6

1,0

3 2,0

1,8

1,5

1

n 2,0 n

1,0 1 2,3

1,5

2,4

27

31

1,6

2,3

1 2,1

3

1,7

2,2

2,7

1,8

2,7

1,6

2,5

32

33

19

30

9

13

2,4

1,1

2,2

1,5

2,7

2,0

2,1

1,0

2

3

2,0

3,0

1,9

3,3

1,8

2,9

1,4

9

16

5

11

2,9

2,1

2,6

8

10

5

5

4

5

1,6

2,7

2,0

2,7

16

18

22

23

1,1

2,0

1,8

2,4

4

5

n

9

18

1,3

3,3

3

4

2,1

2,8 1

1,7

45 1,5

2,0

1 1,3

4

4

2,7

1,6

8

2,9

1,2

11 2,8

16

1,0

2,8

1

1 3,3

1,8

8 1,9

3,3

1,2

2,8

2,1

3

4,8 3

1,5

3,8

1

2

Tabelle 48: Deutsche Volksschule der Piaristen m. Ö. für Jungen – tschechische Schüler ausgewählter dritter Klassen nach der sozialen Herkunft und den Jahresdurchschnittsleistungen in Tschechisch und den Deutschfächern (ohne Schreiben)

Sprachunterricht: Besitzbürgertum Bildungsbürgertum trad. Kleinbürgertum neues Kleinbürgertum Unterschicht keine Zuordnung

Tsch.

Dt.

1893/94 Tsch.

Dt.

1895/96

1898/99

Tsch.

Dt.

Tsch.

Dt.

2,0

3,0

1,0

1,3

1

n

1 1,7

1,0

1,4

3,0

3,2 4

2,3 1 1,0

1,3

3,0

1

n 5,0 n

2,7

1

n n

2,1 1

n

2,9 1

4,5 1

1,8

3,3 5

7

Quelle: Vgl. AHMP: Deutsche Volks- und Bürgerschule für Mädchen, Altstadt. Schulkataloge 18711899; eigene Berechnung.

1880/81

3,4

15

1,8 1

Quelle: Vgl. AHMP: Privat-Volksschule des Piaristenordens für Jungen m. Ö. Schulkataloge 18701899; eigene Berechnung.

363

Institutionelle und individuelle Voraussetzungen des Bilingualismus

Tabelle 49: Tschechische Volksschule ,U sv. Havla‘ für Jungen – Schüler ausgewählter dritter Klassen nach der Schichtzugehörigkeit und den Jahresdurchschnittsleistungen in Deutsch und den Tschechischfächern (ohne Schreiben) 1875/76 Sprachunterricht: Tsch. Besitzbürgertum

1879/80 Tsch.

Dt.

1883/84

trad. Kleinbürgertum

n

neues Kleinbürgertum

n

Unterschicht

3,5 2

2,0

Dt.

Tsch.

Dt.

Tsch.

Dt.

Tsch.

Dt.

2,0

2,5

2,4

2,4

2,3

2,5

1,4

1,3

1,4

1,1

2,1

2,0

1,0

1,0

1,0

1,0

1,0

1,2

1,0

1,6

1,3

1,5

3

2

2,5

2,1

2,7

2,5

52

51

37

36

1,5

2,2

1,0

2

3

2,3

2,4

2,3

2,3

22

27

27

43

39

2,1

4

2,3

2,2

2,3

2,4

2,6 9

2,2

1,8

10

9

2,2

2,5 5

2,3

1,9

2,5

2,7

16

15

2,2

2,0

1,8

6

5

2,3

2,2

2,3

1,4

5 2,3

2,9

12 2,1

2,6 55

12

2,5

1

1

44

7

13

2

1

2,2

2,4

1899/1900

Tsch.

24

n

1896/97

Dt.

1

1,7

1893/94

Tsch.

2,5 2,1

n

2,0

1888/89

Dt. 1

3,6 n

1886/87

Tsch.

n

Bildungsbürgertum

keine Zuordnung

Dt.

3,3

9

2,8

2,9

9

8

2,2

18

17

1,8

2,4

2,7

2,6

2,7

2,6 47

2,2

2,3 8

2,3 23

2,8

1,1 2

5

2,8

9

1

3

1

10 2,3

3

2,4

3,1

2,9

17

14

2,8

3,1

7

4

Quelle: Vgl. AHMP: Česká obecná škola u sv. Havla. Schulkataloge 1875-1900; eigene Berechnung.

5.3.2 5.3.2.1

Deutschsprecher sprachliche vs. nationale Identität

Im Folgenden steht die – neben den Tschechischsprechern an deutschen Volksschulen – zweite Gruppe der potenziell bilingualen Sprecher im Zentrum des Interesses. Ihre Mitglieder zeichnen sich durch hervorragende Leistungen im relativ obligaten Wahlfach Tschechisch aus.618 Die Schüler mit der Angabe ,Deutsch‘ als Muttersprache werden daher in zwei Fraktionen aufgeteilt: Erstere umfasst die deklarierten Deutschen, deren Notendurchschnitt in Tschechisch mindestens dem Durchschnitt der tschechischen Muttersprachler entspricht und somit als potenzielle deutsch-tschechische Bilinguale in Bezug auf Religionsbekenntnis, Geburtsort und soziale Schichtzugehörigkeit näher charakterisiert werden. Letztere dagegen bilden die Gruppe deutscher Muttersprachler, die im Wahlfach im Vergleich zu den tschechischen Muttersprachlern unterdurchschnittlich abschneiden. Für sie stellt das Tschechische weniger eine Zweit- und mehr eine Fremdsprache dar, die ihnen im Zuge des gesteuerten Spracherwerbs an der Schule vermittelt wird. Jedoch wird die Muttersprache in den Schulkatalogen erst ab dem Schuljahr 1884/85 dokumentiert. Bis maximal zum Schuljahr 1881/82 konnten die Daten der Drittklässler/-innen einigermaßen mit der Angabe zur Muttersprache ergänzt werden, indem die einzelnen Kinder in der jeweiligen, höheren Jahrgangsstufe des Schuljahres 1884/85 nachgeschlagen wurden. Dadurch ist die Datenlage für die erste Hälfte der 1880er Jahre lückenhaft, da bei Schulwechslern und Schulabgängern eine nachträgliche Feststellung der Muttersprache nicht mehr möglich war. An der Jungenschule wurde auf diese Weise bereits ab 1881/82 mindestens ein 618

Nach Cohen besuchen in Prag – anders als in den vorwiegend deutschsprachigen Bezirken Nordböhmens – zwischen 80 und 90 Prozent der deklarierten Deutschen den relativ obligaten Wahlfachunterricht Tschechisch (vgl. Cohen 1981: 133).

364

Institutionelle und individuelle Voraussetzungen des Bilingualismus

Fünftel, an der Mädchenschule 1880/81 und 1881/82 nur ein Zehntel der Drittklässler/-innen erfasst, für das Schuljahr 1882/83 an der Mädchenanstalt fehlt die Angabe ganz. Auch für die 1870er Jahre ist kaum die Muttersprache eines Schülers bekannt. Aus diesem Grund wird bis einschließlich zum Schuljahr 1883/84 die nicht explizit als tschechisch deklarierte Schülerschaft je nach ihren Leistungen im Fach Tschechisch in eine ,bessere‘ und eine ,schlechtere‘ Gruppe geteilt und die ,besseren‘ Schüler als potenziell bilinguale – tschechisch-deutsche und deutsch-tschechische – Sprecher619 genauer analysiert. Demnach beziehen sich die im Folgenden mit ,über- bzw. durch/überdurchschnittliche Tschechischschüler/-innen‘ bezeichneten Schulkinder auf zweierlei Gruppen: a) Bis einschließlich zum Schuljahr 1883/84 ist dies die Gruppe, die in Tschechisch über dem Gesamtdurchschnitt der Klasse620 liegt. Deklarierte tschechische Muttersprachler sind dabei ausgeschlossen.621 b) Ab dem Schuljahr 1884/85, als die Muttersprache dokumentiert wird, sind unter den über-/ durchschnittlichen Tschechischschüler/-innen die Schulkinder zu verstehen, die Deutsch als Muttersprache angeben und im Fach Tschechisch mindestens den Durchschnitt der deklarierten tschechischen Muttersprachler/innen622 erreichen. An der Piaristenvolksschule ist die Zahl der tschechischen Muttersprachler so gering, dass sowohl für den Zeitraum bis 1883/84 als auch ab 1884/85 der Gesamtdurchschnitt der Klasse als Referenzwert herangezogen wird, um die überdurchschnittlichen Tschechischschüler zu bestimmen. An der Volksschule mit tschechischer Unterrichtssprache ,U sv. Havla‘ sind nur tschechische Muttersprachler eingeschrieben, daher ist die Institution und ihre Schülerschaft für die folgenden Ausführungen nicht relevant. 619

620

621 622

Dadurch, dass die Muttersprache dieser potenziell Bilingualen nicht bekannt ist, können sich dahinter sowohl tschechische Muttersprachler (potenziell tschechisch-deutsch bilingual) als auch deutsche Muttersprachler (potenziell deutsch-tschechisch bilingual) verbergen. Bei der Berechnung des Durchschnitts wurde innerhalb der Jahrgangsstufe auch zwischen den Parallelklassen unterschieden, da hier das Notenniveau wohl auf Grund der einzelnen Lehrer zum Teil deutlich differiert, beispielsweise erreicht im Schuljahr 1881/82 der deutschen Altstädter Volksschule für Mädchen die Klasse 3a in Tschechisch einen Durchschnitt von 1.9, die Klasse 3b von 1.5 und die Klasse 3c von 2.1. Die Bestimmung der im Fach Tschechisch überdurchschnittlichen Schüler würde so verzerrt. Die Daten werden wie bisher jahrgangsweise dargestellt, allerdings ist zu berücksichtigen, dass für die Teilung der Schüler in überdurchschnittliche und durch-/unterdurchschnittliche Tschechischschüler die Parallelklassen getrennt wurden und der jeweilige Durchschnitt als Basiswert diente. Im Übrigen gibt die Kombination der einzelnen Klassen und Parallelklassen mit der Muttersprache und dem Religionsbekenntnis keinerlei Hinweis darauf, dass die Einteilung der Klassen nach konfessionellen oder sprachnationalen Gesichtspunkten erfolgt, vielmehr herrscht in allen Klassen ein ausgewogenes Mischungsverhältnis. Allerdings können sich unter den Schulkindern ohne Angabe zur Muttersprache durchaus tschechische Muttersprachler befinden (vgl. auch Anm. 499: 285). Für den Durchschnitt der deklarierten Tschechen in Tschechisch vgl. Tabelle 34: 304; Tabelle 35: 304.

Institutionelle und individuelle Voraussetzungen des Bilingualismus

365

Für die erste Phase an den deutschen Altstädter Volksschulen, d.h. bis einschließlich zum Schuljahr 1883/84 sowie für die deutsche Piaristenvolksschule ist ohne Berücksichtigung weiterer Parameter zusammenfassend festzustellen, dass die in Tschechisch überdurchschnittlichen Schüler/-innen sich gleichfalls durch deutlich bessere Noten in den Deutschfächern auszeichnen als die durch- und unterdurchschnittlichen Tschechischschüler/-innen (vgl. Tabelle 50: 367; Tabelle 51: 368; Tabelle 52: 368).623 Außerdem sind sie in Tschechisch immer besser als in den Deutschfächern, während die durch- und unterdurchschnittlichen Tschechischschüler umgekehrt in den Deutschfächern meist bessere Leistungen erzielen.624 Dies bedeutet in Kombination mit der relativ hohen Differenz zwischen den Durchschnittsnoten in Tschechisch – die überdurchschnittlichen Schüler sind immer mindestens um einen Notenpunkt besser –, dass sehr gute Tschechischnoten nicht allgemeinüblich sind und sie nicht von allen guten Deutschschülern erreicht werden.625 Generell teilt sich die Schülerschaft je Schuljahr relativ gleichmäßig in über- und durch-/unterdurchschnittliche Tschechischschüler/-innen auf. Lediglich im Jahr 1883/84 (AS-VS Mä) zählen nur 29 Prozent der nichtdeklarierten Tschechinnen zur besseren ,Hälfte‘, da hier bereits von einem Großteil der Schülerinnen die Muttersprache bekannt ist (vgl. Tabelle 35: 176), diese den Klassendurchschnitt mittragen, bei der leistungsbezogenen Kategorisierung die deklarierten Tschechinnen allerdings aussortiert werden. Letztendlich deutet sich hier bereits an, dass nur ein geringer Teil den Durchschnitt der deklarierten tschechischen Schulkinder im Tschechischen erlangen kann. An der deutschen Piaristenvolksschule herrschen – wie bereits erwähnt – abweichende Verhältnisse, denn die deklarierten tschechischen Schüler glänzen in ihrer Muttersprache keineswegs (vgl. Tabelle 36: 347). Vielmehr gehören in den 1890er Jahren jeweils etwa zwei Drittel der deklarierten Deutschen auf Basis ihrer Tschechischnoten der überdurchschnittlichen Klassenhälfte an. Auffällig ist die Situation gleichfalls im Schuljahr 1882/83, als nur 27 Prozent der Schüler den Klassendurchschnitt in 623

624

625

Ausnahme bildet das Schuljahr 1875/76 an der deutschen Altstädter Mädchenschule, als auch die durch- und unterdurchschnittlichen Tschechischschülerinnen ein ausgezeichnetes Niveau von 1.9 in den Deutschfächern erreichen. Ausnahmen bilden die Schuljahre 1878/79 (AS-VS Ju), 1871/72 (AS-VS Mä), 1870/71 und 1873/74 (VS PS Ju), hier ist der Notendurchschnitt in Tschechisch besser als in den Deutschfächern. Dass die Differenz der beiden Gruppen in den Deutschfächern relativ geringer ist – an den Altstädter Volksschulen beträgt sie maximal 0.7 Notenpunkte – ist sicherlich dadurch bedingt, dass tschechische Muttersprachler über ihre Tschechischnoten in die überdurchschnittliche Gruppe gelangen und dort mit ihren vergleichsweise schlechteren Deutschnoten den Durchschnitt in den Deutschfächern verschlechtern. Die tschechischen Muttersprachler/-innen auch in der ersten Periode über ihre Noten in Tschechisch und den Deutschfächern zu identifizieren, indem sie in Tschechisch als überdurchschnittlich und in Deutsch als unterdurchschnittlich definiert werden, ist nicht sinnvoll. Denn insbesondere zu Beginn der zweiten Periode sind die deklarierten Tschechen/-innen in Deutsch kaum schlechter als ihre deutschen Schulkollegen/-innen (und damit hervorragende Vertreter tschechisch-deutscher Bilingualität) (vgl. Tabelle 34: 304; Tabelle 35: 304).

366

Institutionelle und individuelle Voraussetzungen des Bilingualismus

Tschechisch toppen können. In Verbindung mit ihren gleichfalls hervorragenden Leistungen in Deutsch weisen sie sich als Vorzugsschüler, aber auch als potenziell zweisprachig aus. Tendenziell gilt dies für alle überdurchschnittlichen Tschechischschüler/-innen mit gleichfalls überdurchschnittlichen Leistungen in den Deutschfächern. Ab dem Schuljahr 1884/85 werden nun an den Altstädter Volksschulen die deklarierten Deutschen auf Basis ihrer Leistungen im relativ obligaten Wahlfach Tschechisch, gemessen am Durchschnitt der tschechischen Muttersprachler, aufgeteilt. An der deutschen Altstädter Jungenschule (vgl. Tabelle 50: 367) fällt unmittelbar auf, dass in den Schuljahren 1889/90, 1894/95 und 1899/1900 mehr als die Hälfte der deklarierten Deutschen das Niveau der tschechischen Muttersprachler erreicht und das um die Jahrhundertwende mit einem Durchschnitt von 1.0. Mitte der 1880er Jahre gelingt dies unter den Deutschen nur 18 bis 29 Prozent der Schüler. Wie bereits in den früheren Jahren schneiden diese über-/ durchschnittlichen Tschechischschüler im Wahlfach besser ab als in der Unterrichtssprache, erzielen dort aber nur geringfügig schlechtere Ergebnisse. Im Unterschied zu den nichtdeklarierten Schülern schneiden die unterdurchschnittlichen deutschen Kandidaten ab Ende der 1880er in Tschechisch dauerhaft besser ab als in den Deutschfächern. An der deutschen Altstädter Mädchenschule trifft dies erst ab Mitte der 1890er Jahre zu (vgl. Tabelle 51: 368). Hier ist der Anteil der deutschen Schülerinnen, die sich über ihre Leistungen in Tschechisch qualifizieren, insgesamt sehr viel geringer, 1895/96 und 1897/98 gelingt dies nur etwa einem Zehntel der deklarierten Deutschen. Um so erstaunlicher ist, dass nur ein Jahr später (1898/99) zwei Fünftel der Deutschen einen Durchschnitt von 1.0 in Tschechisch erzielen. Das Schuljahr 1897/98 bildet auch im Hinblick auf das Notenniveau in den Deutschfächern eine Ausnahme. Die wenigen überdurchschnittlichen Tschechischschülerinnen schneiden in den Deutschfächern nur mit 3.2 ab und damit deutlich schlechter als die restliche Schülerschaft.626 Im Übrigen stimmt die Tendenz mit den früheren Schuljahren als auch den anderen Schulen überein: Die über-/ durchschnittlichen Schülerinnen sind nicht nur in Tschechisch, sondern auch in den Deutschfächern ausgezeichnet, generell auch besser als die unterdurchschnittlichen Tschechischschülerinnen. Stehen bei den über-/ durchschnittlichen Schüler/-innen auf Grund ihrer hervorragenden tschechischen Sprachkenntnisse sprachliche und nationale Identität in 626

Von den vier, alle aus dem traditionellen Kleinbürgertum stammenden, überdurchschnittlichen Tschechischschülerinnen sind drei jüdischen Religionsbekenntnisses, und davon stammen zwei aus tschechischsprachigen Gebieten, bei der Dritten fehlt die sprachliche Charakterisierung des Geburtsortes. Die vierte, katholische Schülerin ist in Prag geboren, ihre Leistungen in Tschechisch (1.5) und den Deutschfächern (2.8) sind im Vergleich gemäßigter. Bei Ersteren deuten die Noten sowie die tschechischsprachige Umgebung in der Primärsozialisation auf ein Auseinanderklaffen der sprachlichen und der nationalen Identität hin – unter Umständen auch deshalb, weil der nationalen Identifizierung über die Sprache im Falle der jüdischen Mädchen weniger Bedeutung zugemessen wird.

367

Institutionelle und individuelle Voraussetzungen des Bilingualismus

einem Widerspruch? Die gleichfalls sehr guten Ergebnisse in den Deutschfächern lassen allerdings vermuten, dass es sich überwiegend um Vorzugsschüler/-innen handelt, die in allen Lehrgegenständen sehr gute Leistungen erbringen. Dass dennoch abweichende Einzelfälle existieren, zeigt das Beispiel der Mädchenschule im Jahr 1897/98 (vgl. Anm. 626: 366). Obgleich Ende des 19. Jahrhunderts im Sinne der monoglossischen Ideologie eine eindeutige nationale Identität keine Bilingualität vorsieht, sind faktisch auch bei einigen deklarierten Deutschen Hinweise auf eine – gewiss asymmetrische – deutsch-tschechische Zweisprachigkeit zu erkennen. Ihre Tschechischkenntnisse lassen sich nicht nur mit jenen ihrer tschechischen Muttersprachler messen, sondern werden Ende des 19. Jahrhunderts mit 1.0 bewertet. Zweifellos ist hier ein Absinken des Unterrichtniveaus zu berücksichtigen und möglicherweise auch ein ,Entgegenkommen‘ der Tschechischlehrer angesichts der ,bedrohlichen‘ Erhebung der tschechischen Sprache zur inneren Amtssprache in den Badenischen Sprachenverordnungen (vgl. Kapitel 5.3.1.1: 340). Dennoch ist sowohl der regelmäßige Besuch des relativ obligaten Wahlfachs durch die Mehrheit der deklarierten Deutschen als auch deren zum Teil hervorragendes Abschneiden als Indiz für potenziell deutsch-tschechisch bilinguale Sprecher zu sehen, zumal der Vormarsch des Tschechischen in Prag kaum mehr zu stoppen und die Bedeutung der lokalpolitisch dominierenden Sprache immer schwieriger zu ignorieren ist. So erstaunt es nicht, dass an der Jungenschule der Anteil der überdurchschnittlichen Tschechischschüler deutscher Muttersprache auch über 50 Prozent betragen kann. Inwieweit die überdurchschnittlichen Tschechischschüler allgemein und innerhalb der deklarierten Deutschen konfessionell zu charakterisieren sind, gilt es im nächsten Abschnitt zu erörtern. Tabelle 50: Deutsche Altstädter Volks- und Bürgerschule für Jungen – über- und unterdurchschnittliche Tschechischschüler ausgewählter dritter Klassen nach ihren Jahresdurchschnittsleistungen in Tschechisch und den Deutschfächern (ohne Schreiben) alle nichtdeklarierten Tschechen i. Vgl. zum Klassendurchschnitt überdurchschnittlich 1875/76 1878/79 1881/82 1882/83 1883/84

durch-/unterdurchschnittlich

Tsch.

Dt.

n

%

Tsch.

Dt.

n

%

1,5 1,5 1,7 1,7 1,9

2,2 2,2 2,0 2,0 2,0

109 83 91 79 67

53% 48% 52% 45% 55%

2,8 2,6 2,8 2,9 2,8

2,4 2,8 2,6 2,7 2,6

97 89 85 96 55

47% 52% 48% 55% 45%

alle deklarierten Deutschen i. Vgl. zum Klassendurchschnitt der deklarierten Tschechen über-/durchschnittlich 1884/85 1887/88 1889/90 1891/92 1894/95 1897/98 1899/1900

1,2 1,4 1,8 1,4 1,5 1,0 1,0

1,7 1,6 2,0 1,5 1,8 1,4 2,0

14 25 32 25 41 20 36

unterdurchschnittlich 18% 29% 57% 30% 59% 39% 57%

2,5 2,9 2,8 2,4 2,9 1,9 2,1

2,4 2,9 3,0 2,5 3,0 2,3 2,5

65 62 24 59 29 31 27

82% 71% 43% 70% 41% 61% 43%

368

Institutionelle und individuelle Voraussetzungen des Bilingualismus

Quelle: Vgl. AHMP: Deutsche Volks- und Bürgerschule für Knaben, Altstadt. Schulkataloge 18751900; eigene Berechnung.

Tabelle 51: Deutsche Altstädter Volks- und Bürgerschule für Mädchen – über- und unterdurchschnittliche Tschechischschülerinnen ausgewählter dritter Klassen nach ihren Jahresdurchschnittsleistungen in Tschechisch und den Deutschfächern (ohne Schreiben) alle nichtdeklarierten Tschechinnen i. Vgl. zum Klassendurchschnitt überdurchschnittlich

1871/72 1875/76 1878/79 1880/81 1881/82 1882/83 1883/84

durch-/unterdurchschnittlich

Tsch.

Dt.

n

%

Tsch.

Dt.

n

%

1,1 1,1 1,1 1,4 1,2 1,7 1,2

1,9 1,9 2,1 2,1 1,9 2,2 1,8

66 124 87 103 102 116 35

54% 59% 49% 49% 52% 58% 29%

2,5 2,3 2,4 2,8 2,5 3,0 2,5

2,6 1,9 2,3 2,6 2,4 2,8 2,3

57 87 92 108 95 83 86

46% 41% 51% 51% 48% 42% 71%

alle deklarierten Deutschen i. Vgl. zum Klassendurchschnitt der deklarierten Tschechinnen über-/durchschnittlich 1884/85 1886/87 1889/90 1892/93 1895/96 1897/98 1898/99

1,2 1,0 1,2 1,2 1,3 1,4 1,0

1,5 1,8 1,5 1,3 1,9 3,2 1,8

30 20 18 28 7 4 23

unterdurchschnittlich 30% 26% 30% 37% 10% 8% 40%

2,6 2,6 2,8 2,3 2,0 2,2 2,1

2,1 2,5 2,3 2,1 2,0 2,5 2,2

69 57 43 47 63 49 35

70% 74% 70% 63% 90% 92% 60%

Quelle: Vgl. AHMP: Deutsche Volks- und Bürgerschule für Mädchen, Altstadt. Schulkataloge 18711899; eigene Berechnung.

Tabelle 52: Deutsche Volksschule der Piaristen m. Ö. für Jungen – über- und unterdurchschnittliche Tschechischschüler ausgewählter dritter Klassen nach ihren Jahresdurchschnittsleistungen in Tschechisch und den Deutschfächern (ohne Schreiben) alle nichtdeklarierten Tschechen i. Vgl. zum Klassendurchschnitt überdurchschnittlich

1870/71 1873/74 1876/77 1878/79 1879/80 1880/81 1881/82 1882/83 1883/84 1884/85 1893/94 1895/96 1898/99

durch-/unterdurchschnittlich

Tsch.

Dt.

n

%

Tsch.

Dt.

n

%

1,5 1,3 1,9 1,6 1,7 1,5 1,5 1,2 1,3 1,7 1,4 1,6 1,1

2,3 1,9 2,3 1,9 1,8 1,5 1,8 1,4 1,5 1,7 1,5 1,8 1,3

62 75 55 54 41 39 41 23 46 39 34 44 38

47% 54% 45% 60% 46% 47% 49% 27% 58% 47% 61% 68% 63%

2,7 2,4 3,3 2,7 3,1 2,8 2,8 2,2 2,7 3,3 3,3 3,7 2,4

2,9 2,7 3,0 2,5 2,7 2,1 2,7 2,2 2,5 2,9 2,8 3,2 2,4

70 63 67 36 48 44 42 61 34 44 22 21 22

53% 46% 55% 40% 54% 53% 51% 73% 43% 53% 39% 32% 37%

Quelle: Vgl. AHMP: Privat-Volksschule des Piaristenordens für Jungen m. Ö. Schulkataloge 18701899; eigene Berechnung.

Institutionelle und individuelle Voraussetzungen des Bilingualismus

5.3.2.2

369

Religionsbekenntnis

Die Darstellung nach dem Religionsbekenntnis sowie den weiteren Parametern – der sprachlichen Verteilung im Geburtsort und der sozialen Schichtzugehörigkeit – bezieht sich vornehmlich auf die Gruppe der in Tschechisch überdurchschnittlichen Schulkinder bzw. ab dem Schuljahr 1884/85 der deklarierten deutschen Muttersprachler, die im Wahlfach mindestens die Leistungen ihrer tschechischen Mitschüler/-innnen erbringen. Denn sie repräsentieren die potenziellen bilingualen Sprecher, deren sozioökonomisches Profil es zu erstellen gilt. Dass die Gruppe überdurchschnittlicher Tschechischschüler gerade bei den Katholiken bis zum Schuljahr 1883/84 auch noch eine gewisse Anzahl ,echter‘ tschechischer Muttersprachler einschließt, schlägt sich im Notenbild nieder. Während die katholischen Schüler/-innen an den Altstädter Volksschulen in dieser ersten Periode im Wahlfach Tschechisch meist etwas bessere Ergebnisse als ihre jüdischen Mitschüler/-innen erzielen627, schneiden sie in den Deutschfächern deutlich schlechter ab628 (vgl. Tabelle 53: 373; Tabelle 54: 374). Das ist kaum verwunderlich, da bei einigen im Wahlfach die Muttersprache, im Fach Unterrichtssprache aber die Zweitsprache gelehrt wird. Zusätzlich zeichnet die jüdische Gruppe eine besondere Stärke im Deutschen aus, denn auch nach 1883/84 weisen sie in der Unterrichtssprache oftmals die besseren Ergebnisse vor, insbesondere die in Tschechisch unterdurchschnittlichen jüdischen Deutschen übertreffen in den Deutschfächer fast durchgehend629 ihre katholischen Mitschüler/-innen. Der Notendurchschnitt der tschechischen Muttersprachler in Tschechisch als Referenzwert erlaubt, den Kreis der potenziellen deutsch-tschechisch Bilingualen ab dem Schuljahr 1884/85 enger einzugrenzen. In Bezug auf das relative Sprachniveau in Tschechisch fällt auf, dass an den Altstätdter Volksschulen alle über/durchschnittlichen Schüler/-innen, unabhängig von der Konfession, im Wahlfach die besseren – bzw. 1892/93 an der Mädchenanstalt die gleichen – Noten erlangen.630 Gleichzeitig werden die Leistungen im obligaten Fach Unterrichtssprache konstant mit sehr gut bis gut bewertet. Der Wegfall der ,versteckten‘ tschechischen Muttersprachler unter den Katholiken bewirkt gegenüber der ersten Phase (1870er, Anfang 1880er) eine bedeutende Anhebung des Niveaus der katholischen Schüler/-innen in den Deutschfächern. Ferner differieren unter den deklarierten 627

628 629

630

An der Jungenschule sind die Katholiken maximal um 0.2 Notenpunkte besser (Ausnahme 1875/76: 0.6), an der Mädchenschule um maximal 0.3 Notenpunkte (Ausnahme 1871/72: jüdische Gruppe um 0.1 besser). An der Jungenschule sind die Katholiken zwischen 0.6 und 0.8 Notenpunkte schlechter (Ausnahme 1883/84: 0.3), an der Mädchenschule zwsichen 0.4 und 0.8 Notenpunkte. Ausnahmen bilden an der Jungenschule 1884/85, als die unterdurchschnittlich Katholiken mit 2.4 in den Deutschfächern um 0.1 Notenpunkte besser sind. An der Mädchenschule trifft dergleichen auf das Schuljahr 1892/93 zu, die unterdurchschnittlichen katholischen Schülerinnen sind mit 1.9 um 0.3 Notenpunkte besser als ihre jüdischen Mitschülerinnen. Bei den Juden entspricht dies einer Umkehrung des Verhältnisses. In den vorhergehenden Schuljahren hatten ihre Leistungen im obligaten und mehrere Disziplinen umfassenden Deutschunterricht meist jene im Wahlfach übertroffen.

370

Institutionelle und individuelle Voraussetzungen des Bilingualismus

deutschen Muttersprachlern die beiden Konfessionsgruppen sowohl in ihren Leistungen in Tschechisch631 als auch in den Deutschfächer632 kaum mehr. Was die konfessionelle Zusammensetzung der ,Spitzengruppe‘, d.h. der durch/überdurchschnittlichen Deutschen in Tschechisch, betrifft, so sind an der deutschen Altstädter Knabenschule mindestens drei Viertel mosaischen Bekenntnisses633. Sicherlich bilden die Juden ab Ende der 1880er Jahre die überwiegende Mehrheit, generell an der deutschen Altstädter Volksschule (vgl. Abbildung 19: 277) und auch unter den deklarierten Deutschen, doch ist ihr Anteil an der ,Spitzengruppe‘ noch überwältigender. Als Beispiel ist hier das Schuljahr 1884/85 zu nennen, in dem nur 18 Prozent der deklarierten Deutschen das Tschechischniveau der tschechischen Muttersprachler erreichen (vgl. Tabelle 50: 367). Sie sind zu über 90 Prozent jüdischer Religion. Gleiches gilt auch noch Ende des Jahrhunderts, so sind etwa im Schuljahr 1897/98 95 Prozent der 39 Prozent durch/überdurchschnittlichen Deutschen Juden. An der deutschen Altstätdter Mädchenschule (vgl. Tabelle 54: 374) ist dieses Verhältnis etwas schwächer ausgeprägt, denn die wenigen katholischen Schülerinnen können ihren relativen Anteil an der ,Spitzengruppe‘ oftmals behaupten (z.B. 1884/85, 1889/90, 1892/93). Die Schuljahre 1895/96 und 1897/98 sind auf Grund ihrer geringen Anzahl an über-/durchschnittlichen Schülerinnen als Sonderfälle zu betrachten. Beispielhaft wird das Jahr 1897/98 analysiert. Im Gegensatz zu den übrigen ausgewählten Schuljahren, als zwischen einem Viertel und über zwei Fünftel der jüdischen Deutschen in Tschechisch das Niveau der tschechischen Muttersprachler erreichen, gelingt dies im Schuljahr 1897/98 nur einem Bruchteil der jüdischen Mädchen (6 %; 1895/96: 8 %). Die zweite Besonderheit bezieht sich auf das äußerst schlechte Ergebnis in der Unterrichtssprache. Die drei Mädchen schneiden in ihrer Muttersprache mit 3.4 schlechter ab als ihre sechs jüdischen Mitschülerinnen, die sich als Tschechinnen deklarieren (2.3) (vgl. Tabelle 39: 351) und auch schlechter als die unterdurchschnittlichen jüdischen Deutschen (2.4). Berücksichtigt man ferner die sprachliche Verteilung im Geburtsort, so deutet sich ein Auseinanderklaffen sprachlicher und ,nationaler‘ Identität an. Denn Bertha Bergmann und Elsa Löwner sind in tschechischsprachigen Orten geboren und Elsa Kosiner wird einem ,rein‘ tschechischsprachigen Heimatbezirk zugeordnet. In Prag sind sie bei Kostherren oder Pflegeeltern untergebracht. 631 632

633

An der deutschen Altstädter Knabenschule beträgt die Differenz in Tschechisch maximal 0.3 Notenpunkte, an der deutschen Altstädter Mädchenschule maximal 0.4 Notenpunkte. An der Jungenschule differieren die beiden Konfessionsgruppen in den Deutschfächern maximal um 0.4 Notenpunkte. An der Einrichtung für Mädchen beträgt die Differenz vereinzelt zwar bis zu 0.5 Notenpunkte, allerdings wechseln sich die konfessionellen Gruppen an der Spitze ab, z.B. sind im Schuljahr 1886/87 die katholischen Deutschen um 0.4 Notenpunkte besser, im nächsten ausgewählten Schuljahr (1889/90) wiederum die jüdischen Deutschen. Generelle Zusammenhänge sind somit auszuschließen. Ausnahme bildet das Schuljahr 1889/90, als nur 72 Prozent dieser ,Spitzengruppe‘ jüdischer Konfession sind.

Institutionelle und individuelle Voraussetzungen des Bilingualismus

371

Der Wohnort der leiblichen, dem Kleinbürgertum angehörenden Eltern liegt dagegen noch immer im tschechischsprachigen Gebiet. Demnach ist davon auszugehen, dass die drei Mädchen in ihrer Primärsozialisation bereits (intensiv) mit der tschechischen Sprache konfrontiert wurden, wie dies auch ihre hervorragenden Noten in Tschechisch andeuten. Diese Fakten würden grundsätzlich auf eine primär tschechische sprachliche wie ,nationale‘ Idenität schließen lassen. Die jüdischen Eltern legen jedoch großen Wert auf eine deutsche Schulbildung und senden ihre Töchter zu dem Zweck nach Prag, wo sie in den hektischen Zeiten im Zuge der Badenischen Sprachenverordnungen Deutsch als Muttersprache angeben. In der folgenden vierten und der fünften Jahrgangsstufe steigern Bertha Bergmann und Elsa Kosiner ihre Leistungen in Deutsch um zum Teil mehr als eine Notenstufe.634 Die Diskrepanz zwischen den Sprachkenntnissen und der deklarierten ,nationalen‘ Identität wird aufgehoben. Übrig bleiben potenziell deutschtschechisch bilinguale, jüdische Böhmen, die traditionell eine deutsche Schulausbildung genießen und sich zum Deutschen als Muttersprache bekennen. Als böhmische Landjuden aus tschechischsprachigen Gebieten mit profunden Tschechischkenntnissen zählten die drei Mädchen und ihre Familien im Grunde zunächst aber zur Zielgruppe der tschecho-jüdischen Bewegung. Statt sich jedoch vollständig an das Tschechentum zu akkulturieren und z.B. eine Schule mit tschechischer Unterrichtssprache zu wählen, halten sie an der deutschen Ausbildung und der Angabe der deutschen Muttersprache fest. Angesichts des rein tschechischen Umfelds der Eltern ist somit eine Demonstration nationaler Assimilierung auszuschließen. Dagegen deutet sich an, dass dieses ,Sprachverhalten‘ weniger national und mehr kulturell motiviert ist. Zur Pflege der deutschen Sprache wird das tschechischsprachige Umfeld verlassen und von Beginn an, trotz mangelnder Kenntnisse, das Deutsche als Muttersprache deklariert. Wenn auch diese Aussage nicht generalisiert werden kann, da unter den bereits analysierten tschechischen Muttersprachlern ausreichend Gegenbeispiele zu finden sind, so ist zumindest der potenzielle Bilingualismus dieser drei jüdischen Mädchen trotz vergleichsweise geringerer deutsch-tschechischer Asymmetrie als monokulturell (vgl. Kapitel 2.2.1.2: 66), traditionell deutsch geprägt einzustufen. Unter konfessionellen Aspekten sind die potenziellen Träger des deutschtschechischen Bilingualismus – auf Basis der Drittklässler/-innen der deutschen Altstädter Volksschulen – zusammenfassend dominant jüdisch zu charakterisieren. Dass bis zum Schuljahr 1883/84 ein bedeutender Anteil der überdurchschnittlichen Tschechischschüler katholischer Religion ist, liegt an der Gruppe ,echter‘ Tschechen, die auf Grund der fehlenden Angabe der Muttersprache nicht herauszufiltern sind. In der ersten Periode sind bei den jüdischen Schulkindern relativ ausgeglichene Sprachkenntnisse vorhanden, wobei die Leistungen in der Unter634

Da im Schuljahr 1897/98 auch Gabriele Kafka die dritte Jahrgangsstufe besucht, wurden die Daten dieser Klasse auch in den höheren Jahrgangsstufen gesammelt. Elsa Löwner erscheint ab der vierten Klasse nicht mehr.

372

Institutionelle und individuelle Voraussetzungen des Bilingualismus

richtssprache, dem intensiver gelehrten und notentechnisch entscheidenderem Fach besser ausfallen als im Wahlfach Tschechisch. Vernachlässigt man ein möglicherweise absinkendes Niveau des Tschechischunterrichts im Laufe der zweiten Periode, so entspricht das Notenverhältnis einer verstärkten deutsch-tschechischen Asymmetrie. Hinsichtlich der katholischen Gruppe erscheint eine sprachliche Einschätzung in der ersten Phase auf Grund des anzunehmenden, hohen Anteils der tschechischen Muttersprachler/-innen nicht sinnvoll. Ab dem Schuljahr 1884/85 ist potenzielle deutsch-tschechische Bilingualität, v.a. an der deutschen Altstädter Jungenschule, hauptsächlich in der jüdischen Schülerschaft verbreitet. Im Vergleich der konfessionellen Gruppen gehören unter den Juden regelmäßig relativ mehr Schüler der ,Spitzengruppe‘ an. Allerdings ist zwischen dem Sprachniveau der über-/durchschnittlichen jüdischen und der über/durchschnittlichen katholischen Fraktion kein einheitlicher und auch kein einmalig großartiger Unterschied festzustellen. Bessere Leistungen im Wahlfach Tschechisch sind für beide kennzeichnend und können als partiell ausgleichender Faktor gegenüber der Asymmetrie zwischen Mutter- und Zweisprache interpretiert werden. Jedoch dürfte der Effekt durch den ausgewiesenen Wahlfachcharakter der zweiten Landessprache relativ gering sein. Als Fazit bleibt festzuhalten, dass unter den deklarierten Deutschen, insbesondere jüdischer Konfession, auch Ende des 19. Jahrhunderts ein potenzieller deutsch-tschechischer Bilingualismus vorhanden ist.635 Bei den deutschen Katholiken, deren Anteil an der Schülerschaft im Laufe des Beobachtungszeitraumes deutlich zurückgeht, ist dieser zwar nicht in dem Maße üblich, doch im gegebenen Fall auf einem vergleichbar guten Niveau einzuordnen. An der deutschen Piaristenvolksschule ist auf Grund der geringen Zahl deklarierter tschechischer Muttersprachler wiederum mit der umfassenderen Gruppe überdurchschnittlicher Schüler zu operieren. Die Schüler werden für den gesamten Beobachtungszeitrum einheitlich in Bezug zum Durchschnitt der gesamten Klasse in Tschechisch geteilt (vgl. Tabelle 55: 374). Anders als in der ersten Periode an den Altstädter Volksschulen erzielen sowohl katholische als auch jüdische Schüler fast durchgehend in Tschechisch bessere Leistungen als in den Deutschfächern.636 Generell übertreffen die überdurchschnittlichen Juden in den Deutschfächern ihre katholischen Mitschüler oder erreichen mindestens deren Niveau.637 Zudem brillieren sie auch in Tschechisch mit mindestens vergleichbar guten Ergebnissen wie

635

636

637

Relativ gesehen und unter Ausschluss der Sonderfälle 1895/96 und 1897/98 an der Mädchenschule steigt der Anteil der über-/durchschnittlichen jüdischen Deutschen in der Gruppe der jüdischen Deutschen gegenüber den 1880ern sogar. Ausnahme bilden die Schuljahr 1876/77 und 1880/81, hier sind die jüdischen überdurchschnittlichen Schüler in den Deutschfächern besser als im Wahlfach. Im Schuljahr 1884/85 trifft dies auf beide konfessionelle Gruppen zu. Ausnahme bildet das Jahr 1878/79, als die überdurchschnittlichen katholischen Schüler in den Deutschfächern um 0.1 besser sind.

373

Institutionelle und individuelle Voraussetzungen des Bilingualismus

die katholischen Knaben.638 Die Notendifferenz zwischen Tschechisch und den Deutschfächern ist in der ,Spitzengruppe‘ allgemein gering, sodass hier die Vorzugsschüler der jeweiligen dritten Klassen versammelt sind. Gleichzeitig bestätigt aber das kaum über befriedigend hinausreichende Niveau der durch/unterdurchschnittlichen Schüler in Tschechisch, dass bei Ersteren durchaus von potenziell bilingualen, deutsch-tschechischen Sprechern ausgegangen werden kann. Der an den Altstädter Einrichtungen dominierende jüdische Charakter des deutsch-tschechischen Bilingualismus ist an der Piaristenvolksschule schwer festzustellen, da die Muttersprache bis einschließlich zum Schuljahr 1884/85 nicht dokumentiert ist und damit die Gruppe der überdurchschnittlichen Katholiken auch die ,echten‘ tschechischen Muttersprachler einschließt. Einzig der Anteil der Juden an der ,Spitzengruppe‘, der ab 1879/80 über ihrem grundsätzlichen Anteil an der Schülerschaft liegt639, lässt dergleichen ahnen. Tabelle 53: Deutsche Altstädter Volks- und Bürgerschule für Jungen – über/durchschnittliche Tschechischschüler ausgewählter dritter Klassen nach ihren Jahresdurchschnittsleistungen in Tschechisch und den Deutschfächern (ohne Schreiben) und ihrem Religionsbekenntnis alle nichtdeklarierten Tschechen - i. Vgl. zum Klassendurchschnitt überdurchschnittlich 1875/76

1878/79

1881/82

1882/83

alle deklarierten Deutschen - i. Vgl. zum Klassendurchschnitt der deklarierten Tschechen über-/durchschnittlich

1883/84

1884/85

1887/88

1889/90

1891/92

1894/95

1897/98

1899/1900

Sprachunterricht: Tsch. Dt. Tsch. Dt. Tsch. Dt. Tsch. Dt. Tsch. Dt. Tsch. Dt. Tsch. Dt. Tsch. Dt. Tsch. Dt. Tsch. Dt. Tsch. Dt. Tsch. Dt. katholisch jüdisch sonstige und k. A.

1,3 n n

1,5

1,7

1,6 23

2,5 4

2,4

1,6

1,6

1,8

60

24 1,6

n

2,3

81 1,9

2,4

1,7

1,7

1,8

43 47 2,0

34 1,8

1

2,3

1,8

1,7

1,9

45

2,2

1,0

1,9

1,3

27 38 1,5

1,8

1,1

1,7

1,4

1 13

1,8

1,6

1,5

1,9

4 21

1,8

1,5

2,1

1,3

9 23

1,7

1,6

1,5

1,5

4 21

1,8

1,0

1,8

1,0

10 31

1,1

1,0

1,5

1,0

1 19

1,4 2

Quelle: Vgl. AHMP: Deutsche Volks- und Bürgerschule für Knaben, Altstadt. Schulkataloge 18751900; eigene Berechnung.

638

639

2,1 6

Ausnahmen bilden nur die Schuljahre 1873/74 und 1878/79, als die Muttersprache nicht dokumentiert ist und unter den katholischen, überdurchschnittlichen Schülern wiederum einige tschechische Muttersprachler zu vermuten sind. Hier schneiden die Juden in Tschechisch um 0.2 bzw. 0.3 Notenpunkte schlechter ab. Ausnahme bildet das Schuljahr 1882/83, als 54 Prozent der Schülerschaft jüdisch, aber nur 48 Prozent der überdurchschnittlichen Schüler mosaischer Religion sind.

30

2,0

374

Institutionelle und individuelle Voraussetzungen des Bilingualismus

Tabelle 54: Deutsche Altstädter Volks- und Bürgerschule für Mädchen – über/durchschnittliche Tschechischschülerinnen ausgewählter dritter Klassen nach ihren Jahresdurchschnittsleistungen in Tschechisch und den Deutschfächern (ohne Schreiben) und ihrem Religionsbekenntnis alle nichtdeklarierten Tschechinnen - i. Vgl. zum Klassendurchschnitt überdurchschnittlich 1871/72

1875/76

1878/79

1880/81

1881/82

1882/83

alle deklarierten Deutschen - i. Vgl. zum Klassendurchschnitt der deklarierten Tschechinnen über-/durchschnittlich

1883/84

1884/85

1886/87

1889/90

1892/93

1895/96

1897/98

1898/99

Sprachunterricht: Tsch. Dt. Tsch. Dt. Tsch. Dt. Tsch. Dt. Tsch. Dt. Tsch. Dt. Tsch. Dt. Tsch. Dt. Tsch. Dt. Tsch. Dt. Tsch. Dt. Tsch. Dt. Tsch. Dt. Tsch. Dt. katholisch jüdisch sonstige und k. A.

1,1 n

2,0

57 1,0 1,8

n

2,0

107 1,5

1,3

2,6

1,1

8

n

1,1

2,2

1,3

73 1,6

1,2

1,5

1,0

13

1

1,1

1,5

1,6

12

4

2,3

1,2

76

2,1

1,6

76 1,5

1,3

27

1,4

1,8

1,8

2,0

24

2,8

1,3

2

2,4

1,3

83 1,7

1,2

31

2

2,1

1,3

1,6

1,1

12

18 1,5

1,2

17

1,5

1,0

18

1,8

1,0

2

1,5

1,3

5

1,6

1,1

4 1,9

1,2

15

1,1

1,0

6 1,4

1,3

13

1,9

1,5

3 1,3

1,4

22

2,8

1,0

1 1,9

1,3

4

2,3 2

3,4

1,0

3

1,8

21

1,9 1

Quelle: Vgl. AHMP: Deutsche Volks- und Bürgerschule für Mädchen, Altstadt. Schulkataloge 18711899; eigene Berechnung.

Tabelle 55: Deutsche Volksschule der Piaristen m. Ö. für Jungen – über/durchschnittliche Tschechischschüler ausgewählter dritter Klassen nach ihren Jahresdurchschnittsleistungen in Tschechisch und den Deutschfächern (ohne Schreiben) und ihrem Religionsbekenntnis alle nichtdeklarierten Tschechen - i. Vgl. zum Klassendurchschnitt überdurchschnittlich 1870/71

1873/74

1876/77

1878/79

1879/80

1880/81

1881/82

1882/83

1883/84

1884/85

1893/94

1895/96

1898/99

Sprachunterricht: Tsch. Dt. Tsch. Dt. Tsch. Dt. Tsch. Dt. Tsch. Dt. Tsch. Dt. Tsch. Dt. Tsch. Dt. Tsch. Dt. Tsch. Dt. Tsch. Dt. Tsch. Dt. Tsch. Dt. katholisch jüdisch sonstige und k. A.

1,5 n

2,3

55 1,1

1,3

1,3 n

1,4

2,0

2,4

45 1,7

8 2,4

5

2,0

67

2

n

1,2

1,8 10

1,5

1,9

38 1,6

1,8

2,0

25 2,0

13 1,4

1,9 1,5 16

1,5

1,5

19 1,4

1,5

1,6

2,0

17 1,4

20

1,3 3

1,4 24

1,2

1,6

12 1,7

1,2 11

1,3

1,5

19 1,2

1,3 27

1,9

1,8

17 1,4

1,6

1,5

1,6

1,3

1,4

1,8

1,8

1,1

6

23 1,9

1

1,6

10

21 1,8

1,4

1,6

1,7

1,1

38 1,4

1

Quelle: Vgl. AHMP: Privat-Volksschule des Piaristenordens für Jungen m. Ö. Schulkataloge 18701899; eigene Berechnung.

5.3.2.3

1,3

14

Sprachlich-territoriale Herkunft

Das weitere sprachliche Umfeld der Schüler/-innen, das Hinweise auf Sprachkontakte bereits in der frühen Sozialisation birgt und deren Niederschlag in etwaiger deutsch-tschechischer Zweisprachigkeit gilt es nun zu erörtern. An der deutschen Altstäter Volksschule für Knaben setzt sich die Gruppe überdurchschnittlicher Tschechischschüler bis 1883/84 und ab 1884/85 auch der Anteil der deklarierten Deutschen, die in Tschechisch an die Leistungen der deklarierten Tschechen heranreichen, vornehmlich aus gebürtigen Pragern (etwa zwei Drittel) und aus Schülern aus ,rein‘ tschechischsprachigen Gebieten (etwa ein Fünftel) zusammen. Die übrigen sprachlich-territorialen Kategorien (,rein‘ deutschsprachig, gemischtsprachig, sonstige) unterschreiten in der ersten Periode (bis 1883/84) durchgehend die Zehn-Prozent-Marke, danach zählen deklarierte Deutsche aus gemischtsprachigen Gebieten relativ häufiger zu den Besseren (vgl. Tabelle 56: 380).

24

1,3

Institutionelle und individuelle Voraussetzungen des Bilingualismus

375

Ein positiver Effekt der sprachlichen Herkunft lässt sich sowohl am Notenniveau in Tschechisch als auch am relativen Anteil der Schüler aus tschechischsprachigen Gebieten an der Gruppe Überdurchschnittlicher erkennen. Bis 1883/84 gehört ihr mindestens die Hälfte (1878/79, 1882/83), meist sogar aber vier Fünftel der Jungen mit tschechischen Geburtsorten an. Im Vergleich schafft unter den Pragern nur knapp die Hälfte der Schüler diesen Sprung. Außerdem sind unter den überdurchschnittlichen Tschechischschülern jene aus den tschechischen Landesteilen im Wahlfach zweite Landessprache immer unter den Besten, wohingegen die Jungen aus deutschsprachigen Gebieten zu den Schlechtesten zählen und tendenziell eher gerade noch den Klassendurchschnitt übertreffen. Sie erzielen oftmals die besten Leistungen in den Deutschfächern (z.B. 1875/76, 1881/82, 1882/83). Die Kinder aus tschechischsprachigen Gebieten sind in den Deutschfächern nicht konstant schlecht, lediglich 1878/79 erzielen sie das schlechteste Ergebnis. Zieht man jedoch zusätzlich das Religionsbekenntnis in Betracht, wird sehr schnell deutlich, dass dieses überraschend gute Abschneiden ausschließlich auf Kinder jüdischer Konfession zurückzuführen ist, ihre Noten in den Deutschfächern liegen zwischen sehr gut und gut und jene der katholischen Kinder dagegen zwischen gut und befriedigend. Gleiches gilt im Übrigen für Prag.640 Nur die katholischen Schüler aus den deutschsprachigen Gebieten erreichen in den Deutschfächern ein ähnlich hohes Niveau wie die jüdischen Knaben. Nicht zu vergessen ist in dieser ersten Periode allerdings der Einfluss der ,echten‘ tschechischen Muttersprachler, deren Übersiedlung aus tschechischen Landesteilen in die Hauptstadt charakteristisch ist. Sie zeichnen u.a. sicherlich auch für die sehr guten Tschechischnoten und das schlechte Abschneiden der Katholiken in Deutsch verantwortlich. Doch bestätigen die Entwicklungen der zweiten Periode, in der eine Begrenzung auf die deklarierten Deutschen möglich ist und zudem der Durchschnitt der tschechischen Muttersprachler eine erschwerte Qualifikationshürde für die durch/überdurchschnittliche Gruppe in Tschechisch bietet, mindestens die Tendenz einer positiven Auswirkung der sprachlichen Herkunft auf die Sprachkenntnisse. So liegt der Anteil der durch-/überdurchschnittlichen Schüler innerhalb der Kategorie ,aus tschechischsprachigen Gebieten‘ meist641 über dem allgemeinen Anteil der durch-/überdurchschnittlichen Deutschen (vgl. Tabelle 50: 367). Bei den Jun-

640

641

In Tschechisch sind dagegen – wie bereits festgestellt – die katholischen Schüler etwas besser. Beispielhaft werden hier die Notenkombinationen der Schüler aus den tschechischsprachigen Gebieten im Schuljahr 1882/83 dargestellt. In Tschechisch erzielen die katholischen Schüler einen Durchschnitt von 1.6, die Juden von 1.8. In den Deutschfächern erreichen die Katholiken dagegen nur 2.6 im Durchschnitt, währen die jüdischen Schüler mit 1.6 glänzen. Charakteristisch für Prag ist z.B. das Schuljahr 1881/82, als die katholischen Schüler in Tschechisch einen Durchschnitt von 1.6 und die Juden von 1.8 erzielen, Letztere in den Deutschfächern aber 1.6 erreichen, während die Durchschnittsnote der Katholiken bei 2.3 liegt. Ausnahme bilden die Schuljlahre 1894/95 und 1899/1900, hier ist der Anteil geringfügig kleiner.

376

Institutionelle und individuelle Voraussetzungen des Bilingualismus

gen aus deutschsprachigen Gebieten ist er – mit Ausnahme von 1891/92 – deutlich kleiner. Auf Grund des strengeren Referenzwertes variiert das Notenniveau in Tschechisch zwischen den sprachlich differenzierten Gebieten anders als im ersten Zeitabschnitt nicht sehr stark. Die deklarierten Deutschen aus tschechischsprachigen Gebieten glänzen in Tschechisch ebenso wie jene aus deutschsprachigen Gegenden. Unterschiede treten jedoch in Bezug auf die Deutschfächer auf. Das Schlusslicht bilden hier eindeutig die Kinder aus tschechischsprachigen Gebieten. Folglich ist festzustellen, dass sich unter den deklarierten Deutschen nur die wirklich guten Tschechischsprecher qualifizieren. Ein Einflussfaktor ist hierbei die sprachlich-territoriale Herkunft. Ihre Wirkung reicht aber nicht aus, um eine feine Differenzierung des Niveaus zu bedingen. In den Deutschfächern deuten die Leistungen der Schüler aus tschechischen Landesteilen dagegen einen negativen Niederschlag des (früheren) sprachlichen Umfelds im Notenspiegel an. Das Profil der potenziellen Träger des deutsch-tschechischen Bilingualismus kann weiter geschärft werden. Sie stammen vorwiegend aus Prag und den tschechischsprachigen Gebieten. Die ausgeglichensten Ergebnisse in den beiden Sprachen auf jeweils gutem Niveau erzielen die Schüler aus der Landeshauptstadt – unabhängig von der Konfession. Die zweite Gruppe, die relativ häufiger in der ,Spitzengruppe‘ erscheint, sind die jüdischen Deutschen aus tschechischsprachigen Gebieten. Auf der anderen Seite erreichen die katholischen Deutschen aus deutschsprachigen und zum Teil auch aus tschechischsprachigen Gebieten relativ selten die Leistungen der tschechischen Muttersprachler. Sind sie jedoch in der Gruppe durch/überdurchschnittlicher Tschechischschüler, dann überzeugen sie mit meist sehr guten Ergebnissen. An der deutschen Altstädter Volksschule für Mädchen (vgl. Tabelle 57: 380) stimmen die grundsätzlichen Tendenzen überein, auch wenn u.a. die Zusammensetzung der überdurchschnittlichen Tschechischschülerinnen nach der sprachlichen Verteilung im Geburtsort leicht differiert. In der ersten Periode sind beispielsweise die Pragerinnen noch stärker vertreten, während die Mädchen aus tschechischsprachigen Gebieten als zweitstärkste Fraktion in der ,Spitzengruppe‘ nur etwa ein Siebtel, ab 1884/85 etwa ein Sechstel bilden. Zu erwähnen sind – schlaglichtartig – ferner die Schülerinnen aus gemischtsprachigen Gebieten, die im Schuljahr 1871/72 knapp ein Fünftel und 1882/83 knapp ein Zehntel der besseren ,Hälfte‘ ausmachen. In Bezug auf das Niveau sind die Zusammenhänge zwischen sprachlich-territorialer Herkunft und den erzielten Noten in beiden Perioden zwar vorhanden, aber schwächer ausgeprägt als an der Jungenschule. Aus tschechischsprachigen Gebieten stammende Mädchen sind v.a. bis 1883/84 in Tschechisch relativ besser und in den Deutschfächern relativ schlechter. Bei den überdurchschnittlichen Mädchen mit deutschem Geburtsort ist das Verhältnis umgekehrt. Innerhalb der Gruppe der durch-/überdurchschnittlichen deklarierten Deutschen, die im Vergleich zur Jungenschule zum Teil relativ klein ausfällt (vgl.

Institutionelle und individuelle Voraussetzungen des Bilingualismus

377

Tabelle 50: 367; Tabelle 51: 368), trifft dies nur mehr vereinzelt zu. Bestätigt wird allerdings die Relation zwischen dem sprachlichen Charakter des Geburtsortes und der Zugehörigkeit zu den besseren Tschechischschülern im Vergleich des Anteils der durch-/überdurchschnittlichen Schülerinnen innerhalb der Gruppe der aus tschechischsprachigen Gebieten stammenden Mädchen mit dem allgemeinen Anteil der durch-/überdurchschnittlichen Schülerinnen (vgl. Tabelle 57: 380; Tabelle 51: 368). Ab 1886/87 – im Übrigen auch in der ersten Periode mit Ausnahme von 1875/76 – ist Ersterer immer größer. Bei den Mädchen aus deutschsprachigen Gebieten und auch den deutschen Pragerinnen dagegen nie.642 Die Differenzierung nach dem Religionsbekenntnis zeigt, dass hier der relative Anteil der jüdischen Schülerinnen regelmäßig zu niedrig ausfällt.643 Für die erste Periode ist kennzeichnend, dass unter den katholischen Mädchen – insbesondere aus Prag und den tschechischsprachigen Gebieten – jeweils die deutliche Mehrheit dem überdurchschnittlichen Teil der Klasse angehört. Ohne Zweifel spielen hier die nicht identifizierbaren, tschechischen Muttersprachler eine entscheidende Rolle. Dass die jüdischen Schülerinnen – insbesondere aus Prag – auch in der ersten Periode dauerhaft sehr schwach vertreten sind, ist höchstens indirekt auf die tschechischen Muttersprachlerinnen zurückzuführen. Sicherlich ist die Hürde der überdurchschnittlichen Tschechischleistungen bei – gegebenenfalls – vielen, nicht zu identifizierenden Tschechinnen schwerer zu nehmen. Gleichzeitig ist der Tschechischdurchschnitt der jüdischen Pragerinnen in der durch/unterdurchschnittlichen Gruppe im Vergleich zu den katholischen Pragerinnen immer noch schlechter bzw. maximal gleich gut. Demzufolge scheint das weibliche Geschlecht mosaischer Konfession weniger Ambitionen zu hegen, profunde Tschechischkenntnisse zu erwerben, als etwa die Jungen – zumindest zum Teil zukünftige, auf tschechisches Klientel angewiesene Handels- und Kaufmänner. Berufstätigkeit bei Frauen ist in den 1870er Jahren und auch in der Generation Franz Kafkas kaum verbreitet. Vielmehr geht es darum, „brave und gefügige Mädchen“ zu schaffen. „Das Ziel“ der „Erziehung besteht nicht darin, die Anlagen, Begabungen und Fähigkeiten der Mädchen zu entwickeln, sondern sie auf die zukünftige Frauenrolle als Ehefrau und Mutter zuzuschneiden und in diese fest vorgegebene Bahn zu lenken“ (Wagnerová 1997: 93). Dass „bürgerlichen Vorstellungen von der Stellung der Frau über die jüdische Tradition der zentralen Muttergestalt [...] Oberhand gewonnen“ (ebd.: 94) haben, gilt Ende des 19. Jahrhunderts sicherlich nicht nur für die Familie Kafka in Prag. Tschechischen Sprachkenntnissen wird für eine ,erfolgreiche Heirat‘ weniger Bedeutung zugemessen. 642

643

Ausgenommen sind die beiden, bereits als Sonderfall behandelten Schuljahre 1895/96 und 1897/98. Hier erreicht insgesamt nur eine deutsche Pragerin in Tschechisch das durchschnittliche Niveau der deklarierten Tschechinnen, ohne dass dies – zumindest 1897/98 – mit 1.8 ungewöhnlich hoch ist. Lediglich in den Schuljahren 1886/87 und 1898/99 liegt der Anteil der über-/durchschnittlichen Pragerinnen jüdischer Konfession knapp über dem allgemeinen Anteil der ,Spitzengruppe‘.

378

Institutionelle und individuelle Voraussetzungen des Bilingualismus

Insgesamt besteht auch an der Altstädter Mädchenschule ein Zusammenhang zwischen durch-/überdurchschnittlichen Leistungen in Tschechisch und der sprachlichen Verteilung im Geburtsort, allerdings gegenüber der Jungenschule weniger stark ausgeprägt. Mädchen aus Prag und den tschechischsprachigen Gebieten sind unter den durch-/überdurchschnittlichen Tschechischschülerinnen quantitativ am häufigsten vertreten. Qualitativ differiert – anders als an der Altstädter Knabenschule – das Niveau in Tschechisch (immer sehr gut) und auch den Deutschfächern (mindestens gut) innerhalb der ,Spitzengruppe‘ kaum. In Relation zum allgemeinen Anteil der durch-/überdurchschnittlichen Mädchen an der Schülerschaft erreichen jüdische Deutsche aus tschechischsprachigen Gebieten und – bis 1892/93 – auch katholische Deutsche aus Prag relativ häufiger das Niveau der tschechischen Muttersprachlerinnen. Absolut haben fraglos die jüdischen Pragerinnen den größten Anteil, doch relativ bilden sie mit Ausnahme von 1898/99 weniger als ein Drittel der in Prag geborenen Schülerinnen mosaischer Konfession. Potenzielle deutsch-tschechische Bilingualität ist demzufolge bei den Mädchen noch weniger der Masse, als vielmehr einem Kern jüdischer und katholischer Schülerinnen aus Prag und nach Prag migrierter böhmischer Landjuden eigen. An der deutschen Volksschule der Piaristen (vgl. Tabelle 58: 381) ist die Schülerschaft wiederum über den gesamten Beobachtungszeitraum ausschließlich in Relation zum Durchschnitt der gesamten Klasse in Tschechisch aufgegliedert. Den Löwenanteil an der überdurchschnittlichen Gruppe hat hier noch eindeutiger als an den Altstädter Schulen die Prager Fraktion inne. Ab 1878/79 sind mindestens 70 und bis zu 82 Prozent in der böhmischen Landeshauptstadt geboren (Ausnahme 1881/82: 66 %). Gleichfalls stehen an zweiter Stelle die Jungen aus tschechischsprachigen Gebieten, allerdings sinkt ihr Anteil nach 1882/83 dauerhaft auf unter 10 Prozent ab. Ein positiver Effekt des tschechischsprachigen Umfelds in Bezug auf die Qualifikation für die ,Spitzengruppe‘ ist an der Piaristenschule in den ausgewählten Schuljahren von 1883/84 bis 1895/96 nicht nachzuweisen. Allerdings deutete bereits das schlechte Abschneiden der deklarierten Tschechen in ihrer Muttersprache (vgl. Tabelle 34: 346) auf eine Konzeption des Wahlfachunterrichts hin, die Vorkenntnisse nicht zwingend vorteilhaft integriert. Der mit Ausnahme von 1895/96 relativ niedrigere Anteil der Schüler aus deutschsprachigen Gebieten stimmt wiederum mit dem konstatierten Zusammenhang zwischen sprachlicher Verteilung im Geburtsort und den Leistungen in Tschechisch überein. Ferner weisen darauf die überwiegend schlechten Noten der aus tschechischsprachigen Gebieten stammenden Schüler in den Deutschfächern hin.644 Im Unterschied zur Mädchenschule sind die überdurchschnittlichen Schüler in der Kategorie Prag gegenüber den generellen Verhältnissen (vgl. Tabelle 52: 368) relativ stärker vertreten.645 Bis zum Schuljahr 1882/83 ist die Prager überdurchschnittliche Gruppe 644 645

Ausnahme bildet das Schuljahr 1878/79, als sie mit 1.8 sogar zu den Besten zählen. Ausnahmen bilden die Jahre 1873/74, 1880/81, 1881/82, als ihr Anteil jeweils um nur maximal vier Prozent geringer ausfällt.

Institutionelle und individuelle Voraussetzungen des Bilingualismus

379

vorwiegend katholischen Bekenntnisses, in der Folgezeit teilt sie sich in etwa auf beide Konfessionen auf, ab 1893/94 überwiegen schließlich die Schüler mit jüdischem Glauben. Auf diesen wachsenden Anteil jüdischer Schüler unter den Pragern ist auch die Steigerung des Niveaus in den Deutschfächern zurückzuführen.646 Im Ganzen wandelt sich die sprachlich-territoriale Zusammensetzung der Gruppe überdurchschnittlicher Tschechischschüler an der Piaristenschule v.a. unter Einbeziehung konfessioneller Gesichtspunkte. In den 1870er Jahren sind die Hauptvertreter des potenziellen deutsch-tschechischen bzw. zum Teil tschechischdeutschen Bilingualismus gebürtige Prager und Jungen aus tschechischsprachigen Gebieten jeweils vornehmlich katholischer Religion. Insbesondere in den Anfangsjahren sind die Sprachkenntnisse durch eine starke tschechisch-deutsche Asymmetrie gekennzeichnet. In der folgenden Übergangsphase beginnt bereits die Dominanz der Prager unter den Besten – unabhängig von der Konfession. Damit einhergeht eine Verbesserung des Niveaus in den Deutschfächern. Ab 1883/84 werden potenziell deutsch-tschechisch bilinguale Sprecher hauptsächlich durch jüdische Prager repräsentiert, die in beiden Fächern mit sehr guten Noten überzeugen. Der Anteil der Katholiken und so auch der in Prag Geborenen ist allgemein von einem starken Rückgang gekennzeichnet. Unter den wenigen Verbliebenen gehört jedoch konstant die Mehrheit der überdurchschnittlichen Hälfte der Schülerschaft an, die sich gleichfalls dem relativ höheren Niveau der Sprachkenntnisse angepasst hat. Dies gilt ebenso für die überdurchschnittlichen ,Minderheiten‘ aus den deutsch- und gemischtsprachigen Geburtsorten, die jüdischer und katholischer Religion sind. Charakteristische Vertreter des potenziellen deutsch-tschechischen Bilingualismus bleiben jedoch an allen drei deutschen Volksschulen gebürtige Prager jüdischer Konfession. Die sprachliche Verteilung im Geburtsort – die für die böhmische Landeshauptstadt als zweisprachig zu definieren ist – hat sich als partieller Einflussfaktor für die Sprachkenntnisse der Schüler/-innen herauskristallisiert.

646

Unter den katholischen Schülern schneiden nur einzelne, aus gemischtsprachigen Gebieten stammende Schüler in den Deutschfächern mehrmals besser ab als im Wahlfach (1879/80, 1883/84, 1893/94, 1895/96).

380

Institutionelle und individuelle Voraussetzungen des Bilingualismus

Tabelle 56: Deutsche Altstädter Volks- und Bürgerschule für Jungen – über/durchschnittliche Tschechischschüler ausgewählter dritter Klassen nach ihren Jahresdurchschnittsleistungen in Tschechisch und den Deutschfächern (ohne Schreiben) und der sprachlich-territorialen Herkunft alle nichtdeklarierten Tschechen - i. Vgl. zum Klassendurchschnitt überdurchschnittlich 1875/76

1878/79

1881/82

1882/83

alle deklarierten Deutschen - i. Vgl. zum Klassendurchschnitt der deklarierten Tschechen über-/durchschnittlich

1883/84

1884/85

1887/88

1889/90

1891/92

1894/95

1897/98 1899/1900

Sprachunterricht: Tsch. Dt. Tsch. Dt. Tsch. Dt. Tsch. Dt. Tsch. Dt. Tsch. Dt. Tsch. Dt. Tsch. Dt. Tsch. Dt. Tsch. Dt. Tsch. Dt. Tsch. Dt. deutschsprachig

n

gemischtsprachig

n

1,8

1,9

1,0

tschechischsprachig n

2,7

1,4

sonstige und k. A.

1,6

2,1

1,5

1,8

2,3

1,5

2,0

1,6

2,1

1,4

2,0

15 1,9

2,1

51 2,1

1,0

2,0

2,3

1,8

1,0

1,8 5

2,0

1,8

2,0

1,0

1,0

2,2

2,1

1,2

2,0

1,6

1,4

1,4

10

2,0

1,4

4 1,9

6

1,3

1,0

1,3

1

1

3

37

1,6

1,8 1

2,0

1,9

1,3 1

19

1,7

8

2,1

1

1,7

54

5

2,1 4

2,2

1,7

2,0 6

1,8

21 2,2

1,5 4

2,4

1,6

64

5

1,9

3

8 2,2

1,8 5

1,6

1,5

74

n

1,7

2

21

n

2,2 4

3

1,5

Prag

1,8

6

1,7

2,1

1,8

17

1,7

1,3

3 1,5

7 2,0

1,7

1,3

1,0

1,3

1,5

1,0

1,4

2,3

1,5

1,0

1,7

1,8

2,0

1,0

2,0

1,0

2,7 3

1,0

3

27

4

1,3 2

4

16

2,1 2

3

5

21

1,7 6

2,8 7

1,3

15

1,0

1,7

24

1,9 1

Quelle: Vgl. AHMP: Deutsche Volks- und Bürgerschule für Knaben, Altstadt. Schulkataloge 18751900; eigene Berechnung.

Tabelle 57: Deutsche Altstädter Volks- und Bürgerschule für Mädchen – über/durchschnittliche Tschechischschülerinnen ausgewählter dritter Klassen nach ihren Jahresdurchschnittsleistungen in Tschechisch und den Deutschfächern (ohne Schreiben) und der sprachlich-territorialen Herkunft alle nichtdeklarierten Tschechinnen - i. Vgl. zum Klassendurchschnitt überdurchschnittlich 1871/72

1875/76

1878/79

1880/81

1881/82

1882/83

1883/84

alle deklarierten Deutschen - i. Vgl. zum Klassendurchschnitt der deklarierten Tschechinnen über-/durchschnittlich 1884/85

1886/87

1889/90

1892/93

1895/96

1897/98

1898/99

Sprachunterricht: Tsch. Dt. Tsch. Dt. Tsch. Dt. Tsch. Dt. Tsch. Dt. Tsch. Dt. Tsch. Dt. Tsch. Dt. Tsch. Dt. Tsch. Dt. Tsch. Dt. Tsch. Dt. Tsch. Dt. Tsch. Dt. deutschsprachig

n

gemischtsprachig

n

1,0 1,0

tschechischsprachig n Prag sonstige und k. A.

1,9

1,1

2,0

1,0

1,7

1,2

2,1

1,1

1,0

2,4

1,1

1,9 2,0

1,1 69

1,4

1,6

4 1,4

2,0

2,1

1,3

2,3

1,4

1,2

4

1,7

1,2

2,1

1,2

2,2

1,1

2,0

1,4

1,6

2,3

1,5

1,9

1,7

2,1

1,3

1,1

1,0

2,8

1,2

1,2

2,1

1,2

2,3

1,2

2,0

1,4

1,3

1,7

1,2

1,9

1,5

1,5

1,0

2,2

1,0

1,3

1,5

1,1

2,3

1,0

2,0

1,3

1,5

1,8

1,2

1,6

1,0

1,5

1,5

2,2

1,4

1,0

1,8 1

1,6

1,4

2

3,1

1,0

2

1,2

1,5 1,1

2,8

1,3

1

Quelle: Vgl. AHMP: Deutsche Volks- und Bürgerschule für Mädchen, Altstadt. Schulkataloge 18711899; eigene Berechnung.

1,0 14

3,9 1

2,5 4

1 1,0

1,9 4

16 1,3

1

1,5

1,2

1,0

2

7

13

2,3 2

1,4

1,2

3

14 2

1,0

2

3

21

1,3 3

1 1,4

1

2,0 1

4

23 3

1,3

2

5

85

1,8 2

1 2,6

4

1,9 3

14

68 2

2,5

11

22

74 1,7

2,0 2

6

16 2,1

1,6 4

5

11

104 3

1,3

6

11 2,0

1,8 1

2,2

1,3 n

1,3

2

10 41

1,8 4

12

1,1 n

1,3

3

1,6

381

Institutionelle und individuelle Voraussetzungen des Bilingualismus

Tabelle 58: Deutsche Volksschule der Piaristen m. Ö. für Jungen – über/durchschnittliche Tschechischschüler ausgewählter dritter Klassen nach ihren Jahresdurchschnittsleistungen in Tschechisch und den Deutschfächern (ohne Schreiben) und der sprachlich-territorialen Herkunft alle nichtdeklarierten Tschechen - i. Vgl. zum Klassendurchschnitt überdurchschnittlich 1870/71

1873/74

1876/77

1878/79

1879/80

1880/81

1881/82

1882/83

1883/84

1884/85

1893/94

1895/96

1898/99

Sprachunterricht: Tsch. Dt. Tsch. Dt. Tsch. Dt. Tsch. Dt. Tsch. Dt. Tsch. Dt. Tsch. Dt. Tsch. Dt. Tsch. Dt. Tsch. Dt. Tsch. Dt. Tsch. Dt. Tsch. Dt. deutschsprachig gemischtsprachig

1,1 1,6 1,3

n

sonstige und k. A.

2,3

1,1

2,1

1,8

1,3

2,0

2,0

2,0

1,2

2,5

1,5

2,0

1,0

2,2

2,2

1,8

1,2

2,2

1,8

1,8

2,5

1,0

1,7

1,7

1,6

1,4

1,6

1,5

2,2

1,4 1,1 18

1,7 3

1,3

1,7

1,4

1,7 1,7

2,2

1,9

1,3 35

1,6 1,4

2,3

1,5

1,7 29

1,4 1,6

2,3

1,0

1,3

2,0

1,3

1,4

1,7

1,2

2,0 1

Soziale Herkunft

Abschließend gilt es auf Basis der Berufsangabe des Vaters das soziale Profil der Träger des deutsch-tschechischen Bilingualismus zu schärfen. Wiederum ist an den Altstädter Volksschulen in der ersten Periode, d.h. bis zum Schuljahr 1883/84, zu berücksichtigen, dass wegen der fehlenden Angabe der Muttersprache die Schülerschaft nach dem allgemeinen Klassendurchschnitt in Tschechisch aufgegliedert wird, wohingegen ab 1884/85 für die deklarierten Deutschen der Durchschnitt der deklarierten Tschechen in ihrer Muttersprache als Referenzwert gilt. In der Zusammensetzung der jeweiligen Gruppe durch-/überdurchschnittlicher Tschechischschüler an den deutschen Altstädter Volksschulen scheint über den gesamten Beobachtungszeitraum die jeweils allgemeine soziale Struktur der ausgewählten dritten Klassen durch (vgl. Tabelle 19: 301). An der deutschen Altstädter Volksschule für Knaben ist insbesondere in der ersten Periode (bis 1883/84) in Bezug auf die Verteilung der in Tschechisch überdurchschnittlichen Schüler auf die gesellschaftlichen Klassen kaum ein Unterschied zur allgemeinen Situation festzustellen (vgl. Tabelle 59: 387).647 Zur Hälfte stammt die ,Spitzengruppe‘ etwa aus dem traditionellen Kleinbürgertum, ein bis zwei Zehntel aus dem neuen Kleinbürgertum und etwa ein Zehntel aus dem Besitzbürgertum. Bildungsbürgertum und Unterschicht sind am schwächsten repräsentiert. Die Gegenüberstellung des Anteils der überdurchschnittlichen Schüler innerhalb einer sozialen Kategorie mit dem allgemeinen Anteil der überdurchschnittlichen Schüler (vgl. Tabelle 50: 367) deckt etwas feinere Nuancen auf. Demnach sind Kinder aus dem Besitzbürgertum – mit Ausnahme von 1875/76 – 647

1,1 31

Quelle: Vgl. AHMP: Privat-Volksschule des Piaristenordens für Jungen m. Ö. Schulkataloge 18701899; eigene Berechnung.

5.3.2.4

1,4 3

1,8

2,0

1,3 3

34

1

1,0 1

1

24 1,3

1,0 1,1

3

2 1,7

1,4 1,6

5

4

3 1,4

1,3 1,5

3

3

4 1,3

1,3 1,3

4

5

4 1,7

1,3

1,3 1

27 1,5

1,5 1,2

2 1,3

5 1,4

1

1,1

1,9 3

28 2,0

2,1 3

4

4,0 1

1,7

1,4 2

1,6

2,3

1,7 4

33 2,0

2

1,3

3

38

3

1,6

2,0 3

10 1,6

1,0 1

2

2,2

1,4

2,4 2

36 2,0

7

1,9

9

38 2,4

1,5

1,8 3

19 1,3

2,6 4

6

2,4

3

1,8 5

38 1,8

n

1,3

14 1,5

Prag

1,1

2,5 4

n

tschechischsprachig n

1,6 3

n

Lediglich zu erwähnen ist gegebenenfalls der Rückgang des Anteils der Schüler aus dem traditionellen Kleinbürgertum von 67 Prozent (1881/82) auf 49 Prozent (1882/83), damit liegt der erste Wert leicht über dem allgemeinen Anteil dieser sozialen Klasse (62 %) und Letzterer etwas darunter (56 %) (vgl. Tabelle 20: 301).

1,3

382

Institutionelle und individuelle Voraussetzungen des Bilingualismus

relativ häufiger in der ,Spitzengruppe‘.648 Knaben aus der Unterschicht dagegen qualifizieren sich in den Schuljahren 1878/79, 1881/82 und 1882/83 – zum Teil deutlich – relativ seltener. Während in Tschechisch die Noten, die ja das Teilungsmaß darstellten, über die sozialen Klassen hinweg sehr ähnlich ausfallen, setzen sich in den Deutschfächern die Schüler aus dem Bildungsbürgertum und dem neuen Kleinbürgertum in einigen Jahren (z.B. 1875/76, 1881/82) gegenüber dem Rest ab. Bezeichnend hierfür ist, dass Abkömmlinge des Bürgertums in der Unterrichtssprache nie schlechter als 2.0, Kinder aus der Unterschicht dagegen nie besser als 2.1 abschneiden. In der zweiten Periode, in der die deklarierten Deutschen herausgefiltert werden und den Referenzwert der Durchschnitt der tschechischen Muttersprachler bildet, differiert die Situation in den einzelnen Jahren und in einzelnen sozialen Kategorien auffälliger. Die traditionelle Mittelschicht vergrößert – abgesehen von 1887/88 und 1899/1900 – ihren Löwenanteil an der ,Spitzengruppe‘ nochmals auf knapp zwei Drittel und 1897/98 sogar auf über vier Fünftel. Aber nicht nur die alte, sondern auch die neue Mittelschicht ist unter den in Tschechisch durch/überdurchschnittlichen Deutschen – außer im Jahr 1887/88 – relativ häufiger repräsentiert. Demgegenüber erreichen unterdurchschnittlich wenige Schüler aus der deutschen Oberschicht in Tschechisch das Niveau der Muttersprachler, lediglich 1889/90 und zur Jahrhundertwende können sowohl die Kinder aus dem Besitz- wie dem Bildungsbürgertum überzeugen. Die Arbeiterkinder sind in den 1880er Jahren in der ,Spitzengruppe‘ noch entsprechend dem allgemeinen Durchschnitt vertreten, danach liegt ihr Anteil darunter. In Bezug auf das Notenniveau erzielen – anders als in der ersten Periode – die Schüler aus der Mittelschicht die konstant besten Ergebnisse in beiden Sprachen. Die wenigen Schüler aus dem Bildungsbürgertum stechen in den Deutschfächern keineswegs mehr durch besondere Glanzleistungen heraus, ebenso wenig die Kinder aus der Unterschicht wegen dauerhaft schlechter Deutschnoten. Unter Berücksichtigung des Religionsbekenntnisses zeigt sich, dass in der ersten Periode unter den katholischen Schülern in allen gesellschaftlichen Kategorien meist mindestens die Hälfte zu den überdurchschnittlichen Tschechischschülern zählt.649 Bei den Schülern jüdischer Konfession trifft dies nur auf die Oberschicht zu. In der alten wie der neuen Mittelschicht liegt der Anteil der Jungen mit durch-

648

649

Dies gilt gleichfalls für die Schüler, die keiner Schicht zugeordnet werden. Ihre Einordnung in die gesellschaftlichen Kategorien ist nicht möglich, da der Vater meist verstorben ist und der Beruf nicht bekannt ist. Ersatzweise den Beruf des Vormundes zu verwenden erscheint nicht sinnvoll, da diese Protektionsfunktion v.a. von Mitgliedertn der oberen gesellschaftlichen Schichten übernommen wurde, der Schützling deshalb jedoch nicht dieser sozialen Klasse zuzuordnen ist. Ausnahme bilden die folgenden Jahre, in denen sich weniger als 40 Prozent der katholischen Knaben für die Gruppe der überdurchschnittlichen Tschechischschüler qualifizieren: 1878/79 (38 % – neues Kleinbürgertum), 1881/82 (33 % Bildungsbürgertum, 20 % – Unterschicht), 1883/84 (33 % – Besitzbürgertum).

Institutionelle und individuelle Voraussetzungen des Bilingualismus

383

schnittlich besseren Leistungen in Tschechisch meist unter 50 Prozent.650 Die jüdischen Arbeiterkinder schaffen lediglich 1875/76 und 1883/84 zum Teil die Hürde, sie gehören verstärkt der durch-/unterdurchschnittlichen Hälfte an. In der zweiten Periode ändert sich jedoch das Bild, auch weil sich die konfessionellen Mehrheitsverhältnisse umkehren. Das Jahr 1884/85 läutet diesen Wandel umgehend ein. Denn, obgleich der Anteil der in Tschechisch durch/überdurchschnittlich deklarierten Deutschen nur bei 18 Prozent liegt, ist der katholische Anteil mit nur einem Jungen, namentlich Franz Wohlmann, dem in den Königlichen Weinbergen geborenen Sohn eines Bahnbeamten, winzig. Bis zur Jahrhundertwende stammen bei den Katholiken die durch-/überdurchschnittlichen Schüler am häufigsten aus der neuen Mittelschicht, zum Teil auch noch aus dem traditionellen Kleinbürgertum (1889/90, 1894/95, 1899/90). Die wenig übriggebliebenen Knaben katholischer Religion aus der Oberschicht und der Unterschicht dagegen zählen fast ausschließlich zu den unterdurchschnittlichen Schülern. Innerhalb der Gruppe der Juden weisen die Zöglinge der Oberschicht in Tschechisch überwiegend durch-/überdurchschnittliche Leistungen vor.651 In der zahlenmäßig am stärksten vertretenen sozialen Klasse, dem jüdischen traditionellen Kleinbürgertum, kann sich ab 1889/90 meist jeder zweite deklarierte Deutsche in Tschechisch mit den tschechischen Muttersprachlern vergleichen. Dagegen ist der Anteil der jüdischen Knaben aus dem neuen Kleinbürgertum etwas kleiner als bei den Katholiken. Die Präsenz deutscher Juden aus der Unterschicht in der ,Spitzengruppe‘ ist sehr wechselhaft, aber im Ganzen nicht schwächer als jene der anderen sozialen Klassen. Zusammenfassend lässt sich der potenzielle deutsch-tschechische bzw. der tschechisch-deutsche Bilingualismus auf Grundlage der Daten der Altstädter Volksschule für Knaben unter sozialen Gesichtspunkten wie folgt charakterisieren. In der ersten Periode sticht keine Gesellschaftsschicht durch eine besonders dichte Verbreitung des individuellen Bilingualismus in ihren Reihen hervor, höchstens das Besitzbürgertum ist hier im positiven und die Unterschicht im negativen Sinn zu erwähnen. Generell ist Zweisprachigkeit in allen gesellschaftlichen Kreisen ,gleich üblich‘. Allerdings zeigt die konfessionelle Aufgliederung, dass bei den jüdischen Vertretern lediglich in der Oberschicht eine Mehrheit potenziell Bilingualer herrscht. Im Kleinbürgertum befinden sie sich in einer knappen und in der Unterschicht in einer deutlichen Minderheit. Im Unterschied zu den katholischen Schülern, zu denen bis 1883/84 sicherlich noch einige tschechisch-deutsche Sprecher zählen, dürfte bei den Juden jedoch fast ausschließlich von potenzieller deutsch-tschechischer Bilingualität die Rede sein. Bei den katholischen Schülern aus dem Besitzbürgertum, dem traditionellen Kleinbürgertum und der Unter650 651

In der traditionellen Mittelschicht erreicht er 1881/82 immerhin 52 Prozent und im neuen Kleinbürgertum 1883/84 sogar 55 Prozent. Ausgenommen hiervon sind in Bezug auf das Besitzbürgertum die Schuljahre 1884/85, 1894/95 und 1897/98 sowie die Schuljahre1884/85 und 1887/88 für das Bildungsbürgertum.

384

Institutionelle und individuelle Voraussetzungen des Bilingualismus

schicht ist die Asymmetrie zwischen Tschechisch und Deutsch besonders stark ausgeprägt, die Differenz beträgt bis zu 1.2 Notenpunkte, sodass insbesondere in diesen sozialen Klassen noch eine tschechisch-deutsche Zweisprachigkeit zu vermuten ist. In der zweiten Periode, d.h. ab 1884/85, bezieht sich die Einschätzung nur noch auf mögliche deutsch-tschechische Bilingualität. Ihre typischen Vertreter stammen aus der alten und neuen Mittelschicht, sind mehrheitlich jüdischer Religion und weisen das konstanteste Sprachniveau vor. Ferner ist in der Oberschicht, aber nur der jüdischen, potenziell deutsch-tschechische Zweisprachigkeit verbreitet. Unter den katholischen Schülern sind jene aus dem neuen Kleinbürgertum am relativ häufigsten potenziell bilingual, insbesondere in der Ober- und der Unterschicht sind dagegen kaum noch deklarierte Deutsche katholischen Glaubens mit durch-/überdurchschnittlichen tschechischen Sprachkenntnissen zu finden. Demnach bleibt der individuelle deutsch-tschechische Bilingualismus auch in den 1880er und 1890er Jahren ein Phänomen aller sozialer Klassen – mit einer etwas schwächeren Präsenz in der Unterschicht. Mit Ausnahme des neuen Mittelstandes, der von den Badenischen Sprachenverordnungen und den angedrohten Sprachprüfungen am direktesten betroffen ist, – vor allen Dingen aber ein in der jüdischen Gemeinschaft verbreitetes, nicht jedoch allgemeingültiges Phänomen. An der deutschen Altstädter Volksschule für Mädchen (vgl. Tabelle 60: 387) kristallisiert sich in der ersten Periode ebenfalls keine gesellschaftliche Schicht heraus, deren Vertreter relativ häufiger durch überdurchschnittliche Tschechischnoten glänzten. Der im Vergleich zur Jungenschule höhere Anteil der Unterschichtkinder und die schwächere Präsenz der Oberschicht in der ,Spitzengruppe‘ ist auf die etwas andere soziale Struktur an der Mädchenanstalt zurückzuführen (vgl. Tabelle 21: 302). Demnach stammen zwei bis drei Fünftel der überdurchschnittlichen Tschechischschülerinnen aus dem traditionellen Kleinbürgertum, ein bis einmalig drei Zehntel aus der Unterschicht, etwa 10 Prozent aus der neuen Mittelschicht und insgesamt weniger als 10 Prozent aus Besitz- und Bildungsbürgertum. Gerade innerhalb der Oberschicht variiert der Anteil der überdurchschnittlichen Mädchen am heftigsten und liegt im Bildungsbürgertum beispielsweise im Schuljahr 1871/72 bei knapp 90 Prozent, in den folgenden Jahren bis 1881/82 dagegen beständig und zeitweise sehr deutlich unter 50 Prozent. Anders als an der Jungenschule sind unter den Mädchen die potenziellen bilingualen Sprecherinnen insbesondere in der zweiten Hälfte der 1870er Jahre selten in der Oberschicht zu finden. Vielmehr erzielen innerhalb der Klasse der Arbeiterkinder tendenziell mehr Mädchen überdurchschnittliche Leistungen in Tschechisch. Sie sind überwiegend katholischer Konfession und würden sich zum Teil sicherlich als Tschechinnen deklarieren. Anders als bei den Knaben ist ihr Bilingualismus jedoch nicht verstärkt asymmetrisch, denn ihre Ergebnisse in den Deutschfächern fallen nicht konstant schlechter aus als bei den übrigen Schülerinnen.

Institutionelle und individuelle Voraussetzungen des Bilingualismus

385

In der zweiten Periode ändert sich die soziale Struktur der potenziell deutschtschechisch Bilingualen insofern, als dass der Anteil der durch/überdurchschnittlichen Schülerinnen in der Mittelschicht, insbesondere dem neuen Kleinbürgertum bis 1892/93 (hier 70 %) überproportional hoch ist.652 Aus der traditionellen Mittelschicht erreicht bis 1892/93 etwa ein Drittel, zur Jahrhundertwende sogar über die Hälfte das Niveau der tschechischen Muttersprachlerinnen. Die vereinzelten Schülerinnen aus der Oberschicht – ob Besitz- oder Bildungsbürgertum – qualifizieren sich kaum für die ,Spitzengruppe‘.653 Was folglich die Bildungsziele für die Töchter der Oberschicht – unabhängig von der Konfession – betrifft, scheint die tschechische Sprache eine untergeordnete Rolle zu spielen. Im Vergleich zur ersten Periode erzielen nur noch wenige Kinder aus der Unterschicht (maximal ein Drittel) durch-/überdurchschnittliche Leistungen in Tschechisch. Unter Berücksichtigung des Religionsbekenntnisses zeigt sich, dass unter den katholischen deklarierten Deutschen bis 1892/93 die potenziell bilingualen Sprecher aus allen sozialen Schichten stammen, danach nur noch aus der Mittelschicht. Allerdings ist ihre absolute Zahl entsprechend der überwältigenden Dominanz der jüdischen Schülerinnen an der Altstädter Mädchenanstalt gering. In der jüdischen Gemeinschaft sind gleichfalls in allen gesellschaftlichen Klassen potenziell Zweisprachige zu finden, wobei absolut und auch relativ ihr Anteil in der Mittelschicht am höchsten ist. Hinsichtlich des Notenniveaus lassen sich in der zweiten Periode keine auf den sozialen Schichten beruhende, einheitliche Differenzen festmachen. Die Leistungen der schließlich Qualifizierten sind nicht nur in Tschechisch, sondern auch in den Deutschfächern generell sehr gut bis gut. Demnach gilt zusammenfassend auch für die deutsche Altstädter Volksschule für Mädchen, dass in der ersten Periode potenzielle Bilingualität in allen sozialen Kreisen verhältnismäßig gleich oft auftritt. Lediglich in der insbesondere jüdischen Oberschicht sind bis 1881/82 relativ wenige, potenziell deutsch-tschechisch bilinguale Sprecher zu finden. Ihr Anteil innerhalb der jüdischen Gemeinschaft ist in diesem Zeitabschnitt generell, v.a. wegen der nicht identifizierbaren tschechisch-deutschen Sprecher unter den Katholiken, deutlich kleiner. Ab 1884/85 stammen – nun ausschließlich innerhalb der Gruppe deklarierter Deutscher – weiterhin die meisten Schüler mit durch-/überdurchschnittlichen Tschechischkenntnissen aus dem Kleinbürgertum. Gemäß ihrem relativ höheren Anteil an der ,Spitzengruppe‘ ist dies die motivierteste Lerngruppe. Zur Jahrhundertwende sind knapp zwei von drei jüdischen Deutschen aus dem traditionellen Kleinbürgertum potenziell bilingual, allerdings trifft dies auf die soziale Unter- und Oberklasse seit 652

653

Ausgenommen sind wieder die bereits diskutierten Jahre 1895/96 und 1897/98, als der Anteil der durch-/überdurchschnittlichen Tschechischschülerinnen bei maximal 10 Prozent liegt (vgl. hierzu Kapitel 5.3.2.2: 304). Bei den Mädchen aus dem Bildungsbürgertum erreichen nur 1884/85 und 1886/87 (mehr als) die Hälfte die Leistungen der tschechischen Muttersprachlerinnen, im Besitzbürgertum trifft dies nur auf die Schuljahr 1889/90 und 1892/93 zu. In den übrigen Jahren erreicht keine bzw. gegebenenfalls eine deutsche Schülerin aus der Oberschicht das Niveau der Tschechinnen.

386

Institutionelle und individuelle Voraussetzungen des Bilingualismus

den 1890er Jahren kaum mehr zu. Die Schwestern Franz Kafkas zählen Ende des 19. Jahrhunderts als Töchter eines jüdischen Kaufmanns jedoch zur Kategorie der am ehesten Zweisprachigen. An der deutschen Volksschule der Piaristen (vgl. Tabelle 61: 388) differiert die soziale Struktur der überdurchschnittlichen Gruppe der Schüler wie an den deutschen Altstädter Volksschulen nur leicht von der Gesamtsituation an der Einrichtung (vgl. Tabelle 20: 301).654 Der generelle gesellschaftliche Elitecharakter der Schülerschaft – etwa ein Viertel der Schüler stammt aus der Oberschicht – kommt in der Gruppe der überdurchschnittlichen Tschechischschüler nochmals verstärkt zum Vorschein.655 Demnach zählt an der Piaristenvolksschule dauerhaft die Mehrheit der Kinder aus dem Besitzbürgertum und mehr noch aus dem Bildungsbürgertum zu den potenziell bilingualen Sprechern. Die traditionell stärkste Gesellschaftsschicht in der ,Spitzengruppe‘ ist die alte Mittelschicht, die dort jedoch bis 1883/84 überwiegend schwächer präsent ist als in der gesamten Klasse. Noch auffälliger ist diese Unterrepräsentanz im neuen Kleinbürgertum, dessen Mitglieder dauerhaft ab Mitte der 1880er Jahre relativ seltener zur Gruppe der überdurchschnittlichen Tschechischschüler gehören. Aus der an der Piaristenvolksschule allgemein sehr dünnen Unterschicht erzielen ab 1882/83 gleichfalls nur vereinzelt Schüler überdurchschnittliche Leistungen in Tschechisch. Zudem zählen die Arbeiterkinder, insbesondere die Mehrheit katholischer Religion, in den Deutschfächern zu den tendenziell schlechteren Schülern, während die Kinder aus dem Bildungsbürgertum sowohl in Tschechisch als auch den Deutschfächern die mehrheitlich besten Leistungen erzielen. Zieht man ferner das Religionsbekenntnis der Schüler in Betracht, ist festzustellen, dass von 1873/74 bis 1878/79 unter den Katholiken der Anteil der überdurchschnittlichen Schüler etwas größer ist und ab 1879/80 – mit Ausnahme von 1882/83 – bei den Juden, insgesamt das Verhältnis jedoch ziemlich ausgeglichen erscheint. Mittels der Aufgliederung nach den gesellschaftlichen Schichten zeigt sich, dass der Rückgang katholischer Schüler am heftigsten die Mittelschicht betrifft und zudem in der Umbruchphase (1879 bis 1884/85) meist656 weniger als die Hälfte der Katholiken aus dem traditionellen und neuen Kleinbürgertum überdurchschnittliche Ergebnisse erzielt. Unter den jüdischen Schülern ist der Anteil der überdurchschnittlichen Tschechischschüler im Bildungsbürgertum und dem traditionellen Kleinbürgertum am konstantesten und höchsten. Zusammenfassend sind an der Piaristenvolksschule die potenziell bilingualen Sprecher auch auf alle sozialen Schichten verteilt und jeweils Anhänger beider 654 655

656

An der Piaristenvolksschule erfolgt die Aufteilung der Schüler über den gesamten Beobachtungszeitraum in Relation zum Durchschnitt der gesamten Klasse im Wahlfach. Lediglich in den Schuljahren 1870/71, 1873/74 und 1882/83 bleibt der Anteil der Oberschicht an der überdurchschnittlichen ,Hälfte‘ der Klasse hinter dem allgemeinen Anteil der überdurchschnittlichen Schüler zurück. Ausnahme bildet das Jahr 1883/84, als die Hälfte der katholischen Schüler überdurchschnittliche Leistungen in Tschechisch erzielt.

387

Institutionelle und individuelle Voraussetzungen des Bilingualismus

Religionsbekenntnisse zu finden. Dennoch kennzeichnet die Oberschicht eine höhere Dichte potenziell Zweisprachiger657, insbesondere im Gegensatz zur neuen Mittelschicht und ab 1883/84 auch der Unterschicht. Am häufigsten stammt der typisch deutsch-tschechisch Bilinguale auch an der Piaristenvolksschule aus dem traditionellen Kleinbürgertum und ist hier ab 1879/80 fast ausschließlich jüdischen Bekenntnisses. Tabelle 59: Deutsche Altstädter Volks- und Bürgerschule für Jungen – über/durchschnittliche Tschechischschüler ausgewählter dritter Klassen nach ihren Jahresdurchschnittsleistungen in Tschechisch und den Deutschfächern (ohne Schreiben) und der sozialen Herkunft alle nichtdeklarierten Tschechen - i. Vgl. zum Klassendurchschnitt überdurchschnittlich 1875/76

1878/79

1881/82

1882/83

alle deklarierten Deutschen - i. Vgl. zum Klassendurchschnitt der deklarierten Tschechen über-/durchschnittlich

1883/84

1884/85

1887/88

1889/90

1891/92

1894/95

1897/98 1899/1900

Sprachunterricht: Tsch. Dt. Tsch. Dt. Tsch. Dt. Tsch. Dt. Tsch. Dt. Tsch. Dt. Tsch. Dt. Tsch. Dt. Tsch. Dt. Tsch. Dt. Tsch. Dt. Tsch. Dt. Besitzbürgertum

1,4

2,3 4

n

1,5 2,3 10

1,8

1,7

1,5

2,2

1,6

9

1,5

1,9

7

1,9

1 1,7 1

7

Bildungsbürgertum

n

8

7

3

2

4

traditionelles Kleinbürgertum

1,5 2,2 55

1,5 2,3 46

1,7 2,1 61

1,7 2,1 39

1,8 2,0 36

1,2

n

neues Kleinbürgertum

1,6 2,0 20

1,3

1,6

1,8 2,0 15

1,9 1,9 11

1,2

n

1,4

1,8

1,8

1,6

1,3

1,4

Unterschicht keine Zuordnung

2,0

8

n

1,3 2,3 14

1,4 8

2,3

n

1,4

1,6 9

2,4

1,5

5 1,9

1,1

2,5 1

2,4

1,5

7

2,1

1,4

2,2

2,1

5 2,0

8

1,9

2,1

1,8

2,0

2,7

1 2,9 3 1,3

2,0

1,0

1,5

3

2

1

1

2

1,3 1,4 16

1,3 1,6 28

1,0 1,5 17

1,0 1,9 17

2,1

1,5

1,4

1,3

1,9

1,0

1,0

1,1 2

1,1

1,5

1,6

1,9 2,1 19

2,0

1 2,0

1,6

1,3 1,4 16

3

4

1,5 1,8 1,88 1,5 2 2

1,7

1,7 9

5

1,7 2,2 11

2 1,3 1 2,0

2,1

2,0

2 1,8

1,5

1

1,5 5 2,5

1,3

3 2,1

2,0

4

1,5 3

2,3 7

1,8

1,7

2

1,0 2

2,0 5

2,0

1,0

3

1,9 2

2,5

1,0

1

2,2 7

Quelle: Vgl. AHMP: Deutsche Volks- und Bürgerschule für Knaben, Altstadt. Schulkataloge 18751900; eigene Berechnung.

Tabelle 60: Deutsche Altstädter Volks- und Bürgerschule für Mädchen – über/durchschnittliche Tschechischschülerinnen ausgewählter dritter Klassen nach ihren Jahresdurchschnittsleistungen in Tschechisch und den Deutschfächern (ohne Schreiben) und der sozialen Herkunft alle nichtdeklarierten Tschechinnen - i. Vgl. zum Klassendurchschnitt überdurchschnittlich 1871/72

1875/76

1878/79

1880/81

1881/82

1882/83

1883/84

alle deklarierten Deutschen - i. Vgl. zum Klassendurchschnitt der deklarierten Tschechinnen über-/durchschnittlich 1884/85

1886/87

1889/90

1892/93

1895/96

1897/98

1898/99

Sprachunterricht: Tsch. Dt. Tsch. Dt. Tsch. Dt. Tsch. Dt. Tsch. Dt. Tsch. Dt. Tsch. Dt. Tsch. Dt. Tsch. Dt. Tsch. Dt. Tsch. Dt. Tsch. Dt. Tsch. Dt. Tsch. Dt. Besitzbürgertum

1,0

1,6

1,0

1,4

1,0

2

n

2,5

1,6

1

1,6

1,8

2

1,5

1,0

1,2

1,3

4

1,1

1,0

2,2

1,6

1

1,0

1,1

1,8

1,3

1

1,7

1,8

2

1,6

1,5

1,5

1,0

1

1,0 1

Bildungsbürgertum

n

8

6

2

3

8

2

2

3

1

1

traditionelles Kleinbürgertum

1,1 2,0 27

1,1 1,9 78

1,1 2,1 51

1,3 2,1 62

1,2 1,8 49

1,7 2,1 56

1,2 1,7 18

1,2 1,5 20

1,0 2,0 12

1,1 1,5 11

1,3 1,3 13

1,5

n

1,0

1,2 1,8 13

1,1

1,4 2,3 10

1,2 1,6 11

1,8

1,4

1,3

1,1

1,3

1,3

1,3

neues Kleinbürgertum Unterschicht keine Zuordnung

657

1,2

2,0

1,8

1,4

2,0

n

7 1,1 2,0 20

1,1 1,8 16

1,1 2,2 17

1,5 2,2 16

1,3 2,1 19

1,6 2,6 23

1,3

n

1,1

1,1 1,9 10

1,1

1,3

1,2 2,3 19

1,7 2,2 19

1,3

n

3,1 2

8

2,3

2,3 9

2,3 9

9

1,5

2,1

1,4

5

1,5

1,0

5 1,4

1,0

2,7

1,3

4 4

1,0

1,6

1,5

2 1,5

2

1,0

1,1 1

1,6

1,1

3 1,8

1

1,6

1

1,1

1,4

1,0

3,0

1,2

1,6 2

7

3 1,8

1,0 1,4

3,2 4

2,0

1,0 1,9 20 1,0

2 1,1

1,0

2

1,8 1

1,7 4

1,4 1

1,1

2,1 3

Demnach stimmt zwar die Charakterisierung Wagenbachs, dass die Volksschule des Piaristenklosters v.a. von Kindern der gesellschaftlich höheren Klassen besucht wird, allerdings widersetzen sich die deutschsprechenden Familien des Bildungsbürgertums keineswegs dem relativ obligaten Unterricht in der zweiten Landessprache (vgl. Wagenbach 1958: 230 Anm. 625), vielmehr absolvieren deren Söhne den Tschechischunterricht mit großem Erfolg.

1,0

1,1 1

388

Institutionelle und individuelle Voraussetzungen des Bilingualismus

Quelle: Vgl. AHMP: Deutsche Volks- und Bürgerschule für Mädchen, Altstadt. Schulkataloge 18711899; eigene Berechnung.

Tabelle 61: Deutsche Volksschule der Piaristen m. Ö. für Jungen – über/durchschnittliche Tschechischschüler ausgewählter dritter Klassen nach ihren Jahresdurchschnittsleistungen in Tschechisch und den Deutschfächern (ohne Schreiben) und der sozialen Herkunft alle nichtdeklarierten Tschechen - i. Vgl. zum Klassendurchschnitt überdurchschnittlich 1870/71

1873/74

1876/77

1878/79

1879/80

1880/81

1881/82

1882/83

1883/84

1884/85

1893/94

1895/96

1898/99

Sprachunterricht: Tsch. Dt. Tsch. Dt. Tsch. Dt. Tsch. Dt. Tsch. Dt. Tsch. Dt. Tsch. Dt. Tsch. Dt. Tsch. Dt. Tsch. Dt. Tsch. Dt. Tsch. Dt. Tsch. Dt. Besitzbürgertum Bildungsbürgertum

1,5

2,5

1,2

4

n 1,7

1,8

1,8

9

2,0 5

1,3

1,0

1,2

2

1,3

2,2

6

1,4 1,5 11

1,5 2

6

6

4

4

9

n

1,6 1,6 13

1,4 1,7 15

1,2 1,3 13

1,3 1,5 25

1,7 1,7 21

1,4 1,4 22

1,6 1,8 29

1,1 1,3 24

neues Kleinbürgertum

1,4 2,2 11

1,3 2,0 18

2,0 2,3 11

1,6

1,9

1,8

1,8

1,5

1,6

1,8

2,2

1,0

1,0

1,3

1,5

1,8

1,6

1,6

1,8

1,0

n

1,4

2,3

1,4

2,7

1,9

2,6

1,7

2,0

1,8

2,5

1,6

1,5

1,8

2,3

1,0

1,0

1,8

2,2

1,6

1,9

2,0

1,8

1,2

1,5

2,3

3,1

1,3

2,3

1,9

2,5

1,3

1,7

1,5

2,1

1,3

2,2

1,3

1,4

2,1

2,0

1,0

n

7

5

3

3

3 5

4 1

3 3

1 3

3

1 1

1,9

1,8

4

3 2

1,0

1,2 1

1,4 1,3 12

7

1,1

1,0

1,6

2

1,2

2,0 4

7

4

1,3

1,9

1,6 1,6 17

4

1,3

1,1 2

8

6

1,3

1,1

1,5 1,9 23 9

1,9

2,0 4

8

4

1,9

1,6

2,0 2,2 24

4

1,6

1,5 5

8

7

1,6

1,7

1,2 1,9 32

4

2,0

1,3 3

5

1,8

1,7

1,6

1,4 2,5 31

n

1,9

1,7 6

n

Unterschicht

1,2

1,8

traditionelles Kleinbürgertum

keine Zuordnung

1,9

2,2 2

1,7

1,8 4

1,2

1,1 1

2,7 1 1,1

1,2

1

1,4 3

Quelle: Vgl. AHMP: Privat-Volksschule des Piaristenordens für Jungen m. Ö. Schulkataloge 18701899; eigene Berechnung.

5.3.3

1,1

Zusammenfassung

Ohne Frage existiert Ende des 19. Jahrhunderts noch das Phänomen der böhmischen Zweisprachigkeit, quantitativ und qualitativ aber in veränderter Form. Auf Basis der Schulkataloge der Prager Volksschulen – Deutsche Altstädter Volksschule für Jungen und jene für Mädchen, Privat-Volksschule der Piaristen mit Öffentlichkeitsrecht, Tschechische Volksschule ,U sv. Havla‘ – konnten die Mikrodaten der Schüler auf der Mesoebene der Schulen analysiert und so ein sozioökonomisches Profil der Träger des individuellen Bilingualismus entworfen werden, das Hinweise auf das ,Sprachverhalten‘ der Deutschen und Tschechen in Böhmen allgemein birgt. Den Rückgang der Verbreitung tschechisch-deutscher Bilingualität dokumentierten bereits die sinkenden Zahlen der an den deutschen Volksschulen in Prag eingeschriebenen Tschechen im Laufe der 1880er und 1890er Jahre. Die zunehmend schlechteren Leistungen in der deutschen Unterrichtssprache der verbliebenen tschechischen Schüler zeigen auch einen qualitativen Verlust an. Die sich verschärfende Asymmetrie zwischen Tschechisch- und Deutschkenntnissen kennzeichnet allerdings nur die eindeutig katholische Mehrheit der tschechisch-deutsch bilingualen Sprecher. Der auf hohem Niveau ausgeglichenere tschechischdeutsche Bilingualismus jüdischer Schüler ist dagegen kaum verbreitet. Ein augenscheinlicher Zusammenhang zwischen der sprachlichen Verteilung im Geburtsort und schulischen Erfolgen im jeweiligen Sprachunterricht hat sich im Falle der tschechisch-deutschen Zweisprachigkeit nicht ergeben. Zum Teil widmen sich Schüler aus tschechischsprachigen Gegenden – unabhängig von der Konfession –

1,3

1,9 3

Institutionelle und individuelle Voraussetzungen des Bilingualismus

389

mit besonderem Ehrgeiz dem Deutschen, und umgekehrt katholische wie jüdische Schüler aus deutschsprachigen Orten ohne großen Erfolg. Unter gesellschaftlichen Gesichtspunkten wird tschechisch-deutsche Bilingualität weiterhin in der traditionellen, kleinbürgerlichen Schicht gepflegt, v.a. katholische Handwerker und jüdische Handels- und Kaufmännern legen Wert auf Deutschkenntnisse ihrer Zöglinge. Die tschechischsprachige Oberschicht dagegen schwenkt Ende des 19. Jahrhunderts vermehrt auf eine tschechische Schulausbildung über. Sie lernt zwar weiterhin Deutsch – mit relativ großem Erfolg wie die Verhältnisse an der tschechischen Volksschule zeigen –, degradiert aber die Sprache Wiens auf die Stufe des Wahlfaches. Abgesehen von dem kleinen Kreis jüdischer Knaben, die durch hervorragende Deutschnoten überzeugen, liegen bei den Schülern an der tschechischen Schule ,U sv. Havla‘ eher deutsche Fremd- statt Zweitsprachkenntnisse vor. Der Rückgang des individuellen tschechisch-deutschen Bilingualismus als ein Produkt wechselseitiger Einflüsse ist somit einerseits einer sprachnationalistischen Politik und ihrer Proklamation einer monoglossischen Ideologie zuzurechnen. Gewiss wird dadurch das tschechische Volk mobilisiert und zum Teil auch unter Druck gesetzt, der tschechischen Nationalsprache auch in der Schulwahl den Vorrang zu gewährleisten. Andererseits beruht die Wahl der Schuleinrichtung immer noch zu einem bestimmten Maß auf der freien Entscheidung der Eltern und im tschechischen Volk ist zweifellos deren wachsendes Bedürfnis einer tschechischen Schulausbildung zu verfolgen. Die Teilung der Universität fördert maßgeblich die gesellschaftliche Anerkennung der tschechischen Sprache und motiviert sicherlich auch zur Wahl der tschechischen Unterrichtssprache. Ein Niveauverlust der Deutschkenntnisse bei tschechischen Schülern ist sowohl an den deutschen als auch der tschechischen Einrichtung festzustellen und durchaus als Indiz des – zumindest – lokal beginnenden Machtverlusts der deutschen Sprache und der Etablierung der tschechischen Sprache zu sehen. Bis zum Schuljahr 1883/84 erlaubt die fehlende Angabe der Muttersprache in den Schulkatalogen keine Differenzierung zwischen potenzieller deutschtschechischer und tschechisch-deutscher Bilingualität. Die potenziell bilingualen Sprecher werden durch die Schüler/-innen mit überdurchschnittlichen Leistungen im Wahlfach Tschechisch repräsentiert. Sie sind vorrangig katholischer Konfession. Bei der kleineren Gruppe jüdischer Kinder sind die Sprachkenntnisse wiederum auf einem hohen Niveau und dank guter Deutschnoten deutlich schwächer asymmetrisch. Gesellschaftlich ist Zweisprachigkeit in allen Schichten ,gleich üblich‘, bei den Juden qualitativ besser, je höher die soziale Stellung. Ein Profil der potenziellen Träger des individuellen deutsch-tschechischen Bilingualismus lässt sich ab dem Schuljahr 1884/85 erstellen. An der Altstädter Jungenschule zählen zwischen einem und drei Fünftel der Schüler mit steigender Tendenz gegen Ende des Jahrhunderts, bei den Piaristen bis zu zwei Drittel der Schüler und bei den Mädchen mit maximal zwei Fünftel und insbesondere nur

390

Institutionelle und individuelle Voraussetzungen des Bilingualismus

knapp einem Zehntel Mitte der 1890er Jahre etwas weniger Schülerinnen zu den potenziellen Vertretern deutsch-tschechischer Zweisprachigkeit. Qualitativ sind die bisher markanten Unterschiede zwischen den konfessionellen Gruppen aufgehoben. Quantitativ ist sie jedoch v.a. bei den Jungen – auch relativ zum allgemeinen Anteil an der Schülerschaft – verstärkt in der jüdischen Gemeinschaft verbreitet. Anders als bei den tschechisch deklarierten Muttersprachlern hat sich für deutsch-tschechische Bilingualität eine Abstammung aus tschechischsprachigen Geburtsorten als möglicher positiver Einflussfaktor erwiesen. Der typische potenziell Zweisprachige ist – unabhängig von der Konfession – mehrheitlich aus Prag oder in tschechischsprachigen Orten geboren, dann aber vorrangig jüdischen Religionsbekenntnisses. Dennoch bleibt zu betonen, dass die wenigen Katholiken an den Ende des 19. Jahrhunderts jüdisch dominierten deutschen Volksschulen insbesondere an der Piaristenvolksschule überwiegend zu den potenziell Bilingualen zählen. In der Gesellschaft ist deutsch-tschechische Zweisprachigkeit insbesondere ein Charakteristikum der Mittelschicht, in deren Alltag es sicherlich am häufigsten zu Sprachkontakten mit der zweiten Landessprache kommt. Das deutsche Arbeitermilieu dagegen ist durch die niedrigste Zahl potenziell Zweisprachiger gekennzeichnet – es ist auch die soziale Klasse mit der höchsten Assimilierungsrate unter den ,Deutschen‘. In der Oberschicht wird auf deutsch-tschechische Bilingualität bei den Mädchen kaum Wert gelegt, bei den Jungen v.a. an der ,Elitevolksschule‘ der Piaristen dagegen zeichnet sich die Mehrheit der Schüler jüdischer wie katholischer Konfession durch überdurchschnittliche Tschechischkenntnisse aus und quittiert damit der tschechischen Sprache gewissermaßen auch einen Zuwachs an Macht und Anerkennung. Insgesamt ist ,jüdisch‘ sicherlich das zentralste Charakteristikum böhmischer Zweisprachigkeit, zweifellos auch deshalb, da sie als Instrument flexibler Anpassungsstrategien im sprachnational geteilten Prag der Kafka-Zeit dient. Dennoch ist Bilingualität nicht charakteristisch für alle Juden, etwa ein Drittel der Schulkinder mosaischen Bekenntnisses besitzt nur mangelhafte Tschechischkenntnisse. Gleichermaßen gibt es Ende des 19. Jahrhunderts auch eine Minderheit katholischer Deutscher, die nach Bilingualität strebt.

Institutionelle und individuelle Voraussetzungen des Bilingualismus

5.4

391

,Sprachverhalten‘ der Elite – Sprachwirklichkeit nach den Angaben in den Schulkatalogen der Mittelschulen

Vor dem Hintergrund der allgemeinen, in Böhmen konsequent umgesetzten Schulpflicht, ist der auf der Mesoebene der einzelnen Volksschulen analysierte (potenzielle) Bilingualismus in gewissem Maße auch für die böhmischen bzw. die städtische Prager Gesellschaft charakteristisch. Der Besuch der Mittelschulen, insbesondere der klassischen Gymnasien dagegen stellt ein Privilegium dar, das nur über hervorragende Leistungen, zum Teil aber auch über soziale Stellung erreicht werden kann.658 Infolge dieses Selektionsverfahrens repräsentieren die Gymnasiasten eine gesellschaftliche Elite – mit nicht zwingend elitärer Abstammung –, deren ,Sprachverhalten‘ nun im Zentrum des Interesses steht. Im Vergleich mit den Volksschulen ist erstens der Anteil der deklarierten Tschechen an den Gymnasien mit deutscher Unterrichtssprache geringer, er liegt bei maximal einem Drittel, meist jedoch unter 20 Prozent (vgl. Abbildung 14: 247). Zweitens entscheidet sich v.a. in der sechsten Jahrgangsstufe nur noch ein Bruchteil der Gymnasiasten für das Wahlfach zweite Landessprache (vgl. Kapitel 5.1.4)659 Gewissermaßen wird damit die Selektion der potenziell bilingualen Sprecher im Laufe der Gymnasialzeit fortgesetzt. Übrig bleibt eine Kerngruppe von Gymnasiasten, die in der Oberstufe neben Deutsch, Latein, Griechisch, dem weiteren Wahlfachangebot Französisch660 und den anderen nichtlinguistischen Lehrgegenständen immer noch zusätzlich den Sprachunterricht in Tschechisch besucht. Die (potenzielle) Bilingualität dieser Schüler basiert somit auf gegebenenfalls natürlichem Zweitspracherwerb in der Primärsozialisation und einem konstanten, jahrelangen, gesteuerten Zweitspracherwerb im Rahmen der Sekundärsozialisation. Die Gegenüberstellung der ersten und sechsten Jahrgangsstufen der Gymnasien erlaubt, die Entwicklung des ,Sprachverhaltens‘ innerhalb der Elite aufzudecken. Während in der ersten Klasse vorrangig noch sprachliche Grundkenntnisse vermittelt und gefestigt werden, steht in der sechsten Jahrgangsstufe die tschechische Sprache als Ausdrucksmittel im Vordergrund, ihre sichere Beherrschung ist in gewisser Weise bereits Voraussetzung. Ein Vergleich der ersten und sechsten Klassen bezieht sich damit in erster Linie auf die Frage, ob im Laufe der Gymnasialzeit eine Gruppe (bestimmter Konfession, sprachlich-territorialer oder sozialer 658

659

660

Kuz’min berechnet auf Grundlage der Österreichischen Statistik, dass im Jahr 1910 nur 3.1 Prozent der männlichen Bevölkerung im Schulalter in Böhmen eine akademische Ausbildung im mittleren Schulwesen genießt (vgl. Kuz’min 1981: 123). Während am deutschen Altstädter Gymnasium der Anteil der deklarierten Deutschen, die weiterhin das Wahlfach Tschechisch belegen, nach der Jahrhundertwende wieder auf bis zu drei Viertel (1909/10) ansteigt, beträgt er am deutschen Neustädter Gymnasium am Graben über den gesamten Beobachtungszeitraum hinweg meist weniger als ein Drittel (vgl. auch Kapitel 5.1.4). An der privaten Straka’schen Akademie in Prag werden nicht nur Tschechisch und Deutsch, sondern auch Französisch obligatorisch unterrichtet (vgl. Luft 2001: 115).

392

Institutionelle und individuelle Voraussetzungen des Bilingualismus

Herkunft, mit den besten Leistungen) durch besondere Pflege tschechischdeutscher oder potenziell deutsch-tschechischer Bilingualität hervorsticht.661

5.4.1

Tschechischsprecher

Deklarierte Tschechen, die in den letzten Dezennien des 19. Jahrhunderts ein Gymnasium mit deutscher Unterrichtssprache wählen, bilden zweifellos eine Minderheit in dieser Zeit. Sie entscheiden unabhängig von sprachnationalem Zwang und Eifer. Ihre Zahl ist gering. Um am Gymnasium angenommen zu werden, müssen sie die deutsche Unterrichtssprache beherrschen. Nicht alle belegen in den 1880er und Anfang der 1890er Jahre ihre Muttersprache662, aber jene, die den Wahlfachunterricht am Gymnasium besuchen, genießen Voraussetzungen eines Zweitspracherwerbs, die erst seit den 1860er Jahren existieren. Denn die Tatsache, dass an einem Gymnasium mit deutscher Unterrichtssprache Tschechisch – wenn auch infolge des ,Sprachenzwangsverbots‘ lediglich als Wahlfach – in allen Jahrgangsstufen angeboten und auch auf anspruchsvollem Niveau gelehrt wird (vgl. Kapitel 5.1.4), bietet tschechischen Schülern die Möglichkeit, auch ihre Muttersprache weiter zu pflegen. Auf diese Weise wird einer Umkehrung der Asymmetrie zwischen Tschechisch und Deutsch, die noch zu Beginn des 19. Jahrhunderts unter tschechischsprachigen Intellektuellen üblich war, vorgebeugt und die Bedingung für einen relativ ausgeglichenen individuellen Bilingualismus geschaffen. Sein Niveau, den konfessionellen, sprachlich-territorialen und sozialen Charakter seiner Sprecher gilt es im Folgenden darzustellen.

5.4.1.1

Leistungsbewertung

Der Großteil der deklarierten Tschechen in den ersten Klassen am deutschen Staatsgymnasium in der Altstadt (vgl. Tabelle 62: 397) hat bereits seine Volksschullaufbahn an Einrichtungen mit deutscher Unterrichtssprache absolviert, und zwar vorwiegend in Prag. Über den gesamten Betrachtungszeitraum wechseln einzelne Schüler von der deutschen Altstädter, Neustädter, Josephstädter und der Piaristenvolksschule an das Gymnasium im Palais Kinský, allerdings nicht von der deutschen Volksschule in der Kleinseite. Die ehemaligen Piaristenschüler und die Knaben der Neustädter Volksschule besuchen im Gegensatz zu den anderen ehemaligen Prager Volksschülern alle den Tschechischunterricht und schneiden im Vergleich auch am besten ab. Vier Jungen stammen sicher aus tschechischen 661

662

Die Betrachtung der Veränderung der Zusammensetzung der Gruppen (potenziell) bilingualer Sprecher erfolgt primär innerhalb der einzelnen Jahrgangsstufen. Aufgrund der unterschiedlichen Anforderungen – und damit auch unterschiedlichen Motivationen zum Spracherwerb – in den ersten und sechsten Jahrgangsstufen und zudem der geringen Zahl an Sechstklässlern erscheint ein Vergleich zwischen den Jahrgangsstufen nicht sinnvoll. Am deutschen Altstädter Gymnasium besuchen beispielsweise im Schuljahr 1891/92 nur zwei der neun tschechischen Erstklässler das Wahlfach Tschechisch, 1893/94 nur fünf der dreizehn Erstklässler.

Institutionelle und individuelle Voraussetzungen des Bilingualismus

393

Volksschulen, sie sind alle jüdischer Konfession und zählen in ihrer Muttersprache, aber auch in Deutsch, Latein und Mathematik zu den Vorzugsschülern.663 Grundsätzlich erzielen die deklarierten Tschechen im Wahlfach zweite Landessprache – wie an den Volksschulen – fast durchgängig664 bessere Leistungen als in Deutsch, Latein oder Mathematik. Sie sind in Tschechisch auch meist besser als die deutschen Muttersprachler665. Im Unterschied zur Situation an den Volksschulen haben die deklarierten Tschechen am Altstädter Gymnasium in den Hauptfächern (Deutsch, Latein, Mathematik) nicht automatisch die schlechtesten Ergebnisse, allerdings geht diese positive Tendenz ab Mitte der 1890er Jahre mittelfristig zurück. Eine Steigerung des Niveaus in Tschechisch deuten die relativ besseren Jahresdurchschnittsleistungen beider sprachnationaler Gruppen ab der Jahrhundertwende an (mindestens gut), ab 1906/07 gilt dies auch für Deutsch (zwischen gut und befriedigend). Am deutschen Staatsgymnasium in der Neustadt (am Graben) (vgl. Tabelle 63: 398) variiert die Situation geringfügig. Zunächst nehmen hier relativ mehr tschechisch deklarierte Erstklässler im Verlauf des gesamten Beobachtungszeitraumes am Wahlfach Tschechisch teil und sind durchschnittlich erfolgreicher als die deklarierten Deutschen666. Die Leistung in ihrer Muttersprache ist v.a. ab Anfang der 1890er Jahre mindestens um eine Note besser als in Deutsch. Wiederum war die Mehrheit der Jungen bereits im Volksschulwesen mit der deutschen Unterrichtssprache konfrontiert, nur bei zwei Schülern jüdischer Konfession ist als Vorjahresschule eine tschechische Landschule ausgewiesen (1885/86, 1903/04). Neben der deutschen Neustädter, Altstädter und der Piaristenvolksschule hat von der deutschen Volksschule in Karolinental ein ähnlich hoher Anteil an Schülern an das Neustädter Gymnasium gewechselt. Eine Steigerung des Niveaus der Jahresdurchschnittsleistungen im Fach zweite Landessprache gilt für die tschechischen Gymnasiasten am Graben bereits ab der ersten Hälfte der 1890er Jahre (mindes663

664

665 666

Eine Ausnahme bildet Rudolf Stern im Schuljahr 1893/94. Von der fünfklassigen böhmischen Volksschule in Saar Stadt kommend besucht er den Tschechischunterricht wie die Mehrheit der deklarierten Tschechen in diesem Jahr nicht und schneidet auch in den übrigen Lehrgegenständen maximal mit befriedigend ab. Am deutschen Altstädter Gymnasium erzielen die deklarierten Tschechen in den Schuljahren 1891/92 und 1893/94 in ihrer Muttersprache mit 3.0 bzw. 3.3 schlechtere bzw. die gleichen Ergebnisse wie in Deutsch (2.9 bzw. 3.3) (vgl. Tabelle 62: 304). Ausnahmen bilden am deutschen Altstädter Gymnasium die Schuljahre 1896/97, 1903/04 und 1909/10. Am deutschen Neustädter Grabengymnasium sind nur im Schuljahr 1881/82 die deutschen Muttersprachler in der zweiten Landessprache besser als die drei deklarierten Tschechen. Diese drei Schüler sind in Deutsch besser als in Tschechisch, wobei der jüdische, in Prag geborene Agentensohn, Otto Stark, mit 4.5 in seiner Muttersprache und jeweils 4.0 in Deutsch, Latein und Mathematik – obgleich er die erste Klasse im Vorjahr bereits am deutschen Altstädter Gymnasium besucht hat – den Jahresdurchschnitt deutlich drückt. Der evangelische Emil Lat und der katholische Edmund Waňek haben beide von der deutschen Piaristenvolksschule an das deutsche Neustädter Gymnasium am Graben gewechselt und erzielen in Tschechisch mit 2.5 und 3.0 kaum schlechtere Leistungen als die deklarierten Deutschen.

394

Institutionelle und individuelle Voraussetzungen des Bilingualismus

tens gut), für die Deutschen ab der Jahrhundertwende (gut).667 Die Notendifferenz in Deutsch zwischen den sprachnationalen Parteien ist am Grabengymnasium auf Grund der relativ besseren Leistungen der deutschen Muttersprachler größer als am Altstädter Gymnasium. In den sechsten Klassen der beiden deutschen Gymnasien ist der durchschnittliche, relative Anteil der tschechischen Muttersprachler zwar nicht kleiner als in der ersten Jahrgangsstufe, doch ist die Klassenstärke ab Ende der 1880er (deutsches Altstädter Gymnasium) bzw. Mitte der 1890er Jahre (deutsches Neustädter Gymnasium) so gering, dass in einzelnen Schuljahren keine tschechischen Muttersprachler zu finden sind.668 Insbesondere am Grabengymnasium belegen zudem – auch nach 1900 – nicht alle tschechischen Muttersprachler das Wahlfach; die Teilnehmenden erreichen in Tschechisch meist669 jedoch ein deutlich höheres Niveau als die deklarierten Deutschen, ab 1898/99 liegt die Jahresdurchschnittsleistung an beiden Einrichtungen bei sehr gut. In den weiteren Fächern – Latein, Mathematik, Griechisch – und auch den zusätzlichen Wahlfächern670 der höheren Jahrgangsstufen – Französisch und Stenographie – liegen die deklarierten Tschechen, wiederum v.a. an der Altstädter Einrichtung, mit ihren Leistungen überwiegend im Durchschnitt ihrer deutschen Schulkollegen.671 Tschechische Muttersprachler, die von der ersten bis zur sechsten Klasse ein Gymnasium mit deutscher Unterrichtssprache besuchen672, erlangen profunde Deutschkenntnisse, der spätestens zu Beginn des 20. Jahrhunderts auch dem Vergleich mit den deutschen Mitschülern standhält, sodass sich – innerhalb der Domäne Schule an den Gymnasien – die Fähigkeiten in Mutter- und Zweitsprache angleichen. Allerdings betrifft dies nur die kleine Gruppe tschechischer Muttersprachler, die in dieser Zeit noch eine gymnasiale Ausbildung in deutscher Sprache wählt. Insgesamt ist festzuhalten, dass der Notenspiegel der deklarierten Tschechen an den deutschen Gymnasien weiterhin eine tschechisch-deutsche Asymmetrie des Bilingualismus reflektiert. Gleichzeitig deutet sich aber eine Tendenz zur Nivellierung an, denn der Großteil der tschechischen Jungen setzt mit der Wahl des deut667 668 669

670 671

672

Eine Ausnahme bildet das Schuljahr 1898/99, in dem die deklarierten Tschechen durchschnittlich nur mit 2.8 bewertet werden. Am deutschen Altstädter Gymnasium trifft dies auf die Schuljahre 1888/89 und 1898/99 zu, am deutschen Neustädter Gymnasium auf das Schuljahr 1893/94. Am deutschen Altstädter Gymnasium trifft dies erst ab dem Schuljahr 1893/94 zu. Am deutschen Neustädter Gymnasium bildet das Schuljahr 1891/92 eine Ausnahme, hier sind die tschechischen Muttersprachler mit 2.5 schlechter als ihre deutschen Kollegen (2.3). Die Erlaubnis zur Teilnahme an den Freifächern erteilt der Lehrer in Abhängigkeit von den Leistungen in den Hauptfächern (vgl. Anm. 347: 186). Ausnahme bilden die Schuljahre 1883/84, 1885/86, 1896/97, 1900/01, 1906/07 (vgl. Tabelle 62: 304). Am deutschen Neustädter Gymnasium sind die Leistungen der tschechsichen Muttersprachler in den Hauptfächern ab Mitte der 1880er Jahre bis Anfang des 20. Jahrhunderts zum Teil deutlich schlechter als jene der deutschen Muttersprachler. Ein Wechsel von einem Gymnasium mit tschechischer Unterrichtssprache an ein Gymnasium mit deutscher Unterrichtssprache in den höheren Jahrgangsstufen tritt nur sehr selten auf.

Institutionelle und individuelle Voraussetzungen des Bilingualismus

395

schen Gymnasiums eine im Volksschulwesen bereits begonnene Ausbildung in deutscher Sprache fort. Im Kontext der Badenischen Sprachenverordnungen und der endgültigen, auch qualitativen Etablierung der tschechischen Universität belegen ab Ende der 1890er Jahre am Altstädter Gymnasium alle und am Neustädter Gymnasium nahezu alle tschechischen Muttersprachler das Wahlfach Tschechisch. Dagegen entscheidet sich – in den sechsten Klassen – von den deutschen Muttersprachlern am Altstädter Gymnasium mindestens ein Viertel gegen und am Neustädter Gymnasium sogar nur höchstens ein Drittel für den Wahlfachunterricht.673 Dass der individuelle tschechisch-deutsche Bilingualismus spätestens ab Ende der 1890er Jahre auch in der tschechischen Elite zurückgeht, demonstrieren die sinkenden Schülerzahlen. Gleichzeitig bleibt aber selbst zu Beginn des 20. Jahrhunderts zumindest eine Minderheit tschechischer Muttersprachler, die weiterhin tschechisch-deutsche Bilingualität in der Schule pflegt, wie dies der zaghafte Wiederanstieg tschechischer Muttersprachler und die gemäß der Schulnoten qualitative Steigerung zum Schuljahr 1909/10 zeigen. Am traditionsreichen tschechischen akademischen Gymnasium (vgl. Tabelle 64: 398), das ausschließlich von tschechischen Muttersprachlern besucht wird, belegen durchgehend alle Schüler der ersten Klassen den freiwilligen Deutschunterricht. In der sechsten Jahrgangstufe entscheiden sich ebenfalls regelmäßig über 90 Prozent der Schüler für das Wahlfach zweite Landessprache (vgl. auch Luft 2001: 114). Im Unterschied zu den Volksschulen und auch der Situation an den beiden deutschen Gymnasien variiert das Niveau in Deutsch – mit Ausnahme von 1900/01 (3.6)674 – nur zwischen 2.9 und 3.1. In der Oberstufe deutet die Notendifferenz von 0.7 zwischen dem Wahlfach Deutsch und dem Obligatfach Tschechisch im Schuljahr 1974/75 auf eine relativ strengere Bewertung der Deutschkenntnisse hin, die sich allerdings in der Folgezeit auflöst. Im Wahlfach werden nun mindestens so gute675 Ergebnisse wie in den Pflichtfächern Tschechisch, Griechisch oder Mathematik erzielt. In den anderen Wahlfächern – Französisch, Stenographie und Englisch – bewegt sich das Notenniveau dagegen meist zwischen sehr gut und gut676. Demnach hat Deutsch zwar nur den Rang eines Wahlfaches, faktisch wird es jedoch von allen Schülern belegt und in der Bewertung

673

674 675

676

Die tschechischen Muttersprachler, die sich in den 1880er und 1890er Jahren gegen den Unterricht in der zweiten Landessprache entscheiden, sind ebenso katholisch wie jüdisch und differieren auch nicht in Bezug auf die soziale Herkunft oder hinsichtlich der Leistungen in Deutsch, Latein und Mathematik. Ein allgemeingültiger Beweggrund ist nicht offensichtlich. Im Schuljahr 1900/01 wird jedoch auch in den Pflichtfächern Tschechisch (3.3), Latein (3.7) und Mathematik (3.5) nur ein relativ schlechtes Niveau erreicht. Ausnahme bildet das Schuljahr 1900/01, als in Deutsch lediglich ein Jahresdurchschnitt von 3.3, in Tschechisch von 3.2 erreicht wird (vgl. Tabelle 64: 304). Das Notenniveau in diesem Jahr ist generell schlechter, in Latein wird lediglich 3.5, in Griechisch 3.6 und in Mathematik 3.3 im Durchschnitt erzielt. Ausnahme bildet in Stenographie das Schuljahr 1881/82 mit 2.6, 1893/94 in Englisch mit 2.7 und 1909/10 in Französisch mit 3.4.

396

Institutionelle und individuelle Voraussetzungen des Bilingualismus

ähnlich streng wie ein obligater Lehrgegenstand eingeschätzt.677 Auch wenn weniger tschechische Muttersprachler deutsche Gymnasien besuchen, kann das Deutsche in der tschechischsprachigen Elite eine gewisse Sonderstellung konservieren. Schüler an tschechischen Gymnasien ohne Deutschkenntnisse gibt es (fast) nicht. Von einem umfassenden Abbau tschechisch-deutscher Bilingualität in der Domäne Schulwesen kann somit auch in den letzten Dezennien der Habsburger Monarchie nicht die Rede sein. Denn sowohl an der tschechischen Volksschule ,U sv. Havla‘ (vgl. Kapitel 5.3.1) als auch am tschechischen akademischen Gymnasium besteht bei fast ausnahmslos allen – d.h. auch unabhängig von Religion oder sozialer Herkunft – mindestens die Bereitschaft, die deutsche Sprache zu lernen. Eine monoglossische Ideologie im Sinne des Sprachnationalismus kann sich gegenüber dem politischen, wirtschaftlichen und sozialen Marktwert des Deutschen und seiner demographischen Stärke in Zisleithanien nicht behaupten. Die Frage, ob es sich bei den Jungen des tschechischen akademischen Gymnasiums um deutsche Fremd- oder Zweitsprachkenntnisse handelt, kann nicht eindeutig geklärt werden. Jedoch sollten bis zu acht Jahre Sprachunterricht und die in Prag gegebenen praktischen Anwendungsmöglichkeiten678 eine ausreichende Beherrschung der deutschen Sprache garantieren. Zumindest bei den in Deutsch überdurchschnittlichen Schülern kann von einer potenziellen, relativ stärker asymmetrischen, tschechisch-deutschen Bilingualität gesprochen werden. Der konfessionelle Charakter ihrer Träger steht im folgenden Kapitel im Zentrum des Interesses.

677

678

Das Notenniveau in Deutsch liegt immer im Trend der durchschnittlichen Leistungen in den Obligatfächern. Beispielsweise werden im Schuljahr 1900/01 mit 3.3 in Deutsch und 3.2 in Tschechisch auch in Latein (3.5), Griechisch (3.6) und Mathematik (3.3) die im Vergleich mit den anderen Schuljahren schlechtesten Leistungen erzielt. Auch wenn die zeitgenössische, diskursive Konstruktion zweier sprachnational separater, fast isolierter Welten in Prag durchaus faktisch beispielsweise in getrennten gesellschaftlichen (Bars, Restaurants, ...), kulturellen, wirtschaftlichen und politischen Strukturen zum Ausdruck kam, bot der Alltag ausreichend Kontaktmöglichkeiten zwischen Tschechen und Deutschen (vgl. Kapitel 3.2.1.2; Binder 1996: 187). Auch zur Jahrhundertwende gab es junge Intellektuelle auf beiden Seiten, die eine zu tiefe Separation der tschechischen und deutschen Sprachgemeinschaft ablehnten (vgl. Cohen 1981: 130-137; Wagnerová 1995: 7-8, 46-47). Gerade wenn Deutsche und Tschechen ökonomisch und beruflich relativ gleichgestellt waren, konnten sie in ihren Wohnbereichen, im Handel und am Arbeitsplatz sowie in religiösen Einrichtungen Alltagskontakte durchaus pflegen (vgl. Cohen 1996b: 66).

397

Institutionelle und individuelle Voraussetzungen des Bilingualismus

Tabelle 62: Deutsches Staatsgymnasium in der Altstadt – Schüler ausgewählter erster und sechster Klassen nach ihrer Muttersprache und den Jahresdurchschnittsleistungen in Tschechisch und Deutsch Muttersprache

tschechisch 1. Klassen

SprachTsch. n unterricht:

Dt.

deutsch

6. Klassen n Tsch. n

Dt.

1. Klassen n Tsch. n

Dt.

Gesamtniveau 6. Klassen

n Tsch. n

Dt.

1. Klassen n

1874/75 1877/78 1

n

Tsch.

n

Dt.

n

3,5

52

3,3

84

3,1

8

3,4

19

3,0

25

3,5

92

3,7

13

3,7

48

3,6

35

3,3 105

2,9

9

2,9

44

22

3,0

41

2,3

11

2,9

47

20

3,1

54

2,3

8

3,1

46

7

3,2

46

13

3,2

41

3,0

2

1881/82

2,1

1882/83

2,0

8

3,0

9

2,9

14 3,0 32

2,6

4

3,2 10

3,3

16 3,1 44

3,0

1883/84

3,0

1

3,8

3

2,5

2

3,5

5

3,6

25 3,2 53

2,3

4

2,8

26

3,6

26

3,2

57

2,3

1884/85

2,0

8

3,2 13

2,5

2

3,2

6

3,5

17 2,9 34

3,0

11 3,2

35

3,0

25

3,0

47

2,9

1885/86

2,5

7

3,3 13

4,0

1

4,2

3

3,2

49 3,4 83

2,9

8

3,3

34

3,1

56

3,4

96

3,1

9

3,4

37

1886/87

2,4

5

3,8

2,1

7

3,1

9

2,8

29 3,0 51

2,8

12 2,9

27

2,7

34

3,1

58

2,5

19

2,9

36

1888/89

2,7

13 2,9 17

3,3

41 3,3 58

2,9

12 3,0

23

3,1

54

3,2

75

2,9

12

3,0

23

1891/92

3,0

2

3,0

1

3,0

2

3,4

34 3,0 50

2,4

7

21

3,3

37

3,0

60

2,5

8

2,7

23

1893/94

3,3

5

3,3 13

2,0

4

3,4

6

3,5

39 2,9 74

3,1

7

2,7

16

3,5

44

2,9

87

2,7

11

2,9

22

1896/97

3,2

6

3,8

1,7

3

2,0

3

2,9

22 3,3 24

3,1

7

3,3

12

3,0

28

3,4

31

2,7

10

3,0

15

1898/99

2,6

4

3,3

4

2,8

27 3,0 33

3,0

10 2,6

23

2,8

31

3,0

38

3,0

10

2,6

23

1900/01

1,8

2

3,8

2

1,0

1

3,5

1

2,5

12 2,9 14

2,8

3

2,9

10

2,4

14

3,0

16

2,4

4

3,0

11

1903/04

2,5

2

3,5

2

1,3

2

3,0

2

2,3

22 3,0 25

2,3

5

3,1

10

2,3

24

3,0

27

2,0

7

3,1

12

1906/07

1,3

3

2,3

3

1,2

3

3,7

3

2,2

15 2,8 17

1,7

5

2,9

8

2,1

18

2,7

20

1,5

8

3,1

11

1909/10

1,9

4

2,9

4

1,1

4

2,3

4

1,6

22 2,5 25

2,2

10 2,6

13

1,6

26

2,5

29

1,9

14

2,5

18

9 7

2,4 16

Dt.

1,0

2,9

6

n

1879/80

7

3,4

6. Klassen

Tsch.

2,7

Quelle: Vgl. AHMP: Deutsches Staatsgymnasium, Prag-Altstadt. Schulkataloge 1874-1910; eigene Berechnung.

398

Institutionelle und individuelle Voraussetzungen des Bilingualismus

Tabelle 63: Deutsches Staatsgymnasium in der Neustadt (am Graben) – Schüler ausgewählter erster und sechster Klassen nach ihrer Muttersprache und den Jahresdurchschnittsleistungen in Tschechisch und Deutsch Muttersprache

tschechisch 1. Klassen

SprachTsch. n unterricht:

Dt.

n

Dt.

3,3 135

1877/78

3,1

98

3,3 136

2,6

1879/80

3,3

77

3,3 110

1,9

2,9

54

2,9

2,5

10

3

1882/83

2,0

7

3,3

8

1883/84

1,7

3

3,6

6

1,5

3

3,2

1884/85

2,3

6

3,0

9

1,5

2

1885/86

2,6

7

3,5 10

1,0

1

1888/89

3,2

5

3,2

6

1,8

1891/92

2,3

9

3,3 12

2,5

1893/94

1,9

4

3,3

7

1896/97

1,5

5

3,2

8

2,5

2

3,8

1898/99

2,8

5

3,0

6

1,0

2

3,5

1900/01

1,0

2

2,5

2

1,0

1

1903/04

1,5

3

3,0

4

1906/07

1,5

2

4,0

2

1909/10

1,8

4

2,2

5

1,5

n Tsch. n

Dt.

n

6. Klassen

92

3,3

Dt.

1. Klassen

3,3

1881/82

n Tsch. n

Gesamtniveau 6. Klassen

Tsch.

2,7

n Tsch. n

1. Klassen

1875/76

3

Dt.

deutsch

6. Klassen

n

Tsch.

n

Dt.

n

3,2

18

2,9

35

8

3,2

39

13

3,1

50

3,4

36

2,9

32 2,7 39

3,0

50 2,9 71

3,3

2

3,2

3

2,9

88

3,2 119

2,4

15

3,1

43

3,0

62 3,1 91

2,6

11 2,9

41

3,1

88

3,3 134

2,4

16

3,1

58

3,4 10

3,1

54 3,0 78

2,1

18 3,4

47

3,1

74

3,2 107

2,2

22

3,4

70

4,0

1

2,8

75 2,8 96

2,5

4

3,0

24

2,8

82

2,9 106

2,2

5

3,0

25

4

3,9

7

3,6

69 2,9 93

3,6

11 3,3

51

3,5

74

2,9

99

3,1

15

3,3

59

4

3,8

6

2,8

62 2,9 74

2,3

18 2,8

51

2,7

72

3,0

88

2,4

22

2,9

58

2,4

39 2,6 61

2,4

15 2,9

50

2,3

43

2,7

68

2,4

15

2,9

51

4

2,8

36 2,9 56

2,9

8

3,2

31

2,6

43

2,9

66

2,9

10

3,2

35

2

2,9

23 2,9 34

2,9

4

2,9

23

2,9

28

2,9

40

2,3

6

2,9

25 19

2

7

70

4,0

1

2,4

15 2,4 26

3,0

5

3,0

18

2,2

17

2,4

28

2,7

6

3,0

3,5

1

2,1

15 2,3 20

2,4

5

3,5

20

2,0

19

2,4

25

2,4

5

3,5

21

2,7

3

1,9

24 2,7 34

3,4

5

3,1

17

1,9

26

2,7

36

2,9

7

3,0

20

1,0

1

2,2

19 2,4 27

1,3

3

2,1

12

2,1

23

2,3

32

1,3

3

2,0

13

Quelle: Vgl. AHMP: Deutsches Staatsgymnasium, Prag-Neustadt (Graben). Schulkataloge 1875-1910; eigene Berechnung.

Tabelle 64: Tschechisches akademisches Gymnasium in der Altstadt – Schüler ausgewählter erster und sechster Klassen nach ihrer Muttersprache und den Jahresdurchschnittsleistungen in Tschechisch und Deutsch tschechisch

Muttersprache: 1. Klassen Sprachunterricht:

Dt.

n

Tsch.

Gesamtniveau 6. Klassen

n

Dt.

n

Tsch.

1. Klassen n

1874/75 1881/82 1885/86

3,0

101

3,5

101

3,0

68

3,0

68

1893/94

3,0

65

3,4

65

2,9

59

2,9

64

1900/01

3,6

74

3,3

74

3,3

46

3,2

46

1909/10

3,1

44

2,7

44

2,3

25

2,9

26

6. Klassen

Dt.

n

Tsch.

n

Dt.

n

Tsch.

n

3,0

63

2,9

63

2,9

41

2,2

43

2,9

91

2,8

91

2,3

46

2,7

48

Quelle: Vgl. AHMP: České akademické gymnázium, Praha-Staré město. Schulkataloge 1874-1910; eigene Berechnung.

5.4.1.2

Religionsbekenntnis

Der konfessionelle Charakter der tschechisch-deutsch Bilingualen wandelt sich wie die generelle religiöse Struktur an den beiden deutschen Prager Gymnasien (vgl. Abbildung 26: 308; Abbildung 27: 308) im Laufe der Zeit. Auf Basis der Erstklässler des deutschen Altstädter (vgl. Tabelle 65: 402) und des deutschen Neustädter Gymnasiums (vgl. Tabelle 66: 402) zeigt sich, dass in den 1880er bis

Institutionelle und individuelle Voraussetzungen des Bilingualismus

399

Anfang der 1890er Jahre der Anteil der tschechischen Katholiken leicht überwiegt.679 In der Folgezeit besuchen sie nur noch vereinzelt die beiden deutschen Gymnasien. Die Zahl der tschechisch deklarierten Juden geht tendenziell zwar auch zurück, allerdings nicht so stark; zudem belegen ab Mitte der 1890er Jahre fast alle jüdischen Tschechen das Wahlfach. Repräsentanten tschechisch-deutscher Bilingualität sind damit an den Gymnasien vornehmlich mosaischen Glaubens. Die besseren Leistungen werden sowohl von den katholischen als auch den jüdischen Schülern an beiden Gymnasien in Tschechisch erzielt.680 Bei den Katholiken liegt das Niveau in Tschechisch zwischen sehr gut und befriedigend, wobei insbesondere die einzelnen Schüler Anfang des 20. Jahrhunderts an beiden Einrichtungen in ihrer Muttersprache brillieren. Die Leistungen der jüdischen Tschechen in ihrer Muttersprache sind etwas konstanter zwischen sehr gut und gut681 anzusiedeln.682 In Deutsch ist der Unterschied zwischen den zwei konfessionellen Gruppen eindeutiger, denn bei den katholischen Schülern liegt die Jahresdurchschnittsleistung vorwiegend zwischen befriedigend und ausreichend.683 Bei den jüdischen Tschechen dominiert zwar auch die Bewertung befriedigend, jedoch mit starker Tendenz zu gut. Eine Asymmetrie der Sprachkenntnisse, die mit oftmals mehr als einer Notenstufe Differenz relativ stark zum Ausdruck kommt, kennzeichnet Katholiken wie Juden, doch erreichen Letztere auf Grund der konstanteren Tschechischnoten und der besseren Deutschnoten ein generell etwas höheres Niveau. In den sechsten Klassen der beiden Gymnasien sind katholische Tschechen ebenfalls vorwiegend nur bis Mitte der 1880er bzw. Anfang der 1890er Jahre zu finden. Insbesondere von 1883/84 bis 1885/86 belegen sie kaum das Wahlfach zweite Landessprache. Jene einzelnen Schüler, die sich in dieser Periode für den 679

680

681

682 683

Ausgenommen ist das Schuljahr 1888/89, als 14 tschechisch deklarierte Juden das deutsche Altstädter Gymnasium besuchen, allerdings ist im gleichen Schuljahr am deutschen Neustädter Gymnasium nur ein Tscheche mosaischen Glaubens eingeschrieben. In den sechsten Klassen ist die Situation umgekehrt, denn im Gegensatz zum deutschen Neustädter Gymnasium ist an der deutschen Altstädter Einrichtung kein jüdischer und auch kein katholischer Tscheche zu finden. Demzufolge sind gezielte Agitationen seitens der Schulen, die das Wahlverhalten der Eltern intensiv beeinflusst haben könnten, auszuschließen. Ausnahme bilden am deutschen Altstädter Gymnasium die Schuljahre 1891/92 und 1893/94, als die tschechisch deklarierten Juden in Deutsch mit 2.5 bzw. 3.5 um 0.5 Notenpunkte besser abschneiden. Am deutschen Neustädter Gymnasium werden im Schuljahr 1881/82 allgemein in Deutsch etwas bessere Ergebnisse erzielt. Im Schuljahr 1888/89 sind nochmals die katholischen Tschechen in Deutsch um 0.3 Notenpunkte besser als in ihrer Muttersprache. Dies gilt auch für drei der vier jüdischen Tschechen im Schuljahr 1898/99, der befriedigende Gesamtdurchschnitt des Jahres geht auf den Schüler Josef Neumann zurück, der nicht nur in Tschechisch, sondern auch Deutsch, Latein und Mathematik lediglich ausreichende bis mangelhafte Leistungen erzielt. Große Ausnahmen bilden die Schuljahre von 1888/89 bis 1896/97 am deutschen Altstädter Gymnasium, als nur befriedigende und ausreichende Ergebnisse erzielt werden. An beiden deutschen Gymnasien bilden die Schuljahre 1881/82 und 1909/10 mit jeweils sehr guten bzw. guten Leistungen eine Ausnahme.

400

Institutionelle und individuelle Voraussetzungen des Bilingualismus

Unterricht in der Muttersprachen entscheiden, erreichen am deutschen Altstädter Gymnasium lediglich die Note ausreichend, am deutschen Neustädter Gymnasium die Note sehr gut. Somit sind hier Tendenzen einer allgemeingültigen Entwicklung auszuschließen. In den folgenden Jahren dominieren bei den wenigen tschechischen Katholiken jedoch generell gute bis sehr gute Leistungen. Demgegenüber steht in Deutsch – und auch den übrigen Pflichtfächern Latein, Mathematik und Griechisch – wie in den ersten Klassen ausschließlich eine maximal befriedigende Bewertung. Jüdische Tschechen treten in den sechsten Klassen erst in der zweiten Hälfte der 1880er Jahre relativ häufiger auf, wobei sie am Neustädter Gymnasium in den folgenden Jahrzehnten ähnlich selten wie katholische Tschechen sind. An der Altstädter Einrichtung erreichen sie in ihrer Muttersprache mindestens gute, meist aber hervorragende Ergebnisse.684 Im Gegensatz zu den katholischen Mitschülern können die tschechisch deklarierten Juden an beiden Einrichtungen zum Teil auch in Deutsch und den anderen Pflichtfächern mit gutem bis sehr gutem Niveau überzeugen.685 Somit kann auch für die sechsten Klassen festgestellt werden, dass die tschechisch-deutsche Bilingualität der wenigen katholischen Tschechen in den höheren Stufen der deutschen Gymnasien relativ unausgeglichen ist bzw. bleibt, sofern man die jeweiligen Sechstklässler als ehemalige Erstklässler früherer Jahrgänge sieht. In der Gruppe der jüdischen Tschechen tritt individueller Bilingualismus entsprechend der Noten gleichfalls häufig mit Tschechisch als der ,starken‘ Sprache auf, allerdings gibt es hier – dank besserer Leistungen in Deutsch – auch Einzelfälle mit relativ ausgeglichener tschechisch-deutscher Bilingualität. Abschließend ist die Belegung des Wahlfaches Französisch zu erwähnen. Während an beiden deutschen Gymnasien über den gesamten Betrachtungszeitraum insgesamt nur vier katholische Tschechen den Französischunterricht besuchen, nimmt am Altstädter Gymnasium knapp die Hälfte und am Neustädter Gymnasium fast 100 Prozent der jüdischen Tschechen686 daran teil. Die Motivation für einen weiteren Fremdspracherwerb ist damit unter den deklarierten Tschechen katholischer Konfession viel kleiner, sie erzielen zudem – anders als die jüdischen Mitschüler mit meist sehr guten bis guten Leistungen – höchstens die Note befriedigend. Das Wahlfach Stenographie ist dagegen am deutschen Neustädter Gymnasium ausschließlich eine Domäne der katholischen Tschechen. Zusammenfassend ist zu konstatieren, dass die quantitative Verteilung des individuellen tschechisch-deutschen Bilingualismus an den beiden Gymnasien und damit in der Domäne Schule abnimmt. Bis etwa Anfang der 1890er Jahre sind 684 685 686

Am deutschen Neustädter Gymnasium werden 1891/92 und 1896/97 dagegen nur befriedigende Leistungen erzielt. Am deutschen Altstädter Gymnasium trifft das auf die Schuljahre 1884/85, 1896/97 und 1909/10, am deutschen Neustädter Gymnasium auf 1884/85 und 1906/07 zu. Hier besuchen insgesamt mehr jüdische Tschechen den Französischunterricht als den Tschechischunterricht.

Institutionelle und individuelle Voraussetzungen des Bilingualismus

401

seine Vertreter mehrheitlich katholischer Religion, danach sind die vereinzelten, potenziell bilingualen Sprecher vorwiegend jüdischen Bekenntnisses. Aus qualitativer Sicht ist für beide konfessionellen Gruppen eine relativ ausgeprägte tschechisch-deutsche Asymmetrie kennzeichnend, wobei das Gesamtniveau der jüdischen Schüler dank besserer Deutschnoten etwas höher einzuschätzen ist. Das Auseinanderklaffen zwischen Erst- und Zweitsprache, bleibt auch für den katholischen Kern der tschechischsprachigen Elite in den sechsten Jahrgangsstufen der deutschen Gymnasien charakteristisch. In den Reihen der jüdischen Tschechen werden im Laufe der Jahrzehnte zumindest vereinzelt relativ ausgeglichene Kenntnisse erreicht. Der Vorzeigetyp tschechisch-deutscher Bilingualität ist damit im gegebenen schulischen Kontext v.a. in den 1890er Jahren und zu Beginn des 20. Jahrhundert jüdischer Konfession. Am tschechischen akademischen Gymnasium (vgl. Tabelle 67: 403) ist sowohl in den ersten als auch den sechsten Klassen ein deutlicher Unterschied zwischen katholischen und jüdischen Schülern festzumachen. Letztere brillieren im Wahlfach Deutsch fast687 durchgehend mit sehr guten Ergebnissen. Allerdings erreicht auch etwa ein Sechstel der katholischen Erstklässler – 1900/01 weniger als ein Zehntel, dafür 1909/10 fast ein Drittel – eine sehr gute Leistung in Deutsch. In den sechsten Klassen ist ihr Anteil je Schuljahr jeweils geringfügig höher, nur 1900/01 sinkt er sogar auf nur fünf Prozent ab. Die ebenfalls durchschnittlich sehr guten bis guten Noten in Tschechisch, Latein und Mathematik zeigen, dass diese katholischen Schüler generell zu den Vorzugsschülern zählen. Absolut ist diese kleine Gruppe katholischer Jungen immer noch größer als die maximal drei Personen umfassende Fraktion jüdischer Knaben. Diese können in Tschechisch mit zum Teil befriedigenden Ergebnissen nicht derart überzeugen, wie die katholischen Vorzugsschüler, die in der Unterrichtssprache mindestens gut abschneiden. Die sehr vereinzelten Sechstklässler, die das Wahlfach Deutsch nicht belegen, sind alle katholischer Religion. Insgesamt zeigt das Beispiel des akademischen Gymnasiums, dass die wenigen jüdischen Schüler an tschechischen Mittelschulen, die zur Jahrhundertwende immerhin als Hinweis für die wachsende Attraktivität der tschechischen Bildung unter den Juden in Prag (vgl. Havránek 1996: 195) gesehen werden, fast durchgängig auch zu den potenziell bilingualen, tschechischdeutschen Sprechern zu zählen sind. Zudem erreicht ein kleiner Teil der katholischen Mehrheit ebenso ausgezeichnete Noten in Deutsch, sodass auch hier Ansätze für tschechisch-deutsche Bilingualität bestehen bleiben. Die Masse der Prager Gymnasialschüler tschechischer Muttersprache besucht ohne Zweifel den deutschen Wahlfachunterricht (vgl. auch Luft 2001: 116), beim Großteil der katholi687

Die drei jüdischen Erstklässler des Schuljahres 1900/01, Jindřich Kolliner, Zdeněk Kraus und Felix Žalud – Söhne jüdischer Kaufleute bzw. im letzteren Falle eines Landesadvokaten – bilden mit ihrer durchschnittlich nur ausreichenden Leistung eine Ausnahme, sie zählen auch in Tschechisch, Latein und Mathematik mit ausreichenden bis mangelhaften Noten zu den schlechtesten Schülern.

402

Institutionelle und individuelle Voraussetzungen des Bilingualismus

schen Tschechen ist entsprechend der Noten jedoch kaum ein Zweitspracherwerb anzunehmen. Vielmehr dürfte das Aneignen von erweiterten Fremdsprachenkenntnissen in der immer noch etablierten Bildungssprache Deutsch im Vordergrund stehen. Tabelle 65: Deutsches Staatsgymnasium in der Altstadt – tschechische Schüler ausgewählter erster und sechster Klassen nach ihrem Religionsbekenntnis und den Jahresdurchschnittsleistungen in Tschechisch und Deutsch688 1. Klassen Tschechisch

Sprachunterricht:

kath. 1879/80 1881/82 1882/83 1883/84 1884/85 1885/86 1886/87 1888/89 1891/92 1893/94 1896/97 1898/99 1900/01 1903/04 1906/07 1909/10

n

1,3 2,0 3,0 2,2 2,7 3,0 2,3

2 4 1 6 3 2 3

2,8 3,0 3,5 1,0

3 1 1 1

1,0

1

6. Klassen Deutsch

Tschechisch

jüd.

n

kath.

n

jüd.

n

1,0 2,4

1 6

1 7 2

2 3 3 10 2 2 5 3 1 2 3 3

1 2 8 3 10 4 4 3 4 5 1 1 1

2,5 3,4 2,3

1,5 2,2 2,0 2,8 3,0 4,0 3,2 2,3 2,5 2,5 1,3 2,2

3,5 1,5 3,4 3,8 3,3 3,8 3,6 3,0 3,5 3,1 4,0 4,0 3,5

1,5

1

3,0 2,9 4,0 2,9 2,5 3,5 3,8 3,0 4,0 3,5 2,3 3,3

3 8 3 14 5 8 6 3 1 2 3 3

kath.

n

4,0 4,0 4,0 2,0

1 1 1 3

3,0 2,0 2,5

1 1 1

1,3

2

Deutsch

jüd.

n

kath.

n

1,0

1 4

4,0 3,6 4,2 2,8

4 5 3 3

2,1

2,0 1,3

3 2

3,0 3,5 3,5

1 2 1

1,0 1,3 1,0 1,1

1 2 1 4

3,8

2

jüd.

n

1,0

1

3,3

6

3,0 3,4 1,3

1 4 2

3,5 3,0 3,5 2,3

1 2 1 4

Quelle: Vgl. AHMP: Deutsches Staatsgymnasium, Prag-Altstadt. Schulkataloge 1874-1910; eigene Berechnung.

Tabelle 66: Deutsches Staatsgymnasium in der Neustadt (am Graben) – tschechische Schüler ausgewählter erster und sechster Klassen nach ihrem Religionsbekenntnis und den Jahresdurchschnittsleistungen in Tschechisch und Deutsch 1. Klassen Tschechisch

Sprachunterricht: 1881/82 1882/83 1883/84 1884/85 1885/86 1888/89 1891/92 1893/94 1896/97 1898/99 1900/01 1903/04 1906/07 1909/10

688

6. Klassen Deutsch

Tschechisch

kath.

n

jüd.

n

kath.

n

jüd.

n

3,0 2,5 1,7 2,3 2,8 3,5 2,3 3,0 1,5 3,0 1,0

1 3 3 5 4 4 5 1 2 1 1

4,5 1,6

1 4

1 4

1,0 1,0

1 1

1 3 1 4 3 3 4 1 3 1 3

1 4 6 8 5 5 8 2 5 2 1

4,0 2,9

2,5 2,3 2,0 2,3 1,5 1,5 2,8 1,0 1,5 2,0 2,0

2,0 3,8 3,6 3,0 3,9 3,2 3,6 4,0 3,4 3,5 3,0 4,0 1,0

1 1

3,0 3,0 3,0 2,6 3,0 2,8 2,8 2,0 3,0 4,0 2,5

1 5 1 4 5 3 4 1 4 1 4

kath.

n

1,5 2,0 1,0 1,0 2,0

3 1 1 1 2

2,0 1,0 1,0 2,0

Deutsch

jüd.

n

kath.

n

1,0

1

3,2 3,6 4,0 4,0 4,0

7 9 1 2 4

2,0 3,0

3 2

1 2 1

3,0

1

3,5 3,5 4,0

2 2 1

1

1,0

1

3,0

2

Die beiden Schüler evangelischen Schüler (1883/84 – 6. Klasse) werden hier vernachlässigt.

jüd.

n

2,0

1

3,8 3,5

5 2

4,0

2

3,5 2,0 1,0

1 1 1

403

Institutionelle und individuelle Voraussetzungen des Bilingualismus

Quelle: Vgl. AHMP: Deutsches Staatsgymnasium, Prag-Neustadt (Graben). Schulkataloge 1875-1910; eigene Berechnung.

Tabelle 67: Tschechisches akademisches Gymnasium in der Altstadt – Schüler ausgewählter erster und sechster Klassen nach ihrem Religionsbekenntnis und den Jahresdurchschnittsleistungen in Tschechisch und Deutsch 1. Klassen Deutsch

Sprachunterricht: 1874/75 1881/82 1885/86 1893/94 1900/01 1909/10

kath.

n

3,1 2,9 3,1 3,1 3,6 3,2

62 87 96 63 68 42

jüd. 1,0 1,5 1,5 4,0 2,0

6. Klassen Tschechisch

n

kath.

n

2 2 2 3 2

3,0 2,8 3,5 3,4 3,3 2,7

62 87 96 63 68 42

jüd. 1,8 3,5 3,3 4,2 2,0

Deutsch n

kath.

n

2 2 2 3 2

2,9 2,4 3,0 3,0 3,5 2,5

41 43 68 55 43 21

jüd.

Tschechisch n

1,5

3

1,0 1,0 1,0

3 3 3

kath.

n

2,1 2,7 3,0 2,9 3,3 3,1

42 45 68 59 43 22

jüd.

n

3,3

3

2,7 2,0 1,7

3 3 3

Quelle: Vgl. AHMP: České akademické gymnázium, Praha-Staré město. Schulkataloge 1874-1910; eigene Berechnung.

5.4.1.3

Sprachlich-territoriale Herkunft

Im Folgenden gilt es, den Einfluss der sprachlich-territorialen Herkunft auf potenzielle Bilingualität zu überprüfen. Im Vergleich zu den Volksschulen ist dies an den Gymnasien aufschlussreicher, da ein Großteil der Schüler extra für den Schulbesuch in die Hauptstadt geschickt wird und vorübergehend bei Kostgebern oder Verwandten wohnt. Die Dominanz der gebürtigen Prager ist daher nicht so stark ausgeprägt (vgl. Tabelle 24: 311; Tabelle 25: 312; Tabelle 26: 312). Tschechische Muttersprachler, die die Wahlfachoption nicht wahrnehmen, sind keiner sprachlich-territorial einheitlichen Herkunft. Die Mehrheit der deklarierten Tschechen stammt sowohl am deutschen Altstädter Gymnasium (vgl. Tabelle 68: 405) als auch am deutschen Neustädter Gymnasium (vgl. Tabelle 69: 406) aus ,rein‘ tschechischsprachigen Orten. In den jeweiligen ersten und sechsten Klassen beträgt ihr Anteil über die Hälfte. Mit etwa einem Viertel stellen die gebürtigen Prager in den ersten Klassen der Gymnasien die zweitstärkste Fraktion, in den sechsten Klassen steigt ihr Anteil am Altstädter Gymnasium auf über zwei Fünftel, an der Neustädter Einrichtung auf ein Drittel an. Aus gemischtsprachigen Orten stammt v.a. in den ersten Klassen noch etwa ein Siebtel der Schülerschaft. Deutlicher als an den Volksschulen stechen Schüler aus tschechischsprachigen Gegenden durch gute bis sehr gute Tschechischnoten hervor.689 Abgesehen von einzelnen Schülern ist auch in der Prager Gruppe beider Gymnasien das Tschechischniveau überwiegend bei gut und zum Teil sogar sehr gut anzusiedeln. In Deutsch sind die Noten allgemein schlechter, dabei schneiden 689

Ausnahmen betreffen am deutschen Altstädter Gymnasium nur die ersten Klassen und zwar die Schuljahre 1888/89 (3.3), 1891/92 (4.0) und 1896/97 (3.2). Am deutschen Neustädter Gymnasium werden in den ersten Klassen 1885/86 (3.8) und 1898/99 (2.8) sowie in den sechsten Klassen von einzelnen Schülern lediglich befriedigende Leistungen in Tschechisch erzielt – 1891/92 und 1896/96 je 3.0.

404

Institutionelle und individuelle Voraussetzungen des Bilingualismus

die Schüler aus tschechischsprachigen Orten keinesfalls regelmäßig schlechter ab als jene aus Prag. Am Neustädter Gymnasium ist im Laufe der 1880er Jahre bei den Jungen aus tschechischsprachigen Gebieten in den sechsten Klassen ein starker Gegensatz zwischen der Benotung in Tschechisch und in Deutsch zu beobachten – sehr gute Muttersprachenkenntnisse stehen lediglich ausreichenden Deutschnoten gegenüber –, der bei den Erstklässlern einerseits wegen schlechterer Tschechischnoten und andererseits besserer Deutschnoten schwächer ausgeprägt ist. Dass am deutschen Altstädter Gymnasium diese Asymmetrie der Sprachkenntnisse nicht so markant ist, steht in Beziehung zur konfessionellen Zusammensetzung der Schülerschaft. Denn an beiden Einrichtungen sind Sechstklässler aus tschechischsprachigen Geburtsorten, die in Deutsch gute oder sogar sehr gute Leistungen erzielen, ausschließlich jüdischen Bekenntnisses und deren Anteil ist an der Altstädter Einrichtung größer.690 Aus gemischt- und insbesondere deutschsprachigen Gebieten stammen nur relativ wenige Kinder, sodass ihre Einordnung kaum möglich ist. Die fast durchgängig befriedigenden und meist sogar nur ausreichenden Ergebnisse der Altstädter Gymnasiasten aus gemischtsprachigen Gebieten in beiden Sprachfächern deuten lediglich an, dass hier vom bilingual eingeschätzten Umfeld keine positiven Auswirkungen auf die Sprachkenntnisse ausgingen.691 Insgesamt stammt der charakteristische Vertreter tschechisch-deutscher Bilingualität an den untersuchten Prager Gymnasien aus ,rein‘ tschechischsprachigen Orten oder aus Prag. Ein Zusammenhang zwischen sprachlicher Verteilung im Geburtsort, der unter den Gymnasiasten oftmals noch mit dem aktuellen Wohnort der Eltern übereinstimmt, und den erzielten Noten ist nicht zwingend gegeben. Einerseits erreichen die Knaben aus tschechischsprachigen Gebieten zwar in Tschechisch die besten Ergebnisse, unterscheiden sich aber andererseits in Deutsch kaum von den Schülern mit anderer sprachlich-territorialer Herkunft. Auf Basis der Noten – in Tschechisch etwas schlechter, in Deutsch etwas besser – scheint der individuelle Bilingualismus der gebürtigen Prager relativ ausgeglichener. Im Vergleich der ersten und sechsten Klassen sind keine auffälligen Unterschiede zu erkennen. Die Schüler aus tschechischsprachigen Gebieten behaupten jeweils ihre Mehrheit, zusammen mit den gebürtigen Pragern stellen sie in der Oberstufenklasse über 90 Prozent der tschechisch-deutsch Bilingualen. Das Ungleichgewicht der Sprachkenntnisse hat sich im Laufe der Gymnasialzeit kaum verändert, in den sechsten Jahrgangsstufen des Neustädter Gymnasiums zum Teil sogar eher verschärft denn geschwächt. Am tschechischen akademischen Gymnasium (vgl. Tabelle 70: 406) dominiert gleichfalls der Anteil der Schüler mit ,rein‘ tschechischsprachigem Geburtsort und aus Prag, wobei Letztere hier in den ersten Klassen sogar die relative Mehrheit 690 691

Einzige Ausnahme bildet der evangelische Victor Szalatnay am Altstädter Gymnasium im Schuljahr 1883/84. Die relativ guten Ergebnisse der Erstklässler des Neustädter Gymnasiums würden dagegen einen positiven Einfluss nicht ausschließen.

405

Institutionelle und individuelle Voraussetzungen des Bilingualismus

besitzen. Aus der Perspektive der sprachlich-territorialen Herkunft der Schüler differiert das Sprachniveau in den ersten Klassen kaum. Jeweils ein Drittel der Schüler aus gemischt- und tschechischsprachigen Gebieten sowie aus Prag erreicht in Deutsch mindestens gute Leistungen. In den sechsten Klassen kristallisieren sich die Schüler aus tschechischsprachigen Orten – insgesamt über zwei Fünftel, katholischer wie jüdischer Religion – als ausgezeichnete Deutschlerner heraus. Dagegen erbringen die vermeintlich bevorteilten Jungen aus deutschsprachiger Umgebung die schlechteste Leistung im Wahlfach zweite Landessprache (= Deutsch). Ein Einfluss der sprachlich-territorialen Herkunft auf die Sprachkenntnisse tschechischer Gymnasiasten kann somit nicht bestätigt werden. Die Dominanz der tschechischen Unterrichtssprache wird bei den Schülern mit mindestens guten Deutschnoten durch das regelmäßig bessere Abschneiden im Wahlfach – anders als bei der Gesamtheit der Schülerschaft – etwas nivelliert. Auf Grundlage der sechsten Klassen bleibt festzuhalten, dass potenziell bilinguale Sprecher der tschechischen Elite am häufigsten aus ,rein‘ tschechischsprachigen Landesteilen stammen, so auch zehn der zwölf jüdischen Schüler mit sehr guten Deutschkenntnissen. Tabelle 68: Deutsches Staatsgymnasium in der Altstadt – tschechische Schüler ausgewählter erster und sechster Klassen nach der sprachlich-territorialen Herkunft und den Jahresdurchschnittsleistungen in Tschechisch und Deutsch692 1. Klassen deutschsprachig

gemischtsprachig

6. Klassen

tschechischsprachig

Prag

gemischtsprachig

tschechischsprachig

Prag

Tsch. n Dt. n Tsch. n Dt. n Tsch. n Dt. n Tsch. n Dt. n Tsch. n Dt. n Tsch. n Dt. n Tsch. n Dt. n 1879/80 4,0

1881/82

1 4,5 1

1,0

1 2,5 1

1,9

6 3,1 7

3,5 1 1,5

1 1,0 1

1882/83

3,5 2

3,0 2

2,0

4 3,1 6

1883/84

4,0 1

3,5 1

3,0

1 4,0 1

3 3,4 6

2,0

3 3,1 5

1884/85

2,3

2 3,0 2

1885/86

3,0

1 3,5 1

1886/87 1888/89

4,5 1

1891/92

4,0 1

2,0

1,8 2,3

3 3,1 7

2,5

3 3,3 4

2,5

4 4,0 5

2,0

1 3,3 2

1 3,0 1

3,3

7 3,1 10 1,0

1 2,0 1

4,0 1

4,0

1 2,9 5

2,0

1 2,0 2

4,0

1 3,3 2

4,0 1

2,5

1 4,0 1

2,5

2 2,8 2

1,0

1 1,0 1 4,0 1

4,0

1 4,3 2

1,8

4 3,1 6

2,5

2 2,8 2

3,0 1

3,0

1 3,0 1

1,5

2 3,2 3

1,5

1 1,5 1

1,8

2 2,3 2

1 3,5 1

1,2

3 2,3 3

1893/94

4,0

1 4,3 2

2,3

2 3,2 8

1896/97

3,0

1 4,0 1

3,2

5 3,8 6

2,0

2 3,0 2

1900/01

2,5

1 4,0 1

1,0

1 3,5 1

1,0

1903/04

4,0

1 5,0 1

1,0

1 2,0 1

1,3

2 3,0 2

1,0

2 2,0 2

2,0

1 3,0 1

1,0

2 3,3 2

1,8

2 3,5 2

3,0

1 3,0 1

1,0

1 2,0 1

1898/99

1906/07 1909/10

1,0

1 1,5 1

3,3

4,0 1 4,0

1 3,6 5

3,0 1

2 3,5 2

Quelle: Vgl. AHMP: Deutsches Staatsgymnasium, Prag-Altstadt. Schulkataloge 1874-1910; eigene Berechnung.

692

Insgesamt konnte die sprachlich-territoriale Herkunft von neun Schülern nicht bestimmt werden, ihre Darstellung ist in der Tabelle vernachlässigt.

406

Institutionelle und individuelle Voraussetzungen des Bilingualismus

Tabelle 69: Deutsches Staatsgymnasium in der Neustadt (am Graben) – tschechische Schüler ausgewählter erster und sechster Klassen nach der sprachlich-territorialen Herkunft und den Jahresdurchschnittsleistungen in Tschechisch und Deutsch693 1. Klassen deutschsprachig

gemischtsprachig

6. Klassen

tschechischsprachig

gemischtsprachig

Prag

tschechischsprachig

Prag

Tsch. n Dt. n Tsch. n Dt. n Tsch. n Dt. n Tsch. n Dt. n Tsch. n Dt. n Tsch. n Dt. n Tsch. n Dt. n 2,5

1 2,0 1

1882/83

2,0

1 3,0 1

3,0

1 3,0 1

1,8

5 3,4 6

1883/84

1,5

1 3,0 1

1,0

1 2,5 1

2,5

1 3,5 2

1884/85

1,5

1 3,5 1

2,5

1 2,8 2

2,5

1 3,0 2

5,0 1

2,2

3 3,2 3

3,8

2 3,8 4

2,0

2 2,5 2

1,0

1 4,0 1

1888/89

3,0

1 2,5 1

4,5

1 3,0 1

2,5

2 3,0 2

3,5

1 3,8 2

1,3

1891/92

3,0

1 4,0 1

2,0

4 3,3 6

2,4

4 3,2 5

1,5

3 3,3 4

3,0

1 4,0 1

1,5

1 3,5 2

1881/82

1885/86

1893/94 1896/97

2,5 1

1898/99

4,0 1

1,3

3 3,1 4

2,8

4 2,8 4

1900/01

1,0

2 2,5 2

1903/04

1,8

2 2,7 3

3,0

1 3,0 1

1906/07 2,5

1909/10

2 2,3 3

2,0

1 4,0 1

1,0

1 2,0 1

3,8

2 3,0 2

2,0

1 2,8 2

4,0 1 3,3 2

1,0 1,0

1 4,0 1

1,0

1 2,0 1

1,0

1 4,0 2

1,8

2 2,9 4

1,0

1 3,5 4

2,0

1 3,4 4

3 3,8 6

3,0

1 4,0 1

3,0

1 4,3 3

2,5

2 3,5 2

3,0

1 4,0 3

2,0

1 3,0 1

1,0

1 4,0 1

1 4,0 1 3,5 1

1,0

1 2,0 1

2,0

1 3,0 2 1,0 1

Quelle: Vgl. AHMP: Deutsches Staatsgymnasium, Prag-Neustadt (Graben). Schulkataloge 1875-1910; eigene Berechnung.

Tabelle 70: Tschechisches akademisches Gymnasium in der Altstadt – Schüler ausgewählter erster und sechster Klassen nach der sprachlich-territorialen Herkunft und den Jahresdurchschnittsleistungen in Tschechisch und Deutsch694 1. Klassen deutschsprachig

gemischtsprachig

6. Klassen

tschechischsprachig

Prag Dt. Tsch. n

deutschsprachig

gemischtsprachig

Dt. Tsch. n

Dt. Tsch. n

Dt. Tsch. n

1874/75

3,3

2,8

2

3,5

3,8

2

2,9

2,7

29 3,0

3,0

24 4,0

1881/82

2,8

2,2

3

2,7

2,5

9

2,9

2,7

41 2,8

3,0

34

1885/86

3,1

3,6

4

3,3

4,1

5

2,9

3,3

39 3,2

3,7

47

3,2

3,8

6

1893/94

4,0

4,0

1

2,9

3,6

10 3,4

3,3

23 2,8

3,3

30 4,0

3,8

3

3,3

3,6

6

1900/01

3,7

3,3

11 3,6

3,2

22 3,5

3,3

35 3,0

4,0

1

2,3

2,4

5

1909/10

2,8

2,7

6

2,8

12 2,9

2,6

25 4,0

4,0

1

3,3

4,0

3

3,7

Dt. Tsch. n 4,0

Dt. Tsch. n

1 2,0

2,6

6

tschechischsprachig

Prag

Dt. Tsch. n

Dt. Tsch. n

2,8

2,1

32 2,8

2,1

4

1,9

2,3

19 3,0

3,4

15

3,0

2,8

42 3,0

3,2

15

2,6

2,3

22 3,0

3,1

30

3,2

3,0

16 3,6

3,4

21

1,3

2,6

7

2,8

14

2,5

Quelle: Vgl. AHMP: České akademické gymnázium, Praha-Staré město. Schulkataloge 1874-1910; eigene Berechnung.

693

694

Insgesamt konnte die sprachlich-territoriale Herkunft von neun Schülern nicht bestimmt werden, ihre Darstellung ist in der Tabelle vernachlässigt. Ferner stammt im Schuljahr 1891/92 ein Schüler der sechsten Klasse aus deutschsprachiger Umgebung, seine durchschnittlichen Jahresleistungen in Tschechisch (2.0) und Deutsch (3.0) fehlen gleichfalls in der Tabelle. Insgesamt konnte die sprachlich-territoriale Herkunft von 49 Schülern nicht bestimmt werden, ihre Darstellung ist in der Tabelle vernachlässigt. Da am tschechischen Gymnasium fast alle Schüler das Wahlfach Deutsch belegen, wurde auch auf die getrennte Angabe dieser Schülerzahl verzichtet. Die wenigen Sechstklässler, die Deutsch nicht wählen, stammen aus Prag und tschechischsprachigen Orten.

Institutionelle und individuelle Voraussetzungen des Bilingualismus

5.4.1.4

407

Soziale Herkunft

Aus gesellschaftlicher Perspektive sind tschechisch-deutsch bilinguale Sprecher bis zur Jahrhundertwende in allen sozialen Schichten vertreten. Sowohl am deutschen Altstädter Gymnasium (vgl. Tabelle 71: 410) als auch am deutschen Neustädter Gymnasium (vgl. Tabelle 72: 411) stammt mehr als die Hälfte der Erstklässler aus dem traditionellen Kleinbürgertum, der Rest verteilt sich auf die übrigen Kategorien mit geringfügigen Vorteilen für Bildungsbürgertum und neue Mittelschicht. Ab der Jahrhundertwende jedoch gehören die wenigen verbliebenen tschechischen Muttersprachler fast ausschließlich dem traditionellen Kleinbürgertum an. Unter Berücksichtigung des Religionsbekenntnisses zeigt sich außerdem, dass diese am deutschen Altstädter Gymnasium nur noch jüdischer, am Neustädter Gymnasium jedenfalls mehrheitlich jüdischer Konfession sind. Ihre Väter sind hauptsächlich Handels- und Kaufmänner. Folglich wählt zu Beginn des 20. Jahrhunderts – unabhängig von der gesellschaftlichen Stellung – kaum noch ein deklarierter Tscheche katholischer Religion eine deutschsprachige Gymnasialausbildung. Mit der Präferenz der ,eigenen‘ Sprache in der Domäne Schulwesen reagieren sie einerseits auf den lokalen Statusgewinn des Tschechischen zu Beginn des 20. Jahrhunderts (vgl. Kapitel 3.2.2.2) und tragen andererseits selbst zur Aufwertung des Tschechischen im Bildungsbereich bei. In der jüdischen Gemeinschaft gehören die deklarierten Tschechen nahezu vollständig dem traditionellen Kleinbürgertum an und dies über den gesamten Betrachtungszeitraum.695 Die Formulierung dürfte hier jedoch lauten, dass kein Jude der Oberschicht, insbesondere des Bildungsbürgertums und der neuen Mittelschicht, der ein Gymnasium mit deutscher Unterrichtssprache besucht, Tschechisch als Muttersprache angibt (vgl. auch Iggers 1986: 21).696 Als Angehörige der oberen sozialen Klassen zählen sie in der Eigen- wie der Fremdwahrnehmung zum Kern der deutschen Sprachgemeinschaft in Prag, sind Mitglieder des Deutschen Casinos in Prag und darin auch vor antisemitischen Tendenzen gefeit (vgl. Cohen 1981: 177-178). Mitglieder der alten Mittelschicht dagegen sind durch ihren Beruf wesentlich auf tschechische Geschäftskontakte und Kunden angewiesen und durch die in den 1890er Jahren massiv auftretenden wirtschaftlichen Boykottaufrufe einem verstärkten ,nationalen‘ Assimilierungsdruck ausgesetzt. Die Wahl der deutschsprachigen Schulausbildung und die Angabe der tschechischen Muttersprache stehen dabei im Hinblick auf die Demonstration ,nationaler‘ Identität nach außen gewissermaßen in einem ausgleichenden Gegensatz.

695

696

Am deutschen Altstädter Gymnasium sind zusätzlich insgesamt je drei Schüler aus dem Besitzbürgertum (1886/87, 1888/89, 1898/99) und dem neuen Kleinbürgertum (1879/80, 1885/86, 1896/97), zwei Schüler aus der Unterschicht (1881/82, 1900/01) und ein Knabe aus dem Bildungbürgertum (1882/83). Am deutschen Neustädter Gymnasium nur je ein Schüler aus dem Besitzbürgertum (1891/92) und der neuen Mittelschicht (1909/10). Dass ausreichend jüdische Söhne dieser sozialen Schichten die beiden deutschen Gymnasien besuchen, wird in Kapitel 5.4.2.4 deutlich.

408

Institutionelle und individuelle Voraussetzungen des Bilingualismus

Was die auf Basis der Noten definierte Qualität des tschechisch-deutschen Bilingualismus betrifft, sind kaum Unterschiede zwischen den sozialen Klassen festzumachen, gleichfalls ist auch keine einheitliche diachrone Entwicklung zu erkennen. Generell dominieren in Tschechisch gute und in Deutsch befriedigende bis ausreichende Kenntnisse. Tendenziell besser sind die Deutschergebnisse der Schüler aus dem traditionellen Kleinbürgertum, was auf den jüdischen Anteil an dieser Gruppe zurückzuführen ist. Die höchste Dichte an Tschechischschülern mit nur maximal befriedigenden Leistungen ist im neuen Kleinbürgertum, die insbesondere am Altstädter Gymnasium auch in Deutsch kaum das Klassenziel erreichen. Im Gegensatz hierzu stehen die Söhne aus dem Bildungsbürgertum, allerdings nur an der Altstädter Einrichtung, wo sie meist in beiden Fächern sehr gute bis gute Leistungen erzielen. Die Allgemeingültigkeit eines außergewöhnlichen Bestrebens der Schüler dieser sozialen Schicht und dessen gezielte Förderung durch das Elternhaus wird durch die wenig bravourösen Ergebnisse in beiden Fächern an der Neustädter Einrichtung negiert. Abkömmlinge des Besitzbürgertums zählen mit maximal guten Noten in Tschechisch und meist befriedigenden und ausreichenden Leistungen in Deutsch zum Durchschnitt. Das Schlusslicht in Deutsch bilden die Kinder aus der Arbeiterschicht, die hier kaum die Note befriedigend erreichen. In den sechsten Klassen repräsentiert weiterhin das traditionelle Kleinbürgertum die dominante soziale Schicht. In der Oberschicht zeichnet sich eine Veränderung ab, die sich auf den Rückgang – bzw. am Altstädter Gymnasium das absolute Fehlen – von Kindern aus dem Besitzbürgertum bezieht. Demgegenüber stehen die Schüler aus dem Bildungsbürgertum, die innerhalb der katholischen Schülerschaft am Altstädter Gymnasium die deutliche Mehrheit besitzen und am Grabengymnasium die gleiche Anzahl an Vertretern vorweisen wie das traditionelle Kleinbürgertum. Letztere sind zu Beginn des 20. Jahrhunderts wieder ausschließlich mosaischen Bekenntnisses. Generell charakterisiert die weitgehende Beschränkung der jüdischen Knaben auf die alte Mittelschicht auch die Situation der sechsten Klassen. Schüler, die das Wahlfach zweite Landessprache nicht wählen, sind gesellschaftlich nicht einheitlich zuzuordnen, sondern in allen Schichten zu finden. Die Option des freiwilligen Unterrichts in Französisch wird unter den deklarierten Tschechen überwiegend von jüdischen Schülern aus dem Kleinbürgertum und einem Arbeiterkind wahrgenommen. Hinsichtlich der qualitativen Ausprägung des Bilingualismus ist wiederum – mit Ausnahme der jüdisch dominierten, alten Mittelschicht und einzelnen Schülern ebenfalls mosaischer Konfession697 – in Deutsch ein befriedigendes bis ausreichendes Niveau vorherrschend. In Tschechisch werden gleichfalls unabhängig von der sozialen Klasse mindestens gute Ergebnisse erzielt. Die soziale und konfessionelle Zusammensetzung der sechsten Klassen zeigt, dass zum einen die Elite der tschechisch-deutsch bilingua697

Im Schuljahr 1884/85 erreicht ein jüdischer Schüler aus dem neuen Kleinbürgertum in Deutsch die Note sehr gut, 1909/10 erzielt ein jüdischer Junge aus der Unterschicht ein gutes Ergebnis.

Institutionelle und individuelle Voraussetzungen des Bilingualismus

409

len Sprecher v.a. dem traditionellen Kleinbürgertum entstammt, dort aber ab Mitte der 1890er Jahre Zweisprachigkeit vornehmlich nur noch von jüdischen Kauf- und Handelsleuten gepflegt wird. Die bestehende, sporadische Präsenz katholischer Schüler aus dem Bildungsbürgertum und der neuen Mittelschicht auch noch zu Beginn des 20. Jahrhunderts sind einerseits Beweis dafür, dass die deutsche Gymnasialausbildung in der nahezu formierten tschechischen Nationalgemeinschaft noch Wert und Ansehen besitzt. Andererseits ist die verschwindende Größe dieser Gruppe ein demonstratives Zeichen des schleichenden Bedeutungsverlusts der deutschen Sprache in der neuen tschechischen Elite, der sich selbst nach der erneuten Aufhebung der Badenischen Sprachenverordnungen beständig fortsetzt. Am tschechischen akademischen Gymnasium (vgl. Tabelle 73: 411) gestaltet sich die soziale Struktur der ersten und sechsten Klassen sehr ähnlich. Mit knapp 50 Prozent stammt auch hier der größte Anteil der Schüler aus dem traditionellen Kleinbürgertum, wobei im Unterschied zu den deutschsprachigen Einrichtungen eindeutig die Berufsgruppe der selbständigen Handwerker und Gewerbetreibenden überwiegt und auch die Söhne aus landwirtschaftlichen Betrieben zahlreicher sind als jene aus Kaufmanns- und Handelsfamilien. Dagegen gehört die kleine Gruppe jüdischer Schüler fast vollständig der alten Mittelschicht und darin ausnahmslos der Kaufmanns- und Handelsriege an. Auch am traditionsreichen tschechischen Gymnasium stammt folglich über den gesamten Beobachtungszeitraum abgesehen von zwei Schülern (1881/82, 1900/01) kein Junge aus jüdischem, bildungsbürgerlichem Haus. Damit kann festgehalten werden, dass Juden dieser sozialen Schicht nicht nur an der deutschen Bildung, sondern auch der deutschen Muttersprache festhalten. Die auf diese Weise nach außen transportierte sprachliche – und im zeitgenössischen Diskurs national interpretierte – Identität ist eindeutig deutsch. Im Vergleich mit der tschechischen Volksschule ,U sv. Havla‘ besuchen relativ mehr Schüler der Oberschicht und des neuen Kleinbürgertums und relativ weniger Schüler der alten Mittelschicht und der Unterschicht das tschechische Gymnasium (vgl. Tabelle 23: 302).698 Demnach scheint in der tschechischen Gesellschaft ein bestimmter sozialer Status den Weg zur gymnasialen Schulausbildung – ob in deutsch- oder tschechischsprachigen Einrichtungen – zu erleichtern. Das Niveau der Sprachkenntnisse differiert zwischen den einzelnen sozialen Klassen kaum und liegt generell bei durchschnittlich befriedigenden Ergebnissen in beiden Fächern. Zieht man lediglich die Schüler mit sehr guten Leistungen in Deutsch in Betracht, so lässt sich feststellen, dass, neben den jüdischen Vertretern aus dem traditionellen Kleinbürgertum, katholische Schüler aller sozialer Schichten zu den am ehesten noch potenziell bilingualen, tschechisch-deutschen Sprechern zählen. Dabei sind die Kinder aus der Oberschicht in den ersten Jahrgangsstufen gegenüber ihrem relativen Anteil an der Klassenstruktur etwas häufiger 698

Am tschechischen akademischen Gymnasium besitzt die Oberschicht einen Anteil von mindestens einem Viertel und das neue Kleinbürgertum von über einem Fünftel, an der Volksschule betrugen diese dagegen lediglich maximal 8 bzw. 14 Prozent.

410

Institutionelle und individuelle Voraussetzungen des Bilingualismus

unter den ausgezeichneten Deutschschülern. Die Förderung potenzieller tschechisch-deutscher Bilingualität wird am tschechischen Gymnasium somit von keiner gesellschaftlichen Klasse weder besonders gefördert noch ausdrücklich vernachlässigt. Tabelle 71: Deutsches Staatsgymnasium in der Altstadt – tschechische Schüler ausgewählter erster und sechster Klassen nach der sozialen Herkunft und den Jahresdurchschnittsleistungen in Tschechisch und Deutsch699 6. Klassen

1. Klassen Besitzbürgertum

Bildungsbürgertum

trad. Kleinbürgertum

neues Kleinbürgertum

Unterschicht

Bildungsbürgertum

trad. Kleinbürgertum

neues Kleinbürgertum

Unterschicht

Tsch. n Dt. n Tsch. n Dt. n Tsch. n Dt. n Tsch. n Dt. n Tsch. n Dt. n Tsch. n Dt. n Tsch. n Dt. n Tsch. n Dt. n Tsch. n Dt. n

1879/80

3,5 1

1881/82

1,3 2 1,5 2 2,3

5 3,3 6

1882/83

4,0 1 1,0 1 1,8 2 2,3

3 3,3 4

1883/84

3,5 1

1884/85

1 2,5 1 3,0 1 4,0 1 3,5 2

4,0 1

1 2,0 1

3,5 3

1 4,0 3 1,0 1 2,5 2 2,1 3,0 1 3,5 1 2,3

5 2,9 9

3,0

1 4,2 3

4,0

1 4,5 1

1886/87

2,0

1 4,0 1 2,0 1 2,0 1 2,0

2 4,2 3

4,0

1 4,0 2

2,0

3 2,8 3

1888/89

2,0

1 1,0 1 1,0 1 2,0 1 2,9 11 3,1 15 3,0 1

3,0 1 3,0

1 3,0 1

1891/92

4,0 1

3,0

2,0

4,0 1

4,0 1

2,5

1885/86

5 3,3 7

1,0

2 2,8 6

2,5

2 2,8 2

4,0 2

4,0 1

1,0 1 1,0 1 4,0 1

2,1

4 3,3 6

2,0

3 3,4 4

1,7

3 2,0 3

3,0 1

1893/94

4,0 1 4,3 2 3,2

3 3,1 10 3,0

1 4,0 1

1896/97

3,0 1 4,0 1 2,8

4 3,7 5

5,0

1 4,0 1

2,0

2 3,0 2

3,5

1 4,0 1

1903/04

2,5

2 3,5 2

1,3

2 3,0 2

1906/07

1,3

3 2,3 3

1,0

1 3,5 1

1898/99

3,0

1 3,0 1

1900/01

1909/10

3,0 1

2,0 1 4,0 1

1,8 2 3,8 2

1 1 1,5 1

2,2

3 3,3

3

1

1 3,5

1

1

1 1,5

1,5 1 4,5 1

1

1,5 1

Quelle: Vgl. AHMP: Deutsches Staatsgymnasium, Prag-Altstadt. Schulkataloge 1874-1910; eigene Berechnung.

699

Insgesamt konnten bei sechs Schülern die soziale Schichtzugehörigkeit nicht bestimmt werden, ihre Darstellung ist in der Tabelle vernachlässigt.

2 1

411

Institutionelle und individuelle Voraussetzungen des Bilingualismus

Tabelle 72: Deutsches Staatsgymnasium in der Neustadt– tschechische Schüler ausgewählter erster und sechster Klassen nach der sozialen Herkunft und den Jahresdurchschnittsleistungen in Tschechisch und Deutsch700 6. Klassen

1. Klassen Besitzbürgertum

Bildungsbürgertum

trad. Kleinbürgertum

neues Kleinbürgertum

Besitzbürgertum

Unterschicht

Bildungsbürgertum

trad. Klein- neues Kleinbürgertum bürgertum

Unterschicht

Tsch. n Dt. nTsch. n Dt. n Tsch. n Dt. n Tsch. n Dt. n Tsch. n Dt. n Tsch. n Dt. n Tsch. n Dt. n Tsch. n Dt. n Tsch. n Dt. nTsch n Dt. n

1881/82 1882/83

3,0

1883/84 1884/85

1 4,0 1

1,5

5 3,1 5

4,5 2 1,8 2 2,8 2 2,0

1 3,5 1

1885/86 1888/89 1891/92

2,5 1 2,0 1 4,5 1 3,0 1

2,0

4,0 1 3,5 1 4,0 1

4,0 1

1,5 1 3,0 1

1,0

3,0 1 2,5

1 3,0 1

2,5 1 2,5 3 2,3 3 3,3 3 2,0

1 4,0 1

3,0 1 4,0 1 2,8

5 3,3 7

1,0 1 3,8 2 1,0

1 4,0 1

3,5 1 3,5 1 2,0

1 3,0 1

2 3,8 3 3,0 1 4,0 2 2,3

6 2,8 6

3,0 1

1,5

3 3,0 5

3,0 1 4,0 2 1,0 1 3,5 1

1893/94 1896/97

3,0 1 2,0 1

3,5 1 1,6

4 3,0 4

1898/99

2,5 1

3,0 1 3,0 1 2,8

4 3,0 5

1900/01

1,0

2 2,5 2

1903/04

1,5

3 3,0 4

1906/07

1,0 1 4,0 1 2,0

1 4,0 1

1909/10

1,0

2 2,3 3

3,8 2 2,8 2 3,0 1 3,5 2

4,8 2

1 3,5 2

3,0 1

1,8 2 3,1 4

4,0 2

1,0 1 3,1 5

3,3 2

4,0 1

1,0 2 3,3 2

2,5 2 3,5 2

3,0 2 3,5 2

2,0 1 4,0 2 2,0 1 4,0 1

4,0 1

4,0 1

4,0 1 1,0

2,5 2 3,7 3

1 4,0 1

1,0 1 3,0 1 1,0 1 4,0 1 3,5 1

3,0 1

1,0 1 2,0 1

1,0 1 2,0 1

2,0 1 3,0 1

1,0 1

Quelle: Vgl. AHMP: Deutsches Staatsgymnasium, Prag-Neustadt (Graben). Schulkataloge 1875-1910; eigene Berechnung.

Tabelle 73: Tschechisches akademisches Gymnasium in der Altstadt – Schüler ausgewählter erster und sechster Klassen nach der sozialen Herkunft und den Jahresdurchschnittsleistungen in Tschechisch und Deutsch701 1. Klassen Besitzbürgertum

Bildungsbürgertum

6. Klassen

trad. Klein- neues KleinBesitzUnterschicht bürgertum bürgertum bürgertum

Bildungsbürgertum

trad. Klein- neues KleinUnterschicht bürgertum bürgertum

Dt. Tsch. n Dt. Tsch. n Dt. Tsch. n Dt. Tsch. n Dt. Tsch. n Dt. Tsch. n Dt. Tsch. n Dt. Tsch. n Dt. Tsch. n Dt. Tsch. n 1874/75

3,3

3,0

2

2,7

2,8

10 3,2

3,0

30 3,4

3,2

8

2,7

2,7

9

2,5

1,5

2

2,4

1,6

10 3,1

2,3

22 3,2

2,8

7

3,0

2,5

1

1881/82

2,4

2,5

8

2,8

2,3

12 3,0

2,9

41 2,6

2,8

21 3,3

2,9

9

3,0

3,7

5

3,0

2,0

1

2,1

2,6

31 2,7

2,6

10 2,0

1,5

1

1885/86

2,9

3,6

9

2,9

3,5

17 3,3

3,6

47 2,8

3,1

18 3,1

3,9

8

2,3

2,5

3

2,6

2,9

8

3,1

3,0

31 3,1

3,0

20 3,0

2,9

5

3,1

3,2

18 3,1

3,3

26 3,1

3,8

14 2,5

3,2

6

2,5

3,0

7

2,9

3,2

15 2,9

2,9

26 3,3

2,8

13 2,0

1,5

2

1893/94 1900/01

3,1

3,0

5

3,3

3,2

16 4,0

3,5

24 3,5

3,2

15 3,9

3,3

12 3,7

3,3

5

3,4

3,1

9

3,1

3,1

20 3,5

3,3

10 3,5

3,8

2

1909/10

2,3

2,0

4

2,5

2,6

11 3,2

2,4

12 3,5

3,0

14 4,3

3,0

3

1,0

1

3,2

3,6

7

2,1

2,4

9

3,1

8

3,0

1

1,0

2,3

1,0

Quelle: Vgl. AHMP: České akademické gymnázium, Praha-Staré město. Schulkataloge 1874-1910; eigene Berechnung.

5.4.2

Deutschsprecher

Deklarierte Deutsche, die auf Grund ihrer Leistungen in Tschechisch zum Kreis der potenziell bilingualen deutsch-tschechischen Sprecher zu rechnen sind, werden im Folgenden genauer betrachtet. Vor dem Hintergrund des Aufnahmeverfah700 701

Bei einem Schüler konnte die soziale Herkunft nicht bestimmt werden, seine Darstellung ist in der Tabelle vernachlässigt. Insgesamt konnte die soziale Herkunft von elf Schülern nicht bestimmt werden, ihre Darstellung ist in der Tabelle vernachlässigt. Da am tschechischen Gymnasium fast alle Schüler das Wahlfach Deutsch belegen, wurde auch auf die getrennte Angabe dieser Schülerzahl verzichtet. Die wenigen Sechstklässler, die Deutsch nicht wählen, stammen aus dem Bildungsbürgertum und der Mittelschicht.

412

Institutionelle und individuelle Voraussetzungen des Bilingualismus

rens an ein Gymnasium zum einen und zum anderen der beruflichen Perspektiven, die ein Abiturabschluss bietet, handelt es sich hierbei um eine selektierte, elitäre Gruppe von Schülern, deren ,Sprachverhalten‘ es zu analysieren gilt. Im Unterschied zum Volksschulwesen wird das Wahlfach Tschechisch in der gymnasialen Mittelschule nicht von allen Schülern belegt, weder allen deutschen noch allen tschechischen Muttersprachlern.702 Zudem ist der Anteil der deklarierten Tschechen an den deutschen Gymnasien bedeutend geringer als an den Volksschulen und nicht alle bleiben bis zur Oberstufe, sodass die sechsten Jahrgangsstufen manchmal nur aus deutschen Schülern bestehen. Infolgedessen kann zwar in Bezug auf die ersten Klassen das bei den Volksschulen angewandte Verfahren, die potenziell bilingualen Deutschen in Relation zum jeweiligen Durchschnitt der tschechischen Muttersprachler in Tschechisch herauszufiltern, übernommen werden703, jedoch mangelt es für die sechsten Klassen an der entsprechenden Vergleichsgruppe. Aus diesem Grund wird für die sechsten Jahrgangsstufen wie für die 1870er Jahre, als die Muttersprache in den Schulkatalogen noch nicht dokumentiert ist, der allgemeine Klassendurchschnitt in Tschechisch als Auswahlkriterium festgelegt. Den in Tschechisch über- bzw. durch-/überdurchschnittlichen Schülern wird sowohl die Gruppe der schlechteren Tschechischschüler als auch der Teil der Klasse gegenübergestellt, der das Wahlfach nicht belegt.

5.4.2.1

Leistungsbewertung

Am deutschen Altstädter Gymnasium (vgl. Tabelle 74: 414) liegt der Anteil der Schüler, die am Wahlfach Tschechisch teilnehmen, Ende der 1870er Jahre, als die Altstädter Anstalt noch als Realgymnasium fungiert, bei nur knapp einem Drittel der Schülerschaft. Erst im Laufe der 1880er Jahre und schließlich endgültig Mitte der 1890er Jahre im Zuge der Diskussion um die Badenischen Sprachenverordnungen signalisiert die erhöhte Nachfrage nach dem Wahlfach Tschechisch in den Reihen der deklarierten Deutschen eine Steigerung der Wertigkeit der tschechischen Sprache. Am deutschen Neustädter Gymnasium (vgl. Tabelle 75: 415) belegen relativ beständig zwischen zwei Drittel und drei Viertel der deutschen Schüler das Wahlfach zweite Landessprache. In den sechsten Klassen reicht ihr Anteil 702

703

In Bezug auf die ersten Klassen des deutschen Altstädter Gymnasiums hat der Vergleich der Leistungen der deklarierten Deutschen, die den Tschechischunterricht besuchen und jener, die das Wahlfach zweite Landessprache nicht belegen, gezeigt, dass Letztere durchgehend – mit Ausnahme von 1898/99 – in Deutsch, Latein als auch Mathematik die schlechteren Leistungen erzielen. Der elitäre Charakter des Kreises potenziell bilingualer Sprecher wird durch die Dichte an Vorzugsschülern nochmals gestärkt. Am deutschen Altstädter Gymnasium fällt der Durchschnitt der tschechischen Muttersprachler in den Schuljahren 1896/97, 1903/04 und 1909/10 sowie am deutschen Neustädter Gymnasium im Schuljahr 1881/82 geringfügig schlechter aus als jener der deutschen Muttersprachler (vgl. Tabelle 62: 304; Tabelle 63:304). Die Gründe hierfür können vielseitig sein. Vereinfachend wird dies dahingehend interpretiert, dass in diesen Jahren relativ mehr deklarierte Deutsche mit ausgezeichneten Tschechischkenntnissen zur Schülerschaft zählen und ihre Qualifikation in die Gruppe der potenziell Bilingualen damit gerechtfertigt ist.

Institutionelle und individuelle Voraussetzungen des Bilingualismus

413

dagegen kaum über ein Drittel hinaus. Am stärker jüdisch dominierten Altstädter Gymnasium ist die Beteiligungsrate in den sechsten Jahrgangsstufen zwar auch relativ geringer (ca. ein Viertel), steigt aber ab 1886/87 zumindest auf etwa 50 Prozent an. Zieht man jedoch die Qualität der tschechischen Sprachkenntnisse in Betracht, so zählt ab 1882/83704 sowohl in den ersten als auch den sechsten Klassen am deutschen Altstädter Gymnasium meist nur ein Bruchteil der deklarierten Deutschen zum Kreis der potenziell bilingualen Sprecher.705 Am deutschen Neustädter Gymnasium ist ihr relativer Anteil in den sechsten Klassen geringfügig größer.706 Generell schneiden die in Tschechisch über- bzw. durch-/überdurchschnittlichen Schüler im Wahlfach mit sehr gut bis gut besser707 ab als in der Unterrichtssprache Deutsch, wo die Notenspanne tendenziell von gut bis befriedigend reicht. Das umgekehrte Verhältnis der relativ schlechteren Schüler und deren meist nur befriedigend bis ausreichendes Niveau in Tschechisch betont nochmals die potenzielle Bilingualität der qualifizierten Tschechischschüler. Quantitativ geht potenzielle deutsch-tschechische Zweisprachigkeit in der Elite zwar zurück, doch weisen die sehr guten Leistungen in Tschechisch in allen Klassen zu Beginn des 20. Jahrhunderts auf eine Konservierung ihrer qualitativen Ausprägung im reduzierten Kreis potenziell bilingualer Sprecher an den Gymnasien hin. Ihre konfessionelle Zugehörigkeit und damit die Frage, ob deutsch-tschechische Zweisprachigkeit an den Gymnasien von einer Religionsgemeinschaft relativ stärker angestrebt wird, gilt es im Folgenden zu erörtern.

704

705

706

707

Bis einschließlich 1881/82 liegt der Anteil der überdurchschnittlichen Tschechischschüler in den ersten und sechsten Jahrgangsstufen bei etwa mindestens einem Drittel und maximal der Hälfte – in den ersten Klassen des Neustädter Gymnasiums geringfügig mehr – der teilnehmenden Schüler, allerdings sind hier auch die nicht identifizierten tschechischen Muttersprachler eingeschlossen. Beispielsweise qualifiziert sich in den ersten Klassen des deutschen Altstädter Gymnasiums von 1883/84 bis 1888/89 weniger als ein Drittel der deutschen Tschechischschüler. Die Zunahme in den folgenden Schuljahren ist v.a. durch das schlechtere Abschneiden der tschechischen Muttersprachler und dem dadurch niedrigeren Relationswert bedingt. In den sechsten Jahrgangsstufen und damit sehr kleinen Wahlfachgruppen liegt der durchschnittliche Anteil der relativ besseren Deutschen mit weniger als einem Drittel in den Schuljahren 1886/87, 1893/94, 1896/97, 1900/01 und 1903/04, 1909/10 nicht höher. In den Schuljahren 1884/85, 1891/92, 1893/94, 1903/04 und 1909/10 zählt am deutschen Neustädter Gymnasium mehr als die Hälfte der deklarierten Deutschen, die den Tschechischunterricht belegen, zu den potenziell bilingualen Sprechern. Am deutschen Altstädter Gymnasium liegt ihr Anteil mit Ausnahme von 1883/84 nie über 50 Prozent. Ausnahmen bilden am deutschen Altstädter Gymnasium in den ersten Klassen die Schuljahre 1882/83 (3.2 in Tschechisch vs. 2.6 in Deutsch), 1891/92 (2.4 vs. 2.3), 1893/94 (2.4 vs. 2.1) sowie in den sechsten Klassen die Schuljahre 1883/84 (2.0 vs. 1.7), 1888/89 (2.0 vs. 1.7), 1893/94 (2.0 vs. 1.0) und 1898/99 (2.1 vs. 2.0). Am deutschen Neustädter Gymnasium sind lediglich die Leistungen der Erstklässler im Schuljahr 1888/89 in Deutsch (2.2) besser als in Tschechisch (2.6).

414

Institutionelle und individuelle Voraussetzungen des Bilingualismus

Tabelle 74: Deutsches Staatsgymnasium in der Altstadt – Tschechischschüler ausgewählter erster und sechster Klassen nach ihren Jahresdurchschnittsleistungen in Tschechisch und Deutsch708 alle nichtdeklarierten Tschechen i. Vgl. zum Klassendurchschnitt 1. Klassen überd. 1874/75 1877/78 1879/80 1881/82

6. Klassen

durch-/unterd.

Tsch.

Dt.

n

Tsch.

Dt.

n

2,5 2,0 2,8 2,0

2,9 2,4 2,8 2,9

20 11 13 4

4,1 3,8 4,2 3,3

3,7 3,5 3,1 3,1

32 14 21 10

überd.

% 62% 27% 33% 54%

durch-/unterd.

Tsch.

Dt.

n

Tsch.

Dt.

n

2,5 2,6 1,8 1,2

3,4 3,5 2,5 2,0

4 4 4 5

3,6 4,2 3,8 3,3

3,5 3,8 2,5 2,7

4 9 5 6

% 42% 27% 20% 23%

alle deklarierten Deutschen i. Vgl. zum Klassendurchschnitt der deklarierten Tschechen über-/durch. 1882/83 1883/84 1884/85 1885/86 1886/87 1888/89 1891/92 1893/94 1896/97 1898/99 1900/01 1903/04 1906/07 1909/10

3,2 1,9 1,5 1,6 1,5 1,8 2,4 2,4 2,2 1,9 1,3 2,0 1,0 1,1

2,6 3,0 1,3 2,3 2,4 2,1 2,3 2,1 2,9 2,2 2,5 2,7 1,7 2,3

i. Vgl. zum Klassendurchschnitt

%

unterd. 10 7 3 12 8 7 16 17 15 14 2 16 5 12

3,4 4,3 3,9 3,7 3,3 3,6 4,2 4,3 4,4 3,7 2,7 3,2 2,8 2,2

3,4 3,1 2,6 3,5 3,0 3,3 3,3 3,0 4,0 3,8 3,0 3,3 3,3 2,5

überd. 6 18 14 37 21 34 18 22 7 13 10 6 10 10

36% 47% 50% 59% 57% 71% 68% 53% 92% 82% 86% 88% 88% 88%

%

durch-/unterd.

2,0 2,0 2,0 2,0 2,0 1,3 2,0 1,0 2,1 2,0

1,7 2,6 2,9 2,5 1,7 2,0 1,0 1,0 2,0 2,0

3 5 4 2 6 3 2 1 4 1

1,0 1,0

2,3 2,3

2 3

3,0 3,8 3,9 2,9 3,8 3,3 3,6 3,5 3,6 3,3 2,3 2,2 2,6

4,0 2,7 3,4 2,7 3,3 3,5 3,1 3,8 2,8 3,8 3,3 3,7 2,7

1 6 4 10 6 4 5 6 6 2 5 3 7

Quelle: Vgl. AHMP: Deutsches Staatsgymnasium, Prag-Altstadt. Schulkataloge 1874-1910; eigene Berechnung.

708

Die Spalte „%“ gibt den Anteil der Schüler an, die in dem jeweiligen Schuljahr das Wahlfach Tschechisch belegen.

17% 15% 31% 24% 44% 52% 33% 44% 58% 43% 30% 50% 63% 77%

415

Institutionelle und individuelle Voraussetzungen des Bilingualismus

Tabelle 75: Deutsches Staatsgymnasium in der Neustadt –Tschechischschüler ausgewählter erster und sechster Klassen nach ihren Jahresdurchschnittsleistungen in Tschechisch und Deutsch709 alle nichtdeklarierten Tschechen i. Vgl. zum Klassendurchschnitt 1. Klassen überd. 1875/76 1877/78 1879/80 1881/82

6. Klassen

durch-/unterd.

Tsch.

Dt.

n

Tsch.

Dt.

n

2,7 2,5 2,7 2,1

2,9 3,0 3,2 2,6

40 51 42 22

3,9 3,9 4,0 3,4

3,6 3,4 3,5 3,0

52 47 35 29

überd.

% 68% 72% 70% 77%

durch-/unterd.

Tsch.

Dt.

n

Tsch.

Dt.

n

2,4 1,8 1,2 1,8

2,8 3,3 2,3 3,4

8 3 6 5

3,9 3,0 2,6 3,2

3,3 3,4 3,1 3,5

10 5 7 5

% 51% 21% 26% 28%

alle deklarierten Deutschen i. Vgl. zum Klassendurchschnitt der deklarierten Tschechen über-/durch. 1882/83 1883/84 1884/85 1885/86 1888/89 1891/92 1893/94 1896/97 1898/99 1900/01 1903/04 1906/07 1909/10

i. Vgl. zum Klassendurchschnitt

%

unterd.

1,6 1,9 1,7 2,0 2,6 1,8 1,6

2,7 2,5 2,0 2,3 2,2 2,7 1,8

9 9 13 36 24 18 11

2,2 1,0 1,3 1,1 1,0

2,7 1,5 1,4 2,1 2,0

10 1 4 9 8

3,3 3,2 3,5 3,7 4,0 3,2 2,7 2,8 3,5 2,5 2,5 2,5 3,1

3,0 3,2 3,2 3,3 3,2 3,1 3,0 2,9 2,9 2,4 2,4 3,0 2,7

überd. 41 53 41 39 45 44 28 36 13 14 11 15 11

70% 68% 69% 78% 74% 84% 64% 64% 68% 58% 75% 71% 70%

%

durch-/unterd.

2,0 1,5 1,5 2,5 1,7 1,8 2,0 1,5 2,0 1,7

2,9 3,2 2,3 3,5 2,5 2,3 2,8 2,5 2,3 2,8

4 10 2 3 10 10 3 1 2 3

1,0

2,0

2

3,3 3,0 2,9 3,5 4,1 3,1 3,6 3,5 3,3 3,7 3,5 3,4 2,0

3,3 3,0 3,7 3,3 3,4 2,8 3,3 2,9 2,2 2,7 2,5 2,7 2,0

2 7 8 2 8 8 5 5 3 3 2 5 1

Quelle: Vgl. AHMP: Deutsches Staatsgymnasium, Prag-Neustadt (Graben). Schulkataloge 1875-1910; eigene Berechnung.

5.4.2.2

Religionsbekenntnis

Auf den ersten Blick erscheint der deutsch-tschechische Bilingualismus auch an den Gymnasien im Laufe der Jahrzehnte vornehmlich als in der jüdischen Religionsgemeinschaft verbreitetes Phänomen. Am deutschen Altstädter Gymnasium (vgl. Tabelle 76: 417) wie am deutschen Neustädter Gymnasium (vgl. Tabelle 77: 418) ist die Mehrheit der Gruppe potenziell bilingualer Sprecher in den ersten Klassen mosaischen Glaubensbekenntnisses.710 Unter Berücksichtigung der konfessionellen Zusammensetzung der gesamten Schülerschaft ist jedoch festzuhalten, dass die jeweiligen Anteile der potenziell bilingualen Sprecher innerhalb der Religionsgemeinschaft kaum variieren. Bis zum Schuljahr 1882/83, als die Muttersprache noch nicht dokumentiert ist, zählt am Altstädter Gymnasium sowohl maximal ein Viertel der Katholiken als auch der Juden zu den überdurchschnittlichen Tschechischschülern. Am Neustädter Gymnasium ist der jeweilige Anteil 709 710

Die Spalte „%“ gibt den Anteil der Schüler an, die in dem jeweiligen Schuljahr das Wahlfach Tschechisch belegen. Am deutschen Altstädter Gymnasium bilden lediglich die Schuljahr 1874/75 und 1884/85 und am deutschen Neustädter Gymnasium die Schuljahre 1875/76 und 1879/80 eine Ausnahme, hier sind die potenziell bilingualen Sprecher mehrheitlich katholischer Religion.

35% 27% 38% 17% 22% 35% 30% 26% 17% 28% 25% 29% 25%

416

Institutionelle und individuelle Voraussetzungen des Bilingualismus

etwas höher, von den katholischen Schülern übertrifft 1879/80 sogar fast die Hälfte den Klassendurchschnitt. Allerdings ist an dieser Stelle wiederum die Beteiligung der nicht deklarierten und damit nicht identifizierten tschechischen Muttersprachler nicht zu unterschätzen, die auch die beständig besseren Noten der Katholiken in Tschechisch in dieser Periode begünstigen. In den Reihen der deutsch deklarierten Katholiken des Neustädter Gymnasiums erreicht schließlich – mit Ausnahme von 1885/86 (43 %) und 1909/10 (33 %) – nur höchstens ein Fünftel das Niveau der tschechischen Muttersprachler. Unter den Juden zählt ab Mitte der 1880er Jahre – mit Ausnahme von 1896/97 und 1900/01 – mindestens ein Fünftel der Schüler zu den potenziell bilingualen Sprechern. An der Altstädter Einrichtung nimmt die Dichte der potenziell deutsch-tschechisch Bilingualen ab Mitte der 1890er Jahre sowohl unter den wenigen katholischen Schülern als auch in der jüdischen Mehrheit der Schülerschaft zu – unabhängig von der Konfession erreichen bis zu zwei Drittel der Jungen die Leistungen der deklarierten Tschechen. Das Niveau in Tschechisch differiert zwischen katholischen und jüdischen Deutschen der ersten Jahrgangsstufen am Neustädter Gymnasium lediglich um maximal 0.4 Notenpunkte, an der Altstädter Einrichtung v.a. bis Mitte der 1890er Jahre zum Teil jedoch deutlich stärker. Generelle Eigenheiten der beiden Konfessionen sind daher nicht festzumachen. Das bereits traditionell bessere Abschneiden der Juden im Fach Deutsch trifft auf die Verhältnisse am Neustädter Gymnasium fast ausnahmslos zu. Am Altstädter Gymnasium erreichen die katholischen Deutschen insbesondere in den 1880er Jahren zum Teil bessere Leistungen als ihre jüdischen Kollegen. In den ersten Klassen zeichnet sich damit die relative Verbreitung und auch die Qualität deutsch-tschechischer Zweisprachigkeit durch keinen besonderen konfessionellen Charakter aus. Absolut gesehen und entsprechend der Dominanz mosaischer Schüler an den beiden deutschen Gymnasien überwiegt allerdings klar die Zahl jüdischer potenziell Bilingualer. Im Laufe der Gymnasialzeit wandeln sich die konfessionellen Verhältnisse der Gruppe potenziell deutsch-tschechisch bilingualer Sprecher geringfügig. Ausschlaggebend ist hierbei die Tatsache, dass die Klassenstärke und zudem der Anteil derer, die das Wahlfach belegen, in den sechsten Jahrgangsstufen bedeutend kleiner ausfällt. Die schließlich noch in Tschechisch im Vergleich zum Klassendurchschnitt besseren Deutschen sind weiterhin mehrheitlich mosaischen Bekenntnisses, ihr relativer Anteil an der jüdischen Schülerschaft beträgt allerdings – mit Ausnahme von 1888/89 (38 %) – nie mehr als ein Viertel. Zudem übertrifft am Altstädter Gymnasium nach der Jahrhundertwende lediglich noch ein jüdischer, aber fünf katholische Jungen das allgemeine Niveau der Klasse. Demnach ist der erste Eindruck, der deutsch-tschechische Bilingualismus entwickle sich an den Gymnasien zu einem exklusiv jüdischen Phänomen, unter relativen Gesichtspunkten nicht zu bestätigen. Katholische Schüler sind zwar seltener in der Gruppe potenziell Bilingualer zu finden, allerdings entspricht dies durchaus ihrem Anteil

417

Institutionelle und individuelle Voraussetzungen des Bilingualismus

an der Schülerschaft.711 Auch qualitativ lassen sich – weder in Tschechisch noch in Deutsch – keine prägnanten Unterschiede zwischen den beiden Konfessionsgruppen festmachen. Insgesamt zeigen die Beteiligung am Wahlfachunterricht und die darin erzielten Erfolge der deutsch deklarierten, katholischen und jüdischen Schüler, dass nur eine sehr kleine Minderheit der deutschsprachigen Elite eine deutsch-tschechische Bilingualität pflegt. An den beiden deutschen Gymnasien mit überwiegend jüdischen Schülern ist diese Gruppe dominant jüdisch. Tabelle 76: Deutsches Staatsgymnasium in der Altstadt – über-/durchschnittliche Tschechischschüler ausgewählter erster und sechster Klassen nach ihren Jahresdurchschnittsleistungen in Tschechisch und Deutsch und dem Religionsbekenntnis 1. Klassen Tsch. kath.

jüd.

Dt.

6. Klassen

kath.

kath. jüd.

n

jüd.

%-Kath. n

Tsch.

%-Jud. kath.

jüd.

Dt.

kath.

kath. jüd.

n

jüd.

%-Kath. n

%-Jud.

alle nichtdeklarierten Tschechen - i. Vgl. zum Klassendurchschnitt überdurchschnittlich 1874/75 1877/78 1879/80 1881/82

2,4 2,0 2,3 1,5

2,8 2,1 2,9 1,7

2,9 3,3 3,0 2,3

3,0 2,2 2,6 2,6

14 2 6 4

28% 5% 12% 19%

1882/83 1883/84 1884/85 1885/86 1886/87 1888/89 1891/92 1893/94 1896/97 1898/99 1900/01 1903/04 1906/07 1909/10

i. Vgl. zum Durchschnitt der deklar. durch-/überd. 3,4 3,0 2,5 2,7 4 20% 3,0 1,5 4,0 2,6 2 11% 1,3 2,0 1,0 2,0 2 13% 1,5 1,7 1,9 2,7 5 15% 1,7 2,3 0% 2,0 1,7 1,0 2,6 2 13% 2,3 2,4 2,0 2,3 3 27% 3,0 2,4 2,5 2,1 1 7% 1,5 2,3 2,5 2,9 2 67% 1,8 2,0 2,5 1,9 7 54% 1,3 2,5 0% 2,1 1,9 2,8 2,7 5 56% 1,0 1,0 1,8 1,7 2 50% 1,3 1,1 2,3 2,3 2 40%

6 9 8 5

19% 18% 16% 25%

2,5 2,3 1,8 1,0

2,5 3,5 1,8 2,0

3,7 3,3 2,5 2,0

2,5 4,0 2,5 2,0

3 3 2 4

27% 11% 8% 14%

1 1 2 1

13% 6% 12% 6%

alle deklarierten Deutschen Tschechen 6 5 1 6 6 5 13 16 13 7 2 11 3 9

29% 17% 6% 13% 21% 12% 34% 28% 65% 35% 22% 69% 23% 56%

i. Vgl. zum Klassendurchschnitt überd. 2,0 1,8

2,0 2,2 1,8

2,0

2,0

2,0 3,0 3,0

2,5 2,0 1,3 2,0 1,0 2,1

2,0 1,0 1,0

1,0 2,0

1,0

2 1,7 2,0 1,0 1,0 2,0

2,0 1,0

3,0 2,3

1 2

1

1 1,5

1 3

14% 13% 0% 13% 0% 0% 50% 0% 0% 33% 0% 50% 60%

2 3 3 6 3 1 1 4

1

Quelle: Vgl. AHMP: Deutsches Staatsgymnasium, Prag-Altstadt. Schulkataloge 1874-1910; eigene Berechnung.

711

Zur genaueren Überprüfung der konfessionellen Zusammensetzung der Gruppe deutsch deklarierter bilingualer Sprecher müsste zum Vergleich ein Gymnasium mit deutscher Unterrichtssprache und einer Mehrheit an katholischen Schülern herangezogen werden wie z.B. das deutsche Staatsgymnasium in den Königlichen Weinbergen. Im Rahmen dieser Arbeit konnte dies allerdings nicht mehr geleistet werden.

11% 17% 13% 0% 38% 23% 7% 9% 21% 0% 0% 17% 0%

418

Institutionelle und individuelle Voraussetzungen des Bilingualismus

Tabelle 77: Deutsches Staatsgymnasium in der Neustadt – über-/durchschnittliche Tschechischschüler ausgewählter erster und sechster Klassen nach ihren Jahresdurchschnittsleistungen in Tschechisch und Deutsch und dem Religionsbekenntnis 1. Klassen Tsch. kath.

jüd.

Dt.

6. Klassen

kath.

kath. jüd.

n

jüd.

%-Kath. n

Tsch.

%-Jud. kath.

jüd.

Dt.

kath.

kath. jüd.

n

jüd.

%-Kath. n

%-Jud.

alle nichtdeklarierten Tschechen - i. Vgl. zum Klassendurchschnitt überdurchschnittlich 1875/76 1877/78 1879/80 1881/82

2,6 2,1 2,6 1,9

2,7 2,7 2,8 2,3

3,0 3,4 3,4 2,9

2,7 2,8 2,6 2,3

25 21 27 10

41% 33% 49% 43%

15 28 13 12

22% 41% 28% 28%

1882/83 1883/84 1884/85 1885/86 1888/89 1891/92 1893/94 1896/97 1898/99 1900/01 1903/04 1906/07 1909/10

i. Vgl. zum Durchschnitt der deklar. Tschechen durch-/überd. 1,8 1,4 3,3 2,4 3 16% 6 13% 2,0 1,9 2,7 2,7 3 11% 5 9% 1,5 1,8 2,2 1,9 3 15% 10 18% 1,7 2,0 2,5 2,1 10 43% 23 36% 2,6 2,6 2,3 2,1 6 18% 17 31% 1,7 1,8 2,9 2,6 6 20% 12 29% 1,8 1,5 2,3 1,6 3 11% 8 25% 0% 0% 2,3 2,1 2,8 2,7 2 14% 7 39% 1,0 1,5 0% 1 7% 1,5 1,2 1,0 1,5 1 20% 3 20% 1,0 1,1 1,8 2,3 3 21% 6 30% 1,0 1,0 3,3 1,2 3 33% 5 28%

2,2 2,3 1,0 2,0

3,0 1,0 1,3 1,8

2,9 3,5 2,5 4,0

2,5 3,0 2,0 3,3

6 2 3 1

33% 13% 14% 8%

2 1 2 4

13% 4% 7% 17%

alle deklarierten Deutschen i. Vgl. zum Klassendurchschnitt überd. 2,0 1,7 1,0 2,0 1,7 2,0

2,0 1,4 2,0 2,8 1,7 1,7 2,0 1,5

2,0

2,8 3,2 2,0 3,0 2,6 2,7

2,3 1,5

1,0

3,0 3,3 2,5 3,8 2,3 2,1 2,8 2,5

1,0

2 3 1 1 7 3

2 2,8

2,0

2,0

1

0% 14% 33% 11% 5% 21% 18% 0% 0% 29% 0% 0% 33%

2 6 1 2 3 7 3 1 2 1

Quelle: Vgl. AHMP: Deutsches Staatsgymnasium, Prag-Neustadt (Graben). Schulkataloge 1875-1910; eigene Berechnung.

5.4.2.3

Sprachlich-territoriale Herkunft

Im Folgenden gilt es, das Profil der potenziell deutsch-tschechisch Bilingualen an den Gymnasien mit Bezug auf die sprachlich-territoriale Herkunft der Sprecher zu ergänzen. Am deutschen Altstädter Gymnasium (vgl. Tabelle 78: 421) stammt bis 1881/82 in den ersten Klassen – wie bereits bei den tschechischen Muttersprachlern der Anstalt (vgl. Tabelle 68: 405) – mit 50 bis 75 Prozent die Mehrheit der Schülerschaft aus Orten mit ,rein‘ tschechischsprachiger Bevölkerung. Auch nach Eingrenzung auf die deklarierten Deutschen, deren Tschechischkenntnisse mindestens das Niveau der tschechischen Muttersprachler erreichen, ist ab dem Schuljahr 1882/83 bis Anfang der 1890er Jahre ein Großteil der Jungen in den dominant tschechischen Landesteilen geboren. Danach ist der Kreis der potenziell bilingualen Sprecher auf Prag konzentriert, nur vereinzelt sind noch Schüler aus tschechisch- und gemischtsprachigen Orten zu finden. Am deutschen Neustädter Gymnasium (vgl. Tabelle 79: 422) stammt konstant die Mehrheit der in Tschechisch überdurchschnittlichen Erstklässler aus Prag, an zweiter Stelle folgen die Schüler aus ,rein‘ tschechischsprachigen und ab 1882/83 vermehrt auch aus gemischtsprachigen Gebieten. Zieht man das Religionsbekenntnis der Schüler in Betracht, so zeigt sich auf Basis der ersten Klassen der beiden Einrichtungen, dass die durch-

0% 8% 17% 7% 7% 17% 23% 16% 6% 0% 15% 0% 13%

Institutionelle und individuelle Voraussetzungen des Bilingualismus

419

/überdurchschnittlichen, deutsch deklarierten Tschechischschüler aus Prag zu etwa drei Viertel und jene aus tschechischsprachigen sowie die Minderheit aus gemischtsprachigen Gebieten fast ausschließlich mosaischen Bekenntnisses sind. Im Gegensatz hierzu sind die wenigen durch-/überdurchschnittlichen Schüler aus deutschsprachigen Gebieten überwiegend katholischer Religion. Umgekehrt, also ausgehend von allen deutschen Schülern der jeweiligen sprachlich differenzierten Gebiete, ist festzustellen, dass jüdische Deutsche aus gemischtsprachigen Orten am häufigsten – an der Altstädter Anstalt fast jeder zweite, an der Neustädter Einrichtung mindestens jeder Dritte – zum Kreis der potenziell bilingualen Sprecher zählen. Im Falle Prags schafft etwa jeder fünfte deutsch deklarierte Jude den Durchschnitt der tschechischen Muttersprachler und bei jenen aus tschechischsprachigen Gebieten jeder Vierte. Unter den Katholiken ist die Rate etwas geringer. Am deutschen Altstädter Gymnasium sticht etwa jeder siebte deutsche katholische Schüler unabhängig von der sprachlich-territorialen Herkunft durch potenzielle deutsch-tschechische Bilingualität hervor. Am Neustädter Gymnasium trifft dies in Prag zwar auf mindestens jeden fünften Schüler zu, allerdings liegt ihr Anteil in den tschechisch- und gemischtsprachigen Gebieten unter einem Zehntel. Was die qualitative Ausprägung der deutsch-tschechischen Zweisprachigkeit betrifft, so unterscheiden sich die einzelnen, sprachlich-territorial differenzierten Gruppen kaum. An der Altstädter Anstalt erzielen bis 1881/82 noch die Prager und insbesondere auch die Schüler aus ,rein‘ tschechischsprachigen Orten die relativ besten Leistungen in Tschechisch, in Deutsch liegt das Niveau generell zwischen gut und befriedigend. Zwar werden am Neustädter Gymnasium in dieser Periode in Tschechisch lediglich gute bis befriedigende Noten erzielt, jedoch ist die sprachlich-territoriale Herkunft dabei nicht von Bedeutung.712 Auch unter den deklarierten Deutschen, d.h. nach 1882/83 sind die Ergebnisse sehr ähnlich. Am Altstädter Gymnasium sind lediglich die Schüler aus ,rein‘ deutschsprachigen Gebieten zu erwähnen, die maximal gute Leistungen erbringen, während alle anderen oftmals auch mit sehr gut abschneiden. Anzeichen eines Einflusses der sprachlich-territorialen Herkunft auf die schulischen Ergebnisse in Deutsch sind gegebenenfalls bei den Jungen aus tschechischsprachigen Gebieten zu erkennen, sie erlangen oftmals nur eine befriedigende Note, von den Pragern und auch den Knaben aus gemischtsprachigen Gebieten dagegen wird meist ein gutes und zum Teil sogar sehr gutes Niveau erreicht. Allerdings wird diese Tendenz bereits wieder durch die Verhältnisse am Neustädter Gymnasium nivelliert, denn die ganz im allgemeinen Trend liegenden, meist guten Noten der Schüler aus ,rein‘ tschechischsprachigen Gebieten geben keinen Grund zu der Annahme, dass sich die sprachliche Verteilung im Geburtsort noch auf die Qualität der Leistungen der Gymnasiasten in den Sprachfächern auswirkt. Vielmehr schneiden die – überwie712

In Deutsch sind bei den durchschnittlich befriedigenden Leistungen höchstens die Schüler aus deutschsprachigen Gebieten hervorzuheben, die sowohl 1874/75 als auch 1879/80 gut abschneiden.

420

Institutionelle und individuelle Voraussetzungen des Bilingualismus

gend katholischen – Jungen aus ,rein‘ deutschsprachigen Orten an der Neustädter Anstalt am schlechtesten in ihrer Muttersprache ab. Die Analyse der ersten Klassen der beiden deutschen Gymnasien zeigt, dass im Mittelschulwesen der deutsch-tschechische Bilingualismus am ehesten von gebürtigen Pragern, Juden aus tschechisch- und gemischtsprachigen Gebieten sowie – bis zur Jahrhundertwende – von katholischen Schülern aus deutschsprachigen Landesteilen gepflegt wird. Das Sprachniveau ist weiterhin asymmetrisch deutsch-tschechisch, wobei die frühere sprachliche Umgebung sich nicht mehr auswirkt. In den sechsten Klassen ist die Zahl der überdurchschnittlichen, deutsch deklarierten Tschechischschüler auf Grund der geringen Klassenstärke sehr klein, dennoch sind Parallelen zur sprachlich-territorialen Verteilung der deklarierten Tschechen in den ersten Jahrgangsstufen zu erkennen (vgl. Tabelle 68: 405; Tabelle 69: 406). Denn bis zur Jahrhundertwende etwa stammt – v.a. am deutschen Altstädter Gymnasium – ein großer Teil der potenziell deutsch-tschechisch Bilingualen aus ,rein‘ tschechischsprachigen Orten. Allerdings sind diese, wie bereits in den ersten Klassen, fast ausschließlich mosaischer Religion. Unter den überdurchschnittlichen Pragern, der zweiten dominanten Kategorie, teilen sich die potenziell Bilingualen mit leichten Vorteilen für die Juden auf beide Konfessionen auf. Erwähnenswert sind ferner nur noch die einzelnen überdurchschnittlichen Schüler der ,rein‘ deutschsprachigen Gebiete, die auch in den sechsten Klassen fast ausschließlich katholisch sind.713 Das Notenniveau in Tschechisch ist – abgesehen von einzelnen Ausnahmen vor 1882/83 – einheitlich sehr gut bis gut. In Deutsch fällt lediglich die Gruppe der Schüler aus dominant tschechischsprachigen Gebieten am Neustädter Gymnasium auf, die überwiegend nur befriedigende Leistungen erzielt, während der Durchschnitt meist mit einer Zwei abschneidet. Insgesamt bleibt festzuhalten, dass deklarierte Deutsche aus ,rein‘ tschechischsprachigen Orten und vorrangig jüdischer Konfession relativ häufiger zum Kreis der potenziell deutsch-tschechisch Bilingualen zählen. Allerdings wird zu Beginn des 20. Jahrhunderts kaum mehr ein Schüler aus den tschechischen Landesteilen an das deutsche Gymnasium nach Prag geschickt. Die Schülerschaft gehört aber auch bereits der zweiten Migrantengeneration an, sodass Abkömmlinge der ursprünglich ländlichen Bevölkerung bereits in Prag geboren sind. Die Entwicklung in den sechsten Jahrgangsstufen zeigt ferner, dass die zwar sehr kleine Gruppe überdurchschnittlicher Schüler weiterhin einzelne katholische Mitglieder besitzt. Der potenzielle deutsch-tschechische Bilingualismus ist damit auch in der deutschen Prager Elite in der Domäne Schulwesen ein dominant, aber nicht ausschließlich jüdisches Phänomen. 713

Tendenziell handelt es sich hierbei um Mitglieder der Bildungseliten, denn die Hälfte etwa gehört den über Bildung soziale Mobilität erlangenden gesellschaftlichen Schichten (Bildungsbürgertum, neues Kleinbürgertum) an (vgl. ausführlich zur sozialen Herkunft der durch/überdurchschnittlichen Tschechischschüler Kapitel 5.4.2.4).

421

Institutionelle und individuelle Voraussetzungen des Bilingualismus

Tabelle 78: Deutsches Staatsgymnasium in der Altstadt – über-/durchschnittliche Tschechischschüler ausgewählter erster und sechster Klassen nach ihren Jahresdurchschnittsleistungen in Tschechisch und Deutsch und der sprachlich-territorialen Herkunft714 1. Klassen deutschsprachig Tsch. Dt.

gemischtsprachig n Tsch. Dt.

6. Klassen

tschechischsprachig

n Tsch. Dt.

deutschsprachig

Prag

n Tsch. Dt.

n Tsch. Dt.

gemischtsprachig n Tsch. Dt.

tschechischsprachig

n Tsch. Dt.

Prag

n Tsch. Dt.

n

2,5 4,0 2,0 1,0

1 2 1 1

2,5

4,0

1

2,0

3,0

1

2,0 2,0

2,0 1,0

1 1

2,2

2,0

3

1,0 1,0

2,3 2,5

2 2

alle nichtdeklarierten Tschechen - i. Vgl. zum Klassendurchschnitt überdurchschnittlich 1874/75 1877/78 1879/80 1881/82

2,7 2,0 3,3

3,5 1,5 2,5

3 1 2

2,3 2,0 3,5

2,5 2,5 3,0

2 1 1

2,4 2,2 2,4 1,6

2,8 10 2,5 2,4 6 1,8 2,9 7 2,8 2,5 6 1,8

2,9 2,7 3,2 2,3

4 3 3 2

3,5 2,5

4,0 3,0

2,3

3,5

2

3,0 1,5

4,0 2,0

1 1

1,0

2,5

2

1,0

2,0

1

1 1

2,5 2,8 1,0 1,0

alle deklarierten Deutschen i. Vgl. zum Durchschnitt der deklar. Tschechen durch/überd. 1882/83 1883/84 1884/85 1885/86 1886/87 1888/89 1891/92 1893/94 1896/97 1898/99 1900/01 1903/04 1906/07 1909/10

4,0 3,0 2,5

3,0 4,0 4,0

1 1 1

3,5

4,0

1

1,8 1,0 2,0

2,0 1,5 3,0

2 1 1

2,8 1,8 1,8

2,3 2,3 2,5

2 2 4

2,3 1,7 2,0

2,5 2,3 2,5

3 3 1

2,3

4,0

2

2,3 1,0 1,1

2,5 1,5 2,5

2 1 4

3,0 1,5 2,0 1,5 1,8 1,5 2,5 2,1 2,8

1,7 1,0 1,0

2,9 2,6 2,0 3,0 2,8 3,0 2,6 2,1 4,0

2,3 2,0 3,0

4 5 1 4 4 2 9 4 3

3 1 1

3,0 3,0 1,5 1,5 1,3 1,9 2,3 2,6 2,4 1,9 1,3 2,1 1,0 1,1

1,9 4,0 1,0 1,5 2,3 1,5 1,8 1,8 2,8 2,1 2,5 2,7 1,7 2,1

4 1 1 5 3 4 7 7 7 9 2 8 3 7

i. Vgl. zum Klassendurchschnitt überd.

1,8

2,0

2 2,5

2,0

1,0

2,0

1

1,7 2,5 2,5

3 2 2

2,0 1,0

1,7 2,0

6 2

1,0

1,0

1

1 2,0 2,0

1,0

2,5

2,0 2,0 1,8

2,0 2,0

1 1

1

Quelle: Vgl. AHMP: Deutsches Staatsgymnasium, Prag-Altstadt. Schulkataloge 1874-1910; eigene Berechnung.

714

In der Tabelle ist die Darstellung von insgesamt elf Schülern mit unbestimmter sprachlichterritorialer Herkunft vernachlässigt.

422

Institutionelle und individuelle Voraussetzungen des Bilingualismus

Tabelle 79: Deutsches Staatsgymnasium in der Neustadt – über-/durchschnittliche Tschechischschüler ausgewählter erster und sechster Klassen nach ihren Jahresdurchschnittsleistungen in Tschechisch und Deutsch und der sprachlich-territorialen Herkunft715 1. Klassen deutschsprachig Tsch. Dt.

gemischtsprachig n Tsch. Dt.

6. Klassen

tschechischsprachig

n Tsch. Dt.

deutschsprachig

Prag

n Tsch. Dt.

n Tsch. Dt.

gemischtsprachig n Tsch. Dt.

tschechischsprachig

n Tsch. Dt.

Prag

n Tsch. Dt.

n

2 1 2 3

alle nichtdeklarierten Tschechen - i. Vgl. zum Klassendurchschnitt überdurchschnittlich 1874/75 1877/78 1879/80 1881/82

2,6 2,4 3,0 2,5

2,2 2,9 2,0 3,0

6 5 1 1

3,0 2,2 2,8

4,0 1,5 3,3

2 3 2

2,6 2,6 2,6 2,3

2,6 8 2,7 3,3 15 2,5 3,8 10 2,7 3,3 4 2,1

3,1 3,0 3,0 2,3

18 3,0 24 2,5 28 1,0 16

3,0 3,0 1,5

1 1 1

2,0 2,0 1,0

3,5 4,0 3,5

2 1 1

2,0 1,0 1,3 1,7

2,3 3,0 2,0 3,3

3,0

3,5

1

1,3 2,0

2,3 3,5

2 2

2,0 1,5 1,5

3,0 3,7 2,3

1 3 2

alle deklarierten Deutschen i. Vgl. zum Durchschnitt der deklar. Tschechen durch/überd. 1882/83 1883/84 1884/85 1885/86 1888/89 1891/92 1893/94 1896/97 1898/99 1900/01 1903/04 1906/07 1909/10

2,0 1,8 1,3

3,0 2,0 2,7

2 2 3

1,7 2,3

3,5 3,0

3 2

1,8 2,0 1,8 2,5 1,8

2,3 1,5

1,0

2,3 3,0 2,2 2,2 3,4

2,0

2 2 5 3 4

2,0 1,5 1,7 2,5 2,0 1,0

1,0 1,3 1,6 2,3 3,2 2,0

1 3 8 3 3 1

2

2,0

3,2

3

4 2

1,0 1,0 1,0

2,5 1,8 3,0

1 2 2

1 1,1 1,0

2,5 1,0

i. Vgl. zum Klassendurchschnitt überd.

1,6 2,0 1,7 2,2 2,7 1,9 1,6

2,7 9 3,0 3 1,9 6 1,5 2,5 18 2,2 18 2,0 7 1,3 1,5 7

2,2 1,0 1,3 1,0 1,0

2,6 1,5 1,0 1,8 2,0

5 1 2 3 4

2,0

2,0 2,0

1

2,0

3

2,5

1

2,5

1

2,0 2,0

1,0 4,0

1 1

2,0 2,0

2,0 3,0

1 1

2,0 1,4

3,0 3,3

2 4

2,5 2,0 1,5 2,0 1,5

3,5 3,0 2,8 3,0 2,5

3 2 2 1 1

2,0 1,9 2,0

2,8 2,3 1,5

3 7 1

1,0

3,5

1

2,0

2,0

1

1,0

2,0

1

Quelle: Vgl. AHMP: Deutsches Staatsgymnasium, Prag-Neustadt (Graben). Schulkataloge 1875-1910; eigene Berechnung.

5.4.2.4

Soziale Herkunft

Die soziale Struktur der Gruppe potenziell bilingualer Sprecher differiert an den beiden Prager Gymnasien mit deutscher Unterrichtssprache Ende des 19. Jahrhunderts leicht. Grundsätzlich belegt am deutschen Altstädter Gymnasium (vgl. Tabelle 80: 426) in den ersten Klassen bis zum Schuljahr 1881/82 zum Teil deutlich weniger als die Hälfte der Schüler der einzelnen gesellschaftlichen Schichten das Wahlfach Tschechisch. Am höchsten ist die Beteiligungsrate im Kleinbürgertum – insbesondere im neuen Mittelstand entscheiden sich meist mehr als 50 Prozent der Schüler für den Unterricht in der zweiten Landessprache. Schüler aus dem Besitzbürgertum und der Unterschicht, den beiden am schwächsten vertretenen gesellschaftlichen Klassen (vgl. Tabelle 28: 318), dagegen wählen am relativ seltensten Tschechisch. Diese Tendenzen setzten sich unter den deklarierten Deutschen bis 1893/94 weitgehend fort. Danach lernen fast alle, unabhängig von der sozialen Schicht, Tschechisch. Dennoch zeigen sich Unterschiede hinsichtlich des Erfolges im Wahlfach. Weniger als ein Zehntel aller Jungen aus dem Besitzbürgertum zählt 715

In der Tabelle ist die Darstellung von insgesamt 26 Schülern mit unbestimmter sprachlichterritorialer Herkunft vernachlässigt.

Institutionelle und individuelle Voraussetzungen des Bilingualismus

423

zur Gruppe potenziell bilingualer Sprecher und einzelne Kinder aus der Unterschicht schaffen den Sprung erst ab Mitte der 1890er Jahre716. Gleichfalls relativ geringer ist der Anteil der Schüler aus dem Bildungsbürgertum, insgesamt schneidet weniger als ein Fünftel seiner Mitglieder in der zweiten Landesssprache mindestens so gut ab wie die deklarierten Tschechen der jeweiligen Klasse, ab 1903/04 schafft keiner mehr dieses Niveau. Die Mehrheit der potenziell deutschtschechisch bilingualen Schüler stammt aus der Mittelschicht. Mitte der 1890er Jahre ist hier ein Einschnitt zu erkennen. Denn während sich bis zum Schuljahr 1893/94 nur etwa knapp ein Fünftel der Jungen aus dem traditionellen Kleinbürgertum und gut ein Fünftel der Jungen aus der neuen Mittelschicht durch über/durchschnittliche Tschechischkenntnisse auszeichnet, trifft dies in den folgenden Schuljahren meist auf etwa die Hälfte der Schüler zu. Am deutschen Neustädter Gymnasium (vgl. Tabelle 81: 427) ist das Interesse am Wahlfachunterricht in Tschechisch generell größer. Die Beteiligungsrate liegt hier bis 1881/82 bei mindestens 50 Prozent. Anders als an der Altstädter Anstalt belegen beispielsweise alle Kinder aus der Unterschicht Tschechisch.717 Mit einzelnen Ausnahmen im Besitzbürgertum718 und nach der Jahrhundertwende zum Teil im Bildungsbürgertum herrscht jedoch in den verschiedenen gesellschaftlichen Klassen dauerhaft eine rege Nachfrage nach dem Unterricht in der zweiten Landessprache, gerade auch in der zahlenmäßig stärker vertretenen Mittelschicht besuchen durchschnittlich mehr als zwei Drittel das Wahlfach Tschechisch. In Bezug auf die Qualifikation für die Gruppe potenzieller deutsch-tschechisch bilingualer Sprecher bilden zwar auch die Schüler aus dem Besitzbürgertum, insbesondere ab 1893/94, das Schlusslicht, während Gymnasialschüler aus dem Bildungsbürgertum – mit Ausnahme der Schuljahre von 1896/97 bis 1903/04 – relativ häufiger auch als die Angehörigen des Kleinbürgertums das Tschechischniveau der Muttersprachler erreichen. Auffällige Unterschiede der sozialen Struktur der potenziell bilingualen Gruppe im Vergleich zur allgemeinen gesellschaftlichen Zusammensetzung der deutsch deklarierten Erstklässler sind jedoch nicht festzustellen. Demnach wird am deutschen Neustädter Gymnasium nicht nur der Wahlfachunterricht von den Schülern der einzelnen sozialen Schichten kaum unterschiedlich stark nachgefragt, sondern tritt auch potenzielle Bilingualität relativ gleichmäßig mit geringen Vorteilen für die bildungsbürgerliche Klasse und die Unterschicht auf. Ähnliches gilt für das Notenniveau in Tschechisch, das zwischen den einzelnen gesellschaftlichen Kategorien kaum differiert und in den 1880er und 1890er 716 717

718

Ausnahme bildet das Schuljahr 1886/87 als der Schüler Rudolf Karb, Sohn eines Amtsdieners, mit 1.0 in Tschechisch das Niveau der tschechischen Muttersprachler erreicht. Dass es sich hierbei nicht vorrangig um nicht identifizierte tschechische Muttersprachler der Unterschicht handelt zeigt die anhaltende Bereitschaft der ab 1882/83 deklarierten Deutschen der Unterschicht, sich das Tschechische anzueignen bzw. zu vertiefen. In den Schuljahren 1882/83, 1893/94, 1896/97 und 1903/04 belegt von den Angehörigen des Besitzbürgertums Keiner bzw. maximal jeder Dritte das Wahlfach Tschechisch.

424

Institutionelle und individuelle Voraussetzungen des Bilingualismus

Jahren meist gut, zu Beginn des 20. Jahrhunderts überwiegend sehr gut ausfällt. In Deutsch stechen lediglich die mehrheitlich nur befriedigenden bis ausreichenden Leistungen der Unterschicht heraus, die von 1885/86 bis 1893/94 am Neustädter Gymnasium auch für die Schüler aus dem neuen Kleinbürgertum kennzeichnend sind. In den übrigen sozialen Klassen trifft dies zwar auch auf einzelne Schuljahre zu, meist erzielen die durch-/überdurchschnittlichen Tschechischschüler jedoch gute bis sehr gute Noten. Am Neustädter Gymnasium überzeugen insbesondere Mitte der 1880er Jahre die Knaben aus dem Besitzbürgertum und ab 1900/01 aus dem traditionellen Kleinbürgertum mit sehr guten Leistungen in Deutsch. Unter Berücksichtigung des Religionsbekenntnisses zeigt sich, dass rund ein Viertel der jüdischen Schüler aus dem traditionellen Kleinbürgertum zu den potenziell deutsch-tschechisch bilingualen Sprechern zählt. Ihre Väter sind hauptsächlich Kauf- und Handelsmänner, nur jeder Fünfte ist entweder Handwerker oder in der Landwirtschaft tätig. In der zahlenmäßig bedeutend kleineren719 katholischen Gruppe dieser Schicht ist die Qualifikationsrate etwas geringer. Anders als bisher stammt der Großteil der durch-/überdurchschnittlichen Schüler jedoch auch aus der Handels- und Kaufmannsriege, wobei Jungen aus Handwerkerfamilien und landwirtschaftlichen Betrieben nur unwesentlich seltener ein Gymnasium besuchen. In der neuen Mittelschicht ist ebenfalls unter den Juden die Rate der durch-/überdurchschnittlichen Tschechischschüler höher, dies sind v.a. Lehrerkinder und – wie auch bei den Katholiken – Söhne niederer Regierungsbeamter. In Bezug auf die Oberschicht differiert die Situation an den beiden deutschen Gymnasien. Während an der Altstädter Anstalt kein einziger der katholischen Schüler aus dem Besitzbürgertum zum potenziell bilingualen Sprecherkreis zählt, gelingt dies am Neustädter Gymnasium wenigstens jedem Sechsten.720 Ein zweiter Unterschied betrifft die Situation im Bildungsbürgertum: Am Altstädter Gymnasium erreicht kaum ein jüdischer Schüler das Tschechischniveau der Muttersprachler, an der Neustädter Einrichtung aber – wie generell in den Reihen der Angehörigen des katholischen Bildungsbürgertums – mindestens jeder Fünfte. In der Unterschicht stechen an der Altstädter Institution besonders jüdische, an der Neustädter Anstalt besonders katholische Schüler dank ihrer durch-/überdurchschnittlichen Tschechischkenntnisse hervor. Festzuhalten bleibt, dass der potenzielle deutsch-tschechische wie schon der tschechisch-deutsche Bilingualismus im Besitzbürgertum am geringsten verbreitet ist und im 20. Jahrhundert kaum mehr in Erscheinung tritt. Am ehesten wird er noch von Zöglingen jüdischer Grund- und Fabrikbesitzer und privater Bürger, hier aber auf einem sehr guten Niveau, gepflegt. In der bildungsbürgerlichen Oberschicht dagegen ist potenzielle deutsch-tschechische Zweisprachigkeit wesentlich 719 720

An beiden deutschen Gymnasium ist nur knapp ein Fünftel der Jungen aus dem traditionellen Kleinbürgertum katholischer Religion. Von den jüdischen Schülern aus dem Besitzbürgertum erlangt an beiden Gymnasien ebenfalls nur knapp ein Fünftel durch-/überdurchschnittliche Tschechischkenntnisse.

Institutionelle und individuelle Voraussetzungen des Bilingualismus

425

auch katholisch geprägt und tritt zumindest vereinzelt während des gesamten Beobachtungszeitraumes auf.721 Die Mehrheit der potenziell bilingualen Sprecher gehört jedoch dem Kleinbürgertum, insbesondere der alten Mittelschicht an und ist jüdischer Konfession. Kauf- und Handelsmänner, unabhängig von der Konfession, repräsentieren die Berufsgruppe mit den größten Ambitionen auf Bilingualität. Zweifellos dürfte hier der natürliche Geschäftssinn als ausschlaggebendes Moment für ,kundenfreundliche Zweisprachigkeit‘ stehen. Unter diesem praktischen Gesichtspunkt ist auch die in der Unterschicht bei Schülern von jüdischen Handlungsreisenden relativ häufiger auftretende potenzielle Bilingualität zu sehen. Dagegen bleibt ein offensichtlicher Effekt auf die von den Badenischen Sprachenverordnungen direkt betroffene Berufsgruppe der niederen Regierungsbeamten in der neuen Mittelschicht aus. Obgleich der Großteil der Eltern der katholischen Schüler dieser Gesellschaftsklasse im Staatsdienst tätig ist – jüdischen Bekenntnisses sind sie v.a. auch im Erziehungswesen und dem Bankenwesen aktiv –, zeichnet sich weniger als ein Sechstel der Kinder durch potenzielle Bilingualität aus. In den sechsten Klassen kristallisiert sich eine Kerngruppe potenzieller deutsch-tschechisch Bilingualer heraus, die im Wesentlichen die soziale Struktur in dieser Jahrgangsstufe widerspiegelt. Am deutschen Altstädter Gymnasium heißt dies, dass sie sich durchschnittlich zur Hälfte aus Schülern des traditionellen und eindeutig jüdisch dominierten Kleinbürgertums und zu etwa einem Fünftel aus Angehörigen des konfessionell paritätischen, neuen Kleinbürgertums zusammensetzt. Zwar erscheint die Präsenz der Oberschicht, insbesondere der Jungen aus dem Besitzbürgertum im Kreis der potenziell Zweisprachigen sehr dürftig und das Übergewicht der katholischen Schüler in der bildungsbürgerlichen Schicht an dem doch ,jüdischen‘ Gymnasium erstaunlich, doch unter Berücksichtigung der geringen Klassenstärke in der Oberstufe entspricht dies durchaus – auch unter konfessionellem Gesichtspunkt – der allgemeinen, gesellschaftlich-religiösen Aufteilung der Sechstklässler. Folgerichtig ist am deutschen Neustädter Gymnasium, dessen Schüler zu zwei Fünftel der – im Übrigen mehrheitlich katholischen – Oberschicht angehören, das Besitz- und Bildungsbürgertum auch in der potenziell bilingualen Gruppe stärker vertreten. Gleiches gilt für das Kleinbürgertum, allerdings sind hier die potenziell Bilingualen der alten Mittelschicht ausschließlich jüdischer und jene der neuen Mittelschicht vorwiegend katholischer Konfession. Der Anteil der Unterschicht liegt generell und auch bei den durch-/überdurchschnittlichen Tschechischschülern unter zehn Prozent. Aus diachroner Perspektive lässt sich feststellen, dass die Gruppe über den gesamten Betrachtungszeitraum hinweg aus einzelnen Schülern der verschiedenen sozialen Schichten besteht und nur aus dem neuen Kleinbürgertum sich ab der Jahrhundertwende niemand mehr qualifiziert. Letztendlich bedeutet dies, dass nicht nur bei der Entscheidung für das Wahlfach 721

Die deutschsprachige Oberschicht in Prag ist nach Iggers Ende des 19. Jahrhunderts zu etwa der Hälfte jüdischen Glaubens (vgl. Iggers 1986: 21).

426

Institutionelle und individuelle Voraussetzungen des Bilingualismus

Tschechisch, sondern auch hinsichtlich der potenziellen deutsch-tschechischen Bilingualität die soziale Klasse keine Rolle spielt. Allerdings ist nicht zu vergessen, dass infolge der für Gymnasien festgelegten Aufnahmebedingungen und auch der notwendigen finanziellen Voraussetzungen die Gymnasiasten bereits eine selektierte Schülerschaft mit verzerrtem sozialem Muster darstellen. Innerhalb dieser Elite ist das Streben nach deutsch-tschechischer Zweisprachigkeit jedoch unabhängig von der gesellschaftlichen Schicht ,gleich üblich‘. Tabelle 80: Deutsches Staatsgymnasium in der Altstadt – über-/durchschnittliche Tschechischschüler ausgewählter erster und sechster Klassen nach ihren Jahresdurchschnittsleistungen in Tschechisch und Deutsch und der sozialen Herkunft722 1. Klassen Besitzbürgertum Tsch. Dt.

Bildungsbürgertum

trad. Kleinbürgertum

n Tsch. Dt. n Tsch. Dt.

6. Klassen neues Kleinbürgertum

n Tsch. Dt.

Unterschicht

Besitzbürgertum

Bildungsbürgertum

n Tsch. Dt. n Tsch. Dt. n Tsch. Dt.

trad. Kleinbürgertum

n Tsch. Dt.

neues Kleinbürgertum

n Tsch. Dt.

Unterschicht

n Tsch. Dt. n

alle nichtdeklarierten Tschechen - i. Vgl. zum Klassendurchschnitt überdurchschnittlich 1874/75

2,7

2,5

3

2,5 1,0

3,0 1

2,3

2,5

9

1,0

1,0

1

3,5

4,0 1

2,8

4,0

2

1,5

2,0

1

2,0

4,0

1

3,3

2,5 2

2,7

2,6

7

2,8

3,0

3

1,0

2,0 1

2,5

3,0

1

2,5

3,0

1

2,0

3,5 1

2,0

2,5

1

2,0

2,8

2

1,3

2,3

4

1,0

1,0

1

1877/78 1879/80 1881/82

2,5 3

2,6

2,9 10

2,3

3,3

3

2,3

3,3

2

2,8

3,5

2

alle deklarierten Deutschen i. Vgl. zum Durchschnitt der deklar. Tschechen durch-/überd. 1882/83

3,4

2,4 4

2,8

2,5

3

2,8

3,0

2

1883/84

3,0

4,0 1

1,6

2,8

4

2,0

3,0

2

1884/85

1,3

1,0 2

2,0

2,0

1

1,6

2,3 10

1885/86 1886/87

2,0

2,3

2

1888/89

2,0

1,0 1

3,0

2,2 3

1898/99

1,5

1,0 2

1900/01

1,5

2,5 1

1891/92 1893/94

1,0

2,0

1

1896/97

2,0

2,3

i. Vgl. zum Klassendurchschnitt überd. 2,0

1,0 1

2

1,3

3,3

3

1,5

1,8

2

1,6

2,5

4

2,0

1,0

1

2,5

2,3 12

2,7

2,2

3

2,3

2,1 12

2,0

2,0

2

2,2

3,0

9

2,3

2,5

4

2,3

3,0 2

1,9

2,0

8

2,2

3,0

3

2,0

4,0 1

1,0

2,5

1

1903/04

2,0

2,8

8

1,9

2,4

5

1906/07

1,0

1,6

4

1,0

2,0

1

1909/10

1,1

2,3

8

1,3

2,3

2

1,0

1,5 1

2,0 1,0

2,0

3,2 3

1,0

2,0 1

1,0

3,0

2,0

2,0

1,8

2,3

2 3

1,8

2,8

3 2,0

2,0

1

1,8

2,0

3

2,2

1,3

3

1,0

2,0

1

2,0

2,0

1

2,0

1,0

1

2,2

2,0

3

2,0

1,0

3,0 1

1,0

3,0

1

1,0

2,0 1

1

2,0 1 2,0

1,0

1

2,0

2,0

1

2,0

2,0

1

1,0 1

1,0

1,5

1

1,0

2,0

1

Quelle: Vgl. AHMP: Deutsches Staatsgymnasium, Prag-Altstadt. Schulkataloge 1874-1910; eigene Berechnung.

722

Insgesamt konnte die gesellschaftliche Schichtzugehörigkeit von neun Schülern nicht bestimmt werden, ihre Darstellung ist in der Tabelle vernachlässigt.

2,0 1

427

Institutionelle und individuelle Voraussetzungen des Bilingualismus

Tabelle 81: Deutsches Staatsgymnasium in der Neustadt – über-/durchschnittliche Tschechischschüler ausgewählter erster und sechster Klassen nach ihren Jahresdurchschnittsleistungen in Tschechisch und Deutsch und der sozialen Herkunft723 1. Klassen Besitzbürgertum Tsch. Dt.

Bildungsbürgertum

trad. Kleinbürgertum

n Tsch. Dt. n Tsch. Dt.

6. Klassen neues Kleinbürgertum

n Tsch. Dt.

Unterschicht

Besitzbürgertum

Bildungsbürgertum

n Tsch. Dt. n Tsch. Dt. n Tsch. Dt.

trad. Kleinbürgertum

n Tsch. Dt.

neues Kleinbürgertum

n Tsch. Dt.

Unterschicht

n Tsch. Dt. n

alle nichtdeklarierten Tschechen - i. Vgl. zum Klassendurchschnitt überdurchschnittlich 1875/76

2,7

3,3

5

2,8

2,9 8

2,7

2,8 11

2,6

2,8

1877/78

3,0

2,5

1

2,7

3,2 9

2,5

2,9 24

2,3

3,4 15

1879/80

2,7

2,8

5

2,8

3,8 5

2,5

2,9 16

2,8

3,3 14

1881/82

2,5

2,5

1

2,3

2,7 3

2,0

2,4 14

1,8

3,2

9

2,5

4,0 2

3,0

4,5 1

3

1,0

2,0

1

3,0

2,9

4

1,5

2,5

2

2,3

3,5

2

1,0

3,0

1

1,5

2,5

2

1,0

1,3

2

1,0

3,0

2

2,0

4,0

1

1,7

3,3

3

2,0

3,0

1

alle deklarierten Deutschen i. Vgl. zum Durchschnitt der deklar. Tschechen durch-/überd. 1882/83

2,0

4,0

1

1,5

2,5 2

1,3

2,1

4

2,0

3,5

2

1883/84

2,0

3,0

1

2,0

3,0 1

1,9

2,6

4

2,0

1,5

2

1884/85

1,8

1,5

2

1,7

2,2 3

1,6

2,0

7

1885/86

2,1

1,3

4

1,3

1,7 7

2,0

2,4 21

2,5

1888/89

3,0

2,5

2

2,4

1,9 6

2,6

2,1 12

1891/92

1,0

1,5

1

2,0

3,0 4

1,9

2,5

8

1,3

1,3 4

1,7

1,8

6

2,5

3,0 1

2,0

2,7

5

1,0

1,5

1

1893/94

3,5

3

2,8

3,0

4

1,5

3,0

2

2,5

4,0

1

2,0

2,5

1

i. Vgl. zum Klassendurchschnitt überd.

2,0

3,0 1

2,0

2,8 3

2,0

3,0

1

2,0

2,0 1

1,8

3,0 3

1,5

3,5

1

1,3

3,3

5

2,5

3,0 1

1,0

2,0

1

2,0

2,5

1

2,8

3,8

2

2,0

1,7

3,2 3

1,5

2,0

2

1,7

2,3

3

2,0

3,0

3

2,0

1,0

2

1,8

2,5

5

1,7

2,7

3

2,0

1,5

1

2,0

3,0

1

2,0

4,0

1

1,5

2,5

1

2,0

3,0 1

3,0

2,5

2,0

2

1900/01 1903/04 1906/07 1909/10

1,3 1,5

3,0

1

1,4

2,0

3,5 1

4

1,0

1,7 3

1,0

2,5

1

1,0

2,0

3

1,0

2,5 1

1,0

4,0 2

1,0

1,0

3

1,0

1,5

2

1,0

2,0 1

2,0

2,0 1

2,0

3,0 1

2,0

2,5

1

1,0

2,0

1

1,5

2,8

2

1,0

2,0

1

Quelle: Vgl. AHMP: Deutsches Staatsgymnasium, Prag-Neustadt (Graben). Schulkataloge 1875-1910; eigene Berechnung.

5.4.3

Zusammenfassung

Der Prozess der sich wandelnden böhmischen Zweisprachigkeit in den letzten Dezennien der österreichischen Monarchie kommt in der Domäne Schulwesen ebenfalls im ,Sprachverhalten‘ der gymnasialen Elite zum Ausdruck. Auf Basis der Analyse erster wie sechster Klassen des deutschen Altstädter Gymnasiums, des deutschen Neustädter Gymnasiums sowie des tschechischen akademischen Gymnasium konnte ein quantitativer Rückgang der Verbreitung sowohl tschechischdeutscher als auch potenzieller deutsch-tschechischer Bilingualität festgestellt werden. Begleitet wird diese Entwicklung durch einen Wandel des sozioökonomischen Profils der – sowohl tschechisch-deutsch als auch der potenziell deutschtschechisch – bilingualen Sprecher an den Gymnasien. Tschechisch-deutsch bilinguale Schüler sind bis Anfang der 1890er Jahre katholischer oder jüdischer Konfession und auch in allen sozialen Gesellschaftsschichten zu finden. Dies ändert sich im letzten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts. Am deutschen Altstädter wie am deutschen Neustädter Gymnasium sind tschechische Muttersprachler fast ausschließlich auf die jüdische Gemeinschaft und hier insbesondere das alte Kleinbürgertum bzw. die Handels- und Kaufmannsschicht konzentriert. Infolge der besseren Deutschkenntnisse der Schüler mosaischen 723

3,0 1

1,0

2,0 1

1

1896/97 1898/99

1,0

Insgesamt konnte die gesellschaftliche Schichtzugehörigkeit von zwölf Schülern nicht bestimmt werden, ihre Darstellung ist in der Tabelle vernachlässigt.

428

Institutionelle und individuelle Voraussetzungen des Bilingualismus

Glaubens geht mit der geringeren Verbreitung des individuellen tschechischdeutschen Bilingualismus eine qualitative Steigerung einher. Von tschechischkatholischer Seite wird bis zur Diskussion um die Badenischen Sprachenverordnungen eine deutsche Gymnasialausbildung wenn, dann v.a. noch im Bildungsbürgertum und der neuen Mittelschicht nachgefragt. Generell stammen die Vertreter tschechisch-deutscher Bilingualität hauptsächlich aus Prag und insbesondere aus tschechischsprachigen Orten, plakativ ausgedrückt heißt dies, dass die besten Schüler aus der tschechischen Provinz in die Landeshauptstadt geschickt werden, um über die deutsche Mittelschulbildung das Tor zum sozialen Aufstieg zu öffnen. Dass das Monopol des Deutschen in der Funktion als ,gate-keeper‘ im Zuge des fortschreitenden, tschechischen Nationsbildungsprozesses wackelt, demonstriert das schwindende Interesse am Besuch deutscher Gymnasien zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Dieses Fehlen ,echter‘ – katholischer – Tschechen an den Einrichtungen mit deutscher Unterrichtssprache in Prag zeigt zudem, dass das tschechische mittlere Bildungswesen in den 1890er Jahren den neuen Anforderungen, die der von der Industrialisierung angestoßene gesellschaftliche Wandel und der tschechische Nationsbildungsprozess an das Bildungswesen stellen, immer erfolgreicher nachkommt: Schule sollte als „Mechanismus der Weitergabe der nationalen Kultur“ und damit auch „des nationalen Selbstbewußtseins“ dienen sowie als „Mechanismus der Reproduktion der nationalen Intelligenz, jener selbständigen sozialen Schicht, die den gesamten Bereich der geistigen Produktion und Weitergabe der Kultur betreut“ (Kuz’min 1987: 115-116). Gerade im Zusammenhang mit der letzten Aufgabe spielt neben der Hochschule die allgemeinbildende Mittelschule eine wichtige Rolle. Mit dem Ausbau des tschechischen Mittelschulwesens und der wachsenden Präferenz tschechischer Ausbildungseinrichtungen724 in allen Schichten der tschechischen Gesellschaft wird diese Mission weitgehend erfüllt (vgl. auch Cohen 1988: 39). So entscheidet sich auch die tschechischsprachige Elite – und dabei ist ,national‘ motiviertes Verhalten nicht auszuschließen – nun für den tschechischen Bildungsweg. In the case of Czech students during the late nineteenth century, one can say that most of those who opted for Czech-language secondary and higher education rather than German-language institutions brought with them to the Czech schools commitments to a Czech identity and aspirations to join the ranks of educated Czechs already formed in their families and immediate communities (Cohen 1996a: 245).

Die soziale Struktur am tschechischen akademischen Gymnasium deutet an, dass eine höhere gesellschaftliche Stellung der Eltern die Aufnahme ans Gymnasium erleichtert. Ansätze tschechisch-deutscher Bilingualität bestehen auch an der An724

Diese Entwicklung zur Wahl von Ausbildungsinstitutionen mit tschechischer Lehrsprache zeichnet sich in der tschechischen Gesellschaft auch in Bezug auf die Hochschulen ab, allerdings präferiert auch hier – wie im Mittelschulwesen – weiterhin eine kleine tschechische Minderheit die deutsche Unterrichtssprache (vgl. Cohen 1988: 37).

Institutionelle und individuelle Voraussetzungen des Bilingualismus

429

stalt mit tschechischer Unterrichtssprache, und zwar bei der Minderheit jüdischer Gymnasiasten und einem Kern katholischer Vorzugsschüler. Im Notenspiegel und auch dem potenziellen Anteil tschechisch-deutsch bilingualer Sprecher differieren die Mitglieder der einzelnen sozialen Klassen am tschechischen Gymnasium kaum mehr. Der Kreis potenziell deutsch-tschechisch bilingualer Schüler ist am Gymnasium im Vergleich zur Volksschule schon dadurch eingeschränkt, dass das Wahlfach zweite Landessprache jeweils nur von einem Teil der Klasse belegt wird und v.a. in der sechsten Jahrgangsstufe die Tschechischlerner deutlich in der Minderheit sind. Am deutschen Altstädter Gymnasium ist in Zeiten der Diskussion um die Badenischen Sprachenverordnungen ein deutlich gesteigertes Interesse am Wahlfachunterricht in Tschechisch zu vermerken. Potenzielle deutschtschechische Bilingualität ist an den beiden Einrichtungen mit deutscher Unterrichtssprache zunehmend nur unter Juden verbreitet, allerdings hängt dies mit der wachsenden Mehrheit jüdischer Schüler an beiden Einrichtungen zusammen, denn relativ gesehen qualifizieren sich ebenso viele Katholiken mit ausgezeichneten Tschechischnoten. Bis zur Jahrhundertwende stammt auch ein Großteil der potenziell deutsch-tschechisch bilingualen Gymnasiasten – vorwiegend jüdischer Konfession – aus ,rein‘ tschechischsprachigen Landesteilen. Nach 1900 geht u.a. mit dem Ausbau des böhmischen Mittelschulnetzes (vgl. Burger 1995: 250, 256) die Zahl der aus der tschechischsprachigen Provinz stammenden Gymnasiasten zurück. Potenzielle Bilingualität ist vorwiegend nur noch einzelnen gebürtigen Pragern und zum Teil Schülern mosaischen Bekenntnisses aus gemischtsprachigen Gebieten eigen. Gesellschaftlich stammen die meisten Repräsentanten potenzieller deutsch-tschechischer Zweisprachigkeit aus dem Kleinbürgertum, wobei in Familien von Handels- und Kaufmännern besonders Wert auf Tschechischkenntnisse gelegt wird. Relativ gesehen, so hat auch die Analyse der sechsten Gymnasialklassen gezeigt, lässt sich jedoch kein entscheidender Unterschied zwischen der Verbreitung potenzieller Bilingualität in den einzelnen sozialen Schichten feststellen. Lediglich – und dies erstaunt besonders – im neuen Kleinbürgertum, der über Bildung aufstrebenden sozialen Klasse, zeichnet sich nach der Jahrhundertwende an beiden Anstalten kein Gymnasiast mehr durch überdurchschnittliche Tschechischkenntnisse aus. Der Staatsdienst hat in der deutschen Mittelschicht stark an Attraktivität eingebüßt, wer es sich leisten kann, lässt seine Söhne studieren, während tschechische Maturanten häufig unmittelbar nach Abschluss des Gymnasiums die Beamtenlaufbahn einschlagen (vgl. Megner 1986: 268, 321-323). Zum einen wird zwar gegen den Eintritt ,deutscher Akademiker‘ in den öffentlichen Dienst in Böhmen von deutschnationaler Seite polemisiert (vgl. ebd.: 268), zum anderen gibt es zu Beginn des 20. Jahrhunderts auf deutscher Seite aber auch Befürchtungen um den Schwund deutscher Präsenz im Staatsdienst, sodass Forderungen laut werden, den Tschechischunterricht an Gymnasien mit deutscher Unterrichtssprache zu fördern und so zweisprachige Beamte deutscher Nationalität

430

Institutionelle und individuelle Voraussetzungen des Bilingualismus

auszubilden (vgl. Burger 1995: 225-227). Faktisch befindet sich der ,deutsche Beamte‘ in Böhmen im Rückzug, nicht zuletzt unterstützt durch das konstante Drängen tschechischnationaler Politiker, Beamtenposten mit ,eigenen Leuten‘ zu besetzen (vgl. Megner 1986: 250, 267-268). Ohne Zweifel bleibt die Beamtenkarriere erstrebenswert, dennoch hat sie gesellschaftlich seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts v.a. für das deutsche Kleinbürgertum bedeutend an Ansehen verloren, ihr ,Monopolcharakter‘ als zivile Chance sozialen Aufstieg hat sich im Zuge der Industrialisierung aufgelöst (vgl. ebd.: 262). Die Verbreitung des Phänomens individueller, deutsch-tschechischer Zweisprachigkeit ist auch in der – deutschen wie tschechischen – Elite im Rückschritt begriffen und tritt zu Beginn des 20. Jahrhunderts nur noch sehr selten auf, vorwiegend, aber nicht exklusiv in der jüdischen Gemeinschaft. Inwieweit Franz Kafka diesem konzentrierten Kreis potenziell bilingualer Sprecher zuzuordnen ist, gilt es im folgenden Kapitel darzustellen.

6

Franz Kafkas Bilingualismus im Kontext

6.1

An der Volksschule

Franz Kafka besucht in den Schuljahren 1889/90 bis 1892/93 die ersten vier Klassen der deutschen Altstädter Volks- und Bürgerschule für Jungen in der Fleischmarktgasse in Prag. Auf Basis der Angaben im Statistischen Handbuch von Prag wurde bereits festgestellt, dass ab dem Schuljahr 1886/87, als die Angabe zum Religionsbekenntnis der Volksschüler zum ersten Mal publiziert wird, die absolute Mehrheit der Knaben an der Altstädter Anstalt mosaischen Glaubensbekenntnisses ist und ihr Anteil gegen Ende des Jahrhunderts beständig steigt (1899/1900: 69 %) (vgl. Abbildung 6: 225). Betrachtet man nun auf Grundlage der Schulkataloge nur die Schulanfänger725 und kombiniert zudem Muttersprache und Religionsbekenntnis miteinander, so zeigt sich, dass bereits ab 1883 deutlich mehr als die Hälfte der neueingeschulten Jungen jüdisch (ca. 65 %) ist und davon kontinuierlich etwa 90 Prozent726 Deutsch als Muttersprache angeben.727 In Kafkas Einschulungsjahrgang 1889/90 ist deren Anteil unter den Erstklässlern mit 67 Prozent – v.a. gegenüber 1886/87 und 1887/88 (knapp 50 %) 725

726

727

Ab dem Schuljahr 1884/85, als die Muttersprache in den Schulkatalogen dokumentiert wird, werden jeweils die Schüler der ersten Jahrgangsstufe herangezogen. Für die Periode von 1877 bis 1883 wurden auf Grundlage der Schulkataloge von 1884/85, 1885/86 und 1886/87 die Zusammensetzung der jeweiligen ersten Klassen mit Hilfe der Schüler von zwei höheren Jahrgangsstufen rekonstruiert (vgl. hierzu Nekula 2003: 128 Anm. 8). Allerdings ist hierbei anzumerken und zu bedenken, dass die ab 1884/85 dokumentierten Angaben deutliche Unterschiede in der sprachlichen und konfessionellen Zusammensetzung zwischen Volksschule und Bürgerschule belegen. Demnach liegt beispielsweise der Anteil der Juden insbesondere in der Unterstufe (1. und 2. Klassen) bei mindestens 60 Prozent, an der Bürgerschule – mit Ausnahme der 2. Bürgerschulklasse 1897/98 – immer unter 60 Prozent. Abgesehen von Ende der 1880er Jahre ist in der Unterstufe auch der Anteil der deutschen Muttersprachler (zwischen 75 und 90 %) bis Mitte der 1890er Jahre beständig höher als in der Bürgerschule (meist zwischen 55 und 75 %). Um diese Differenzen etwas auszugleichen, wurden im Unterschied zu Nekula die Verhältnisse der ersten Klassen von 1878 bis 1883 mit Bezug auf zwei höhere Jahrgangsstufen berechnet. Lediglich in den Schuljahren 1886/87 und 1887/88 (das Jahr 1877 ist auf Grund der geringen Grundgesamtheit von nur sieben jüdischen Schülern zu vernachlässigen), in der Hochphase der tschecho-jüdischen Bewegung und auch der Euphorie der tschechischen Nationalbewegung (vgl. Kapitel 4.2.1.3: 178) bekennt sich mehr als ein Fünftel der jüdischen Schüler zur tschechischen Muttersprache (23 bzw. 28 %). Unter den katholischen Erstklässlern variiert der Anteil der deutschen Muttersprachler stärker. Bis Mitte der 1880er Jahre ist etwa die Hälfte – 1884/85 sogar nur 39 Prozent – der katholischen Schüler deutscher Muttersprache. In den folgenden Jahren und insbesondere Anfang der 1890er werden kaum noch Katholiken tschechischer Muttersprache an der Altstädter Einrichtung eingeschult, wie bei den tschechischen Juden stellen sie maximal zehn Prozent der Erstklässler bzw. maximal ein Drittel des schrumpfenden Anteils an Katholiken.

432

Franz Kafkas Bilingualismus im Kontext

und auch an der gesamten Einrichtung (ca. 50 %) – deutlich höher. Im Gegenzug sind nur fünf Prozent der Schulanfänger Juden mit tschechischer Muttersprache und je neun Prozent deutsche und tschechische Katholiken (vgl. Abbildung 29: 432). Bei den restlichen zehn Prozent – mit Ausnahme eines Katholiken sind alle jüdischer Religion – fehlt die Angabe zur Muttersprache, so auch bei Franz Kafka. Abbildung 29: Deutsche Altstädter Volksschule für Jungen – Konfessionelle und sprachliche Zusammensetzung der ersten Klassen je Schuljahr (in %)728 90%

80%

70%

Anteil der Schulkinder

60%

50%

40%

30%

20%

10%

18 77

(n =2 18 6) 78 (n 18 =9 79 8) (n =2 18 0 80 4) (n =2 18 25 81 ) (n =2 18 76 82 ) (n =2 18 47 83 ) (n 18 =1 84 31 /8 ) 5 18 (n =5 85 3) /8 6 18 (n =8 86 0) /8 7 18 (n =9 87 1) /8 8 18 (n =8 88 4 /8 ) 9 18 (n =9 89 2) /9 0 18 (n =7 90 8) /9 1 18 (n =6 91 7) /9 2 18 (n =6 92 7) /9 3 18 (n =6 93 8) /9 4 18 (n =8 94 0) /9 5 18 (n =7 95 2) /9 6 18 (n =5 96 9) /9 7 18 (n =4 97 9) /9 8 (n =4 9) 18 18 99 98 /1 /9 90 9 0 (n =6 8)

0%

Schuljahr

kath.-dt. - 1.Kl./zurückg.

jüd.-dt. - 1.Kl./zurückg.

kath.-tsch. - 1.Kl./zurückg.

jüd.-tsch. - 1.Kl./zurückg.

Quelle: Vgl. AHMP: Deutsche Volks- und Bürgerschule für Knaben, Altstadt. Schulkataloge 18771900; eigene Berechnung.

Da in diesem Jahr (1889/1890) die Daten für die offizielle Volksschulstatistik gesammelt werden (vgl. Fleischmann 2007: 192), ist je Schüler noch die zusätzliche Information zu den Sprachkenntnissen festgehalten, d.h. in der Spalte „Anmerkungen“ notiert der Lehrer „spricht:“ und dann je nachdem „d.“ (deutsch), „d.b.“ (deutsch-böhmisch/tschechisch) oder „b.-d.“ (böhmisch/tschechisch-

728

Für die Periode von 1877 bis 1883 ist explizit das ,Einschulungsjahr‘ und nicht das Schuljahr ausgewiesen, da hier die höheren Jahrgangsstufen zur Rekonstruktion der ersten Klassen herangezogen wurden (vgl. Anm. 725: 304).

Franz Kafkas Bilingualismus im Kontext

433

deutsch).729 Danach besitzen alle Schüler ohne eine Angabe zur Sprache deutschtschechische Sprachkenntnisse, der Rest der Klasse mit wenigen Ausnahmen auch. In der zweiten Klasse fehlt wiederum bei Franz Kafka und noch einem anderen Schüler die eindeutige Angabe zur Muttersprache, beide deklarieren deutschtschechisch, während 79 Prozent Deutsch und 18 Prozent Tschechisch angeben. Erst in der dritten730 und vierten Klasse ist auch bei Franz Kafka die Angabe „d.“ zu finden, wie im Schuljahr 1891/92 bei insgesamt 81 Prozent und 1892/93 bei insgesamt 72 Prozent der Schüler, „d.-b.“ erscheint bei Niemandem mehr. Die Tatsache, dass bei Franz Kafka in seinen ersten beiden Schuljahren das Bekenntnis zu einer einzigen Muttersprache fehlt, darf zwar nicht überbewertet werden, weist aber dennoch darauf hin, dass erstens im Haushalt der Familie Kafka sehr wahrscheinlich auch Tschechisch gesprochen wurde und zweitens, Hermann und Julie Kafka, wie auch einige andere Eltern mosaischen Glaubens, die einsprachige und eindimensionale Kategorisierung im Kontext des deutschtschechischen Sprachenkampfes verweigerten (vgl. auch Nekula 2003: 134-135). Auch Franz Kafka war sich Zeit seines Lebens dieser Polarisierung bewusst, und lehnt eine bedingungslose einseitige ,nationale‘ Loyalität ab, wie sich dies auch in seinem literarischen Werk z.B. in Das Urteil niederschlägt (vgl. hierzu Nekula 2007). So ist ein auf den ersten Blick eindeutiges, im Schulalter gegebenes ,Bekenntnis‘ zur deutschen Muttersprache nicht notwendigerweise als nationales Bekenntnis zu lesen, sondern vielmehr in seiner Bedeutung von muttersprachlichen Sprachkompetenzen, die Kafka in Bezug auf das Tschechische nicht in diesem Umfang besitzt (vgl. Nekula 2003: 135). In der zweiten, dritten und vierten Klasse gewinnt Franz Kafka jeweils neue Mitschüler, die entweder von anderen Einrichtungen an die Altstädter Anstalt wechseln oder die Jahrgangsstufe wiederholen müssen, hinzu. Infolgedessen ändert sich auch die sprachliche und konfessionelle Konstellation in der Klasse. Der Anteil jüdisch-deutscher Schüler sinkt bis zur vierten Klasse auf nur noch 57 Prozent ab, jener tschechischer Muttersprachler jedoch steigt auf 15 Prozent

729

730

Der Zusatz „spricht:“ ist zwar nicht bei Franz Kafka selbst, aber bei dem vor ihm aufgelisteten Schüler Richard Hrudka dokumentiert. Dies ist nicht ungewöhnlich, da diese ergänzende Bemerkung gewöhnlich nur bei dem ersten der vier Schüler, deren persönliche Angaben und Noten auf einer Doppelseite unter einander festgehalten werden, gemacht wird. Nekula gibt hier an, dass die Angabe zur Muttersprache fehlt (vgl. Nekula 2003: 134). Tatsächlich wird sie nicht wie in der zweiten und vierten Klasse neben dem Religionsbekenntnis dokumentiert, sondern in der Spalte „Anmerkung“. Dass es sich dennoch um die Angabe der Muttersprache handeln dürfte, zeigt der in anderen Schuljahren und Klassen übliche Zusatz „Muttersprache“, der im Vordruck wahlweise neben dem Religionsbekenntnis oder in der Spalte Anmerkung vom Lehrer handschriftlich ergänzt wird. Der handschriftliche Zusatz „spricht:“ im Schuljahr 1889/90 ist einmalig, was wiederum auf eine Verbindung zur Datenerhebung für die offizielle Volksschulstatistik (vgl. Schematismus 1891) hinweist.

434

Franz Kafkas Bilingualismus im Kontext

(katholisch) bzw. 13 Prozent (jüdisch) an.731 Da auch relativ mehr katholische Deutsche (14 %) nun zum Klassenverbund zählen und der Anteil ,echter‘, d.h. katholischer Tschechen gering bleibt, ist nicht davon auszugehen, dass sich die Präsenz des Tschechischen außerhalb des Unterrichts sehr verstärkt. Vor dem Hintergrund der Analysen zur Sprachwirklichkeit in Kapitel 5.3.2 ist Franz Kafka, als deklarierter Deutscher mosaischen Bekenntnisses, in Prag geboren und Sohn eines „jüdischen Geschäftsmann[s] jener Jahre, der mit beiden Füßen in seiner physischen Wirklichkeit, in seinem Geschäft, stand“ (Bergmann 1996: 18) und das Tschechische im beruflichen Alltag verwendete (vgl. Northey 1994: 15) ein Vorzeigekandidat potenzieller deutsch-tschechischer Bilingualität. Und eine Aufstellung seiner Noten in Tschechisch, den Deutschfächern und zum Vergleich auch in Rechnen im Kontext der durchschnittlichen Klassenleistungen bestätigen dies (vgl. Tabelle 82: 434). Tabelle 82: Franz Kafka im Notenvergleich – 3. Klasse der deutschen Altstädter Volks- und Bürgerschule im Schuljahr 1891/92732 Sprachlehre

Rechtschreiben

Schriftl. Gedankenaustausch

Gesamtnote Dt.

n

Tschechisch 1,0

1,0

1,0

1,0

1,0

2,0

1,3

1,0

Klassendurchschnitt

105

2,0

2,0

2,5

2,3

2,1

2,6

2,3

2,2

Durchschnitt der deklarierten Tschechen

18

1,7

2,0

2,4

2,4

2,2

2,3

2,0

2,3

Durchschnitt der deklarierten Deutschen

86

2,1

1,9

2,5

2,4

2,1

2,7

2,4

2,2

Durchschnitt der in Tschechisch durch/überdurchschnittlichen deklarierten Deutschen

25

1,4

1,5

1,6

1,5

1,4

2,1

1,6

1,5

Franz Kafka

Lesen

Schreiben Rechnen

Quelle: Vgl. AHMP: Deutsche Volks- und Bürgerschule für Knaben, Altstadt. Schulkatalog 1891/92; eigene Berechnung.

731

732

Der Rückgang jüdisch-deutscher Schüler entspricht nun eher den Verhältnissen an der gesamten Schule (ca. 52 %), genauso wie die Zunahme katholischer Schüler tschechischer (15 %) und deutscher Muttersprache (20 %), wobei Letztere in Kafkas Jahrgang noch unterrepräsentiert sind. Allerdings hat auch in den ersten Klassen des Schuljahres 1892/93 die jüdisch-deutsche Fraktion wieder die deutliche Mehrheit inne, sodass die deutsche Altstädter Volksschule in dieser Bevölkerungsgruppe ohne Vorbehalt gewählt wird. In den höheren Jahrgangsstufen nimmt ihre absolute Zahl nicht ab, allerdings steigt jene der katholischen Jungen an, die unter Umständen zunächst eine Volksschule mit tschechischer Unterrichtssprache besuchten, um die Kenntnis der Muttersprache – auch schriftlich – zu festigen. Außerdem bleibt zu bedenken, dass die Wahl einer deutschen Volksschule im öffentlichen Diskurs von tschechischer nationaler Seite verpönt und gerade in der Situation des Schuleintritts besonders beobachtet wird. Zwei Schüler deutscher Muttersprache, Simon Engl (katholisch) und Karl Löwensohn (jüdisch), nehmen nicht am Tschechischunterricht teil, d.h. die Grundgesamtmenge beträgt für das Fach Tschechisch in Bezug auf den Klassendurchschnitt 103 und in Bezug auf den Durchschnitt der deklarierten Deutschen 84. Simon Engl wechselt erst zum vierten Quartal von der deutschen Schule in Žižkov an die Altstädter Anstalt.

Franz Kafkas Bilingualismus im Kontext

435

Kafka schneidet mit einem Jahresdurchschnitt von 1.0 in Tschechisch733 und den Deutschfächern (ohne Schreiben) nicht nur besser als jeglicher Klassendurchschnitt ab, sondern zählt damit zu den ausdrücklichen Vorzugsschülern.734 Diese hervorragenden Leistungen in beiden Sprachfächern werden nur noch von vier weiteren Jungen erzielt: Karl Taußig, Friedrich Robitschek, Karl Roubitschek und Eduard Mayer, wobei die beiden Letzteren die dritte Jahrgangsstufe wiederholen.735 Sie sind ausnahmslos alle auch mosaischen Glaubens, deklarieren Deutsch als Muttersprache und gehören dem traditionellen Kleinbürgertum – v.a. der kaufmännischen Sparte – an, nur Eduard Mayer ist als Sohn eines Buchhalters dem neuen Kleinbürgertum zu zurechnen. Gemeinsam mit den Eltern wohnen sie in der Altstadt (Kafka, Roubitschek, Mayer) oder der Neustadt (Taußig, Robitschek) Prags und sind auch in der Landeshauptstadt bzw. im gemischtsprachigen (Mayer) oder deutschsprachigen (Taußig) Böhmen geboren. Ein Durchschnitt von 1.0 in Tschechisch gelingt insgesamt nur noch vier weiteren Schülern, drei deklarierten Tschechen (Josef Prokeš – katholisch, Wenzel Nejedlý – katholisch, Rudolf Roubitschek – jüdisch), die alle die dritte Jahrgangsstufe bereits zum wiederholten Mal besuchen und einem ebenfalls jüdischen, in Prag geborenen und im Handel groß gewordenen, deklarierten Deutschen (Rudolf Berner). Offensichtlich meistert der kleine Franz Kafka die Anforderungen des Tschechischunterrichts ohne jegliche Schwierigkeiten.736 Dass er den gesteuerten Spracherwerb im ersten Jahr mit ausgezeichnetem und deutlich überdurchschnittlichem Erfolg abschließt, weist auf eine der schulischen Vermittlung vorgeschaltete natürliche Phase des Spracherwerbs hin. Die überwiegend tschechischsprachigen Dienstboten im Haushalt Hermann Kafkas dürften diesbezüglich die wichtigsten Bezugspersonen für Franz Kafka gewesen sein, insbesondere da die Mutter Julie Kafka bis zur Geburt seiner Schwestern häufig im Geschäft mitarbeitete (vgl. Nekula 2003: 184-188; Wagnerová 1997: 84-85; Krolop 1968: 56). Nekula führt hier auch die Erinnerungen der Erzieherin Anna Pouzarová (1902-1903) an, in denen Franz Kafkas praxisorientierte Einschätzung, aber auch die v.a. in Prager

733

734 735

736

Nekula gibt für die dritte Klasse an, dass Kafka im ersten Quartal Tschechisch nicht belegt hat (vgl. Nekula 2003: 136). Die Schrift des Lehrers ist hier zwar etwas undeutlich, im Vergleich mit dem Schriftbild in anderen Fächern ist jedoch eindeutig zu erkennen, dass Kafka auch im ersten Quartal in Tschechisch mit einer Eins abgeschlossen hat. Die herausragenden Leistungen kann er zudem mit einer gleichfalls sehr guten Note (1.3) in der später gefürchteten Mathematik (vgl. Hecht 1996: 29-30) bestätigen. Karl Roubitscheck besuchte die dritte Klasse bereits einmal an der deutschen Altstädter Volksschule und Eduard Mayer an der Volksschule in Trautenau. Aus diesem Grund sind sie auch bereits älter – Jahrgang 1881 im Vergleich zu 1883 der drei anderen Vorzugsschüler. Zu den deklarierten Deutschen, die in Tschechisch mindestens die Leistungen der tschechischen Muttersprachler erzielen, zählen u.a. auch Hugo Bergmann (Tschechisch 1.3, Deutsch 1.4) oder der mit Franz Kafka in einem freundschaftlichen Verhältnis stehende Camill Gibien (vgl. Pouzarovà 2005: 65) (Tschechisch 1.8, Deutsch 2.0).

436

Franz Kafkas Bilingualismus im Kontext

jüdischen Handelskreisen übliche Meinung gegenüber der Notwendigkeit von Tschechischkenntnissen zum Ausdruck kommt. Ich [A. Pouzarovà] sagte, daß sie ziemlich fließend tschechisch sprächen, nur die Grammatik beherrschten sie nicht. Franz machte eine abwehrende Handbewegung, ‚die Hauptsache, sie sprechen, die Grammatik können sie später lernen‘. Dann brachte er mir eine schöne illustrierte Ausgabe der Babička, aus welcher ich später den Mädchen eine Reihe von Tagen lang vorlas (Pouzarová 2005: 66).

Obgleich Franz Kafka bzw. seine Eltern mit der deutschen Altstädter Volks- und Bürgerschule eine Anstalt mit deutscher Unterrichtssprache auswählen, wird mit der Entscheidung für das relativ obligate Wahlfach Tschechisch auch Wert auf die Festigung und Erweiterung der im elterlichen Haushalt mündlich erworbenen Tschechischkenntnisse gelegt. Setzt man die erzielten Noten – unter Berücksichtigung sämtlicher Vorbehalte – als ,Maßstab‘ für Bilingualität an, so ist Franz Kafka Ende des 19. Jahrhunderts einer der dringlichsten Vertreter deutsch-tschechischer Zweisprachigkeit. Im Laufe seiner Gymnasialzeit wird sich dieser Eindruck noch verstärken.

6.2

Am Gymnasium

Nach einer „wohlbestandenen Aufnahmeprüfung“ (Hecht 1996: 29) tritt Kafka im Schuljahr 1893/94 in das deutsche Staatsgymnasium Prag Altstadt, im KinskýPalais am Altstädter Ring gelegen, ein.737 Von der Altstädter Volks- und Bürgerschule wechseln 23 weitere Jungen an das Altstädter Gymnasium mit deutscher Unterrichtssprache. Die restlichen Primaner stammen aus anderen deutschen öffentlichen und privaten Prager Volksschulen (Piaristen, Neustadt, Josefstadt, Karolinental, Florian Seidl, deutsche evangelische Schule) oder besuchten zu einem großen Teil auch Einrichtungen außerhalb der Landeshauptstadt.738 Zum Abitur im Schuljahr 1900/01 ist der Jahrgang Franz Kafkas von ursprünglich 87 Schülern auf nur 24 geschrumpft.739 In Tabelle 83 (vgl. Tabelle 83: 437) wird die muttersprachliche, konfessionelle, sprachlich-territoriale und soziale Zusammensetzung des Jahrgangs im Zeitablauf dargestellt. 737

738 739

Für die folgenden Ausführungen zur Gymnasialzeit Franz Kafkas generell und seinen Leistungen in Tschechisch und Deutsch im Vergleich mit dem Klassendurchschnitt vgl. auch Nekula (2003: 137-139), dessen Auswertungen als Vorlage dienten und im Folgenden auf Basis einer größeren Datenmenge präzisiert und ergänzt werden können. Einen generellen Überblick über die Franz Kafka vermittelten Inhalte der am Altstädter Gymnasium gelehrten Fächer und die einzelnen Lehrpersonen gibt Binder (vgl. Binder 1983: 89-127). Vgl. AHMP: NR: Fonds des Deutschen Staatsgymnasiums in Prag Altstadt, Altstädter Ring 16, Nr. 1058, 1840-1924. Schulkatalog, 1893/94. Im Unterschied zu Nekula (2003: 137-139) wird im Folgenden der Jahrgang und nicht nur die Klasse Franz Kafkas – auch um die Vergleichbarkeit mit den bisherigen Analysen zu gewährleisten – betrachtet, d.h. in den vier ersten Gymnasialklassen ist die jeweils existierende Parallelklasse eingeschlossen.

437

Franz Kafkas Bilingualismus im Kontext

Tabelle 83: Franz Kafkas Jahrgang – Zusammensetzung von der 1. bis zur 8. Klasse nach der Muttersprache, dem Religionsbekenntnis, der sprachlich-territorialen und der sozialen Herkunft740 1893/94

1894/95

1895/96

1896/97

1897/98

1898/99

1899/1900

1900/01

Deutsche

85%

89%

90%

89%

93%

100%

100%

92%

Tschechen

15%

11%

10%

11%

7%

0%

0%

8%

nach der Muttersprache

nach dem Religionsbekenntnis katholisch

24%

18%

18%

19%

23%

17%

27%

29%

jüdisch

76%

82%

82%

81%

77%

83%

73%

71%

nach der sprachlich-territorialen Herkunft deutschsprachig

13%

14%

14%

15%

17%

13%

18%

17%

gemischtsprachig

13%

12%

13%

13%

14%

17%

18%

17%

tschechischsprachig

20%

19%

22%

19%

7%

4%

Prag

48%

49%

48%

49%

62%

65%

64%

58%

sonstige u. k.A.

7%

5%

3%

4%

8%

nach der sozialen Herkunft Besitzbürgertum

3%

4%

3%

2%

7%

4%

5%

4%

Bildungsbürgertum

14%

11%

13%

15%

17%

17%

18%

17%

trad. Kleinbürgertum

70%

70%

74%

72%

59%

61%

59%

63%

neues Kleinbürgertum

11%

14%

9%

9%

14%

13%

14%

13%

Unterschicht

1%

1%

1%

2%

3%

4%

5%

4%

Quelle: Vgl. AHMP: Deutsches Staatsgymnasium, Prag-Altstadt. Schulkataloge 1893-1901; eigene Berechnung.

Die Zahl der deklarierten Tschechen geht kontinuierlich zurück, sodass in der sechsten und siebten Jahrgangsstufe eine rein deutschsprachige Klassengemeinschaft besteht. Im letzten Gymnasialjahr kommen nochmals zwei tschechische Muttersprachler, Zdenko Vaněk (vgl. auch Vaněk 1996: 37) vom öffentlichen Stiftsobergymnasium in Braunau und Victor Stein, der die achte Klasse am deutschen Altstädter Staatsgymnasium wiederholt, hinzu. Im Vergleich zur allgemeinen Situation an der Einrichtung, liegt der Anteil der deutschen Muttersprachler in Kafkas Jahrgang etwas über dem Durchschnitt (vgl. Abbildung 23: 304). Die überwiegende Mehrheit – sowohl der deutschen als auch der tschechischen – Schüler ist mosaischen Bekenntnisses, lediglich in den beiden höchsten Klassen gewinnt die katholische Gruppe einen Anteil von über einem Viertel. Während eine ganze Reihe von Katholiken bereits nach dem ersten Schuljahr das Gymnasium verlässt oder die Klasse wiederholen muss, sinkt die Zahl jüdischer Schüler insbesondere nach Abschluss des Untergymnasiums zum Schuljahr 1897/98 ab 740

Diese wie alle folgenden Tabellen im Kapitel 6.2 beruhen auf den Angaben in den Schulkatalogen zur jeweiligen Jahrgangsstufe Franz Kafkas. Vgl. AHMP: NR: Fonds des Deutschen Staatsgymnasiums in Prag Altstadt, Altstädter Ring 16, Nr. 1058, 1840-1924. Schulkataloge, 1893/941900/01.

438

Franz Kafkas Bilingualismus im Kontext

(von 43 auf 23). Die Aufgliederung nach der sprachlich-territorialen Herkunft der Jungen zeigt, dass zum einen der Anteil der Schüler aus gemischtsprachigen Gebieten in Kafkas Jahrgang über, jener aus tschechischsprachigen Landesteilen v.a. in den höheren Jahrgangsstufen aber deutlich unter dem generellen Durchschnitt liegt (vgl. Tabelle 24: 311), hier sinkt die Zahl der Hauptgruppe – Juden deutscher wie tschechischer Muttersprachler – im Obergymnasium auf maximal drei Schüler ab. Die gebürtigen Prager bilden von Anfang an die Mehrheit, gewinnen aber ab der fünften Klasse, als der Großteil der ,auswärtigen‘ Schüler vom Gymnasium abgeht, noch mehr Gewicht. Im Übrigen geben alle Juden, die in Prag geboren sind, Deutsch als Muttersprache an. Was die soziale Herkunft der Gymnasiasten betrifft, so dominieren wie auch in den analysierten ersten und sechsten Klassen dieses Jahres (vgl. Tabelle 28: 318) eindeutig die Angehörigen des traditionellen Kleinbürgertums, seine jüdischen Vertreter stammen – unabhängig von der Muttersprache – fast ausschließlich aus (Klein-) Kaufmanns- und Handelsfamilien, während die katholischen Jungen zum Teil auch aus Landwirtschafts- und Handwerksbetrieben kommen. Besitzbürgertum und Unterschicht sind jeweils nur durch deklarierte Deutsche vorrangig jüdischer Konfession, allerdings in sehr geringem Ausmaß, vertreten. Neben der alten Mittelschicht behaupten sich noch Söhne aus der bildungsbürgerlichen Schicht – die Väter sind v.a. Advokaten oder Ärzte – sowie dem neuen Kleinbürgertum. Das Wahlfach Tschechisch wird am Gymnasium – auch in Kafkas Jahrgang – bedeutend weniger belegt als noch in der Volksschule. Deklarierte Tschechen nehmen – außer in der ersten Jahrgangsstufe (nur 5 von 13) – mindestens zur Hälfte am Unterricht in ihrer Muttersprache teil. In den Reihen der deklarierten Deutschen geht im Laufe der Gymnasialzeit, auch durch die gesteigerten Anforderungen und das mit Französisch und Stenographie erweiterte Wahlfachangebot bedingt, das Interesse an der Vertiefung der zweiten Landessprache zurück. 741 In der ersten Jahrgangsstufe wählt über die Hälfte der Schüler Tschechisch, zu Ende des Untergymnasiums bereits weniger als ein Drittel. Im Obergymnasium erhöht sich der Anteil nur noch geringfügig. Katholische Deutsche fragen dabei das Tschechische generell deutlich schwächer nach (maximal ein Viertel) als die deutschen Mitschüler mosaischen Bekenntnisses (mindestens knapp zwei Fünftel). Aus gesellschaftlicher Perspektive herrscht in der kleinen Schicht des Besitzbürgertums die geringste Nachfrage nach dem Tschechischen, gleichfalls belegt aber auch kein deklarierter Deutscher katholischer Konfession aus dem neuen Kleinbürgertum das Wahlfach zweite Landessprache, am Stenographie- und Französischunterricht dagegen nehmen sie ab der vierten bzw. fünften Klasse meist teil.

741

In der ersten Jahrgangsstufe kommt bereits Latein und ab der dritten Klasse Griechisch als Hauptfach hinzu. Zum Fächerspektrum am Gymnasium vgl. Kapitel 4.2.2.3: 186.

Franz Kafkas Bilingualismus im Kontext

439

Kafka ist einer von drei Schülern (Karl Steiner, Hugo Pollak), die den Tschechischunterricht von der ersten bis zur achten Klasse durchgehend besuchen.742 Und nicht nur das, er zählt in der zweiten Landessprache auch konstant zu den durch- bzw. überdurchschnittlichen Schülern (vgl. Tabelle 84: 440; Tabelle 85: 441), seine Leistungen sind meist besser als jene der tschechischen Muttersprachler (vgl. Tabelle 86: 441). Auch in den übrigen Fächern schneidet Kafka meist besser ab als der jeweilige Durchschnitt der deklarierten Deutschen und der deklarierten Tschechen in der Klasse (vgl. Tabelle 87: 442).743 Nur in Mathematik liegt er im Obergymnasium mit oft nur ausreichenden Leistungen um bis zu 0.6 Notenpunkte unter dem Durchschnitt744 seiner deutschen Mitschüler.745

742 743

744

745

Lediglich in der fünften Klasse belegt Kafka im ersten Halbjahr nicht Tschechisch, dafür aber Stenographie (vgl. auch Nekula 2003: 138-139). In Tschechisch liegt er oft über einen Notenpunkt über dem Durchschnitt der deklarierten Deutschen (1.-3. Klasse, 5.-6. Klasse) und ist bis zur fünften Klasse auch besser als der Durchschnitt der tschechischen Muttersprachler. In Deutsch ist er nur bis zur dritten Klasse (0.9 bis 1.3 Notenpunkte), in Latein – mit Ausnahme der fünften Klasse – während der gesamten Gymnasialzeit deutlich besser als der Durchschnitt. Im Fach Griechisch ist insbesondere seine Leistung im Abschlussjahr zu nennen, wo er sich gegenüber den Vorjahren auf eine glatte Zwei steigert und damit 1.4 Notenpunkte über dem Durchschnitt der deklarierten Deutschen liegt. Im Wahlfach Französisch entsprechen die befriedigenden Leistungen in etwa dem Durchschnitt im Kurs. In Stenographie, das er in der fünften Klasse zum zweiten Mal, aber nur ein Halbjahr lang belegt, kann er 1897/98 nicht den Durchschnitt des Kurses, der immer ausschließlich von deutschen Muttersprachlern besucht wird, erreichen. Die Klassenbesten in den Hauptfächern sind Hugo Bergmann und Emil Utitz, wobei Bergmann in Latein, Griechisch und Mathematik mit dauerhaft sehr guten Leistungen noch etwas besser abschneidet als Utitz. Zudem belegt er ab der zweiten Gymnasialklasse auch durchgehend das Wahlfach Tschechisch, in dem er gleichfalls überdurchschnittliche Leistungen erzielt, lernt von der fünften bis zur siebten Klasse Französisch mit sehr guten bis guten Ergebnissen und eignet sich im Stenographiekurs (4.-5. Klasse) gleichfalls praktische Fertigkeiten (gut bis befriedigend) an. Utitz nimmt zu keinem Zeitpunkt am Tschechisch- oder Französischunterricht teil, Stenographie belegt er in der vierten und fünften Klasse und schließt überdurchschnittlich mit gut ab. Die grau hinterlegten Felder in Tabelle 84: 304 zeigen an, dass der Schüler mit seinen Leistungen in Tschechisch an den Durchschnitt der tschechischen Muttersprachler heranreicht (von 1893/94 bis 1895/96) bzw. besser als der Klassendurchschnitt abschneidet (von 1896/97 bis 1900/01). Bei fehlenden Angaben zur Muttersprache wurde die Angabe aus früheren Jahren ergänzt, z.B. Oskar Pollak (1900/01) und Otto Steuer (1899/1900).

440

Franz Kafkas Bilingualismus im Kontext

Tabelle 84: Franz Kafkas Jahrgang – deutsch deklarierte, jüdische Teilnehmer am Tschechischunterricht von der 1. bis zur 8. Klasse und ihre Leistungen in Tschechisch und Deutsch 1893/94 Tsch. Ascher

Oskar

1894/95

1895/96

1896/97

Dt. Tsch.

Dt. Tsch.

Dt. Tsch.

4,0

2,0

3,0

3,0

4,0

1897/98

Tsch.

Dt.

Tsch.

Dt.

2,0

2,0

2,0

1,0

1,5

2,0

1,0

Hugo

1,0

2,0

1,0

2,0

1,0

Arthur

4,0

3,0

3,5

3,5

4,0

3,0

Blum

Robert

5,0

3,0

Böhm

Otto

2,5

3,0

4,0

4,0

Bondy

Rudolf

5,0

4,0

Ehrenfeld

Samuel

5,0

3,0

Eisner

Franz

Feigl

Karl

3,0

4,5

3,0

3,0

4,0

Flammerschein

Oskar

1,5

4,0

2,0

5,0

3,0

3,0

Freund

Oskar

3,0

5,0

2,0

4,0

3,0

Freund

Paul

4,5

2,0

3,0

3,0

Gibian

Camill

4,0

3,0

4,0

3,0

5,0

3,0

4,0

Hecht

Arthur

2,0

3,0

3,5

3,0

5,0

3,5

4,0

Hecht

Hugo

3,5

2,5

5,0

3,0

3,0

3,0

Jeiteles

Alois

Jokl

Emil

1,0

1,5

1,5

2,0

2,5

2,0

Kafka

Franz

2,0

2,0

2,5

2,0

2,5

1,5

Kaufmann

Rudolf

3,0

4,5

2,5

2,5

2,0

2,0 3,0

2,0

3,0

3,0

2,5

3,5

4,0

3,0 2,0

2,5

Kisch

Paul

5,0

3,0

3,0

3,0

3,0

Klempfner

Karl

4,0

4,0

3,5

3,0

4,0

Klepetař

Arthur

4,0

3,0

Koref

Leo

2,0

2,0

1,5

2,0

2,0

2,0

2,0

3,0

Kraus

Karl

2,5

1,0

2,5

1,0

3,5

2,0

3,0

2,0

Kuranda

Felix

3,5

3,0

Lappert

Philipp

5,0

3,0

Löwý

Alfred

4,0

2,0

Novak

Rudolf

5,0

4,5

Otto

Pergamenter

Otto

2,5

2,0

Pick

Adolf

3,5

3,0

Pick

Georg

3,0

2,0

Pollak

Hugo

3,0

Pollak

Oskar

Příbram

Ewald

Schenk

Rudolf

Schiller

Rudolf

4,0

3,0

2,5

3,0

3,0

4,0

4,0

3,5

4,0

4,0

4,0

Otto

2,0

3,5

3,5 4,0

1900/01

Dt.

Bittermann

3,0

1899/1900

Dt. Tsch.

Bergmann

2,5

1898/99

Dt. Tsch.

3,0

4,0

2,0

3,0

2,0

3,0

4,0

4,0

3,0

4,0

3,5

4,0

3,0

4,0

3,5

4,0

3,0

3,0

3,5

3,5

3,0

3,0

2,0

2,0

2,0

2,0

2,0

3,0

4,0

3,0

2,5

2,5

3,0

2,0

2,0

3,5

3,5

4,0

4,0 5,0

2,0 3,0 2,0

3,0

3,0

4,0

2,5

3,0

2,5

3,5

2,0

4,5

1,5

4,5

3,0

2,0

4,0

2,0

4,0

2,5

3,5

5,0

4,0

2,0

2,0

2,5

2,0

3,0

3,0

3,0

2,0

4,0

2,0

3,0

3,0

3,0

2,0

2,5

2,0

3,0

3,0

3,0

1,0

3,0

3,0

4,0

1,5

4,5

1,0

4,0

2,5

3,0

2,0

3,0

3,0

3,0

3,0

1,0

5,0

3,5

4,0

4,0

4,5

3,0

Schulhof

Gustav

3,0

4,0

4,0

Stein

Camill

2,5

2,0

4,5

2,5

Steinberg

Ludwig

3,0

2,0

3,0

2,5

4,0

2,5

3,5

2,5

3,5

2,5

3,0

3,5

Steiner

Karl

2,0

1,0

1,5

1,0

1,0

1,5

2,0

2,0

2,0

2,0

2,0

2,0

Steuer

Otto

Strauss

Otto

1,5

1,0

2,5

2,0

3,5

2,0

3,0

2,0

Taußig

Josef

3,0

3,0

3,5

3,5

3,0

3,5

2,5

4,0

Weil

Rudolf

4,5

3,5

Wohlin

Bruno

4,0

3,0

4,0

3,5

4,0 4,0

4,0 2,0

3,0

1,0 3,0

2,0

3,0

2,0

2,5

2,0

2,0

4,0

4,0

2,5

3,5

4,5 5,0

3,0

4,0

Quelle: Vgl. AHMP: Deutsches Staatsgymnasium, Prag-Altstadt. Schulkataloge 1893-1901; eigene Berechnung.

2,5 4,0 4,0

441

Franz Kafkas Bilingualismus im Kontext

Tabelle 85: Franz Kafkas Jahrgang – deutsch deklarierte, katholische Teilnehmer am Tschechischunterricht von der 1. bis zur 8. Klasse und ihre Leistungen in Tschechisch und Deutsch746 1893/94

1894/95

1895/96

1896/97

1897/98

1898/99

1899/1900

1900/01

Tsch. Dt. Tsch. Dt. Tsch. Dt. Tsch. Dt. Tsch. Dt. Tsch. Dt. Tsch. Dt. Tsch. Dt. Janda

Karl

4,0

3,0

Jirasek

Franz

5,0

3,0

Patz

Victor

Pisecký, Rit. v. Kranichfeld

Karl

Siegel Steininger

3,0

2,5

4,0

2,5

2,5

2,5 2,5

2,0

3,0

2,5

2,0

3,0

2,5

4,0

2,5

5,0

3,0

Bruno

5,0

4,0

4,5

4,0

4,0

Anton

5,0

3,0

2,5

1,5

2,0

3,0

2,0

1,5

3,0

2,5

2,0

3,0

2,5

3,0

3,0

3,0

3,5

Quelle: Vgl. AHMP: Deutsches Staatsgymnasium, Prag-Altstadt. Schulkataloge 1893-1901; eigene Berechnung.

Tabelle 86: Franz Kafkas Jahrgang – deklarierte Tschechen von der 1. bis zur 8. Klasse nach dem Religionsbekenntnis und ihren Leistungen in Tschechisch und Deutsch 1893/94

1894/95

1895/96

1896/97

1897/98

1898/99

1899/1900

1900/01

Tsch. Dt. Tsch. Dt. Tsch. Dt. Tsch. Dt. Tsch. Dt. Tsch. Dt. Tsch. Dt. Tsch. Dt. jüdisch Bergmann

Leopold

4,0

2,0

3,5

Brunner

Robert

3,5

4,5

4,0

3,0

3,0

3,0

4,0

2,5

4,0

2,0

4,0

3,0

3,5

3,0

3,5

4,0

4,0

Illowý

Rudolf

Lustig

Ernst

Mautner

Camill

Pollak

Rudolf

Rosenbaum

Walther

Stein

Victor

Stern

Rudolf

4,5

Gottlieb

3,0

Weinberg

4,0

3,0

4,0

4,0 3,0

3,0

3,0

3,0

4,0

3,5

3,5

3,0

2,0

4,0

3,0 2,0

4,0

1,0

4,0

katholisch Fritsch Graf Wratislaw v. Mitrowitz u. Schönfeld Kahovec

Karl

Schmidt Solnař

Ottokar

Vaněk

Zdenko

2,0

3,5

2,0

3,5

2,0

1,5

1,0

2,0

1,5

Karl

1,5

1,0

August

3,0

4,0

Josef

4,0

4,5

3,5

3,0

3,0

2,5

4,0

Quelle: Vgl. AHMP: Deutsches Staatsgymnasium, Prag-Altstadt. Schulkataloge 1893-1901; eigene Berechnung. 746

Die grau hinterlegten Felder zeigen an, dass der Schüler mit seinen Leistungen in Tschechisch an den Durchschnitt der tschechischen Muttersprachler heranreicht (von 1893/94 bis 1895/96) bzw. besser als der Klassendurchschnitt abschneidet (von 1896/97 bis 1900/01). Bei fehlenden Angaben zur Muttersprache wurde die Angabe aus früheren Jahren ergänzt, z.B. Anton Steinigner (1900/01).

442

Franz Kafkas Bilingualismus im Kontext

Tabelle 87: Franz Kafka im Notenvergleich – von der 1. bis zur 8. Klasse am deutschen Staatsgymnasium in Prag-Altstadt747 Tsch. F.K.

Dt.

Klasse dt. n

F.K.

Lat.

Klasse dt. tsch.

F.K.

Griech.

Klasse

Klasse

n

Franz.

Klasse

F.K.

tsch.

n

2,0 3,5 39

3,3

5

2,0 2,9

3,3

2,5 3,2

3,7

1894/95

2,5 3,6 31

2,9

6

2,0 2,9

3,0

2,5 3,2

3,0

2,5 3,3

3,2

65

8

1895/96

2,5 3,6 24

2,8

5

1,5 2,8

2,9

2,0 3,1

3,0

2,0 3,1

3,1

2,5 3,3

3,2

62

7

1896/97

2,0 2,6 14

3,2

3

2,5 3,1

3,6

2,5 3,4

3,7

3,0 3,3

3,9

3,5 3,5

3,9

47

6

1897/98

2,0 3,0 11

2,5

2

2,0 2,5

3,3

3,0 3,2

4,0

3,0 3,5

4,3

4,0 3,4

4,5

27

2

1898/99

2,0 3,0 10

1899/1900

2,0 2,7 8

1900/01

2,5 2,9 7

2,0 3,0

2,5 2,9 1,5

2

3,0 3,2

2,5 3,4

2,0 3,4

3,3

3,5 3,3

2,5 3,2 4,5

dt. tsch. dt. tsch. 2,5 3,2

3,0 3,2

2,0 3,1 4,0

dt. tsch.

Math. F.K.

1893/94

2,0 2,6

dt. tsch.

F.K.

4,0 3,7

21 4,3

20

dt. n

tsch.

F.K. Klasse n

dt.

2

3,3

2

2,0

2,8

24

3,0

1

3,0

2,8

15

3,0 3,1 12

2,6

4

2,5 3,0 7

3,3

3

3,0 3,1 15

3,0 1

Quelle: Vgl. AHMP: Deutsches Staatsgymnasium, Prag-Altstadt. Schulkataloge 1893-1901; eigene Berechnung.

Das Niveau im Tschechischunterricht verbessert sich ab der vierten Klasse mit abnehmender Lernerzahl innerhalb der Gruppe deklarierter Deutscher von ausreichend auf befriedigend (vgl. Tabelle 87: 442). Dass das Wahlfach Tschechisch am Gymnasium nicht nur ,nebenbei mitgemacht‘ werden kann, sondern auch einigen Lernaufwand bedeutet, kommt neben den Lehrplaninhalten (vgl. Nekula 2003: 139-141) auch in diesem Schrumpfungsprozess zum Ausdruck. Denn in Deutsch durchaus gute bis durchschnittliche Schüler, die in Tschechisch höchstens ausreichende Leistungen erzielen, bleiben dem Wahlfachunterricht nach und nach fern.748 Deklarierte Deutsche, die sich in keiner Jahrgangsstufe dem Tschechischunterricht widmen, zählen auf Basis der Deutschnoten überwiegend zur unterdurchschnittlichen Schülerschaft und verlassen das Gymnasium meist nach Abschluss der ersten vier Jahre (vgl. Tabelle 88: 443).749

747

748 749

n

13

23

4,0 3,5 4,3

74

Sten.

Klasse

Der Klassendurchschnitt in den einzelnen Fächern wird jeweils für die Gruppe deklarierter Deutscher und deklarierter Tschechen dargestellt. Für die Berechnung des Klassendurchschnitts gilt auch für Kafkas Jahrgang, dass die Halbjahresleistung von Schülern, die nur ein Halbjahr am jeweiligen Unterricht teilnahmen, aus praktischen Gründen in der vorliegenden Arbeit als durchschnittliche Jahresleistung eingeht (vgl. auch Anm. 582: 304). Beispiele hierfür sind Oskar Ascher, Robert Blum, Samuel Ehrenfeld, Oskar Flammerschein, Hugo Hecht, Rudolf Kaufmann, Paul Kisch, Alfred Löwy (vgl. Tabelle 84: 304). Allerdings gibt es hier auch Ausnahmen, denn Emil Utitz, Paul Fischer, Hans Teller und auch Max Taußig gehören wohl zu den besten Schülern der Klasse, besuchen aber den Tschechischunterricht nicht, zum Teil aber andere Wahlfächer (Utitz – Stenographie, Fischer – Stenographie, Französisch).

443

Franz Kafkas Bilingualismus im Kontext

Tabelle 88: Franz Kafkas Jahrgang – deklarierte Deutsche, die von der 1. bis zur 8. Klasse nie am Tschechischunterricht teilnehmen, nach dem Religionsbekenntnis und ihren Leistungen in Deutsch jüdisch

katholisch

1893 1894 1895 1896 1897 1898 1899/1 1900 /94 /95 /96 /97 /98 /99 900 /01

1893 1894 1895 1896 1897 1898 1899/1 1900 /94 /95 /96 /97 /98 /99 900 /01

Deutsch Beck

Alfred

Beihilf

Oskar

4,0

Bergstein

Josef

3,0

3,0

Deutsch

4,0

Anton Dobner

Richard

3,5

Dvořák

Josef

Josef

4,5

4,0

4,0

3,5

2,5

3,5

4,0

3,0

Brumlik

Arthur

4,0

Fischer

Adam

4,0

4,0

3,0

3,0

Busch

Richard

4,0

Fischer

Paul

1,0

1,5

1,0

2,0

1,5

1,5

2,0

2,0

Frank

Erich

3,5

Heindl

Alexander

1,5

3,0

3,0

3,0

3,5

4,0

4,0

Michel

Johann

Neumeyer

Johann

3,0

4,0

Pemsel

Ferdinand

3,0

4,0

Schichel

Franz

3,5

Wiesner

Alfred

4,0

Fochr

Eduard

4,5

Paschka

Hubert

3,0

Freund

Rudolf

Heller

Paul

Hostowsky

Richard

2,5

Karpner

Ernst

5,0

4,0

2,5

4,0

4,5

4,0

3,5 3,0

3,5

Lederer

Rudolf

2,5

3,5

Löwy

Siegfried

3,0

3,5

4,0

Lustig

Ernst

3,0

3,0

3,5

Pick

Rudolf

3,0

3,0

3,5

Schwarz

Rudolf

3,5

4,0

Spiegel

Ferdinand

3,0

3,5

4,0

4,0

4,0

4,5

4,0

4,0 evangelisch 4,0

3,5

3,5

4,0

4,0

Taußig

Max

2,5

2,5

Teller

Hans

1,5

2,0

1,0

2,0

Ungerleider

Franz

3,0

4,0

4,0

Utitz

Emil

1,0

1,0

1,0

1,0

1,0

1,0

1,0

1,5

Quelle: Vgl. AHMP: Deutsches Staatsgymnasium, Prag-Altstadt. Schulkataloge 1893-1901; eigene Berechnung.

Die Gruppe der durch-/überdurchschnittlichen Tschechischschüler mit deutscher Muttersprache (vgl. Anm. 745: 439) ist auch in Kafkas Jahrgang relativ stärker jüdisch dominiert, im Obergymnasium schließlich rein jüdisch, da der einzige katholische Teilnehmer – Victor Patz, Sohn eines Arztes – mit befriedigenden Noten den Klassendurchschnitt nicht mehr übertrifft. Die überwiegende Mehrheit stammt, wie Franz Kafka, aus dem traditionellen Kleinbürgertum. Die Abkömmlinge aus Kauf- und Handelsfamilien zeigen auch die größte Ausdauer in der Belegung des Unterrichts in der zweiten Landessprache. Mit Hugo Bergmann, als Sohn eines Commis der Unterschicht zugerechnet (vgl. Tomaschek 1913b: 13-14), ist diese in Kafkas Jahrgang in der gesamten Gymnasialzeit mit herausragenden Leistungen vertreten. In der ersten Jahrgangsstufe sind die aus der jüdischen, bildungsbürgerlichen Schicht stammenden Georg Pick und Ewald Příbram750 auch noch unter den durch-/überdurchschnittlichen Tschechischschülern zu finden, allerdings legen sie Tschechisch in der zweiten Klasse umgehend ab (Pick) bzw. können das Niveau nicht halten (Příbram). Gleiches gilt für die dem neuen Klein750

Der Vater, Otto Příbram, ist Präsident der Arbeiter-Unfall-Versicherungs-Anstalt in Prag (18951915) und Kafka bei dessen Anstellung im Jahr 1908 behilflich (vgl. Nekula 2003: 155).

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Franz Kafkas Bilingualismus im Kontext

bürgertum angehörenden Otto Böhm und Otto Strauss. In Bezug auf die sprachlich-territoriale Herkunft spiegelt die Zusammensetzung der durch/überdurchschnittlichen Gruppe in der ersten Jahrgangsstufe die allgemeine Situation im Jahrgang (vgl. Tabelle 83: 437) wider. In der Folgezeit erzielen weniger als zehn, im Obergymnasium nur noch drei bis vier Schüler durch/überdurchschnittliche Leistungen in Tschechisch, wobei Kafka und der engbefreundete Bergmann (vgl. Bergmann 1996: 18) aus Prag gemeinsam mit Steiner aus gemischtsprachigem Gebiet dauerhaft den Kern der Gruppe bilden. Vor dem Hintergrund der Analyse des ,Sprachverhaltens‘ der Elite bestätigt Franz Kafka, in Prag als Sohn eines jüdischen Kaufmanns751 geboren, das am häufigsten auftretende Profil deutsch-tschechischer Bilingualität. Allerdings ist nicht selbstverständlich, dass jeder jüdische Gymnasiast aus einer Prager Kaufmannsfamilie derart die tschechische Sprache beherrscht (z.B. Rudolf Schiller, Arthur Hecht). Zum einen qualifiziert sich Kafka durch den konstanten Besuch des Wahlfachunterrichts und zum anderen durch seine durch/überdurchschnittlichen Leistungen. Dass dies aber zur Jahrhundertwende bereits eine gewisse ,Rarität‘ darstellt, hat der Blick auf die Mitschüler von Kafkas Jahrgang im Laufe der Gymnasialzeit gezeigt. Die Entscheidung für Ausbildungsinstitutionen mit deutscher Unterrichtssprache – wie sie auch mit der Wahl der deutschen Karl-Ferdinands Universität in Prag fortgesetzt wird – sowie die Angabe des Deutschen als Muttersprache in den hier untersuchten Schulkatalogen lassen keinen Zweifel daran, dass das Tschechische bei Kafka nicht die Rolle einer Erstsprache einnimmt. Allerdings demonstrieren die Angabe ,deutsch-tschechisch‘ im Kontext der Erhebung der Sprachkenntnisse für den Schematismus der allgemeinen Volksschulen und Bürgerschulen in den im Reichsrathe vertretenen Königreichen und Ländern, der konstante Besuch des relativ obligaten Wahlfachs zweite Landessprache in der Volksschule und am Gymnasium sowie die dauerhaft durch/überdurchschnittlichen Leistungen in Tschechisch, die auch dem Vergleich mit tschechischen Mitschülern standhalten, dass das Tschechische für Franz Kafka keine Fremdsprache, sondern eine Zweitsprache darstellt.752 Der im Rahmen der Schule geleistete, gesteuerte Spracherwerb kann offensichtlich auf Anfänge eines natürlichen Spracherwerbs im Haushalt Hermann Kafkas aufbauen. Zudem bleibt in Prag, das gerade im Alten Kern noch deutsch und tschechisch geprägt ist und 751

752

Der berufliche Weg Hermann Kafkas gleicht dem Schema unzähliger anderer jüdischer Aufstiegsbiographien: Vom ,Dorfgehen‘ (Hausieren) über die ,gemischte Warenhandlung‘ schafft er es zu wohlanständiger, kommerzieller Tätigkeit in der Großstadt (vgl. Stölzl 1975: 33). Im Gegensatz hierzu ist das Französische zu nennen, das am deutschen Altstädter Gymnasium erst ab der fünften und bis zur achten Jahrgangsstufe gelehrt wird. Kafka besucht den Französischunterricht, der in Kooperation mit den beiden deutschen Neustädter Gymnasien (Graben, Stephansgasse) und dem Kleinseitner Gymnasium auf drei Kurse aufgeteilt ist, in der fünften, sechsten und siebten Klasse. Vgl. AHMP: NR: Fonds des Deutschen Staatsgymnasiums in Prag Altstadt, Altstädter Ring 16, Nr. 1058, 1840-1924. Schulkataloge, 1893/94-1900/01. Zu Kafkas außerschulischer Begegnung mit dem Französischen vgl. Nekula (2003: 140 Anm. 47).

Franz Kafkas Bilingualismus im Kontext

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insbesondere dem Geschäftsmilieu des Vaters, der auf deutsch- wie tschechischsprachige Kunden angewiesen ist, die tschechische Sprache nicht auf die Institution Schule beschränkt, sondern ist im alltäglichen Leben präsent und ein regelmäßiger Wechsel zwischen Deutsch und Tschechisch bei den Sprechern beider Sprachen durchaus vorauszusetzen. Marek Nekula stellt in seiner ausführlichen Beschreibung von Kafkas Sprachkompetenzen fest, dass Franz Kafka über außerordentliche passive und aktive Tschechischkenntnisse verfügte, auch wenn diese im Schatten seines Deutsch standen. Und selbst wenn ihm auch andere Sprachen wie Hebräisch und Französisch, z.T. auch Jiddisch, Englisch und Italienisch in unterschiedlichem Maße zur Verfügung standen und für ihn wenigstens vorübergehend eine spezifische Bedeutung hatten, sind es vor allem Franz Kafkas gute Kenntnisse des Tschechischen und seine Ausbildung in tschechischer Sprache und Literatur, die eine monolinguale und demzufolge auch monokulturelle, sprich deutschzentrische Interpretation dieses Autors in Frage stellen, wenn nicht gar ausschließen 753 (Nekula 2003: 303).

Franz Kafka ist ein asymmetrischer, deutsch-tschechischer Bilingualismus eigen, der in Abhängigkeit vom Zeitpunkt des Sprachenlernens als überwiegend koordiniert, in Bezug auf das Lebensalter des Lernenden als früh und im Prag der Jahrhundertwende, gekennzeichnet durch sprachnationale, separatistische Tendenzen in Wirtschaft, Verwaltung, Kultur und Bildung, als endogen einzustufen ist (vgl. Kapitel 2.2.1.2). Das Deutsche ist im Falle Kafkas in der Ausprägung der verschiedenen Disziplinen und – nicht nur – in der Domäne Schule als die dominierende Sprache, als Erst- und Muttersprache anzusehen – aber „lediglich im Sinne der Sprachkompetenz, nicht im Sinne einer nationalen Selbstidentifikation als Muttersprache“ (Nekula 2003: 307).754 Der Vergleich mit den Mitschülern in der Volksschule wie am Gymnasium hat ferner gezeigt, dass Kafka gemäß der Noten im Wahlfach zweite Landessprache überdurchschnittlich profunde Tschechischkenntnisse besitzt, seine deutsch-tschechische Bilingualität also von einer relativ geringeren Asymmetrie gekennzeichnet ist. Im Prager jüdischen Kaufmannsmilieu ist deutsch-tschechische Zweisprachigkeit zwar noch am üblichsten, doch nicht automatisch gegeben. Dass Kafka das Tschechische jahrelang und mit sehr guten Ergebnissen lernt, setzt ein besonderes persönliches Interesse voraus, das nicht zwingend eine Hinfälligkeit der über Sprache eindimensional konstruierten ,nationalen‘ Kategorien implizieren muss, aber zumindest im Einklang steht mit einer auf „Multilingualismus, dem Sprachenwechsel und -wandel“ basierenden „spezifische[n] kulturelle[n] Qualität, die die Begriffe der Assimilation und der 753 754

Zu Franz Kafkas Deutsch vor dem Hintergrund des städtischen Kontexts Prags vgl. Bauer (2008). In diesem Zusammenhang regt Nekula an, das zunächst nur als Fremdsprache gelernte Hebräische in Betracht zu ziehen, „a language that could fill the vacuum left by the absence of his own – Jewish – language, and could offer an alternative to the bipolar world of the CzechGerman linguistic struggle in Prague at the beginning of the twentieth century“ (Nekula 2008: 40).

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Franz Kafkas Bilingualismus im Kontext

Akkulturation überwindet und den Weg zu einer komplex ,universalen‘ multilingualen Kultur öffnet“ (Nekula 2003: 309).

Bilingualismus und Sprachnationalismus – ein Widerspruch im Prag der Kafka-Zeit?

7

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Schluss: Bilingualismus und Sprachnationalismus – ein Widerspruch im Prag der Kafka-Zeit?

Die empirische Untersuchung des individuellen Bilingualismus in der Domäne Schulwesen anhand der Schulkataloge deutscher Volksschulen und Gymnasien sowie jeweils einer Institution mit tschechischer Unterrichtssprache in Prag hat gezeigt, dass sich sowohl tschechisch-deutsche als auch potenzielle deutschtschechische Zweisprachigkeit in den letzten Dezennien des 19. Jahrhunderts quantitativ wie qualitativ wandeln. Die Veränderung des ,Sprachverhaltens‘ der Prager Bevölkerung ist in Wechselwirkung mit dem zeitgenössischen sprachnationalistischen Diskurs und zentralen sprachpolitischen Maßnahmen zu sehen. Der Ideologie des Sprachnationalismus folgend wird (Mutter-) Sprache zum ausschließlichen Definiens der (Sprach-) Nation, der neuen Gemeinschaftsvorstellung, die im Zuge ihrer Politisierung nach dem souveränen Nationalstaat strebt. Die Etablierung eines nationalen Ausbildungssystems zur Pflege und Verbreitung des Schlüsselsymbols Sprache ist wesentliche Voraussetzung für die Konstruktion der (Sprach-) Nation. Im böhmischen Bildungswesen wird mit dem Schulaufsichtsgesetz aus dem Jahr 1873 die (sprach-) nationale Separation legalisiert und mit der Einrichtung erster (sprach-) national autonomer Behörden umgehend in den Strukturen des Volksschulwesens implementiert. Der (Sprach-) Nationsbildungsprozess tritt in eine neue Phase, da nun das individuelle sprachnationale Bekenntnis im Rahmen der Ortsschulräte zum zentralen Organisationsprinzip wird. Auf das individuelle ,Sprachverhalten‘ in der Domäne Schule – gemessen an den öffentlichen Einrichtungen in Prag – scheint755 sich diese Maßnahme zunächst nicht niederzuschlagen. Denn im Vergleich der Lehranstalten mit deutscher und tschechischer Unterrichtssprache gewinnen die öffentlichen Einrichtungen im deutschen Prager Schulbezirk im Laufe der 1870er Jahre relativ wie absolut mehr Zuwachs an Schulkindern.756 Tschechisch-deutsche und potenzielle deutschtschechische Bilingualität können auf Grund der fehlenden Angabe zur Mutter755

756

Unter den gegebenen Umständen ist dies nur eingeschränkt beurteilbar: In den offiziellen Statistiken zum Prager Schulwesen wird erst ab dem Schuljahr 1883/84 und in den Schulkatalogen der ausgwählten Institutionen ab 1884/85 eine Angabe zur Muttersprache dokumentiert. Zudem beginnt der Beobachtungszeitraum der empirischen Untersuchung – u.a. auch im Hinblick auf die gegebenen Materialbedingungen – frühestens mit dem Jahre 1870, sodass die Vergleichsperiode vor 1873 relativ kurz ausfällt. 1872/73 sind 16 Prozent (1598 Kinder) der Prager Volksschüler an Einrichtungen mit deutscher Unterrichtssprache, im Jahr 1880 etwa 30 Prozent (3868 Kinder) (vgl. Rozvoj školství 1891: 3544). Im gleichen Jahr bekennt sich im Rahmen der österreichischen Volkszählung knapp ein Fünftel der Prager Bevölkerung (I.-VIII) zur tschechischen Umgangssprache (vgl. Tabelle 3: 112).

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Bilingualismus und Sprachnationalismus – ein Widerspruch im Prag der Kafka-Zeit?

sprache nicht differenziert werden. In Relation zum Klassendurchschnitt erreicht in dieser Periode etwa die Hälfte der Schülerschaft an den untersuchten deutschen Volksschulen überdurchschnittliche Tschechischkenntnisse. Die Sprachkenntnisse der katholischen Mehrheit (bis zu 90 Prozent) dieser potenziell Zweisprachigen sind infolge relativ schlechterer Deutschnoten stärker asymmetrisch als jene der jüdischen Minderheit (maximal 25 Prozent). Das ,Sprachverhalten‘ der Gymnasiasten in Prag bleibt von den Anfängen der beginnenden sprachnationalen Trennung im Volksschulwesen definitiv unberührt, die Zahl tschechischer Gymnasiasten in Prag stagniert in diesem Zeitraum weitgehend (vgl. Abbildung 11: 240). Der entscheidende Schritt für die Nachhaltigkeit eines autonomen tschechischsprachigen Bildungswesens und auch in Richtung einer tatsächlichen Gleichberechtigung der beiden Landessprachen in Böhmen wird mit der Teilung der Prager Karl-Ferdinand-Universität in eine deutsche und eine tschechische, in zwei voneinander völlig unabhängige Institutionen geleistet. Die neue tschechische Universität übernimmt zugleich die Funktion des Garanten eines gemeinsamen und für alle verbindlichen Idioms. Durch den Schutz der – ideologisch als das eigentlich Verbindende deklarierten – Sprache und die endgültige ,Elitarisierung‘ des Tschechischen entsteht ein wesentlicher Stützpfeiler der tschechischen Nationsbildung. In der Domäne Schulwesen reflektiert das ,Sprachverhalten‘ der Prager Bevölkerung diesen Konstruktionsprozess im Sinne der monolingualen Ideologie und beteiligt sich dadurch gleichzeitig am Bau. Tschechische Muttersprachler wählen nun im Volks- wie im Mittelschulwesen verstärkt Ausbildungsstätten mit tschechischer Unterrichtssprache. Zum Teil ist diese Entscheidung national ,motiviert‘ oder ,oktroyiert‘, die weiterhin bestehende Minderheit an deutschen Einrichtungen zeigt jedoch, dass erstens eine Entscheidung für deutsche Lehranstalten und damit tschechisch-deutsche Bilingualität grundsätzlich weiterhin möglich ist und daraus ergibt sich zweitens, der Wechsel zur tschechischen Unterrichtssprache und damit zu höchstens deutschen Fremdsprachenkenntnissen durchaus auch auf freiwilliger Basis stattfindet. Bezeichnend hierfür ist, dass Ende der 1880er Jahre, als die nationale Euphorie und das Bedürfnis nationale Werte zu realisieren durch die faktischen Qualitätsmängel des jungen und einem ,nationalen‘ Ansturm nicht gewachsenen tschechischen Ausbildungssystems eingeholt werden und kurzfristig die Zahl tschechischer Muttersprachler an den öffentlichen deutschen Volksschulen in Prag wieder steigt. Jedoch deutet der in den 1880er Jahren einsetzende langfristige Rückgang (Volksschulen) bzw. die Stagnation (Gymnasien) der Zahl tschechischdeutsch Bilingualer in der Domäne Schulwesen in jedem Falle an, dass das im zeitgenössischen öffentlichen Diskurs ausgehandelte Konzept der Sprachnation und die damit verbundene Mobilisierung der tschechischsprachigen Bevölkerung greift. Im Vergleich der tschechischen und der deutschen Volksschulen für Jungen zeigt sich, dass in den Kreisen der besitzenden Klasse und der bildungsorientierten Aufsteiger tschechisch-deutsche Bilingualität noch relativ konzentrierter gepflegt wird. Die für die Entwicklung nationaler Programmatik bedeutende, etablierte

Bilingualismus und Sprachnationalismus – ein Widerspruch im Prag der Kafka-Zeit?

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tschechische Bildungselite wählt dagegen verstärkt den tschechischen Bildungsweg und lehnt damit den gesteuerten (Zweit-) Spracherwerb des Deutschen ab. Die zunehmend schlechteren Leistungen in der deutschen Unterrichtssprache der an den deutschen Volksschulen verbliebenen tschechischen Muttersprachler zeigen neben der quantitativen Abnahme auch eine qualitative Minderung tschechisch-deutscher Bilingualität an, die allerdings nur Schulkinder katholischen Bekenntnisses betrifft. Der auf hohem Niveau ausgeglichenere individuelle tschechisch-deutsche Bilingualismus jüdischer Schulkinder ist jedoch kaum verbreitet. Eine offensichtliche Auswirkung der weiteren sprachlichen Umgebung in der Primärsozialisation und den erzielten Leistungen im jeweiligen Sprachunterricht hat sich hinsichtlich der Ausprägung tschechisch-deutscher Bilingualität im Bereich des Volksschulwesens nicht ergeben. In der tschechischen Elite an den Gymnasien ist die quantitative Dominanz der katholischen gegenüber den jüdischen Tschechen deutlich schwächer, für beide konfessionellen Gruppen ist eine relativ auffällige Asymmetrie der tschechischdeutschen Sprachkenntnisse typisch, wobei weiterhin das Gesamtniveau der jüdischen Schüler dank besserer Deutschnoten etwas höher einzuschätzen ist. Anders als an den Volksschulen stammen die ,echten‘ – katholischen – Tschechen an den deutschen Gymnasien in den 1880er Jahren vorwiegend aus den Bildungsschichten (Bildungsbürgertum, neues Kleinbürgertum). Es handelt sich dabei um Schüler, die hauptsächlich in der tschechischsprachigen Provinz geboren und aufgewachsen sind und für die offensichtlich das Deutsche noch den besonderen Status der anerkannten Bildungssprache und auch des Wegbereiters zum sozialen Aufstieg innehat. Für die deutschen Muttersprachler in Böhmen und Prag besitzt diese Überzeugung ohne Zweifel bis zum Ende der Monarchie ihre Gültigkeit. Zwar mag infolge des lokalen Machtgewinns des Tschechischen die Notwendigkeit seiner Beherrschung nach und nach akzeptiert werden – so belegen beispielsweise fast alle deutschen Volksschüler der untersuchten Anstalten das relativ obligate Wahlfach zweite Landessprache –, doch über Grundkenntnisse hinausreichende Sprachkompetenzen sind in der Domäne Schulwesen in Prag kein Charakteristikum der breiten Masse der Deutschen. Die Option, Lehranstalten mit tschechischer Unterrichtssprache auf der Ebene der Grund- oder auch Mittelschulen zu besuchen, wird von deutscher Seite während des gesamten Beobachtungszeitraums (fast) nicht wahrgenommen. In Relation zu den erzielten Leistungen der Tschechen in ihrer Muttersprache ist bis Anfang der 1890er Jahre an den untersuchten deutschen Volksschulen etwa ein Drittel757 und an den beiden deutschen Gymnasien kaum ein Viertel der deklarierten Deutschen zu den potenziell deutsch-tschechisch bilingualen Sprechern zu zählen. Qualitativ unterscheiden sich bei den deutschen Muttersprachlern die Sprachkenntnisse der katholischen 757

Ausnahme bildet das Schuljahr 1889/90 an der deutschen Altstädter Volksschule für Jungen, als knapp drei Fünftel den Durchschnitt der Tschechen in deren Muttersprache erlangen.

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Bilingualismus und Sprachnationalismus – ein Widerspruch im Prag der Kafka-Zeit?

und jüdischen Schulkinder kaum, quantitativ sind die Träger potenzieller deutschtschechischer Bilingualität v.a. auch auf Grund der Dominanz der Juden an den untersuchten Einrichtungen überwiegend mosaischen Glaubens. Aus konfessioneller Perspektive sind an den Altstädter deutschen Volksschulen meist um die 30 Prozent der Juden, in der zahlenmäßig kleineren Gruppe der Katholiken vornehmlich zwischen einem und zwei Fünftel der deutschen Schüler potenziell bilingual. An den beiden Gymnasien erzielt in den 1880er Jahren oftmals kaum ein Fünftel der Katholiken und Juden durch-/überdurchschnittliche Leistungen in Tschechisch. Die dominierende Gesellschaftsschicht mit potenziellen tschechischen Zweitsprachkenntnissen innerhalb der Domäne Schulwesen ist das Kleinbürgertum, insbesondere die alte Mittelschicht. Ihm gehört generell das Gros der Schülerschaft an, deren Eltern im Berufsalltag am unmittelbarsten auf die wachsende Bedeutung des Tschechischen und auch des tschechischen Nationalbewusstseins zu reagieren haben. In der Berufsgruppe der Kauf- und Handelsmänner sind Tschechischkenntnisse geradezu monetarisierbar und im öffentlichen Dienst des tschechisch gelenkten Prag sicherlich von Vorteil. Diese für die Mehrheit der Schulkinder offensichtliche ,Nützlichkeit‘ tschechischer Sprachkenntnisse dürfte positive Effekte zumindest auf die Bereitschaft, Tschechisch in der Domäne Schulwesen zu erlernen, haben. In der Elite an den Gymnasien sind die wenigen potenziell bilingualen Sprecher auf alle Gesellschaftsschichten relativ gleich verteilt. Mit der gestiegenen Nachfrage (der zukünftigen Bildungselite) nach dem Wahlfach Tschechisch an den Gymnasien sowie der relativen bzw. an der Piaristenvolksschule sogar überdurchschnittlichen Präsenz potenzieller deutschtschechisch bilingualer Sprecher in der etablierten Bildungselite schlägt sich die mit der Teilung der Universität vollzogene symbolische Aufnahme des Tschechischen in den Kreis der Wissenschaftssprachen auch im ,Sprachverhalten‘ der Deutschen in Prag nieder. Dass die Einrichtung der tschechischen Universität in Prag „aus tschechischer Sicht nur mehr ein ,Nachvollzug‘ einer längst stattgehabten nationalen Emanzipation“ (Burger 1995: 131) sei, ist in Frage zu stellen. Denn die Wechselwirkung dieser sprachpolitischen Maßnahme mit dem ,Sprachverhalten‘ der tschechischen Bevölkerung im Kontext des zeitgenössischen Diskurses trugen wesentlich dazu bei, dass aus dem tschechischen (Sprach-) Nationalismus die tschechische (Sprach-) Nation hervorging. Im Zuge des fortschreitenden Nationsbildungsprozesses ist im Laufe der 1890er Jahre ein weiterer Wandel tschechisch-deutscher und potenzieller deutschtschechischer Bilingualität zu erkennen. Mit der Frage der endgültigen rechtlichen Gleichberechtigung der beiden Landessprachen in Böhmen, wie sie die Badenischen Sprachenverordnungen 1897 thematisieren, wird eine entscheidende Phase erreicht. Die deutsch-tschechische Konfrontation und damit auch die sprachliche Abgrenzung der beiden (Sprach-) Nationen wird im öffentlichen Diskurs auf die Spitze getrieben. In den böhmischen Sprachenkampf integriert sind antisemitische Kampagnen und Ausschreitungen, wobei Juden von tschechischer Seite v.a. als

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deklarierte Vertreter deutscher Sprache und Kultur angefeindet werden. Der dem Erlass der Sprachenverordnungen vorangehende Druck tschechischer Nationalisten auf Handlungsbedarf in Wien sowie die bevorstehende Umsetzung der Gleichstellungsforderungen kommt auch im ,Sprachverhalten‘ der Prager Schülerschaft der untersuchten Einrichtungen zum Ausdruck. Denn die erwartete Gleichberechtigung wird bereits zunehmend gelebt, ,echte‘ – katholische – Tschechen sowohl an den Volksschulen als auch den Gymnasien entscheiden sich ab den 1890er Jahren verstärkt für eine tschechische Schulausbildung – sicherlich weiterhin auch für Kenntnisse im Deutschen, allerdings wird die Sprache Wiens nur noch auf der Stufe des relativ obligaten Wahlfachs gelernt. Die Badenischen Sprachenverordnungen werden zwar nach nur kurzer Gültigkeitsdauer de jure wieder aufgehoben, de facto kann die hegemoniale Position des Deutschen auf dem Gebiet der inneren Amtssprache nicht mehr hergestellt werden. Offizielle Sprachpolitik und tschechischer Sprachnationalismus stehen mit der Rücknahme der Gleichstellung in Konkurrenz zu einander. Das ,Sprachverhalten‘ in der Domäne Schulwesen demonstriert jedoch, dass die Bevölkerung für den nationalen Konstruktionsprozess bereits mobilisiert ist und diesen eigenständig vorantreibt. So besuchen katholische Tschechen nach 1900 kaum mehr die beiden untersuchten Gymnasium mit deutscher Unterrichtssprache in Prag. Umgekehrt belegen deklarierte Deutsche nun nochmals verstärkt das Wahlfach Tschechisch und quittieren mit dieser Anerkennung der tschechischen Sprache dem Nationsbildungsprozess aus der Außenperspektive in gewisser Weise seinen Fortschritt. Tschechisch-deutsche Bilingualität – sogar mit einer schwächer ausgeprägten Asymmetrie der Sprachkenntnisse – existiert zu Beginn des 20. Jahrhunderts in der Domäne Schulwesen noch, allerdings weist die soziale und konfessionelle Struktur seiner Träger auf ihren Ausnahmecharakter hin. So hat die empirische Untersuchung an den beiden deutschen Prager Gymnasien gezeigt, dass die wenigen verbliebenen tschechischen Muttersprachler an den deutschen Lehranstalten fast ausschließlich jüdischer Konfession sind und der Handels- und Kaufmannstradition angehören. Die zum Teil hervorragenden Leistungen tschechischer Schüler an den tschechischen Vergleichsinstitutionen im Wahlfach Deutsch deuteten jedoch auch an, dass einige katholische Tschechen weiterhin potenziell tschechisch-deutsch bilingual sind und dies relativ unabhängig von der gesellschaftlichen Klasse, aber sicherlich mit einer stärker ausgeprägten Asymmetrie der Sprachkenntnisse. Einen qualitativen Rückgang tschechisch-deutscher Bilingualität dokumentierte auch der Niveauverlust der Deutschkenntnisse der katholischen tschechischen Muttersprachler an den Volksschulen. Wandelt sich der böhmische individuelle Bilingualismus in der Domäne Schulwesen nun zur Jahrhundertwende von einem überwiegend tschechischdeutschen in einen deutsch-tschechischen? Die relative Zunahme der potenziell deutsch-tschechisch Bilingualen an den untersuchten deutschen Volksschulen deutet eine solche Entwicklung an. Jedoch ist zu berücksichtigen, dass einerseits

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Bilingualismus und Sprachnationalismus – ein Widerspruch im Prag der Kafka-Zeit?

die Gesamtzahl der Schulkinder an deutschen Lehranstalten dauerhaft rückläufig ist und andererseits der Anteil der Juden an der Schülerschaft wächst. Sie erreichen auf der Volksschulebene zudem häufiger als die deutschen katholischen Mitschüler/-innen das Tschechischniveau der Muttersprachler. Von einer größeren quantitativen Verbreitung deutsch-tschechischer Bilingualität seit Mitte der 1890er Jahre könnte demnach nur die Rede sein, wenn profunde Kenntnisse in beiden Landessprachen in der jüdischen Gemeinschaft zuvor weniger üblich gewesen wären, was allerdings bei der v.a. aus dem tschechischen Landesinnern nach Prag migrierten jüdischen Bevölkerung weitgehend auszuschließen ist. Zudem steigt an den Gymnasien die Zahl der potenziell deutsch-tschechisch Bilingualen zu Beginn des 20. Jahrhunderts nur in den ersten Klassen der Altstädter Einrichtung (bis zu ca. 50 %), in den sechsten Klassen und am Neustädter Gymnasium beläuft sich ihr Anteil auf maximal ein Drittel. Absolut bilden wiederum die jüdischen Deutschen die Mehrheit, im relativen Vergleich erreichen jedoch ebenso viele Katholiken an den Gymnasien über- bzw. durch-/überdurchschnittliche Tschechischnoten. Zusammenfassend kann bei der deutschen Schülerschaft an den hier untersuchten jüdisch dominierten Institutionen insbesondere nach 1897 sicherlich von einer erhöhten Bereitschaft, tschechische Sprachkenntnisse zu erwerben, gesprochen werden (vgl. auch Burger 1995: 162), potenzielle Zweisprachigkeit wird dadurch noch nicht erlangt. Der Aussage, dass Bilingualität bei „der deutschen Bevölkerung [...] seit der Jahrhundertwende laufend zu[nahm], besonders bei der Intelligenz“ (Skála 1989: 33), kann auf Basis des in der Domäne Schule festgesellten ,Sprachverhaltens‘ der deutschen Muttersprachler daher nur eingeschränkt zugestimmt werden, zumal die breiteste Gesellschaftsschicht mit deutsch-tschechischen Sprachkenntnissen das traditionelle Kleinbürgertum ist und hier insbesondere Abkömmlinge jüdischer Kauf- und Handelsmänner, also Repräsentanten einer tschechisch-deutschen Wirtschaftswelt hervorstechen. Das vielfach zitierte „Ost-West-Gefälle“ (Goebl 1997: 118) in der Sprachbeherrschung der Ethnien Altösterreichs, demnach Slawen und Ungarn besser Deutsch konnten als umgekehrt, scheint sich zum Ende der Monarchie in der Domäne Schulwesen – auf Kosten der Sprachkenntnisse – zu vermindern. Vertreter tschechisch-deutscher sowie deutsch-tschechischer Bilingualität sind zu Beginn des 20. Jahrhunderts an den untersuchten Einrichtungen – mit gewiss jeweils vorwiegend jüdischer Schülerschaft – hauptsächlich Juden. Obgleich diese Bilingualität keineswegs ein allgemeingültiges Phänomen in der jüdischen Gemeinschaft ist, gewährleistet sie zumindest ihren Trägern in der geteilten Prager Gesellschaft ,nationale Flexibilität‘ und ist gleichzeitig Ausdruck des Widerspruchs gegen die sprachnationalistische Forderung der Einsprachigkeit als Voraussetzung für ,nationale Zugehörigkeit‘. Ohne Zweifel besteht gegen Ende der österreichischen Monarchie und kurz vor der Entstehung des tschechoslowakischen Nationalstaats – im Kontext der Domäne Schulwesen – noch eine Minderheit bilingualer Sprecher, doch ist die Ideologie des Sprachnationalismus deutlich

Bilingualismus und Sprachnationalismus – ein Widerspruch im Prag der Kafka-Zeit?

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im ,Sprachverhalten‘ der böhmischen Bevölkerung ,zu lesen‘. Die Zahl tschechisch-deutsch Bilingualer ist wesentlich geschrumpft, auf deutsch-tschechischer Seite hat sie dagegen kaum zugenommen. Die absolute Mehrheit der bilingualen Gruppe gehört dem Judentum an, das Ethnizität nicht primär über Sprache definiert und damit vom Sprachnationalismus ,nur‘ indirekt erfasst wird. Die sprachnationalistische Ideologie scheitert insofern, als keine ,Einsprachigkeit‘ erreicht wird, da Deutsch und Tschechisch weiterhin und zunehmend als Fremdsprache erworben werden. Sie erreicht jedoch den quantitativen Rückgang der für Böhmen lange Zeit charakteristischen Zweisprachigkeit.

Abbildungsverzeichnis

Abbildung 1: Schulkinder nach der Muttersprache und dem Religionsbekenntnis an den Volks- und Bürgerschulen mit deutscher Unterrichtssprache in Prag von 1883/84 bis 1899/1900 (in %)............................216 Abbildung 2: Deutsche Neustädter Volks- und Bürgerschule – Schüler/innen nach der Muttersprache und dem Religionsbekenntnis von 1883/84 bis 1899/1900 (in %) ............................................................................................217 Abbildung 3: Deutsche Kleinseitner Volksschule – Schüler/-innen nach der Muttersprache und dem Religionsbekenntnis von 1883/84 bis 1899/1900 (in %)..................................................................................................220 Abbildung 4: Deutsche Josephstädter Volksschule – Schüler/-innen nach der Muttersprache und dem Religionsbekenntnis von 1883/84 bis 1899/1900 (in %)..................................................................................................222 Abbildung 5: Altstädter Volks- und Bürgerschule für Mädchen – Schülerinnen nach der Muttersprache und dem Religionsbekenntnis von 1883/84 bis 1899/1900 (in %) ..............................................................................224 Abbildung 6: Deutsche Altstädter Volks- und Bürgerschule für Jungen – Schüler nach der Muttersprache und dem Religionsbekenntnis von 1883/84 bis 1899/1900 (in %) ............................................................................................225 Abbildung 7: Schüler/-innen nach der Muttersprache an den Gymnasien, Realschulen, Realgymnasien und Töchterschulen in Prag von 1871/72 bis 1909/10 (in absoluten Zahlen) ..........................................................234 Abbildung 8: Schüler/-innen nach der Muttersprache an den nach der Unterrichtssprache differenzierten Mittelschulen von 1871/72 bis 1909/10 (in %)....................................................................................................................236 Abbildung 9: Anteiliger Besuch der jeweiligen Mittelschultypen – Gymnasien, Realschulen, Realgymnasien, Töchterschulen – in Prag von 1871/72 bis 1909/1910 (in %) ..............................................................................237 Abbildung 10: Anteil der Gymnasiasten an den Mittelschülern insgesamt und nach der Muttersprache von 1871/72 bis 1909/1910 (in %).........239 Abbildung 11: Gymnasiasten in Prag nach der Muttersprache von 1871/72 bis 1909/1910 (in absoluten Zahlen) ......................................................240 Abbildung 12: Anteil der Schüler nach der Muttersprache an den öffentlichen Gymnasien in Prag differenziert nach der Unterrichtssprache von 1871/72 bis 1909/1910 (in %) .......................................................................241 Abbildung 13: Tschechische Muttersprachler an den einzelnen Gymnasien mit deutscher Unterrichtssprache in Prag von 1879/80 bis 1909/10 (in %)......................................................................................................242

Abbildungsverzeichnis

455

Abbildung 14: Schüler nach der Muttersprache an den drei ausgewählten Gymnasien in Prag von 1871/72 bis 1909/10 (in %) .....................247 Abbildung 15: Schüler nach dem Religionsbekenntnis an den drei ausgewählten Gymnasien in Prag von 1872/73 bis 1909/10 (in %) .....................248 Abbildung 16: Deutsche Altstädter Volks- und Bürgerschule für Jungen – Schüler ausgewählter dritter Klassen nach ihrer Muttersprache (in %) ............272 Abbildung 17: Deutsche Altstädter Volks- und Bürgerschule für Mädchen – Schülerinnen ausgewählter dritter Klassen nach ihrer Muttersprache (in %)............................................................................................272 Abbildung 18: Deutsche Volksschule der Piaristen m. Ö. für Jungen – Schüler ausgewählter dritter Klassen nach ihrer Muttersprache (in %) ...............273 Abbildung 19: Deutsche Altstädter Volks- und Bürgerschule für Jungen – Schüler ausgewählter dritter Klassen nach ihrem Religionsbekenntnis (in %) .........................................................................................................................277 Abbildung 20: Deutsche Altstädter Volks- und Bürgerschule für Mädchen – Schülerinnen ausgewählter dritter Klassen nach ihrem Religionsbekenntnis (in %) ..................................................................................278 Abbildung 21: Deutsche Volksschule der Piaristen m. Ö. für Jungen – Schüler ausgewählter dritter Klassen nach ihrem Religionsbekenntnis (in %) .........................................................................................................................278 Abbildung 22: Tschechische Volksschule ,U sv. Havla‘ für Jungen – Schüler ausgewählter dritter Klassen nach ihrem Religionsbekenntnis (in %) .........................................................................................................................279 Abbildung 23: Deutsches Staatsgymnasium in der Altstadt – Schüler ausgewählter erster und sechster Klassen nach ihrer Muttersprache (in %).........304 Abbildung 24: Deutsches Staatsgymnasium in der Neustadt (am Graben) – Schüler ausgewählter erster und sechster Klassen nach ihrer Muttersprache (in %)............................................................................................305 Abbildung 25: Tschechisches akademisches Gymnasium in der Altstadt – Schüler ausgewählter erster und sechster Klassen nach ihrer Muttersprache (in %)............................................................................................305 Abbildung 26: Deutsches Staatsgymnasium in der Altstadt – Schüler ausgewählter erster und sechster Klassen nach dem Religionsbekenntnis (in %) .........................................................................................................................308 Abbildung 27: Deutsches Staatsgymnasium in der Neustadt (am Graben) – Schüler ausgewählter erster und sechster Klassen nach dem Religionsbekenntnis (in %) ..................................................................................308 Abbildung 28: Tschechisches akademisches Gymnasium in der Altstadt – Schüler ausgewählter erster und sechster Klassen nach dem Religionsbekenntnis (in %) ..................................................................................309 Abbildung 29: Deutsche Altstädter Volksschule für Jungen – Konfessionelle und sprachliche Zusammensetzung der ersten Klassen je Schuljahr (in %) ...................................................................................................432

Tabellenverzeichnis

Tabelle 1: Zahl und Anteil der ,Tschechen‘ und ,Deutschen‘ in der zisleithanischen Reichshälfte (österreichische Volkszählung 1851, 1880, 1890, 1900, 1910).................................................................................................................101 Tabelle 2: Zuwachsraten der ,tschechischen‘ und ,deutschen‘ sowie der Gesamtbevölkerung Zisleithaniens. ............................................................................103 Tabelle 3: Demographische Entwicklung der Gesamtbevölkerung (1857 und 1869) sowie der ,deutschen‘ und ,tschechischen‘ Bevölkerung (1880 bis 1910) in den Prager Stadtvierteln und seinen Vororten ..............................................112 Tabelle 4: Zu- bzw. Abnahme der Bevölkerung Prags und seiner Vororte durch natürliche Bevölkerungsentwicklung und durch Wanderung von 1881 bis 1900 ............................................................................................................................115 Tabelle 5: Angabe zur Umgangssprache der jüdischen Bevölkerung in Prag (I.-VII.) (1890 und 1900)............................................................................................120 Tabelle 6: Öffentliche Volks- und Bürgerschulen nach der Unterrichtssprache im Vergleich mit den ,nationalen‘ Bevölkerungsverhältnissen in Böhmen 1900..............................................................176 Tabelle 7: Schulkinder nach der Muttersprache an den öffentlichen Volksschulen, Gymnasien und Realschulen (differenziert nach der Unterrichtssprache) in Prag 1880/81, 1889/90, 1899/1900 (in absoluten Zahlen und in %) ....................................................................................................................177 Tabelle 8: Wechsel tschechischer Schulkinder an Volksschulen mit deutscher Unterrichtssprache in Prag 1884 bis 1890 (in absoluten Zahlen) ...............178 Tabelle 9: Volks- und Bürgerschulen in Böhmen nach ihrer Unterrichtssprache und dem Unterricht in der jeweils anderen Landessprache 1910 (in % und in absoluten Zahlen) ..........................................................................180 Tabelle 10: Übersicht zu den Privatschulen und deren Besuch (Anzahl der Schulkinder) in Prag von 1880/81 bis 1899/1900.......................................................201 Tabelle 11: Verteilung der Privatschüler nach ihrer Muttersprache auf die Privatschulen mit tschechischer und deutscher Unterrichtssprache in Prag von 1888/89 bis 1895/96 ...................................................................................................203 Tabelle 12: Schüler nach dem Religionsbekenntnis an den nach der Unterrichtssprache differenzierten Gymnasien in Prag von 1901/02 bis 1909/10 (in % und in absoluten Zahlen)...................................................................................244 Tabelle 13: Schüler nach dem Religionsbekenntnis an den einzelnen Gymnasien in Prag von 1901/02 bis 1909/10 (in %) ..................................................244 Tabelle 14: Deutsche Altstädter Volks- und Bürgerschule für Jungen – Schüler ausgewählter dritter Klassen nach der sprachlich-territorialen Herkunft (in %) ..........................................................................................................................283

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Tabelle 15: Deutsche Altstädter Volks- und Bürgerschule für Mädchen – Schülerinnen ausgewählter dritter Klassen nach der sprachlich-territorialen Herkunft (in %)...........................................................................................................283 Tabelle 16: Deutsche Volksschule der Piaristen m. Ö. für Jungen – Schüler ausgewählter dritter Klassen nach der sprachlich-territorialen Herkunft (in %).........284 Tabelle 17: Tschechische Volksschule ,U sv. Havla‘ für Jungen – Schüler ausgewählter dritter Klassen nach der sprachlich-territorialen Herkunft (in %).........284 Tabelle 18: Übersicht der nach sozialen Schichten gegliederten Berufskategorien.........................................................................................................296 Tabelle 19: Durchschnittlicher Jahreswert der sozialen Herkunft der Schulkinder ausgewählter dritter Klassen an den untersuchten Volksschulen (in %) ..........................................................................................................................301 Tabelle 20: Deutsche Altstädter Volks- und Bürgerschule für Jungen – Schüler ausgewählter dritter Klassen nach der sozialen Herkunft (in %) ...................301 Tabelle 21: Deutsche Altstädter Volks- und Bürgerschule für Mädchen – Schülerinnen ausgewählter dritter Klassen nach der sozialen Herkunft (in %) ..........302 Tabelle 22: Deutsche Volksschule der Piaristen m. Ö. für Jungen – Schüler ausgewählter dritter Klassen nach der sozialen Herkunft (in %) ................................302 Tabelle 23: Tschechische Volksschule ,U sv. Havla‘ für Jungen – Schüler ausgewählter dritter Klassen nach der sozialen Herkunft (in %) ................................302 Tabelle 24: Deutsches Staatsgymnasium in der Altstadt – Schüler ausgewählter erster und sechster Klassen nach der sprachlich-territorialen Herkunft (in %)...........................................................................................................311 Tabelle 25: Deutsches Staatsgymnasium in der Neustadt (am Graben) – Schüler ausgewählter erster und sechster Klassen nach der sprachlichterritorialen Herkunft (in %) .......................................................................................312 Tabelle 26: Tschechisches akademisches Gymnasium in der Altstadt – Schüler ausgewählter erster und sechster Klassen nach der sprachlichterritorialen Herkunft (in %) .......................................................................................312 Tabelle 27: Durchschnittlicher Jahreswert der sozialen Herkunft der Schüler ausgewählter erster und sechster Klassen an den untersuchten Gymnasien (1874/75 bis 1909/10) (in %)......................................................................................317 Tabelle 28: Deutsches Staatsgymnasium in der Altstadt – Schüler ausgewählter erster und sechster Klassen nach der sozialen Herkunft (in %) ............318 Tabelle 29: Deutsches Staatsgymnasium in der Neustadt (am Graben) – Schüler ausgewählter erster und sechster Klassen nach der sozialen Herkunft (in %) ..........................................................................................................................318 Tabelle 30: Tschechisches akademisches Gymnasium in der Altstadt – Schüler ausgewählter erster und sechster Klassen nach der sozialen Herkunft (in %) ..........................................................................................................................319 Tabelle 31: Tschechischlehrer am deutschen Staatsgymnasium in PragAltstadt von 1872 bis 1910 .........................................................................................322

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Tabelle 32: Tschechischlehrer am deutschen Staatsgymnasium in PragNeustadt (am Graben) von 1870 bis 1910 ..................................................................324 Tabelle 33: Sprachliche und konfessionelle Verhältnisse nach den offiziellen Statistiken 1890 und 1900 an den untersuchten Volksschulen im Vergleich (in %) .........................................................................................................337 Tabelle 34: Deutsche Altstädter Volks- und Bürgerschule für Jungen – Schüler ausgewählter dritter Klassen nach ihrer Muttersprache und den Jahresdurchschnittsleistungen in Tschechisch und den Deutschfächern (ohne Schreiben)...................................................................................................................346 Tabelle 35: Deutsche Altstädter Volks- und Bürgerschule für Mädchen – Schülerinnen ausgewählter dritter Klassen nach ihrer Muttersprache und den Jahresdurchschnittsleistungen in Tschechisch und den Deutschfächern (ohne Schreiben)...................................................................................................................346 Tabelle 36: Deutsche Volksschule der Piaristen m. Ö. für Jungen – Schüler ausgewählter dritter Klassen nach ihrer Muttersprache und den Jahresdurchschnittsleistungen in Tschechisch und den Deutschfächern (ohne Schreiben)...................................................................................................................347 Tabelle 37: Tschechische Volksschule ,U sv. Havla‘ für Jungen – Schüler ausgewählter dritter Klassen nach ihrer Muttersprache und den Jahresdurchschnittsleistungen in Deutsch und den Tschechischfächern (ohne Schreiben)...................................................................................................................347 Tabelle 38: Deutsche Altstädter Volks- und Bürgerschule für Jungen – tschechische Schüler ausgewählter dritter Klassen nach ihrem Religionsbekenntnis und den Jahresdurchschnittsleistungen in Tschechisch und den Deutschfächern (ohne Schreiben) ........................................................................351 Tabelle 39: Deutsche Altstädter Volks- und Bürgerschule für Mädchen – tschechische Schülerinnen ausgewählter dritter Klassen nach ihrem Religionsbekenntnis und den Jahresdurchschnittsleistungen in Tschechisch und den Deutschfächern (ohne Schreiben) ........................................................................351 Tabelle 40: Deutsche Volksschule der Piaristen m. Ö. für Jungen – tschechische Schüler ausgewählter dritter Klassen nach ihrem Religionsbekenntnis und den Jahresdurchschnittsleistungen in Tschechisch und den Deutschfächern (ohne Schreiben) ........................................................................351 Tabelle 41: Tschechische Volksschule ,U sv. Havla‘ für Jungen – Schüler ausgewählter dritter Klassen nach ihrem Religionsbekenntnis und den Jahresdurchschnittsleistungen in Deutsch und den Tschechischfächern (ohne Schreiben)...................................................................................................................352 Tabelle 42: Deutsche Altstädter Volks- und Bürgerschule für Jungen – tschechische Schüler ausgewählter dritter Klassen nach der sprachlichterritorialen Herkunft und den Jahresdurchschnittsleistungen in Tschechisch und den Deutschfächern (ohne Schreiben) .................................................................355 Tabelle 43: Deutsche Altstädter Volksschule für Mädchen – tschechische Schülerinnen ausgewählter dritter Klassen nach der sprachlich-territorialen

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Herkunft und den Jahresdurchschnittsleistungen in Tschechisch und den Deutschfächern (ohne Schreiben) ...............................................................................355 Tabelle 44: Deutsche Volksschule der Piaristen m. Ö. für Jungen – tschechische Schüler ausgewählter dritter Klassen nach der sprachlichterritorialen Herkunft und den Jahresdurchschnittsleistungen in Tschechisch und den Deutschfächern (ohne Schreiben) .................................................................356 Tabelle 45: Tschechische Volksschule ,U sv. Havla‘ für Jungen – Schüler ausgewählter dritter Klassen nach der sprachlich-territorialen Herkunft und den Jahresdurchschnittsleistungen in Deutsch und den Tschechischfächern (ohne Schreiben)...................................................................................................................356 Tabelle 46: Deutsche Altstädter Volks- und Bürgerschule für Jungen – tschechische Schüler ausgewählter dritter Klassen nach der sozialen Herkunft und den Jahresdurchschnittsleistungen in Tschechisch und den Deutschfächern (ohne Schreiben).........................................................................................................361 Tabelle 47: Deutsche Altstädter Volks- und Bürgerschule für Mädchen – tschechische Schülerinnen ausgewählter dritter Klassen nach der sozialen Herkunft und den Jahresdurchschnittsleistungen in Tschechisch und den Deutschfächern (ohne Schreiben) ...............................................................................362 Tabelle 48: Deutsche Volksschule der Piaristen m. Ö. für Jungen – tschechische Schüler ausgewählter dritter Klassen nach der sozialen Herkunft und den Jahresdurchschnittsleistungen in Tschechisch und den Deutschfächern (ohne Schreiben).........................................................................................................362 Tabelle 49: Tschechische Volksschule ,U sv. Havla‘ für Jungen – Schüler ausgewählter dritter Klassen nach der Schichtzugehörigkeit und den Jahresdurchschnittsleistungen in Deutsch und den Tschechischfächern (ohne Schreiben)...................................................................................................................363 Tabelle 50: Deutsche Altstädter Volks- und Bürgerschule für Jungen – über- und unterdurchschnittliche Tschechischschüler ausgewählter dritter Klassen nach ihren Jahresdurchschnittsleistungen in Tschechisch und den Deutschfächern (ohne Schreiben) ...............................................................................367 Tabelle 51: Deutsche Altstädter Volks- und Bürgerschule für Mädchen – über- und unterdurchschnittliche Tschechischschülerinnen ausgewählter dritter Klassen nach ihren Jahresdurchschnittsleistungen in Tschechisch und den Deutschfächern (ohne Schreiben) ...............................................................................368 Tabelle 52: Deutsche Volksschule der Piaristen m. Ö. für Jungen – überund unterdurchschnittliche Tschechischschüler ausgewählter dritter Klassen nach ihren Jahresdurchschnittsleistungen in Tschechisch und den Deutschfächern (ohne Schreiben) ...............................................................................368 Tabelle 53: Deutsche Altstädter Volks- und Bürgerschule für Jungen – über-/durchschnittliche Tschechischschüler ausgewählter dritter Klassen nach ihren Jahresdurchschnittsleistungen in Tschechisch und den Deutschfächern (ohne Schreiben) und ihrem Religionsbekenntnis ......................................................373

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Tabelle 54: Deutsche Altstädter Volks- und Bürgerschule für Mädchen – über-/durchschnittliche Tschechischschülerinnen ausgewählter dritter Klassen nach ihren Jahresdurchschnittsleistungen in Tschechisch und den Deutschfächern (ohne Schreiben) und ihrem Religionsbekenntnis.............................374 Tabelle 55: Deutsche Volksschule der Piaristen m. Ö. für Jungen – über/durchschnittliche Tschechischschüler ausgewählter dritter Klassen nach ihren Jahresdurchschnittsleistungen in Tschechisch und den Deutschfächern (ohne Schreiben) und ihrem Religionsbekenntnis ................................................................374 Tabelle 56: Deutsche Altstädter Volks- und Bürgerschule für Jungen – über-/durchschnittliche Tschechischschüler ausgewählter dritter Klassen nach ihren Jahresdurchschnittsleistungen in Tschechisch und den Deutschfächern (ohne Schreiben) und der sprachlich-territorialen Herkunft .......................................380 Tabelle 57: Deutsche Altstädter Volks- und Bürgerschule für Mädchen – über-/durchschnittliche Tschechischschülerinnen ausgewählter dritter Klassen nach ihren Jahresdurchschnittsleistungen in Tschechisch und den Deutschfächern (ohne Schreiben) und der sprachlich-territorialen Herkunft..............380 Tabelle 58: Deutsche Volksschule der Piaristen m. Ö. für Jungen – über/durchschnittliche Tschechischschüler ausgewählter dritter Klassen nach ihren Jahresdurchschnittsleistungen in Tschechisch und den Deutschfächern (ohne Schreiben) und der sprachlich-territorialen Herkunft .................................................381 Tabelle 59: Deutsche Altstädter Volks- und Bürgerschule für Jungen – über-/durchschnittliche Tschechischschüler ausgewählter dritter Klassen nach ihren Jahresdurchschnittsleistungen in Tschechisch und den Deutschfächern (ohne Schreiben) und der sozialen Herkunft...............................................................387 Tabelle 60: Deutsche Altstädter Volks- und Bürgerschule für Mädchen – über-/durchschnittliche Tschechischschülerinnen ausgewählter dritter Klassen nach ihren Jahresdurchschnittsleistungen in Tschechisch und den Deutschfächern (ohne Schreiben) und der sozialen Herkunft.....................................387 Tabelle 61: Deutsche Volksschule der Piaristen m. Ö. für Jungen – über/durchschnittliche Tschechischschüler ausgewählter dritter Klassen nach ihren Jahresdurchschnittsleistungen in Tschechisch und den Deutschfächern (ohne Schreiben) und der sozialen Herkunft.........................................................................388 Tabelle 62: Deutsches Staatsgymnasium in der Altstadt – Schüler ausgewählter erster und sechster Klassen nach ihrer Muttersprache und den Jahresdurchschnittsleistungen in Tschechisch und Deutsch .......................................397 Tabelle 63: Deutsches Staatsgymnasium in der Neustadt (am Graben) – Schüler ausgewählter erster und sechster Klassen nach ihrer Muttersprache und den Jahresdurchschnittsleistungen in Tschechisch und Deutsch.................................398 Tabelle 64: Tschechisches akademisches Gymnasium in der Altstadt – Schüler ausgewählter erster und sechster Klassen nach ihrer Muttersprache und den Jahresdurchschnittsleistungen in Tschechisch und Deutsch.................................398 Tabelle 65: Deutsches Staatsgymnasium in der Altstadt – tschechische Schüler ausgewählter erster und sechster Klassen nach ihrem

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Religionsbekenntnis und den Jahresdurchschnittsleistungen in Tschechisch und Deutsch .......................................................................................................................402 Tabelle 66: Deutsches Staatsgymnasium in der Neustadt (am Graben) – tschechische Schüler ausgewählter erster und sechster Klassen nach ihrem Religionsbekenntnis und den Jahresdurchschnittsleistungen in Tschechisch und Deutsch .......................................................................................................................402 Tabelle 67: Tschechisches akademisches Gymnasium in der Altstadt – Schüler ausgewählter erster und sechster Klassen nach ihrem Religionsbekenntnis und den Jahresdurchschnittsleistungen in Tschechisch und Deutsch .......................................................................................................................403 Tabelle 68: Deutsches Staatsgymnasium in der Altstadt – tschechische Schüler ausgewählter erster und sechster Klassen nach der sprachlichterritorialen Herkunft und den Jahresdurchschnittsleistungen in Tschechisch und Deutsch ................................................................................................................405 Tabelle 69: Deutsches Staatsgymnasium in der Neustadt (am Graben) – tschechische Schüler ausgewählter erster und sechster Klassen nach der sprachlich-territorialen Herkunft und den Jahresdurchschnittsleistungen in Tschechisch und Deutsch............................................................................................406 Tabelle 70: Tschechisches akademisches Gymnasium in der Altstadt – Schüler ausgewählter erster und sechster Klassen nach der sprachlichterritorialen Herkunft und den Jahresdurchschnittsleistungen in Tschechisch und Deutsch ................................................................................................................406 Tabelle 71: Deutsches Staatsgymnasium in der Altstadt – tschechische Schüler ausgewählter erster und sechster Klassen nach der sozialen Herkunft und den Jahresdurchschnittsleistungen in Tschechisch und Deutsch..........................410 Tabelle 72: Deutsches Staatsgymnasium in der Neustadt– tschechische Schüler ausgewählter erster und sechster Klassen nach der sozialen Herkunft und den Jahresdurchschnittsleistungen in Tschechisch und Deutsch..........................411 Tabelle 73: Tschechisches akademisches Gymnasium in der Altstadt – Schüler ausgewählter erster und sechster Klassen nach der sozialen Herkunft und den Jahresdurchschnittsleistungen in Tschechisch und Deutsch..........................411 Tabelle 74: Deutsches Staatsgymnasium in der Altstadt – Tschechischschüler ausgewählter erster und sechster Klassen nach ihren Jahresdurchschnittsleistungen in Tschechisch und Deutsch .......................................414 Tabelle 75: Deutsches Staatsgymnasium in der Neustadt – Tschechischschüler ausgewählter erster und sechster Klassen nach ihren Jahresdurchschnittsleistungen in Tschechisch und Deutsch .......................................415 Tabelle 76: Deutsches Staatsgymnasium in der Altstadt – über/durchschnittliche Tschechischschüler ausgewählter erster und sechster Klassen nach ihren Jahresdurchschnittsleistungen in Tschechisch und Deutsch und dem Religionsbekenntnis....................................................................................................417 Tabelle 77: Deutsches Staatsgymnasium in der Neustadt – über/durchschnittliche Tschechischschüler ausgewählter erster und sechster Klassen

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nach ihren Jahresdurchschnittsleistungen in Tschechisch und Deutsch und dem Religionsbekenntnis....................................................................................................418 Tabelle 78: Deutsches Staatsgymnasium in der Altstadt – über/durchschnittliche Tschechischschüler ausgewählter erster und sechster Klassen nach ihren Jahresdurchschnittsleistungen in Tschechisch und Deutsch und der sprachlich-territorialen Herkunft ................................................................................421 Tabelle 79: Deutsches Staatsgymnasium in der Neustadt – über/durchschnittliche Tschechischschüler ausgewählter erster und sechster Klassen nach ihren Jahresdurchschnittsleistungen in Tschechisch und Deutsch und der sprachlich-territorialen Herkunft ................................................................................422 Tabelle 80: Deutsches Staatsgymnasium in der Altstadt – über/durchschnittliche Tschechischschüler ausgewählter erster und sechster Klassen nach ihren Jahresdurchschnittsleistungen in Tschechisch und Deutsch und der sozialen Herkunft........................................................................................................426 Tabelle 81: Deutsches Staatsgymnasium in der Neustadt – über/durchschnittliche Tschechischschüler ausgewählter erster und sechster Klassen nach ihren Jahresdurchschnittsleistungen in Tschechisch und Deutsch und der sozialen Herkunft........................................................................................................427 Tabelle 82: Franz Kafka im Notenvergleich – 3. Klasse der deutschen Altstädter Volks- und Bürgerschule im Schuljahr 1891/92 ........................................434 Tabelle 83: Franz Kafkas Jahrgang – Zusammensetzung von der 1. bis zur 8. Klasse nach der Muttersprache, dem Religionsbekenntnis, der sprachlichterritorialen und der sozialen Herkunft .......................................................................437 Tabelle 84: Franz Kafkas Jahrgang – deutsch deklarierte, jüdische Teilnehmer am Tschechischunterricht von der 1. bis zur 8. Klasse und ihre Leistungen in Tschechisch und Deutsch .....................................................................440 Tabelle 85: Franz Kafkas Jahrgang – deutsch deklarierte, katholische Teilnehmer am Tschechischunterricht von der 1. bis zur 8. Klasse und ihre Leistungen in Tschechisch und Deutsch .....................................................................441 Tabelle 86: Franz Kafkas Jahrgang – deklarierte Tschechen von der 1. bis zur 8. Klasse nach dem Religionsbekenntnis und ihren Leistungen in Tschechisch und Deutsch............................................................................................441 Tabelle 87: Franz Kafka im Notenvergleich – von der 1. bis zur 8. Klasse am deutschen Staatsgymnasium in Prag-Altstadt .......................................................442 Tabelle 88: Franz Kafkas Jahrgang – deklarierte Deutsche, die von der 1. bis zur 8. Klasse nie am Tschechischunterricht teilnehmen, nach dem Religionsbekenntnis und ihren Leistungen in Deutsch ...............................................443

Bibliographie

Quellenverzeichnis: AHMP: NR: Fond české akademického gymnázia v Praze II., Na příkopě 20; zal. 1556 jako latinské jezuitské gymnásium při koleji v Klemetinu, od r. 1882/83 na Praze I.-Starém Městě, Františkovo nábř. 2 do r. 1919, č. 921, 1753-1953(1955). Katalogy žáků, 1875/76-1909/10. [AHMP: České akademické gymnázium, Praha-Staré město. Schulkataloge 18741910] AHMP: NR: Fond Obecné školy chlapecké u sv. Havla v Praze I.-Staré Město, Uhelný trh 425/4, č. 807, (1849) 1869-1945. Katalogy žáků 1875/76-1899/1900. [AHMP: Česká obecná škola u sv. Havla. Schulkataloge 1875-1900] AHMP: NR758: Fonds der deutschen Volks- und Bürgerschule für Knaben, PragAltstadt, Fleischmarktgasse 1, Nr. 2420, 1870-1945. Schulkataloge 1875/761899/1900. [AHMP: Deutsche Volks- und Bürgerschule für Knaben, Altstadt. Schulkataloge 1875-1900] AHMP: NR759: Fonds der deutschen Volks- und Bürgerschule für Mädchen, PragAltstadt, Fleischmarktgasse 1, Nr. 1052, 1861-1945. Schulkataloge 1871/721898/99. [AHMP: Deutsche Volks- und Bürgerschule für Mädchen, Altstadt. Schulkataloge 1871-1899] AHMP: NR: Privat-Volksschule des Piaristenordens für Knaben mit Öffentlichkeitsrecht, Prag-Neustadt, Herrengasse 1, Nr. 2218, 1870-1919. Schulkataloge 1870/711898/99. [AHMP: Privat-Volksschule des Piaristenordens für Jungen m. Ö. Schulkataloge 1870-1899] AHMP: NR: Fonds der k. k. deutschen Lehrerbildungsanstalt in Prag (Kleinseite), Nr. 1070, 1868-1927 (1945). Schulkataloge, 1872-1910. AHMP: NR: Fonds der k. k. deutschen Lehrerinnenbildungsanstalt in Prag (Kleinseite), Nr. 1069, 1872-1921 (1927). Schulkataloge, 1872-1910.

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Zum Zeitpunkt der Datensammlung für die vorliegende war der Fonds noch nicht geordnet und nur durch eine Sondergenehmigung zugänglich. Seit September 2006 sind die Materialien geordnet und öffentlich zugänglich: AHMP: Německá obecná škola dívčí spojená s měšťanskou Praha I.-Staré Město, Masná 18, č. 1052, 1861-1945. Katalogy žáků 1871-1899. Zum Zeitpunkt der Datensammlung für die vorliegende war der Fonds noch nicht geordnet und nur durch eine Sondergenehmigung zugänglich. Seit September 2006 sind die Materialien geordnet und öffentlich zugänglich: AHMP: Německá obecná škola chlapecká spojená s měšťanskou Praha I.-Staré Město, Masná 18, č. 2420, 1870-1945. Katalogy žáků 1875-1900.

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Bibliographie

AHMP: NR: Fonds des Deutschen Staatsgymnasiums in Prag Altstadt, Altstädter Ring 16, Nr. 1058, 1836-1919. Schulkataloge, 1874/75-1909/10. [AHMP: Deutsches Staatsgymnasium, Prag-Altstadt. Schulkataloge 1874-1910] AHMP: NR: Fonds des Deutschen Staatsgymnasiums in Prag Neustadt, am Graben 20, Nr. 1059, 1836-1919. Schulkataloge, 1875/76-1909/10. [AHMP: Deutsches Staatsgymnasium, Prag-Neustadt (Graben). Schulkataloge 1875-1910] Bericht über den Stand des Volksschulwesens in Prag in den Jahren 1890-91 und 1891-92. Beilage. – In: Verwaltungsbericht der königlichen Hauptstadt Prag und der Vororte Karolinental, Smichow, Kgl. Weinberge und Žižkow: für die Jahre 1891-1892 (1894). Deutsche Ausgabe. Hg. von der statistischen Commission der kgl. Hauptstadt Prag sammt Vororten. Prag: Verlag der statistischen Commission – Řivnáč. [Verwaltungsbericht Beilage 1894] BERNATZIK, Edmund (Hg.) (1911): Die österreichischen Verfassungsgesetze mit Erläuterungen. 2. sehr verm. Aufl. (= Studienausgabe österreichischer Gesetze 3). Wien: Manzsche k. u. k. Hof-Verlags- und Universitäts-Buchhandlung. Berufsstatistik nach den Ergebnissen der Volkszählung vom 31. December 1890 in den im Reichsrathe vertretenen Königreichen und Ländern. Böhmen. Hg. von der k. k. Statistischen Central-Commission. (= Österreichische Statistik 33,8). Wien: Hölder. [Österreichische Statistik 1894] Berufswahl. Handbuch (1912-1913). Hg. von der Deutschen Landeskommission für Kinderschutz und Jugendfürsorge in Böhmen. Red. von Dr. Franz Tomaschek. Prag: k.u.k. Hofbuchdrucker A. Haase – Selbstverlag. [Berufswahl. Handbuch 1912-1913] CHUDACZEK, Hans (1913): Gewerbliche Berufe. (= Berufswahl 4). Prag: k.u.k. Hofbuchdrucker A. Haase – Selbstverlag. Dějiny pražského školství v létech 1860-1914 [Geschichte des Prager Schulwesens 1860-1914]. 1. sv. Ed. by Péčí archivu městského redakční komitét. Redakcí Jana Dolenského. Dotištěno 1914, vydáno 1920. Praha: Nákladem důchodův hlav. města Prahy. [Dějiny školství 1920] Denkschrift des deutschen Vereines für städtische Angelegenheiten in Prag (1896). Die Verhältnisse an den öffentlichen Prager deutschen Volks- und Bürgerschulen und Vorschläge zu deren Verbesserung. Prag: H. Dominicus. [Denkschrift 1896] Denkschrift des deutschen Vereines für städtische Angelegenheiten in Prag (1896). Den deutschen Schulen ein Bezirskschulrath. Mit einem Anhang: Die unverfälschte Wahrheit über die Verhältnisse an den öffentlichen Prager deutschen Volks- und Bürgerschulen. Prag: H. Dominicus. [Antwort Gegendenkschrift 1896] FISCHEL, Alfred von (1901): Das österreichische Sprachenrecht. Eine Quellensammlung. 1. Aufl. [1910: 2. erw. Aufl.]. Brünn: Irrgang. Gemeindelexikon von Böhmen (1904). Bearbeitet auf Grund der Ergebnisse der Volkszählung vom 31. Dezember 1900. Hg. von der k. k. statistischen Zentralkommission. (= Gemeindelexikon der im Reichsrate vertretenen Königreiche und Länder 9). Wien: k. k. Hof- und Staatsdruckerei.

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